Der Patriot: Band 4 Kommentarband [Reprint 2018 ed.]
 9783110854336, 9783110099317

Table of contents :
Vorwort
Editionsbericht
Kommentare und Erläuterungen zu Band I (= Jahrgang 1724, Stücke 1—52)
Kommentare und Erläuterungen zu Band II (= Jahrgang 1725, Stücke 53-104)
Kommentare und Erläuterungen zu Band III (= Jahrgang 1726, Stücke 105-156)
Nachwort
Inhalt des vierten Bandes

Citation preview

DER PATRIOT BAND IV

AUSGABEN D E U T S C H E R LITERATUR DES XV. BIS XVIII. J A H R H U N D E R T S

herausgegeben von Hans-Gert Roloff

DER PATRIOT 1724-1726

WALTER DE GRUYTER • BERLIN • N E W YORK 1984

DER PATRIOT nach der Originalausgabe Hamburg 1724—1726 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch herausgegeben von WOLFGANG MARTENS

BAND IV KOMMENTARBAND

WALTER D E G R U Y T E R • B E R L I N • N E W Y O R K 1984

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Der Patriot : nach d. Orig.-Ausg. Hamburg 1724—26 in 3 Textbd. u. e. Kommentarbd. krit. hrsg. - Berlin ; New York : de Gruyter Bd. 4. Kommentarband. - 1984. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. [fünfzehnten] bis XVIII. Jahrhunderts ; Bd. 109) ISBN 3-11-009931-4 N E : GT

© Copyright 1983 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Printed in Germany - Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorwort Der vorliegende Kommentarband folgt den drei Textbänden im Abstand von mehr als zehn Jahren. Der Herausgeber muß dafür um Entschuldigung bitten, obwohl er einige Gründe für solch unziemliche Verzögerung anführen kann: ein zeit- und nervenraubendes Dekanat in einem von „Roten Zellen" bestürmten Fachbereich (Münster 1970/71); Orts- und Universitätswechsel von Münster nach Wien, von Wien nach München; Erkrankungen. Zudem zeigte sich das Kommentiergeschäft mühsamer als erwartet. Doch hat die Verzögerung auch ihr Gutes gehabt: neuere Literatur konnte noch genutzt werden, so das Buch über den Patrioten und sein Publikum von Jörg Scheibe (1973), so die wichtige Arbeit Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona von Franklin Kopitzsch; letztere konnte dankenswerterweise noch in den Fahnen eingesehen werden. Zu danken hat der Herausgeber überhaupt vielfältig. Für Mithilfe beim Redigieren der Textbände seinen Schülern und Mitarbeitern in Münster Mechthild Baur, Manfred Derpmann, Prof. Dr. Heinz Gockel, Werner Mimberg, Dr. Jörg Scheibe, Dr. Ute Schneider; für Hilfe bei Identifizierung und Übersetzung der lateinischen Motti Prof. Dr. Klaus Stiewe (Erlangen), ferner Dr. Wilhelm Ehlers und Dr. Peter Flory (Thesaurus Linguae Latinae, München); für Auskünfte der verschiedensten Art Werner Kayser (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg), Dr. Elger Blühm und Dr. Martin Welke (Deutsche Presseforschung Bremen), Dr. Franklin Kopitzsch (Hamburg), Dr. U. Dietze (Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle), Dr. H.

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Vorwort

Schwabe (Archiv der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg, Halle), Dr. Manfred Lemmer (Halle), Dr. Werner Hahl und Dr. Volker Hoffmann (Institut für Deutsche Philologie München), Dr. Joachim Rückert (Institut für Rechtsgeschichte München), Dr. Reinhard Wittmann (Hausham), Gert Schulz (Historisches Archiv des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Frankfurt am Main), Dr. Josef Bellot (Staats- und Stadtbibliothek Augsburg), Prof. Dr. Herbert G. Göpfert (München); für Mithilfe bei der Erarbeitung der Sacherläuterungen des Kommentarbands und beim Korrekturlesen Eberhard Köstler (Tutzing), Wilhelm Haefs (München), Wolfgang Hirsch (München) und vor allem Dr. Ernst Fischer und Dr. Brigitte Schillbach (München), die beide auch bei der Lesartenverzeichnung und der Schlußredaktion des Kommentarbands hilfreich waren. — Der Herausgeber dankt der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel für die Gewährung eines dreimonatigen Gaststipendiums zur Vorbereitung der Kommentierung. Er dankt schließlich und endlich dem Herausgeber der Gesamtreihe, Prof. Dr. Hans-Gert Roloff (Berlin), für stets bereitwillige und kundige Beratung. Murnau, den 15. Oktober 1982.

Editionsbericht Der vorliegende Neudruck des Patrioten folgt der Originalausgabe, die 3 Jahre lang — vom 5. Januar 1724 bis zum 28. Dezember 1726 — wöchentlich in insgesamt 156 Nummern (bzw. „Stücken") zu je 4 Seiten im Quartformat in Hamburg im Verlag von Johann Christoph Kißner erschienen ist. Der Textbestand ist im Neudruck auf 3 Bände mit je einem Jahrgang aus 52 Stücken verteilt. Aus 3 Bänden zu je einem Jahrgang bestand auch die von Michael Richey überarbeitete neue und verbesserte Ausgabe des Patrioten, die 1728/29, nicht mehr periodisch, sondern in Buchform, im Großoktavformat in Hamburg bei Conrad König herauskam. Diese Buchausgabe (Sigle: B) ist unverändert noch dreimal in Hamburg wieder aufgelegt worden, nämlich in 2. Auflage 1737/38 bei Conrad König, in 3. Auflage 1747 ebenda und in 4. Auflage 1765 bei Christian Herolds sei. Witwe. Dem Neudruck liegt ein Exemplar des Patrioten aus dem Besitz der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (Signatur Za 352) zugrunde. Das reproduzierte Haupttitelblatt (Bd. I, vor S. 1) sowie das Vollständige Register über alle drey Jahre des Patrioten (III, 425—458) wurden einem weiteren Exemplar dieser Bibliothek (Signatur Za 353) entnommen. Verglichen wurden Exemplare des Originals in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, der Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg, der Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel, der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Bibliothek der Freien Universität Berlin. Der Vergleich ergab namentlich bei Stücken des ersten Halbjahrs 1724 zuweilen geringe Differenzen in Orthographie, Interpunktion und typographischer Anordnung,

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nicht jedoch im textlichen Bestand selber, — Differenzen, die beweisen, daß diese Stücke, offenbar auf Grund unerwartet großer Nachfrage, mehrfach gesetzt worden sein müssen. Welcher Druck hier der jeweils früheste gewesen ist, war nicht zu klären, zumal handschriftliche Satzvorlagen nicht existieren. Unsere Textwiedergabe folgt der Vorlage. Dabei erscheint die Fraktur der Vorlage in Antiqua. Wo die Vorlage selber Antiqua aufweist, z. B. in lateinischen Passagen, bei Fremdwörtern, setzt der Neudruck Kapitälchen. Der Text des Originals sowie, im Kommentarband mit herangezogen, der Text von B, ferner alle im Kommentarband angeführten Zitate und Titel von Primärliteratur erscheinen recte. Kursiv gesetzt dagegen sind der Kommentar sowie alle weiteren Zusätze des Herausgebers. Die Orthographie der Vorlage ist beibehalten. Dabei sind zahlreiche Inkonsequenzen, die wohl auf verschiedene Verfasser oder auf einander abwechselnde Setzer zurückzuführen sind, mit in Kauf genommen. So kennt unser Text kostbar und kostbahr, kann und kan, fröhlich und frohlig, wohl und wol, nehmen und nemen, Saal und Sahl, danken und dancken, auf und auff, zählen und zehlen, Rath und Raht. Auch die Interpunktion der Vorlage wurde unverändert beibehalten. Nur offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend berichtigt. Ein am Schluß von Stück 65 befindliches Druckfehlerverzeichnis für das vorangegangene Stück 64 ist nicht wiedergegeben, sondern ausgewertet worden. Druckfehler unseres Neudrucks, erfreulich selten angefallen, sind in den Erläuterungen des vorliegenden Kommentarbands als solche gekennzeichnet. Konjekturen des Herausgebers, ohnehin äußerst selten, sind in ( ) gesetzt und kursiv gegeben (Beispiel I, 329). Schmückende Initialen zu Beginn eines Stückes oder eines neuen Absatzes sind im Neudruck nicht kenntlich gemacht. Auf die Mitteilung des Seitenwechsels durch Auswerfen des

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letzten Worts ist verzichtet. Geminationsstriche über m und n wurden aufgelöst. Unterschiede im Schriftgrad zwischen den einzelnen Stücken — bei längerem auf einem halben Bogen unterzubringendem Text wählte der Setzer einen kleineren Grad als bei kürzerem Text — sind im Neudruck nicht beibehalten. Auch ist an der Vorlage zu beobachten, daß der Setzer innerhalb eines Stücks bei Raumknappheit gegen das Ende hin zu einem zunehmend kleineren Schriftgrad gegriffen hat und vice versa; unser Neudruck ignoriert diese Differenzen. Ebenso reduziert er die Variationsvielfalt der Vorlage bei der Benutzung von Fettsatz, Sperrsatz und großem Schriftgrad zum Zweck der Hervorhebung. Kleine Vignetten und Sternchen zur Raumausfüllung wurden fortgelassen, ebenso gelegentliche — den Patrioten nicht betreffende — geschäftliche Annoncen des Verlegers am Ende eines Stücks. Der Text ist zur leichteren Orientierung am Rand in Fünfergruppen durchgezählt. Im Kommentarteil werden Textstellen mit römischen Ziffern für den Band, mit arabischen Ziffern für die Seite, — nach dem Komma für die Zeile —, bezeichnet. Zum Beispiel: II, 96, 8 meint Zeile 8 der Seite 96 im Band II. Für jedes Stück ist ein eigener, zusammenhängend formulierter Kommentar erstellt, dem sich ein Erläuterungsteil anschließt. Die Kommentare versuchen, sozial- und geistesgeschichtlich bedeutsame Aspekte an den jeweiligen Stücken herauszuarbeiten. Der Erläuterungsteil zu jedem Stück benennt den Verfasser, übersetzt und identifiziert das Motto, verzeichnet Lesarten und gibt sachliche Einzelerläuterungen. Lesartenverzeichnung und Sacherläuterung sind dabei absichtlich nicht getrennt, denn oft genug enthält die Version aus B praktisch bereits die Erläuterung für eine unklare Stelle der Originalfassung. Verzeichnet sind — nota bene! — nicht sämtliche Textabweichungen zwischen B und der Originalausgabe. Der Herausgeber, editorischer Perfektion nicht abhold, mußte hier etwas über seinen philologischen

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Schatten springen, um nicht im Effekt nutzlose Lesartenhalden zu produzieren, die das Volumen des Kommentarbands gesprengt und seinen Kaufpreis in schwindelnde Höhen getrieben hätten. Ein Zeitschriftentext ist — bei aller rhetorischen Strukturierung — kein dichterischer Text im engeren Sinne. Wortumstellungen, der Austausch von Synonymen, die Variation einer sprachlichen Wendung bedürfen hier keiner Verzeichnung im Lesartenapparat, wenn der Sachgehalt der Aussage damit nicht verändert ist, und noch weniger bedürfen es Unterschiede in Orthographie und Interpunktion. Nur bei Gedichttexten sind daher Abweichungen in B gegenüber dem Original mit der herkömmlichen philologischen Akribie notiert. Der Herausgeber hofft, bei seinem kompromißhaften Verfahren einen menschenfreundlichen, d. h. lesbaren Apparat erstellt zu haben, der alle relevanten sachlichen Änderungen der Buchausgabe gegenüber dem Original rasch erkennbar macht. Generell ist über B zu sagen, daß die meisten textlichen Abweichungen im ersten der drei Jahrgangsbände zu beobachten sind. Hier haben viele Mitarbeiter am Patrioten dem Betreuer der Buchausgabe, Michael Richey, offenbar noch eigene Korrekturen für diese Ausgabe zukommen lassen, während die Überarbeitung der Stücke der beiden weiteren Bände offenbar weitgehend Richey allein überlassen blieb. Zu dieser Überarbeitung gehört generell, daß der Text in sehr viel mehr kleinere Abschnitte gegliedert worden ist; unser Lesartenverzeichnis notiert das nicht. Die Eigenheit des B-Setzers, bei „um" und „darum" statt der u-Type ü zu verwenden (darum), ist bei der Wiedergabe der Lesarten stillschweigend beseitigt. Die sachlichen Einzelerläuterungen versuchen, Fakten, Namen und Anspielungen im Text zu erklären und ungewöhnlichen bzw. altertümlichen Sprachgebrauch zu erhellen. Die lateinischen Motti sind durchgehend übersetzt, sonstige lateinische und französische Sätze, Wendungen oder

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Wörter bleiben dagegen zuweilen unübersetzt, — dann nämlich, wenn ihr Verständnis einem Leser mit Abitur ohne Hilfestellung zumutbar erschien. Bei weniger leicht verständlichen, vor allem aus griechischen oder lateinischen 'Wortstämmen gebildeten „sprechenden Namen" wurde eine Verdeutschung versucht, die den Sinn der Namensbildung erkennen läßt (,,Knemesicrates" = „Gamaschenmeier"). Die als Motti eingesetzten lateinischen Zitate sind, soweit möglich, nach ihren Fundorten identifiziert, Abweichungen gegenüber der authentischen Lesart werden in der Regel nicht notiert. Sachen, Namen, Begriffe und Wörter, die bereits in früheren Stücken erläutert wurden, werden bei erneutem Vorkommen in der Regel nicht noch einmal erklärt; zuweilen wird auf die erste Stelle verwiesen. Bei der Benennung der mutmaßlichen Verfasser für die jeweiligen Stücke hält sich der Herausgeber im allgemeinen an die Ergebnisse der Untersuchungen von Jörg Scheibe, auf die er hier ausdrücklich generell verweist. Zuweilen urteilt er etwas vorsichtiger als Scheibe, was sich in der Verwendung eines Fragezeichens ausdrückt. In eine Debatte über das Für und Wider der einzelnen Zuscbreibungen kann im Rahmen der Sacherläuterungen nicht eingetreten werden. Ohnehin erscheint dem Herausgeber die jeweils eindeutige Klärung der Verfasserfrage sekundär gegenüber der Erkenntnis des bestimmenden Ethos des Patrioten, das die einzelnen Mitglieder der Patriotischen Gesellschaft erfüllte und sie unter der Maske des Patrioten schreiben ließ. Er spricht daher auch in seinen Kommentaren nicht von den jeweils mutmaßlichen tatsächlichen Verfassern, sondern vom ,,Patrioten" als dem Inbegriff der reformerisch-aufklärerischen Tendenzen der Patriotischen Gesellschaft. Über die Persönlichkeiten der 11 von Richey als Verfasser namentlich Genannten — vgl. S. 331 f f . dieses Kommentarbands — unterrichtet das Nachwort. Es skizziert zugleich die spezifischen sozialen und politischen Verhältnisse, unter de-

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nen der Patriot in Hamburg erscheinen konnte. Es geht auf Vertrieb, Verbreitung, Publikum, Resonanz und Nachwirkung der Wochenschrift ein, charakterisiert ihre Gattungseigenart und sucht abschließend ihre geschichtliche Bedeutung zu umreißen. Bedauerlicherweise war es — im Hinblick auf den Umfang dieses Bandes — nicht möglich, auch einige der wichtigsten Flugschriften gegen und für den Patrioten aus dem Jahr 1724 hier vorzustellen. Eine kommentierte Edition dieser Flugschriften, die bibliographisch bereits erfaßt sind (Martens 1964) und deren Bedeutung der Herausgeber bereits zu skizzieren versucht hat (Martens 1972), ist ein Desiderat. Das folgende Literaturverzeichnis beschränkt sich eng auf Spezialliteratur zum Patrioten. Andernfalls hätte die ganze Literatur zur Geistes-, Sozial-, Wirtschafts-, Mentalitätsund Literaturgeschichte der Aufklärung hier aufgeführt werden können, denn in alle diese Bereiche schlägt der Patriot ein. Der Herausgeber erlaubt sich, hilfsweise auf das ausführliche Literaturverzeichnis seines Buches über die deutschen Moralischen Wochenschriften (Martens 1968) hinzuweisen. Spezialliteratur zum Patrioten (bei Zitierung ist die Kurzform in Klammern verwendet): Hans Hübrig, Die Patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, Weinheim 1957. Karl Jacoby, Die ersten moralischen Wochenschriften Hamburgs am Anfange des 18. Jahrhunderts, in: Wissenschaftliche Beigabe zum Osterprogramm des Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg, Hamburg 1888. Joachim Kirchner, Der Hamburger „Patriot", eine Untersuchung zur Frühgeschichte der Zeitschrift, in: Publizistik, Zeitschrift für die Wissenschaft von Presse, Rundfunk, Film, Rhetorik, Werbung und Meinungsbildung, Band 2, Bremen 1957, S. 143-156 (Kirchner).

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Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Hamburg 1982. Wolfgang Martens, Die Schriften wider und für den „Patrioten", Bibliographie, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. V, Frankfurt am Main 1964, Sp. 1353—1368 (Martens 1964). Ders., Zur Verfasserschaft am „Patrioten" (1724 —26), in: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, Bd. 58, Heidelberg 1964, S. 396-401. Ders., Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, Studienausg. 1971 (Martens 1968). Ders., Die Flugschriften gegen den „Patrioten" (1724). Zur Reaktion auf die Publizistik der frühen Aufklärung, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730, Festschrift für Günther Wey dt, Bern und München 1972, S. 515- 536 (Martens 1972). Dietmar Peil, Emblematisches, Allegorisches und Metaphorisches im „Patrioten", in: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, Bd. 69, Heidelberg 1975, S. 229-266 (Peil 1975). Ders., Allegorische Gemälde im „Patrioten" (1724 bis 1726), in: Frühmittelalterliche Studien, Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, hrsg. von Karl Hauck, Bd. 11/1977, S. 370-395 (Peil 1977). Jürgen Rathje, „Der Patriot", eine hamburgische Zeitschrift der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 65, Hamburg 1979, S. 123-143. Ders., Geschichte, Wesen und Öffentlichkeitswirkung der Patriotischen Gesellschaft von 1724 in Hamburg, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche Patriotische und Gemeinnützige Gesellschaften, München 1980, S. 51-69. Jörg Scheibe, Der „Patriot" (1724—1726) und sein Publikum. Untersuchungen über die Verfasserschaft und die Le-

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serschaft einer Zeitschrift der frühen Aufklärung, Göppingen 1973 [Diss. Münster 1972] (Scheibe). Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche Patriotische und Gemeinnützige Gesellschaften, München 1980 (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 8). In Kommentaren und Erläuterungen wiederholt angeführte sonstige Literatur: Johann Christoph Adelung, Grammatisch'Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Bde, 2. verm. u. verb. Aufl. Leipzig 1793-1801 (Adelung). Hamburgische Denkwürdigkeiten. Ein topographisch-politisch-historisches Handbuch für Einheimische und Fremde, Hamburg 1794 (Denkwürdigkeiten). [Johann Gustav] Gallois, Hamburgische Chronik von den ältesten Zeiten bis auf die Jetztzeit, Bd. 4, Hamburg 1863 (Gallois). Christian Ludwig von Griesheim, Verbesserte und vermehrte Auflage des Tractats: Die Stadt Hamburg in ihrem politischen, oeconomischen und sittlichen Zustande, Hamburg 1760 (Griesheim 1760). Ders., Anmerk. u. Zugaben über den Tractat: Die Stadt Hamburg in ihrem politischen, oeconomischen und sittlichen Zustande, Hamburg 1759 (Griesheim 1759). Jacob und Wilhelm Grimm (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854-1960 (Grimm). Theodor Heinsius, Vollständiges Wörterbuch der Deutschen Sprache mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung für die Geschäfts- und Lesewelt, 4 Bde, Wien 1840 (Heinsius). Hans Kuhn, Ulrich Pretzel (Hrsg.), Hamburgisches Wörterbuch, auf Grund der Vorarbeiten von Christoph Walther und Agathe Lasch herausgegeben; bearb. von Käthe Scheel, Neumünster 1956ff (Hamburgisches Wörterbuch).

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Otto Mensing (Hrsg.), Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch, Volksausgabe, 5 Bde, Neumünster 1925—35 (Mensing). Michael Richey, Idioticon Hamburgense, oder WörterBuch zur Erklärung der eigenen, in und um Hamburg gebräuchlichen Nieder-Sächsischen Mundart, jetzo vielfältig vermehret, Hamburg 1755 (Richey, Idioticon Hamburgense). Hans Schröder (Hrsg.), Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart. Im Auftrage des Vereins für Hamburgische Geschichte begründet von Hans Schröder, fortgesetzt von A. H. Kellinghusen, 8 Bde, Hamburg 1851-1883 (Schröder, Lexikon). Johann Heinrich Zedier (Hrsg.), Großes vollständiges Universal'Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde, Halle-Leipzig 1732-1750 (ledler).

Kommentare und Erläuterungen zu Band I (= Jahrgang

1724, Stücke 1—52)

Das in unserem Neudruck vor Stück 1 im Faksimile (verkleinert) wiedergegebene Gesamttitelblatt wurde nach Beendigung der Zeitschrift erstellt. Es diente zusammen mit dem Gesamtregister (III, 425—458) dem Zweck, nicht abgesetzte komplette Folgen des Patrioten zusammenzufassen und in Form eines Quartbands auf den Markt zu bringen. Sammler aller 156 Stücke wurden damit zugleich angeregt, ihre Blätter ebenfalls einbinden zu lassen. Für den ersten Jahrgang 1724 des Patrioten ist im Jahre 1726 ein eigenes Titelblatt mit einem Avertissement des Verlegers sowie ein eigenes Register herausgebracht worden (vgl. III, 169, 4f f ) . Das Titelblatt ist im folgenden im Faksimile (verkleinert) wiedergegeben, das Avertissement ist im Wortlaut abgedruckt.

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1

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13-18: (19 ff.)

Lesinius fehlt

„Knauser" (von frz.

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lésine).

B.

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 14 Der Patriot stellt eine Betrachtung über Zeit und Ewigkeit und das Verhältnis des Menschen dazu an. Er bedient sich dabei einer Beispielfigur, die nach der Art der „moralischen Charaktere" vorgestellt ist (118,4ff.), sowie eines allegorischen Traums vom Fluß der Zeit. Gelegentlich werden die Leser direkt angesprochen. Der ernsthafte Charakter der Betrachtung entspricht dem Zeitpunkt des Erscheinens in der Karwoche. Während in der Regel das Interesse des Patrioten voll auf das Diesseits und die irdische Glückseligkeit gerichtet ist, erscheint hier das künfftige Leben, das unsterbliche ewige Leben als Gegenstand seiner Bemühungen, — vom zeitlichen Leben wird nur als von einem Zwischen=Stand gesprochen (119,16). Die Nähe zu christlichen Auffassungen ist deutlich. Gleichwohl ist die spezifisch biblisch-christliche Begriffswelt ausgespart. Weder von Sünde noch von Buße, Gnade und Erlösung ist die Rede, weder vom Jüngsten Gericht noch von Christi Heilstat. Der Patriot spricht allgemein-philosophisch. Auch der Begriff des „Allmächtigen", den Christen geläufig, rückt in diese mehr allgemein-philosophische Sphäre, und an die Stelle biblischer Vorstellungen ist eine neutrale allegorische Schilderung vom Jenseits gesetzt. Entsprechend ist die aus der Betrachtung der Ewigkeit zu ziehende Lehre nicht „geistlich", auch wenn eingangs vom wahren Heyl der Menschen gehandelt wird (117,18), sondern sie ist moralisch und zielt damit auf das menschliche Wohlverhalten in dieser und für diese Welt. Die Sorglosen, die Zecher und Trinker sind 6»

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Kommentare

und

Erläuterungen

es, die jahrelang im Finstern des grenzenlosen Meers der Ewigkeit herumschwimmen müssen. Die unschuldigen Kinder und die Tugendhaften und Frommen (auf Grund von philosophischen Ermahnungen Tugendhaften und Frommen!; die semantische Vereinigung —122,18— ist aufschlußreich!) sind es, die von den glückseligen Inseln zu ihrer Belohnung Besitz nehmen. — Absicht dieser Betrachtung ist es, den Tugend-Weg zu wandeln zu eifrigem Bestreben, (124,9), anzuhalten, — nicht zur Buße, zum Gebet und zur Heiligung in Christus. Das Stück lehnt sich deutlich an das Stück 139 des Spectator und dessen dort gegebene Visions of Mirzah an.

Vf.

C. F.

Weichmann

Motto Vergil, Aeneis VI, 638— 641. — „Sie kamen zu den freundlichen Stätten und zu den lieblichen Gefilden der Seligen. Heitre Luft und purpurnes Licht erfüllte hier das Gefilde. Es hat seine eigne Sonne und seine eigenen Sterne". 1—3 als die allerverachtlichsten . . . seyn mögen.] als die allereinfaltigsten und niedrigsten Thiere in denjenigen Sachen sind, die ihre Erhaltung überall nicht betreffen. B. 4 10—12

Vafro

„Pfiffig".

Es ist unmöglich . . . einzutheilen.] fehlt

B.

6 Verschieß „die stufenweise Schwächung der Stärke der Farben, nach den Graden der Entfernung" (Adelung). — Verschieß] Verschusse B. 12—15 Unmöglich könnt . . .Tag dencket,] Die Ewigkeit sich recht, wie sie ist, vorzustellen, muß man ieden Tag gedencken, B. 20—22

die Jahre . . . geben! hiernachst] fehlt

33

Schmacken

33

Ever

35

Boort

Boot, Bord.

Schmacke:

kleines

Fischerkahn.

Segelschiff

B. (Mensing).

zu Jahrgang 1 / 1724, Stück

79

Ii

121

' Prahmen Prahm: (m.), kleines (viereckiges) Wasserfahrzeug, re. — Prahmen] Chaloupen B.

Fäh-

J22

Schute Schute: kleines Wasserfahrzeug, auch besegelt werden kann.

aber

29 f. 124

das gerudert

wird,

gerollet mit eitel elenden Leuten] voll sinnloser Leute B.

Reflexions sur le Patriote de Hambourg zu den Flugschriften um den Patrioten zu zählende Publikationen; dazu Martens (1964).

Stück 15 Der Patriot veröffentlicht vier Briefe, die sich mit dem Betragen in Gesellschaft, seinem Plan einer Frauenzimmerakademie, guter Führung des Hauswesens und dem Treiben des Gesindes befassen. Zwei der an ihn gerichteten Briefe sind von auswärts, aus Merseburg und Lübeck, datiert, was, falls es sich, wie zu vermuten, dabei um echte Einsendungen handelt, die Resonanz der Zeitschrift über Hamburg hinaus dokumentiert. Von einem Brief des Herrn Philotheus war bereits im Postscriptum des Stückes 8 die Rede. Er bezieht sich auf das Thema von Stück 5, einfältig-steifes Benehmen in Gesellschaft, und liefert mit dem Bericht vom Betragen eines galanten jungen Schwätzers ein Gegenstück dazu. Die Schilderung richtet sich auch gegen die damals als vornehm geltende Gepflogenheit, deutsche Sätze mit französischen oder auch lateinischen Brocken auszuzieren, — etwas, was den Tadel auch der späteren Moralischen Wochenschriften gefunden hat. Der galante Windmacher erweist sich als ein solcher durch seine Mißgriffe im Lateinischen und durch sein albernes Kasualgedicht. Kritik an derartigem Betragen gehört zur Ausbesserung der verderbten Sitten (128,4f), der sich der Patriot verschrieben hat.

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Kommentare

und

Erläuterungen

Der zweite Brief, von Jephiland.ro, geht auf das Projekt einer Frauenzimmerakademie in Stück 3 ein und stellt Betrachtungen darüber an. Diese Betrachtungen — in Form von Einwürfen, Fragen, Ergänzungen (der Verfasser spricht von Einfällen 131,12) — sind heiter-scherzhaft gehalten, ohne daß das Projekt selber damit als gänzlich abwegig abgetan wäre. Freilich wird indirekt deutlich, wie ungewöhnlich der Ansatz des Patrioten zu systematischer Töchterbildung damals gewesen sein muß. — Der Gedanke, daß das Frauenzimmer, ohne Kenntnis der Wissenschaften gleichwohl tugendhaft und klug, möglicherweise mehr natürliche Tugend (129,1) besitze als das männliche Geschlecht, nimmt Auffassungen der Empfindsamkeit vorweg. Der dritte Brief verwendet sich für die Sanftmütigkeit von Hausvater und Hausmutter. Vielleicht dürfen wir ihn verstehen im Zusammenhang mit der sich vollziehenden Umstrukturierung von der alten strengen Ordnung des „ Ganzen Hauses" zur intimeren Form der bürgerlichen (Klein-) Familie, — einer Umstrukturierung, mit der eine Aufweichung der alten hausväterlich-hausmütterlichen Autorität und Objektivität einherging zugunsten mehr gefühlshafter, sentimentaler Beziehungen in der Familie: Im Rührstück um die Mitte des 18. Jahrhunderts treten diese zuerst literarisch in Erscheinung. Der von einem Kundschafter des Patrioten aufgefundene, somit fingierte Brief von Clas Grashüpper an Broder Marten, im Hamburger Platt abgefaßt, berührt sich mit dem Thema des vorigen Briefs insofern, als er das Treiben des Gesindes in Abwesenheit der Herrschaft illustriert. Zwei Pferdeknechte wissen sich mit ihren Mädchen, wenn die Herrschaft in der Kirche ist, mit offenbar beiseite geschafften guten Sachen einen vergnügten Tag zu machen. Der Patriot druckt das mit leichtem Tadel gegen das „Exempel der Großen", im ganzen aber doch wohl eher heiter-tolerant, ab. Die Buchfassung moralisiert dagegen stärker.

zu Jahrgang

1 / 1724, Stück 15

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Ein Anwerbungsschreiben eines Herrn Briontes um die Hand der Araminte, wie es der Patriot am Schluß des Stücks erwähnt, — offenbar handelt es sich um eine echte, auf die erdichteten Figuren um den Patrioten eingehende Einsendung — , erschien unter dem. Datum des 30. 5. 1725 im Stück 22 des ersten Teils von Gottscheds Vernünftigen Tadlerinnen. Vf. Einsendungen (hinter „Jephilandro" verbirgt sich vermutlich J. E. Philippi). Der plattdeutsche Brief ist fingiert (Vf.?). Motto Phaedrus, Fabulae Aesopiae /, prologus 3—4. — ,, Doppelt ist die Gabe des Büchleins: es macht lachen und gibt zugleich klugen Rat fürs Leben." J 2 5

Die Buchausgabe unterscheidet sich vom Original durch mehrere Umstellungen sowie durch beträchtliche Abweichungen im Text, die im einzelnen unten nachgewiesen sind. 1—128,15: Hochwehrtester Herr Patriot! Es hat der artige Brief in Ihrem fünften Stücke eine verdrießlich stumme Gesellschaft sehr lebhaft abgemahlet. Mich aber führte neulich ein Zufall in eine solche Versammlung, da ich gerade das Gegentheil mit empfindlichster Unlust erfahren, und meine Ohren von der Klapper-Mühle einer unmäßigen und dünckel=vollen Beredtsamkeit übertäuben lassen muste. Ich weiß nicht, mein Herr, ob ich nicht lieber hätte einer sprachlosen Einfalt beyzuwohnen, als einer so plauderhaften Weisheit Gehör zu geben wünschen mögen. Dero vielgültiges Urtheil mag entscheiden, welcher von diesen beiden Fehlern im menschlichen Umgange der unerträglichste sey. Ein junger Herr, der sich überflüßig klug und galant düncken ließ, hatte in gedachter Gesellschaft das Wort allein. Er redte alle Sprachen zugleich, indem er sie mit seiner Teutschen durchfricassirte, ungeachtet er weder die eine noch die andere recht gelernet hatte. Lateinische Sprichworter musten insonderheit häuffig herhalten, welche so geschicklich angebracht, und so richtig ausgesprochen wurden, daß ein Verständiger Mühe hatte, das Lachen zu verbeissen. Unterdessen machte er sich aus allen seinen Fehlern nichts, und hielte Farbe, wann alle, die ihn horeten, roth wurden. Sein Gewerbe war die Handlung: seine Reden aber und sein Urtheil erstreckten sich über alles was Menschen wissen können. Er fuhr mit seinen Discursen durch alle Reiche der Welt. Mit Hülffe eines hundertfältigen A PROPOS und tausendmahligen

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Kommentare

und

Erläuterungen

EN FIN war er bald in Moskau, bald in Japan, bald wieder bey uns am Tische. Das anwesende Frauenzimmer hütete sich, in sein Gespräch verwikkelt zu werden, weil das geringste Wort unendlich Wasser auf seine Mühle gab. Ein Staats-verständiger Mann, der gegen ihm über saß, veränderte, unter einem höflichen Vorwand, seine Stelle, nachdem er in einer halben ViertelStunde mit ihm schon an den meisten Höfen von Europa gewesen. Nicht anders machte es ein braver Kauffmann, aber zu meinem grossen Verdrusse. Denn weil er bißher zwischen uns die Scheide-Wand gewesen, so ward durch sein aufstehen dem Herrn von Windheim meine lincke Seite geblösset, welches ihn auch den Augenblick an mich brachte. MONSIEUR, sagte er, Sie machen, wie ich höre, PROFESSION von die STUDIA? Ich gedachte meine Antwort bey einer blossen höflichen Neigung bewenden zu lassen: Allein da kam so fort die Malabarische Sprache aufs Tapet, von welcher er auf den veränderten Calender, und ehe ich michs versähe, auf die Universität Oxford verfiel. EN FIN, hieß es gleich darauf, MONSIEUR, wen halten Sie unter allen heutigen Teutschen Poeten wol für den grossesten? Bevor ich hierauf zur Antwort kommen kunnte, fuhr er in eins fort, mich zu versichern, daß er von Jugend auf eine ungemeine Neigung, EN FIN, wie er sagte, ein gantz EXTRAORDINAIRCS Talent zur Poesie gehabt; müste ihn auch Wunder nehmen, wenn ich von seiner Arbeit noch nichts sollte gesehen haben. Ich bezeugte, daß ich bißhero noch nie so glücklich gewesen. Worauf er gleich in seine Tasche griff, und mir einen Zettel behändigte, mit bedauern, daß er eben nichts zur bessern Probe bey sich hätte, als diese kleine Grab-Schrift, welche er neulich im Nahmen eines Freundes aufgesetzet, dem sein halbjähriges Töchterlein abgestorben. Selbige bestund in folgenden sehr tröstlichen Worten: So mustu denn nun, mein Kind, auch schon schlaffen ein! Mein Schmertzen=Brust muß leider dadurch traurig seyn. Doch gute Nacht! du thust nun ruhen für und für. EN FIN du schmeckest schon das himmlische PLAISIR. Ich gebe Ihnen, mein Herr Patriot, dieses Poetische Muster, so gut ich es empfangen, und ohne Sie weiter mit der Erzehlung aufzuhalten, wie ich endlich aus dem Labyrinthe dieses windichten Wäschers mich heraus gearbeitet, überlasse ich Dero ruhm-würdigsten Sorgfalt, ob Sie geruhen wollen, auch dieser Art verdorbener Menschen einmahl einen Sitten=Spiegel aufzustellen, darin Sie die Thorheit einer ruhmräthigen und eckelhaften Piauder-Sucht vor Augen sehen mögen. Ein ieder, der Vernunft und Bescheidenheit liebet, würde sich Ihnen für solche heilsame Bemühung verpflichtet erkennen. 2C. von Hause den 10. Febr. 1724.

MISANEMIVS.

zu Jahrgang

1 /1724,

Stück

Ii

83

Diesen beiden in loblicher Absicht geschriebenen Briefen füge ich mit Fleiß noch einen von gantz anderer Art bey, welchen mein Diener gestern auf St. Nicolai Kirch-Hofe gefunden. Der geneigte Leser hat die Wahl, ob er daraus die Üppigkeit und den Unterschleiff eines wollüstigen Gesindes erkennen, oder ob er daher eine Probe nehmen will, wie hoch die sogenannte Politesse heutiges Tages gestiegen, und wie kräfftig das Exempel der Grossen auch bey Leuten vom allerniedrigsten Stande wircke. B.

127

128

20

Schlabbrioten-Maul

Schwätzer,

22

Ne sutor ultra crepidam

24

Zuffel

26

Ein B

15

Philotheus

,,Schuster bleib bei deinem

von tuffel: Pantoffel nicht

Klatschmaul. Leisten."

(Grimm).

erklärbar.

„Gottlieb".

16—131,21 In B als erster Brief mit folgender Einleitung: Es wäre fast ein Wunder gewesen, wenn der Vorschlag einer Frauenzimmer-Academie, den ich unlängst gethan, bey allen Lesern so fort Eingang gewonnen, und niemand dabey etwas zu erinnern gefunden hatte. Die Sache war zu fremd, als daß sie gleich für bekannt angenommen werden, und gar kein Bedencken erwecken sollte. Ich muste mich nothwendig von verständigen Leuten entweder einer beyräthigen Verbesserung, oder wenigstens einiger gemachten Schwierigkeiten vermuthen. Unterdessen verlieffen bey nahe zween gantze Monate, ehe mir deßwegen etwas kluges zu Gesichte oder zu Ohren kam. An einem groben Wiederspruch mag es vielleicht hie und da nicht gefehlet haben: worauf ich aber desto weniger zu achten pflege, je mehr ich versichert bin, daß solche Leute nicht darum grob sind, daß sie hoflich beantwortet seyn wollen. Folgender Brief war demnach der erste, worin ich dasjenige fand, was mich dauchte einer Annahme und Überlegung wehrt zu seyn. ^ J 3 0

131

galantes] vernünftiges B.

13 Vorschneiden vorlegen.

die Speisen für die Gäste zerschneiden

28

mit einander auffhchcn

^

Jephilandro

gemeinsame

Sache

und ihnen

machen.

„Menschenfreund".

21: B folgt: Der Herr JEPHILANDRO wird erlauben, daß ich diese seine Zweifels-Fragen dreyfach aus einander setze. Ein Theil derselben haben das

84

Kommentare

und

Erläuterungen

Ansehen eines blossen artigen Schertzes: und auf diese, bin ich versichert, daß Ihm bey der Erfindung selbst, auch zugleich eine wolerfundene Antwort schon bey der Hand gewesen. Die andern betreffen eine Schwierigkeit, die allen loblichen Anordnungen gemein ist, nemlich die Furcht eines Mißbrauches, wogegen nichts anders bey dieser neuen Academie zu sagen ist, als was man würde gesaget haben, wenn eben dergleichen Einwürffe wieder eine iede männliche hohe Schule waren gemachet worden. Die dritte Art aber, welche ich noch zahlreicher hätte wünschen mögen, vergnüget mich besonders; als worin theils wirckliche Zusätze zu unserer Verfassung, theils Ursachen zur Vorsichtigkeit in einigen Dingen eröffnet werden, die nicht aus der Acht zu lassen. Die Stiffterin, von welcher man gnug versichert ist, daß sie selber nimmer wieder heirathen wird, hat damahls nichts mehr, als nur den ersten Entwurf ihrer Academischen Gesetze durch mich bekannt gemacht. Sollte es ihr gefällig seyn, etwa künftig dieselben, mit denen seithero gemachten Verbesserungen, ans Licht zu stellen, so würde sichs befinden, daß diese kluge Matrone in den obberührten Haupt-Sachen mit dem Herrn JEPHILANDRO auf einerley Gedancken von selbst gerathen, und ihr dahero desselben freundliche Anerinnerung, als eine Beypflichtung, nicht unangenehm gewesen. Wie sie denn demselben, wegen des guten Vertrauens zu ihrer Stifftung, sich sehr verbunden erkennet, und seinen dahin zu erwartenden Kindern mit aller Liebe zu begegnen, sich erbotigst verpflichtet. Nachdem ich unterdessen heute einmahl über meinen Briefe-Schranck gerathen, fallen mir daraus auch noch folgende Schreiben in die H a n d , welche ich ungern wieder zurück legen mogte, ohne davon meinen Lesern Antheil zu gönnen. 23—26 Nachdem Sie . . . auch einmahl] Ich nehme mir die Freiheit, Sie zu ersuchen, daß Sie doch, nach so vielen anderen guten Erinnerungen an Ihre Mit-Bürger, auch einmahl B. 21f.

hartnäckiger] hartnäckig, und so zu sagen Schläge-faul B.

lff. „Guten Morgen, Bruder Martin. Komm, wenn du deinen Hausherrn und die Hausfrau zur Kirche gefahren hast, in meinen Stall. Christine kommt schon vorher, und bringt einen Henkelkrug mit Sekt [Süßwein] mit, und der Tee ist bald fertig. Steck eine Büchse voll Puderzucker, den du gestern erwähntest, zu dir. Kannst du Adelheid mitbringen, so tu es. Leb wohl. Erzähle Adelheid von der Koolschahl [Konschaal, Koold-Schaal: in Angeln früher Mahlzeit bei Gildesitzungen, bestehend aus gekochtem Bier mit Roggenbrot und Grütze. (Mensing)], und daß ich noch eine halbe Flasche

zu Jahrgang 1 /1724,

Stück 16

85

Apothekerschnaps für sie aufgehoben habe. Wenn sie kann, wird sie wohl kommen. Gib ihr von mir einen Kuß. Das wird ihr noch etwas dazu helfen. Kannst du kommen, so laß mir durch den Jungen, der dies überbringt, „ja" sagen; ich versteh's dann richtig. Übrigens bring' auch meinen Teereimer mit, wenn du ihn gebraucht hast. Klaus Grashüpper." 2

Iffran] Iffrau (Druckfehler

dieses

Neudrucks).

Stück 16 Das Stück befaßt sich, auf Nr. 9 anspielend, mit dem Kutschenluxus in Bürgerstädten. Es ist ein Musterbeispiel unterhaltsamen, scherzhaften Moralisierens im Gegensatz zur auf den kirchlichen Kanzeln üblichen ernsten Sittenpredigt. Durch die Einkleidung der Ausführungen in die Form eines Auszugs aus einem schulmäßigen Traktat wird zugleich unnütze Pedantengelehrsamkeit lächerlich gemacht. Der vorangestellte Titel des von Philipp Schmalwitz gelieferten Traktats parodiert in seiner Umständlichkeit und seinen bereits hier untergebrachten rhetorischen Kunstfiguren (vgl. z. B. das Oxymoron mit derber Gelindigkeit 134,9) die gespreizte selbstgefällige Manier zeitgenössischer Erudition. Die anschließende Inhaltsangabe kennzeichnet die Mentalität des Traktatschreibers eindeutig. Alberne Beweisführungen, Auskramung historischen Quisquilienwissens mit — der humanistischen Wurzel dieser Gelehrsamkeit entsprechend — besonderer Bevorzugung des Altertums, spitzfindige Vergleiche und schulmäßiges Abhandeln in Einwurf und Widerlegung geben pedantische Gelehrsamkeit der Lächerlichkeit preis. In den ,¡Einwürfen" bringt der Patriot seine Gedanken zum Kutschenluxus an, deren Vernünftigkeit angesichts der Albernheit der dagegen gesetzten „Antworten" nur um so mehr einleuchtet. Der vernünftige Bürger ist sparsam, er hält zu Rate, er verzichtet auf äußerlichen ,,Staat", auf

86

Kommentare und Erläuterungen

„Ansehen" und Figurmachen zugunsten wirtschaftlicher Solidität. Er leistet sich keinen Luxus, nur weil die Mode es verlangt, sondern wägt Nutzen und aufzuwendende Mittel ab. Vor allem die Jugend sollte nicht zum herrenmäßigen Auftreten verleitet werden. Zudem können Kutschen in engen Gassen eine Belästigung anderer Bürger werden. Kennzeichnend für das „patriotische" Denken des Patrioten der erste Einwurf (139,10ff): Die für den Kauf von Pferden, Futter und Streu aufzuwendenden Geldmittel würden nach außerhalb Hamburgs fließen und daher den eigenen Bürgern entgehen. Der Patriot denkt hier „nationalökonomisch", im wirtschaftlichen Interesse seiner Stadt. — Insgesamt manifestiert sich in der Kritik am Kutschenluxus eine entschieden bürgerliche, sich von feudaler Repräsentation und großmannssüchtigen Allüren distanzierende Haltung. Bemerkenswert ist, daß sich trotzdem kein asketisch-puritanischer Zug dabei findet. Die letzten Sätze, die der Patriot selber formuliert, versuchen, hier möglichen Mißverständnissen vorzubeugen. Wer die Mittel hat, darf sie zu seiner Bequemlichkeit getrost nutzen, wenn es nicht in Verschwendung ausartet und wenn er seiner Verpflichtung gegenüber den Armen eingedenk ist. Behagliches Genießen des eigenen Wohlstands bleibt — in ökonomisch vertretbarem Rahmen — dem Bürger dieser Welt (in der man ja glückselig sein soll) unverwehrt. Übrigens ist dem Disput über den Kutschenluxus auch ein spezieller theologischer Aspekt eigen. Denn in der Antwort auf den zweiten Einwurf wird gegen die heidnischen Römer und ihre verdorbene natürliche Vernunft in einer Manier hergezogen, die in kirchlich-orthodoxen (und pietistischen) Kreisen zuhause war. Gerade erst war diese Manier in einigen Flugschriften, die gegen die auf die natürliche Vernunft gegründete Tugendlehre des Patrioten polemisierten, wieder zutage getreten. Im Kontext der albernen Hervorbringungen des Philipp Schmalwitz wird die altfromme Einschät-

zu Jahrgang

1 /1724,

87

Stück 16

zung der natürlichen Vernunft ins Lächerliche gesetzt, und zugleich damit werden es die in frommen Kreisen gehegten Bedenken gegenüber der Lektüre antiker (= heidnischer) Texte auf Schulen. — Auch die Bemerkungen zu Nahrungs= Sorge, Selbst»Versorgung (137,9f.) und zur Zukunftsvorsorge, die mehr als Heydnisch sei (138,8f.), haben einen theologischen Hintergrund. Indem solche Bemerkungen dem albernen Ph. Schmalwitz in den Mund gelegt werden, wird, ohne daß die Bibel dabei eigens genannt wäre, insgeheim das neutestamentliche „Sorget nicht!" als abwegig hingestellt, — ein Gebot (Matth. 6,25—34), das in der Tat ökonomisches Vorsorgedenken jahrhundertelang als Zeichen schwachen Gottvertrauens behindern konnte. — Ein solches Gottvertrauen kann dem Aufgeklärten nur noch als fahrlässig erscheinen, und entsprechend etablieren sich denn auch im 18. Jahrhundert die ersten Versicherungsinstitute für den Bürger. Haushälterische Vorsorge und Sparsamkeit — etwa beim Kutschenwesen — sind Pflicht jedes Tugendhaften. Vf.

M.

Richey

Motto Juvenal, Saturae 1, 158—159. — „Auf Flaumfedern ben und von dort auf uns herabsehen." J 3 4

Ochippologia exetastico-eristica de".

,,geprüft-streitbare

soll er

Pferdewagenkun-

8 Singularismi, Menagianismi und Patriotismi scherzhafte bildungen, hier im Genitiv, übersetzbar etwa mit: „Absonderitis", halteritis", ,,Patrioterei". 16 J 3 5

Ph. Baccal.

Philosophiae

schwe-

Wort,,Haus-

Baccalaureus.

3—15 Dieser . . . erforschen] Hier gerieth er an den rechten Mann, der bald merckte, daß der Herr BACCALAUREUS gantz voll von sich selber war; daher er ihn mit wenig Worten beredete, selber die Mühe zu nehmen, und aus seinem herrlichen Wercke einen kurtzen Auszug zu machen. Er versicherte ihn, daß er damit nicht nur der gantzen Stadt, und der halben gelehrten Welt, sondern auch sich selber einen Dienst thun würde, indem man

Kommentare

88

und

Erläuterungen

solchen wolgemachten Grund=Riß zu Leipzig oder anderswo gar gern in die öffentlichen Tage=Bücher der Gelehrten setzen, und damit so wol Verlegern als Kauffern den Mund wässernd machen wurde. Wem war lieber hiezu, als Hn. S c h m a l w i t z ? Er sähe sich schon im Geiste als ein trefflicher Scribente, und seinen Tractat, als ein höchst verlangtes ANECDOTE, in JouRNALen stehen: zweifelte auch gar nicht, er würde durch dieses Mittel zu seinem Kinde gar bald eine Heb=Amme finden. Deßwegen eilete er nach Hause, saß die gantze Nacht, und kam darauf des nächsten Morgens mit seinem Extracte angewandert. F i n e t t o uberlieff denselben alsofort mit den Augen, und da er die verschiedenen Einwürffe darin bemerckte, frug er den Hn. Verfasser, wer ihm dieselben gemacht hatte; oder ob sie etwa Gebührten seiner eigenen Tieffsinnigkeit wären? Die Wahrheit zu bekennen, antwortete Hr. S c h m a l w i t z / selber habe ich sie nicht ersonnen; sondern sie sind mir ehemahls von einem guten Freunde mitgetheilet worden, der sie aus den Reden eines gewissen Mannes zu Papier gebracht, welcher sich den P a t r i o t e n nennet. Kennen Sie denn denselben Mann? frug F i n e t t o weiter. Es soll ein alter von Adel seyn, sagte S c h m a l w i t z : mehr weiß ich von ihm nicht: es brauchts auch eben nicht, viel gutes von ihm zu wissen, weil ich in meinem Wercke ihn nicht zu loben, sondern als meinen Wiedersacher herunter zu machen gedencke; worin mir eine genaue Nachricht von ihm hinderlich seyn könnte, als welche vielleicht nur eine Hochachtung erwecken mögte. Recht so! erwiederte Hr. F i n e t t o , und erließ damit den Hn. BACCALAUREUM: uns aber hielte er sein Wort, und brachte am folgenden Tage bey Hn. E u d o x i o den verlangten Auszug mit sich, welchen ich, versprochener massen, meinen Lesern allhier vorlege, und den Liebhabern einer gewissen Üppigkeit ihren ansehnlichen Vorsprach mit seinen eigenen Worten folgender gestalt reden lasse. B. 16—141,21

In B durchgehend

22 Thubalkain 1. Mose 4,22).

biblischer

in der

Ich-Form.

Urvater aller Eisen- und Erzarheiter

(vgl.

24 Schwantzel-Gelder ,,Schwäntzel-Pfennig: Geld, welches man . . . bey dem Einkauf oder Verkauf unterschlägt, als einen unerlaubten Gewinn für sich behält." (Adelung). 26 Sardanapalus weichlichung. 2

assyrischer König, berühmt für Üppigkeit und Ver-

Architectura carpentaria

Wagenbaukunst.

6 aus Scheffero gemeint ist vermutlich Johannes von: De re vehiculari libri II, Frankfurt 1671.

Scheffer,

Verfasser

zu Jahrgang

89

1 / 1724, Stück 16

8 bedienet.] bedienet. Hiebey vergesse ich nicht, meinen geehrtesten Gönnern öffentlichen Danck abzustatten, die mir mit einem guten LEXICO ANTIQUITATUM, SCHEFFERO, LIPSIO, COLLEGIO M S . u n d a n d e r n raren B ü -

chern gütigst an die Hand gegangen. B. Lipsio Justus Lipsius (1547—1606), niederländischer klassischer Philologe, Professor in Jena, Köln, Leiden und Löwen; sein Hauptwerk ist die neustoizistische Schrift De Constantia (1584). 14—24 Ich will. . . behelffen müssen.] Und weil ich Ursache habe, den so genannten P a t r i o t e n unter meinen Gegnern ins erste Glied zu stellen, so beschreibe ich denselben in einer besondern Note gantz genau nach allen Umständen, so viel man nehmlich von ihm sagen kann, ohne ihn zu kennen. B. 16 J ^ ~J 14 27

Allegata

angeführte

Schriftstellen.

ex legibus sumtuariis Telemaque

1 3 8 schwerer

nach den Gesetzen

vgl. Erl. zu

Block-Wagens Lasten.

über den

Aufwand.

68,7.

Wagen mit vier starken

Rädern

zum

Transport

23 f. Handels-Mann, und hat] Handels-Mann, oder will, aus EhrGeitz, seine Pferde der Karren-Trecker Brodt-Diebe nicht heissen lassen; und hat B. ^39

21 f. Hn. Paullini Dreck-Apothecke Die Heilsame Drcck-Apothckke von Christian Franz Paullini erschien 1713—14 in Frankfurt am Main; 1734 neu aufgelegt unter dem Titel Neu-Vermehrte Heylsame Dreck-Apothecke, wie nemlich mit Koth und Urin fast alle, ja auch die schwerste, gifftigste Krankheiten, und bezauberte Schäden von Haupt bis zu Füssen in- und äußerlich, glücklich kuriret werden . . . Frankfurt am Meyn . . . 1734. (Neudruck dieser Ausgabe München 1969).

J 4 0

^ Beyschläge Verschlage Pferdefuhrwerken in Sicherheit

141

9

Carossen-Wurm

an Haustüren, hinter bringen konnte.

Wurm hier soviel wie Tick,

die man sich

Marotte.

vor

90

Kommentare und Erläuterungen

Stück 17 Mittels eines Briefes werden Stoff und Darbietungsweise der Zeitungen und zugleich die ,,Curiosität", die oberflächliche Neuigkeitensucht ihrer Leser, verspottet. Der Brief eines ägyptischen Weltweisen verheißt dem Patrioten ein Wunderthermometer. Die Nachrichten der ersten Ausgabe des Curieusen Nieder=Elbischen Staats=-Boten, datiert von Dörfern und Flekken aus der Umgebung Hamburgs, zielen satirisch auf die wichtigtuerische Manier der Zeitungsschreiber, wozu auch ihr mit Fremdwörtern aufgeputzter Stil gehört, und auf ihren Stoffbereich, der sich von dem des Patrioten ganz wesentlich unterscheidet. Eine Moralische Wochenschrift wie der Patriot bringt keine „neue Zeitungen", keine Nachrichten, nichts Wunderbares, nichts „Politisches". Sie verzichtet auf die Zuschauerrolle vor der Bühne der großen Herren, dem Theatrum der Kriegsbegebenheiten, der Affairen bei Hofe und sonstiger ,,Staats-Sachen", und stattdessen lenkt sie den Bürger auf seinen eigenen Bereich, auf die Fragen des gesellschaftlichen Wohlverhaltens, der allgemeinen wie der individuellen Glückseligkeit. Nicht der Sinn für Curieuses — Absonderliches, Spektakuläres, für den Bürger Irrelevantes, weil außer ihm und seiner Welt Liegendes — soll .geweckt werden, sondern das Interesse an sich selbst und seinen eigenen Belangen. In welcher Weise etwa die „politische" Curiosität der Gazetten satirisch anvisiert wird, zeigt die Nachricht aus Steinbeck (147,9ff), wo nun — statt einer Armee — das Hornvieh Winterquartiere verläßt, C A M P i r e t und einen M A R C H antritt. Das Interesse an Visiten allerhöchster Personen wird in der Rahlstedter Meldung verspottet, wonach ein Storch REs i D E N t z bey uns nehmen werde (145,6ff.). Die Zeitungslust am Wunderbaren erhält in der Meldung vom schwarzen Kalb mit weißem Fleck und in der Nachricht über ein gewal-

91

zu Jahrgang 1 / 1724, Stück 17

tiges C H A N G E M E N T in der Lufft (sprich: den Einzug des Frühlings) (146,30ff.) satirische Hiebe. Die Bemerkung des Patrioten von der unordentlichen Neugierde der allermeisten von unsern Einwohnern, die mit der Mißachtung der allerwichtigsten und besten Schrifften verbunden sei, wirft Licht auf das Leseverhalten des großen Publikums. Zugleich kann der Patriot aber mit Genugtuung auf den taglich sich vermehrenden Abgang seiner eigenen Blätter verweisen, der in der Tat, nicht zuletzt auf Grund des Flugschriftenstreits um den Patrioten, gerade zu dieser Zeit ganz beträchtlich gewesen sein muß. Das Schreiben des Hai Ebn Salaman (149,1 f f . ) ist selbstverständlichfingiert. Der Patriot hatte im 1. Stück derartige Briefe angekündigt. Sie dienen der scherzhaften Unterhaltung. Das hier erwähnte Wunderthermometer spielt als Wetter=Glas des Verstandes im Stück 34 eine Rolle.

Vf.

C. F. Weichmann (?)

Motto Ovid, Metamorphoses IV, 284. — „Mit angenehmer werde ich eure Gemüter ergötzen." Motto B

MERCURIUS, QUE

IOUIS QUI

NUNTIUS

PERHIBETUR,

Nachricht

NUNQUAM

AE-

PATRI

SUO NUNTIUM LEPIDUM ATTULIT, QUAM EGO NUNC.

PLAUT.

Plautus, Stichus 274-275. - „Merkur, der als Bote des Jupiter gilt, hat niemals seinem Vater eine solche Botschaft gebracht, wie ich jetzt." J45

1—147,19: In B sind einige Meldungen weggelassen, erweitert oder neu hinzugekommen. Außerdem sind einige Ortsnamen und Datumsangaben geändert. Alle aufgeführten Orte — auch die aus B — sind Ortschaften im Umkreis von Hamburg. 7—10: Seit den letzten Zigeunern, sind keine in hiesiger Gegend gesehen worden. Der Aufbruch aus ihrem C A M P E M E N T , eine viertel Meile von hier, soll mit vieler C O N F U S I O N geschehen seyn, nachdem sie wegen einiger abzusetzenden B A G A G E auf gewisse Juden vergeblich gewartet. Gleich ietzo verlautet, daß sie ihre M A R C H - R O U T E gegen Nord-Osten genommen, ein 7

Der Patriot, Bd. IV

92

Kommentare

und

Erläuterungen

kleines DETACHEMENT aber mit einem Theile ihres wolgewonnenen Gutes nach der Trave DEFiLiren lassen. Welches auch durch Passagirer aus Moislingen bestätiget wird. Mit dem Wechsel ist es noch beym vorigen, und gilt der Thaler 48 ß. B. 18:

B folgt:

S p i t z e r d o r f f , den 17. A p r i l . Die allhier schon einige Stunden sUBSiSTirende zween vornehme Fremde nahmen zu Wedel das Mittags-Mahl ein. Nachmittags beliebten dieselbigen den dasigen Roland in Augenschein zu nehmen, und verfugten sich noch vor Abends mit einer kleinen SUITE von einem Diener, und dem Haus* Knechte, wieder in dero Quartier. Von einer bevorstehenden grossen PROMOTION b e y d e r M I L I C E in d e r N a c h b a r s c h a f t w i r d s t a r c k g e s p r o c h e n , u n d

meinet man, daß der Gefreite Cord Ammann, in Ansehung seiner vieljährig geleisteten ersprießlichen Dienste, wol dürfte zu einer CoRPORALschaft AVANciret

werden.

19

W i l h e l m s b u r g ] S i e c k B.

21

en besogne

in

Beschäftigung.

22f. Belgen-Treter-Stelle Belgentreter: Orgeln durch Treten in Bewegung setzet"

„der die Blasebälge (Adelung).

an den

1-8: Buckberg,

den

22.

DITO.

Gestern passirte ein Bauer, mit einem heimlich geschossenen Hasen hiedurch nach Hamburg, welcher berichtete, daß an bewustem Orte die angestellete Jagd fruchtlos abgelauffen. Man muthmasset, es werde dasiger Vogt schon vorher zugesehen haben, daß seine Gegend, zu seinem und des Land-Mannes SOULAGEMENT, von uberflüssigem Wilde gesäubert worden. Auf dem Hofe des Hochwolgebohrnen Herrn VON NIEMEDAL befindet sich der bekannte Zwerg nebst seiner gnädigsten Herrschaft annoch in erwünschtem Hochseyn. B. 20: B folgt: Vor einigen Tagen war allhier alles in der grossesten CONSTERNATION, wegen eines EXTRAORDiNAiren Traumes, den eine gewisse Glrtners-Frau gehabt; indem derselben in der Nacht zwischen zwey und drey Uhr vorgekommen, als ob die Sonne in den Brunnen auf ihrem Hofe fiele, und alles Wasser in sich zöge. Man will sagen, daß davon eine bedenckliche Deutung ausgefunden sey, so aber sehr SECRETiret wird, und giebt man es daher der Zeit am besten zu entdecken. 21-147,2:

fehlt

B.

2« Jahrgang 1 / 1724, Stück 18 1 4 7

9—13:

fehlt

93

B.

31 können.] können. Nächst dem kann ich nicht bergen, daß ich darin die GAZETTIERS RAISONNEURS, zusammt ihren Staats-klug vermeinten Lesern nicht undeutlich angestochen finde, welche bey ieder Nachricht ihre politischen Fern- und Vergrosserungs-Glaser alsofort in der Hand haben, und weder die verborgensten Cabinet-Sachen mit ihrer tieffen Einsicht unergründet, noch die gemeinesten Kleinigkeiten mit einem Geheimniß-vollen Bedencken unbegleitet lassen. B. 149

^ Serquis von Meque zugeschrieben wurde.

orientalische

Pflanze,

der

Verjüngungskraft

H n . Lamperts Schonheits-Wasser möglicherweise nach Chryso28 stomus Lampert, Verfasser von Erwünschter Haus-Arzt der Krankheiten der Kinder, Merseburg 1689.

Stück 18 Der Patriot setzt übergangslos Verschiedenes nebeneinander. Auf zwei allegorische Gemälde, die beschrieben werden, folgt eine lange Liste von Regeln und Maximen zur Kindererzieh ung. Die Erklärung für die allegorischen Schildereyen liefert der Patriot selber. Es handelt sich demnach beim ersten Bild um den Triumphwagen des extravaganten Kleiderluxus, von Stolz und Eitelkeit vorwärts getrieben, vom Neid behindert; der dadurch verursachte Vermögensverlust zieht die Sorge und den Betrug nach sich. Dem folgen wiederum Armut, Unfreiheit und Verachtung. — Das zweite Bild zeigt den Tempel der Schlemmerei mit einem an ausgesuchte Leckereien gewöhnten feisten Götzen vor dem Altar der gedeckten Tafel, zur Seite die Priester mit Eßwerkzeugen. Zeit, Ordnung und Mäßigkeit werden vertrieben, Krankheiten erhalten Einlaß, Hunger und Elend geben den Hintergrund ab. — Die moralische Tendenz des hier allegorisch Vorgeführten ist eindeutig. Die Aufnahme solcher Gemälde, die auch im 7*

94

Kommentare und Erläuterungen

Spectator und im Guardian zu beobachten ist, dürfte eine Konzession an den Geschmack eines Publikums sein, das an die emblematischen und allegorischen Verschlüsselungen des 17. Jahrhunderts noch gewöhnt war. Daß der um Verständlichkeit, Klarheit und Deutlichkeit bemühte Patriot dem allegorischen Verfahren selber etwas distanziert gegenübersteht, läßt sich aus seiner Bemerkung schließen, die Dinge seien hier etwas umständlich abgebildet (154,7). In den Sätzen und Regeln zur Kinderzucht verzichtet der Patriot auf jede Einkleidung. Sein pädagogisches Programm ist in vielen Punkten modern. Nur einiges sei herausgegriffen: Es fällt auf, daß nur an einer einzigen Stelle (158,29ff.) ein religiöses Moment in den Erziehungsmaximen enthalten ist. Die letzte Regel, die Eitelkeit menschlicher Dinge berufend, erinnert zwar an christlich-weltflüchtige Auffassungen, doch die anschließende Empfehlung zur Vermittlung der anmuhtigsten Vorstellungen vom Tode läuft dem entgegen. Wichtig erscheint der Gedanke, daß Eltern ihre Kinder selbst zu erziehen hätten, — daß sie also nicht, wie in aristokratischen Kreisen üblich, an das Personal, an Gouvernanten und Hofmeister abgeschoben werden dürfen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Forderung, die Mütter sollten ihre Kinder selber säugen, — eine Mahnung, die, mit einer spezifischen Wendung gegen das Ammenwesen, lange vor Rousseau von den meisten deutschen Moralischen Wochenschriften vertreten wird, — die man übrigens auch bereits im 17. Jahrhundert vernimmt, so — in Hamburg — von Johann Balthasar Schupp in seinen Predigten und Schriften. Wichtig die Betonung auch körperlicher Ertüchtigung, wichtig ebenfalls die Forderung nach einer der Knabenerziehung gleichwertigen Bildung der Mädchen. Ein wenig widerspruchsvoll wirkt die Empfehlung von Liberalität und Güte einerseits, Härte und Strenge andererseits bei der Korrektur der Kinder. Immerhin klingt bei Eigensinn (155,16),

zw Jahrgang

1 / 1724, Stück 18

95

Hartnäckigkeit und vorsetzlicher Bosheit (157,1 f.) der Gedanke an die Erbsünde als die Wurzel solcher Erscheinungen nicht mehr an. Gut aufklärerisch ist die Wendung gegen das Auswendiglernen, das Memorieren (156,8ff.), das in älterer Pädagogik eine bedeutende Rolle spielte. Dem entspricht die Aufforderung zur Förderung kindlicher Neugierde. Bemerkenswert auch die Forderung der Einführung in die Schönheit der Natur (159,4ff), ein Thema, das dem mutmaßlichen Verfasser dieses Stücks, Brockes, besonders am Herzen lag. Kennzeichnend für den gesellschaftlichen Standort des Patrioten ist die Warnung vor dem Umgang der Kinder mit dem Gesinde und mit unerzogener Jugend (156,1 f f . ) . Die Gemeinschaft des „Ganzen Hauses", der ökonomisch, rechtlich, religiös und sittlich begründeten Einheit einer das Gesinde und unverheiratete Verwandte mit einschließenden Großfamilie, ist hier aufgegeben. An ihre Stelle ist die bürgerliche Kleinfamilie getreten. Standesunterschiede nach „unten", zum Gesinde und zu den ungebildeten Bevölkerungsgruppen, werden jetzt betont. Durchaus ins bürgerliche Lebenskonzept paßt der Rat, die Kinder an jede Art von Arbeit zu gewöhnen (156,4 f f ) : bürgerlich ist auch die Anweisung, Kinder sollten sich täglich über ihr Tun Rechenschaft abzulegen lernen, sie sollten also ein Tagebuch führen, — nicht etwa ein geistliches, sondern eines, das die vernünftige Nutzung des Tages zum Inhalt hätte; bürgerlich schließlich ist die Aufforderung, Kinder durch Anvertrauung von Geld bereits früh an den Umgang mit diesem wichtigen Existenzmittel zu gewöhnen, — ein Gedanke, der später auch bei den Philanthropen, bei Basedow und Campe, sowie in C. F. Weisses Kinderfreund (1771 f f . ) die Kindererziehung mitbestimmt hat.

96

Kommentare

Vf.

B. H.

und

Erläuterungen

Brockes

Motti Lukrez, De rerum natura IV, 750. — „Das ist den Augen ähnlich, was wir mit dem Sinn sehen." Quintilian, Institutio oratoria 12,6. — ,, Wenn doch nicht wir seihst die Sitten unserer Kinder zugrunde richteten! Durch Üppigkeit zerstören wir die Kindheit auf der Stelle." Motto

B

A B S T I N E A S I G I T U R DAMNANDIS: HUIUS ENIM VEL V N A POTENS RATIO E S T , NE CRIMINA NOSTRA SEQUANTUR E x NOBIS GENITI — — — .

IUUENAL.

Juvenal, Saturae 14,38—40. — „Enthalte dich aber des Verdammenswerten: Dazu ist schon ein Grund stark genug: daß uns unsere Kinder nicht in den Lastern folgen." 9

Ordonnantz

Anordnung.

2 Wolffgang in Berlin Johann Georg Wolfgang (1652 oder 1644 Augsburg — 1744 Berlin), seit 1704 in Berlin Hofkupferstecher. Zu seinen besten Werken wird ein Bild von Brockes gezählt (J. Chr. Gottsched, Handlexicon), das in der Neuauflage von dessen Bethlehemitischem Kindermord (1725) als Titelkupfer figuriert. Wolffgang in Berlin] Picart in Amsterdam B. - Bernard Picart (1673 Paris — 1733 Amsterdam). Kupferstecher, Holzschneider und Miniaturmaler. 4-154,3:

Zu beiden

Gemälden

s. Peil (1977).

7 Yeu-Vam/Paosua Yeu-Vam, Kaiser von China aus der Familie der Cheu (Tscheu); seine Mätresse Paosua brachte ihn um Thron und Leben. (Vgl. J. Hübners Kurze Fragen aus der politischen Historie, 9. Teil Leipzig 1710, S. 569). 28 auff dem Haupte eine Maus-Falle] in der lincken eine Vogel-Schlinge B. 29

Haamen

Fangnetz.

29f. Unruhe auff dem Kopffe 111,92,21. 31 Im Verschieß 119,6. 4

Unruhe: Pendel einer Uhr; s. auch

in der schwächer

von Musaischer Arbeit

werdenden

in Mosaik.

Farbe;

vgl. Erl. zu

zu Jahrgang

\54 1 56

J 5 7

1 /1724,

12

in Form eines Türckischen Bundes

13

Ortolanen

30

Ordnung] Klugheit B.

22-32:

fehlt

Ortolan (hortulanus):

97

Stück 19 in Form eines

kleiner

Turbans.

Brachvogel.

B.

^

gemeiner] nutzlicher B.

5

feiner und kostbahrer] kostbarer und künstlicher B.

9 B.

blosserdings unentbehrlich] nützlich und ihnen zugleich begreifflich

B folgt: Mit einander grob zu schertzen, Scheit» und Schmähe-Worte zu gebrauchen, sich unter einander zu verklagen oder zu beneiden, und mit Gewalt etwas von einander zu fordern, muß nicht gestattet werden. Anderer Leute Unglück muß man ihnen niemahls, als etwas neues, zu ihrer Freude erzehlen, auch von ihnen nimmer dergleichen anhören, ohne sie dabey zu einer schuldigen Empfindung und Bezeugung ihres liebreichen Mitleidens anzuweisen. 10—14 haben, andere . . . gestattet werden.] haben, oder Frevel und Muthwillen an denselben auszuüben, soll ihnen aufs scharffste verboten seyn, mit Vorstellung der groben Dummheit eines Pöbels, der weder die Natur der Thiere, noch die Grentzen der menschlichen Herrschaft über dieselben erkennet. B. 18 unterdruckt, werden.] unterdrückt werden. Vorwitz hingegen in unnothigen und gefahrlichen Sachen, imgleichen eine unzeitige Bekümmerung üm anderer Leute thun und lassen, die mit Versaumung seiner selbst verbunden ist, will bey Zeiten ausgerottet seyn. B.

158

^ Fuchsschwäntzer (Grimm).

heuchlerischer

Schmeichler,

Kriecher,

Angeber

Stück 19 Das Stück wendet sich gegen Grobheit, Zank- und Schmähsucht im allgemeinen und bei Advokaten im besonderen. Dazu dient der Bericht von Mentalität und Betragen

98

Kommentare

und

Erläuterungen

eines berüchtigten Anwalts sowie die briefliche Stellungnahme eines vorbildlichen Rechtsgelehrten zum Thema. Das Produkt juristischer Streitsucht, das der Stellungnahme zugrunde liegt, eine gerichtliche Replic (163,17), wird uns leider vorenthalten. — Ob der Bericht von dem wunderlichen, nebenher Bier brauenden Eilenburger namens Starrkater einen historischen Bezug besitzt, war nicht feststellbar, Übrigens erscheint in ist jedoch nicht unwahrscheinlich. Stück 57 ein Starrkater als der Typus des Prozessierers, die schandliche Starrkaterey als Prozessierlust. — Der Brief des Eudoxius, einer Figur, die bereits in Stück 9 eingeführt worden ist, ist jedenfalls fingiert, zumal er sich auf die Lektüre des unmittelbar vorangegangenen Stücks des Patrioten bezieht (164,21), was bei einer tatsächlichen brieflichen Einsendung nicht bereits zu einem Druck im folgenden Stück führen konnte. Er stellt klar, was die Pflichten der Menschlichkeit und die Regeln der Klugheit erfordern. Bemerkenswert, daß zu den vernünftigen Argumenten, mit denen die Forderung nach Ehrbarkeit und Billigkeit im Rechtsverkehr abgestützt wird, sich auch noch das religiöse gesellt, wie es in den christlichen Morallehren obenan stand: Der schmähsüchtige Rabulist wird auch vor Gott schuldig (165,22; 166,24). Die sonderbare Abneigung des Herrn Starrkater gegen die Konditoren gibt Gelegenheit, unangemessenen Aufwand an Zuckerwerk bei bürgerlichen Festivitäten zu kritisieren, wobei der Begriff „bürgerlich" hier deutlich in der Absetzung gegen „fürstlich" auf den Privatstand, vielleicht zugleich auch auf den „Mittelstand" bezogen ist (161,31).

Vf.

M. Richey (?)

Motto Plautus, Poenulus 586—587. — „Heute müssen nicht die als Mäkler des Rechts gelten, die Streitfälle verursachen, vielmehr diese hier: Wo es nichts zu streiten gibt, säen sie allererst Streit."

zu Jahrgang ^

6 Bartolus in Perugia.

99

1 / 1724, Stück 20

scholastischer Rechtsgelehrter

(1314-1357)

in Pisa, später

des Bartolus] des langst verlegenen Bartoli B. 162

^

Glimpff

Gelindigkeit,

Mäßigung im Betragen gegen

25 Cubeben dürre runde Früchte mit scharf aromatischem ähnlich dem Pfeffer. Zitwer-Saamen

anderweit . . . erwehnter Jurist

163

Kirche

Hopffen-Marckte gelegen.

(4ff.)

fehlt B.

165

1(,7

auch „Wurm-Samen",

Wermutart;

andere. Geruch, bitterscharf.

vgl. Stück 9.

größter Markt in Hamburg,

an der St. Nicolai-

Stück 20 Ein fingierter Brief an den Patrioten und dessen Stellungnahme geben Gelegenheit, auf die öffentliche Wirksamkeit der Wochenschrift einzugehen und daneben ein Urteil über Franzosen und französischen Geschmack abzugeben. Aus dem Brief des Amant de Bel-Esprit (in der Buchfassung heißt er Levin de Bel-Amour) ist zunächst einiges über die tatsächliche Resonanz des Patrioten zu entnehmen. Offenbar hat das Stück 2 mit der Ausgabenrechnung des bankrott gegangenen Matz Schaamroht das Hamburger Publikum besonders stimuliert (168,23ff.), — ein Publikum, das, wie es ausdrücklich heißt, solcher Schreib=Ahrt, d. h. solchen scherzhaft-satirischen Moralisierens, noch gantz ungewohnt war (169,7f.). Die alsbald gegen den Patrioten losgelassenen heftigen Streitschriften haben ihn offenkundig erst recht überall bekannt gemacht, so daß der Absatz der Woveranschlagt chenschrift auf 3- bis 4000 Leser wöchentlich

100

Kommentare

und

Erläuterungen

wird, (wobei hier vermutlich zwischen Lesern und Abnehmern nicht unterschieden ist). Der Patriot bedankt sich denn auch selber ironisch bei seinen Gegnern (173,6ff.). Daß die Flugschriftenverfasser mit ihrer wirksamen Reklame für den Patrioten insgeheim in dessen Diensten stünden, erinnert übrigens an ähnliche scherzhafte Unterstellungen gegenüber dem Spectator (vgl. Nr. 271). — Bezeichnend die Bemerkung, die Flugschriften gegen den Patrioten seien in den Gangen und Winckeln Hamburgs (169,19), bei den Schuhflickern und Leinewebern, besonders beliebt, — also nicht beim besseren, beim gutbürgerlichen Publikum, an das sich der Patriot richtet, sondern bei den etwas beschränkten kleinen Leuten. Die Bemerkung dient dazu, die Gegner des Patrioten herabzusetzen, sie mag aber auch einen realen Hintergrund haben: In Handwerkerkreisen waren kirchliche Autorität und altfromme Überzeugungen noch wenig angefochten; das freie, weltlich-philosophische Moralisieren des Patrioten fand hier noch wenig Verständnis. Der zweite Teil des fingierten Briefs verrät, welche gesellschaftlichen Folgen sich die Verfasser aus ihrer Arbeit erhoffen. Er verrät auch, daß sie sich auf das gute Deutsch ihrer Zeitschrift etwas zugute halten. Der dritte Teil des Briefes, die verliebten Sachen vermissend, bringt auf scherzhafte Weise die Rede auf Galanterie und französischen Geschmack. Die Stellungnahme des Patrioten dazu ist bemerkenswert. Bei aller Distanz zu höfischgalanter Lebensart französischer Provenienz, die in der bürgerlichen Welt in Deutschland damals Eingang gefunden hatte und die der Patriot durch einen anderen, einen bürgerlichen Lebensstil zu ersetzen sucht, verfällt er nicht in scharfe Schelte des welschen Alamodewesens, wie sie in christlich geprägter Literatur des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist, sondern er bleibt konziliant und zollt dem französischen Wesen und vor allem französischer Literatur, französischem Geschmack, durchaus Anerkennung (173,27ff.; 174,3ff.).

zu Jahrgang

1 /1724,

101

Stück 21

Der Schluß mit der Nachricht, er verreise und sein junger Verwandter werde ihn vertreten, ist ein Stück heiteren Maskenspiels um den fiktiven Verfasser, wie es auch in anderen Wochenschriften zu beobachten ist. Vf.

M. Richey (?)

Motto Horaz, Epistulae I 6,65—66. — „Wie Mimnermus meint, ist nichts ohne Lust und Liehe angenehm." 168

^ worden:] worden. Ich habe die Lebhaftigkeit desselben, gegen die darin geschehene Erwehnung meiner Person, solcher gestalt abgewogen, daß mir das Vergnügen meiner Leser den Ausschlag geben müssen. Daher ich ihn lieber mit einigen Anmerckungen begleiten, als aus unzeitiger Bescheidenheit ungedruckt lassen wollen. B.

|

21

Lein=Webern] Besem-Bindern B.

| ~JQ

11

Wetter-Gläser

1 VT | 73

19 AMANT 174,15. ^

|

8 27

DE B E L - E S P R I T ] LEVIN

träumen] ein

33-174,2

Thermometer. de

PETIT CHANSON

BEL-AMOUR

B. So auch 172,21 und

anstimmen B.

Ihre Comödien . . . thun hätten.] fehlt

B.

unverbesserlich] frey und angenehm B. brodirte Schuhe Andriennen

bestickte

vorn offene,

Schuhe. weite Frauenkleider

ohne

Taille.

Stück 21 Die im vorhergehenden Stück bereits angekündigte Abhandlung zum Thema der göttlichen Vorsehung erweist sich als eine philosophische Betrachtung über Gott und sein Handeln, wie sie die Aufklärer in der Nachfolge Leibniz' immer wieder angestellt haben.

102

Kommentare

und

Erläuterungen

In einer solchen philosophischen Betrachtung versucht die natürliche Vernunft, auch ohne die Offenbahrung (176,11) das Göttliche zu begreifen, —etwas, was nach alter christlicher Überzeugung der durch den Sündenfall verderbten menschlichen Vernunft unmöglich ist: Nur im Glauben und in der Gnade ist Gott, der über aller Vernunft steht, zu erfassen! Der Patriot dagegen verweist auf die Erkenntnisse, zu denen bereits die vernünfftigen Heyden gekommen seien. Er ist mit dieser Gottesbetrachtung, auch wenn er noch von der Schrifft Notiz nimmt (176,8), auf dem Wege zum philosophischen Gottesbegriff des Deismus. Das spezielle Thema dieser Betrachtung ist Weisheit und Gerechtigkeit der göttlichen Vorsehung, also das Theodizeethema. Die gegebene Parabel erläutert mit den nach menschlichem Urteil widersinnigen und ungerechten Handlungen des sonderbaren Reisebegleiters, die am Ende als höchst gerechte und weise Taten eines Engels zu erkennen sind, daß Gottes Handeln wohl für die Begriffe der Menschen oft übervernünftig, aber in einem höheren Sinne nicht widervernünftig ist, — was Gedanken in Leibniz' Theodizee entspricht. In einem höheren Verstände ist alles gut und gerecht, der Tugendhafte wird belohnt, der Lasterhafte wird bestraft werden; die göttliche Ordnung waltet über allem. Zweifel an solchem philosophischen Optimismus werden nicht laut. (Erst Voltaire hat ihnen um die Jahrhundertmitte in seinem Candide zu bitterer Artikulation verholfen.) Bezeichnend, daß diese auf den Deismus zusteuernde Gottesbetrachtung aus Anlaß des Pfingstfestes erscheint. Die Verfasser des Patrioten glauben sich mit ihren Darlegungen nicht im Widerspruch zu den christlichen Überzeugungen, sondern sehen sie gleichsam als eine legitime Ergänzung zu diesen in der Sprache der Weltweisheit. Die Parabel (179,11 f f . ) erinnert stark an das 20. Kapitel L'Ermite in Voltaires Zadig, ou la destinée, histoire orientale (1756). Das Motiv findet sich bereits im Dialog De libero ar-

zw Jahrgang b i t r i o des Triller

italienischen

hat es nach

103

1 / 1724, Stück 22

Humanisten

der Fassung

Lorenzo

Valla.

D.

des P a t r i o t e n in Versform

W. ge-

N a c h d e n k l i c h e s G e d i c h t e v o n den allezeit billigen,

bracht:

doch unbegreiflichen und unbillig erscheinenden W e g e n der g ö t t l i c h e n V o r s e h u n g , aus des h a m b u r g i s c h e n P a t r i o t e n 2 1 . S t ü c k des e r s t e n J a h r e s , p o e t i s c h ü b e r s e t z e t . (Daniel Triller,

der

Natur=

2 . Theil,

Wil-

P o e t i s c h e B e t r a c h t u n g e n ü b e r v e r s c h i e d e n e aus

helm

und

2. Aufl.

Sittenlehre Hamburg

liches

Thema

behandelt

Vf.

C. F.

Weichmann

1746, auch

das

hergenommene S. 182-187). 237.

Stück

Materien, -

des

Ein

ähn-

Spectator.

Motto Apuleius, De Piatone et eius dogmate I 12. — „Alles, was von Natur aus und deswegen auf rechte Weise geschieht, wird von der Vorsehung gelenkt. Gott kann für kein Übel verantwortlich gemacht werden j 76 y j j

8-10

Die Worte der Schrifft . . . Ihn umgebe

Ps.

97,2-3.

Willkühr] Wille B.

11 26—30

Es ist aber . . . erkannt haben.] fehlt

B.

|

15 erfahren, durch die] erfahren, durch hauffige Exempel aus heiligen so wol als weltlichen Geschichten, insonderheit durch die B.

179

11

1 82

^ befreyen.] befreien, der durch Ermordung seines ältesten Bruders zu seinem Reichthum gelanget war. B.

Philaret

„Tugendlieb".

haben,] haben. B.

23

Stück 22 Der junge senheit und

Verwandte

die Feder.

Der

des Patrioten Text

Körperbeherrschung.

moralisiert

führt über

in dessen

Abwe-

Leibesübungen

104

Kommentare

und

Erlauterungen

Daß der fiktive Verfasser eine Zeitlang auf Reisen ist und sich vertreten läßt, gehört zum Maskenspiel mit der Verfasserfigur einer Moralischen Wochenschrift. Die Vertreterrolle des jungen Vetters besteht im vorliegenden Falle freilich nur darin, ein bereits vorhandenes Manuskript des Patrioten vorzulegen und einen Brief abzudrucken. Der Patriot weist zunächst, wohl um das Interesse des Publikums zu erregen, auf eine demnächst zu publizierende Arbeit über die Oper voraus. Sie erscheint mit dem 25. Stück. Dann knüpft er an das Auftreten eines Akrobaten in Hamburg an (der in der Buchausgabe den Namen John Ryner führt), um zu seinem eigentlichen Thema zu kommen. So wenig der Patriot den Nutzen der körperlichen Künste dieses Positurmachers einsieht, so sehr empfiehlt er die körperliche Ertüchtigung der Jugend, wobei er auf die Praxis der Abhärtung bei Römern, Griechen und den alten Deutschen verweist. Ein gerader Leib, eine ungezwungene Wendung, fertige Gliedmassen, und ein freyes Angesicht (187,15f.) sind ihm so wertvoll, daß er auch die Ausbildung der jungen Leute im Tanzen, im Reiten und Fechten gutheißt, — in Übungen, die vor allem dem Adel anstanden und die z. B. auf den aristokratischer Erziehung gewidmeten Ritterakademien üblich waren. Freilich soll es mit diesen Übungen maßvoll gehalten werden (187,19ff.), — ein mittlerer Weg empfiehlt sich —, und daß der Bürger nichts mit dem höfisch-galanten Modewesen zu tun habe, machen die scherzhaften Bemerkungen über die weibliche Mode der tiefen Ausschnitte und der Schnürleiber deutlich. — Bemerkenswert der Gesichtspunkt des Gemeinwohls: Ein Land, eine Republik leidet durch Weichlinge Schaden (186,27). Der Nutzen der Allgemeinheit ist vom Nutzen für den einzelnen Bürger nicht zu trennen. Der angehängte Brief von Mimus, welcher die absonderlichsten Künste beherrscht, dient der Auflockerung der moralischen Darlegung und — mit den Seitenhieben auf die

zu Jahrgang

1 /1724,

105

Stück 22

Hofwelt, wo jedermann sieb verstellen und Affe der großen Herrn sein muß — auch der Befestigung des Selbstgefühls von Bewohnern einer freien Bürgerstadt. Vf.

M. Richey (?) Saturae 3,100. — „Das ganze Geschlecht

Motto Juvenal, Schaupielem." 1-9:

fehlt B (vgl. aber die Lesart zu

besteht nur aus

183,16-22).

16—22 Ich will. . . eingefallen sind.] Ich hatte wol Lust gehabt, da ich heute meines nach Mannsfeld abwesenden Herrn Vetters Stelle vertreten soll, mit dem geneigten Leser mich von einer so angenehmen Materie etwas umständlicher zu besprechen. Erblicke aber von ungefehr ein Blat unter besagten meines Herrn Vetters Papieren, worauf derselbe gar erbauliche Gedancken entworffen, die ihm bey der Gelegenheit eingefallen sind, da sich vor einiger Zeit der berühmte so genannte Positurmacher auf unserm Schau-Platze sehen lassen. Ein sonderbarer Brief, der dabei geleget, und die hierunter geführte wolbegreiffliche Absichten, bewegen mich, diesen Einfällen für ietzo den Vorgang zu lassen, und von der Opera selber unsere Betrachtungen auf eine andere Zeit aus zu setzen.

J o h n R y n e r hat mit seinen Posituren in Hamburg eine Zeit lang nicht unbillig die Augen vieler hundert Zuschauer auf sich gezogen. B. — John Ryner Aus Hamburger Urkunden nicht nachweisbar, doch wurde nach einem Kölner Ratsprotokoll von 1722 dem Kunsteier aus Engellandt, Johan ryner, . . . die Übung seiner Leibesgeschicklichkeit und Stellung bewilligt. (Freundlicher Hinweis von Stephan Oettermann, Amöneburg). 19

nach Plinii Bericht

7 bar.

Hollinder

19

Lacette

28

fortein] fort ein (Druckfehler

nicht

nachweisbar.

offenbar ein ambulanter

„Schnürline"

Schausteller, nicht

(vgl. frz. lacer: zu- oder dieses

2 f. endossées vous / engorgés vous „Stopfen Sie Ihren Busen aus."

identifizier-

einschnüren).

Neudrucks).

„Stopfen Sie Ihren Rücken aus" /

106

Kommentare

und

Erläuterungen

2 3 7

3 4

j e n e m Könige, im eilfften Jahr-Hundert gemeint Harefoot (Hasenfuß), König von England 1037—1040.

1 89

s'c'1 Muhe geben will, demjenigen, was ich anietzo vorgestellet, etwas reifflicher nachzudencken, wird unschwer begreiffen, warum ich nachfolgenden Brief zwar angenommen, und hier beygefüget, aber auch glntzlich unbeantwortet gelassen. B.

J 9 0

27

Fechtein

2 9 1

12

M I M U S ] PANTOMIMVS B.

Fechtet:

ist Harold

I.

Fächer.

Stück 23 Der junge Vetter des Patrioten übt sein Stellvertreteramt aus und veröffentlicht eine hinterlassene Arbeit seines Verwandten sowie, daran anschließend, dazu passende Gedichte. Es geht um das Vergnügen an der Schönheit und Wohlhabenheit Hamburgs. Der Prosatext, der in Form einer Traumerzählung den Anblick Hamburgs und seiner Umgebung vom Hamburger Wall aus beschreibt, rührt her von B. H. Brockes, dem Meister der poetischen Naturschilderung in seinem Gedichtwerk Irdisches Vergnügen in Gott (1721—48). Im vorliegenden Fall lernen wir Brockes als Prosaisten der Landschaftsschilderung kennen. Die Stadt, in blühende Natur eingebettet; die Wohnungen ihrer Bürger, der Wall, die Alster, die Elbe mit ihren Ufern, die Schiffe, — all das wird hier, in der Form des Traums, dichterisch überhöht beschrieben mit spürbarer Bewunderungsbereitschaft. Die Natur wird dem Betrachter zum Gemälde, zur so künstlichen als naturlichen Schilderey (194,7f.). An beidem, wie es ihm rechtes und linkes Elbufer darbieten, hat er seine Freude, — an der Kulturlandschaft, wo die Kunst ihren aussersten Fleiß verschwendet hat (196,7) und am ungekünstelten Wesen der Natur (196,11). Auch versäumt er nicht, den Überfluß der Hamburg zu-

zu Jahrgang

1 / 1724, Stück 23

107

kommenden Produkte der Natur, — Butter und Milch, öl und Wein —, hervorzuheben, letztere von den schwimmenden Inseln, den Schiffen, mit der Flut in die Stadt hineingetragen (196,20f.). Stärker noch ah der vaterländische Stolz bei dieser Landschaftsbeschreibung ist ihrphysikotheologisches Anliegen. Jedermann, nicht nur die Hamburger, soll die Allmacht und Weisheit Gottes an seinen Werken erkennen und statt Unzufriedenheit und Verstockung Dankbarkeit und damit ein rechtes irdisches Vergnügen in Gott empfinden. (Daß eine solche hier empfohlene Erbauung im „Buch der Natur" eines Tages dazu führen könnte, daß das Buch der Offenbarung, die Grundlage des christlichen Glaubens, entbehrlich wird, diese in der geschichtlichen Entwicklung immer deutlicher zutage tretende Konsequenz der zunächst von Orthodoxen wie Pietisten und Deisten gleichermaßen betriebenen Physikotheologie, ist hier noch nicht abzusehen.) — Die Modernität der Brockesschen Naturschilderung, in der mit allen Sinnen die Schönheit der diesseitigen Welt begeistert erfahren wird, ist von den Zeitgenossen offenbar verspürt worden. Man vergleiche dazu das Lob, das Gottscheds Biedermann dem vorliegenden Stück des Patrioten gezollt hat als einem Beispiel vernünftig gemäßigter (im Gegensatz zu traditioneller „ausschweifender") Einbildungskraft. (Der Biedermann, Stück 56 vom 31. 5. 1728, Leipzig, Bd. 2, S. 24.) Die angeschlossenen Gedichte preisen, allegorische Personen und Gestalten der Mythologie sprechen lassend, die Stadt Hamburg, und zwar nun weniger ihrer landschaftlichen Schönheit wegen als im Hinblick auf Hamburgs Wohlfahrt, Behäbigkeit und Reichtum. Mit einer Zeile ist Hamburgs auch als eines auserlesenen Musensitzes gedacht (200,22), doch mehr wird auf die Schiffahrt, auf Fleiß und Kunst und den entsprechenden Nutzen (199,31 f.) gehalten. Sicherlich im Sinne der Hamburger Leser artikuliert sich bürgerlicher Stolz auf die Weltberühmte Stadt, Die so viel 8

D e r Patriot, B d . I V

108

Kommentare

und

Erläuterungen

Geld und Pracht, als Fried' und Handel hat (200,18f.). Die Verse stammen aus zu musikalischem Vortrag in Serenadenform bei festlichen Gelegenheiten bestimmten Gedichten. Als Verfasser lassen sich Richey und Weichmann nachweisen. Vf.

B. H. Brockes, M. Richey, C. F.

Weichmann

Motto Plinius (d.J.), Epistulae VIII 20,1. — „Etwas zu erkennen, pflegen wir uns auf den Weg zu machen und das Meer zu überqueren; was aber vor Augen liegt, vernachlässigen wir, sei es weil es in uns so angelegt ist, daß wir, unbekümmert um das Nächstliegende, Entferntes verfolgen, sei es weil das Verlangen nach allen Dingen erschlafft, wenn wir sie leicht bekommen können." 1-12:

fehlt

10

Rahm

11

Ipern

B. Rahmen. Ulmen.

35 besetzt.] besetzt, hinter welchen sechs ansehnliche Pyramiden, eine noch schöner als die andere, in ungemeiner Hohe hervorrageten. B. 18-20

In den ersten . . . Oel und Wein.] fehlt

B.

1

Krafft unserer Seele] Kriffte unserer Sinnen B.

8

Mißtrauen zu] kaltsinniges Erkenntniß B.

19: B folgt: Biß hieher gehen die Gedancken meines Hn. Vettern, die er selbst zu Papier gebracht, und an welchen niemand etwas auszusetzen finden wird, als wer für sein Vaterland zu wenig, für seine fühl= und sinnlose Gewohnheit aber zu viel Liebe hat. 28—202,12: Die Texte sind Bruchstücke aus Gelegenheitsgedichten Richeys und Weichmanns. Diese sind mit ihrem vollständigen Wortlaut abgedruckt in Weichmanns Sammlung Poesie der Niedersachsen. Im folgenden werden die entsprechenden Fundstellen angegeben. 29—199,4: aus: M. Richey, Mars und Irene in vergnüglichster Verbind u n g / bey dem von der Hoch» und Wohllöblichen Colonel« und Capitainsschaft der Stadt Hamburg / in Dero erstem Jubel«Jahre 1719. den 31sten Augusti angestelleten herrlichen Freuden-Mahle (Poesie der Nieder-Sachsen, Teilt, Hamburg 1721, S. 81 f f . , hier S. 92).

zu Jahrgang |

2 0 0

109

1 / 1724, Stück 23

7—23; 2 5 - 2 0 0 , 2 : aus: M. Richey, Als eine Löbliche Admiralität der Republik H A M B U R G das Gedächtniß Ihres vor hundert Jahren gestifteten Collegii Anno 1724. d. 6. April mit einem ansehnlichen Jubel=Mahle feyerlich beging (Poesie der Nieder-Sachsen, Teil3, Hamburg 1726, S. 6 4 f f , hier S. 71 f.). 23

macht.] macht, etc. B.

^

eingefasst.] eingefasst, Woran sich meiner Wellen Last Durch Sturm erbost Zu Trümmern sprützt, zu Schaum zerstosst. B.

4—8: Teil 1,

aus der oben unter 198,29ff. angeführten S.92).

Serenade Richeys

(aaO.

10—13; 14—20 u. 22: aus M. Richey, Als Monsieur Luis mit Madame Beltgens / gebohrner Boonin / Anno 1716. den 30. Nov. sich höchst glücklich vermählete (Poesie der Nieder-Sachsen, Teil 2, Hamburg 1723, S. 123 f f , hier S. 124f). 10 Tempe Tal in Thessalien, Inbegriff einer anmutigen Landschaft; altgriechischer Dichtung besungen.

in

11: gemeint sind vermutlich die Türme von St. Petri, St. Nicolai, Catharinen, St. Jakobi, St. Michaelis und des Doms.

St.

20

gebaut, etc.] gebaut. Hier lasst Mercurius die Trager seiner Lasten, So bald ein Palinur den Wellen nicht mehr traut, Für Sturm und Eis, an sichern Pfählen rasten, etc. B.

22

Helicon

Gebirge in Böotien,

Sitz der Musen.

24—201,2: aus der unter 199,7ff. angeführten Teil3, S. 73).

201

4—11: aus der unter 199,7ff. Teil 3, S. 66).

angeführten

Serenade Richeys

Serenade

Richeys

(aaO.

(aaO.

13—25: aus M. Richey, Auf das von Bobart" und Edingische Hochzeit-Fest. Anno 1715. den 3ten December (Poesie der Nieder-Sachsen, Teill, Hamburg 1721, S. 150f). 26f. W i e d e r u m an . . . der U e b e r f l u ß ] E n d l i c h redet irgendwo der Segen B.

110

Kommentare

und

Erläuterungen

30—202,12: aus C. F. Weichmann, Hamburgs Glückseligkeit, bey dem von Einem Hoch-Edlen, Hochweisen R A H T E der Stadt H A M B U R G den 21. und 25. Febr. 1724 glücklich gefeierten Petri-Mahle (Poesie der Nieder-Sachsen, Teil3, Hamburg 1726, S. 53ff., hier S. 61 f.).

Stück 24 Das Stück befaßt sich auf unterhaltsame Weise mit Fragen der Kleidermode. Der den Patrioten vertretende Verwandte, ein wenig mit seiner Jugend gegenüber seinem alten Vetter kokettierend, — was durchaus gattungsübliches Maskenspiel ist —, ernennt sich, dem Alten die seriöseren Angelegenheiten überlassend, zum Auffseher über die Kleider=Tracht und entwirft ein Programm zukünftiger Kritik an weiblicher wie männlicher Mode. Er erzählt anschließend, scherzhaft fabulierend, die Geschichte einer Kleiderordnung, wonach jedermann nach seinem Stande und Gewerbe sich nur mit einem bestimmten Fell bekleiden durfte. Diese Geschichte, mit der die Fixiertheit auf die Forderungen der Mode unaufdringlich gelockert und das Publikum zum Nachdenken über sinnvolle und unsinnige Kleidung gebracht werden soll, gibt Anlaß zu lustigen Anzüglichkeiten: Hofleute im Fuchspelz, hohe Herrschaften im Hasenfell, Stutzer im Affenfell, Poeten in Igelhäuten, Kritiker im Hundefell, junge Damen in Pfauenfedern, Hausfrauen in Gänsefedern, alte abergläubische Weiber in Krähenfedern usw. Ins Auge fallend die Leichtigkeit und Überlegenheit, mit der hier Mode fragen behandelt werden, — ganz anders als die geistliche Vermahnung gegen Kleiderpracht und Indezenz weiblicher Moden oder auch die obrigkeitlichen Mandate gegen standesunangemessenen Putz verfuhren. Die Schlußpassage (209,1—20) ist in der Buchausgabe von 1728 fortgelassen, vielleicht, weil hier fabulierender Über-

zu Jahrgang

111

1 / 1724, Stück 24

mut beim Vorstellen von Menschen in den ihnen jeweils zustehenden Tierhäuten zu weit getrieben ist. Der Gedanke von Niederträchtigkeit, Verstellung und Torheit der Menschen als in deren Gemuthern verborgen liegende Bestien (209,7) entspricht in seinem anthropologischen Pessimismus nicht dem optimistischen Konzept des Patrioten. Vf.

C. F.

Weichmann

Motto Quintilian, prächtiger Schmuck wendiger schmückt Motto

B

Institutio oratoria VIIIprooem. 20. — „Erlaubter und verleiht den Leuten Einfluß. Aber weibischer und aufnicht den Leib, sondern verrät die Sinnesart."

LANA T O T , AUT PLURES SUCCOS B I B I T : ELIGE CERTOS: N A M NON CONUENIENS OMNIBUS OMNIS E R I T .

OUID.

Ovid, Ars amatoria III, 187-188. — „Soviele Farben, mehr noch trinkt die Wolle; wähle aus: nicht jede steht jedem Mädchen gut."

203

5

DE

33

rothe und brodirte Kleider] rothe Kleider und Seiten=Gewehre B.

Bel-ESPRIT]

de

BEL-AMOUR

B.

Kleide] Kleide, ohne die geringste Wahl und Anständigkeit, B.

2 0 4

2 0 5

sondern . . . machen] sondern ihnen nur dießmahl vorlauffig eine Fabel vorlegen, die sich überhaupt zu diesem Vorhaben schicket, und die ich glaube, eine Arbeit meines Hn. Vettern zu seyn, weil ich sie von seiner Hand geschrieben finde. Mancher würde sich vielleicht solche Zeiten und Verordnungen wünschen, als darin vorgestellet sind, da man nehmlich nicht allein den ausserlichen Stand, sondern auch die innerliche Gemüths-Beschaffenheit eines ieden Menschen, aus seiner Kleidung so fort abzunehmen haben müste. Wie aber dieses letztere, von dem klugen Hn. Verfasser selbst, bey der heutigen Welt, Zweifels ohne für unmöglich gehalten wird; also, dencke ich, werde er dem Dinge auf andere Art zu helffen, und diejenigen, die man so wol innerlich als ausserlich kennen soll, in diesen seinen Blattern hinkünftig dergestalt zu beschreiben suchen, daß sie sich dadurch eben so gut, als durch besondere Kleider=Trachten, von andern Menschen unterscheiden werden. B.

2 0 6

7

23

eckcl

empfindlich.

Cameleons] Esels B.

112 2 0 7

Kommentare

und

Erläuterungen

Hermelin zu kleiden. Kleineren . . . im Fuchs-Peltze] in Zobeln und Hermelin zu kleiden: den übrigen Hof-Leuten war vergönnet in Luchs- niemahls aber in Fuchs=Peltzen B. 13

, und die Poeten Haute von Igeln] fehlt

B.

16—18 Munterkeit, in . . . Ziegen- und Kalb-Fellen;] Sorgsamkeit, in Biber-Häuten gehen: B. 31—35 auszuputzen. So . . . zu mögen.] auszuputzen, davon hat man in alten Auslegern nichts gefunden. B. 2 0 8

®

petits-maîtres

Stutzer,

Schönlinge.

aufferleget, alle Felle] auferleget, einige Igel zu streiffen, zu Mützen 6 für boshafte Schimpf-Dichter, imgleichen alle Felle B. 24

Ganse- oder Schwahn-Fedem] reinliche Schwanen-Felle B.

26 f. aber die Krähen . . . solten sehen] aber freygestellt, ob sie lieber in Krähen- oder Eulen-Federn sich wollten sehen B. 30 f. 2 0 9

20: 18 f. (21 ff.)

seinen Verdiensten] seinem Stande B. fehlt

B.

Ovidianische Kunst

Verwandlung,

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

Metamorphose. siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 25 Das Stück handelt von Wesen und Nutzen der Oper. Das Thema mußte in Hamburg besondere Aufmerksamkeit erregen, besaß die Stadt doch seit 1677 ein berühmtes Opernhaus, — etwas, was sich sonst nur Fürsten in ihren Residenzstädten leisteten. Um dem Stolz der Hamburger auf ihre Oper nicht zu nahe zu treten, wird die damals noch durchaus vom barocken Geschmack bestimmte Opernbühne nicht in Bausch und Bogen als unvernünftig, abgeschmackt und unnütz verworfen, wie die Wochenschrift Der Biedermann das 1728—29 tut (etwa in den Stücken 85 und 95) und

zu Jahrgang

1 /1724,

Stück 25

113

wie ihr Verfasser, Gottsched, es dann in seiner Critischen Dichtkunst und seinen Critischen Beyträgen fortgesetzt hat. Der Patriot verfährt äußerst behutsam, um dem Leser dennoch die Gesichtspunkte der Aufklärung nahe zu bringen. So darf der den Patrioten vertretende junge Verwandte zunächst seine in jugendlicher Unerfahrenheit gemachten ersten Eindrücke von einer Opernaufführung wiedergeben, wobei, abgesehen vom Befremden über das Betragen des Opernpublikums, Vergnügen und Entzücken durchaus dominieren. Erst dann kommen, von seiten des erfahrenen Patrioten, Einwände gegen die Oper zur Sprache. Dabei werden sowohl die Satire St. Evremonds auf das Opernwesen in seiner Komödie Les Opéras als auch die wiederholten Aussetzungen des Spectator an der Oper erwähnt. Erst hier werden die aufklärerischen Kriterien, mit denen das Musiktheater zu messen sei, entwickelt: sorgfaltige Wahl, Eintheilung und Ausführung einer Geschichte (213,27f.), — einer „Fabel", würde Gottsched sagen—, ferner Natürlichkeit, Vernünftigkeit, moralischer Nutzen. Und bei all diesen aufklärerischen Zumutungen an die Oper wird der Eigenart der Gattung ihr Recht gelassen. Eine Oper soll billig gantz voll von seltenen und unerwarteten Begebenheiten, ja so viel möglich, in der Sache selbst voll Wunder seyn (214,20ff), — ein Satz, den Gottsched nie hätte durchgehen lassen, auch wenn er durch einen Nachsatz wieder halb zurückgenommen ist. (Auch die Forderung, die Musik müsse mehr nach dem herrschenden Geschmack, als den Gründen der Kunst gesetzt werden (215,22f.), hätte Gottsched wohl kopfschütteln lassen.) Bezeichnend für das auf das Gemeinwohl gerichtete Interesse des Patrioten ist, daß die Oper auch im Hinblick auf ihren wirtschaftlichen Nutzen für die Stadt verteidigt wird (216,20ff), — ein Gesichtspunkt, der in den Lehrbüchern der Policey- und Cameralwissenschaft im 18. Jahrhundert hinsichtlich des Theaters das Hauptgewicht hat.

114

Kommentare

und

Erläuterungen

Und bemerkenswert, daß hier bereits dem Theater ein moralischer Auftrag oder doch eine mögliche moralische Wirkung zugesprochen wird, — in Übereinstimmung mit Christian Wolff und (wenige Jahre später) Gottsched. Daß damit zugleich auch der Gedanke einer staatlichen Theaterzensur vorgetragen wird (217,1ff.), ist für den Moralisten nur konsequent. Joseph von Sonnenfels in Wien ist nicht der einzige, der im Hinblick auf das Theater als moralische Anstalt in der 2. Jahrhunderthälfte Ähnliches fordert. (Er selbst hat seine Forderungen als Theaterzensor in Wien auch in die Tat umgesetzt). Bemerkenswert schließlich, daß religiöse Gesichtspunkte bei der Beurteilung des Opernwesens hier völlig fehlen. Von der Argumentation der geistlichen Angriffe auf das Theater, welche Ende des 17. Jahrhunderts in Hamburg zu öffentlichen Unruhen führten (der Hauptpastor Goeze nahm diese Angriffe in der 2. Hälfte des Jahrhunderts wieder auf), — von dieser Argumentation hat der Patriot hier keine Notiz genommen, während im Stück 38, wo es nicht um die Hamburger Oper, sondern um umherziehende Komödianten geht, einiges davon zutage treten wird (vgl. 327,7ff.). Vf.

M. Richey

Motto

Ovid, Ars amatoria I, 99. — „Sie kommen,

Motto

B

um zu

sehen."

N E C MOLLES EGEANT NOTA D U L C E D I N E L U D I : Qui

LAETIS RISUM SALIBUS MOVISSE FACETUS;

Qui

NUTU MANIBUSQUE L O Q U A X ; CUI T I B I A FLATU,

Cui

P L E C T R O PULSANDA C H E L Y S ; QUI P U L P I T A SOCCO

P E R S O N A T , AUT ALTE G R A D I T U R M A I O R E C O T H U R N O . C L A U D I A N .

Claudianus, Panegyricus dictus Manlio Theodore) consuli 311—315. — ,,Auch die angenehmen Spiele mögen dieser Eleganz nicht entbehren: der Eine, höchst geistvoll, bringt durch witzige Spaße zum Lachen, der Andere ist im Mienenspiel und in der Gestik beredt: der Eine bläst die Flöte, der Andere schlägt die Chelys. Dieser bringt durch seine Schuhe die Bänke zum Dröhnen oder er schreitet hoch einher auf dem höheren Kothurn."

ZK Jahrgang 2 1 0

115

1 / 1724, Stück 25

O p e r . . . in Hamburg Das Opernhaus war in Hamburg 1677 hinter dem Gänsemarkt erbaut worden. Die Aufführungen von Opern wurden 1738 eingestellt. 3—5 Amphion . . . Städte gebauet Von Amphion, dem König von Theben, erzählt der Mythos, er habe durch den Zauber seines Leierspiels Steine bewegt, so daß sie von selbst eine Mauer um die Stadt Theben bauten. 28

2 1 2

Sache behandelt] Sache in Singe=Versen behandelt B.

^ durchmunstern munstern = Mundart und die mit ihr verwandten ,monstrare' beybehalten". Adelung).

mustern Sprachen

(„Die haben

Niedersächsische das n des latein.

17f. Gensericus Gensericus ist eine Figur in Telemanns am 13. 7. 1722 uraufgeführter Oper Sieg der Schönheit. Der Oper lag das überarbeitete Textbuch von Christian Heinrich Posteis Gensericus zugrunde. Die Bearbeitung hatten Weichmann und Telemann besorgt. Die Aufführung von Sieg der Schönheit war zuletzt am 19. April 1724 wiederholt worden. 24

Sieg der Schönheit

s. die vorige

Erläuterung.

2 J Tf 5f. Saint-Evremond von dieser Materie Charles de Saint-Évremond (1613—1703), frz. Schriftsteller und Kritiker, hatte ein satirisches Lustspiel Les Opéras sowie eine Abhandlung von den Opern verfaßt. Das Lustspiel wurde 1741 in Übersetzung als Die Opern in Bd. 2 von Gottscheds Deutscher Schaubühne veröffentlicht; der Schauplatz ist dabei nach Lübeck verlegt, statt auf die Pariser ist auf die Hamburger Oper Bezug genommen. 6 f. etliche Stücke im Englischen Spectator gemeint die Stücke 5, 13, 14, 18, 29, 31 und 36 des Spectator.

sind

vermutlich

9 f. verschiedene Comôdien und Tragödien Joseph Addison verfaßte neben seiner bekannten Tragödie Cato (1713) noch eine Komödie The Drummer (1715); Richard Steele schrieb die Komödien The Funeral (1701), The Lying Lover (1703), The Tender Husband (170.5) und The Conscious Lover (1722). 2 1 5

1 6 - 1 9

D a f e r n

es

• • • Vortheil schaffen.] fehlt

B.

21—35 Sprache und einreinen . . . sie gefällt.] Sprache gesetzet und eingerichtet werden. Da man denn kaum glauben sollte, wie sehr, durch eine solche vernünftige und künstliche Bewegung der Luft, Côrper und Geister gerühret, vergnüget und erquicket werden. O b aber zu dieser Wirckung

116

Kommentare

und

Erläuterungen

eine Französische, oder Welsche Music geschickter sey, davon getraue ich mir nichts unwiedersprechliches fest zu setzen. Ich habe vernünftige Leute gekannt, welche bald diese jener, bald jene dieser vorgezogen. Beide haben ihre besondere Anmuth, welche, nach verschiedener Neigung der Menschen, angenommen, und durch Gewohnheit hie oder da beliebter wird. Ein Meister, so bald er den herrschenden Geschmack seines Ortes vermercket, wird nicht ermangeln, mit seiner Kunst in denselben hineinzugehen, ohne den wesentlichen Vollkommenheiten der Music das geringste zu entziehen. B. 2 1 7

12-35:

fehlt

B.

Stück 26 Das Stück dient dem Preis des Landlebens. Der junge Vetter des Patrioten schildert dazu seinen Besuch auf dem Garten des Beiander. Über „Gärten", d. h. kleine ländliche Besitzungen außerhalb der Stadt, verfügten damals viele wohlhabende Hamburger. — Die Schilderung steht thematisch in der Tradition der Landlebendichtung, wie sie seit Horaz und Vergil die abendländische Dichtung immer wieder aktiviert hat. Für den deutschen Bereich wäre z. B. auf Opitz' Zlatna und sein Lob des Feldbawes sowie, in zeitlicher Nähe zu den Schilderungen des Patrioten, an Hallers Die Alpen zu erinnern. Eng benachbart sind auch Stücke des Gottschedschen Biedermann, und sicherlich gehören Schilderungen des Spectator, namentlich die berühmten Coverley-Papers, sowie ähnliche Stücke im Guardian zum literarischen Hintergrund. Wichtig ist an der Beschreibung des Lebens auf dem Garten die Betonung des Einfachen, Ungezwungenen und Bequemen in Aufwand und Umgang. Die Bewillkommnung ist kurtz (218,16), d.h. man macht keine Umstände, verzichtet auf Zeremonien. Der Besitzer pflegt eigenhändig seine Blumen, trinkt Tee von eigenen deutschen Kräutern, Garten und Haus sind nicht aufwendig, sondern nur zu nohtdürffti-

zu Jahrgang 1 / 1724, Stück 26

117

ger Gemächlichkeit (224,21) eingerichtet; kleinstädtische Kostbahrkeiten und unnatürliche Künsteleyen (221,4f.) sind vermieden; man findet keine aufgestellte Bild=Saulen, wie das höfischem Geschmack entsprochen hätte. Die Bewirtung ist, mit den Produkten des Gartens bestritten, frugal. Unruhe und Aufwand des Stadtlebens oder gar eines Lebens bei Hofe sind hier — das entspricht durchaus dem LandlebenTopos — durch Behaglichkeit und Zufriedenheit in ländlicher Abgeschiedenheit ersetzt. Für den Leser dürfte die Beschreibung solcher Lebensführung um so mehr an Vorbildlichkeit besessen haben, als sie hier, im Gegensatz zur traditionellen Landlebendichtung, nicht in Versen, sondern in der Wochenschriftenprosa vorgetragen und in einer räumlich unmittelbar vorstellbaren, benachbarten Gegend lokalisiert ist. Er erhält hier, fern aller christlich-weltflüchtigen Gedanken, das Leitbild eines maßvoll vergnügten tugendhaften Diesseitsgenusses. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß mit Beiander, dem freundlichen Wirt und Gartenbesitzer, auf B. H. Brokkes angespielt ist, der in der Tat einen prächtigen Garten in der Umgebung Hamburgs besaß (und dessen Gesellschaftsname in der Hamburger „Teutsch-übenden Gesellschaft" Belisander gelautet hatte). Jedenfalls wird ihm in diesem Stück durch das Zitat seiner Verse (223,12ff.) sowie durch die Erwähnung seiner Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott, von der damals der erste Band vorlag, Reverenz erwiesen. Aber auch die Beschreibung der Naturschönheiten geschieht in seinem Geist. Getragen von Erstaunen, Bewunderung und Vergnügen hat sie alle Sinne zum Erfassen der Eindrücke mobilisiert. Die Schilderung des Taus auf den Blumen und Kräutern (220,29ff.) könnte von Brockes selber stammen und die Beschreibung des Sonnenaufgangs (219,24ff), in deutscher Prosa so zuvor wohl kaum nachzuweisen, nicht minder. Die Freude an der Schönheit wie am Nutzen des Gartens entspricht ganz seiner im Irdischen Ver-

118

Kommentare und Erläuterungen

gnügen immer wieder artikulierten Lust an „Nutz und Zier" der Natur. Bedeutsam, neben dem Vermerken von Regelmäßiger Richtigkeit in der Gartenkunst (220,10), das Vergnügen an landschaftlicher Mannigfaltigkeit durch blosse Willkühr der Natur (220,12). Dem entspricht die Freude über eine blosse naturliche Wildniß (222,30f.), durch die sich, ohne die geringste Ordnung, ein Bach schlängelt, wobei das Ganze doch unauffällig künstlich angelegt ist. Hier scheint ein neues, auf den Englischen Garten vorausweisendes individuelles Naturgefühl sich anzubahnen, — ein Gefühl, zu dem es auch gehört, daß man in der Natureinsamkeit seiner Lektüre obliegt. Gleichsam der angenehmen Willkür der Natur und der anmutig formlosen Einfachheit des ländlichen Umgangs entspricht es, wenn der junge Vetter des Patrioten seine Beschreibung des Gartens als bloßen Entwurff, ohne gehörige Ausarbeitung (226,31) präsentiert. Vf.

C. F. Weichmann

Motto Horaz, Satiren II 6,1-3. - „Das war mein Verlangen: Ein nicht zu großes Stück Ackerland, ein Garten, eine Quelle am Berg nahe dem Haus und ein Stückchen Wald." 218

^

Nächst meiner . . . vergessen konte.] fehlt B.

219

^

Die schon . . . vergnüglichen Gedancken.] fehlt B.

220

^

' a's

22—25 221

223

ich • • • versprechen müssen] fehlt B.

, so daß ihm . . . Araminthe] fehlt B. Ipern

22

wovon

Ulmen. - eitel Ipern] Castanien-Baumen B.

Ipern] Castanien B.

dachte allezeit, wie jener trefliche Poet] erinnerte mich nicht ohne Andacht folgender beliebten Worte B.

zu Jahrgang 12

1 / 1724, Stück 26

119

F l u h r ] F l u t h B.

12—15: Die zitierten Verse stammen aus dem Gedicht Allerhand Garten=Gedancken von B. H. Brockes (Irdisches Vergnügen in Gott, Bd. 1, 2. Aufl. 1724, 5 . 1 6 3 . Dort, wie in B, Fluth statt Fluhr.J. 31 2 2 5

darff

dürfen: müssen, nötig

haben.

Gottholds zufallige Andachten . . . Vergnügen in G O t t Gottholds Zufälliger Andachten Vier Hundert bey Betrachtung mancherley Dinge der Kunst und Natur in unterschiedenen Veranlassungen, zuerst 1671, ist ein beliebtes Erbauungsbuch, das 1724 in 19. Auflage vorlag und die Naturbetrachtung Brockes' wesentlich beeinflußte. Sein Verfasser war Christian Scriver. — Der erste Band von Brockes' Irdischem Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten war 1721 mit einer Vorrede von Weichmann in Hamburg herausgekommen; 1724 erschien die zweyte, durchgehends verbesserte und über die Hälfte vermehrte Auflage. 21f. wobey . . . auffhielten. Was] womit wir auch, nach aufgehobener Tafel, biß zu meiner Beurlaubung, noch mehrentheils die Zeit verbrachten. Die klugen Reden, und das lobliche Exempel des Herrn B e l a n d e r s hatten sich in mein Gemuthe dermassen eingedrücket, daß ich mich zu Hause den gantzen Abend mit denselben Gedancken unterhielte. Ich erinnerte mich der Worte, die mein Herr Vetter unlängst in einer Gesellschaft führete, allwo ihm, von dieser Materie sich herauszulassen, Gelegenheit gegeben ward: Was B. 30

2 2 6

beten

bete: Bete, Strafeinsatz

beim

Kartenspiel.

15—35: W i r e n wir so g l ü c k l i c h , daß u n t e r allen u n s e r n Gärten kein e i n z i g e r einen Zeugen von der T h o r h e i t seines B e s i t zers a b g ä b e , wir würden n i c h t allein die Augen v e r n ü n f t i g e r F r e m d e n mit s a t t s a m e r V e r w u n d e r u n g auf M e i l e n weit unterhalten k ö n n e n , s o n d e r n auch diesen g ö t t l i c h e n b e s o n d e r e n Segen auf E r b e n und N a c h k o m m e n v e r m u t h l i c h f e s t e r s e t z e n . Massen der g r o s s e S t i f f t e r der a l l e r e r s t e n G a r t e n = L u s t , einem ieden dieses u n s c h u l d i g e V e r g n ü g e n gar gnädig und gern aufs e r g e t z l i c h s t e g ö n n e t , wenn es Standes = mässig und n u t z b a r lich e i n g e r i c h t e t , von M i ß b r ä u c h e n rein g e h a l t e n , und mit Erbauung und D a n c k s a g u n g g e n o s s e n wird. B.

120

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 27 Der junge Vetter des Patrioten setzt seine Stellvertretung fort und läßt auf dem Hamburger Wall Gestalten des sozialen Lebens Revue passieren. Von einem versteckten Beobachtungspunkt aus spielt er in der Tat die Rolle eines genauen Bemerckers der Menschlichen Sitten (228,7), eines „Spectators". Ein streitbares Eheweib aus den unteren Ständen, durch ihr Platt gekennzeichnet; ein holländischer Schiffer, der etwas schmuggeln will; ein ungetreuer Diener, der seinen Herrn zu bestehlen beabsichtigt; ein bornierter Bürger in einer Staatsperücke, der den Patrioten nur heimlich zu lesen wagt; eine Karosse mit ungebührlich laut lachenden vornehmen Damen; eine andere mit einem schlafmützigen Insassen; ein betrunkener Handwerksbursche, gefolgt von einem klugen pädagogischen Vater; ein Schwärm genußfroher Wäscherinnen, — es ist ein ganzes Spektrum gesellschaftlicher, meist tadelnswürdiger Rollenträger, wobei übrigens die Mehrzahl unterbürgerlichen Standes ist: niederes Volk, Handwerker, Dienstboten. Üblicherweise werden solche Gestalten nicht ernsthaft vor das Forum einer philosophische Tugendlehren vertretenden Moralischen Wochenschrift gezogen, und so erhält ihre Schilderung hier auch einen mehr humoristischen Akzent, wenn dies sich nicht durch die Schwere bestimmter Vergehen (Schmuggel, Diebstahl) verbietet. Jedenfalls ist das ,,Protokoll'das der junge Patriot aufnimmt, nicht lediglich lehrhaft-moralisch bestimmt, wie es bei einer Revue „moralischer Charaktere" aus den höheren Ständen der Fall ist. Umso reizvoller ist der Realitätswert dieses Protokolls. Das Hamburger Publikum dürfte sein Vergnügen daran gehabt haben. Vermutlich war das Betragen etwa der Wäscherinnen an Waschtagen und die Benutzung des Walles zum Bleichen der Wäsche damals ein Stein des Anstoßes.

zu Jahrgang 1 /1724, Stück 27

121

Mit dem gesetzten Herrn mit Staatsperücke, der sich geniert, als Käufer des Patrioten zu gelten, andererseits die Wochenschrift aber zu lesen begehrt, dürfte ein altvaterisch steifer, ängstlich konservativer Lesertyp porträtiert worden sein. Die Einführung dieser Figur zeigt erneut das Interesse, das der Patriot an seiner Aufnahme im Publikum nimmt. Die vor dem Protokoll vom Hamburger Wall eingeschobene Geschichte des Brosius in der Wochenstube (228,32ff.) dürfte, abgesehen davon, daß hier wiederum, wie in Stück 5, Wochenbettbesuchsgesellschaften satirisch gestreift werden, mit ihrer Situationskomik als kleine Anekdote zur Belustigung des Lesers zu verstehen sein. Vf.

M. Richey

Motto Persius, Saturae 1,121 — 123. — „Dieses Verdeckte, dieses mein Lachen, gleichsam ein Nichts, verkaufe ich Dir nicht um eine Ilias." 227

12

Callistus

229

'

vorberegten

230

21 he mutt weten . . . plattdt., „Er muß wissen, daß er eine Frau hat: macht er ein Donnerwetter, so blitze ich, und dann habe ich Ruhe, und ich will . . .". 28

„Schönherr". vorerwähnten.

Jan Gat plattdt., „Hans

Loch".

31—33 wat raakt hem . . . „Was stört ihn der Zoll? Wir gehen ein bißchen nach unten, da werde ich es schon an Bord zu holen wissen." 231

234

28 ein London oder ein Amsterdam Mit dem Tatler (1709-1711), dem Spectator (1711/12, 1714), und dem Guardian (1713) waren die ersten Moralischen Wochenschriften in London erschienen; im Haag, nicht in Amsterdam kam mit Justus van Effens Le Misanthrope 1711—12 die erste kontinentale Moralische Wochenschrift heraus. Die erste Amsterdamer Wochenschrift war 1718—19 La Bagatelle, ebenfalls von van Effen. ^en "uswärtigen Bezugsmöglichkeiten siehe Erl. zu Stück 98.

122

Kommentare und Erläuterungen

Stück 28 Das Stück behandelt mehrere Themen zugleich: die zu strenge häusliche Eingezogenheit der Töchter, die Fähigkeit des Frauenzimmers zu vernünftigem Gespräch, Redlichkeit und Gemeinsinn der alten Deutschen, das Laster der bösen Nachrede, das Laster der Scheinheiligkeit. In der Kombination dieser Themen ist das vorliegende Stück ein Beispiel für unsystematisches Moralisieren einer Wochenschrift, zumal sie zugleich in verschiedenen Formen traktiert werden: in allgemeiner moralischer Betrachtung, im Porträt einer Person (Melinde), im Bericht über ein Gespräch in Gesellschaft, in mit „moralischen Charakteren" illustrierten erneuten Betrachtungen, und endlich in einer kleinen moralischen Erzählung. Daran schließt noch ein Postscriptum an, das auf eingegangene Schreiben reagiert. Einige der behandelten Themen sind schon zuvor angeschnitten worden, alle werden sie in späteren Stücken erneut berührt. Ganz besonders liegt dem Patrioten — wie allen Moralischen 'Wochenschriften — die Bildung der Frau am Herzen. Die Befreiung von der Enge häuslicher Zucht und gesellschaftlicher Ungewandtheit ist ein Ziel, die Bekämpfung weiblicher Eitelkeit und Oberflächlichkeit ein zweites: Melinde kann ernsthaft sein und über das Wesen des Menschen nachdenken. Das Thema von Treue, Redlichkeit und Biederkeit der alten Deutschen wird in Wochenschriften gern vorgenommen (eine 1730 herausgekommene Hamburger Wochenschrift nennt sich sogar Der alte Deutsche,); in seiner Behandlung steckt stets ein gegenwartskritisches Moment, sich meist auf die höfisch-galante Lebensart französischer Provenienz beziehend, doch wird das Thema im vorliegenden Fall rasch abgebrochen.

123

zu Jahrgang 1 / 1724, Stück 28

Im Bericht vom vernünftigen Gespräch der Melinde ist die Frage der Eigenliebe gestreift. Wenn diese Eigenliebe nach altchristlicher u.nd vor allem auch zeitgenössisch-pietistischer Auffassung unter dem Zeichen der Sünde steht, so gilt sie im Unterschied dazu bei Melinde — und damit für den Patrioten — nicht schlechthin als vom Übel; es gibt vernünftige und unvernünftige, nützliche und schädliche Eigenliebe. Unvernünftige Eigenliebe äußert sich z. B. in böser Nachrede (238, 1 7 f f ) . Altchristlichen Vorstellungen sehr viel näher ist die Erwähnung einer natürlichen menschlichen Neigung zur Verstellung, also zur Unwahrhaftigkeit (237,4f.), die sich schon an Kindern zeige. Zuweilen, wie in diesem Fall, läßt der Patriot also durchaus ein in der menschlichen Natur wurzelndes, nicht aus Unvernunft, Unwissenheit oder falscher Erziehung herrührendes Laster gelten (vgl. 102,4ff. im Stück 12). Die Zeichnung des Quäkers als eines Scheinfrommen, eines bösen Heuchlers, ist, ähnlich der Zeichnung von anderen Sektierern und Pietisten, in Moralischen Wochenschriften keine Seltenheit. — Die im Postscriptum erwähnten Briefe betreffen offenbar tatsächlich an den Patrioten gerichtete Korrespondenz. Vf.

M. Richey (?)

Motto Sallust, Epistulae ad Caesarem senem de re publica II 8,7. — ,,Sie glauben, daß fremde Zier ihre eigene Schmach sei." Das Zitat im Patrioten kehrt den Gedanken um; der Satz lautet bei Sallust: alienam famam bonam suum dedecus aestumant. Motto B

T A M R A R U M , TAM D U L C E S A P I S : P A L L A T I A

DICENT,

A U D I E R I N T SI T E VEL S E M E L , ESSE S U A M .

MARTIAL.

Martial, Epigrammata XII 21,3/4. — ,,Deine Gedanken sind so selten, so lieb; wenn dich der Kaiser(palast) einmal hören würde — er würde dich zu seinem Eigentum machen." 9

D e r Patriot, Bd. IV

124

235

Kommentare

und

Erläuterungen

6—26 Meine Hochachtung . . . nach sich ziehet.] Diese letzteren sind es, die ich in wackeren Gesellschaften nicht allein für eine Zierde, sondern für die besten Lehr-Meisterinnen einer gescheidten Auffuhrung halte, und junge Mannes-Personen für glucklich schätze, wenn ihnen erlaubet ist, einen vernunftigen Umgang mit denselben zu haben. B. 4—18: Manche von unsern artigen Töchtern würde sich mit ihrer natürlichen Geschicklichkeit ungemein hervor thun, und ihrem eigenen Glücke unfehlbar beforderlich seyn, wenn ihr nicht alle Gelegenheit abgeschnitten würde, ihren munteren Geist, und ihre gute Wissenschaften, durch kluge Reden, in Gegenwart derjenigen an den Tag zu geben, bey denen sie die näthigste Hochachtung zu erwerben hat. Und wer weiß, ob dagegen auch nicht mancher von unsern lieben Söhnen sich weit manierlicher würde aufzuführen wissen, wenn man ihn etwas mehr, bey angenehmen und vernünftigem Frauenzimmer, in die rechte hohe Schule der Klugheit und Gefälligkeit hatte kommen lassen. Da stehet aber bey uns noch hin und wieder ein eingewurtzeltes Vorurtheil im Wege, vermöge dessen ein lediges Frauenzimmer der Gesellschaft unverheiratheter Mannes-Personen bey Leibe sich enthalten, und hinwiederum ein junger Mensch sich wol bedencken muß, ob er sich mit dem schönen Geschlechte in Umgang abgebe. Was nun diese gar zu gezwungene Eingezogenheit beiderseits für Vortheil schaffe, davon können unter andern solche unglückliche Heirathen ein Zeugniß darlegen, welche vollzogen worden, ehe noch die jungen Ehe-Leute angefangen sich zu kennen, vielweniger sich zu lieben. Zum wenigsten wird mir niemand meine eigene Erfahrung streitig machen. Ich weiß am besten, wie vergnüglich ich manche Stunde in der Gesellschaft meiner holdseligen A r a m i n t e , und ihrer verstandigen Frauen Mutter zugebracht, auch was für vielfaltigen Nutzen ich daraus geschöpffet habe. Noch ietzund pflege ich wenigstens um den andern Abend dieses vortheilhaften Vergnügens zu geniessen; und ich finde zum offtern einige artige Gespielinnen bey ihr, die nicht wenig beytragen, unsere Gespräche desto lebhafter und erbaulicher zu machen. B. 19

jener Frantzose

Anspielung

unklar.

23—26 Ausspruch gleichfalls . . . von dem] Ausspruch zwar leidlicher seyn, iedoch sich auch nicht weniger auf die Manner schicken. Däfern er aber seinen Satz unumschrancket haben will, so wird er mir erlauben, ihm zu sagen, daß er nimmer in Hamburg gewesen seyn müsse, allwo er sich gar bald veranlasset finden würde, von dem B.

zu Jahrgang 2 3 7

1 /1724,

6f.

Alle Menschen sind Lügner.

22

Aristobulus

Stück 28

125

Ps. 116,11.

„Wohlrat".

Aristobulus] P l a c i d i a B. Freunden und] fehlt 28

B.

ein anderer] P l a c i d i a B.

29f. Ein dritter . . . Gast-Freyheit] B e a t a lobete die MenschenLiebe und Gast-Freiheit der Alten B.

2 3 8

33

Philander] P o l i p h i l e B.

*

Eusebius] E u s e b i a B.

23

Itzt-erzehlte] P l a c i d i a nahm hier das Wort auf: Jetzt-erzehlte B.

33

Philaretes

„Tugendlieb".

Philaretes . . . ist zwar] Nichts bessers, sagte M e l i n d e , hôrete ich in jener Gesellschaft: P h i l a r e t e s , hieß es, ist zwar B. 2 3 9

7

Katzen] Baren B.

13

Doch] Doch, versetzte P o l i p h i l e , B.

24 Ich] A m o e n a , die bißher nur zugehöret, fing ietzo mit einem sittsamen lächeln an: Ich B. 30 2 4 0

Jan van den Beverness

soviel wie: Johann

von der

Trunkenheit.

Ik s a ' hem . . . „Ich will ihm einen schlimmen Namen (einen bösen Ruf) machen. Der Hund ist tollwütig. " 17

Philomathes

„Lernlieb".

17—29: Unter dergleichen so nützlichen als angenehmen Gesprächen verging uns damahls die Zeit mit meinen grossesten Vergnügen: und ich bin versichert, wäre oberwehnter Franzose daselbst gegenwärtig gewesen, er würde seinen Ausspruch gern zurück genommen, und in Teutschland den Glauben gekriegt haben, daß man mit F r a u e n z i m m e r s c h o n was w i c h t i g e r s , als von B a g a t e l l e n , reden k ö n n e . B. Patrioten-Catechismus Zu den Flugschriften 26 f. gehörig, vgl. dazu Martens (1964).



um den Patrioten

126

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 29 Der Patriot behandelt das Thema der Eheschließung. Er druckt dazu einen von Philogamus verfaßten Brief ab, der offenbar als eine echte Einsendung anzusehen ist, obwohl er Nr. 28 erwähnt (241,7) und solche auf ein unmittelbar vorausgehendes Stück bezugnehmende Briefe wegen der technischen Schwierigkeiten, sie so rasch zum Druck zu bringen, im allgemeinen der Fingierung verdächtig sind. Der Patriot selber vermutet eine Identität des Philogamus mit dem Curiosus Neographus von Stück 17; satirischer Grundzug sowie allgemeine Anlage der Einsendung sprechen für diese Vermutung. Was mit der im Brief enthaltenen Hamburgischen Verheyrathungs=Rolle beabsichtigt ist, liegt auf der Hand. Es geht um die gesellschaftspolitisch wichtige Frage vernünftiger Eheschließung. Die Ehe als kleinste soziale Einheit ist die Basis individueller Glückseligkeit wie der Glückseligkeit des Gemeinwesens, — die Aufklärer sind nicht müde geworden, dies hervorzuheben. Gute Ehen zu stiften, ist im Aufklärungszeitalter in jeder Weise verdienstvoll. Lasterhafte Motive müssen bei ehelichen Verbindungen tunlichst ausgeschlossen werden — durch satirischen Spott, wie bei der Mehrzahl der vorliegenden „Heiratsanzeigen", oder durch ernsthafte Vorhaltungen. Bezeichnend für die eingenommene Position ist es, daß zwar die nackte Geldgier, die Spekulation auf Brautschatz und Vermögen, eindeutig verurteilt wird, daß andererseits aber der ökonomische Gesichtspunkt nicht als bedeutungslos aufgefaßt ist. Man muß nach seinen Umstanden (248,24) wählen: wer als angehender Gewürzkrämer sich gerade erst mit fremder Hilfe eine Bude eingerichtet hat, der ist mit einer verwöhnten, nur in den schönen Künsten geübten Dame schlecht bedient; er braucht eine tüchtige Haushälterin.

zu Jahrgang

1 /1724,

127

Stück 29

Bezeichnend auch das bürgerliche Selbstgefühl gegenüber dem Adel. Es ist ein Vorurteil, daß ein Adlicher Bettler was bessers sey, als ein begüterter Bürger (247,31). Vor dem Gewicht, das ein guter Besitz verleiht, verblasst der Glanz uralter, aber ökonomisch schwachbrüstiger Geschlechter. Die Reihe der Heiratslustigen ist dadurch, daß diese sich mit ihren Wünschen indirekt selbst charakterisieren, eine Galerie kleiner moralischer Charaktere, — in der Listenform verwandt der späteren satirischen Totenliste des Nikolaus Klim von G. W. Rabener. Philogamus nimmt übrigens mit dieser scherzhaften Liste, die er nach dem Muster der wöchentlichen Avis=Zettel in der Art der zeitgenössischen Intelligenzblätter präsentiert, die ernstgemeinte Form der öffentlichen Heiratsanzeige vorweg. (Die erste ernstgemeinte deutschsprachige Heiratsanzeige erschien — nach dem Handbuch der Publizistik, hrsg. von E. Dovifat, Bd. 3, Berlin 1959, S. 262f. — am 9. Juli 1732 in einem Intelligenzblatt, den Frankfurter Wöchentlichen Frag= und Anzeigungs=Nachrichten.) Vf.

(Einsendungen)

Motto Terenz, Andria 218. - „Ein Unterfangen nicht von Liebenden." 241

1-5:

fehlt

2 4 3

^

Philogamus

2 4 4

35

Pupille

2 4 6

^

Mrck. Banco

ist's von

Wahnsinnigen,

B. „Heiratgern".

Mündel. Mark in Hamburger

Bankwährung.

8 Marek current Hamburger bzw. Lübische Kurant-Mark, über dem Banco-Geld etwa um 20% geringerwertig. 22

Lütje-Magd

23

Umhangs- und Trinck-Geldern

junge

Magd. vgl. Erl. zu 17, l. Sp.

gegen-

128

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 30 Das Stück handelt vom Verhältnis des Bürgerstandes zum Adel. Es hat die Form eines Schreibens des auf Reisen befindlichen Patrioten an seinen jungen, in Hamburg verbliebenen Vetter, in welchem zugleich ein an den Patrioten gerichteter Brief enthalten ist; das Spiel mit der Verfasserfiktion setzt sich fort. Das Thema ist für das bürgerliche Publikum der Wochenschrift von Gewicht. Daß der Patriot und sein Vetter nach der gegebenen Fiktion selber zum Adel gehören, gibt den Darlegungen dabei einen zusätzlichen Reiz. Die Lehre, die aus dem Stück gezogen werden kann, lautet: Verdienste sind wertvoller als hohe Geburt; guter, natürlicher Verstand, Sittsamkeit und sorgfältige Erziehung adeln ein Frauenzimmer; und vor allem: ein tüchtiger, rechtschaffener Kaufmann von Kredit und Ansehen hat größere Ehre als ein blaublütiger Nichtsnutz und Schuldenmacher. — Ohne daß die gesellschaftliche Ordnung nach Ständen grundsätzlich in Frage gestellt wird, äußert sich hier ein kräftiges bürgerliches Selbstbewußtsein. Daß dies Selbstbewußtsein sich vor allem an den Kaufmannsstand knüpft und damit das ökonomische gegenüber aristokratischer Abkunft ins Spiel bringt, ist für Hamburg nicht verwunderlich und es ist zugleich, sozialgeschichtlich gesehen, zukunftweisend. Wirtschaftliche Kraft wird mit dem Feudalprinzip erfolgreich konkurrieren. — Welchen Stellenwert eine solche Position damals hat, bezeugt das Faktum, daß zur gleichen Zeit noch C. A. Heumanns Politischer Philosophus, ein vielgelesenes Lehrbuch der „politischen" Klugheitsethik, die Kaufmannschaft ausdrücklich zu den unedlen Beschäftigungen rechnet, — einem, der auf Reputation siehet, unangemessen (3. Aufl. 1724, S. 168). Die Kritik am Adel zieht mehrere Register. Mittels des satirischen Briefs, in welchem ein Schreiber sich wider Willen

zu Jahrgang 1 /1724, Stück 30

129

selbst entlarvt, demonstriert Wilbelmine Louise von N. die Arroganz ihres Standes gegenüber dem Bürger. Die im Brief gegebene Schilderung der aristokratischen Gesellschaft, die sich über die geplante Mesalliance des jungen Patrioten mit der Araminte — einer gewissen Araminthe (Araminte ist als Bürgerliche eben nur „eine gewisse" und keine „geborene") — aufhält und mit spitzen Anmerkungen nicht spart, erinnert ein wenig an die berühmte Szene auf der Adelsgesellschaft in Goethes Werther (Brief vom 15. März). Die Wendung von dem Geschlecht, so vornehm, daß dort seit 500 Jahren kein Frauenzimmer zu irgend einer Arbeit genötigt gewesen wäre (251,29ff.), spricht für sich. Auch der französische Floskeln verwendende Stil des Briefes charakterisiert die Schreiberin. Der Patriot gibt seine Kommentare auf direkte Weise; der bürgerliche Standpunkt dabei ist deutlich: Es ist töricht, Geburt und Herkunft hoch zu bewerten; Stolz auf Wappen und eine glanzvolle Ahnengalerie ist unvernünftig, zumal wenn man deshalb die Hand eines ansehnlichen Kaufmanns ausschlägt und als ein altes Fräulein sitzen bleibt; gesundes bürgerliches Blut täte mancher dekadenten Adelsfamilie zur Auffrischung gut. — Aristokratische „Laster" werden namhaft gemacht: die Bereitschaft, die Tugend adliger Frauen fürstlicher Gunst aufzuopfern (es ist das Zeitalter Augusts des Starken und seiner Maitressen); die Schuldenmacherei, wobei ein Herr von Stande sich nur zur Begleichung der Spielschulden als von „Ehrenschulden" verpflichtet hält (256,3f.); der Müßiggang von adligen Stutzern und Bauren=Plagern. Dem rechtschaffenen Edelmann dagegen wird ebenso Respekt gezollt wie dem verdienstvollen Neugeadelten (Corio), sofern er sich seiner bürgerlichen Herkunft nicht schämt (254,3ff).

Kommentare

130 Vf.

und

Erläuterungen

i

Motto Juvenal, Saturae 8,40,41; 20. — „Du brüstest dich mit dem Stammbaum der Drusen, gleichsam als sei es dein Verdienst, adelig zu sein. Adel gibt einzig allein die Tugend." 3. Zeile fehlt B.

249

2

Seeburg

Ort im Kreis

Eisleben.

Eißleben Eisleben, Hauptstadt der Grafschaft Mansfeld in Sachsen 4 (Der Patriot hatte angegeben, er besitze in der Nähe von Mansfeld Landgüter: 3,28f.).

250

14 Wolcken-Schnitten Wolkenschnitt: „in der Wapenkunst eine Linie, welche die Figur einer Wolke hat" (Adelung).

251

5

G n a d i g e r ] fehlt

6

V e t t e r und] fehlt Vetter

B. B.

Verwandter.

2 Fontangen-Macherinn Damen.

Eontange:

15

effacirte

auslöschen.

12

V e t t e r n und] fehlt

B.

13

Staßfurth

Stadt nördlich

29

Bauren-Plager] Land-Juncker B.

254

28

Corio

255

1

von Udeno

256

(17f.)

252

253

fehlt

effacer (frz.),

Staßfurt,

haubenartiger

Kopfputz

für

Eisleben.

„Lederer". „von

Unbedeutend".

B.

Stück 31 Der Vetter des Patrioten liefert aus dessen Schriften einen Aufsatz, der vernünftige und unvernünftige Kaufmannschaft zum Gegenstand hat.

zw Jahrgang

1 /1724,

Stück 31

131

Bereits in Stück 2 und Stück 10 war dies in Hamburg besonders interessierende Thema angeschnitten. Im vorliegenden Fall veranschaulicht der Bericht von Tun und Lassen des ungleichen Brüderpaares Berander und Cerontes die beabsichtigten Lehren. Die Form des hier gegebenen Exemplums ließe sich als „moralische Erzählung" bezeichnen. Diese mündet zwanglos in eine Liste von Regeln und Anweisungen. Was an ökonomischen und moralischen Prinzipien dargelegt wird, ist charakteristisch für bürgerliches Denken im 18. Jahrhundert. Es erinnert an die von Benjamin Franklin in seinen Lebenserinnerungen entwickelten Auffassungen. Vernünftige Nutzung der Zeit, ausgewählter Umgang, Belesenheit, Erwerb von Wissen, Sparsamkeit, Mäßigkeit im Aufwand, Fleiß, Aufrichtigkeit und Ehrbarkeit führen zum wirtschaftlichen Erfolg. Müßiggang, Vergnügungssucht, unangemessener Aufwand (sich breit und weitlaufftig zu machen 260,19f), Renommieren mit teuren Gastgeboten und Geschenken, fahrlässiges Kreditnehmen, Unachtsamkeit bei Geldgeschäften zerstören den Kredit und führen zum Ruin, selbst wenn man in der Lotterie gewonnen und eine reiche Heirat gemacht hat. Der Kredit, den jemand genießt, ist — bezeichnenderweise — zugleich eine moralische und eine ökonomische Kategorie. Die Tugenden von Bescheidenheit, Mäßigkeit, Ehrlichkeit, Arbeitsamkeit und Lernbereitschaft zahlen sich aus. Mit der Wendung gegen ein Streben nach äußerem Ansehen, nach Glanzentfaltung, sowie gegen Zeitvertreib durch Spaziergänge, Lustfahrten und Umgang mit Stutzern zielt der Patriot auf die in die bürgerliche Welt eingedrungene kavaliersmäßige Lebensart (der schon Matz Schaamroht im Stück 2 zu seinem Unglück gehuldigt hatte). Mit der Empfehlung von Nutzung der Zeit (fleißig zu Hause 258,31), emsiger Lektüre, Umgang mit Wissenschaften und Künsten und mit erfahrenen Männern, wohlvorbereiteter Reise usw.

132

Kommentare

und

Erläuterungen

lenkt er das Publikum auf ein geistiges Training: Vernunft, Wissen, Kenntnisse sind erforderlich. — Cerontes' Lehrjahre machen einen kleinen Bildungsroman aus; er weist in mancher Hinsicht auf Gustav Freytags Soll und Haben (1855) voraus. — Kaum berührt ist die ästhetische Dimension, in die sich ein anderer Kaufmannslehrling, Goethes Wilhelm Meister, aus der allzu bürgerlich-, allzu materiell-ökonomischen Geschäftswelt retten wird. Was Wilhelm Meister als ein Philisterium fürchten wird, ist für Cerontes — und für die frühe bürgerliche Aufklärung — zu erstrebende Erfüllung: irdische Glückseligkeit in rechtschaffen erworbenem Wohlstand. Bezeichnend für das Denken der frühen Aufklärung ist der Appell an die Eigenverantwortung des Einzelnen. Man soll nicht über die Zeiten, d. h. die Umstände, klagen, in die man geboren ist (257,7ff.), sondern an sich arbeiten. Jeder ist seines Glückes Schmied. Selbst=Besserung ist das Heilmittel. Nicht die Verhältnisse, die gesellschaftlichen oder politischen Strukturen, sind zu verändern, sondern: soll demnach alles besser gehen; so muß vorher ein jedweder anfangen, an sich selber zu bessern (257,24ff). Grundsätzliche Kritik an Institutionen, Ordnungen und Verfassungen, wie sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufig zu beobachten ist, ist in der frühen deutschen Aufklärung kaum zu finden. Bezeichnend auch, daß, wenn vom guten und ubeln Gebrauch der Zeit (258,5) die Rede ist, stets nur die vernünftige Nutzung zu praktischen Zwecken gemeint ist. Cerontes ließ sichs einen Ernst seyn, seine Wohlfahrt zu befordern (259,15). Von der altchristlichen frommen Nutzung dieser Zeitlichkeit ist nichts mehr berührt. Wenn für den Frommen „die Zeit auskaufen" hieß, sich auf die ewige Seligkeit vorzubereiten in Buße und Gebet, so gilt es jetzt nur noch, planmäßig sein diesseitiges Leben zu organisieren zu wirtschaftlich quantifizierbarem Nutzen. Zwar fallen gerade im vorliegenden Stück Wendungen auf wie: Cerontes verließ sich, nächst GOtt, auff sich selber (259,14), der tägliche Zuwachs

zw Jahrgang 1 / 1724, Stück 31

133

seines Geschäfts war nächst Gottlichem Benedeyen seiner Arbeitsamkeit, Aufrichtigkeit und Mäßigkeit zu verdanken (261,21), Wissenschaften sind nächst Gottlicher Hulffe Quellen der Wohlfahrt (262,22), man besitzt durch Gottliches Gedeyen, wohlerworbene Guter (264,8f.), — aber das sind eher Formeln, gleichsam zur Absicherung gegen geistliche Bedenken, ebenso wie die Regelliste mit Beginne nichts ohne GOtt anhebt und auch an ihrem Schluß auf Gottes Strafe, göttliche Verheißung und die ewige Glückseligkeit hinweist. Faktisch hat die Lebensführung des tugendhaften Cerontes nur noch diesseitige Orientierung. Von Gebet, Kirchgang, frommer Lektüre, Heiligung in der Nachfolge Christi ist bei ihm nichts mehr zu vernehmen. Freilich mögen sich religiöse Bestände noch in den Auffassungen vom Handeln eines ehrlichen soliden Kaufmanns ausmachen lassen, wie sie vor allem in den Regeln am Schluß zutage treten. Redlichkeit bei Geschäften auf Treu und Glauben, Mäßigkeit im Verdienen, Enthaltung von Gewinnsucht, Behutsamkeit bei hoher Preisforderung, Strenge wie Güte gegenüber den Bedienten, Billigkeit und Milde statt Ausbeuterei gegenüber den Arbeitern, Wohltätigkeit gegenüber Notleidenden, — das sind Tugenden, die rein rationalem Erwerbsstreben noch nicht entsprechen. Sie entstammen einer Gesinnung, die sich noch dem „Nächsten" verantwortlich weiß. Sie entsprechen dem, was Werner Sombart für den „Bourgeois alten Stils" herausgearbeitet hat. Das dynamisch-expansive, im Konkurrenzkampf rücksichtslose, kalt kalkulierende Gewinnstreben des Kapitalismus ist hier noch nicht entfesselt. Wiederum ist der Begriff bürgerlich (259,16) hier klar auf den Mittelstand bezogen gebraucht im Gegensatz zu herrenmäßig, feudal-aufwendig, „Staat"-liebend. Sprach- und begriffsgeschichtlich bemerkenswert ist ferner der Gebrauch der Bezeichnung übrige Zeit (258,31) oder übrige Stunden (258,23) für freie Zeit, Freizeit. Der Begriff

134

Kommentare

und

Erläuterungen

„Freizeit" erscheint erst im 19. Jahrhundert in den Wörterbüchern. Die Sache selbst, das Phänomen Freizeit, bildet sich dagegen — eng verknüpft mit dem Wandel des Arbeitsgedankens — bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus; die notierten Bezeichnungen wären ein Beleg für die Erscheinung bereits in der ersten Jahrhunderthälfte. Die Vorstellung von den Juden als Blut=Igel der Christen, damals ein Topos, wird vom Patrioten unbesehen benutzt. Sie taucht auch anderwärts bei ihm auf (vgl. III, 109,16). Mehrfach treten als Wucherer Juden ins Bild (vgl. Stück 40, 136, 139, 141), — als soziale Typen, stehende Figuren, wie sie auch das Drama kennt, so z. B. auch die Oper von Johann Philipp Praetorius Die Hamburger Schlacht=Zeit oder der Mißlungene Betrug, in einem Singe=Spiel, auf dem Hamburgischen Schau=Platze aufgeführet (1725, Musik von Reinhard Keiser). Religiöse Vorurteile artikuliert der Patriot dabei nicht. Die Vorstellung eines tugendhaften „edlen" Juden, die, vergleicht man seine Hinweise auf tugendhafte Heiden und edle Wilde, dem Patrioten durchaus nahe liegen könnte, ist noch nicht gefaßt. Sie wird in der deutschen Literatur vor Lessing zuerst markant exemplifiziert in Gelferts 'Roman Das Leben der schwedischen Grafin von G. (1747-48).

Vf.

(Einsendung)

Motti Juvenal, Saturae 10,365. - „An göttlicher Macht wird es nicht fehlen, wenn Klugheit vorhanden ist." — Persius, Satiren 6,75. — „Sei klug in Geschäften." Motto B

NON

EXPLORATIS IMPLEVI LINTEA

AUFEROR

IN S C O P U L O S I G I T U R .

VENTIS; OVIDIUS.

Ovid, Metamorphoses IX, 592/593. - „Ich bestieg den Nachen, ohne die Winde zu erforschen; darum jagt es mich jetzt auf die Klippen zu."

zu Jahrgang

257

1-7: 16

135

1 / 1724, Stück 32

fehlt BSchicket euch in die Zeit!

Rom.

12,11

(Luthertext).

19 Mentor zu dem jungen Telemach Mentor: hei Homer Erzieher des Telemach in Abwesenheit von dessen Vater Odysseus. (vgl. Erl. zu 137,27). 2 5 8

ihm gleichsam Schau legte

Schau legen: offen ausbreiten,

hin-

stellen. 2 5 9

24

Staat

2 6 0 2 6 1 2 6 3

Pryse] Prise B. -

33

Gewinn.

ins Auge fallender

Aufwand,

Paßiv-Rechnungen abzuthun Versehung

Gepränge.

Schulden

abzudecken.

Vorsehung.

Stück 32 Der Patriot bzw. sein Stellvertreter geht auf die Resonanz seiner Blätter ein und veröffentlicht zwei lustig-satirische Briefe. Gegenüber seinen Gegnern und Verächtern offenbart der Patriot erneut sein Selbstverständnis. Er betrachtet sich als moralischen Arzt, der den Leuten ans Herz greifen möchte (268,15), um sie zu heilen. Daß viele seiner Stücke der großen Nachfrage wegen dreimal aufgelegt werden mußten, ist sicher keine Übertreibung, und daß er mit den Zuschriften aus dem Publikum, statt einmal wöchentlich, fast täglich ein Stück würde füllen können, ist zumindest ein Hinweis auf ein jedenfalls beträchtliches Echo in der Öffentlichkeit. Die beiden fingierten Briefe sind an den jungen Vetter des Patrioten gerichtet. Der Brief des Gerhard Liebenthaler — kein individueller, sondern ein typisierender, ein „sprechender" Name, hier im Sinne von Thalerlieb, Geldlieb — ironisiert die Aktivitäten obskurer Buchhändler. (Der erwähnte

136

Kommentare

und

Erläuterungen

„Pierre Marteau" war, auch als „Peter Hammer", meist mit Verleder Ortsangabe „Cöln", eine damals gebräuchliche gerfiktion zur Verschleierung der wirklichen Herkunftsverhältnisse bei Druckwerken.) Er steckt voller Anspielungen auf Hamburger Zustände. So gab es tatsächlich Buchhändlerstände in Hamburger Kirchen. Mit der Erwähnung eines Satyrischen Romans (269,29) wird offenbar auf das gleichnamige, 1706 erschienene Werk von Christian Hunold (Menantes) angespielt, der darin so unverblümt Hamburger Skandalgeschichten ausgebreitet hatte, daß er, um einer Strafverfolgung zu entgehen, die Stadt verlassen mußte. Mit den dasigen Neufranckischen Vers=Kramem dürften professionelle Casualdichter gemeint sein, die, nicht nur in Hamburg, auf Bestellung zu jeder Gelegenheit den Pegasus bestiegen; auch andere Wochenschriften haben sich über sie lustig gemacht. Mit den Zanck=Schrifften schließlich, die auf auswärtigen Pressen gedruckt wurden (270,17f.), sind Pamphlete gemeint, die damals o f t , wie auch beim Flugschriftenstreit um den Patrioten selber, im benachbarten zensurfreien Altona herauskamen. — Der anschließende Katalog neuer Bücher ist eine Liste fingierter Titel, wie sie in Moralischen Wochenschriften nach dem Vorbild des Spectator Nr. 92 des öfteren ausgestellt worden sind. Mehrere dieser Titel zielen scherzhaft auf Modelaunen vornehmlich weiblicher Art. Daß der beflissene Buchhändler diese Bücher der so vorbildlichen Bibliothek der Araminte stiften will, ist eine hübsche Pointe. Der zweite Brief dient der Verspottung der Wahrsagerei und ihrer Anhänger, — auch dies ein Thema, das die Moralischen Wochenschriften, gut aufklärerisch, immer wieder beschäftigt hat. — Die Schlußbemerkung zeigt den Patrioten im Verkehr mit ihm unbekannten „echten" Korrespondenten, welche Beiträge zum Abdruck in der Wochenschrift eingesandt haben.

zu Jahrgang Vf.

i

Motto

Horaz,

2 ^ 7

De arte poetica 139. — „Es kreißen

Grondast

137

1 / 1724, Stück 32

die

Berge".

„ Brummer".

2 6 9

20

gewieriger

2 7 0

^

jahrlich . . . Beht-Tag halten] taglich . . . Seufzer schicken B.

271

^ durch Franciscum Erasmi Anspielung auf den barocken Vielschreiber Erasmus Francisci (1627—1694). (Vgl. dazu die Flugschrift Stephani Arends vertheidigter Ehren-Ruhm des sei. Herrn Erasmi Francisci, wider die frevelhafte Zunöthigung des Patrioten in Hamburg von Sebastian Edzardi. Vgl. Martens (1964).) 7

2 7 2

G. S.

gewierig:

Abkürzung

gewährend,

nicht

positiv.

auflösbar.

24 ein Frauenzimmer aufzusetzen ren Haarputz besorgen.

ein Frauenzimmer

31 Gallarten Fleischgericht.

ein darin bereitetes

35

Palatinen

'

Polonoisen

Gallart:

Gelee

bzw.

aufsetzen:

ih-

Fisch-

oder

Halsbekleidungen. Polonaise:

Kurzes

Damenkleid.

8 Malachias Gemeint ist offenbar Malachias de Hyberna (1094 bis 1148), Erzbischof zu Armagh in Irland. Die Echtheit der ihm zugeschriebenen dunklen Prophezeihungen über die Persönlichkeiten zukünftiger Päpste wurde bereits im 17. Jh. angezweifelt (vgl. Zedier, Bd. 19, Sp. 689).

2 7 3

34 Contuschen Damen.

Contouche:

^

Schleifen.

Coccarden

taillenloser,

mantelartiger

Überwurf

15 Rictus Crocodili, oder Thesaurus Conuiciorum Der Rachen des Krokodils oder Schatzbehalter der Schmähreden. 2 7 4

nach bestimmten

für

klaffende

^ punctiren Punktierkunst: Erde oder auf Papier markierten

Orakelkunst Punkten.

in der

20 f. Geomanten Geomantie zeichneten Linien und Punkten.

ist die Wahrsagerei aus in die Erde ge-

138

Kommentare und Erläuterungen

28 f. ungebohrnen Ochsen zu gewisser] Ochsen, als ein Thier von zuverlaßiger Dummheit, zu gewisser B.

275 276

13 Eiderstedter Eiderstedt, Halbinsel an der Westküste von Schleswig, bekannt für seine Rinderzucht. 20 f.

entlegen

Iii.:

fehlt B.

(lOff.)

weigern.

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 33 Der Vetter des Patrioten befaßt sieb mit unvernünftigen Gastgeboten. Die Tendenz ist deutlich: Ein vernünftiger Bürger begnügt sieb mit einer maßvollen Bewirtung; er hält keine offene Tafel, sondern lädt nur einen kleinen Kreis; er protzt nicht mit zahllosen Gängen, sondern legt das Gewicht auf Freundlichkeit und erbauliche Gespräche bei Tisch; auch langwierige Komplimente bei der Begrüßung fallen fort; das Gastmahl wird nicht zur beschwerlichen Dauersitzung. An die Stelle von herrschaftlichem oder altmodisch-steifem Gebaren tritt ein vernünftiger bequem-bürgerlicher Lebensstil. Die Beschränkung des Aufwands wird sowohl im Hinblick auf die gesundheitlichen Folgen aufgenötigter Völlerei als auch im Hinbick auf die Kosten anempfohlen, ohne daß der Knauserigkeit das Wort geredet würde. Asketisch-puritanische Verurteilung allen Genusses, allen Behagens, hat hier keinen Platz. Der goldene Mittelweg vernünftigen Gebrauchs der Güter dieser Welt steht dem Bürger an. Die recht drastische Schilderung vom Gastmahl des Herrn Straußkehl dürfte, rechnet man ein karikierend-übertreibendes Moment mit ein, ein kulturgeschichtliches Zeugnis für Traktiergewohnheiten in reichen Bürgerstädten sein. —

zu Jahrgang

1 /1724,

Stück

JJ

139

Daß der gestiefelte und gespornte Offizier (279,8f.; 280, 18ff.) in einem bürgerlichen, nicht durch Militärmacht groß gewordenen Stadtstaat eine schlechte Figur macht, versteht sich. — Bemerkenswert die Verurteilung grausamer Praktiken bei der Zubereitung von Tieren, wie sie im 17. Jahrhundert in Harmlosigkeit verbreitet gewesen zu sein scheint. (Der Tatler berichtet in seiner Nr. 148 , die das vorliegende Stück mit angeregt haben mag, von einem als Delikatesse servierten grausam getöteten Spanferkel.) — Dies Motiv durchdringt auch die orientalische Erzählung am Schluß. Tierquälerei zum vermeintlichen Zweck der Hebung des Wohlgeschmacks ihres Fleisches ist asiatische Barbarei ebenso wie die Verschwendung von Tieren zu Schau-Essen (283,18). Interessant schließlich, daß der Autor es sich nicht verkneifen kann, angesichts der kritisierten üppigen Fülle erlesener seltener Speisen beim straußkehlschen Gastgebot auf die Glückseligkeit Hamburgs hinzuweisen (279,20f), das alle diese Speisen auf seinem Markt bereitzustellen vermag. Stolz auf die wirtschaftliche Potenz des Gemeinwesens tut sich kund. D. W. Triller hat das vorliegende Stück zum Gegenstand eines Gedichts gemacht: Sinnreiche Geschichts=Erzählung wider die Leckermäuler und Schweiger, aus des unvergleichlichen hamburgischen Patrioten 33stem Stücke des ersten Jahres, in teutsche Verse übersetzet (Daniel Wilhelm Triller, Poetische Betrachtungen über verschiedene aus der Natur= und Sittenlehre hergenommene Materien, 2. Theil, 2. Aufl. Hamburg 1746, S. 188-193). Vf.

M. Richey

(t)

Motto Juvenal, Saturae 1 140/141. — „ Wie gefräßig muß der sein, der sich ganze Eher vorsetzen läßt: Ein Tier nur des Gelages wegen gehören!" 2 7 7

^ Azia gemeint ist vermutlich Asja oder Adschiar, eingepökelte Wurzeln, Kräuter und Früchte. 10

DerPamot.Bd.IV

in Salz und Essig

140

Kommentare

und

Erläuterungen

22 Herr Straußkehl sprechender Name, vgl. Johann Hübner, Curieuses und Reales Natur- Kunst= Berg» Gewerck- und Handlungs-Lexicon (Leipzig 1722, Sp. 1796) über den Vogel Strauß: „Die gemeine Rede von diesen Strauß= Vögeln ist diese, ob sie sollen Eisen verdauen können . . .". 2 79

^ Frau Boocks-Büdels Booksbeutel: ursprünglich ein Beutel, in dem die Bücher der kirchlichen Andacht aufbewahrt wurden. Hier in einer anderen Bedeutung: etwa „alter Schlendrian". Vgl. den Kommentar zu Stück 79 des Patrioten. Madame Sip Richeys Idioticon Hamburgense zum Wort „sipp": 5 „ein Spottwort wieder [!] ein solches Frauenzimmer, das sich ungemein kostbar machet, und sehr vornehm und eingezogen thun will. Die nennet man bey uns Jumffer Sipp." 13

Aufsatz

Tafelgeschirr.

19 Trimalcion gemeint ist Trimalchio mit seinem berühmten mahl aus dem Satyricon des Petronius Arbiter (gest. 66 n. Chr.) 2 80

Gast-

^ nach der Ordnung des jetzt herrschenden Europa Anspielung auf die damals zahlreich erschienenen tabellarischen Bücher über die europäischen Herrscherhäuser, z. B. Peter Ambrosius Lehmann, Das ietzt herrschende Europa oder Beschreibung aller christlichen Potentaten . . . samt derselben Gemahlinnen, Hamburg 1684. 16 den Grafen- und Ritter-Sahl offenbar „Gotha", nicht näher identifizierbar.

eine Art

zeitgenössischer

16 f. H n . Hübners Genealogische Tabellen Johann Hübner, Dreyhundertunddreyunddreißig Genealogische Tabellen, Leipzig 1708. Weitere Teile erschienen 1712, 1725 und 1733. Johann Hübner war seit 1711 Rektor am Johanneum in Hamburg, übrigens zeitweilig auch Mitglied der „Teutsch-übenden Gesellschaft", zu der auch die späteren Gründungsmitglieder der „Patriotischen Gesellschaft" Brockes, Fabricius und Richey gehört hatten. 2 8 3

^

Mollack

16

Com

Mullah,

heute Ghom,

27 Monahts Saphar des Jahres. 28

ein schiitischer

Yman-Zaden

Geistlicher.

heilige Stadt in Persien.

Saphar heißt bei den Arabern der zweite

Imam-sade,

Abkömmlinge

der schiitischen

Monat Imame.

zu Jahrgang

1 /1724,

Stück 34

141

Stück 34 Das Stück handelt unterhaltsam von verschiedenen Graden des menschlichen Verstandes. In Nutzung des mit der Verfasserfiktion gegebenen Spielraums hantiert der Vetter des Patrioten mit dessen geheimnisvollen Instrumenten und Wundermitteln und erfindet dabei ein Wetter=Glas des Verstandes. Dies Instrument, auch als Probier=Stein der gesunden Vemunfft bezeichnet, zeigt auf einer neunteiligen Skala gleichsam die Temperamentsstufen der Vernunft an und zwar sowohl bei den Werken der Schriftsteller als auch bei gegenwärtigen Personen. Beim vernünftigen, deutlichen und ungezwungenen Vortrag eines Autors diagnostiziert das Instrument auf gesunden Verstand, was der Mittellage auf der Skala entspricht. Auf diese Mittellage soll der Geschmack der Mitbürger justiert werden; vor ihr scheiden sich gesunder und verdorbener Geschmack (290,17). Freilich wird anerkannt, daß gewisse Variationen in der Temperierung beim Sprechen und Schreiben reizvoll sein können. Nur die Extreme, rasend und wild auf der einen, matt und stumpff auf der anderen Seite, sind vom Übel. Mit diesen Ausführungen macht der Patriot sein schriftstellerisch-stilistisches Ideal deutlich. Bezeichnend, daß für ihn mathematische und historische Schriften in der Regel den gesunden Mittelweg einhalten, während die meisten sonstigen zeitgenössischen Schriften als matt qualifiziert werden, die Romane aber als wild. Andere dichterische Hervorbringungen sind nicht erwähnt. Mit Anziehung der neuesten Scribenten von Streit* Schrifften (289,26) gestattet sich der Patriot wieder einen Seitenhieb auf die ihn bekämpfenden Flugschriftenschreiber: ihr Verstand wechselt übergangslos von rasend zu stumpff. Auch die Herrn Journalisten bekommen ihr Teil ab; ein verständigeres Urteil wäre ihnen bei ihrer Arbeit nützlich. 10»

142

Kommentare

Vf.

?

Motto du."

Horaz,

und

Erläuterungen

Satiren II 3,9. — „Vieles und Hervorragendes

Motto B

— P u L S A , DIGNOSCERE Q U I D SOLIDUM C R E P E T .

Persius, Saturae 5,24/25. scheiden. "

— „Klopf

versprachst

CAUTUS, PERSIUS.

an, du kannst gediegenen

Klang

2 8 6

^

Surinam

2 §9

^

Scribenten von Streit=Schrifften] Streit=Schriften-Steller B.

2 9 0

22 Johann Beyer Hamburger Astronom (1673—1751), sche Instrumente konstruiert hatte. Vgl. auch Stück 42.

291

^en

Niederländisch-Guyana

ausw^rt'gen

in

unter-

Südamerika.

Bezugsmöglichkeiten

der

physikali-

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 35 Das Stück, das letzte vom „jungen" Patrioten redigierte, liefert, angeblich als einen Beitrag von weiblicher Hand, eine kleine Liebesgeschichte und knüpft daran moralische Betrachtungen zum Thema der Heirat. Die Geschichte, von dem bereits in Stück 20 auftauchenden Herrn de Bel-Esprit als einem Freund von verliebten Sachen vermittelt, wird als artig, naturlich und zärtlich bezeichnet. Sie dient zunächst in der Tat der Ergetzlichkeit der Leser. Psychologisch ist das Geschehen nicht eben reizvoll; Liebe und Schmerz bestimmen die Gefühle des jungen Paars, Beständigkeit ist ihre Tugend. Diese wird, wie die Schlußformel es will (297,3f.), belohnt. Interessant ist freilich, was der junge Patriot zu dieser anspruchslosen Geschichte für moralische Betrachtungen anzustellen weiß. Er geht zunächst gegen die alte, nicht nur im Bürgerstand gebräuchliche Übung an, bei Heiraten von bei-

zu Jahrgang

1 / 1724, Stück 35

143

den Partnern etwa gleiche Vermögensumstände zur Voraussetzung zu machen. Seine Argumentation ist zweifach: Einerseits sind Tugend auf weiblicher Seite und Tüchtigkeit auf männlicher wichtiger als Geld, andererseits aber ist es im Interesse der allgemeinen Glückseligkeit geradezu wünschenswert, wenn durch gute Vermögensumstände des einen auch die Person des anderen, armen Partners glücklich wird (297,32ff), — illustriert ist das noch zusätzlich mit der Beispielerzählung von Adelwerth und Emilia —, — ein Gedanke, der im Bereich der Aufklärung des öfteren zu beobachten ist. Eine solche Eheschließung ist gleichsam ein Stück Wohltätertum im Sinne der göttlichen Vorsehung, die ja alle Menschen glücklich wissen will. Der andere Gedanke, der an die Geschichte von Orontes und Celinde geknüpft wird, ist für die Position der frühen bürgerlichen Aufklärung nicht minder kennzeichnend. Die in der Liebesgeschichte bewährte und belohnte Beständigkeit wird als Fehlhaltung bewertet, weil sie gegen den Gehorsam, den man Eltern schuldig ist, verstieß. Ehen sollten nicht gegen den Willen der Eltern geschlossen werden; eigenmächtige Verbindungen werden in aller Regel unglücklich. — Hier zeigt sich, daß im Gesellschaftsbild des Patrioten ein absoluter, individueller Glücksanspruch, wie er in der Hochempfindsamkeit und in der Geniezeit literarisch proklamiert wird, noch keinen Platz hat. Auch wenn die Strukturen des „ganzen Hauses" bereits erschüttert sind und die bürgerliche Kleinfamilie sich an seine Stelle zu setzen im Begriff ist, gilt noch die Ordnung der elterlichen Autorität. — Freilich gesteht der Patriot selber, daß dies Thema so wichtig wie weitläufig sei. Er verspricht, einmal ausführlich darüber zu handeln. Das Versprechen wird im Stück 133 eingelöst. Vf.

f

Motto benden

Ovid, Metamorphoses IX, 749. — ,,Hoffnung erfüllt. Hoffnung ist es, was ihn erhält."

ist es, was den Lie-

Kommentare

144

2 9 2

2 9 8

BEL-ESPRIT] DE BEL-AMOUR B. SO auch

292,18.

DE

5

nicht eine einzige Zeile von verliebten Handeln

vgl. dazu

d a ß w i r M e n s c h e n , und k e i n e K l o t z e , w a r e n : ] fehlt

^

geben er

^atte

hier im Sinne von v'e'e

15-18:

fehlt

171,5.

B.

ergehen.

V e r n u n f f t u n d L e b h a f t i g k e i t : ] fehlt

331lf. f. einmahl einmahleit ein eigenes Papier ke 106 voraus. 106 und 133 133 vo> 2 9 9

Erläuterungen

2

26f.

2 9 5

und

B.

Der Patriot weist damit auf die Stük-

B.

Stück 36 Der „alte" Patriot, der wieder die Feder führt, spricht in eigener Sache. Er erläutert noch einmal seine Absichten und sein Verfahren, macht Angaben über seine bisherige Resonanz und erläßt ein Preisausschreiben. Das Stück ist für das Selbstverständnis der Wochenschrift und für ihre Wirkung besonders aufschlußreich. Es läßt erkennen, daß die Verfasser sich in Thematik und Technik bei dieser Ahrt Schrifften (307,32f.) ihrer Verpflichtung gegenüber den ersten englischen Wochenschriften voll bewußt sind. Die sprachlichen, lesepädagogischen und allgemein sozialerzieherischen Leistungen von Spectator und Guardian, nicht zuletzt ihre besonderen Verdienste bei der Gewinnung eines weiblichen Publikums, sind klar gesehen und Richtschnur für die eigenen Bemühungen. Erstaunlich klar ist auch die Bewußtheit beim eigenen sprachlichen Vorgehen. Der Patriot bemüht sich, mit seinem sprachlichen Gebaren die seit der Zeit des Humanismus in Deutschland bestehende Kluft zwischen gelehrten und ungelehrten Lesern zu schließen und eine jedermann verständliche gebildete Gemeinsprache zu sprechen, so daß notfalls sogar ein Handwerker oder ein Bauer zu folgen vermag.

zu Jahrgang

1 /1724,

Stück 36

145

Sprachgeschichtlich ist das bedeutungsvoll. Die sprachlichstilistische Qualität des Patrioten ist es denn auch, die der Staatsmann und Hofdichter Johann von Besser in den an den Verleger Kißner gerichteten zitierten Briefen besonders rühmt. Nachdruck, Zierlichkeit und Reinigkeit (304,3f.), naturliche und nachdrückliche Zierlichkeit (304,7f.) sind die Begriffe, mit denen Besser den Stil des Patrioten kennzeichnet. Daß dies Urteil des auswärtigen, der Verfassergesellschaft des Patrioten nicht nahestehenden Dichters berechtigt ist, wäre im Vergleich mit zeitgenössischen Schriften zu erhärten, doch genügt schon ein Blick auf die oft grobe, hölzerne, pedantisch-umständliche oder spitzfindig-gespreizte Diktion der Flugschriften gegen den Patrioten oder auch auf die noch recht ungewandte Manier der etwa gleichzeitigen Züricher Discourse der Mahlern, um das mit dem Patrioten erreichte relativ hohe sprachliche Niveau zu erkennen. Es ist keine Frage, daß die positive Stellungnahme Bessers das Ansehen des Patrioten in der „gelehrten" Welt gehoben hat; Rezensionen über die Wochenschrift nahmen gern darauf Bezug. Was der Patriot über den Verkauf seiner Blätter sagt (302,24ff.), dürfte bedeuten, daß ihre Auflage etwa 5000 Exemplare betragen haben muß, — eine für damalige Verhältnisse ganz ungewöhnlich hohe Zahl, die sicherlich in der Folge nicht eingehalten werden konnte, sondern wohl vor allem der mit dem aktuellen Flugschriftenwirbel entstandenen Publizität zu verdanken ist. — Nicht weniger bedeutsam ist die Bemerkung über die große Resonanz im so galanten als gelehrten Ober=Sachsen, also im Raum Leipzig — Dresden. Der Bericht von einer in M. regelmäßig zusammentretenden und mit Briefen und Einsendungen sich rührenden Patriotischen Assemblée kommt den auf eine Aktivierung des Publikums gerichteten Intentionen des Patrioten entgegen. Vermutlich ist jedoch, wie Jörg Scheibe plausibel gemacht hat (Scheibe (1973), S. 59ff.), diese Assemblee die Fiktion einer

146

Kommentare

und

Erläuterungen

einzelnen Person, — des aus Merseburg gebürtigen Johann Ernst Philippi. Für die damaligen Leser und auch für das Verfassergremium des Patrioten stellte diese patriotische Gesellschaft (später in „Liebenseeburg") jedoch mit ihren Einsendungen (vgl. Stücke 15, 59, 152) ein Stück erfreulicher aktiver Resonanz aus der Leserschaft dar. Der Aktivierung des Publikums über ein bloßes Konsumieren hinaus dient die Aussetzung einer ansehnlichen Belohnungfür den besten eingesandten Aufsatz. Es ist dies das erste Preisausschreiben in einer deutschen Zeitschrift; das Ergebnis wird im Stück 55 bekannt gegeben (II, 25,4ff.). Die zu diesem Preisausschreiben erlassenen Vorschriften fixieren noch einmal den Stilwillen des Patrioten: gelehrt und allgemein, munter und sinnreich, ernsthafft und angenehm, fremd und unerwartet, rein und natürlich, kurtz, aber doch weitlaufftig und reich, auch insonderheit nutzbar (308,10ff). Daß die Tugendlehre des Patrioten in keiner Weise asketisch-puritanisch ist, bezeugt eine Wendung am Beginn des Stückes (300,8ff.) erneut. Vf.

M. Richey (?)

Motti Zeile 1: Vergil, Eclogae 7,26. — „Möge doch Codro vor Neid zerbersten". Zeile 2 und 3: Vergil, Aeneis V, 485, 486. — „Aeneas lädt die, die es wünschen, zum Wettkampf mit dem schnellen Pfeil ein und setzt die Preise fest." Zeile 1 fehlt B. 301 3 0 2

^

auch ein] auch so gar ein B.

^

geblaubt] geglaubt (Druckfehler

30 fünfftehalb tausend halb); vgl. III, 265,33f.

dieses

viereinhalbtausend

Neudrucks). (das fünfte

Tausend

35 M . . . Merseburg, Residenz des Hauses der Linie Sachsen-Merseburg, einer Nebenlinie des Kursächsischen Hauses. (Das Register (III, 443) notiert für das Stück 36 Merseburgische Patrioten Versammlung).

zu Jahrgang 303

147

1 / 1724, Stück 36

17 Herrn von Besser Johann von Besser (1654—1729), Hofpoet und Zeremonienmeister in Dresden. J. v. Besser war möglicherweise über den Abdruck dieses seines Lobes nicht glücklich; jedenfalls schrieb sein Dresdner Kollege und Nachfolger Johann Ulrich König an Johann Jakob Bodmer: „. . . der Hr. von Besser [war] sehr ungehalten auf Hrn. Weichmann, weil er aus einem Briefe den der Hr. v. Besser an den Verleger geschrieben, die PASSAGE ZU des Patrioten Lob ausgeschrieben, und öffentlich seinen Papiren eindrucken lassen, welches den Hrn. von Besser um so mehr verdrossen, je schlechter bald darauf einige Stücke von dem Patrioten gerahten, und er seinen Lobspruch nur haubtsächlich von dem reinen und guten Teütschen verstanden, dessen sich einige Glieder des Patrioten bedient." (Brief J. U. Königs an J.J. Bodmer vom 15. Mai 1725, zitiert nach Alois Brandl: Barthold Heinrich Brockes. Nebst darauf bezüglichen Briefen von J. U. König an J.J. Bodmer. Innsbruck 1878, S. 140). Freilich scheint die Mitteilung Königs an Bodmer nicht unparteiisch erfolgt zu sein. König stand den Hamburgern kühl gegenüber und bestärkte den als Hauptverfasser der Discourse der Mahlern wenig erfolgreichen und daher von Rivalitätsgefühlen geplagten Schweizer in dessen Absicht, den Patrioten zu striegeln (Brandl, ebd.). 19—23

Wie mir bewust . . . drucken lassen.] fehlt

B.

29—304,23 Im ersten Brieffe . . . Herr von Besser:] Wie begierig nun gleich die Welt ist, alles, was von einem so grossen Meister unserer Sprache herkommt, zu lesen, so kann ich dennoch dießmahl meiner schuldigen Bescheidenheit unmöglich so viel Gewalt anthun, und dessen den 23. Febr. anhero geschriebenes gar zu gutiges und Ruhm-reiches Urtheil hieher wiederholen. Gnug, daß hocherwehnter Herr von B e s s e r in einem andern Briefe vom 25. April geruhen wollen, sich folgender gestalt vernehmen zu lassen: B. 3 0 4

Hr. Hojer Andreas Hojer (1690-1739), niglicher Historiograph in Kopenhagen.

30

306 308

g.G. ' B.

geliebts Gott (Formel),

Rechtsgelehrter

und kö-

So Gott will.

Auffsatz von] Aufsatz, nächst der Reinigkeit unserer Sprache, von

11—13 fremd und unerwartet. . . nutzbar] fremd und naturlich, vor allen Dingen aber nutzbar B. 13—(19)

Ja, ich sähe . . . schon ausgegeben.] fehlt

B.

148

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 37 Ein — vermutlich fingierter — Brief veranlaßt den Patrioten, sich mit dem Armen- und Bettelwesen zu befassen. Daß die Anregung dazu aus der Leserschaft kommt oder zu kommen scheint, ist wichtig. Es geht dem Patrioten um die Weckung des bürgerlichen Gemeinsinns, um die Erziehung des Publikums zu sozialem Verantwortungsbewußtsein. Vom Publikum sollten die Initiativen ausgehen, nicht allein von den staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten. Dem entspricht es, daß der Patriot das Armen- und Bettelwesen (dessen Last für das 18. Jahrhundert in Hamburg bezeugt ist), nicht lediglich vom Standpunkt christlicher Nächstenliebe, frommen Almosengebens, her ansieht, sondern daß er auch und vor allem sozialökonomisch denkt. Die Republick hätte Vorteil oder zumindest keinen Nachteil, wenn gesunde Arme zur Arbeit angewiesen werden konten (310,19f). Es ist der Republik abträglich, wenn so viele Glieder, wovon sie Nutzen haben konte, ohne eintzigen Nutzen ihr zur Last sind (312,23 f f ) . Viele bettelnde Arme könnten produktive Arbeit leisten. — So fordert der Patriot denn auch weniger dazu auf, Mildtätigkeit zu üben, als öffentliche Anstalten zu errichten, die den Bedürftigen Arbeit und Brot geben und zugleich der Stadt durch Einführung und Befoderung der Manufacturen (316,11 f.) Nutzen schaffen. Ein allgemeines Werkhaus, wo jeder Arbeit fände, ist wünschenswert. Der Patriot rühmt bei dieser Gelegenheit bereits bestehende staatliche und kirchliche Institutionen, die zumeist aus privaten Vermächtnissen gemeinnützig denkender Bürger entstanden sind, und preist einen angesehenen Hamburger (in der Buchfassung wird auch sein Name genannt: Jakob Volckmann), der erst jüngst durch eine Stiftung bewiesen habe, daß nicht alle Liebe zum gemeinen Wesen erloschen (311,34). Um eben die Liebe zum Gemeinwesen, um Wek-

zu Jahrgang 1 /1724, Stück 37

149

kung bürgerlicher Selbstverantwortung für die Wohlfahrt des Ganzen, ist es dem Patrioten zu tun. Das ist im deutschen 18. Jahrhundert, wo den zumeist in absolutistischen Territorien lebenden Bürgern als Untertanen Selbstverantwortung und Initiative weitgehend abgewöhnt worden waren, durchaus bedeutsam. Die sozialen Maßnahmen der hamburgischen „Patriotischen Gesellschaft" von 1765 sind vom Geist des Patrioten von 1724 getragen. — Das Thema wird im 76. und im 122. Stück erneut aufgegriffen. Daß in dem vorgeschlagenen öffentlichen Werkhaus auch Kinder beschäftigt sein sollen, um sie von Müßiggang und allen Lastern abzuhalten (316,9f), wird deutlich. Die Problematik von Kinderarbeit ist dem Patrioten noch nicht bewußt. Bezeichnend ist sowohl die Kombination von Müßiggang und Lastern als auch die Wendung von der Schande der Betteley (315,12). Wohl noch unter dem Einfluß der lutherischen Arbeitsethik ist Müßiggang hier von vornherein verdächtig. Daß der Bettler eine Würde haben könne und Betteln im Mittelalter gar eine fromme Lebensform war, ist vergessen. Stattdessen taucht im Kontext versteckt sogar der Gedanke an eine Arbeitspflicht für alle auf (312,22f f ) . Bemerkenswert schließlich, daß mit dem allegorischen Traum des arabischen Weltweisen (314,3 f f . ) und dem Exempel der Türcken (316,28) auf die hohen Tugenden nichtchristlicher Völker hingewiesen wird. Nächstenliebe, Erbarmen gegenüber Armen, ist auch außerhalb der Christenheit zu finden. Vf.

B. H. Brockes (?)

Motto Horaz, Epistulae II 1,228. — „Du rufst ihn zu dir und sorgst dafür, daß er keine Not leidet." 11 Gast-Hause Gasthaus: in vorreformatorischer Zeit in als Einkehrhaus für Pilger und arme Reisende errichtet und von

Hamburg Mönchen

150

Kommentare

und

Erläuterungen

geführt; seit Beginn des 17. Jhs. wurde dort unter Aufsicht der verarmten alten Leuten Unterkunft gewährt.

Bürgerschaft

Hospital zu St. Jürgen Das Hospital St. Georg (auch Siechenhaus) war ursprünglich für Seuchenkranke bestimmt, diente dann aber armen alleinstehenden Frauen als Unterkunft. 12

Wäysen-Hause

13

preßhafften

Das Waisenhaus wurde 1597

bresthaft: gebrechlich,

erbaut.

krank.

14 Pest-Hofe 1606 als Stiftung der Bürgerschaft vor den Toren Hamburgs angelegt, war er zunächst für Pest- und Seuchenkranke bestimmt; später als allgemeines Krankenhaus, besonders aber für Schwachsinnige, betrieben. Pocken-Hause Das Pocken-Haus oder Hospital St. Hiob war ebenfalls eine Stiftung der Bürgerschaft, in erster Linie für Pocken- und venerische Kranke gedacht. 14f. für muthwillige ungezogene Leute im Zucht- und für Verbrecher im Spinn-Hause Das Zucht- oder Werk-Haus wurde 1618—20 an der Binnenalster von der Bürgerschaft erbaut und seither auch von ihr verwaltet: „Das Werk' und Zucht=Hauß ist eine Anstalt, welche nicht infam macht; die darin aufgenommene Leute müssen arbeiten, und bekommen solche Beköstigung mit so gelinder Anstrengung zur Arbeit, daß man vielleicht zum Besten dieser Leute, und zur wirtschaftlichen Ersparung, etwas ernstlicher verfahren könnte." Griesheim (1759), S. 114f. — Ebd. S. 115: „Das Spinn=Hauß ist 1665 errichtet. Hier werden ausgestrichene Huren, und Diebe zuweilen mit, mehrentheils ohne Brandmarke nach erfolgtem richterlichem Spruch auf Lebzeit, oder auf gewisse Jahre versperret. Sie sind unehrlich, heydes, Manns- und Weibes=Leute müssen spinnen [. . .] Diese Anstalt wurde 1724 vergrößert, darzu legirte ein Raths-Herr Volckmann sechs tausend Rthlr." 29 3 1 2

Muhtwillige Bettler vgl. die zeitgenössische Unterscheidung von „mutwillig Armen", „wirklich Armen" und „verschämten Armen". 30 f. nen.

3 1 3

Rahts-Gliedes] Rahts-Gliedes, des Herrn J a c o b V o l c k m a n n s . f i .

die es zu missen haben

hier im Sinne von: die es entbehren

kön-

P^ttdeutsche Dialog lautet im Hochdeutschen etwa so: „Schwager, was gibts heute abend zu essen? — Aalsuppe, Hammelfleisch mit Rüben und Ochsenbraten. — Na, was ist das für ein Fressen! Wie kann

zu Jahrgang

1 /1724, Stück 38

151

die Aalsuppe schmecken; die Birnen sind ja noch nicht reif! Rühen habe ich mir schon übergegessen. Ein Ochsenbraten wäre noch was: aber wenn es nicht ein Bruststück ist, so taugt es auch nichts." 13

Dreyling

Münze (3

Pfennig-Stück).

3 \4

^ Der Arabische Welt»Weise, Zama Galeb Die Erzählung vom Zama Galeb ist trotz ihrer Vorstellung als Zitat als eine Erfindung des Verfassers anzusehen.

3 1 5

^ der bekandte Becher Johann Joachim Becher (1635—1682), früher Vertreter des Kameralismus, Verfasser des Politischer Discurs Von eigentlichen Ursachen deß Auff- und Abnehmens der Städt, Länder und Republikken, Frankfurt 1688. Die Zeilen 28—33 stammen wörtlich aus diesem Werk.

3 1 6

^ Verlag (Adelung).

31 7

„die zu einer Unternehmung

30

Insel Candien

2 ges.

Jagrenate

Kreta, seit 1669

Ort mit berühmter

. . . voraus nöthigen

Kosten"

türkisch.

Pagode an der Mündung des Gan-

Stück 38 Der — sicherlich fingierte — Brief eines zum Schauspieler gewordenen Studenten berichtet vom Schicksal einer Komödiantentruppe in Hamburg und gibt anschließend den detaillierten Plan eines komischen Heldengedichts Die Baß= Geige bekannt, welches die Zwistigkeiten innerhalb dieser Truppe poetisch behandeln soll. Der Patriot gibt darauf sein Urteil über Schauspiele und Komödianten ab. Die Bande des Hascarl ist historisch bezeugt. Vermutlich haben die berichteten und im Plan des Heldengedichts scherzhaft geschilderten Zerwürfnisse einen realen Hintergrund. Freilich berichtet die Buchfassung, in der bei diesem Stück erhebliche Änderungen vorgenommen worden sind, von einer Auseinandersetzung des Hascarl mit seiner Frau, während die Originalfassung einen Streit des Hascarl mit

152

Kommentare und Erläuterungen

seinem Compagnon zugrunde legt. Jedenfalls aber ist das im Patrioten skizzierte Heldengedicht in der Hamburger Öffentlichkeit als voller satirischer Anspielungen auf persönliche Interna innerhalb der Komödiantenbande verstanden worden; die Stellungnahme des Patrioten am Ende von Stück 41 (354,20ff.) läßt das erkennen. Der Patriot will dort das 38. Stück als lediglich vom Mißbrauch der Komödien handelnd hinstellen; es sei von unbekannter Hand eingeliefert; er habe den Entwurf zur Baß=Geige nur als eine scherzhafte Nachahmung von Boileaus komischem Epos Le Lutrin aufgefaßt; er sei kein beißender Satiriker. Wir können die Dinge im einzelnen nicht mehr klären. Jedenfalls aber hat der Entwurf zum Heldengedicht von der Baß=Geige mit dem vorgeblichen Thema — Mißbrauch der Komödie — nicht viel zu tun, und als eine Nachahmung des Boileauschen Epos kann er auch kaum bezeichnet werden. Er behandelt einen eigenen Stoff nach den Gattungsgesetzen des scherzhaften Heldengedichts. Möglicherweise hat sich der Patriot hier doch unvorsichtigerweise zum Abdruck eines Textes mit persönlich-satirischen Ingredienzien verleiten lassen, — zu etwas, was seinen schon im Motto zum 1. Stück formulierten Prinzipien zuwiderläuft. Eine Flugschrift hat unter dem Titel Ii Pregio dell'Ignoranza, oder Die B a ß g e i ge den Spieß umgedreht und in einigen Marionettenspielszenen die Verfasser des Patrioten satirisch verspottet. Der Entwurf zur Baß=Geige zeigt genaue Kenntnis der Gestaltungsprinzipien des komischen Epos, wie es bei Boileau (Le Lutrin, 1674), im englischen Bereich etwa bei Pope (The Rape of the Lock, 1712) und in Deutschland mit Zachariaes Der Renommiste (1744) verwirklicht worden ist. Wie es sich für diese Gattung gehört, wird der Stil und der mythologische Apparat des hohen Epos aufgeboten, um einen niedrigen Gegenstand darzustellen. Im vorliegenden Falle werden die Göttin der Zwietracht (im hohen Epos bekanntlich die Urheberin des Trojanischen Kriegs) und die

zu Jahrgang 1 /1724, Stück 38

153

Göttin Fama, schließlich auch Apollo bemüht. Für den Stil sind schone Rhetorische Figuren (323,9f.) und z. B. ein homerisches Gleichnis (325,14ff.) vorgesehen, übrigens auch Manierismen durch besonderen Konsonantengebrauch, wie sie gelegentlich noch Brockes' Dichtungen zieren (322,10ff). Der niedrige Stoff, ein Zwist von Komödianten, die ein Lustspiel vom Don Quichotte aufführen, gibt Gelegenheit zu drastischer Schilderung. Von der damaligen Welt wandernder Schauspielertruppen, wie sie später noch Goethes Wilhelm Meisters theatralische Sendung erfaßt hat, ist humorvoll einiges eingefangen, z. B. mit dem hübschen Inventarverzeichnis der Kostüme und Dekorationen (325,22ff.). Der Kommentar des Patrioten, diesmal erheblich skeptischer als anläßlich der Schilderung einer Opernaufführung im Stück 25, ist kennzeichnend für die Einschätzung der wandernden Komödianten im vernünftigen Bürgertum vor den Gottsched-Neuberschen Reformen. Vagierende Schauspieler sind eine verächtliche Art von Leuten, ihr Einfluß ist „niederträchtig", Schauspiele sollten bessern und nützen, statt dem Publikum den Hanswurst vorzusetzen. Die Bühne muß reformiert werden. (Die Truppe der Neuberin ist erstmals 1728 in Hamburg aufgetreten.) Bemerkenswert hier der religiöse Gesichtspunkt (327,10ff). Kritik am Theater von geistlicher Seite hatte in Hamburg Tradition, man denke etwa an die Schrift des Hamburger Pastors Anton Reiser Theatromania oder Werkke der Finsterniß in den öffentlichen Schauspielen (Ratzeburg 1681). Vf.

f 21. September] 24. August B (wohl irrtümlich).

Motto Vergil, Geórgica IV 67/68. — „Schon oft hat zwei Regenten heftige Zwietracht hefallen."

Kommentare

154 Motto

B

und

Erläuterungen

H E C Y R A EST H U I C N O M E N F A B U L A E : H A E C C U M DATA EST N O U A , N O U U M I N T E R U E N I T V I T I U M ET C A L A M I T A S .

TERENT.

Terenz, Hecyra 7/2 (Prolog). — „Hecyra ist der Name dieses Stückes. Als es neu gegeben wurde, schlich sich ein neuer Fehler und eine neue Katastrophe ein." 318

' Johanns-Marckte Michaelis statt.

Jahrmarkt

zu Johannis;

ein weiterer fand

zu

8 Fuhlen-Twiete alte Hamburger Straße im Osten der Stadt, bei St. Jacobi (fühl: faul, schmutzig, Twiete: enges Gäßchen, Nebengasse). 11—13 zum Unglücke . . . zerfallen waren.] zum Unglücke das Haupt unserer Troupe H a s c a r l mit seiner Frau zerfallen wäre. B. 12 Hascarl Die Komödienbande des Hascarl wird erwähnt in Johann Friedrich Löwens Geschichte des deutschen Theaters (1766), ferner bei Eduard Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst, in 2 Bden. neu hrsg. von Rolf Kahl und Christoph Trilse, Wien und Berlin o.J., Bd. 1, S. 217. Danach war die Truppe 1720 gegründet und besonders verwildert. ^ J

3 nach Ahrt des Lutrin von Mr. Boileau gemeint ist: Le Lutrin (Das Chorpult), komisch-heroisches Epos in 6 Gesängen von Nicolas Boileau-Despréaux (1636—1711), erschienen 1674 (Gesänge 1—4) und 1683 (Gesänge 5 und 6). 18—20 Harscarl und sein . . . Ritter aufführe] H a s c a r l und seine F r a u , die ich unter dem Nahmen A n t o n i o und E l v i r a aufführe B. 23 die Glorioso . . . u n d diese] die E1 v i r a für ihren Liebling, den Musicanten G a m b o , gekaufft, ihr eifersüchtiger Mann aber sich derselben bemächtiget, und sie an seinen Favoriten, einen andern Spiel-Mann, Nahmens S p a l l a verschencket hatte: und diese B. 24-27 29

3 2 0

Violino . . . W e i t l ä u f i g k e i t . ] fehlt

B.

B folgt: E r s t e r CHANT.

zwischen D o n Glorioso und D o n Epinetto] unter unserer gantzen Bande B. 9 in die Comödiantin, Basine] in die Person der B a s i n e , des S p a l l a Frau B. 11 D o n Glorioso] A n t o n i o B (ebenso 320,25; 323,4; 323,8; 324,9).

324,6;

zu Jahrgang 1 /1724, Stück 38

155

13—25 für ein Gezanck . . . Geld zu verspillen.] was für ein geheimes Verstandniß zwischen seiner Frauen und dem Musicanten G a m b o obhanden wäre: dabey stecket sie ihm zugleich hinters O h r , daß E l v i r a eben ietzo zu dem Geigenmacher C l i t e n o gegangen, um eine Baß-Geige zu kauffen, womit sie ihren geliebten G a m b o zu beschencken gedachte. B. 30—321,8 und lasst geschwinde . . . zur Kammer hinaus] wirfft sich geschwinde in die Kleider, und eilet zu C l i t e n o ins Haus, allwo er seine Frau eben beschäftiget findet, das Geld für die Baß-Geige abzuzehlen. So bald er sie erblicket, fahret er gegen sie heraus mit einer gewaltig eifrigen Rede, die zu lang, hier eingerücket zu werden, in ihrer Art aber vortrefflich ist. U m aber sie noch mehr zu argern, nimmt er die bezahlte Baß-Geige vor ihren Augen, und schicket sie stehendes Fusses, als ein Geschenck, an seinen S p a l l a . E l v i r a ist nicht von so langmüthiger Art, daß sie dem Eifer ihres Mannes nachgeben, und gelinde Saiten aufziehen kann. Sie entschuldiget sich mit so vieler Hitze, daß A n t o n i o die Zeit zu kurtz wird, sich auf eine zweite Rede zu schicken. Er fasset sie demnach beym Arme, weiset sie zur Thür hinaus B. 321

12

B folgt: Z w e i t e r CHANT.

24

zwischen D o n Glorioso und D o n Epinetto] fehlt

31

Olivia] E l v i r a B (ebenso

33

D o n Epinetto] G a m b o B (ebenso 323,22;

B.

322,9). 324,12),

35 Gedichte.] Gedichte. Sie weiß darin ihr sonderbares Vertrauen zu einer Person nachdrücklich vorzustellen, die ihm zugedachte B a ß - G e i g e meisterlich heraus zu streichen, und die Entwaltigung derselben ungemein hoch aufzumutzen. B. 322

g e g e n die Gewaltsamkeit . . . zu schützen] diese straffbare Gewaltt ä t i g k e i t ihres Mannes nicht ungeahndet zu lassen B. 17

B folgt: D r i t t e r CHANT.

26-29

323

D o n Glorioso . . . darüber lachet.] fehlt

B.

34

Violino] G a m b o B (ebenso 323,7; 323,22). Violoncello] S p a l l a B (ebenso 323,5; 323,25).

^

^ > o n Glorioso] A n t o n i o B.

5

Violoncello] S p a l l a B.

11

DERPATRIOT.BD.IV

156

Kommentare

5 f.

Don Epinetto] E l v i r a B.

7

Violino] G a m b o B.

und

Erläuterungen

10—20 Epinetto, spricht er . . . wo ihr wollet!] spricht er, E l v i r a . Ist dieß die Vergeltung meiner Liebe, daß ich dich, als ein armes nacktes Magdgen, nicht allein meiner Troupe, sondern gar meines Ehe-Bettes gewürdiget? habe ich dich nicht in so kostbare Kleider gestecket, als immermehr eine Comoediantin fordern kann, um Standes-mlssig zu erscheinen? habe ich nicht selbst aus Paris einen alten Romanischen Habit nach der neuesten Mode für dich kommen lassen? und, weil du zuweilen eine Konigin bedeuten must, dir seidene Strumpfe gegeben an stat der wollenen, die voller Locher waren? Soll nun dieß dafür die Erkenntlichkeit seyn, daß du deinen Galan so keck machest, mir auf der Nasen zu spielen? Meine Gedult hat ein Ende — — B. 21

Spinnet in Stücken] Pult übern Hauffen B.

27

Glorioso] S p a l l a B.

28

Apollo] B a s i n e B.

28f. beym Ohr gezuckt und zur Seite gezogen] wiewol nicht ohne seinen Schmertzen, bey den Haaren auf die Seite gerissen B. 33—35 Olivia, die . . . Glorioso zu] F r i t z , des G a m b o Futteral-Trager, der seines Herrn blutiges Antlitz siehet, fahret mit beiden Fausten auf A n t o n i o zu B.

3 2 4

Frosch-Mäuse» Krieg des Homerus die Batrachomyomachia, ein vermutlich im 8. oder 7. vorchristlichen Jh. entstandenes scherzhaftes Epos in Hexametern; früher fälschlich Homer zugeschrieben.

20

21 f. aus der Geschichte von den Riesen entlehnet, die den Jupiter bekriegen Die Gigantomachia, ein antikes Epos des Hegemon, ist aus der bildlichen Überlieferung erschlossen; es schildert den Kampf der Giganten zur Entthronung der Götter und gilt als eines der frühesten Beispiele antiker Parodie. 23 Silenus Esel Unter einem Silenus versteht die antike Mythologie allgemein einen altgewordenen Satyr; hier ist im besonderen jener Silenus gemeint, der in Begleitung des Dionysos, dessen Lehrer und Erzieher er ist, betrunken auf einem Esel reitend dargestellt wird. 24

B folgt:

V i e r t e r CHANT.

zu Jahrgang 1 /1724, 3 2 5

157

Stück 38

8 Olearia . . . schnüret alles] E l v i r a , welche voller Unmuth und Verwirrung zu Hause gekommen war, und sich in ihrer Kammer verschlossen hatte, allwo sie mit sich selber zu Rathe gieng, was nunmehr zu thun wäre, ob sie sich mit ihrem Manne wieder aussöhnen, oder alles, was sie noch vor der Hand funde, zusammen raffen, und sich da mit aus dem Staube machen sollte. Die Z w i e t r a c h t rath zu dem letzteren, als dem sichersten und vortheilhaftesten. E l v i r a schnüret demnach alles B. 26—326,2 2. Eine ungeheure . . . zu streichen.] 2. Ein Kuffer, worin vier Turnier-Pferde. 3. Ein Gefangniß, ohne Thüren. 4. Der Tempel des Apollo, in Form einer Laterne, kann auch als eine Laterne gebraucht werden. 5. Drey Stücke Scenen zu einem perspectivischen Bogen=Gange, so nicht aufeinander passen. 6. Der Thurm zu Babel, sechs Fuß hoch. 7. Ein marmorner Triumph-Bogen, von Pappe. 8. Das rothe Meer von gemahlter Leinwand, schon etwas verbleichet. 9. Eine Holle, noch ungebrauchet. 10. Ein Paar eiserne Kugeln, um damit zu donnern. 11. Zwey kleine Faßchen voll Geigen-Hartz, damit zu blitzen. 12. Eine Glorie, schon etwas beschabet. B. 29 f. Des Tobias Schwalben-Nest Anspielung auf die an Gryphius' Peter Squentz angelehnte Komödie von Christian Weise Absurda Comica oder von Tobias und der Schwalbe (1682)? 31 Ein entsetzlich stürmisches Meer für Leandern ke nach der Sage von Hero und Leander.

Kulisse für

Stiik-

32ff. Ein Säu-Trog . . . hätte essen wollen vgl. Lk. 15,16. — Traber Treber: Überbleibsel ausgepreßter Früchte, vor allem von Weintrauben. 3 2 6

' Geigen-Hartz, damit zu blitzen Kolophonium erzeugt. 25—28

32 7

'

Die Theaterblitze

An etlichen . . . leben müssen.] fehlt

wurden

mit

B.

oder selbige] oder selbige, durch eingemengte Pickel-Possen, B.

11 am wenigsten zur Comodie schicke] am wenigsten, ich will eben nicht sagen zu ernsthaften und beweglichen Tragoedien, sondern zu Lustund Possen-Spielen schicke B. 1

Ii*

Leute und Christen] Leute, vielweniger als Christen B.

158

Kommentare und Erläuterungen

Stück 39 Der Patriot moralisiert über die Gelehrten und wahre Gelehrsamkeit, indem er zunächst in einer Revue von Kurzporträts moralische Charaktere lasterhafter Gelehrter vorführt. Anschließend stellt er Betrachtungen über das Wesen der Gelehrsamkeit an, um dann im Bildungsgang des Curia das Beispiel eines vernünftigen Studiums zu geben. Die Betrachtung endet mit einer Liste von Regeln für einen Studenten. Als Gelehrter wurde bezeichnet, wer eine Universität besucht hatte bzw. besuchte, daher erscheint dem Patrioten der Begriff mit Recht als vieldeutig und fast allgemein (328,1f.). Zusammen mit den Gelehrten im engeren Sinn, namentlich den Lehrern an Universitäten und Akademien, formierten die akademisch Gebildeten einen eigenen Stand, dessen Beziehungen zu den übrigen Ständen und Schichten der Gesellschaft oft prekär waren. Durch eine eigene Sprache, das Latein, oft auch durch eine eigene Tracht und, sofern man publiziert hatte, durch das Figurieren in den Gelehrtenlexica, schließlich durch ein betontes Selbstgefühl unterschied man sich von den Nichtgelehrten. Zudem stand Gelehrsamkeit noch stark im Zeichen späthumanistischer Traditionen. Polyhistorismus, Pedantentum, Schulfüchsigkeit waren noch nicht ausgestorben, — Grund genug für den Patrioten, Kritik zu üben. Seine Forderungen wären so zusammenzufassen: Erstens muß Wissenschaft für die Allgemeinheit, für Gesellschaft und Staat, nützlich sein. Zweitens ist wahre Gelehrsamkeit nicht von Weisheit und Tugend zu trennen, d. h. sie muß den Gelehrten zur Erkenntnis seiner selbst sowie zu besseren Vorstellungen von Gott und der Welt bringen, und das muß sich auch in seiner Lebensführung, im menschlichen Verhalten, äußern; mit anderen Worten: Wissenschaft muß bilden. Der Polyhistor und seine Foliantengelehrsamkeit sind kein Ideal mehr (330,4ff.). Auch ein besonderer Gelehrtenstand

zu Jahrgang 1 / 1724, Stück 39

159

wird nicht mehr hervorgehoben. Die Kenntnis des Lateinischen und des Griechischen ist wichtig, zumal man hier Zugang zu den schönen Wissenschaften gewinnt, doch muß ein Deutscher auch ein reines und deutliches Deutsch schreiben und sprechen können. Nicht das Ansammeln von Wissensstoff, sondern ein eigenes Urteil sind erforderlich. Der Bildungsweg des Curio ist exemplarisch. Er geht zielbewußt seiner Bestimmung entgegen. Galante und herrenmäßige Übungen wie Musik, Zeichnen, Tanzen, Reiten und Fechten werden zwecks Förderung der Gewandtheit nicht verpönt, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt. Wohlvorbereitet und nicht zu früh bezieht Curio die Universität. Er läßt sich durch die akademische Freiheit nicht zu Ausschweifungen verführen, sondern nutzt seine Zeit diszipliniert. Nebenher pflegt er angenehme und nützliche Lektüre (wobei deutschsprachige Dichtung nicht erwähnt ist). Beim Lesen antiker Autoren kommt es nicht auf das Formale, auf rhetorische und grammatische Schulung, an, sondern auf das Gehaltliche. Noch wichtiger ist es, aus dem Umgang mit Menschen Gewandtheit und Weltkenntnis zu erwerben. Obwohl Jurist, verschafft sich Curio eine gründliche Allgemeinbildung. Bezeichnend ist, daß die Wissenschaften hier offenkundig nicht mehr unter dem Primat der Theologie gesehen werden. Zwar rangieren in der Lebensführung des Curio die Andacht (332,llff.) und die Beobachtung des Gottesdienstes (333,34ff.) in vorderster Linie, aber in der Definition der Gelehrsamkeit durch den Patrioten steht nicht die Gotteserkenntnis obenan, sondern eine grundliche und vernünfftige Erkenntniß dessen, was wahr und gut ist (330,15 f f ) , — also die Philosophie, und erst dann wird die Erkenntnis Gottes und seiner Werke aufgeführt.

160

Kommentare

Vf.

J. A.

und

Erläuterungen

Fabricius

Motto Ovid, Epistulae ex Ponto II 9,47/48. - „Die Künste mit Absicht gelernt zu haben, mildert die Sitten." Motto

B

— -

N O R I S N O S , I N Q U I T , D O C T I SUMUS -

-

HORAT.

Horaz, Satiren I 9,7. — „Du solltest uns kennen, wir sind sehr Tryphon

328

3 2 9

Plusio

17

und Lincken] fehlt

18

Oligomathes

„Reich".

7

Ventidius Polyphemus

10

Rodomontianus

14

15

332

B.

Nugicanoricrepus

13 Margites nen Epos.

„Windmacher". „Klein-Fasermeier".

„Windmann". „Redereich". „Schneidauf.

„Pinsel", Titelheld eines einst dem Homer

Dubitantius

„Zweifelmüller".

Charlatan,] fehlt

B.

Unverschämt, Swinhundus,] fehlt f.

„Nichtserkenner".

„Lernwenig".

8

331

- Agnoeten

Minutius Flocci

4

gebildet."

„Schwelgmann".

9

22 ff.

redlicher

B.

Warum ist niemand . . . die Hand gehet?] fehlt

19

, ob gleich ohne ihre Schuld,] fehlt

25

Curio

zugeschriebe-

B.

B.

„Sorglich".

27 seinem 19den Jahre dahin, weil er gern] seinem zwanzigsten Jahre dahin, weil er seines Ortes gute Anleitung hatte, und gern B. 35—333,1 woselbst offters . . . und nahm] woselbst sich öffters nicht weniger Gelegenheit zu allerhand Abhaltungen, als wie in andern Hausern, finden; doch wüste er auch, daß nicht allen jungen Leuten ein solches Quartier diene, allwo der Studente den Meister spielet, der Wirth aber mit dem Hute in der Hand stehet, und seiner Nahrung halber alle Unordnung gut heissen muß. Er nahm B.

ZK Jahrgang 3 3 4

1—8

1 /1724,

161

Stück 40

Er merckte zwar . . . Ehrerbietigkeit.] fehlt

B.

15 f. das Lehn«Recht . . . trieb er] die allgemeinen, und besonders die Teutschen Stats-Rechte, trieb er B.

Stück 40 Der Patriot wendet sich gegen die Leichtfertigkeit junger Kaufmannsdiener. In der Beschreibung der abendlichen Lustfahrt auf der Binnenalster artikuliert sich patriotischer Stolz auf die Schönheiten und Annehmlichkeiten Hamburgs. — Der junge Kaufmannsdiener Jean du Crane zeigt schon durch seinen französierten Namen und seinen galanten Aufzug, daß er auf einem falschen, seinem Stande nicht anstehenden Wege ist. Seine Aufführung ist umso verwerflicher, als er von anständigen Eltern aus niederem Stande stammt. Seine Unredlichkeit liegt am Tage: Er hat seinem Herrn Speziestaler entwendet. Der aufgefundene Brief des im Zuchthaus sitzenden Asmus Struntzer an seinen früheren Herrn enthält das lehrreiche Exempel eines schlimmen Lebenswandels und seiner Folgen, — eines Wandels, den Jean du Crane ebenfalls eingeschlagen hat. Asmus Struntzers Existenz stellt gleichsam das spätere Stadium dar in einer Entwicklung, in welcher sich sein Geselle noch befindet. — Die Bekenntnisse des Asmus Struntzer sind eindeutig. Schlechte Gesellschaft in jungen Jahren, Außerhausbleiben in den Abendstunden, Trinken, Spielen, Huren, wollüstiges Leben, unziemlicher KleiderStoltz (344,21f.) führen zu Veruntreuung, in die Hände von erpresserischen Wucherern, endlich zum Diebstahl und konsequent ins Zuchthaus. Wiederum ist damit — nach den Stücken 2, 10 und 31 — die Lebensführung des angehenden Kaufmanns in den Blick gerückt, die Welt des Soll und Haben. Das Exempel erinnert

162

Kommentare und Erläuterungen

von fern an Motive L o n d o n Merchant

in Lillos (1731).

bürgerlichem

Trauerspiel

The

Die hier zu gewinnenden Lehren sind keineswegs nur jungen Kaufmannsdienern zur Beherzigung zugedacht, sondern in gleichem Maße auch den Kaufherren als ihren Lehrern und Meistern. W o l l t e G O t t , es ö f f n e t e n einige P a t r o n s die A u g e n , heißt es in Struntzers Bekenntnisbrief. Der Patriot selber äußert sein Mißfallen an der Schwachheit von Hamburger Kaufmannsfrauen, Bediente und Gesinde gern in kostbarer Kleidung zu halten (340,13f.).

Vf.

?

Motto Plautus, Mostellaria 22-26. - „Trinkt Tag und Nacht, lebt in Saus und Braus, nehmt Dirnen, laßt sie wieder frei, ernährt Schmarotzer, schmaust köstlich! Hat das dir der Alte aufgetragen, als er fortging; soll er so versorgt seine Sache wiederfinden?" 337

eine kleine Abend-Lust auff unserer Alster Lustfahrten auf der Alster, oft in besonders eingerichteten geräumigen Wasserfahrzeugen, auch mit Mahlzeiten und Musik, waren damals überaus beliebt. 17 nach der bekandten Allee gemeint ist der Jungfernstieg an der Binnenalster, seit 1665 mit einer Doppelreihe von Linden bepflanzt. 20

Schute

kleines Wasserfahrzeug, Kahn, besegelt und bedeckt.

338

das Hamburgische berühmte Zucht- und Werck-Haus Erl. zu 311,15.

339

26

Krane

34Q

5

Spiele und Caffee-Hlusern] Spiel- und Caffee-Hausern B.

341

30

UE.

342

®

Wolgast

Kran, vgl. Erl. zu III,

vgl.

409,23.

Euer Ehren. Stadt in

Vorpommern.

10 Costi ital., dort, wo der sich befindet, an den man schreibt, — im Handelsstil gebräuchlich.

163

zu Jahrgang 1 / 1724, Stück 41

343

29

Caneel

Zimt oder

35

Macis

Muskat.

^

Leccage

Schwund

Zimtrinde.

durch Auslaufen

flüssiger

Waren.

Stück 41 Der Patriot stellt Betrachtungen über die Veränderlichkeit menschlicher Gesinnungen und menschlicher Glücksumstände an und untersucht das Wesen der Eigenliebe. Er illustriert seine Gedanken an verschiedenen Beispielfiguren. Mit dem Herrn von Frantzenarr wird ein junger Mensch vorgestellt, der sich in einen galanten Windbeutel, einen eitlen modischen Gecken, verwandelt hat, — eine Figur, wie sie als Französling, Stutzer oder Petit-Maitre von Moralischen Wochenschriften immer wieder aufs Korn genommen und auch in den Aufklärungskomödien satirisch verspottet worden ist als Verkörperung des ,,unbürgerlichen", aufs Äußere gerichteten höfisch-galanten Kulturideals. — Mit dem Wandel im Verhalten der Rhodone gegenüber der Matidia (351,24ff.) wird die Mißgunst bei Hofe berührt. — Die den guten Sitten anstößige Verwandlung einer Trauergemeinde in eine fröhliche Zechgesellschaft gibt Anlaß zu Überlegungen. Ursache solcher Verwandlungen ist für den Patrioten unvernünftige Eigenliebe. Die Aussagen des Patrioten über Wesen, Gefährlichkeit und Beherrschbarkeit der Eigenliebe sind aufschlußreich und gerade in ihrer Widersprüchlichkeit wohl bezeichnend für gewisse in der frühen Aufklärung noch latente „ ideologische Inkonsequenzen". Die menschliche Eigenliebe wird nicht, wie nach altchristlicher Auffassung, als verderbt, als sündig hingestellt und es wird nicht entsprechend zur „Entselbstigung", zur Mortificatio, zur Abtötung allen Eigenwillens, allen „Fleisches", aufgerufen, um Christo allein nachzufol-

164

Kommentare

und

Erläuterungen

gen. Die Eigenliebe ist vielmehr die entscheidende Kraft, die den Menschen in Bewegung setzt. Sie kann, unvernünftig angewandt, zu den verhängnisvollsten, zu „viehischen" Lastern führen, sie kann aber auch am Zügel der Vernunft zum Guten gelenkt werden. Das beste am Menschen ist, daß er sich [. . .] vernünfftig oder unvernünfftig verändert (349,2ff). Das ist ein Axiom aller Aufklärungsbemühungen: Der Mensch ist erziehbar, er kann sich bessern, vernünftige Belehrung führt ihn zur Einsicht und damit zur Sinnesänderung. Die menschliche Vernunft ist das Leitseil, an dem die Eigenliebe gelenkt werden und der Mensch sich glückselig machen kann, oder, wie der Patriot es ausdrückt: Die Vernunfft ist der Menschlichen Eigen=Liebe Licht (349,9). Diese Konzeption — das 138. Stück vertritt ähnliche Gedanken — entspricht weitgehend Überzeugungen antiker, stoischer Denker, die die Weisheit des rechten Maßes, des vernünftigen Mittelweges, lehrten. Zugleich aber distanziert sich der Patriot hier wieder von der antiken Philosophie (352,21ff.) und gibt mittels seines Gewissensbegriffes christlichen Vorstellungen Raum: Der Mensch ändert sich vernünftig, wenn er sich nach der Vernunfft und dem Gewissen richtet (349,5). Das Gewissen aber — neben der Vernunft — ist betrüglich und braucht eine Richtschnur, und die liegt in der göttlichen Offenbarung. War eben noch die Vernunft die Führerin des Menschen, so ist es nun das Wort Gottes: Seine eigentümliche Gottliche Krafft ist es, wie Lactantius gar schon geschrieben, welche die irrenden Seelen zu einer glucklichen Veränderung bringet (353,13ff). Justinus hat alle Schulen der Philosophie durchwandert, aber nicht die antiken Weltweisen, sondern ein frommer Greis gibt ihm Licht; es kommt aus der Heiligen Schrift. Justinus wird durch sie — und nun also nicht durch die menschliche, die philosophische Vernunft! — erleuchtet und verändert, — verändert im Sinne der geistlichen Metanoia, der Buße. Ja er wird einfältig und demütig und gläubig (354,15ff.)! Hier ist

z« Jahrgang

1 /1724,

Stück 41

165

der Patriot unversehens wieder in die alten Gleise geraten, die er mit der sonst von ihm betriebenen Empfehlung der philosophischen Vernunft als Richtschnur des Lebens bereits verlassen hat. Vernunft und Offenbarung stehen hier nicht einmal mehr gleichberechtigt nebeneinander, wie der Patriot es sonst gern hinzustellen beliebt, sondern die Offenbarung scheint hier die einzige wahre Führerin des Menschen zu sein, und konsequent leitet sie hier zu Tugenden, die die diesseitsgerichteten, vernunftfrohen Moralischen Wochenschriften sonst nicht in ihrem Katalog führen: zu Frömmigkeit, Gläubigkeit, Demut und Einfalt. Die Schlußbemerkung verwahrt sich gegen die Ausdeutung des 38. Stücks als Satire auf bestimmte Personen (vgl. unseren Kommentar zu diesem Stück). Vf.

J. A. Hoffmann

(?)

Motto Ovid, Metamorphoses II. — „Der Geist treibt mich, die in neue Formen verwandelten Körper zu besingen." Motto

B

-

N O U A SUNT SEMPER. N A M QUOD FUIT ANTE, RELICTUM EST,

F I T Q U E , QUOD HAUD FUERAT.

OUIDIUS.

Ovid, Metamorphoses XV184/185. — „Neues ist immer, denn was vorher war, ist vorbei, und es wird, was niemals gewesen ist." 3 4 5

lfOvidius Fabeln von Verwandlung der Dinge die Metamorphoses des Publius Ovidius Naso (43 v. Chr.—17 n. Chr.). 11 Auff meiner neulichen Reise] Bey meiner ehemahligen Wiederkunft von Reisen B. 24—346,3 Ich hatte nicht . . . verwunderte ich mich] Mein Aufenthalt war damahls in einer vornehmen Reichs=Stadt. Daselbst traff ich zwar das gemeine Wesen, bey unveränderten Wolstande an; verwunderte mich aber hingegen B.

3 4 6

^

Frau Ventouse

„Frau

Schröpfkopf'.

25—347,3 Diese gefährliche . . . lebendige Zeugen] Insonderheit sollten an einem gewissen Abend meine Augen lebendige Zeugen B.

166

Kommentare

und

Erläuterungen

3 4 7

21—23 Die anmuthige . . . mein Schlaff] Doch meine Ruhe wahrete nicht lange, indem nach Verlauff anderthalb Stunden mein Schlaff B.

351

20f. Englischen Elisabeth . . . ein Konig / Jacobus . . . eine Königinn gemeint: Elisabeth /., 1558—1603 Königin von England, der Stolz und männliche Härte attestiert wurden, und ihr Nachfolger auf dem Thron, Jakob /., der als weich und passiv galt. 20

ein König] eine König B.

21

eine Königinn] ein Königin B.

24f. 352

Rhodone

,,Schönrose".

^ Anacreon Lebensgenusses.

Anakreon

11 Democritus losoph; Atomist.

(gest. um 495 v. Chr.), Sänger des

Demokritos

heiteren

von /{bdera (5. Jh. v. Chr.), griech. Phi-

13 Lucretius Titus Lucretius Carus (um 96— 55 v. Chr.), Dichter des materialistischen Lehrgedichts De rerum natura, verübte Selbstmord. 14 Tigellius gemeint ist möglicherweise Zeitgenosse Ciceros und Horaz'. 17 des 353

^

wird toll Großen.

M. Tigellius Hermogenes,

Dies Urteil zielt wohl auf die Maßlosigkeit

Lactantius

lat. Kirchenschriftsteller

(gest. nach 317 n.

ein

Alexanders

Chr.).

17 Justinus Justinus der Märtyrer, Heiliger und Kirchenvater (um 100—165), zunächst platonischer Philosoph, dann Christ; endete in Rom als Märtyrer. 3 5 4

20-355,11:

fehlt

B.

Stück 42 Der Patriot stellt angesichts des Sternenhimmels Betrachtungen über die Unendlichkeit Gottes an und verbindet dies mit Gedanken über die göttliche Allgegenwart. Am Ende des programmatischen 1. Stücks hatte der Patriot angekündigt, er wolle seine Leser zu richtigem Vorstel-

zu Jahrgang 1 /1724,

Stück 42

167

lungen von GOtt, der Welt und uns selber anleiten. Das vorliegende Stück, übrigens stark an Spectator Nr. 565 angelehnt, enthält in diesem Sinn Ausführungen über das göttliche Wesen. Der Ausgangspunkt ist der Anblick der Gestirne, — ein bevorzugter Ansatz der für das 18. Jahrhundert so kennzeichnenden Physikotheologie, der Gotteslehre aus der Betrachtung der Natur. B. H. Brockes, dessen neunbändiges Irdisches Vergnügen in Gott ganz im Zeichen physikotheologischen Denkens steht, ist immer wieder auf die Betrachtung der Himmelskörper zurückgekommen. Das wegweisende Werk des großen englischen Physikotheologen William Derham war eine „Astrotheologie" gewesen. Das „Buch der Natur" führt hier neben dem Buch der Offenbarung zu Gott, — eine Führung, der sich im Aufklärungszeitalter Orthodoxe, Pietisten, Neologen und Deisten, theologisch sonst höchst uneins, gemeinsam überlassen haben. Kennzeichnend für die Zweideutigkeit physikotheologischer Gotteserkenntnis sind die ,, neutralen " Formeln, die für Gott gebraucht werden können. Der Patriot spricht hier z. B. vom unendlichen Bau=Meister (357,9f), von der Gottlichen Allmacht (358,24), vom höchsten Wesen (358,30), von der Gottheit (359,4) und vom unendlichen ewigen Wesen (360,11f.). Das sind Begriffe, die der deistischen Gottesvorstellung entsprechen, die aber auch noch als auf den christlichen, den biblischen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs beziehbar gelten können. Dem Leser ist überlassen, ob er Gott als letztes philosophisches Weltprinzip begreift oder als den alten biblischen Schöpfergott. (Das vorangestellte Motto beruft sogar Jupiter!) In der Folge seiner Betrachtungen nähert sich der Patriot dann deutlich der christlichen Gottesvorstellung. Die Heilige Schrift wird zweimal herangezogen, darunter einmal in der poetischen Psalmenparaphrase des Freiherrn von Canitz, in welcher Gott angerufen wird und die Begriffe Hölle und Sünde fallen. Auch vom Gebet an Gott als einen persönli-

168

Kommentare

und

Erläuterungen

chen, barmherzigen, liebenden und allmächtigen Gott wird gesprochen. Die göttliche Allgegenwart ist nicht allein eine Mahnung zu tugendhaftem Verhalten, sondern sie verbürgt dem Menschen, daß er von göttlicher Liebe umfangen, daß er bei Gott geborgen und aufgehoben ist. — Hier ist, ähnlich wie am Schluß des vorigen Stücks, die Vernunft als die führende und befreiende Kraft des Menschen nicht herausgestellt. Die christlichen Kategorien scheinen zu gelten. Bemerkenswert freilich, daß auch in dieser Gottesbetrachtung der Erlöser, Christus, mit keinem Wort erwähnt ist.

Vf.

C. F. Weichmann,

B. H. Brockes ( f )

Motto

Vergil, Ecloga 3,60. - „Von Jupiter ist alles

erfüllt."

unsers bekannten Mechanisten gemeint ist der hamb. Astronom Tf 5 ( j ^ f. Johann Beyer, der in Stück 34 (290,21f.) bereits erwähnt worden war. Er hatte in Hamburg ein Observatorium errichtet und physikalische Instrumente konstruiert. 358

Saturn, welcher der ausserste in derselben ist Damals kannte man nur die fünf mit freiem Auge sichtbaren Planeten; als nächster wurde Uranus 1781 von William Herschel entdeckt.

3 6 0

^

v o m

Materie] von irdischer Materie B.

Heffen die Hefen, dasjenige, was durch Gärung ausgestoßen im weiteren Sinne soviel wie Bodensatz. 28 f.

Die bekandte Stelle

Ps.

wird,

139,1-12.

29 f. der berühmte Staats-Mann von Canitz Friedrich Ludwig Freiherr von Canitz (1654—1699), preußischer Geheimer Staatsrat, als Dichter dem französisch-klassizistischen Geschmacksideal, insbesondere Boileau, verpflichtet. 1700 erschienen seine Neben-Stunden Unterschiedener Gedichte, die mehrfach wieder aufgelegt wurden. 31—361,24: Das Gedicht hat den Titel Der hundert und neun und dreyßigste Psalm. In der Gesamtausgabe, herausgegeben von J. U. König, ist es unter die ,,Geistlichen Gedichte" gruppiert und umfaßt insgesamt 9 Strophen (Des Freyherrn von Canitz Gedichte, mehrentheils aus seinen

zu Jahrgang

169

1 / 1724, Stück 43

eigenhändigen Schrifften . . . nebst Dessen Leben und einer Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht- und Rede-Kunst, ausgefertiget von Johann Ulrich König. 3. Aufl. Berlin und Leipzig 1750, S. 179-181). 362

12—14 Er ist nicht. . . unter uns . . . Denn in Ihm . . . sind wir Apg. 17,27 u. 28.

364

^f. die dritte Abtheilung des Patrioten-Catechismus (1964), Nr. 53.

vgl.

Martens

Stück 43 Der Patriot untersucht unter Zuhilfenahme eines allegorischen Traums das Wesen der Tugend. Der Traum schildert, an die Sage von Herkules am Scheidewege anknüpfend, den Tugendweg als einen durchaus anmutigen, keineswegs rauhen und entbehrungsreichen Pfad und zeigt an seinem Ende im Tempel der Tugend die geläuterten menschlichen Leidenschaften Ehrliebe, Weltliebe und Geldliebe als zu verehrende Standbilder. Anschließend illustrieren moralische Charaktere die Lehren dieses Traums. Der Sinn des Ganzen ist klar. Bereits im 1. Stück war es formuliert, daß der Tugendweg nicht so beschwehrlich und rauh, als viele sich denselben vorstellen, aufgefaßt werden müsse (7,29). Tugend besteht in vernünftiger Lenkung der menschlichen Antriebe, nicht in ihrer Unterdrückung. Die Eigenliebe — auch im Stück 41 war das angeführt — muß nur in die richtigen Bahnen geleitet werden. Ohne Leidenschafften höret der Mensch auff, ein Mensch zu seyn. Es ist nicht allein gut, sondern auch nohtwendig, sich um Ehre, Lust und Vermögen zu bemühen (371,5ff); vernünftiger Ehrgeiz, vernünftige Lust am Leben und seinen Genüssen sowie ein vernünftiger Erwerbssinn stehen dem Menschen wohl an. Mit dieser Lehre setzt sich der Patriot nicht nur von strenger, entsagungsfroher stoischer Ethik ab (vgl. 368,3), son-

170

Kommentare

und

Erläuterungen

dem auch und vor allem, — und ohne daß er dies irgendwie erkennen ließe —, von den christlichen Forderungen. Denn diese Forderungen liefen darauf hinaus, der sündigen Eigenliebe, den fleischlichen Trieben, den Abschied zu geben, das Kreuz auf sich zu nehmen und Christo nachzufolgen. Nicht aber Abwendung von der Welt und ihren Gütern wird hier gepredigt. Die neue, von der Vernunft moderierte Diesseitigkeit, die bürgerliches Denken im 18. Jahrhundert kennzeichnet, wird hier besonders manifest. Jeder Leser des Patrioten kannte damals die Verse 13—14 aus Matthäus 7 mit dem Bild von der engen Pforte und der Alternative, wo das Tor weit und der Weg breit ist, der zum Verderben führet; in den zeitgenössischen Erbauungsbüchern waren diese Vorstellungen präsent. Der Patriot setzt sich hier souverän über sie hinweg. Zwischen ausschweifender Weltlichkeit und puritanisch-asketischer Weltabkehr empfiehlt er den goldenen Mittelweg vernünftiger Weltzugewandtheit. Daniel Wilhelm Triller hat das Stück in Verse gefaßt: Sinnreicher Traum von dem Wege und Tempel der Tugend, aus des Hamb. Patrioten 43. Stücke des ersten Jahres, wegen seiner Vortrefflichkeit in Verse ubersetzet, in: D. W. Triller, Poetische Betrachtungen über verschiedene aus der Natur» und S i t t e n l e h r e hergenommene Materien,

2. Teil, 2. Aufl. Hamburg

Vf.

1746, S. 82 - 89.

B. H. Brockes (?)

Motto Seneca, De ira II 13,1. „Nicht wie es gewissen Leuten gesagt worden ist, ist steil zu den Tugenden und rauh der Weg; leicht ist zum glücklichen Lehen der Weg." 3^6

32f. Fabel des Xenophon vom Hercules auf dem Scheide-Wege Herkules, vor die Wahl zwischen Lust und Tugend gestellt, entscheidet sich für die letztere.

zu Jahrgang

171

1 /1724, Stück 44

3^9

21 f. zu Florentz die kostbare Capelle S. Lorenzo Die Grabkirche der Medici, 1420 erbaut; eine neue Sakristei wurde 1520—1533 von Michelangelo ausgestaltet.

2)7Q

22 Nequidnimis! Alles mit Maß! Wahlspruch Epiktets. - Zu der Allegorie vgl. Peil (1975). 31—371,2

Mochten wir . . . uns antreffen.] fehlt

B.

Stück 44 Der Patriot druckt an ihn gerichtete Briefe ab. Sie betreffen den Brauch rein formeller Besuche, die Nachlässigkeit der Mütter bei der Pflicht, ihre Kinder zu säugen, und das Preisausschreiben. Der Patriot antwortet kurz und macht Bemerkungen zur sonstigen Korrespondenz aus dem Leserkreis. Bei der letztgenannten Korrespondenz dürfte es sich durchweg um echte Einsendungen aus dem Publikum handeln. Was der Patriot dazu ausführt, ist nur für die Einsender bestimmt und dem übrigen Publikum nicht näher verständlich. Daß es sich hier um echte Antworten auf ganz bestimmte Einsendungen handelt, geht auch daraus hervor, daß die genannten Bemerkungen des Patrioten dazu (381,21—382,14) in der Buchausgabe fortgelassen sind. Ob die Schreiben von R. W. L., Icander und Cordatus Sincerus alle echt sind, ist schwer zu sagen. Am ehesten könnte der dritte Brief fingiert sein, um dem Publikum jeden Argwohn gegen eine so neuartige Sache wie ein Preisausschreiben zu nehmen. Daß der Brief von Icander in der Buchausgabe Veränderungen erfahren hat, muß noch nicht dafür sprechen, daß er ursprünglich fingiert war. Es ist durchaus möglich, daß Michael Richey bei der Überarbeitung zur Buchausgabe sich auch Eingriffe in echte eingesandte Texte erlaubte. 12

Der Patriot, Bd. IV

172

Kommentare

und

Erläuterungen

Das Schreiben gegen die Gezwungenheit der Staats=Visiten als einer leeren Höflichkeitsform, das den Beifall des Patrioten hat, ist ein Stück bürgerlicher Abkehr von höfischer, zeremoniöser Etikette, die auch außerhalb der Hofsphäre imitiert worden war. Der vernünftige Bürger erwartet sich von Besuchen ein annehmliches Vergnügen. Der Brief von Icander vertieft vom Patrioten selber Vorgetragenes. Seine Forderungen enthalten gleichfalls eine Wendung gegen im höfischen Milieu übliche Sitten. Die Argumente gegen die Benutzung von Säugammen, listenförmig angeordnet, heben die Unnatürlichkeit und die gesundheitlichen Folgen dieser Gepflogenheit heraus. Im übrigen berufen sie Autoritäten bis zurück zu Tacitus und Plutarch. Vf.

(Einsendungen)

Motto Aulus Gellius, Noctes Atticae XII 1,6. - „Was für eine unnatürliche, unvollkommene und halbmütterliche Art ist es, ein Kind zu gehären und es sogleich von sich fortzugeben ? Etwas, das sie nicht gesehen hat, in ihrem eigenen Leibe mit ihrem eigenen Blute ernährt zu haben, es aber nicht zu ernähren mit ihrer eigenen Milch, da sie es sieht?" Motto

B

Q U O D EST H O C . . . Q U O D VIDEAT folgt:

IAM VIUENTEM, IAM HO-

MINEM, IAM MATRIS OFFICIA IMPLORANTEM? F A U O R I N . AP. G E L L .

Stelle nicht nachweisbar. —,,... Mensch, schon die Mutterpflichten

da sie es sieht, schon lebend, schon ein erflehend?"

3 Bräutigams-Abende „in einigen Gegenden besonders Niedersachsens, gewisse Abende, da der Bräutigam vor der Hochzeit seine Braut besucht, und welche alsdann mit Schmausereyen zugebracht werden. . . . Polterabend." (Adelung). 10—379,28:

in B umgekehrte

Reihenfolge

der

Briefe.

7i. des Franzosen Gombaud Jean Ogier de Gombauld (gest. 1666), französischer Dichter; besonders geschätzt waren seine Sinngedichte. 9—12: Das frz. Original findet sich unter dem Titel Visite Contrainte in Les Epigrammes de Gombauld. Divisées en trois livres. Paris 1657, S. 17 (Nr. 34).

zu Jahrgang 1 /1724, Stück 45 34

173

Mutter] Mutter, dafern sie sonst keinen Fehler hat, B.

8 (12.) Daß endlich] 12. Daß ein erkrancktes, gebrochenes, verlahmtes, oder gar ersticktes Kind, das Gewissen der Mutter viel hefftiger quälen müsse, wann sie überzeuget ist, daß man die N a h r u n g und Pflegung desselben lediglich auf die Amme beruhen lassen. 13. Daß endlich B. 11 Plutarchus ist in seinem Wercke von der Kinder=Zucht pädagogische Schrift des vor allem als Verfasser historischer Biographien berühmten Plutarch aus Chaironeia (um 46—120). Das Werk lag damals in einer griech.-lat. Ausgabe als De puerorum educatione libellum, Hamburg 1702, vor. 12

Tacitus schreibt

Tacitus, Germania, Kap. 20.

14 f. Der kluge Heyde, Favorinus Favorinus (80/90 bis Mitte 2. Jhs.), Rhetor und Sophist; vgl. auch das Motto B.

des

18 beym Gellius gleich zu Anfange seines 12ten Buchs Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.), Verfasser der - auch im Motto zitierten - 20-bändigen Noctes Atticae. 1

erste] zweite B.

7

2te] erste B.

21-382,14:

fehlt

B.

Stück

45

Der Patriot greift erneut das Thema der Verleumdung auf. Er traktiert das Thema auf verschiedene Weise: Ein eingesandter Brief entwickelt ein ausführliches moralisches Charakterporträt der Witwe Neidwitz, das ihr Verhalten an mehreren Beispielen kenntlich macht; daß sie mehrere Exempelfiguren, vom Patrioten im Stück 39 negativ vorgestellt, hurtig mit bestimmten lebenden Zeitgenossen identifiziert, charakterisiert sie eindeutig. Eine angehängte Liste mit Regeln wider die Verleumdung (vermutlich nach Spectator Nr. 594) bringt die Lehre auf knappe, pädagogisch eingängi12*

174

Kommentare

und

Erläuterungen

ge Formeln. Der Kommentar des Patrioten dazu entwirft mittels einer Erzählung nach Lukian ein kleines allegorisches Gemälde von der Person der Verleumdung, ihren Helfern und ihren Folgen. Das Thema ist für ein harmonisches gesellschaftliches Leben wichtig. Der Patriot, für ein glückliches soziales Miteinander engagiert, kann die Gelegenheit benutzen, um darzutun, daß seine satirischen Charakterporträts nur von Lasterhaften auf lebende Individuen bezogen werden. Sein Stück 38 hatte Anlaß zu solchen Ausdeutungen gegeben (vgl. 354,20ff). Die Regeln wider die Verleumdung stehen im wesentlichen in einem weltlich-sozialen Horizont. Die letzte Regel verweist zwar auf die Verantwortung, die ein Verleumder vor dem göttlichen Richter einst ablegen müsse, sonst aber verfährt die Argumentation diesseitig-weltlich. Auf das 8. Gebot des Dekalogs ist in keiner Weise Bezug genommen. Vf.

C. F.

Weichmann

Motto Terenz, Eunuchus 1—3. — „Wenn es jemanden gibt, der sich müht, möglichst vielen Rechtschaffenen zu gefallen und möglichst wenige zu verletzen, ihm bietet dieser Dichter seinen Namen an." Motto B

S P E R A N T E M Q U E SIBI N O N FALSAE PRAEMIA LINGUAE INTER AUES ALBAS VETUIT CONSISTERE C O R U U M .

OuiD.

Ovid, Metamorphoses II 631/632. - „Aber den Raben, der sich Lohn für die Wahrhaftigkeit seiner Zunge erhoffte, verbot er, zu den weißen Vögeln zu zählen."

385

*

I n einem von Ihren vorigen Papieren

24

ihrer] Ihrer B.

gemeint ist Stück 5.

32—386,1 Tryphon / Plusio / Oligomathes / Nugicanoricrepus die entspr. Erl. zu Stück 39. 385

lOf.

Neidhart

vgl.

329,15.

vgl.

zu Jahrgang 3 8 9

1 /1724, Stück 46

175

Erzehlung von dem uns . . . selbige hinterlassen Apelles von Kolophon (2. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.) galt als der bedeutendste Maler der Antike. Von seinen Werken, darunter auch einer Allegorie der Verleumdung, hat sich keines erhalten; die antike Literatur überlieferte jedoch zahlreiche Anekdoten über ihn. Die Erzählung des Lukian (Calummae non temere credendum 2—5) ist vom Patrioten paraphrasiert. Vgl. dazu auch Peil (1975), S. 233. Midas in der antiken Mythologie phrygischer König, dem Apollon 29 Eselsohren wachsen ließ; Inbegriff des Reichen, zumal ihm der Sage nach alles zu Gold wurde, was er berührte.

Stück 46 Der Patriot moralisiert gegen die Unzufriedenheit. Das Thema der Zufriedenheit hat eine zentrale Stelle im weltanschaulichen Konzept der frühen Aufklärung. Wenn, mit Leibniz, sich der Mensch in der besten aller möglichen Welten vorfindet und die Vorsehung alles darauf abgezweckt hat, ihn bei tugendhaftem Lebenswandel glückselig werden zu lassen, dann sind Unzufriedenheit, Kopfhängerei, Melancholie, Murren und Klagen nicht nur unerfreuliche Verhaltensweisen im gesellschaftlichen Miteinander, sondern sie stellen ein Aufbegehren gegen die göttliche Weltordnung dar. Weltflüchtiger frommer Pessimismus hat in der besten der Welten ohnehin keinen Platz; das Diesseits ist dem Menschen von Gott gegeben, damit er sich hier erfreue und Gott dafür danke. Ein rechtes irdisches Vergnügen in Gott (um den Titel der Brockes'schen Gedichtsammlung zu bemühen) ist die angemessene Haltung für jeden Vernünftigen. Der Patriot (daß Brockes hier die Feder führt, ist nicht auszuschließen) weist drei Einwendungen gegen seine Aufmunterung zur Zufriedenheit zurück. Interessant vor allem die Antwort auf den dritten Einwurf, welcher Armut und geringen Stand als Grund zur Unzufriedenheit ins Feld

176

Kommentare

und

Erläuterungen

führt: Ein durch den Unterschied der Stände, bedingtes Glück oder Unglück ist Einbildung; Gott und die Natur, so wird argumentiert, haben den Menschen gleich konditioniert; der Arme hat an geringer Speise oft ein größeres Vergnügen als der überfütterte Reiche an Leckereien; der Schlaf des Bauern auf der Erde ist nicht weniger süß als der des Vornehmen auf Damast und Samt. Damit werden soziale und ökonomische Ungleichheiten auf eine uns heute befremdliche Weise bagatellisiert. Das optimistische Harmoniedenken, das an der Idee der göttlichen Wohlgeordnetheit der Welt festhalten will, kann niedrigen Stand und Armut als ernsthafte drückende Übel nicht akzeptieren. Vielmehr wird in der Weise der Theodizee Schönfärberei getrieben: Mangel kann viel zum Vergnügen beitragen, Armut hat, recht besehen, auch ihre Vorzüge. Die lehrhafte orientalische Erzählung vom Schach Almokauran, mit der weitere Einwürfe zurückgewiesen werden sollen, betont den unschätzbaren Wert der jedem Menschen gegebenen fünf Sinne für ein irdisches Vergnügen, — ein Thema, das Brockes in seinen Gedichten in immer neuen Variationen besungen hat. Derphysikotheologische Ansatz tritt dabei deutlich in Erscheinung. Es ist das größte irdische Vergnügen, in vernünftigem Sinnengebrauch die von Gott geschaffene Natur zu betrachten. Jedermann ist das möglich; Murren und Klagen sind also nicht berechtigt. — Der Patriot fordert am Schluß eine Einweisung in die rechte Naturbetrachtung für Schüler. Vf.

f

Motto Horaz, Epistulae 112,213. - „Wenn du auf rechte Weise genießt, dann kann dir von Jupiter nichts darüber hinaus geschenkt werden. Laß also das Klagen." 3 9 2

12

Burrhus

28

Pertinax

„Rotkopf"

(?), „Murrmann"

„Nackenhart".

(?).

zu Jahrgang

1 /1724,

177

Stück 47

3 9 3

14

Afflitto

3 9 5

'

Schach Almokauran

3 9 ^

4

Jokdah

3 9 7

w a s e u c h dereinst fehlen kann,] was euch ietzo fehlet, oder wol gar, ^ was euch etwan hinkunftig fehlen mogte; B.

3 9 8

ff-)

„Mutlos".

offenbar

nicht als historische

erfundene

Zu den auswärtigen

Person

identifizierbar.

Gestalt.

Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 47 Der Patriot handelt von der Verachtung gegenüber den Armen, vom Hochmut der Reichen und vom rechten Gebrauch des Reichtums. War im vorigen Stück unter anderem ausgeführt worden, Glück sei nicht von Armut oder Reichtum abhängig, so versucht der vorliegende Text, den Wert eines Menschen als unabhängig von seinen materiellen Verhältnissen zu erweisen. Bei Armut einen Mangel an Tugend vorauszusetzen (was nach dem Glückseligkeitskonzept der Aufklärung eigentlich ja nicht so fern liegt, soll doch der Vernünftige und Tugendhafte von der göttlichen Vorsehung auch belohnt werden, der Unvernünftige, der Lasterhafte, aber nicht), ist, so sagt der Patriot hier, ein Vorurteil, und er beweist das vor allem ex contrario: Reiche sind keineswegs immer tugendhaft; sie sind vielmehr oft hochmütig und stolz. Bloßer Geldbesitz zeugt noch nicht von Verdiensten; er kann ein unverdienter Glücksfall sein. Es ist daher falsch, die moralische Einschätzung eines Menschen von seinen äußeren Glücksumständen abhängig zu machen. Die von den Reichen verachteten einfachen Leute besitzen oft mehr Verstand, Herz, edles Gemüt und Erfahrung als jene; die Größe des Beutels macht nicht den Wert.

178

Kommentare

und

Erläuterungen

Zur Illustration dienen zwei moralische Charaktere. Tryphon, von reichen Eltern, hat die galante Kavalierserziehung hinter sich und benimmt sich entsprechend; er entstammt den alten Familien, denen traditionell die wichtigsten Ämter zufallen, und doch gehört er seiner Gesinnung nach zum Pöbel. — Rindolfi, von bäuerlicher Herkunft, ist mit Glück ein Geldmann geworden, hält sich seitdem für vornehm und sieht auf den gemeinen Mann herab; sein Geld dient nur seinen eigenen Interessen. Auch er gehört zum Pöbel. In der Folge macht der Patriot Vorschläge, wie einem Reichen der Gebrauch seines Geldes zu wahrer Ehre gereichen würde, und was er anführt, erscheint interessant im Hinblick auf die soziale und politische Rolle des Bürgers in einem Gemeinwesen. Der Patriot empfiehlt nicht einfach Wohltätigkeit, milde Gaben, Almosen an Bettler und Arme, sondern er fordert zu gemeinnützigen Stiftungen auf. Wenn dabei Zum Bau oder zur Zierde der GOttes=Häuser auch an erster Stelle steht, so sind doch nicht mehr fromme Vermächtnisse sein eigentliches Anliegen, sondern weltliche, „patriotische", dem eigenen Staatswesen zugute kommende Zuwendungen. Dahinter steht offenbar der Gedanke umfassender kommunaler Sozialpflege, ein Interesse an Förderung von Handel und Wandel, Sicherheit, Arbeit, Gesundheit, Bildung, Verkehr, Verteidigung und allgemeiner Ordnung. Bedeutsam und für das deutsche 18. Jahrhundert vorbildlich ist dies Konzept, weil es an die Initiative des einzelnen Bürgers appelliert und damit sozialpolitische Aufgaben nicht allein den weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten zuschiebt. Hier regt sich „patriotischer" Sinn, Selbstverantwortung, bürgerliches Engagement für das Gemeinwesen, — etwas, was den gegängelten Untertanen in absolutistischen Herrschaftsgebieten fremd geworden war und auch dem Prinzip des aufgeklärten Absolutismus, wie er sich seit der Jahrhundertmitte in Deutschland entfaltet, nicht entspricht (denn nach diesem

zu Jahrgang Prinzip

haben

— „für

das Volk"

Verbesserungen,

— zu geschehen). ten den ihrer

Bürger

Das schrift

— „durch

von

des Patrioten

in die politische

Mitbestimmung

Volk"

verpflichdie

Dimension, im

oben

das

Verantwortungsbereitschaft,

in

Staatswesen,

in den mit

könnte.

5. Stück

des 2. Jahrgangs

D i e M a t r o n e (1729)

ausdrücklich Vf.

auch

bürgerlicher

hineinreichen

Wohlfahrtspflege, von unten

Die Empfehlungen zu einer

Konsequenz

Bereich

— , nicht

179

1 /1724, Stück 47

knüpft

der

Hamburger

an das vorliegende

'WochenStück

an.

J. A. Fabricius (?)

Motto Horaz, Epistulae I 1,57—59. — „Fehlen an den vierhunderttausend dir sechs- oder siebentausend, dann kannst du Verstand, Charakter, Redegewandtheit, Vertrauen besitzen, du gehörst doch zu den unteren Schichten." 401

^ gemessen werde. Ehre und] gemessen werde. Nun wäre zwar zu wünschen, daß man diesen unbilligen Irrthum aus allen Gemüthern verbannen, und den Menschen so viel Vorsichtigkeit einpredigen konnte, daß sie dasjenige, was an anderen Menschen wahrhaftig groß und trefflich, oder auch wahrhaftig klein und unwerth ist, nicht mogten ohne Bedencken aus den blossen äusserlichen Glücks=Gaben abnehmen, sondern ihre Hochschatzung so wol, als ihre Verachtung, nach den Kennzeichen des innerlichen einrichten. Es würde sich sodann das Blat schon umkehren, und die Armuth etwas weniger, die Hoffart aber desto mehr sich zu schämen haben. Allein wir stecken zu tieff in der Gewohnheit, und ich werde mich dießmahl gern begnügen, wenn ich nur erhalten mag, daß man sich für denjenigen Verstoß hüte, der in dem Stücke der allerunvernünftigste. Ehre und B.

402

15

403

21 In B in 2. Person gesetzt: Unterdessen, armseliger T r y p h o n , laß dichs nicht befremden . . .

4 0 4

28—405,10: Tausendmahl edler, vornehmer und grösser schätze ich den unbemittelten P o l i c l e s , der zwar nicht den zwanzigsten Theil von so

Tryphon

vgl. Stück 39.

180

Kommentare

und

Erläuterungen

viel Glücks-Gütern, als ein T r y p h o n , oder ein R i n d o l f i besitzet, aber dagegen mehr Verstand und Wissenschaft, mehr Redlichkeit und Großmuth, mehr Lust und Geschicklichkeit dem Vaterlande zu dienen in seinem kleinen Finger hat, als jene beide in ihren gantzen Leibern; ungeachtet er von ihnen unter die g e m e i n e n L e u t e gezehlet, und kaum über die Achsel angesehen wird. Er ehret unterdessen ihre kostbaren Kleider, und grüsset ihre schonen Carossen, wofür ihm Kleider und Carossen, durch ihren Herrn, mit einem gnädigen Haupt-Wincke dancken lassen. Er hat viele Hochachtung für Familien, und gönnet rechtschaffenen Erbnehmern der Tugenden ihrer Vorfahren allen billigen Vorzug. Wann er aber einen unnützen Stutzer siehet, der sich mit nichts, als Vätern und Groß-Vätern zu blähen weiß, so wünschet er, daß derselbe sein Geschlecht-Register nur gar biß an den ersten Menschen hinauf führen möge, dessen Mutter ein Stück Erde, und die Groß-Mutter ein lauteres Nichts gewesen. Er kennet schon verschiedene, die in ihren grossen Familien durch Wolleben die letzten geworden, und schätzet also denjenigen weit hoher, der es durch Verdienste dahin bringet, daß er von einem berühmten Geschlechte der erste werde. Man muß ihm Recht geben, wann er glaubet, daß die schönsten Künste und Wissenschaften vielmahls in den Händen der Armen zu ihrer besten Vollkommenheit gedeien: weil der Fleiß gleichsam ein Eigenthum der Dürftigkeit, so wie die Gemächlichkeit eine gemeine Folge des Reichthums i s t . S l G N O R E , NON VI MANCA A L T R O , CHE UN P O C O DI NECESSITÄ, S a g t e j e -

ner hochberühmte Schilderer zu einem reichen Hof-Cavalier, der ihm ein Stück von seiner Arbeit zeigte, um seine Meinung darüber zu vernehmen. Und wenn es mancher von unsern Mit-Bürgern nicht übel nehmen wollte, so würde ihm P o l i c l e s mit guter Manier ins Ohr sagen: M e i n H e r r , e u c h f e h l e t n i c h t s in d e r W e l t , als daß i h r ein b i ß c h e n zu wenig M a n g e l h a b t . Sehr selten findet sich bey einem Reichen die Lust, Kopf und Hände rechtschaffen ans Werck zu strecken, zumahlen wenn er durch üppige Erziehung von Jugend auf in den Wahn gesetzet worden, daß er mit der blossen V e r s c h w e n d e - K u n s t , w e l c h e er auf sein F r a n z o s i s c h das S^AUOIR VIVRE

nennet, und sonst mit nichts, sich zu bemühen habe. Daher weiß unser Pol i c l e s biß weilen seinem GOtte recht hertzlich zu dancken, daß er, durch Vorenthaltung des Uberflusses, zugleich die Versuchung zur Faulheit von ihm abgewendet, und die Gefahr verhütet hat, ein vergüldeter Pöbel zu werden. O b er nun gleich bißhero seine Figur nur gar klein machen müssen; so lebet er doch, in bescheidener Zufriedenheit, des festen Vertrauens zu dem Allmächtigen, daß derselbe, wenn es nöthig und nützlich, ihn nicht weniger hoch, als groß zu machen wissen werde. Inzwischen heget er die aller-

zu Jahrgang

1 /1724,

Stück 47

181

edelsten Gedancken von denjenigen Pflichten gegen GOtt und das Vaterland, die er mit Freuden erfüllen wollte und müste, wenn ihm, nach Gottlicher Fügung, ein grosserer Segen an zeitlichen Gütern zufliessen sollte. Ich habe ihn einsmahls recht geärgert angetroffen, da er von einer Gesellschaft kam, in welcher vorerwehnter R i n d o l f i sich ungescheuet hatte verlauten lassen, er sähe nicht, wohin ein bemittelter Mann etwas vermachen sollte, da es besser und nothiger angewendet wäre, als an seine eigene Erben: er für seine Person wüste mit seinem Gelde nirgend besser hin, als in seine Casse; und mögte er sich mit Stifftungen kein Ansehen eines Pabstthums oder einer Werck=Heiligkeit machen. Mein Herr, sagte der redliche P o l i c l e s zu mir, ich hatte wünschen mögen, diesem niedertrachtigen Menschen diejenigen Vorschlage nothiger und rühmlicher Stifftungen alsofort schriftlich, zu seiner Uberzeugung, einreichen zu können, welche ich ehemahls die Ehre gehabt, mündlich von Ihnen zu vernehmen. Und weil ich besorgen muß, es werde an mehren Gelegenheiten nicht fehlen, da man einer solchen pöbelhaften Unart zu begegnen haben dürfte, so will gebeten haben, zur Hülffe meines Gedächtnisses mir mit einem kleinen Entwurffe unbeschwert an die Hand zu gehen. Ich setzte mich den Augenblick nieder, und schrieb folgendes Register guter und christ-anständiger Vermächtnisse, wie sie mir beyfielen, nach der Ordnung hin: welches ich auch ietzo allhier anzufügen keinen Umgang nehmen kann, bloß um meinen geliebten Mit=Bürgern, ohne Maßgebung, zu zeigen, auf wie manche rühmliche Art sie sich durch ihr Geld vom Pöbel unterscheiden, und wie wenig sie klagen können, keine Wahl oder Wissenschaft zu haben, wohin ein Uberschuß ihres Segens GOtt-gefillig und gemein-nützlich zu verwenden sey. B. 4 0 6

^ /o/gi: Kein Zweifel ist, ein rechter Kenner der Angelegenheiten, wie eines ieden Ortes, also insonderheit unserer guten Stadt, werde dieses Register noch mercklich vermehren, und daraus einen Geld-süchtigen R i n d o l f i , sammt andern, die vom reichen gemeinen Manne sind, ihrer unverantwortlichen Unwissenheit und unedlen Niedrigkeit überführen können. Ich aber will hoffen, daß aus obiger Vorstellung der allereinfaltigste von meinen Lesern schon anfangen wird zu begreiffen, daß, wie das blosse Geld, in vernünftigen Augen, niemand wahrhaftig v o r n e h m , also der blosse Mangel desselben niemand wahrhaftig zum P ö b e l mache.

182

Kommentare

und

Stück

Erläuterungen

48

Der Patriot wendet sich gegen Großmannssucht. Er tut dies in allgemeiner Erörterung und durch Einschaltung einer moralischen Erzählung. Seine Argumente betreffen einerseits die Motive zu demonstrativem Aufwand, andererseits seine Folgen. Abgesehen von dem Hinweis auf die Gleichheit aller Menschen in Gottes Schöpfung bleiben die traditionellen christlichen Mahnungen (daß, wer sich selbst erhöhe, erniedrigt werden werde etc.) ausgespart. Vor Augen geführt wird vor allem der für den Einzelnen, seine Familie und damit schließlich auch für das Gemeinwesen unverantwortliche ökonomische Effekt großer Aufwendungen. Das erzählerische Exemplum illustriert das im einzelnen, — ein Pendant zu den Schilderungen unvernünftigen Haushaltens in den Stücken 2, 10 und 31, dort den Kaufmannsstand betreffend, hier, mit dem Herrn Gern=Groß, den Advokatenberuf. Der Luxus mit Kutschen, gegen den der Patriot schon bei mehreren Gelegenheiten moralisiert hat, spielt auch hier wieder seine Rolle. Die Wendung gegen den übermäßigen Staat (412,16f), die itzige gar zu üppige Mode (412,11), — ein Laster, das nach Meinung des Patrioten in Hamburg übrigens schon im Abnehmen ist ist wiederum keine grundsätzliche Wendung gegen Lebensgenuß und Freude an weltlichen Gütern überhaupt. Sie zielt nur auf unangemessenes, dem Bürgertum nicht anstehendes und ökonomisch nicht vertretbares Gebaren. Nicht Rigidität wird gepredigt, sondern Maßhalten. Repräsentation, feudaler Aufzug ist nicht Sache des soliden Bürgers; äußerer Glanz bringt ihm nicht wirklich Ehre. Mäßiger Aufwand bei guten Vermögensumständen ist das Passende. Eine propre und gemachliche Lebens=Art, eine nette Einrichtung von Haus und Garten sind dem besitzenden Bürger gegönnt als wohlverdientes Vergnügen in dieser von der Vorsehung zur Glückseligkeit eingerichteten Welt.

zu Jahrgang Vf.

J. A. Hoffmann

1 /1724,

Stück 49

183

(?)

Motto Stelle nicht identifizierbar. Giovanni Battista Mantovano (1448 bis 1516) hat ca. S5000 Verse hinterlassen. — „. . . wenn in die Lüfte die Flut aufbrechenden Wassers sich erhebt, bald den Scheitel überschreitet, niederfällt und im tiefen Fluß den Schaum verspritzt, schließlich zwischen den kleinen Wellen namenlos vorbeieilt." 409

Dorinde

„Goldine".

¿J.JQ

22 Ort"

4 U

4 recessiren ,,in den Gerichten einiger Gegenden wird der mündliche Vortrag eines Advocaten vor Gericht der Receß genannt" (Adelung). 8

einen Abtritt nehmen (Adelung).

contumacirt

„die Entfernung

contumazieren:

an einen

wegen Nichterscheinens

nahegelegenen

verurteilen.

Stück 49 Der Patriot moralisiert über den Gemeinsinn. Er legt die Wohlfahrt des Gemeinwesens allen seinen Angehörigen als Pflicht gegen ihr Vaterland ans Herz. Jeder ist gehalten, zum gemeinen Besten beizutragen, jeder nach seinem Amt und Stand (415,4ff.). Das beginnt beim Hauß=Vater und endet bei der Obrigkeit. Als Vorbild wird die Staatsgesinnung der Griechen und Römer hingestellt, und hier wiederum, bezeichnenderweise, die republikanische Gesinnung. Nicht die auf Untertanen gestützte imperiale Macht Roms ist es, die berufen wird, sondern die durch die Tugenden seiner Bürger mächtig gewordene römische Republik. Das liegt bei einer freien Bürgerstadt wie Hamburg nahe, dürfte aber beim Publikum außerhalb Hamburgs in absolutistisch regierten Staatswesen nachdenklich gestimmt haben. Statt untertänigem Gehorsam freiwillige Aufopferung des Privatnutzens an das gemeine Beste, — solche Forderungen konnten den Bürger zu politi-

184

Kommentare und Erläuterungen

schem. Engagement in seinem Staatswesen bewegen. — Die traditionell auf den Gymnasien gelesenen antiken Texte werden hier „patriotisch" aktualisiert. — Der Appell an tätigen Gemeinsinn mag übrigens in Hamburg nach den schweren innenpolitischen Krisen in den vorangegangenen Jahren besonderes Gewicht gehabt haben. Billigkeit, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Leutseligkeit, Mäßigung, Großmut und Tapferkeit der Bürger garantieren Freiheit und gute Gesetze (416,9f f . ) . Die Tugenden, die in der Beispielerzählung am Schluß die Gesandten dem weisen Ptolomeus aus ihren Ländern rühmen, dürfen als indirekte Forderungen des Patrioten an die zeitgenössischen Mitbürger und Obrigkeiten verstanden werden. Im vorliegenden, von Johann Adolf Hoffmann verfaßten Stück ist, z. T. wörtlich, Material verarbeitet, das Hoffmann in seinem Buch Politische Anmerckungen über die wahre und falsche Staatskunst, Hamburg 1725, ausgebreitet hat.

Vf.

J. A. Hoff mann

Motto Cicero, De legibus III, 3,8. — ,,Höchstes Gebot ist das Wohl des Vaterlandes." 414" ^ J ^

^

so

lf.

in der Gottseligkeit fromm, in der Tugend ehrlich] fromm, ehrlich

B.

' l o c ' 1 erhaben, als die Menschlichkeit,] fehlt B.

8

Erfahrung] Anweisung B.

11

die Waffen] Muth B.

23 Fabius gemeint ist Quintus Fabius Maximus (280 —203 v. Chr.), der Rom vor der Eroberung durch Hannibal rettete. — Scipio Publius Cornelius Scipio Africanus (ca. 235-183 v. Chr.), Sieger über Hannibal bei Zama (202 v. Chr.).

zu Jahrgang 29 den,

Antiochus Verbündeter

Antiochus III. Hannibals.

1 /1724,

185

Stück 50

(243 —187 v. Chr.), König der

31 den jungen Sohn des Scipio Publius Cornelius Sohn des Africanus, adoptierte den späteren Africanus 4 1 7

Seleuki-

Scipio, der minor.

älteste

21 f. Doch ist auch diese Auffrichtigkeit] Doch weil wir nicht alle Scip i o n e s seyn können, so ist auch die blosse Aufrichtigkeit B. 26f. Diese zweyte . . . seyn kan.] Rechtschaffene L i e b e des V a t e r L a n d e s kann nicht müßig seyn. B.

41 8

16 Epaminondas thebanischer Feldherr siegte 371 die Spartaner bei Leuktra. 18 Artaxerxes Mnemon (404 -358

4 1 9

18f. machte

420

^

(um 420—362 v. Chr.),

be-

gemeint ist offenbar der persische König Artaxerxes v. Chr.), Sohn Darius' II.

II.

Ptolomeus in Egypten Ptolomeios II. Alexandria zum Mittelpunkt hellenistischer Sicyonische

Sikyon:

antike

(308-246 Kultur.

Stadt in der Nähe von

v.

Chr.),

Korinth.

Stück 50 Das Stück handelt von der Selbstprüfung des Menschen. spürbar Es weicht mit seiner christlichen Grundeinstellung ab von der vom Patrioten vertretenen philosophischen Linie, für die allein er sich für zuständig erklärt hat (vgl. 27,4ff). Vernunft und Religion sind hier nicht, wie sonst, gleichwertige Instanzen, von denen nur die erstere zu vertreten der Wochenschrift zukommt, während man die andere getrost der Geistlichkeit überläßt, vielmehr ist der religiöse Ansatz hier dominierend. Die Abweichung dürfte damit zusammenhängen, daß es sich hier um eine auswärtige Einsendung handelt, verfaßt, wie wir wissen, von der Patriotischen Gesellschafft in Christian=Stadt. Menschliche Selbstprüfung ist selbstverständlich auch eine Forderung der vernünftigen aufklärerischen Moral, und äu-

186

Kommentare und Erläuterungen

ßerliche Schönheit, eine positive finanzielle Bilanz, Erfolg bei Damen oder eine Brust voll Orden sind auch für den weltlich-philosophischen Moralisten kein Beweis für die Tugend eines Menschen. Im vorliegenden Falle jedoch soll die Selbstprüfung tiefer reichen. Philotheus — sein Name ist sprechend — überprüft, ob sein Verhalten nicht allein vernünfftig sondern auch Christlich gewesen ist (423, 31f.). Er prüft nicht nur sein Tun und Lassen, sondern auch seine Gedanken nach dem Gottlichen Gesetze, und entsprechend tritt bei ihm eine Auffassung vom Menschen zutage, die sich mit der Konzeption der Aufklärung nicht deckt. Bezeichnend, daß Philotheus besonders auf der Hut ist, wenn er etwas gutes an sich bemercket (424,9f), könnte hier doch Selbsttäuschung und Eigenliebe im Spiel sein, und die Eigenliebe muß unterdrückt werden! Menschliche Eigenliebe ist also nicht, wie sonst vom Patrioten gelehrt, nur einzuschränken und in vernünftige Bahnen zu lenken; sie steht als zu unterdrückende für Philotheus offenbar noch im Zeichen der Sünde. Dem entspricht auch, daß er gleich anschließend sein Unvermögen, und die Unergründlichkeit seines verdorbenen Hertzens bedenkt. Gut christlich besagt das, daß der Mensch von sich aus, als natürlicher Mensch, nicht fähig zum Guten ist, — daß sein Herz von der Erbsünde korrumpiert ist und nur durch Gottes Beistand gebessert werden kann. Die natürliche Beschaffenheit des Hertzens, so wird auch an anderer Stelle ausgeführt (425,27f.), ist nicht gut; die Unwürdigkeit, die elende Nichtigkeit des Menschen wird berufen, Mängel, Unvollkommenheit und Verderben in ihm (425,17) werden konstatiert, — also nicht nur Fehler, die unzureichender Vernunft und falscher Erziehung anzulasten wären, sondern die mit der Sündhaftigkeit des Menschen wesensmäßig gegeben sind. Das Axiom von der ursprünglichen Güte des Menschen gilt hier nicht. Und entsprechend ist der Zielpunkt aller Besserungsbemühungen des Philotheus denn auch Gott (425,3ff.; 33ff.).

zu Jahrgang 1 /1724,

187

Stück 50

Daß diese Ausführungen einer Patriotischen Gesellschafft aus dem Ort mit dem sprechenden Namen Christian=Stadt dem Patrioten zugesandt wurden, ist ein Zeichen für die Unbefangenheit, mit der man in der frühen Aufklärung weltlich-philosophische und geistliche Moral offenbar für miteinander vereinbar hält. Daß der Patriot diese Ausführungen auch abgedruckt hat, ist immerhin bemerkenswert. Möglicherweise konnte man mit derartigen Beiträgen der Kritik von kirchlicher Seite den Wind aus den Segeln nehmen. Die von Philotheus betriebene Gewissenserforschung, die die innersten Neigungen des Herzens (423,24) untersucht und den geheimsten Motivationen zu guten Werken nachspürt, erinnert von fern an die strenge geistliche Prüfung im Zeichen pietistischer Introspektion. Daß übrigens ein Landjunker seine Rent=Bücher fleißig durchblättert und über Ausgaben und Einnahmen Bilanz führt (422,4ff.), wäre im Sinne des Patrioten an sich löblich; nichts ist dem Landadligen mehr anzuempfehlen als etwas Ökonomie. Nur gilt dies vor der höheren Forderung in diesem Falle nicht. Im Stück 55 (II, 24,33ff) gibt der Patriot bekannt, daß das vorliegende Stück im Rahmen seines Preisausschreibens für preiswürdig erachtet worden sei. Freilich wurde nur das 53. Stück tatsächlich mit einem Preis bedacht. Vf.

Einsendung,

vgl. II, 52,1 f f

Motto Juvenal, Saturae XI, 27. — „Das Wort,Erkenne Himmel gekommen." 421

1-6:

fehlt

4 2 2

1

fünff-schuhigten fünf Schuh

4 2 3

'

Fuchs-schwantzerische

18

Philotheus

426

dich selbst' ist vom

B.

schmeichlerische,

vgl. Erl. zu II,

28,7f.

„Gottlieb".

den auswärtigen 13 DerPatriot.Bd.IV

großen.

Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

188

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 51 Der Patriot stellt Betrachtungen über die Unermeßlichkeit Gottes an, wobei er zwei entsprechende Gedichte zitiert. Das Thema wurde schon in Stück 42 behandelt. Das bevorstehende Weihnachtsfest ist Anlaß, es erneut aufzunehmen. Die zunächst erwähnten Gedichte über diesen Gegenstand, die ein vornehmer Rahts=Verwandter Hamburgs verfaßt hat (428,1ff.), sind Gedichte von B. H. Brockes. Sie finden sich im damals einzig bereits erschienenen ersten Band seiner Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott. — Bei dem in Auszügen veröffentlichten Gedicht kurtze Betrachtung des unendlichen Schöpffers bey Anschauung des gestirnten Himmels (428,27ff.) eines in Wien lebenden Poeten handelt es sich um Verse von Carl Gustav Heräus (1671-1730). - Das zweite abgedruckte Gedicht (431,6ff.), eine bisher ungedruckte Poesie, erweist sich, wie der Patriot zu recht bemerkt, in der Tat schon aus seiner Schreib=Arth als von Brockes stammend. Alle Gedichte stehen im Zeichen der physikotheologischen Gottesverehrung, und zwar mit dem für das Jahrhundert des Fernrohrs so besonders faszinierenden astrotheologischen Ansatz. Der gestirnte Himmel über dem Menschen und die sich hier auftuende Unendlichkeit des Raumes gibt Anlaß, immer wieder die Größe des Schöpfers zu erwegen, wie es bei Brockes heißt. Bei ihm führt das im vorliegenden Falle bis zu mathematischen Spekulationen. Bemerkenswert, daß wiederum, wie so oft bei physikotheologischer Betrachtung, das Buch der Offenbarung neben dem Buch der Natur nicht erwähnt wird, so daß bei dieser Gottesbetrachtung der ganze Heilsbereich, die Erlösung von der Sünde durch Christi Blut, ausgespart bleibt. Vom Heiland, dessen Geburt am Weihnachtsfest zu gedenken ist, fällt in der ganzen Betrachtung kein Wort.

zu Jahrgang Vf.

C. F. Weichmann

189

1 /1724, Stück 51

(?), B. H.

Brockes

Motto Augustinus, Confessiones 1,3,3. — ,¡Fassen dich also Himmel und Erde, da du sie erfüllst ? Oder erfüllst du sie und bleibt etwas übrig, da sie ja dich nicht fassen?" 4 2 7

428

24—428,1 verdienen . . . würcklich sind.] verdienen, so bekannt gemacht zu werden, als immer möglich ist. B. 1—13

Ein vornehmer . . . denselben verweise.] fehlt

B.

von der Sonne Brockes' Gedicht Die Sonne, in: Irdisches Vergnü6 gen in Gott, Bandl, 2. Aufl. 1724, S. 107-130. vom Grossen und Kleinen 7 da., S. 133-137.

Brockes,

Das Große und Kleine, eb-

7ff. von dem . . . Nichts der Menschen etc. Brockes, Das, durch die Betrachtung der Grösse GOttes, verherrlichte Nichts der Menschen, in einem Gespräche auf das Jahr 1722, ebda., S. 397— 431. 27—430,24: Der Patriot zitiert die Kurtze Betrachtung des unendlichen Schöpffers bey Anschauung des gestirnten Himmels, in: Carl Gustav Heraeus, Gedichte und Lateinische Inschriften, Nürnberg 1721, S. 179-186. 4 2 9

PS. CHI. 2. Psalm 103,2; Belegstelle für den Bildgebrauch im zitierten Gedicht. (Die vom Patrioten angegebene Stelle ist unrichtig; möglicherweise ist Psalm 104 gemeint.)

4 3 0

Sicherheit] Sicherheit, B. 32—35 und ich bin . . . bekannt mache.] und daß es eben derselbige sey, dessen Geist« und Lehrreiche Schriften von den grossen Wercken GOttes im irdischen, und dem daraus zu schopffenden Vergnügen aufs erbaulichste handeln. B.

43 J

6—434,24: Das hier vorgestellte Gedicht Brockes' findet sich 1728 in Band 3 des Irdischen Vergnügens in Gott auf S. 693ff. Es hat dort den Titel GOttes Größe. 9

nirgends] n i r g e n d s B.

11

Krafft und Herrlichkeit] W e s e n , W i t z und K r a f f t B.

21

Itzt] J e t z t B.

28

heg't] h e g ' t , B.

13»

190

432

433

und

Erläuterungen

5

Deiner] deine B.

9

Meistens pfleg't] H u n d e r t , ja B.

10

zu] soll B.

27

bedecke] v e r d e c k e B.

19

Aus jedwedem] G a r aus iedem B.

24

Stäubchen,] S t a u b c h e n B.

31

Und selbst dieser] J a wenn auch dieß B.

32:

434

Kommentare

In sich s e l b s t v e r m e h r e t war. B.

1

Nur] D e n n B.

15

noch] und B.

23f.:

Sind die W i r c k u n g S e i n e r K r a f f t , U n d des S c h o p f f e r s E i g e n s c h a f t , etc. B.

Stück 52 Der Patriot plaudert über den rechten Gebrauch der Zeit. Die aus Mekka mitgebrachte philosophische Uhr gehört wie das chinesische Augenwasser in Stück 5 oder das "Wetterglas des Verstandes in Stück 34 zu den Wundermitteln, über die der fiktive Verfasser einer Moralischen Wochenschrift üblicherweise verfügt. Sie dienen ihm zu moralischer Urteilsfindung und tragen jedenfalls zur Unterhaltsamkeit der Darlegungen bei. Das Thema vom rechten Gebrauch der Zeit bietet sich für die letzte Woche des Jahres besonders an, es kehrt aber auch sonst in den Erörterungen des Patrioten wieder. Das Resümee: Der Mensch lebt nur dann wirklich und wendet seine Zeit richtig an, wenn er ein vernünftiges und Philosophisches Leben (437,7f.) führt, und das wiederum heißt, daß er tugendhaft handelt und seine Pflichten erfüllt. Der würckliche Endzweck unsers Lebens sind nutzbahre Verrichtungen

zu Jahrgang

1 /1724, Stück 52

191

(442,25f.). Eine nicht sinnvoll genutzte Muße ist verlorene Zeit, ebenso wie Vergnügungen oder Essen, Trinken und Schlafen als rein animalische Tätigkeiten verlorene Zeit bedeuten. Lasterhaftes Handeln, wozu auch das Spiel gehört, ist negativer Zeitgebrauch. Ein gewisses disziplinierendes Element ist in diesem Konzept unverkennbar. Sorgloser, kindlich einfältiger Umgang mit der Zeit hat hier keinen Platz; fragloses pures Genießen des Lebens ist anrüchig. Altes christliches Mißtrauen gegenüber der Muße scheint hier fortzuleben. In welchem Maße freilich rechter Gebrauch der Zeit für den Patrioten doch ganz in einem diesseitigen Horizont steht, wird deutlich, wenn man die vorliegende Betrachtung mit zeitgenössischen geistlichen Predigten und Traktaten zum Jahreswechsel vergleicht. Die geistliche Vermahnung fordert Einkehr, Buße, ,,Auskaufen" der Zeit zur Heiligung des Lebens. Der Mensch, auf der Pilgerschaft zur ewigen Seligkeit, ist gehalten, „wesentlich" zu werden, sich im Gebet Gott zuzuwenden; die guten Werke werden dann die Frucht sein. Der Patriot dagegen lenkt seine Leser zum philosophischen Leben nach der gesunden Vernunfft und der Vorschrift eines guten Gewissens (436,11ff.), ja er verweist auf das Vorbild verschiedener grossen Heyden (441,30). Vernünftiger Zeitgebrauch zielt auf die Welt, auf die Gesellschaft und findet hier seine Erfüllung. Bemerkenswert, daß das weibliche Geschlecht im Hinblick auf tugendhaften Zeitgebrauch über das männliche gesetzt ist (440,11ff.). Dem traditionellen christlich-pessimistischen Frauenbild wird hier entgegengearbeitet. Das 1. Stück des 2. Jahrgangs (1729) der Hamburger Wochenschrift Die Matrone knüpft an die Ausführungen des 52. Stücks an.

192

Kommentare

Vf.

C. F.

und

Erläuterungen

Weichmann

Motto Nicht hei Ennius nachweisbar, sondern hei Seneca, Dialogi 10,2,2. — „Ein winziger Ausschnitt ist unser Lehen." Motto

B

N O N E S T , Q U O D Q U E M Q U A M P R O P T E R CANOS AUT RUGAS PUTES DIU VIXISSE: NON ENIM I L L E DIU V I X I T , SED DIU F U I T . SENECA.

Seneca, De brevitate vitae 7,10. — ,,Es giht keinen Grund zu glauben, einer habe lange gelebt, wenn er weiße Haare und Falten hat: er hat nicht lange gelebt, sondern er ist lange gewesen." 4 3 6

9 D i e P h i l o s o p h i s c h e . . . grösserer Wichtigkeit.] Hierbey nahm ich Gelegenheit, die P h i l o s o p h i s c h e U h r , davon er selbst in vorbesagten 34sten Stücke Anregung gethan, ihm vorzulegen, und deren sonderbare Wirckungen etwas näher zu erklären. Sehet, mein lieber Vetter, sagte ich, diese U h r ist meines ermessens ein Instrument, an dessen Gebrauche weit mehr gelegen. B. 12—19 Er stutzte . . . gedienet.] Ich halte diese Erfindung so ungemein, und von solcher Wichtigkeit, daß ich mich ferner nicht entlegen kann, eine umständliche Nachricht davon an alle meine Leser gelangen zu lassen. B.

4 3 8

^

4 3 9

* 28—>1

Jaaphar Ebn Jophzdhail Trumme

Trummel,

offenbar orientalischer

Trommel:

rundes

Ich kann . . . gesetzt habe.] fehlt

Phantasiename.

Behältnis. B.

4 4 0

^

Lebens] sittlichen Lebens B.

4 4 1

1 Spadenthaus „Pik-As" (vgl. Schippe) und Daus).

4 4 2

s ' e • • • ^ a z u versprechen!] Laß den jüngsten und besten Menschen eine Zeit setzen, wie lange er seines natürlichen Lebens sich noch gewiß zu seyn erachten könne, und, dafern ein grosser Gewinn oder Verlust darauf stünde, wie weit er wol sein Ziel muthmaßlich hinaus setzen würde. Sollte wol ein anderer, wieder alle todliche Zufälle, ihm mehr als zwölf Jahre zu assecuriren auf sich nehmen? B. — Aufgrund dieser Änderung bis 442,31 statt 1. Pers. Plural durchgehend 3. Pers. Singular.

(gebildet

aus dem Kartenemblem

Spade

zu Jahrgang

193

1 /1724, Stück 52

32 f. Dieß ist. . . leben haben, und] Diesem nach stehet unser wahrhaftiges menschliches Leben gegen die Zahl unserer Jahre bey nahe in solcher Verhaltniß, wie zwey gegen zwölfe. Wir begreiffen, daß wir kaum den sechsten Theil derjenigen Zeit wircklich leben, die wir mit leben zubringen: und B. ljff.

Denn das Alter . . .

Weisheit

Salomos

4,

8-9.

Kommentare und Erläuterungen zu Band II (= Jahrgang

1725, Stücke

53-104)

Titelblatt zum zweiten Jahrgang der Buchausgabe im Faksimile (verkleinert):

mit wfltfanWacm iKcgiftor.

^(CiriKft bin CcutßD Äiuiw» 1728.

Auf die Wiedergabe des Registers zum zweiten Jahrgang der Buchausgabe ist verzichtet. Dies Register deckt sich in seinen Stichwörtern oftmals nicht mit den für den zweiten Jahrgang relevanten Stichwörtern im Vollständigen Register über alle drey Jahre des Patrioten der Originalausgabe (III, 425-458).

Stück 53 Das Stück handelt von guter Fürstenerziehung. Dem Verfasser dieses eingesandten Textes erkennt der Patriot im Stück 55 den in Nr. 36 ausgesetzten Preis zu (vgl. II, 24,33ff.). Der Text gibt sich als Brief, in dem ein Gespräch referiert wird, d. h. der Gegenstand wird im Dialog einiger eingeführter Gesprächspersonen abgehandelt. Das ist eine Darbietungstechnik, die in der periodischen Literatur bereits vor den Moralischen Wochenschriften gebräuchlich gewesen und z. B. von Christian Thomasius in seinen Monatsgesprächen verwendet worden ist. — Die Gesprächspersonen sind übrigens — eine ist Offizier, eine andere von Adel — als Leser des Patrioten vorgestellt, und zwar bei gemeinsamer Lektüre am Kaffeetisch (wobei wohl nicht an ein öffentliches Kaffeehaus gedacht ist). Dieser Umstand ist für das Rezeptionsverhalten des Publikums, zumindest wie der Verfasser des Textes es sich vorstellt, kennzeichnend. Prinzenerziehung ist in der freien Stadt Hamburg nicht gerade ein aktuelles Thema, aber um so mehr muß es das außerhalb Hamburgs in fürstlichen Territorien lebende Publikum des Patrioten interessiert haben, zumal im vorliegenden Beitrag unter absolutistischer Regierungsform anzutreffende Verhältnisse in einer Weise ans Licht gezogen werden, wie sie zu der damaligen Zeit im deutschen Bereich sonst nicht zu beobachten ist. Kritik an der Ideologie der unumschränkten Fürstengewalt, an der Vereinnahmung der Religion und der Unterwerfung des Rechts im Interesse fürstlicher Macht, Kritik an Arglist, Schmeichelei und Liebedienerei bei Hofe, an ökonomisch unverantwortlicher Ausgabenwirtschaft, an Pracht und Aufwand mit ruinösen Folgen für

200

Kommentare

und

Erläuterungen

das Land, — das war im Zeitalter Augusts des Starken und hunderter kleiner, ambitionierter Souveräne in deutschen Landen kaum je so öffentlich vorgetragen worden. Die Einwendungen von Bellonius und Richardus gegen das Programm vernünftiger Fürstenerziehung (6,19ff.) stellen die Mentalität der Verfechter des absolutistischen Systems in der Manier des Advocatus Diaboli ironisch bloß. Nacktes Machtdenken, dynastischer Repräsentationsanspruch, fürstlich-heroischer Tatendurst auf Kosten des Bluts der Untertanen, List und Betrug bei Hofe, Machiavellismus in der auswärtigen Politik und das ganze zum System gehörige Huldigungs- und Glorifizierungswesen, — all das wird hier öffentlich beim Namen genannt und verurteilt (sehr hübsch dabei der Seitenhieb auf Schriftsteller und Musensöhne als Nutznießer) . Es wird verurteilt nach dem Maßstab von Vernunft, Billigkeit, Gerechtigkeit und der Forderungen der Religion. Der Text dürfte für gedrückte, entmündigte, aller politischen Freiheiten beraubte Bürger eine nachdenkliche Lektüre gewesen sein. Zur Abhilfe für die beim Namen genannten Mißstände wird eine vernünftige Prinzenerziehung anempfohlen. An eine Änderung der politischen Grundstrukturen, etwa eine Wiederherstellung ständischer Rechte und Freiheiten, an eine konstitutionelle Beschränkung fürstlicher Macht, wie sie in England bereits eingeführt ist, an Teilung der Gewalten oder gar an eine revolutionäre Herbeiführung republikanischer Verfassungen wird nicht gedacht, — das scheint außerhalb des Vorstellbaren zu liegen. Auch die naturrechtliche Vorstellung, daß fürstliche Herrschaft eigentlich auf einem Vertragsverhältnis beruhe, wird nicht angesprochen, wenngleich das Gottesgnadentum mit dem Hinweis, die Berufung auf das 1. Buch Samuelis sei ein schädliches Vorurteil, durchaus in Frage gestellt erscheint. Eine gute Erziehung des künftigen Monarchen jedoch, — auch hier spiegelt sich der noch frische pädagogische Optimismus der Aufklärung —, wird

ZK Jahrgang 2 / 7725, Stück 53

201

Wunder wirken können, wenn ihre Lehren dem Verstand und dem Herzen nur recht eingeprägt werden. Zahlreiche Schriften haben in gleicher Weise im 18. Jahrhundert in der Fürstenerziehung das Heilmittel zur Gesundung des politischen Körpers gesehen. Ein angehender Herrscher muß zunächst als vernünftiger Mensch und als Christ zur Tugend geführt werden, er muß in die Bedürfnisse seines Staates eingewiesen werden, die Äußerlichkeiten, den höfischen Aufwand gering schätzen lernen und von Vorurteilen über das Wesen seines Berufes befreit werden. Er ist der höfischen Schmeichelei zu entziehen und rechtzeitig an die Regierungsverantwortung und die damit verbundene Arbeit zu gewöhnen. Dann wird sein Staat der Glückseligkeit entgegen gehen (5,32), die Wohlfahrt des Landes wird gesichert sein und die Untertanen werden freudigen Gehorsam leisten. Die hier vorgetragenen Gedanken treffen sich mit Konzeptionen des „aufgeklärten Absolutismus", wie sie im Laufe des 18. Jahrhunderts in einigen deutschen Ländern auch in die Praxis umzusetzen versucht wurden. Der Fürst ist danach ein kluger Verwalter seines Staatswesens, von redlichen Beratern umgeben, um die Herbeiführung der allgemeinen Wohlfahrt bemüht, im Sinne der göttlichen Vorsehung für die allgemeine Glückseligkeit seiner Untertanen arbeitend. Der Abdruck dieses Stücks hat mit Recht Aufsehen gemacht. Zu seinem Lob ist eine eigene Flugschrift verfaßt worden (Preißwürdigkeit des drey= und funffzigsten Hamburgischen patriotischen Blättgens von denen wahren Vortrefflichkeiten eines Printzen, statt gehorsamster Glückwünschung an den Autorem desselben Herrn Sincerinus über den dieserhalb im vorigen Jahre erhaltenen Patriotischen Preiß gefertiget von dessen verpflichtesten Diener Freudentheil, Merseburg, verlegts George Christian Forberger. Am Schluß datiert: den 20. Juli 1725.) Das Stück ist, in einer freien Stadt publiziert, ein kleiner Beitrag zur Heraus-

202

Kommentare

bildung politischen Deutschland. Vf.

und

Urteils

Erläuterungen

im

absolutistisch

geprägten

(Einsendung)

Motto Plinius (d.J.), Epistulae III, 18,3. — „Zu lehren wie ein Fürst sein sollte, ist zwar ein schönes, aber beschwerliches Unterfangen und zeugt von Übermut." ^

2

3

2

Polymedor

4

Beltonius

5

Richardus

„Denkviel". ,,Kriegsmann". „Reichmann".

31 nach dem Ringe lauffen soviel wie Ringelstechen; „ein Ritterspiel zu Pferde, wo mit der Lanze oder dem Wurfpfeile nach einem Ring gerannt wird" (Adelung). 23

I B . Sam. 1.

muß heißen: 1. Sam. 8,

24 Griff Griffe: „unerlaubte gen Verstände" (Adelung). ^

lf.

Staates

Handgriffe,

10-18. Kunstgriffe

Staat: hier im Sinne von Aufwand

und

im

nachtheili-

Repräsentation.

13 wie die Frosche in der Fabel Anspielung auf die bekannte des Phädrus von den Fröschen, die sich einen König wünschten. 9

1-12:

fehlt

Fabel

B.

Stück 54 Ein eingesandter Brief schildert und verurteilt anhand einer Reihe von moralischen Charakteren lasterhaftes Verhalten. Ein Trunkenbold; eine eitle Mutter, die ihre Kinder Ammen überläßt; ein Geizkragen, der sich nichts gönnt; ein nichtsnutziger egoistischer Ästhet; ein Feinschmecker, der um des vermeintlichen Gaumengenusses willen Tiere grau-

zu Jahrgang 2

/ i72J,

Stück 54

203

sam tötet; ein hartnäckiger Widersprecher; ein Verleumder von Eheleuten; ein zorniger Polterer; ein Mädchen- und Frauenverführer; ein seinen Kindern ein schlechtes Vorbild gebender Vater; — es ist eine ganze Skala sittlicher Verfehlungen, die jeweils an einem Repräsentanten vorgestellt werden. Mehrere dieser Laster hat der Patriot bereits zuvor gegeißelt. Alle diese Lasterhaften, führt der Briefschreiber aus, seien nicht ah Menschen anzusehen; einige von ihnen werden ausdrücklich unter die Tiere gesetzt. Die Begründung entspricht aufklärerischem Konzept: Menschen sind Geschöpfe, die Verstand (Vernunft) haben und sich dessen bedienen. Bei den angeführten lasterhaften Personen aber ist das nicht der Fall. Ihr Laster ist das Ergebnis mangelnden Verstandesgebrauchs. Hätten sie Verstand und bedienten sie sich dieser Gabe, so würden sie ihrem Laster den Abschied geben und Menschen sein. Verstand, Vernunft ist die Bedingung rechten Wollens und Handelns und damit des Menschseins. (Die Postulate der christlichen Ethik werden nicht bemüht.) Die moralischen Charakteristiken, im Präsens gehalten, stets das Typische hervorkehrend, kommen gelegentlich zu lebendiger, die allgemeinen Umschreibungen hinter sich lassender Realistik. So im Falle des polternden Orgilius: Seine Augen stehen scheußlich: seine Stimme wird heiser und bellend: sein Gesicht blaß und runtzlicht (14,1 f.). Der Fall des Chrysophilus zeigt erneut, daß Kärglichkeit, Selbsteinschränkung bei vorhandenen Mitteln, nicht als Sparsamkeit zu rühmen, sondern als Laster zu verurteilen ist. Der bemittelte Bürger soll nicht schlecht speisen, schlecht wohnen, sich schlecht kleiden, sich schlecht aufwarten lassen (wobei hier — ein früher semantischer Beleg — die Bezeichnung schlecht nicht mehr im alten Sinne von ,,einfach", „schlicht", sondern bereits eindeutig pejorativ im Sinne von schäbig, minderwertig gebraucht ist! 11,25ff.), sondern er soll sichs wohl sein lassen und das Seine maßvoll vergnügt 14

Der Patriot, Bd. IV

204

Kommentare

und

Erläuterungen

genießen. Der Patriot redet keiner asketischen Lebenseinstellung das Wort. Daß die Einsendung, wie die einführenden Sätze bezeugen, in französischer Sprache gehalten war und ins Deutsche übersetzt werden mußte, dürfte kaum darauf hinweisen, daß der Einsender ein Franzose war, sondern eher darauf, daß er sich des schriftlichen deutschen Ausdrucks weniger mächtig fühlte als des französischen, — etwas, was auch bei Einsendungen an sich deutschsprachiger Beiträger an die Züricher Discourse der Mahlern (1721—23) zu beobachten ist. Die gebildete schriftliche Verkehrssprache war am Anfang des 18. Jahrhunderts in deutschen Landschaften noch oft das Französische, — neben der Gelehrtensprache des Lateins. Eben deswegen sind vermutlich auch die ersten 16 Stücke des Patrioten in Hamburg in französischer Übersetzung in Flugschriftenform herausgekommen. Der französisch gebildete Bürger sollte so für das Unternehmen des Patrioten eingenommen werden. — Das folgende Stück Nr. 55 zeigt Bemühungen des Patrioten um die Geschmeidigung und Polierung der hochdeutschen Schriftsprache. Vf.

(Einsendung)

Motto Motto

Terenz, B

O

Heautontimorumenos 77. — „Ein Mensch bin

QUAM DEGENERANT H O M I N E s ! QUAM IMMANIA

P O S T Q U A M NATURAM D E D I D I C E R E SUAM.

ich."

MONSTRA!

DUPORTUS.

Zitierte Stelle nicht identifizierbar. — „Oh, wie entarten die Was für schreckliche Ungeheuer, nachdem sie ihr wahres Wesen haben."

Menschen! kundgetan

IQ

16 Madidontes von lat. madidus: fröhlich"; vgl. 1, 372,12.

^^

1 Poppea „die Puppenhafte", möglicherweise auch Anspielung auf Poppaea Sabina (ca. 30—65 n. Chr.), eine Mätresse Kaiser Neros; eine 63 geborene Tochter dieser Poppea war nach vier Monaten gestorben.

wasserreich;

hier etwa

„Feucht-

zu Jahrgang 22

Chrysophilus

17

Phagon



205

2 /1725, Stück 55

Goldfreund".

„Fresser".

19f. Cartesiane!". Deren Grund-Satz . . . als Machinen Der Gedanke, daß Tiere als Automaten aufzufassen seien, in René Descartes' Principia Philosophiae, Amsterdam 1644. 24

Calecuten

Truthühner.

33 Pyrrhonianer nach Pyrrhon von Elis (ca. 360 -271 v. Chr.), Begründer des antiken Skeptizismus. 3

Picrocholus

dem

„Bittergallig".

5 Meryweis (auch Myriweis, Miri-Weys) berühmter Kriegsheld storben 1717), befreite Kandahar von persischer Herrschaft. 18

Alastor

„Bösewicht".

32

Orgilius

„Zornmeier".

10

Miastor

15

Raben-Steine

19

Leumuth

(ge-

„Schandmann". Rabenstein:

Richtstätte.

Leumund.

12 die gebrauchlichen Wercke von den Pflichten eines Menschen und guten Bürgers z.B. Ciceros De officiis. (26 ff.)

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 55 Der Patriot handelt von der Kunst, ein gutes Deutsch zu schreiben. In seine Ausführungen nimmt er einen größeren Absatz aus einer Schrift Johann von Bessers auf. Sie münden in die Formulierung von Regeln. Zum Beschluß gibt er das Ergebnis seines im 36. Stück erlassenen Preisausschreibens bekannt. Die Pflege des mündlichen und schriftlichen Gebrauchs der deutschen Sprache, der sich der Patriot schon in früheren 14»

206

Kommentare und Erläuterungen

Stücken angenommen hat, ist ein Anliegen, das viele Aufklärer und so auch viele Moralische Wochenschriften beschäftigt hat, — die etwa gleichzeitigen Vernünftigen Tadlerinnen Gottscheds wären ein Beispiel dafür. Diese Pflege steht sicherlich in der Tradition von Bemühungen der deutschen Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, auch wenn in den zitierten Äußerungen Bessers einige dort begangene Übertreibungen bei der Eindeutschung von Fremdwörtern gerügt werden (19,2ff.). Auch an die Bestrebungen der Hamburger „Teutsch=übenden Gesellschaft" darf erinnert werden, deren einstige Mitglieder Brockes, Fabricius und Richey zum Verfassergremium des Patrioten gehören. Bedeutsam bei der hier vom Patrioten betriebenen Sprachpädagogik ist einerseits, daß es sich jetzt vor allem um die Pflege der deutschen Prosa handelt (während die ,,Teutsch= übende Gesellschaft" z. B. auf poetische Ausarbeitungen, auf Versdichtung, Gewicht legte), und daß die entsprechenden Lehren nun nicht in einem kleinen exklusiven Kreis von Gelehrten und Liebhabern verhandelt werden, sondern im Rahmen der Wochenschriftenpublizistik einem großen bürgerlichen Publikum, namentlich auch dem weiblichen Geschlecht, nahegebracht werden. Die spracherzieherischen Bemühungen des Patrioten entsprechen den bald darauf einsetzenden großangelegten Aktivitäten Gottscheds zur Reinigung und Geschmeidigung der deutschen Prosa. Zu einer guten deutschen Schreibart gehören nach den Vorstellungen des Patrioten vor allem Klarheit, Reinheit, Natürlichkeit, Anschaulichkeit, Flüssigkeit und Nachdruck. Mit diesen Forderungen werden sowohl die altväterisch-umständlich-steife Manier des Kanzleistils als auch eine volkstümliche derb-drastische Ausdrucksweise und vor allem die hochgetriebene Künstlichkeit und Spitzfindigkeit, ausschweifende Figurensucht, Manieriertheit und Dunkelheit barocker Stilgesinnung verurteilt. Der Mittelweg zwischen Mattheit und Schwülstigkeit, Trockenheit und ausschweifen-

z» Jahrgang

2 /1725,

Stück 55

207

der Metaphorik wird empfohlen. Ganz im Sinne des Gottsched der 30er Jahre wird eine maßvolle Bildlichkeit (Gleichniß=Reden, so uns eine Sache ins Gesicht bringen 23,34) gefordert, fern von allem artistischen Bilderprunk. Bezeichnend für die Auffassung der Aufklärung ist das Inheziehungsetzen von klarem Denken und klarem sprachlichem Ausdruck. Die Kunst, wohl zu schreiben, folgt aus der Fertigkeit, ordentlich und wohl zu dencken (16,21 f f ) . Wer unnatürlich schreibt, denkt auch unnatürlich (17,4ff), und umgekehrt. Spracherziehung ist daher auch Verstandeserziehung. Zur Aufklärung der Menschen gehört ein klares, präzises sprachliches Instrumentarium. Gleichsam in eigener Sache spricht der Patriot, wenn er neben der Deutlichkeit einen reinen, muntern und netten Vortrag und damit zugleich leichte allgemeine Verständlichkeit für eine Darlegung verlangt. Demnach ist eines jeden Schrifft=Stellers nohtwendige Pflicht, seine Gedancken so leicht und begreifflich vorzustellen, daß man sie nicht allein ohne das geringste Kopff=brechen verstehen könne, sondern daß es auch blosserdings unmöglich sey, sie nicht zu verstehen (21,28ff). Das ist zugleich fast programmatisch für das Verfahren einer populären Publizistik, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zeichen der Aufklärung in Deutschland etabliert. Den Ausgangspunkt zu seinen Betrachtungen über die gute deutsche Schreibart bilden Einsendungen, die der Patriot aus dem Publikum erhalten hat. Er kommt im Schlußabschnitt, wo er dem eingesandten 53. Stück seinen Preis zuerteilt, auf diese Einsendungen und ihre sehr unterschiedliche Qualität zu sprechen. Für uns ist diese Stelle ein Beleg für eine tatsächlich stattgehabte große Resonanz aus dem Publibedeutsam kum, — eine Resonanz, die vor allem deswegen ist, weil sie offenbar, was bei anderen publizistischen Medien der Zeit nicht zu beobachten ist, die Leser aktiviert hat, — aktiviert zur Beteiligung an moralischen Erörterungen. Es

208

Kommentare

und

Erläuterungen

hat sich um den Patrioten offenbar so etwas wie eine Sphäre gemeinsamer Verständigung von Bürgern über allgemein interessierende Fragen gebildet. Daß das vorliegende Stück des Patrioten zu seiner Zeit maßgeblichen Einfluß erlangte, zeigt Johann Georg Hamanns Poetisches Lexicon. Dort wird im 5. Kapitel Regeln zum Schreiben in gebundener und ungebundener Sprache mehrfach auf den Patrioten und speziell auf sein 55. Stück hingewiesen. (Johann George Hamann, Poetisches Lexicon, oder nützlicher und brauchbarer Vorrath von allerhand poetischen Redensarten, Beywörtern und Beschreibungen, neue verb. Aufl. Aurich 1765. Die 1. Auflage Leipzig 1725.) Vf.

>

Motto Horaz, De arte poetica, 309. Schreibens ist vernünftige Klarheit."

„Prinzip

und Quelle

rechten

J ~J 20 von Besser Johann von Besser (1654—1729), Hofpoet und nienmeister in Dresden. Vgl. Stück 36.

Zeremo-

22—20,17: Aus: Vorrede des zweyten Druckes der väterlichen Instruktion des seligen Herrn Kolbens von Wartenberg von Anno 1696, in: Des Herrn von Besser Schrifften, Beydes in gebundener und ungebundener Rede, andere Auflage, Leipzig 1720, S. 54—57. Jg

31 Ronsard Pierre de Ronsard (1524-1585), franz. Dichter, Haupt der ,,Plejade"; versuchte, die französische Sprache durch Neubildungen und Übernahme lateinischer und griechischer Formen auf die Höhe der klassischen Sprachen zu erheben.

^ C) 11 Fruchtbringenden Gesellschafft Fruchtbringende Gesellschaft, wichtigste deutsche Sprachgesellschaft des 17. Jhs., gegründet 1617 in Weimar von Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen nach dem Vorbild der florentinischen „Academia della crusca". 2 0

12 Anagrammata stabenumstellung.

22

Denham John Denham (1615—1669) engl. Dichter, Schöpfer neuen Art landschaftsbeschreibender Poesie.

Anagramm

(gr.): Wortverrätselung

durch

Buch-

einer

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 56

209

17—20: Die zitierten Verse stammen aus Denhams Gedicht Cooper's Hill (London 1642, endgültige Version 1655). Sie lauten im Original: O could I flow like thee, and make thy stream My great example, as it is my theme! Though deep, yet clear; though gentle, yet not dull; Strong without rage, without o'erflowing full. Die Übersetzung der Verse stammt von Chr. Fr. Weichmann, vgl. Poesie der Niedersachsen, Bd. 1, S. 307. 22

Tragödie des Seneca Lucius Annaeus Seneca (vermutl. 4—65 n. Chr.). Unter seinen neun Tragödien befindet sich auch ein Oedipus.

Stück 56 Das Stück liefert eine Reihe von Anekdoten aus der Weltgeschichte und sucht Nutzanwendungen daraus zu ziehen. Die Vorrede bezeichnet den Text als eingesandt und nach einer neuen Arth geschrieben (26,3), am Schluß spricht der Einsender, der das Ganze im Namen des Patrioten formuliert hat und vorgibt, sein Material zufällig gefunden zu haben davon, sein Blatt sei fast zu einem bunten Schau=Gerichte geworden und er wisse nicht, wie dies dem Leser schmecken werde. In der Tat ist das Vorgelegte in der Durchformung nicht recht gelungen. Es handelt sich offenbar um einen Versuch, historische Anekdoten und Apophtegmata, wie sie vor allem im 17. Jahrhundert in gedruckten Sammlungen — etwa den Acerra philologica — beliebt waren und zur Entflechtung in geistreiches Gespräch benutzt wurden, zu moralischer Erbauung auszumünzen. Da gibt es die Anekdote von Philipp II. von Spanien (27,5ff.); sein lakonisches bon mot soll hier den Leser zu Mäßigung und Geduld bewegen. Ähnlich dient die scharfsinnige Antwort des Sokrates dem Leser als Mahnung zur Wahrheitsliebe. Mit den Geschichten von den drei Günstlingen, vom Vizekönig von Mexico sowie von Mäcenas, Agricola, Petrus Seguier, Richelieu usw. folgt eine ganze

210

Kommentare

und

Erläuterungen

Reibe von Anekdoten, die alle auf das Verhältnis von König und königlichen Dienern anspielen. Moral: ein Fürst braucht redliche und kluge Minister und Gefolgsleute; ein kluger Herrscher wählt sie nach ihren Fähigkeiten und Tugenden. Das ist ein Thema, das später Carl Friedrich von Moser in seinem Traktat Der Herr und der Diener (1759) abhandeln wird. Auch das — von J. M. von Loen in Romanform ausgestaltete — Motiv des redlichen Manns am Hofe, einer Wunschvorstellung im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, ist im Spiele. — Die Anekdote vom salomonischen Urteil Karls V. in Brüssel (30,9ff.) ließe sich ebenso wie das Scherzwort Heinrichs IV. von Frankreich (31,7ff.) zur Not als eine Mahnung gegen übertriebene Eitelkeit auswerten, das boshafte bon mot über die typographische Abkürzung von „omnia vanitas" als eine Warnung vor Verschwendung und Eitelkeit. Der Schlußsatz des Beitrags will daran erinnern, daß alles Gelesene und Gehörte eine Lehre enthalte und moralisch genutzt werden solle, — ein Gedanke, unter dem im 18. Jahrhundert auch Geschichtsschreibung zur erbaulichen Lektüre empfohlen werden konnte. Wieweit bei den im vorliegenden Stück beigebrachten Geschichten aus der Welt der Fürsten und Höfe für den bürgerlichen Leser wirklich Erbauliches abfallen konnte, steht dahin. Bemerkenswert ist im vorliegenden Fall, daß es sich nicht um kurze moralische Erzählungen oder um eigens konzipierte moralische Anekdoten handelt, sondern um offenbar bereits existierendes anekdotisches Material, dem nun, z. T. etwas mühsam, neben dem Unterhaltungswert ein moralisch lehrhafter Sinn abgewonnen wird. Interessant ist ferner, daß der Patriot in der Buchfassung von 1728/29 durch einen Einschub sich ein wenig von der sehr lockeren Form des Ganzen distanziert hat.

zu Jahrgang 2 /1725, Vf.

J. A. Hoffmann

211

Stück 56

(?)

Motto Livius, Ab urbe condita libri, Praefatio §10. — ,,Das freilich war besonders in der Erkenntnis der Dinge heilsam und fruchtbar, die Beispiele, an glänzenden Orten dargestellt, sehen zu lassen. Davon sollst du für dich und deinen Staat das Nachahmenswerteste aufnehmen, das Abstoßende aber, sei es zu Anfang oder am Ende, vermeiden." 1-4: 5

fehlt

B.

mich / vertreten] gewandelt B.

18—21 durch einander; deßwegen . . . Es sind] durch einander. Ich habe es nur leicht und obenhin an einander gehefftet, und gebe mir die Freiheit, meinen Lesern damit für dießmahl in solcher Gestalt eine Veränderung zu machen. Vielleicht finden sich einige, die ihren Geschmack an dergleichen Mischung gestreueter kleinen M e r k w ü r d i g k e i t e n vergnügen. Diesen zu gefallen werden die Liebhaber eines Aufsatzes, der einträchtig und besser gebunden ist, sich heute ihres eigenen Appetites nicht eben mercken lassen. Es sind B. 5 nien.

Philippus der Andere

Philipp II. (1527-1598),

18

Frau Z o r n i g i n ] Frau v o n R a p p e l s t e i n B.

König von

Spa-

1 Phocion Phokion (der Gute) (402—318 v. Chr.), attischer Stratege und Politiker, einer der Führer der promakedonischen Opposition gegen Demosthenes. Plutarch (32,6) überliefert, daß Ph. „lieber Unrecht leiden als Unrecht tun wollte." 2 Demosthenes D. (383 —322 v. Chr.), bedeutender sich für die Selbständigkeit des Polis-Staats Athen ein.

Redner,

setzte

7f. den Fuchs=Schwantz fein gelinde streichen „Den Fuchsschwanz streichen, figürlich im gemeinen Leben, schmeicheln, besonders wenn solches zum Schaden eines Dritten geschiehet." (Adelung). 27i. ein gewisser Spanier an den damaligen Vice-König von Mexico Anspielung nicht aufklarbar. 15 Agricola Gnaeus Julius Agricola (40—93 n. Chr.), röm. Feldherr und Statthalter in Brittannien; Tacitus, Schwiegersohn des Agricola, verfaßte seine Biographie. Statisten

Statist:

Staatsmann.

212

Kommentare und Erläuterungen

20 Petrus Seguier Herzog von Villemor (1588-1672), präsident, 1635 Kanzler von Frankreich.

Parlaments-

30 Sully Maximilien de Bethune, Herzog von Sully (1560—1641), franz. Minister; kämpfte seit 1576 in den Hugenottenheeren. 35

Carol der V.

Karl V. (1500-1558), 1519 zum Dt. Kaiser gewählt.

8f. Henrich der IV. Heinrich von Navarra (1553-1610), seit 1589 als Heinrich IV. König von Frankreich.

Stück

57

Der Patriot stellt kommentarlos drei verschiedene Briefe vor, die vermutlich echte Einsendungen sind. Der erste Brief knüpft an das Stück 19 an, das den prozessierlüsternen Advokaten Starrkater charakterisiert hatte. Der Briefschreiber wendet sich seinerseits gegen den Hang, ständig Rechtshändel auszufechten, und weist auf den großen Schaden solcher unnützer Streitigkeiten für das Gemeinwesen hin. Im zweiten Brief bezieht sich die Patriotische Gesellschafft zu Christianstadt auf im 46. Stück entwickelte Gedanken über die Zufriedenheit. War dort vor allem mit Argumenten der Theodizee und mit physikotheologischen Erwägungen die Pflicht des Menschen zur Zufriedenheit hervorgehoben worden, so sucht die genannte Gesellschaft, ganz im Sinne ihres gewählten Namens, die Zufriedenheit vor allem in christlicher Gläubigkeit. Nicht aus der vernünftigen Erwägung heraus, daß Unglück und Not auch Positives mit sich führen könnten und Reiche und Vornehme auch ihre Nöte und Lasten hätten, soll der Mensch zufrieden sein, und auch nicht die Teilhabe jedes Menschen an der Gabe der fünf Sinne muß ihn zu Dankbarkeit und Zufriedenheit bewegen, sondern die demütige Hingabe in Gottes Willen, die völlige Überlassung des Selbst an Gott, — die ,,Gelassen-

zu Jahrgang

2 /1725,

Stück 57

213

heit" im alten Sinne des Sich-Gott-überlassen-Habens. Wer nichts begehret, als was G O T T will, der ist mit allem zufrieden, was er von der Hand dieses liebreichen Vaters empfahet (36,21 f f . ) . Er führt in seinem Amt und Stand ein gottseliges Leben und sorgt sich nicht um die Zukunft. Gott ist seine Kraft und sein Ziel. — Mit diesen Ausführungen korrigiert der Brief die vernünftigen Betrachtungen des Patrioten im Sinne altchristlicher Auffassungen. Der Patriot mag sie nicht als Korrektur, sondern als Ergänzung zu seinen Darlegungen abgedruckt haben. Eindeutig jedenfalls ist die hier empfohlene Tugend der Zufriedenheit noch ein Stück christlicher Frömmigkeit. Der dritte Brief verurteilt das studentische Sauf- und Duellierwesen, ein mit bestimmten Auffassungen von Standesund Korporationsehre verknüpftes Unwesen, das sich in deutschen Landen bis ins 20. Jahrhundert in Mensur enschlagen und trinkerischem Bescheidtun gewisser studentischer Corps tradiert hat. Die Geschichte von Ebriolus und Sobricosus illustriert die traurigen Folgen solcher akademischen Sitten. Der Brief ist bezeichnenderweise von Jena datiert, das damals renommiert war als Universitätsstadt der Schläger und Raufbolde. Auch in F. W. Zachariaes komischem Epos Der Renommiste (1744) ist der Held — namens Raufbold — ein Jenenser Student.

Vf.

(Einsendungen)

Motto Juvenal, Saturae 1,85/86. - „Was die Menseben treiben, ist Inhalt unseres Büchleins." Der Tatler 1709 benutzte dies Motto gleichbleibend für seine ersten Stücke. 7 Schmlhsucht unsrer Zungen-Drescher] Schmah-Sucht, wie vielleicht eines gewissen Feder-Fechters insonderheit, also überhaupt unserer Zungen-Drescher B. 20

Eudoxius

„Ehrenreich".

214

Kommentare und Erläuterungen

^¿j. 14 Krieg bey Canna Schlacht bei Cannae 216 v. Chr., Niederlage Hannihals gegen Rom. ^tj

13

Friedensburg

14

Philander „Menschenfreund".

'yj 30 21

vermutlich fingierter

Christianstadt

Ebriolus

vernichtende

Ortsname.

vermutlich fingierter

Ortsname.

„Trunkenbold".

Sobricosus

„Nüchtermann".

E b r i o l u s und S o b r i c o s u s ] in B. durchgängig S t ü r t z e b e c h e r 21 ff. und M a ß l i e b . 30 ¿J.Q (5ff.)

Dorf-Teuffei

Schnapsart.

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten siehe Erl. zu Stück 98.

Stück

58

Das Stück präsentiert eine Reihe von Gestalten, die ihre Lasterhaftigkeit jeweils zu bemänteln suchen. Es handelt sich um eine Revue verhältnismäßig ausführlich gezeichneter moralischer Charaktere. Den Beschluß bilden erbauliche Regeln. Alle sieben Charaktere führen sprechende Namen. Besonders bemerkenswert ist das Porträt des Großhaupt als eines mächtigen Ministers. Etwas ähnliches dürfte in Wochenschriften fürstlicher Territorien nicht zu zeichnen gewagt worden sein. Hier wird der Druck auf die Untertanen, ihre Rechtlosigkeit, die rücksichtslose Machtausübung der Großen in absolutistisch regierten Staaten deutlich beim Namen genannt. Das Porträt ist mit seiner scharfen Kritik an politischem Machtmißbrauch den Ausführungen über verantwortungsloses fürstliches Regiment im Stück 53 zur Seite zu setzen; es entstammt im übrigen dem gleichen Verfasserkreis.

zw Jahrgang

2 / 7725, Stück JS

215

So wenig das Porträt des Großhaupt in Hamburger Verbältnisse paßt, so wenig das des offenbar aristokratischen Wilderich, der seiner Profession nach ein Soldat ist. Die übrigen fünf Charaktere dagegen sind durchaus auch in Hamburg anzusiedeln, namentlich der Pamphletenschreiber und Ketzermacher Haberecht; die Flugschriften gegen den Patrioten sind damals nicht die einzigen gewesen, mit denen streitbare Theologen gegen Andersdenkende zu Felde zogen. Noch Lessing hat hier später einschlägige Erfahrungen gemacht. Hervorzuheben ist die Qualität der Schilderungen. Die Charaktere werden in verschiedenen Situationen zumeist anschaulich gezeigt, ihr Verhalten ist treffend ausgemalt. Ein kleines Kabinettstückchen ist z. B. die Schilderung der Manieren und Gepflogenheiten von Eitelsinn (44,31 f f ) . Es kommt hier, satirisch-ironisch gefärbt, zu einer „moralischen Realistik", wie sie in der bildenden Kunst etwa die Kupferstiche Hogarths auszeichnet. Auch bei Sauffejus und Geitzenau sind, stets mit moralisch-satirischer Zielsetzung, Fabulierfreude und Lust am Drastisch-Komischen zu beobachten. Die Nähe dieser moralischen Charaktere zu Komödienfiguren, wie sie die satirische Verlachkomödie der Aufklärung auf die Bretter stellt, ist unübersehbar. Geilemine ist z. B. ohne weiteres in der Rolle einer Betschwester auf der Lustspielbühne vorstellbar. Bemerkenswert, daß alle 7 vorgestellten Personen nach außen hin als fromm erscheinen. Sie versäumen keinen Gottesdienst und folgen ihm scheinbar andächtig. Sie sind eifrige Verfechter der Religion, lesen in erbaulichen Büchern und beobachten mit Genauigkeit ihre Betstunden, — etwas, was in der Regel von tugendhaften Charakteren in Wochenschriften nicht eigens erwähnt wird. Man gewinnt hier den Eindruck, Kirchlichkeit und regelmäßiges Gebetsleben sei fast schon etwas Verdächtiges. Freilich lassen die angehängten Regeln eine solche Deutung in keiner Weise zu. Sie heben

216

Kommentare und Erläuterungen

gerade christliche Gesichtspunkte hervor, wenn sie auf die Ewigkeit verweisen (50,15), von den verderbten Neigungen des Menschen und dem notwendigen Kampff dagegen sprechen (50,24ff.), vom Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen usw. Von der Kraft der Vernunft zur Selbstbesserung ist nicht die Rede. Der vorletzte Satz desavouiert vielmehr die von der Aufklärung und auch vom Patrioten selber postulierte Fähigkeit des Menschen, sich kraft seiner Vernunft zur Tugend zu entscheiden und sich zu wandeln, wenn dort vom Unvermögen und der verderblichen Natur des Menschen die Rede ist, vor welcher man nur in der unermeßlichen Gnade Gottes Zuflucht finde. — Wie aus Stück 59 (52,9) hervorgeht, handelt es sich bei dem vorliegenden Text denn auch wiederum um eine der Einsendungen der Patriotischen Gesellschaft zu Christianstadt, die den altchristlichen Auffassungen besonders gern Raum geben. Vf.

(Einsendung)

Motto Palingenius. Stelle nicht nachweisbar. - „Jeder gefällt sich seihst und hält sich für klug. Dadurch reizen wir die Götter zum Lachen und daher auch rühret der größte Irrtum." 44

48

34 Casaquinen von frz. casquin; „kleiner, kurzer und enger Überrock, den man im Hause zur Bequemlichkeit anziehet" (Adelung). 18

Anzüge] Ankleiden B.

35

Covent

Dünnbier.

14 die 4te Bitte gemeint ist die vierte Bitte des Vaterunsers („unser tägliches Brot gib uns heute").

zu. Jahrgang 2 /1725,

Stück

Stück 59

217

59

Der Patriot berichtet von der Patriotischen Gesellschafft in Christian=Stadt und referiert über Zuschriften von der Patriotischen Assemblée zu Merseburg. Christian=Stadt dürfte nicht ein bestimmter kleiner Ort in der Niederlausitz, sondern eine fingierte Stadt mit sprechendem Namen sein; mehrere der vom Patrioten hier genannten Beiträge der Patriotischen Gesellschaft in Christian=Stadt vertreten deutlich die alte christliche Tugendlehre. Ob die Patriotische Assemblée zu Merseburg, zu deren hier (53,33) genannten Mitgliedern später noch weitere kommen (vgl. III, 389,7ff.) und die ihren Sitz dann auch mit Liebenseeburg angibt, eine reine Fiktion aus der Feder des aus Merseburg stammenden Johann Ernst Philippi ist, wie mit guten Gründen vermutet wurde (vgl. Scheibe, S. 60ff.), muß offen bleiben. Vielleicht ist doch mit einem wirklich existierenden kleinen Kreis von Lesern des Patrioten zu rechnen, auch wenn seine unter verschiedenen Namen abgesandten Briefe und Beiträge tatsächlich alle von der Hand Philippis herrühren sollten. Ob die ebenfalls genannten Merseburgischen Patriotinnen (60,6f.) allerdings einen realen Kern haben, ist höchst zweifelhaft. Jedenfalls aber sind, wie es sich auch im einzelnen verhalten mag, die hier vom Patrioten genannten Korrespondenten oder Korrespondentengruppen ein wichtiges Indiz für die Resonanz der Zeitschrift außerhalb Hamburgs. Das aufklärerisch-moralische Anliegen fand ein Echo. Es motivierte Leser zu gemeinsamer Erörterung der aufgeworfenen Fragen und zur Mitarbeit an dem, was offenbar als eine gemeinsame Aufgabe empfunden wird: an der Aufklärung und Besserung der Mitbürger. Was der Patriot nach der Vorstellung der beiden Gesellschaften von den Briefen des Herrn Mieport mitteilt, ist gleichsam abgekürztes Inhaltsreferat. Auf den Abdruck der

218

Kommentare

und

Erläuterungen

vollständigen Brieftexte ist verzichtet, zumal Mieport gelegentlich au-ch anderer Meinung gewesen zu sein scheint als die Verfassergesellschaft des Patrioten. Das von ihr aus den Briefen Angeführte zeigt, daß es sich stets um die Auseinandersetzung mit einzelnen Stücken des Patrioten handelt, — um Resonanz in Form von Zustimmung oder von Einwendungen, Ergänzungen, Vorschlägen und gutem Rat, — letzteres besonders was die Kindererziehung angeht. Das artige Exempel bei der Erklärung dessen, was denn ein Edelmann für ein Ding sey (59,2f.), schiebt kindliche Einfalt vor, um ein wenig am Privileg des Geburtsadels zu kratzen. Vf.

(Einsendungen)

Motto Vergil, Aeneis VIII, 56. — ,, Diese führe deiner Partei als ten zu, mache sie zu Freunden."

53

25

26

Sincerinus

„Aufrichtig".

Philander



Theogenes



Theophilus

Menschenfreund". Gottesmann". „Gottlieb".

33 Mieport, Pallatin, Briontes wohl nicht als sprechende verstehen; zu Jephilandro vgl. Erl. zu I, 131,21.

54

31

Hn. Schmalwitz

56

19

Er] Herr M i e p o r t B.

57

1

Seiger

9

Herrn M i e p o r t ] desselben B.

59

Gefähr-

Namen zu

vgl. Stücke 9 und 16.

Uhr.

17 Carousselle Caroussell, „ein Ritterspiel, so aus allerley mit Wagen und Pferden bestehet, und ein Überbleibsel der alten ist". (Adelung).

Übungen Thumiere

zu Jahrgang 2 / 7725, Stück 60

Stück

219

60

Das Stück stellt in ausführlicher moralischer Charakteristik einen rechtschaffenen Landedelmann vor. Ein tugendhafter Landadliger ist dem Patrioten — wie allen anderen deutschen Moralischen Wochenschriften — stets eine erfreuliche Erscheinung (im Gegensatz zum immer verdächtigen Hofadligen). Auch wenn Wochenschriften in Bürgerstädten erscheinen und weitgehend bürgerliche Wertvorstellungen entwickeln, bleibt ihnen vernünftiger ländlicher Adel sympathisch; ihm fühlt sich der besitzende Bürger offenbar nahe in Weltanschauung und Lebensstil, trotz bestehender Standesunterschiede und differierender ökonomischer Interessen. Anders wäre es auch nicht zu erklären, warum die fiktive Verfassergestalt des Patrioten selber als Landadliger konzipiert ist, der nur in Hamburg eine zweite Heimat gefunden hat. Die Vorstellung von einem glücklich-harmonischen, gesunden und zufriedenen Leben auf dem Lande mögen allgemein genährt sein von der traditionellen, auf Vergil und Horaz zurückgehenden Landlebenpoesie. Die berühmten Coverley-Papers des Spectator, in denen der liebenswürdige alte Junker Sir Roger de Coverley auf seinem Gutsbesitz vorgestellt ist ("Spectator, Nr. 106ff.), dürften ihrerseits das Bild vom würdigen Landedelmann in den deutschen Wochenschriften mitbestimmt haben. Aber auch die zeitgenössische historische Wirklichkeit mit einem ländlichen Adel, der sich dem Einfluß des Hoflebens ferngehalten hatte und oft fromme Lebensführung an den Tag legte, dürfte sich hier spiegeln. Das vom Patrioten vorgestellte Muster eines Landedelmanns, Theophilus, erinnert übrigens stark an den tugendhaften Sophroniscus, der wenige Jahre später (1727) im Gottschedschen Biedermann (Stück 2 f f . ) porträtiert ist. Hier sei nur auf einige wichtige Züge im Bild des Theophilus hinge15

D e r Patriot, Bd. IV

220

Kommentare

und

Erläuterungen

wiesen, — Züge, die ihn dem aufklärerisch-bürgerlichen Lebenskonzept nahe zeigen. Zunächst: Er hat nichts vom ungebildeten, nur an der Jagd, an Pferden und Hunden interessierten, mit Spiel und Trunk sich vergnügenden Junker, Schuldenmacher und Leuteschinder, den einige deutsche Wochenschriften im 18. Jahrhundert auch zu zeichnen wissen. Er zeigt keinen Standesdünkel und keine spezifisch herrenmäßige Ehrauffassung. Er ist vielmehr maßvoll in seiner Lebensführung, meidet jeden Aufwand, alles äußerliche Gepränge, modischen Aufputz und Repräsentation; weder hält er sich Bediente zur Zierde noch bespannt er seine Kutsche mit mehr Pferden als zum Ziehen erforderlich. Mit diesem Verzicht auf alles äußerliche Sich-in-GeltungSetzen zur Rangbehauptung ist eng ein ökonomisches Moment verknüpft. Theophilus versteht sich auf die Ökonomie, er hält in seinem Besitz Ordnung und sieht auf den Nutzen, — auch sein Garten ist nicht nur ein Ziergarten, ergetzlich, sondern auch ein Nutzgarten, eintraglich (64,12). Er treibt nicht standesgemäß Ausgabenwirtschaft, ohne zu fragen, woher das Geld kommt, sondern er verfährt überlegt, sparsam, vorsichtig im Einkaufen und Verkaufen (66,9f), so wie es auch ein bürgerlicher Kaufmann halten würde. Dem entspricht seine Solidität. Sie spiegelt sich in seinem Wohnhaus und vor allem in den Wirtschaftsgebäuden. Sie sind durchgehends fest, bequem und dauerhafft erbauet (63,9f.), denn die Wirtschaft ist das Fundament seiner Existenz. Es nimmt nicht wunder, daß dieser Adlige keine Arbeit meidet (65,1), ja daß er arbeitsam und Gewissenhafft genannt wird (67,9f.) und daß er seine Wohltätigkeit gegenüber Armen und Bettlern in der Form von Arbeitszuweisung ausübt. Daß er gereist ist, sprachkundig ist, die Wissenschaften schätzt und wohl zu reden und zu schreiben weiß, rundet das Idealbild. Übrigens ist Theophilus auch fromm; er hält die Betstunde ein, freilich nur mit seiner engeren Familie, während das Gesinde getrennt davon zu eigenen Andachtsstunden angehal-

221

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 61

ten wird, — ein Zeichen, daß hier die Einheit des ,,ganzen Hauses" zerfallen ist. — Schließlich ist noch eines wichtig: Theophilus hat keine öffentliche Bedienung (64,31), das heißt er steht nicht in fürstlichen Diensten, er ist unabhängig. Gleichwohl entzieht er sich nicht Aufgaben des Gemeinwohls und zudem kennt er sich aus in den Gesetzen des Landes und in seiner Verfassung. Dieser musterhafte Landadlige ist nach Lebenszuschnitt und Gesinnung einem selbstbewußten soliden besitzenden Bürger durchaus nahe. Man könnte sein Charakterporträt neben das des vorbildlichen Bürgers Pasiteles stellen, das im 155. Stück des Patrioten dem Publikum gleichsam als Vermächtnis vorgerückt wird. Vf.

?

Motto Mant. Ecl., Stelle nicht nachweisbar. — „Ein rechtschaffener Mensch ist selten. Man findet ihn in nur wenigen Städten und in nur wenigen Landstrichen. Die Tugend ist äußerst selten." ^^

30 Assietten „ E i n Französisches Schüsseln zu bezeichnen" (Adelung). 10

57

eine Art kleiner

zinnerner

Verkehrung] Umsatz B.

11-13: (14 ff.)

Wort,

fehlt

B.

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 61 Der Patriot stellt mittels zweier Traumschilderungen trachtungen über das menschliche Unvergnügen an. Der erste Traum zeigt, angelehnt an B. de Fontenelles la Pluralité des Mondes, die Weltkugel mit ihrer bunten pographie und ihren verschiedenen Bewohnern. Der tt*

BeDe ToBe-

222

Kommentare

und

Erläuterungen

fund: So ungleich diese Erdbewohner nach Hautfarbe, Mode und Religion sind, so ähnlich sind sie sich doch in ihrer Unvernunft. Die gleichen Dinge erscheinen ihnen in ihren Wunsch vorStellungen herrlich, in ihrem Besitz aber plötzlich gering. Menschliche Unzufriedenheit ist also das Ergebnis einer schwankenden, törichten Sehweise. Die Zufriedenheit hängt nicht an den Sachen und Umständen, sondern an der inneren Einstellung des Menschen. Der zweite Traum, der dem Patrioten von seinem Freunde Hieronymus von Kummerfeld erzählt wird, lehrt das gleiche. Wir sehnen uns nach einem Traumglück und erkennen nicht das gegenwärtige uns bescherte wirkliche Glück. Im Schlußwort mahnt der Patriot, einen Satz des Predigers Salomo bemühend, seine Mitbürger, dankbar das jedem gegebene Glück zu erkennen und zu genießen. Wiederum ist zu sagen: Die Zufriedenheit des Menschen mit seinem Zustand ist eine Forderung, die dem optimistischen Weltbild der Aufklärung entspricht. Der Mensch lebt in der von Gott in bestmöglicher Weise geordneten Welt. Das Wesen dieser Welt ist Harmonie. Unzufriedenheit würde diese Harmonie stören und wäre ein Zweifel an der göttlichen Weisheit. — Daß eine solche Weltauffassung ein quietistisches Element in sich birgt, welches Veränderungshoffnungen den Boden entziehen und, linksmodisch formuliert, der Affirmation der gegebenen sozialen und politischen Zustände dienen könnte, ist nicht zu übersehen. Andererseits läßt diese Auffassung durchaus Raum für die moralischen Besserungsbemühungen am einzelnen Menschen, denen sich der Patriot hingibt. Vf.

B. H. Brockes

Motto Lukrez. Möglicherweise Variation einer Stelle in De rerum natura (IV 453ff.) durch einen späteren Autor. — „Wenn ausgebreiteten Schlafes die Ruhe die Glieder niederdrückt, spielt doch der Sinn unbeschwert. Im Dunkeln verfolgt er, was er am Tage sah."

zu Jahrgang Motto

B

2 /1725,

Stück 62

223

D I S P I C E , AN TU Q U O Q U E SUB HOC E X E M P L O SOMNIUM ISTUD IN

BONUM VERT AS.

PLIN.

Plinius (d.}.), Epistulae 118,5. — „Prüfe, Traum zum Guten wenden kannst."

ob du auch in diesem Falle

diesen

¿.0

2 Herrn Hoffmanns schönem Buche von der Zufriedenheit Erl. zu I, 67,19f.

^CJ

11 Herrn Fontenelle Bernard le Bovier de Fontenelle (1657-1757), populärphilosophischer Schriftsteller, bekannt geworden vor allem durch seine Entretiens sur la pluralité des mondes, Paris 1686.

74

32

weisse, und] weisse, da braune, und B.

34

von gewundenen Bünden

14

ff-

(17ff.)

was Salomo schreibet Zu den auswärtigen

von Spr.

vgl.

Turbanen. 20,14.

Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 62 Der Patriot spricht ausführlich über die Macht der bösen Gewohnheit und über die Mittel, sie zu besiegen. Es handelt sich um ein Stück verhältnismäßig trockener allgemeiner Moralphilosophie ohne ein auflockerndes, scherzhaftes Element. — Bezeichnend ist an den Darlegungen eine Einmengung auch von christlich-religiösen Vorstellungen. Böse Gewohnheit entsteht, wenn von der vernünftigen Natur des Menschen abgewichen wird (75,9ff.), wenn sich die Begierden an statt des Verstandes und vernunfftigen Willens auf den Thron setzen, so heißt es einerseits. Andererseits ist aber auch der Fall, d. h. der Sündenfall des Menschen, Mitursache an der üblen Gewohnheit (75, 12ff.), ja von der Macht der Finsterniß ist die Rede (77,15), die auf der Seite der schädlichen Gewohnheit sei, — für den Christen eine Umschreibung für die Macht des Teufels. Entsprechend sind auch die Mittel, der bösen Gewohnheit zu wehren, heterogen. Die Geschichte der alten Welt ist ein

224

Kommentare und Erläuterungen

Spiegel des Kampfes der guten Kräfte gegen die böse Gewohnheit; die vernünfftige Natur (79,21) der alten Völker hat sich gegen das Böse immer wieder verteidigt; die alten Ägypter haben schließlich der Vernunft gehorcht und sind von bösen Verirrungen wieder auf den rechten Weg gekommen; die klugen heidnischen Griechen und Römer schufen vernünftige Gesetze gegen die üblen Sitten; vernünftige Natur, vernünftige Eigenliebe erhebt sich immer wieder siegreich zur Erhaltung des Guten (77,27ff). Aber es ist auch göttliche Gnade mit im Spiel. Gott hat nicht nur durch Vermehrung der Wissenschaften dem bösen Wesen einen Damm entgegengesetzt, sondern auch durch seine Gottliche Erkenntniß unter den Menschen (78,35). Der Gebrauch der Vernunfft und zugleich die Erleuchtung des Christenthums halten der bösen Gewohnheit das Gegengewicht (79,7ff). Wie so oft im Patrioten und in anderen Moralischen Wochenschriften stehen also hier noch philosophische Vernunft und göttliche Offenbarung als Verbündete nebeneinander. Freilich hat im vorliegenden Stück die menschliche Vernunft insgesamt doch die Vorhand. Das besagt schon der gesperrt gedruckte Schlußsatz: Man müsse nicht so wohl nach der Gewohnheit, als nach der Vernunfft, leben. Das besagt ferner der Hinweis auf die vernünftigen Heiden sowie auf die vernünfftigen Vorstellungen des Spectator (82,29ff). Nicht also Buße, innere Einkehr, Gebet, ein Leben in der Nachfolge Christi werden letztlich anempfohlen, sondern ein Verbleiben der Menschen in den Schrancken ihrer vernünfftigen Natur (82,18f.). Denn der Mensch habe von Natur etwas Heilsames in sich, nach dem er sich richten kann (81,32ff.); das mache seine Menschlichkeit aus. — Der Begriff von der Würde des Menschen, der sich vermittels seiner Vernunft selbst bestimmen und lenken kann, fällt hier noch nicht, aber er liegt sehr nahe.

zu Jahrgang Vf.

225

2 / 772.5, Stück 63

?

Motto Cicero, De legibus I 10,29. — ,,Wir erkennen nämlich, daß die Menschen zur Gerechtigkeit geboren sind und daß das Recht nicht auf bestimmten Übereinkünften, sondern in der Natur begründet sei. Was aber, wenn die Verkehrung des Sprachgebrauchs, wenn die Verschiedenartigkeit der Meinungen die Schwäche der Geister hervortreten ließe und ihr jede Wendung gestattete? Niemand wäre sich selbst so ähnlich, wie es alle allen sind." 2 Narcissus ein unter Kaiser Claudius reichgewordener ner, gestorben 54 n. Chr. 22 Einen GOTT Schöpfergott.

gemeint

wohl Re, der altägyptische

33 f. Isis. . . Osiris . . . Canopus . . . Apis. . . Serapis Gottheiten.

Freigelasse-

Sonnen-

und

altägyptische

20 Charondas Gesetzgeber des archaischen Griechentums in der 2. Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. — Draco Drakon, bedeutender athenischer Gesetzgeber des 7. Jhs. v. Chr. — Lycurgus Lykurgos, Begründer der spartanischen Verfassung im 4. vorchristlichen Jh. 22 13

Numa

Numa Pompilius,

legendärer

Recht muß doch Recht bleiben

23

jener] jene B.

25

Minos

Ps.

zweiter König von

Rom.

94,Ii.

mythischer König und Gesetzgeber

von

Kreta.

26 Cadmus Kadmos, der Sage nach Gründer und erster König Thebens. - Cadmus] Charondas B. - Cebes Kebes von Theben, Philosoph, Schüler des Sokrates. - Theophrastus Theophrastos von Eresos (371 -278 v. Chr.), Nachfolger des Aristoteles als Leiter der Philosophenschule.

Stück 63 Der Patriot handelt von den Bildungsreisen junger Leute. Er tut das neben allgemeinen lehrhaften Überlegungen mittels einer moralischen Charakterschilderung auf dem Über-

226

Kommentare

und

Erläuterungen

gang zur kleinen moralischen Erzählung, einer Liste von Verhaltensregeln und, eines satirischen Briefs. Daß Söhne begüterter Bürger eine Bildungsreise antraten, die sie nach Frankreich, Italien, eventuell auch nach Hollandführte (kaum jedoch schon nach England!), ist offenbar damals in Hamburg nicht ungewöhnlich gewesen. Wir wissen von einer solchen Bildungsreise des junge Brockes. Mit derartigen Unternehmungen dürfte das reiche Bürgertum der Sitte der Kavalierreisen junger Aristokraten nachgeeifert haben. Der Patriot steht solchen Reisen sehr reserviert gegenüber, nicht nur aufgrund seiner Abneigung gegen aristokratischhöfische Lebensart. Seine Befürchtungen betreffen mehreres: Die jungen Leute reisen schlecht vorbereitet in die Fremde; sie bringen von dort unheilvolle Begriffe und Sitten mit nach Haus; und sie vergeuden in der Fremde Geld, das damit der eigenen Stadt entzogen wird. Das Beispiel von Reisedümmgen spricht ebenso für sich wie der satirische Brief, in welchem Kilian Postwurm stolz von den nichtswürdigen Erfahrungen seiner Bildungsreise berichtet, an deren Ende auch noch Wechselschulden stehen. Kennzeichnend für das ,,patriotische", das Gemeinwohl berücksichtigende Interesse der Wochenschrift ist, daß der Patriot nicht nur den Eltern hoffnungsvoller Söhne ins Gewissen redet, sondern daß er gesetzliche Regelungen zum Bildungsreisewesen anregt (87,16ff.). Um bösen Folgen vorzubeugen, empfiehlt er, den Söhnen erfahrene Begleiter nach Art der Hofmeister junger Adliger mitzugeben, die freilich nicht wie Domestiken bezahlt werden dürften. Im übrigen hält er viel von guter Ausbildung in der eigenen Stadt. Die 24 Regeln (90,13ff.) sind kulturgeschichtlich recht aufschlußreich. Bezeichnend für die Bildungsabsichten des Patrioten ist sein Rat, nicht nur hervorragende Persönlichkeiten in der Fremde aufzusuchen und die öffentlichen Ge-

zu Jahrgang

2 /1725,

227

Stück 64

seize und Einrichtungen eines Landes zu studieren, sondern dort auch fleißig in die berühmten Kaffeehäuser und die unterschiedlichen geschickten Versammlungen (91,5) zu gehen, — in einen Bereich, in dem bürgerliche Öffentlichkeit sich debattierend zu formen beginnt. Vf.

t

Motto Seneca, Ad Lucilium, epistulae morales 28,2. — „Was verwundert es dich, daß dein Umherschweifen dir nichts nützt, da du dich doch seihst dabei nicht loswerden kannst." entstehen 29

mangeln,

fehlen.

politsch] polit B. Hier im Sinne von

g 7

2Cf. Receß von (Bürgerschluß) — die che — brachte etliche gültigen Stadtrechtes

9 |

18

92

22 Arsenal zu Venedig bau dienendes Gebäude.

93

11

1603 Der am 10. Oktober 1603 publizierte Rezeß erste Hamburger Staatsschrift in hochdeutscher SpraÄnderungen des seit dem „Langen Rezeß" von 1529 mit sich.

das mitleidige Frauenzimmer

Trident

weltmännisch-distinguiert.

prächtiges,

Hure. um 1100 errichtetes,

dem

Schiffs-

Trient.

Stück 64 Das Stück befaßt sich mit Gegnerschaft gegenüber dem Patrioten. Die Meinungen dreier exemplarischer Charaktere werden vorgestellt und untersucht. Es handelt sich dabei nicht um eine Auseinandersetzung mit den Flugschriftenschreibern vom Vorjahr; der publizistische Streit um den Patrioten ist zu dieser Zeit bereits verebbt. Die dort vorgetragenen theologischen Angriffe kommen nicht zur Sprache.

228

Kommentare

und

Erläuterungen

Die Meinung des Herrn Eginhart, man benötige selbsternannte Sittenrichter in Hamburg nicht, wird vom Patrioten behutsam als Eigensinn des betreffenden Herrn mit dem sprechenden Namen hingestellt. Denjenigen, die Vernunfft und Tugend auff ihrer Seite haben (99,28), stehe es durchaus zu, im Rahmen der Gesetze Kritik zu üben. Dem Herrn Altensteig, der, seinem Namen gemäß, in der Publizistik nur die alten Wege liebt, deshalb mit den hergebrachten Zeitungen zufrieden ist und allem sonstigen periodisch Gedruckten mißtraut, stimmt der Patriot hinsichtlich seiner Besorgnis vor dem unumschranckten Drucker»Wesen grundsätzlich zu. Er entwickelt dabei den Gedanken einer staatlich einzurichtenden Zensur für alles Gedruckte in Hamburg; ihr würde sich der Patriot sofort freiwillig unterwerfen. — Derartige Vorstellungen einer gemeinnützigen Schriftenzensur sind auch anderwärts im Bereich der frühen Aufklärung zu beobachten. „Pressefreiheit" wird in Moralischen Wochenschriften nicht gefordert; sie gehört nirgends, wo die Aufklärung sich pädagogisch entfaltet, zum Programm. Der Herr von Einsicht, der die Toren sich selbst überlassen will, bis sie durch Schaden klug werden, wird belehrt, daß es zu den menschlichen Pflichten gehöre, sich um den andern zu kümmern. Bezeichnend im übrigen das Bekenntnis des Patrioten zu einer grundsätzlich vertrauensvollen Einstellung jedem Menschen gegenüber, — ein Bekenntnis, das verbunden ist mit der Ablehnung des bei Hofe üblichen Argwohns (95,5ff). Die dort seit dem 17. Jahrhundert kultivierte „politische Klugheit", die weltmännische Verstellungskunst, grundsätzliches Mißtrauen vor allen Konkurrenten auf dem höfischen Parkett und egoistisch-kluge Menschenbehandlung bedeutete, entspricht nicht der menschenfreundlichen Gesinnung des aufgeklärt Tugendhaften, so wenig wie es den christlichen Geboten der Nächstenliebe entsprochen hatte.

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 65 Vf.

229

M. Richey

Motto Plautus, Bacchides 464. - „Dumm bist du, wenn es dich ärgert, daß man von dem, der Ohles tut, übel spricht." 95

1-4:

99

18 Sie befahren sich befahren: befürchten. Befahren kann intransitiv mit dem Akkusativ oder, wie hier, rückbezüglich mit dem Genitiv gebraucht werden.

| Q|

fehlt B.

19 B.

Moralischen Freyheit] Moralischen, ja wol gar Bürgerlichen Freiheit

11

Herrn Bösche

nicht

identifizierbar.

12 Schuster siehe dazu den Kommentar zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten für den Patrioten am Ende von Stück 98. 13:

fehlt B.

Stück 65 Der Patriot moralisiert über Geduld und Standhaftigkeit Unglück. Der ernste Charakter der Ausführungen entspricht der Fastenzeit, in die das Stück fällt. Es handelt sich um vernünftige Überlegungen, die sämtlich Ungeduld, übermäßigen Kummer und Verzweiflung als unangebracht und unzweckmäßig erscheinen lassen. Dabei wird einerseits die Standhaftigkeit von Gestalten der heidnischen Antike als vorbildlich hingestellt, andererseits aber Härte und Unerschütterlichkeit (verstockte unempfindliche Gleichgültigkeit, (103,12f.)), d. h. die Ataraxia der Stoiker, als etwas der menschlichen Natur Fremdes verworfen. Wiederum ist ein goldener Mittelweg empfohlen (104,24f.); Empfindungen darf der Mensch durchaus haben und mit Maßen auch zeigen. Die Lizenzen der Empfindsamkeit freilich sind hier noch nicht erteilt. im

230

Kommentare und Erläuterungen

In die Darlegung mischen sich auch Gedanken der Theodizee (107,1 f f . ) und gegen Ende der Betrachtung werden auch christliche Elemente vorgebracht: Wirklich vom Übel wäre allein, der Gnade Gottes verlustig zu gehen. Wer der göttlichen Gnade versichert sein kann, braucht sich nicht zu beunruhigen und zu grämen. Freilich wird, anders als in den christlichen Warnungen vor falscher „Sicherheit", der Tod wie selbstverständlich als Übergang ins ewige Leben verstanden (107,7ff). Vom Gebet als dem Mittel, sich in Gottes Willen zu schicken und Geduld zu lernen, ist nicht die Rede. Die vernünftig-philosophische Argumentation hat mit den Übersetzungen aus Horaz das Schlußwort. Vf.

C. F. Weichmann

Motto Horaz, Oden 1 24,19/20. — „Leichter ist mit Geduld zu ertragen , was zu ändern unstatthaft ist." 105

^ Scävola Mucius Scaevola, sagenhafter römischer Held, der zur Bekräftigung seiner Vaterlandsliebe seine rechte Hand im Altarfeuer verbrannte und dadurch den Feind zum Friedensschluß veranlaßte. 16

Zeno

Zeno«, byzantinischer Kaiser (474 - 491).

| Qy

32

Epictetus

108

berühmten Stelle des Horatius gemeint ist Horaz, Oden 111,3; es handelt sich um die letzte der sog. Römeroden, in denen die Tugenden der Vorfahren verherrlicht werden.

J Q^

lff. von einem geschickten Teutschen Poeten . . . ubersetzt Es handelt sich um die Übersetzung von Gotthilf Flamin Weidner: Die Lieder des berühmten Lateinischen Poeten Q. Horatius Flaccus in Hoch-Teutsche Reime übersetzet. Leipzig 1690, S. 98.

Epiktet (um 55-um

135), stoischer Philosoph.

zu Jahrgang 2

/ 7725, Stück

66

231

Stück 66 Der Patriot äußert sich — wohl im Hinblick auf das bevorstehende Osterfest — über die christliche Lehre von der Auferstehung. Ziel seiner Betrachtungen ist es, die Möglichkeit der Auferstehung des Fleisches in vernünftiger Argumentation zu erweisen. Herr von Freydünckel, der Einwände hat, wird eines anderen belehrt. Der Patriot macht sich auf diese Weise zum Anwalt der christlichen Lehren, und er unterscheidet sich darin nicht von anderen Vertretern der Wochenschriftengattung. Für die frühe Aufklärung garantieren Vernunft und Religion gemeinsam Tugend und Glückseligkeit, sie arbeiten Hand in Hand, und wenn es auch nicht in die Kompetenz der mit Mitteln der Weltweisheit arbeitenden Wochenschriften gehört, zu predigen und damit christlicher Verkündigung ins Gehege zu kommen, so steht es ihnen doch wohl an, auf vernünftige Weise den übervernünftigen Wahrheiten der Kirche beizuspringen, z. B. gegen Freigeister und Religionsspötter. Der Herr von Freydünckel ist ein solcher „esprit fort". Er muß sich sagen lassen, daß ein Vernünftiger um die Grenzen der Vernunft weiß, die gewissen Wahrheiten jenseits dieser Grenze durchaus Raum geben. Die Weltweisheit leistet hier mit ihren bescheidenen (und im vorliegenden Falle — 115,32ff. — auch etwas abgeschmackten) Hilfsmitteln der geoffenbarten Religion gute Dienste. — Daß bei dieser vernünftigen Betrachtung religiöser Lehren statt der Bezeichnung der Trinität, des persönlichen Gottes der Bibel oder des Erlösers hier wiederum mit Vorliebe neutrale Umschreibungen verwendet sind, zeigt im übrigen die allgemeine Tendenz an: die Gottliche Gute (110,17), die Gottheit (113,32), das große Wesen (114,10), die Allmacht (115,29; 117,16). Es sind Bezeichnungen, mit denen sich auch der Deist über das Göttliche verständigt.

232 Vf.

Kommentare und Erläuterungen C. F. Weichmann

Motto Augustinus. Stelle nicht nachweisbar. — „Wie kannst du sagen, es sei unmöglich, daß Gott, der den Menschen aus Nichts geschaffen hat, ihn nicht umwandeln könne? Wie soll er uns, in Staub zerfallen, nicht wieder aufwecken können, er, der, auch wenn wir ins Nichts zurückkehrten, bewirken konnte, daß wir waren, so wie er bewirkte, daß wir sind, die wir zuvor niemals waren?" J J 5

1

Stamina

lat. stamen: Faden, Faser, Gewebe.

116

17 Petty Sir William Petty (1623-1687), englischer Nationalökonom, Mitbegründer der ,¡Royal Society", führte statistisch-demographische Methoden in die Ökonomie ein.

19 Vossius Isaak Voß oder Vossius (1618—1689), Sohn des großen holländischen Polyhistors Gerhard Johann Vossius, Philologe und Theologe. Die Behauptung des Vossius, auf der Erde wohnten nicht mehr als 500 Millionen Menschen, wurde aufgestellt in: Isaaci Vossii variarum observationum über, London 168}.

Stück 67 Der Patriot befaßt sich mit dem Betragen von Studenten Universitätsstädten. Das Thema ist bereits im 39. Stück angeschnitten worden. Die Kritik an den akademischen Zuständen ist scharf. Sie konnte scharf ausfallen, da Hamburg selber damals keine Universität besaß, deren Repräsentanten sich hier hätten herausgefordert fühlen können. Kulturgeschichtlich ist das Vorgebrachte aufschlußreich. Interessant übrigens, daß der Patriot das englische College-System als vorbildlich hinstellt. Damit geht es ihm hier nicht nur um die moralische Besserung von Einzelnen, sondern um die Reform von Verhältnissen, die den Einzelnen wie das Gemeinwesen betreffen; er denkt gesellschaftspolitisch, auch wenn die Mißstände am Beispiel eines einzelnen Lasterhaften anschaulich gemacht werden. in

zu Jahrgang

2 /1725,

233

Stück 67

Die moralische Erzählung vom Besuch beim Studenten Cordenio ist sehr lebendig geschrieben, die Schilderung der Bude des ungeratenen Studiosus von ungewöhnlicher Frische und Anschaulichkeit. Die Interieurbeschreibung allein schon genügte, um den Bewohner und seinen Lebenswandel zu kennzeichnen. Sie stellt eine indirekte moralische Charakteristik dar mit allen Qualitäten eines „moralischen Realismus": Jedes kleinste Detail hat charakterisierenden Aussagewert. Man könnte das Gebotene übrigens als ein frühes Beispiel von Bohemeschilderung ansprechen. Goethe wird später im Wilhelm Meister mit der Beschreibung des Boudoirs der Schauspielerin Mariane ein weibliches Pendant dazu liefern (Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1. Buch, 15. Kapitel). — Der Brief des Cordenio, im galanten deutsch-französischen Mischstil verfaßt, charakterisiert seinen Schreiber ebenfalls unmißverständlich. Die Darlegung der ökonomischen Folgen liederlichen Lebenswandels in Universitätsstädten (123,31 f f . ) entspricht ganz bürgerlichem Interesse. Übrigens ist der junge Cordenio von Adel. Die ganze Schilderung enthält damit zugleich ein Element Feudalkritik. — Auf das Gegenbild zu diesem Cordenio, den tugendhaften Studenten Curio im 39. Stück, wird am Schluß verwiesen. Vf.

r

Motto Horaz, De arte poetica 161/164. - „Endlich vom Aufpasser befreit, erfreut sich der noch hartlose Jüngling an Pferden, Hunden und am Rasen des sonnigen Feldes. Empfänglich ist er für schädlichen Einfluß, abweisend gegenüber mahnenden Worten, träge bei der Sorge um Nützliches, verschwenderisch mit Geld." Zeilen 1 und 2 fehlen B. H g

8 Weigel Erhard Weigel (1625-1699), Mathematiker ge, ein früher Verfechter des Realschulwesens.

1 1 9

Söhne so viel] Söhne entweder nicht eher auf hohe Schulen zu schikken, biß sie ein gesetztes Gemüthe, und so wol in Wissenschaften, als in der

und

Pädago-

234

Kommentare

und

Erläuterungen

Klugheit zu leben einen guten Grund haben, oder wir haben sie auch so viel B. 121

^ Tractat von der Frantzösischen Kranckheit tung zum Auskurieren der Syphilis.

wohl eine

Anlei-

35 Mémoires de Brantôme Pierre de Bourdeille, seigneur de Brantôme (1540—1614), franz. Schriftsteller. Seine Memoiren, zuerst 1665—66, enthielten berühmte Skandalgeschichten, u. a. die Vies des dames galantes, die später immer wieder gesondert aufgelegt wurden. 122

"

chammerirten

125

20

Präbende

J 2 6

6 f. wol in jener. . . machen durffte] wol ihren Seelen und Gewissen, als zugleich ihrem zeitlichen Glücke zu statten kommen dürfte B.

chammarriert:

verbrämt.

Pfründe.

Stück 68 Der Patriot befaßt sich mit der Freundlichkeit als einer wesentlichen Eigenschaft für eine Ehefrau. Er illustriert seine Ausführungen mit einer moralischen Erzählung und schließt mit entsprechender biblischer Spruchweisheit. Die Bildung und gesellschaftliche Hebung des weiblichen Geschlechts ist dem Patrioten wie allen Moralischen Wochenschriften, voran dem Spectator, ein besonderes Anliegen. Im vorliegenden Fall geht es weniger um die Tugenden eines jungen Mädchens als um die einer verheirateten Frau. Neben Gottesfurcht, haushälterischem Sinn und Reinlichkeit, — Eigenschaften, die von der Hausmutter traditionellerweise erwartet wurden — , legt der Patriot Gewicht auf ein freundliches Gemüt. Ein leutseliges Wesen, holdselige Mienen, freundliche Gebärden, liebreiche Gefälligkeit, offenherzige Heiterkeit, — das sind Eigenschaften, die einer Frau anstehen. Verworfen dagegen werden nicht nur Bosheit, störrischer Wider=Sinn (129,7), Widerbellen (129,33),

zu Jahrgang 2 /1725, Stück 68

235

unfreundliche Mienen und ein zänkisches Gemüt, sondern auch alberne Freundlichkeit und abgeschmackte Tandeley (129,21 f.). Das besagt: Es geht dem Patrioten nicht um äußere Formung, um Schliff, Umgangsgewandtheit und die routinierte Liebenswürdigkeit der Gesellschaftsdame, sondern um innere Werte. Sie zählen mehr als äußere Gefälligkeit. Eine Frau mit solchen Gemütseigenschaften wird sich und ihrem Manne und der Familie das Leben zu einem irdischen Vergnügen machen. Die Zeichnung eines solchen Frauenideals, das von alten christlich-misogynen Vorstellungen nichts mehr weiß, offenbart etwas von der neuen Weise tugendhafter Weltlichkeit der Aufklärung. Das hier entworfene Frauenbild, in dem freundliche Gebehrden, ein sanffter Thon, und eine liebreiche Gefälligkeit (129,29f.) herrschen, könnte als vor-empfindsam bezeichnet werden, und sicher ist es Reflex des Wandels, der sich seit der Umbildung vom „ganzen Haus" zur intimen bürgerlichen Familie in der Rolle der Frau vollzogen hat. Empfindlichkeit, Schwärmerei, zärtliche Rührung, Edelmuts- und Entsagungsseligkeit, wie sie für das empfindsame Frauenbild um die Mitte des 18. Jahrhunderts kennzeichnend werden, sind hier jedoch noch nicht im Spiel. (Daß es hier nicht um Frauenemanzipation im Sinne einer Gleichberechtigung mit dem Manne geht, versteht sich. Die Autorität des Mannes wird durch das vom Patrioten entworfene Frauenbild nur bestätigt.) Im Exemplum der Erzählung, in dem Mangel an weiblicher Freundlichkeit schließlich zum gesundheitlichen und finanziellen Ruin der Beteiligten und zu Mord und Totschlag führt, bleiben Psychologie und Wahrscheinlichkeit auf der Strecke. Die Handlung illustriert die vorgetragene Lehre auf sehr holzschnitthaft-grobe Weise.

16

D e r Patriot, Bd. IV

236 Vf.

Kommentare und Erläuterungen B. H. Brockel

Motti Plautus, Casina 584. — „Das ist dein größter Fehler: du kannst nicht genug schmeicheln." Publius Syrus (muß heißen: Publilius Syrus; Stelle dort nicht nachweisbar). - „Ohne Freundschaftlichkeit währt auch die Liehe nicht lang." Zweites Motto fehlt B. 128

Hiob nennet . . . des Antlitzes

Stelle nicht

identifizierbar.

^ Sirach Die Weisheit des Jesus Sirach (Ecclesiasticus) gehört zu den Apokryphen des Alten Testamentes. Mit seinen Lebensweisheiten kam das Buch aufklärerischer Moralistik entgegen. 6—9

Eine schöne Frau . . . Gleichen nicht

9-11

Ein freundlich Weib . . . sein Hertz

(12 ff.)

Sir. 37,24f. Sir. 26,16.

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten siehe Erl. zu Stück 98.

Stück

69

Der Patriot spricht von seiner Position in der Reihe der Moralischen Wochenschriften und druckt zwei Briefe ab, die sich mit ungezogener Gesellschaft und der Notwendigkeit von Verstandesbildung befassen. Die Formulierung Schrifften, die [. . .] in einzelnen Blattern von Moralischen Sachen gehandelt haben (135,2ff), ist kennzeichnend: der Begriff Moralische Wochenschriften ist noch nicht gebräuchlich; er setzt sich erst um 1740 durch. — Daß der Vetter des Patrioten ein Register von mehr als 30 solcher Schriften zusammengestellt hat, und zwar zumeist mit Titeln nach dem Auftreten des Patrioten, ist für uns interessant. Es weist auf ein lebhaftes Sichversuchen in der Wochenschriftenpublizistik bereits in dieser frühen Zeit hin, sicherlich durch den großen Erfolg des Hamburger Vorbilds mitbewirkt. Von den meisten dieser über 30 Schriften ist uns heute nicht einmal mehr der Titel bekannt.

zu Jahrgang 2 /1725, Stück 69

237

Auffallend ist, daß Bodmers und Breitingers Discourse der Mahlern (Zürich 1721—23) und auch das Bernische Freytags-Blätlein (Bern 1722 —24) nicht erwähnt sind. Dieser Umstand und die Bemerkung des Patrioten, vor ihm sei kein anderer Vertreter der Wochenschriftengattung den großen englischen Blättern Tatler, Spectator und Guardian gleichgekommen, dürfte Bodmers Stolz getroffen und ihn mit zu seinem ,,Antipatrioten" fAnklagung des verderbten Geschmackes, oder Critische Anmerkungen über den Hamburgischen Patrioten und die Hallischen Tadlerinnen, Frankfurt und Leipzig 1728) veranlaßt haben. Die Bemerkung zeugt von einem sicheren Selbstgefühl des Patrioten und zugleich von seinem klaren Wissen um die eigene Gattungszugehörigkeit. — Mit den Vernünftigen Tadlerinnen wird Gottscheds seit 1725 in Halle herauskommende, in Leipzig verfaßte Moralische Wochenschrift mit Recht gewürdigt. Der Patriotische Medicus ist ein in Hamburg erscheinendes Blatt (1724 —27), das in der Manier der Moralischen Wochenschrift Aufklärung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens zu betreiben suchte, — die erste populärmedizinische Zeitschrift deutscher Sprache. Die Schilderung von sonderbaren kleinen Gesellschaften und ihrer kurios-lustigen Gesetze ist seit dem Spectator in der Wochenschriftengattung üblich. Im vorliegenden Fall der freundlichen Gesellschafft von Bu! Ba! (136,12ff.) mischt sich freilich moralische Indignation in die Beschreibung, so daß das sonst vorwiegend unterhaltsam-humorvolle Element hier zurücktritt; die Warnung vor unanständigem Betragen in Gesellschaft hat das Übergewicht. Im 23. Stück des 2. Jahrganges (1729) der Hamburger Wochenschrift Die Matrone stellt sich übrigens eine „Gesellschaft der Mondsüchtigen" als Nachfolgerin der Gesellschafft von Bu! Ba! vor. Der Brief der Patriotischen Gesellschafft zu Christian= Stadt (138,5ff.) betont die Wichtigkeit der Verständesbil16»

238

Kommentare und Erläuterungen

dung in der Erziehung. Statt einer äußerlichen Bildung solle man sich der Seele junger Menschen annehmen, — wobei hier der Begriff Seele den Bereich von Verstehen, Empfinden und Beurteilen mit umfaßt, also auch das, was nach heutigem Sprachgebrauch Verstand und Vernunft bedeuten. Deutlich tritt die aufklärerische Auffassung zutage, der Wille des Menschen werde durch vorherige Überzeugung des Verstandes gelenkt werden (140,10ff.). — Bezeichnend die Aufforderung, der Patriot solle allgemeine Regeln zu urteilendem Verstandesgebrauch, also zum Philosophieren, mitteilen (140, 2 2 f f ) , weil das Philosophieren bisher nur unter den Gelehrten geübt worden sei. Es geht um philosophische Unterweisung eines breiteren Publikums. — Übrigens sind die Ziele nicht auf das Irdische beschränkt. Dem sprechenden Namen der Gesellschaft in Christian=Stadt gemäß hat die Pflege der Seele auch eine christliche Perspektive. Es geht auch um das unendliche Wohl oder Wehe der Ewigkeit (140,6).

Vf.

(Einsendungen)

Motto Juvenal, Saturae 1,86. — „Inhalt unseres Büchleins." (vgl. Motto zu Stück 57). Motto B

-

-

-

-

-

H A E C E A D E M ILLI

O M N I A CUM FACIANT, HILARES NITIDIQUE VOCANTUR. IUUENAL.

Juvenal, Saturae 11,177/178. - „Wenn jene eben dies alles tun, gelten sie als wohlgestimmt und gutgenährt." 136

Aland- oder Bitter=Wein Alantwein: „ein Wein, der mit Alantwurzel . . . gegoren hat." (Adelung). Bitterwein, „ein mit Wermuth bitter gemachter Wein". (Adelung). 22 Halb"Stübchen-Römer Stäbchen: „ein sehr altes und weit ausgebreitetes Maß flüssiger sowohl als trockener Dinge, welches gemeiniglich 4 Maß, Quart oder Kannen hält." (Adelung). Ein Halbstübchen-Römer ist demnach ein entsprechend großer Kelch.

zu Jahrgang

34 Ancker Anker: altes Flüssigkeitsmaß, Branntwein, in Hamburg etwa = 36 Liter. (11 ff.)

239

2 /1725, Stück 70 besonders

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

für

Wein

und

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 70 Der Patriot setzt sich mit den Künsten der Rhetorik auseinander. Dazu veröffentlicht und kommentiert er zwei fingierte satirische Briefe. Den Schluß bildet ein Zitat aus Molieres Bourgeois gentilhomme. Das Stück setzt die Bemühungen um einen klaren und natürlichen Rede- und Schreibstil fort, wie sie zuletzt im Stück 55 zu beobachten waren. — Der Brief des Farnabius Tropophagus, welcher als seit 39 Jahren im Schulamte stehend und damit als hochbetagt vorgestellt wird, macht das, was er am Patrioten vermißt und von ihm unter Bemühung aller Register der Wohlredenheit verlangt, zur Karikatur, nämlich das Exerzitium der schulmäßigen Rhetorik. Diese Rhetorik, seit dem Humanismus und bis ins 18. Jahrhundert hinein in vielen Kompendien gelehrt und auf den Gymnasien und Universitäten geübt, im 17. Jahrhundert unter dem Elegantia-Ideal vielfach in Künstlichkeit und Gespreiztheit exzellierend, war ein Stück gelehrten Habitus', der dem nichtgelehrten Bürger anstößig sein mußte. Die ambitionierte Anwendung der rhetorischen Figuren und Tropen mußte zudem zu Lasten der Klarheit und Deutlichkeit gehen, die für die Aufklärung als Stilprinzipien obenan standen. Der zweite, von einem soeben aus dem Schulbetrieb entlassenen jungen Mann verfaßte Brief hat einen Glückwunsch zur Vermählung zum Inhalt, — ein Standardthema der zeitgenössischen Brieflehren. Statt der rhetorischen Künste im deutsch-lateinisch-französischen Mischstil des Herrn Tropophagus glänzt dieser Brief von ingeniöser Metaphorik. Der

240

Kommentare

und

Erläuterungen

Patriot macht in seinem Kommentar auf die Abwegigkeit solchen forcierten poetischen Bildgebrauchs aufmerksam und liefert anschließend — nach Art der Briefsteller — einen Musterbrief zum Thema Hochzeitsglückwunsch. Bemerkenswert ist, was der Patriot der Künstlichkeit der Rhetorik entgegenhält: Um gut zu sprechen und zu schreiben, müsse man lediglich Vernunft und Natur folgen. Wer richtig denke und empfinde, werde, ohne jegliche Kunstregeln, den angemessenen Ausdruck erlangen und von selber zu Metaphern und Stilfiguren finden. Ja — und das weist bereits auf die Genielehre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts voraus — ein großer Geist werde ungelehrt mit seinen blossen natürlichen Gaben weiter kommen als die geschulten Skribenten, und seine grosten Unrichtigkeiten könnten eines Tages maßstabsetzende Schönheiten der Schreibekunst werden (151, 4ff.)! Die Rhetorik als eine der sieben freien Künste wird hier im Namen von Natur und Vernunft als weitgehend entbehrlich, als nur noch zu kritischer Überprüfung dienlich hingestellt. Das könnte praktisch, auch wenn der Patriot leugnet, so weit gehen zu wollen, auf eine Verabschiedung der Redekunst hinauslaufen, — etwas, wozu sich Gottsched als Verfasser einer Ausführlichen Redekunst im folgenden Jahrzehnt noch keineswegs bereit findet. Vf.

?

Motto Horaz, De arte poetica 38—41. — „Ihr Schriftsteller, wählt euch einen Stoff, euren Kräften angemessen, wählt lange, was die Schultern imstande oder nicht imstande sind zu tragen. Dem, der den Stoff seinen Kräften entsprechend wählt, wird nicht Beredsamkeit, nicht klare Ordnung fehlen." Motto B

— — -

PEDIUS QUID? CRIMINA

RASIS

L I B R A T IN A N T I T H E T I S ; D O C T A S POSUISSE LAUDATUR; BELLUM HOC: PERSIUS.

FIGURAS

H O C B E L L U M ? AN R O M U L E

CEUES?

241

2 / 7 / 2 5 , Stück 70

zu Jahrgang

Persius, Saturae 1,85—87. — „Pedius balanciert die Beschuldigungen in glatten Antithesen, und weil er künstlich geredet hat, erntet er Loh: dieser Krieg? Wackelt etwa Romulus mit dem Hintern?" 19f. dabey ich . . . Weges annehme.] dabey man mir iedoch gegen die lächerlichen Titel und Lob=Spruche die behörige und vernünftige Kaltsinnigkeit schon zutrauen wird. B. 4

VENERTrender] VENERirender

5 f.

foetus ingenii

6

prosequiret

(Druckfehler

dieses

Neudrucks).

Geistesfrüchte. verfolgt.

7 f. Lectio lecta placet, decies repetita placebit Die einmal gelesene Lektion gefällt, zehnmal wiederholt wird sie auch später noch gefallen. 8 f.

perlustriret

10

stylo absque vitiis

11

epitome

12

Homerum in nuce

14

Pra: hilaritate exsilii

14f.

durchmustert. Stil ohne

Fehler.

Auszug Homer

in einer Nuß, in

(exsilivi):

at quantum nomen!

Kürze.

ich bin vor Freude

welch großer

19

zum . . . emolumento

20

apprehendiret

22

cum approbatione Superiorum

28

aus . . . cerebro

zum

gesprungen.

Name!

Nutzen.

beschlossen.

aus dem

30 Chrien Chrie: rhetorische gebenem Muster.

mit Billigung

der

Vorgesetzten.

Gehirn. Ausarbeitung

eines Themas nach

vorge-

31 ff. per antecedens . . . rhetorische Termini, die in ihrer jeweiligen Bedeutung hier nicht eigens erläutert werden. Diese wäre in Spezialliteratur, z. B. in Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Ein Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960; 2. Aufl. 1973, unschwer nachzuschlagen. (Ebenso 144,4—8; 144,34—145,7; 145,12—14; 145,20-26; 145,29-33). 33

fidele manuduction

getreue

Anleitung.

34f. Aphtonium Aphtonius, griechischer Rhetor n. Chr., Verfasser eines bis in die Neuzeit verwendeten buchs.

des 4. und 5. Jh. rhetorischen Lehr-

242 144

Kommentare

'

miraculum hujus seculi

4

ad rhombum

13 f.

und

Erläuterungen

Wunder dieses

zu einer (rhetorischen)

lumen scholasticum

Jahrhunderts. Vierecksfigur.

schulmeisterliches

Licht.

15f. nach dem Proverbio: Ovum gallinam das Ei die Henne. 18

rudimenta

Sprichwort:

Einführungen.

compendia rhetorica

Lehrbücher

19

summo cum applausu

21

juventuti scholasticx

lapsus memoria:

der

unter größtem der

Rhetorik. Beifall.

Schuljugend.

23 meritis in remp. literariam (in rem publicam). 27

nach dem

Verdiensten in der

Gelehrtenrepublik

Gedächtnisfehler.

28 pro modulo judicii mei t 6 küqlov für das Maß meines Urteils das Entscheidende. 29

145

trockenen

Fußes.

29 f.

prxteriret

31 f.

von den . . . proprietatibus

übergangen.

^

titilliren

8

magis mutus quam piscis

17f.

246

sicco pede

kitzeln,

von den

reizen.

die größte Eptpamv

stummer als ein Fisch.

die größte

Emphase.

26

ne ultimo quidem digito

34

animi sensa exprimiren

Herzensmeinung

^

'n e'ne

Erregung.

6 f.

confidenteres

10

Denham

eKOTOOlv

Eigenschaften.

m

eme

nicht einmal mit dem kleinen

Finger.

ausdrücken.

zuversichtlicheres.

vgl. Erl. zu 21,11.

10 Quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur? quomodo? quando? Werf was? wo? mit wessen Hilfe? warum? auf welche Weise? Wann? (Merksatz zur Verfertigung einer Rede, in Form eines Hexameters). 12

inculciret

eingeprägt.

zu Jahrgang

2 / 1725, Stück 71

14 artem variandi per casus & tempora Zeiten abzuwechseln. 16f.

22 f. 27

die Kunst, mit Fällen und

quid distent aera lupinis, wie . . . Horatius . . . es ausdruckt

was Geld von Bohnen unterscheidet 20

243

videtur

(Horaz,

Episteln /, 7,23).

Meinung.

dum spiritus hos regit artus Dab. é. Musèo

gegeben

da der Geist die Gliedmaßen

in meinem

lenkt.

Studierzimmer.

Königs-Lutter] Windigheim B. Königslutter

Stadt östlich von

29

Tropophagus

„Figurenfresser".

30

mm.

manu mea

Braunschweig.

(eigenhändig).

29f. daß sie . . . Nutzen haben.] daß eine vernünftige Anleitung zur Erfindung, Ordnung und Ausarbeitung eines Vortrages, bey der Jugend unendlichen Nutzen habe. B. 1—4 Eine gar zu . . . Hindansetzung.] Ein gar zu starckes Vertrauen auf diese vermeinte Quellen einer schonen Schreib» Art, und der pedantische Zwang, womit man der Natur die gekünstelte Schul-Zierrathen andringet, ist der gesunden Vernunft und wahren Beredtsamkeit viel mehr zuwieder, als wenn man die Kunst-Regeln gantzlich hindan setzet. B. 12ff.: Übersetzung 4. Szene. (25 f.):

fehlt

aus Molière,

Le bourgeois gentilhomme, 2. Akt,

B.

Stück 71 Der Patriot liefert eine moralische Erzählung von den traurigen Folgen ausschweifenden Lebenswandels junger Leute in Universitätsstädten. Die Geschichte spielt in England; sie hat möglicherweise eine englische Vorlage. Ein liebenswürdiger, begabter Jüngling, einziger Sohn einer Landadelsfamilie, gerät in schlechte Gesellschaft, macht Schulden, gelangt zur Reue, doch widri-

244

Kommentare

und

Erläuterungen

ge Umstände verhindern den guten Ausgang. Er wird zum Mörder an dem, der ihm die Vergebung seines Vaters bringen sollte. Er wird hingerichtet, sein Vater stirbt vor Verzweiflung, ein junges Mädchen, das den Jüngling liebte, verfällt in Wahnsinn. Dergleichen entsetzliche Unglücks=Falle entstunden eintzig aus solchen Ausschweiffungen, die anfanglich nur Kleinigkeiten und nichts=bedeutende Dinge zu seyn schienen (160,20ff.). Der moralische Zeigefinger ist deutlich sichtbar. Die Erzählung, die stellenweise aus dem Präteritum ins historische Präsens übergeht und in der Manier des Briefromans in eingeschobenen Briefen seelische Bewegung vermittelt, enthält indessen einen tragischen Zug, den die lehrhaften moralischen Erzählungen der Wochenschriften im allgemeinen nicht aufweisen. Rechtzeitige Reue und Umkehr müßten eigentlich honoriert werden. Aber das Motiv des verlorenen Sohnes wird hier nicht ins Moralische transponiert. Vielmehr weist in dieser Geschichte manches voraus auf das Bürgerliche Trauerspiel, wie es George Lillo in seinem London Merchant (1731) zuerst verwirklicht hat. Namentlich die seelisch stark bewegte Beziehung zwischen Vater und Sohn, die Reue einerseits, die liebende Vergebung andererseits, die rührende Abschiedsszene schließlich, da der Greis seinem Sohn mit Tränen um den Hals fällt, deuten in diese Richtung.

Vf.

C. F.

Weichmann

Motto

Vergil, Aeneis XII 945. - „Zeichen

schrecklichen

Schmerzes."

Motto B — - Magnum documentum, ne patriam rem Perdere quis velit. - — - - Horat. Horaz, Satiren I 4,110/11. — „Eine ernste Mahnung, gen nicht ganz zu verjubeln." 1 5 6

1

MHHrn.

meinem

hochwerten

Herrn.

das väterliche

Vermö-

zu Jahrgang

2 / 1723, Stück 72

245

Stück 72 Der Patriot befaßt sich mit Eheverträgen sowie mit Gebräuchen bei der Eheschließung. Abschließend äußert er sich Preisausschreiben. zu seinen Der Bericht von den Vorbereitungen für die Hochzeit des jungen Vetters des Patrioten mit der Araminte gehört zur Entfaltung des gattungsüblichen fiktiven Wesens um die Verfasserfigur einer Moralischen Wochenschrift. Der von der Frau Allrune präsentierte Ehezarter kennzeichnet satirisch die üblen Praktiken, mit denen Verwandte zuweilen Einfluß auf Eheverträge zu nehmen suchten. Am Faktum eines auch Vermögensangelegenheiten regelnden Ehevertrags hat der Patriot an sich nichts auszusetzen. — Der vorgestellte Ehezarter ist mit Kennerschaft hinsichtlich juristischer Finessen im Erbrecht abgefaßt. Er ist zugleich mit seinem Juristendeutsch ein Beispiel unvernünftiger Schreibart. Daß der Patriot überhaupt auf Rechtsangelegenheiten eingeht, bezeugt erneut seine reformerischen Absichten im sozialen Bereich. Seine Wendung gegen Pracht und Weitlaufftigkeit bei Hochzeiten entspricht ganz seinem auch anderwärts bewiesenen bürgerlichen Sinn für Mittelmaß und Ökonomie. Die Titel bzw. die mitgeteilten Proben von Hochzeitsgedichten verspotten das damalige Unwesen auf Bestellung verfaßter Casualdichtung, insbesondere aber die dort untergebrachten Spitzfindigkeiten, Manierismen und Plattheiten sowie den hochtrabenden Bildgebrauch. Auch Gottsched hat sich in seinen Wochenschriften gegen derartige Gratulantenbzw. Kondolenzpoesie gewandt. Freilich ist aus dieser Kritik keine grundsätzliche Ablehnung der konventionellen Gelegenheitsdichtung abzuleiten; Weichmanns Poesie der Niedersachsen enthält eine Fülle derartiger Gedichte, darunter von Brockes und Richey.

246

Kommentare

und

Erläuterungen

Die Nachschrift verheißt für brauchbare Einsendungen eine Buchprämie und setzt erneut einen besonderen Preis bis zum Jahresende aus. Der Patriot versucht also weiterhin, sein Publikum zu aktivieren.

Vf.

?

Motto Juvenal, Saturae 6,51/52. — „Binde einen Kranz vor die Tür, und breite auf der Schwelle dichte Trauben aus Efeu aus." Motto

B

Juvenal, 17 162

SlGNATAE TABULAE: DICTUM FELICITER! J U U E N A L .

Saturae 2,119. — „Der Ehevertrag war perfekt: man Bräutigams-Abend Ehezarter

gratuliert!"

vgl. Erl. zu I, 375,3.

Ehevertrag,

Eheabredung

(von lat.

certificatio).

| (jT) 32 persona sui juris Person eigenen Rechts, rechtsfähige Person. 32 f. liberam de corpore suo ac bonis disponendi facultatem Verfügungsrecht über ihre Person und ihre Güter. 34 Kriegischen Vormunde Kriegischer Vormund: Prozeßvormund, Prozeßbevollmächtigter. Krieg: „ein Streit vor Gerichte, ein Prozeß" (Adelung). P e r donationem inter vivos vel mortis causa kung zwischen Lebenden oder von Todes wegen. in einem Inventario specificirt 4 näher erläutert. 6

Curatore

12

illata

Kurator,

in einem

durch eine SchenVermögensverzeichnis

Vormund.

Mitgift.

13 f. cum consensu Domini feudalis & agnatorum mit des Grundherrn und der Verwandten (väterlicherseits). 20

ex propriis

22

decourtiren

27f.

aus seinen Besitztümern, benachteiligen,

hasredem universalem

in Abzug

aus eigenen

Zustimmung

Mitteln.

bringen.

haeres universalis:

Universalerbe.

247

zu Jahrgang 2 / 7725, Stück 72 29 f. sich aller andern Testamenti faction begeben begehen, ein gegenläufiges Testament zu machen. 30 f. Regul, quod . . . ad mortem bis zum Tode wandelbar sei.

sich des Rechts

Regel, daß der menschliche Wille

32f. 1.4.ff. de adimend. leg. & 1.22.ff. de leg. 3 Die angezogene erbrechtliche Bestimmung war nicht zu identifizieren. Jedenfalls handelt sie von Zurücknahme oder Übertragung des Vermächtnisses (De adimendis vel transferendis legatis). 33

jurato renunciiret

unter Eid verzichtet.

40

munera nuptialia

Hochzeitsgeschenke.

42

Fructus

Erträge,

Gewinne.

6 Kisten-Pfandt „Benennungeines beweglichen Unterpfandes, weil man dasselbe gemeiniglich in einer Kiste, d. i. einem Kasten oder Schranke verwahrt" (Adelung). 7 ab intestato setzliche Erben.

intestatus: ohne Testament. Erben ab intestato: ge-

19 tituli ff. de donat. inter virum & uxorem kungen zwischen Ehemann und Ehefrau. 21

maritus

22

aegrotam & furiosam

des Titels über Schen-

der Ehemann.

uxorem zu alimentären

die Ehefrau zu versorgen. sie als Kranke oder

Geistesgestörte.

23 bona receptitia der Teil der Mitgift, der für den Fall der Auflösung der Ehe zurückgegeben werden soll. paraphernalia Nebenheiratsgüter (Güter, die die Frau dem Mann noch über Heiratsgut und Mitgift hinaus zubringt). 25

166 " 18 J foy 16

loco dotalitii

n >roce

' '

Taffent (L. S.)

on

®'

anstelle des Heiratsgutes. feierlichem

Aufzug.

Taft (sehr leichter Seidenstoff). loco sigilli: anstelle eines Siegels.

248

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 73 Der Patriot schildert in einem Traum die Verhältnisse an Fürstenhöfen, namentlich die Wege zu Gunst und Macht. Das Thema ist im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus hochaktuell, auch für die Hamburger Bürger, deren Staat ja an fürstliche Territorien grenzt und mit vielen weiteren monarchisch regierten Ländern in Beziehungen steht. Beim vorliegenden Stück handelt es sich übrigens um eine Einsendung, vermutlich aus einem absolutistisch regierten Gebiet. Der Traum versetzt zunächst in durchaus real vorstellbare Räumlichkeiten an einem Hof, erst mit der Beschreibung des Throns auf erhabener Bühne und der dazu führenden Treppen (176,21 f f . ) schlägt die Schilderung ins Allegorische um. Zunächst wird die so glanzvolle wie mühselige, mächtige und zugleich gefährliche Existenz des obersten Ministers sowie die ebenso blendende wie aufreibende Rolle des Günstlings eines Königs ins Auge gefaßt, wobei das Beobachtete durch

Erläuterungen

von Seiten eines Traumbegleiters

er-

gänzt wird. Die allegorische Szenerie bezeichnet drei Hauptwege, die zur Macht am Thron führen: 1. den des klugen Staatsmanns, 2. den des sich bei Hofe unentbehrlich machenden Günstlings, 3. den des Kriegsmanns. Daß alle diese "Wege gefährlich sind, zumal am Throne Verleumdung und Verblendung umgehen, wird deutlich gemacht. Der Sturz des Ministers und der Sturz des Günstlings bleiben nicht aus. (Die Rolle des Kriegsmanns wird nicht durchgespielt.) Der Schluß, den der Patriot aus dem ganzen zieht, läuft auf einen Preis der geruhigen und sicheren Existenz des besitzenden Bürgers hinaus. Die glänzenden Dienste bei Hofe sind undankbar, das Streben nach Würden im Bereich fürstlicher Herrschaft ist höchst riskant. Wieviel glücklicher der Bürger, der, ohne nach hohen Würden zu streben, mit seinem Zustand zufrieden sein darf! — Doch resümieren diese Erwägungen das Stück nur vordergründig. Es leistet in sei-

zu Jahrgang 2 /1725,

Stück 73

249

nen Schilderungen — ob realistisch oder allegorisch — tatsächlich mehr, nämlich eine detaillierte Kritik der Machtund Gunstverhältnisse an absolutistischen Höfen. Das monarchische System, das besagen seine Ausführungen, existiert in einer Sphäre des Ehrgeizes, des Strebertums, der Schmeichelei und Heuchelei, der Intrigen. Es ist verknüpft mit einem üblen Protektions- und Günstlingswesen. Zuträgerei, Bespitzelung, Verleumdung, Bestechung, Unterdrückung sind hier die Regel. Die Tugend und die wahre Klugheit haben kaum Zugang (178,19ff); Betrug und Falschheit sind immer im Spiel. Jedermann, ob er wahre oder falsche Verdienste besitzt, ist monarchischem Belieben ausgesetzt. Es gibt keine Sicherheit in dieser Sphäre; es gibt nur gestufte Abhängigkeiten von fürstlicher Willkür. — Das ist eine Kritik, die nicht mehr nur moralisch urteilt, sondern die zugleich zu politischer Systemkritik übergeht, — etwas, was im frühen 18. Jahrhundert in Deutschland nicht eben gewöhnlich ist. Andererseits dürfen manche der hier versammelten Elemente der Hofkritik bereits seit dem 17. Jahrhundert als topisch gelten. Der Patriot spricht in seinem 108. Stück dem Verfasser der vorliegenden Einsendung den zweiten Preis für das Jahr 1725 zu (III, 27,16f), im 117. Stück gibt er bekannt, daß dieser Verfasser wiederum Sincerinus sei, der bereits den 1724 ausgebotenen Preis erlangte. Das damals preisgekrönte 53. Stück ist denn auch thematisch dem vorliegenden sehr nahe. Vf.

(Einsendung)

Motto Seneca, Oedipus 617. — „Hat jemand Freude an der Königswürde? O trügerisches Gut, wieviel Übel verdeckst du mit einer so strahlenden Stirn." | 73

Wirthschafften in bäuerlicher Kleidung

Höfische Festlichkeiten, auftreten.

hei denen die

Beteiligten

250 J 77

Kommentare

und

Erläuterungen

10 Ober- und Unter-Gewehr Obergewehr: ke u.a.; Untergewehr: z. B. der Säbel.

11

Stücken

34 verlegenen dorben.

Karabiner,

Muskete,

Pi-

Geschützen. verlegen: hier im Sinne von: durch langes Liegen

ver-

Stück 74 Der Patriot berichtet von in Gesellschaft vorgetragenen moralischen Sentenzen und erzählt von seiner chinesischen Gemütserkennungsmaschine. Die genannte Maschine gehört zu den üblichen Utensilien, die der fiktive Verfasser einer Moralischen Wochenschrift seit dem Spectator besitzt. Das Wunderinstrument ist eine Art von Lügendetektor. Bezeichnend ist nicht nur, daß dieses Instrument unredliches Sprechen in einer Hofgesellschaft besonders heftig anzeigt, sondern daß es umgekehrt Redlichkeit besonders stark unter Chinesen und Türken registriert hat, d. h. unter nichtchristlichen Völkerschaften. Auch der Preis der Aufrichtigkeit des römischen Scipio gehört hierher (181,24ff.). Indirekt besagt das, daß wahre Tugend möglich ist auch unter Heiden. Das weist auf das Toleranzdenken der Lessingzeit voraus und rüttelt zugleich insgeheim an dem Axiom christlicher Tugendlehre, daß wahre Tugend nur im Glauben und unter der Gnade Gottes erlangt werden könne. Wie brisant solche Gedanken von der Tugendhaftigkeit von Nichtchristen sind, erhellt daraus, daß nicht lange zuvor, 1721, Christian Wolff sich mit seiner Universitätsrede „Oratio de Sinarumphilosophiapractica" in Halle die Feindschaft der Theologen zugezogen hatte, die schließlich seine Landesverweisung durch Friedrich Wilhelm I. erreichten. Wolffs Rede hatte demonstriert, daß ein Volk, ohne eine Offenbarung zu besitzen, allein kraft seiner menschlichen Vernunft wahre Tugend haben könne.

zu Jahrgang

251

2 / /725, Stück 75

Die Aufzeichnung von Sätzen mit Aussagen über das Leichteste und das Schwerste, in den Mund von Personen mit sprechenden Namen gelegt, soll zu moralischen Reflexionen anleiten. Daß diese Sätze als in Gesellschaft gesprochen erscheinen, könnte als Anregung des Patrioten verstanden werden, in der bürgerlichen Konversation ähnliche moralische Spruchweisheiten zum Gegenstand zu machen. Vf.

J. A.

Hoffmann

Motto Plinius (d. ].), Epistulae III 20,8. — „Wieviele gibt es, die sich um Ehrenhaftigkeit im Geheimen ebenso kümmern wie in der Öffentlichkeitf Viele scheuen die öffentliche Meinung, wenige das Gewissen." 25

Scipio

24

Bramin-Quam-Bo-Ni

Scipio Africanus, vgl. Erl. zu I, Name nicht

416,23.

erklärbar.

15f. des Dádalus wandrende Bild-Säulen Der sagenhafte Künstler Dädalus soll als Erster Statuen mit offenen Augen, ausgestreckten Armen und voneinander abgesetzten Beinen geschaffen haben, weswegen es hieß, er habe Statuen gemacht, die von selber gehen können. 18f. kelstätte, Tempel sämtlich 21

das Bild des Dodoniischen Jupiters Dodona: griechische Orabei deren Zeichenorakel Zeus eine entscheidende Rolle spielte. Im war eine Anzahl von Becken aufgehängt, die - nach Zedier zu klingen begannen, wenn man eine davon anschlug.

Pe-Kad-En-Nosch

17—19 (3 ff.)

Bezeichnung

nicht

erklärbar.

Dem schriftlichen . . . Gnflgen geschehen.] fehlt Zu den auswärtigen

Bezugsmöglichkeiten

B.

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 75 Der Patriot moralisiert über den Zeitvertreib. Dazu schildert er Charaktere in einer Gesellschaft. 17

Der Patriot, Bd. IV

252

Kommentare

und

Erläuterungen

Die vorgestellten moralischen Charaktere sind allesamt negativ gezeichnet: der eitle Damenliebling (188,28ff), der jedem nach dem Munde redende Herr von Allermann, sein der adelsstolze Herr Gegenbild Herr von Niemandsfreund, von Adelshausen, der galante Courmacher (192,34ff.) und der von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugte Beau. Gesellschaftskritik ist an exemplarischen Figuren festgemacht. Die interessanteste Gestalt darunter ist der sich über alle gesellschaftlichen Rücksichten hinwegsetzende Herr von Niemandsfreund. Freiheit, Ungebundenheit, Ungeschliffenheit, Rauheit, freie Natur im Betragen, — das sind Werte, die ein halbes Jahrhundert später in der Genieperiode hochgehalten werden als Zeichen innerer Unabhängigkeit, Kraft und Originalität. Im Bereich der bürgerlichen Aufklärung hat man für so etwas keinen Sinn. Die Abweichung von gebotenen gesellschaftlichen Normen, die Distanzierung vom allgemein Anerkannten, formlose Direktheit, das Aussprechen von möglicherweise verletzenden "Wahrheiten und schon eine stets finstere Miene sind Verstöße gegen die guten Sitten; Molière hat das bereits in seinem Misanthrope gestaltet. (Rousseau wird später gegen diese Komödie protestieren!) Der Vernünftig-Tugendhafte geht, wie immer, die MitteUStrasse (191,31 f.). Ohne sich mit jedermann gemein zu machen, wahrt er doch die gefälligen Formen; er benimmt sich soziabel; er achtet die Norm. In der Kritik am adligen Standesdünkel ist der Terminus bürgerlich (192,27) eindeutig als Standesbezeichnung gebraucht und dem Adelichen entgegengesetzt (vgl. I, 249,14ff.; II, 245,4; III, 415,22ff). Bemerkenswert ist, daß der Patriot hier an den Vergnügungen des Tanzens, der Gesellschaftsspiele mit Pfändern, Rätseln und Reimen, der Karten-, Brett- und Würfelspiele für seine Person keinen Geschmack hat; er sieht hier die Wohllust, den Geiz und die Ehrsucht mit am Werk (188,10ff.). Und auch das Gebaren der Verliebten dünkt ihn

zu Jahrgang

253

2 / 1725, Stück 75

abgeschmackt (192,31 f f . ) . Die Leichtigkeit, Heiterkeit, Liebes-, Scherz- und Spielfreude, zu der die deutsche Rokokodichtung unter Vorantritt des Hamburgers Friedrich von Hagedorn aufrufen wird (der als junger Gymnasiast immerhin ein Stück — Nr. 111 — zum Patrioten beigesteuert hat), ist bürgerlicher Rechtschaffenheit nach dem Sinn der frühen Aufklärung nicht gemäß; der Bezug zum leichtfertigen galanten Lebensstil französischer Provenienz liegt offenbar zu nahe. Vor allem scheint ihm ein solcher Zeitvertreib mit gemeinnützigem Engagement nicht vereinbar. Ein Zeitvertreib ist nur zu rechtfertigen, wenn er in unschuldigen Ergötzungen besteht, die die Gemüths=Kraffte [. . .] zu künfftiger nutzlichen Arbeit geschickter [. . .] machen (188,16ff), — also etwa in erbaulicher Lektüre. Er darf nur Mittel zum Zweck sein. Und besser, als die Zeit zu vertreiben, ist, sie wohl anzuwenden, was bedeutet, mit Beobachtung seiner Pflicht die wahre Glückseligkeit hier und dort ewig befordern (194,20f.). Der Schluß spielt an auf ewige Seligkeit und jüngstes Gericht, wo über verantwortungsvollen Zeitgebrauch Rechenschaft abzulegen sei. Hier wird eine Verbindung zwischen fromm-lutherischem Arbeitsethos und patriotisch-gemeinnützigem Denken der Aufklärung spürbar. Vf.

i

Motto zu Temporis . . . gravior vgl. Hans Walther, Carmina Medii Aevi Posterioris Latina, II J Proverbia Sententiaeque Latinitatis Medii Aevi, Göttingen 1967 nr. 31283a. — Nullus . . . est Seneca, Epistulae 122,3. — „Keine Vergeudung ist schlimmer als die der Zeit. Dem Schaffenden ist kein Tag lang." Motto B TAM

Quos

EGO

INSATIABILITER

VOLUPTATE

NON

QUUM

RECORDOR,

DESIDERE,

CAPIAR.

PLIN.

CAPIO I X . ,

IN

RE

ALIQUAM Ep.

INANI,

FRIGIDA,

VOLUPTATEM,

ASSIDUA,

QUOD

HAC

5.

Plinius (d. ].), Epistulae IX 6,3. — „Wenn ich bedenke, daß sie bei einer so seichten, albernen, eintönigen Sache sitzen und nicht genug bekommen 17*

254

Kommentare und Erläuterungen

können, dann macht es mir doch einiges Vergnügen, daß es mir keines macht." 12 188

Cadanz

Takt, Zeitmaß heim

Tanzen.

Gano, paroly, sept-leva, quinze-leva bei den L'homhre, Pharo und Pikett gebräuchliche Ausdrücke.

Kartenspielen

Stück 76 Der Patriot handelt von Stolz und Lieblosigkeit bei Reichen und unvernünftiger Fürsorge für Arme. Er stellt dazu den moralischen Charakter des Chrysander vor. Im Anschluß folgen allgemeine Reflexionen. Stolz, Hartherzigkeit, Geiz und Verschwendungsgeist des Chrysander sind besonders verwerflich, weil er damit seine Herkunft vergessen machen will. Der beherrschende Gedanke beim Thema Armen- und Bettelwesen ist, Notleidenden müsse durch Beschaffung von Arbeit — und nicht durch Almosengeben — geholfen werden. So werde brachliegende Arbeitskraft auch für das Gemeinwesen nutzbringend, — ein Konzept, das zu wiederholen noch am Ende des 18. Jahrhunderts Friedrich Nicolai in der Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 nicht müde wird. — Daß Menschen durch elende Umstände, durch Mangel an Arbeit, zu Verbrechen getrieben werden können (und nicht einfach, weil sie böse sind), ist offen ausgesprochen (199,34ff). Der Vorschlag zur Errichtung eines allgemeinen Werkhauses in Hamburg entspricht ganz patriotisch-bürgerlicher Gesinnung. Das gleiche gilt für das erneute Lob ob kürzlich gemachter privater Stiftungen zum Spinnhaus und zum Waisenhaus: Es geht um die Weckung bürgerlicher gemeinnütziger Initiative. Das damals in Hamburg noch grassierende Bettelwesen soll aus der Welt geschafft werden durch eine arbeitbeschaffende Sozialpolitik.

zu Jahrgang

255

2 / 1725, Stück 77

Eigentümlich ist, daß die Reflexionen in angenehmer Einsamkeit eines Waldes stattfinden (198,14). Wenig später ist — wie in einem Vorklang empfindsamer Einsamkeitsgefühle — von dieser Anmuhts-vollen Einode die Rede (199,9). Vf.

B. H. Brockes

(?)

Motto Juvenal, Saturae 8,73174. — ,,Selten solchen Glück."

196

i

Chrysander

197

10

Et schall min Sohn wesen

198

10

Verehrung

201

1

Reichs-Orth

15

preßhafften

ist der Gemeinsinn

bei

einem

„Goldmann". Das soll mein Sohn

sein.

Erkenntlichkeit. Geldstück

(1/4

vgl. Erl. zu I,

Gulden). 311,13.

der bekannte Becher vgl. Erl. zu I, 315,29; das Zitat ist aus Be19 chers Politischer Discurs . . . Vierdte Aufl., Frankfurt und Leipzig 1721, S. 244f. (1. Aufl. Frankfurt 1668, S. 206f.). 2 0 2

14/16

15

Spinn-Haus / Wäysen-Hause

vgl. Erl. zu I,

wierderum] wiederum (Druckfehler

dieses

311,12-15.

Neudrucks).

34 f. einer Stelle aus den Politischen Anmerckungen des trefflichen H r n . Hoffmanns Johann Adolf Hoffmann, Politische Anmerckungen über die wahre und falsche Staats-Kunst, worinnen aus den Geschichten aller Zeit bemerket wird, was einem Lande zuträglich oder schädlich sey, Hamburg 1725. (Oberarbeitete Übersetzung von Hoffmanns Observationum politicarum, sive de re publica, libri X, Trajecti ad Rhenum 1719. Eine 2. Aufl. der Politischen Anmerckungen, verm. u. verb., erschien Hamburg 1740; die S. 203,2ff. zitierte Stelle findet sich dort aufS. 201 f f ) .

Stück 77 Der Patriot druckt vier Briefe ab, die vermutlich alle echte Einsendungen aus dem Publikum sind. Jeder schneidet ein anderes Thema an.

256

Kommentare

und

Erläuterungen

Der erste Brief fordert aus Anlaß eines hohen fürstlichen Besuchs vom Patrioten die Schilderung eines musterhaften Regenten. Dahinter steht die Hoffnung, solche Schilderung könne tatsächlich auf Gesinnung und Verhalten eines Prinzen von Einfluß sein, — eine Hoffnung, die im 18. Jahrhundert eine beträchtliche Anzahl von Fürstenspiegeln und Anleitungen zur Erziehung von Fürstensöhnen gezeitigt hat. Zur Begründung gibt der Briefschreiber an, der Patriot werde an verschiedenen Höfen gelesen, — eine Behauptung, die für uns nicht nachprüfbar ist, freilich nicht allzu viel Wahrscheinlichkeit für sich hat. Wenn Tatler und Spectator bezeugtermaßen am englischen Hofe Gefallen fanden, so ist es doch schwer vorstellbar, daß der bürgerliche Patriot in der puritanisch-pietistischen Atmosphäre um den preußischen Soldatenkönig in Berlin oder in der repräsentativ-glanzvollen Welt Augusts des Starken in Dresden Anklang finden konnte, — eher noch am Hof zu Kopenhagen oder an kleinen fürstlichen Residenzen wie in Braunschweig-Wolfenbüttel, auf dessen Herrscherpaar der Brief Bezug nimmt. Der zweite Brief fordert nähere Vorschläge zur Einrichtung einer Art von Vormundschaftsgericht oder Jugendpflegeamt, wie es der Patriot angeregt hatte (I, 21,6ff.), — eine soziale Institution, die möglicherweise sogar Befugnisse gegenüber angehenden Eltern haben könnte. Der dritte Briefschreiber mahnt zur Gefälligkeit gegenüber den Mitmenschen. Zum Anlaß nimmt er das Betragen eines jungen Herrn in der Oper. Dieses entspricht den Manieren des von Wochenschriften häufig gezeichneten Typs des Stutzers, des ,,petit-maitre". Im vierten Brief wird die vergnügte Ehe zweier tugendhafter Partner beschrieben. Besonderes Gewicht ist auf die Tüchtigkeit und Ökonomie der Eheleute gelegt. Der Mann ist arbeitsam, nutzt seine Zeit rationell, richtet seine Ausgaben nach den Einkünften und spart für den Notfall. Die Frau ist fleißig, gute Haushälterin, Verächterin von Pracht

zu Jahrgang 211725, Stück 77

257

und Üppigkeit. Statt aufwendiger Vergnügungen bevorzugen sie die bescheidenen häuslichen Freuden des Umgangs mit sich und wenigen Freunden. Die Ehefrau erscheint, fern patriarchalischer Ordnung, als fast gleichberechtigte Partnerin. Der Verkehr der Eltern mit den Kindern und dem Gesinde ist maßvoll temperiert: Arbeitsamer Mittelstand auf vergnügtem Mittelweg. Alle vier Briefe sind wichtig als Zeugnisse lebendigen Interesses des Publikums an der Verbesserung moralischer Standards und gesellschaftlicher Zustände. Sie sind zugleich ein Stück aktiver Resonanz auf die Bemühungen des Patrioten. Vf.

(Einsendungen)

Motto Horaz, Epistulae I, 1,11. — „Um das, was wahr und schicklich, sorge ich mich, danach frage ich, ja dafür lebe ich." 204

fehlt B7f. bey neulicher Ankunfft der Durchleuchtigsten Braunschweigischen Herrschafften vgl. Gallois, S. 48f: „Am 29. Mai 1725 kam die Herzogin von Braunschweig-Wolfenbüttel hier an und am 1. Juni folgte ihr ihr Gemahl; Beide logierten im Wolfpsehen Hause am Dammthore, hielten offene Tafel, besuchten die Kirchen und wurden durch Rathsdeputationen, Ehrengeschenken [!] und Kanonendonner geehrt."

207

32 Sofia] Sosia (Druckfehler dieses Neudrucks; die Oper, in der eine Figur namens Sosia auftritt, war nicht zu identifizieren).

208

1 - 4 :



Diese

] Dieser B.

23—25 Patriot, was sich] Patriot, wie mancher junger Stutzer eines guten Unterrichts von nöthen habe, die wahre Artigkeit und den Wolstand nicht so sehr im Kleider-Putze, und in angemasseter Kostbarkeit seiner willigen Dienste, als vielmehr einer wolgeschliffenen und gefalligen Seele, zu suchen; mithin was sich B.

258

Kommentare und Erläuterungen

Stück 78 Das Stück moralisiert gegen die Freigeisterei. Dazu dient die Anatomie eines Esprit fort und der Bericht vom lasterhaften Leben eines weiteren, zu politischer Macht gelangten Freigeists. Die ,¡moralische Anatomie" des Körpers eines Lasterhaften, namentlich seines Schädels, ist bereits in den großen englischen Wochenschriften entwickelt worden (z. B. Spectator Nr. 275, Guardian Nr. 35 und 39). Sie ist eine Art moralischer Charakteristik in physiologischen Befunden, bei welchen einerseits die üblen gesundheitlichen Folgen lasterhaften Lebenswandels deutlich werden, andererseits das Beobachtete auch symbolisch-allegorische Bedeutung besitzt, z. B. wenn im vorliegenden Fall in der rechten Kammer des Herzens eines Freigeists ein leerer Raum ist (213,31 f.). Die moralische Erzählung vom spanischen Freigeist Don Alfanzara gibt einen ganzen Lebenslauf. Sie nennt die Ursachen, die zur Freigeisterei führen: Eigenliebe, schlechte — höfische — Gesellschaft, Unerfahrenheit, Willensschwäche, frühzeitiges Reisen, — und sie schildert die verhängnisvollen Folgen für den Betroffenen wie für das ganze Land, denn die Exempelfigur hat es bei Hofe zu Macht und Ansehen gebracht. Die Darlegungen der Missetaten dieses „unredlichen Manns am Hofe" sind zugleich indirekt Kritik an politischen Mißständen in Monarchien. — Bemerkenswert, daß dieser Freigeist sich vor seinem Tode reuemütig wieder Gott zuwendet, wie das — so unpsychologisch wie erbaulich — noch in Gellerts Verserzählung Der Freigeist um die Jahrhundertmitte der Fall ist. Freigeister, d. h. Personen, die Gott leugnen und sich über die Forderungen der Religion hinwegsetzen, sind hier wie überall in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als lasterhaft dargestellt. Tugendhafte Freigeister sind noch nicht vorstellbar oder jedenfalls didak-

zu Jahrgang 2 /1725, Stück 78

259

tisch nicht vertretbar. Denn so sehr die Tugend nach dem Konzept der frühen Aufklärung mit vernünftigen Argumenten, mit den Gründen der „Weltweisheit", propagiert und befestigt werden soll, — auf die nützlichen Gebote und Verheißungen der Religion wünscht man daneben nicht zu verzichten. Der Glaube an Gott, an ein Gericht, an jenseitige Belohnungen und Strafen erscheint als ein so wichtiger Beweggrund zu tugendhaftem Verhalten (gerade auch bei noch nicht aufgeklärten Personen), daß die Leugnung Gottes und der kirchlichen Lehren das schlimmste befürchten lassen müßte. Also muß Freigeisterei aus erzieherischen Erwägungen auf jeden Fall negativ gezeichnet werden. Erst Lessing wagt es, in seinem Lustspiel Der Freygeist (1749) mit der Figur des Adrast einen edlen, tugendhaften Freigeist (der nur einen kleinen Fehler, ein Vorurteil gegen Geistliche, hat) zu schaffen. Vf.

]. A.

Hoffmann

Motti Vergil, Aeneis IV 366/367. - „Dich hat der Kaukasus gezeugt, von harten Felsen starrehd, und hyrkanische Tiger reichten dir die Brust." Vergil, Aeneis V446-448. - „Der Schlag des Entellusgeht in den Wind, er aber, seihst schon schwer, stürzt durch die Riesenwucht zu Boden." Erstes Motto fehlt B. 214

3

Dufftungen

11

Erheber

Gerüche,

Ausdünstungen.

Muskel, der die Augen (zu Gott) erhebt.

Arachnois 27 kenmarks.

Arachnoides: Spinnwebhaut des Gehirns und des Rük-

32 Pia Matre Pia mater: der innere Teil der weichen Gehirn- und Rückenmarkshaut, die die gesamte Oberfläche des Gehirns und des Rükkenmarks überzieht. 215

Eichel-Druse (glandula pinealis) die Zirbeldrüse im Gehirn, vielfach für den Sitz der Seele gehalten, u. a. noch von Descartes. 16

Caracteren

Charaktere: hier Chiffren,

Kennzeichen.

260

Kommentare und Erläuterungen

34 Don Alfanzara da los Gabachos sprechender Name, vgl. Alfanzerei (unsinniges Gehabe), und Span, gabacho: gemeiner, ekelhafter, schmutziger Kerl. 218

3 Herostratus tempel zu Ephesus. 32

220

Parmenio

zerstörte 356 v. Chr. aus Ruhmsucht den Artemis-

Feldherr und Vertrauter Alexanders des Großen.

" was Salomo saget vgl. Sprüche Salomos 26,9: „Ein Spruch in eines Toren Mund ist wie ein Dornzweig in der Hand eines Trunkenen."

Stück

79

Das Stück handelt von in Hamburg als Books=Beutel bezeichneten altmodischen Sitten und Gebräuchen. Der Patriot erörtert zunächst Bedeutung und Herkunft des Wortes Books=Beutel. (Seiner Erklärung, der Begriff leite sich her von den früher von weiblichen Personen beim Kirchgang in einem Beutel mitgeführten Andachtsbüchern, wird in der Buchausgabe von 1728/29 noch eine weitere Version hinzugefügt, nach der es sich einfach um eine Art hamburgisches Gesetzbuch des allgemeinen Schlendrians handeln müsse.) Sodann geht er auf die von seinem Freund Eudoxius zum Scherz entwickelte Vorstellung von der Existenz eines Mannes mit dem Namen Books=Beutel ein und druckt dessen testamentarische Verfügungen zu seinem Leichenbegängnis in aller Ausführlichkeit ab. Diese Verfügungen sind eine indirekte moralische Charakteristik des Testamentsverfassers. Sie erinnern formal an die Technik des satirischen Briefs, in welchem ein Briefschreiber sich wider Willen in Eigenschaften und Gesinnungen selbst bloßstellt. Die sehr detaillierten Wünsche des Eitelhard Books=Beutel spiegeln — karikiert — offenbar im alten Hamburg hier und da noch bei Beerdigungen übliche Gebräuche, bei denen Pietät, Geltungsbedürfnis, Aberglaube und alter Schlendrian verquickt sind.

zu Jahrgang

2 / 1725, Stück 79

261

Der Hamburger Hinrich Borkenstein hat einige Jahre später (1742) den Charaktertypus des Booksbeutel zum Helden eines Lustspiels in der Art der satirischen Verlachkomödie gemacht (Der Bookesbeutel). Die drei Regeln, mit denen der Patriot sein Stück beschließt, laufen wieder auf den goldenen Mittelweg hinaus: Der Vernünftige hängt weder alten Sitten und Gebräuchen sklavisch an, noch folgt er den jeweils neuesten Moden. Vf.

M.

Richey

Motto Persius, Saturae 5,91/92. — „Lerne, aber laß den Zorn um die Nase verschwinden und die faltenreiche Grimasse, während ich dir die alten Grillen (den Altweibersommer) aus der Brust hinaustreibe." 221

2

Books-Beutel

vgl.

Erl. zu I, 279,4.

224

II-13 Ob ich . . . ein Wort] Jedennoch muß ich, unserer klugen A r a m i n t e n zu Ehren, alhier nicht verschweigen, daß selbige unlängst, bey Gelegenheit eines Schertzes, den ihr Liebster, wegen des vom Frauenzimmer herrührenden B o o k s = B e u t e l s mit ihr führete, sich mit einer solchen Muthmassung heraus gelassen, die vielleicht alles Nachdenckens nicht unwehrt ist. Ihr lieben Manner, sagte sie, moget ja gar zu gern von allen Schwachheiten das Frauen-Volck zu Urheberinnen machen. Wie wäre es aber, wenn man einigen Grund fünde, zu glauben, es hatten nicht allein die Weiber ihr Kirchen=Buch, sondern auch wol die Minner ihre geschriebenen Gesetze und Gewohnheiten, in einem Uberzuge oder Beutel, zuweilen bey sich geführet, um daraus, bey allerhand Vorfällen sofort Masse und Ziel zu geben. Wenigstens wird sich mein Hertzliebster erinnern, mehr als eines von alten Hamburgischen Stadt-Büchern, wie auch von anderen Ordnungen und Gebräuchen, in so kleinem Formate, und von solcher Beschaffenheit gesehen zu haben, daß es ohne Zweifel zum Taschen-oder BeutelBuche hat dienen sollen. Wer denn nun, so fuhr sie fort, aus solchem Buchs-Beutel, den Leuten mit besonderer Fertigkeit beyrathig gewesen, dem hat man etwa das Zeugniß gegeben, daß er den B o o k s - B ü d e l wol Studiret hatte. H i n g e g e n m a g vielleicht auch mancher mit s e i n e m Buche all-

zuoft hervor gerücket seyn, und entweder nach dem Buchstaben der Gesetze, oder nach genauer Maßgebung der alten Gewohnheit, in allerhand freien und willkührlichen Dingen, den Leuten eine schriftliche Richtschnur angedrungen haben: daß daher der Buchs-Beutel allmählig seine gute Be-

262

Kommentare

und

Erläuterungen

deutung verlohren, und nichts anders zu heissen angefangen, als ein CORPUS IURIS des schlentrianischen Wolstandes, woraus sich diejenigen Raths erholen, die in gleichgültigen und erlaubten Dingen von der alten Weise nicht auf ein Haar breit wollen abgewichen wissen. A r a m i n t e mag dieses mit meinem obgedachten Freunde ausmachen, und ich bin meines Theils gern erbotig, bey einer von beiden Meinungen es bewenden zu lassen. Dessen aber ungeachtet, weil ich etwa davon ein Wort B. 20 f. Frauen-Volcke . . . beschlossen] Frauen»Volcke, oder von gewohnsüchtigen Männern, beschlossen B. 226

2 2 8

15

B°y

20

Carteck

Seidengewebe.

Wollflanellstoff.

25

Gueridons

frz.

lockerer

gueridon:

Leuchterstuhl,

Leuchtertisch.

* Staffen- oder Stützen-Trägern Staffen: Handgriffe; gerte Faßdauben, die ah Handgriff dienen (Mensing). 30

Gesicht auffschlage

ein Gesicht aufschlagen

=

eig.

verlän-

aufblicken.

Stück 80 Eine offenbar echte Einsendung nimmt Stellung zu früheren Ausführungen über die Zufriedenheit. Der Patriot antwortet. Der Brief bezieht sich vor allem auf das 46. Stück, in dem Argumente gegen die Unzufriedenheit vorgetragen worden waren. Das Anliegen des Briefschreibers ist, darzutun, mit allen Gründen und Anweisungen aus der Vernunfft (233,17ff.) werde doch nicht genug ausgerichtet. Die herrliche Gabe der Zufriedenheit sei durch frohen Gebrauch der Sinne, wie der Patriot das empfohlen hatte, durch Vernunfft und eigene naturliche Kraffte nicht vollkommlich zu erlangen (234,8ff.), sondern nur durch das Gebet und durch göttliche Gnade. Auch das Vorbild der heidnischen Weltweisen, der antiken Stoiker in ihrer Unerschütterlichkeit, sei fragwürdig; ein beunruhigtes Gewissen könne aus der Vernunft keine Ruhe erlangen.

zu Jahrgang 2 / 7725, Stück 80

263

Damit vertritt der Briefschreiber deu-tlich die alte christliche Position. Er hält dem. Patrioten, nur wesentlich konzilianter, vor, was bereits ein Jahr zuvor einige theologisch argumentierende Flugschriften sehr heftig gegen den Patrioten eingewandt hatten, daß nämlich mit den Mitteln der natürlichen Vernunft allein der Mensch, der gepeinigte Sünder (235,18), nicht ein wahrer, tugendhafter, erlöster Mensch werden könne, vielmehr müßten zuallererst Buße und Gebet statthaben als Vorbedingung der Gnade und von dieser allein könne wahre Ruhe und Zufriedenheit herrühren. Der Patriot entgegnet, er halte Unruhe des bösen Gewissens und Unzufriedenheit für zweierlei. Er konzediert sodann bereitwillig den Vorrang geistlicher Tröstungen vor denen der Vernunft, will dieser aber doch als edler Gottesgabe ihren Wert nicht benommen wissen, denn wenn sie wohl auch die höchsten Staffeln einer Christlichen Zufriedenheit nicht erreiche, so führe sie doch dazu hin. Gewiß sei das Gebet eine kräftige Hilfe, aber es sei auch Pflicht, in vernünftiger philosophischer Betrachtung die Zufriedenheit, und damit ja auch die Dankbarkeit gegen Gott, zu befördern. Mit dieser Entgegnung weicht der Patriot der grundsätzlichen Konfrontation mit der christlichen Heilslehre aus und rettet sich „bescheiden" in sein Ressort vernünftig diesseitiger Moral. Vf.

(Einsendung); J. A. Hoff mann (?)

Motto Seneca, Phaedra 162-164. — „ Was aber meinst du von der stets vorhandenen Strafe der Angst eines schuldbewußten Herzens, eines Sinnes von Sünde voll und der Furcht vor sich selbsti Ein gefahrloses Verbrechen mag jefnand begehen können, nicht aber ein sorgloses." 230

^

Das Horatianische: tolle querelas

vgl. Motto zu Stück 46.

233

Mittheilung des Gesprächs zwischen Alexander und Diogenes vgl. Stück 16 (die erwähnte Anekdote steht bei Cicero, Tusc. 5,92),

264 2 3 7

Kommentare

und

Erläuterungen

^ Hierocles Stoiker aus der Mitte des 2. Jhs. n. Chr., schrieb eine „ Grundlegung der Ethik in der auch die Pflichten gegenüber den Göttern behandelt sind.

Stück 81 Der Patriot befaßt sich mit unvernünftigen Vorstellungen von Schicksal und Zufall. Es geht darum, nachzuweisen, daß alles nach göttlichem Willen geschehe, auch wenn dies der beschränkten Einsicht nicht erkennbar ist. Die Vorstellung, ein blinder Zufall sei am Werk, der oftmals ehrliche, fromme und geschickte Leute böse träfe, komme einer Leugnung des göttlichen Regiments in der Welt gleich. Dem Aufklärer kann eine derartige Deutung nicht erträglich sein, denn er weiß sich in einer Welt, die von Gott aufs beste eingerichtet und auf die Glückseligkeit der Tugendhaften justiert ist; sein ganzes System einer gerechten Vorsehung müßte zu Bruche gehen. Die Argumente der Theodizee werden denn auch fleißig bemüht: Der Mensch kann nicht alle Ursachen und Absichten Gottes einsehen. Er hat ein so blödes als kurtzes Gesicht (242,4f); ihm ist vieles verborgen, was doch seinen Sinn hat. Bemerkenswert, daß sowohl ein ungläubiger Fatalismus zurückgewiesen wird als auch, andeutungsweise, die christliche Prädestinationslehre, wie sie besonders im calvinistischen Raum eine Rolle spielt. Der Patriot kann sich nicht mit der Meinung zufrieden geben, es komme darauf an, ob einer G O T T lieb, oder in Seinen Zorn gefallen sey (242,10f.), man müsse so etwas hinnehmen und könne aus seinen Glücksumständen auf die Erwähltheit oder das Verworfensein (daß ein frommer Mensch G O T T unangenehm sey (242,15f.)), schließen. Vielmehr hat die Vorsehung alles den Frommen zum Besten eingerichtet. Angesichts eines jenseitigen Lebens aber seien selbst das schwerste zeitliche Leiden und der Tod nur ein vorübergehendes Übel.

zu Jahrgang 2 /1725, Stück 82

265

Mit dieser letzten sich an die christliche Hoffnung anlehnenden Wendung kann der Patriot seine grundsätzlich vernünftige Zuversicht beibehalten. Der altfromme Gedanke, schweres Leiden könne „Prüfung" bedeuten auf dem Weg zum Heil, wird nicht ins Spiel gebracht. Vf.

J. A. Fabricius (?)

Motto Juvenal, Saturae 13,86/87. — „Es gibt welche, die alles für Zufälle des Glücks halten und meinen, die Welt werde von keinem Lenker bewegt. " 241 243

Musiv-Arbeit ^

Mosaik.

Auch David . . . gegeben

(31)—244,(9) Stück 98.

vgl. 1. Sam. 23.

Z» den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu

Stück 82 Ein eingesandter Brief kritisiert die Gelehrten; der Patriot gibt seinen Kommentar dazu. Das Thema wurde bereits des öfteren berührt. Die Gelehrten als ein eigener privilegierter Stand, ihr Ehrgeiz, ihr Pedantentum, ihre Ungewandtheit in Gesellschaft, ihre abseitigen Beschäftigungen, — all das ist dem vernünftigen, arbeitsamen, am Gemeinnutzen interessierten Bürger ein Ärgernis. Im vorliegenden Fall sind drei Gruppen unterschieden: Müßiggänger, die nichts als ihren gelehrten Zeitvertreib besorgen; eifrige Stubenhocker, die über nichts=bedeutende Dinge nachdenken (wobei für den Leser des 20. Jahrhunderts eine Pointe darin besteht, daß zu ihren unnützen idealischen Grillen auch das Erfinden von Lufft=Schiffen gerechnet wird); Vielschreiber, die sich mit allen Mitteln gedruckt sehen wollen. Alle diese Gelehrten sind der Welt weniger nütze als ein niedriger Tagelöhner.

266

Kommentare

und

Erläuterungen

Interessant ist, daß der Patriot die abgedruckte Einsendung deutlich kritisiert. Er vermißt das Lebhafte und Scherzhafte; die vorliegende Art des Vortrags werde die Betroffenen kaum bessern. Offenbar scheinen ihm allgemeine Kennzeichnungen weniger eingängig und attraktiv als anschauliche moralische Charakterporträts. Immerhin verspricht er sich vom Vorgebrachten einen Nutzen für angehende Gelehrte. Im übrigen beeilt sich der Patriot, den Tadel des Briefs nicht auf den hamburgischen Gelehrten sitzen zu lassen. Sein Urteil, die in Hamburg ansässigen Gelehrten könnten es mit denen zweier Universitäten aufnehmen, zeugt von vaterländischem Selbstbewußtsein und dürfte angesichts der tatsächlich damals in Hamburg lebenden hervorragenden Köpfe, von denen einige am Patrioten mitwirkten, nicht abwegig sein. Bemerkenswert ist die Verteidigung der so genannten Caffee=Gesellschafften (250,9) und anderer öffentlicher Zusammenkünfte. Sie schaffen die Möglichkeit einer Kommunikation der Bürger, die zuvor, da man nur in Gottesdiensten passiver Predigtzuhörer oder in Wirtshäusern von geistigen Getränken benebelter Zecher sein konnte, in der Öffentlichkeit — und zumal unter dem Einfluß des die Vernunft schärfenden braunen Getränks — nicht gegeben war. Hier kann man viele Freunde auff einmahl sprechen (250,18); die Privatleute finden sich zum Publikum zusammen.

Vf.

(Einsendung);

?

Motto Terenz, Eunuchus 248/249. — „Es gibt eine Sorte Menschen, bei allem die ersten sein wollen, es aber nicht sind."

246

die

' Leichen-gehen In Hamburg wurden die Gelehrten (wie die Ratsherren und Prediger) dafür bezahlt, daß sie einen Leichenzug in vollem Ornat begleiteten.

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 83 2 4 8

^

Savantamisos

267

„Gelehrtenverächter".

SAVANTAMISOS] CALLIPHRON B. (SO auch 248,29 und 250,4). - Calliphron „Schönsinn". 251

den auswärtigen

Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 83 Eine Einsendung moralisiert über die Rechthaberei von Halbgebildeten. Der Patriot kommentiert und ergänzt die Darlegung vor allem im Hinblick auf Kinder erzieh ung. Der aus Leipzig eingesandte Beitrag ist nach den Angaben des Patrioten gekürzt worden (256,15ff.). Er bringt sein Anliegen in einer Mischung von moralischer Charakteristik und moralischer Erzählung in der Ichform vor. Zur Folie für die Exempelfigur des Rixander dient der knapp skizzierte Charakter des Gratiosus. Einige Passagen der Schilderung sind recht anschaulich geraten (z.B. 254,3ff.). Als Ursache unvernünftiger Disputiersucht und streitsüchtigen Widerspruchsgeists ist unordentliche Schulung in Wissenschaften — Halbbildung — hingestellt. Das Laster ist deshalb so verwerflich, weil es die Harmonie des gesellschaftlichen Lebens, die herbeizuführen der Aufklärer sich bemüht, empfindlich stört. Der Patriot legt in seinem Kommentar das Gewicht auf die Erziehung der fugend; hier müsse dem Übel vorgebeugt werden. Interessant die Wendung gegen das Räsonnieren von Kindern (257,9ff.): vernünftiger Widerspruch soll ihnen nicht bestritten werden. Ein in der Form bescheidener und aus Lernbegierde entspringender Widerspruch eines Kindes ist erlaubt, und diese Erlaubnis ist dermassen nohtwendig, daß ohne dieselbe die Vernunfft unterdrücket wird (257,31f.). Wenn also die eigensinnige, störrische Widerrede eines Kindes abzulehnen ist, so soll doch keineswegs autoritäre Strenge selbständigen Vernunftgebrauch unterbinden. 18

Der Patriot, Bd. IV

268 Vf.

Kommentare

und

Erläuterungen

(Einsendung)

Motto Silius Italicus, Punica IV 53 5/536. — ,, Wiewohl eines Teils seiner Sehkraft beraubt und nur noch mit einem einzigen Auge kampfestauglich, schnellt Cupentus verwegen die Lanze."

252 ^

Rixander

„Streitmann".

255 ^

Gratiosus

„Gefällig".

Stück

84

Der Patriot stellt Betrachtungen über die Vaterlandsliebe an. Zur Erläuterung dienen ihm verschiedene Bilder und Gleichnisse. Von Hamburg, seiner "Wahlheimat, spricht der Patriot als von seinem besondern Vaterlande (259,6), dem er sich, wiewohl er auch Weltbürger sei, besonders verbunden fühle. (Deutschland, etwa das Heilige Römische Reich deutscher Nation, als Vaterland zu bezeichnen, kommt dem Patrioten nicht in den Sinn. Die Strukturen dieses — nach Samuel Pufendorf — „Corpus irreguläre et monstro simile" sind dem Bürger des frühen 18. Jahrhunderts nicht nahe.) — Der Patriot verweist zunächst auf den vorbildlichen Patriotismus in den Republiken der griechischen und römischen Antike. Nach Zurückweisung eines billigen Trinkspruchpatriotismus handelt er vom Gebot, sich dem gemeinen Besten zu widmen, wobei Menschenliebe ah natürliche Pflicht blos aus der Natur (261,5) verstanden, also nicht religiös abgeleitet ist. Überhaupt ist die ganze Argumentation vernünftig-„diesseitig" gehalten. — Von einer Sakralisierung des Vaterlands, wie sie im aufkommenden Nationalismus am Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachten ist, findet sich hier noch keine Spur. Das Vaterland ist das Gemeinwesen, dem man um der eigenen Selbsterhaltung unmittelbar verpflichtet ist. Offen

zu Jahrgang

2 /1725,

Stück 84

269

wird, auf den Nutzen hingewiesen, den der Bürger jeder Art aus dem Gedeihen seiner Republik ziehe. Nur deswegen geht das gemeine Beste vor dem Privat=Nutzen (261,22), weil dieser von jenem abhängt. Vor allem der Kaufmann wird aufsein Interesse am Wohlergehen der Stadt hingewiesen. Das Gemeinwesen ist es, welches ihm nicht allein Sicherheit, sondern auch Credit und durch einen Zusammenhalt vieler Menschen einen schleunigen Absatz seiner Waaren verschaffet (264,llff). Dieser den greifbaren Nutzen hervorhebenden, auf sentimentalen Appell und Idealisierung des Vaterlandes verzichtenden Argumentation entsprechen die Bilder, mit denen die Bindung des Einzelnen an das Ganze veranschaulicht wird. Das Bild vom Leib, an dem alle Einzelnen die Glieder sind (261,7), wird in der Erinnerung an die antike Fabel von der Dissoziierung des Magens aus dem Körper noch ein zweites Mal angeführt (263,31ff). Die Fabel von den ihrem Lande den Dung verweigernden Kühen zielt in die gleiche Richtung; sie hat einen merkantilistischen Hintersinn: die Geldmittel der Bürger müssen dem eigenen Land erhalten bleiben, sie dürfen nicht in die Fremde fließen. Schließlich wird auch noch das Bild vom Schiff benutzt, in dem alle sich befinden und an dessen Seetüchtigkeit jeder interessiert sein muß. Das Eigeninteresse ist das stärkste Motiv zur Vaterlandsliebe. Das kommt auch noch in der Schlußformel zum Ausdruck, bei der der Patriot eine biblische Autorität bemüht. Der Patriot gestattet sich im vorliegenden Stück keinen vergleichenden Blick auf die Zustände in anderen Ländern. Er spricht zwar sehr allgemein von den Vorzügen, deren wir uns vor vielen andern Oertern zu rühmen haben (264,27f.), aber er geht nicht darauf ein, daß die Bürger der meisten anderen deutschen Städte unfrei, Untertanen, sind. Gleichwohl war sein Aufruf zum Engagement für das gemeine Beste, also zum „Patriotismus", vermutlich geeignet, die Leser 18'

270

Kommentare

und

Erläuterungen

in absolutistisch regierten Regionen über Sinn und Möglichkeiten bürgerlicher Selbstverantwortung nachdenklich werden 7m lassen. An zwei Stellen (262,12ff; 265,7ff.) tritt übrigens deutlich der Gedanke der Selbstvorsorge des Bürgers für die Zukunft zutage, der einem stillschweigenden Verzicht auf das alte christliche Vertrauen in die Providentia Dei entspricht. Das biblische „Sorget nicht!" (Matth. 6, 25—34) ist für den Bürger der Aufklärung kein Argument mehr.

Vf.

B. H.

Brockes

Motto Cicero, De officiis 117,57. — „Lieb sind uns die Kinder, Verwandte, Freunde. Das Vaterland aber übertrifft sie alle um vieles." 2 6 0

Cardani Girolamo Cardano (1501—1576), Philosoph, Arzt und Mathematiker. Der Patriot bezieht sich offenbar auf seine Lebensbeschreiaus bung (Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung, dem Latein, übers, von Hermann Hefeier, neu hrsg. von Friedhelm Kemp, München 1969, S. 108f). 6

Codrum

Kodros: sagenhafter

König von

Athen.

10 Aristippus und Theodorus Aristippos: griech. Philosoph (geb. ca. 435 v. Chr.), Schüler des Sokrates, Hedonist. — Theodorus: Schüler des Aristippos in der kyrenischen Schule, ebenfalls Hedonist. 2 6 2

eine kleine Fabel dem berühmten Nachfolger des Hrn. la Fontaine abzuborgen Die 262,18-262,30 erzählte Fabel ließ sich nicht identifizieren, namentlich auch nicht unter den Fabeln des Antoine Houdar de la Motte (1672-1731). 28 Gaare Gare: „Der Zustand, da eine Sache gar, d.i. fertig, reitet, zu einem gewissen Gebrauche geschickt ist" (Adelung).

2 6 3

2 6 5

22

Knaack

31

einer andern bekannten Fabel

19f. (21 ff.)

Knack: dürres

Suchet der Stadt . . . Zu den auswärtigen

zube-

Reisig.

Jerem.

vgl. Erl. zu I I I ,

344,26ff,

29,7.

Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 85

Stück

271

85

Eine Einsendung stellt — in enger Anlehnung an The Guardian Nr. 49 — über wahres und eingebildetes Vergnügen Betrachtungen an. Das Dargelegte entspricht dem optimistischen Konzept der Aufklärung, wonach jeder Vernünftige in dieser von Gott wohlgeordneten Welt sein Vergnügen finden kann, auch wenn er nicht reich und vornehm ist. Vernünftiger Genuß der Gaben Gottes ist nicht an Besitz gebunden, das wird vor allem im Hinblick auf die Annehmlichkeiten ländlicher Natur entwickelt. Hier, auf dem Lande, in freier Luft, bei Spaziergängen, unter heitrem Himmel, aber auch beim Mondschein, erfährt der Mensch ein wahres irdisches Vergnügen. Als Gegenwelt, wo Geldgier, Rangsucht und Mode herrschen (268,15ff), erscheint vor allem der höfische Bereich. Bürgerlicher Ökonomie entspricht es, wenn artige Kupferstiche statt kostbarer Gemälde, wohlfeile hübsche Gläser statt des gebrechlichen chinesischen Porzellans gepriesen werden. Reinlichkeit und Nutzen (271,8), — das ist gleichsam die Formel für ein bürgerlich-häusliches Vergnügen. Elend, Niedrigkeit, Krankheit, Not werden in dieser optimistischen Betrachtung als Möglichkeiten nicht erwogen, ebenso nicht Armut, völlige Mittellosigkeit. Das besagt indirekt: die vorliegenden Ausführungen richten sich praktisch an den situierten Bürger. Ihm, der ein gewisses Auskommen hat, ist die relative innere Unabhängigkeit zuzumuten, die Voraussetzung irdischen Vergnügens ist. Diese innere Unabhängigkeit beruht jedoch zugleich auch auf einer Religiosität, in welcher sich vernünftig-philosophische Elemente mit alten christlichen Glaubensvorstellungen mischen. Bezeichnend die Ausdrucksweise, die von Gott deistisch als dem Werckmeister unsers Wesens (267,23f.), von der Gottlichen Weisheit und Güte (267,31), vom Beherrscher der Welt (268,4), vom unendlichen Wesen (272,6)

272

Kommentare

und

Erläuterungen

spricht und zugleich auch schon naturreligiös von der weisen Natur (268,32), der gutigen Natur (269,12f.) redet, während andererseits am Schluß die Belohnung der Tugend durch die ewige Glückseligkeit berufen und — christlich — die Hoffnung hervorgehoben wird (272,13). Hier, im Radius christlicher Vorstellungen, werden sogar Elend und Niedrigkeit als Möglichkeiten menschlicher Existenz mit einbezogen; die Gewißheit einer jenseitigen Vergeltung könne sie in ihr Gegenteil verwandeln. — Der Synkretismus dieser Vorstellungen ist nicht zu übersehen. Aus der Vorbemerkung geht hervor, daß der Patriot mit dem Abdruck dieses praktisch aus dem Guardian entlehnten Stücks von einem Vorsatz, nur Originalarbeiten zu bringen, abweicht und daß er auf seine sonst von ihm beobachtete Selbständigkeit stolz ist. Seine Originalität ist seine Ehre (266,17), die hier nur zum Nutzen der Leser einmal hintangestellt wird. Vf.

(Einsendung)

Motto Horaz, Epistulae 16,2. erhalten kann." 2 7 1

^

Lappereyen

—,,...

was glücklich machen und

glücklich

Kleinigkeiten.

Stück 86 Ein Brief richtet sich gegen Kritik an heilsamen Veränderungen in Hamburg. Der Patriot bekennt sich zum Prinzip der Verbesserungen. Ein fingierter Brief traktiert das Thema scherzhaft. Bei dem ersten, von Liebezeit verfaßten Brief dürfte es sich um eine echte Einsendung aus dem Publikum handeln; er ist umständlich, in verschachtelter Syntax (z. B. 275,17ff.)

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 86

273

abgefaßt und vergleichsweise schwer lesbar. Die Buchausgabe von 1728/29 hat ihn denn auch vollkommen neu gefaßt. Der Verfasser rechnet mit den Mißvergnügten ab, die störrisch alle Verbesserungen ablehnen, und gibt vor, in einem Kaffeehaus eine ganze Gesellschaft solcher Mißvergnügten getroffen zu haben. Bei den Veränderungen, für die der Patriot dort ah Haupturheber angesehen wird, handelt es sich um die neue Einstellung zu Pracht und Aufwand, um die Geringschätzung von Abkunft, Alter, Titeln und Rängen zugunsten von Verdiensten (276,29ff.) sowie um die Abkehr vom Prinzip der Vermögensgleichheit bei Heiraten. Des weiteren ist von neuen Begriffen im Rechtswesen die Rede, denen namentlich das traditionelle Advokatendeutsch zum Opfer fällt, vom Vordringen nützlicher Wissenschaft gegenüber alter Pamphletenund Liebesgeschichtenliteratur, schließlich vom Wandel in der Einschätzung der Kreditwürdigkeit (278,11ff). Es handelt sich in allen Fällen um vom Patrioten propagierte Einstellungsänderungen, nicht um neue öffentliche Ordnungen. Allerdings ist die Möglichkeit, daß dem Wandel in der Einstellung, in der öffentlichen Meinung, tatsächlich obrigkeitliche Regelungen folgen könnten, ausdrücklich genannt (276,5f.). Die sozialpolitische Bedeutung der Aktivitäten des Patrioten ist damit anvisiert. (Die Fassung der Buchausgabe hat das übrigens verwässert. Dort bezieht sich die Kritik vor allem auf bereits erlassene Verordnungen und Policey=Verfassungen.') Der Brief des Thomas Clysteriophilus kompensiert durch seinen scherzhaften Charakter Umständlichkeit und Ernst der vorangegangenen Einsendung und resümiert auf seine Weise die Wirkungen des Patrioten in der Stadt. Der kurze Kommentar zwischen den beiden Briefen ist nicht unwichtig, denn der Patriot bekennt sich dort angesichts von Klagen ob der schlimmen Zeiten zu einem Zeitgebrauch, mit dem man Verhältnisse ändert. Fromm-gelassene

274

Kommentare

und

Erläuterungen

Hinnahme der Dinge ist nur bei unveränderlichen Zufallen (279,17f.), bei Schicksalsschlägen, auf die man keinen Einfluß hat, verstattet. Im übrigen ist die Zeit der Acker stetiger Besserung (279,13ff.). Vf.

(Einsendung);

?

Motto So nicht bei Tacitus, jedoch ähnlich z. B. in Dialogus de oratoribus 15,1 und 18,3. — „So sind die Sitten des Volkes: das Gegenwärtige verachten, das Zukünftige ersehnen, das Vergangene verehren." Motto

B

D E S I N E M E Q U E TUIS INCENDERE T E Q U E Q U E R E L I S .

Vergil, Aeneis IV360. zu quälen." 2 73

VIRGIL.

- „Höre doch auf, mich und dich mit deinen

Klagen

2—279,20: „In dem ein und dreissigsten Stücke Ihrer Papiere werden „die Klagen der Menschen über die jetzige Zeiten mit gutem Grunde „für eine allgemeine Kranckheit gehalten. Vielleicht aber ist Ihnen bey „Herausgebung desselben noch unbekannt gewesen, daß sich ein eige„nes Lazareth in dieser Stadt befinde, in welches sich Leute von „mancherley Stande und Gattung freywillig einsperren, die nicht nur „die Seuche einer beständigen Klage-Sucht mit sich herumschleppen, „sondern sich auch alle Mühe geben, derselben taglich neue und sattsame „Nahrung zu reichen. Ich weiß wenigstens einer Gesellschaft keinen „bessern Nahmen beyzulegen, die sich jeden Abend, zu gesetzter Zeit, „vornehmlich in der Absicht zu versammlen pfleget, um aus allen denjenigen Vorfallen und Neuigkeiten, die sie täglich siehet und höret, eine „Gelegenheit zum Mißvergnügen und Tadeln zu nehmen. „Es hat mich vor einigen Wochen ein besonderer Zufall unter diese „Klage=Geister geführet: und weil mich die Neugierde nachgehends anget r i e b e n , ihren Unterredungen mehr denn einmahl beyzuwohnen, so bin „ich desto mehr im Stande, Ihnen, Mein Herr Patriot, eine so genaue „Nachricht davon zu geben, als sie immer von einem Ihrer sorgfältigsten „Kundschafter verlangen können. „Der Ort, wo sich diese Leute versammlen, ist ein durch sie vornehml i c h in Ruff gebrachtes Caffe-Haus. Sie haben sich in demselben mit Fleiß „die gewöhnliche Trinck=Stube auserlesen, weil sie es Schade zu seyn ver„meinen, wenn nicht andere Leute von ihren Gesprächen zugleich mit „ihnen einigen Nutzen schöpfen sollten. „Es sind nur wenige, die in der Gesellschaft das Wort führen. Die „übrigen sind stumme Personen, die ihre Aufmercksamkeit gemeiniglich

2 » Jahrgang

2 / 7725, Stück 86

275

„durch eine Pfeiffe Toback unterhalten, ihr gemeinschaftliches Mißverg n ü g e n aber dadurch anzeigen, wann sie die Pfeiffe niederlegen, hinter „den Ohren kratzen, mit dem Kopfe schuttein, die Schultern ziehen, die „HInde falten, tieffe Seufzer holen, oder mit den zornigsten Geberden „vom Stuhle aufspringen. Kommt es aber ja bey ihnen zum Reden, so sind „es einige nach einander folgende Fluche, und sie begnügen sich übrigens „damit dem Urtheile ihrer Herren Collegen ohne Untersuchung allemahl „beyzufallen. „Keinen grossem Eifer von solcher Art habe ich bey ihnen angemercket, „als wann vom B e s t e n des V a t e r l a n d e s geredet wurde. Denn Sie „müssen wissen, M e i n H e r r , daß diese Gesellschaft von keiner Sache „mehr und lieber zu sprechen pflege, und daß sie, ihren Reden nach, nichts „mehr bedaure, denn daß nicht wenigstens in jedem Kirchspiele der Stadt „eine solche Patriotische Gesellschaft, wie sie die ihrige zu seyn vermeinen, „gestifftet werde. „So bald eine Verordnung zu Stande, oder auch nur in Vorschlag geb r a c h t worden, welche das gemeine Wesen angehet, so bald wird solche „der erste und hauptsachlichste Vorwurff ihrer Unterredung. Es ist aber „weder Rath noch Bürgerschaft im Stande, etwas zu belieben, welches sie „nicht entweder gantz anders würden eingerichtet haben, wenn man sie „vorher um ihre Meinung gefraget hatte, oder welches sie nicht aufs aller„scharffste nach ihrer ersteren Staats-Regel untersuchen, welche darin bes t e h e t , daß in Republicken, auch bey der geringsten Veränderung, Gefahr „sey, und daß man alles beym alten lassen müsse. „Sie vergessen nie, den gantzlichen Verfall ihres Vaterlandes zum voraus „zu prophezeien, wann sie auf das Gespräch von neuen Policey=Ver„fassungen gerathen. Sie halten so unmöglich, als ohne Nutzen zu seyn, „bey jetziger galanten Welt ins Werck zu richten, was nicht einmahl die „alten Stadt-Recesse in so langen Jahren, und zu denjenigen Zeiten mog„lich machen können, da man mehr als jetzund gewohnt gewesen, die ,,Glücks*Güter altvaterisch in den Kasten zu sperren. Sie unterstützen mit „vielen durchdringenden Worten, wie man keine Gesetze machen müsse, „die nur einiger massen einer bürgerlichen Gleichheit entgegen lieffen, und „die alte rühmliche Gewohnheit, jemand nach dem Gewichte seines „Schatz=Kastens vornehm oder gering zu nennen, übern Hauffen würffen. „Sie ängstigen sich auf gleiche Weise mit der Herannahung der Grund» „verderblichsten Zeiten, wann sie hie und da freywillige Exempel der Spars a m k e i t und einer guten Haushaltung wahrnehmen. Sie vermeinen, daß „ein heimliches Absehen darunter verborgen liege, wann angesehene Leute „in dem Prachte geringeren nachgeben; wann es bey ihrer Nachbaren „Gastereyen, Hochzeiten, und Kinder=Treck so stille zugehet, daß sie „kaum etwas davon vermercken, so machen sie sich gewiß die Rechnung,

276

Kommentare

und

Erläuterungen

„es müsse wieder alles sonstige Vermuthen mit der Leute Vermögen nicht „gar zu wol stehen; und w a n n sie bey einer bemitteltelten Braut nicht für „einige tausend Reichsthaler Juwelen bemercken, oder angehende Ehel e u t e ihnen zu Fusse begegnen, so beklagen sie die Juwelirer und H a n d „wercker, daß man sie um ihren Verdienst bringe. Uberhaupt aber halten „sie von sehr gefahrlicher Folge zu seyn, durch vorerwehntes und mehr „dergleichen Betragen sich solcher Vortheile zu begeben, in deren Besitz „die Einwohner dieser Stadt weit über Menschen Gedencken gewesen, und „die ihnen in der gantzen Welt das Lob der Gast-Freiheit und Pracht vor „andern Städten zu wege gebracht hätten. „ W o w i l l es j e t z u n d m i t d e r n a c k e n d e n E h r l i c h k e i t h i n a u s ? „ w a r einstens die Frage eines Gesellschafters, den es verdrossen hatte, daß „ m a n ihm bey einer gewissen Gelegenheit den Besitz seines vaterlichen „Erb-Gutes zu keinem Verdienste rechnen wollen: und w a s w i l l e n d l i c h „ a u s d e m J u s t i t z = T e u f e l w e r d e n ? sagte ein anderer, da dessen Klauen „bereits in den Gerichten so sehr herum wühlen, daß er sich weder durch „Geschencke noch B e r e d s a m k e i t will ausrotten lassen. Der dritte, der „diesem zur Seiten saß, kam ihm zu Hülffe, indem er aus eben dieser U r „sache den schlechten Verdienst seines alten Oheims, Herrn Doctor „ S c h r i f t d ü n c k e l s , herzuleiten sich bemühen wollte, als welcher bey „nahe betteln gehen müsste, da man ihm so gar einen Reichsthaler für den „Bogen wegerte, ob gleich auf einer Seite in seinen Schriften weit mehr „Latein und Glossen, als in anderer Advocaten gantzen Acten angebracht „ w a r e n . Dieses, fuhr er fort, wäre noch vor zwanzig Jahren so gut als baar „ G e l d gewesen, und man hatte sich geschämet, die Sprache der Kauff„Leute und Handwercker bey Rechts-Handeln zu gebrauchen, welches „doch ietzund so sehr zur Mode geworden, daß wer nur kurtz, Teutsch, „und nicht undeutlich schriebe, demjenigen das Brodt vor dem M u n d e „wegnähme, der einer ausführlichen vermischten und gelehrten Schreib„ A r t gewohnet wäre. „ J a , versetzte ihm sein Nachbar, es mag mit dem Verdienste der Herrn „Gelehrten bey ietziger Zeit so schlecht geworden seyn, wie es wolle, so „haben sie doch bey weitem nicht so viel zu klagen, als die Kauff-Leute. „ W a s muß ich nicht selbst vor Augen sehen? Meines seligen Vaters gew e s e n e r Junge, den er als einen Fündling aus dem Waisen-Hause aufg e n o m m e n , hat mir nicht nur ein reiches Madgen, worauf mir meine „Groß=Mama schon im sechsten Jahre meines Alters eine Anwartschaft „gegeben, abspännstig gemacht, sondern ich muß mit Betrübniß sehen, „ d a ß er weit mehr Credit, als ich, an der Börse habe, und daß mir Gelder, „ w o f ü r ich sechs PRO CENT gebe, aufgekündiget werden, um sie ihm zu „vier PRO CENT vorzustrecken. „Es folgte bey diesem Gespräche noch ein und anderes von dem Ver„derb der Handlung, welches ich aber anzuführen für überflüssig halte,

zu Jahrgang

2 /1725,

Stück 86

277

„weil es meistens eine Wiederholung desjenigen seyn würde, was Sie, mein „Herr Patriot, in dem angeführten ein und dreissigsten Stücke Ihrer Pa„piere bey dem Exempel des B e r a n d e r s angemercket. Das einzige, was „ich hinzuzusetzen noch übrig finde, ist ein ergebenstes Gesuch, die „Klagen über die schlimmen Zeiten einer so allgemeinen Prüfung zu unter„werffen, als Sie uns solche von den besondern Klagen der Kauff-Leute „mitgetheilet. Ich überlasse Ihnen selbst, wie weit Sie sich der von mir geg e b e n e n Nachricht bedienen wollen, und verharre etc. von Hause, den 1. Jul. 1725. Tiedelef.

Ich habe um so viel weniger unterlassen wollen, obiges Schreiben meinen Papieren einzuverleiben, als ich den Unfug dererjenigen darin nicht undeutlich beschrieben finde, welche alles, was entweder ihnen selbst wiedriges begegnet, oder auch nur mit ihrer Meinung nicht übereinstimmet, für ein unfehlbares Zeugniß einer Verschlimmerung der Zeiten ausgeben, ohne bey dem ersteren nachzudencken, ob sie nicht selbst die Urheber eines solchen Schicksals hauptsächlich gewesen, oder bey dem andern vorher zu überlegen, ob sie fähig gnug sind, dasjenige zu beurtheilen, wozu ihnen weder ihr Beruff die Befugniß, noch die Erfahrung eine gnugsame Wissenschaft beygeleget. Der Nähme eines Lazareths schicket sich nicht unfüglich für eine solche Art Leute, und die schlimmen Wirckungen, welche solche von unzeitigem Gram verdorrete Glieder gar oft an der Gesundheit des gantzen Corpers der Republik verursachen, sind zu vielfältig, als daß man sie für gesunde Leute halten konnte. Zwar ist es nicht so gar ohne Grund gesaget, wenn man in Vergleichung der ietzigen Zeiten mit den vorhergehenden einige Abnahme der Nahrung und des Wolstandes in einigen Stücken zu verspüren meinet. Wie sie aber auch hingegen in andern unfehlbar sich verbessert, so pfleget man auch bey jenen gar selten alle Behutsamkeit in Acht zu nehmen, wann man auf den Ursprung der Veränderungen zurück gehet. Es ist nichts gewohnlicher, als die Zufälle, womit eine Gottliche Versehung Oerter und Länder heimsuchet, und welche eigentlich eine Zeit vor der andern gesegnet und glücklich macht, mit denjenigen zu vermischen, welche man selbst hätte abkehren können, wenn man diejenigen Stunden zum guten Gebrauch der Zeit, und zu seiner Selbst=Besserung hätte anwenden wollen, worin man sich eine unnöthige Beschäfftigung gegeben, über dieselben sich zu beschweren.

278

Kommentare

und

Erläuterungen

Diese Versaumung einer so nothwendigen Pflicht machet manchen mit sehenden Augen so blind, daß er auch die Verbesserung der Zeiten nicht ertragen kann. Und wenn er gleich nichts erhebliches dagegen einzuwenden hat, so ist es ihm doch schon zur Gewohnheit geworden, lieber denen stillschweigend beyzufallen, die aus allen Sachen eher was böses als was gutes schliessen. So findet sich leichtlich eine gantze Gesellschaft zusammen, die weder bey ihren eigenen Personen dem Schicksale eines allweisen Schopfers mit Gelassenheit sich unterwerffen, noch in denenjenigen Sachen, die das gantze gemeine Beste betreffen, diejenigen will rathen lassen, welche ihrem Ampte und Gewissen nach dafür zu sorgen verordnet sind. Dahingegen solche Leute nicht nur die Obliegenheit eines rechtschaffenen Burgers weit besser beobachten, sondern auch sich selbst von einer grossen Marter befreien würden, wenn sie sich nur angewehnen wollten, in allen ihnen vorkommenden Begebenheiten ohne gnugsame Untersuchung der Ursachen nie zu urtheilen, sich selbst hingegen mit unpartheyischem Ernste zu prüfen, von der Verbesserung ihrer eigenen Fehler den Anfang zu machen, und nicht sowol über die Zeiten zu klagen, als dieselbe durch patriotische Bemühungen fürs gemeine Beste mit verbessern und erleichtern zu helffen. Letzteres ist nicht so schwer, als wie mancher vermeinen mogte; und wer die Pflichten gegen G O T T , sich selbst und den Nächsten zusammen verbindet, wird in meinem neun und vierzigsten und vier und achtzigsten Blate der Mittel gar bald gewahr werden, wodurch er sich aller und ieder Zeiten, zu seinem und des Vaterlandes Nutzen, bedienen könne. Ich vermeine auf diesem Papiere noch so viel Raum übrig zu haben, daß ich einen Brief anfügen kann, der mich selber, mit aller meiner aufrichtigen Bemühung, zu einem Mitverderber der Zeiten machen will. Meine Gedancken sind ietzo zu ernsthaft, als daß ich mich dagegen behorig vernehmen lassen kann. Der Verfasser wird die nothige Antwort bloß in dem lächelnden Gesichte eines ieden vernunftigen Lesers finden können. Ich aber begnüge mich, zu wünschen, daß alle Klage-Geister ihre Beschwerden mit solcher Erheblichkeit führen mögen. B. Tiedelef

plattdt.,

„Zeitlieb".

2 7 5

^

das Patriotische Augen-Wasser

2 7 6

1

Boocks-Beutel

vgl. Erl. zu I,

vgl. Stück 5. 279,4.

5 Policey» Wesens „Policey: die Handhabung, der Dinge, auf welche die Wohlfahrt und die Sicherheit eines Staates ankommt" (Adelung).

zu Jahrgang

279

2 /1725, Stück 87

6 Kleider-Ordnung Die letzten Kleiderordnungen wurden in Hamburg offenbar 1648publiziert. (Vgl. L. C. Eisenbart, Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Göttingen 1962.) 7 Stadt-Recesse in Hamburg Verträge zwischen dem Rat und der erbgesessenen Bürgerschaft; im engeren Sinne stadtrechtliche Beschlüsse mit Verfassungscharakter wie der „Lange Receß" 1529 oder der „Hauptreceß" von 1712. 12 f. einer Bürgerlichen Gleichheit entgegen bürgerliche Gleichheit hinaus. 2 7 7

Lufft

„manchmal

im Sinne von: auf eine

steht luft für himmelstrich geradezu"

15—17 die von Geschencken . . . befreyte Hinde in Rechtssachen. 32

Auffsätze

Aufsatz:

Entwurf einer Schrift,

(Grimm).

Unbestechlichkeit

Eingabe.

Stück 87 Das Stück handelt von geheuchelter Vergeßlichkeit. Ein Briefschreiber empfiehlt einen wunderbaren Gedächtnisauffrischungs-Schnupftabak. Der Patriot bedankt sich und schließt mit einer Anekdote. Der wunderbare Schnupftabak ist ein Pendant zu den moralischen Meßinstrumenten und Wundermitteln, über die der Patriot als fiktiver Verfasser verfügt. Mit seinem Schreiben spielt Polymnemon das unterhaltsame Spiel der Fiktionen mit. Die drei von ihm geschilderten erfolgreichen Kuren mit dem Universal=Schnupff=Toback für das Gedachtniß machen drei kleine satirisch-moralische Erzählungen aus, in deren Mittelpunkt jeweils eine Exempelfigur steht. Die Geschichte von Jürgen Kneyenvogt zielt auf die Mode galanter Kavaliersreisen nach Frankreich mit dem Effekt der Verachtung der deutschen Muttersprache. Die zweite Geschichte kritisiert das hochmütige Ignorieren aller früheren Freunde, ja der eigenen Eltern durch einen Aufsteiger aus

280

Kommentare und Erläuterungen

niedrigen Verhältnissen. Mit der dritten Geschichte wird der bei Hofe besonders verbreitete Usus leerer Versprechungen auf Ehre (286,9) aufs Korn genommen, wobei das ganze Protektions-, Günstlings- und Bestechungswesen dieses Milieus mit anvisiert ist. Zum Schluß gestattet sich Polymnemon noch einen Seitenhieb auf sitzengebliebene alte Jungfern sowie auf den Patrioten selber, der auch einige Zusagen vergessen zu haben scheine, — ein weiteres scherzhaftes Element in der Darbietung des moralischen Stoffs. Der Patriot geht munter auf das fingierte Schreiben ein und erläutert für alle Fälle, wie dessen Ausführungen zu verstehen seien (287, 2 5 f f ) . Die angehängte Anekdote, deren Interesse auf der Doppeldeutigkeit des Namens Cäsar beruht, dient, aus der englischen Literatur übernommen, eher der Unterhaltung als der moralischen Belehrung. Allerdings illustriert sie erneut dem Bürger die gefährlich schlüpfrigen Verhältnisse bei Hofe. Hinter dem das ganze Stück durchziehenden Motiv der wunderbaren Kurierung von falscher Vergeßlichkeit steht im übrigen ein die frühe Aufklärung beherrschender Gedanke, — der Gedanke der Überwindbarkeit von ,,Lastern". Moralische Fehler können eingesehen und abgelegt werden; Lasterhaftigkeit ist kurierbar durch rechten Vernunftgebrauch; vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen, mit Christian Wolff zu sprechen, führen zur Erkenntnis des Guten und zu entsprechendem Handeln. Das rechte Heilmittel ist daher kein wunderbarer Schnupftabak, sondern: Aufklärung. Vf.

]. Thomas; t

Motto Quintilian, Institutio oratoria XI 2,1. — „Jede Zucht bleibt in Erinnerung. " Motto B

Sl

BENE Q U I D A U T FIDELITER FACIENDUM EST, EO D E U E N I U N T ,

O B L I U I O S I EXTEMPLO VTI FIANT: MEMINISSE N E Q U E U N T . P L A U T .

zu Jahrgang 2 /1725, Stück 88

281

Plautus, Miles gloriosus 889/890. — „Wenn etwas gut und zuverlässig zu machen ist, dann kommt es dazu, daß sie es sofort vergessen: sie können sich nicht erinnern." 281

282

5

Wetter-Glas

7f.

Philosophische Uhr

9 f.

Pe-kad-en-nosch

11

blaues Wasser

285 287

Salvey

vgl. Stück 52.

vgl. Stück 74.

vgl. Stück 5.

^ têtes moutonnées ten Haaren. 31

284

vgl. die Stücke 17 u. 34.

Krausköpfe, hier hohe Perücken mit gekräusel-

Salbei.

17

Albinopel

^

von

^

Polymnemon

„Elbstadt",

Udeno

„von

Keiner".

„Merkviel".

31 f. des Englischen Groß-Cantzlers, Ciarendons, Geschichten Edward Hyde (seit 1661 Earl of Clarendon), 1609-1674, englischer Staatsmann und Historiker, mußte 1667 nach Frankreich fliehen, wo er seine History of the Rebellion and Civil Wars in England vollendete, die in sechs Bänden 1702—1704 erschien. — Der nachfolgende Auszug ist die Übersetzung der Kapitel 113—114 des 1. Buches im 1. Band (S. 66f. des Neudrucks, Oxford 1969). 288

1 König Carl dem Ersten Schottland und Irland.

Karl I. (1600-1649), König von England,

Stück 88 Der Patriot handelt von vernünftigen Vergnügungen. Er geht aus von der Verpflichtung zur Arbeit, bestimmt von da her die Funktionen von Vergnügung und E r g e t z l i c h k e i t , befaßt sich mit den je nach Alter, Geschlecht, Stand und Beruf verschiedenen Arten solcher Belustigungen und endet mit Kritik an unvernünftigen Vergnügungen bei Handwerkern einerseits, bei Adligen und Fürsten andererseits.

282

Kommentare und Erläuterungen

Das protestantische Arbeitsethos prägt die Argumentation des Patrioten noch unverkennbar mit. Belustigung, Vergnügung., Ergetzen, Zeitvertreib bedürfen der Begründung, der Rechtfertigung. Ein Streben nach purem Lebensgenuß, Vergnügung um der Vergnügung willen sind wie alles Nichtstun, aller Müßiggang, abzulehnen. Vergnügungen sind nur vertretbar als Ausgleich, zur Erquickung (291,1), — der Terminus „Erholung" wird noch nicht gebraucht. Die Gesundheit, ohne welche man zur Ausrichtung einiger nützlichen Arbeit [. . .] ungeschickt (291,5f.) wäre, hängt vom Wechsel von Ruhe und Bewegung ab. Der einzige Zweck . . . unserer ausruhenden Belustigungen ist dieser, daß man zu so viel besserer Fortsetzung seiner Beruffs=Arbeit sich auffmuntere. Der Vernünftige sorgt daher für den Ausgleich, er geht den Mittelweg zwischen Mühe und Ergötzen (291, 13). Eine wohlanständige ermunternde Vergnügung ist dem Tätigen anzuraten. Für ein solches Konzept beruft sich der Patriot mehrfach außer auf die menschliche Natur auch auf den göttlichen Willen (291,7; 33ff.; 293,3f.). Gleichwohl geht er nirgends auf das ein, was für den Christen neben der Arbeit den Zeitgebrauch bestimmte, den Gottesdienst, das Gebet. Der erste Bestandteil des Doppelgebots „Bete und arbeite!" bleibt außer Betracht. (Er fällt nicht in die „Kompetenz" des Patrioten.) Das Interesse gilt dem nicht religiös bestimmten Gebrauch der arbeitsfreien Zeit, der „Freizeit" (um einen Begriff zu benutzen, der erst aus dem 19. Jahrhundert bezeugt ist). Die Darlegungen sind ein früher Beleg für das Nachdenken über dieses im 18. Jahrhundert sich allmählich herausbildende Phänomen der Freizeit. Und der Patriot selbst ist sich der Neuheit seiner Überlegungen bewußt: Wie man aber dasselbe [nämlich den Ausgleich zwischen Bemühung und Ergetzlichkeit, Arbeit und Erholung] einrichten, und die gehörige Maasse hierin treffen könne, oder vielmehr müsse; darum sind wir bisher ganzlich unbesorgt gewesen, ohne

zu Jahrgang 2 /1725, Stück 88

283

nur einmahl zu dencken, daß es eine Sache von Wichtigkeit sey (291,16ff.). Besonders vernünftige Vergnügungen sind solche, die mit einer nützlichen Beschäftigung zusammenfallen (292,29f). Im übrigen empfiehlt sich das Prinzip der Abwechselung; körperlich Arbeitende bedürfen keiner körperlichen Bewegung, geistig Arbeitende um so mehr. Für die Belustigung der Kinder rät der Patriot zu lehrreichem Zeitvertreib, zu spielerischem Lernen, — für die Heranwachsenden zu analogen Beschäftigungen, wobei auch handwerkliche und künstlerische Tätigkeiten angezeigt erscheinen. Die Empfehlungen zu sinnvoller Freizeitgestaltung der Handwerksgesellen (deren „blauer Montag" erwähnt ist: 296,21), muten mit Buchlektüre und Spaziergang gutbürgerlich an, die Empfehlungen für Adlige und Fürsten enthalten scharfe Kritik an bestehenden Zuständen, darunter, ein früher Beleg, an der Tierquälerei bei Parforcejagden. (50 Jahre später druckt Matthias Claudius in Hamburg sein Schreiben eines parforcegejagten Hirschen an den Fürsten, der ihn parforeegejagt hatte.) Bemerkenswert der Gedanke, daß der einzelne zur Erhaltung seiner Gesundheit auch seinem Gemeinwesen gegenüber verpflichtet sei; Patriotismus erlaubt keine individualistische Selbstgenügsamkeit. Bemerkenswert ebenfalls der beiläufige Hinweis auf das Leben von leibeigenen oder scholienpflichtigen Bauern in einer bestandig mühsamen Sclaverey (290,16). Der Hinweis bezeugt ebenso wie die Mahnungen an die Adresse von Adel und Fürsten erneut, daß der Patriot keineswegs nur die Zustände innerhalb der Mauern Hamburgs und keineswegs nur die Probleme des situierten Bürgers im Auge hat. Vf.

C. F.

Weichmann

Motto Horaz, De arte poetica 343. - „Der findet allgemeinen Beifall, der Angenehmes mit Nützlichem mischt." 19

D e r Patriot, Bd. IV

Kommentare

284 2 9 0

und

15 von Erben zu Erben Erbe: „in einigen Gegenden wie Eigenthümer eines Grundstückes" (Adelung). 18 Erb-Herren Erb-Herr: stückes" (Adelung).

„Eigenthümer

vergönn en] vergönnten (Druckfehler

293 2 9 4

Erläuterungen

1

Wohlstand

12 voltisieren ausüben.

eines ansehnlichen

dieses

soviel Grund-

Neudrucks).

Wohlanständigkeit. voltigieren,

32 Kräusel-Peitschen versetzen.

Spring- und Schwingübungen

am

einen Kreisel mit einer Peitsche in

Liufer-schiessen Grimm).

Läufer:

(nach 33

Tonnen-Bande

Faßreifen.

2 9 6

ist Erbe

Schnellkügelchen,

ein

Pferd

Drehung

Kinderspielzeug

' e t z t e e ' n e ] ^ i e dieses letzte, nach Beschaffenheit der Cörper, eine B. 27 Druck-Tafel Drucktafel,,, Tafel, welche im Niederdeutschen sche Billard." (Adelung).

2 9 7

die oberdeutsche Benennung derjenigen Beilketafel genannt wird . . . das deut-

13 ein Ueberbleibsel . . . Teutschen sey] eine Nachahmung einer wilden Unbarmhertzigkeit roher und wuster Volcker sey B. 29 f.

fehlt

B.

Stück 89 Das Stück vernünftiger

handelt

eine echte

der Patriot ganzen

Aktivität.

theologischer gehalten

selber Seite

worden

gegenüber

der

Vernunft

der geistlichen

und Moral.

— sie wird als A u f f s a t z bezeichnet

Die Abhandlung offenbar

von der Kompetenz

Sittenlehre

Einsendung

erkennt

(vgl.

(307,22ff),

Was ihm

daß nämlich

— ist

Sie betrifft,

die Grundlagen

im vorangegangenen

in Flugschriften, war,

426,6).

oft recht

Jahr

enragiert,

die natürliche

wie seiner von vor-

Vernunft

z« Jahrgang 2 /1725, Stück 89

285

des Menschen durch den Sündenfall korrumpiert und die vernünftig-philosophische Moral daher untauglich sei, den Menschen wahrhaft zur Tugend zu leiten, nur aus dem Hören auf Gottes Wort, aus der Nachfolge Christi im Glauben könne, unter dem Beistand der Gnade, Gutes fließen, nur die geistliche Moral leite zu wahrer Tugend, — das wird hier behutsam relativiert und Schritt für Schritt, ohne jede Polemik, argumentativ entkräftet. Die Rehabilitation der Vernunft geschieht zunächst dadurch, daß sie aus der Bibel selbst legitimiert wird. Die Schrifft setzet sie ausdrücklich voraus, da sie alles zu prüfen gebeut (299, 26f.). Gott selbst hat die Vernunft geschaffen (300,22); sie ist göttlichen Ursprungs (300,33); er hat sie den Menschen zum Gebrauch gegeben (301,32ff.). Christus selbst hat zuweilen vernünftig argumentiert, Salomos Buch der Sprüche verwendet weltliche Moral, Paulus und die Kirchenväter haben gegen die Heiden philosophisch gestritten. Die auf die Vernunft gegründete (und also philosophische) Sittenlehre ist aber, so wird weiter erklärt, auch der geistlichen Moral keineswegs entgegen (303,44ff.). Sie lehre, heißt es, nicht nur die äußere Sittsamkeit sowie Gemeinsinn, Mitmenschlichkeit, tugendhaftes Verhalten als Pflichten des natürlichen Rechtes (302,25f.), sondern sie fordere auch, wie die geistliche Moral, Gottesfurcht, Nächstenliebe, Reinigkeit des Herzens. Die Hauptregeln der vernünftigen bzw. natürlichen Theologie liefen ebenso wie die der Offenbarungsreligion darauf hinaus, daß man Gott fürchten und lieben solle (301,14 ff-)Nach dieser Exkulpierung der vernünftig-natürlichen Moral vom alten christlichen Verdikt wird allerdings der geistlichen Sittenlehre eine gewisse Superiorität eingeräumt. Diese geistliche Moral sei noch weit vollkommener als die weltliche. Von der rechten Feindesliebe und der Selbstverleugnung wisse die vernünftige Sittenlehre wenig, Gottes Liebe und Gottes Gericht erkenne sie nur schwach; die Rechtfertigung 19''

286

Kommentare

und

Erläuterungen

allein aus dem Glauben ginge über ihre Begriffe (304,17ff.); zur Buße, zur Heiligung, zum Glauben und zur Gnade habe sie keinen Zugang. Gleichwohl sei sie deswegen noch nicht zu verwerfen (305,6ff.). Vielmehr ergänze sie die geistliche Moral und könne ihr auch nützen, indem sie Aberglauben, Schwärmerei und Separatismus entlarve. Ja sie giebt Kennzeichen an die Hand, die wahren Offenbahrungen oder Gebote von den falschen zu entscheiden; weil unmöglich etwas von GOtt kommen kann, was den Sonnen=klaren Aussprüchen der Vernunfft wahrhafftig zuwider ist (305,13ff). Hier rückt die philosophische Vernunft unversehens in die Rolle der Prüfungsinstanz für die Wahrheit der Offenbarung. — Die Argumentation, die die Vereinbarkeit von Offenbarung und Vernunft entgegen alten christlichen Warnungen dartut, entspricht der Konzeption des Leibniz, wonach Vernunft und Offenbarung sich nicht ausschließen, die Offenbarung zwar in ihrem Ursprung übervernünftig, in ihrem Wesen aber nicht widervernünftig ist. Religion und Weltweisheit gehen als Verbündete Hand in Hand. Die vernünftige Sittenlehre ist jedenfalls in jeder Hinsicht schätzenswert und darf ihren Platz neben der geistlichen mit Recht behaupten. Der Patriot als Vertreter eben dieser natürlichen, vernünftig-philosophischen Sittenlehre hatte bereits im 4. Stück sein „Ressort" gegenüber dem geistlichen Amt entsprechend abgegrenzt. Er darf hier sein gantzes Unternehmen (307,25) erneut als legitimiert betrachten. Bemerkenswert, daß die hier geschehende Rehabilitierung der weltlichen Vernunft und ihrer Sittenlehre ausgerechnet aus Anlaß eines kirchlichen Feiertags vorgenommen wird (307,19ff.). Vf.

(Einsendung)

Motto Juvenal, Saturae 14,321. — „ Niemals sagt anderes die Natur, res die Weisheit."

ande-

zu Jahrgang

287

2 /1725, Stück 90

300

^ Rom. 2: 14,15. „Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeuget, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen."

3Q2

5 Mittel-Dinge die sogenannten Adiaphora, in der lutherischen Theologie weltliche, aber unverfängliche, dem Seelenheil nicht abträgliche Dinge, z. B. die Dichtkunst.

3 0 6

^^' wider die Erwählung der Ober-Stelle 14,7-11.

3 0 7

Paulus wider die Vernunfft, wider die Philosophie oder falschberühmte Kunst l.Kor. 1,19-27; 1. Kor. 2,4-6 u. 12-14; 1. Kor. 3,19. 19

Diesen . . . Auffsatz

vgl. II,

26

g.G.

306,17.

vgl. Erl. zu I,

Anspielung

auf

Lukas

426,5ff.

Stück 90 Das Stück setzt — als Einsendung des gleichen Verfassers — die Behandlung des Themas von Stück 89 fort und zwar in der Weise, daß drei einschlägige Fragen jeweils ausführlich beantwortet werden. Die erste Frage zielt auf den Grund für das auf der vernünftigen Sittenlehre liegende geistliche Verdikt, die zweite fragt nach Nutzen und Schaden der vernünftigen Sittenlehre für das Christentum, die dritte sucht nach Mitteln zur entsprechenden Verhütung von Schaden und Beförderung von Nutzen. Aus der Beantwortung der Frage 1 läßt sich entnehmen, daß die Vernunft und ihre Moral zur Zeit des Patrioten besondere Hochachtung genießen und gleichsam in Mode gekommen sind (Zeit, da man allzusehr darauf fallt, 309,8f.), was im Zeitalter Christian Wolffs nicht überrascht. Ihre Ablehnung von fromm-christlicher Seite wird im we-

288

Kommentare

und

Erläuterungen

sentlichen auf mangelndes Wissen um das Wesen der Philosophie zurückgeführt (309,27ff). Die Qualifizierung von natürlicher Vernunft und Philosophie als sündlich und fleischlich wird als Einbildung verstanden und die entsprechenden paulinischen Schriftstellen werden, wie bereits im Stück 89 (307,7ff), nicht auf die Weltweisheit generell bezogen, sondern nur als auf bestimmte abwegige, „ungesunder" Vernunft folgende Schulen der antiken Philosophie gerichtet hingestellt. Wenn vom Hassen der Weltweisheit die Rede sei (309,34; 310,26), so dürfe das nur bedeuten, daß man sie weniger als Gottes Wort lieben solle. Bei der Beantwortung der zweiten Frage wird auf den großen Nutzen der weltlichen Gesetze hingewiesen, die doch keineswegs aus der geistlichen Moral, sondern aus der natürlichen Vernunft stammten. Ein möglicher Schaden für das Christentum durch die weltliche Sittenlehre wird nur bei Unverstand und Mißbrauch zugestanden. Die dritte Frage ist am detailliertesten behandelt, die gegebenen Antworten sind für uns am interessantesten. Damit das Christentum durch die weltliche Moral nicht Schaden leide, muß der Moralist sehr vorsichtig verfahren. Vor allem muß er auf die reinliche Scheidung der beiden Moralen bedacht sein (312,19f.), — eine Forderung, die der Patriot für sein Teil auch zu erfüllen sucht: Er hat sich stets auf sein Ressort beschränkt und sich für geistliche Belange unzuständig erklärt. Dagegen ist der Patriot nun vielen weiteren hier vorgetragenen Forderungen keineswegs gefolgt. Er wünscht zwar in der Vorrede zum vorliegenden Stück, daß meine Auffsatze mit dieser Vorschrifft allezeit genau uberein kommen mögen (308,8ff.), doch ist es nicht seine Gepflogenheit, die Schwäche der Vernunft gegenüber der Offenbarung ständig zu betonen (312,15ff.). Die Hervorhebung der menschlichen Nichtigkeit und die Beförderung der Zerknirschung vor Gott und seiner Gnade ist nicht Sache des Aufklärers. Er bevorzugt die Propheten und die Apostel keines-

zu Jahrgang

2 / 7725, Stück 90

289

wegs vor den biblischen Moralisten Salomo und Jesus Sirach. Das Buch der Offenbarung (312,26f.) ist in den seltensten Fällen der Maßstab seiner Betrachtungen. Auch der Ratschlag, im Moralisieren möglichst ernsthaft zu verfahren, lieber erbaulich zu sein als zu belustigen (313,10ff.), ist vom Patrioten nicht beherzigt worden, so wenig wie der Hinweis auf den geringen Wert der Satire (313,30ff.). Faktisch läßt der Patriot den Einsender des Beitrags Maximen vertreten, die er sich nicht zu eigen macht, d. h. die der „Linie" der Zeitschrift nicht entsprechen. Die Forderung, die vernünftige Moral solle so verfahren, daß sie nicht von der christlichen Lehre abführe, sondern zu Gottes Wort geleite (311,31 f f ) , bleibt praktisch nur eine Forderung auf dem Papier. Seine Sittenlehre führt den Leser in der Tat, wie es der Verfasser warnend formuliert, mehr auff Speculation, als Gebet (310,10), d. h. mehr zum vernünftigen Nachdenken über sich, Gott und die Welt, als zur geistlichen Besinnung, zur Andacht, zu frommer Devotion. Die Hochschätzung der vernünftig-weltlichen Moral, zu welcher die beiden Stücke 89 und 90 insgesamt anleiten wollen, bestimmt die Lehre des Patrioten; das hier zum Schluß postulierte Bekenntnis zur Autorität der alten Theologie bleibt für ihn irrelevant. Vf.

(Einsendung)

Motto Phocylides. Stelle nicht nachweisbar. - „Auch die Sterblichen ben Vernunft, doch eine göttliche Weisheit steht darüber." 3 1 0

3 1 3 3 1 4

ha-

schreibt Augustinus in seinem 226sten Briefe an Consentius gemeint ist, nach der Ausgabe des „ Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum", Bd. 57 (S. Aurelii Augustini Hipponiensis Episcop. Epistulae), der Brief CCV. Es handelt sich nicht um ein wörtliches Zitat. Gel hrten] Gelehrten (Druckfehler

dieses

Neudrucks).

' Zuschrifft nicht] Zuschrift, worin er mich mit einer derben Lebhafftigkeit zu rügen vermeinet, nicht B.

290

Kommentare und Erläuterungen

26—29 des Herrn Brookes . . . desselben politischen Anmerckungen Brookes' Übersetzung von Marinos Bethlehemitischer Kindermord war 1715 zuerst erschienen und lag 1725 in der 2. Auflage vor. — Der 1. Band von Brockes' Irdisches Vergnügen in Gott war 1721 in 1. Auflage, 1724 in zweiter, vermehrter Auflage herausgekommen. — Zu J. A. Hoffmanns Xwey Bücher von der Zufriedenheit vgl. Erl. zu 68,2f., zu seinen Politischen Anmerckungen vgl. Erl. zu 202,34f. 28 u. 29

(S. T.)

„salvo 'titulo", mit Vorbehalt des gebührenden Titels.

Stück

91

Ein Briefschreiber berichtet von Kritik am Patrioten. Der Patriot nimmt die Kritik freundlich an. Es handelt sich offenbar um eine echte Einsendung; darauf läßt das PostScript um sowie die Schlußbemerkung im vorangegangenen Stück (314,8ff.) schließen, ebenso auch das etwas umständliche und stellenweise noch altertümlich bildhafte Deutsch des Briefes. Der Verfasser, der sich Wahrenfried von Kleinau nennt, hat seine Einsendung durch die Lieferung eines eigenen Mottos — aus dem Froschmäuseier — als vollständiges Stück ausgearbeitet (322,13), doch der Patriot hat den Beitrag durch seine Vor- und Nachrede sowie durch Voransetzung eines weiteren — lateinischen — Mottos in seine Darbietung integriert. Wahrenfried von Kleinau gibt sich als einen im Leben stehenden, nicht in die Gelehrtenstube gehörigen Mann aus, der nicht aus Ober- oder Niedersachsen (denen beyden Sachsen) stammt und es deswegen mit der reinen, flüssigen und schonen Schreib=Ahrt des Patrioten nicht aufnehmen kann (320,27). Dem entspricht, daß der Patriot — in der Buchausgabe von 1728—29 — in seiner Nachschrift die Verhutzelung als einen in hiesiger Landessprache unbekannten Ausdruck bezeichnet. Interessant ist, daß der Einsender offenbar mit der Umarbeitung seines Textes durch den Patrioten gerech-

z» Jahrgang 2 / 1725, Stück 91

291

net hat (Verwahren, wenden und umlegen, 321,29f.), was jedoch anscheinend nicht erfolgt ist. Die Kritik am Patrioten entfaltet sich in der Schilderung eines Disputs des Briefeschreibers mit einem zufälligen Reisegefährten anläßlich der Verwendung eines Blatts der Wochenschrift als Einwickelpapier. Daß das Papier des Patrioten ebenso wie das von Zeitungen bei den damals hohen Papierkosten nach der Lektüre häufig zu Tüten oder sonstigen Verpackungszwecken genutzt wurde, wenn es nicht gar zu einem noch schlechteren Dienste herhalten mußte, ist durchaus anzunehmen. — Kennzeichnend für den Fürsprecher der Wochenschrift ist die Betonung des Unterschieds zu den Zeitungen. Der Patriot sollte, anders als die Tagespresse, billig mehr als einmahl gelesen, und zu nutzlicher Wiederhohlung auffbehalten werden. — Der Kritiker, Herr Carperio, wirft dem Patrioten Ruhmsucht und Schmähsucht vor. Er bezweifelt darüber hinaus den Nutzen seiner Ermahnungen, da Menschen nur durch materielle Interessen bewegt werden könnten; die Stücke des Patrioten seien allenfalls ein anspruchsloser Zeitvertreib. — Wichtig ist der Gedanke des wohlmeinenden Gesprächspartners, man werde an der Aufnahme der Einsendung sehen, ob der Patriot es mit seinem moralischen Programm ernst meine (320, 13ff): Der Patriot hat die Einsendung abgedruckt, ja er hat sie sogar belohnt und wegen ihrer Offenhertzigkeit gelobt (314,19), d.h. er hat die hier vorgetragene Kritik an sich selber, in der manche der Vorwürfe aus der Flugschriftenkampagne wiederkehren, toleriert, er hat sie nicht unterdrückt. Das vorliegende Stück ist damit ein Beitrag zur Einübung in öffentlich-kritisches Urteilen. Das Publikum wird daran gewöhnt, daß man Autoritäten in Frage stellen kann und daß diese Autoritäten Kritik ertragen können müssen. Die Vermutung, es stecke ein vielkopfigter Verfasser hinter der Zeitschrift (321,4f.), kennzeichnet die damals in Deutschland über die Hamburger Patriotische Gesellschaft

292

Kommentare

und

Erläuterungen

umgehenden Gerüchte. Ebenso interessant ist, daß hier auch eine Beziehung des Patrioten zur einstigen „ Teutsch'übenden Gesellschaft" gemutmaßt wird (320,31f.).

Vf.

(Einsendung)

Motto Owenus. Stelle nicht nachweisbar. — „Du leugnest, daß die Erde feststeht; wunderliche Dinge erzählst du da. Während du das schriebst, warst du vielleicht auf einem Schiff." 3 J 5

4—8: Georg Rollenhagens (1542—1609) umfängliches satirisches Versepos Froschmäuseier, entstanden 1566, erstmals erschienen 1595, war noch bis Ende des 18. Jhs. weithin beliebt und in zahlreichen Ausgaben verbreitet. Die hier zitierte Stelle stammt aus dem 5. Kap. des zweiten Teils. 13 f. wegen meinen verweileten Eintritt spätet zugestiegen war.

3 1 6

^ Carperio ziehen).

318

' Vortrage . . . des . . . 69sten Papieres in Stück 69 (135,1-137,11). 15 f. mit Luther: „Ich schrei merke Bd. 3, 1565,

321 322

im Sinne von: weil ich ver-

„ H e c h e l m a n n " (von lat. carpere, durchhecheln,

gemeint ist die

durch-

Einführung

seinem Knittel im auswerffen getroffen sprichwörtlich nach habe den Knüttel unter die Hunde geworfen, und am Geich, welchen ich getroffen habe." (Luther, Jenaer Ausgabe, 415r).

34

Hutzeln

^

verhutzeln

Dörrobst. verschrumpeln,

zusammenschrumpfen.

12—17 Für dießmal . . . Ihm verbunden] Der aufgeweckte Herr Verfasser dieses Briefes, wird höflich ersuchet, fernerhin dergleichen Gedankken nur nicht bey sich zu ersticken, sondern zu seinem eigenen Vergnügen damit so freygebig zu seyn, als es Ihm selber belieben wird. Er siehet aus diesem öffentlichen Drucke, wie gern ich die Fruchte seines Verstandes mit der befürchteten V e r d a m m u n g zum F e u e r oder mit der in hiesiger Landes-Sprache unbekannten V e r h u t z e l u n g ubersehen. Einer von meinen Freunden, der Herr E d e l b e r t von W e t z s t e i n vermeinet seine Person zu kennen. Sollte derselbe, oder iemand anders, bey dieser Veranlassung,

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 92

293

mir etwas geschicktes dagegen zusenden, so wird verhoffentlich der grosse Geist des Herrn v o n K l e i n a u , wenn Er es gedruckt sehen mögte, in der ietzo von mir bewiesenen Gleichgültigkeit mir nichts nachgeben. Unterdessen bin ich Ihm verbunden B.

Stück 92 In einem fingierten Brief erklärt der Schreiber, er verzage vor der ihm eingeräumten Möglichkeit, ein Stück für den Patrioten zu verfassen. Um aber wenigstens seinen guten Willen zu beweisen, liefere er mit den Lehr=Sätzen aus der Staats=Kunst der Hottentotten etwas von dem Material, worüber er sich moralisierend habe verbreiten wollen. Das Stück leistet zweierlei. Indem es den Briefschreiber in lustiger Weise die mancherlei Bedenklichkeiten bezeichnen läßt, die einen Einsender von zu publizierenden moralischen Beiträgen befallen können — Furcht, an der Schreibart erkannt zu werden und ins Gerede zu kommen, und Sorge, den stilistischen Anforderungen nicht zu entsprechen —, übt er scherzhaft Kritik an der Haltung des Publikums, das ein öffentliches Engagement in Fragen der Moral und des Gemeinwohls nicht gewöhnt ist und es deswegen scheut, obwohl der Patriot es dazu aktivieren möchte. Mit den Lehrsätzen aus der Staatskunst der Hottentotten dagegen wird bürgerlicher Egoismus, eigennützige Gesinnung in einem politischen Gemeinwesen, ironisch als verderblich und böse angeprangert. Der Briefschreiber gibt vor, mit dem Patrioten persönlich bekannt zu sein, und spielt auch auf dessen Wunderapparate, die Insignien seiner fiktiven Existenz, an (325,14ff.). Mit der Deutungskunst der Frau von Nausicht wird auf das zeitgenössische Rätselraten um die Verfasserschaft am Patrioten angespielt. Die Lehrsätze aus der Staatskunst der Hottentotten sind ausdrücklich zum Stück 84 in Beziehung gesetzt, das die na-

294

Kommentare und Erläuterungen

türliche Verpflichtung des Bürgers gegenüber seinem Staat herausgearbeitet hatte. Die hottentottischen — was heißen soll: barbarisch-primitiven — Prinzipien erscheinen als das Gegenteil patriotischer Gesinnung. Bezeichnend übrigens, daß die Heranziehung der Hottentotten als eigentlich unpassend hingestellt wird: dem Volk der Hottentotten geschehe Unrecht, es beobachte die natürlichen Gesetze des Zusammenlebens besser als manche Europäer. Die Vorstellung von wilden, von der Kultur unbeleckten heidnischen Völkern, die in aller Rauheit tugendhaft und edel leben und dem verderbten Europa zum Vorbild dienen können, ist hier bereits lebendig, ebenso die Konkretisation auf den Einzelnen, die Vorstellung vom edlen Wilden, — lange vor Rousseau. Interessant, daß der Briefschreiber auf die zur gleichen Zeit in Halle im 1. fahrgang herauskommenden Vernünftigen Tadlerinnen Gottscheds verweist. Die Tadlerinnen werden als ebenbürtig empfunden und ohne jeden Vorbehalt gelobt. Vf.

M. Richey (?)

Motto Plautus, Trinummus 220-222. — „Wenn dieses geschähe, geschähe es zum gemeinen Wohl: Wenige gäbe es nur, die so tun, als wüßten sie, was sie in Wahrheit nicht wissen, und sie hielten ihr dummes Geschwätz verschlossen. "

324 '

yon

325 25 327

Thiraustes Nicht Hagebüchenen

chen.

329 17ff.:

Nausicht

fehlt B.

„von Scharfsicht"; vgl. Erl. zu III, als sprechender Name

56,17.

erklärbar.

hagebüchen: derbgrob, klotzig,

vgl.

hanebü-

zu Jahrgang 2 /172!,

Stück 93

295

Stück 93 Eine allegorische Erzählung handelt von der Gefährlichkeit der menschlichen Triebe und ihrer Zügelung durch die Vernunft. Obwohl der Erzählung die Lehre bereits zu entnehmen ist, erklärt der Patriot seine Allegorie anschließend noch einmal in planer Begrifflichkeit. Das hier geübte allegorische Verfahren, im Barockjahrhundert besonders beliebt, war der Zeit aus Gemälden und Kupferstichen vertraut. Die Moral des Ausgeführten besagt: Der Mensch muß seine Triebe und Neigungen vernünftig beherrschen, nur dann wird er Glückseligkeit erlangen, nur dann — ein stoisches Element ist unverkennbar — wird ein irdischer Wert ihn weder allzubegierig noch allzubetrübt machen. Nicht nur Wollust und Reichtum, sondern auch die Ehre werden als Scheingüter begriffen, welche Sorge, Furcht und Unruhe nach sich ziehen, — eine Philosophie, der der Bürger leichter als der Aristokrat zuneigen mochte. Wichtig ist, daß in dem hier entwickelten, allegorisch aufgeputzten System der guten und bösen Triebe und Neigungen und ihrer Reglementierung Gott und Teufel keinerlei Rolle spielen. Weder sind Geldgier, Wollust, Ehrgeiz und Haß Kinder des Bösen, Ausfluß der Sünde, noch sind Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Mitleid und Freundschaft Wirkungen des Heiligen Geistes, der göttlichen Gnade: der theologische Deutungsansatz bleibt beiseite. Tugenden und Laster sind rein menschlicher Art, stehen in der Verfügbarkeit der Vernunft. Die Philosophie, nicht die Offenbarung regiert den Menschen, und das heißt: Der Mensch wird hier als autonom begriffen. Sein Wille und seine Neigungen sind nicht in den Gehorsam des Glaubens zu bringen, sondern in den der Vernunft. Der Patriot macht lediglich am Schluß eine ganz kleine Einschränkung, die möglicherweise theologischen Bedenken entgegenkommen sollte. Er spricht dort von der Ewigkeit, der gegenüber irdische Güter ein leerer Rauch

296

Kommentare

und

Erläuterungen

seien (337,20f.), und bemerkt von der Wiederinthronisierung der Vernunft, dadurch fast allein sei der Mensch imstande, Glückseligkeit zu erlangen. Fast allein: sollte damit der göttlichen Gnade vielleicht noch eine Hintertür offengelassen werden? — Jedenfalls demonstriert die Allegorie insgesamt den Primat der Herrschaft der Vernunft. Interessant ist, daß als Allegorie des Ordnungssystems der menschlichen Triebe und Neigungen eine monarchisch-aristokratische Herrschaftsform gezeichnet wird und diese Herrschaftsform sich als korrumpierbar, Willkürakten und Mißbräuchen zugänglich, zeigt. Zwar hat das Dargelegte klar einen nichtpolitischen, einen anthropologisch-moralischen Sinn, doch die Gleichnisebene nennt unbefangen mancherlei beim Namen, was zeitgenössischer politischer Wirklichkeit entsprechen konnte. Ein verdienter Mann am Hofe wird vergiftet; adlige junge Herren organisieren einen Staatsstreich und entmachten die Kaiserin; Eigennutz, Ehrgeiz und Wollust haben bei Hofe das Sagen; das Volk wird durch Manipulationen betrogen; Leute von Verdienst werden unterdrückt; der Regent herrscht willkürlich und läßt sich in einen schlimmen Krieg verwickeln, bis die Unrechtsherrschaft beseitigt wird. Das ist, bei aller explizit unpolitischen Tendenz der Allegorie, ein Stück Systemkritik, das die Monarchie mit der Institution des Hofes und dem Einfluß der großen Familien als keineswegs ideal erscheinen läßt. Die Episode der Münzfälschung könnte gar als Anspielung auf die inflatorische Banknotenpolitik des John Law zu verstehen sein, die Frankreich fünf Jahre zuvor (1720) in eine schwere Finanzkrise gestürzt hatte.

Vf.

C. F. Weichmann, J. Thomas (?)

Motto Cicero, De officiis I 28,101. - „Doppelt ist das Seelenlehen: zum einen unterliegt es dem Trieb, der den Menschen hierhin und dorthin reißt, zum anderen aber der Vernunft, die lehrt und erklart, was zu tun und zu

zu Jahrgang

297

2 /1725, Stück 94

lassen sei. Daraus folgt, daß die Vernunft voranstehen, muß."

der Trieb

FUGIENDUMQUE FIT] FUGIENDUMQUE SIT (Druckfehler

gehorchen

dieses

Neu-

drucks). *

Pathia

4

Cephale

331

3

Cardia

\\7

32 ff.—338,(9): Stück 98.

330

vgl. gr. JiaOoq, Erlebnis, Schicksal,

Leid.

„Haupthausen". „Herzburg". Z« den auswärtigen

Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu

Stück 94 Das Stück handelt von der Gleichheit der Menschen aller Völker und Rassen. Die Einführung des Baron de la Grillerie dient der unterhaltsamen Hinlenkung des Lesers auf das eigentliche Thema. Als Franzose von Adel, der sich mit Komplimenten in Szene setzt, gewaltig aufschneidet und die Einheimischen herablassend als gute einfaltige tumme Teutsche qualifiziert, gehört er in eine Typenreihe, in die später Lessings Riccaut de la Marliniere einrücken wird. Der Patriot, der seine Mitbürger auch direkt apostrophiert (340,21f.), nimmt Gelegenheit, vor Büchern zu warnen, die über Menschen ferner Länder Falsches oder Unsinniges berichten; das Publikum ist aufgefordert, kritisch zu lesen. — Die Hamburger Wochenschrift Die Matrone knüpft im Stück 7 ihres zweiten Jahrgangs (1729) mit der Figur eines Herrn von Prahlreisen ausdrücklich an den Baron de la Grillerie an. Die Darlegungen über die wesensmäßige Gleichheit der Menschen aller Kulturstufen und Länder kommen mehrfach auf das zurück, was diese Gleichheit prinzipiell konstituiert: die allen gemeinsame vernünftige Natur des Menschen. Ein Mensch kann zwar mehr oder weniger vernünftig sein, doch

298

Kommentare und Erläuterungen

bleibt das ein gradueller Unterschied; essentiell ist jeder Mensch ein Vernunftwesen. Die Allen gemeinsame Vernunft verhilft zu Allen gemeinsamen Wahrheiten und Werten. Die Tendenz dieser Ausführungen entspricht dem kosmopolitischen Konzept des Patrioten, der schon im 1. Stück auf Vernunft und Menschlichkeit auch fremder, für rauh und wild gehaltener Völker angespielt hatte. Anders als im späteren historisch individualisierenden Denken Herders wird nicht die Eigenart, die Besonderheit, die Unverwechselbarkeit von Völkern und Kulturen hervorgehoben, sondern ihr Gemeinsames im Zeichen der Vernunft. Als Folgerung aus dieser Erkenntnis ist ausdrücklich die allgemeine Menschenliebe bezeichnet (346,11f.): Humanität und Toleranz gelten jedem Menschen. Mehrfach ist betont, daß auch die wilden Völker Teil am Menschlichen haben. Vernunft ist auch da noch im Menschen, wo eine Barbarische Sclaverey ihn erniedrigt (342,9f.), ja die wilden Scythen könnten ein Vorbild für viele kultivierte Nationen sein. Wiederum ist hier der Gedanke vom edlen Wilden, jetzt auf ein ganzes Kollektiv bezogen, ausgesprochen. Interessant wiederum der theologische Aspekt der Ausführungen. Die allgemeine Menschenliebe wird nicht religiös begründet, sondern philosophisch. Nicht weil alle Menschen Gottes Kinder sind, sind sie zur Menschlichkeit, zur Humanität verpflichtet, sondern weil sie die Vernunft gemeinsam haben. Das alte christliche Bild von Christus als dem Haupt und der Gemeinde als den Gliedern an einem Leibe erscheint hier in bezeichnender Weise abgewandelt: Wir haben die Vernunfft gemein, und sind wie die mannigfaltigen Glieder an einem Leibe, die einander weder hassen, noch benachtheiligen, sondern lieben, tragen und pflegen müssen. Glaube und Frömmigkeit werden nicht christlich als Antwort auf die Offenbarung verstanden, sondern überkonfessionell-allgemein gefaßt als Verehrung eines GOttes (340,33f.), als Religiosität welcher Art auch immer, und auf eine natürliche

299

zu Jahrgang 2 / 7725, Stück 94

Neigung des vernünftigen Menseben zurückgeführt. Ein Cicero-Zitat muß das bekräftigen (343,19ff). Gottesfurcht ist dem Menschen wesensmäßig natürlich. Die Frage nach der Wahrheit oder Unwahrheit einer Gottesvorstellung, nach Heidentum, Judentum, Christentum, Katholizismus oder Protestantismus kommt gar nicht auf. Die gemeinsame Teilhabe an vernünftiger Humanitas gebietet Mitmenschlichkeit und damit auch Toleranz. Daß nur im Evangelium das Heil zu finden sei, erfährt der Leser hier nicht. Er kann allenfalls seine eigene christliche Religiosität als eine vernünftige, naturgegebene Äußerung seines Menschseins, als anthropologische Gegebenheit, verstehen.

339

340

Vf.

J. A. Hoff mann

Motto

Cicero, De offieiis I, 4,11. — „Der Mensch aber hat

1

Eudoxius

9

Baron de la Grillerie

21 land.

Strasse Davis

Vernunft."

vgl. Stücke 9 und 19. „Baron von

Grillenhausen".

breite Meerenge zwischen Nordamerika und Grön-

6 M o n o m o r a p a ] M o n o m o t a p a B; im 17. Jh. vielgenanntes gerreich am unteren Sambesi. 14

Ne-

Capreole] Capriole B.

343

19—23/344,5f. Es ist kein Volck . . . saget Cicero / Plinius von den Lapplandern Die angezogenen Stellen sind nicht nachweisbar.

344

berühmter Welt-Weiser gemeint ist vermutlich (1632—1704), Hauptvertreter des Empirismus.

345

Scythen für die Griechen ein wildes Volk zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer.

John

Locke

17 Justinus Marcus Junianus Justinus, röm. Geschichtsschreiber im 2. Jh. n, Chr. Das Zitat über die Skythen findet sich gleichlautend, mit der Angabe , Justinus, Lib. II, Cap. 2", auch in Johann Adolf Hoffmanns Politische Anmerckungen über die wahre und falsche Staatskunst, Hamburg 1725, S. 279. (Vgl. Scheibe, S. 220). 20

Der Patriot, Bd. IV

300

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 95 Das Stück handelt von der Vortragsweise des Patrioten und von den Reaktionen seines Publikums. Auf die Vorwürfe des Edelbert von Wetzstein antwortet der Patriot in launiger Manier. Dazu gehört auch die Bittschrift an das Publikum mit dem Ersuchen um Nachsicht. Gleichgültig, ob es sich bei dem Schreiben des Edelbert von Wetzstein um eine echte Einsendung an den Patrioten handelt oder nicht (nach dem Lexikon der hamburgischen Schriftsteller war John Thomas, Mitglied der Patriotischen Gesellschaft, der Verfasser): Das vorliegende Stück spiegelt wiederum die enge Publikumsbezogenheit der Wochenschrift. Die Leseransprache wird Gegenstand der Erörterung. Kritische Aufmerksamkeit auf seinen Stil und seine Manier wird durch den Patrioten selbst gefördert. Dabei kommt die Gattungsgemäßheit seines Verfahrens in der Tradition von Tatler und Spectator zur Sprache; die Maskenfreiheit des fiktiven Autors wird ausdrücklich hervorgehoben (348,34ff.). Bemerkenswert an der Bitt=Schrifft des Patrioten ist es, daß sie ihren humoristischen Charakter weitgehend aus ihrem altvaterisch schnörkelhaften Deutsch bezieht, — ein Indiz für das Sprach- und Stilbewußtsein, das der Patriot seinem Publikum nahebringen möchte. Vf.

]. Thomas

(t)

Motto Horaz, Satiren I 10,11-14. - „Die Rede soll ernst sein, oft aber auch scherzend, bald die Stelle des Redners, des Dichters ausfüllen, bald die des Witzigen, der seine Kräfte schont und sparsam umgeht." 348

Prophezeyungen des Bickerstaff Richard Steele hatte als Verfasserfigur für seinen Tatler (1709-11) die Gestalt des Isaac Bickerstaff benutzt, die J. Swift zuvor zu satirischen Zwecken als einen Wahrsager erfunden und dem Publikum vorgestellt hatte. (Swift, Predictions for the Year 1708 . . . by Isaac Bickerstaff Esq. London 1708).

301

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 96 24 Spectator . . . daß er nach Cairo in Egypten gereiset sey richtet Mr. Spectator in Nr. 1 seiner Zeitschrift. Wetter-Glas

das be-

3 4 9

25

351

^ gemässigte Bitt=Schrifft „ m ü ß i g e n , welches . . . nur im Oberdeutschen und den Kanzelleyen üblich ist, wo es für zwingen gebraucht wird, Sich zu etwas gemüßiget finden" (Adelung). Hier also soviel wie: notgedrungene Bittschrift. 26 S. S. T. T. 314,28f.

352

1 9

353

21-23:

vgl. Stücke 14 und 34.

„salvis titulis"

N a u s i c h t i s c h e n Brillen fehlt

(Pluralform

von S. T.); vgl. Erl.

vgl. Erl. zu III,

zu

56,17.

B.

Stück 96 Der Patriot berichtet von einem allegorischen, den Weg von der Tugend zur Glückseligkeit zeigenden Traum und stellt Betrachtungen darüber an. Daß Tugend und Glückseligkeit in engem Konnex stehen, hat der Patriot immer wieder erkennen lassen, ebenso wie Lasterhaftigkeit und Unglück (Bankrott, sozialer Abstieg, Verachtung, gesundheitlicher Schaden) oft in Beziehung gesetzt sind; eines folgt gleichsam aus dem anderen. In der vorliegenden Traumallegorie wird das Verhältnis nun nicht als ein einfacher Ursache-Folge-Zusammenhang dargestellt, sondern vertieft gesehen. Die Führerin zur Glückseligkeit für den Tugendhaften ist die Demut. Demut ist hier verstanden als Einsicht in die eigene Kreatürlichkeit sowie als das Bewußtsein, auf der Erde als einem vom Schöpfer mit unzähligen Schönheiten versehenen Planeten zu leben. Zur Demut gehört ferner die Erinnerung an die vielen möglichen Übel gesundheitlicher und genetischer Art einerseits, sozialer, ökonomischer und politischer Art andererseits, von denen der Betrachter verschont ist, sowie die Erkenntnis der 20"

302

Kommentare und Erläuterungen

vielen Annehmlichkeiten, die er im Gebrauch seiner Sinne und, seiner Vernunft in dieser Welt erlangen kann. Eine derart beschaffene innere Einstellung führt zur Glückseligkeit, — nicht einfach die Teilhabe an irgendwelchen Glücksgütern. Gelangt man aber zu einer solchen Einstellung, so kann die Welt zu einem paradiesgleichen Gefilde werden, der Mensch zu Gelassenheit und Zufriedenheit finden selbst bei geringen materiellen Mitteln (359,16ff.). Die Demut hat noch weiteren Nutzen: Sie bewahrt vor den gefährlichen Exzessen der Selbstsucht, läßt den Menschen sich der göttlichen Führung anvertrauen, verhilft dem Nächsten gegenüber zu christlichem Mitleid und lehrt Friedfertigkeit. Umgekehrt dagegen sind Stolz, Hochmut, Hoffart die Ursache großen Unheils. Die Nähe zu christlichen Anschauungen in dieser Anpreisung der Demut ist bis in einzelne sprachliche Wendungen hinein erkennbar; auch auf den Sündenfall als eine Folge der Hoffart ist angespielt (360,15ff.). Gleichwohl geht es dem Patrioten hier nur um die irdische, die diesseitige Glückseligkeit. Von einem transzendenten Heil, von der ewigen (Glück-)Seligkeit ist nicht die Rede, — sie gehört nicht, im Stück 4 wurde dies geklärt, zum „Ressort" der Wochenschrift. Die irdische Glückseligkeit aber, wie sie der Patriot hier als von der Demut konditioniert vorstellt, entspricht in vielen Zügen dem Bild, das B. H. Brockes in seinem Gedichtwerk Irdisches Vergnügen in Gott gezeichnet hat. Die Anmahnung zum rechten Gebrauch der fünf Sinne (357,29ff.) und die Verwerfung von Unzufriedenheit und Unempfindlichkeit (360,19) sind ständige Themen Brockesscher Didaktik. Die Schilderung der paradiesischen örtlichkeit, in die sich der Patriot im Traum gestellt sieht, erinnert an viele Verse des Dichters, und die Wendung vom Waldgebüsch, worin Schatten und Licht auff eine angenehme Ahrt mit einander spielten (358,22f.), trifft geradezu einen Lieblingszug Brockesscher Naturbetrachtung. Die irdische

zu Jahrgang 2

/ 772.5,

Stück 97

303

Glückseligkeit, wie der Patriot sie vorführt, hat etwas von der Weltfrömmigkeit des Brockesschen Irdischen Vergnügens. Die Zuschreibung der Verfasserschaft an Brockes ist hier überzeugend. Bemerkenswert schließlich, daß als einer der drei wichtigsten Faktoren zur irdischen Glückseligkeit die Freiheit genannt wird (360,2), womit hier durchaus politische Freiheit gemeint ist, deren sich der Hamburger Bürger erfreuen darf: er ist kein Sclave, nicht gefangen, nicht in schwehren Diensten (357,18ff.). Demut hat mit Untertanentum nichts zu tun. Das außerhamhurgische Publikum des Patrioten, im Untertanenstande lebend, mag das mit Interesse gelesen haben. Vf.

B. H.

Brockes

Motto Boethius, Consolatio philosopbiae III carm. 12,1—2. — lichi, wer den hellen Quell des Guten zu schauen vermag." 3 5 5 361

^

Vorwürffe

,,Glück-

Gegenstände.

2m den auswärtigen

Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 97 Der Patriot stellt Betrachtungen über vernünftigen Umgang mit Geld und Besitz an. Das Thema ist bereits in früheren Stücken in Exempla und moralischen Charakteristiken anschaulich-unterhaltsam traktiert worden. Im vorliegenden Fall liefert der Patriot dagegen eine ernsthafte, in allgemeinen Erörterungen verbleibende Abhandlung, der nur am Schluß noch ein Beispiel aus der Geschichte angehängt ist. Bezeichnend ist, daß die Verfügung über Geld und Besitz als selbstverständlich vorausgesetzt wird, wenn auch in un-

304

Kommentare und Erläuterungen

terschiedlicher Höhe. Man ist bemittelt, sei es durch angestorbene Güter, sei es durch eigene Einkünfte. Vermögendes bzw. wohlbesoldetes Bürgertum, Landgüter besitzender Adel und sonstige verdienende Privat=Personen, namentlich die Kaufleute, sind die Adressaten des Patrioten. Der arme Handwerker dagegen ist ebenso wie die Klasse der Fürsten eher zur Illustration von ökonomischem Extremverhalten denn als Beispiel aus dem Leserbereich herangezogen. Die Moral läuft auf vernünftiges Maßhalten und Vorsorge hinaus. Ein Mittelweg zwischen Geiz und Verschwendung ist jedermann anzuraten — nach Maßgabe der jeweiligen Möglichkeiten: Verschwenderischer Aufwand bei großem Reichtum ist ebenso lasterhaft wie die unproportionierte Ausgabe des kleinen Mannes, und wer bei nur geringen Einkünften sich gar nichts gönnt, ist ebenso ein Geizhals wie der sich jedes Vergnügen versagende Krösus. Eines wird in diesem Zusammenhang offenkundig: Kargheit, Verzicht auf Genuß und Ergötzlichkeit, puritanische Askese werden vom Patrioten nicht gepredigt, federmann soll es sich, seinen Mitteln entsprechend, wohl sein lassen, ein jeder soll etwas zu seiner Bequemlichkeit (364,12) anwenden. Als ganz besonders töricht ist die Sucht verstanden, sich durch großen Aufwand mit Vornehmeren zu messen, sich aus Ehrsucht ein prachtiges ausserliches Ansehen (364,25) zu geben. Bürgerliches Standesselbstgefühl und ökonomische Überlegung gehen hier Hand in Hand. Die Sparanweisungen sind aufschlußreich. Wer keine regelmäßigen Bezüge hat, sondern nur Einkünfte von schwankender Höhe, wie z. B. die Landwirte, muß vorsichtig verfahren. Kaufleute zumal sollen nur die Hälfte ihres Einkommens für sich verbrauchen. Wer seiner Bezüge sicher ist, braucht nicht so streng hauszuhalten. Grundsätzlich aber sind die Ausgaben von den vorangegangenen Einnahmen abhängig, — es ist das bürgerliche Prinzip der Einnahmenwirtschaft. Und darüber hinaus gilt eines: Sparen aber und

zu Jahrgang

2 / 1725, Stück 97

305

arbeiten müssen sie alle, dafern sie gleich noch so bemittelt waren (367,17). Die Vorsorge im Hinblick auf Krankheiten und andere Unglücksfälle erfordert das in einer Zeit, da das Versicherungswesen noch in den Kinderschuhen steckt, auch dürfte das alte lutherische Arbeitsethos hier noch durchschlagen. — Die fünf Bestimmungen zum rechtmässigen und vernünftigen Ersparen (367,24ff.) zeigen eine Wirtschaftsgesinnung, die noch nicht von einem expansiven Gewinnstreben geprägt ist. Sie ist orientiert an Gottesfurcht, Ordnung, Rechenhaftigkeit, Bescheidenheit und vor allem Solidität: Ein vernünftiger Bürger riskiert nichts. Bedeutsam ist bei diesen ökonomischen Erörterungen die ständige Rücksichtnahme auf den Mitmenschen, auf das Gemeinwohl. Das Gemeinwesen leidet darunter, wenn wenige Leute allein den Ueberfluß des Landes in ihrer Gewalt haben. Eine solche Aussage ist wohl noch kein Vorklang sozialökonomischer Besorgnisse vor der Konzentration der Produktionsmittel in wenigen Händen, sondern sie entspricht nur dem Wunsch nach einer ausgebreiteten Wohlhabenheit unter der Bürgerschaft: Möglichst viele sollen Besitzende sein; wer einen Überschuß an Mitteln hat, soll andere davon genießen lassen. Allzugroße Sparsamkeit hindert den Geldumlauf, sie entzieht dem Handwerker seine Einkünfte; das Geld muß circuliren (367,17). Scharf gerät die Kritik am ökonomischen Gebaren der Fürsten. Die unrationelle, nur an den Erfordernissen der Rangbehauptung und Repräsentation orientierte Ausgabenwirtschaft der Landesherren wird mit ihren schlimmen Folgen unverblümt gekennzeichnet, die Verantwortungslosigkeit solcher großen Herren deutlich gemacht. Namen werden freilich nicht genannt, doch ist hier keimhaft schon vorbereitet, was im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts dann etwa August Ludwig von Schlözer in seinen Zeitschriften an Kritik fürstlicher Mißwirtschaft vor die Öffentlichkeit bringen wird.

Kommentare und Erläuterungen

306

Gleichsam um ein positives Gegenbild zu den Fürsten der Gegenwart zu entwerfen, beruft der Patriot am Schluß im Zitat Miltons eine vorbildliche Gestalt der angelsächsischen Geschichte, bei der freilich Lebensführung und Ökonomie noch ganz im Zeichen altchristlicher Vorstellungen stehen. Albrecht von Haller wird diese Gestalt später zum Helden eines politischen Romans machen: A l f r e d , K ö n i g d e r A n g e l s a c h s e n (1773).

Vf.

C. F. Weichmann

Motto Horaz, Oden II 2,1—4. — „Keine Farbe hat das Silber, wenn es die Erde verbirgt, Feind des Geldes, Sallust. Erst rechter Gebrauch läßt es glänzen. " Motto B

-

-

-

NON

EGO, AUARUM

C U M VETO TE FIERI, VAPPAM I U B E O AC N E B U L O N E M . HORATIUS.

Horaz, Satiren I 1,103/104. — „Wenn ich davor warne, geizig zu sein, so rate ich dir damit nicht zum Schlemmen und Verschwenden." 362

23

Wohlstande

364

^

angestorbenen

367

" Mittel-Mann „im gemeinen Leben mancher Gegenden, ein Mann von mittlerm Stande und mittlerm Vermögen" (Adelung).

369

grossen Engel-Sächsischen Königs, Alfred Alfred (848- 901), König von England.

vgl. Erl. zu I, 57,36. angestorben: ererbt.

der Große

12 Milton in seinen Englischen Geschichten John Milton (1608 bis 1674) verfaßte außer seinen dichterischen Werken auch eine History of Britain, continu'd to the Norman Conquest (1669). Aus ihr ist der abgedruckte Passus übersetzt.

Stück 98 Der

Patriot

schlachtens

von

handelt

aus Anlaß

der

wirtschaftlichen

des herbstlichen Rolle

Hamburgs

Ochsenund

zu Jahrgang 2 /1725,

Stück 98

307

von guter Hauswirtschaft. Er entwickelt seine Gedanken anhand eines Gesprächs unter Freunden, wobei auch ein Brief im Hamburger Platt präsentiert wird. Spürbar ist der patriotische Stolz auf die Glückseligkeit unserer guten Stadt (371,19), des lieben Hamburg. Diese Glückseligkeit ist gegründet auf ihre wirtschaftliche Prosperität, — auf eine solide Wohlhabenheit, die es erlaubt, viele tausende von Ochsen aus fremden Regionen einzuführen und bar zu bezahlen, und die vor allem daran erkennbar ist, daß auch der MitteUMann, der Handwerker, in der Lage ist, sich einen Ochsen zu leisten. Der im vorigen Stück vertretene Gedanke einer möglichst breiten Verteilung der materiellen Glücksgüter erfährt hier eine Konkretisation, wenn ein Barbier, ein Schneider und der Vetter eines Tischlers als Käufer von Schlachtochsen figurieren. Daß der Wohlstand sich solcherart auch unter den kleinen Leuten ausbreitet, ist für den Patrioten und seine Freunde, die selber begüterten Kreisen zugehören (einer ist mit der Kutsche durch die Gassen gefahren: 374,31), höchst befriedigend. Bemerkenswert die Artikulation wirtschaftspolitischen Selbstbewußtseins im Hinblick auf die Handelspartner. Die Nachbarn verdanken der Prosperität und Kaufkraft der Hamburger viele private und kameralistische Vorteile. Wiederum ist an den Darlegungen erkennbar, daß der Patriot keinesfalls Kargheit und puritanischer Strenge das Wort redet. Die Freude am tüchtigen Essen und Trinken, die Lust beim Gedanken an wohlgefüllte Böden, Küchen und Keller ist unverkennbar. Sich der Wohlthaten GOttes zu erinnern, und durch erlaubte Ergetzlichkeit sich eine fröliche Stunde zu machen (372,34f), steht dem Bürger wohl an. Es entspricht einer Weltfrömmigkeit, die sich in einer vom Höchsten wohlgeordneten und zum irdischen Vergnügen eingerichteten Welt weiß. Sich durch Gaumenfreuden eine Ergötzlichkeit zu machen, ist zumal dann erlaubt, wenn man dabei keinen unverantwortlichen Aufwand treibt, sondern

308

Kommentare

und

Erläuterungen

in kleinem Kreis, ohne Überanstrengung des Magens, sich mit Speisen heimischer Herkunft, womöglich aus eigenem ländlichen Besitz, begnügt. Eine offene Tafel, besetzt mit auserlesenen Produkten ferner Länder, entspräche vornehmem, aristokratischem Lebensstil, wäre nicht bürgerlich. Aber auch eine hemmungslose Fresserei bei einem Kaldaunen=Gastgebot, wie sie zur damaligen Zeit beim Ochsenschlachten offenbar in Hamburg eingerissen war, ist wider die gute bürgerliche Lebensart. Die Bedeutung vernünftiger Haushaltsführung ist vom Patrioten bereits früher hervorgehoben worden. Sie gehört zu den Bedingungen ökonomischer Selbstbestimmung des Bürgers. Erneut erhebt der Patriot die Forderung nach öffentlichem Unterricht in der Hauswirtschaft, zumal dies auch der Wohlfahrt ganzer Städte und Länder zugute komme. Der eingeschaltete Brief von Steffen Wysnees an seinen Vetter erheitert in seiner Biederkeit und Direktheit den gutbürgerlichen Leser, der solche Eigenschaften bei den kleinen Leuten zu schätzen weiß, und gibt ihm, der hochdeutsch zu schreiben und zu lesen pflegt, zugleich mit seinem treuherzigen Platt ein gewisses in höherer sprachlicher Kompetenz gründendes Überlegenheitsgefühl. Übrigens hat es 1725 eine Oper gegeben, die das herbstliche Ochsenschlachten zum Thema hatte: Johann Philipp Praetorius' Die Hamburger Schlacht=Zeit, oder der Miß=gelungene Betrug. Der Komponist war Reinhard Keiser. Eine farbig-humoristische Schilderung der Hamburger Ochsenschlachtzeit liefert unter Bezugnahme auf den Patrioten auch Die Matrone im Stück 98, Hamburg, vom 2. Dezember 1728. Vf.

B. H.

Brockes

Motto

Vergil,

Geórgica II

458, frei zitiert, in B korrekt:

NIMIUM, SUA si BONA NÖRINT! —„Glücklich,

ter sie

besitzen!"

wenn

O

sie wüßten,

FORTUNATOS

was für

Gü-

309

zu Jahrgang 2 / 7725, Stück 98 373

^ Fleisch=Schrangen Fleischhank" (Adelung).

374

19

375

33: „Sei gegrüßt, mein lieber Vetter! Ich hin Deinem Rat gefolgt und habe diesmal kein Fleisch aus Altona genommen, wie ich es sonst alle Jahre tat. Ich habe mir gestern selber beim Schmidt in Eimsbüttel einen Ochsen gekauft. Wenn er so gut ausfällt, wie er aussieht, will ich Dir für mein Leben dankbar sein: Es ist ein Tier, wie man's nicht besser malen könnte: ein richtiger Jütländer, darauf hat der Schuster geschworen, der die Haut gekauft hat. Komm doch, wenn Du kannst, und tu ihm die Ehre an und sieh ihn lebendig. Er ist recht von der breitbeinigen Art und hat eine tüchtige Fohle [ = ?]. Dein Nachbar, Peter Nüffel, pflegt auch einen guten Ochsenverstand zu haben. Bring ihn doch mit, wenn seine Frau einverstanden ist, und laß Dir mit uns heute Abend ein Gericht Innereien schmecken [nimm mit uns heute abend mit den Kaidaunen vorlieb]. Du kannst so tun, als ob Du von selbst kommst, und mußt es meiner Frau nicht gerade unter die Nase reiben, daß ich Dich eingeladen habe. Deshalb schreib ich Dir diesen Brief. Ich hoffe, Du kommst, und bin, lieher Vetter, Dein redlicher Vetter und Freund Stoffer Wysnees."

3 7¿

(34ff.): Der Patriot hatte am Schluß der Stücke 3, 6, 13, 24, 27, 32, 34, 46, 50, 54, 57, 60, 61, 68, 69, 74, 81, 82, 84, 93 und 96 eine - allmählich wachsende — Liste von auswärtigen Bezugsmöglichkeiten angegeben. Im vorliegenden Stück hat diese Liste (durch das Hinzukommen der Firma Meißner in Wolfenbüttel) ihren größten Umfang erreicht; sie verändert sich in den Stücken 104, 114, 120, 145 und 146, die ebenfalls die Bezugsmöglichkeiten nennen, nicht mehr. (In B sind alle diese Angaben getilgt.) Es wird im folgenden eine knappe Identifizierung aller genannten Firmen versucht. Eine gründliche Untersuchung des Profils der aufgeführten Buchhandlungen, die zumeist Verlag und Sortiment zugleich darstellten, könnte interessante Ergebnisse zur Distributionsgeschichte der frühaufklärerischen Publizistik erbringen. Die Identifizierung der einzelnen Firmen erfolgt in der vom Patrioten vorgenommenen Reihung. Johann Christoph Kißner (gest. 1735) hatte sein Geschäft in Hamburg „im Dohm". Von einer Filiale in Schleswig ist nichts weiter bekannt. Er ist vom 1. Band des Irdischen Vergnügens in Gott (1721) an bis 1734 der Verleger der Werke Brockes' gewesen, ebenso verlegte er die ersten 4 Bände von Weichmanns Poesie der Niedersachsen (1721, 1723, 1726, 1732). Sein Nachfolger wurde Christian Herold. Warum die 1. Buchausgabe des Pa-

Mittel-Mann

Fleischschrange:

„die

Fleischschranne,

die

vgl. Erl. zu 367,16.

310

Kommentare

und

Erläuterungen

trioten (1728—29) nicht bei Kißner, sondern bei Conrad König herausgebracht wurde, der in den 30er Jahren auch als Ratsbuchdrucker in Hamburg bezeugt ist, ist unklar. Nicolaus Förster war zur Zeit seiner Geschäftstätigkeit (1681—1739) der bedeutendste Buchhändler und Verleger Hannovers. Philipp Gottfried Sauermann, seit 1691 Buchhändler in Bremen, war dort um 1725 der einzige seines Gewerbes. Michael Hubert war von 1714 bis 1739 ein namhafter Buchhändler in Breslau. Jacob Schuster war einer der führenden Buchhändler Leipzigs, seit 1719 am Ort. Johann Christoph Zimmermann (1668—1727) war seit 1699 der bedeutendste Dresdner Buchhändler. Seine Firma figurierte seit 1720 als „Zimmermann und Gerlach". Ludwig Schröder war bis zur Jahrhundertmitte einer der beiden führenden Buchhändler Braunschweigs. Daniel Bartholomäi ist von 1703 bis 1727 als bedeutendster Buchhändler in Ulm bezeugt. Ambrosius Haude hatte seine Buchhandlung in Berlin 1724 erworben; aus (Zuihr wurde 1739 die berühmte Haude und Spener'sche Buchhandlung. nächst war als Bezugsmöglichkeit in Berlin die Firma von Johann Michael Rüdiger genannt worden (Stück 3), der von 1693 bis 1734 als Buchhändler in Berlin und Güstrow bezeugt ist. Ab Stück 13 sind Rüdiger und Haude gemeinsam genannt, ab Stück SO Haude allein.) Adolph Jonathan Felssecker war von 1693 bis 1729 Inhaber einer — neben der Endter'schen — relativ unbedeutenden, später unter seinem Sohn blühenden Buchhandlung in Nürnberg. Johann Philipp Andreä (1654—1722) und Heinrich Hort sind als Inhaber einer bedeutenden Buchhandlung in Frankfurt am Main bezeugt. Benjamin Wedel (1673—1735) war Inhaber der Universitätsbuchhandlung in Altdorf. Die Firma von David Reymund Mertz und Johann Jakob Meyer (Mayer) ist in Augsburg zwischen 1721 und 1759 nachweisbar. Johann Adam Spörl übernahm 1721 als Nachfolger des Felix du Serre die Buchhandlung des Königlich Preußischen Reformierten Gymnasiums zu Halle. Er verlegte auch den ersten Jahrgang (1725) von Gottscheds Vernünftigen Tadlerinnen. Ein Johann Sebastian Riechel (gest. 1730) ist seit 1681 in Kiel als Buchhändler nachweisbar. Johann Heinrich Rußworm (gest. 1730) besaß Buchhandlungen in Rostock, Schwerin und Güstrow, auch eine ansehnliche Stockholmer Filiale ist nachweisbar.

zu Jahrgang

2 / 1725, Stück 99

311

Georg Ludwig Fritsch führte seit 1714 eine Buchhandlung in Rostock. Martin Christoph Schwecht (Schwechte) ist dort als Buchdrucker bezeugt; als Compagnon von Fritsch erscheint er seit Stück 54. Johann Christoph Meißner war damals ein bedeutender Buchhändler in Wolfenbüttel. Christoph Gottfried Eckart war seit 1722 Inhaber der damals einzigen Verlagsbuchhandlung Königsbergs. Jonathan Schmidt ist erst in den 30er Jahren als einer von vier Buchhändlern in Lübeck nachweisbar. Christoph Julius Hoffmann ist von 1691 bis 1718 in Celle als Buchhändler nachweisbar. Johann Michael Teubner ist erst seit 1730 als Buchhändler in Braunschweig und Halberstadt, dann in Leipzig, bekannt. Ein Samuel Gottlieb Lochmann ist 1724 als Bewerber um eine Buchhändlerkonzession in Schwerin, nicht jedoch in Wismar und Stralsund, nachweisbar. Die Filiale in Stralsund ist zuerst in Stück 50 genannt. Immig in Regensburg: nicht zu ermitteln. Ein Johann Geller (gest. 1750) ist in Reval als Buchbinder bezeugt.

Stück 99 Der Patriot bringt, vorgestellt als Einsendung eines Lesers, die Übersetzung einer Betrachtung aus dem Spectator (Nr. 111) über die Unsterblichkeit der Seele. Das Thema dürfte aus Anlaß des bevorstehenden Totensonntags gewählt worden sein. Der Einsender setzt es in eine Reihe mit vorangegangenen metaphysischen Erörterungen des Patrioten. Wie diese gehört auch die vorliegende zu den — mit Christian Wolff zu sprechen — vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, d. h. es handelt sich nicht um Theologie, sondern um Philosophie. Die Wochenschrift leistet hier keine christliche Verkündigung, keine geistliche Erbauung, — das griffe in die Kompetenz der Pastoren ein. Entsprechend ist die Vortragsweise argumentierend-beweisführend-logisch. Begrifflichkeit und Bildlichkeit sind nicht biblisch getönt, zitiert werden im Motto Cicero und im Text Horaz, nicht Altes oder Neues

312

Kommentare

und

Erläuterungen

Testament. Den Abschluß bildet bezeichnenderweise ein mathematischer Vergleich. Gleichwohl verstehen sich die Darlegungen als konvergierend mit den christlichen Glaubensüberzeugungen, — als mit den Mitteln der Vernunft erbrachte Bestätigung christlicher Verheißung. Daß die Unsterblichkeit der Seele, eine antike Vorstellung, etwas anderes ist als das „ewige Leben", von dem biblische Texte sprechen, wird nicht weiter in Anschlag gebracht. Auch die Vorstellung, die menschliche Seele nehme immer mehr an Vollkommenheit zu, bessere sich, werde immer stärker und schöner, — offenbar aus eigener Kraft, von der Wirkung der Gnade ist nicht die Rede —, ist, auch wenn zugestanden wird, daß sie vor Gott immer unvollkommen bleiben werde, mit dem alten christlichen Bild vom durch die Sünde gezeichneten Menschen nicht zu vereinbaren. Der Leser des Patrioten wird hier religiös in eine Richtung gelenkt, die zu freier weltanschaulicher Spekulation führen könnte. Von Gott zwar ist noch die Rede, nicht nur neutral mit der Formel vom höchsten Wesen (380,7), sondern auch noch mit der Vorstellung vom Schopffer (381,1), ja sein Name ist noch in alter frommer Manier mit Großbuchstaben gedruckt (381,21; 382,13). Gleichwohl lassen die vom Patrioten übernommenen Überlegungen des Spectator zur Unsterblichkeit der Seele ohne weiteres eine neutrale, unverbindlich-deistische Gottesvorstellung zu. C. F.

Vf.

Weichmann

Motto Cicero, TusculanaedisputationesI15,33. „Unbegreiflicherweise haftet fest in den Geistern eine Art Vorschau auf künftige Zeiten, und zwar zeigt sie sich besonders und am deutlichsten in sehr großen und tiefen Seelen." Motto

B

N O N T E M E R E NEC FORTUITO SATI & CREATI SUMUS; SED PROFEC-

TO FUIT QUAEDAM VIS, QUAE G E N E R I C O N S U L E R E T H U M A N O , NEC ID GIGNERET AUT A L E R E T , Q U O D , CUM EXANTLAUISSET OMNES LABORES, TUM INCIDERET IN MORTIS MALUM SEMPITERNUM. C L C . T u S C .

I.

49.

zu Jahrgang 2 / 7725, Stück 100

313

Cicero, Tusculanae disputationes / 49,118. — ,,Nicht blindlings und zufällig sind wir erzeugt und erschaffen, sondern es war wahrlich eine Kraft, welche um das menschliche Geschlecht Sorge trug und es nicht erzeugte und ernährte, um es in ein immerwährendes Übel zu stürzen, nachdem es solche Beschwerden ausgehalten." 5 bisherigen Teutschen Verdollmetschung gemeint ist vermutlich: Der Spectateur, oder vernünftige Betrachtungen über die verderbten Sitten der heutigen Welt, 3 Teile, Frankfurt und Leipzig 1719—23, — eine auf der französischen Spectztor-Übersetzung (Le Spectateur, ou le Socrate Moderne, Amsterdam 1714ff.) beruhende Teilübersetzung der englischen Wochenschrift. 9

kommt] kommt. Sie war mit folgendem Briefe an mich begleitet: B.

14—16 Stücke von der Ewigkeit . . . der Unermeßlichkeit GOttes vgl. Stücke 14, 11, 66, 65, 42 und 51. 8-10 Ein Erbe . . . folget. (») Horaz, Epist. üb. II, epist. 2,175f. Die Stellenangabe in der Fußnote (381,33f.) ist aufgrund vertauschter Ziffern falsch. 9f. wie ein T r o p f f e n W a s s e r dem a n d e r n f o l g e t . ] wie eine W e l l e h i n t e r d e r a n d e r n a n d r i n g e t . B. 8

irgend] nirgend B.

18

cissoide

Kurve dritter Ordnung in der Geometrie.

19 asymtote Asymptote: Gerade, die sich an eine Kurve ohne sie im Endlichen zu erreichen.

annähert,

22—24 ist sehr l e i c h t . . . zu weisen.] ist den Erfahrnen eben so begreifflich, als wie in einem Triangel, wann die BASIS unendlich verlängert, und auf derselben der C A T H E T U S , ohne Verlängerung, unendlich fortgerucket wird, sodann die SUBTENSA sich gleichergestalt zur BASI unendlich naher legen, und dennoch dieselbe, so lange der C A T H E T U S bleibet, in Ewigkeit nicht berühren müsse. B.

Stück

100

Ein Briefschreiber knüpft an die im Stück 93 vorgeführte Allegorie an und schildert den Kampf zwischen Neid und

314

Kommentare

und

Erläuterungen

Ehre. Der Patriot beschließt die Einsendung mit einem kurzen Kommentar. Der vorliegende Beitrag ergänzt Gedanken des Stücks 93. Wenn dort Ehre, Reichtum und Wollust als Scheingüter hingestellt sind, so ist hier die Ehre in enger Verbindung mit der Vernunft eine oberste Autorität. Demut, Großmut, Klugheit, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Fleiß, Geduld, Mäßigkeit und vor allem die Wahrheit stehen ihr zur Seite. Gemeint ist hier die innere Ehrenhaftigkeit, — nicht äußerliche, zu erweisende Ehre; sie ist ein hoher Wert für den Bürger. Etwas anderes dagegen, so stellt es die Allegorie dar, ist der Ehrgeiz. Er ist mit allen erdenklichen Lastern verbündet, ein Diener des Neids. Ehrgeiz, Unruhe und Neid sind die gerechte Ordnung der Vernunft gefährdende Elemente; sie werden erst am Ende von der Wahrheit besiegt. — Daß die Unruhe, der Sinn für Neuerung und Veränderung, etwas Positives sein könne, —dieser Gedanke ist nicht zugelassen. Bezeichnend ist es, daß Laster wie Tugenden in einem kohärenten System vorgestellt sind, jeweils in einem Herrschafts- und Kooperationsverhältnis miteinander. Ehrgeiz und Unruhe bedienen sich hier der Lügen, der List und der Verleumdung, und Stolz, Haß, Gram, Zorn, Rache usw. sind mit im Spiel, und analog sieht es auf der Gegenseite aus. Daß sich Tugenden und Laster mischen, daß sie miteinander verquickt auftreten könnten, bleibt unerwogen, zumal es pädagogisch schwer plausibel zu machen wäre. Klare Fronten, Schwarz und Weiß kennzeichnen das lehrhafte Moralisieren. Die allegorische Auseinandersetzung der zwei Parteien ist mit spürbarer Lust an sinnreichen Bezügen als ein militärischer Waffengang vorgestellt. Den Personifikationen der jeweiligen Tugenden und Laster sind kennzeichnende Attribute und Verhaltensweisen zugeordnet, wenn z. B. die Verleumdung giftige Wurfspieße mit sich führt, mit Fallstricken, Gräben und Hinterhalten manövriert, die Demut einem

zw Jahrgang 2 /1725,

315

Stück 101

Geschoß nur durch rechtzeitiges Sichbücken entgeht und die Hilfstruppen der Dummheit auf Kamelen anreiten. In solchen sinnreichen Beziehungen und Anspielungen dürfte ein Reiz für die Leser gelegen haben. Vf.

(Einsendung)

Motto Stobaeus, Florilegium (griecb!) — „Das allzu Berühmte mißgünstiger Neid." Motto

B

EST A L I Q U O D MERITI SPATIUM, Q U O D NULLA INUIDIAE MENSURA CAPIT.

bedroht

FURENTIS

CLAUDIANUS.

Claudianus, De consulatu Stilichonis III, 43/44. — „Es gibt eine Größe des Verdienstes, die der rasende Neid nicht erfassen kann." 3 8 5

^

Aretapolis

„Tugendstadt".

Stück 101 Der Patriot legt einen eingesandten Brief vor, der sich mit Karnevals- und Redoutenlust befaßt. Wie der Patriot einleitend selber bemerkt, enthalten die Schilderungen des Briefschreibers bereits eindeutige Stellungnahmen. Das ganze Redouten- und Karnevalswesen ist ihm befremdlich, gefährlich, verderblich, — eine Welt der Eitelkeiten und Lüste. Die christlich-protestantische Tönung seiner Kritik ist unüberhörbar (sie ist bei Einsendungen der Patriotischen Gesellschafft zu Christian=Stadt ohnehin zu erwarten): das Memento Mori, das am Ende über die Maskierten des Festsaals hin gesprochen wird (402,26ff), klingt wie ein Warnruf aus der Zeit des weltflüchtigen Barock. Gleichwohl will auch der Briefschreiber nicht die Eitelkeit und Nichtigkeit des ganzen Weltwesens behaupten. Es geht ihm offenbar nur darum, die vergnügliche Ruhe der Gemühter vor gefährlicher Anfechtung zu bewahren. Der Patriot aber kann diese Einsendung, ohne seiner prinzipiell diesseitszugewandten Linie untreu zu werden, abdrucken, 21

Der Patriot, Bd. IV

316

Kommentare

und

Erläuterungen

denn die hier stattfindenden Aussetzungen am Karnevals Masken- und Redoutenwesen entsprechen durchaus seiner vernünftig-bürgerlichen Einstellung. Sie können nämlich als auf die höfische Welt gemünzt verstanden werden. Was der Briefschreiber schildert, — zunächst in der Wirkung auf alle 5 Sinne beschrieben (397,11 —31) —, sind in der Tat nicht bürgerliche Karnevalsbelustigungen, sondern die Lustbarkeiten der höfischen Sphäre. Die berühmte Stadt (396,8) ist offenbar eine Residenzstadt; der mit vielen tausend Kerzen erleuchtete prächtige Saal, wo eine festliche Menge freie Tafel hat und sich an feil stehenden kostlichen Geträncken und Lecker=Bißlein delektiert, wäre am ehesten in einem Schloß oder einem Palais vorzustellen. Der Spieltisch paßt ebenso in dies vornehm-höfische Milieu wie der müßige Domherr (399,27) und weitere Prälaten (wenn wir die beiden ehrbaren Männer in langen Violet=Farbenen Ober= Kleidern (401,21 f.) als solche deuten dürfen. Das würde übrigens bedeuten, daß an ein katholisches Land gedacht ist.) Vor allem aber sind lasterhafte Anleitung von Töchtern zur liebreitzenden Gefälligkeit (400,4) durch die Mütter, Ehrgeiz, in der Gesellschaft zu glänzen und sich durch bissige Bonmots (beissende Scherz=Reden) hervorzutun, Intrigen zum Verderben eines Grossen (401,17) und Heuchelei fast zwingend der höfischen Welt zuzuordnen, und auch die unentbehrliche Kunst der Verstellung (401,30f.), von der die Rede ist, gehört in die Topologie hergebrachter Hofkritik. Dem rechtschaffenen Bürger ist diese Welt fremd und für die Jugend ist sie geradezu gefährlich. Der vernünftige Bürger meidet diese Sphäre des Luxus und der Äußerlichkeiten und bevorzugt die eingezogenen Freuden der Geselligkeit im kleinen Kreis, unter Freunden. Er verstellt sich nicht nach den Gesetzen höfischer Affektbeherrschung, maskiert sich nicht, sondern gibt sich offen. Ja er ist geneigt, hinter den Attraktionen der Gesellschaftssphäre bei Hofe nur Beschwernisse zu sehen: müde Beine, krancke Kopffe, leere

317

zu Jahrgang 2 / 1723, Stück 101

Beutel, verderbte Magen, geschwächte Corper, unruhige Begierden, befleckte Ehre. Bezeichnenderweise wird auch der ökonomische Aspekt der Lustbarkeiten zur Sprache gebracht und die damals von manchen Cameralisten vertretene Lehre vom volkswirtschaftlichen Nutzen höfischer Festivitäten (das Geld „roulire" ja und komme aus der fürstlichen Schatulle bei solchen Gelegenheiten wieder in die Hände der Untertanen) zumindest in Zweifel gezogen (401,3 5 f f ) . Interessant ist, daß Redouten- und Karnevalslustbarkeiten auch als Mittel kluger Obrigkeiten verstanden werden, die Untertanen zu beschwichtigen gemäß der römischen Devise „Panem et Circenses!", — ein Gedanke, der in zeitgenössischen Policey-Schriften zuweilen erörtert wird. Das wunderbare Fernglas (399,9) und das ebenso wunderbare Hörrohr, vor denen das innere Wesen der Lustbarkeiten sich enthüllt, sind Mittel der moralischen Diagnose, wie sie die fiktiven Verfasser Moralischer Wochenschriften innehaben. Hier sind sie einzelnen Festteilnehmern zugeordnet. Das Motiv der maskierten Ehegatten, die, ohne sich zu erkennen, miteinander ein verliebtes Stelldichein verabreden (400,28ff.), ist, sonst schwankhaft gebraucht — so noch in Johann Strauß' „Fledermaus" —, hier ernsthaft moralisch als Exempel der Lasterhaftigkeit verwertet. Auffallend ist die zurückliegende Datierung des Briefs (403,16). Sie spricht für die Echtheit der Einsendung. Der Patriot hat den Brief erst jetzt zum Abdruck gebracht. Vf. Motto

(Einsendung) Vergil, Georgica IV 441. - „Alles formt sich in

3 9 6

2f.

399

22 Scaramouchen-Kleide Scaramouche: lustige Person der dia dell'arte, trug schwarze Tracht im spanischen Stil. 21*

es dieß Blat genugsam füllet, und] fehlt

Wundergestalten."

B. Comme-

318

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 102 Der Patriot befaßt sich mit der Goldmacherkunst der Alchimisten und ihrer Kundschaft. Er macht deutlich, daß das Thema aktuell sei (nun 404,19;Heutiges Tages 405,28), ja er spricht von fast täglich in Hamburg zum Vorschein kommenden alchimistischen Schriften (406,15). Seine Strategie gegenüber dem Goldmacherwesen und seinen Anhängern ist mehrschichtig. Zum einen macht er klar, daß die Attraktion des Goldes in der Seltenheit dieses Metalls beruht, daß also eine beliebig Gold produzierende Kunst binnen kurzem den gesuchten Stoff wertlos machen werde. Zum andern führt er Fälle betrügerischer Goldmacherei an und benennt die jeweils angewandten Betrugsmethoden (408,5—409,15). Eine weitere wirksame Art, das Treiben der Alchimisten fragwürdig zu machen, besteht darin, die dunkel-abstruse Sprache ihrer Verlautbarungen vorzuführen. Eine Beschwörungsformel, ein mit einer Art Chiffren-Akrostichon geziertes rätselhaftes Gedicht des Basilius Valentinus, eine Liste esoterischer alchimistischer Begriffe, ein mystisch dunkles Wort eines ebenso dunklen Salamon Trißmosin werden im Zitat eingeschaltet. Eine Auseinandersetzung mit Terminologie und Logik dieser schriftlichen Zeugnisse unterbleibt. Der Patriot macht sich nicht die Mühe, argumentativ auf das im Zitat Vorgeführte einzugehen, vielmehr bedient er sich hier des Spotts und der Ironie, — was zugleich besagt, daß das angesprochene Publikum für gescheit genug angesehen wird, die Ungereimtheit derartiger Texte selber zu durchschauen. Schlichteren Gemütern, etwa Handwerkern, hätten die Augen über Abgeschmacktheit und Unvernunft alchimistischer Schriften auf andere, direkte Art geöffnet werden müssen. Interessant ist, daß der Patriot die auf die Goldmacher hereinfallenden Personen vor allem dem Adel zurechnet. Eine so grosse Anzahl von allerley Standes=Leuten sei hier in-

zu Jahrgang

2 /1725,

319

Stück 102

volviert, ein sächsischer Minister, der Großherzog von Florenz werden genannt. In der Tat fanden damals Alchimisten wie andere Charlatane und Projektenmacher vor allem bei vornehmen Personen, an Höfen, ihre Kundschaft. Gleichwohl ist der eigentliche Adressat des Patrioten der Bürger. Die „Privatpersonen" (409,24) haben mehr Grund als hochgestellte Staatspersonen, hier vorsichtig zu sein.

4Q4

Vf.

]. A.

Motto

Horaz,

6

Midas

Fabricius De arte poetica 143. — „Nicht vgl. Erl. zu I,

Qualm aus

Blitz!"

389,29.

15 Rosenobeln englische Goldmünzen; auf der Vorderseite eine Rose.

1343 bis 1500 geprägt,

17 Weisen-Stein Stein der Weisen: zentrale Kategorie der Wirkstoff, der helfen soll, Metalle in Gold zu verwandeln. 4 0 5

2 Hermes gemeint: Hermes Gottgestalt, der die Verfasserschaft schrieben wurde. Anubis Schakalkopf.

ägyptischer

Charontis 5 terwelt.

zeigen

Alchimie,

Trismegistos, sagenhafte ägyptische alchimistischer Basisschriften zuge-

Totengott,

dargestellt in Menschengestalt

mit

Charon: in der griech. Mythologie Fährmann der Un-

12 Proceß „Die Art und Weise, welcher Bedeutung es besonders in der wo man die vorgeschriebene Art und Wirklichkeit zu bringen, einen Prozeß Proceß der Weisen

wie eine Sache behandelt wird: in Chymie und Afterchymie üblich ist, Weise, ein chymisches Product zur zu nennen pflegt". (Adelung).

alchimistisch

Vorgang des

Goldmachens.

15 Basilius Valentinus seit 1413 Benediktinermönch in Erfurt, Alchimist, Verfasser einschlägiger Schriften wie Triumphwagen des Antimon, Vom großen Stein der alten Weisen, Offenbarung der verborgenen Handgriffe, Das letzte Testament, Schlußreden. Seine gesammelten Schriften erschienen 1677/1700 in 2 Bänden, 1717 in 3 Bänden in Hamburg. 17—27: Die Verse bilden eine Art Chiffren-Akrostichon. Sie stehen mit geringfügigen Abweichungen in Fratris Basilii Valentini Chymische Schrif-

320

Kommentare und Erläuterungen

ten alle, so viel derer vorhanden, 1. Band, 3. Aufl., Hamburg 1700, S. 154. Das aus den Chiffren gebildete Wort Vitriol bezeichnet zum einen das Schwefelsäuresalz eines Metalls, zum anderen war es Symbolwort der Alchimisten für den Prozeß der Transmutation (Verwandlung unedler Metalle in edle); nach Basilius Valentinus ist es gebildet aus den Anfangsbuchstaben der sieben Wörter „ Visita Inferiora Terrae Rectificando Inventes Occultum Lapidem", d. h. „Suche das Innere der Erde auf, Uberprüfe es und du wirst den verborgenen Stein finden." 406

2

Mercur

Alchimistenname für alles Flüchtige, bes. f . Quecksilber.

5

Feuer-Mauern

hier wohl für Schornsteine.

6 Spießglaß Antimon; der Name zuerst bei B. Valentinus (Triumphwagen des Antimon, 1460). 7

mit seinem Berg umgeben

vom Muttergestein

umschlossen.

8 Spring-Wurtzel ,,eine Wurtzel, deren sich die Schatzgräber zu ihren Betrügereyen bedienen" (Zedier); eine Art Wünschelrute. — Ysope Ysop: Gewürz- oder Heilpflanze. — Borrax Borax. — Bismuth Wismut. 9 Gallmey „mit Eisenocker versetzter Zink, der grau, gelb, rot oder braun von Farbe ist, und durch dessen Zusatz das Messing aus Kupfer hergestellt wird." (Adelung). Gold' und Silber-Glatte 10

Marcasit

Glätte: zu Schlacke kalziniertes Blei.

Markasit: Abart des Pyrits (Eisen- oder Schwefelkies).

11 Schmiegel-Erde wohl Schmirgel-Erde. Spanischer Schmirgel wurde häufig zum Goldmachen verwendet. 407

7—9 gelber und rohter . . . atrolischer Adler alchimistische Begriffe, die in der Sammlung Eröffnete Geheimnisse (vgl. folgende Erl.) zum Teil mehrfach in Kapitel- oder Abschnittüberschriften enthalten sind. 15 f. Salamo Trißmosin ähnlich wie Basilius Valentinus ein Alchimist, der im Ii. und 16. Jh. in Deutschland wirkte. Der Sage nach hat Paracelsus als der bedeutendste seiner Schüler von ihm den Stein der Weisen erhalten. Unter dem Namen Saloman Trißmosin erschien die erste umfangreichere Textsammlung alchimistischer Schriften in deutscher Sprache: Aureum Vellus oder Guldin Schatz- und Kunst-Kammer, 3 Bde., Rorschach 1598/99. Sie wurde in Hamburg 1708 und 1718 unter dem Titel Eröffnete Geheimnisse des Steins der Weisen wieder aufgelegt (Neudr. Graz 1976).

321

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 102

16—21 „Dieser . . . worden, wörtliches Zitat aus: Eröffnete Geheimnisse (vgl. vorige Erl.), S. 12 (die Kapitelüberschrift lautet dort ,,Deß Königs Julaton Tinctur"). 4 0 8

der Mönch beym Froschmäußler vgl. Rollenhagens Froschmäuseier, Teil II, Kap. XVII („Wie Reinicken daß Goldmachen gerathen ist"), Verse 187-202. 11

Pulverablieff] Pulver ablieff (Druckfehler

16

Hammerschlag

gende oxydierte 4QÌ)

heim Schmieden

dieses

Neudrucks).

von Eisen oder Kupfer

absprin-

Teilchen.

6 usifur Bezeichnung.

Quecksilbersulfid,

auch für Schwefel

selbst

gebräuchliche

25 Pabst Leo der Zehnde der erste der sogenannten Medici-Päpste (1513—1521). Zur Anekdote vgl. Hermann Kopp, Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. (Reprogr. Nachdruck d. Ausg. Heidelberg 1886), Bd. 1, Hildesheim 1962, S. 243f. 4 1 0

2

Chrysolith

,,Goldstein",

eine Abart des

Olivins.

9 ein gewisser Alchymist gemeint ist wohl der anonyme des Exemplum artis Philosophiae (vgl. folgende Erl.).

Verfasser

18—411,25: wörtliches Zitat aus dem anonymen Traktat „Exemplum artis Philosophiae", in: Eröffnete Geheimnisse (s. Erl. zu 407,15f), S. 278-281, hier: S. 279f. 19

verköhret

29

gestarzt

d.h. Alchimisten, 411

^

Tyriacus

ter beliebtes 14

Filen

verkehret. unklar; möglicherweise die mit Fäkalien

Anspielung

auf die

Stercoristen,

experimentieren.

gemeint ist vielleicht Theriak, ein vor allem im

Mittelal-

Universalheilmittel. im zitierten

Werk:

„feilen".

Gilbe „gelbe Berg-Art, silberhaltig und mit gewachsenem angeschmauchet" (Zedier). - Aquositas lat., Wasserreichtum. 21

Leymen

Silber

Tonerde.

22 Cerot Cerat(um), Medikament in Form einer Salbe bzw. Pflasters. - Inselt Unschlitt (Grimm).

eines

322

Kommentare und Erläuterungen

Stück 103 Ein Briefschreiber sendet ein allegorisches Rätsel nebst einigen Lösungsvorschlägen ein. Der Patriot stellt als des Rätsels Lösung die Heuchelei vor und moralisiert — unter Heranziehung eines moralischen Charakters — über dies Laster. Das Faktum, daß der Briefschreiber auf das unmittelbar vorangegangene Stück mit der Goldmacherthematik anspielt, läßt vermuten, daß der Brief fingiert ist. Abfassen und Einsenden eines Briefs sowie Stellungnahme des Patrioten und Druck waren im kurzen Zeitraum von 6 Tagen kaum zu bewerkstelligen. Dadurch, daß Davus als Einsender zunächst einige keineswegs überzeugende Vorschläge zur Lösung des Rätsels vorträgt, wird die Spannung des Lesers geweckt. Daß diese Vorschläge aus Frankfurt, Schwaben, Bayern, Sachsen sowie Nürnberg stammen sollen, besagt für den Leser: Der Patriot befaßt sich mit einem überall in Deutschland interessierenden Thema. — Die Lösungsversuche fallen im einzelnen mehr oder weniger absonderlich aus. Sie charakterisieren ihre Autoren auf lustige Weise. Die Deutung des Briefschreibers, das Rätsel meine das Kartenspiel, gerät selber zu einem kleinen moralischen Exkurs über diesen Gegenstand. Die oft mühsamen Versuche, für alle Bestimmungselemente des Rätsels eine Anwendung in der vermeintlichen Lösung zu finden, sorgen für scherzhafte Auflockerung des Ganzen. Die Stellungnahme des Patrioten bleibt auf der Ebene ernsthaften Moralisierens. Die Heuchelei wird in ihren Erscheinungsformen und Folgen vorgestellt, wobei Furbino als Exempelfigur dient. Heuchelei erscheint nicht auf einen bestimmten sozialen Lebenskreis beschränkt, wie z. B. auf den Hof, wo dies Laster traditionellerweise zu vermuten war, — sie betrifft vielmehr das ganze menschliche Geschlecht (417,20). Sowohl die höfische Welt ist gemeint als auch die

z» Jahrgang

323

2 / 7725, Stück 103

devote. — Das modische Zweifeln der vornehmen Gesellschaft wie die Andacht der Frommen kann Heuchelei sein (418,18ff.). Bemerkenswert ist, daß die Wurzel der Heuchelei nicht in der Sündhaftigkeit des Menschen gesehen wird, wie es nach christlicher Anthropologie geboten erschiene. Allerdings wird die Heuchelei auch als Teuffels=Ding bezeichnet (412,13), ihre Ausübung als Lästerung des Namens Gottes (417,28ff.); der christlichen Optik ist also ein kleines Genüge getan. Die Schlußwendung, die an die hochgepriesene Redlichkeit der alten Deutschen erinnert, ist als Appell zur Nachahmung zu verstehen, läßt aber auch ein gewisses, durch kein Sündenbewußtsein getrübtes nationales Selbstgefühl erkennen.

Vf.

J. A. Hoff mann (?)

Motto Cicero, De officiis 113,41. — „Kein Verbrechen ist sträflicher als das jener, die betrügen, und doch so tun, daß sie rechtschaffene Menschen zu sein scheinen

412

24

greiß

413

5

Schau-Gerichte

415

33

Matadors, Quinze und Sept-Levas

416

28 f.

417

4

grau,

hellgrau. Schauessen;

Augenweide.

jener Flandrischen Fischer-Frau

Kartenspiele. Anspielung

unklar.

Er ist merckwürdig,] Ich kann zum voraus nicht bergen, daß es mir r falle, dieses Rathsel für eine Erfindung eines ietztlebenden klugen Kopfes zu halten; weil es nicht allein mit seiner Weitlaufftigkeit, sondern auch mit seinen allzuoffenen moralischen Absichten, von denjenigen Regeln eines richtigen Rathseis zu weit abgehet, die heutiges Tages einem ieden bekannt sind. Vielleicht ist es von einem alten Araber, oder sonst von einem Morgen-Länder entlehnet, als welche sich in dieser Art Sachen an Kunst und Kürtze nicht allemahl so genau gebunden. Dem sey aber wie ihm wolle, so ist doch merckwürdig, B.

324 4 1 8

4 1 9

Kommentare

^

Furbino

22

Wind-Flasche

31 filou).

Filutirendes Karten-Spiel

33 f.

fehlt

und

Erläuterungen

,, Trugmann". „in Hamburg

ein windiger Mensch"

filutiren, filoutieren:

(Heinsius).

betrügen (von frz.

B.

Stück 104 Der Patriot erörtert anhand einer Gesprächsrunde die Beweggründe zur Wohltätigkeit. Die Gesprächsgesellschaft besteht aus 7 Personen, — neben dem Patrioten und seinem Verwandten aus zwei Kaufleuten, einem Juristen, einem Arzt und einem Geistlichen. Sie repräsentiert in dieser Zusammensetzung die bürgerliche Welt von Besitz und Bildung, um die es den Moralischen Wochenschriften zu tun ist. Der Patriot und sein Vetter als gebildete und besitzende Adlige fügen sich bruchlos in diesen Kreis ein. Die Gesellschaft erinnert an den Spectator-Club. Freilich figuriert dort noch ein Offizier: das militärische Element scheint dagegen in Hamburg nicht von Belang. Bemerkenswerterweise ist — wie auch im Spectator-C7«£ — die Weiblichkeit hier beiseite gelassen. Die tugendhafte Araminte wird zwar erwähnt, aber nicht eingeführt. Kennzeichnend für die Auffassung des Patrioten von musterhafter Geselligkeit ist die Feststellung, daß man hier aufgeräumt und vergnügt zusammentrifft und bald munter, bald ernsthafft miteinander spricht: der vernünftige Bürger zeigt sich lebenszugewandt, nicht etwa weltflüchtig-miesepetrig. Die Beweggründe zur Wohltätigkeit, die die einzelnen Gesprächsteilnehmer vorbringen, bewegen sich in Abschattierungen vom philosophisch-naturrechtlichen bis zum christlich-theologischen Argument. Der sozialphilosophische Gedanke, daß Eigentum verpflichte, wird ebenso artikuliert

zu Jahrgang 2 / 1725, Stück 104

3 25

(Florindo) wie Verheißungen und Forderungen des Neuen Testaments. Daß Eusebius, der Geistliche, die Bewegungs» Gründe der Heiligen Schrift anführt, überrascht nicht. Auffallend ist, daß sich beide Kaufleute auf Gott und den göttlichen Segen in ihrem Tun und Handeln beziehen. Sie vertreten den Typus des frommen ehrbaren Kaufmanns, der, noch frei von schrankenlosem Bereicherungsstreben, nach Prinzipien der Billigkeit und Gerechtigkeit und in christlicher Verantwortung verfährt. Interessant ist, daß auch ein idealistisches Konzept von Humanität bereits anklingt. Das geschieht mit dem Hinweis des Doktors auf die Hoheit der Tugend selbst als die wichtigste Auffmunterung zur Freygebigkeit (423,1f.) und mit seiner Vorstellung von der hohen Stufe menschlicher Vollkommenheit. Es geschieht ebenfalls in den Ausführungen des Vetters des Patrioten, der die Neigung zur Mildtätigkeit mit dem Menschlichen gleichsam gegeben sieht (423,15ff.), was an Konzeptionen Shaftesburys erinnert. Der Patriot nimmt diesen Gedanken auf, wenn er vom natürlichen Mitleiden spricht. Wohltätigkeit ist hier also nicht theologisch „Frucht des Geistes" (Gal. 5,22), Befolgung der göttlichen Gebote, Nachfolge Christi, sondern etwas Naturgegebenes, dem natürlichen Menschen Wesensmäßiges. Damit stehen christliche, naturrechtliche und philosophisch-idealistische Gesichtspunkte hier einträchtig nebeneinander. Es liegt nicht im Interesse des die verschiedenen Positionen vorstellenden Patrioten, ihre letztliche Unvereinbarkeit herauszuarbeiten. Bemerkenswert endlich, daß alle Gesprächsteilnehmer von einer persönlichen Verpflichtung der Begüterten zum Wohltun ausgehen. Eine umfassende staatliche Sozialfürsorge, auf die die persönliche Verpflichtung abgeladen werden könnte, ist noch nicht in Sicht. Der einzelne Bürger ist aufgerufen. Auch der Gedanke an Organisation von Wohltätigkeit, an Institutionen kommunaler oder kirchlicher Art,

326

Kommentare

und

Erläuterungen

wird, hier nicht aufgeworfen, obwohl der Patriot diese Dinge sonst durchaus im Auge hat. Es geht ihm hier lediglich um die ethische Motivation des Einzelnen. Vf.

C. F.

Motto Martial, als Reichtum." 4 2 0

Weichmann Epigrammata V 42,8. - „Allein

^

Aristander

8

Eusebius

4 2 2

"

Gratial

4 2 4

14

Salomo saget

was du gibst, bleibt

„Bestmann". „Fromm". Dankgeschenk. Spr.

19,17.

20f. Matth. 25. v. 35.2C. gemeint ist die Rede Jesu vom Jüngsten richt, kulminierend in Vers 40: „ Was ihr getan habt einem unter diesen nen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." 4 2 5 4 2 6

Denn wahrlich . . . getan. (10 ff.)

dir

Zx den auswärtigen

Matth.

Gemei-

25,45.

Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Kommentare und Erläuterungen zu Band III (= Jahrgang

1726, Stücke

105-156)

Titelblatt zum dritten Jahrgang der Buchausgabe im Faksimile (verkleinert)

g f c u c uni> m t c f i h t c ä i i f t j a l n v mit t>oDfWnt>i$cm fHegificr.

®rtrurftfrei)tfwitaDft&nid» 1739

Auf die Wiedergabe des Registers zum dritten Jahrgang der Buchausgabe ist verzichtet. Dies Register deckt sich in seinen Stichwörtern oftmals nicht mit den für den dritten Jahrgang relevanten Stichwörtern im Vollständigen Register über alle drey Jahre des Patrioten der Originalausgabe (III, 425-458).

Zuschrift zum 3. Jahrgang auf das Titelblatt folgend:

der Buchausgabe,

unmittelbar

Der bishero unbekannt gebliebenen Patriotischen Gesellschaft in Hamburg, nehmlich Denen, mit Vorbehalt eines ieden Ranges, Titels und Würden, nach der Ordnung Ihres Beytrittes allhier zu benennenden Herren, Hn. Johann I U L I O Surland, I . V. L. der Kaiserl. freien Reichs=Stadt Hamburg Hochverdienten ältesten S Y N D I C O : Hn. Conrad Widow, I. V. L. und Hn. Barthold Henrich Brockes, I. V. L. Beide Eines Hoch=Edlen Raths daselbst Hoch=ansehnlichen Mitgliedern: Hn. Johann Albert F A B R I C I O , T H . D. Hoch=berühmten P R O F E S S O R I M O R A L . sigem G Y M N A S I O : 22

Der Patriot, Bd. IV

& ELOQU.

an hie-

332

Kommentare

H n . JOHN THOMAS, T H .

und

Erläuterungen

D.

der Loblichen Engellandischen SOCIETAET in Hamburg H o c h v e r d i e n t e n PASTORI:

Hn. Christian Frid. Weichmann, Ihro Hoch=Fürstl. Durchl. zu Braunschweig=Blanckenburg Hoch=bestallten Rathe, und der Königlichen Gesellschaft in London Mitgliede: Hn. Johann Adolf Hoffmann, H o c h = b e r ü h m t e n PHILOSOPHO u n d PHILOLOGO:

Hn. Johann Klefeker, I. V. L. d e r H a m b u r g i s c h e n REPUBLIQUE H o c h v e r d i e n t e n SYNDICO:

Hn. Johann IULIO Anckelmann, I. V. L. des Lobi. COLLEGII der Herren Ober=Alten Wol=betraut e n SECRETARIO:

Meinen insonders Hochgeehrtesten Herren und Hochgeneigten Gönnern.

zu Jahrgang

3 / 1726

333

Zuschrift

SS. T T . Hochgeehrteste Herren, Hochgeneigte Gönner. Unter die schönsten Stunden meines Lebens rechne ich diejenigen, in welchen mir zeithero das erbauliche Vergnügen gegonnet worden, einer Gesellschaft beyzuwohnen, deren vortreffliche Nahmen ich anietzo dieser meiner Zuschrift vorzusetzen besondere Erlaubniß habe. Es sind nunmehro fünf Jahre, als einige wenige annoch lebende Mitglieder der weiland allhier in Hamburg errichteten T e u t s c h = ü b e n d e n G e s e l l s c h a f t , durch Erinnerung Ihrer vormahligen sehr angenehmen Verbindung, bewogen wurden, sich von neuen zusammen zu thun, und einen abermahligen gemein=nützlichen Zeit» Vertreib, iedoch auf einem noch besseren Fusse, zu unternehmen. So viel edler und wichtiger dießmahl der Vorwurff Ihrer erwehlten Beschafftigung war, so viel leichter traten derselben Manner von Ansehen, Gelahrtheit und Erfahrung freywillig bey, denen die Würdigkeit des Vorhabens, zusammt der untadelichen Gemüths=Ergetzung, nicht die geringste Abkehr in Ihre Gedancken kommen ließ. Man hat dabey, als eben kein ungeneigtes Schicksal, zu bemercken gehabt, daß in diesen fünf Jahren so wenig T o d und Unglück ein einziges Mitglied zu entreissen, als das geringste Mißverständniß der liebreichsten Vertraulichkeit einigen Eintrag zu thun, vermögend gewesen. 22*

334

Kommentare und Erläuterungen

Sie können und werden es mir nicht übel deuten, H o c h g e e h r t e H e r r e n , daß ich mich hier, so wol meiner eigenen Mitgenossenschaft, als der schuldigen Absicht auf D e r o kundbare Bescheidenheit, auf eine kleine Weile mit Fleiß entaussere, damit ich nicht gehindert werde, der Welt einen Begriff von der Beschaffenheit D e r o loblichen Bemühungen zu geben, so wie ihn die Wahrheit von einer unparteyischen Feder will geschrieben haben. Niemahls kann eine Gesellschaft zu dem vorgesetzten Zwecke auserlesener zusammen gekommen seyn. Ihre Nahmen, M e i n e H e r r e n , sind theils in der Statsklugen, theils in der gelehrten und scharffsinnigen Welt so bekannt, daß mein Satz keines weiteren Beweises brauchet. Die Erfahrenheit und Klugheit hatte eine tüchtige Gelahrtheit zur Seiten, und diese hinwiederum wandte ihre Starcke nicht anders, als mit Beystimmung einer geübten Klugheit an: beide aber setzten eine wahre Ehr=Furcht für G O T T , sammt der Besserung seiner selbst und des Nächsten, bestandig zum Grunde. Die verschiedenen Natur=Gaben musten allhier, durch eine diensame Mischung, zur allgemeinen Gefälligkeit gedeien. Die tieffen und ernsthaften Gedancken des einen wurden durch die Munterkeit des andern aufgeheitert: hingegen erhielte das lebhafte Feuer der aufgeweckten Einfälle von dem Gegen=Gewichte eines gesetzten Urtheils seine nothige Maßgebung. Solchergestalt konnte sich das nützliche einer gewissen Anmuth, und das anmuthige eines unfehlbaren Nutzens versichert halten. Wöchentlich ward ein gewisser Abend ausgesetzet, an welchem Sie, nach hingelegten mehrentheils öffentlichen und wichtigen Ampts=Geschafften, Ihre Gemüther in einer so vernünftigen als freundlichen Unterhaltung zu erquicken suchen wollten. Alles, was üppig und eitel, oder Zeit» und Lust=verderblich heissen konnte, ward durch beliebte Gesetze aus dieser Gemeinschaft verbannet; hingegen das gemeine Beste zum hauptsachlichsten Augenmercke aller Ihrer

zu Jahrgang

3

/1726

335

Reden und Gedancken gesetzet. Auf desselben Vortheil, Ehre und Aufnahme traffen alle Ihre Vortrage, als auf einen Mittel=Punct, zusammen: Daher S i e Ihrer Gesellschaft keinen beliebteren Nahmen zu geben wüsten, als welcher eine Geflissenheit fürs Vaterland andeutete. Zu diesem Zwecke wurden iedesmahl aus den Quellen des natürlichen Rechtes und der S i t t e n l e h r e , imgleichen der Stats= und Haushaltungs=Kunst, die erlesensten Betrachtungen hergeleitet, und durch gemeinsame Bearbeitung reiff gemachet. Man fand der Muhe wehrt, das abgehandelte schriftlich zu verfassen, und es, nach Erforderung der Umstände, bald ernstlich, bald schertzhaft einzukleiden: ja es dauchte S i e endlich nicht undienlich, auswärtigen gescheidten Exempeln zu folge, einen Abdruck davon Stück=Weise vor mehre als Ihre eigene Augen kommen zu lassen. Mit einem Worte: S i e schrieben d e n P a t r i o t e n . Hier begehe ich eine Offenherzigkeit, worüber mancher zwar grosse Augen machen, ein ieder aber mir leicht zutrauen wird, daß ich mich, ohne D e r o sonderbare Genehmhaltung, so weit nicht erkühne. Denn daß S i e vorhin niemahls die Gedancken gehabt, mit I h r e n wahren Nahmen sich kund zu geben, dessen braucht es bey vernünftigen Lesern wol eben keiner grossen Überredung; und es hat davon noch kaum vor einem Jahre die Vorrede des erneuerten ersten Theiles deutlich gnug gezeuget. Also müssen es keine geringe Ursachen seyn, warum S i e den Mantel des alten Patrioten, unter welchem S i e Sich fünf Jahre so einstimmig verborgen, zuletzt aufzudecken oder abzulegen rathsam gefunden. Man horete nehmlich, daß die erste unübersehene und unverbesserte Ausgabe dieser Blatter, unter dem zweydeutigen Nahmen einer u n v e r ä n d e r t e n , den Kauffern sich anzupreisen bemühet wäre; man vernahm, daß mit einem fremden Zusätze eines vierten Theils, ohne Wissen und Willen der Verfasser, gedrohet würde; was kunnte demnach nothi-

336

Kommentare

und

Erläuterungen

ger seyn, als auf krafftige Mittel zu dencken, wodurch dieser neuen und einzig für die Ihrige erkannten Auflage die G e wahr ihres Vorzuges geleistet würde? Es kam zu dem Ende ein freyes und großmüthiges G e standniß der Nahmen aufs Tapet; ich kann aber wol sagen, daß niemahls in D e r o L o b l i c h e n G e s e l l s c h a f t eine Sache streitiger, und schwerer zu erhalten gewesen, als eben diese. Einige meineten gar, es mogte solche Entdeckung nur bloß als eine eitele Ruhm=Sucht angesehen werden, welche mit einer Patriotischen Arbeit billig nicht die geringste Verwandschaft haben sollte. Hierauf aber ward geantwortet: wenn die Absicht auf eine eitele Ehre gienge, so wäre es ja ein leichtes gewesen, nach dem Exempel des SPECTATORS und anderer dergleichen Schriften, bey einem ieden Stücke, durch beygefügte Buchstaben oder Zeichen, den Verfasser anzudeuten, damit das verdiente Lob desto eigentlicher zutreffen, und einem ieden personlich angedeien mogte: da aber dieses niemahls wäre beliebet worden, und hingegen die ietzo vorzusetzende Nahmen keine weitere Absicht hatten, als so fern man damit überhaupt einem Buche helffen konnte, welchem man zu helffen schuldig wäre, weil es bloß zum gemeinen Besten geschrieben worden; so würde dieser Patriotische Endzweck schon gnug seyn, zu beweisen, daß man sich eines solchen Hülffs=Mittels nicht allein nicht zu entlegen, sondern sich allerdings dazu verbunden zu achten hatte. S i e wissen selbst, M e i n e H e r r e n , welchergestalt diese Vorstellung dahin gewircket, daß S i e endlich einmüthig in eine Sache gewilliget, worin sich ein ieder so wol überzeuget als überstimmet befinden muste. Inzwischen zweifele ich gar nicht, es werde diese unerwartete Offenbarung eines bisherigen Geheimnisses, vornehmlich bey dreyerley Leuten, von gantz verschiedener Wirckung seyn, welche sich vermuthlich, nach Verschiedenheit der Gemüther, in Freude, in Verwunderung, und in Schaam wird zu erkennen geben.

zu Jahrgang

3 / 1726

337

Freuen werden sich zuforderst alle wackere und Preis» würdige Mitgehülffen des Patrioten, so wol in= als ausserhalb Hamburg, wann sie nunmehro eigentlich wissen, bey wem sie ihren loblichen Beytrag angewandt, und was für Manner sich ihnen nahmentlich dafür verbunden erkennen. Ich erbitte mir die Erlaubniß, dieselben bey dieser Gelegenheit versichern zu dürfen, daß man auf ihre zum Theil unbekannte Personen nicht wenig sein Absehen gehabt, wann man, oberwehnter massen, einem ieden Stücke kein eigenes Kenn=Zeichen des Verfassers beysetzen, sondern ietzo nur die hiesigen Gesellschafter dem Buche überhaupt vorfügen wollen. Denn was etwan an Ehre und Lob entweder dem gantzen Wercke, oder gewissen einzelnen Blattern zufallen mogte, solches bleibet die Gesellschaft auf diese Art schuldig und erbotig, mit ihnen so wol, als unter sich selbst zu theilen; Dahingegen, was sich an wiedrigen Urtheilen und andern Anfechtungen hervor thut, solches fällt allein auf die Schultern derjenigen, die sich gegenwärtig mit dem vergonneten Ausdrucke ihrer Nahmen zur Vertretung der gantzen Arbeit anheischig gemacht haben. Unterdessen sehen S i e , M e i n e H e r r e n , ohne Zweifel gar gern, daß wolermeldten Ihren fremden Gehülffen allhier nochmahls aufs verbindlichste gedancket, und ihnen öffentlich zugestanden werde, daß ihre eingesandte ausbündige Gedancken und Aufsätze diesen Blättern keine geringe Zierde gegeben. Es würde solcher Danck vornehmlich und besonders ergehen müssen an den Herrn M i c h a e l C h r i s t o p h B r a n d e n b u r g , Wolverdienten PASTOREM zu Sterley und Salem im Mecklenburgischen, wenn Derselbe als ein fremder zu rechnen, und nicht vielmehr mit der Loblichen Gesellschaft so genau verbunden wäre, daß E r von einem vollkommenen Mitgliede durch nichts anders, als durch die blosse Abwesenheit, zu unterscheiden gewesen. Nicht weniger werden sich freuen alle aufrichtige Freunde der Patriotischen Blätter, wann sie nicht mehr zweifeln dür-

338

Kommentare

und

Erläuterungen

fen, ob sie eine Schrift in Händen haben, an deren Gewichte durch Erkenntniß des Urhebers nichts abgehet; sondern wann sie ihr eigenes vorhin geschöpftes Wolgefallen nun endlich durch die ausgedrückte Nahmen solcher Manner unterstützet sehen, denen alles, was patriotisch und vernünftig ist, seine Beypflichtung nicht leicht versagen wird. Verwundern werden sich die bißherigen vermeinten Wol=Kenner, denen von Anbeginn nichts geheim gewesen. Diese werden kaum begreiffen, wie es habe möglich seyn können, daß sie, aller ihrer untrieglichen Muthmassungen, und aller eingezogenen zuverlässigen Nachrichten ungeachtet, dennoch mit Fingern auf den unrechten Patrioten gezeiget, und dadurch vielleicht manchem eine Ehre, oder auch einen H a ß , unverdienter Weise zugeschoben haben. Diese gute Herren werden demnach nicht übel nehmen, wann sie sich ietzo überzeuget finden, daß irren menschlich sey. Schämen aber müssen sich hiernächst nothwendig die hefftigen Feinde und unbändigen Ansprenger dieses unschuldigen Werckes, davon der eine Hauffe alle Klugheit, Redlichkeit und Wahrheit, der andere allen Witz und Artigkeit dem P a t r i o t e n abzuschneiden, mit Mund und Feder aufs bitterste sich bearbeitet. Die ersteren mögen sehen, ob sie nunmehro, nach geöffneten Augen, in so wackeren und beliebten Männern denjenigen Caractere erweislich finden, den sie, aus blindem Eifer, der Welt so häßlich und niederträchtig vorzumahlen, die unartige Mühe genommen. Die letzteren aber können ja wol unmöglich in einer übermässigen Eigen-Liebe so tieff versuncken bleiben, daß sie bloß ihre eigene Einsicht, und ihren einzigen Geschmack noch ferner zur Vorschrift und Meisterschaft über dasjenige wollen erhoben wissen, was bey der zusammengesetzten Urtheils= Krafft so vieler erlesenen Kopffe, unter einer solchen Anzahl scharffsichtiger Augen, die Probe seiner Tüchtigkeit hat halten müssen.

zu Jahrgang

3 / 1726

339

S i e zwar, M e i n e H e r r e n , sind von so edlem Gemüthe, daß S i e nicht allein selber wünschen, wenn es zu erhalten stunde, ohne Anmuthung einer kleinen Schaam=Rothe, die feindseligen Hertzen gewinnen zu können; sondern auch nach wie vor entschlossen bleiben, die unüberwindliche Harte derjenigen gantz gleichgültig zu dulden, von denen keine Wiederkehr zum Glimpf zu hoffen ist, und denen der P a t r i o t einmahl nicht gefallen soll und muß, wenn es auch möglich wäre, daß sie ihn selber geschrieben hätten. Inzwischen aber, weil es dennoch offenbar, daß mancher seinen ausschweiffenden Wiederspruch in Schrancken würde gesetzet haben, wenn er von keiner vorgefassten Meinung, wegen des Urhebers dieser Blatter, wäre geirret, und seinen anderweitigen personlichen Haß hieher auszulassen verleitet worden; so hat es fast ein Theil einer liebreichen Pflicht scheinen wollen, durch aufrichtige Entdeckung seines Nahmens, an solchen übereilten Gemüthern die allersanfteste Cur zu versuchen. Biß hieher, M e i n e H e r r e n , habe ich geschrieben, was ich ohne Verletzung der Aufrichtigkeit nicht verschweigen können, und deßwegen gethan, als ob ich nicht zu D e r o Gemeinschaft gehörete. Ietzo bitte, mir zu vergönnen, daß ich meine Feder auch der Danckbarkeit leihen, und zu dem Ende mich selbst, als D e r o Mitglied nicht verleugnen möge. Ich werde mir nimmer aus erkenntlichstem Andencken entfallen lassen die Ehre, deren ich genossen, von Anbeginn in so vortrefflicher Versammlung keinen müssigen, oder für unbrauchbar gehaltenen Beysitzer abzugeben. S i e haben ferner D e r o Achtung und Zuversicht gegen mich besonders darin blicken lassen, daß S i e diese neue, und auf alle Weise verbesserte Ausgabe dieses Lehrreichen Buches, meiner einzigen Hand anvertrauet. Was konnte ich demnach liebers wünschen, als daß ich mogte tüchtig gewesen seyn, Ihre Hoffnung zu erfüllen, und, mit Ausfertigung dieses dritten

340

Kommentare

und

Erläuterungen

Theiles, nunmehro das gantze Werck in einer solchen Gestalt wieder zu D e r o Händen zu stellen, als wie mir davon in allen Stücken Masse und Vorschrift gegeben worden? So viel dürfte ich vielleicht meinem aufrichtig angewandten Fleisse zutrauen, daß zum wenigsten von demjenigen wissentlich nichts rückstellig geblieben, was man in der Vorrede des ersten Theiles von dieser neuen Auflage zu versprechen beliebet. Im übrigen bin ich ein Mensch, und zwar ein solcher, der Zeit und Kraffte gar wenig zu Gebote hat. Sollten wolgesinnete Leser der gütigen Meinung seyn, daß auch ihnen, durch diese meine wenige Arbeit, kein unangenehmer Dienst geleistet worden, so nehme ich solches, als eine Gefälligkeit, die ich bloß der Veranlassung m e i n e r H o c h g e s c h ä t z t e n H e r r e n G e s e l l s c h a f t e r zu dankken habe, und daraus ich mir so gern eine Ehre mache, als ich im Gegentheil versichert bin, daß mir von abgeneigten Gemüthern keine grossere Ungunst zugeworffen werden könne, als einem, dessen das Werck nicht eigen ist, und der sich auch nimmermehr dahin erheben wird, daß er sich davon eines mehren, als ihm wircklich zukommt, anmassen sollte. I h n e n aber, R u h m = w e r t h e s t e H e r r e n P a t r i o t e n , gebe der Allmachtige G O T T so viel Segen, Leben und Vergnügen, als Ihre Absichten bey diesem Wercke lauter und unstrafflich gewesen. Ich weiß, Sie verlangen Selber nichts mehr; Ihre "besten Freunde wünschen nichts mehr; und Ihre Wiedersacher, wofern Sie deren noch einige haben sollten, brauchen nichts mehr zu ihrer Uberzeugung. Das vernünftige Vaterland, welches diese Ihre gleichsam spielende Neben=Beschafftigung kaum in Vergleichung ziehet mit D e r o anderen wichtigen und grossen Verdiensten, unterschreibet keinem Wunsche lieber, als welcher, zu seinem eigenen Besten, einen dauerhaften und heilsamen Genuß des Talentes und der Redlichkeit so ausbündiger Männer im Munde führet. Ich aber füge nur die einzige Bitte hinzu, daß mir fer-

341

zu Jahrgang 3 /1726

nerhin D e r o unschätzbare Gewogenheit und angenehme Freundschaft mit gleicher Versicherung gegonnet werden möge, als wie ich meinerseits, mit aller Ehrerbietung und aufrichtigster Ergebenheit verspreche zu verharren, Hochgeehrteste Herren und Hochgeneigte Gönner, DERO Hamburg, den 9. April, 1729. gehorsamster und geflissenster Diener und Mitgenosse Michael Richey, PROF.

PUBL.

Mit der Zuschrift ist das Geheimnis um die Verfasserschaft am Patrioten gelüftet. Die Öffentlichkeit erfährt, daß hochansehnliche Bürger Hamburgs, darunter Senatoren und Syndici sowie berühmte Gelehrte der Stadtrepublik, gemeinsam die Wochenschrift geschrieben haben. Die Abkürzungen: I.V.L. = Juris utriusque licentiatus Th.D. = Theologiae doctor SS. TT. = Salvis titulis Uber die Bedeutung der aufgeführten Personen siehe das Kommentarbands. Nachwort S. 490ff. dieses Die Zuschrift ist etwas umständlich-zeremoniös-feierlich abgefaßt, — nicht so leicht und munter wie viele Stücke der Wochenschrift selbst. Unter der Maske einer Verfasserfigur schreibt es sich ungezwungener als im eigenen Namen in aller Öffentlichkeit gegenüber hochansehnlichen Respektspersonen.

342

Kommentare

und

Erläuterungen

Die Zuschrift läßt erkennen, warum die Verfasseranonymität aufgehoben wird: Offenbar war von geschäftlich interessierter Seite, möglicherweise vom bisherigen Verleger, eine unveränderte oder sogar mit neuen Materialien unautorisiert erweiterte Neuausgabe des Patrioten als Konkurrenzunternehmen geplant oder in die Wege geleitet. Die Nennung der gewichtigen Namen der tatsächlichen Verfasser konnte geeignet sein, von derartigen Vorhaben abzuschrekken. Deutlich ist, daß Richey auch 1729 noch mit einer festen Gegnerschaft gegen den Patrioten rechnet. Die unüberwindliche Härte von feindseligen Hertzen wird in Anschlag gebracht. Daß diese Gegnerschaft theologisch begründet sein könnte, wird mit keinem Wort angedeutet.

Stück 105 Der Patriot veröffentlicht zwei Briefe, die sich mit astrologischen Deutungen und Prophezeiungen namentlich in Kalendern befassen, und verheißt eine spätere Stellungnahme. Der erste Brief ist aus Hamburg datiert. Er bezieht sich hamburgiu. a. auf zum Jahreswechsel herausgekommene sche Kalender und besitzt damit einen gewissen Aktualitätswert. Er endigt mit der Aufforderung an den Patrioten, den Betrug der Kalendermacher aufzudecken, so wie dieser es kürzlich — im Stück 102 — mit den Alchimisten getan habe. Er gibt sich insofern als ein Stück Resonanz aus dem Publikum, das auf weitere Aktivitäten drängt. Freilich hat der Briefschreiber selber Betrügerei, Widersinn und Abgeschmacktheit astrologischer Deutungen bereits ausführlich dargelegt, wobei er neben ernsthafter Argumentation auch die Mittel des Spotts und der Ironie eingesetzt hat. Es geht ihm um den Nachweis despur Spekulativen und gewaltsam Kombinatorischen in der Astrologie, daneben um

zk Jahrgang 3 /1726, Stück 105

343

¿z'e Einsicht in den trivialen Charakter vieler Prophezeiungen, die mit wichtiger Miene gemacht werden. Dazu werden Passagen aus jüngst erschienenen Kalendern zitiert. Daß die Astrologie eine uralte Kunst ist, in der sich bis in die Neuzeit hinein auch bedeutende Gelehrte, so noch Kepler, versucht haben, wird vom Briefschreiber nicht erwogen. Für ihn sind diese neu=modische Propheten (1,23f.) zumeist hochst=unwissende Leute und aberwitzige Kopfe. Es sind Scharlatane wie die Alchimisten, ihre Deutungen sind Ausflüsse ihres schwindlichen Gehirns (5,8), Thorheiten und wird Kinder=Possen (5,34). Die astrologische Spekulation rationalistisch bloßgestellt, die Reste eines magischen Weltbilds müssen einem vernünftig-naturwissenschaftlichen Konzept weichen. Übrigens bedient sich der Briefschreiber auch einer religiösen Argumentation: Das Weltbild der Astrologie müsse verkehrte, niedrige und läppische Ideen von den gewaltig grossen Wercken unsers Schopffers (4,4f.) hervorrufen; künftige Dinge vorherwissen zu wollen, sei eine Verwegenheit. Daß der Glaube an die Bestimmtheit menschlichen Schicksals durch die Gestirne zu Determinismus und Fatalismus führen könne, was zugleich den Glauben an die freie Macht der Gnade Gottes tangieren muß, wird dagegen nicht erwogen. Es geht dem Briefschreiber — wie dem Patrioten — um die Freiheit vernünftiger menschlicher Selbstbestimmung. Der zweite, sehr viel kürzere Brief, aus Frankfurt am Main datiert (was die ausgebreitete Korrespondenz des Patrioten beweisen soll: es handelt sich zweifelsohne um einen fingierten Text) ist nach Art der satirischen Briefe abgefaßt: Der Briefschreiber charakterisiert sich in ihm wider Willen auf lustige Weise, — hier als dem astrologischen Aberglauben verfallen. Beide Briefe bedürften nicht der Erläuterung; sie sprechen für sich selber. Der Patriot hat seine eingangs angekündigte Stellungnahme zum ganzen Themenkomplex im Stück 127

344

Kommentare

und

Erläuterungen

geliefert. Die Ankündigung in der Schlußnotiz wird im Stück 106 zurückgenommen.

Vf.

C. F.

Weichmann.

Motto

Horaz,

Oden / 11,1. - „Forsche

9

Übermächten

Übermacht:

6 Aspecten In der Astrologie stirnen und Planeten zueinander. 7(.

nicht: Wissen ist

übertrieben, bedeutet

Sünde."

übermäßig. Aspekt die Stellung von

Ge-

so kleinstädtisch oder so wichtig] so wichtig oder so klein B.

16 f.

Unter-Welt

27 L

Ausarbeitung des Universal-Wercks

hier Welt unter dem Mond;

34

seichten] schwachen B.

3

vierzehn] sechszehn B.

13

widerwärtige

widerwärtig:

Erde. Goldmachen.

hier im Sinne von

andersartig.

14 f. gewisser grosser Gelehrter . . . zu verwandeln Im 17. Jh. war vielfach versucht worden, die Sternbilder im biblischen Sinne umzubenennen; im deutschen Bereich etwa von dem Augsburger Julius Schiller ("Coelum stellatum Christianum, Augsburg 1627), Wilhelm Schickard aus Tübingen (Astroscopium, Nördlingen 1655) und auch Georg Philipp Harsdörffer in seinem Astronomischen Kartenspiel, Nürnberg 1656. 15 f. 30 20 f. nicht

ein anderer sehen

nicht zu

identifizieren.

aussehen.

des verwunderlichen Englischen Wahrsagers nachweisbar.

als

Publikation

22 Sextil-Schein „der gesechste Schein, ist eine Freundschafts-Art, so zwey Gestirne, durch den sechsten Theil eines Cirkels, und zwey dazwischen stehenden Zeichen gegen einander haben." (Zedier). 35

Philaster

„Sternlieb".

zu Jahrgang 1 f.

3 / 1726, Stück 106

künftigen Montag . . . werde, und] fehlt

B.

9 ADY] fehlt B. - ady eig.: lat. a die: vom Tage; v. a. in fen und Quittungen gebräuchlich. (11):

fehlt

345

Wechselbrie-

B.

Stück 106 Der Patriot druckt drei Briefe ab, — einen zum Thema der Neujahrsglückwünsche, einen weiteren zur Frage väterlicher Einwilligung bei Heirat der Tochter, einen dritten, der eine streitsüchtige Ehefrau vorstellt. Gegen die zur Routine gewordene Gepflogenheit, sich wechselseitig Neujahrsglückwünsche durch eigens abgesandte Bediente auszurichten, haben sich viele Moralische Wochenschriften gewandt. Daß der Briefschreiber mit dem sprechenden Namen Wünschelmann sich hier erbietet, das ganze Neujahrsgratulationswesen gewerbsmäßig zu übernehmen, beleuchtet den Leerlauf dieser gesellschaftlichen Konvention in scherzhafter Weise. Im Postscriptum wird die Popularität des Patrioten in Hamburg herausgestellt. Der zweite Brief, von Spectator Nr. 181 inspiriert, schneidet die Frage des väterlichen Zustimmungsrechts bei Verlobung und Eheschließung der Tochter am Beispiel eines anmutig geschilderten Falls an. Ziel ist, das Publikum auf derartige soziale Probleme aufmerksam zu machen, ohne daß bestimmte familienrechtliche Forderungen erhoben werden. Der Hinweis auf eine ihren Auserwählten auf den Schultern davontragende Tochter Karls des Großen gibt der Sache eine Wendung ins Scherzhafte. Die Namensform ,,de Fadon", die Kennzeichnung ein begüterter und artiger Cavalier, das Aufsuchen von Assembleen, das Ausreiten und Ausfahren in der Kutsche lassen vermuten, daß es sich bei den Beteiligten um Standespersonen handeln soll. Auch die Datierung aus Dresden, der höfisch geprägten Residenzstadt, läßt darauf schließen. Möglicherweise war die eigenmächtige Eheschlie-

346

Kommentare

und

Erläuterungen

ßung einer Tochter in Adelskreisen eher vorstellbar als in bürgerlichen. Das angeschnittene Problem jedoch ist in der bürgerlichen Welt ebenso gegeben. Auch der dritte Brief ist fingiert, — ein satirischer Brief, in dem sich eine herrsch- und zanksüchtige Ehefrau decouvriert. Die Vorwürfe, die sie ihrem Manne macht, sprechen durchaus für ihn, und das Selbstlob, das sie sich gibt, gegen sie. Übrigens spielt die Br iefschreib erin auf die gleichzeitig in Leipzig erscheinenden Vernünftigen Tadlerinnen an und droht, falls der Patriot ihrem Manne keine geeigneten Vorstellungen mache, mit der Abwanderung zu dieser Konkurrenz. Im Teil 2 der Vernünftigen Tadlerinnen, Stück 18 vom 20. 4. 1726, findet sich dann tatsächlich eine Einsendung von „Ahlke, geb. Klincksklancks", die nunmehr die Tadlerinnen ersucht, ihrem Manne seinen Eigensinn auszureden. Vermutlich hat Gottsched als Verfasser der Vernünftigen Tadlerinnen hier spielerisch an die Figur im Patrioten angeknüpft. Auch in Der alte Deutsche, Hamburg, Stück 21 von 1730, tritt die gleiche Figur noch einmal auf. Die redaktionelle Schlußbemerkung versucht zu erklären, warum die im vorigen Stück angekündigte Verdoppelung der Erscheinungsfrequenz des Patrioten unterblieben ist. Der Plan, abwechselnd mit den eigenen Stücken Übersetzungen aus Tatler, Spectator und Guardian zu liefern, hätte tatsächlich die Geltung des Patrioten beeinträchtigen können. Zudem hatte 1713—14 bereits Johann Mattheson in Hamburg unter dem Titel Der Vernünfftler einen auf Hamburger Verhältnisse adaptierten Auszug aus Tatler und Spectator in deutscher Übersetzung periodisch geliefert, was offenbar ohne Resonanz geblieben war. Der Patriot scheint diesen Vorgang nicht zu kennen. Vf-

?

Motto soll."

Horaz,

Satiren I 4,141/142.

- „Eine Schar kommt,

die mir

helfen

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 106 Motto B

A T CUR LAETA TUIS D I C U N T U R VERBA E T DAMUS ALTERNAS A C C I P I M U S Q U E ?

34 7

CALENDIS, OUIDIUS.

Ovid, Fasti I 175/176. - „ Und warum sagt man freundliche Worte an deinen ,Kaienden' und warum tauschen wir gegenseitig gute Wünsche ausf" 31—12,3 Weil alle . . . mein Anliegen] Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen ein wichtiges Anliegen B. 9—28 Es sind etwa . . . herum zu führen.] Uber seine Sorgfalt, so er bey meiner Erziehung angewendet, kann ich mich zwar eben nicht beschweren; die vornehmste Lehre aber, die er mir täglich dabey einpregte, war, daß, wie ich ihm alles schuldig wäre, also sein Wille mir zu einer bestandigen Richt-Schnur aller meiner Unternehmungen und Neigungen dienen müste. Dieses wiederholete er insonderheit, wann er mit mir von Heirathen sprach, und pflegte sich offt verlauten zu lassen, daß junge Leute bey solchen Fallen niemahls ihrer eigenen Meinung, sondern alter erfahrner Leute Urtheil zu folgen verbunden waren. Ich habe mir auch hieraus bis in mein fünf und zwanzigstes Jahr ein beständiges Gesetz gemachet, und wurde solches niemahls ubertreten haben, wenn nicht mein Vater, durch sein veränderliches Gemüthe, mir selbst zu dem, wozu ich nachgehends mich bewegen ließ, Gelegenheit gegeben. Mehr als zehn Parteyen wurden mir von ihm selber angetragen; so bald ich mich aber zu einer nach seinem Sinne bequemen wollte, hatte er so viel nachtheiliges von derselben erfahren, daß ich wieder davon ablassen muste. Währenden diesen Veränderungen, fügte es sich, nunmehro vor dreyen Jahren, daß ich einem artigen jungen Menschen ungefehr zu Gesichte kam, der in meiner Person etwas angetroffen haben mogte, so ihm eben nicht unwürdig schiene, von ihm hochgeachtet zu werden. Und ich kann nicht leugnen, daß sein besonderes hofliches Betragen gegen mich schon dazumahl einen tieffen Eindruck in mein Gemüthe machte. Einsmahls, als ich mit meinen Gespielen auf dem Walle spatziren fuhr, traff sichs, daß MR. DE FRANCIS, damahliger Liebhaber und ietziger EheLiebster uns begegnete, und weil wir eben ein wenig ausgestiegen waren, mit einer von meinen Gefahrtinnen, die ihm etwas verwandt war, sich in ein Gespräch einließ. Die Anmuth des Ortes und des Wetters nothigte uns etwas langer zu Fusse zu bleiben: und nachdem mittlerweile einige andere gute Freunde dazu gekommen, fand MR. DE FRANCIS Gelegenheit sich mir zu nähern, und mich bey der Hand zu führen. B. 34 f. nicht, den . . . nothigen Anstand] nicht, aus Ehrerbietung, die ich für meinen Vater hatte, und die ich zu beleidigen mich nicht überwinden kunnte, den nothigen Anstand B. 23

Der Patriot, Bd. IV

348

Kommentare

und

Erläuterungen

M R . F A D O N muste . . . herbey gefunden] M R . DE F R A N C I S war hiemit zufrieden, und nachdem indessen die übrige Gesellschaft sich wiederum näher herbey gefunden B.

2—5

10

MR. FADON] mein Liebhaber B.

13

MR.

FADON] M R .

DE F R A N C I S

B.

und betheure ich . . . gerahten hätten.] und wurden alle Bemühungen meiner Freunde und Verwandten vergebens angewandt. Demnach konnte nichts, als die allzuoffenbare Verabsäumung meines Glückes, und das Gutfinden aller verständigen Leute, mich bewegen, dasjenige zu thun, was mein Vater mir, als die erste Beleidigung seiner selbst, zurechnete. B.

23—33

34

MR.

FADON] M R .

DE F R A N C I S

B.

34 f. freywillige Genehmhaltung meines Vaters] väterliche Genehmhaltung B. Stellen Sie . . . Fehler nachgesehen.] fehlt

20—26

B.

24 Eginhard Nach einer Sage aus dem 12. Jh. war Eginhart (Einhart, um 770— 840), Geschichtsschreiber und Biograph Karls des Großen, mit einer Tochter Karls vermählt. Der Sage liegt vermutlich eine Verwechslung Einharts mit dem Gelehrten und Dichter Angilhart (740- 814) zugrunde, der von Karls Tochter Berta als seiner Geliebten zwei Söhne hatte. 32

DE F A D O N ] DE F R A N C I S

20-18,7:

fehlt

B.

B.

Stück 107 Der Patriot besucht einen Künstler, der das allegorisch satirische Gemälde eines Gerichtshofs über den Patrioten entworfen hat. In der Figur des Herrn von Solips wird ein lasterhafter moralischer Charakter vorgestellt. Dies Charakterporträt, das der Künstler mit Worten entwirft, da es ihm als Maler menschlicher Leidenschaften mit dem Pinsel noch nicht hat gelingen wollen, zeichnet sich in der Tat durch eine gewisse Kompliziertheit aus. Der Einzel-

z« Jahrgang J / 1726, Stück 107

349

gänger mit dem sprechenden Namen ist nicht so markant zu charakterisieren wie andere Typen. Nicht zufällig greift die Schilderung gelegentlich zum Oxymoron (Verdrießliche Bescheidenheit 22,27f.). Bezeichnend auch, daß die Charakteristik (22,21 f f . ) bald in die Schilderung eines Lebenslaufs übergeht (23,17ff). Ein vornehm sein wollender Kaufmann ohne Verdienste, ohne produktive Leistung, von sich eingenommen, halbgebildet, ohne Augenmaß und Selbstkritik, aber stets geneigt, über andere zu urteilen, überheblich, unzufrieden, herablassend-distanziert, ohne Familie und ohne Freunde, —ein solcher Typ kann von dem Offenheit, Redlichkeit, Freundlichkeit, Geselligkeit und Verantwortungssinn für das Gemeinwesen predigenden Patrioten nur negativ bewertet werden. Er ist ein entbehrlicher Outsider der bürgerlichen Gesellschaft. Sein Lebenslauf zeigt einige Ähnlichkeit mit dem des im Stück 2 porträtierten Matz Schaamroht. Freilich ist das Motiv des wirtschaftlichen Ruins hier nicht im Spiel; Solips ist verächtlich und lächerlich. Bezeichnend ist, daß der Patriot die Fehlhaltung des Herrn von Solips ganz und gar dessen Erziehung zuschreibt. Natürliche Anlagen, Triebe, Leidenschaften, eine bestimmte psychische Kondition werden nicht veranschlagt. Für die auf die Vernunft vertrauende Aufklärung ist der Mensch formbar, wenn es nur frühzeitig und in kluger Pädagogik geschieht. Die entsprechenden Angaben über die Erziehung des Herrn von Solips verstehen sich daher als Warnung an Eltern. Es ist wichtig, den Samen solchen Lasters durchaus nicht in die zarten Gemuhter zu streuen. — Der Hinweis auf den fehlenden Bücherbesitz des Herrn von Solips (25,12) ist ein Stück indirekter Lesepropaganda. Zum allegorischen Gemälde des Cleophantus vgl. Peil (1977).

23*

350 Vf.

Kommentare

und

Erläuterungen

B. H. Brockes (?)

Motto Das Zitat stammt nicht von Martial, B gibt Owenus an; bei John Owen jedoch nicht nachweisbar. — ,,Sich allein liebt, bewundert und verehrt Labienus, aber nicht nur sich allein, er allein auch nur liebt sich." J

2

Cleophantus

,,Ruhmvoll".

8 Nürnbergischen Bilder-Kramer lichen Kupferstichen. 2 0

Antica 13

23

Darstellung

Synedrium

2

Solips

5

Schmalefeld

eines antiken

Obergericht

im alten

offenbar

Händler mit

volkstüm-

Stoffes. Israel.

„Selbstlieb". Schmalfeld,

Ort nördlich von

Hamburg.

24

1 die Weise zu begehen nach den Gepflogenheiten zu verfahren; „Eine Weise begehen, einen Gebrauch, eine Gewohnheit mitmachen" (Adelung).

2 6

12

Laßdünckels

Laßdünkel:

Hochmut.

16f. ersticken. Wie gern] ersticken. Der Ruhm ausserordentlicher an den Kindern vermerckter Gaben gehöret ins Gesprich mit GOtt, allwo er danckbarlich ausgebreitet seyn will: aber nicht vor die Ohren der Kinder selbst, bevor der Verstand so reiff ist, daß man sie aus ihren Gaben ihrer desto grosseren Schuldigkeit überzeugen kann. Ware manches Narrchen von seinen lieben Muhmen und andern zärtlichen Anbeterinnen mit einer unzeitigen Bewunderung in der Kindheit verschonet geblieben, so wäre er dasjenige in seinen hohen Gedancken nicht schon langst gewesen, was er nimmermehr werden wird: dagegen aber wäre er nicht geworden, was er wircklich ist, nemlich ein Gelachter kluger Leute. Wie gern B.

Stück 108 Der Patriot berichtet von Belohnungen für eingesandte Ausarbeitungen und lädt zu weiterer Mitarbeit ein. Ein

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 108

351

Brief schreib er erzählt eine allegorische Geschichte vom Gerichtstag gegen den Ehrgeiz. Daß der Verfasser einer Einsendung mit der neuesten Auflage von Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique belohnt wird, zeugt von bemerkenswerter Unbefangenheit des Herausgebergremiums, galt Bayle doch in kirchlichen Kreisen als gefährlicher Freigeist und Religionskritiker. — Die angekündigten neuen Preise zu 50, 30 und 15 Reichstalern sind als beträchtlich anzusehen. Ebenso wie allegorische Gemälde von personifizierten Tugenden und Lastern scheinen allegorische Erzählungen wie die vorliegende beliebt gewesen zu sein. Tugenden und Laster sind hier Systemen zugeordnet, und zwar, ähnlich wie in den Stücken 93 und 100, in Analogie zur Machtstruktur politischer Körper: Das Kaiserreich Rechtland, verbündet mit der Königin Ehre, hält Gerichtstag über den Fürsten von Ehrgeiz; dieser stammt aus dem Reiche des Kaisers Neid, hat mit seinen Untergebenen die Königin Ehre überfallen und ist von ihr besiegt worden. Alle Beteiligten gehören entweder ins eine oder ins andere Lager; dort haben sie verschiedene Funktionen und Ränge. — Der Reiz derartiger Schilderungen dürfte wesentlich in dem Erfindungsreichtum gelegen haben, mit dem Auseinandersetzungen zwischen der Welt der Tugend und der des Lasters in die Ebene der Staatssachen, Hofintrigen, Feldzüge, Reichstage usw. transponiert wurden. Das Interesse der vorliegenden Erzählung geht auf den lasterhaften Ehrgeiz. Ehrgeiz ist ein Feind der wahren Ehre; er steht mit List, Schlauheit, Schmeichelei und Verleumdung im Bunde; seine Taten sind nur um des Ruhmes willen getan; er ist, um sich ein Ansehen zu geben, zu allem fähig: Die bürgerliche Abqualifizierung aristokratischer Wertbegriffe ist offensichtlich. — Die Bemerkung, der Fürst von Ehrgeiz habe auf dem platten Land Jammer und Elend angerichtet und werde möglicherweise seine armen Untertha-

352

Kommentare

und

Erläuterungen

nen vollends aussaugen (33,26), verweist aus der Gleichnisebene auf zeitgenössische politische Wirklichkeit außerhalb Hamburgs. Die Erzählung ist, offenbar wegen zu großer Länge, abgebrochen. Sie wird im Stück 116 fortgesetzt. Es ist anzunehmen, daß es sich bei dieser Erzählung um eine echte Einsendung aus dem Publikum handelt, die der Patriot — zumindest mit der Unterbrechungsbemerkung — redaktionell bearbeitet hat. Mit Lerav könnte anagrammatisch Varel in Oldenburg gemeint sein, aber auch Reval — in Estland — ist nicht auszuschließen, hat der Patriot doch dort beim Buchbinder Geller eine Auslieferung.

Vf.

?;

(Einsendung)

Motto Vergil, Aeneis V 70. — „Alle können kommen errungenen Palme erwarten." Motto

B

-

— -

— NON

VLTERIUS B A C C H A B E R E

und den Lohn der

DEMENS.

I A M P O E N A S T U U S ISTE D A B I T : IAM D E B I T U S V L T O R IMMINET.

-

-

-

-

-

-

CLAUDIANUS.

Claudianus, In Rufinum 1368—370. — „Du wirst nicht noch weiter in deinem Wahn schwärmen; schon wird dieser, der deinige, büßen; der Rächer, der kommen muß, droht schon." 1-28,3: 14 f.

in B nach

34,22.

neueste Aufflage von Baylens grossem Dictionaire

TIONNAIRE

HISTORIQUE

ET CRITIQUE

des

frz.

Denkers

Der DIC-

Pierre

Bayle

(1647-1706) erschien zuerst 1695-1697; die 3. Auflage war 1720 in Rotterdam herausgekommen, die deutsche Übersetzung in 4 Bänden von Gottsched erschien 1741—44. 17 f. allgemeine Historische Lexikon von Buddeus Johann Franz Buddeus, protest. Theologe; vertrat eine mittlere Position zwischen lutherischer Orthodoxie und Aufklärung. Das unter seiner Aufsicht entstandene Allgemeine historische Lexicon erschien in Leipzig 1709 bis 1722.

353

zw Jahrgang 3 / 1726, Stück 109 2 8

4-6:

fehlt

B.

8f. mich neulich . . . Walde] mich neulich in Gedancken auf einer von den glücklichen Inseln, nicht weit von Ihrem Pathia, und kam in entzückter Wanderschaft aus einem wüsten Walde B. (vgl. Stück 93).

32

f.

Staub-Besen] Staup-Besen B; (von stäupen =

Stück

schlagen).

109

Der Patriot veröffentlicht den Brief eines jungen Adligen, der Schwierigkeiten mit seinem Water ob seiner Berufswahl hat. Anschließend handelt er von der Pflicht der Eltern, ihren Kindern einen sinnvollen Lebensweg zu ermöglichen. Der Brief, nicht an den Patrioten adressiert, jedoch auf seine große Autorität anspielend, schildert in der Ichform das Aufwachsen eines 18jährigen Landadligen. Kritik an aristokratischen Gepflogenheiten und Auffassungen ist dabei deutlich. Das Hofmeisterwesen auf dem Lande, während des ganzen 18. Jahrhunderts Gegenstand aufklärerischen Tadels, wird einschlägig beleuchtet. Miserable Bezahlung, Mißbrauch des Hauslehrers zu Dienstbotenleistungen und landwirtschaftlicher Arbeit sowie die Verachtung von Gelehrsamkeit und Bildung unter dem Landjunkertum kommen zur Sprache. Der Patriot gibt in seiner Stellungnahme vor, erfolgreich auf den Vater des Briefschreibers eingewirkt zu haben, — also auch außerhalb seiner publizistischen Aktivitäten gesellschaftlich Einfluß zu nehmen. Er appelliert an die Eltern, sich die zukünftige Lebens=Ahrt der Kinder (das Wort Beruf wird vermieden) emsthaft angelegen sein zu lassen. Sorgfältige Prüfung von Eignung und Umständen sei erforderlich. Die Berufswahl soll damit unabhängig von Traditionen und Vorurteilen nach vernünftigen Prinzipien erfolgen.

354

Kommentare

und

Erläuterungen

In allen Exempelfällen handelt es sich um den Berufsweg von Söhnen. Die Bestimmung der Töchter scheint demgegenüber viel weniger problematisch. — Interessant ist die Auseinandersetzung mit gewissen frommen Einstellungen. Die in strengen christlichen Gruppen verbreitete Auffassung, der natürliche Trieb — und somit auch der Wille — stehe im Zeichen der sündhaften Eigenmächtigkeit und müsse deshalb zurückgedrängt, gebrochen werden, damit der Mensch in der Lage sei, auf Gott zu hören und dessen Ruf zu folgen, wird als irrtümlich, als Vorurteil, dargestellt (39, 20ff.). Die Schilderung der Praxis der Frau Hochhartin, den Beruf ihres Sohnes durch das Los bestimmen zu lassen, im Zusammenhang mit weiteren unvernünftigen und lächerlichen Maßnahmen der Mutter vorgestellt (41,33 ff.), dürfte auf fromme Gepflogenheiten, etwa bei Pietisten, gemünzt sein; ein damit verbundenes „Gelöbnis" und die Wendung das liebe Loß stützen diese Vermutung. Und auch die direkte Lehre: Unmittelbaren Beruff zu diesem oder jenem Stande hoffest du vergebens (43,16f.) zielt wohl auf pietistische Frömmigkeit, die, aus Furcht, dem eigenen sündigen Selbst zu gehorchen, bei der Annahme von Ämtern und Professionen ängstlich auf „Zufälle" oder Zeichen wartete, um darin die göttliche Weisung zu erkennen. (Nur in diesem religiös gefärbten Sinn verwendet der Patriot hier das Wort „Beruf"!) Der Patriot setzt als maßgebliche Instanz dagegen die Vernunft, versäumt es jedoch in diesem Zusammenhang nicht, ausdrücklich von der Furcht Gottes und dem Dienst an Gott, unter dem alles berufliche Tun zu stehen habe, zu sprechen (43, 9ff.). Auch gelingt es ihm, im letzten Absatz die Begabung der Kinder dem Glück und der Natur zuzuschreiben — und nicht Gott, dem Schöpfer, —, um im darauf folgenden Satz die wahre Furcht GOttes und die Ehre des Allerhöchsten alsbald wieder, mögliche theologische Kritiker beschwichtigend, ins Spiel zu bringen.

zu Jahrgang Vf.

B. H.

3 / 1726, Stück 110

355

Brockes

Motto Terenz, Heautontimorumenos 1003. — „Fürwahr, wenn du dich nicht vorsiehst, Mensch, bringst du deinen Sohn ins Leid." ^ ~J 5 Calmäuserey Calmäuser: Stubengelehrter, Pedant; „ derjenige Titel, womit der unverständige Pöbel Gelehrte, und sonderlich Schul-Leute zu schimpffen, vermeynet." (Zedier). 13 T^y 31

gewierige

gewierig:

Euphronius

gewährend.

„Wohlmeiner".

33

Ulnarius

4Q

20

H r . K l u m p k e ] H r . V o l l m a s t B.

42

lOf.

42

,,Ellenmann".

Hr. Klumpke] Hr. V o l l m a s t B.

13

Fr. H o c h h a r t i n ] Fr. H o c h s t e l t z i n B.

32

Fr. H o c h h a r t i n ] Fr. H o c h s t e l t z i n B.

Stück 110 Der Patriot nimmt den strengen Winter zum Anlaß, auf das Los der Armen hinzuweisen. Er knüpft daran Betrachtungen über Mittel und Wege, die Folgen der materiellen Ungleichheit unter den Menschen zu lindern. Das Stück hat ausdrücklich einen speziell-aktuellen Bezug, während Moralische Wochenschriften in der Regel nur eine allgemeine Aktualität in Anspruch nehmen. Die Schilderung der Not von Hamburger Armen bei der scharfen Kälte ist ungewöhnlich anschaulich-eindringlich. Sie nimmt soziale Elendsschilderungen vorweg, wie wir sie im 18. Jahrhundert im Roman etwa in Salzmanns Carl von Carlsberg (1783—88) wiederfinden, im 19. Jahrhundert z. B. in Bettina von Arnims Dies Buch gehört dem König (1843). Die au-

356

Kommentare

und

Erläuterungen

ßergewöhnliche Anschaulichkeit wird übrigens eigens mit der dadurch zu erzielenden "Wirkung begründet (47,19f.). Diese Elendsschilderungen haben eine „Appellstruktur". Der Appell wendet sich nicht an böse, grausame, hartherzige Geizige (46,34; 47,14), — es entspricht dem prinzipiell optimistischen Menschenbild des Patrioten, daß er sich von dieser Spezies nur wenige Menschen vorstellen kann —, sondern an die Unempfindlichen, Trägen, Fahrlässigen, durch Gewöhnung Lieblosen. Doch appelliert der Patriot nicht nur an die Mitmenschlichkeit des Einzelnen (wobei die christlich gebotene Liebe kaum als Argument eingebracht ist), sondern er stellt interessanterweise Überlegungen über generelle, staatliche Regelungen bei ungleicher Verteilung der Gücksgüter an. Es sollte [. . .] nicht erlaubet seyn, daß jemand durch den Besitz einer solchen Menge Güter [. . .] andere arme Mit=Menschen ihres hochst=bedürfftigen Unterhalts berauben dürffte (47,26ff.). Ein sozialer Ausgleich nach dem Modell des Lykurg, der eine Höchstgrenze des Vermögens für jeden Stand gesetzlich festgelegt habe, wird zwar faktisch als in Hamburg nicht realisierbar erklärt (49,14ff), aber am prinzipiell Wünschenswerten eines solchen Modells wird kein Zweifel gelassen. Das Beispiel eines Hamburger Kaufmanns, der für sein Teil freiwillig bereits entsprechend verfahren sei, dient der Unterstützung solcher Überlegungen. Der Patriot kommt hier also zu gewissen ,,sozialistischen" Gedankengängen, die zeigen, daß einem schrankenlosen, „kapitalistischen" Erwerbsstreben keineswegs das Wort geredet wird. Ja der harte entsagungsvolle Einsatz der Reichen, um noch reicher zu werden, die „innerweltliche Askese" derjenigen, die bis zu ihrem Tode an der Vermehrung ihrer Güter arbeiten, ohne sie zu genießen, wird als Unahrt, als Sclaverey bezeichnet (48,5; 49,2). Der Patriot kann einem derartigen Puritanismus, wie er in calvinistischen Ländern die Wirtschaftsgesinnung prägte, nicht zustimmen. Die

357

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 110

Gefahr einer kapitalistischen Monopolbildung im Wirtschaftsleben wird bereits gesehen (49,5ff.). Mit dem abschließenden Exempel des Philanthropus, — es ist fast wörtlich aus Spectator Nr. 177 entnommen —, geht der Patriot wieder zum Appell an die soziale Verantwortung des Einzelnen über. Hier wird auch noch einmal auf die Instanz verwiesen, von der traditionellerweise soziales Handeln bisher seinen Ausgang genommen hatte, — auf GOtt (51,11). Die bevorstehende Armenordnung der Stadt Hamburg wird als eine vernünftige Einrichtung begrüßt, die einen Appell an individuelle Wohltätigkeit in Hamburg vielleicht überflüssig mache, keineswegs jedoch außerhalb dieser glücklichen Stadt.

Vf.

J. Klefeker

Motto Anthologia sacra. Stelle nicht nachweisbar. - „Ein jeder nämlich verbirgt gierig, was nicht ausgegeben werden soll, was er niemandem gegeben, was er den Armen geraubt." 4 g

2 und 12 21—23

50

3f.

Lycurgus

Lykurgos, legendärer Gesetzgeber Spartas.

in meinen Papieren . . . erwehnt zu haben in einem Englischen Buche

vgl. II,

368,32ff.

gemeint ist Spectator Nr. 177.

17—19 die so wohl ersonnene . . . Armen-Ordnung Mit 6. Februar 1726 trat die „ Neue Armen-Ordnung, und Anweisung zur Abschaffung der Gassen-Betteley, daß nemlich die nothleidenden Armen sich bey den Provisoren des Werk- und Zuchthauses zum Wollen-Spinnen und Strumpf-Strikken melden sollen" in Kraft. (27) Hrn. Joh. Christ. Wolfii Curac philol. & crit. in IV. Evangelia & c. Johann Christoph Wolf, Curae philologicae et criticae in S.S. Apostolorum Jacobi, Petri, Judae etjoannis epístolas, huiusque apocalypsin. 4 Bde. Hamburg 172Í-1735. - Johann Christoph Wolf (1683-1739) war seit 1716 Hauptpastor an der St. Catharinen-Kirche in Hamburg.

358

Kommentare und Erläuterungen

Stück

III

Ein Brief liefert eine Reibe von moralischen Charakteristiken junger Aristokraten. Ein weiterer Brief läßt einen albernen jungen Kavalier selber zu Wort kommen. Eine Büchertitelliste illustriert die Welt galanter Oberflächlichkeit. Verfasser dieser Einsendung ist der junge Friedrich von Hagedorn. Er zeigt sich hier bereits als Meister der scherzhaften Satire, und zwar der Adelssatire. Abgesehen davon, daß der Patriot selber in seinen einführenden Sätzen das Stück dem jungen deutschen Adel als Spiegel vorgehalten wünscht, geht auch aus 6 der 8 moralischen Charaktere des ersten Briefs klar hervor, daß es sich um Adelstypen handelt, und bei den beiden übrigen, Streithammer und Philodoxus, sprechen die Umstände ebenfalls dafür. Der Schreiber des zweiten Briefs, der sich selber porträtiert, stellt sich ohnehin schon mit seinen ersten "Worten als G e n t i l h o m m e und Cavalliere vor. Die hier entwickelte Adelskritik berührt viele aus der Sicht des vernünftigen Bürgers relevante moralisch-gesellschaftliche „Laster" des Standes, und zwar sowohl des höfischen wie auch des ländlichen Adels. (Fürsten gehören in eine andere Kategorie.) Der müßiggängerische Stutzer, der eingebildete Dummkopf, der bornierte Jagd- und Hundenarr, der Möchtegern-Kriegsheld, der galante Nichtsnutz, der zeremoniöse Komplimentenmacher, der modische Geck, der alle Wissenschaft verachtende Sauf- und Freßbold, — sie stehen in Charakterporträts nebeneinander; fast alle haben sie sprechende Namen. Der Briefschreiber bezeichnet, was er in Exempelfiguren festgehalten hat, auch begrifflich (57,28—32). Nicht eigens porträtiert wurden dagegen blaublütiger Hochmut gegenüber den unteren Ständen, Spielleidenschaft, Schuldenmach erei, Duellierlust, Libertinage und Maitressenwesen; die Französelei des Adels rückt im zweiten Brief ins Visier.

z« Jahrgang

J / 1726, Stück 111

359

Daß diese Adelskritik, wie stets, eine moralische ist und keine politische, die Ständeordnung in Frage stellende, ist deutlich. An Privilegien wird nicht gerüttelt, auch z. B. die bäuerliche Abhängigkeit von adliger Grundherrschaft ist nicht erwähnt. Auch ist die moralische Kritik eher scherzhaft-leicht-heiter als aggressiv, streng und ernsthaft. Bürgertugend darf sich der Nichtsnutzigkeit, Borniertheit und Äußerlichkeit solchen Adels überlegen fühlen. Die moralische Charakteristik erfolgt auf verschiedene Weise. Es gibt die direkte Kennzeichnung (Dieser wollustige Müssigganger 53,9f.; Seine Mittel nähren seinen Hochmuht 54,26; Sein gantzer Vorzug aber besteht nur in ausserlichem Putz, und sein Innerliches liegt desto wuster 57,2f). Es gibt, zumeist kombiniert damit, die indirekte Kennzeichnung durch Beschreibung von Kleidung, Habitus, Benehmen, Mimik und Gestik. Hier leistet der Verfasser Überdurchschnittliches, auf die Satiren Rabeners Vorausweisendes, — etwa wenn die zeremoniösen Bewegungen des eitlen Biondinello detailliert beschrieben werden oder der Auftritt des Ritters delle Sberettate anschaulich nachgezeichnet ist. Im Falle des Biondinello tendiert die Charakteristik übrigens zur Erzählung eines Tagesablaufs, — der Übergang vom statischen moralischen Charakterbild zum Nacheinander der moralischen Erzählung ist gegeben. Es fällt auf, daß das Hauptgewicht moralisch-gesellschaftlicher Kritik in den 8 Charakteristiken dem höfisch-galant geprägten Adel gilt, nicht dem Landadel. Die höfische Welt der Eitelkeit und Affektbeherrschung, der ausgeklügelten feinen Formen, der modischen Accessoirs, des Luxus, des Müßiggehens und der Französelei ist dem bürgerlichen Konzept des Patrioten besonders fremd. Und so richtet sich auch der satirische Brief, in dem Charles de Sotenville sich selber, seine Mentalität und seine Lebensweise, aufschlußreich vorstellt, auf die höfisch-galante Orientierung deutscher Adliger. Die deutsch-französische Sprachmanier, bereits im

360

Kommentare und Erläuterungen

17. Jahrhundert von den Sprachgesellschaften bekämpft, wird übrigens auch in anderen Moralischen Wochenschriften, etwa in den Vernünftigen Tadlerinnen, ähnlich wie im vorliegenden Falle, als die Ausdrucksweise von Schwachköpfen lächerlich gemacht. Zur Topologie dieser Adelssatire gehört die Verachtung der Wissenschaften als Grillen=Fangerey ebenso wie die Eitelkeit und feminines modisches Gebaren. Sotenville weist die typischen Züge des „Petit-Maitre", des geistlos-selbstgefälligen Stutzers, auf, wie ihn andere Wochenschriften, wenngleich nicht immer so leicht und spielerisch, ebenfalls gezeichnet haben und wie er auch auf der Bühne der Aufklärungskomödie zu finden ist. Die vom Briefschreiber vorgestellte Bibliothèque des gens de qualité gehört zur Gattung der im 18. Jahrhundert beliebten, meist zum Scherz zusammengestellten „Bibliothèque imaginaire". Die Titel sprechen für sich. Sie persiflieren die Welt der galanten Erudition, der modischen Äußerlichkeiten und Nichtigkeiten im Zeichen des Rokoko und charakterisieren ihren Autor indirekt. Der Patriot sieht in dieser Zusammenstellung eine artige Satire auf französische galante Literatur und mehr noch auf deren Leser (52,2ff.). In der Tat ist diese Titelliste ein scherzhaft warnendes Gegenstück zur ernsthaft empfehlend gemeinten Frauenzimmerbibliothek im Stück 8. Vf.

F. v. Hagedorn

Motto Phaedrus, Fabulae Aesopiae I, 7,2. — „Was für ein großer Kopf! Aber Verstand hast du keinen." 52

19

làugbare] völlige B.

^^

31

Spiel-Kolben

das Queue des Billardspieles.

12 oeillade zärtliches Äugeln. — regard dérobé — ton aigre doux bittersüßer Ton.

verstohlener Blick.

zu Jahrgang 12 f. 13

grâces simagrées ris

17

eloquent

geheuchelte

beredtes

361

3 / 1726, Stück 111 Gewogenheiten.

Lachen.

Gesellschaft vam schönen Wedder

vgl. Stück 7.

20f. nach dem 52ten Patriotischen Blate Dort wird eine „philosophische Uhr" vorgestellt, die das Lebensalter des Menschen nach dessen Vernunftgebrauch bemißt. 22 Petronius Petronius Arbiter (gest. 66 n. Chr.), spielte am Hofe Nero die Rolle eines Maître de plaisir, Verfasser des Satyricon.

des

25 Nasidienus Nasidienus Rufus, reicher Emporkömmling zur Zeit des Horaz, der trotz aller gesellschaftlicher Ambitionen Geburt und Gemeinheit nicht verleugnen konnte.

in Rom niedrige

34 Splitter-Richter (nach Matth. 7,3) „Person, Fehler anderer beurtheilt." (Adelung).

geringen

6

Don Ferino

„Herr

von

welche

die

Wildbret".

8 Weide-Recht „das Recht, sein Vieh an und auf einem Orte zu lassen". (Adelung). 11 Spiegel-Netze auch Spiegelgarn: großen viereckigen Maschen. 30 f. 1

beym Severus

Die Anspielung

Philodoxus

„Scheinlieb".

17f. nausichtischen scharf sieht (Mensing).

Brillen

19 Nestors Erfahrenheit Troja. 23 hen).

delle Sberettate

27—30 13 f. 25 ster

Garne oder Netze zur Jagd

jener Tintzer beym Moliere

3

Anspielung ist

nicht

einer

der

der Griechen

vor

(sberettarsi,

ital. den Hut

zie-

: lâsst aber . . . Schnallen bewundere] fehlt verwehnter

Harpasten Gattin.

erklärbar.

scharfsichtig,

greiser Ratgeber

„von Reverenz"

mit

dunkel.

nausichtisch:

Nestor:

weiden

B.

verwöhnter.

Harpasta,

später erblindete

Leibnärrin

von Senecas

er-

362 9

Kommentare und Erläuterungen Philaretus

„Tugendlieb".

15 auteur de la Fauconnerie roiale nigliche Falknerei. 18

Quarte à fer

Fechtstoß.

23 point d'Espagne strümpfe. 3

petillirenden

16

livrets

20

emplette

25

Barenbeck

25f.:

Verfasser der Schrift über die kö-

spanische Stickerei.

-

bas à coin

Zwickel-

perlenden.

Büchelchen. Einkauf. wohl Barmbek, Ort bei Hamburg.

fehlt B.

28 Sotenville ,,Dummstädter"; auch Name eines stolzen Landadeligen in Molières Komödie George Dandin. Der betrügerische französische Erzieher im Lustspiel Die Hausfranzösin der Gottschedin (1744) heißt ebenfalls „Sotenville". 5ff.: B fehlen die Titel der Nummern 8-10, 12, 19, 20, 22, 23; die Numerierung ändert sich entsprechend. 12

têtes moutonnées

gekräuselte Frisuren.

17 Scarron Paul Scarron (1610—1660), Verfasser des „frührealistischen" burlesken Vornan comique, Paris 1651/57. — Neuf-Germain Louis de Neuf-Germain (1574—1662), bekannt für seine „vers grotesques". 18

Contretems

künstlicher

19

Mdle Dumui

nicht zu

21

en taille douce

Tanzschritt. ermitteln.

in Kupfer.

26 Vaugelas Claude Favre de Vaugelas (1585—1650), frz. Sprachgelehrter, einflußreich mit seinen Remarques sur la langue française (1617); vgl. auch die Frauenzimmerbibliothek in Stück 8. 27



Würfelspiel.

31

culbutemens

Purzelbäume.

34f.

Le menton rehaussé

35 f.

Le Chapeau bien troussé

Das vorgestreckte

Kinn.

Der wohlaufgeschürzte

Hut.

zu Jahrgang

38 Le coup sec du Vicomte de Billardabras Vicomte von Billardshausen. 39

Colin maillard

40

merelles

363

3 / 1726, Stück 112

Der trockene Stoß des

Blindekuh.

jouer à la merelle,

Mühlespielen.

Le Roman des Romans, ou le petit Cyrus Anspielung auf den heroisch-galanten Roman Artamène ou le grand Cyrus der Madeleine de Scudéry (1607—1701); in 10 Bänden 1649—1653 in Paris erschienen. 2

Auletes

4 keit.

Bagoas

5

Les bagaiemens méthodiques

6

Les soupirs artificieux

8

Le Rien de conséquence

8 f.

Flötenspieler. Eunuch. — L'équivoque solide

Die tüchtige

Das methodische

Die kunstreichen

mit großer

Der Strohmann für die

9 La moüe savante Die kluge Schmollmiene. leuse Das wunderwirkende Naserümpfen. 10

L'oeillade mourante

11 ff. keit.

Stottern.

Seufzer.

Die Nichtigkeit

Le Passe volant des Dames

Der ersterbende

Le ceremoniel sans ceremonie

Zweideutig-

Wirkung. Damen.

— La nique merveil-

Zärtlichkeitsblick.

Die ungezwungene

Förmlich-

Stück 112 Eine kuriose Beweisführung vom Verstand der Tiere veranlaßt den Patrioten, das Wesen und die Fähigkeiten des Menschen im Vergleich zum Tier herauszuarbeiten. Der vorangestellte Brief über Praktiken und Abrichtungstechniken des Italieners mit dem sprechenden Namen hat die Funktion, den Leser auf unterhaltsame Weise auf die ernsten Ausführungen des Patrioten hinzuleiten, daneben auch, Leichtgläubige über Tricks und Dompteurskünste von Tierschaustellern auf Jahrmärkten aufzuklären. Der Briefschreiber selber hat die Praktiken durchschaut und ersucht den Patrioten um seine Meinung. Der Patriot reagiert also anschei24

D e r Patriot, B d . I V

364

Kommentare

und

Erläuterungen

nend — das Schreiben ist zweifellos fingiert — auf Initiativen des Publikums. Seine Ausführungen laufen darauf hinaus, daß der Mensch im Unterschied zum Tier Verstand bzw. Vernunft und Geist besitze und zu Wissenschaft und Kunst, zur Furcht Gottes und zur Weisheit fähig sei. Als Autorität wird u. a. Cicero berufen. Auch daß der Mensch Sprache hat, wird angeführt. Die Überlegenheit über die nur sinnlich bestimmten Tiere ist betont. Daß der menschliche Verstand die Natur durchdringen und auf diese Weise bis zur Ahnung des unsichtbaren Schöpfers emporsteigen (67,32) bzw. zur Erforschung eines allerhöchsten Wesens geleitet (69,7) werden könne, ist ein Gedanke, der Brockes' Irdisches Vergnügen in Gott durchzieht, auf das Bezug genommen wird. Eigenartig ist die spezifische Schwebelage zwischen heidnisch-philosophischen und christlichen Vorstellungen vom Menschen. Neben Cicero wird auf eine vorgeblich ägyptische Tabelle mit einer Skala der menschlichen und tierischen Fähigkeiten verwiesen. Von der nach christlicher Auffassung alles Denken und Tun des natürlichen Menschen bestimmenden Sündhaftigkeit ist nicht die Rede. Stattdessen kommt an zwei Stellen eine dualistische, an Piaton erinnernde Vorstellung zum Vorschein: die menschliche Seele stecke wie eine Perle in der Tiefe eines unreinen Körpers (65,27ff); der menschliche Geist wohne auf Erden wie in einem Kerker und sehne sich nach der Unvergänglichkeit einer künftigen Welt (68,2 f f ) . Der christlichen Position kommt der Patriot nahe, wenn er auf die Unvollkommenheit des Menschen verweist (65,27), auf seine Grenzen (66,1; 69,10). Mit der Wendung vom Stückwerck unseres Wissens (66,1) bemüht er, ohne sie zu nennen, eine berühmte Paulus-Stelle (1. Kor. 13,9) und der Hinweis auf die Würckungen Gottlicher Gnade, die die Erkenntnis der Wahrheit jenseits der Grenzen der natürlichen Weisheit ermöglichen, scheint vollends konform zu gehen mit christlichen Auffassungen. In der Schlußbetrachtung

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 112

365

wird dieser Hinweis noch einmal, und zwar in doppelter Weise (71,7ff.; 17f.), wiederholt. Das Stück, dessen eigentliche Tendenz es ist, die großen Fähigkeiten und Möglichkeiten des menschlichen Geistes herauszustellen, ist damit abgesichert gegen mögliche Einwendungen von theologischer Seite. Im übrigen muß gesagt werden, daß der Patriot sich hier keineswegs einer philosophisch exakten Terminologie bedient. Das kommt am deutlichsten in der semantischen Mehrwertigkeit des Begriffs Seele zum Ausdruck (65,29; 66,12; 70,33; 71,12). Vf.

?

Motto Cicero, De officiis I 4,13. — ,, Vorzüglich hat der Mensch einen Drang nach Erforschung und Erkundung der Wahrheit." 62

7

Serpentinello Gansinotti

12

SERPINTINELLO] SERPENTINELLO

22-63,27: 63

9 30 f.

Habern

„Schlänglerich

Gansmeier".

(Druckfehler dieses Neudrucks).

fehlt B. Haber:

Hafer.

Indianischer Rabe

Ära, Papagei.

seinem bevorstehenden Glücke in der gantzen Woche] meiner be34 f. vorstehenden Uberzeugung B. 64

hat e i n e n . . . und] fehlt B. 32 f.

65 67

25

Andencken Aletophilus

Erinnerung. ,,Wahrheitslieb".

3 f.

Henne, deren . . . gedencket

24

Schmerling

Anspielung

26

den Drachen] die grossesten Schlangen B.

unklar.

kleiner Bauchfisch.

33 f. das bekannte Irdische Vergnügen in GOtt Brockes' Gedichtsammlung, deren 1. Band 1721 in Hamburg erschienen war. Gemeint sind 24»

366

Kommentare

und

Erläuterungen

offenbar Ausführungen in dem Lehrgedicht Das, durch die Betrachtung der Grösse GOttes, verherrlichte Nichts der Menschen, in einem Gespräche, auf das Jahr 1722. Die Seitenangabe bezieht sich offenbar auf die 2. Auflage des 1. Bandes 1724. 14—17

Jener Tempel . . . bemercken sollten.] fehlt

14 f.

Salomo in seinen Sprüchen

B.

Spr. 9,1 f f .

25 Wahrheit, wie folget:] Wahrheit. Sollte etwan ein ungewohnter Leser hie oder da einigen Anstoß finden, so will ich bitten, zum wenigsten den Gedancken dieses klugen Aegyptiers mehr Richtigkeit zuzutrauen, als vielleicht der Teutsche Ausdruck seiner Figuren entdecken kann. B. 29

Furcht] Liebe und Furcht B.

30—33:

Besserung. Klugheit. Erkenntniß. Verstand. B.

34—70,2: yQ

Künste und Wissenschaften. Ehre. Gewissen. B.

4 f.

großmühtige Entschliessung] Großmuth B.

8

Unstetigkeit] Ungewißheit, Unstetigkeit B.

9

Gewissen] Entschliessung B.

15

Feurige] fehlt B. Einbildung] wissentliche Vorstellung B.

Stück 113 Der

Patriot

ein Fremder

liefert

das Protokoll

in einer

Anschließend

Hamburger

skizziert

eines

Reiseberichts,

Gesellschaft

er das Bild

den

gegeben

einer

habe.

wohleingerichteten

Republik. Die

Hamburger

mal wöchentlich

Gesellschaft

niß hiesigen O r t s dienen

(72,llf),

sche Gesellschaft

selber,

der Buchausgabe

die Rede

wünschenswert

Freunde,

trifft,

die sich

welche

erinnert

fremder wird

Länder,

Patrioti-

zu Band

ist (im vorliegenden

gehalten,

ein-

zur Kennt-

an die

von der in der Vorrede

band S. 331 f f ) . Das Studium für

guter

zu Unterredungen

III

Kommentarvom

im vorliegenden

Patrioten Fall

in

zu Jahrgang

3 /1726,

Stück 113

367

allgemein interessierenden Ergebnissen für die Leser nützlich gemacht. Im Protokoll erscheint zunächst das Reisemotiv bemerkenswert. Philotimus will mit dem Studium fremder Länder und der damit erlangten Weltkenntnis den Mangel adliger Herkunft bei der Übernahme von öffentlichen Aufgaben kompensieren (73,12ff), — ein in der zeitgenösssischen Reiseliteratur nicht eben topischer Gedanke: Gereistheit als Ausgleich niedriger Geburt! Das Urteil des Reisenden über die angetroffenen Verhältnisse betrifft keineswegs nur die Verfassungen im engeren Sinn, also die politischen Strukturen, sondern auch soziale Einrichtungen, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Zustände. Solche Interessenweite ist kennzeichnend für das Anliegen des Patrioten; er hat das Gemeinwohl im Auge und das ist durch die genannten Bereiche entscheidend konditioniert. Namentlich soziale Einrichtungen werden hervorgehoben: Armenhäuser, Witwen- und Waisenfürsorge, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den Niederlanden, Armenschulen in England, Akademien und Bibliotheken sowie das Invalidenhaus für Veteranen in Frankreich, Stiftungenfür kranke Soldaten und Kinder in Wien. Beachtung finden die englischen Gesellschaften zur Pflege der Sitten und zur Förderung öffentlicher Ordnungs- und Wohlfahrtseinrichtungen sowie von Wirtschaft und Verkehr. Gerade diese von den Bürgern selber ausgehenden, nicht von einer fürstlichen Obrigkeit befohlenen Initiativen für das Allgemeinwohl liegen dem Patrioten am Herzen, — sein eigenes Unternehmen ist eine solche Initiative. Mit Sympathie hervorgehoben ist die staatsbürgerliche Freiheit in Holland und in der Schweiz, also in Bürgerrepubliken ähnlich Hamburg. Für das konstitutionelle britische Königtum wird merkwürdigerweise eine Versuchung zum Umsturz, zum Mißbrauch von Freiheitsrechten, konstatiert. Die Verhältnisse in absolutistisch regierten Staaten sind da-

368

Kommentare

und

Erläuterungen

gegen mit spürbarer Distanz beobachtet. Hier leben Untertanen (74,30). Die Treue des französischen Volks zum König erscheint im Zusammenhang mit einer durch herrscherlichen Willen zur Gewohnheit gewordenen Gelassenheit keineswegs als etwas Rühmliches. Überhaupt überwiegt gegenüber den französischen Verhältnissen die Kritik. Die Attraktion französischen Luxus', französischer Mode auf Fremde ist etwas Ärgerliches. Bürgerliche Aversion gegen das Mutterland höfisch-galanter Kultur ist unverkennbar. — Über die Verhältnisse im absolutistischen deutschen Bereich ist das Urteil zurückhaltend. Der Kaiser in Wien wird gelobt, ohne daß die Zustände unter seiner Regierung näher beleuchtet würden, von deutschen Landesfürsten und ihren Höfen wird in Andeutungen Unvorteilhaftes berichtet. An Höfen gewinnt man offenbar nur durch Niederträchtigkeiten Zugang und gerät in die Versuchung unehrenhaften Tuns (76,1f f ) . Daß Philotimus nach einiger Unterrichtung über die Hamburger Verfassungszustände gern unter ihnen sein Leben beschließen will (und nicht in einem fürstlich regierten Land), dient der Stärkung des patriotischen Selbstgefühls der Hamburger Leser. Für den vernünftigen Bürger ist die Alternative eindeutig: dem Glanz des Hoflebens ist wahre Freiheit vorzuziehen. Schließlich ist noch das durchgehende Interesse an Handlung, d. h. an der Kaufmannschaft, bemerkenswert. Daß sich in England gemeinnützige Gesellschaften der Handlung, nebst der Schiffahrt annehmen, daß der Kaiser in Wien besondere Kenntnisse in Handel und Wandel besitzt, ist beifällig bemerkt, für die reichen Niederlande ist die Handlung als die Seele des Staats bezeichnet. Der Entwurf einer [. . .]' wohl eingerichteten Republick (78,8f.), der auf das Protokoll des Reiseberichts folgt, zieht sozusagen die Konsequenzen aus den Beobachtungen. Er weist keine utopischen Züge auf, denn er bleibt durchaus im Rahmen des in einer freien Bürgerstadt wie Hamburg Prak-

zu Jahrgang

3 /1726, Stück 113

369

tizierbaren, und vor allem: er leitet die Glückseligkeit der Republik nicht einfach von bestimmten idealen Verfassungsformen ab, die dies Glück gleichsam automatisch garantierten (76,26f.), sondern er macht deutlich, daß ein freies Gemeinwesen nur durch ein patriotisches Engagement von Obrigkeit und Bürgern florieren könne. Er appelliert an staatsbürgerliche Tugenden. Einmüthige Sorge für die Selbst=Erhaltung, Triebe für die Wohlfahrt des Staats, Privat= Stiftungen, Sorge für die Abgebrannten, bestandiges Augenmerck auf Flor der Handlung und gute Policey, Trachten nach Verbesserung der Erziehung, Eifer fürs gemeine Beste, — das bedingt eine glückliche Republik, nicht nur gute Verfassungen allein. Die bürgerliche Selbstverantwortung, die auch Verantwortung für die Nachgeborenen einschließt, wird erneut als Wert aufgestellt, — etwas, was in fürstlich regierten Staaten weitgehend in Verlust geraten war. Interessant schließlich, daß recht offen gegen ein patrizisches, sich stets aus den gleichen Familien rekrutierendes Obrigkeitssystem Stellung genommen ist (77,9ff.), und bemerkenswert die Hervorhebung der Gleichheit Aller vor dem Recht (78,1f f . ) sowie der religiösen Toleranz, die freilich, hamburgische Verhältnisse berücksichtigend, am Vorrang eines Bekenntnisses als einer Staatsreligion (hier der lutherischen) keinen Zweifel läßt.

Vf.

í

Motto Sallust, Epistulae ad Caesarem senem de república 2,10,8. — „Bei ihnen gab es nur ein einziges Gemeinwesen: um dieses waren alle besorgt: Körper und Geist übte jeder für das Vaterland, nicht für seinen eigenen Einfluß." 12

Philotimus

„Ehrenfreund".

27

Schätzungen

Bemessung der

Steuern.

370 ~J~J 16

Kommentare beliebet

freiwillig

und

Erläuterungen

beschlossen.

27 Feur-Casse vgl. dazu Denkwürdigkeiten, S. 74—81, und Griesheim (1760), S. 162-168, sowie Griesheim (1759), S. 224-226.

78

(17ff.):

fehlt B.

Stück 114 Der Patriot moralisiert über vernünftige Menschenliebe. Dabei kommt er auch auf die Gleichheit der Menschen zu sprechen. Auffallend ist wiederum, daß der Patriot, seinem Ansatz getreu, nicht die Beweggründe des Glaubens beruft, wenn er Altruismus und Mitmenschlichkeit fordert, sondern seine Ausführungen philosophisch begründet. Nicht der Dekalog, das Liebesgebot Christi, die Bergpredigt etwa werden argumentativ verwendet, sondern die antiken Philosophen, die Hebräischen Moralisten und zeitgenössische Lehrer der Weltweisheit, schließlich sogar die wilden Americaner, also Heiden. Die Betonung liegt auf der Vernunft als der eigentlichen Voraussetzung mitmenschlichen Verhaltens. Die Vernunft regelt die Eigenliebe, sie heißt uns aber auch die Liebe anderer Menschen (82,33f.). Ja recht verstanden postuliert die vernünftige Eigenliebe geradezu die Liebe der Mitmenschen, denn deren Gegenliebe ist lebenswichtig: nur so kann die Glückseligkeit der Länder, der Familien und der Einzelnen erlangt werden. — Mit dem berühmten Sitten=Lehrer unserer Zeit, der diese Gedanken entwickelt habe, dürfte Christian Thomasius mit seiner Schrift Von der Kunst, vernünfftig und tugendhafft zu lieben (zuerst 1692) gemeint sein. Kennzeichnend für den Kurs des Patrioten ist auch hier wieder die Forderung nach einem mittleren Weg, nach dem ruhigen Mittelstand (81,9). Eigenliebe soll keineswegs erstickt werden, sie soll nur vernünftig gemäßigt werden, dann

zu Jahrgang J / 1726, Stück 114

371

werden Ruhe, Gluckseligkeit, und Wohlstand der Erden die Früchte sein. Der Herr von Haltemaß ist auf der richtigen Fährte. Das Menschenbild, das den Ausführungen zugrundegelegt ist, präsentiert sich uns nicht ohne Widersprüche. Einerseits wird die menschliche Eigenliehe nach dem Falle (81,6), d.h. im Sündenstand, als durchaus gefährlich begriffen, womit biblisch-christliche Vorstellungen ins Spiel kommen; es ist von der verderbten und bedrängten Natur der Menschen die Rede (82,31). Andererseits weist der Patriot die auf einem pessimistischen Menschenbild beruhenden Staatslehren Machiavellis und Hobbes' zurück, ja er spricht, möglicherweise von Lehren Shaftesburys inspiriert, von der liebreichen Neigung unserer Natur gegen unsers gleichen (84,11f f . ) ; das Herz der Kinder sei einfaltig, gut, liebreich, fromm, — was mit der Erbsündenlehre keineswegs harmoniert. Ein derartiger Widerspruch ist auch in anderen Stücken des Patrioten zu beobachten. Die alten christlich-paulinischen Begriffe tauchen in seinem Argumentationshorizont immer noch einmal, gleichsam unwillkürlich, wieder auf. Zudem dürfte sich gegenüber einer wachsamen Geistlichkeit auch hier und da bewußt ein Rückgriff auf die traditionellen Vorstellungen empfohlen haben. Im vorliegenden Stück geschieht ein solcher Rückgriff auch in der Verwendung des Bildes von der kurtzen Pilgrimschafft aus der Zeit in die Ewigkeit (87,4 f.). Daß das jenseitige Leben die eigentliche Bestimmung des Menschen, das diesseitige nur ein Durchgang sei, ist keineswegs mehr Inhalt der Lehre des Patrioten. Gleichwohl knüpft er hier, um die natürliche Gleichheit Aller postulieren zu können, bei solchen frommen Vorstellungen an. — Der Patriot stellt in diesem Zusammenhang, ohne expressis verbis die ständische Ordnung anzugreifen, den Wahnwitz, die unmenschliche Einbildung vom Vorzug der Geburt klar als Mißbrauch unserer Eigen=Liebe und Hinderniß [. . .] der vernunftigen

372

Kommentare

und

Erläuterungen

Menschenliebe (86,10ff.) hin: Fürst und Bettler sind allemal zunächst Menschen. Der lieblose Hochmuht der Hochgeborenen, der Aristokraten, wird in philosophischer Argumentation als verwerflich erwiesen. Bürgerliches Selbstgefühl artikuliert sich hier in allgemeinmenschlichem Anspruch. Vf.

M. Richey (?)

Motto Terenz, Heautontimorumenos 77. — „Mensch bin ich, nichts, was menschlich, ist mir fremd." 79

9

Minos

vgl. Erl. zu II,

85,25.

Pherecydis Pherekydes von Syros, Kosmologe des 6. Jhs. v. Chr. 9 f. Lysis Lysis von Tarent, Schüler des Pythagoras. 13

Lehr-Meister . . . Alexanders

16 Xenocrates Xenokrates, der platonischen Akademie. 19 f. Denker

-

gemeint ist Aristoteles.

Schüler Piatons, seit 339 v. Chr.

Leiter

Hebräischen Moralisten mittlerer Zeit gemeint sind jüdische des Mittelalters, wie z.B. Moses Maimonides (1135-1204).

23 Panaetius Panaetius von Rhodos (ca. 185—109 v. Chr.), Schüler des Diogenes. — Posidonius Poseidonios von Apameia (ca. 135—50 v. Chr.), Umgestalter der stoischen Lehre. 21 f.

Epicteti Maaß-Stab

zu Epiktet vgl. Erl. zu II,

107,32.

30 f. unzüchtige Freundin eines hefftigen Martis In der Odyssee betrügt Aphrodite/Venus ihren Mann Hephaestos/Vulcanus mit Ares/Mars. 82

19

Vorwurff



21 Dicäarchus Dikaiarchos: Peripatetischer Philosoph aus Sizilien; Schüler von Aristoteles und Theophrast. Die in den folgenden Zeilen wiedergegebene Meinung des Dikaiarchos findet sich bei Cicero, De Officiis

Gegenstand.

2,16.

dienete] dienet B. 33

machte] machet B.

zu Jahrgang

3 /1726, Stück 115

373

8 der heidnische Apollonius gemeint ist wahrscheinlich der neupythagoreische Philosoph Apollonius von Tyana (l.Jh. n. Chr.). Menedemus beym Terentio . . . Chremes Menedemus und 25—28 Chremes sind Figuren in der Komödie des Terenz Heautontimorumenos; die im folgenden zitierten Sätze aus I, 1. (3 ff.)

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 115 Der Patriot schildert 7 allegorische Bilder, die menschliches Schicksal und menschliche Charaktereigenschaften zum Gegenstand haben und insgesamt den Lauf der Welt versinnbildlichen. Das benutzte optische Gerät wird als eine Art Laterna magica vorgestellt, die die allegorischen Schilderungen im verdunkelten Raum an eine Wand projiziert. Die sieben Bilder sind jeweils von einer Hauptfigur dominiert, — dem Reichtum, dem Hochmut, dem Neid, dem Krieg, der Armut, der Demut und dem Frieden. Jeder dieser Hauptfiguren, die jeweils auf einem Fahrzeug, einem Triumphzug zugehörig, placiert erscheinen, sind Nebenfiguren attachiert, die als Charaktereigenschaften bzw. als daraus fließende Handlungsweisen oder auch als Folgen solcher Handlungsweisen vorgestellt sind. Der Neid wird z. B. als mit Verleumdung, Gram, Mißvergnügen, Unruhe und Unfrieden verschwistert abgebildet. Jedes der sieben Bilder steht mit dem nächsten in Verbindung, eines folgt in optischer Veränderung aus dem andern, — auf das siebente Bild, das den Frieden zeigt, folgt wiederum der Reichtum, mit dem die Sequenz begonnen hatte. Das Gedicht im Schlußteil erläutert: es ist der Weltlauf, der von Reichtum zu Übermut, Neid und Krieg führt; dieser wiederum bewirkt Armut, die Armut Demut, die Demut Friede; der Friede führt wiederum zu Reichtum, und so

374

Kommentare

und

Erläuterungen

fort. — Der Patriot erläutert, daß eine solche lehrreiche allegorische Vorstellung nicht nur auf den Weltlauf, sondern auch auf den einzelnen Menschen anwendbar sei: Auch dort könnten Leidenschaften zu bösen Veränderungen im Leben führen, nur sei das Leben zu kurz, um den Kreislauf erneut zu beginnen. Wie Dietmar Peil nachgewiesen hat, hat der Verfasser dieses Stücks bei seinen Beschreibungen tatsächlich allegorische Kupferstiche vor Augen gehabt. Es handelt sich um einen Kupferstichzyklus mit dem Titel „Circulus vicissitudinis rerum humanarum". Der ,,Inventor" war der Holländer Martin van Heemskerck (1498—1574), der Stecher Dirk Volkertszon Coornhert (1519-1590). (Vgl. Peil (1977), bes. S. 383ff, mit Abbildungen!) Solche allegorischen Gemälde bzw. Stiche scheinen zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch geschätzt gewesen zu sein. Freilich müssen sie in ihrem ganzen Duktus, ihrem emblematischen Aufwand, ihrer deuterischen Spitzfindigkeit noch vor aufklärerisch genannt werden, und dies auch im Hinblick auf ihre „Ideologie", die Lehre, die diese Allegorien erteilen. Aufklärerisch jedenfalls ist die darin versteckte herrliche Morale (94,9f.) kaum. Die hier im allegorischen Bilderreigen projizierte natürliche Vorstellung des beständigen Unbestands aller irdischen Dinge hat vielmehr noch einen weltflüchtig pessimistischen Kern. Daß es dem Menschen mittels seiner Vernunft gelingen könnte, seine Leidenschaften zu erkennen und zu zügeln und auf dem Tugendweg Schritt um Schritt der Glückseligkeit näher zu kommen, ja daß für die Menschheit auf diese Weise der Fortschritt — und damit ein Ausbruch aus dem bösen Zirkel des Weltlaufs — zu erlangen sei, das ist aus der vorgeführten Allegorese nicht ablesbar. Und welches Bild des Reichtums z. B. wird hier in der Kaufmannsstadt Hamburg vorgestellt? Wucher, Betrug, Geilheit, Verrat, Wollust, List und Hochmut gehen mit ihm einher, — nicht etwa Fleiß, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Mäßigkeit sowie

zu Jahrgang

3 /1726,

Stück

375

IIS

als Folgen Zufriedenheit, Wobltätertum und allgemeine Glückseligkeit! Die schönen Verheißungen von Reichtum und guten Tagen, die anderen Stücken des Patrioten für den Tugendhaften und gerade auch für den vernünftigen Kaufmann zu entnehmen waren, haben hier kein Existenzrecht. Die allegorische Aussage der vorgestellten Bilder reimt sich nicht mit dem aufklärerischen Anliegen. Die alte christliche Tönung der Allegorien dagegen ist greifbar, namentlich bei der Präsentation der Demut. Eines freilich ließ sich mit der allgemeinen Tendenz des Patrioten durchaus vereinbaren, — die Lehre, daß Übel wie Krieg, Armut, Mißvergnügen, Unruhe, ja auch Krankheit und Schwachheit die Folgen von moralischen Defekten, von bösen Neigungen und Leidenschaften seien. Daß der Vernünftige hier Einhalt gebieten könne, war Überzeugung des Patrioten. Vf.

B. H. Brockes

(?)

Motto Plinius (d.J.), Panegyricus Traiano imperatori dictus 5,9. — „Solchen Wechselfällen ist das Lehen der Menschen unterworfen, daß Unglück aus Glück, aus Unglück Glück geboren wird." 20f. ren.

das vor einigen Jahren . . . Schatten-Spiel

8 Stuck „Ein an einander Stück" (Adelung). 92

16

ihrer] seiner B.

21

Unruhe

26

Carthaunen

30

Carcassen

siehe Erl. zu I,

hangendes

nicht näher zu

Gespinst oder Gewehe

152,29f.

Geschütze. eiserne Behältnisse

für Leucht-

und

Brandkugeln.

klä-

heißt

376

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 116 Die im Stück 108 vorgetragene Geschichte vom Aufstand des Fürsten von Ehrgeiz im Kaisertum Rechtland wird zu Ende geführt. Ein satirischer Brief schildert das Laster des Geizes im Hauswesen. Indem der Verfasser der allegorischen Geschichte den Ehrgeiz durch einen Herrn Gerngroß als noble Paßion bezeichnen läßt, erinnert er daran, daß dies ,, Laster" in der Adelsgesellschaft tatsächlich gleichsam geboten, Bedingung standesgemäßen Verhaltens sein konnte. Er zeigt aber in der Folge, daß es ihm nicht um Adelskritik geht, sondern um Kritik an einer allgemein menschlichen Eigenschaft. Offene Aufgeblasenheit und Hoffart werden übrigens als weniger gefährlich eingeschätzt als der subtile Hochmut und die leichte Kränkbarkeit von insgeheim Ehrgeizigen. Der Patriot nähert sich hier der Psychologie eines moralischen Defekts. Der Brief des Herrn Sparenstein entlarvt, der Gattung des satirischen Briefs gemäß, seinen Schreiber. Dessen Verhalten im Hauswesen erinnert in manchen Zügen an den Avare Molieres. Indirekt kommt dabei das Konzept des Patrioten für eine vernünftige Haushaltung zum Vorschein: Anständige Versorgung in Kleidung und Verpflegung für Frau, Kinder und Gesinde ist ebenso geboten wie pünktliche Entlohnung von Handwerkern und Wohltätigkeit gegenüber Armen. Indirekt wird auch deutlich: der Frau steht die Disposition über die im Hause erforderlichen Mittel zu, auch wenn ihre Mitgift unter die Verfügungsgewalt des Mannes gerät (101,3 f.). Die Berufung des Herrn Sparenstein auf das Stadt=Buch anläßlich der massigen Züchtigung seiner ihm in seinem Geiz nicht willfährigen Frau spielt wohl auf ein dort noch kodifiziertes Züchtigungsrecht des Hausvaters an, erweist ihn aber gleichzeitig damit als Figur von vorgestern. Seine Frau dagegen wird als große Verehrerin des Patrioten als von

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 116

377

heute vorgestellt. Herrn Sparensteins Bitte um Einflußnahme auf seine Frau und alle ihresgleichen spielt recht hübsch auf die Besserungsintentionen der Wochenschrift gerade gegenüber dem weiblichen Geschlecht an. — Der Satz Wer ist doch wol tugendhaft, der kein Geld hat, nimmt, zynisch aus der Position des Reichen gesprochen, Gedanken vorweg, die aus der Position der Armut heraus über 100 Jahre später der Woyzeck Büchners vorbringt: „Sehn Sie, Herr Hauptmann, Geld Geld! [. . .] Wir gemeine Leut, das hat keine Tugend [• • •]"•

Vf.

(Einsendungen)

Motto Horaz, Satiren II 3,77/78. — „Jedem, der von falscher Ehrsucht zuzuhören." und Geldgier krank ist, rate ich, die Toga zu ordnen und 26

Lerav

vgl. Kommentar

zu Stück 108.

27 J. v. Ulmenfeld] J. v. U l m e n f e l d . Der folgende Brief giebt meinen vernünftigen Lesern einen Beweis, wie weit die Thorheit eines Menschen gehen könne, bey dem sein grosses Laster dermassen zum Schooß-Kinde geworden ist, daß er sich nicht entsiehet, solche Dinge von sich selber zu schreiben, davon man sonst das eigene Gestandniß fast für unmöglich halten sollte. B.

7 f. Stadt-Buche ,,Stadt-Buch, Stadt-Bücher, sind eigentlich nichts anders, als die sonst so genannten Raths- und Gerichts« oder GesetZ'Bücher. hat. statuta municipalia." (Zedier). lOf. werden. . . . Hencker! Dann] werden: gerade als wenn kein Werck- und Zucht-Haus, keine Kirchen, kein gemein Stadt-Gut wäre, dahin manche Leute mehr verwenden, als vor ihrer eigenen nothwendigen Bereicherung verantwortlich ist. Dann B. (7) C u r r e n t ,,Current-Geld, eine gemeine gangbare Müntze, so im täglichen Handel und Wandel üblich ist, im Gegensatze des Wechsel- und Harten, oder Species-Geldes." (Adelung).

378

Kommentare und Erläuterungen

Stück 117 Der Patriot handelt vom richtigen und falschen Gebrauch des Geldes und vor allem vom Leih- und Zinswesen. Die Ausführungen sind ernsthaft gehalten, ohne unterhaltsame Einkleidung, mit engem Bezug auf Hamburger Verhältnisse. Kaufmännischer Sachverstand, wie er in Hamburg zuhause war, und auf den Nutzen des Gemeinwesens gerichteter patriotischer Sinn sind hier eine bemerkenswerte Verbindung eingegangen. Zutage tritt eine Wirtschaftsgesinnung, die Handel und Wandel grundsätzlich auf die Initiative der Einzelnen gegründet wissen möchte, ohne daß Maß und Billigkeit außer Augen gesetzt würden. Eine Grundüberzeugung ist, daß Kapital arbeiten müsse, nicht also nutzlos gehortet werden dürfe. Wertschöpfung ist nur durch bestandiges Circuliren (106,16) des Geldes möglich. Deswegen sind Fürsten zu kritisieren, die Schätze sammeln, anstatt mit ihnen die Untertanen ins Brot zu setzen und auf diese Weise Wohlstand zu schaffen, der auch der fürstlichen Kammer wieder zugute kommen kann. Großer Reichtum ist nur gerechtfertigt, wenn er produktiv eingesetzt wird. Da nicht jeder über Kapital verfügt, um ein Gewerbe zu ergreifen oder eine Unternehmung aufzuziehen, liegt es in seiner wie des Staatswesens Interesse, daß ihm Mittel zur Verfügung gestellt werden. Das Verleihen von Geld und das Zinsnehmen, wenn es maßvoll geschieht, wird vom Patrioten daher ausdrücklich gutgeheißen angesichts eines im Luthertum latent verbreiteten Mißtrauens gegen Handel und Kaufmannschaft und einer entsprechenden Mißbilligung des Zinsnehmens als sündlich. Daß es religiöse Bedenken sind, denen der Patriot hier (107,15ff.) entgegentritt, ist wohl auch daran abzulesen, daß er seine Abhandlung recht unüblicherweise mit einem Bibelzitat beschließt, wo das Zinsnehmen nicht generell verworfen ist. Ja der Patriot billigt Geld-

zu Jahrgang

3 / 1726, Stück 117

379

verleih und Zinsnahme nicht nur, er macht es Besitzenden gewissermaßen zur Pflicht, ihr Eigentum nutzbringend einzusetzen (107,18ff.; 108,2ff.). Eigeninteresse und Gemeininteresse gehen Hand in Hand. Asketische Gedanken, fromme Distanzierung vom schnöden Mammon und jene Verheißungen, nach denen eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe als daß ein Reicher in den Himmel komme, haben hier keinen Platz. Die Idee eines durch Handel und Wandel prosperierenden Gemeinwesens dominiert; die weltlich-diesseitige Orientierung ist eindeutig. öffentlichen Darlehenskassen und Leihhäusern, die es schon in der Antike gegeben habe, wird in ihren verschiedenen Funktionsformen in europäischen Ländern Aufmerksamkeit geschenkt, vor allem die Hamburger Einrichtungen werden gepriesen, Wucher dagegen wird angeprangert. Die Praktiken und die Argumentationsweisen halsabschneiderischer Zinsnehmer sind mit Kennerschaft vorgestellt. Der Patriot schließt mit einem Appell, das öffentliche Leihhaus oder solide Privatverleiher in Hamburg in Anspruch zu nehmen und die Wucherer zu meiden. Er drängt aber auch — unter Hinweis auf holländische Verhältnisse —auf wirtschaftspolitische Maßnahmen des Rats, und das heißt: sein patriotisches Engagement ist zugleich staatsbürgerliche Initiative. Generell ist zu sagen: Mit der Behandlung eines solchen Stoffs steht der Patriot unter den anderen, eher literarischästhetisch orientierten deutschen Moralischen Wochenschriften fast allein. Vf.

C. F.

Weichmann

Motto Persius, Saturae Prozent bescheiden füttern 105

149/lßO. - „Das Geld, das du hier mit fünf kannst, soll gierige 11 Prozent ausschwitzen."

a n e r ' a u ' > t e n rechtmässigen Zinsen Der Zinsfuß bei Darlehen war nach damals geltenden, im 16. und 17. Jh. beschlossenen Reichsgeset-

25

Der Patriot, Bd. IV

380

Kommentare und Erläuterungen

zen auf 5% festgelegt. In Ausnahmefällen und nach dem Recht einzelner Territorien (z.B. in Preußen ab 1701) galt auch ein Satz von 6%. 106

107

'

Anlehn

gewährtes

32

Tonnen Goldes

Darlehen.

vgl. Erl. zu I, 3,29.

Kaiser August und Henrich der Siebende in Franckreich gemeint sind offenbar, im Hinblick auf ihre finanzpolitischen Maßnahmen, der römische Kaiser Augustus und Heinrich VII. (1457-1509), König von England, nicht von Frankreich! 12 Herrschaftlichen Gefalle Abgaben, oder der Obrigkeit zu entrichten sind.

108

^

Alexander Severus Geschichte

22

welche dem

Grundherren

röm. Kaiser (225—235 n. Chr.).

so auch in B.

monti della pietà

[tal.,

31f. Lombards-Häuser Sachwerten.

Pfand-Leihhäuser.

Lombard: Darlehen gegen Verpfändung von

34—109,1 Hamburg hat sich . . . berühmt gemacht 1619 war nach dem Vorbild von Amsterdam die „Hamburger Bank", eine Kaufmannsund Kreditbank, eingerichtet worden, die erste im Gebiet des Reiches. Hamburg erhielt zugleich eine wertbeständige eigene Währung, die die Stadt vor den Münzverschlechterungen der „Kipper- und Wipperzeit" bewahrte. — Ein städtisches Pfand- und Leihhaus (Lombardshaus) wurde 1651 errichtet. |

15 Juden und Jüdischen Christen In Hamburg hatten seit Beginn des 17. Jhs. zahlreiche portugiesische und spanische Juden Schutz gefunden; sie wurden in einem Kontrakt von 1612 als ,,Schutzverwandte", nicht aber als Bürger aufgenommen. 1710 wurden 15 portugiesische Juden als Makler zugelassen. Die seit 1640 eingewanderten deutschen Juden, die in den meisten Fällen wesentlich ärmer waren, betätigten sich als kleine Wechsler und Pfandleiher. — Zum generellen Urteil des Patrioten über die Juden vgl. den Kommentar zu Stück 31. 20f. an einem gewissen Orte in Altona? Im der dänischen Krone unterstellten Altona genossen Minderheiten Religionsfreiheit sowie zahlreiche wirtschaftliche Freiheiten. 28

Schreib- oder Hangel-Geld

Besoldung der Leihdiener.

zu Jahrgang

381

3 / 1726, Stück 118

8 Hauer Hauer-Schilling: „ist in Hamburg eine Contribution, welche jeder Burger nach der Tax seines Haus oder Mieth geben muß, nehmlich von einer Marek einen Schilling" (Zedier). 10

gewegert

ältere Form für:

geweigert.

Courtage „der Lohn des Mäklers für die Bemühung, Waaren oder 26 Wechselbriefe für einen andern zu kaufen oder zu verkaufen." (Joachim Heinrich Campe, Ergänzungsbände zu Adelungs Wörterbuche, Wien 1808ff.). 29 zahlet man courant, und schreibet Banco Nach Errichtung der ,,Hamburger Bank" 1619 wurde mit der Mark banco eine Leitwährung als reine Verrechnungseinheit geschaffen, deren Wert durch ein Depot von Species-Talern bzw. Silberbarren gedeckt war; mit der Mark banco konnten seither die Geldgeschäfte bargeldlos abgewickelt werden. Das umlaufende Münzgeld wurde ,Mark courant' genannt. Die Mark banco wurde etwa 1/4 höher bewertet als die Mark courant. 35 f. wird.

der manchesmal negotiiret . . . wird

39 Marckl. Marklübisch: Hamburg gültig war. 32

Unrechtfertigkeit

nach lübeckischer

unrechtes

der mehrfach Münzrechnung,

den Worten Davids . . .

die in

Tun.

5 Bodmerie-Recht Bodmerie: in den Seestädten Schiffs mit dem Risiko des Verlusts. 17ff.

gehandelt

Beleihung

eines

Ps. 15,1; 15,

Stück 118 Gemälde im Harne eines Geistlichen geben einem Briefschreiber Anlaß, sich gegen ausschweifende Fastnachtsbelustigungen zu wenden. Der Briefschreiber nennt sich Frommhold. Er ist sich bewußt, daß seine Stellungnahme religiös begründet ist und damit dem weltlich-philosophischen Ansatz des Patrioten nicht eigentlich entspricht. Eben deswegen betont er, daß das Gebaren der Menschen zur Karnevalszeit auch nach dem 25»

382

Kommentare

und

Erläuterungen

Urtheile der blossen Vernunft im höchsten Grad unanständig ist (121,17f.). Die von ihm erkannte Zusammengehörigkeit von Bildern aus dem Leben Christi mit Bildern, die Tugenden versinnbildlichen, entspricht den Prinzipien geistlicher Moralistik: Liebe, Mäßigkeit, Demut, Geduld und Freude fließen sozusagen aus der Betrachtung des Heilands in der Krippe; Anbetung durch die Heiligen drei Könige, Beschneidung, Flucht nach Ägypten und Darstellung im Tempel sind Motive, zu denen Darstellungen von Tugenden das Pendant sind; durch Betrachtung jener wird man zur Ausübung dieser ermuntert und angereitzet (115,27). Und so hat auch die Leidensgeschichte Christi von Gethsemane bis zum Kreuz Wirkungen, aus denen folglich die allerherrlichsten Tugenden entspringen müssen (116,25ff.). Der Patriot, der die geistlich-erbauliche Tugendlehre grundsätzlich den Männern der Kirche überlassen hat und das biblische Geschehen aus seinen Betrachtungen auszuklammern pflegt, kommt mit der Aufnahme dieses — vielleicht von einem Geistlichen verfaßten — Briefes möglicherweise frommen Lesererwartungen in der Passionszeit entgegen. Der eigentliche — auch didaktisch nutzbar gemachte — Reiz der Schilderungen liegt in der Konfrontation von Bildern des Leidens Christi mit den Gemälden eines Triumphzugs des Bacchus bzw. Dionysos (womit wir es erneut, nach Stück 115, mit einer Triumphzugsallegorie zu tun haben). Ob für die Beschreibung des Triumphs ein bestimmtes Gemälde zur Vorlage diente, ist unklar. Die Schilderung ist jedoch sehr anschaulich, so daß auch ikonographisch und mythologisch unkundige Leser gefesselt werden konnten. Die vier den Triumphwagen ziehenden gehörnten und bocksfüssigen Ungeheuer sind Satyrn, die beiden gefangenen Sklavinnen sind durch ihre Attribute, Lamm und Hermelin, als Keuschheit und Friedfertigkeit zu identifizieren. Der Ueberwinder, der im Triumph einherzieht, ist nach der Deutung

zu Jahrgang

3 /1726,

383

Stück 119

des Herrn Seligmann (120,8f.) die Völlerei, — die gebundene Fürstin zu seinen Füßen aber die Vernunft. (Vgl. dazu Peil (1977), bes. S. 389ff.) Der Kontrast zu den Passionsbildern wird bis in spezielle motivische Antithetik hinein wirkungsvoll herausgearbeitet (118,26ff). Die angegriffenen Laster sind in der Deutung des Herrn Seligmann klar beim Namen genannt: neben der Völlerei die Zanksucht, Schamlosigkeit in Reden und Handlungen, Unflatherey und Narrentheidungen. Daß die vernünftigen Heiden in einem wüsten Leben, wie es der Bacchuskult vorführt, etwa einen Gottesdienst hätten sehen können, wird überdies in Abrede gestellt (119,13ff). Die abschließende Aufforderung des Briefschreibers an den Patrioten, seinerseits gegen die gewöhnliche Art, Fastnacht zu halten, zu moralisieren, dürfte der Zustimmung der meisten Hamburger und überhaupt der Leser in protestantischen Landschaften gewiß gewesen sein; der alte religiöse Sinn des Fastnachtswesens ist der protestantischen Welt nicht mehr gegenwärtig. Vf.

M. C. Brandenburg

(?)

Motto Terenz, Adelphi 184. — ,, Wenn du genug geschwelgt hast, so höre, wenn du nun bereit bist." 114

12

Cleophantus

J ^^

18—20 einer von den fürtrefflichsten . . . erwehnet habe vius' Ausführungen zum Bacchuskult (Liv. 39,8ff.).

121

^

beschwere

vgl. Stück 107.

beschweren:

vgl.

Li-

beschwören.

Stück 119 Der Patriot stellt zwei Poetische Abbildungen unserer Elbe vor. Es handelt sich um Gedichte von B. H. Brockes. Sie

384

Kommentare

und

Erläuterungen

sind, in den 2. Band seines Irdischen Vergnügen in Gott (1727) aufgenommen. Die Vorrede mahnt dazu, nicht allein künstlerische Abbildungen von Natur und Landschaften zu bewundern, sondern auch die Naturwirklichkeit, das Uhr=Bild, selber. Es geht dem Patrioten um Zuwendung zur diesseitigen Welt. Daß er die Gedichte durch einen berühmten Geistlichen erhalten hat, ist wohl ein Stück gattungsüblichen Versteckspiels in einer Wochenschrift, zugleich weist es hin auf die didaktische Intention der beiden Gedichte, nämlich zur Verehrung Gottes zu führen. Beide Gedichte sind typische Produkte ihres Autors. Sie benutzen die lockere Madrigalform mit drei-, vier-, fünfund sechshebigen Jamben, ja es findet sich sogar ein nur zweihebiger Jambenvers (124,24); die sechshebigen Jamben erweisen sich als Alexandriner und sind oft antithetisch genützt. Die Reimart wechselt beliebig zwischen Paarreim, Kreuzreim und umarmendem Reim. Die Sätze sind logischrational gebaut und prosanahe. Brockes bedient sich zahlreicher rhetorischer Figuren, — neben der Antithese des Parallelismus (z.B. 123,27ff.), der Anapher, der Reihung (124,18; 32), des Oxymorons (rege Last 123,13; der fliessende Krystall 123,25) usw. Das erste Gedicht, in Brockes' Gedichtsammlung „Die Elbe" betitelt, beendet die Betrachtung seines Gegenstandes, wie zumeist bei seinem Autor, mit einer Zuwendung zu Gott. Die Betrachtung selbst bietet weniger Beschreibung sinnenhafter, optischer Eindrücke als Reflexion. Tiefe, Länge, Größe und Kraft des Elbstroms werden bedacht, und vor allem der Nutzen. Abgesehen von den Fischen und der der Fruchtbarkeit dienlichen Bewässerung der durchflossenen Länder ist es die Schiffahrt, die dieser Strom begünstigt. Der wirtschaftliche Nutzen, den Hamburg erlangt, wird Gott in schöner Einfalt gedankt. Wiederum, wie oftmals in der Wochenschrift, wird dabei der Kaufmannschaft als des Lebens-

zu Jahrgang 3 /1726,

Stück 119

385

elements Hamburgs gedacht: uns'rer Stadt und uns'rer Börse Seelen (124,31)! Das zweite Gedicht, später „Das Treib*Eiß" überschrieben, darf als eines der bedeutendsten Brockes' gelten. Es schließt ebenfalls mit einer Anrufung Gottes und beruft seine Größe und Allmacht. Es unterscheidet sich aber vom vorangegangenen Gedicht dadurch, daß es ein Phänomen, das Treibeis auf einem Strom, sehr anschaulich zu beschreiben weiß (125,17-33; 126,27-35; 127,11-18), - einen Gegenstand, der zuvor in deutscher Dichtung noch nicht behandelt worden ist —, und daß es nicht allein aus der Schönheit und 'Wunderbarkeit des Beobachteten physikotheologisch auf die Größe des Schöpfers schließt, wie bei den Naturgedichten des Autors üblich, sondern daß es das Beobachtete zugleich symbolische Bedeutsamkeit gewinnen läßt, oder genauer: es allegorisch ausmünzt. Das Strömen der Elbe ist wie der Lauf der Zeit, die Eisschollen sind wie die Menschen in diesem Lauf usw. Brockes folgt mit dieser Ausdeutung dem Verfahren der sogenannten „Zufälligen Andachten" (Meditationes Subitanae), wie sie im deutschen Bereich vor allem bei Christian Scriver (1629—93) in Form von kleinen Prosabetrachtungen zu beobachten sind. Jedwedes Ding, jedweder Vorfall, jede Begebenheit kann zeichenhaften Sinn erhalten, Gott, seinen Heilsplan oder den Menschen in ihm betreffend. Reizvoll ist bei dieser von Brockes geübten Allegorese, daß ihre Gegenstände nicht einfach, wie in der Barockzeit üblich, gedacht und benannt, sondern tatsächlich vor der ausdeutenden Anwendung als Realitäten angeschaut und beschrieben werden. Die Zuwendung zum Diesseits, zur Weltwirklichkeit, ist spürbar. Und auch in der Ausdeutung selber ist diese Zuwendung zur Welt erkennbar. Das Stromgleichnis wird nicht auf die Vergänglichkeit, die Eitelkeit und Nichtigkeit des Lebens hin ausgedeutet, wie es weltflüchtige Zeiten liebten; der Unbestand der Dinge wird nur mit Maßen berufen. Formelhaft ist noch von der kurtzen Fahrt auf

386

Kommentare

und

Erläuterungen

der stillen Reise zum sel'gen Meer der Ewigkeit (127,21; 27f.) die Rede, doch an die Stelle weltflüchtigen Aufrufs zur Buße, zur Abkehr von der Vanitas, ist moralische Lehre, d. h. Lehre für das richtige Verhalten in dieser Welt, getreten: Zank und Streit sind zu meiden. Und zu gewinnen sind: ruhige Zufriedenheit, Lust des Lebens, vielerley Vergnuglichkeit (127,4ff.)! Bemerkenswert ist die Meisterschaft des Dichters, komplexe oder differenzierte Tatbestände in Worte zu fassen. Er spricht von gewaltig streng» und dennoch stillem Drange des von Eis beladenen Stroms (125,10), er sieht ihn eilend, dennoch sanft, bestandig vor sich fliessen (126,3), er entdeckt selbst in der kalten Fluht [. . .] eine bunte Glüht (125,31 f.) und beobachtet versteinte Wellen (125,27). Und ebenso bemerkenswert ist es, daß es ihm gelingt, den Strom in der Bewegung zu zeigen. Er liefert keine starren Momentaufnahmen, sondern erfaßt den Prozeß des Fließens. Sein Gedicht gehört zu den großen Stromdichtungen der deutschen Literatur. Vf.

C. F. Weichmann

( f ) , B. H. Brockes

(Gedichte).

Motto Horaz, Oden IV 12,1—4. — „Schon füllen die thrakischen Winde, die Begleiter des Frühlings, welche das Meer sanftigen, die Segel: schon sind die Wiesen nicht mehr hart, und nicht mehr tosen die vom Schnee des WinFlüsse." ters angeschwollenen 122

^ ' l a ' 3 e • ' ' e r halten,] Mir sind neulich durch einen guten Freund ein Paar Poetische Abbildungen unserer Elbe zugefertiget: B. 4 f. Sie hat uns . . . Schau-Platze gedient Bei Gallois S. ¡0, heißt es zum Jahr 1726: „Am 12. Jan. d.J. fing es mit Nordostwind an stark zu frieren, so daß in wenig Tagen die Elbe ungeachtet des fast mangelnden Schneefalles mit festem Eise belegt war, daß man zu Schlitten nach Harburg fahren konnte; die Kälte hielt bis 9. Febr. an und stieg auf 70 Grad Fahrenheit. " 18 f. Opern-Haus . . w e i l Hamburg auf einer Maschine darin vorgestellet Es handelt sich vermutlich um die Kulissen der 1725 in Hamburg

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 120

387

aufgeführten, von }. Ph. Prätorius verfaßten Singspiele: Der Hamburger Jahr=Markt, oder der glückliche Betrug und Die Hamburger Schlacht=Zeit, oder der mißgelungene Betrug. 123

125

Der Text der beiden Gedichte weist gegenüber den Fassungen im Irdischen Vergnügen in GOtt Abweichungen auf, die hier nicht zu notieren sind. Die Abweichungen zu B sind im folgenden vermerkt. 15

Und] Und, B.

22

vor] für B.

5

mindern] mindern, B. verseigen

126

127

versiegen.

30

unterschied'nen] unterschiednen B.

33

Gefärbte Flammen,] Gefärbter Flammen B.

6

Recht,] Recht B.

13

zu] zur B.

19

Verschied'ne] Verschiedne B.

29

geschach;] geschach, B.

2

wäre,] wäre! B.

17

heit're] heitre B.

24

möge] mogte B.

Stück

120

Der Patriot moralisiert über die Ehre; wahre Ehre sei ein durchaus zu erstrebender "Wert. Daß Ehrgeiz und wahre Ehre zweierlei seien, hatte zuletzt die allegorische Erzählung in den Stücken 108 und 116 deutlich gemacht. Die wahre Ehre ist für den Patrioten diejenige, die den Menschen zu tugendhaftem Handeln anspornt. Gleichgültigkeit dieser Ehre gegenüber ist schädlich. Der Patriot wendet sich damit, ohne es ausdrücklich zu sa-

388

Kommentare

und

Erläuterungen

gen, gegen eine gewisse stoische Geringschätzung von Ehre, aber auch und vor allem gegen eine geistliche Abwertung der „eiteln Ehren" dieser Welt, — eine Abwertung, die die ausschließliche Zuwendung zu Gott im Sinne hat. Das „Laß fahren dahin!" in Demut und frommer Selbstverleugnung ist für den um das Wohlergehen der bürgerlichen Gesellschaft besorgten Aufklärer keine ethische Maxime. Verzicht auf die Ehre bedeutete Auszug aus der Gesellschaft mit ihren Verbindlichkeiten. Die Existenzberechtigung der Ehre wird in mehrfacher Weise begründet: Sie ist auch in der Bibel ein Wert, wird doch dort gefordert, man solle nicht falsches Zeugnis geben und bösen Leumund machen; sie ist aber auch eine Forderung der Natur, die Neigung zu ihr ist angeboren, vom Schöpffer unseres Wesens selber in unsere Seele gleichsam eingegraben (129,6f.), — nicht etwa, das steht zwischen den Zeilen, ein Zeichen des menschlichen Sündenstandes. Und auch die alten Griechen und Römer haben die Ehre hochgehalten; das Gedeihen ihrer Staatswesen, die Schriften ihrer Philosophen und die Taten ihrer Feldherren verdanken sich ihrer Ehrbegierde. Es ist auffallend, daß der Patriot die Standesehre hier nicht diskutiert, sondern ganz allgemein bleibt, und daß er auch innere und äußere Ehre — Dignitas und Existimatio — nicht klar unterscheidet. Nur indirekt trifft er eine solche Differenzierung, wenn er es für zur Ehre gehörig bezeichnet, daß man seine Pflicht tue, auch wenn man damit seinen guten Namen mindere (130,14ff). Kennzeichnend für die Linie des Patrioten ist wiederum die Forderung nach Maß — eben auch im Hinblick auf das Ehrverlangen (130,1f f ) . Die angehängte Fabel des Franzosen La Motte soll wohl besagen, daß künstlerische Vollkommenheit ohne Ehrbarkeit und ebenso Tugenden ohne Ehrbarkeit wertlos seien.

zu Jahrgang Vf.

C. F.

3 /1726,

Stück 121

389

Weichmann

Motto Cicero, Tusculanae disputationes III 2,3. — „Der Ruhm ist wirklich eine feste und greifbare, nicht schattenhafte Angelegenheit. Er ist das übereinstimmende Lob der Guten, die unbestechliche Stimme derer, die recht über hervorragende Tugenden urteilen. Er antwortet der Tugend wie ein Echo und darf, häufig ja Begleiter von rechten Handlungen, von tüchtigen Männern nicht verschmäht werden." 12ff. das Gebot der Offenbahrung gemeint ist wohl Matth. 5,44; vgl. das 8. Gebot des Dekalogs in Luthers ,,Kleinem Katechismus". 3 der ersten ersten.

so auch in B, möglicherweise

aber Druckfehler für:

dem

11 ff. Fabel des berühmten de la Motte gemeint ist Antoine de La Motte-Houdar(t) (1672—1731). — Bei der hier zitierten Fabel „Die Tugend, Geschicklichkeit und Ehre" handelt es sich um die vollständige Übersetzung von „La Vertu, le Talent, et la Réputation" (Fables Nouvelles, dédiées au Roy, par M. de La Motte, Paris 1719, S. 308-310). (10 ff.)

Zu den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

Stück 121 Anknüpfend an einen Brief aus Persien räsonniert der Patriot über den Wechsel der Moden. Der (fingierte) Brief erinnert an die in Montesquieus Lettres Persanes vorgetragene Kulturkritik: Sitten und Moden der Europäer nehmen sich für einen orientalischen Beobachter absonderlich aus. Fazit des Briefs: die die Perser wegen ihrer Herrscherhörigkeit verachtenden Europäer sind selber Sklaven, Sklaven der Mode. Der Patriot bemerkt unter Hinweis auf das Zeremoniell an Höfen, daß auch Monarchen Untertanen — Untertanen gewisser Moden — seien. Die Bewertung solchen Zeremoniells als langweilig und verdrießlich entspricht bürgerlicher Distanz zum Hof.

390

Kommentare

und

Erläuterungen

Nicht nur gegen die Hofwelt gerichtet ist die Kritik am Titelwesen in Schriftstücken, das mit seinen modischen Anforderungen einem Schreiber im Treffen der Anredeform mehr Mühe macht als beim Abfassen des Inhalts. Das Zitat der einem persischen Herrscher zustehenden Titulatur (136,27ff) ist für den freien Bürger ein abstoßendes Beispiel kriecherischer Untertänigkeit. Im übrigen verweist der Patriot darauf, daß der beweihräucherte Monarch ein sterblicher Mensch sei (137,18), wobei er sich auf die tatsächlich 1725 erfolgte Ermordung des grausamen Schahs Mahmud beziehen kann. Bemerkenswert ist die Beobachtung des modischen Wandels nicht nur in der Lebensart, sondern auch in den Stilprinzipien, — der Forderung, daß man einmal zierlich und geschmückt, ein andermal platt und ungekünstelt schreibe (138,16ff). Am Beispiel Boileaus, — vermutlich ist auf seine Umstrittenheit in der „Querelle des Anciens et des Modernes" angespielt —, wird die modische Relativität ästhetischer Ideale konstatiert. Sehr hübsch die Bemerkung über die Möglichkeit, an Personenporträts in Ahnengalerien den Wandel von Moden zu studieren. Die eigene Position des Patrioten wird am Schluß deutlich. Das Natürliche, die Proportion des menschlichen Körpers, sollte die Richtschnur bei der Bekleidung sein. Die Mode sollte der Vernunft gehorchen, — wozu auch der Gesichtspunkt der Bequemlichkeit gehört —, und das Wohl des Gemeinwesens im Auge behalten. Alles wider die Ehrbarkeit Verstoßende ist zu meiden. Zierlichkeit und Anständlichkeit sind zu beobachten ('Anständlichkeit ist offenbar eine Eigenbildung des Patrioten im Sinne des Schicklichen, des Prepon), nicht jedoch die Kostbarkeit: bürgerliche Ökonomie macht sich geltend. Daß man sich seinem Stande gemäß kleide und nicht über ihn hinausstrebe, ist dem standesbewußten Bürger einzuschärfen.

zu Jahrgang

391

3 /1726, Stück 122

Wichtig und für das Konzept des Patrioten kennzeichnend ist vor allem aber dies: Grundsätzlich darf der Vernünftige die Forderungen der Mode nicht ignorieren. Er richtet sich mit Maßen nach ihnen. Er fällt also nicht aus dem Rahmen des gesellschaftlich Akzeptierten, weder als modischer Avantgardist noch als Nachtreter der Mode von vorgestern. Außenseiter, Sonderlinge, „Originale" entsprechen nicht den Vorstellungen von einem vernünftig-soziahlen Bürger. Die Schlußbemerkung nimmt — wenig aufklärerisch — alte fromme Didaxe wieder auf, die modischen Eitelkeiten mit der Erinnerung an den Sündenfall als Anlaß zur Bedeckung der menschlichen Blöße entgegenzuarbeiten suchte. Vf.

f

Motto Horaz, De arte poetica 160. — „Ohne weiteres gerät er in Zorn und beruhigt sich wieder. Von Stunde zu Stunde ist er wie verwandelt." 1 3 5

6

Houdewel

holl.,

„Haltegut".

Sophi/Mussa/Hassen Sophi und Hassan, persische 14. und 15. Jh. — Mußa, arabischer Feldherr des 8. Jhs. J 3 9

10

moutonniret

29

Fontangen

Könige

im

vgl. Erl. zu 60,12. Fontange:

Hochfrisur.

Stück 122 Der Patriot handelt unter Hinweis auf das alte Athen von Arbeitsbeschaffung, Handel und Wandel und namentlich vom Nutzen der durch Monopole nicht behinderten Manufakturen. Die Erzehlung aus den alten Zeiten (147,14) zeigt sich um die historischen Fakten zur Zeit Solons und Peisistratos' we-

392

Kommentare und

Erläuterungen

nig bekümmert. Was sie will, ist, auf unterhaltsame Weise exemplarisch Nutzen und Schaden vorzuführen, welche bestimmtem wirtschaftlichem Handeln und einem dahinter stehenden bzw. mangelnden patriotischen Engagement entspringen. Man habe, so berichtet der Patriot, in Athen einst, um die Armen ins Brot zu setzen, Fabriken, Manufakturen und Werkhäuser eingerichtet und zwar unter der Initiative tüchtiger einzelner Bürger. Diese Einrichtungen hätten reichen Segen getragen, bis Egoismus und Faulheit der Nachfahren zum Niedergang führte, der schließlich dadurch besiegelt wurde, daß der Tyrann Peisistratos Monopolien erteilte. Wie diese Monopole — Privilegien für alleinige Herstellung bzw. alleinigen Vertrieb einer Ware — erlangt wurden, wird anschaulich geschildert; Anspielungen auf das Günstlingswesen an Fürstenhöfen sind dabei unverkennbar. Das Ergebnis sei der Ruin von Handel und Wandel, sei Bettelei auf der einen, Üppigkeit auf der anderen Seite gewesen. Der Wiederaufschwung sei wiederum ,,wohlgesinnten Bürgern" zu verdanken, die der Armuht zu thun schaffen wollten. Mit Geduld und Umsicht sei es gelungen, die Armen wiederum mit Arbeit zu versorgen, den Absatz zu steigern, dadurch den Preis der Waren zu vermindern und anschließend zum Wohl der ganzen Republik wiederum große Werkhäuser zu erstellen. Die Rede des Ergophron enthält die Richtlinien vernünftigen wirtschaftlichen Handelns. Der Patriot zieht aus dem ganzen Konsequenzen für die Gegenwart, wobei er auf Erfahrungen namentlich in Holland verweist. Er beendet seine Ausführungen mit dem Hinweis auf jüngst in Hamburg getroffene Maßnahmen zur Einrichtung gemeinnütziger Manufakturen. Vermutlich waren diese von Rat und Bürgerschaft beschlossenen Einrichtungen der eigentliche Anlaß zu unserem Stück. Erneut zeigt sich die Wochenschrift für das politische

zu Jahrgang 3 / 1726, Stück 122

393

Gemeinwesen engagiert. „Patriotischer" Einsatz, Mitverantwortung der Bürger für den Staat, das wird, unter Verheißung der schönsten Früchte für alle, dem Publikum hier nahegebracht. Die Ausführungen, die der wirtschaftlichen Initiative tüchtiger Bürger — unter obrigkeitlicher Förderung — das Wort reden, sind angesichts der damaligen deutschen Verhältnisse äußerst fortschrittlich; nur im Göttinger Bürger (1732—33) findet sich derartiges vor der Jahrhundertmitte in den Stücken einer Wochenschrift wieder. Während überall in fürstlich-absolutistisch regierten Ländern staatliche Reglementierung im Zeichen des Merkantilismus das Wirtschaftsleben bestimmte und zumeist einengte, wird hier unternehmerisches Handeln Einzelner propagiert. Der Fabrikant zu Leyden, der 6000 Menschen unterhält, und der Besitzer der Seidenmanufaktur in Utrecht, der schließlich die ganze Stadt in Arbeit setzt, sind Leitfiguren ebenso wie die Athener Bürger, die Stiffter (142,19) bzw. Betreiber (146,7) von Fabriken waren. Die ausdrückliche Verurteilung staatlich erteilter Monopole, — an monopolistische Staatswirtschaft, wie sie sich zur gleichen Zeit im Preußen Friedrich Wilhelms I. unter pietistischem Impuls anbahnt, ist offenbar überhaupt nicht gedacht —, läuft praktisch auf die Ermöglichung freien Wettbewerbs hinaus. Von den hergebrachten Einengungen der Gewerbe durch Zünfte ist freilich nicht die Rede. Die Gemeinnützigkeit eines öffentlich geförderten freien Unternehmertums steht für den Patrioten außer Frage. Er hat eine Art „sozialer Marktwirtschaft" im Auge, was auch daraus hervorgeht, daß er mittlere Manufakturen favorisiert und sich kleine Gruppen von Unternehmern, nicht Unternehmensgesellschaften mit vielen Interessenten, wünscht. Die Großunternehmung, die praktisch von sich aus im Konkurrenzkampf ein Monopol erlangen könnte, ist als Möglichkeit nicht ins Auge gefaßt; sie liegt gewiß nicht in der Linie seiner Zielvorstellungen.

394

Kommentare

und

Erläuterungen

Wenn der Patriot Handel und Wandel als Kinder der Freiheit, des Credits, des Fleisses, der Ordnung, und der Zeit (146,15ff.) vorstellen läßt, so begründet er wirtschaftliche Prosperität praktisch mit Tugenden des freien Bürgers. Unabhängigkeit, ehrliches Ansehen, Fleiß, Ordnungsliebe und Zeit, d. h. Ausdauer, Beharrlichkeit, bedingen eine gesunde Ökonomie. Daß die Armenfürsorge nicht mehr im Almosengeben bestehen soll, sondern in der Beschaffung von Arbeit, — daß der Altar der Barmhertzigkeit daher jetzt aus Manufakturen, wo man Arbeit findet, gebaut ist, ist ein für das Denken der Aufklärer bezeichnender Wandel. Der Nützlichkeitsgedanke macht sich geltend: brachliegende Arbeitskraft muß verwertet werden. Die alte christliche Caritas tritt zurück. Die Schlußnotiz zeugt von der Beliebtheit des Patrioten außerhalb Hamburgs. Sie ist sicherlich nicht fingiert. Vf.

?

Motto Flavias Vopiscus, Quadrigae tyrannorum 8,5. - „Der Staat ist wohlhabend, reich, fruchtbar, in dem niemand auf der faulen Haut liegt." ^

31

Pisistratus

Peisistratos, Tyrann von Athen (um 600—527 v.

^

^

jener Klotz

Anspielung

12

Cammer-Geraht

15

Alastor

16

Doridas

ungeklärt.

scherzhaft für

Kammerdiener.

„Quälgeist". „Schenkmann".

29 Minen Mine: altgriechische oder 1/60 Talent.

145

Chr.).

29

Auflage

^

Knemesicrates

6

Sandaliophorax

Münze im Wert von 100

Steuer. „Gamaschenmeier". „Sandalenträger".

Drachmen

zu Jahrgang 14 Areopagitische Raht Areopag zusammentrat. Ergophron

3 /1726,

395

Stück 123

der athenische

Ältestenrat,

der auf

dem

|46

^

J 4 7

27f. Seiden-Manufactur des Herrn van Moll Der Amsterdamer Jakob van Mollen ließ 1681 eine Seidenfabrik in Utrecht errichten, in deren Rahmen 500 Arbeiter und 1100 Webstühle außerhalb der Fabrik tätig waren, — eine Sehenswürdigkeit, die z. B. Peter der Große bei seiner Reise durch Westeuropa 1717 persönlich in Augenschein nahm.

,,Werkklug".

Verordnung eines Hochweisen Rahts 22-32: 23

fehlt

vgl. Erl. zu

51,17ff.

B.

Doschen

es dürften Tabaksdosen

gemeint

sein.

Stück 123 Der Patriot stellt Überlegungen über die wahre Höflichkeit an. Indem er die Herren Mimogallus und Buffalo als moralische Charaktere zu Wort kommen läßt, kennzeichnet er die Positionen, zwischen denen sich der Vernünftige zu bewegen hat: auf einem Mittelweg zwischen gekünstelter Höflichkeit und Grobheit. Das Thema berührt sich mit den Erörterungen zur Mode im Stück 121. Der vernünftige Bürger kann sich dem gesellschaftlichen Komment nicht in falschem Freiheitsverständnis entziehen. Wer glaubt, auf jede Form verzichten zu können, sich primitiv-„natürlich" aufführen und im Benehmen jede Unabhängigkeit zeigen zu dürfen, ist grob, ungehobelt, ungeschlacht. Derartige Kulturlosigkeit verstößt gegen die Vernunft und gegen die Menschenliebe. Umgekehrt darf Höflichkeit nicht in künstlich-affektiertes Gebaren, in Formalismus ausarten. Wenn der Patriot dabei an die alte teutsche Redlichkeit erinnert, so appelliert er damit an Wertgefühle, die offenbar 26

Der Patriot, Bd. IV

396

Kommentare

und

Erläuterungen

in Hamburg über den vaterstädtischen Stolz hinaus durchaus vorhanden waren, — an nationale deutsche Selbstachtung. Derartiges ist im „Patriotismus" unserer Wochenschrift nicht oft zu beobachten. In Der alte Ternsche (Hamburg 1730) wird es dagegen konstitutiv für den ganzen Ansatz einer Wochenschrift. Die Fronten, gegen die der Patriot kämpft, sind deutlich. Sklavische Übernahme fremder Höflichkeitsformen vor allem französischen Ursprungs ist vom Übel; das entspricht zugleich bürgerlichem Widerstand gegen eine galant-höfische Lebensform. Vom Übel ist jedoch auch jedes schwerfälligumständliche Höflichkeitsverhalten, — Zeremoniosität, wie sie im bürgerlichen Bereich mitgeschleppt wurde. Vom Übel sind Gesten der Unterwürfigkeit ebenso wie die Ungehobeltheiten der Grobiane. Die mangelnde Kultiviertheit, die Weltungewandtheit von Gelehrten, bereits in anderen Stükken Zi.el satirischer Ausfälle, ist zu rügen (155,25ff.). Dagegen wird der Grobheit von Personen niedriger — handarbeitender — Schichten Verständnis entgegen gebracht (156,7ff): dieser Art von Leuten ist wegen eingeschränkter Möglichkeit des Vernunftgebrauchs manches nachzusehen; auch für die Satire des Patrioten sind sie keine ernsthaften Gegenstände. Der Mittelweg, den der Patriot beschreitet, darf in der Verbindung von Redlichkeit mit Höflichkeit als ein „bürgerlicher" bezeichnet werden; das Ingrediens des Redlichen ist in aristokratisch-höfischer Lebensart der feinen Form und der perfekten Affektenkontrolle sicher nicht zuhause. Die Postulate christlicher Ethik schimmern freilich hinter dem Bürgerlichen durch. Sie lassen sich fassen vor allem in der Herleitung von Höflichkeit aus einer innerlichen wahren Liebe (151,18f.) als Quelle neben der Vernunft, wobei der Patriot sich freilich jeden Hinweises auf das christliche Liebesgebot enthält; wahre Menschenliebe (151,25) scheint dem Vernünftigen von selbst als Neigung innezuwohnen.

z« Jahrgang

3 /1726,

Stück 124

397

Die Betonung der Vernunft als Quelle und Kriterium der Höflichkeit zeigt, daß der Patriot prinzipiell jedes überkommene gesellschaftliche Verhalten kritisch zu befragen bereit ist. Traditionen, Gebräuche sind daher nicht iis ipsis gerechtfertigt. Die Vernunft erkennt aber auch, daß Höflichkeitsformen nach Landes*Ahrt (151,35) verschieden und mit Behutsamkeit zu achten sind. Das ganze Bemühen des Patrioten geht wiederum darauf, soziale Harmonie im Gemeinwesen zu ermöglichen. Eben deswegen gilt neben der Dummheit der Hochmut als das eigentliche die Einhaltung der sozialen Spielregeln bedrohende Laster. Vf.

?

Motto Cicero, De officiis I, 27,96. — „Das halten sie für schicklich, daß sich in ihm Bescheidenheit und Selbstbeherrschung verbunden mit dem Auftreten eines freien Mannes regen." 150

"

Mimogallus

152

24

BuffaI°

J 5 3

„Franzenäffer".

„Sturkopf'.

die Schnüre zu geben

Der Sinn ist unklar.

35 Grobiane gemeint ist Friedrich Dedekinds (1524—1598) Satire Grobianus. De morum simplicitate, Libri duo, Frankfurt am Main 1549; erste Verdeutschung von Kaspar Scheidt 1551. | ^^

Schwelle

Schwielen.

Stück 124 Der Patriot veröffentlicht ein Gedicht mit Betrachtungen über die Ehe. Eine moralische Erzählung berichtet von der Zähmung einer herrschsüchtigen Ehefrau. Das Gedicht, aus dem Französischen übersetzt, trug den Titel „Le Mariage"; sein Verfasser war der Abbé Regnier 26*

398

Kommentare

und

Erläuterungen

(1632—1713). B. H. Brockes hat es in die lockere Madrigalform gekleidet und es so in den zweiten Band seines Irdischen Vergnügens in Gott aufgenommen. Daß sein Inhalt so wohl anmuhtig als nutzbar (158,4) ist, entspricht den poetologischen Forderungen des Horaz nach Verbindung des utile mit dem dulce, — Forderungen, die sich Gottsched bald in seiner Critischen Dichtkunst zueigen machen wird. Die im Gedicht geschilderte glückliche Ehe beruht auf der Gleichheit der Partner im Geben und Nehmen, in Lust und Leid. Man folgt vernünftiger Überlegung in wechselseitiger Abwägung der Argumente, zieht an einem Strang und genießt gemeinsam die Frucht solcher Einträchtigkeit auch im emotionalen Bereich. Auffallend ist, daß mit keinem Wort der Superiorität des Mannes oder auch nur der männlichen Funktionen gedacht wird. Von einer ökonomisch, juristisch und religiös bestimmenden Rolle des Hausvaters ist nichts zu hören, von dienenden Funktionen der Frau ebensowenig. Auch in der Kindererziehung sind Mann und Frau offenbar gleichberechtigt. Insofern ist das hier entworfene Bild ehelicher Partnerschaft bemerkenswert neuartig. Eheliche Liebe erscheint überhaupt, gut bürgerlich, als Quelle irdischer Glückseligkeit, — einem galanten Liebesbegriff wird kein Gedanke gegönnt. Auffallend ist ferner, daß — was bei Originalgedichten Brockes' kaum zu erwarten wäre — von Gott, dem göttlichen Segen über dem Ehestand nicht die Rede ist. Die biblischen Gebote, die christlichen Verheißungen für den Ehestand bleiben aus dem Spiel. Die glückliche Ehe beruht offenbar ganz und gar auf der Vernunft, ebenso wie die unglückliche Ehe, die als Gegenstück daneben gestellt ist, mit Zank, Ekel, Verdruß und Qual aus keinem anderen Grund so ist als durch den zu wenigen Verstand von beiden (160,5). Mangelnde Gottesfurcht, Mißachtung des 6. Gebots sind keine Argumente. Die eheliche Verbindung erscheint hier in einem streng säkularen Horizont.

zu Jahrgang

3 / 1726, Stück 124

399

Die hinzugesetzte Erzählung, an Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung erinnernd, behandelt die Ehethematik ebenfalls auf einer rein weltlichen Ebene. Freilich ist die partnerschaftliche Gleichheit hier nicht mit Selbstverständlichkeit vorausgesetzt; sie wird vom Mann gewaltsam hergestellt und überzeugt insofern nicht. Es geht in dieser Erzählung eher um die Maßregelung der die alte Rangordnung auf den Kopf stellenden Frau als um ein Plädoyer für die Gleichberechtigung der Ehegatten. Die Umstände dieser Maßregelung dürften Interesse und Phantasie der Leser stärker beansprucht haben als die hier ausgesprochene Lehre. Ja die Lehre, daß man bei beiderseitigem Vernunftgebrauch in der Ehe glücklich werde, wirkt aufgesetzt. Sie ist auf altes schwankhaftes Erzählgut zu aufklärerischem Hausgebrauch appliziert. Daß ein Mensch durch vernünftige Überzeugung seinen Charakter ändern und ein anderer Mensch — hier aus einer herrschsüchtigen eine kooperative und umgängliche Frau — werden könne, entspricht im übrigen den Überzeugungen der frühen Aufklärung unter dem Einfluß Christian Wolffs. Vf.

B. H.

Brockes.

Motto Horaz, Oden I 13,17—20. — „Dreimal glücklich und mehr die, welche durch ein unzerstörbares Band der Liebe zusammengehalten werden, das durch keine üblen Streitigkeiten zerreißen kann und erst mit dem Tode gelöst wird. " J 5 g

3 Bibliothèque des Gens de Cour François Gayot de Pitaval (Hrsg.), Bibliothèque des gens de cour, ou Mélange curieux des bons mots d'Henry IV, de Louis X I V , de plusieurs princes et seigneurs de la cour, et autres personnes illustres, avec un choix de traits naïfs, gascons et comiques, de plusieurs petites pièces de poésies et de pensées . . . 5 Bde., Paris 1723-1725. 8—160,23: Das Gedicht (Originaltitel: „Le Mariage") von FrançoisSéraphin Regnier-Desmarais (1623—1713) findet sich in der 2. Auflage 1732 der vorstehend zitierten Bibliothèque des gens de cour in Bd. IV, S. 376ff.

400

Kommentare

und

Erläuterungen

— Die von Brockes stammende Übersetzung wurde in dessen Irdischem Vergnügen in G O t t , Tl. 2 in der Ausgabe 1737, S. 605-609, wiederabgedruckt. — Abweichungen gegenüber der Fassung in Irdisches Vergnügen in Gott sind hier nicht nachzuweisen. Gegenüber der Buchausgabe finden sich folgende Unterschiede: 12

Jahrer] Jahre B.

15

Hertz] Hertz, B.

3

an;] an, B. vor; erwag't] vor, erwegt B. Stille,] Stille; B.

7

überein] überein, B.

13

gedencken;] gedencken B.

18:

Und das Vergnügen hat, Zu sehen, wie sein Rath B.

24

bitt're] bittre B.

25

sehn;] sehn B.

28

Lust] Lust, B.

29

eig'nen] eignen B.

30

emsigem] ämsigen B.

33

Wenn] Wann B.

4

O h n ' Ursach'] O h n Ursach B.

9

wende!] wende. B.

10

Kinder;] Kinder B.

11

vertragen.] vertragen, B.

15

ohn'] ohn B.

ohn'] ohn B.

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 125

401

Stück 125 Uranophilus preist in einem Brief an den Patrioten den unvergleichlichen Vorzug der Christlichen Lehre vor aller Heydnischen Welt=Weisheit und beschreibt in einem allegorischen Traum das Wandern nach der wahren Glückseligkeit. Die Schilderung der Reise zum Schloß der Glückseligkeit erinnert an die allegorische Beschreibung des Wegs zum Tempel der Tugend im Stück 43. Während dort aber ein vernünftiger Gebrauch der menschlichen Leidenschaften zum Ziel führt, wird im vorliegenden Stück die menschliche Vernunft als fragwürdig, als fehlbar, vorgestellt: zur wahren Glückseligkeit führt nur die göttliche, die christliche Lehre. Die Rivalität zwischen theologischer Lebenslehre und vernünftig-philosophischer Ethik, die der Patriot zu bagatellisieren und in eine Partnerschaft umzudeuten suchte, wobei er sich lediglich für die vernünftige Moral zuständig erklärte, — diese Rivalität wird in unserem Text, einer Einsendung aus der Schweiz, klar zugunsten der theologischen Lehre entschieden. Auf den rechten Weg bringt die Wanderer erst ein ehrwürdiger Greis, welcher in der einen Hand ein Creutz und in der andern ein Buch trug (166,15f.). Die klugen Personen im Haus der Weisheit aber, in das die Wanderer zunächst kommen (164,20ff.), sind schlechte Wegweiser; sie leiten hierhin und dorthin, man kommt zum Palast des Reichtums als dem vermeintlichen Sitz der Glückseligkeit oder zum Palast der Ehre, einige geraten auch ins Haus der Armut. Eine derartige Abwertung der natürlichen Vernunft des Menschen gegenüber den Weisungen der Religion liegt nicht in der ideologischen Linie, die der Patriot im allgemeinen vertritt. Zwar pflegt auch er, wie Uranophilus, Wollust, Geiz, Herrschsucht, Mißgunst und Unzufriedenheit anzu-

402

Kommentaye

und

Erläuterungen

prangern, nicht aber weltflüchtig die Gefährlichkeit dieser Welt=Herberge (168,33) zu proklamieren oder gar, wie im vorliegenden Text (168,4 f.), auf die Hölle anzuspielen. Freilich ist die Weltflüchtigkeit im Rahmen der Allegorie von der Wanderschaft zur Glückseligkeit etwas eingeschränkt. Strenge Askese, Verzicht auf weltliche Güter, ist nicht gefordert: Man darf etwas aus dem Haus des Reichtums und dem Palast der Ehre mit auf die Reise nehmen (167,3ff.) und die patriotische Sorge um das Gemeinwohl darf auch, in Form der Beförderung des Besten der Reise=Gesellschafft, statthaben (167,4ff.). Daß das wahre Ziel jedoch ein himmlisches ist, daß die vornehmsten Belohnungen [. . .] erst nach diesem Leben zu gewarten sind (163,14ff), daran wird kein Zweifel gelassen. Der hier verwendete Begriff Welt=Bürger (163,9) ist denn auch semantisch eher negativ besetzt im Sinne von: dem Weltwesen anhangend. Umgekehrt ist der Terminus aufgeklart (168,3) noch religiös tingiert, in der Nähe von „erleuchtet". Daß der Patriot einen solchen seiner Linie nicht voll entsprechenden Text abdruckte, dürfte damit zusammenhängen, daß es sich um eine auswärtige Einsendung handelte. Hier erschienen, ähnlich wie bei den stark christlich getönten Einsendungen der Patriotischen Gesellschafft zu Christian» Stadt, dem Verfassergremium offenbar Konzessionen angezeigt. Für einen Leser des 18. Jahrhunderts dürfte es nicht ganz gleichgültig gewesen sein, daß den herrscherlichen Symbolen Krone, Szepter und Purpur Fesseln, Schwerdter und das fürchterlichste Marter=Geräht zur Seite gestellt sind (165,26ff.), — die Kehrseite fürstlicher Alleinherrschaft für den freien Bürger. C. F. Drollinger, der Vf. dieses Stücks, hat seine Gefühle bei der Einsendung an den Patrioten sehr hübsch in Verse gefaßt: „Scherzgedanken bey Übersendung eines Blattes an den Hamburgischen Patrioten", in: Carl Friedrich Drollin-

zu Jahrgang 3 / 1726, Stück 126

403

ger Gedichte, samt anderen dazugehörigen Stücken, Basel 1743, S. 104-105. Vf.

C. F.

Drollinger

Motto Cicero, Paradoxa Stoicorum £ 75. — „Fürwahr nichts anderes heißt gut und glücklich leben als ehrenvoll und rechtschaffen." 3 (4-6):

Uranophilus fehlt

,,Himmelsfreund".

B.

ein besonderer Titel nebst vollständigem Register Das geson4 f. derte Titelblatt zum 1. Jahrgang des Patrioten ist im vorliegenden Kommentarband oben (S. 13) wiedergegeben. Auf den Abdruck des gesonderten Registers zum 1. Jahrgang wurde verzichtet. (Für den 2. und 3. Jahrgang der Originalausgahe sind offenbar keine gesonderten Register herausgekommen.)

Stück 126 Das Stück handelt von nachbarschaftlichem Verhalten. Das Thema ist bereits mehrfach berührt worden. Nachbarschaft ist ein Stück sozialer Realität im Gemeinwesen, an dessen Verbesserung dem Patrioten gelegen ist. Der Text ist ein gutes Beispiel für die verschiedenen Darbietungsweisen, in denen ein Stoff innerhalb eines Stücks entwickelt werden kann. Die Ausführungen beginnen als Bericht der Verfasserfigur des Patrioten über einen Besuch bei der Araminte, einer „stehenden" Nebenfigur. In das referierte Gespräch ist, der Araminte in den Mund gelegt, als moralisches Exemplum eine Charakterschilderung der Falconia Eigenblind eingebaut, wobei diese Schilderung teils generell charakterisierend im Präsens, teils — namentlich im Erzählen von Vorfällen mit dem Nachbarn Stillfried — narrativ im Praeteritum gehalten ist (171,14—175,2). Der Bericht mündet in allgemeine Reflexionen des Patrioten, denen

404

Kommentare und Erläuterungen

wiederum in Regelform gebrachte Ausführungen folgen. Anschauliche Beispielvorstellung, gedankliche Verarbeitung und lehrhafte Ausmünzung werden vom Patrioten geleistet; er garantiert als Verfasserfigur die Einheit des Stücks. Was von den Praktiken der Falconia zur Sprache kommt, ist bemerkenswert realistisch konkret. Die Schilderung beläßt es nicht bei der Bezeichnung von Charaktereigenschaften, sondern zeigt die Auswirkungen von Neugier, nachbarlicher Falschheit und Bosheit detailliert. Von der Anschaffung eines „Spions" (171,30ff.) bis zum Loch in der Wand, Hundehütten unter nachbarlichem Fenster und eigens zum Ärger des Nachbarn veranstalteter Taubenhaltung reicht die Liste der notierten Schikanen. Lebendiger als in anderen Stücken treten uns Realitäten aus der bürgerlichen Lebenswelt entgegen. Auch die Rolle der Kinder und des Gesindes bei nachbarlichen Differenzen ist mit Kennerschaft gezeichnet. — Die Gestalt der Falconia übrigens wäre gut als Figur in einer satirischen Verlachkomödie vorstellbar. Die Regeln einer vernunftigen Nachbarschafft geben je nach den Umständen sorgfältig abgewogene Anweisungen. Sie enthalten sich jedes menschenliebenden Illusionismus'. Sie zeigen vielmehr, daß kluges gutnachbarliches Verhalten im Eigeninteresse liegt. Die Begründung fließt aus der Vernunft: Man tue nichts, was man nicht wünscht, daß der andere es einem tue (177,28f.). Doch wird auch auf die göttlichen Zehn Gebote verwiesen (177,25) sowie auf das biblische Buch Sirach. Sehr deutlich wird, welches Gewicht auf die Abgrenzung einer sicheren Sphäre des eigenen Hauses, der eigenen Familie, gelegt ist. Hier hat der Bürger seinen Ruhepunkt (auch wenn er nicht gerade „Stillfried" heißt). Von dieser sicheren, in den innersten Zimmern (174,14) für jeden Fremden unzugänglichen Basis aus ist der Bürger würdiges Glied der Gesellschaft.

zu Jahrgang 3 /1726, Vf.

405

Stück 127

*

Motto Horaz, Epistulae II 2,131/132. — „Die alltäglichen Geschäfte sorgte er auf rechte Weise, fürwahr ein guter Nachbar." 1 70

gebliebten] geliebten (Druckfehler

171

Wase 6 f. 92

173

| 78

Base, weibliche

"

Altan

Regen-Wasser

13

entsiehe dich

in B

verbessert).

Verwandte.

eine Stelle . . . und erhalten (Nausichtin).

20

des Originals,

be-

Söller, balkonartiger in Regentonnen

vgl. die Stücke 45 (Neidwitzin)

und

Vorbau. aufgefangenes

Wasser.

sich entsehen: von etwas absehen, sich

hüten.

31 ff. den gottlich-klugen Ausspruch des Sitten-Lehrers gemeint ist Jesus Sirach 25,1—2: „Drei schöne Dinge sind, die Gott und den Menschen Wohlgefallen: Wenn Brüder eins sind und die Nachbarn sich lieb haben und Mann und Weib miteinander wohl umgehen."

Stück 127 Der Patriot moralisiert über Gefahren, die dem Glauben an die Astrologie innewohnen. Die Torheit der Wahrsagerei aus den Sternen ist zuletzt im Stück 105 dargelegt worden. Das Thema wird hier wieder aufgenommen. Das Interesse richtet sich dabei nicht auf die Mutmaßung charakterlicher Determination durch Sternbilder., sondern auf die Folgen der Prophezeiung künftigen Schicksals für die Anhänger der Stern=Propheten. Der Patriot beginnt mit dem Exempel eines jungen Mannes, der aufgrund astrologischer Vorhersagen sein Leben verpfuschte. Seine Argumentation läuft darauf hinaus: Nur das Nichtwissen der Zukunft läßt Hoffnung und Freiheitsspielraum und lähmt nicht die Aktivität. Deswegen ist dies Nichtwissen eine göttliche Wohltat für den Menschen.

406

Kommentare

und

Erläuterungen

Worauf es dem Patrioten ankommt, sagt er wiederholt: Die kostbare gegenwärtige Zeit (181,14) ist zu nutzen. Nutzen und Vergnügen sind zu befördern (182,5). Das SichRühren, Leistung, produktives Handeln zum Wohle des Einzelnen wie der Gemeinschaft, sind wichtig; der Glaube an Determiniertheit müßte es paralysieren, das Engagement des Bürgers wäre in Gefahr. Demgegenüber ist der religiös-theologische Gesichtspunkt für den Patrioten kein Argument. Daß der Glaube an die Macht der Sterne ein Irr- und Aberglaube ist, der dem wahren Gottvertrauen widerspricht, das wird nicht ausgeführt. Astrologischem Schicksalsglauben wird nicht die Dialektik von Freiheit und Gnade, unter der der Christ steht, entgegengehalten. Die gesunde Vernunfft und Religion (183,1 f.) - eine bezeichnende Kombination! - lehrt vielmehr lediglich, daß man Pflichten zu erfüllen hat zum Zwecke der Glückseligkeit, und dies verbietet es, den Astrologen das Ohr zu leihen. Vf.

?

Motto Horaz, O d e n III 29,29/30. kunft in finstre Nacht."

- „ Wohlwissend verhüllt Gott die Zu-

1 79

2 Nativitat „die Bestimmung der künftigen Schicksale eines Menschen aus dem Stande der Gestirne in seiner Geburtsstunde" (Adelung).

181

19f ' ,,Canis

1 82

19f 24 Pamphilus/Ucalegon/Chremes/Menedemus Personennamen in der römischen Literatur (Terenz, Vergil); hier ohne Anspielungswert als Typennamen benutzt.

Aesopischen Hunde natans".

Anspielung

auf die Fabel des Äsop

vom

zu Jahrgang

3 /1726,

Stück

128

407

Stück 128 Der Patriot liefert die Übersetzung von zwei Stücken aus dem Spectator, — eine Liebes= Geschichte von den ersten Zeiten her. In seiner Vorrede sagt der Patriot selber, er wisse nicht, welche Absicht der Spectator mit dieser Geschichte verfolgt habe; in der späteren Buchausgabe fügt er hinzu, er vermute, der Spectator habe mehr im Sinne gehabt, als nur durch die alte morgenländische Schreibart zu belustigen oder die Großartigkeit der alten Welt mit der hochfahrenden Kleinheit der heutigen Zeiten zu konfrontieren. Worin dieses Mehr aber bestehen soll, läßt er offen. In der Tat kann man dieser Geschichte von Hilpa und Schalum weder lehrhaft einen allegorischen Sinn unterlegen, noch kann man das Geschehen moralisch ausdeuten. Gewiß, der Fleiß, die Tüchtigkeit, die den zweitgeborenen Schalum eine ganze Landschaft in ein Paradies verwandeln und schließlich viele Menschen in Arbeit setzen lassen, — das entspricht patriotischer Energie, und daß Schalum auf diese Weise reich und damit schließlich ein genehmer Partner für Hilpa wird, das könnte auch mit den Glückseligkeitsverheißungen übereinstimmen, mit denen bürgerlicher Fleiß, bürgerliche Ausdauer im Patrioten bedacht werden. Gleichwohl hieße eine derartige Ausdeutung, gewaltsam einen moralischen Satz — im Sinne Gottscheds — in den Text hineinlesen. Wir müssen feststellen, daß diese chinesische Liebesgeschichte offenbar in erster Linie vergnügen, unterhalten soll, der Lust an der schönen Jahreszeit entsprechend, wie der Patriot bemerkt (187,6f.). Das Ganze ist um des Ästhetischen willen erzählt, aus Fabulierlust, die Phantasie des Lesers beschäftigend, ein farbenfreudiges Märchen aus vorsintflutlicher Zeit, — Poesie, versetzt mit einigen Scherzen. Zu diesen Scherzen gehört die märchenhafte Veränderung der Zeitrelationen: die junge Hilpa heiratet schon im hunderten Jahre ihres AI-

408

Kommentare

und

Erläuterungen

ters usw. Dazu gehört der Zug, daß die Töchter des Landes ihr Hertz vornemlich an den Reichthum hängten (als ob dies besonders ungewöhnlich gewesen sei), und dazu gehört vor allem, daß der Liebesbrief der Hilpa, in vorzeitlichem Stil edler Einfalt (189,31) geschrieben, einen Korb zum Inhalt hat, — Zeugnis einer antidiluvianischen Spröden, oder wie der Patriot einleitend sagt, einer Coqvette vor den Tagen der Sündfluht. Der Patriot, so müssen wir urteilen, übernimmt hier aus dem Spectator ein Stück „reiner Dichtung", — Schilderungen, die die Einbildungskraft sinnenhaft beschäftigen, vielleicht angeregt vom Zeitinteresse am alten China, vielleicht auch im Zuge der Entdeckung orientalischer Welten seit der Rezeption der Märchen von 1001 Nacht, und getragen sicherlich von der traditionellen Sehnsucht des Kulturmenschen nach naturhaften, arkadisch-paradiesischen Zeiten, wie es noch in der Idyllen- und Patriarchadendichtung des späteren 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. — Daß die beiden Briefe in einem gantz besondern Geschmack geschrieben sind, ist in der Geschichte selbst vermerkt. Der Reiz vorzeitlicher Poesie, der zwei Generationen später die Ossian-Gesänge attraktiv machen wird, ist hier, biblischer Diktion nahe, mit Geschick ausgespielt. Vf.

(Ubersetzung

aus dem Spectator)

Motto Vergil, Ecloga 10, 42/43. — „Hier sind frische Quellen, weiche Wiesen, ein Wald, Lycoris. Hier möchte ich mit dir mein ganzes Leben verbringen." ^

aus dem Englischen Spectator

Spectator Nr. 584, 585.

6 gehabt; er schicket] gehabt; glaube aber, daß dieselbe weiter gegangen, als bloß mit dem Caractere der alten Morgenlandischen Schreib-Art sich zu belustigen, oder die Grosse des Lebens und Reichthumes der uralten Welt, und unserer heutigen großdunckenden Kleinigkeit, zu einer angenehmen Bewunderung, gegen einander zu setzen. Er schicket B.

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 129 J ^Q

409

3 Gemse Gemsen. Vgl. Spectator 58.5: „and is said to lost Shalum five hundred Antelopes . . . ". Die Gottschedische Übersetzung lautet: „und man saget es habe dem Shalum fünfhundert Stück Wildpret. . . gekostet". (Der Zuschauer. Aus dem Englischen übersetzt. Achter Theil. Die zweyte Auflage. Leipzig 1749, S. 127). 18

Gelgenheit] Gelegenheit (Druckfehler dieses Neudrucks).

35 Gummi „Ein schleimiger Saft, welcher von selbst aus verschiedenen Bäumen und Gewächsen schwitzet... in weiterer Bedeutung werden auch noch alle feste Säfte, wenn sie gleich Harze sind, Gummi genannt" (Adelung).

Stück

129

Ein Briefschreiber ermuntert den Patrioten, das Thema Eifersucht zu behandeln, und erzählt die Geschichte einer Heilung von ungerechtfertigter Eifersucht. Die Geschichte entpuppt sich als Wiedergabe von Handlungsteilen der Shakespeareschen Komödie von den lustigen Weibern von Windsor. Elvira ist Frau Ford, Castalio ihr Mann, als Sir John Falstaff figuriert der abgedankte Obrist Sclopeto. Einige Stellen sind nahezu wörtliche Übersetzungen aus Shakespeares Dialog (so z. B. 197,10—15 vgl. The merry wives of Windsor II, 2). Das schwankhafte Geschehen auch das Abschieben und Wässern des Falstaff/Sclopeto in einem Wäschekorb ist übernommen —, wird, auf den Hauptstrang reduziert, teils im Präsens, teils im Präteritum nacherzählt. Am Schluß wird es mit einigen lehrhaften Sätzen aufgeputzt, so daß das Ganze zur Not als moralische Erzählung gelten könnte. Der stoffliche Reiz, das Intrigenspiel um potentielle Hahnreischaft, das Possenhafte dürfte jedoch für den zeitgenössischen Leser hier die Vorhand gehabt haben. Der lehrhafte Ertrag im Hinblick auf das Laster der Eifersucht ist mäßig. Ohnehin ist von den psychologischen Konditionen zur Eifersucht nicht die Rede. Die Moral des alten

410

Kommentare

und

Erläuterungen

Acesto für seinen Schwiegersohn besagt, daß man Frauen klug und nachsichtig behandeln und nicht unter eifersüchtigen Druck setzen solle. Umgekehrt solle die Frau männliche Eifersucht als Auswirkung wahrer Liebe begreifen und ihrem Gatten klug begegnen. Der Schluß der Geschichte entspricht ganz dem anthropologischen Optimismus der Aufklärung (200,17ff). Vernünftige Einsicht, Annahme guten Rats vermag falsche Haltungen zu korrigieren, Eigenschaften zu ändern, ja aus dem Betroffenen einen neuen Menschen zu machen, — Christian Wolff ist nicht fern. Daß es in dieser Erzählung die Männer sind, die sich lächerlich machen, während die klugen tugendhaften Frauen triumphieren, liegt durchaus in der Linie des Patrioten, dem weibliche Bildung und Hebung des weiblichen Ansehens ein Anliegen sind. Dem entspricht auch, daß der Briefschreiber es als unverantwortliche Freyheit bezeichnet, wenn ein Ehemann das Kabinett seiner Frau durchsucht (196,12): die persönliche Sphäre der Frau ist zu respektieren. Vf.

?

Motto Terenz, Eunuchus 76— 78. — „Wenn du einsichtig bist, füge zu den Beschwerden, die die Liebe von sich aus hat, nicht weitere hinzu. Jene, die sie hat, trage standhaft." zu befreyen.] zu befreyen. Die Umstände sind so sonderbar, daß daher der berühmte W i l l i a m SHAKESPEAR Gelegenheit zu Verfertigung eines artigen Schau-Spieles genommen. B.

|

18ff.

Elvira] hier und im folgenden

30f.

eingepeckelt

eingepökelt.

schreibt

B Florella.

zu Jahrgang 3 /1726,

Stück 130

411

Stück 130 Das Stück enthält ein Schreiben, das die zügellose Lebensart von Studenten verurteilt und zur Illustration Szenen aus einer Komödie vorstellt. Der Patriot erklärt selber, daß er dies Thema mehrfach behandelt hat. Zugleich bemerkt er aber auch die Neuartigkeit der hier gewählten Darbietungsform: Komödienszenen zum Zwecke moralischer Lehre. Das Gebotene präsentiert sich als die ersten 6 Auftritte einer ungedruckten Komödie mit dem Titel Der verschwenderische geschimpfte und verzweifelnde Student. Daß es sich nicht wirklich um das Fragment einer Komödie handelt, ist ziemlich offenkundig. Es wird in den vorliegenden Szenen keine Handlung angesponnen, kein Plot initiiert. Die Szenen charakterisieren nur nacheinander den lasterhaften Helden mit dem sprechenden Namen. Wir haben es nicht mit einer Handlungsexposition zu tun, sondern mit der Exposition eines moralischen Charakters. — Daß die Darbietungsform des „Moralischen Charakters" der Personenschilderung der Komödie, insbesondere der satirischen Verlachkomödie, nahekommt, war schon bei Gelegenheit früherer Stücke des Patrioten erkennbar. Im vorliegenden Text ist Personencharakteristik tatsächlich dramatisiert, in Dialogform gesetzt. Welche Laster den Studenten Prodigo charakterisieren, ist den Szenen leicht zu entnehmen. Er ist ein eitler Stutzer, der einen Rivalen durch kostbares Äußeres — Perücke, Degen, Spitzen — ausstechen will, zumal er bürgerlich, der Rivale von Adel ist. Er trinkt, schmaust, duelliert sich, spielt, besucht in Verkleidung Huren, wirft Unsummen aus, um ein amouröses Abenteuer mit der Filia hospitalis anzubahnen (vgl. 204,28), gebärdet sich unter Verwendung französischer Sprachbrocken galant, wird übrigens bereits auf der Szene zudringlich (205,30), liest galante Romane (Talander 206,24), hält sich modisch einen italienischen Sprachmeister 17

D e r Patriot, Bd. IV

412

Kommentare und Erläuterungen

und macht bei ihm Schulden, läßt sich von seinem Bedienten erpressen (204,12ff.; 208,7ff) und versäumt bei alledem seine Studien. Das ist ein ganzer Katalog typischer studentischer Unsitten; die Studentensatire der damaligen Zeit greift sie immer wieder auf. Es fehlte nur noch, daß Prodigo ein Schläger, ein Raufbold ist, sich mit der Stadtwache anlegt, den Karzer von innen kennt, mit der Wirtin zankt, lärmt und musiziert. Motivische Verwandtschaften mit Lustspielen Christian Reuters, mit den Studentenszenen in Lenz' Der Hofmeister, sind gegeben. Daß ein solches Betragen für einen rechtschaffenen, sparsamen, fleißigen, verantwortungsbewußten Aufklärer verwerflich ist, bedarf keiner weiteren Begründung. Ohnehin war der Studiosus mit seiner akademischen Freiheit dem im nützlichen Erwerbsleben stehenden Bürger etwas suspekt. Daß Komödien viel zum Nutzen des Menschlichen Lebens beitragen, wenn sie mit gehöriger Behutsamkeit geschrieben sind (201,23ff), — das könnte vier Jahre später so auch in Gottscheds Critischer Dichtkunst stehen.

Vf.

f

Motto Horaz, Satiren I 2,718 und 10/11. — „Wenn du ihn fragst, warum er mit unersättlicher Völlerei das reiche Erbe des Vaters und Großvaters vertut, antwortet er, er wolle nicht für geizig und kleinlich gehalten werden." 201

203

1

Absehen

20

Comodie] theatralischen Lust'Spiele B.

Absicht,

Bestimmung.

'

Prodigo

18

Bärnheuters

29

Liberey

vgl. lat. prodigus = verschwenderisch. Bärenheuter: feiger, nichtswürdiger

Livree.

Mensch.

zu Jahrgang 3 / 1726, Stück 131 2 0 4

23

(Gehet ab.)] (Levin gehet ab.) B.

31

Jubelirer

413

Juwelier.

2 0 6

^ Talander Autorenpseudonym fasser galanter Romane.

2 0 7

^ Cammertuche Kammertuch; „eine Art sehr feiner Leinwand, welche zuerst zu Cambray in den Niederlanden . . . verfertiget wurde" (Adelung).

2 0 9

^

Scripsit

für August Bohse (1661—1730),

Ver-

„Schreibmann".

Stück

131

Chr. Frommhold berichtet von einer Besuchsreise über Land, wobei er die durchreiste Landschaft, den Herrensitz eines Adligen und ein ländliches Pastorenhaus schildert. Ein Gemälde gibt Anlaß zu Betrachtungen über die mangelnde Aufmerksamkeit der Menschen auf die Schönheiten und Segnungen von Gottes Welt. Die Darlegungen bemühen sich, ganz im Sinne von B. H. Brockes, dessen Irdisches Vergnügen in Gott als Lektüre der Pfarrersfamilie erwähnt wird, das Unvergnügen des Menschen an der Schöpfung abzubauen und ihn auf die göttlichen Gaben in seinem Leben aufmerksam zu machen. Das allegorische Gemälde (215,30ff.), das den Menschen auf der Reise übers Meer des Lebens zum Totenreich schlafend zeigt, ist Anlaß zur Mahnung, — einer Mahnung, die der Allegorie selber nicht immanent ist, nämlich aufzuwachen, die Augen aufzutun und die Schönheiten und Ordnungen dieser Welt zu erkennen und dankbar zu genießen. Der neue, diesseitige, „weltfromme" Zug, mit dem die frühe Aufklärung sich vom weltflüchtigen Barock absetzt, ist deutlich. Das Memento Mori nimmt eine neue Wendung: Statt die Welt als IT

414

Kommentare

und

Erläuterungen

eitel und nichtig abzutun, ihr auf der Pilgerfahrt zur Ewigkeit möglichst wenig zu verfallen und das Leben allenfalls wie einen Traum zu nehmen, — dem entspräche die Attitüde des Schlafenden auf der Reise—, sollen nun Welt und Leben vor Eintritt des Todes volle Zuwendung erfahren, — Zuwendung auch mit den Sinnen des Sehens, Hörens, Riechens und Schmeckens (vgl. 219, 9 f f . ) . Das Diesseits soll in seiner Herrlichkeit genützt werden. Zwar steht diese Mahnung unter religiösem Impuls: Man soll sich der Welt öffnen, um in ihr Gott recht zu erkennen, es geht um die Erweckung eines irdischen Vergnügens „in Gott", — aber die Tendenz auf das Irdische, die Zuwendung zur Welt ist doch, von heute her gesehen, das Entscheidende und frömmigkeitsbzw. mentalitätsgeschichtlich Folgenreiche in diesem Appell. Der Mensch, der Bürger wird im vorliegenden Text erneut umorientiert auf das Diesseits als sein eigentliches Feld. Ganz entsprechend der Forderung, auf der Lebensreise nicht zu schlafen, sondern die Augen zu öffnen, ist auch die erfahrene Welt bemerkenswert realistisch erfaßt und beschrieben. Ob es sich um die niedrigen Feldsteinmauern um Dorfkirchen, das sanfte Auf- und Niederwallen der Roggenähren, die aufsteigende Morgenröte und ihr Farbenspiel in der Landschaft, das morgendliche Erwachen des Vogelgezwitschers, die langsamen Schritte der zur Weide getriebenen Rinder oder die Dung führenden Landleute handelt, — wo wären zuvor in deutscher Literatur derartige ländliche Szenen „um ihrer selbst willen" so anschaulich erfaßt? Genauestens ist der adlige Herrensitz in seiner Topographie beschrieben, genauestens und mit Liebe der ländliche Pfarrhof. Ungewöhnlich auch der Realismus in der Schilderung eines Kindes, z. B. seines Betragens beim Verzehren einer Erdbeere (219,15ff.). Jedenfalls dürfte eine derartige Offenheit für alltägliches ländliches Leben in literarischer Beschreibung für den Leser des Patrioten etwas Neues gewesen sein.

zu Jahrgang

3 /1726,

Stück 131

415

Die Schilderung erfaßt mit Sympathie zwei Lebensbereiche, die später in erzählender Dichtung, nicht zuletzt in Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts, immer wieder Gegenstandpositiver Beschreibung geworden sind, — den des adligen Gutsherren und den des Landgeistlichen. — Der patriarchalische Landjunker ist, — wir wiederholen anläßlich des Stücks 60 Gesagtes —, bereits im Spectator mit Wohlwollen — und mit Humor — geschildert worden. Und auch nach dem Patrioten wird der fromme, maßvoll lebende, väterlichfürsorgliche, vernünftige und gebildete Gutsherr im Kreis seiner Familie in deutschen Moralischen Wochenschriften ein gern vorgestelltes Bild. Mit Recht ist der hier porträtierte Gutsherr übrigens als ein Bruder des tugendhaften Theophilus in Stück 60 bezeichnet. Er ist ebenfalls fromm, hält seine Leute zur Betstunde an, kümmert sich um sie, versorgt in patriarchalischer Fürsorge die Armen und Alten, hat gute Wirtschaftseinrichtungen getroffen, lebt maßvoll, ist ein liebreicher Ehemann, zufrieden mit sich und Gott und der Welt, — und er ist damit ein Muster seines sonst nicht immer liebenswürdigen Standes (216,33ff). Selbstverständlich unterhält dieser Gutsherr gute Beziehungen zum Geistlichen des Orts namens Tugendfreund. In der Schilderung von dessen Haus mit Anbau, Laube und Garten wie in der Ausmalung des häuslichen Lebens des Landpfarrers weist das Stück in manchem auf die Pfarrhausidylle der zweiten Jahrhunderthälfte voraus. Interessant ist, daß ausdrücklich auf den proportionirten Unterschied hingewiesen wird, der zwischen landadlig-herrschaftlichem und bürgerlich-pastörlichem Lebenszuschnitt besteht, und daß trotzdem eine gleich große Vergnügung konstatiert wird (217,26ff). Die Pfarrersfamilie lebt nicht kostbar, aber bequem und zufrieden. Die ständische Ordnung wird noch voll akzeptiert und gutgeheißen. Es gehört zu Gottes Ordnung, daß ein jeder Stand, der geringste sowol als der mittlere, der mittlere sowol als der vorneme, nicht

416

Kommentare und Erläuterungen

nur seine unentbehrliche Nothwendigkeiten, sondern auch seine Ergetzlichkeiten habe (220,9ff.). Vf.

M. C. Brandenburg (?)

Motto Vergil, Georgica II 458. — „Glücklich, wenn sie wüßten, was für Güter sie besitzen!" 2-10

®

mein Schreiben . . .

vgl. Stück 118.

11 in Dero 60sten Stücke vorgestellt. 2 1 \

10

Rocken-Aehren

24

Baum- und Kohl-Hofen

212

Gegenwürfe

213

214

217 218

dort ist der Mustergutsbesitzer

Theophilus

Roggenähren. Obst- und

Gegenwurf:

befriediget

eingefriedigt,

14

gevierten

quadratischen.

Gemüsegärten.

Gegenstand. umgeben.

^

gleichmässige

gleichartige.

31

Hagebuchen

Weißbuchen.

35

fährte] führte B.

20

jüngst-erwehnten Herrn Seligmanns

20

Rahm

vgl. Stück 118.

Rahmen.

22 f. neueste Auflage von dem irdischen Vergnügen in GOtt Der erste Band von Brockes' Irdischem Vergnügen (1721) war 1724 in der 2. und 1726 in der 3. Auflage erschienen. Das im folgenden genannte Gedicht findet sieb in der 2. Auflage auf den Seiten 479—481. 219

6

220

Zitat aus dem 218,26—28 genannten Brockes-Gedicbt; 2. Aufl. des Irdischen Vergnügens in Gott S. 480.

221

Inbegriff

Midas 18—21

das Innere.

hier Name für einen Reichen.

von dem . . . und schlafen,

vgl. I,

232,12ff.

in der

zu Jahrgang 3 / 1726, Stück 132

417

Stück 132 Der Patriot handelt vom Umgang mit dem Hausgesinde. Praxis und Grundsätze der Araminte dienen ihm dabei zur Erläuterung. Mit der Frau Sparenstein, der Frau Keiff enstein und dem Herrn von Ungestüm werden unvernünftige Haushalter abgebildet. Das Thema ist kennzeichnend für die soziale Lage, die der Patriot für sein Publikum als selbstverständlich voraussetzt: Dienstboten hat man im Hause, sei man nun besitzender Bürger oder Herr von Stande. Bezeichnend ist ferner, daß nach allen Indizien, die die Ausführungen hergeben, im Verhältnis zwischen Gesinde und Hausherrenschaft nichts mehr von den alten Strukturen des „ganzen Hauses" erhalten geblieben ist, es sei denn eine religiöse Mitverantwortung: Araminte schließt ihre Bedienten mit ins Gebet ein (vgl. auch 225,10ff.). Im übrigen ist die Differenz, die Distanz zwischen Hausherrn bzw. Hausfrau und den Dienstboten groß. Dienstboten haben eine gantz andere Erziehung gehabt (225,29); sie erhalten ihr eigenes Essen (225,15ff), es gibt also keine Tischgemeinschaft mehr; man hört sich vielleicht klugerweise einmal ihren Rat an (228,15ff), aber sie sind nicht in die Hausgemeinschaft integriert wie Eltern und Kinder. Die bürgerliche Kleinfamilie hat sich herausgelöst aus dem größeren Verband, das Gesinde gehört ihr nicht an; es ist vielmehr leicht auswechselbar. Bezeichnend denn auch, daß die alten Begriffe „Hausvater" und ,,Hausmutter" nicht verwendet werden. Die vernünftige Behandlung, die Araminte ihrem Gesinde angedeihen läßt, kombiniert eine noch religiös begründete Humanität mit Nützlichkeitsberechnung: Keifen und Schelten zahlt sich nicht aus, ist zudem wider die Diätetik der Seele (229,12ff.) und kann im übrigen das Renommee im Orte schädigen; unzureichende Ernährung verführt das Gesinde zum Stehlen; wenn man nach 3 Jahren den Lohn kontinu-

418

Kommentare

und

Erläuterungen

ierlich erhöht und dadurch seine Bedienten lange bindet, hat man per Saldo weniger Ausgaben; weiß man Bediente zu motivieren, arbeiten sie williger. Interessant ist, daß Beschäftigungslosigkeit, Müßiggang, für das Gesinde — unter Berufung auf biblische Weisheit — als schädlich angesehen wird. Die Muße, ein Freiraum jenseits der Verpflichtung zum Beten und Arbeiten, jahrhundertelang von kirchlicher und weltlicher Obrigkeit für verderblich erachtet, ist auch hier noch für die unteren Stände nicht vorgesehen, so wie es zu dieser Zeit auch den Begriff Freizeit noch nicht gibt, auch für die Handwerker nicht. Daß in einer Zeit der Muße die Bedienten, die ja doch, wie der Patriot selber bemerkt, keine Gelegenheit gehabt, ihre Vernunft auszubessern (225,30), sich vielleicht zu bilden suchen könnten, etwa mit Lektüre, — daran ist nicht gedacht. (Einen ersten revolutionären Schritt in dieser Richtung tut wohl erst Geliert in seinem Roman Das Leben der schwedischen Gräfin von G., 1747—48, wo der tugendhafte Herr R. seinen Bedienten nur einige Stunden aufwarten läßt, ihm Bücher zu lesen gibt und dazu sagt: „Denkt Ihr denn, daß Ihr bloß meinetwegen und meiner Kleider und Wäsche wegen in der Welt seid? Wollt Ihr denn so unwissend sterben als Ihr geboren seid? Wenn Ihr nichts zu tun habt, so setzt Euch hin und überlegt, was ein Mensch ist".) Außer Zitaten aus dem Ecclesiasticus werden Anweisungen zum Umgang mit Dienstboten zweimal in Regeln gefaßt (227,29ff; 228,24ff.). Die Regel, mit Sanftmut sei mehr auszurichten als mit Gezänk, wird sehr hübsch durch ein kleines Exempel illustriert (228,34ff.), das man seiner Kürze und Prägnanz wegen als moralische Anekdote bezeichnen könnte. Vf.

?

Motto

Seneca, De vita beata 3,4. — , Jede

Rohheit kommt aus

Schwäche."

zu Jahrgang

2 2 4

2 2 6

10

L e h r e

12

für ihn

^ nes 30

2 2 7

2 2 9

S

yrachs

419

Stück 133

33>26-

vor ihm (Luther (1545): für jm).

Bestate-Geld Dienstboten. Leumuth

Sir-

3 /1726,

offenbar

eine Sonderzahlung

hei der Einstellung

ei-

Leumund.

^ Sey n i c h t . . . deinem Hause! Sir 4.35: „Sei nicht ein Löwe in deinem Hause und nicht ein Wüterich gegen dein Gesinde." ^

Lehre jenes klugen Engländers

18 Zäserchen ,,Zaser; Diminutivum: gleichbedeutendes Wort" (Adelung).

Anspielung

unklar.

das Zäserchen . . .ein mit Faser

Stück 133 Der Patriot handelt von den Pflichten der Eltern bei der Verheiratung ihrer Kinder. Er erläutert seine Gedanken an zwei Beispielen verfehlter Eheschließungen und beendet seine Darlegung mit einem Katalog von Regeln. Das Thema ist bereits zuvor behandelt worden. Daß es Recht und Pflicht der Eltern ist, auf die Gattenwahl der Kinder Einfluß zu nehmen, ist für den Patrioten keine Frage. Von einem freien Selbstbestimmungsrecht junger Leute ist nicht die Rede, auch wenn ihrer eigenen Wahl Gewicht beigemessen wird (237,16ff). Die Ehe ist nichts Privates, sondern eine Einrichtung des gesellschaftlichen Lebens, an deren Gedeihen das Gemeinwesen Interesse hat. Aus solchem Gedeihen kann es Nutzen ziehen (232,25f.), bei einem Mißerfolg können Lasten auf es zukommen (236,32f.). Das Glück von Einzelnen, von Familien und des Staatswesens ist wesentlich mit guten Ehen verknüpft. Geld- und Ehrsucht sind nach Auffassung des Patrioten die Motive, aus denen am häufigsten unglückliche Ehen zustande kommen. Das Thema der Heirat standesungleicher

420

Kommentare

und

Erläuterungen

Personen bleibt im vorliegenden Stück ausgeklammert, das Thema der Geldheirat wird entfaltet. Für die bürgerlichrealistische Einstellung des Patrioten ist kennzeichnend, daß er Mitgift und Ehre als etwas durchaus Unverächtliches ansieht, wenn sie mit zu erlangen sind, und daß die Ehe eine materielle Basis haben muß, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit: ein ehrliches Auskommen ist zu fordern. Vor Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen aber müssen andere Werte den Ausschlag geben: guter Charakter und Gesundheit der Brautleute, — Gottesfurcht, Tugend, Gleichheit der Gemüter und ein gesunder Leib (237,20ff). Der traditionell materiellen Orientierung bei bürgerlichen Eheschließungen wird damit widersprochen. Die beiden Erzählungen illustrieren als Exempla, was erzwungene Eheschließungen für Folgen haben können. Sie ergänzen sich motivisch insofern, als es sich im einen Fall um die Verheiratung eines Sohnes durch die lasterhafte Mutter, im andern Fall um die Verheiratung einer Tochter durch den törichten Vater handelt. Die zweite Erzählung, lebendig im historischen Präsens gehalten, malt die Folgen einer unvernünftigen Verbindung sehr drastisch. Es kommt zu Ehebruch, frühem Tod des an der Mißehe schuldigen Vaters, Fehlgeburt und Tod der verkuppelten Tochter, Siechtum des Ehemanns und Verwaisung eines Kindes, — die Konsequenzen elterlichen Fehlverhaltens in Schockfarben! Vf.

i

Motto Quintilian, decl. 257p. 50,5. — „Nirgends tut Freiheit so not als in der Ehe. Wer kann denn feindlichen Herzens lieben 2 3 0

einen] einem (Druckfehler Ehezarters

dieses

Neudrucks).

2 3 3

18

2 3 4

^ Theilung nach dem Stadt-Buche zum Stadtbuch vgl. Erl. zu 102,7f. Gemeint ist im vorliegenden Fall, daß das eingebrachte Vermögen

vgl. Erl. zu II,

162,29f.

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 134 der Ehefrau nach ihrem Tod hei fehlender Nachkommenschaft milie zurückfällt. 9

Thais

10

Gesellschaft von Bu-Ba

11

Joligny

20

entschütten

421 an ihre Fa-

Name einer griechischen Hetäre. vgl. II,

136,12ff.

„Hübschmann". „Für entladen, befreyen"

(Adelung).

Stück 134 Der Patriot stellt Betrachtungen über das Gewissen an. Das Stück ist ein Beispiel für die durchgehend ernsthaftphilosophische Abhandlung eines Themas, ohne Abwechselung in der Darbietungsweise etwa durch Einschaltung von Exempla, von Briefen oder moralischen Charakteren. — Die Abhandlung ist logisch gegliedert. Nach einer allgemeinen Einleitung wird eine Definition des Begriffs Gewissen vorgenommen und anschließend wird die zu fordernde Aufmercksamkeit auf das Gewissen in dreifacher Weise bestimmt. Die Abhandlung endet mit einem Zitat des Apostels Paulus. Eine solche Bezugnahme auf das Neue Testament ist im Patrioten selten, ebenso die Argumentation mit dem Jüngsten Gericht (an jenem Tage, 242,9f.) und der ewigen Seligkeit (Genuß einer ewigen Beruhigung, 243,28f, fröhlichen Zustandes [. . .] darin wir [. . .] uns dereinst auf ewig befinden sollen, 245,13ff.). Freilich gebraucht der Patriot bei diesen Vorstellungen neutrale Umschreibungen, die kirchliche Terminologie ist vermieden, und überhaupt ist der Unterschied zu einer Predigt offenkundig. Der Patriot gibt einen moralphilosophischen Traktat; von der Buße, von geistlicher Umkehr, ist nicht die Rede, sondern von Reue und Aenderung (242,4) bzw. Reue und Besserung (241,5); zu Gebet, Bekehrung im Glauben, zur Heiligung, zur Nachfolge Christi wird nicht aufgerufen.

422

Kommentare und Erläuterungen

Gleichwohl steht das Gewissen, von dem die Rede ist, noch nicht ausschließlich in einem weltlichen Horizont. Maßstäbe und Gebote sittlichen Handelns sind noch nicht ausschließlich menschlich-gesellschaftliche, sondern werden auch noch als göttliche verstanden. Man verstößt gegen die Gebote GOttes und gegen sein eigenes Erkenntniß (240,20f.), übertritt den Gottlichen Willen (240,25); die natürliche sowol als geoffenbarte Erkantniß erleuchtet das Gewissen (242,11f.). Und so kann auch der Verstoß gegen das Gebotene noch als Sunde bezeichnet (242,2) und die Plage des Gewissens als gerade auf dem Totenbette besonders drückend genannt werden. Gott, vernünftig und philosophisch gesehen, ist noch eine Instanz. Daß zugleich auch die sittliche Autonomie des Menschen, seine Verantwortlichkeit als vernünftiges Wesen, hervorgehoben wird, ist deutlich (vgl. 241,20ff.). Die Macht des Bösen, der Teufel, ist keine akzeptable Kategorie mehr. An seine Stelle sind die Leidenschaften, die Begierden, getreten, die immerhin die Vernunft unterjochen können (vgl. 242,25ff.), was nicht ganz in die vernunftoptimistische Linie der wolffianischen Aufklärung paßt. Erstrebenswert ist für den Patrioten das gute Gewissen, die Zufriedenheit, die wahre Ruhe unsers Gemuhts (243,17), die den Menschen auch im Tode erfüllen kann. So etwas ist in fleißiger Gewissensprüfung zu erlangen, — der Zusatz unter Göttlichem Beystande (245,1) relativiert dabei die sittliche Autonomie wieder. — Die zweimalige Warnung vor der falschen Sicherheit (241,30f.; 244,28f.) läßt die Parallelität dieses moralphilosophischen Traktats zu geistlicher Vermahnung erneut erkennen. In solcher Vermahnung pflegte man der falschen Sicherheit des Christen, der „Securitas", die wahre, im Glauben gegründete Sicherheit, die „ Certitudo", entgegenzustellen. Das Thema wird im Stück 142 fortgeführt.

423

zu Jahrgang 3 / 1726, Stück 135 Vf.

C. F.

Weichmann

Motto Plinius (d. ].), Panegyricus Traiano imperatori dictus 74,3. — „Es könnte vielleicht einer über den andern, über sich selbst aber niemand •sich getäuscht haben; daß er wenigstens sein Leben prüfte und sich fragte, welches Verdienst er erworben." 2 4 3

2 4 4 2 4 5

schwichtig zu machen 34

Feiern] (Druckfehler

^

beschmitzt

zu

beschwichtigen.

des Originals,

beschmitzen:

Exempel des Apostels

versehentlich

besudeln, s. Apg-

Stück

nicht

korrigiert).

beschmutzen. 24,16.

135

In einem satirischen Brief wird die Selbstbeweihräucherung der Gelehrten verspottet. Wohl nicht zufällig folgt dies Stück unmittelbar auf den vorangegangenen überaus ernsthaften Traktat über das Gewissen. Es ist durchgehend scherzhaft gehalten und dient erst in zweiter Linie — mittels der Satire — auch moralischer Belehrung. Es ist geeignet, einen über der schweren Kost des voraufgegangenen Stücks verdrießlich gewordenen Leser wieder munter zu stimmen. Hintergrund des vom Brief schreib er entwickelten Plans zur Einrichtung einer Lebens=Casse für die Gelehrten, aus deren Mitteln die posthume Veröffentlichung von rühmenden Lebensbeschreibungen bestritten werden soll, sind gewisse Gepflogenheiten in der Gelehrtenrepublik. Immer noch als eigene Gruppe, im akademischen Bereich mit eigener Tracht und eigener Sprache abgesondert von der allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft, pflegte man hier gern in Lobreden, Ehren=Gedachtnissen und Gelehrtenviten einander den Ruhm zu besorgen. Dem an greifbarem Nutzen, an

424

Kommentare und Erläuterungen

deutlich zu Buche schlagender Förderung der allgemeinen Glückseligkeit interessierten Bürger war die oft noch weltfremd-pedantische Gelehrsamkeit ohnehin verdächtig. Gelehrte Selbstlobrednerei war daher vollends anstößig. Noch Hagedorns 1740 erschienenes ironisches Lehrgedicht „Der Gelehrte" zielt darauf. Das Projekt des Euphemius von Allermann, ohne Ansehen der Person ruhmvolle Lebensbeschreibungen zu liefern, führt in der schönen Aufrichtigkeit des satirischen Briefs den ganzen gelehrten Laudationsbetrieb ad absurdum. Besonders reizvoll für einen kaufmännisch erfahrenen Hamburger Leser dürfte dabei die Art und Weise gewesen sein, mit der der Projektenmacher auf seine Kosten kommen will. Sein Projekt erweist sich als bis ins Detail schlitzohrig zum eigenen Vorteil arrangiert. Vergnüglich zu lesen ist der Lebenslauf des Licentiaten Magerlob, der als Muster für einzusendende Lobschriftsmaterialien vorgeführt wird. Das Ganze ist witzig und anspielungsreich arrangiert, eine Art indirekter moralischer Charakteristik in annalistischer Form. — Daß Magerlob, statt auf einer öffentlichen Schule, privat von 13 verschiedenen Informatoren nacheinander unterrichtet wurde, ist ein Zug, mit dem zugleich der Brauch, Bürgerkinder in Hofmeistererziehung zu geben, einen Hieb mitbekommt. Das Stück hat als Einsendung — mit Recht — einen Preis erhalten. Mit seinem oft versteckten Witz und der Technik der Anspielungen setzt es ein gebildetes und intelligentes Publikum voraus. Vf.

(Einsendung (vgl. 424,14)).

Motto Plautus, Pseudolus 835/836. - „Landvieh würze ich mit Cicimander, Hapalopsis und Cataractria." 246

*

Gelasius

„Lachmann".

zu Jahrgang

425

3 / 1726, Stück 135

2 4 7

Longitudinem auf der See geographische See; war im 18. Jh. noch nicht exakt meßbar.

2 4 8

Species-Orts-Thaler ,,Versteht man unter Thaler einen SpeciesThaler, so ist ein Ortsthaler 8 Groschen oder ein halber Gulden" (Adelung).

Länge eines Ortes auf

30 Alphabet 24 Druckbogen, da diese durch alphabetische von A bis Z gekennzeichnet waren. 2 5 0

^ heiligen Ambrosio Bischof von Mailand.

Ambrosius (339—397 n. Chr.),

Kirchenlehrer,

34 Kayser Justiniano Justinian I. (483/4—565 n. Chr.), Kaiser, ließ das römische Recht kodifizieren. 251

^

Draco

Drakon,

athenischer

„Vom

oströmischer

Gesetzgeber.

3 Plutarchi Plutarchos (um 45-120 n. Chr.), rühmten vergleichenden Biographien mit moralischer de vitis Sanctorum Heiligenviten.

Kustoden

Leben

Verfasser von Zielsetzung.

der Heiligen",

gemeint

besind

8 f. das bekannte Leipziger Gelehrten-Lexicon gemeint ist vermutlich Johann Burkhard Menckes (1674—1732) Compendiöses Gelehrten-Lexicon, Leipzig 1715, das später von Jöcher weitergeführt wurde.

2 5 2

17

Hanseatischen Bunde

26

Stolpe

gemeint ist die

Dorf bei Plön in

28

Euphemius

30

J. V. L.

32

Cornefitz

„Hornmacher"

Homilete

Kanzelredner.

253

Holstein.

„Redewohl".

juris utriusque licentiatus (Lizentiat

12 Pont a Mousson versität.

30

beider

(Kämme wurden aus Horn

Rechte). gefertigt).

Stadt hei Nancy, noch im 18. Jh. Sitz einer Uni-

ohne Praese ohne Vorsitzenden, Disputationen üblichen Form. 17f.

Hanse.

Fangeschöpsin salvo errore calculi

d. h. nicht in der für

akademische

„Schafskopffängerin". unter Vorbehalt

eines

Rechenfehlers.

426

Kommentare

und

Erläuterungen

38 Herodoti Lebens-Beschreibungen der neun Musen Herodot hatte sein Geschichtswerk in 9 Teile gegliedert, die jeweils mit dem Namen einer der 9 Musen überschrieben sind. 2 5 4

^ des Exulanten Gedicht v o m Phönix gemeint ist eine Stelle aus den Metamorphosen (Buch XV, 391 bis 407) des Ovid, der 8 n. Chr. von Kaiser Auguslus nach Tomi, heute Constanza, ans Schwarze Meer verbannt wurde.

Stück

136

Ein satirischer Brief räsonniert über Absatz, Resonanz und Publikum des Patrioten. Der Brief Schreiber, der sich als verkrachter Buchhändler zu erkennen gibt, fordert den Verleger des Patrioten auf, diesen zu einem marktgerechten Schreiben zu bewegen und ihn andernfalls als Verfasser abzulösen. Die geschäftlichen Prinzipien, die er dabei verlauten läßt, sind zugleich ein Stück Verlegersatire. Von der Verfasser Schweisse, und der Buchdrucker Blute zu leben, ist die Kunst eines Verlegers (260,9f), — das ist eine klassische Formulierung satirischer Schelte dieses durch keine Zunftordnungen gebundenen, früh kapitalistische Praktiken entwickelnden Berufsstands. Daß die Autoren sich beim Schreiben nach dem Absatz, den Bedürfnissen des Markts, zu richten hätten, wird hier in der schönen Offenheit des satirischen Briefs unumwunden gefordert. Übrigens scheint das Adjektiv bzw. Adverb verlegerisch im Sinne von „dem Ethos des Verlegerberufstands gemäß" hier zum ersten Mal gebraucht (256,12f). Winnibald Höker beklagt, daß der Patriot mit seinen moralischen Kritiken viele Leser vor den Kopf gestoßen und damit als Käufer verloren habe. Inwieweit das einen realen Hintergrund hat, ist für uns nicht mehr erkennbar; prinzipiell jedoch entspricht es den Intentionen der Wochenschrift. Sie will in die Gesellschaft hineinwirken, will in der Tat Unvernünftige und Lasterhafte ansprechen, betroffen machen

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 136

427

und zu ihrer Sinnesänderung beitragen. Daß die Resonanz auf ihre Bemühungen nicht immer freundlich war, beweisen schon die vielen gegen sie losgelassenen Flugschriften. Interessant ist, was indirekt über den Vertrieb der Wochenschrift aus Winnibald Hökers betrübtem Bericht über den Rückgang seines Geschäfts zu erfahren ist. Bei aller hier sicherlich stattgehabten Übertreibung dürften seine Schilderungen doch einen realen Kern besitzen; als pure Erfindung hätten sie das damalige Publikum befremdet. — Wir erfahren da, daß der Patriot auch von Kolporteuren an den Mann gebracht worden ist, also nicht nur — das war der normale Weg in Hamburg — wöchentlich aus dem Laden des Verlegers abgeholt bzw. nach auswärts an andere Verlagshandlungen versandt wurde. W. Höker will anfangs 300 Exemplare wöchentlich vertrieben haben (256,25f.), und zwar in bestimmten Häusern Hamburgs auch mit dem Absatz von mehreren Nummern (257,22ff; 259,1ff.), desgleichen in der Nachbarstadt Lübeck, wo Kaufmannsdiener als Abnehmer genannt sind (258,19f.), aber auch durch Kolportage über Land auf adligen Gütern (257,28ff), schließlich auch durch den Versand an Schüler von auswärtigen Gymnasien, die den Patrioten halten musten (258,llff.), also Abonnenten waren. Ob der Kolporteur die Zeitschrift zum offiziellen Preis (von 1 Schilling pro Nummer) verkaufte, seinen Verdienst also aus einem vom Verlag gewährten Rabatt bezog, darüber ist nichts zu erfahren. Eher ist anzunehmen, daß er seine Ware mit einem kleinen Preisaufschlag weiterverkaufte; W. Höker spricht als gerissener Geschäftsmann davon, er habe bei adligen Käufern seine gewissen 2. Schillinge pro Blatt gehabt, was bedeutet, daß er hier 100% aufgeschlagen hätte. Auch die Bemerkung, der Patriot werde jetzt bis gar nach Spanien und Moscau hinein versandt (256,28), könnte einen realen Hintergrund haben, (s. dazu Wolfgang Martens, Gute Ratschläge von Winnibald Höker. Eine Buchhändlersatire 28

D e r Patriot, Bd. IV

428

Kommentare und Erläuterungen

im „Patrioten" (1726), in: Buchhandel und Literatur. schrift für Herbert G. Göpfert, hrsg. von Reinhart mann, Wiesbaden 1982, S. 1-14.) Vf.

FestWitt-

?

Motto Horaz, Satiren I 4,24/25. — „Die meisten erfreut diese Dichtart nicht, weil sie den Spott verdienen." 255 258

noli me tangere ^

Extra-Avisen

„Rühr mich nicht an." Prägung nach Joh. 20,17. Avisen: alter Name für

Zeitungen.

11 Königslutter Kleine Stadt im Herzogtum Braunschweig, bei Wolfenbüttel; heute Kreis Helmstedt, Niedersachsen. Königslutter] W i n d i g h e i m B. 271.

bey der hochloblichen Judenschafft

vgl. die Erl. zu 109,15.

32 itzt-beregten regen: „erwähnen, Meldung thun; nur im Oberdeutschen, wo dafür auch ,beregen' üblich ist. ,Die oben geregte' oder ,beregte Sache'". (Adelung).

259

35

gekörnet

'

Reisedumm

lf.

Rindolfi

2

Neidwitzin

vgl. Stück 45.

Nausichtin

vgl. Stück 92.

17 f.

körnen: anlocken (durch hingestreute

Futterkörner).

vgl. Stück 63.

vgl. Stück 47.

wenn er seinen Willen hat

wenn er es denn so will.

22 f . schlechteste von allen Robinsons In Nachahmung von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) erschienen zahlreiche, oft minderwertige Romane, die den attraktiven Namen Robinson als Titelbestandteil verwendeten (Robinsonaden). 26Q 2^1

29

Fuchs-Schwantz

vgl. die Erl. zu I, 158,27; I, 423,9 und II, 28,7f.

allgemeine historische Lexicon Buddei

vgl. die Erl. zu 27,17.

ZK Jahrgang 3 /1726,

Stück 137

429

Stück 137 Ein satirischer Brief handelt von der Gelehrtenkritik des Patrioten. Dieser preist die wahre Gelehrsamkeit und konfrontiert einen oberflächlich-galant Gebildeten mit einem nützlichen Gelehrten. Das Schreiben des Humphredus von Drachenblut kennzeichnet seinen Verfasser hinreichend, nicht zuletzt auch durch schwülstige Metaphorik (262,13ff). — Tatsächlich, es ist zu wiederholen, ist der Patriot skeptisch gegen einen Ueberfluß an Gelehrten. Nützliche güterproduzierende Personen sind ihm im Sinne des Gemeinwohls wichtiger. Daß ein Kaufmann vor einem Magister oder Doktor beglückt den Hut ziehe und froh sei, daß ihm dieser geschäftlich nicht in die Quere komme, wie der Briefschreiber meint, trifft genau den springenden Punkt: Ein tüchtiger Kaufmann steht in der Schätzung vernünftiger Bürger weit höher als unbedarfte Träger akademischer Titel. — Mit dem Vorwurf des Humphredus, der Patriot, ohnehin ohne akademische Legitimation zu seinem Lehramt, habe die deutsche Sprache so erniedrigt, daß selbige auch nunmehro von dem geringsten Bauer kann verstanden werden (226,13ff.), wird indirekt die hochtrabend-pedantische — wenn nicht lateinische — Schreibart von Gelehrten verurteilt, die ihre Erkenntnisse dem nichtgelehrten Teil des Publikums unzugänglich macht, während der Patriot eine klare, gewandte Schriftsprache als Medium der Verständigung zwischen Gelehrten und Ungelehrten, namentlich den Frauen, fordert und praktiziert. Die Stellungnahme des Patrioten hebt den großen Nutzen wahrer Gelehrsamkeit hervor. Statt aber gegen Pedantentum, gegen humanistisch-antiquarische Schulgelehrsamkeit Front zu machen, wie in anderen seiner Stücke, spielt der Patriot profunde nützliche Gelehrsamkeit hier aus gegen die galante Erudition, die vor allem in der höfischen Welt — mit deutlicher Wendung gegen das schulfüchsische akademische 28*

430

Kommentare

und

Erläuterungen

Ideal — in Kurs gekommen war, — eine auch an den Ritterakademien geleistete mehr formale Erziehung zur Behauptung in der„großen Welt". Diese französisch geprägte, vornehmlich auf Manieren und Konversation gerichtete galante Bildung scheint dem Patrioten oberflächlich und verderblich, — Kenntnisse und Lesestoff des Herrn Galant sagen genügend darüber aus. Daß der Herr Solide, der es sich auf Universitäten hat sauer werden lassen, eines Tages vom Sekretär des Herrn Galant zum Hofrat aufsteigt und Mitglied des geheimen Rates wird, während der alberne Herr Galant unbedeutende Vorzimmerfunktionen bei seinem früheren Untergebenen wahrnimmt, — aus der Gegenüberstellung zweier moralischer Charaktere ist eine kleine moralische Erzählung geworden! —, entspricht einem Wunschbild der Zeit: daß der tüchtige Bürger beim Fürsten Rat und Minister werden könne, Hofbeamter ohne höfisch-galantes Gebaren, anstelle unqualifizierter, aber durch ihre Geburt privilegierter und durch ihre Erziehung hoffähiger Adliger, — einem Wunschbild, das freilich in vielen absolutistisch regierten deutschen Territorien des 18. Jahrhunderts nicht zur Wirklichkeit wurde. Der Patriot beschließt das Stück mit einem Lob der Gelehrten Hamburgs (zu denen ja auch die meisten Mitglieder der Verfassergesellschaft der Wochenschrift selber zu zählen sind). Die Bemerkung, die Hamburger Jugend ziehe wohlvorbereitet auf die Universitäten, ist eine Reverenz gegenüber dem Hamburger Akademischen Gymnasium und seinen Professoren; auch hier wird hamburgisches Selbstgefühl gepflegt. Die einleitende Feststellung, der Patriot sei mit Briefen überhäuft, könnte durchaus einen realen Hintergrund haben.

zu Jahrgang Vf.

431

3 / 1726, Stück 138

t

Motto Plinius (d.J.), Epistulae IX 23,2. - „Du kennst mich, und zwar aus meinen Schriften." 2 6 2

^ Helicons der Musen.

2^3

^ Tadlerinnen Anspielung auf Gottscheds Wochenschrift nünftigen Tadlerinnen, Halle—Leipzig 1725/26.

2 6 4

Pharsalischen Schlacht und Pompejus 48 v. Chr. 30 fehler

Helikon:

griech. Gebirge,

Schlacht

in der alten Mythologie

bei Pharsalos

Bacalaureos] Baccalaureos (versehentlich des Originals).

2 6 5 2 6 7

drittehalb Jahr ^ 13 f.

2 6 8

Devaluation

zweieinhalb

Jahre

Die Ver-

zwischen

nicht korrigierter

34 Vossius gemeint ist vermutlich der große holländische Gerhard Johann Vossius (1577-1649). (das dritte Jahr

Sitz

Cäsar Druck-

Polyhistor

halb).

Abwertung.

ein grosser Kayser

Anspielung

unklar.

7 Europa die Gestalt einer sitzenden Jungfer „Die äusserliche Gestalt betreffend, so vergleichen es einige der Alten mit einem Drachen, einige aber von denen neuern Erd-Beschreibern sagen, daß es einer sitzenden Jungfrau ähnlich sey, da denn dieser Einbildung nach, die Fontange Portugal, und Spanien der Kopff sein soll, durch Languedoc und Gascogne wird der Halß, durch Frankreich aber die Brust, durch Italien und Groß-Britannien die Aerme, durch Teutschland der Bauch, durch Böhmen der Nabel, das übrige Theil aber des Leibes durch die übrigen Königreiche und Provintzien vorgestellet." (Zedier). 25 Arleqvinianis . . . passe-tems von Hanswurstkomödien, Feenmärchen, Romanen, poetischen „Nebenstunden" und Schriften zum Zeitvertreib.

Stück 138 Der Patriot moralisiert über die menschliche Unzufriedenheit und veranschaulicht seine Gedanken an Beispielen.

432

Kommentare

und

Erläuterungen

Das Thema wurde bereits mehrfach angesprochen, so in den Stücken 12, 13, 46, 80 und 85. Der Geizhals Harpagon verdient Tadel, weil er sein Vermögen nicht zu seiner Bequemlichkeit und zum Besten der Nächsten anwendet, sondern nur nach immer mehr Geld dürstet. Bezeichnenderweise ist er nicht als Kaufmann dargestellt, der Handelsgeschäfte betreibt, oder als Bürger mit einem Gewerbe, sondern als Kapitalbesitzer, der offenbar nur seine Zinsen kassiert und wieder anlegt. Dieser Unvergnügte ist also gleichzeitig auch sozialökonomisch unproduktiv. War im Stück 78 Aufstieg und Fall des ehrgeizigen Ministers Alfanzara geschildert worden — der Patriot erinnert daran —, so ist im vorliegenden Stück vom unersättlichen Ehrgeiz eines Fürsten die Rede. Die Kritik an den Ambitionen der grossen Helden, oder so genannten Welt=Bezwinger (274,23f.) ist deutlich. "Wenn der Patriot das Wohldes Volkes als das wahre Ziel eines ehrliebenden Fürsten bezeichnet, formuliert er die Devise des aufgeklärten Absolutismus. Daß mit Hans Tolf eine Figur aus dem Bauernmilieu Gegenstand moralischer Charakteristik wird, ist ungewöhnlich. Der Aufklärer betrachtet Bauern im allgemeinen noch nicht als Vernunft- und damit tugendfähig und insofern auch noch nicht als moralisch kritisierbar. Mit der Frau von Eitelsinn und der Frau Sauertopf werden typische moralische Charaktere entworfen. Sie wären als lasterhafte Figuren auch in der satirischen Verlachkomödie der Aufklärung vorstellbar. Als Ursache für die verschiedenen Spielarten der Unzufriedenheit nennt der Patriot eine unordentliche Eigenliebe. Wahre Eigenliebe dagegen ist eine Eigenliebe, die sich der Kontrolle der Vernunft unterwirft und daher maßvoll ist. Leidenschaften, Begierden, Affekte, der Eigenliebe entspringend, sind für sich selbst nichts Schlechtes, sind nicht etwa generell zu bekämpfen. Sie sind vielmehr unentbehrlich,

zu Jahrgang

3 /1726,

Stuck 138

433

weil sonsten aller Trieb, etwas Gutes auszuführen, aufhören würde (278,19ff.). Der Patriot lehrt damit hier nicht eine fromm-asketische Selbstverleugnung, die Ausmerzung aller sündlichen Eigenliebe und damit Demut und Humilitas in der Nachfolge Christi, um so Geiz, Ehrsucht, Eitelkeit und Misanthropie den Garaus zu machen, sondern er baut auf die natürlichen eigenen Kräfte des Menschen. Die Vernunft wird die Eigenliebe (deren natürliche Tendenz zum Bösen immerhin noch konzediert wird: 278,6f.) domestizieren und nutzbar machen. — Dem entspricht das dichterische Bild, das hier vorgestellt ist. Die alte christliche Allegorie vom Lebensschifflein, wo der Heilige Geist der Wind in den Segeln, Christus der Steuermann und der Hafen die Ewigkeit ist, ist abgelöst durch eine weltliche — übrigens bereits in der Stoa vorgebildete — Vorstellung: Die menschliche Eigenliebe mit Affekten und Leidenschaften ist der Wind, die Vernunft führt das Steuerruder, die irdische Glückseligkeit ist der Hafen (278,21ff.). — Ganz ähnliche Vorstellungen hat Johann Adolf Hoffmann, dem die Verfasserschaft an diesem Stück zuzuschreiben ist, in seinen Zwey Büchern von der Zufriedenheit (Hamburg 1722) bereits entwickelt. Die säkulare, diesseitige Orientierung ist unverkennbar. Auch wenn bei der vernünftigen Regulierung der Affekte die Wendung von ungezweifelter Hoffnung des Gottlichen Beystandes mit eingeflochten wird und von der Gottwohlgefälligkeit irdischen Glücksgenusses die Rede ist (279,15f.), ist die Zuwendung zur Welt in diesen Ausführungen das Entscheidende. Die Alternative Vergnügen — Mißvergnügen, die das ganze Stück strukturiert, bezieht sich auf das irdische Leben. Zufriedenheit in dieser Welt, „irdisches Vergnügen", ist intendiert, — die christliche Hoffnung auf ein Leben im Jenseits wird nicht angesprochen. (Zum Allegorischen vgl. Peil (1975), bes. S. 264ff.)

434 Vf.

Kommentare ]. A.

und

Erläuterungen

Hoffmann

Motto Horaz, Epistulae I 3,25—27. — „Wenn du die nichtigen fahren lassen könntest, gingest du, wohin dich himmlische Weisheit 2 7 2

20 Harpagon vare (1668).

„Angelhaken";

30

belegen

2 7 4

1

Scythen

2 7 5

11 15f.

Tolfs Tolf: „Tölpel". seiner Botmassigkeit

Hauptgestaltin

Molieres Komödie

Sorgen führte." L'a-

anlegen. vgl. II,

64sten Blate

345,15ff.

seinem

Amtsbereich.

2 7 7

^^

2 79

l-' fdes weisen Mannes Ausspruch vgl. Prediger Salomo 2,24: „Ist's nun nicht hesser für den Menschen, daß er esse und trinke und seine Seele guter Dinge sei bei seinem Mühen? Doch dies sah ich auch, daß es von Gottes Hand kommt." sowie Pred. 5,77: „So habe ich nun das gesehen, daß es gut und fein sei, wenn man ißt und trinkt und guten Mutes ist bei allem Mühen, das einer sich macht unter der Sonne in der kurzen Zeit seines Lebens, die ihm Gott gibt; denn das ist sein Teil."

irrtümlich für: 46sten

Stück.

Stück 139 Der Patriot veröffentlicht den Brief eines jungen Mannes, der schlimme Erfahrungen als Waise gemacht hat, sowie einen weiteren Brief, der von anonymem Wohltätertum handelt. Das Stück dient der Sensibilisierung der Leser für Fragen der Waisenfürsorge. Der Bericht des Christian Ehrlich könnte — bei aller hier eingebrachten Verfremdung und latenten Ironie — auf realen persönlichen Erfahrungen des Briefschreibers beruhen. Dafür spricht eine ungewöhnliche Detailgenauigkeit, etwa bei der Schilderung der Schulbildungsumstände (283,11ff.), und die Erwähnung von moralisch irrelevanten Fakten, z. B. daß die vergeblich angegangene Waisenstiftung von den

zu Jahrgang

3 / 1726, Stück 139

435

Vorfahren des Bittstellers ins Leben gerufen wurde (282,4f). Dafür spricht auch, daß der Patriot selber im Nachwort dem Bittsteller gewisse Hilfen anbietet. Eine böse Erfahrung Christian Ehrlichs ist die Behandlung der Familie bei fürstlichen Behörden. Nach dem Tod des beamteten Vaters wird die rückständige Besoldung auszuzahlen verweigert, die Bitte um ein Stipendium für den Sohn abgeschlagen, — für die Leser des Patrioten ein Beispiel mehr für Willkür und Ungerechtigkeit in Monarchien. Noch irritierender aber ist das bei Hofe geforderte Benehmen. Den verstorbenen Vater gegenüber einem Minister zu würdigen, statt seinen Wert devot herabzuspielen, ist bei Hofe unschicklich, dagegen entspricht es dem Wohlstand, dem gehörigen Betragen in der großen Welt, eine zustehende Leistung als Gnade zu bezeichnen und auch bei der Verwehrung dieser Leistung untertänigste Danksagungen abzustatten. Der Briefschreiber selber nennt diese Art von Wohlstand eine Heuchelei, Ahrt von abgenötigter Falschheit (286,23). Falschheit, Verstellung bei Hofe, ein ständiges Thema aufklärerischer Sozialkritik, sind hier für den freien Bürger erneut abschreckend gezeichnet. Daß Mittel einer Stiftung wegen Fehlens formaler Voraussetzungen nicht gewährt werden und der Verwaltungsbeamte sich dabei auf seine Amtstreue beruft, ist keine moralische Verfehlung, sondern eine in Vorschriften begründete soziale Härte. Gerade daß dieser Fall erwähnt wird, spricht für einen echten Kern der geschilderten Erfahrungen. Dagegen ist das Verhalten des Hartmut Goldknecht durch und durch „lasterhaft". Scheinbar ein Wohltäter, nutzt er als Vormund seine jungen Verwandten aus. Daß er seinen Geiz religiös drapiert, macht ihn zum frommen Heuchler; in einigen Zügen erinnert er dabei an die Betschwester Gellerts (1745). — Der kurze Brief des Gottlieb Habedank liefert motivisch den Kontrast zum Vorhergehenden. Edles Wohltätertum, das demonstriert er, bewährt sich in der Anonymität.

436 Vf.

Kommentare

und

Erläuterungen

t

Motto Ausonius, Septem sapientum sententiae 39/40. - „Wenn du gut bandelst, magst du es ruhig vergessen; behalte aber ständig in Erinnerung, was du Gutes empfängst." 2 g J

2 8 2 2 8 8

10 Rat.

ohne daß man ihr den Raht gab

25

Wohlstand Interesse

darüberhinaus

vgl. Erl. zu I, 57,36 sowie obigen

gab man ihr den

Kommentar.

Zinsen.

^ Prinz-Metall „ist ein aus sechs Theilen Kupffer und einem Theile Zinn zusammen geschmoltzenes Ertz, welches der Farbe nach fast dem Golde gleichet, und woraus allerhand saubere Arbeit verfertiget wird" (Zedier).

Stück 140 Der Patriot erzählt die Geschichte der Troglodyten aus den Lettres Persanes. Montesquieus Persische Briefe waren 1721 erschienen. Die darin eingebaute Troglodytengeschichte erscheint hier ziemlich frei übersetzt, mit einigen Kürzungen u-nd Umstellungen. Daß der Patriot vorgibt, er habe die Geschichte einst aufgefunden und sie dem Autor der Lettres Persanes auf Ansuchen in Abschrift zugesandt, ist ein Stück scherzhaftes Maskenspiel der Verfasserfigur. Die Geschichte selber demonstriert am Verhalten und am Schicksal der Troglodyten die Notwendigkeit gesellschaftlich-politischer Assoziation und das Erfordernis einer entsprechend ,,tugendhaften" sozialen Gesinnung. Sie paßt damit ohne weiteres in das patriotische am Gemeinwohl orientierte bürgerliche Konzept, zumal der Schluß der Erzählung, der 14. Brief der Lettres Persanes, in dem das Problem der Wahl eines Königs aufgeworfen wird, hier fortgelassen ist.

zu Jahrgang

3 /1726,

Stück 140

43 7

Die Einkleidung ins farbige Gewand barbarisch-archaischer Zeiten im Orient kam dem Leserbedürfnis nach Beschäftigung der Phantasie entgegen. Gezeigt wird, wie rücksichtsloser, gewalttätiger Egoismus, anarchisches Handeln im bellum omnium contra omnes, zum Verderben Aller führt, und zwar im Hinblick auf die Ernährung, den Bestand von Familien, die Gesundheit, die Wirtschaft, das Eigentum und das nackte Leben überhaupt. Es wird gezeigt, wie aus der Erfahrung der Not ein neues, gesellschaftlich solidarisches Denken und Fühlen erwächst und entsprechendes Handeln zur Wohlfahrt Aller führt. Es wird gezeigt, wie eine auf den bösen Erfahrungen basierende kluge Pädagogik Früchte trägt, das Handeln der jungen Leute altruistisch wird (295,1ff.) und wie die neue Gemeinschaft, bereit, für die Wohlfahrt des Landes zu sterben, auch die äußeren Feinde abwehrt. — Auf Fragen der Verfassung des Gemeinwesens, auf die Form der Obrigkeit, ist nicht eingegangen. Tugendhafte Gesinnung allein schon scheint ein harmonisches Miteinander der Menschen zu garantieren. Wichtig ist eines: Die Sozialmoral der vernünftigen Nachkommen der Troglodyten erwächst von selbst. Sie ist nicht etwa durch göttliches Gebot, durch heilige Gesetzestafeln, dekretiert. Zwar lautet das erste der beiden Gebote der Verfassung: Dankt GOtt, der uns errettet hat!, aber von Gottes Eingreifen, Gottes Willen, Gottes Ordnung ist zuvor nichts zu vernehmen; es handelt sich um eine leere obligate Formel. Soziales Verhalten entsteht aus dem wohlverstandenen Interesse Aller. Die Natur hat es so gefüget (295,12f.). Nächstenliebe ist, unabhängig von einem göttlichen Gebot, das Vernünftige und Zweckmäßige, — ohnehin spricht der Text lieber von Billigkeit, deren Kernsatz lautet: Was einer dem andern thut, das geschehe ihm wieder! (294,31f.). Die rein säkulare Fundierung dieser Moral ist offenkundig.

438 Vf.

Kommentare C. F. Weichmann

und

Erläuterungen

(?)

Motto Cicero, De officiis I 7,22. — „ Unsere Pflicht ist es, der Natur als Führerin zu folgen und zum allgemeinen Nutzen durch Austausch von Dienstleistungen, durch Gehen und Nehmen beizutragen, durch unsere Kenntnisse, unser Tun und unsere Fähigkeiten, die Verschiedenheit unter den Menschen zu verbinden." 2 9 0

^

Aufnemen

20

copeylich

Aufnehmen: in

Aufstieg,

Wachstum.

Abschrift.

21 Troglodyten g riech., Höhlenbewohner; turstufe stehende Völker. 291

15

2 9 3

darf

vgl. Erl. zu I,

Tomans 12

Dingen

26

gehudelt

104,32.

Toman: persische Appellieren,

allg. für auf niederer Kul-

Münze.

Unterhandeln.

geplagt.

Stück 141 Der Patriot veröffentlicht den Brief eines prozeßhungrigen Advokaten und verurteilt Gesinnung und Praxis aufs Geldschneiden versessener Juristen. Wiederum wird die Form des satirischen Briefs benutzt. Postulantius von Allermann, der sich als Bruder des Gründers der Gelehrtenruhmskasse im Stück 135, Euphemius von Allermann, bekannt macht, gibt in der Schilderung seiner Leistungen eine enthüllende Selbstcharakteristik. Sein schließliches Schicksal demonstriert, daß sich lasterhaftes Verhalten auch im Advokatenstand am Ende nicht auszahlt. Der Extract aus der Einleitung zur Advokatur des Herrn Postulantius liefert das Muster der Verpflichtungserklärung eines Klienten gegenüber seinem Advokaten, in der dieser mit allen Vollmachten und Rechten ausgestattet, der Klient aller Rechte und Mittel beraubt, dafür aber rigoros zu Zah-

zu Jahrgang

3 / 1726, Stück 141

439

lungert an seinen Advokaten festgelegt wird, — abgefaßt im Stil altfränkischer Kanzleisprache (ähnlich wie der nach allen Regeln der Advokatenkunst verklausulierte Ehezarter im Stück 72). Für den Leser ist das lustig und lehrhaft zugleich abgefaßt. Die Gerissenheit skrupelloser Advokaten wird angeprangert, das herkömmliche Juristendeutsch verspottet. Daß der Patriot in Prozeßhanseln und ihren Nutznießern einen schweren sozialen Schaden sieht, versteht sich. (Vgl. auch die Stücke 19 und 57!) Er weist am Schluß darauf hin, daß man in Hamburg an den verantwortlichen Stellen darauf bedacht sei, das leidige Prozessieren einzuschränken: der Bürger darf auf die Rechtsordnung in seiner Stadt stolz sein. Im übrigen erinnert ihn der Hinweis auf den Rechtsgelehrten Eudoxius (Stücke 9 und 19) daran, daß es auch vorbildliche Juristen gebe.

Vf.

(Einsendung)

Motto Ulpianus, in: Digesta Iustiniani Augusti III 1,1,4. — „Es sprach der Prätor: Wenn sie keinen Anwalt haben, werde ich ihnen einen gehen." 2 9 8

8

Anschlagen

14

Nativitat-Stellers

Anschlag:

Ratschlag,

vgl. Erl. zu

Empfehlung. 179,2.

15 Ehren-Linie „in der Chiromantie, eine Linie unter dem Goldfinger, welche das künftige äußere Ansehen und die Ehrenstellen einer Person verkündigen soll" (Adelung). 2 9 9

3 0 0

2f. tiers.

in des einzigen Rentenirers . . . Hause

25

Advisen

34

Misogenus

35

ienerley] einerley (Druckfehler

^

pratense

14

Portugalösern

Avisen:

allein im Hause des

Zeitungen.

„Sippenfeind". dieses

Neudrucks).

hehauptetermaßen. vgl. Erl. zu 1, 17, l. Sp.

Ren-

440

Kommentare und Erläuterungen

27 Folge-Diener ständig begleitet. 34 302

Diener, der seinem Herrn auf dem Fuß folgt, ihn

Stadt-Buche

vgl. Erl. zu 102,7f.

Expens-Zettel

Gebührenrechnungen.

4 cerebrinischen Moderation (aequitas cerebrina). 303

Cautela: 30

304

Billigkeitsgründen

Vorsichtsmaßnahmen.

Postulantius

10

JCtus

„Fordermeier".

Abkürzung für Jurisconsultus;

gelehrten Lebens-Casse

vgl.

Rechtsgelehrter.

248,1ff.

21

Palmarium

24

omni exceptione majus jeder Einrede überlegen.

29 f. 30

Pitschaft

Advokatenlohn.

Petschaft, Siegel.

Descendentes in infinitum

Nachkommen

31—305,1 in linea adscendenti vel collaterali in der Seitenlinie. 303

aus

ich] in (Druckfehler dieses Neudrucks).

9

10 f.

Minderung

® Mandatarii cum libera Sc Consulentis Bevollmächtigten und Ratgebers. 11

Verzeihung

bis ins Unendliche. in elterlicher Linie oder

eines

uneingeschränkten

hier: Verzicht.

12 f. Exceptionis doli & pacti de quota litis der Einrede der Arglist und eines speziellen Vertrags zwischen Anwalt und Klient. 13 f.

laesionis ultra dimidium

einer überhöhten

Vergütung.

19—21 per expressum vires . . . jurato factae ausdrücklich die Kraft eines Beweismittels, einer rechtskräftigen Sache, eines beschworenen Geschäfts. 27—29 dem bekannten Canone . . . Judicis der bekannten Maßgabe, daß ein Testament bereits bestehende gesetzlich-rechtliche Bestimmungen außer Kraft setzt. 29

in antecessum

im voraus.

zu Jahrgang J /1726, Stück 142 3 0 6

" 33f.:

bevorab fehlt

vornehmlich,

441

zumal.

B.

Stück 142 Der Patriot stellt Betrachtungen über eine vernünftige Reue an. Das Stück knüpft an das 134. an, das vom Gewissen gehandelt hatte. Wiederum ist es ganz ernsthaft gehalten, ohne ein unterhaltsames Element und ohne Abwechslung in der Darbietungsweise. Es nimmt auf den bevorstehenden Bußund Bettag bezug. Getreu der von ihm vorgenommenen Abgrenzung der „Ressorts" befaßt sich der Patriot in seinen Darlegungen nur mit dem, was vom Standpunkt der Weltweisheit zum Thema Reue und Buße zu sagen ist. Es geht ihm nur um das Erkenntniß der blossen Vernunft (314,27) in dieser Angelegenheit, — nach der Vernunft allein (307,16), einzig aus den Gründen der Vernunft (307,21f.) will er seinen Gegenstand behandeln, wobei er konzediert, daß die Gründe, die die Offenbarung liefere (und die vorzutragen Sache der bestellten Geistlichen ist), noch weit überzeugender und stärker seien (314,27ff). Immerhin gestattet er sich, seine Gedanken wieder mit Sprüchen des biblischen Sittenlehrers Jesus Sirach zu beschließen. Das Stück ist ein weiteres Beispiel für die neue weltlichphilosophische Ausrichtung des Denkens, die an die Stelle der alten christlichen Orientierung rückt. Für den zeitgenössischen Leser dürfte die grundsätzliche Abkehr von der alten christlichen Bußlehre dabei wenig spürbar gewesen sein, denn der Text schließt nicht nur mit Bibelzitaten, sondern er arbeitet unbefangen auch mit geistlichen Termini wie Buße, bußfertig, Sünde, Sünder und sündliches Wesen (309,22), fleischliche Vergnügungen (309,34) etc., und er versäumt nicht, den vernünftigen Bemühungen um Reue und Umkehr

442

Kommentare

und

Erläuterungen

mit der Formel unter Gottlichem Beystande (313,16f.; 314,18) die Qualifikation sündhafter Eigenmächtigkeit zu nehmen. Gleichwohl meint der ganze Ansatz die Besserung des Menschen aus eigener Kraft der Vernunft. Man muß von seinen Übeltaten eine klare Überzeugung erlangen; man muß, nach genauer Untersuchung, sich entschließen, die Lockungen und Veranlassungen zum Laster zu meiden; man muß seine Verfehlungen wieder gut machen; man muß sich für die Zukunft streng kontrollieren und auch in seinem äußeren Betragen tadellos sein. Diese fünf Pflichten gilt es zu erfüllen. Und das ist etwas ganz anderes als die Buße im alten frommen Verstände der Metanoia, der Umkehr aus dem Glauben. Daß Gott es ist, der beides wirkt, das Wollen und das Vollbringen (Philipper 2,13), daß das Ringen um die Gnade im Gebet die erste und entscheidende Voraussetzung wahren Sinneswandels ist, davon spricht der Patriot nicht, — die Abgrenzung der Kompetenzen überhebt ihn dessen. Der Leser aber gewöhnt sich arglos an den vernünftigen, weltlichen Bußbegriff, der ihm hier geboten wird. Ja er findet Anlaß, die christliche Bußpraxis als fragwürdig anzusehen, denn gerade gegen sie, jedenfalls gegen ihre äußerliche Handhabung, wird auch polemisiert. Das Fasten, das Anlegen schwarzer Kleidung, ein zusätzlicher Kirchgang, bußfertiges Gebaren (308,16ff.) rücken in ein negatives Licht, unser Kirchen»gehen, unser Fasten, unser Beten und Seufzen (309,8f.) scheint etwas ganz oberflächliches zu sein; Buß=Bezeugungen im Sacke und in der Asche, Allmosen=geben und Fasten sind nichts (312,15f.), wenn man nicht zu einer Vernunft=massigen und damit tätigen Reue (309,17) gelangt. Der Leser wird — mit gehorsamstem Respekt vor den in der Offenbarung gegebenen Mitteln zur Buße — klar für eine vernünftig-säkulare Sinnesänderung eingenommen. (Das gilt auch für die Buchausgabe, die mit einigen Zusätzen dem christlichen Bußbegriff Reverenz zu erweisen sucht.)

zu Jahrgang 3 /1726,

Stück 142

443

Die zu meidenden Sunden sind gesellschaftliche: Verschwendung, Betrug, Unzucht, Verleumdung. Die zu meidenden Verlockungen zu solchen Verfehlungen sind gewisse müßiggängerische Ergötzlichkeiten, ein aufwendiges Gebaren, Theaterbesuch, Glücksspiel und die Lektüre gefährlicher Bücher: streng bürgerliche und fromme asketische Bedenken scheinen hier zu konvergieren, und die Verhaltensregeln, die im Sinne einer rechtschaffenen Reue anempfohlen werden, ergeben ein gleiches Bild. Sie laufen auf eine Selbstdisziplinierung hinaus: Vermeidung von Müßiggang, nützliches Tätigsein, fleißige Berufsarbeit, Ergötzlichkeiten nur der Gesundheit wegen, ständige Selbstkontrolle. Es sind Forderungen, wie wir sie etwa im Lebensplan Benjamin Franklins wiederfinden, — ein Puritanismus, den der Patriot sonst so nicht hervorkehrt. Vom möglichen Nutzen der Schauspiele ist hier nicht die Rede und vom vergnügten Genuß rechtmäßig erworbener Güter und göttlicher Wohltaten ebenso nicht. Eine vollkommene Zufriedenheit des Gewissens und eine Vergnügung in unserer Seele (312,23ff.) sind offenbar das einzige, was eine vernünftige Bußtagsbetrachtung an Lebensfreude verheißen darf

Vf.

C. F. Weichmann

Motti Ausonius 12,11, p. 324. - „Ich bin die Göttin, welche für Getanes und nicht Getanes bestraft." Seneca, Agamemno 243. — „Wen es reut, sich vergangen zu haben, der ist fast unschuldig." Motto B

S u M M I MATERIAM MITTAMUS.

MALI

S C E L E R U M SI B E N E

ERADENDA

POENITET,

CUPIDINIS

P R A U I SUNT ELEMENTA.

— —

HORATIUS.

Horaz, Oden III 24,49-52. - „Laßt uns den Stoff des großen Übels fortschaffen. Wenn uns die Freveltat ernstlich reut, seien die Keime der schnöden Begier vertilgt." 29

Der Patriot, Bd. IV

444

Kommentare

und

Erläuterungen

3Q/

23 betragen müsse.] betragen müsse. Ich sage: e i n z i g aus den G r ü n den der V e r n u n f t ; und will dahero nicht hoffen, daß iemand so vorsetzlich blind und boshaft werde seyn können, mich eines geflissenen Heidenthums zu zeihen, wann ich des wahren lebendigen Glaubens an unsern theuersten Erloser unter denjenigen Stücken der Busse nicht erwehne, wozu uns das blosse Licht der Natur anweiset. Meine Gedancken beschränkken sich allhier in dem, was uns vor unserm eigenen Gewissen unsträfflich machet. Wer wird so albern seyn, und deßwegen die Ehr-Furcht und Hochachtung in Zweifel ziehen, die ich, als ein erleuchteter Christe, für dasjenige habe, wodurch wir in unserer Busse vor G O T T gerecht und selig werden? B.

3 0 8

e ' n e w " r k l i c h e Aenderung . . . nach] einen wircklichen und ernstli^ chen Vorsatz zur Besserung des Lebens nach B.

3 1 0

^

3 1 2

20—22 Busse, . . . davon ist] vernunftmassigen Busse, und die Erfüllung desselben ist B.

geleben

nachleben,

Folge

leisten.

26 erlangen können.] erlangen können, und die dem höheren Frieden mit G O T T , und der geistlichen Freudigkeit eines Gerechten im geringsten nicht zuwieder ist. B. 3 1 3

23

alle Bemühung] alle andere natürliche Bemühung B.

25f. auch plötzlich verschwindet.] auch den geoffenbarten Mitteln zur geistlichen Bekehrung entgegen arbeitet. B. 3 1 4

22

ewigen] fehlt

B.

30 auch noch . . . überzeuget werden.] auch mit solchen Mitteln versehen werden, die zu einem gottlichen Seelen-Frieden dienen, und von rechtschaffenen Christen mit einer heiligen Ehrerbietung anzuwenden sind. B.

3 1 5

34—315,3

Spare deine Busse . . . den Tod!

'

solange.

4 ff.

weil

Wer sich waschet . . .

Sir.

34,30f.

Sir.

18,22.

zu Jahrgang

3 /1726,

Stück 143

445

Stück 143 Ein Briefschreiber beschwert sich über übermäßige Pflasterreinigung in Hamburg, ein zweiter präsentiert eine Liste von durch den Patrioten bewirkten Änderungen im Denken und Betragen gewisser Personen. Beide Briefe sind scherzhaft gehalten. Wenn der Herr Leisegang den Patrioten auffordert, doch endlich gegen den Mißbrauch bei der Pflastersäuberung durch Mägde einzuschreiten, die den ganzen Sand zwischen den Pflastersteinen fortscheuerten, berührt er im Sinne des Patrioten einen das Gemeinwesen angehenden Schaden, — nur daß es sich hier um eine Nichtigkeit handelt, der gegenüber patriotisches Engagement fehl am Platze wäre. Vermutlich hatten Hamburger Mägde tatsächlich zuweilen zuviel des Guten getan; einheimische Leser dürften die Anspielung darauf mit Vergnügen gelesen haben, zumal die vom Briefschreiber gebrauchten Vergleiche bei der Beschreibung des Pflasterzustands recht lustig ausgefallen sind (317,6—12). Der zweite Brief schildert in scherzhafter Weise an einer ganzen Liste von Beispielfiguren die Wirkung, den ,,Erfolg" der Moralisierungsbemühungen des Patrioten. Daß die Wochenschrift Veränderungen hervorbringe im Denken und Handeln der Leser, ist in der Tat die Intention des Patrioten; daß sein Publikum Empfindlichkeit (318,15) zeige für die Tugend, seine Papiere daher Nutzen tragen, ist sein erklärtes Ziel. Und es entspricht prinzipiell der Konzeption der Aufklärung, durch vernünftige Belehrung und Überzeugung Besserung zu wirken, den Menschen pädagogisch von seinen Lastern zu lösen, ihm — mit Kant zu sprechen — zum Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu verhelfen. Das Reizvolle und Witzige bei der hier vorgeführten Liste aber ist, daß die Veränderungen, die der Patriot bewirkt habe, nun keineswegs ernsthaft als Bekehrungen vom Laster zur Tugend vorgestellt werden, wie das in anderen 29»

446

Kommentare

und

Erläuterungen

deutschen Wochenschriften durchaus zu beobachten ist: nach vernünftiger Belehrung ändert man dort in der Tat seinen Charakter (im Patrioten selbst geschieht das im Stück 10. Vgl. 1, 85,16ff.)! Vielmehr erweisen sich diese Veränderungen, bei Lichte besehen, als recht zweifelhaft: Johann von Filtzhut will jetzt nur noch zwei Drittel seiner Zollabgaben hinterziehen, der Verleumder Neidelmann hat gestern nur noch von 7 Personen übel geredet usw. Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu tugendhafter Selbstbestimmung wird hier scherzhaft karikiert. Und das heißt: der Patriot ist in der Lage, sein aufklärerisches Engagement zu verulken. Moralisierender Ernst ist mit Witz versetzt. Der Unterschied zur geistlichen Morallehre, wie sie auf den Kanzeln und in den Erbauungsbüchern vorgetragen wurde, ist hier greifbar. Die genannte Liste ist zugleich ein kleines Repetitorium für die Leser des Patrioten, geeignet, diese zum Wiederlesen der früheren Stücke zu veranlassen; der Patriot selber sieht das so (322,5). Für später hinzugekommene Leser ist es ein Anreiz, sich die früheren Blätter noch zu besorgen. Die Angabe, die Stücke vom Tode (St. 11) und von der Ewigkeit (St. 14) seien ins Französische, Dänische und Russische übersetzt, dürfte der Wahrheit entsprechen. Freilich sind nur die französischen Übersetzungen, — wir zählen sie zu den Flugschriften um den Patrioten —, nachweisbar. (Vgl. dazu Martens (1964)). Vf.

>

Motti Horaz,

Vergil, Georgica IV 6. - „Im Dürftigen Mühe." Satiren II 3,50. — „Der eine links, der andere rechts

Motto

B

abgeht."

A N PROFECTURUS SIM, NESCIO: MALO SUCCESSUM MIHI,

QUAM FIDEM DEESSE. SENECA.

Seneca, Ad Lucilium epistulae morales 25,2. — „Ob ich mich daran machen soll, ich weiß es nicht: lieber soll es mir an Erfolg als an Frömmigkeit mangeln."

447

zu Jahrgang 3 / 1726, Stück 143 T) J (y

14

3 1 7

Pfriemen Werkzeug von Schustern und Sattlern zum von Leder oder Holz. 14

entsiehet

Fleete

sich entsehen: sich scheuen, sich

entblöden.

schiffbare Kanäle, die sich durch die Stadt

Durchbohren ziehen.

21 Fleet-Kieker ursprünglich die Beamten der 1548 eingerichteten Düpe-Kommission, die für die Ausbaggerung der Fahrwasserrinnen in Elbe Lumpensammler, und Hafen verantwortlich war; später Spottname für die die bei Ebbe die Fleete absuchten. 318

^^'

31 ^

^

v o m

16

Eudoxius

17f. 21—25 26f.

3 2 0

Matz Schamrohts Rechnung schönen Wedder

s. Stück 2.

s. Stücke 5 u. 8.

s. Stücke 9 und 19.

Starrkater, ein Vetter desjenigen Araminte / ihre Bibliothec Satyre gegen die Carossen

28

Condition] Gedinge B;

1

v o m Tode

s. Stück

19.

s. Stück 8.

vgl. Stücke 6, 9, 10, 16, 48.

Abmachung.

s. Stück 11.

von der Ewigkeit

s. Stück 14.

10

tête moutonnée

vgl.

21

Bluhmen auf ihren Gärten

26

Straußkehl

27

wie dem Schach Sefi

60,12. s. Stück

26.

5. Stück 33. s. I,

283,8ff.

29 zu werden.] zu werden. Die erwachsenen Kinder des reichen W i n n e b a l d U t h e n d o r p werden schon ein wenig roth, wann man ihrem Vater auf das hohe Wolseyn seiner vornehmen Familie zutrincket, in Erinnerung an Ihr 47stes Stuck. B. 32 321

die Armen-Ordnung

j. Stück 37.

daß der Mensch Leidenschaften haben müsse 15 Erzehlung so vieler nützlicher Träume 96 ». 125.

s. Stück

138.

s. Stücke 14, 23, 43, 61,

448 17

Kommentare Schach Almokauran

und

Erläuterungen

s. Stück 48.

22 Anweisung Ihres 52sten Blates philosophische Uhr.

Anspielung auf die dort

erwähnte

Stück 144 Der Patriot veröffentlicht den Brief eines Liebhabers von Brunnenkuren und einen weiteren, der Fälle von schädlichen Wirkungen des Patrioten auflistet. Beide Briefe sind scherzhaft gehalten. Fontanus de Modena charakterisiert sich in der Form des satirischen Briefs. Er schätzt Kuraufenthalte, ohne krank zu sein, faulenzt und schlemmt dabei nach Kräften und pflegt Cur=massigen Zeit=Vertreib; das Teuerste ist ihm gerade gut genug; er denkt daran, seine Kuren auf drei bis vier Monate jährlich auszudehnen. Offenbar ist er ein Kaufmann (324,19ff.); seine Geschäfte überläßt er getrost einem unerfahrenen und in seiner Zuverlässigkeit noch nicht geprüften Angestellten: Sein wirtschaftlicher Ruin, das liegt für den Leser nahe, wird nicht lange auf sich warten lassen. Mit dem Entwurf dieses Typs zielt der Patriot auf reiche Müßiggänger, die ihr Geld ohne Not außerhalb der Vaterstadt verschleudern. Die Wendung, der Gebrauch des Brunnens sei ein nohtwendiges Stück der Wissenschaft zu leben (323,10f), die Berufung auf die galanten Leute (323,2) und die Erfordernisse der Mode zeigen, daß das Brunnentrinken zugleich als ein Stück aristokratischen Lebensstils begriffen wird, von dem der vernünftige Bürger sich abzusetzen hat. Das Savoir vivre der Leute von Geschmack (323,13f.) ist nicht seine Sache, ein Fürstliches Leben (323,23f.) mit Reiten, Fahren, Spielen und anderen herrenmäßigen Beschäftigungen steht ihm nicht an. Ein rechter Bürger — das steht hier zwischen den Zeilen — ist arbeitsam, sorgt vor, ist mäßig im Essen und Trinken, hält mit seinen Mitteln haus und

zu Jahrgang 3 /1726,

449

Stück 144

vergnügt sich nicht in der feinen galanten Gesellschaft, sondern im eingezogeneren, aber bequemen Bereich seiner Häuslichkeit und seines Gartens. Die Liste schädlicher Folgewirkungen des Patrioten im zweiten Brief erweist sich als Pendant zur Liste der positiven Wirkungen im Stück 143. Dummköpfe wissen nicht mehr, wovon sie in Gesellschaft reden sollen; das ergiebige Wetterthema ist ihnen vermiest; Produzenten vorgestriger Mode, Goldmacher, Sterndeuter und sonstige Scharlatane werden brotlos, da der Patriot ihr Treiben lächerlich gemacht hat, und so weiter. Hinter solchen scherzhaften Befunden steht als ernsthafter Kern der Wille des Patrioten zu gesellschaftlichen Reformen. — Wiederum ist diese Auflistung zugleich eine Motivierung für die Leser, einmal die früheren Stücke, auf die angespielt wird, wieder zu lesen. Vf. Motto wurz

t Plautus, Menaechmi 950. - „Einige zwanzig schlucken."

3 2 3

Brunnen

3 2 6

Fontanus

3 2 7 328

Wasser einer

Vafro

^

Peruques quarrees

33 3 2 9

27f.

3 3 0

^

Heilquelle.

„Brunnenmeier".

19

27f. 103.

vgl. Erl. zu I,

118,4.

Quadratperücken,

Riesenperücken.

Verspottung der edlen Goldmacher-Kunst

Sextil

Bezeichnung

vgl. Stücke

102,

eines astrologischen Aspekts; vgl. Erl. zu 8,22.

Dr. Clysteriophilus Echtrotatus

Tage wirst du Nies-

vgl. II,

„Feindmann".

280,34.

450

Kommentare und Erläuterungen

Stück 145 Der Patriot beschreibt den Hamburger Hopfenmarkt als ein großes vergnügliches Schauspiel. Daß dieser Fisch-, Fleisch-, Obst-, Gemüse- und Blumenmarkt wie ein theatralischer Schauplatz vorgestellt wird und erfindungsreich viele Analogien zwischen Akteuren und Marktleuten hergestellt sind, mag den Reiz für das damalige Lesepublikum ausgemacht haben, es mag aber wohl überhaupt auch die Beschreibung solcher trivialen Realien wie eines Viktualienmarktes erst ermöglicht, gleichsam schriftstellerisch legitimiert haben. Realistische Stadtszenen kennt die Erzählliteratur dieser Zeit sonst nicht, erst die Ineinssetzung der Fischermeister mit Tritonen, der Landfrauen mit Nymphen etc. erlaubt offenbar so anschauungsgesättigte Bilder, wie wir sie hier (etwa 333,8—25) erhalten. Die Freude an Saft und Kraft dieser fast „niederländischen" Szenen, an der Fülle, der Abwechslung, der Unterschiedlichkeit und Buntheit des zu Beobachtenden ist offenkundig. Das Vergnügen im Anschauen ist ein Leitmotiv der Beschreibung. Unempfindlichkeit (331,23), Kaltsinnigkeit und Unachtsamkeit (334,8) werden dagegen angeprangert. Und die Freude ist nicht nur eine ästhetische. Daß dieser Markt Schauplatz einer blühenden Ökonomie ist, das ist das Beglückende. In der Geschäftigkeit des Markts wirkt jeder Beteiligte für sich und zugleich zum Nutzen des Ganzen. Käufer und Verkäufer kommen auf ihre Kosten, Handel und Wandel sind hier in vollem Zuge. Der Patriot, am wirtschaftlichen Florieren des Gemeinwesens innig interessiert, vermag diesen Markt denn auch das Hertz der Stadt zu nennen (334,14), das alles belebt. Und wiederum wird Hamburg hier zugleich als beglückte, reiche, in Frieden prosperierende Republik dem Leser ans Herz gelegt. Die Zuwendung zum Diesseitigen, seine volle Bejahung ist in dieser Beschreibung offenkundig; kein Gedanke, daß

zu Jahrgang

3 /1726, Stück 145

451

etwa das Gotteshaus das Herz dieser Stadt sein könnte. Der abschließende Hinweis auf den grossen Geber so vieler Gaben steht dazu nicht im Widerspruch. Er rückt die Beschreibung in die Nachbarschaft der Brockes'schen Naturschilderungen, was zugleich besagt: Die hier beobachtete Diesseitigkeit ist keine materialistisch-atheistische, — man könnte sie eine Art Weltfrömmigkeit nennen. Gott als der große Werkmeister und Schöpfer steht als philosophische Instanz noch am Horizont. Vf. Motto Fülle 331

C. F.

Weichmann

Horaz, Epistulae 112,2/3. schenken."

— ,, Unmöglich kann dir Jupiter

größere

Pyanepsia Das Fest der Pyanepsien zu Ehren des Apollon fand im Herbst statt. (vongr. Pyanon = Bohne, weil dabei ein Bohnengericht gegessen wurde). 25 ungemein grosser Tempel möglicherweise Anspielung auf die Nicolaikirche, die im Zentrum der Stadt in unmittelbarer Nähe von Rathaus und Börse stand.

332

28

333

^ Getön einer Ahrt von grossen Kessel-Paucken Anspielung unklar, möglicherweise geht sie auf den durch Handwerkerarbeit verursachten Lärm.

3 3 5

Kerrel] Kerle B.

10

Tritons

14

Flora

15

Pomona

(l^® - )

Tritonen:

Meergötter.

röm. Göttin alles röm. Göttin der

Blühenden. Früchte.

Z« den auswärtigen Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl. zu Stück 98.

452

Kommentare

und

Erlauterungen

Stück 146 Das Stück stellt Betrachtungen über die Ewigkeit Gottes an. Es handelt sich wiederum um durchgängig ernsthaft gehaltene Ausführungen. Der Ansatz ist, wie es der Kompetenz des Patrioten entspricht, nicht theologisch, sondern vernünftig-philosophisch. Zwar sind einige Bibelzitate mit eingebracht, doch der Gottesbegriff erweist sich als allgemein. Trinitätslehre, Gnadenlehre, Christologie etc. bleiben außer Betracht. Der Patriot verkündigt nicht, sondern er reflektiert; er nützt die Mittel der Logik, um zu beweisen; er treibt Metaphysik. Unsere Vernunft selbst zwinget uns, das Gottliche Wesen als ein ewiges Wesen zu erkennen (337,13f.). Entsprechend sind die Bezeichnungen für Gott philosophisch neutral: Das allmachtige Wesen, das gottliche Wesen, die Gottheit, Wesen, darin alle übrige Geschöpfe leben, das ewige Wesen, Herr der Zeiten. Freilich bleibt es nicht hei den allgemeinen Betrachtungen über Existenz und Ewigkeit Gottes. Der Patriot knüpft daran Folgerungen für das Verhalten der Menschen. Vernünftige Gedanken über Gott müssen moralischen Nutzen zeitigen, und dabei geraten nun doch, wie selbstverständlich, biblisch-christliche Vorstellungen ins Spiel, die einem philosophischen Gottesbegriff nicht einfach inhärent sind, etwa die Verheißung einer ewigen Seligkeit nach dem Tode (340,19ff), die an anderer Stelle auch gluckselige Unsterblichkeit (341,7) bzw. ewige Beruhigung genannt wird, und die Erwartung eines göttlichen Gerichts über den Menschen mit der Möglichkeit des ewigen Ausschlusses von der Glückseligkeit (vgl. 341,3f.). Der Mensch muß in dieser Welt auf dem Wege der Tugend einher gehen (341,12), um der Ewigkeit Gottes teilhaftig zu werden. Daß eine solche Tugendlehre mit der lutherischen Rechtfertigungslehre entschieden divergiert, scheint hier nicht zu stören. Tugendhaftes Verhal-

zu Jahrgang 3 /1726,

453

Stück 147

ten, die „Werke" also, — nicht der Glaube allein und die Gnade —, verhelfen offenbar zur Glückseligkeit des ewigen Lebens. Ja mehr noch, und hier zeigt sich der neue Optimismus weltlich-aufklärerischer Sittenlehre gegenüber dem altchristlichen Konzept besonders klar: Der auf dem Pfad der Tugend Wandelnde muß keineswegs, wie der Fromme im christlichen Verstand, sein Kreuz auf sich nehmen und der Welt absagen, sondern der Weg zur gluckseligen Unsterblichkeit ist der gleiche, der bereits hier im Diesseits zur Glückseligkeit führt (341,14f f ) . Vf.

C. F.

Weichmann

Motto Tertullian, adv. Hermog. 4, p. 130,12. - „Welches andere Kriterium gibt es, Gott zu messen, als seine Ewigkeitf Ist dies das Eigenste Gottes, wird es das Eigenste Gottes allein bleiben." 3 3 7

27-29

Worte der Schrift . . . Tag sey.

35-338,1 1,17. 33g 3 3 9

lf. 9-11 21—24 25—27 32

341

26ff.

2. Petrusbrief

Gott Sich selber . . . den Letzten

der da ist . . . der da kommt.

Jes. 41,4 und 44,6; O f f .

O f f . 1,8.

Er siehet alles . . . Ding neu.

Jes. Sir. 39,25.

Gleichwie ein Tropflein . . . die Ewigkeit. Tausend Jahr . . . eine Nachtwache. zur Masse

zum

Jes. Sir. 18,8.

Ps. 90,4.

Maße.

Was du thust . . .

(30)—342,(7) Stück 98.

3,8.

Jes. Sir.

Zu den auswärtigen

7,40. Bezugsmöglichkeiten

siehe Erl.

zu

Stück 147 Briefe eines Ehemanns und seiner Frau, die sich übereinander beklagen, geben dem Patrioten Anlaß, von schädlicher Zwietracht und ersprießlicher Eintracht im Ehestande

454

Kommentare

und

Erläuterungen

zu sprechen und seine Gedanken an zwei Fabeln zu veranschaulichen. Beide Schreiben stellen nach Art der satirischen Briefe den Charakter ihrer Verfasser unmißverständlich vor; auch deren Namen sind jeweils sprechend. Da es sich um Nichtigkeiten im Ehealltag handelt, über die die Kontrahenten uneins geworden sind, nicht etwa um „Laster" wie Verschwendung, Geiz, Bigotterie, Klatschsucht, Trunksucht oder gar Untreue, kann der Patriot gemütlich scherzhaft Stellung nehmen. Das Ganze dient der Belustigung des Lesers ebenso wie seiner Erbauung. Statt ernster moralischer Vermahnungen bedient sich der Patriot hier denn auch gleich zweimal einer Fabel, um die Lehre vom Segen ehelicher Harmonie an Mann und Frau zu bringen. Die Geschichte vom Gezänk des Magens mit dem Herzen erinnert an die antike Fabel vom Streit des Magens mit den übrigen Körperteilen, in der das Aufeinanderangewiesensein aller Glieder eines Staatswesens veranschaulicht wurde. Die Geschichte vom miteinander verzankten Taubenpaar lehrt ziemlich plan und wenig witzig, daß Eheleuten alles mißrät, wenn sie getrennt, daß ihnen alles gelingt, wenn sie vereint sind. Interessant ist, daß der Patriot nicht eindeutig dem Mann die Herrschaft im Hause zuspricht. Er findet ein Haus beklagenswert, in dem Mann und Frau sich über die Herrschafft zancken (347,10f.), aber er erkennt dem Hausherrn nicht einfach, wie üblich, die führende Rolle zu (zumal er sich — das ist ein Stück Rollenspiel der Verfasserfigur — als Junggeselle für nicht ganz kompetent ansieht). Sein Hinweis auf den musterhaften Frieden im Haus der Araminte, die in seinen Schilderungen sehr viel profilierter hervorgetreten ist als ihr Ehemann, gibt der weiblichen Funktion im Hauswesen zumindest ein ungewöhnlich großes Gewicht. Und auch der Zug, daß der Furia geb. von Leidenichts der Begriff der Potestas herilis unverständlich ist, läßt die traditionelle Geltung hausväterlicher Gewalt etwas verblaßt erscheinen.

zu Jahrgang 3 /1726, Vf.

455

Stück 147

?

Motto Martial, Epigrammata IV 13,7. — ,,Beständig bleibt auf dem Lager glückliche Eintracht." 343

8

23 f. animi. 3 4 4

'

Aergerniß

s. Stück 6.

von der Geduld Schriften

Exsuperantius

L. Annans Seneca: De

tranquillitate

„Hochhinaus".

26 f. F a b e l . . . von dem Gezänck des Magens mit dem Hertzen Vgl. dazu: Heinrich Gombel, Die Fabel „ Vom Magen und den Gliedern" in der Weltliteratur, Halle 1934. 3 4 5

13f. 30

Madame Klingklangs Zuschrifft Hauer

Heuer,

Eh-Zarter 346

^ 21f. 31

Asmodi

s. Stück

Miete, Pacht. Vgl. Erl. zu

vgl. Erl. zu II,

106. 110,8.

162,29f.

in der Bibel (Tobias 3,8) Name eines bösen

Pot-est-as, Her-il-is

potestas herilis:

Wasser und Brillen für die blöden Augen

Anspielung auf Stück 5.

32 f. Schnupf-Toback wider das schwache Gedichtniß auf Stück 87. 3 4 7

Anodini 13 f.

Anodinum,

schmerzstillendes

OLATILE] VOLATILE (Druckfehler Sal volatile generosum

22: 23 f. 348

25

fehlt

Mittel. Neudrucks).

,,Großmutsriechsalz".

B.

sich . . . begingen rauch

dieses

rauh.

sich begehen: sich

Geistes.

Hausherrengewalt.

vertragen.

Anspielung

456

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 148 und 149 Der Patriot liefert den Bericht einer Grönlandreise. Dieser Reisebericht fällt ganz aus dem Rahmen des im Patrioten und überhaupt in der Gattung der Moralischen Wochenschriften Üblichen. Abgesehen davon, daß er in zwei aufeinander folgenden Stücken erscheint, womit das erprobte Prinzip der thematischen und formalen Abwechslung durchbrochen wird, enthält er auch kaum Moralisch-Lehrhaftes. Kenntnisse in Naturkunde, Geographie und Ethnologie zu vermitteln, überhaupt neues Wissensmaterial auszubreiten, ist nicht Sache der Moralischen Wochenschriften. Daß die Verfassergesellschaft diesen Reisebericht trotzdem in ihren Patrioten aufnahm, könnte seinen Grund darin haben, daß man sich den Autor, Johan Anderson, verpflichten wollte; er war als langjähriger Syndicus der Stadt Hamburg ein einflußreicher Mann. Zudem konnten seine Ausführungen in einer auch am Walfischfang beteiligten Seestadt wie Hamburg natürlich mit Interesse rechnen. Ein ausführlicher Reisebericht Andersons ist posthum erschienen (Johan Anderson, Nachrichten von Island, Grönland und der Straße Davis, Hamburg 1746). Der Verfasser hat andere Reiseberichte dabei mit verwertet. Unser Text findet sich mit etlichen Umstellungen und Hinzufügungen in seinem genannten Buch weitgehend wörtlich wieder. Er dürfte 1726 eine der ersten zuverlässigen Nachrichten in deutscher Sprache über seinen Gegenstand sein. (Dazu Scheibe (1973), S. 57ff.). Der Bericht ist in den Kontext der Wochenschrift dadurch integriert, daß er als Auszug aus Reiseaufzeichnungen des Patrioten vorgestellt ist. In ihrem ersten Stück hatte die Verfasserfigur ja angegeben, sie habe in ihrer Jugend weite Reisen gemacht und ihr Eifer habe sie auch zu den fast unbekannten Lappländern, Grönländern und weiteren fremden Völkern geführt. Der moralische Zeigefinger, der im 1. Stück darauf verwies, daß es unter diesen entfernten,

zu Jahrgang 3 / 1726, Stück 148

457

mehrentheils für so einfaltig und wild gehaltenen Völkerschaften besondere Exempel von vernünfftigen und tugendhaften Leuten gebe, wie sie die hochmütigen Europäer nicht vollkommener vorweisen könnten, — dieser moralische Zeigefinger tritt im vorliegenden Reisebericht nur stellenweise in Aktion. Die lange vor Rousseau genutzte Vorstellung vom edlen Wilden vergewaltigt die Realitäten hier wenig. Einerseits wird die Eintracht der Eskimos gelobt, ihre Gleichheit und Freiheit untereinander (354,22ff.); sie führen keine Kriege, sind von Natur schamhaft und keusch, stehlen nicht, kennen weder Ehebruch noch Liederlichkeit, sind bei ihrer Armut sehr geschickt, auch sind sie mit ihrem Zustand sehr zufrieden: Wenn sie anderen doch etwas nehmen, so dürften sie das erst von den Europäern gelernt haben (354,20f.). Hier scheint sich eine gewisse Idealisierungstendenz geltend zu machen; ihre Einfachheit und Zufriedenheit, die Schlichtheit ihrer Eheschließungen (363,28ff.) erinnern an die Einfalt der Gebirgsbewohner, wie sie Albrecht von Haller bald in seinen „Alpen" preisen wird. Auf der anderen Seite wird eine gewisse Blutgier erwähnt (354,Iff), und: Sie scheinen übrigens und sind auch einiger massen tumm (364,8). Sie können nur bis 21 zählen und haben keine Geschichte. Auch ist zu konstatieren, daß sie in ihrer Armseligkeit und in ihrem Gestank sich gar was einbilden (364,34f.). So eminent vernünftig und tugendhaft sind sie also doch nicht, daß sie den Europäern zum Vorbild dienen könnten. Das Hauptaugenmerk gilt ohnehin ihren Lebensbedingungen in der Polarnatur, der grönländischen Tierwelt, ihrer Wohnweise und Kleidung, ihrem Bootsbau, ihrer Jagdtechnik, schließlich auch ihrer Sprache. Die Beschreibung erlaubt sich an einer Stelle eine weltfromme Reflexion im Sinne Brockes': auch in Grönland, bei den Eskimos, sind Spuren von der Macht, Weisheit und Menschenliebe des allgegenwärtigen und allgütigen Schopffers zu finden (351,34ff.).

458

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 148 Vf.

].

Anderson

Motto Lucanus, Phar.salia IV377/378. — „Erkennet für welchen geringen Preis Leben hervorzubringen gestattet ist, und welch hohen Preis die Natur verlangt." 349

4

Aufnahme

Verbesserung.

Strasse Davis Davisstraße, Seeweg zwischen Grönland im Osten 9 und dem Baffinland im Westen, aus dem Atlantischen Ozean in die BaffinBay führend.

350 351 352 353

25

Sardam

20

selb-ander

20

Disco

1

allgültigen] allgütigen (Druckfehler

2

Saardam = Zaandam, selbzweit,

Stadt in

Nordholland.

d.h. er mit noch einem

Disko, an der Westküste

anderen.

Grönlands. dieses

Neudrucks).

Knurrhane Knurrhahn, Seefischart, Stachelflosser, der einen ?nden Laut von sich gibt, wenn man ihn aus dem Wasser nimmt.

23

Lumben

Lummen:

27

Duhnen

Daunen.

354

8

Narhwal

355

^

Narwal,

Pflaumen-Seite

Seevögel.

Walfischart mit

Pflaumen:

Stoßzahn.

Flaum.

Stück 149 Vf.

].

Anderson.

Motto Horaz, Satiren II, 2,1 — „Ihr Freunde, lernt, wie köstlich ein bescheidenes Leben ist." Motto

B

VLUITUR EXIGUO MELIUS. N A T U R A

BEATIS

O M N I B U S ESSE D E D I T , SI Q U I S C O G N O U E R I T V T I .

CLAUDIAN.

Claudianus, In Rufinum 1215/216. — „Mit geringerem Aufwand lebt man besser. Die Natur hat allen die Möglichkeit gegeben, glücklich zu sein. Man muß sie nur zu nützen wissen."

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 150

459

Fuhren-Holz] Fohren=Holtz B.

3 5 7

13

3 5 9

Barten (pl.), „Hornartige Körper in einigen Walfischarten, die ihnen statt der Zähne dienen . . . Das sogenannte Fischbein wird aus diesen Barten gespalten." (Adelung).

3 6 0

^

361

4 Stinte Stint: „ein geringer und übelriechender Fisch, der dahero auch nicht viel geachtet wird, es sey denn zu Amsterdam oder zu Hamburg, wie auch Bremen, allwo er häufig, sowohl gekocht und gebacken, als auch gebraten gegessen wird." (Zedier).

Schimmann

Schipman,

Matrose.

6—9 Von ihrer Sprache . . . Uebereinstimmung hat Das Urteil des Patrioten, die Eskimosprache sei weder mit dem Lappischen oder Finnischen, noch mit indogermanischen Sprachen verwandt, entspricht auch unseren heutigen Kenntnissen. — Die folgende Vokabelliste gibt, wie ein Blick in ein grönländisches Wörterbuch lehrt, Wörter der Eskimo — mit gewissen lautlichen Abweichungen — zutreffend wieder. (Der Hrsg. dankt hier seinem Kollegen Hans Fromm für sachkundige Belehrung.) 362 3^4

Cachelot

gemeiner

3

Wohlstandes

4

Gewehren

Pottwal.

vgl. Erl. zu I,

die Gewähr,

57,36.

der Besitz einer

Sache.

Stück 150 Philotimus zeigt in einem Brief Mängel bei der Vormundschaft auf und entwirft die Ordnung für ein einzurichtendes Vormundschaftsgericht. Der Patriot verweist auf in Hamburg bereits bestehende diesbezügliche Vorkehrungen. Offenbar handelt es sich bei diesem Brief um eine echte Einsendung aus dem Publikum (vgl. die Reaktion des Patrioten 372,17ff.), wobei der Briefschreiber sich mit der Figur des Philotimus aus Stück 113 identifiziert, was bedeutet, daß er sich dem Maskenspiel um den fiktiven Verfasser anpaßt. Philotimus figurierte in dem genannten Stück als weitgereister Fremder, der nach dem Vergleich der Verfassungen 30

Der Patriot, Bd. IV

460

Kommentare und Erläuterungen

verschiedener Länder geneigt war, seinen Lebensabend in Hamburg zu verbringen (76,llff.). Entsprechend stellt er sich nun dem Patrioten als neuer Mitbürger vor und betont die Vortheile der hieselbst blühenden glückseligen Freyheit. Bevor er zur Sache kommt, rätselt er, das Maskenspiel fortsetzend, ein wenig über die wahre Person des Patrioten und geht dabei auch auf das Gerücht ein, der Patriot bestehe eigentlich aus 15 wöchentlich zusammenkommenden Köpfen, — ein Beweis dafür, daß sich die Existenz einer Verfassergesellschaft inzwischen herumgesprochen hat. Der Vorschlag, das Vormundschaftswesen zu verbessern, knüpft an die Bemühungen des Patrioten um die Armenfürsorge an. Ungute, verantwortungslose Vormundschaft wird in doppelter Weise exemplifiziert. Leichtsinnig-gewissenlose vormundschaftliche Güterverwaltung und engherzig-knauserige, falsche Prinzipien vermittelnde Betreuung und Lenkung des Mündels führen zu einem tristen Ende. — Kennzeichnendfür die Einschätzung der Interessenlage in der Leserschaft des Patrioten ist es, daß das Mündel als reich vorgestellt ist und daß beide Vormünder bemittelte Kaufleute sind. In beiden Figuren wird denn auch nicht nur die Verantwortungslosigkeit eines Vormunds, sondern auch kaufmännische Unvernunft und Gewissenlosigkeit angeprangert. Der vorgelegte Entwurf eines Vormundschaftsgerichts zeigt erneut, in welchem Maße der Patriot bzw. die patriotisch denkenden publizistischen Mitarbeiter aus dem Publikum eine Einwirkung auf die Ordnungen des öffentlichen Lebens im Sinne haben. Die Wochenschrift macht Vorschläge zum Erlaß gesetzlicher Regelungen! Der gesellschaftlich engagierte Bürger — der Patriot ist seine Stimme — wird initiativ für bestimmte obrigkeitliche Maßnahmen, — ein in fürstlich-absolutistisch regierten Ländern der Zeit kaum vorstellbares Verhalten; allenfalls waren solche Vorschläge dort Sache amtlich bestallter Lehrer der „Policey" und Kameralistik.

zu Jahrgang Vf.

3 /1726,

461

Stück 151

(Einsendung)

Motto Modestinus. Stelle nicht nachweisbar. — „ I m übrigen ist es angezeigt, den Sitten der Obrigkeit und der Autoritäten auf die Spur zu kommen. Denn weder Fähigkeiten noch Würde verleihen hinreichende Gewißheit, so wie treffliche Wahl, Gesinnung und lauterer Wandel es tun." 3 ^ 7

27

3 6 8

3 Hartmuht Geldknecht Anspielung freilich wie in B G o l d k n e c h t heißt.

3 6 9

manniglichem

7

Haus-Lombart

9

dürffcn

männiglich,

privates

jedermann. auf Stück 139, wo die

Leihgeschäft.

müssen.

Assecurantzen Assekuranz: zahlung; Versicherung.

Übernahme

einer Gefahr

30 Pupillen Pupille: eine der Aufsicht eines Vormundes minderjährige Person; „Mündel" (Adelung). 371

26

Figur

zur andern Ehe

zu einer zweiten

34 Cammer-Gute Kammergut, höriges Gut, Domäne. Hier offenbar

gegen

Be-

anvertraute

Ehe.

eigentlich ein dem Landesherrn Stiftungsbesitz.

ge-

35 Gefälle „Abgaben, welche man dem Grundherrn oder der Obrigkeit von einem Gute oder einer Sache entrichtet". (Adelung). Vgl. Erl. zu 107,12. 3 73

'

mühsam

bemüht.

Stück 151 Ein Briefschreiber berichtet von einer Gesellschaft mißgünstiger Personen und teilt ihre Satzungen mit. Der Patriot liebt es, wie die Autoren anderer Wochenschriften auch, gleichartige „lasterhafte" Exempelfiguren zuweilen in Gruppen oder Gesellschaften vorzuführen; so 30*

462

Kommentare

und

Erläuterungen

auch hier mittels eines fingierten Briefs. Daß die vorgestellte Lasterhaftigkeit ein gesellschaftliches Phänomen sei, das sich durch die Verbindung Gleichgesinnter am Leben erhalte, kann so demonstriert werden. Neid, Mißgunst, Menschenfeindlichkeit schaden der angestrebten Harmonie im Gemeinwesen, verstoßen gegen die christliche Nächstenliebe wie gegen eine allgemeine vernünftige Menschenliebe, — das versteht sich für das Publikum von selbst, der Patriot braucht es nicht eigens zu betonen. Daß die Inhaber dieser Laster sich auch selber schädigen, wird mehrfach zum Ausdruck gebracht: die Frau Neidwitzen hat vor Ärger über das Glück eines Verwandten ihr Geblüt gantz verdorben; Herr Quadegünn wird durch anderer Leute Glück gemartert; der neidische Herr Rapax hat starre Augen, eingefallene Backen und sieht einem Totengerippe ähnlich; die Mißgünstigen sind heillose Leute (376,35). Tieferes psychologisches Verständnis für diese Leute bringt der Patriot nicht auf, nur bei der Jungfer Monstrose ist es ansatzweise spürbar: Neid und Scheelsucht hängen damit zusammen, daß sie körperlich mißgestaltet ist. Kennzeichnend aber ist, was für diesen Fall als Abhilfe gilt. Durch ein gefalliges sittsames Wesen und vernünfftige Reden (378,6ff.) könnte die benachteiligte Jungfer die von Natur freundlicher Bedachten ausstechen und müßte dann nicht mehr mißgünstig sein. Dieser Rat besagt zugleich: Man kann mittels seiner Vernunft und der durch diese Vernunft geleiteten Tugend sich in seinem "Wesen selbst bestimmen, kann seinen Charakter bilden und formen. Von einem „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehn!", einer ,,geprägten Form, die lebend sich entwickelt", weiß der vernünftige optimistische Aufklärer nichts. Psychische Konditionierung durch körperliche Defekte, durch Kindheitserlebnisse, durch soziale Zwänge und dergleichen paßt nicht ins Bild. In der Nutzung der eigenen Vernunft liegt die Heilung charakterlicher „Defekte".

zu Jahrgang 3 /1726, Stück

463

Iii

Die Gesetze der bei der Frau Gallenhausen zusammenkommenden Gesellschaft sind satirische Anweisungen zur rechten Ausübung von Neid und Mißgunst. Sie erinnern in der Umkehrung von Tugendlehre in Lasterlehre an die Manier der grobianischen Literatur des 16. Jahrhunderts und liefern durch sich selbst die erforderliche Belustigung. Einen zusätzlichen belustigenden Effekt produziert der altvaterische Juristenstil, in dem die Präambel der Gesetze abgefaßt ist. Nicht uninteressant ist der Punkt 7. Es gehört zur gebotenen Lasterhaftigkeit, neue Ordnungen zum Besten des gemeinen Wesens zu bemängeln und ihnen Böses zu unterstellen. Das meint im Klartext: Die Verweigerung positiven Interesses am Wohl des Gemeinwesens ist verwerflich. Daß Kritik an erlassenen Ordnungen auch nützlich, vielleicht sogar Bürgerpflicht sein könnte, wird im Patrioten noch nicht erwogen. Es wird unterstellt, daß obrigkeitliche Ordnungen in einer freien Stadt wie Hamburg gut sind. Vf.

i

Motto Ovid, Metamorphoses II 777— 782. -„Die Brust ist grün von Galle, die Zunge unterlaufen von Gift. Das Lachen ist fem, außer wenn es erblickte Schmerzen erwecken: Aufgeschreckt durch stets drängende Sorgen kann sie sich nicht des Schlafes erfreuen, sondern sie sieht und vergeht heim Anblick ihr verhaßten menschlichen Glücks, nörgelt und benörgelt sich, ist sich selbst eine Qual." 374 37 5

^

Cleophantes

Figur in Stück 107.

1

Monstrose

„Ungestalt".

3

Rapax

„Raubmann".

Qvadegünn „Mißgünstlmg"; schlecht; günnen = gönnen. 379

11

Volatilius

„Flüchtig".

vgl.

niederdt.

quad

=

böse,

464 381

Kommentare

und

Erläuterungen

ehemaligen G e w o h n h e i t in A t h e n gemeint ist wohl das Scherbengericht, der Ostrakismus, bei dem das Volk über die Verbannung eines Staatsmannes entschied.

Stück 152 Der Patriot blickt auf seine Erscheinenszeit und die ihm darin zuteilgewordene Resonanz zurück. Er zitiert die Erläuterung eines zu seinem Ruhm angefertigten allegorischen Kupferstichs, stellt eine ausführliche Liste der im Flugschriftenstreit gegen ihn losgelassenen Beschimpfungen zusammen und veröffentlicht ein Schreiben der Patriotischen Gesellschaft von Liebenseeburg. Hatte der Patriot in früheren Stücken die Frage des Echos auf seine Blätter bereits — meist scherzhaft, zuletzt z. B. mit einer lustigen Liste seiner positiven und negativen Wirkungen (St. 143, 144) — berührt, so macht er diese Frage jetzt zu seinem Hauptthema. Er zieht ein Resümee, wobei er andeutet, er werde möglicherweise sein Erscheinen einstellen. Und während die bisher beigebrachten Beispiele für gute oder böse Resonanz meist fingiert waren und nur indirekt etwas von der tatsächlichen Rezeption im Publikum verrieten, erhalten wir jetzt Dokumentarisches. Das patriotische Kupfer des Georg David Nessenthaler ist keine Erfindung und die Zusammenstellung der Ehren=Titel für den Patrioten, wie dieser sie ironisch nennt, beruht bis ins einzelne auf dem Textmaterial tatsächlich gegen den Patrioten losgelassener Flugschriften. Das patriotische Kupfer, das die Figur des Patrioten von einigen Tugenden umgeben zeigt und allegorisch Reaktionen der Leser auf ihn darstellt, hat sich erhalten. (Vgl. Peil (1977), bes. S. 377f. Dort auch eine Abbildung). Es war in der Wochenschrift selbst nicht zu reproduzieren, weshalb dort eine erklärende Beschreibung des Bildinhalts von der Hand des — in Augsburg (vgl. 383,30f.) tatsächlich nachweisbaren — Künstlers Georg David Nessenthaler gegeben

zu Jahrgang 3 / 1726, Stück 152

465

wird. Ähnliche allegorische Bildbeschreibungen hatte der Patriot zuvor mehrfach zur Versinnbildlichung von Tugenden und Lastern in seine Blätter aufgenommen. Die Ehren=Titel des Patrioten sind eine Auswahl der heftigsten Urteile und Schmähungen, die die bald nach seinem Erscheinen einsetzende Flugschriftenkampagne gegen den Patrioten zeitigte. Die Auflistung läßt erkennen, daß die Verfassergesellschaft alles gegen sie Publizierte sehr sorgfältig gesammelt und studiert haben muß; die Fundstellen sind exakt nachgewiesen. — Die Liste der Invektiven faßt Ingrimm und Leidenschaft, aber auch Torheit und Borniertheit der Angriffe auf den Patrioten wie in einem Brennspiegel zusammen. Sie diskreditiert in dieser Konzentration wütender Beleidigungen und Unterstellungen die gesamte im Flugschriftenstreit zutage getretene Gegnerschaft, ohne daß der Patriot ein Wort der Erwiderung suchen müßte. Ja er deckt mit dieser Blütenlese massiver Beschimpfungen auch die durchaus ernst zu nehmenden Einwände zu, die von theologischer Position aus gegen Anspruch und Vorgehen der Wochenschrift vorgetragen worden sind. — Die Bemerkung, alle gegen den Patrioten losgelassenen Flugschriften seien anonym und hiesigen Orts (384,4) erschienen, ist nicht ganz zutreffend. (Zum Flugschriftenstreit s. Martens (1963); ders. (1972)). Das Schreiben der Patriotischen Gesellschaft zu Liebenseeburg, das vermutlich von einem einzigen Verfasser, J. E. Philippi, fingiert ist, geht scherzhaft auf die vom Patrioten ebenfalls scherzhaft geäußerte Bitte ein, seine Blätter mit Nachsicht und Geduld aufzunehmen. Es greift viele im Stück 95 vom Patrioten gebrauchte Wendungen auf und folgt auch in der umständlich-altertümlichen Schreibweise dem Duktus, den der Patriot in seiner Bitt=Schrift gezeigt hatte, — ein Zeichen dafür, daß eine entsprechende Sensibilität für stilistische Valeurs im Publikum durchaus unterstellt wurde.

466

Kommentare und Erläuterungen

Vf.

M. Richey (*), J. E. Philippi

Motti Horm, Epistulae I 7,98. — „Ein jeder messe sich nach seinem eigenen Maß, das ist die halbe Weisheit." — Horaz, Epistulae I 1,60/61. — „Dieses sei ein eherner Schutzwall: Nichts Böses sich bewußt sein, mit keiner Schuld sich ängstigen." Motto B

- - - -

Q U A N T U M FIDUCIA

PROFUIT HOSTILIS! -

-

-

-

NOBIS CLAUDIANUS.

Claudianus, De consulatu Stilichonis 1342,343. — „Was hat uns der Vertrag mit dem Feind genützt!" 383

eine Menge von Schriften wider mich vgl. dazu die im Kommentar zu diesem Stück angegebene Literatur zum Flugschriftenstreit um den Patrioten. 12 f. Beweis, daß der Patriot . . . Beweiß daß der Patriot auf dem Wege der Bestialität einhertrete: aus allen seinen 16. piecen vorgestellet. Anno 1724. 8 unpag. Seiten, erschienen Ende April 1724. 13 f. der nach dem Pabstthum . . . Patriota Papizans, Oder: Der nach dem Pabstthumb gräßlich stinckende Patriot / aus dessen 3ten und 4ten Stück erwiesen von Hans Beißan. Freystadt, den 5. Febr. 1724 . 8 unpag. Seiten. 14 f. der vom Pharisäischen Gift . . . Der vom Pharisäischen Gifft und Pestilentz unsinnige Patriot, welcher auf einen solchen Grund, der der Teufel selbsten ist, Heucheley säet, und so entdeckt von Joh. Wilhelm Abbe, 1724. 24 unpag. Seiten, erschienen Mitte Februar. 28 f. Patriotischen Gedancken über den von Vorurtheilen krancken Verstand Titel nicht näher identifizierbar. 30f. geschickter Kunstler in Augspurg Georg David (1698-1733), Kupferstecher in Augsburg; vgl. Peil (1977).

334

meiner ehemaligen Bitt-Schrift

Nessenthaler

vgl. Stück 95.

25 Mercurius Merkur, in der römischen Mythologie Götterbote, auch Gott des Handels. 27 385

18

Pallas VID.

Pallas Athene, griechische Göttin der Weisheit. Abkürzung für: vide! = siehe!

zu Jahrgang

3 /1726,

467

Stück 152

18f. erstes Stück des Reformirten Patrioten Des Reformirten Hamburgischen Patrioten erstes Stück, Anno M D C C X X I V . 8 unpag. Seiten, erschienen am 18. 1. 1724. 19

Lügner;] Lugner; ein Stümper; B.

20f. 2tes Stück des Reform. Patr. Des Reformirten Hamburgischen Patrioten zweytes Stück. Anno M D C C X X I V . 12 unpag. Seiten, erschienen Ende Januar 1724. 21 Moralist mit einem grossen Griechischen O griech, fliogog, stumpfsinnig, töricht.

Anspielung

auf

22 Papier-Beklicker;] Papier-Beklicker; ein Erasmus, das M von einander getheilet [so daß „Er asinus" entsteht]; der seinen Verstand, Witz und Vernunft an einem Orte, da heut zu Tage, die Atheisten und Schwärmer, und wo vor diesem die Huren ALLE waren, verschertzet hat; der etwan auf dem Felde mit einem Mist-Fincken im grünen Grase gelegen; ein Burschen von etlichen zwanzig Jahren; ein Participant vom Roß-Adel und Sau-Adel; B. 23

Pecus Arcadicum

Arkadisches

Vieh, Esel,

Einfaltspinsel.

25 Patriot, Schnatriot Patriot, Schnatriot / ein wenig beleuchtet von einem ehrlichen Schlesier. Im Jahre 1724. 8 unpag. Seiten, erschienen Mitte Januar 1724. 27 Protestation der . . . Der Hoch- und Wohlgebohrnen / Hochauch Viel- Ehr- und Tugendbelobten Fräulein und Mademoisellen Studentinnen / Protestation und Declaration, wider die ihnen von dem Patrioten / nulliter und gantz unvernünfftiger Weise offerirte Narren-Kappe. 4 unpag. Seiten, zwei verschiedene Drucke, erschienen Ende Januar 1724. 29 f. lstes Stück der sehr gelinden Reflexions Sehr gelinde Reflexions, über den so genannten Patrioten / und dessen Num. 1 . 2 . 3 . — Anno 1724. 8 unpag. Seiten, erschienen Ende Januar 1724. 33 f. Beweiß, daß der Patriot . . . Beweiß daß der Patriot auf dem Wege der Bestialität einhertrete: aus allen seinen 16. piecen vorgestellet. — Anno 1724 . 8 unpag. Seiten, erschienen Ende April 1724. 34 Ignorant;] Ignorant, der Thomasii Speichel begierig lecket, und damit seine unpatriotische Chartequen anfeuchtet: B. 36 2tes Stück der sehr gelinden Reflexions Sehr gelinde Reflexions, über den so genannten Patrioten / und dessen Num. 4. 5. — Anno 1724. 8 pag. Seiten, erschienen Mitte Februar 1724.

468 386

Kommentare

und

Erläuterungen

4 ' e s Stück der sehr gelinden Reflexions Sehr gelinde Reflexions, über den so genannten Patrioten, und die von ihm Num. 8. vorgeschlagene Frauenzimmer-Bibliothec. - Anno 1724. 8 pag. Seiten, erschienen Anfang März. 7 des Patrioten in Hamburg unbefugte Anzüglichkeiten Des Patrioten zu Hamburg unbefugte Anzüglichkeiten wieder den Adel-Stand / abgewiesen durch einen Studirenden von Adel. Leipzig Ao. 1724. 8 unpag. Seiten, erschienen Anfang August 1724. 18 Hogger Höcker, Buckel (Grimm zitiert zu der Form eben diese Stelle aus dem Patrioten als Beleg). 20

,,hogger"

sind;] sind; der keine Ader Christlicher Liebe zu sich hat; B.

21 f. Stephani Arends vertheidigter Ehren-Ruhm Stephani Arends vertheidigter Ehren-Ruhm des sei. Herrn Erasmi Francisci, wider die frevelhaffte Zunöthigung des Patrioten in Hamburg. Im Jahr M D C C X X I V . 8 unpag. Seiten, erschienen Mitte August 1724. 24 Matz von Dreßden Matz: ,,in den niedrigen Sprecharten, ein einfältiger, blödsinniger, weibischer, dummer Mensch, . . . Matzfotz (welches man wohl im Scherze von der zu Dresden befindlichen Bildsäule des Matthias Voetius abzuleiten pflegt)." (Adelung). 25f. der entlarvte Patriot Der entlarvte Patriot, Oder: Der aus einen (!) Patrioten in einen Pasquinum verwandelte Ober-Sachse. — A. 1724. 12 unpag. Seiten, erschienen Ende Januar 1724. 27f. neu-modisches Nasen-Futter . . . Neumodisches Nasen-Futter und Kappen-Zaum vor die Huren oder Copia Herrn Bronckert von Wohlleben an seinen Landsmann den Patrioten zu Hamburg mit der Braunschweigischen Post abgelassenen, von diesem aber dem Publico biß dato noch nicht communicirten Schreibens. Braunschweig, 1724. 8 unpag. Seiten, mehrere Drucke, erschienen Mitte November 1724. 30 Gnatzen „Die Gnatze, oder Gnätze, ein im Hochdeutschen ungewöhnliches Wort, die Krätze, und in weiterer Bedeutung einen jeden der Krätze ähnlichen nassen Ausschlag zu bezeichnen." (Adelung). 30

un singe du Thomase

ein Affe des

Thomasius.

32 Vertheidigung des Patrioten . . . Vertheidigung des Patrioten, wider alle seine Gegner. Gedruckt im sechsten Schaltjahr des jetztlauffenden Seculi. 8 unpag. Seiten, erschienen Mitte Februar 1724. 33 Gegner)] Gegner) ein Poet auf Holländisch; dessen albern Zeug man billig unter die Absurda Absurdorum Absurdissima rangiret; der so viel

zu Jahrgang

469

3 /1726, Stück 152

vom Jure verstehet, als die Krähe vom Sonntage; der seine Ohren steiff halt, wie jene Statue auf dem Pferdemarckte; B. 35 f. Patriot liegt im Koth Patriot liegt im Koht; Vivat Ihr Gnaden / Rode Tüffeln un keene Waden. — A. 1724. 8 unpag. Seiten, erschienen Ende Januar 1724. 39 J. W. Abbens unsinniger Patriot 383,14f. 3 8 7

identisch

mit dem Titel

auf

2f. Der vorhin unsinnige . . . Der vorhin unsinnige/ nun aber noch unsinnigere Patriot, so vorgestellet und bewiesen von Johann Wilhelm Abbe. Anno M D C C X X I V . 12 pag. Seiten, erschienen Mitte März 1724, 4

Patriota papizans

identisch mit dem Titel auf

383,13f.

Kinder-Treck-Discours Kindertreck-Discours, äwer den Patrio4 f. ten, in good Plattdütsch geholden: van acht Madames, un ene Wartsfru. Im Jahr 1724 . 8 unpag. Seiten, erschienen Anfang März 1724. 5f. Zweener Oberländischen Pferde-Regenten . . . Zweener Oberländischer Pferde-Regenten / im Schertz und Ernst / über des Patrioten thörigte Alfanzereyen gehaltene Conference. Anno M D C C X X I V ! 8 unpag. Seiten, erschienen Ende März 1724. 6 Copia Send-Schreibens Copia eines Schreibens von Catharina Adelheit Schnabels / an ihren liebwerthesten Bruder, den so genannten Patriot. 4 unpag. Seiten, erschienen Anfang März 1724. Unterredung von der Greifswaldischen . . . Unterredung von 6 f. der Greiffswaldischen Pietisten-Heucheley und Hurerey / von der mit einem Jenischen Magistro legente, welcher Mäuse / Eydexen / Schnecken / und ander Ungeziefer im Leibe gehabt / biß er gestorben / sich zugetrage-. nen betrübten Begebenheit / als auch von dem Patrioten zu Hamburg. — Anno 1724. 8 unpag. Seiten, erschienen Mitte März 1724. 7 f. das vertheidigte Frauenzimmer Das vertheidigte Hamburgische Frauenzimmer / Freytags / den 25sten Februarii. 4 unpag. Seiten, erschienen Ende Februar 1724. 8

Die Narren-Kappe

identisch mit dem Titel auf

385,27.

8f. Et ward nich geschehn Et ward nich geschehen / dem Patrioten zu Ehren / Föffteinmahl up enen Morgen Besöck angebrocht. — Anno 1724. 8 unpag. Seiten, erschienen Anfang März 1724. 24

gemässigte

25

S.T.

vgl. Erl. zu II,

351,24.

Salvo titulo, unter Auslassung des gebührenden

Titels.

470

Kommentare

und

Erläuterungen

Stück 153 Ein Briefschreiber schildert seinen Traum von der Herrschaft der Gerechtigkeit. Das diesen Traum inspirierende Kräuter-Kopfkissen gehört zum Arsenal der Wundermittel der Verfasserfigur; der Patriot führt in der Einführung zu dem Schreiben seine bisherigen Träume (vgl. Stücke 14, 23, 43, 61, 96, 125) auch auf dieses Kräuterkissen zurück. Die im Traum angebrochene Gerechtigkeit bezieht sich auf Würden, Titel, Positionen, Glücksgüter, Belohnungen und Strafen, aber auch auf die Grenzen politischer Territorien. Deutschland wird als ein Land bezeichnet, dem Gebiete durch Eroberung und Raub unrechtmassig entzogen sind (392,21). Es ist dies das einzige Beispiel für einen „nationalen", gegen fremde Staaten gerichteten deutschen Patriotismus unserer Wochenschrift. Das Hauptinteresse des Traums gilt jedoch der Gerechtigkeit in der Welt des Adels und der hohen Bedienungen, d. h. der hohen staatlichen Ämter. Der Traum zeigt die Adelswappen vieler großer Familien gelöscht, stattdessen die Nobilitierung tüchtiger Aufsteiger, wobei die Nachkommen dieser Neugeadelten das Wappen nur führen sollen, wenn sie es selber wert sind. Mit diesen Visionen wird die Institution des erblichen Adels mit seinen Würden und Rechten in Frage gestellt; als gerecht erscheint nur diejenige Auszeichnung und Privilegierung, die verdient ist. Nicht die Herkunft, das blaue Blut, entscheidet, sondern die Leistung. Ein derartiges Konzept entspricht bürgerlichem Wertgefühl; es kann in Hamburg, wo keine Adelsprivilegien gelten, ohnehin leicht vorgetragen werden. Daß viele Symbole adliger Wappen mit den Charaktereigenschaften ihrer Inhaber grotesk kontrastieren, ist ein lustiges Nebenergebnis der beleuchteten Unstimmigkeiten. Einen durchaus ernsthaften und möglicherweise aktuellen

z « Jahrgang

3 / 1726, Stück 153

471

Aspekt aber dürfte für Leser in fürstlichen Territorien das Gericht über hohe Standespersonen besessen haben (394,1ff.). Das Aussaugen ganzer Provinzen, Verrat, Verschleuderung öffentlicher Gelder, Bestechlichkeit, Unterdrückung, Ungerechtigkeit wird hier geahndet, — Bosheit und Willkür also von Aristokraten in hohen Positionen. Die Verurteilung ungerechten Tuns privilegierter Personen ist offenkundig. Gleichwohl wird mit dem Traum von der Gerechtigkeit nicht generell die ständische Ordnung in Frage gestellt. Fürsten geraten ohnehin nicht ins Visier, und wenn die Kritik an der Erblichkeit der Adelsprivilegien an die Fundamente feudal-absolutistischer Verhältnisse geht, so fährt man im Zeichen der Gerechtigkeit doch weiterhin in verguldeten Kutschen, mit dreyen und mehr Dienern hinter sich (396,19f), wenn man nur die Verdienste dazu hat. Egalitär ist die hier entworfene Gerechtigkeit nicht, sondern auf die jeweils bewiesene Tugend bezogen. Und sie ist nicht utopisch in dem Sinne, daß hier versucht würde, institutionell eine soziale Ordnung zu schaffen, die Ungerechtigkeit verhinderte. Ja der Briefschreiber selber, der nach dem Aufwachen aus seinem Traum der Welt in ihrem verwirrten Zustande wieder inne wird, glaubt nicht daran, daß sie je eine andere werden werde (397,13ff), so daß er seinen Trost im Jenseits zu suchen genötigt ist, — eine Inkonsequenz im Hinblick auf das aufklärerische Besserungsbemühen, das der Traumgeschichte immanent ist, — ein Rückfall in einen christlich gefärbten Weltpessimismus. Übrigens zählt zur Gerechtigkeit auch, daß gewisse Schriften verbrannt werden, und zwar Unvernünftiges, Überflüssiges, moralisch und vielleicht — es wird nicht näher ausgeführt — auch ästhetisch Anstößiges (395,24ff.). Jedenfalls zählen Schauspiele, Romane und Gratulantenpoesie dazu. Daß Bücherverbrennung ein Sakrileg an der Meinungsund Geistesfreiheit sei, wird vom Patrioten noch nicht erwogen; Meinungs- und Pressefreiheit gehören noch nicht zum

Kommentare und Erläuterungen

472

Katalog seiner Forderungen. Der erzieherische, auf Moralisierung und Besserung gerichtete Anspruch der Aufklärung verträgt sich nicht mit Relativismus und Liberalismus. Der frühe Aufklärer ist mit gutem Gewissen pädagogisch-autoritär. Vf.

C. F. Weichmann

Motto Vergil, Ecloga 4,6. — „Es kehrt wieder die Jungfrau. Die Herrschaft Saturns kehrt zurück." 390

®

Cram Bankju

393

29

von Santi

Künstliche Namensbildung

ohne

Anspielungswert

sprechender Name, vgl. ital. santo.

32 Seiden-Wurm Seidenraupe, in der Emblematik ,,ein Sinnbild des Mannes, dessen Gaben nicht im Verborgenen ungenützt bleiben und der, um uns vernünftige Lehren zu erteilen, seine Gesundheit und sein Leben dabei hingibt" (Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hrsg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, Sp. 917). 394

^ Minos, Lycurgus, Solon, Draco Minos, mythischer König von Kreta, berühmter Gesetzgeber; Lykurgos, legendärer Gesetzgeber Spartas; Solon (ca. 640—559 v. Chr.), Gesetzgeber Athens; Drakon, vor Solon, strenger Gesetzgeber Athens.

395

auf den Hals sassen „Auf den Hals sitzen, auf den Tod sitzen, um einer Ursache willen gefangen sitzen, welche das Leben kosten kann" (Adelung).

396

^ worin die Correspondenten übersetzt worden „jemanden übersetzen, zu vielen Gewinn von ihm fordern und nehmen, mehr als üblich und billig ist" (Adelung). 4—14 33

397

22

Ich bemerkte . . . haben schiene.] fehlt B. Ihr Freund Eudoxius Dikaiophilus

Anspielung auf die Stücke 9 und 19.

„Rechtlieb".

D I K A I O P H I L U S ] IVSTINVS

B.

zu Jahrgang J /1726,

Stück 154

473

Stück 154 Der Patriot stellt Betrachtungen über die vier Jahreszeiten an. Dazu bringt er in Übersetzung die Beschreibung eines allegorischen Aufzugs der Jahreszeiten und Monate aus dem 425. Stück des Spectator. Sinn der Ausführungen ist, Vergnügen und Dankbarkeit zu wecken angesichts des Guten und Nützlichen, das die verschiedenen Jahreszeiten gewähren. Vergnügen ist geradezu ein Leitwort, und auch anderes erinnert an die Haltung, die B. H. Brockes' gleichzeitige Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott kennzeichnet. Allmacht, Weisheit und Liebe Gottes werden hier wie dort berufen; Polemik gegen die Unempfindlichkeit, gegen die geschlossenen Augen (406,35) ist hier wie dort zu beobachten. Das Vergnügen resultiert wie bei Brockes aus der Erfahrung des Schönen und Nützlichen, der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und Gaben. — Wiederum wird der Leser damit intensiv auf das Diesseits verweisen, auf diese Welt, die so schön und brauchbar eingerichtet ist. Sie verweist in ihren Erscheinungen nicht mehr allegorisch auf ein Jenseitiges, sondern sie ist, von dem höchsten Wesen geschaffen, sie selbst und steht für den Menschen bereit. In keinem Zug ist sie als eitel und nichtig in Frage gestellt; selbst der Winter hat seine Annehmlichkeiten. Und wiederum wird die besondere Glückseligkeit Hamburgs hervorgehoben. Alle vier Jahreszeiten scheinen zum Vergnügen und zum Nutzen dieser Stadt zu wetteifern. Das bürgerliche Behagen an der Fülle der Güter, namentlich der für Küche, Keller, Speisekammer und Speicher bestimmten, ist unverkennbar. Die aus dem Spectator übernommene Beschreibung eines Aufzugs der Jahreszeiten und Monate brilliert durch Erfindungsreichtum bei der Kennzeichnung allegorischer Gestalten. Ein moralischer Zeigefinger kommt nur zum Vorschein bei der Beschreibung des Comus als des Gottes nachtlicher

474

Kommentare

und

Erläuterungen

Ergetzlichkeiten. Diese Figur hat, ähnlich der im Mittelalter oft gezeichneten „Frau Welt", eine liebliche Vorder- und eine abscheuliche Hinterseite: Nächtliche Ergötzlichkeiten können ausschweifend und gefährlich werden! Dem Diesseitsoptimismus, den der Patriot bei seiner ganzen Beschreibung an den Tag legt, entspricht es, daß er sich von der melancholischen Einschätzung des Winters durch den Spectator ein wenig distanziert (405,7ff).

Vf.

C. F. Weichmann

(mit einer Übersetzung

aus dem Spectator).

Motto Horaz, Oden IV 7,9—12. — „Das Eis schmelzen Zephyre, den Frühling besiegt der Sommer, der selbst vergeht, sobald der obstbeladene Herbst die Früchte ausschüttet, und bald kehrt auch der träge Winter zurück." 3 9 9 4 0 0

^

Danknehmiger] danck-geflissener B.

16

Seide] Seide und Wolle B.

27

Boden

zu I,

in den Franzosischen als Teutschen Uebersetzungen 50,19.

26

Vertumnus

402

"

Vesper

403

^

Tuberosen

401

Dachhoden,

Speicher.

röm. Gott des Wandels, der

röm. Abendstern

bzw.

siehe Erl.

Jahreszeiten.

Abend.

Herbsthyacinthen.

GERES] C e r e s (Druckfehler dieses Neudrucks). Acker-, besonders des Getreidebaus.

Ceres: Göttin des

4 Morischen „Mohrisch, den Mohren gehörend, ihnen ähnlich; ein Beywort, das jetzt wenig mehr gebraucht wird. Wenn man unter Mohren nördliche Afrikaner versteht, so ist dafür jetzt Maurisch üblicher." (Adelung). 10

Hunds-Gestirn

Sternbild am südl. Himmel,

23

Cyder

Obstwein.

Cider,

mit dem Sirius.

zu Jahrgang 3 /1726, 4 0 4

4

475

Stück 155

Rauch-Werk] Peltz=Werck B.

28 Lapithen nach griechischem Mythos altes Volk in Thessalien, in Fehde mit den Kentauren lag. 4Q5

12

Unter-Welt

vgl. Erl. zu

4 0 6

17

Tempe

4 0 y

1 dieab scheulichste] die abscheulichste (Druckfehler drucks).

vgl. Erl. zu I,

das

2,16f. 200,10. dieses

Neu-

Stück 155 Der Patriot entwirft mit der Lebens- und Charakterbeschreibung des Pasiteles das Vorbild [. . .] eines vollkommenen Bürgers. Es handelt sich um eines der bedeutendsten Stücke unserer Wochenschrift. Es faßt, gleichsam als Vermächtnis, noch einmal zusammen, worum es dem Patrioten wesentlich geht: um die Schaffung eines selbstbewußten, sozial und politisch engagierten, aufgeklärt-gebildeten Bürgers. Pasiteles ist Kaufmann. Er ist also selbständig, seine Unabhängigkeit ist auf eigenen Besitz gegründet. Bezeichnend, daß er aus einer bereits begüterten und angesehenen Kaufmannsfamilie stammt. Es geht dem Patrioten, so sehr er die besondere Leistung zu schätzen weiß, nicht um die Ausnahme des tüchtigen Aufsteigers, sondern um tugendhafte Bewahrung von Kontinuität. Kennzeichnend ist die Erziehung, die Pasiteles genossen hat. Er ist nicht, wie sonst bei Kaufmannssöhnen üblich, gleich in die Firma gesteckt worden, um alle Arbeiten in Hafen und Kontor, Hof und Speicher kennenzulernen. Vielmehr hat er eine gründliche, auf dem Latein (409, 31f.) und der Philosophie basierende Bildung erhalten, und das auf öffentlichen Schulen, auf dem Gymnasium, nicht, wie beim Adel üblich, durch Hauslehrer oder Hofmeister. Daneben 31

D e r Patriot, Bd . IV

476

Kommentare

und

Erläuterungen

hat er eine kaufmännische Ausbildung genossen, Sprachkenntnisse erworben und ist auch im Anstand und in der Beherrschung des Körpers unterwiesen (ohne daß die „herrenmäßigen" Übungen Reiten, Fechten und Tanzen dabei erwähnt wären). Die nicht berufsspezifische Bildung aber, der Umgang mit Gelehrten, ist ihm selbst das wichtigste geworden. Diese Bildung, — vom Latein und der Weltweisheit war schon die Rede, Geschichte, Geographie, Natur- und Völkerrecht, Sittenlehre, Staatslehre und Mathematik sind benannt, auffallenderweise nicht die sogenannten schönen Wissenschaften! —, diese Bildung hat ihm Horizont verliehen, hat sein Reisen fruchtbar gemacht und ist ihm in öffentlichen Positionen zustatten gekommen, schließlich hat sie ihm in Mußestunden zur Ergötzung gedient. Daß er eine umfangreiche gelehrte Bibliothek besitzt, rundet das Bild. Nicht also der einzig auf sein Gewerbe fixierte ökonomische Praktiker ist das Ziel, sondern der an den Wissenschaften seiner Zeit teilhabende, gebildete, weitblickende Kaufmann. Am vorbildlichen Verhalten des Pasiteles werden die Forderungen des Patrioten zum Thema Reisen (vgl. die Stücke 10, 31, 41, 63, 94, 113) noch einmal deutlich. Die im Adel übliche und von reichen Bürgern nachexerzierte Kavalierstour mit dem Ergebnis oberflächlicher Aneignung von fremden Sitten und Moden ist vom Übel. Der Erwerb von mit unzüchtigen Abbildungen geschmückten Tabatieren, die Kenntnis der vornehmsten Hofschneider, das Verspielen von Geldbörsen im Salon zweifelhafter Damen (411,25ff.), — das geht auf das Gebaren in höfisch-galanter Gesellschaft: Pasiteles ist frei davon. Der vernünftige junge Kaufmann hat stattdessen auf seiner Bildungsreise Naturell, Wirtschaft und Verfassungen fremder Völker studiert und die Kreditwürdigkeit möglicher Handelspartner geprüft. Er ist mit einflußreichen und gelehrten Männern umgegangen. Daß Pasiteles

z« Jahrgang

3 / 1726, Stück 155

477

auch ein Tagebuch geführt hat, zeugt für die Rationalität seines Zeitgebrauchs. Das eigenständig Bürgerliche in der Lebensführung, bei der Erziehung und beim Reisen bereits erkennbar, wird klar beim Namen genannt in der Kennzeichnung der Aufführung des Pasiteles. Die Sätze, die hier (415,22—416,21) formuliert sind, fassen bürgerliche Gesinnung und bürgerliche Lebenszusamart, wie der Patriot sie propagiert, unübertrefflich men, und zwar ausdrücklich in der Absetzung von adliger bzw. höfischer Lebensart. Wir haben es hier zugleich mit einem weiteren frühen Beleg für den Gebrauch des Adjektivs ,¡bürgerlich" im Sinne eines Standesbegriffs zu tun, — nicht also in der Bedeutung von ,,civicus" oder „civilis", sondern im Sinne von „plebejus", zur Bezeichnung des dem Adel gegenüberstehenden Standes, des „dritten Standes" (vgl. auch I, 259,16)! Hier gibt es Grentzen (415,24), und sie werden mit Selbstgefühl gezogen. Man setzt sich ab vom Aristokratisch-Höfisch- „Politischen", das viele Bürgerliche im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus fasziniert hatte und noch fasziniert, und man tut dies im Bewußtsein, Vernunft, Religion und Tugend für sich zu haben. Statt eines Palais ein nützliches bequemes Haus, statt offener Tafel intime Gastfreundschaft, statt ostentativer Pracht zweckmäßige Kleidung, statt glänzender Gesellschaften bescheiden-häusliche Vergnügungen, — kluge, ihr Deutsch nicht verachtende Töchter anstelle modisch französelnder junger Damen, tüchtige brauchbare Söhne anstelle alberner Stutzer! Viel Verstand [. . .] und wenig Geräusch, brave Mittel, und wenig Figur, — klarer ist die Distanz zur aristokratisch-galanten Sphäre kaum zu bezeichnen, die feudal-höfischen Verhaltensgebote sind mit dieser Devise geradezu auf den Kopf gestellt! Der Verpflichtung zum Sichzeigen, zur Repräsentation, zur glanzvollen Demonstration von Rang und Geblüt, gleichgültig, wie es um die ökonomischen Ressourcen bestellt ist, wird selbstsicher ein anderes Ideal entgegengestellt, das 31»

478

Kommentare

und

Erläuterungen

auf geistiger Kraft (Verstand,) und materiellem Besitz (brave Mittel) gründet. Besitz- und bildungsbürgerliches Selbstbewußtsein artikuliert sich hier in klassischer Weise. Und dieser standesbewußte Bürger ist zugleich von Liebe zu seinem Vaterland erfüllt. Sein Patriotisches Hertz bringt es nicht über sich, die Vaterstadt um fremder Gunst willen zu schädigen. Er denkt bei seinen Geschäften daran, den Mitbürgern Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen, auch wenn das seinen Gewinn schmälert. Er nimmt seinen Bürgereid ernst und erfüllt seine Pflichten. Ehrlich zahlt er Steuern und Abgaben. Und mehr noch, — ein Zug, der für deutsche, überwiegend von feudalen und fürstlich-absolutistischen Strukturen geprägte Verhältnisse besonders verheißungsvoll ist: Pasiteles setzt sich aktiv ein für seine Stadt, er engagiert sich, er übernimmt maßgebliche Funktionen! Während Untertänigkeit, staatsbürgerliche Unmündigkeit zur damaligen Zeit für bürgerliches Verhalten weitgehend typisch sind, stellt der Patriot, unter der Gunst Hamburger Verhältnisse, für den Bürger ein ganz anderes Leitbild auf. Pasiteles übernimmt bürgerliche Ehrenämter, Verwaltungspositionen im Gemeinwesen, er arbeitet in den Kollegialorganen der Bürgerschaft mit, er ergreift das Wort in Versammlungen. Pasiteles engagiert sich politisch. Mit anderen Worten: der vorbildliche Bürger lebt und arbeitet nicht passiv, subaltern oder indifferent in den Tag hinein, sondern er zeigt Verantwortung im Gemeinwesen. Dies aber hat wiederum unmittelbar mit einem Bewußtsein bürgerlicher Freiheit zu tun. Pasiteles hat Einsicht in Sachen, die den Stat angiengen (413,8f.), er ist ein Kenner der Geschichte, der Rechte und Freiheiten seiner Vaterstadt und er weiß angesichts der Rechtlosigkeit von Untertanen tyrannischer Regierungen in anderen Ländern die eigene Verfassung, die Glückseligkeit eines freyen Bürgers (413,35f.), zu schätzen. Er fühlt sich verantwortlich für seinen Staat, beharrt aber auch auf seinen Rechten diesem

zu Jahrgang

3 / 1726, Stück

Iii

479

gegenüber (413,27ff.). Der freie Bürger als politisch Verantwortlicher und Bestimmender in seinem Staatswesen, — mehr als 60 Jahre vor der Französischen Revolution wird dieses Leitbild in einer deutschen Wochenschrift aufgestellt, — einem Organ, das nicht nur in Hamburg rezipiert wurde, sondern in vielen fürstlich regierten deutschen Ländern! Wir müssen uns fragen, ob und wie dieses freiheitlich demokratische Gesinnungen entwickelnde Leitbild im 18. Jahrhundert Wirkung in den Köpfen gehabt hat. Ein Echo finden wir, kurz nach der Gründung der „Patriotischen Gesellschaft" von 1765 in Hamburg, in dem Gedicht „Der Patriot" von Johann Joachim Eschenburg in der Neujahrsnummer für 1766 des Hamburgischen Correspondenten (abgedruckt bei F. Kopitzsch, Die Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe (Patriotische Gesellschaft von 1765) im Zeitalter der Aufklärung, ein Überblick, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, Wolfenbütteler Forschungen Bd. 8, München 1980, S. 80f. Zum Thema ferner W. Martens, Bürgerlichkeit in der frühen Aufklärung, in: F. Kopitzsch (Hrsg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, München 1976, S. 347—363.) Vernunft, Religion und Tugend sind die Werte, in deren Namen das Bild eines vollkommenen Bürgers entwickelt ist. Die Religion, das sei abschließend gesagt, gehört dazu, auch wenn eine besondere religiöse Erziehung des Pasiteles nicht erwähnt ist. Gott ist eine Instanz, der er sich in seinem sozialen und politischen Engagement verpflichtet fühlt. Sein aufrichtiges Christenthum wird ausdrücklich hervorgehoben, ja sogar eine wolbewiesene Leidens= und Sterbens=Kunst, was an die Frömmigkeit früherer Jahrhunderte erinnert. Das Handeln des tugendhaften Bürgers ist noch nicht rein zweckrational-säkular motiviert, sondern auch noch religiös gebunden, — ohne daß lutherisches Obrigkeitsdenken hier staatsbürgerliche Selbstbehauptung behinderte.

480

Kommentare

und

Erläuterungen

Zu bemerken ist endlich, daß der Patriot sein so gewichtiges Stück nicht mit Emst und Pathos beschließt, sondern heiter. Auch hier beweist er Souveränität. Der Leser wird bei allem Moralisieren und Belehren nicht unter Druck gesetzt. Er bleibt frei, dem gegebenen Leitbild zu folgen oder nicht. Vf.

].

Klefeker.

Motto Ausonius, Epicedion in patrem 63/64. — „Wer du auch immer bist, der du dies liest, du wirst es nicht unterlassen zu sagen: ein solches Lehen hattest du, wie ich Wünsche hatte." 408

^ Pasiteles Name eines griechischen Bildhauers und Kunstschriftstellers im 1. Jh. n. Chr., hier offenbar nicht als sprechender Name gewählt.

4 0 9

eräugete 21

zeigte.

Windel-Tau

Winde-Tau,

Seil an einer

Winde.

23 Krahn-Trecker . . die sogenannten Krahnzieher, die Pferdemenschen, sechs, auch zehn, vor einen hohen zweirädrigen Karren gespannt. Die schwersten Lasten schleppen sie so von einer Stadtgegend in eine oft sehr entfernte, bergan und ab." (Fr. J. L. Meyer, Skizzen zu einem Gemälde von Hamburg, Hamburg 1800, S. 29). 24 Everführer Ever, „Fahrzeug auf der Niederelbe, chen Boden, und nur einem Segel" (Adelung). 27

Donate

4 1 0

^

unverlauffene

411

'

Correspondenten

24 Ausfliegers ternhaus verläßt. Schosse 13

Gefälle

fla-

vgl. Erl. zu I, 75,9.

29 Post-Fenster unklar; möglicherweise: hende Post abgeliefert wird.

4 1 4

mit einem

Platz im Kontor, wo einge-

nicht schnell verlaufene, hier:

gründliche.

Geschäftspartner.

Ausflieger: junger Mensch, der zum ersten Mal das El-

Schoß: auf Grundstücke vgl. Erl. zu 371,35.

zu entrichtende

Abgabe.

zu Jahrgang 3 /1726, 4 1 5

bedienten] bediente (im Neudruck Druckfehler des Originals). 12 f.

417

6f.: 7

Stutz-Tocke

geputzte

481

Stück 156 versehentlich

nicht

korrigierter

Puppe.

fehlt B. g. G.

vgl. Erl. zu I,

306,17.

Stück

156

Der Patriot nimmt Abschied, blickt dabei auf seine Arbeit zurück, kündigt die Buchausgabe an, bedankt sich bei Einsendern und gibt die Gewinner der ausgeschriebenen Preise bekannt. In der Selbsteinschätzung des Patrioten ist das Bewußtsein der eigenen sprachlich-stilistischen Leistung bemerkenswert. In der Tat zeichnet sich die Wochenschrift, vergleicht man sie mit anderen zeitgenössischen Texten, durch ein klares, gewandtes Deutsch aus, den Bemühungen Gottscheds und der Deutschen Gesellschaften vorarbeitend. Bezeichnend ist das Bewußtsein, publizistisch obrigkeitlichen Verordnungen zugearbeitet zu haben. Der Patriot erkennt hier für sich Funktionen, die die damaligen Zeitungen noch nicht erfüllten. Obrigkeitliche Einwirkung auf die öffentliche Meinung war bislang nur über die kirchlichen Kanzeln üblich, der Typ des Intelligenzblatts noch nicht entwikkelt. Die Behauptung, noch Material zu weiteren Stücken parat zu haben (421, 29ff.), dürfte glaubhaft sein, ebenso der Hinweis auf einen Vorrat eingesandter Arbeiten und einen bestandigen Brief= Wechsel. Freilich sind uns, anders als im Falle des Spectator, keine entsprechenden Briefe an den Patrioten erhalten. Die Bemerkung, man habe die Reise nunmehro auf die Hälfte (422,16) zurückgelegt, läßt vermuten, daß die Ver-

482

Kommentare und Erläuterungen

fasser der Wochenschrift mit dem Gedanken einer Fortsetzung über weitere drei Jahre gespielt haben. Offenbar waren auch Überlegungen angestellt worden, einer solchen Fortsetzung einen ernsthafteren Charakter und damit wohl auch eine andere Einkleidung zu verleihen (vgl. 423,2ff): bei der Abfolge späterer von den gleichen Verfassern herausgebrachter Moralischer Wochenschriften sind solche Umstrukturierungen zu beobachten. — Mit dem schlecht Wetter am Beginn wird auf den Flugschriftenkrieg gegen den Patrioten angespielt. Wichtig ist die Erkenntnis, in Deutschland eine gantz unbetretene Bahn eingeschlagen zu haben. Die Moralische Wochenschrift, die der Patriot repräsentiert, ist in der Tat ein neuartiges publizistisches Medium mit unverwechselbarem Profil. Die Vorarbeit freilich, die Johann Matthesons Vernünfftler 1713 — 14 in Hamburg geleistet hatte, scheint vergessen, der zeitliche Vorrang der Züricher Discourse der Mahlern (1721—23) ignoriert. Die Ankündigung der Buchausgabe ist verbunden mit der Bereitschaftserklärung, gewisse benutzte Namen, die zu Mißdeutungen Anlaß geben könnten, abzuändern (das ist dann auch tatsächlich in einigen Fällen erfolgt); wir müssen daraus schließen, daß im Publikum versucht worden ist, gewisse „moralische Charaktere" mit existierenden Personen zu identifizieren. Die Gedenk-Medaille (423,29ff.) ist mit ihren beiden Seiten auf dem Haupttitelblatt des Patrioten (im vorliegenden Neudruck im Band I, vor dem 1. Stück) abgebildet; sie findet sich auch auf den Titelblättern der 3 Bände der Buchausgabe. Die Verbindung des Sokrates mit dem Begriff des Weltbürgers war nicht ungebräuchlich; von Sokrates, wie auch von Seneca, war überliefert, er habe sich als Weltbürger bezeichnet (vgl. Grimm, Bd. 14, 1,1/1955, Sp. 1557, Artikel „Weltbürger"). Daß Minerva, die Göttin der Weisheit, und Amalthea, die Göttin des Überflusses, sich umarmen, macht

zu Jahrgang 3 /1726, Stück 156

483

deutlich, daß materieller Wohlstand — und damit ein wesentliches Stück irdischer Glückseligkeit — nur in der Verbindung mit der Weisheit, der Philosophie, zu der auch die Tugendlehre gehört, zu erlangen ist. Der Hinweis, man habe mehr zum gemeinen Besten als für die eigene Tasche gearbeitet, ja sogar finanziell zugesetzt, darf ernst genommen werden. Wir wissen nichts über die Honorierung der Mitarbeiter an der Wochenschrift durch den Verleger (für den das Unternehmen sicher ein gutes Geschäft gewesen ist), — abgesehen von den öffentlich ausgesetzten Preisen, von denen einige auch Mitgliedern der Patriotischen Gesellschaft zugefallen waren. Da diese aber fast alle bereits gesicherte Positionen innehatten und so, anders als die Autoren vieler späterer Wochenschriften, auf die Erträgnisse ihrer Feder kaum angewiesen waren, ist die Behauptung uneigennütziger Arbeit am Patrioten durchaus glaubhaft.

Vf.

C. F.

Motto Horaz, ges ...". 4 1 9

42 \

Weichmann Epistulae 11,32.

- „Man gehe getrost einen Teil des We-

^

edle Simplicitat] edle ungekünstelte Einförmigkeit 5 .

25

verwehnten

14

Versehung

verwöhnten. Vorsehung.

26 meinen Vorgingern in dieser Schreib-Ahrt gemeint sind die ersten Vertreter der Wochenschriftengattung The Tatler, The Spectator und The Guardian. 35 422

einzige

irgend

eine.

^ Luft-Wage/Fern»Glas Hier handelt es sich vermutlich um Wunderinstrumente zu moralischen Messungen und Beobachtungen im Besitz der Verfasserfigur, — Requisiten, wie sie zur Entfaltung des gattungsüblichen fiktiven Wesens gehören.

484 423

32

Kommentare und Erläuterungen Portugalosers

vgl. Erl. zu I, 17, l. Sp.

34 Welt-Bürger Der Patriot verwendet den Begriff nicht allein für einen Menschen, der die gantze Welt als sein Vaterland ansieht (I, 1,2f.), sondern auch für einen Erdenbürger allgemein, der in dieser Welt lebt. Vgl. 1, 371,2; III, 163,9; auch III, 45,15: Mit-Weltbürger. m t

424

'

M o t t o • • • Virgil.] fehlt B.

3 f. Svnt hic etiam sva praemia lavdi. Virgil. Lohn." (Vergil, Aeneis I, 461).

„Auch hier ist Lob sein

6 Müntzen eine Abbildung und Beschreibung der Münze bei Johann Paul Langermann, Hamburgisches Münz- und Medaillen-Vergnügen, Hamburg 1753, S. 49ff. 22 f. 3,15.

mein grosses Stuffen-Jahr

Der Patriot wird 60 Jahre alt, vgl. I,

Nachwort Der Hamburger Patriot darf als das bedeutendste publizistische Dokument der deutschen Frühaufklärung angesehen werden. Er ist zugleich der erfolgreichste deutschsprachige Vertreter der in England mit Tatler, Spectator und Guardian entwickelten Gattung der Moralischen Wochenschriften. Äußere Indizien dafür: Seine Auflage betrug zeitweise rund 5000 Exemplare — eine für damalige Verhältnisse ganz exorbitante Höhe! —; er erlebte in Buchform 4 weitere Auflagen; er zeitigte zumindest einen unrechtmäßigen vollständigen Nachdruck sowie eine (holländische) Übersetzung; sein Erscheinen verursachte einen Wirbel von gegen und für ihn eintretenden Flugschriften, insgesamt fast 60 an der Zahl, wie das sonst nirgends im deutschen Bereich analog zu beobachten ist; und schließlich: der Begriff Patriot wurde so etwas wie ein Markenzeichen, dessen sich viele spätere Zeitschriften als Titelbestandteil bedienten. Aber auch gehaltlich, seinem geistigen Profil nach, nimmt der Patriot unter den deutschen Moralischen Wochenschriften als Medium der Aufklärungsbewegung eine Sonderstellung ein. Das hängt mit den Bedingungen seiner Entstehung und Aktivität zusammen. Er ist nicht, wie fast alle gattungsverwandten Zeitschriften, von nur einem oder zwei Verfassern geschrieben worden, sondern von einem ganzen Verfassergremium, und die Mitglieder dieses Gremiums waren nicht überwiegend Schöngeister, frisch von der Universität gekommene Philosophen und moralisierende Theologen, wie häufig die Verfasser anderer Wochenschriften, sondern es waren Juristen, zumeist aus Kaufmannsfamilien stammend, und daneben Gelehrte philosophischer und theologischer

486

Nachwort

Prägung, — Leute von Weltkenntnis und Weitblick, in der Mehrzahl bereits im reifen Mannesalter stehend. Einige von ihnen hatten als Ratsherren und Syndici Hamburgs hohe obrigkeitliche Positionen inne. Horizont und ökonomischer und sozialpolitischer Sachverstand machen sich entsprechend im Patrioten geltend, — was man von den wenigsten deutschen Moralischen Wochenschriften sagen kann; deren Interesse blieb zumeist auf das Didaktisch-Moralische sowie auf Ästhetisches beschränkt. Und vor allem: Unter den Bedingungen Hamburgs als einer freien Reichsstadt mit einem aus Rat und erbgesessener Bürgerschaft konstituierten bürgerlichen Stadtregiment, ohne Fürsten und Hof, ohne Adel und Untertanentum, artikuliert sich im Hamburger Patrioten eine selbstbewußte, für das Gemeinwesen engagierte Bürgerlichkeit, wie nirgends sonst im deutschsprachigen Bereich, — auch in den Wochenschriften der Schweiz nicht! Bürgerlichrepublikanisches, auf die eigene Kraft und eine freiheitliche Verfassung gegründetes Selbstgefühl und ein soziales Verantwortungsdenken durchpulsen viele der moralischen Darlegungen der Zeitschrift, — verheißungsvoll und wegweisend in einer sonst vom fürstlichen — noch nicht ,,auf geklärten" — Absolutismus, von Feudalität, bescheidener Gelehrtenbürgerlichkeit und im übrigen passiver Untertänigkeit gekennzeichneten Lebenswelt in Deutschland. Seine Wirkung muß beträchtlich gewesen sein. Die Hamburger Patriotische Gesellschaft von 1765 (,,Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Manufakturen, Künste und nützlichen Gewerbe"), eine vom Gemeinsinn Hamburger Bürger getragene Gründung mit segensreichen Folgen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Vaterstadt, lebte aus dem Geist der Wochenschrift von 17241, und zahlreiche im letz1

Daß die 4. Auflage der Buchausgabe des Patrioten 1765, im Gründungsjahr der „zweiten" Patriotischen Gesellschaft, erschien, ist wohl nicht zufällig.

487

Nachwort

ten Drittel des 18. Jahrhunderts entstandene weitere patriotische Gesellschaften in anderen Teilen Deutschlands erinnern nicht nur durch ihren Namen an das frühe Hamburger Unternehmen. Viele der berühmten „Patriotischen Phantasien" Justus Mosers könnten auch als gemeinnützige Überlegungen im Sinne des Hamburger Patrioten angesprochen werden. Freilich sind Botschaft und Ruhm des Patrioten im letzten Drittel des Aufklärungsjahrhunderts verblaßt, die Tradition ist abgebrochen — in Deutschland und schließlich wohl auch in Hamburg selber. So wie es den meisten deutschen Moralischen Wochenschriften ergangen ist: Man liest ihn nicht mehr, erinnert sich seiner nicht mehr im 19. Jahrhundert, um vom 20. zu schweigen. Selbst für einen so weitblickenden Historiker wie G. G. Gervinus ist der Patriot um die Mitte des „bürgerlichen", des 19. Jahrhunderts nichts als „ein höchst elender Vertreter der deutschen Journalistik"2. "Während Weisheit und Witz des Londoner Spectator bei den Briten, in unzähligen Auflagen von Generation zu Generation vermittelt, noch heute Bildungsgut sind, — der Spectator gilt als das nächst der Bibel am weitesten verbreitete Literaturwerk in England —, während Auswahlen aus Tatler, Spectator und Guardian auch heute noch in Großbritannien und den USA zur obligaten Schullektüre gehören, ist der Patriot unter den Deutschen seit 6 Generationen kein Name mehr, — nicht einmal mehr ein Stück ungeliebten Bildungsballasts. Das hängt zusammen mit einer weitgehenden Abkehr vom Traditionsbestand der Aufklärung in unserem Land. Blätter mit einem gewissen schöngeistigen Interesse freilich, wie die Discourse der Mahlern, Gottscheds Vernünftige Tadlerinnen oder Klopstocks Nordischer Aufseher, fanden in der Literaturgeschichte noch ein bescheidenes Erinnerungsplätzchen, 2

G. G. Gervinus, Geschichte der Deutschen Dichtung, gänzlich umgearbeitete Auflage Leipzig 1853, S. 575.

Bd. J,

vierte

488

Nachwort

— dem Patriot dagegen war das nicht beschieden. Individualistisches Stürmer- und Drängertum, eine unpolitische ästhetische Erziehung im Zeichen von Klassik und Romantik, vereint mit geistesaristokratischer Arroganz gegenüber aufklärerischem „ Utilitarismus", ließen eine auf das Gemeinwohl und freie bürgerliche Selbstbestimmung gerichtete moralische Orientierung, wie der Patriot sie gab, offenbar als abgeschmackt erscheinen. Der Exponent eines verantwortungsbewußten freien Bürgersinns geriet in Vergessenheit. Insofern gilt die vorliegende Neuausgabe einer verschütteten Tradition. Ob es ihr gelingt, mehr als das Interesse der Historiker zu erwecken f Wir müssen es dahingestellt sein lassen.

Im folgenden sollen einige Informationen zu den Entstehungsbedingungen, zu Verfasserschaft, Verbreitung und Rezeption der Wochenschrift gegeben, ihre Eigenart als Moralische Wochenschrift gekennzeichnet und schließlich ihre historische Bedeutung zu umreißen versucht werden. Der Patriot ist in Hamburg herausgebracht worden. Hamburg war damals freie Reichsstadt, mit etwa 75 000 Einwohnern die weitaus größte ihrer Art, und nach Wien und Berlin die größte Stadt im Reich überhaupt. Dank ihrer Verteidigungsanlagen vom Dreißigjährigen Krieg nur indirekt geschädigt, war die Stadt, gestützt auf ein ökonomisch gefestigtes und selbstbewußtes Bürgertum, relativ reich. Sie konnte, nur dem römisch-deutschen Kaiser unterstellt, eine selbständige Außenpolitik treiben. Sie beherbergte keine fürstliche Residenz, keine Hofhaltung und keinen tonangebenden Adel; sie war geprägt von der Tüchtigkeit ihrer Bürger, vor allem ihrer Kaufleute. Die Verfassung basierte auf dem Machtausgleich zwischen dem aus 4 Bürgermeistern, 24 Ratsherren (Juristen und

Nachwort

489

Kaufleuten) sowie 4 Syndici und 4 Sekretären bestehenden Rat (Senat) und der „erbgesessenen Bürgerschaft", d. h. den in der Stadt ansässigen lutherischen und durch Grundbesitz mitsprachebeim Wert von mindestens 1000 Talern politisch rechtigten Bürgern, repräsentiert durch die — eng mit der kirchlichen Verfassung verflochtenen — Gremien der „Sechziger" und der „Hundertachtziger". Dies Gleichgewicht war zwar zeitweise krisenhaft verloren gegangen, so daß es Ende des 17. Jahrhunderts zu heftigen Verfassungskämpfen gekommen war, doch nach kaiserlichem Eingreifen war 1712 mit dem sogenannten „Generalreceß" ein tragfähiger und, wie sich zeigen sollte, dauerhafter Ausgleich gefunden. Hamburgs Verfassung ermöglichte die politische Mitwirkung einer verhältnismäßig großen Zahl besitzender Bürger. Gesetzliche Regelungen beugten der Herausbildung eines Patriziats vor, das, wie in vielen süddeutschen Reichsstädten, oligarchisch die Macht auf wenige Familien hätte beschränken und das Leben ökonomisch und geistig hätte einengen können. Hamburgs Lage als Hafenstadt, die internationalen Verbindungen seiner Kaufleute, eine liberale Fremdenpolitik, starke Mobilität, etwa bei der Besetzung der Pastorenstellen, hatten der Stadt kulturell und geistig ein Gepräge der Weltoffenheit gegeben. Ohne Frage haben diese spezifischen Hamburger Verhältnisse das Auftreten des Patrioten erst ermöglicht. Herausgegeben wurde die Zeitschrift, wie ausgeführt, von einem ganzen Kreis von Mitarbeitern, einem Verfassergremium. Wer zu diesem Gremium gehörte, blieb den Lesern der Originalausgabe, also der wöchentlich als halbe Bogen im Quartformat erscheinenden Blätter, verborgen. Das Publikum fand sich lediglich mit der vorgeschobenen Verfasserfigur des Patrioten konfrontiert, wie sie sich im 1. Stück vorgestellt hatte. Das Rätselraten um die wirklichen Verfasser ging erst zuende, als 1729 Michael Richey in der Zuschrift zum dritten Band der von ihm überarbeiteten Neuausgabe

490

Nachwort

in Buchform den Schleier lüftete3 und die Patriotische Gesellschaft vorstellte. Die dort — einschließlich Richeys — genannten 11 Namen waren damals fast alle in Hamburg hochangesehen und hatten vielfach auch über Hamburg hinaus einen guten Klang. Es sei versucht, sie näher zu charakterisieren: Johann Julius Surland (1687—1748), Sohn eines Hamburger Bürgermeisters, Jurist mit Studien in Altdorf, Leipzig und Groningen, war 1719 zum Syndicus des Stadtstaats gewählt worden. Er gehörte damit zum Rat und hatte als Syndicus — in einer Art von Ministerfunktion — beträchlichen politischen Einfluß. Conrad Widow (1686—1754), Sohn eines Kaufmanns, hatte in Gießen, Halle und Straßburg Jura studiert, war weit gereist und seit 1718 ebenfalls Mitglied des Rats. Er hatte mit Leibniz korrespondiert. 1742 wurde er Bürgermeister Hamburgs. Barthold Heinrich Brockes (1680—1747), den Zeitgenossen weit über Hamburg hinaus als Dichter des schließlich neunbändigen Gedichtwerks Irdisches Vergnügen in Gott bekannt, dessen erster Band seit 1721 vorlag, war, aus einer Kaufmannsfamilie stammend, gleichfalls Jurist und Mitglied des Rats. Er war, wie auch seine Autobiographie bezeugt, weitgereist, hatte in Halle Thomasius gehört, in Leiden promoviert. Mit Johann Albert Fabricius (1668—1736), Sohn eines aus Itzehoe gebürtigen, in Sachsen wirkenden Kirchenmusikers, gehörte ein ebenfalls über Hamburg hinaus bekannter Name zur „Patriotischen Gesellschaft". Er war, nach theologischen und philosophischen Studien in Leipzig, 1693 nach Hamburg gekommen und wirkte zur Zeit des Patrioten als Professor der Moral und Beredsamkeit am Akademischen Gymnasium, — faktisch einer Artistenfakultät von 4 bis 6 3

s. Seite 331 f f . dieses

Kommentarbands.

Nachwort

491

Professoren zur Vorbereitung der Absolventen der Gelehrtenschule ,,Johanneum" auf die Universitätsstudien. Eine Zeit lang war er übrigens auch Rektor dieses „Johanneums" gewesen. Er hatte sich als Autor altphilologischer undphysikotheologischer Schriften hervorgetan. Sein Schwiegersohn wurde übrigens 1728 Hermann Samuel Reimarus. John Thomas (f 1766), Theologe, gebürtiger Engländer, ein offenbar hochgebildeter Mann, war seit 1719 Geistlicher (Capellan) am Englischen Court, einer Niederlassung englischer Kaufleute in Hamburg mit einer eigenen Kapelle für den anglikanischen Gottesdienst. Er blieb bis 1737 in Hamburg und war in den letzten Jahren seines Lebens Bischof von Salisbury. Christian Friedrich Weichmann (1698—1769), aus Braunschweig stammend, Jurist, einer der jüngsten Mitarbeiter am Patrioten und einer der rührigsten, war seit 1721 in Hamburg ansässig und hatte dort als Redakteur des „gelehrten Artikels" der in Schiffbeck herauskommenden Stats= und Gelehrten Zeitung des Hollsteinischen Unpartheyischen Correspondenten journalistische Erfahrung gesammelt. Seine dort am 7. 12. 1722 publizierte „Kurze Nachricht, wie es künftig mit dem gelehrten Artikel der Holsteinischen Zeitungen wird gehalten werden", atmet bereits den kämpferischen Geist freier Kritik und Wahrheitssuche, wie wir ihn von Lessing kennen. Die von ihm herausgegebene, schließlich sechsbändige Sammlung Poesie der Niedersachsen (1721—38) ist ein Kompendium zeitgenössischer Versdichtung, namentlich zahlreicher Gelegenheitsgedichte, in denen die Namen fast aller Mitarbeiter am Patrioten wieder auftauchen. 1729 ist er zum Fürstlich-Blanckenburgischen Rat ernannt worden und hat Hamburg verlassen. Er starb als Herzoglich Braunschweigischer Hof- und Konsistoriairat in Wolfenbüttel. Johann Adolf Hoffmann (1670—1731), aus dem Holsteinischen stammend, Sohn eines Geistlichen, hatte theologi32

D e r Patriot, B d . I V

492

Nachwort

sehe, philosophische und philologische Studien in Wittenberg absolviert und war weitgereist. Er wußte kaufmännische Tätigkeit mit einer Existenz als Privatgelehrter zu verbinden, fungierte als Diamanten- und Kunsthändler (zeitweilig in Amsterdam) und als Autor philosophisch-moralischer Werke. Mit seiner Schrift Zwey Bücher von der Zufriedenheit (1722), die 1748 in 11. Auflage vorlag, könnte er als der erste deutsche Popularphilosoph der Aufklärung gelten. Johann Klefeker (1698—1775), gleichaltrig mit Weichmann, Jurist mit Studien in Tübingen, war 1725 als Syndicus in den Rat gekommen und ist in der Folge einer der maßgeblichen Politiker des damaligen Hamburg geworden. Er hat die Stadt mehrfach in diplomatischer Mission vertreten und u. a. eine umfängliche Sammlung hamburgischer Gesetze und Verordnungen angelegt. Johann Julius Anckelmann (1692—1761), Jurist, hatte in Leipzig und Groningen studiert und war seit 1720 Advokat. 1727 erlangte er als Sekretär der Oberalten eine Schlüsselstelle in der mit dem Rat obrigkeitlich kooperierenden Bürgerschaft. Michael Christoph Brandenburg (1694—1766), von Richey als einziger Auswärtiger zu den Mitgliedern der Patriotischen Gesellschaft gezählt, war Theologe und wirkte als Pfarrer in seinem Heimatort Sterley (bei Ratzeburg). In seiner Leipziger Studienzeit war er übrigens ein enger Freund des Dichters Johann Christian Günther. Viele seiner Gedichte figurieren in Weichmanns Poesie der Niedersachsen. Michael Richey (1678—1761) schließlich, als Redaktor der Buchausgabe auch Verfasser der Zuschrift, Sohn eines angesehenen Hamburger Kaufmanns, hatte in Wittenberg studiert und war 1704 Rektor des Gymnasiums in Stade geworden. Seit 1717 war er Professor der Geschichte und des Griechischen am Hamburger Akademischen Gymnasium. Seine Gedichte erschienen später gesammelt in 3 Bänden.

Nachwort

493

Sein Idioticon Hamburgense (1743), ein Wörterbuch der hamburgiscben Mundart, bezeugt sein sprachwissenschaftliches Interesse. Von diesen Personen heißt es in Richeys Zuschrift: Sie schrieben den Patrioten. — Wie und wann es zur Bildung des Verfassergremiums der Patriotischen Gesellschaft gekommen ist, wissen wir nicht präzise. Immerhin gibt Richey an, Mitglieder der einstigen „Teutsch'übenden Gesellschaft" in Hamburg hätten den neuen Zusammenschluß initiiert. Diese ,,Teutsch'übende Gesellschaft", die sich als Nachfahre der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts — etwa Zesens ,,Teutsch*gesinnter Genossenschaft" oder Rists „Elbschwanenorden" — mit der Pflege der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit befaßte, war nur in den Jahren 1715 bis 1717 aktiv gewesen. Von ihrer Mitgliederschaft, satzungsmäßig auf 6 Personen beschränkt, sind 3 Personen wiederum Mitglieder der Patriotischen Gesellschaft geworden: Brockes, Fabricius und Richey. Da Richey die Mitglieder dieser Patriotischen Gesellschaft in seiner Zuschrift nach der Ordnung Ihres Beytrittes aufzuführen angibt, Surland und Widow in der Namensliste aber vor Brockes, Fabricius und Richey rangieren, ist zu vermuten, daß die drei ehemaligen Mitglieder der „Teutsch'übenden Gesellschaft" zusammen mit Surland und Widow die Keimzelle der neuen, der Patriotischen Gesellschaft, gebildet haben, der sich die übrigen Genannten dann zugesellten. — Die Gründung ist für den Herbst 1723 anzusetzen: Die erste Nummer des Patrioten als Resultat gemeinsamer Bemühungen lag am 5. Januar 1724 gedruckt vor. Richey spricht in der Zuschrift von wöchentlichen Abenden, an denen man in der Patriotischen Gesellschaft zu vernünftiger Unterhaltung und Gedankenaustausch zum allgemeinen Besten zusammengekommen sei. Die erlesensten Betrachtungen seien durch gemeinsame Bearbeitung reiff ge-

machet worden und man habe es der Mühe wert n»

befunden,

494

das Abgehandelte

Nachwort

schriftlich abzufassen. So seien die Aufsät-

ze für den Patrioten

entstanden.

Ob es sich tatsächlich so verhalten hat und wie es im einzelnen vor sich ging, wissen wirnicht. Vom „redaktionellen" Verfahren ist uns aus dem Kreis der Patriotischen Gesellschaft selber nichts überliefert. Mit ziemlicher SicherKoordinator heit ist jedoch Weichmann als der maßgebliche und Redaktor anzusehen. Ohnehin besaß er bereits journalistische Erfahrung, und zudem hat er von allen uns bekannten Mitarbeitern die meisten Stücke geliefert, darunter das einleitende erste und das abschließende 156. Stück. Jörg Scheibe hat in seiner Untersuchung (1973) eine Reihe von zeitgenössischen Urteilen zusammengetragen, die Weichmann klar die Planungs- und Redaktionsfunktionen zuschreiben. Aus der wichtigsten Quelle, den Leipziger Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen, auf das J a h r 1729, sei

zi-

tiert. Herr Weichmann, heißt es da, habe hinsichtlich des Pa-

trioten klarzustellen

für nötig befunden:

daß er zwar der Ur-

heber solcher Arbeit sey, den Plan und eine gute Anzahl von Stücken dazu theils selber gemacht, theils, wenn sie von Ausländern verfertigt gewesen, übersetzt, auch jeden A u f satz vorhero durchgesehen, und zum D r u c k befördert, ingleichen die Correspondentz bey dem W e r c k e geführet habe; daß aber die meisten Aufsätze von verschiedenen seiner G ö n n e r und Freunde verfaßt worden, die zugleich in einer wöchentlich angestellten Zusammenkunfft selbige vorher durchgegangen haben, wiewohl einige derselben nicht über zwey Blätter dazu aufgesetzet: insonderheit aber der H e r r Professor Richey wegen seiner, des H e r r n Weichmanns, bald hernach angetretenen Reisen, und gleich darauf erfolgten Beförderung in Fürstl. Blanckenburgische Dienste die neue Auflage der besagten Schrifften, nach Maßgebung der von den übrigen Interessenten beygetragenen und gut befundenen Änderungen, gütig besorgt, auch die Zuschrifften, Vorreden und Register dazu verfaßt habe; H e r r Weichmann

Nachwort

495

hingegen an solcher neuen Auflage keinen weitern Antheil nehmen können, als daß er lediglich zum ersten Theile derselben, gleich den anderen Interessenten, seine Correcturen mit hergegeben habe. 4 Diese Feststellung, die uns zugleich noch wünschenswerte Details zur Überarbeitung bei der Buchausgabe liefert, dürfte den Sachverhalt zutreffend beschreiben. Kurz zuvor hatte bereits die Stats= und Gelehrte Zeitung des Hollsteinischen Unpartheyischen Correspondenten, an der Weichmann einst mitgearbeitet hatte, bei der Anzeige des dritten Bandes der Buchausgabe 1728/29 kurz und bündig den gleichen Tatbestand so formuliert: Da der nunmehrige Hr. Rath Weichmann zu Blanckenburg den ersten Druck besorget hat: so ist dieser 2te, in seiner Abwesenheit vom H n . Professore Richey besorget worden. 5 Was im übrigen die Patriotische Gesellschaft anbelangt, so ist es durchaus möglich, daß ihr noch mehr Mitglieder als nur die 11 als Verfasser des Patrioten bezeichneten Personen assoziiert waren, — Gleichgesinnte, die nur nicht an den schriftlichen Ausarbeitungen beteiligt waren. Im 55. Stück berichtet der Patriot, eine Abstimmung über die Preiszuerkennung für die beste eingesandte Arbeit sei mit 24 gegen 6 Stimmen entschieden worden (II, 25,6); dürfen wir die demnach 30 an der Abstimmung beteiligten Personen für Mitglieder der Patriotischen Gesellschaft im weiteren Sinne halten f In den Fiktionsbereich um die Verfasserfigur gehören die 30 Personen jedenfalls nicht (vgl. auch III, 367,13ff ). Wie dem auch sei, — die Patriotische Gesellschaft hat auch nach der Einstellung des Erscheinens der Wochenschrift noch 4

5

Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, auf das Jahr 1729, Nr. 52, Leipzig den 30. Juny. Stats- und Gelehrte Zeitung des Hollsteinischen Unpartheyischen Correspondenten, 25. Mai 1729.

496

Nachwort

viele Jahre weiter bestanden, ja sie hat bezeugtermaßen neue Mitglieder aufgenommen, darunter — in den 30er Jahren — auch den späteren Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel. Der Patriot ist bei Johann Christoph Kißner herausgekommen, einer damals jungen, nicht sonderlich profilierten Verlagsbuchhandlung, die ihren Sitz „im Dohm" hatte. Der Preis betrug pro wöchentliche Nummer 1 Schilling = 1/2 Groschen = 6 Pfennige, — was für die damalige Zeit keineswegs ganz billig war: Der kleine Mann, der Handwerker, konnte so viel nicht leicht regelmäßig erübrigen, und er war als Leser auch nicht gemeint. Einer Bemerkung im Stück 36 (I, 302,24ff.) ist zu entnehmen, daß man zunächst mit etwa 400 Abnehmern gerechnet hatte, was nach der Kalkulation des Pressehistorikers Joachim Kirchner6 für den Verleger bereits rentabel gewesen wäre, zumal anzunehmen ist, daß die Mitarbeiter am Patrioten keine Honorierung erwarteten. Daß die Zeitschrift dann eine ungeahnte Absatzsteigerung erfuhr, ist neben ihrer allgemeinen Neuheit (vgl. I, 169,6ff.) und ihrer Gewandtheit in der Art, die Leser anzusprechen, vor allem darauf zurückzuführen, daß die schon bald ausbrechende Flugschriftenkampagne um sie Neugierde und Kauflust des Publikums erheblich stimulierte. Zudem machte die Stats= und Gelehrte Zeitung des Hollsteinischen Unpartheyischen Correspondenten gut Wetter, indem sie das Herauskommen bestimmter Nummern sowie der einzelnen französischen Übersetzungen des Patrioten kontinuierlich anzeigte, u. a. das Preisausschreiben im Stück 36 meldete, einzelne Stücke und ihren Inhalt sogar vorher ankündigte. Im erwähnten 36. Stück jedenfalls setzt der Patriot seine Auflage auf rund 5000 Exemplare an! Sicher ist dieser Sensationserfolg nicht dauerhaft gewesen; wir müssen annehmen, daß der Absatz nach dem Abebben der publizistischen Kampagne wieder erheblich zurückging. Daß die Wo6

Kirchner

(1957),

S.

146ff.

Nachwort

497

chenschrift trotzdem verlegerisch ein Erfolg war, erhellt schon aus dem beträchtlichen Wert der später für Einsendungen an den Patrioten ausgesetzten Preise. Den Vertrieb werden wir uns so vorzustellen haben, daß die einzelnen Nummern der Wochenschrift jeweils im Kißnerschen Buchgeschäft sowie in anderen Hamburger Buchläden abzuholen waren, wozu der bessere Bürger wohl einen Bedienten, eine Magd, aussandte. Vom freien Verkauf auf den Straßen der Stadt ist nichts zu hören; auch Zeitungen sind wohl damals noch nicht auf diese Weise feilgeboten worden. Aus satirischen Passagen im Stück 136 (III, 256—261) gegeben ist aber zu schließen, daß es eine Art von Kolportage haben muß, daß also Nummern des Patrioten zum Verkauf in die Häuser getragen wurden. Auf ein Ausliegen der Wochenschrift in Kaffeehäusern gibt es in zeitgenössischen Quellen keinen Hinweis. Der Absatz des Patrioten war nicht auf Hamburg beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf auswärtige Plätze. Bereits am Schluß des 3. Stücks gibt die Wochenschrift Bezugsmöglichkeiten an in Schleswig, Hannover, Bremen, Jena, Leipzig, Dresden, Braunschweig, Berlin, Halle, Kiel, Rostock, Lübeck und Wismar. Die Liste erweitert sich später und hat im Stück 98 ihren größten Umfang erreicht: Celle, Ulm, Nürnberg, Altdorf, Augsburg, Regensburg, Frankfurt am Main, Stockholm, Reval, Stralsund, Halberstadt, Königsberg und Wolfenbüttel sind noch hinzugetreten. (Unsere Erläuterungen zu Stück 98 versuchen, sämtliche angegebenen Firmen zu identifizieren.) Die sich hier dokumentierende Verbreitungsweite ist beträchtlich. Daß es vor allem Städte im nord-, mittel- und ostdeutschen Raum sind, die genannt werden, — daß der Süden, Südwesten und Westen weitgehend ausfallen, namentlich die katholischen Landschaften, überrascht nicht. Die Liste der genannten Städte entspricht ungefähr den Plätzen, die sich der Aufklärung im deutschen Sprachgebiet zuerst

498

Nachwort

öffneten, — von der Schweiz freilich abgesehen; nach Zürich, Basel und Bern scheinen die Verbindungen Kißners nicht gereicht zu haben. — Allerdings ist mit der Nennung einer auswärtigen Firma, wo der Patriot ebenfalls erhältlich sei, noch nichts über den tatsächlichen Absatz gesagt. Er mag hier und da nur bescheiden gewesen sein. Daß der Patriot weit verbreitet, keineswegs nur ein Hamburger Ereignis, war, bezeugten neidlos die als Konkurrenzblatt in Halle erscheinenden Vernünftigen Tadlerinnen Gottscheds. Er könne, heißt es da, mit Fug der teutsche Patriot heißen, denn man lese ihn überall: Er erstrecket sich über alles, was Teutsch verstehet, und man lieset auch seine Blätter allenthalben, wo diese Sprache gilt. Von denen frantzösischen Gräntzen biß nach Moscau sind ohngefehr dreyhundert teutsche Meilen. So weit wird auch der Patriot hochgeschätzet.7 Ob die Bezahlung der nach auswärts gelieferten Exemplare auf dem damals buchhändlerisch üblichen Wege des Wertausgleichs im Changeverkehr, im Tausch Bogen gegen Bogen der kontrahierenden Verlagshandlungen, vorgenommen wurde, ist unklar, aber zu vermuten. Von einem Versand über die Postmeister, wie er seit den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts auch für Moralische Wochenschriften gebräuchlich wird, läßt der Patriot selber nichts verlauten, doch findet sich eine Notiz in der Stats= und Gelehrten Zeitung des Hollsteinischen Unpartheyischen Correspondenten des Inhalts, die ersten 8 Stücke der französischen Übersetzung des Patrioten seien bei Kißner zu haben: Wer auch mit gedachtem Kißner so wohl über den Teutschen als Frantzösischen Patrioten nebst Reflexions, auf ein gewisses Jahr=Geld sich setzen wollte, kan sich deswegen bey ihm melden, und werden die Auswärtigen nur mit den Herren

1

Die Vernünftigen

Tadlerinnen,

Halle, Stuck 21 vom 23. 5. 7725.

499

Nachwort Post=Meistern jedes O r t s sich zu vergleichen h a b e n . 8

Dem-

nach scheint ein Bezug nach auswärts im Abonnement über die Postmeister bereits möglich gewesen zu sein, — ebenso wie ein Jahresabonnement auch in Hamburg selbst. — Aus der bereits erwähnten Satire im 136. Stück läßt sich weiter schließen, daß der Patriot auch über Land, z. B. zu Gutshöfen, kolportiert wurde und daß Schüler auswärtiger Gymnasien als Bezieher geworben werden konnten. Übersetzungen und Nachdrucke des Patrioten scheinen verhältnismäßig früh eingesetzt zu haben. Jedenfalls bemerken die Vernünftigen Tadlerinnen im Anschluß an den eben zitierten Passus über die weite Verbreitung des Patrioten noch: J a es giebt ö r t e r , w o man sich die Kosten nicht dauren läst, denselben in andre Sprachen zu übersetzen und nachzudrucken, und also noch mehrere des N u t z e n s theilhaftig zu machen, den man aus seinen Blättern schöpfen kan. In der Residentzstadt eines benachbarten Königreichs ist dieses schon eine geraume Zeit geschehen. Der Patriot

selber weiß im Stück 32 von einem Gerücht, er werde in einer entfernten Reichsstadt nachgedruckt (I, 267,2ff.), im Stück 143 ist von der Übersetzung einzelner Nummern ins Französische, Dänische und Russische die Rede (III, 320,1ff.); eine lateinische Rezension des Patrioten von 1726 spricht neben der französischen Übersetzung der ersten 13 Stücke von der Übertragung ausgewählter Nummern ins Dänische in Kopenhagen sowie vom Gerücht um Übersetzungen ins Russische und Englische, ferner von Nachdrukken in Frankfurt am Main und in Königsberg: C E T E R U M G E R M A N I C E F R A N C O F U R T X Q U O Q U E AD M O E N U M &

REGIO-

Uns sind Übersetzungen der Stücke 1 — 13 be-

MONTI PATRIOTAM RECUDI COEPISSE CONSTAT9. —

heute die französischen 8

StatS' und Gelehrte Zeitung des Hollsteinischen Unpartheyischen Correspondenten, 7. 4. und 12. 4. 1724.

9

BIBLIOTHECA LUBECCNSIS, Bd. IV,

Lübeck

1726,

S.

710F.

500

Nachwort

kannt, die, obwohl datiert À AMSTERDAM, offenbar in Hamburg selbst oder in Altona herausgebracht und mit REFLEXIONS, einem Kommentar, versehen wurden, um in der Zeit des großen Flugschriftenstreits gegenüber französisch gebildeten Kreisen, etwa den adligen Residenten auswärtiger Mächte in Hamburg, sowie wohl auch den sich hier aufhaltenden Réfugiés, die Sache des Patrioten zu verfechten.10 Bekannt ist ferner die vollständige holländische Übersetzung De Patriot, of Duitsche Zedemeester, uit het Hoogduitsch vertaald door Mattheus Ruusscher, die freilich erst 1732, in Leiden, erschien. Der Sedelärande Mercurius (1731—32), die erste schwedische Moralische Wochenschrift, enthielt einige Übersetzungen aus dem Patrioten, Dend Fordanskede Patriot, 1724—25 in 17 Stücken ohne Ortsangabe erschienen, ist eher eine Nachahmung als eine Übersetzung der Hamburger Wochenschrift ins Dänische. Weitere Übersetzungen sind nicht mehr nachzuweisen. — Als vollständigen — unautorisierten — Nachdruck besitzt die Zentralbibliothek Zürich einen 624 Seiten starken Quartband mit dem Titel Patriotens CLVI Stuck / über die Sitten der Welt [. . .], im Jahr Christi 1726, ohne Ortsangabe. Dieser Nachdruck wurde vermutlich in der Schweiz veranstaltet, zumal es dort offenbar keinen buchhändlerischen Kontrahenten für Kißner gab.11 Weitere Nachdrucke, zumindest von Teilen, nach den Bemerkungen in den Vernünftigen Tadlerinnen, in der BiBLIOTHECA LUBECENSIS und im Patrioten selbst anzunehmen, sind nicht nachweisbar. Die Resonanz, das Echo auf den Patrioten, ist lebendig gewesen. Die vielen Flugschriften contra und pro illustrieren 10

11

Wir zahlen diese 13 Übersetzungen nebst R E F L E X I O N S ZU den Flugschriften, vgl. Martens (1964). Ein Pendant, jetzt im Besitz der Bibliothek der Freien Universität Berlin, stammt aus einem schweizerischen Antiquariat. Auch sprachliche Indizien sprechen für einen Nachdruck aus der Schweiz.

Nachwort

501

das ebenso wie die vielen Briefe an den Patrioten und die Einsendungen von zu veröffentlichenden Beiträgen, für die — es ist das erste Mal in der deutschen Zeitschriftengeschichte — auch Preise ausgeschrieben wurden. Im Stück 32 spricht der Patriot von überhäufften Addressen und fleissigen Zuschrifften an ihn, die es ihm erlauben würden, jeden Tag ein Stück damit anzufüllen. Auch wenn viele der abgedruckten Briefe aus dem Publikum tatsächlich fingiert sind, ist an dem Faktum nicht zu zweifeln, daß es den Verfassern der Wochenschrift gelungen ist, Teile ihrer Leserschaft zu aktivieren, sie aus der Reserve bloßer Konsumption herauszulokken, was, wie die Ausführungen im Stück 36 bezeugen, mit voller Absicht, mit dem Blick auf die Leistung der englischen Vorbilder, unternommen worden ist. Eine solche Aktivierung des Publikums im Zeichen aufklärerischer Tugendlehre ist für die damalige Zeit in Deutschland etwas Ungewöhnliches, — ein Schritt zur Herstellung von „bürgerlicher Öffentlichkeit". Besonders erfreut zeigte sich der Patriot über das aktive Echo von Seiten zweier auswärtiger kleiner Lesergesellschaften, der Patriotischen Assemblée zu Merseburg (sie verlegte ihren Sitz später nach Liebenseeburg, vgl. Stücke 36, 59, 152) und der Patriotischen Gesellschaft in Christian=Stadt (vgl. Stück 59), die beide von der gemeinsamen Lektüre und Erörterung von Stücken des Patrioten zu eigener Ausarbeitung von Beiträgen für die Wochenschrift übergegangen waren. Die Nachforschungen Jörg Scheibes haben ergeben, daß die Patriotische Assemblée zu Merseburg bzw. zu Liebenseeburg sowie eine Gesellschaft der Merseburgischen Patriotinnen, von der in Stück 59 die Rede ist, wahrscheinlich die Fiktion eines einzigen Autors, des als Opfer der Satire Liscows unrühmlich bekannt gewordenen Hallenser Professors Johann Ernst Philippi, gewesen sind12. Daß es sich mit 12

vgl. Scheibe (1973), S.

J9-74.

502

Nachwort

der Patriotischen Gesellschaft in Christian=Stadt analog verhalte, liegt indessen nicht so nahe, zumal wenn man, anders Ortsbezeichnung als Scheibe, Christian=Stadt als eine fiktive auffaßt. Engagement für die Tugend und das gemeine Beste konnte unter dem Appell des Patrioten durchaus irgendwo im Lande zum Zusammenschluß Gleichgesinnter und an publizistischer Mitarbeit Interessierter geführt haben. Die Bereitschaft zu gesellschaftlicher Wirksamkeit im Zeichen der Aufklärung ist in den vielen Gründungen weiterer Moralischer Wochenschriften ebenso zu beobachten wie — in den 30er Jahren — in der Konstituierung von ,¡Deutschen Gesellschaften" nach dem Vorbild von Gottscheds Leipziger Gesellschaft und von ersten Freimaurerlogen. Wie haben wir uns die Leserschaft des Patrioten vorzustellenf Eine gedruckte Subskriptionsliste, die uns über Namen, Stand und Beruf der Bezieher informierte, wie bei der Buchausgabe des Spectator 1712/13, besitzen wir nicht. Wir sind auf äußere Indizien, auf gelegentliche Bemerkungen des Patrioten sowie auf bestimmte Rückschlüsse aus seiner Leseransprache angewiesen. Im Stück 36 erklärt der Patriot, er wolle weder für die Gelehrten zu niedrig, noch für die Ungelehrten zu hoch schreiben. Damit ist in der Tat Wesentliches über sein intendiertes wie wohl auch über sein faktisches Publikum gesagt. Es besteht aus einer Schicht von Gebildeten (bzw. noch zu Bildenden), in der die alten Gegensätze von gelehrt und ungelehrt aufgehoben sind, — einer Schicht, zu der nun auch Frauen und Mädchen, von jeher ,,ungelehrt", gehören können. Zwar blieben die lateinischen Motti am Anfang jedes Stücks zweifellos dem weiblichen Leser unverständlich, — sie sind ein Stück gelehrter Prätention, beibehalten wohl aus Gründen der Gattungstreue, denn auch Tatler und Spectator hatten sich mit lateinischen Motti geschmückt —, und auch manche der auf griechischen oder lateinischen Wortstämmen beruhenden ,,sprechenden" Namensbildungen im Text dürften dem weiblichen Publikum

503

Nachwort

ihren Witz nicht verraten haben, aber ansonsten waren die meisten Ausführungen für einen lesefähigen, aufgeweckten Kopf durchaus ohne gelehrte Schulung verstehbar. Wenn der Patriot im Stück 36 weiter sagt, er wolle seine Schreibart so einrichten, daß sogar Handwerker und Landleute sie verstehen könnten, dann dürfte das eher eine Aussage über sein sprachliches Gebaren als über sein Zielpublikum sein. Schon vom Kaufpreis her sind Handwerker und Bauern nicht als Leser des Patrioten zu erwarten, und die ganze in der Zeitschrift selbst entfaltete und diskutierte Welt ist nicht die ihre. Der „bessere", besitzende, über eine gewisse Muße verfügende Bürger und der ländliche bzw. niedere Adlige sind in den Abhandlungen des Patrioten „betroffen", porträtiert, mit ihren Problemen ernst genommen, und sie dürften faktisch die Leserschaft gestellt haben. Daß auch der höfische Adel mit dazu zählte, ist kaum zu vermuten. Die Nachricht in Stück 77, der Patriot werde an verschiedenen Hofen mit Nutzen gelesen, ist nicht überprüfbar. Sicher aber sind es die „gebildeten Stände", wie man Ende des 18. Jahrhunderts die Schicht der besitzenden oder akademisch geformten Bürger und Adligen nennen wird, die, gleichsam in ihrer Vorform, das eigentliche Publikum des Patrioten ausgemacht haben. Ein paar Worte zur Nachwirkung der Wochenschrift und zum Urteil der Zeit. Die Tatsache, daß die Originalausgabe 4 Buchausgaben nach sich zog, die letzte noch 1765, spricht bereits für sich. Keine andere deutsche Zeitschrift hat es je wieder zu damit praktisch 5 regulären Auflagen gebracht. Die Kritik in den zeitgenössischen gelehrten Organen war einhellig positiv. Für die B I B I O T H E C A L U B E C E N S I S beispielsweise war der Patriot in der Buchfassung von 1728/29 ein opus praestantissimum et excellentissimum13. Die Tü13

BIBLIOTHECA

LUBECENSIS,

Bd. IX, Lübeck

1729, S. 138.

504

Nachwort

binger R E L A T I O N E S von gelehrten Neuigkeiten sprachen 1730 vom Patrioten als einem "Werk, welches mit allem Recht unter die vortrefflichsten Bücher unserer Zeit gerechnet zu werden verdienet14. Die Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen kündigten die zweite Buchausgabe von 1737/38 an als vortreffliche Sittenschrift, welche wegen der Wahl der Materien, und der nachdrücklichen, und reinen Schreibart, unter den bisherigen deutschen Schriften von dieser Art mit Recht besondern Ruhm erhalten15. Die Schreibart vor allem scheint es der Kritik angetan zu haben. Wohl anknüpfend an das vom Patrioten selber in seiner Nr. 36 abgedruckte Lob Johann von Bessers erklärten 1728 die Hamburgischen Auszüge aus neuen Büchern, und Nachrichten von allerhand zur Gelehrsamkeit gehörigen Sachen hinsichtlich der ersten Buchausgabe, man sei überzeugt, daß einst dieses Buch, so zu sagen, ein A U T O R C L A S SICUS unserer Sprache seyn werde 16 , — ein Urteil, das auch international kolportiert wurde; jedenfalls äußerte die in Amsterdam herauskommende BIBLIOTHÈQUE RAISONNÉE DES O U V R A G E S DES SAVANS DE L ' E U R O P E über den Patrioten; Cet ouvrage [. . .] passe pour un Chef-d'Oeuvre en fait de stile, sur tout pour la prose 17 . Daß die späteren Moralischen Wochenschriften mit Respekt auf den Patrioten als ihren Vorfahren — neben Tatler und Spectator — zurückgeblickt haben, liegt nahe. Nicht selten wurde, wie bereits erwähnt, der Titelbestandteil Patriot wie ein Markenzeichen benutzt. Der Dresdner Hofdichter 14

15

16

17

von gelehrten Neuigkeiten, Tübingen 1730, St. 2, S. 32. Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen auf das Jahr MDCCXXXIX, 3. Stück, S. 22. Hamburgische Auszüge aus neuen Büchern, und Nachrichten von allerhand zur Gelehrsamkeit gehörigen Sachen, 2. Teil Hamburg 1728, S. 141 f f . BrBuoTHiQUE RAISONNEE DES OUVRACES DES SAVANS DE L'EUROPE, tome /, 2, Amsterdam 1728, S. 460. RELATIONES

Nachwort

505

Johann Ulrich König hat sich bereits 1725 über diese Titelmode bei nach dem Modell des Patrioten herauskommenden Blättern mokiert: Es sind nicht so vielerley Arten Gespräche im Reiche der Todten Mode worden, als vielerley Patrioten gereimt und ungereimt überall hervorgekommen, obgleich immer einer elender als der andre, weil jeder unter diesem Mode=Titel seine armselige Grillen zu Marcte tragen wollen 18 . Die meisten der von König angesprochenen Titel müssen heute als verschollen gelten. Doch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte die Bezeichnung Patriot offenbar Signalwert; das Hamburger Vorbild war noch unvergessen. Der Patriot in Bayern (München) beginnt denn auch sein erstes Stück vom 6. Januar 1769 mit dem gleichen Erasmus-Zitat als Motto, mit dem der Hamburger Patriot sich einst vorgestellt hatte; Klemms Der österreichische Patriot (Wien 1764), die Aufklärung in Österreich mit heraufführend, macht dem Hamburger Muster ausdrücklich seine Reverenz19. Wochenschriften, die sich dem Patrioten verpflichtet fühlen, ohne ihm im Titel zu folgen, sind zahlreich. J. G. Hamanns Matrone, 1728—30 in Hamburg erscheinend und damit in gewisser Weise das Erbe des großen Vorgängers in dieser Stadt antretend, ist des Lobes und der Verehrung voll. Hier finden sich u.a. Schauspielszenen, in denen der Patriot, die Tugend und Apollo im Dienste der Wahrheit gegen Momus und die Bosheit auftreten20; im Hinblick auf die Verknüpfung des Erbaulichen mit reiner Schreibart und lebhafter Einkleidung heißt der Patriot ein Muster aller Muster 21 . Lamprechts Der Menschenfreund, eine bedeutende Ham-

18

19 20 21

A. Brandl, B. H. Brockes nebst darauf bezüglichen Briefen von ]. König an ]. J. Bodmer, Innsbruck 1878, S. 145. Der Osterreichische Patriot, Bd. 1, Wien 1764, St. 12, S. 94. Die Matrone, Hamburg 1728, Stücke 34 und 35. aaO. 1729, Stück 24.

U.

506

Nachwort

burger Wochenschrift der 30er Jahre (1737—39), läßt die Verfasserfigur sich erinnern: Ich bin selbst in einer Gesellschaft zugegen gewesen, wo über tausend Mark für die Armen zusammengelegt wurden, weil der Patriot eben durch seine nachdrückliche und bewegliche Vorstellungen das Mitleiden gegen dieselben auf das kräfftigste erregt hatte (St. 73). Der Königsberger Einsiedler (1740— 41) führt den Zuschauer/Spectator und den Patrioten im Totenreich als ebenbürtige Partner zu einem Totengespräch zusammen (St. 27). Die Verfasserfigur von Markmaale der Tugenden und Laster (Zerbst 1740) preist im 1. Stück das glückliche Hamburg ob seines Patrioten und erklärt: Ich unterstehe mich nicht, ihn zu loben; denn gantz Deutschland vertritt hierinn meine Stelle. Noch der Glückselige (Halle 1763—68) spricht im Hinblick auf den Patrioten verehrungsvoll von unserem Vater (St. 173). Für die Einschätzung des Patrioten durch namhafte Zeitgenossen ist kennzeichnend, was Albrecht von Haller, sonst keineswegs verschwenderisch mit Lob, sich Anfang der 30er Jahre notiert hat. Einige Sätze: Dieses originale und wegen seiner Reinen Schreibart, männlichen Gedanken, gesunder Sittenlehre, unvergleichliche Journal hat eine Societaet der besten Hamburgischen Köpfen außgefertigt. Engelland hat gewiß keinen seiner Spectatorn diesem vorzusezen. Vielmehr ist der Patriot, ernsthaffter, männlicher, hat nichts mattes, nichts schwaches. Sein Ausdruk ist vortrefflich und sein Geschmak, wenig Stellen außgenommen, ohne Tadel [. . .] Und erwundert mich daß die meistens bey solchen Werken einreißende Schlafsucht, sich in diesem so selten zeiget [. . .] Uberhaupt, ziehe ich je länger je mehr dieses Werk allen andern seiner Gattung vor, und halte solches, sonderlich einem Teutschen, vor unentbehrlich. 22 Veröffentlicht wurde Hallers Urteil damals nicht. 22

v g l . Karl S. Gutbke,

Hallers

Literaturkritik,

Bern

1970, S. 2 2 f f .

Nachwort

507

Negativ dagegen urteilte Hallers Landsmann Johann Jakob Bodmer in einer anonymen Anklagung des verderbten Geschmackes; Oder Critische Anmerckungen über den Hamburgischen Patrioten und die Hallischen Tadlerinnen (Frankfurt und Leipzig 1728), — einer Schrift, deren Seiten den Kolumnentitel „Antipatriot" führen. Mit einem beträchtlichen Aufgebot an Grundsätzlichkeit wird hier den beiden Konkurrenzwochenschriften von Bodmers Discoursen der Mahlern ein beckmesserischer Prozeß gemacht, übrigens in einer Sprache, die sich mit Witz und Gewandtheit der Sprache ihrer Zielscheiben nicht messen kann. Ein positives Echo scheint Bodmers Pamphlet nicht gehabt zu haben. Für die zeitgenössische Wertschätzung des Patrioten spricht sicherlich, daß Johann Ernst Philippi, der als pseudonymer Einsender am Patrioten mitgearbeitet hatte, im Jahre 1732 als Professor der deutschen Beredsamkeit an der Universität Halle ein Kolleg über die Hamburger Wochenschrift zumindest angekündigt hat; ob es tatsächlich gehalten wurde, ist nicht zu verifizieren. Die Bedeutung des Patrioten für zeitgenössische Leser tritt indirekt zutage, wenn Friedrich von Hagedorn seinem Bruder Christian Ludwig aus pädagogischen Gründen von der Lektüre abrät: Ziehe das Solide dem Glänzenden, das Latein dem Deutschen, und Cicero dem Patrioten vor 23 , — der Patriot als Alternative zu Cicero! Umgekehrt figuriert der Patriot ausdrücklich in Leseempfehlungen. So entwickelt der junge Wieland 1750 seiner Cousine Sophie Gutermann in einem französisch geschriebenen Brief sein Ideal einer Geliebten. Diese müsse ihr Herz verschönt und vervollkommnet haben mit Lektüre, — dem Spectator, den Caractères des La Bruyère, der Pamela, ausgewählten Komödien Molières und 23

Friedrichs von Hagedorn Poetische Werke, hrsg. von Johann Joachim Eschenburg, Neue wohlfeile Ausg., Fünfter Theil, Hamburg 1825, S. 21. Brief vom 19. Sept. 1730.

33

Der Patriot, Bd. IV

508

Nachwart

Destouches', den Werken der Mlle. Scudery sowie den Vernünftigen Tadlerinnen und dem Patrioten. 24 Und noch 1764 stellt Johann Christoph Stockhausen in der 3. Auflage seines Critischen Entwurfs einer auserlesenen Bibliothek für Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaften eine musterhafte Leserin so vor: Sie war zu ihrem Glücke noch durch keine unsinnige Romane verdorben, ohngeachtet sie schon über sechszehn Jahr alt war; ihre ersten Bücher, die sie nächst den geistlichen las, bestunden aus dem Patrioten und Gellerts Fabeln 25 . Offenbar ist der Patriot in einigen deutschen Landschaften um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Stück akzeptierten bürgerlichen Bildungsguts. Erst die Generation der Hochempfindsamen um 1770, der Stürmer und Dränger, darf sich offenbar erlauben, ihn zu ignorieren. Ein paar Hinweise zu Form und stilistischem Gestus der Zeitschrift! Der Patriot ist eine Moralische Wochenschrift. Sein Erscheinungsbild, die Eigenart seiner Leseransprache und seiner Stoffdarbietung ist vom Gattungsmodell bestimmt, das mit den großen englischen Vorbildern gegeben ist. Eine Verfasserfigur, die nicht identisch mit den wirklichen Autoren ist, eine erdichtete Gestalt also, wie bei den Engländern Mr. Spectator oder — im Tatler — Isaac Bickerstaff spricht in der Ichform, führt die Feder, rückt Briefe ein, redigiert, moralisiert und plaudert. Die ganze Zeitschrift ist von ihr getragen, der heitere, scherzhafte, oft spielerische Ton durch sie garantiert. Meist stellt die Verfasserfigur sich im 1. Stück ihrer Wochenschrift vor, erzählt ihren Lebenslauf, berichtet von ihrem Umgang. So auch „der Patriot". Er präsentiert sich im ersten Stück als Autor seiner Zeit24

25

Wielands Briefwechsel, Akademieausgahe, Bd. 1 hrsg. von Hans Werner Seiffert, Berlin 1963, S. 8, Brief vom 24. August 1750. Johann Christoph Stockhausen, Critischer Entwurf einer auserlesenen Bibliothek für Liebhaher der Philosophie und schönen Wissenschaften, 3. Aufl. Berlin 1764, Vorr. S. X X I f f .

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schrift, als 58-jährigen begüterten Junggesellen von Adel, der aus Obersachsen stammt und nun in Hamburg lebt. Die Fiktion wird bis zum Schluß beibehalten, sie wird mit Nebenfiguren — dem jungen Vetter, der Araminte — erweitert. Die Hauptfigur verfügt über geheimnisvolle Instrumente — moralische Tinkturen und Thermometer — als Insignien ihrer Fiktivität. — Viele Zeitgenossen, solchen Vorgehens ungewohnt, haben sich, — die Flugschriften gegen den Patrioten zeigen das —, zunächst an diesem Gebaren gestoßen. Freilich war die mit dem Prinzip der fiktiven Verfasserschaft gegebene Manier plaudernden, oft scherzenden Sprechens weit entfernt vom gewohnten ernsthaften, wenn nicht pathetischen Predigen und Moralisieren, wie es auf den Kanzeln mündlich und in den Erbauungsbüchern schriftlich geübt wurde. Die 156 Stücke des Patrioten zeigen eine beträchtliche Formenvielfalt. Auch sie ist bedingt durch den fiktiven Verfasser. Er darf systematisch sein und unsystematisch, das Thema wechseln oder es eisern beibehalten. Der ernsthafte moralische Traktat, die philosophische Betrachtung, der scherzhafte Kommentar, echte Briefe, fingierte Briefe, ,,satirische" Briefe, Dialoge, moralische „ Charaktere" als Exempla, moralische Lebensläufe, moralische Erzählungen oder Anekdoten, Situationsschilderungen, Gedichte, Fabeln, Traumberichte, allegorische Bildbeschreibungen, Merksätze, Regeln in Listenform, Schauspielszenen, — all das erscheint in den Stücken des Patrioten in bunter Abfolge unter der Regie der Verfasserfigur. „Artikel", gar mit sachlicher Uberschrift, sind der Moralischen Wochenschrift fremd. Unsere Kommentare zu den einzelnen Stücken gehen zuweilen auf den Formengebrauch ein. Was die Gegenstände, die Themen, anlangt, die in dieser Formenvielfalt behandelt werden, so ist auch hier Buntheit und Abwechslung der bestimmende Eindruck. Oft schneidet ein wöchentliches Stück mehrere Fragen an, fast nie hat das 33"

510

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vorangegangene stofflich-gehaltlich mit dem unmittelbar folgenden zu tun. Den damaligen Leser konnte das divertieren, der heutige Leser freilich, der auf wissenschaftliche Erkenntnis aus ist und Ordnung und Systematik schätzt, tut sich schwer. Er tut sich auch schwer, weil das Register am Schluß ihm wenig hilft. Dies Register (III, 425—458) zeigt sich ebenso unsystematisch-bunt wie die Darlegungen des Patrioten insgesamt es sind. Seine Stichwörter führen eher auf Exempla als auf Begrifflich-Allgemeines, sie dienen eher dazu, einen müßigen Leser zur Lektüre zu stimulieren, als einen Interessierten systematisch zu führen und zu orientieren. Die Fülle der aufgegriffenen Fragen, der angeschnittenen Themen ist hier nicht aufzulisten. Die verschiedensten Probleme des sozialen Lebens, der Ethik, des Welt- und Menschenbilds kommen zu Sprache; es sind, mit Titeln Christian Wolffs zu sprechen, vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen, vom gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit von dem gemeinen Wesen und von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, die hier unterhaltsam-lehrhaft ausgebreitet werden, — von Aberglauben, Adelskritik, Advokatendeutsch, Alchimie und Armenpflege bis zu Zeitvertreib, Zeitungsstil, Zierpuppentum, Zuchthausnutzung und Zufriedenheit. Unser Kommentar zu den einzelnen Stücken versucht, die Behandlung wichtiger Themen geistes-, sozial-, mentalitäts- und literaturgeschichtlich zu erläutern und damit ihren Stellenwert im Konzept der frühen Aufklärung deutlich zu machen. Drei ihm wichtig erscheinende Aspekte möchte der Herausgeber jedoch noch besonders hervorheben. 1. Die sprachliche Qualität des Patrioten ist den Zeitgenossen aufgefallen. Daß er mit seiner „Schreibart" bald ein „ A U T O R C L A S S I C U S " des Deutschen sein werde, war, oben zitiert, Prognose einer zeitgenössischen Kritik. Er selbst hat in zahlreichen Stücken sich um ein reines Deutsch, um

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einen gewandten Stil gekümmert, in seinem eigenen sprachlichen Verfahren sowohl als in Lehre, Kritik und Satire26. Noch im letzten, im 156. Stück kommt er darauf zu sprechen. Er habe, sagt er, versucht, den Geschmack meiner Landes=Leute in der Sprache und Schreib» Art zu verbessern und anstelle des bisherigen gelehrten Mischmasch eine sorgfaltige Reinlichkeit und edle Simplicitat in der Beredtsamkeit einzuführen (III, 419,10ff.). Lamprechts Hamburger Menschenfreund — um einen weiteren Beleg zu bringen — attestiert denn auch 1737 dem Patrioten, er habe der sprachlichen Barbarei den wichtigsten Stoß gegeben, durch ihn habe die deutsche Sprache ein ganz anderes Ansehen erhalten (St. 1). — Wie steht es wirklich um die sprachliche Leistung des Patrioten? Dem Herausgeber erscheint es ein Desiderat der Forschung, den sprachgeschichtlichen Ort des Patrioten zu bezeichnen, seine sprachliche Reinigungs- und Geschmeidigungsleistung ebenso zu veranschlagen wie seine Innovationsleistung11. Zu bedenken ist dabei jedenfalls, daß solche Leistungen vor den Reformen Gottscheds und seiner Deutschen Gesellschaft erbracht wurden und daß sie — mit Hamburg — im niederdeutschen Sprachraum geschahen, wo die hochdeutsche Schriftsprache noch keineswegs überall etabliert war; das erste hochdeutsche Hamburger Kirchengesangsbuch z.B.28 war erst im Jahre 1700 erschienen.29

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29

vgl. die Stücke 7, 9, IS, 17, 34, 36, 39, SS, 67, 70, 72, 86, 95, 102, 111, 121, 137, 141, 151. 1 741 präsentiert die Göttinger Zeitschrift Minerva, oder zufällige Gedanken, Betrachtungen und Anmerkungen in ihrem Stück 7 eine ganze Liste von sprachlichen Neubildungen, die der Patriot, als „Vorbild der besten deutschen Schreibart" gepriesen, geschaffen habe. Hamburgisches Gesangbuch zum heiligen Gebrauch des öffentlichen Gottesdienstes und auch derer Haus-Andachten. Zu untersuchen wäre speziell auch, inwieweit eingesandte Stücke sprachlich von Stücken der „Eigenproduktion" aus dem Kreis der Patriotischen Gesellschaft 'abweichen bzw. inwieweit Weichmann als Redaktor hier

512

Nachwort

2. Wie bereits eingangs skizziert, vertritt der Patriot, was ihn vor allen literarischen Zeugnissen der frühen und mittleren Aufklärung in Deutschland auszeichnet, eine entschieden bürgerliche Position, die bestimmt ist von einem nicht nur die soziale Sphäre betreffenden, sondern auch ins Politische reichenden Engagement für das Gemeinwesen. Die neuere stadtgeschichtliche Forschung (F. Kopitzsch) neigt dazu, diesen herausragenden Zug von innerhamburgischen Verhältnissen her zu begreifen und dem Patrioten bestimmte soziale und politische Orientierungsfunktionen in einer ganz bestimmten Situation zuzuschreiben. Die Bemühung um Weckung der Mitverantwortung des Bürgers für die Wohlfahrt des Gemeinwesens, die Wendung gegen einen aristokratischen Lebenszuschnitt, gegen Großmannssucht und ökonomische Fahrlässigkeiten wären zu verstehen als Appell innenpolian ein Bürgertum, das durch die oben erwähnten tischen Erschütterungen vor 1712 desorientiert und gegenüber dem Staat verunsichert war. Und ohne Frage haben gewisse Stücke des Patrioten, etwa das Armenwesen betreffend (St. 37, 76, 110, 112), gewisse obrigkeitliche Regelungen mit vorbereiten helfen. Wie es sich mit den aktuellen Motivationen aber im einzelnen auch verhalten mag, historisch bedeutsam ist vor allem, was der Patriot objektiv als Botschaft verkündet hat, in Hamburg und über Hamburg hinaus. Es ist ein neues, ein bürgerlich-aufklärerisches Lebenskonzept. Zu diesem Konzept gehört ganz klar die Abkehr vom höfisch-galanten Kulturideal30, — einem Ideal, das, wie z. B. die Autobiographie

30

normiert und überformt hat. Auch Richeys Leistung bei der Bearbeitung der Buchausgabe wäre einzuschätzen. Hierbei übrigens wäre die Lesartenverzeichnung unserer Ausgabe nicht zureichend. Ein genauer stilistischer Vergleich des Originals mit B müßte beide Fassungen noch einmal konfrontieren. vgl. dazu die Stücke 2, 10, Ii, 16, 20, 22, 31, 41, 47, 58, 63, 75, 77, 86, 94, 101, 111, 113, 121, 130, 137, 144, 1S3.

Nachwort

513

Brockes' bezeugt, im Zeitalter des Absolutismus auch den besitzenden Bürger anzuziehen vermocht hatte und von dem Männer wie Leibniz und Thomasius sich die Überwindung von Pedantentum und provinzieller Ungewandtheit versprochen hatten, — Abkehr auch vom Ideal des „Politicus", unter dem nach den Vorstellungen etwa Christian Weises der Bürger sich zu Positionen in öffentlichen Ämtern tauglich machen sollte; zahlreiche Lehrbücher der „politischen Klugheit" hatten das propagiert31. Zu diesem Konzept gehört auch die Auseinandersetzung mit Fürstenherrschaft und der Institution des Hofs32. Die Hinwendung zu genuin bürgerlichen Normen, im Zeichen von Vernunft und Ökonomie, ist in den Stücken des Patrioten auf Schritt und Tritt zu beobachten. Unübertrefflich formuliert ist diese Hinwendung im Stück 155. Solidität, Fleiß, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Offenheit, Freundlichkeit und gemeinnütziger Sinn werden Leitwerte: Tugenden, die die Glückseligkeit im Gefolge haben! Der Patriot setzt damit Signale für das ganze Zeitalter. Ein Wort noch zur Distanz gegenüber dem Adel! Sie entspricht dem neuen bürgerlichen Selbstgefühl33. Konsequent tritt Leistung als Wert an die Stelle von Blaublütigkeit (ohne daß die ständische Ordnung, in Hamburg bei mangelnder Adelsgesellschaft ohnehin von geringerem Interesse, in Frage gestellt würde). Im übrigen aber sieht sich der Patriot tugendhaftem Adel, zumal vom Lande, durchaus nahe. Die Stücke 60 und 131 z. B. vermitteln ein höchst sympathisches Bild ländlich-adliger Existenz, ein Aristokratentum tugend31

32

33

vgl. dazu exemplarisch: (Christoph August Heumann), Der Politische Philosophus, Das ist, Vernunfftmäßige Anweisung zur Klugheit im gemeinen Leben, 3. Aufl. Frankfurt und Leipzig 1724. vgl. die Stücke 12, 13, 22, 41, 44, 53, 56, 58, 63, 64, 73, 77, 78, 87, 88, 93, 97, 101, 108, 113, 117, 122, 123, 125, 138, 139. vgl. die Stucke 29, 30, 58, 59, 67, 75, 88, 102, 109, III, 114.

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Nachwort

haft-bürgerlichen Zuschnitts sozusagen, das in manchen Zügen auf das Bild des Edelmanns Lothario in Goethes Wilhelm Meister vorausweist. Zudem ist hier daran zu erinnern, daß die Verfasserfigur des Patrioten selber als von Adel vorgestellt wird. Ein Adliger also, mit Landgütern im Mansfeldischen, als Verkünder bürgerlicher Tugendlehre in der Kaufmannsstadt Hamburg! Dieser zunächst absonderlich erscheinende Zug hat einen doppelten Sinn. Einerseits verleiht er der Verfasserfigur die in ihrer Rolle erforderliche Distanz: ein Adliger hatte in Hamburg kein Bürgerrecht, durfte keinen Grund erwerben, war nicht ratsfähig. Der Patriot steht also, so wie Mr. Spectator in seiner Beobachterfunktion ein Sonderling, ein Außenseiter, war, über dem Geschehen in Hamburg, ist in politische Interessen nicht involviert. Andererseits aber zeigt sich auch hierin, und das scheint dem Herausgeber historisch bedeutsam, daß der Aufklärer, — die Klassenkampftheorie ist noch nicht erfunden —, nichthöfischen Adel und besitzenden Bürger im Zeichen von Vernunft, Religion und Tugend einander nahe sehen kann. Die spätere Aufklärungsgesellschaft in Deutschland hat denn auch gebildetes Bürgertum und gebildeten Adel eng zu verflechten gewußt. Zur neuen Bürgerlichkeit, wie der Patriot sie lehrt, gehört die Verantwortung für das Gemeinwesen und seine Freiheit, gehört tätige Mitwirkung, etwa in der Übernahme von Ehrenämtern, Einsatz für Verfassung und wirtschaftliche Blüte der Stadt. Der Herausgeber wiederholt oben Angedeutetes, wenn er ein solches Bürgerbild wegweisend nennt angesichts bürgerlicher Passivität und Untertänigkeit in den damaligen absolutistisch regierten Territorien. Wenn Arnold Hauser in seiner ,,Sozialgeschichte der Kunst und Literatur" für die deutschen Zustände im 18. Jahrhundert ausführt: „Die Machtlosigkeit der bürgerlichen Klasse, ihre Ausschließung von der Regierung des Landes so gut wie von jeder politischen Tätigkeit führt eine Passivität herbei, die sich auf das

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515

ganze Kulturleben erstreckt. Die aus subalternen Beamten, Schulmeistern und weltfremden Dichtern bestehende Intelligenz gewöhnt sich daran, zwischen Privatdasein und der Politik eine Trennungslinie zu ziehen und auf jeden praktischen Einfluß von vornherein zu verzichten"3'*, so springt der Unterschied zu den Hamburger Verhältnissen und dem vom Patrioten entwickelten bürgerlichen Ethos ins Auge. In der Tat zeigt sich in der Wochenschrift im Zuge moralischer Unterweisung ein soziales und staatsbürgerliches Engagement, das den Bürger sich bereits als Citoyen verstehen lassen kann, — mehr als zwei Generationen vor der Ära der Französischen Revolution. Und so sind denn hier auch bürgerliche Lebenswelt und Öffentlichkeit nicht zwei getrennte Räume, das Moralische muß nicht erst, wie man es für das 18. Jahrhundert sonst diagnostiziert hat, danach trachten, eines Tages politisch zu werden, vielmehr sind im Konzept des Patrioten privatbürgerliche Tugend, soziale Verpflichtung und politische Verantwortung eng miteinander verbunden. Der Bürger kann hier — um noch einmal auf den Wilhelm Meister vorauszublicken — „öffentliche Person" sein, ohne auf die Schaubühne ausweichen zu müssen, gerade auch, denken wir an den Musterbürger Pasiteles im Stück 155, im Kaufmannsstand, — einem Stand, den der junge Wilhelm Meister nur als Kondition des Philisteriums zu begreifen weiß. Die Vision selbstbewußter und sozial und politisch selbstverantwortlicher Bürgerlichkeit ist im Hamburger Patrioten sehr frühzeitig entworfen. 3. Historisch nicht minder bedeutsam aber ist die ,, Weltanschauung", die der Patriot seinem Publikum vermittelt hat. Die Kommentare des Herausgebers gehen immer wieder mit besonderer Aufmerksamkeit darauf ein, denn hier, im Hinblick auf Menschenbild, Gottesvorstellung und Welt34

Arnold Häuser, Sozialgeschichte chen M3, S. 110ff.

der Kunst und Literatur,

Bd. 2, Mün-

516

Nachwort

auffassung, hat der Patriot wesentliche Marken gesetzt. Das neue, bürgerlich-aufklärerische Lebenskonzept ist von hierher mitgeprägt. — Gewiß, die weltanschauliche „Linie" des Patrioten scheint zuweilen widersprüchlich, sie zeigt gelegentlich „ideologische Inkonsequenzen", was nicht zuletzt mit der Aufnahme fremder Einsendungen zusammenhängt. Der allgemeine Trend aber ist doch eindeutig. Der Patriot orientiert seine Leser neu, — säkular, philosophisch, gesellschaftsbezogen —, und das ist von gewaltiger Tragweite in bislang noch kirchlich-christlich bestimmten Zeitläuften. Zwar hatten sich bereits die Humanisten bemüht, den Menschen nicht allein theologisch, vom Jenseitigen her, zu begreifen, sondern ihm innerweltlich Form und Eigenwert zu geben, aber dies Bemühen war doch auf eine Gruppe Gelehrter beschränkt geblieben. Die breiten bürgerlichen Schichten, zumal die Frauen, hatten auch zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch in den alten frommen Überzeugungen ihren Halt. Die Vorstellung von der essentiellen Sündhaftigkeit war noch lebendig, die Begriffe Buße und Gericht noch etwas den Menschen unmittelbar Angehendes. Die Vergänglichkeit, die Eitelkeit und Nichtigkeit alles Irdischen, von den Kanzeln gepredigt, in den Erbauungsbüchem repetiert, bestimmte noch weithin die Weltauffassung. Ein friedsames Leben zu führen, einen frommen Wandel nach den Zehn Geboten, im vertrauten Rhythmus des Kirchenjahrs, bis man vor Gottes Thron trete, das war für die große Mehrheit der Bürger noch unbefragt gültiges Lebensprinzip. Hier bedeutet der Patriot, ein verhältnismäßig breites Publikum ansprechend, einen Wandel. Die Fähigkeit des Menschen, aus eigener Kraft, mittels der Vernunft, tugendhaft zu werden, ist ein Axiom aller seiner Bemühungen. Daß diese Welt nicht eine Durchgangslandschaft, sondern Platz der Bewährung und irdischer Glückseligkeit für den Bürger sei, ist Tenor zahlreicher seiner Stücke. Der Leser wird angeleitet, zu philosophieren, sich vernünftige Gedanken über Gott und

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517

die Welt zu machen, unabhängig von den Lehren der Kirche. Er wird angeleitet, sein Leben nach den Prinzipien einer vernünftigen Moral einzurichten, — was auf etwas anderes hinausläuft als auf die Nachfolge Christi. Den wenigsten Zeitgenossen ist wohl die Tragweite der hier geschehenden Umorientierung deutlich gewesen, — die Mitarbeiter am Patrioten nicht ausgenommen. Diese Mitarbeiter mochten sich mit ihrem philosophischen Ansatz vielmehr als Partner, als Verbündete der Geistlichen verstehen. Im Stück 4 hatte man denn auch die Kompetenzen, die „Ressorts", klar abgegrenzt: dort die Kirchenmänner, die die Menschen geistlich, nach ihren weit höheren Einsichten, zur Tugend geleiten, — hier der Patriot, der das auf bescheidenere, ,,weltweise" Art zu leisten sucht: Beide Seiten offenbar mit den gleichen Absichten. Daß dies Verhältnis eher ein Konkurrenzverhältnis sei, daß die „weltweise" Moral der geistlichen Lebenslehre das Wasser abgraben könne, so daß das altfromme Weltverständnis in der Leserschaft schließlich von einem philosophischen Humanum abgelöst würde, — das erschien offenbar schwer vorstellbar. Freilich: Es ist nicht von ungefähr, daß kein Angehöriger der — lutherisch-orthodox geprägten — hamburgischen Geistlichkeit dem Verfassergremium des Patrioten angehört hat; der einzige Hamburger Theologe in diesem Kreis, John Thomas, war Anglikaner und unterstand nicht dem hamburgischen Kirchenregiment.35 Und vor allem: Die theologischen Polemiker im bald nach dem Erscheinen des Patrioten ausgebrochenen Flugschriftenstreit scheinen in der Tat die 35

Es wäre interessant zu wissen, ob und wie die Hamburger Pastoren damals auf den Kanzeln auf den Patrioten reagiert haben. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief des Hamburger Pastors Erdmann Neumeister an E. S. Cyprian aus dem Jahre 1736, zitiert in: Theodor Wotschke (Hrsg.), Erdmann Neumeisters Briefe an Emst Salomo Cyprian, in: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte, Bd. 31/ 1930, S. 181.

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Nachwort

weltanschauliche Sprengkraft gespürt zu haben, die die moralischen Bemühungen des Patrioten mit sich führten. Es finden sich dort Argumentationen, die genau den springenden Punkt bezeichnen36. Nach altchristlichem Verständnis ist der Mensch mit seiner Vernunft durch den Sündenfall so verderbt, daß er nicht aus eigener Kraft zum Guten gelangen kann; erst durch göttliche Gnade, nach vorangegangener Buße, ist das möglich: Der Patriot aber lehrt schlicht die vernünftige Selbstbesserung. Der fromme Christ soll die Zeit nützen zur Vorbereitung auf das jenseitige ewige Leben: Der Patriot dagegen lehrt vernünftigen Zeitgebrauch zu tugendhafter Diesseitsbewältigung. Nach altchristlichem Verständnis ist die Welt arg und eitel: Der Patriot jedoch verheißt ein wohlverdientes irdisches Vergnügen. Den alten Leitwerten Einfalt, Demut, Selbstverleugnung, Geduld setzt er andere entgegen: Aufgewecktheit des Kopfes, vernünftige Eigenliebe, Ehre, soziale Aktivität, — und so fort. Eine sorgfältige Analyse der theologisch argumentierenden Flugschriften würde erkennen lassen, in wie umfassender Weise unter der Botschaft des Patrioten das Leben des Bürgers in neue Gleise gelenkt zu werden beginnt, — von der theonomen zur sozionomen Orientierung, vom Glauben an den lebendigen Gott der Bibel zu philosophischer Selbstbestimmung (unter Verehrung eines deistischen Prinzips), von der Frömmigkeit zur Tugend, die man später, ästhetisch angereichert, Humanität nennen wird. Im Aufklärungszeitalter hat dieser Wandel in den Köpfen und Herzen der „Gebildeten" Schritt um Schritt tatsächlich stattgefunden. Unter diesem Wandel erst erhält dies Zeitalter sein neues Gepräge, — auch in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht. Der Patriot hat hier entscheidende Weichen mit stellen helfen.

36

vgl. Martens (1972).

Inhalt des vierten

Bandes

Vorwort

V

Editionsbericht

1

Kommentare und Erläuterungen zu Band 1 (Jahrgang 1724)

11

Kommentare und Erläuterungen zu Band 2 (Jahrgang 1725)

195

Kommentare und Erläuterungen zu Band 3 Jahrgang 1726)

329

Nachwort

485

w

Wolter de Gruyter Berlin • Newlfork

DE

G

Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts

A D

Herausgegeben von Hans-Gert Roloff

L

Alle Bände sind in Leinen

gebunden

95 Sixt Birck, Sämtliche Dramen • Band 3: Lateinische Dramen. Bearb. v. Manfred Wacht. IV, 291 S. 1980. 96

Lateinische Osterfeiern und Osterspiele. Hrsg. von Walther Lipphardt. Teil VI: Nachträge • Handschriftenverzeichnis • Bibliographie. XI, 526 S. 1981.

97 Wolfhart Spangenberg, Sämtliche Werke. Hrsg. v. Andräs Vizkelety. Band 4, Teil 1: Anbind- oder Fangbriefe Gelegenheitsdichtungen. Bearb. v. Andräs Vizkelety. Beschreibung des Glückhafens. Bearb. v. Martin Bircher. IV, 393 S. 1981. 98 Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke • Band 7: Ausführliche Redekunst. Hrsg. v. P. M. Mitchell. 4. Teil: Kommentar. Bearb. v. P. M. Mitchell und Rosemary Scholl. IV, 169 S. 1981. 99 Johann Rist, Sämtliche Werke • Band 7: Prosaabhandlungen (Philosophischer Phoenix, Rettung des Phoenix, Teutsche Hauptsprache, Adelicher Hausvatter). Hrsg. v. Eberhard Mannack. IV, 388 S. 1982. 100 Thomas Naogeorg, Sämtliche Werke • Band 2: Tragoedia alia nova Mercator seu Iudicium, mit der deutschen Ubersetzung von 1541. Hrsg. v. Hans-Gert Roloff. IV, 568 S. 1982.

101

Wolfhart Spangenberg, Sämtliche Werke • Band 5: Anmutiger Weisheit Lustgarten I. Hrsg. v. Andräs Vizkelety, bearb. v. Andor Tarnai. IV, 362 S. 1982.

102

Wolfhart Spangenberg, Sämtliche Werke • Band 6: Anmutiger Weisheit Lustgarten II. Hrsg. v. Andräs Vizkelety, bearb. v. Andor Tarnai. IV, S. 3 6 3 - 8 1 2 . 1982.

103

Wolfhart Spangenberg, Sämtliche Werke. Hrsg. v. Andräs Vizkelety. Band 4, Teil 2: Predigten — Meisterlieder — Krönung Matthiae. Bearb. v. Andräs Vizkelety. IV, 327 S. 1982.

104

Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke • Band 11: Kommentar zu Band I—IV. Hrsg. v. P. M. Mitchell. IV, 164 S. 1983.

105

Thomas Naogeorg, Sämtliche Werke • Band 3, Teil 1: Incendia, mit einer zeitgenössischen Übersetzung. Hrsg. v. Hans-Gert Roloff. IV, 285 S. 1983.

106

Thomas Naogeorg, Sämtliche Werke • Band 3,Teil 2: Hamanus, mit der deutschen Ubersetzung von Johannes Chryseus. Hrsg. v. Hans-Gert Roloff. IV, S. 287-681. 1983.

107 Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke • Band 5, 1. Teil: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil). Hrsg. v. P. M. Mitchell. IV, 642 S. 1983. 108

Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke • Band 5, 2. Teil: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil). Hrsg. v. P. M.Mitchell. IV, 631 S. 1983.

109

Der Patriot • Nach der Originalausgabe Hamburg 1 7 2 4 1726 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch hrsg. v. Wolfgang Martens. Band 4: Kommentarband. VI, 519 S. 1984.

110

Philipp von Zesen, Sämtliche Werke • Band 13: Wider den Gewissenszwang. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen. IV, 310 S. 1984.