Der Mythos "Paul Klee": Eine biographische und kulturgeschichtliche Studie 9783412502379, 9783412501860

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Der Mythos "Paul Klee": Eine biographische und kulturgeschichtliche Studie
 9783412502379, 9783412501860

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Manfred Clemenz

Der Mythos Paul Klee Eine biographische und kulturgeschichtliche Untersuchung

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Paul Klee, nach der Zeichnung 19/75, 1919, 113 (Versunkenheit); Aquarellierte Lithographie, 22,2 x 16 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Claudia Holtermann, Bonn Satz: Punkt für Punkt · Mediendesign, Düsseldorf Reproduktionen: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU 978-3-412-50186-0

Inhalt Vorwort |7| 1. Einleitung |9| 2. Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form Jugend und künstlerische Ausbildung in München |15|  Kunst und Sexualität: Misogynie und Doppelmoral |26|  Italien: Die klassische Bildungsreise auf Goethes Spuren |32|  Opus I: Die Inventionen. Satire und das Problem der „Wahrheit“ |36|  „Nulla dies sine linea“ |45|  Typik, Reduktion, Tonalität. Ambivalentes Verhältnis zum Impressionismus |48|  Exkurs: Die Zeichnungen der Jahre 1907–1910 |56|  Orientierungskünstler: Goya, van Gogh, Cézanne |64|  „Primitivismus“ und Moderne |69|  Genesis und „Metaphysik“ |76|

3. Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde Abstraktion: Die „kühle Romantik“ |79|  Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte. Zur Ambivalenz der Avantgarde |83|  Exkurs: Franz Marcs Aphorismen |98| Paul Klee: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar.“ |103|  Delaunay: Licht und Simultaneität |110|  „Ich und die Farbe sind eins“: Die Tunesienreise mit Macke und Moilliet |113|  Kubismus und die Auseinandersetzung mit Picasso |116|  Exkurs: Die „Jenseitigkeit“ der Farbe |127|  Picasso und das Spätwerk Klees |129|  Klee und der Krieg |132|

4. Klees Kunstphilosophie Klee, Worringer und die romantische Philosophie: A ­ bstraktion und das „Absolute“ |139|  Klee, die Romantik und das „absolute Ich“ |149|  Goethes Morphologie und die Theorie der „Urphänomene“ |158|

5. Von München nach Weimar Ex Oriente Lux: Wilhelm Hausensteins Kairuan-Monographie und der Orient-Mythos |163|  Die Stilisierung Klees zur Kultfigur |173|  Bauhaus: Weimar und Dessau (1921–1931) |176| Theorie und Praxis der Kunst am Bauhaus |187|  Paul Klee und Will Grohmann: Kunst als mystische „Offenbarung“ |197|  Freundschaft und Auseinandersetzung mit Kandinsky |202| Exkurs: Der „innere Klang“. Kandinsky und Kants Ästhetik |208|  Werke aus der ­Bauhaus-Zeit: konstruktiv, phantastisch, surreal |212| Inhalt I 5

6. Düsseldorf und Bern Berufung an die Düsseldorfer Kunstakademie 1931 |223|  Freundschaft mit Petra Petitpierre |226|  Aufstieg des Nationalsozialismus, Amtsenthebung und Emigration |230|  Die Arbeiten aus der Düsseldorfer Zeit |237|  Erkrankung (1935–1940) |242|  Das Spätwerk: Durchbruch zu einem neuen Stil. Art brut |249|  Nach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees. Heideggers, Adornos und Hofmanns Kleerezeption |261|

7. Eros und Thanatos Die Authentizität der Tagebücher und Briefe Klees |275|  Ein Klee-Bild jenseits des Mythos: Einsamkeit, Depression, Krankheit |278|  Klee und die Philosophie Nietzsches |287|

8. Chronique sentimentale Erotische Metamorphosen |293|  Lily Klee |301|  Frühe Traumatisierung? – Idealisierung und Entwertung der Frau |308|  Transpathologie: Die „zweite Haut“ |315|

Anmerkungen |320| Literaturverzeichnis |364| Abbildungs- und Reproduktionsnachweis |370| Tafelteil |371| Personenregister |403|

6 I Inhalt

Vorwort Wie kaum ein anderer Künstler der Moderne hat Paul Klee einen Kosmos geschaffen: einen Mikro- und Makrokosmos und darüber hinaus, in seinem Spätwerk, ergreifende Darstellungen existenzieller Situationen wie Einsamkeit, Krankheit und Tod. Sein Anspruch zielt auf eine kosmogenetische, weltschöpferische Kunst, die, in romantischer Manier, ins Unendliche, auf „Totalität“ verweist. Ähnlich wie van Gogh – für Klee ein „Markstein“ seiner eigenen künstlerischen Entwicklung – war er der Ansicht, der Künstler müsse geistig auch auf anderen Planeten zuhause sein können. Klees Kosmos hat offensichtlich nichts mit Naturwissenschaft zu tun, wie ihm gelegentlich attestiert wurde. Anders als Goethe, den er bewunderte, war er kein Naturforscher und entwickelte nicht wie dieser eine empirisch fundierte Naturanschauung, sondern eine subjektive geprägte Naturschau. Zentrum dieser Naturschau ist nicht das Objekt Natur, sondern das Subjekt Künstler. Der „geheimnisvolle Weg“ der Erkenntnis führt, wie bei Novalis, nicht nach Außen, sondern nach Innen. Klee trug auf diese besondere Weise das „Weltall“ in sich. „Der Mythos Paul Klee“ ist kein Enthüllungsbuch. Es geht vielmehr um eine neue kunst- und kulturgeschichtliche Kontextualisierung Klees, dessen Bild über viele Jahrzehnte von Weihrauchschwaden verdeckt wurde, was einer Art Heiligenverehrung gleichkam. Klee wurde als Hoffnungsträger einer neuen Religion (Hausenstein), als Übermensch (Werner Haftmann) oder als allwissender Künstler (Will Grohmann) gefeiert, ein Mythos, hinter dem der Mensch und das Werk verschwanden. Indem das Werk in den Kontext der Lebensgeschichte Klees, der Kulturgeschichte und der historischen Bedingungen seiner Zeit gerückt wird, entsteht ein realistischeres, freilich auch ambivalentes Bild des großen Künstlers. Klee war keineswegs der weltentrückte Künstler-Poet, als der er von zahlreichen seiner Biographen dargestellt wurde. Die genaue Analyse ­seiner Tagebücher und der Rückgriff auf bisher kaum ausgewertete Quellen (etwa die Lebenserinnerungen und Briefe seiner Frau Lily, die Tagebücher seiner langjährigen Freundin Petra Petitpierre), zeigen, dass er ein leidender Mensch, zugleich aber auch ein geschickter Geschäftsmann war, der die Bedingungen des Kunstmarktes sehr genau einschätzen konnte. Auch der Anspruch einer (kunst-)theoretischen Originalität Klees muss relativiert werden. Klee hat sich ausgiebig literarischer Vorlagen bedient, von der Literatur der deutschen Frühromantik – die er möglicherweise nur aus zweiter Hand kannte –, über die Philosophie Nietzsches bis hin zu den Texten seiner Künstlerkollegen. Insbesondere die geistige Nähe zur Philosophie der Frühromantik ist, wie ich zeigen möchte, ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis des Künstlers und Theoretikers Klee. Das vorliegende Buch hat von zahlreichen Diskussionen profitiert. An erster Stelle möchte ich Prof. Dr. Hans Zitko (Frankfurt) danken, der das gesamte Manuskript gelesen und mir wichtige kunsttheoretische Denkanstösse gegeben hat. Dr. Hans Suter (Fahrni, Schweiz), Autor der exzellenten Monographie über die Erkrankung Klees, hat wichtige Vorwort I 7

Teile des Manuskripts gelesen und davor gewarnt, mich in allzu spekulative Thesen über die Erkrankung des Künstlers zu verrennen. Hilfreich waren auch Hinweise von Stefan Frey (Nachlassverwaltung Paul Klee, Bern), Dr. Michael Baumgartner (Zentrum Paul Klee, Bern) und Dr. Christine Hopfengart (ehemals Zentrum Paul Klee, Bern). Mein ganz besonderer Dank gilt Frau Wiederkehr-Sladeczek (Leiterin des Archivs und der Dokumentation, Zentrum Paul Klee, Bern), die mich bei meinen Recherchen im Archiv des Zentrums Paul Klee unterstützt und mir mit großem Engagement Archivmaterial und Bilder Klees zur Verfügung gestellt hat. Unter den zahlreichen Forschern und Forscherinnen, von denen ich im Laufe meiner langen Beschäftigung mit Klee wertvolle Anregungen – auch im persönlichen Gespräch – erhielt, möchte ich insbesondere Prof. Dr. O. K. Werckmeister (Berlin) hervorheben, dessen unbestechlich kritischer und zugleich auf historische Zusammenhänge gerichteter Blick für mich eine Art geistiger Kompass im Universum Klee war. Die Diskussionen in meiner Colloquiums-Gruppe „Psychoanalyse und Kunst“ und meine Klee-Seminare im Rahmen der „Deutschen Rheuma-Liga“ haben mir zahlreiche Denkanstöße vermittelt. Danken möchte ich Frau Müller-Petitpierre, die mir die Tage­ bücher ihrer Mutter, Petra Petitpierre, zugänglich gemacht hat. Danken möchte ich auch meinen Kindern, die das langwierige Projekt ihres Vaters mit wohlwollendem Interesse begleitet haben. Christel Christe hatte maßgeblichen Einfluss auf die Geburt der Idee, ein Buch über Paul Klee zu schreiben, und hat die Entwicklung dieser Idee in allen ihren Phasen mit sachkundiger Kritik unterstützt. Frankfurt, im Februar 2016

8 I Vorwort

Kann ich denn sterben. Ich Kristall. Meiner Kunst fehlt leidenschaftliche Art der Menschlichkeit. Mein Licht ist zu weißglühend, um allzu vielen warm zu scheinen. Ich bin kosmischer Anhaltspunkt, nicht Species. (Paul Klee, Tagebücher)

1. Einleitung „Ich bin mein Stil“: Über die Einheit von Leben und Werk bei Paul Klee

„Mein Werk gleicht einem Tagebuch“, erklärte Picasso und datierte deshalb seine Bilder aufs Sorgfältigste. Ähnlich verfuhr Paul Klee mit seinem Werkkatalog, und auch bei ihm sind Leben und Werk untrennbar miteinander verbunden. Wenn ich mich im Folgenden mit Paul Klee, einem der bedeutendsten und vielseitigsten Künstler der Moderne beschäftige, soll diese Verbindung von Leben und Werk besonders betont werden.1 Ich möchte mich neben dem Werk auch dem Menschen Paul Klee, seiner Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit zuwenden, die bisher von seinen Biographen nur relativ oberflächlich betrachtet wurden2. Ebenso wurde Klees Verhältnis zu seinen Künstlerfreunden nicht systematisch untersucht. Ich möchte auch dieses Verhältnis (wobei hier vor allem Wassily Kandinsky und Franz Marc von Bedeutung sind) ebenso wie die Beziehung zu Zeitgenossen (insbesondere zu Wilhelm Hausenstein, Wilhelm Worringer und zu seinem langjährigen Freund Will Grohmann) in den Blick nehmen. Meine Untersuchung wird so auch ein Stück Zeit- und Kulturgeschichte der ästhetischen Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein. Von Bedeutung war für mich auch Lily Klee, seine Ehefrau – die in der Klee-Literatur nur als Marginalie, gleichsam als Fußnote existiert3 –, und die Rolle, die sie in seinem Leben spielte. Über Paul Klee, mehr als siebzig Jahre nach seinem allzu frühen Tod, etwas Neues zu schreiben, ist ein gewagtes Unterfangen. Ähnlich wie bei Picasso ist scheinbar alles Wichtige schon gesagt. Eines allerdings ist angesichts der kaum mehr zu überschauenden Fülle an Veröffentlichungen auffällig: Wir wissen fast alles über sein Werk, aber erstaunlich wenig über den Menschen Paul Klee. Natürlich gibt es zahlreiche Biographien und fast keine Arbeit über sein Werk spart sein Leben vollständig aus. Schaut man sich die vorliegenden Biographien jedoch genauer an, so muss man feststellen, dass – von einigen Ausnahmen abgesehen, die sich vor allem auf die letzten Lebensjahre, auf seine Einleitung I 9

Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten, seine Emigration und seine Erkrankung beziehen – das Komplizierte und Leidvolle, die Brüche und Konflikte in Klees Leben, die sich teilweise bis zur Depression und zum Lebensüberdruss steigerten, weitgehend ausgeklammert werden. „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“4. Dieser Satz gehört zu den meist zitierten schriftlichen Äußerungen Paul Klees. Weniger häufig wurde ­allerdings gefragt, was seine Kunst „sichtbar“ machen soll: das „Wesen“ der Dinge, ihr „wahres Sein“, wie es seit van Gogh und Gauguin üblich war?5 Man würde Klee gründlich missverstehen, würde man seinen Anspruch auf Sichtbarmachung darauf beschränken. Er lässt sich nur verstehen, wenn man seinen Anspruch, „kosmogenetischer“, „weltschöpferischer“ Künstler zu sein, berücksichtigt. Ganz wie der Renaissance-Künstler, der als alter deus Gott ähnlich sein wollte, strebte Klee mit seiner Kunst danach, ein „Gleichnis“ der Schöpfung, ein „Gleichnis zum Werke Gottes“ zu schaffen.6 Er geht noch einen Schritt weiter: er befindet sich am „Urgrund“, am „Herz der Schöpfung“7 und kann deshalb gottähnlich die „Genesis“ fortsetzen, der „Genesis Dauer verleihend“.8 Seine Position entspricht derjenigen Leonardos, der der Zeichnung eine geradezu metaphysische Würde zuschreibt: „Und daraus schließen wir, daß die Zeichnung nicht nur eine Wissenschaft ist, sondern eine Gottheit genannt werden muß, die alle sichtbaren Werke des Allmächtigen neu erschafft“.9 Man kann die Selbstermächtigung Klees als kosmogenetischer Künstler als überholte Künstlerpose, als Hybris abtun oder aber bewundern (wie die meisten seiner frühen Biographen), sie ist jedenfalls der Anspruch, den Klee an sich stellt und an dem er gemessen werden will: Es ist der Kern seines selbstgeschaffenen Mythos. Am Beispiel Klees soll gezeigt werden, wie im Zusammenspiel von Künstler und Rezipienten, insbesondere seinen Biographen, Kritikern und Kunsthändlern, ein Künstlermythos (etwas weniger pathetisch könnte man sagen: eine „Künstlerlegende“) geschaffen wird, der nachhaltig das Bild eines Künstlers in der Öffentlichkeit bestimmt und schließlich für bare Münze genommen wird. Vor dem Hintergrund der kaum mehr überschaubaren Literatur muss der Anspruch einer weiteren Untersuchung relativ bleiben. Obwohl auch die biographische und künstlerische Entwicklung Klees nachgezeichnet werden soll, geht es weniger um die Erschließung zusätzlichen biographischen Materials (obwohl dies u. a. bei den bisher unveröffentlichten Tagebüchern von Lily Klee und Petra Petitpierre der Fall ist10) als vielmehr darum, das vorliegende autobiographische Datenmaterial und die Texte, mit denen der Mythos Klee kreiert wurde, zu sichten, zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Unumgänglich ist auch die Erörterung kunstphilosophischer Aspekte, insbesondere der Rekurs auf die Kunstphilosophie der Romantik, auf die Philosophie Nietzsches, auf die Texte Worringers, Kandinskys, Marcs sowie auf die Naturphilosophie Goethes. Auch van Goghs Briefe wurden von Klee intensiv rezipiert11. Nur so ist es möglich, Klee in einem kunst-, geistes- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen, nicht als ex-nihilo-Künstler, als „Selbstlehrling“, als Künstler, der sich gleichsam selbst erschaffen hat, wie Klee an zahlreichen Stellen nahelegt. „Selbstlehrling“ zu sein ist ein weiterer Mythos, den Klee geschaffen hat: tatsächlich war Klee sehr genau mit der Kunst seiner 10 I Einleitung

Zeit vertraut. Der Kunsthistoriker und Psychoanalytiker Ernst Kris, auf dessen „Legende vom Künstler“ ich mich häufig beziehen werde, hat nachgewiesen, dass der Mythos des „Selbstlehrlings“, des Autodidakten, schon in der Antike fester Bestandteil der Kunstgeschichte war.12 Die als Motto angeführten Zitate verweisen auf ein Bild Klees, das nicht den üblichen harmonisierenden Darstellungen entspricht. Insbesondere seine Kristallmetapher („Kann ich denn sterben. Ich Kristall“), seit der Romantik eine Formel künstlerischer Gestaltung, ist eine geradezu magische Beschwörungsformel: Die Verwandlung ins Anorganische wird als Schutz gegen die eigene Sterblichkeit erlebt. Wodurch fühlte er sich bedroht: durch seine Sterblichkeit, durch die Schwierigkeiten seiner Kunst, durch sein eigenes Lebensskript, in dem er sich immer stärker zum asketischen Künstler stilisierte? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es erforderlich, eine Art „innerer Biografie“ Klees zu schreiben,13 d. h. seinen Entwicklungsprozess als Mensch nachzuzeichnen, wobei ich nicht zuletzt auch auf Klees tragisches Schicksal in seinen letzten fünf Lebensjahren eingehen möchte: seine Erkrankung an der damals noch tödlich verlaufenden Autoimmunerkrankung systemische Sklerose und ihre möglichen psychischen Hintergründe. Das vorliegende Buch wurde somit auch aus einer psychologischen Perspektive geschrieben. „Meiner Kunst fehlt leidenschaftliche Art der Menschlichkeit“, notiert Paul Klee 1916 in seinem Tagebuch (Tgb. 1007)14. Noch drastischer ist die ursprüngliche, handschriftliche Fassung dieses Satzes: „Mir fehlt jegliche leidenschaftliche Art der Menschlichkeit.“ Warum sollte Paul Klee zwei derartig verfängliche, ja befremdliche Sätze schreiben? Zur Steigerung der Popularität für eine breitere Öffentlichkeit dürften sie kaum geeignet sein. Sie verweisen zunächst auf die Problematik der Authentizität des autobiographischen Materials, das Klee uns hinterlassen hat, ­insbesondere seiner Tagebücher: Er hat seine Tagebücher nachträglich redigiert und zur Veröffentlichung vorgesehen15. Dass ihm jegliche Art leidenschaftlicher Menschlichkeit fehle, klingt dramatischer – geradezu „unmenschlich“ – als die Aussage, dass seiner Kunst die leidenschaftliche Menschlichkeit fehle. In einem Brief an seine Ehefrau Lily, in dem es um die relativ banale Frage des Unterhalts für den gemein­samen Sohn Felix geht, finden wir eine ähnliche Passage: „Mich lässt es kühl – wie das Meiste von dieser Welt.“16 Dies mag als erster Hinweis dafür dienen, dass die redigierten Tagebücher Klees, ebenso wie seine Briefe, nicht einfach Fiktion und Maskerade (wie in der neueren Klee-Forschung gelegentlich angedeutet wird), sondern weitgehend authentisch sind, weil Klee sich als Person häufig geradezu schonungslos einem zukünftigen Publikum zur Schau stellt.17 Die unwahrscheinliche Alternative wäre, ihn als einen „substantial liar“ zu betrachten.18 Mit diesen Äußerungen Klees ist neben dem methodischen zugleich auch ein inhaltliches Problem verbunden. Normalerweise würden wir uns fragen, was es bedeutet, wenn ein Mensch – auch ein Künstler, dem wir möglicherweise mehr Freiheiten zubilligen als einem normalen Sterblichen – von sich sagt, ihm fehle jegliche Art „leidenschaftlicher Menschlichkeit“. Handelt es sich um einen Eremiten, einen „Heiligen“ oder vielleicht um einen selbstbezogenen Autisten? Liegt die Betonung auf „leidenschaftlich“ oder auf „Menschlichkeit“? Ist Klee zu bedauern oder zu bewundern, wenn ihn „das Einleitung I 11

Meiste von dieser Welt“ kühl lässt? Die Klee-Forschung stellt derartige Fragen in der Regel nicht. Werckmeister hat darauf hingewiesen, dass man gerade erst begonnen habe, die biographischen Hintergründe des Klee’schen Schaffens zu untersuchen, um auf diese Weise „die geschichtsenthobene Metaphysik der Kleeschen Kunst“ kritisch zu hinterfragen.19 Psychologisch gesehen könnte im Hinblick auf die ältere Kleeforschung geradezu von Empathieverweigerung sprechen. Klee war nicht nur ein begnadeter Künstler, er war auch ein leidender und häufig einsamer Mensch. In einem frühen Tagebucheintrag spricht er von der „Verzweiflung der Einsamkeit“ (Tgb. 106). Lily Klee schreibt in einem Brief an Will Grohmann er sei ein „geistig“ „völlig einsamer Mensch“ gewesen.20 Bemerkungen wie die von Grohmann selbst, Klee sei „oft an der Grenze des Wahnsinns“ gewesen21, bleiben isoliert und werden nicht weiter verfolgt. Auch Jürgen Glaesemer schreibt, Klee habe aus seiner „Einsamkeit“, „seinen Ängsten und dem Wahn als wesentlicher Bestandteil seiner Individualität nie einen Hehl gemacht“.22 Derartige Bemerkungen passen nicht zu dem heroisierten Bild des weltentrückten Künstlers, wohl aber zu einem realistischen Bild Klees. Auch die Hintergründe seiner rätselhaften Autoimmunerkrankung systemische Sklerose bleiben – mit wenigen Ausnahmen – weitgehend im Dunkeln.23 Mit einer textkritischen Betrachtung des vorliegenden autobiographischen Materials, der theoretischen Schriften und der Manuskripte des Pädagogischen Nachlasses reagiert diese Untersuchung auf die genannten Lücken in der bisherigen Klee-Forschung. Es ist angesichts der künstlerischen Bedeutung Klees ebenfalls erstaunlich, dass zwar eine textkritische Neu-Edition, bisher aber noch keine historisch-kritische Ausgabe seiner Tagebücher vorliegt,24 was der weiteren Sakralisierung Klees Vorschub geleistet hat.25 Beispielhaft seien hier die Biographien von Haftmann, G ­ iedion-Welcker und Grohmann genannt. Erst einige neuere Arbeiten (Geelhaar 1980, Werckmeister 1981, 1982, 1989, 2008, Glaesemer 1987, Franciscono 1991, Wedekind 1996, Hopfengart 1989, 2008) versuchen, die Person Klees kritischer zu beleuchten. Der Zusammenhang von Werk und Biographie löst bei vielen Kunsthistorikern noch immer Aversionen aus. „Psychologismus“ ist dabei einer der üblichen Vorwürfe 26. Bei einer Reihe von Künstlern ist ein derartiges Vorgehen jedoch unumgänglich, Picasso ist einer von ihnen, Klee ein anderer, so unterschiedlich und zugleich ähnlich diese beiden Künstler waren. Auch van Gogh gehört in diese Reihe. Für den brillantesten der Picasso-Biographen, John Richardson, war gerade diese Verbindung Ausgangspunkt seiner monumentalen dreibändigen Mono­grafie: Nachdem ich mit eigenen Augen hatte beobachten können, wie eng Picassos Leben und Kunst miteinander verwoben waren, hatte ich den Plan gefasst, seine Entwicklung anhand seiner Portraitmalerei nachzuzeichnen. Genauer anhand der Portraits seiner Ehefrauen und Geliebten, denn mir war aufgefallen, daß die Bildnisse, die Picasso von den ihm nahe ­s­tehenden Frauen schuf, jedesmal seinen gesamten Stil beeinflussten27.

12 I Einleitung

Klee hat sein Leben seinem Werk untergeordnet. Glaesemer spricht sogar von einer „vollständigen Identität“ von Leben und Werk bei Klee. War dessen Devise zunächst, erst Mensch zu werden, der Künstler würde „draus folgern“ (Tgb. 66), so wird diese später in ihr Gegenteil verkehrt: Klee sieht sich als „jenseitigen“ asketischen Künstler, wobei das Leben der Kunst untergeordnet ist. Er entwickelt zunehmend die Vorstellung eines Künstlers, der „Werkzeug eines fernen Willens“ (Tgb. 1104) und nicht mehr „Species“, sondern „Neutralgeschöpf“ ist (Tgb. 1008). Er bemerkt in diesem Zusammenhang: „Meine Glut ist mehr von der Art der Toten oder der Ungeborenen“ (ebd.). Gleichsam zur Verdeutlichung fügt er später hinzu: „Ich bin kosmischer Anhaltspunkt, nicht Species“ (Tgb. 1007). Für Klee steht es außer Zweifel, dass er Gott und der Schöpfung näher steht als andere Sterbliche: er sucht sich einen Platz bei „Gott“ (Tgb. 1008). „Ich bin Gott“ notiert er 1901 in seinem Tagebuch (Tgb. 155). Klee verfällt gelegentlich in einen Rausch des Metaphysischen, einer quasi-religiösen Überhöhung seiner Person, mit der er sich scheinbar an die Seite mittelalterlicher Mystiker stellt, wie sein erster Biograph Zahn (1920) vermutet. Wir werden sehen, dass diese Frage einer eingehenden Erörterung bedarf. Klees Formulierungen belegen, dass er keineswegs eine Philosophie der den Sinnen und dem Verstand entzogenen Transzendenz, sondern vielmehr eine Transzendentalphilosophie im Sinne der Philosophie der Frühromantik entwirft, also im Sinne Fichtes, Schellings und Novalis. Dementsprechend wird auch die von ihm immer wieder hervorgehobene Beziehung seiner Kunst zur Romantik („Romantik, die im All aufgeht“)28 zu untersuchen sein (Kap. 4). Klees selbst auferlegte „Askese“29, seine Abwendung von Sinnlichkeit und Körperlichkeit, seine „frauen- und körperfeindliche“ Haltung30, führen schließlich dazu, dass er sich nicht mehr organisch, sondern anorganisch versteht: als Kristall (Tgb. 951). Im Gegensatz zur Legende vom „Selbstlehrling“ handelt es sich bei diesem Prozess der Asketisierung nicht um eine Selbststilisierung, sondern um eine reale lebensgeschichtliche Entwicklung, die sich anhand der Tagebücher und Briefe nachweisen lässt. „Asketisierung“ ist nicht gleichzusetzen mit „weltentrückt“: Es ist der Versuch sein Leben, auch seine Ehe mit Lily, vollständig der Kunst unterzuordnen. In einem programmatischen Artikel über Klees Spätwerk bestreitet Haxthausen den Zusammenhang von Werk und Leben bei Klees: Klees Bilder hätten keine „kommunikative(n) Funktion“. Er geht davon aus, dass Klee „das Bild vielmehr als ein Ding sah, das in seiner Wirkung ein Leben unabhängig von der Intention des Künstlers führte“.31 Haxthausen übersieht in seiner Beweisführung allerdings zwei zentrale Punkte: 1. Klee hat fast alle seine Bilder mit Titeln versehen, die – wie Haxthausen geradezu selbstwidersprüchlich erkennt – seine Bilder „illustrieren“, also eine Interpretation, ein Kommunikationsangebot darstellen. 2. Der eigentliche Zusammenhang zwischen Werk und Person besteht in Klees symbiotischer Beziehung seines „Ichs“ zu seiner Kunst („Ich bin mein Stil“, „Ich und die Farbe sind eins“, „Ich Kristall“). Klee spricht in seinen Bildern von sich selbst, nicht im Sinne eines Selbstportraits, sondern im Sinne ästhetischer Chiffren. In seiner Kunst drückt Klee – um es mit den Worten seines Freundes Kandinsky zu sagen – eine „innere Notwendigkeit“ aus. Klees Anmerkung aus dem Jahre 1908 über seine „psychische Improvisation“, das zu gestalten, „was die Seele gerade belastet“ Einleitung I 13

(Tgb. 842), gilt generell. Wenn er gegenüber seinem Gesprächspartner H. F. Geist betont, seine Bilder seien keine „bewussten Träger von Inhalten“, so spielt er auf die von ihm betonte transrationale Bedeutung von Bildern an (ein Bereich, in dem, wie Klee schreibt, der Intellekt „kläglich“ scheitert), ebenso wie auf die künstlerische Produktion aus dem „Unbewussten“ (ohne „Willen“ und „Wissen“32). Die ästhetischen Chiffren Klees sind kein Psychogramm des Künstlers, gleichwohl drückt sich in der Transformation des Inhalts durch die Form – mehr noch als durch den Inhalt selbst - die Subjektivität des Künstlers aus33. Ich werde im letzten Kapitel noch einmal auf Klees frühe Jahre eingehen und zeigen, dass er seit dieser Zeit die Vorstellung entwickelte, er müsse sein „Innerstes“ verschließen, um gegen „Angriffe des Schicksals“ gewappnet zu sein. Zu diesem „Verschluss“ gehört auch sein distanziertes Verhältnis zu Erotik und Sexualität, ebenso sein ambivalentes Frauenbild, seine Idealisierung und Entwertung der Frau. Ich möchte dabei auch betrachten, ob und in welcher Weise Klees Körpermetaphorik des Anorganischen – er spricht selbst auch von „Überkrustung“34 – etwas aussagt über seine spätere tödliche Erkrankung, die sich in einer Verdickung und Verhärtung, man könnte auch sagen: Versteinerung. erst der Haut, dann der inneren Organe manifestiert. Gibt es zwischen Klees „kristallinem“ Körperbild und seiner späteren Erkrankung eine Verbindung, die über eine rein metaphorische Bedeutung hinausreicht? Gibt es also möglicherweise einen kausalen psychosomatischen Zusammenhang zwischen Klees Körperbild und seiner Erkrankung?35 Es war aber letztlich die Kunst, die für Klee zur schützenden Haut, zu einem Schutzmechanismus gegen Depression, Einsamkeit, sinnlich-triebhafte Impulse und schließlich gegen Erkrankung und Tod wurde. Sie war das vitalste Element in Klees Leben. Es war – bereits kurz vor seinem Tod – die künstlerische Arbeit, mit der er versuchte, seine „Freude zu leben [...] vielleicht auf dem Umweg über die Arbeit zu rekonstruieren“.36

14 I Einleitung

2. Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form Jugend und künstlerische Ausbildung in München

Paul Klee wuchs in einer angesehenen bürgerlichen Berner Familie auf. Obwohl er Bern als seine Heimat empfand, blieb sein Verhältnis zur Schweiz zwiespältig. Ehrlicherweise sollte man in der Schweiz „die Kunst gesetzlich verbieten“, notiert er 1906 in seinem Tagebuch (Tgb. 747)1. Paul Klee kam als zweites Kind am 18.12.1879 in Münchenbuchsee bei Bern zur Welt; seine Schwester Mathilde, die nie den Bannkreis der Familie verließ, war drei Jahre älter. Sein Vater Hans Klee (1849–1940) war verbeamteter Musiklehrer an einem Lehrerseminar2, seine Mutter Ida, geborene Frick (1855–1921), ausgebildete Sängerin, die ihren Beruf aufgrund einer Erkrankung jedoch nicht ausüben konnte: Sie war seit etwa 1900 gelähmt, was zu zahlreichen Komplikationen in der Familie führte. Klees Mutter war in Besançon geboren worden, war jedoch Schweizerin. Aufgrund ihrer verwandtschaft­ lichen Beziehungen nach Südfrankreich3 wurde von Klee-Biographen vermutet, dass Klee nordafrikanische Wurzeln gehabt habe. Hausenstein (1921) nahm diese Fama, scheinbar bestätigt durch Klees äußere Erscheinung, zum Anlass, um Klee gleichsam in einen Orient-Mythos einzuspinnen: Dieser Mensch ist nicht von hier. Die Blässe des hohen Kopfes ist das in nordischen Kellern ausgebleichte Braun eines arabischen Mannes. Hat der Weiße mit dem Dunklen nicht auch den zugespitzten Kinnbart, die Schwärze der einfach stirnwärts wachsenden Haare, die morgenländisch glänzende Tiefe der dunklen Augensterne, das bläuliche Leuchten des Weißen, das Wehen der Nüstern, die rassige Noblesse des ganzen Hauptes gemein?4

Nationalsozialistische Demagogen benutzten diesen Orientmythos später dazu, Klee vorzuwerfen, er wolle damit seine eigentliche „jüdische“ Herkunft verschleiern5. Sein Aussehen gleiche dem eines „galizischen Juden“. Vor diesem musikalischen Familienhintergrund lag es nahe, dass auch Klees künstlerische Bildung zunächst musikalischer Natur war. Klee wurde ein exzellenter Geiger und war bereits mit 16 Jahren außerordentliches Mitglied des Berner Stadtorchesters. Klee schwankte einige Zeit, ob er Musiker oder bildender Künstler werden solle. Sein ambivalentes Verhältnis zur Malerei kommt in einem Brief an seinen Freund Bloesch zum Ausdruck:

Jugend und künstlerische Ausbildung in München  I  15

1  Mathilde, Ida Maria und Hans Wilhelm Klee im Garten, Obstbergweg 6, Bern, August 1908, Foto: Paul Klee, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee

Es ist doch verflucht, wenn man heiratet, während dem man eine andere rasend liebt! Jawohl so ist’s. Meine Geliebte ist und war die Musik, und die ölriechende Pinselgöttin umarme ich bloß, weil sie eben meine Frau ist.6

Dass Klees zeichnerisches Talent von seiner Mutter gefördert wurde, ist ein weiterer Klee-Mythos, der nicht zuletzt durch Klees Sohn Felix verbreitet wurde7. Das Gegenteil traf zu: Aus Klees Tagebüchern geht hervor, dass Klees Mutter zum Beispiel den erotischen Zeichnungen des vorpubertären Paul mit moralisierender Verständnislosigkeit gegenüberstand. Klee erinnert sich daran, wie seine Mutter auf die „pornographischen Zeichnungen“ des Elfjährigen reagierte: Pornographische Zeichnungen kamen durch Zufall in die Hände meiner Mutter. Eine Frau mit einem Bauch voll Kinder, eine andere mit maßlosem Brustausschnitt. Meine Mutter beging das Unrecht, das moralisch zu nehmen und mir Vorwürfe zu machen. (Tgb. 34)

Klees Vater, dessen Sarkasmus und deftige Kommentare berüchtigt waren, hätte vermutlich darüber gelacht. Aber auch er war gegenüber Klees künstlerischen Bemühungen skeptisch und versuchte, ihm die Künstlerlaufbahn auszureden. Später, als Klee bereits ein weltweit anerkannter Maler war, äußerte Hans Klee wiederholt, er verstehe die Kunst seines Sohnes nicht. Förderung seines zeichnerischen Talents erfuhr Klee dagegen von seiner Großmutter: „Meine Großmutter lehrte mich sehr früh mit farbigen Stiften zu zeichnen“ (Tgb. 5). Nach ihrem Tod fühlte er sich künstlerisch „verwaist“. Musizieren, zeichnen und schreiben (er schrieb „einige Novellen, vernichtete sie dann insgesamt anno 1889“, Tgb. 60) interessierten Klee offenbar mehr als seine schulischen Erfolge. Seine schulischen Leistungen waren, vorsichtig gesagt, dürftig: Kurz vor der Maturität, im Sommer 1998 hatten meine Schulleistungen einen tiefen Punkt erreicht. Man verweigerte mir die Teilnahme an der Schulreise. Im übrigen vertraute ich wie immer meinem Stern und machte dann im Examen 4 Punkte über das Minimum. Das reine Minimum ist ja ziemlich schwer und nicht ohne Risiko zu treffen. (Tgb. 62) 16  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

2  Paul und Lily Klee im Garten, Obstbergweg 6, Bern, September 1906, Fotograf unbekannt, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee

3  Familie Klee im Garten, Obstbergweg 6, Bern, September 1906, Fotograf unbekannt, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee

Anschließend formuliert Klee einen ebenso ironischen wie prägnanten „Rückblick“ auf sein bisheriges Leben bis zum Beginn seines Studiums in München: Rückblick. Zunächst war ich ein Kind. Dann schrieb ich nette Aufsätze und konnte auch rechnen [...] Dann bekam ich die Leidenschaft für Mädchen. Dann kam eine Zeit wo ich die Schulmütze hinten am Kopf trug und den Rock nur mit dem untersten Knopf zuknüpfte (bis 15). Dann fing ich mich als Landschafter zu fühlen und beschimpfte den Humanismus. Vor der Sekunda wäre ich gern durchgebrannt was aber der Eltern Wille verhinderte. Ich fühlte nun ein Martyrium. Nur das Verbotene freute mich. Zeichnungen und Schriftstellerei. Als ich ein schlechtes Examen bestanden hatte fing ich in München das Malen an. (Tgb. 63)8

Klee reiste mit einem Teil seiner Skizzenbücher (mutmaßlich mit den beiden letzten), die er bereits als Dreizehnjähriger begonnen hatte, nach München, wo er sich dem Direktor Jugend und künstlerische Ausbildung in München  I  17

4  Paul Klee, Skizzenbuch III, fol. 19r, Luzern Wasserturm, 1893/94, Bleistift auf Papier, 15,5 x 18,7 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

5  Paul Klee, Skizzenbuch VI, fol. 12v, Schadau, 1893/94, Bleistift auf Papier, 12,1 x 20,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

der Münchner Kunstakademie, Ludwig von Löfftz, vorstellte. Insgesamt sind zehn derartige Skizzenbücher mit ca. 200 Zeichnungen erhalten. Bereits in seinem ersten Skizzenbuch befindet sich auf der Innenseite des Umschlags ein minutiöses Verzeichnis seiner Arbeiten, ein geradezu pedantischer „Ordnungssinn“ (Glaesemer), den er in allen zehn Heften durchhielt und mit dem er das später von ihm selbst angefertigte Werkverzeichnis vorwegnahm. Klee kopierte – erst mit Bleistift, später mit Feder – zunächst Vorlagen (u. a. Kalenderblätter und Blätter anderer, damals bekannter Künstler wie Giradet oder Kallmorgen), später kamen freie „Inventionen“, vorwiegend nach der Natur, hinzu. Es ist viel über das frühe Zeichentalent Picassos geschrieben worden9, aber bei Klee muss man verwundert feststellen, dass er bereits als Dreizehnjähriger – anders als Picasso, der mit seinem Vater einen anerkannten Künstler als Lehrer hatte – ohne jegliche Schulung technisch gelungene Zeichnungen anfertigen konnte, etwa die Zeichnung des Berner Zeitglockenturms bzw. des Berner Münsterturms10. Insbesondere bei der des Zeitglockenturms zeigt sich, dass Klee über eine Schraffurtechnik verfügte (die er später bei seinem Münchner Zeichenlehrer verfeinerte), mit der er wichtige Details präzise wiedergab, 18  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

6  Paul Klee, Kleine Landschaft mit Kirche, Skizzenbuch, fol. 20v, 1885/96, Bleistift auf Papier, 12,1 x 20,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

7  Paul Klee, Landschaft mit Berner Landhaus, männlicher Kopf, fol. 21r, 1985/96, Feder auf Papier, 12,1 x 20,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

während er weniger wichtige Details (etwa Fenster im Hintergrund) mit einer gewissen Großzügigkeit behandelte. Gelungen ist insbesondere, dass er vor dem Turm einen freien Platz aussparte, den er mit zwei winzigen gestrichelten Figuren belebt. Den Angaben von Glaesemer zufolge liegt hier keine Vorlage zugrunde. Die Technik des leeren Raums als perspektivverstärkendes Rahmenelement wird durch Klee in den folgenden Jahren verfeinert. Dadurch gelingen ihm geradezu altmeisterlich präzise Miniaturen, die an Stiche des 18. und 19. Jahrhunderts erinnern, etwa Schadau, Auf dem Léman, Eiger und Mönch, Luzern Wasserturm oder Leisigen (alle 1893). Auch wenn es sich bei diesen Zeichnungen um Kopien handelt, so sieht man doch, dass Klee die Technik mühelos beherrschte. Dass es ihm gelang, auch ohne Vorlagen eigenständige vignettenartige Landschaften zu zeichnen, zeigt sich u. a. an einer neuen Version von Schadau, Kleine Landschaft mit Kirche oder Landschaft mit Berner Landhaus (alle 1895). Insbesondere bei den beiden ersten Bildern gelang es Klee, einen sfumato-Effekt zu erzeugen, der an Renaissance-Bilder erinnert, obwohl er auf Farbe völlig verzichtete. Franciscono spricht geradezu von „Eleganz“, mit der Klee in dieser Zeit das Problem von Licht und Schatten meistert: Their intimacy of view and delicate, precise and even elegant rendering of light and shadow planes place them in a lyrical tradition of landscape drawing represented by the early work of Böcklin, who was then at the hight of his fame and whom Klee much admired.11

Auch Werckmeister spricht von den „konventionell ausgewogenen Kompositionsschemata der Landschaften aus seiner Zeit am Berner Gymnasium“.12 Hier sei eine AnmerJugend und künstlerische Ausbildung in München  I  19

8  Vincent van Gogh, Weizenfeld mit aufgehender Sonne (1889), Kreide auf Papier, 47 x 62 cm, Staatliche Graphische Sammlung München

kung zu Werckmeisters Verzeichnis der Klee’schen Orientierungskünstler gestattet. Obwohl dieses Verzeichnis im Wesentlichen überzeugend ist, bestehen Zweifel hinsichtlich der von Werckmeister betonten Orientierung Klees an den Zeichnungen van Goghs. Dies ist zutreffend etwa im Falle von Klees Landschaft mit der Sonne (1908) für die Darstellung der Sonne, die ganz dem Stil von Gogh (Weizenfeld mit aufgehender Sonne [1889]) folgt, die perspektivische Gesamtstruktur weicht dagegen von van Gogh ab und der perspektivisch nach links verschobene Weg mit einem Haus rechter Hand ist strukturell weitgehend eine Reproduktion von Landschaft mit Berner Landhaus (1895). So handwerklich gekonnt, ja „elegant“ Klees Landschaftszeichnungen aus der Berner Zeit sind, so wenig überzeugend wirken seine Portraitskizzen. Dies dürfte wesentlich damit zusammenhängen, dass Klee in seiner Berner Zeit, soweit es um das menschliche Gesicht ging, in erster Linie satirische Karikaturen zeichnete. Einen Teil dieser Karikaturen brachte er nach München mit, wo sie in erster Linie seine Studienkollegen, weniger offenbar Ludwig von Löfftz überzeugten (wobei nicht gesichert ist, ob er sie diesem überhaupt vorlegte). Es war somit nicht unbegründet, dass Löfftz ihn mit dem Hinweis, er solle sich erst einmal mit der menschlichen Figur beschäftigen, zunächst den Eintritt in die Akademie verweigerte und ihn an die Zeichenschule von Heinrich Knirr verwies. Die Jahre der künstlerischen Ausbildung in München (1998–1901) waren für Klee Jahre des Selbstzweifels und des Ringens um die künstlerische Form, zugleich aber auch einer triumphalen Selbstvergewisserung. An seine Routine als Landschaftszeichner konnte – oder wollte – Klee zunächst nicht anknüpfen. Künstlerisch sah Klee sich lange Zeit als Autodidakt, als „Selbstlehrling“. Dieses Eingeständnis ist alles andere als bescheiden: Es ist als Reaktion darauf zu verstehen, dass seine konventionelle Zeichenkunst in München – an der Akademie, aber auch bei seinem Lehrer Knirr – keinen Anklang fand. Es ist zugleich Ausdruck einer Vorstellung künstlerischer Selbstschöpfung und Selbster20  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

9  Paul Klee, Landschaft mit der Sonne 1908, 29, Feder auf Papier auf Karton, 23,5 x 29,5 cm, Privatbesitz

mächtigung, die am Nullpunkt beginnt, Kunst aus sich selbst heraus schafft, eigener Ursprung sein und wie „neugeboren“ sein will. Auf ähnliche Selbststilisierungen werden wir immer wieder in der künstlerischen Entwicklung Klees stoßen: auf einen Künstler, der sich der Geschichte enthoben wähnt, gleichwohl aber untrennbar mit der Kunst- und Zeitgeschichte verbunden war. Das ex-nihilo-Programm einer spezifisch Klee’schen Kunst notiert der Maler später, 1902, in seinem Tagebuch: Es ist eine große Not und eine große Notwendigkeit, beim Kleinsten beginnen zu müssen. Wie neugeboren will ich sein, nichts wissen von Europa, gar nichts. Keine Dichter kennen, ganz schwunglos sein: fast Ursprung. Etwas Bescheidenes will ich dann tun, ein ganz kleines, ganz formales Motiv mir ausdenken. (Tgb. 425)

Klees Vorstellung, „Selbstlehrling“ zu sein, formulierte er auch in einer Tagebuch­ eintragung, die er 1919 seinem ersten Biographen Zahn zur Verfügung stellte13 (diese bezieht sich ebenfalls auf das Jahr 1902), nachdem er seinen Widerwillen gegen die „epigonische Zeit“, in der er lebte, zum Ausdruck gebracht hatte: „Jetzt versuche ich in praxi von all dem abzusehen und als Selbstlehrling bescheiden aufzubauen, ohne nach links oder rechts umzuschauen.“14 Paul Klee studierte von 1898–1901 – knapp drei Jahre – in München. Er studierte, nachdem er von der Münchner Kunstakademie abgelehnt worden war, vorwiegend an der privaten Zeichenschule von Heinrich Knirr, später auch kurze Zeit bei Franz von Stuck, verließ München aber ohne akademischen Abschluss. Warum er nicht in die renommierte Kunstschule des charismatischen Slowenen Azbé eintrat, in der auch Kandinsky und Jawlensky studierten, ist unklar. Es hängt möglicherweise damit zusammen, Jugend und künstlerische Ausbildung in München  I  21

dass Löfftz, der Direktor der Münchner Akademie, der Klee wegen mangelnder Kenntnis im Figurenzeichnen für die Akademie abgelehnt hatte, ihm Knirr empfahl, mit dem er und Stuck offenbar auch persönlich verbunden waren. Aber gerade bei Azbé hätte Klee die von ihm später so bewunderte Ölmalerei lernen können. Über das München der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist viel geschrieben worden: über seine Bedeutung – neben Berlin – als Zentrum der deutschen Kunst, über seine Liberalität, seine Boheme, seine Bigotterie und nicht zuletzt über seine bedeutenden Galerien. In seinen Salons – etwa dem „rosa Salon“ der Baronin Marianne von Werefkin – versammelte sich, was Rang und Namen besaß. Thomas Mann, Rilke, George und die „Malerfürsten“ Franz von Lenbach und Franz von Stuck lebten in München. In der 1893 gegründeten Münchner Secession stellten die bedeutendsten deutschen Maler aus: Böcklin, Corinth, Liebermann, Slevogt. Thomas Mann vermittelt uns ein Bild der besonderen Atmosphäre des Münchner Lebens dieser Zeit (es stammt aus seinem Roman Doktor Faustus): München ... diese perspektivenschöne Hauptstadt, deren politische Problematik sich auf den launigen Gegensatz zwischen einem halbseparatistischen Volkskatholizismus und einem lebfrischen Liberalismus reichsfrommer Observanz beschränkte –, München mit seinen Wachtparade-Konzerten in der Feldherrenhalle, seinen Kunstläden, Dekorationsgeschäftspalästen und Saison-Ausstellungen, seinen Bauernbällen im Fasching, seiner Märzenbier-Dicktrunkenheit. ([1967], S. 270)

Das war das München vor 1914. Wir werden später sehen, dass Wilhelm Hausenstein, ein langjähriger Bekannter Klees und einer seiner ersten Biographen, nach 1918 ein ganz anderes München schildert: ein München der allseitigen Entfremdung, der Ungläubigkeit und Frivolität. Klee war für ihn zwar ein Exponent dieser Seinsvergessenheit, aber zugleich Hoffnungsträger einer neuen Gläubigkeit. Zu seiner großen Enttäuschung weigerte sich Klee, diesen Weg zu gehen. Zu mehr als ein paar verbalen Konzessionen an Hausensteins neue Religiosität war er nicht bereit. Klee war, im Oktober 1898, zunächst sichtlich irritiert über seinen Studienbeginn und seine ersten Tage in München: Nach bestandenem Maturitätsexamen reiste ich im Oktober nach München. Meine Mutter erinnerte sich in ihrer Angst einer Frickschen Beziehung namens Otto Gack. Es waren biedere Schwabenleute, aber dem Proletariat ziemlich nahe und daher schwer supportabel. Ich geriet dann bald in den Fall, gute Dienste mit schwerem Undank zu belohnen, der in einem allmählichen Fernbleiben bestand. Was mir noch lange leid that. [...] Zuerst wohnte ich in der Amalienstrasse, bei einer Arztwitwe. Mein erster geschäftl. Gang war zum damaligen Akademiedirektor Löfftz, mit meinen Landschaftsskizzen. Er war liebenswürdig, lobte, und schickte mich als Vorbereitung für die Akademie zu Knirr, in die Privatschule. Knirr nahm mich mit tausend Freuden [...] Der Aktsaal machte einen spezifischen Eindruck auf mich. Das hässliche Weib mit dem schwammigen Fleisch, aufgeblasenen Brüsten, ekelhaften Schamhaaren sollte ich nun mit einem spitzen Bleistift zeichnen. Ich tat meine Pflicht und ging ans Werk. Knirr meinte: ‚Da sag i einstweilen gor nix‘. (Tgb. 67) 22  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Bereits hier werden zwei kleetypische Einstellungen deutlich: ein gewisser sozialer Snobismus und eine tendenziell misogyne Einstellung. Nachdem Letztere lange Zeit in der Klee-Biographik gleichsam tabu war, wird sie in neueren Publikationen (Wedekind [1991], Werckmeister [2008] sowie von den Autoren des Zentrums Paul Klee [2012]15) weitgehend offen thematisiert. Diese Einstellung geht nicht nur aus Klees schriftlichen Äußerungen hervor, sondern insbesondere auch aus einer Reihe karikierender und abwertender Frauendarstellungen. Die ersten Beispiele finden sich bereits in Klees Inventionen, auf die ich später eingehen werde. Klees sozialer Snobismus ist weniger leicht erkennbar: In seinen Äußerungen zur Demokratie und der sie angeblich prägenden „Halbbildung“ wird er jedoch deutlich. Andererseits gibt es Äußerungen Klees, wonach er den „Sozialismus“ zwar für praktisch nicht umsetzbar, theoretisch aber für „die einzige anständige Bewegung“ hält16. Ähnlich wie sein Freund Franz Marc verzichtete Klee darauf, den sozialen Ort seiner Künstlerexistenz zu reflektieren: Er zog sich stattdessen auf eine Position „weltentrückter Metaphysik“ (Werckmeister [1981]) und in die Flucht ins „Jenseitige“ zurück. Bei Marc wird die Rolle des „Jenseitigen“ von der Suche nach dem „wahren Sein“ eingenommen, die Marc erst im Tod zu finden glaubte (vgl. hierzu Kap. 3). Über seine Ausbildung äußert sich Klee kritisch. Antiakademismus war schon damals für die „fortschrittlichen“ Künstler geradezu obligatorisch, die verschiedenen „Secessionen“ zeugen davon. Da Klee an der Münchner Kunstakademie zunächst nicht angenommen worden war, besuchte er, wie gesagt, erst die Zeichenschule von Heinrich Knirr. Persönlich stand er Knirr, der sein künstlerisches Potenzial bald erkannte, sehr nahe. Klee insinuierte, dass Knirr ihn als den „besten Schüler[s] seit 10 Jahren“ sehe.17 Wenn Klee einmal knapp bei Kasse war (was häufig genug geschah), war Knirr immer bereit, ihm Geld zu leihen. Außerdem hatte Knirr gute Beziehungen zu Franz von Stuck, Klees späterem Akademielehrer. Knirrs „Korrekturen“ seien „geistreich und wohlmeinend“ gewesen.18 Allerdings habe es ihm bei diesem Lehrer an „Können und Wollen“ gefehlt19. Seine erste Begegnung mit Knirr schildert Klee in einem Brief an seinen Schulfreund Hans Bloesch: Aber wie erstaunt war ich, als mich Knirr nicht einmal meinen ersten Satz ausreden ließ, sondern eine kleine Rede begann, die mir plötzlich die Welt und mein Leben gut um hundertmal lieber machte. Ja, Freund, ich geriet nicht in die Hände eines Schulmeisters, ich habe mir einen Freund erworben. An Sachlichem gab’s ungefähr folgendes. Er pries sich und mich glücklich, dass nie ein Zeichnungslehrer mir in’s Handwerk gepfuscht habe. Er versprach mir hoch und teuer, nie diese Rolle zu spielen, sondern immer bestrebt zu sein, das Individuelle meines Könnens im Auge zu behalten und zu fördern.20

Negativer äußerte er sich – nachdem er schließlich doch in die Akademie aufgenommen wurde – über seinen Lehrer Franz von Stuck (bei dem gleichzeitig auch Kandinsky studierte). Er klagt, er habe bei ihm das Malen nicht lernen können21: Stuck war strenger, akademischer und verlangte einige Kenntnisse des musculären Organismus. Als Zeichenschule wäre das vielleicht nicht das übelste gewesen. Aber wenn Malen überhaupt erlernt Jugend und künstlerische Ausbildung in München  I  23

werden kann, bei Stuck jedenfalls konnte man es nicht, sonst hätte ich doch wenigstens etwas vorwärts gebracht werden müssen. Aber im Gegenteil: ich verlor allen Mut zur Farbenanwendung und trug mich sogar mit dem Plan in eine Bildhauerschule einzutreten. Für den Rest dieses ersten u. letzten akademischen Semesters kehrte ich an die alte Stätte bei Knirr zurück und zurück zu meinen Kameraden. (Tgb., Hausenstein II, S. 506 f.)

Klee brach das Studium bei von Stuck nach kurzer Zeit (im Frühjahr 1901) ab. Gleichwohl äußerte er sich gelegentlich auch positiv über ihn. An seine Familie schreibt er: Die Korrektur von Stuck ist immer so aufmunternd, dass sie trotz ihrer Strenge und Sachlichkeit überaus liebenswürdig erscheint. Der Donnerstag ist mir geradezu zum Sonntag geworden.22

Haftmann merkt zu dem Defizit der Ausbildung Klees an: „Stuck verlangte eine genaue Kenntnis des menschlichen Körpers, [...] aber zum Malen kam man da nicht, da Stuck merkwürdigerweise das Element Farbe, von dem er ja Erhebliches wusste, seinen Schülern eher vorenthielt“23. Andererseits hatte Stuck offenbar einen genauen Blick auf Klees zeichnerisches Talent24. Später wird sich Klee auch abfällig über seinen Lehrer äußern25. Seine Münchner Ausbildung resümierte er in der resignierten Feststellung, dass er noch immer nicht malen könne.26 Eine Zeitlang erwog er, auf Bildhauerei „umzusatteln“: Meine Umsattelei geschieht nun auch mit der vollen Einwilligung Franz Stucks, von dem ich mich in aller Freundschaft verabschiedet habe. [...] Was mich anbelangt, empfahl er mir zum Rümann zu gehen und will mich, sollte die Aufnahme nicht ohne weiteres möglich sein, noch besonders empfehlen.27

Der Besuch bei Rümann verlief enttäuschend. Da dieser, als „akademischer Büffel“, eine „Aufnahmeprüfung“ von ihm verlangte, verzichtete Klee auf die Bildhauerei.28 Nachdem er nach Bern zurückgekehrt war, schrieb er am 20.8.1901 lapidar an seine Verlobte Lily Stumpf: „Leider ist mir das Ölmalen versagt.“29 Man kann darüber spekulieren: Hätte Klee – wie Kandinsky und Jawlensky – bei Azbé studiert, der seine Schüler geradezu zu einem unkonventionellen „Schmieren“ mit der Ölfarbe animierte, wäre Klees künstlerische Laufbahn wahrscheinlich anders verlaufen. Andererseits war es möglicherweise gerade das lange Experimentieren mit Zeichnung und Graphik, das Klee zum Künstler reifen ließ. Auch ein Aufenthalt in Paris – Klee erwog dies eine Zeit lang30 – hätte wahrscheinlich seine künstlerische Entwicklung verändert. Knirr riet ihm davon ab und empfahl ihm stattdessen einen Italienaufenthalt, für deutsche Künstler noch immer die obligatorische grand tour. Wie ist Klees Studium in der Zeichenschule von Knirr einzuschätzen? Zunächst lag Knirrs Bedeutung darin, dass er Klee, ohne ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken, in seiner künstlerischen Entwicklung bestätigte, sein Talent erkannte und seine Selbstzweifel besänftigte. An seine Eltern schrieb Klee kurz nach der ersten Begegnung mit Knirr über den „Gang“ seines Studiums: 24  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

10  Paul Klee, Ohne Titel (Aktstudie), 1899, Knirr 06, Bleistift auf Papier, 32,5 x 20,7 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

11  Paul Klee, Ohne Titel (Weiblicher Rückenakt), 1899, Knirr 46, Bleistift auf Papier, 32,5 x 20,7 cm,Zentrum Paul Klee, Bern

Den ersten Ausspruch darüber von Knirr zu vernehmen, hatte ich letzten Mittwoch das Vergnügen. Er ist ‚sehr zufrieden‘ mit mir, und garantiert mir, dass ich bis Weihnachten ‚schene Sachen‘ machen werde. Seitdem ich das weiß, bin ich ein wenig ein anderer Mensch geworden [...]. Knirr hat mir auch gestanden, daß er in einer verteufelt schweren Lage sei mit mir. Weil er mich vor Kleinlichkeiten bewahren müsse und doch das Gute an meinen Details nicht umbringen dürfe. Das Gute: Diejenigen Details, die dem Ganzen, der Ruhe und der Perspektive keinen Eintrag tun.31

Knirr hatte offenbar sofort erkannt, dass eine der Stärken Klees in dem virtuosen Umgang mit miniaturhaften Details und der Raumperspektive lag. Es kam also darauf an, dass Klee sich zu einem großflächigeren und großzügigeren Zeichnen entwickeln konnte, ohne das Gute an seinen Details „umzubringen“. Dies ist Klee im Bereich des Aktzeichnens gelungen, in dem er bisher keinerlei Erfahrung hatte. Innerhalb weniger Monate war Klee in der Lage, Aktzeichnungen anzufertigen, die für die Aufnahme in die Akademie ausgereicht hätten.32 Auch im Portraitzeichnen gewann er mehr und mehr Sicherheit. Ein Problem ergab sich dagegen, wie Knirr zu Recht befürchtet hatte, beim Landschaftszeichnen, wobei Klees besondere Fähigkeit zum Detail verloren ging, ohne dass der Gesamteindruck damit gewonnen hätte. Glaesemer merkte bereits zu den Aktskizzen kritisch an, dass bei allem „Raffinement in der Ausführung“ der „persönliche Ausdruck“ fehle33, was insbesondere bei den Landschaftszeichnungen zum Tragen kam, die durch eine Monotonie exzessiv verwendeter Schraffuren charakterisiert sind, die Klee Jugend und künstlerische Ausbildung in München  I  25

12  Paul Klee, Ohne Titel, (Bei Raitenhaslach, Marienberg), 1899, Knirr 28, Bleistift auf Papier, 20,7 x 32,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

auch bei seinen Aktzeichnungen verwendete. Besonders deutlich wird dies etwa bei der Zeichnung Bei Raitenhaslach. Eine Baumgruppe, ein Weg und zwei Böschungen links und rechts sind mit nahezu identischer Schraffur gezeichnet, wobei das einzige be­ lebende Element darin besteht, dass die Schraffuren der Baumgruppe eine unterschiedliche Struktur aufweisen: zum einen als glatte schwarze Schraffur, zum anderen mit Hell-Dunkel-Abstufungen. Auch wenn man darin eine Ähnlichkeit zur „Dachauer Schule“ oder zu Adolf Hölzel erkennen mag34: Die Intensität des Gesamteindrucks, wie sie in den frühen Landschaftszeichnungen präsent war, ging zugunsten einer konven­ tionalisierten Schraffurtechnik verloren. Möglicherweise hat Klee daraus die Kon­ sequenz gezogen, dass er später nie mehr zum Realismus konventioneller Naturabbildungen zurückkam, obwohl er sich lange Zeit zum Landschaftsmaler geradezu berufen fühlte.

Kunst und Sexualität: Misogynie und Doppelmoral Eines ist angesichts der zahlreichen Bemerkungen Klees zu von Stuck auffällig: Klee bewundert in einem Brief an seine Mutter geradezu schwärmerisch dessen „Prinzregentenkopf“35, geht aber an keiner Stelle darauf ein, was Stuck gerade zu dieser Zeit in München berühmt oder berüchtigt gemacht und sehr wohl mit „Farbe“ zu tun hatte: dessen für die damalige Zeit freizügigen erotische Darstellungen (etwa seine Bilder Die Sünde oder Kuß der Sphinx). Eine Photographie von Kuß der Sphinx musste aus dem Fenster einer Kunsthandlung entfernt werden, weil sie als anstößig galt. Klee besaß zwar eine umfangreiche Sammlung von Reproduktionen antiker Frauenakte, hat sie aber – mit einer Ausnahme, auf die ich später noch eingehen werde36 – nicht wie von Stuck als Vorlage für eigene Werke benutzt. Er gab vielmehr „der erotischen Thematik, wie er sie bei Stuck hatte beobachten können, eine geradezu zynische Wendung“ (Werckmeister [2008], S. 27).37 Wir werden sehen, dass die implizierte Aus26  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

blendung des Erotischen nicht zufällig war38. Erotik wird von Klee stets nur als Satire oder Karikatur dargestellt werden, wie bereits in den Inventionen (1903–1905) deutlich wird. Zugleich wird das „Weib“ als unheilbringend gesehen, wie Klee in seiner ersten Invention Weib, Unkraut säend (1903) zum Ausdruck bringt. Diese „zynische“ Behandlung des Erotischen ist verbunden mit Klees ambivalenter Beziehung, man könnte auch sagen: Hassliebe, zu Frauen, genauer: der­E ­ ntwertung der Frau als Objekt erotischen Begehrens und der Idealisierung der „reinen“ Frau, der „Jungfrau“, von der – in geradezu wagnerianischer Manier – Errettung von der Triebhaftigkeit erhofft wird. In unmittelbarer zeitlicher Nähe notiert Klee zwei Tagebucheintragungen, kurz vor seiner Verlobung mit Lily Stumpf: Ich habe ein neues Leben begonnen. Und diesmal gelingts. Tief lag ich zu Boden [...] Zum Narrentanz ging ich, ein schmutziger Lump. Die Liebe zur Jungfrau hat mich erlöst von solcher Gestalt. Ich sah mein Elend, und da war es schon halb gebannt. Der Schrecken raffte mich auf. Ich will ernst werden und besser. Durch den Kuß des liebsten Weibes ist alle Not von mir genommen. Ich werde arbeiten. Ein guter Künstler will ich werden. (Tgb. 139, Frühjahr 1901) Nur aus Mitleid würde ich lügen. Das Weib aber lügt aus dem Grunde des falschen Herzens. (Tgb. 146, Ostern 1901)

In einem Brief an Bloesch vom 28.12.1898 schrieb Klee, wie er sich die Beziehung zu Frauen als Triebobjekt vorstelle: „[...] verachte die Weiber ein wenig. Das thut heillos gut. Betrachte sie als Butterbrot, als einen guten Trunk Wein, wenn Du willst Champagner.“39 Angeblich erlebte Klee jenseits seines Studiums in München nicht allzu viel.40 In Wirklichkeit war Klees Leben in München keineswegs ereignisarm – im Gegenteil. Klee schlug sich mit der für ihn äußerst bedeutungsvollen „sexuellen Frage“ herum41, hatte zwei mehr oder weniger unglücklich verlaufende Liebesbeziehungen und lernte – gleichzeitig – seine spätere Verlobte und Ehefrau Lily Stumpf kennen. Er begeisterte sich für Nietzsche, war zuweilen depressiv und lebensüberdrüssig, litt unter – vermutlich psychosomatisch bedingten – Herzaffektionen42 und ertränkte seinen Kummer im Alkohol. „Im Ganzen bin ich müde und traurig und gierig nach Arbeit“, schreibt er am 2.7.1901 aus Bern an Lily Stumpf43. Seine angeblich robuste Gesundheit ist ein weiterer Klee-Mythos, der insbesondere von Lily Klee verbreitet wurde (eine Meinung, die sie später allerdings revidierte)44. Dies ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil – wenn es so gewesen wäre – der Ausbruch seiner rätselhaften rheumatischen Krankheit Sklerodermie noch weniger verständlich wäre. Tatsächlich war es jedoch so, dass Klee – neben einer Reihe von depressiven Episoden – schon lange vor seiner Erkrankung unter rheumatischen Beschwerden litt (vgl. hierzu Kap. 7). Klee beginnt ein „Verhältnis“ mit einem „unter mir stehenden Mädchen“ (einer Verkäuferin namens „Tini“) (Tgb. 90). Sein „Verhältnis“ wird schwanger, das Kind stirbt kurz nach der Geburt.45 Er hat noch eine kurzfristige Affäre mit dem „Aktmodell“ Cenzi, was seinem „Geschmack“ entspricht, da Cenzi keine „Liebesschwüre“ verlangt (Tgb. 127), ihm dann allerdings „fernblieb“: „Das Verhältnis mit Cenzi dauerte nur bis 10. Januar 1901“ Kunst und Sexualität: Misogynie und Doppelmoral  I  27

(Tgb. 127). Er ist nunmehr wieder frei für die „edlere Liebe“, in diesem Fall für die Beziehung zu Lily Stumpf, eine Beziehung, die sich zum Verdruss von Klee freilich nur sehr zögerlich ent­ wickelt. Da mir nun auch Cenzi fernblieb und von diesem Abenteuer nur noch einige schwache Gedichte im Volkston übrigblieben, war ich wieder ganz für die edlere Liebe zu haben. Am Bauernball 5. Februar 1901 näherte ich mich Lily aufs neue, oder sie sich mir bis auf ganz kurze Distanz. Aber gleich darauf zog sie sich wieder zurück und nannte es Stimmungssache. (Tgb. 129)

Seinen Eltern schrieb er, wie vermutlich jeder Student, dass er fleißig arbeite und chronisch klamm sei. Dass er „Tini“ eine Art Abfindung bezahlte und sich bei Knirr Geld leihen musste, verschwieg er. Selbst die „Bauernbälle“ und die „Märzenbiertrunkenheit“ tauchen in seinen Erinnerungen auf – Stoff genug für einen noch zu schreibenden Roman über Klees Leben. Um Klees persönliche und künstlerische Entwicklung zu verstehen, müssen wir nachvollziehen, dass Klee sein Künstlertum zunächst als ein biographisches Projekt verstand, als Projekt, sich – in romantischer und zugleich bildungsbürgerlicher Tradition – zunächst einmal als „Mensch“ zu bilden. Damit verknüpft war für ihn auch die Lösung der „sexuellen Frage“: Kurz: ich wollte Mensch werden vor allem, die Kunst würde dann draus folgern. Dazu gehörten natürlich Beziehungen zu Frauen. (Tgb. 66)

In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Passage formulierte Klee das Problem, dass dieses Desiderat mit den „äußeren Geboten“, hier mit den Anforderungen der künstlerischen Ausbildung, kollidieren könne: Wenn mich das Leben, das ich so wenig kannte, mehr als alles andere anzog, so hielt ich das doch für eine Art Lumperei von mir. Ich schien mir charakterschwach, wenn ich der Stimme im Inneren mehr Gehör schenkte als den äußeren Geboten.

Auch nach Rückkehr von seiner Italienreise 1902 beschäftigt ihn das Problem: Bildung als Mensch vs. Bildung als Künstler: Eine Revue meiner beruflichen Angelegenheiten verläuft nicht gerade ermunternd. [...] Zur Beruhigung: es gilt jetzt nicht, frühreife Sachen zu machen, sondern menschlich etwas zu sein, oder doch zu werden. Das Leben zu meistern, eine Grundbedingung für produktive Äusserungen. (Tgb. 411, Juni 1902)

Wedekind sieht dieses „Projekt“ Klees im Rahmen eines „bürgerlichen Anspruches von Vollendung des Menschen, der einer idealistischen Selbstvergottung gleichkam“. „Der Künstler mußte so zuerst Bildner seiner Selbst sein, um befähigt zu sein, Bildner von Bildern zu sein.“46 Klee löste dieses Problem und damit auch die Auseinandersetzung mit der „sexuellen Frage“ in zunehmendem Maße durch die Orientierung an der „Arbeit“ bzw. der „Erhaltung der Arbeitsfähigkeit“. Die „sexuelle Frage“ war damit geradezu kontrapunktisch mit der 28  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Frage der „Disziplin“ verschränkt.47 Trotz seiner in den Münchner Studienjahren zunächst chaotischen Lebensführung – er schwankte zwischen Hedonismus und Askese, Trieb und Geist – betonte Klee immer wieder die Notwendigkeit von „Disziplin“. „Disziplin“ ist dabei nicht auf das Künstlerische beschränkt, sie wird zu Klees Lebensmaxime: „Wille und Disziplin ist alles“ (Tgb. 857). Am Ende seiner Studienjahre schwankte Klee gelegentlich noch in seiner Einschätzung des Verhältnisses von Körper und Geist: „Ich würde meinen Körper hassen, wenn ich nicht wüsste, daß der bessere Teil davon abhängt.“ 48 Seit 1901 unterwarf er sich jedoch zunehmend nicht nur einer künstlerischen, sondern auch einer persönlichen Disziplin, die zu einer Art Selbsttransformation, zu einer Stilisierung als asketischer Künstler führte, wie sie etwa in seiner Bemerkung zum „Asketentum“ der „römischen Zeit“ (d. h. der Zeit seiner Italienreise) zum Ausdruck kommt. In schonungsloser, geradezu nietzscheanischer Manier – etwa im Stile des Ecce homo – analysierte er seine „Askese“: Es seien sexuelle „Blamagen“ gewesen, die ihn zur Askese geführt hätten. So schreibt er am 24./25.12.1901 an seine Verlobte: So reihten sich Moral und Blamage aneinander und hoben mich immer höher, bis ich auf den gegenwärtigen Stand gelangte, der fast etwas Asketisches hat.49

Etwas später fügt Klee dann hinzu: „Je höher ich dann stieg, desto unglücklicher wurde ich.“50 Offenbar verfügte er also über zwei Versionen seiner Mutation zum „sittlichen Mann“: Zum einen die erlösende „Liebe der Jungfrau“, zum anderen die weniger idealistische der sexuellen „Blamagen“, die ihn zu Moral und Askese geführt hätten51. Nach seiner Verlobung (im Sommer 1901) und Eheschließung (1906) mit Lily Stumpf hatte Klee das Gefühl, nunmehr die „sexuelle Frage“ gelöst zu haben, eine Ehe, die – so Klee – mit dem strategischen Kalkül eingegangen wurde, seine „Arbeitsfähigkeit zu steigern“. Er hegte 1901 die Überzeugung, „dass es für mich angebracht sei, möglichst bald durch eine Ehe die sexuelle Frage zu lösen, um mich ganz konzentrieren zu können“ (Tgb., Hausenstein II, S. 507). Entsprechend schreibt er 1904 in einem Brief an seine Verlobte: Du hast eine gute und richtige Lebensauffassung, nur musst du nicht glauben, dass uns eine volle Harmonie möglich ist. Wenn wir dazu kommen, unser Leben anständig einzurichten, das heißt zusammen zu leben, ohne kleinlich Sorgen und einen kleinen anständigen Verkehr zu haben, und wenn wir dabei gesund bleiben, um in der Arbeit nicht nachzulassen, so ist das unsere Vollendung. [...] Alles läuft schließlich darauf hinaus, die Arbeitsfähigkeit zu steigern; und das eheliche Verhältnis soll sich diesem alleinseligmachenden Zweck unterordnen.52 (Hrv. MC)

Ich werde in Kap. 8, im Kontext von Klees Chronique sentimentale, näher darauf eingehen, was die ominösen Bemerkungen über die fehlende „volle Harmonie“ und den „kleinen anständigen Verkehr“ in der Ehe für Klee bedeutete. Klee, der die Schrift von Otto Weininger, Geschlecht und Charakter (1903), entweder selbst gelesen hatte oder sich zumindest mit seiner Verlobten intensiv darüber austauschte, folgte Weiningers Kunst und Sexualität: Misogynie und Doppelmoral  I  29

Thesen zumindest insofern, als er den „männlichen Typ“ in sich ausbilden wollte, der u. a. durch „Reinigung“ und „Einsamkeit“, also auch durch sexuelle Abstinenz definiert ist. Ebenfalls in den Notizen für seinen Biographen Hausenstein schreibt er: Streben nach Reinigung und Isolierung des männlichen Typs in mir. Trotz Ehereife ganz auf sich selbst abstellen, sich auf größte Einsamkeit vorbereiten. Abneigung gegen die Fortpflanzung (ethische Überempfindlichkeit). (Tgb. 538, Hausenstein I, S. 490 f.)53

Allerdings nimmt Klee mit einem gewissen Erstaunen zur Kenntnis, dass Lily den misogynen Thesen Weiningers offenbar zustimmt: „Über Frauen hast du (ohne zu wollen?) vernichtender geurteilt als je ein Mann, wohin soll das führen!“54 Bekanntlich hatte Weininger die Frau zu einem „Nichts“ erklärt, das nur durch das Begehren des Mannes existiert, zu einem bedrohlichen „Abgrund“, dem sich der Mann nur durch sexuelle Enthaltsamkeit entziehen könne. Befürchtete Klee, dass Lily unter Berufung auf Weininger die „sexuelle Frage“ so radikal lösen könnte, dass dies zur vollständigen sexuellen Enthaltsamkeit führen und damit auch die „Fortpflanzung“ gefährden würde? Es wird deutlich, dass die „Einsamkeit metaphysischer Vergeistigung“ (Wedekind) bei Klee nicht ohne Berücksichtigung der „sexuellen Frage“ zu verstehen ist.55 Die Behauptung, Klee habe gegen „die sterile Moral der bürgerlichen Gesellschaft“ opponiert56, etwa in seinen Inventionen, gehört zu den nachhaltigen Klee-Mythen. Allenfalls hat Klee die Heuchelei angeprangert, mit der das sexuelle Begehren verschleiert wird. Zumindest bis zur Zeit seiner Verlobung praktizierte Klee die bürgerliche Doppelmoral seiner Zeit: eine „verfeinerte“ erotische Beziehung zu Lily einerseits, die mit Frauen aus den „niederen Ständen“ ausgelebte Triebhaftigkeit andererseits. Klee praktizierte die zu seiner Zeit übliche Spaltung des männlichen Begehrens in die idealisierte Frau (die damit auch als Ehefrau in Betracht kam) und in die tendenziell verachtete Frau als Triebobjekt. Auch ein kritischer Betrachter wie Wedekind übernimmt die These, Klee habe in Jungfrau im Baum (1903) gegen die „Doppelmoral“ seiner Zeit opponiert, indem er auf Klees Behauptung rekurriert, er habe „die Wahrheit der erzwungenen, aber gepriesenen Jungfrauschaft“57 gezeigt, d. h. kritisiert. Klee hat aber nicht das Problem der „Jungfrauschaft“, sondern das der alternden und „hässlichen“ Frau gezeigt bzw. beides miteinander vermengt. Die soziale und moralische Problematik der „Jungfrauschaft“ liegt ja darin, dass die Frau bis zur Eheschließung sexuell „rein“ zu sein hat, und nicht darin, dass sie dies so lange sein muss, bis sie nicht mehr begehrenswert ist, denn sonst wäre die Gesellschaft längst ausgestorben. Klee hat das hämische Klischee der „alten Jungfer“ reproduziert, was er irrtümlicherweise als Kritik an der bürgerlichen Sexualmoral versteht. Die Frau wird als gealtert, hässlich und nicht begehrenswert gezeigt, womit der „Doppelmoral“ die Spitze der Entwertung der alternden Frau aufgesetzt wird. Das konventionelle Bild der Frau als verführerische „Venus“ wird karikiert, indirekt jedoch bestätigt. Zu Recht fügt Wedekind hinzu: „Die Frau ist [für Klee] der falsche Ort für Ideale“ ([1996], S. 75). 30  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

13  Paul Klee, Die Büchse der Pandora als Stilleben, 1920, 158, Ölpause und Aquarell auf Papier auf Karton, 16,8 x 24,1 cm, Staatliche Museen Berlin, Museum Berggruen

Klees misogyne Tendenzen, bei denen er ein Stück weit zeitgenössische Konstrukte à la Nietzsche und Weininger kopierte, sind unübersehbar, ebenso seine Doppelmoral. Frauen betrachtete er als „Butterbrot“ und einen „Trunk Wein“, wie er in seinem Brief an Bloesch schreibt. Diese Einschätzung ist keine Herabsetzung Klees. Sie zeigt vielmehr, dass Klee – entgegen seiner späteren Selbststilisierung als „jenseitiger“ Künstler – auch hier ein Kind seiner Zeit und in den sozialen und geistigen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft gefangen war. Klee repräsentiert in seinen frühen Münchner Jahren den Habitus des heterosexuellen bürgerlichen Mannes um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.58 In der Phase seiner „Reinigung“, sei es durch die „Liebe zur Jungfrau“, sei es durch seine sexuellen „Blamagen“ (also 1901), äußert sich Klee in einer Tagebucheintragung Mitte 1901 deutlicher als in den Kommentaren zu den Inventionen zu dem konflikthaften sexuellen Hintergrund seiner Frauendarstellungen: Aber eines muss ich mir zugestehen: der Wille nach dem Echten war da. Sonst hätte ich als leidlicher Aktzeichner einfach Kain und Abel komponieren brauchen. Dazu war ich aber zu skeptisch. Ich wollte die kontrollierbaren Dinge geben, und hielt mich einzig an mein Inneres. Je komplizierter es da mit der Zeit aussah, desto toller die Compositionen. Die sexuelle Ratlosigkeit gebiert Monstren der Perversion. Amazonensymposien und anderes Schreckliche. Ein dreiteiliger Cyklus: Carmen – Gretchen – Isolde. Ein Cyklus Nana. Théatre des femmes. Der Ekel: eine Dame welche mit dem Oberkörper über einem Tisch liegt und ein Gefass ekelhafter Dinge ausgiesst. Dadurch ist der ganze Mensch im Verlauf dieser drei Jahre zeitweise sehr heruntergekommen, wurde er auch wieder läuterungsbedürftig und -fähig. (Tgb. 170, Hrv. MC)

Zweifellos handelt es sich bei der Dame mit dem „Gefäß“ um das Motiv der Pandora, wie es bei Klee häufig auftaucht, etwa in den Inventionen in der Radierung Weib, Kunst und Sexualität: Misogynie und Doppelmoral  I  31

Unkraut säend (1903/04) oder in Die Büchse der Pandora als Stilleben (1920). Die Klee-Forschung hat diese schwierige lebensgeschichtliche Phase, die, wie Klee selbst betont, zweifellos auch seine „Compositionen“ beeinflusste, lange Zeit weitgehend ignoriert. So spricht etwa Franciscono – der dies immerhin erwähnt – verharmlosend von Klees „unsettled sexual life“, ohne näher auf Klees „Monstren der Perversion“ einzugehen.59 Auch später, obwohl sich Klees „sexual life“ durch seine Ehe beruhigt hatte, schuf er weitere „Monstren“: abstoßend hässlich Frauen, eine Travestie des Geburtsaktes, Karikaturen seiner Ehefrau, die sie auf ein käferartiges Wesen reduzieren etc. Doch dies ist ein Vorgriff. Wir wollen Klee zunächst auf seiner Italienreise begleiten, die er nach Abschluss seines Studiums und seiner Verlobung – die allerdings geheim gehalten wurde – antrat.

Italien: Die klassische Bildungsreise auf Goethes Spuren Nach einem Zwischenaufenthalt im Berner Elternhaus trat Klee im Oktober 1901 zusammen mit seinem Freund Haller eine Italienreise an, die bis Mai 1902 dauerte. Die Überquerung der Alpen empfindet er als Erleichterung, mit einem Hinweis auch darauf, dass ihn in seinem bisherigen Leben „Dionysos“ – eine Anspielung auf Nietzsche – „zu kurz hat kommen lassen“: Hier, im Scheine all der Lust und Lebensfreude merkte ich, wie viel Schwermut und Sorgen ich mit dem besten Willen über den Sankt-Gotthard geschleppt hatte. Je mehr ich lerne und in mich aufnehme, desto wertvoller gewiß – ! – wird mir das Leben, aber desto mehr sehe ich auch ein, wie sehr Dionysos mich hat zu kurz kommen lassen.60

In selbstkritischen, ja sarkastischen Bemerkungen – den Sarkasmus dürfte Klee von seinem Vater „geerbt“ haben – hatte er, wie wir gesehen haben, seine Entwicklung zur „Askese“ bereits angesprochen. Er wird sich später (1905) fragen, ob dies nicht zu „einer gewissen Verarmung“ führe (Tgb. 605). 1904 notiert Klee einen Gedanken, der dieses Phänomen aus einer gleichsam physiologischen Perspektive beleuchtet. Klee fragt sich nämlich, ob er nicht zu sehr ein „Leben der Gedanken“, „bar des heissen Blutes“ führe (Tgb. 564). Damit stellt sich die Frage, ob Klees Weg zur Askese, neben den bereits erwähnten sexuellen „Blamagen“, auch eine – jedenfalls von Klee so erlebte – konstitutionelle Dimension besitzt, wie auch sein späterer Brief an den New Yorker Galeristen Neumann nahelegt61. Klee absolvierte die klassische bildungsbürgerliche Reise nach Italien, verbunden mit der obligaten Melancholie des gen Süden reisenden Nordländers. Noch immer war diese Reise für viele deutsche Künstler der Abschluss der akademischen Ausbildung, die grand tour. Auch Feuerbach, Marées, Böcklin, von Lenbach und von Stuck hatten sie absolviert. Für Klee war die Reise ambivalent – ein Trost war für ihn, dass er gleichsam auf den Spuren Goethes wandelte (dessen Italienische Reise er – neben Burckhardts Cicerone – wie 32  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

selbstverständlich im Gepäck mit sich führte). Einerseits war er beeindruckt vom „edlen Stil“ der Antike und der Renaissance, andererseits erkannte er, dass sich dieser Stil nicht mehr einfach reproduzieren ließ62. Er glaubte, die Kunst der Antike und der Renaissance zu „überblicken“, deren Zeit vorbei sei, während er der zeitgenössischen Kunst einigermaßen ratlos gegenüberstand. Eine Ausnahme bildete die Graphik der „Franzosen“, die er im Frühjahr 1902 in der Jahresausstellung der Galleria d’Arte Moderna in Rom sah. Insbesondere von Rodin ist er begeistert (wir erfahren nicht, wer sonst noch ausgestellt hat): Vor allem Rodin mit Aktkarikaturen – Karikaturen!, einer bis dahin an ihm unbekannten Species. Darin der Größte, den ich sah, verblüffend genial. Mit ein paar Blei-Zügen sind Umrisse gezogen. Mit einem vollen Pinsel ist in Aquarell ein Fleischton hineingesetzt und mit einer andern etwas gräulichen Farbe sind etwa noch Gewänder angedeutet. Das ist alles und wirkt einfach monumental. (Tgb. 397)

Klee hat die Sparsamkeit, mit der Rodin Stift und Farbe verwendet, an dieser Stelle genau beobachtet, so genau, dass man sich fragt, ob hier erneut eine Überarbeitung aus späterer Zeit vorliegt. Erst ab 1906/07, nach Fertigstellung der Inventionen beschäftigt sich Klee intensiv mit dem Problem der „Reduktion“, der „Sparsamkeit“ der künstlerischen Mittel. Aber bereits ab 1903 greift Klee Motive der Rodin’schen „Aktkarikaturen“ auf, bis hin zu einer Zeichnung aus dem Jahr 1907, Akt, tanzende Venus, die in ihren Umrissen fast als Kopie einer Rodin’schen Vorlage betrachtet werden kann. Um nicht ganz in „Ratlosigkeit“ und Resignation zu verfallen, sieht Klee – möglicherweise auch beeinflusst durch Rodins „Karikaturen“ – für sich den Ausweg in der „Satire“: So weit bin ich jetzt, dass ich die große Kultur der Antike und ihre Renaissance überblicke. Nur zu unserer Zeit kann ich mir kein künstlerisches Verhältnis denken. Und unzeitgemäß etwas leisten zu wollen, kommt mir suspekt vor. Große Ratlosigkeit. Deshalb bin ich wieder ganz Satire. Sollte ich mich noch einmal ganz darin auflösen? Vorläufig ist sie mein einziger Glaube. Vielleicht werde ich nie positiv. Jedenfalls werde ich mich wehren wie eine Bestie. (Tgb. 294)63

Der Vergleich mit den großen Künstlern der Renaissance (aber auch mit Goethe) beschäme ihn, wobei ihn die Scham zur Wut und diese wiederum zur Satire treibe64. Raffaels Werke wirkten wie „Prügel“ auf ihn: So kurz ich hier bin, habe ich doch schon einiges gesehen, wovon die Sistina und die Stanzen Raffaels wohl das wichtigste sind. Sie haben zuerst ungefähr wie Prügel auf mich gewirkt, von denen ich mich indessen vorläufig mit der Unschuld eines Hündchens erholt habe.65

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Klee keineswegs ausschließlich künstlerische bzw. formale Gründe hatte, sich mit der Satire zu beschäftigen. Klee bewunderte die satirischen Zeichnungen, wie sie damals in den Zeitschriften Simplicissimus und Jugend Italien: Die klassische Bildungsreise auf Goethes Spuren  I  33

veröffentlicht wurden, insbesondere den Zeichner Julius Diez, und hätte gern in diesen satirischen Zeitschriften veröffentlicht. Ein entsprechender Versuch Klees scheiterte freilich: Seine Zeichnungen wurden abgelehnt. Sein Projekt einer „großstiligen Satire“ beschreibt er in einem Brief an Lily Klee vom 10.7.1902: Ich habe den kühnen Gedanken gefasst, den Versuch einer großstiligen Satire zu wagen. Was Julius Diez aus dem glücklichen Humor gemacht hat, das möchte ich aus dem ‚unglücklichen‘ machen. Es käme wohl eine potenzierte Art ‚Simplicissimus‘ heraus. Selbstverständlich denke ich nicht an Tagesillustration, sondern an die Ausstellung.66

Dies sollte Klee dann tatsächlich wenige Jahre später gelingen: in den Inventionen, einschließlich der erträumten Ausstellung. Neben der Tendenz zur Satire zeichnet sich ein weiteres Thema Klees ab, das ebenfalls auf seine zukünftige Entwicklung verweist: seine Wertschätzung des Unvollkommenen, Fragmentarischen. Sie wird später neben den Zeichnungen der Berner Zeit (ab 1903) und den Candide-Illustrationen insbesondere seinen Spätstil ab 1938 prägen. Auch Klees Beziehung zum Impressionismus – der ihn in seiner historischen Ausprägung allerdings kaum interessierte – ist durch diese Wertschätzung des Fragmentarischen geprägt (Tgb. 615): Bis jetzt ist mir die Art der Wirkung derartiger Unvollkommenheiten nicht erklärlich; aber ich bin tatsächlich für das Unvollkommene ebenso empfänglich als für die gepriesenen Wunderwerke. Ich hoffe darin nicht allzu weit gegangen zu sein, aber merkwürdigerweise ging mir zum Beispiel die in jeder Hinsicht meisterhafte Pietà Michelangelos in der Peterskirche ziemlich spurlos vorüber, während ich vor einem alten ausdrucksvollen Heiland wie festgebannt stehen kann.67

In Neapel begegnet Klee dem Erhabenen und zugleich dem Hässlichen. Beides beeindruckt ihn gleichermaßen und wird zugleich in ein ästhetisches Postulat transformiert: die Versöhnung der Gegensätze. Über Neapel schreibt er begeistert: „Man denkt an die Versuchung Christi bei einem solchen Anblick. Man überhebt sich vor Glück, man schwebt in der Mitte von sphärischem Prunk, als Nabel der Welt“ (Tgb. 389). Ganz anders erlebt er die „unheimliche Welt“ am Hafen und dessen Menschen, deren Wirklichkeit, so Klee, anders aussieht, als die im „Santa Lucia Lied“ verherrlichte: Sind das Menschen, da unten. Hässlich elend, krank liegts in der Sonne herum. Lausig zerlumpt, halbnackt. Neutral treibts mich zu ihnen ohne Barmherzigkeit, mit wissensdurstiger Abscheu. Eine Wollust des Künstlermenschen, sich so voll infizieren zu lassen. [... ] Ich weiss, meine Kunst braucht dies als Grundlage [...] Möge der Tag des Beweises kommen. Die Gegensätze versöhnen zu können! Die Vielseitigkeit auszusprechen mit einem Wort. (Tgb. 389)

Rückblickend spricht Klee 1903 von den „Depressionen [...] misslungener Malerei“, aus denen ihn der Ausblick auf die gerade begonnenen Inventionen befreien soll:

34  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

14  Paul Klee, Akt, 1902, Klee/Bloesch, „Das Buch“, Burgerbibliothek, Bern

15  Paul Klee, Schwebende Grazie (im pompeianischen Stil), 1901,2, Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton, 10,3 x 11,4 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Ich bereite Radierungen vor, erfinde geeignete Zeichnungen, mit geeigneten Mitteln darzustellende. Nicht dass ich ein Spezialist werden möchte. Aber aus den Depressionen noch immer misslungener Malerei muss ich heraus und die Erholung wird am besten in kleinen Erfolgen bestehen. (Tgb. 513)

Der künstlerische Ertrag des Italienaufenthaltes war erstaunlich gering, wobei wir allerdings nicht wissen, welche seiner Arbeiten Klee vernichtet hatte bzw. sie für wert befand, sie nach Bern mitzunehmen. Erhalten sind insbesondere die kolorierten Zeichnungen Schwebende Grazie (1901), Windspielartiges Tier, Puppenartige Dame, Akt (alle 1902). In Windspielartiges Tier nimmt Klee ein Stück weit Weib und Tier aus den Inventionen vorweg und bei Akt handelt es sich um Klees einzige realistische Darstellung des Geschlechtsaktes68. Es wird später noch weitere Darstellungen der geschlechtlichen Vereinigung geben, etwa in Heuchlerpaar (1919), wobei es sich jedoch stets um satirische Verfremdungen handelt. Von diesen tendenziell satirisch angelegten Bildern hebt sich die Schwebende Grazie (im pompeianischen Stil) ab. Aber auch bei diesem skurril anmutenden Bild – Klee nahm es später in die Kategorie „Sonderklasse“ auf – muss man sich fragen, ob es letztlich doch auch als Satire oder Verfremdung gedacht war. Es lässt sich noch nicht einmal klar entscheiden, ob es sich um eine Vorder- oder Rückenansicht handelt. Wäre es eine Vorderansicht, dann würde es sich um eine männliche, nicht um eine weibliche Brust handeln, da jegliche Merkmale einer weiblichen Brust fehlen. Der Körper ist ballonartig aufgebläht und der Kopf sitzt auf einem langen dünnen Hals. Es scheint, als habe Klee Italien: Die klassische Bildungsreise auf Goethes Spuren  I  35

alles vergessen (oder vergessen wollen), was er im Knirr’schen Aktzeichnen gelernt hatte69. Als Darstellung einer „schwebenden Grazie“ findet Franciscono das Bild schlechterdings „ludicrous“, lächerlich. The figure is not satirical in Klees sense of the term, but it has a comic flavor with its skewed head and shoulders, its pot belly, its puny limbs, and its rigid carriage which is ludicrously at odds with the notion of a hovering Grace.70

Allerdings ist angesichts Klees geradezu obsessiver Beschäftigung mit der Satire nicht auszuschließen, dass er die „Grazie“ als Ausdruck klassischer Schönheit verspottete und sich die Freiheit nahm, sie in monströser Verzerrung zu zeigen, Deformationen vorwegnehmend, wie wir sie später bei Picasso finden, gleichsam als habe er die klassische „Grazie“ durch einen gewalttätigen Akt getötet.

Opus I: Die Inventionen. Satire und das Problem der „Wahrheit“ Trotz Unzufriedenheit mit seiner künstlerischen Entwicklung schuf Klee – nach seiner Rückkehr aus Italien 1902 – in den Jahren 1903–1905 parallel zu den bereits erwähnten Zeichnungen einen Zyklus eindrucksvoller Radierungen. Er nennt sie Inventionen, sein Opus I, Arbeiten, die erstmals seinen hochgesteckten Ansprüchen genügen. Es lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren, worauf sich Klee mit dem Titel Inventionen bezieht. „Inventio“ war ein zentraler Begriff der Renaissance-Ästhetik (er wird u. a. von Alberti und Leonardo verwendet) und signalisiert, dass die Renaissance-Künstler mehr anstrebten als eine naturgetreue Wiedergabe. Andererseits bezieht sich Klee selbst auf J. S. Bach. Unter Verweis auf einige seiner „Inventionen“ schreibt er: Der greise Phönix hat etwas Homerisches; er gleicht in einem Punkt, wird aber im übrigen selbständig ausgestaltet. Vom Komiker lässt sich noch sagen, die Maske bedeute die Kunst und hinter ihr verberge sich der Mensch. Die Linien der Maske sind Wege zur Analyse des Kunstwerks. Die Zweistimmigkeit der Welten Kunst und Mensch ist organisch, wie bei einer Invention des Johann Sebastian. (Tgb. 618)

Neben seiner Neigung zur Satire versucht Klee in den Inventionen zugleich sein ex-nihilo-Konzept der Kunst, seinen Beginn als „Selbstlehrling“ am selbstgewählten Nullpunkt der Malerei zu verwirklichen: „Fast glaube ich die Erfahrung gemacht zu haben, dass ich bei einfachstem Ausdruck (schwarz-weiß, Linie) mit den vorhandenen Mitteln auskomme“71. Zugleich sind die Inventionen aber auch das Eingeständnis, dass er sich noch nicht imstande fühlt, ein Ölbild zu malen. Das Ganze sollte ursprünglich ein Bild werden, ich halte aber den Vorwurf für zu geringfügig, und die Hauptsache ist, dass es überhaupt verwertet wird. Heute kann ich noch kein Bild machen, wohl aber eine stilvolle und selbständige Radierung.72 36  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Man kann somit die Inventionen als einen „Akt der Selbstbehauptung“ ansehen73, Selbstbehauptung in doppelter Hinsicht. Zum einen substituiert die Radierung die Malerei, zum anderen beharrt Klee auf seinem minimalistischen Konzept des „einfachste[n] Ausdruck[s]“. Später wird Klee erkennen, dass ihm dies nicht gelungen ist, dass seine Inventionen thematisch zu überfrachtet, zu sehr „Allegorie“ waren. Klee stellte die Radierungen in Mappen zusammen, mit denen er sich u. a. in Berlin und in München bewarb. Jeweils eine Mappe schickte er an Knirr und von Stuck. Durch Stucks Vermittlung (dass dieser ihn offenbar schätzte, wird von Klee in den Tagebüchern nicht erwähnt) wurden zehn Blätter der Inventionen schließlich 1906 im Rahmen der Internationalen Ausstellung der Münchner Secession erstmals öffentlich ausgestellt. Klee hatte die Blätter mit einem erfolgreichen strategischen Kalkül nicht einzeln, sondern in einem Sammelrahmen eingereicht: „Die Radierungen sollen nun für die Münchner Sezession in einem großen Sammelrahmen vereinigt werden. Sonst zerpflücken mir die Juroren die Kollektion“ (Tgb. 764).74 Da ich später noch an anderer Stelle auf Thematik und Darstellungsweise der Inventionen eingehen werde, möchte ich mich hier zunächst auf einige zentrale Aspekte beschränken. Ein besonders auffälliges Thema der Inventionen ist die bedrohliche und hässliche Frau. Gleichermaßen bedrohlich wie hässlich dargestellt ist die weibliche Figur der Invention Weib, Unkraut säend (1903), die an Motive von Félicien Rops anschließt75, der den Unheil säenden Satan zeigt. „In der Figur der Unheil säenden Frau reproduziert er [Klee] das Amalgam von Satan, Pandora und Eva in einem Sinnbild von Weiblichkeit.“76 In der „hässlichen“ Frau wird die Frau gleichsam entmachtet: Sie kann keinen verführerischen Einfluss mehr auf den Mann ausüben. Zu den Inventionen Jungfrau im Baum, träumend (1903) und Weib und Tier (1904) schreibt Werckmeister: Die zweite Fassung von Klees Radierung Weib und Tier [...] wirkt wie eine misogyne Travestie von Hodlers Gemälde Weib am Bache [...]: bei Hodler die graziöse Einstimmung der ruhig und aufmerksam stehenden nackten Frau in einer natürliche Umgebung [...], bei Klee die gekünstelte Attitüde der ebenfalls nackten Frau, die sich angespannt zurückdreht, um einen lüsternen Rehbock77 mit einer duftenden Blume anzulocken, sich ihm zugleich jedoch auf einem Felsblock entzieht. Nicht weniger misogyn wirkt die gezwungene, ja verrenkte Haltung, mit der sich die nackte Frau in Klees Radierung Jungfrau im Baum [...] mit verdüstertem Gesicht auf den Ästen eines gestutzten Baumes als liegende Aktfigur in Positur zu setzen versucht.78

Klees Frauendarstellungen in den Inventionen erinnern an die Maxime der „Weiberverachtung“, die Klee seinem Freund Bloesch empfahl. Ich hatte bereits oben darauf hingewiesen, dass Klee – entgegen seinem Verständnis von Jungfrau im Baum – nicht das Phänomen der erzwungenen und gepriesenen „Jungfrauschaft“ darstellte, sondern das Phänomen der alternden und unattraktiv gewordenen Frau oder zumindest beide ­Ebenen vermengt. Die „Jungfrauschaft“ bezieht sich auf die „Reinheit“ vor der Ehe, nicht auf das Altern. Klees Vorstellung, dass die alternde Frau jungfräulich geblieben sei, weil sie „etwas besonderes“ sein wolle, ist abwegig79. Sie ist es entweder aus eigenem Opus I: Die Inventionen. Satire und das Problem der „Wahrheit“  I  37

Entschluss, weil sie die Ehe und/oder Sexualität ablehnt, oder weil sie auf dem Heiratsmarkt der Eitelkeiten nicht als ausreichend „attraktiv“ angesehen wird. Sie wird als Übriggebliebene, als „alte Jungfer“ verspottet. Dass Klee dies als „Kritik der bourgeoisen Gesellschaft“ versteht,80 ist ein Selbstmissverständnis Klees, auch wenn dies von einigen seiner Biographen so gesehen wurde. Hinzu kommt, dass auch die weibliche „Koketterie“ karikiert wird: Die zweite Fassung seiner Radierung Weib und Tier wird von Klee als „kleine Entkleidung der Damenpsyche“ bezeichnet81. Es ist aufschlussreich, einige der Äußerungen Klees zur ersten und zweiten Version von Weib und Tier gegenüberzustellen, weil sich so die von Klee in Anspruch genommene „Wahrheit“ seiner Darstellung aufzeigen lässt82: Das Tier ist das Tier im Menschen (im Manne). Es beläs16  Paul Klee, Weib Unkraut säend, 1903, 4, Radierung, 19 x 11,7 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

tigt ein Weib vorläufig durch unanständiges Beriechen. Moral für Schwachbegabte. Das Weib, das edel sein soll, aber in effektvolle Beziehung zum Tier gebracht wird, stellt etwas ebenso Verkehrtes als durchaus Wahres vor. Zweck: Läuterung zum Menschlichen. Bravo.83

Das Tier im Manne verfolgt eine Dame, die dafür nicht ganz unempfindlich ist. Beziehungen der Dame zum Tierischen. Eine kleine Entkleidung der Damenpsyche. Feststellung einer nach aussen gern verschleierten Wahrheit. (Tgb., Notizen für Leopold Zahn, Nr. 513, S. 523) In Beziehung auf die Psychologie der Handlung steht die Arbeit jetzt insofern höher, als das Weib sich nicht mehr passiv verhält, das heißt erschrickt, sondern seinen Trieb zu coquettieren, auch im Moment der brutalen Entscheidung nicht lassen kann.84

Klee spricht in diesem Zusammenhang gleich zweimal von Wahrheit. Die „Wahrheit“ sei, dass sowohl der Mann als auch die Frau, wenn auch vielleicht in unterschiedlichem Maße, „triebhaft“ seien, die Dame jedoch, weil sie „edel“ sein solle, ihre Triebhaftigkeit „verschleier[e]“ bzw. hinter dem weiblichen „Trieb“ zu „coquettieren“ verberge. Die Dame drückt also etwas „Wahres“ in doppelt verkehrter Form aus: Sie verbirgt ihre Triebhaftigkeit hinter Koketterie, weil sie „edel“ sein soll und verweist zugleich darauf, dass das erotische Verhältnis der Geschlechter einer „Läuterung zum Menschlichen“ bedarf. Dies ist keinesfalls ironisch oder satirisch gemeint (etwa durch das eingeschaltete „Bravo“): Klee hat ja das Verbergen des Triebes hinter der Koketterie gleichsam entlarvt 38  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

17  Paul Klee, Jungfrau (träumend), 1903, 2, Radierung, 23,6 x 29,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

und die „verschleierte Wahrheit“ aufgezeigt. Die „Läuterung zum Menschlichen“, d. h. die Läuterung der Triebhaftigkeit beider Geschlechter, ist ernst gemeint. Klee hat das Modell dieser Läuterung am Beispiel seiner eigenen „Läuterung“ formuliert, wie er bereits 1901 in seinem Tagebuch notiert – es würde wenig Sinn ergeben, wenn Klee hier diese seine eigene persönliche Wende qua Satire ins Lächerliche ziehen würde: Ich habe ein neues Leben begonnen. [...] Zum Narrentanz ging ich, ein schmutziger Lump. Die Liebe zur Jungfrau hat mich erlöst von solcher Gestalt. [...] Ich will ernst werden und besser. Durch den Kuß des liebsten Weibes ist alle Not von mir genommen. Ich werde arbeiten. Ein guter Künstler will ich werden. (Tgb. 139, Frühjahr 1901)

Eine Formulierung Klees, die er im Kontext seiner Überlegungen zur Satire machte, könnte leicht missverstanden werden. Klee spricht vom „Unmut im Hinblick auf das Höhere“. Betrachtet man den Kontext, so wird klar, dass Klee damit nicht das „Höhere“ karikieren möchte, im Gegenteil. Es handelt sich um „Unmut“, der aus dem „Hinblick auf das Höhere“ hervorgeht. Klees „Unmut“ resultiert aus seinem Hass gegen den „Sumpf“ und aus seiner „Achtung“ vor der „Menschlichkeit“: Satire sei kein überschüssiger Unmut, sondern Unmut im Hinblick auf das Höhere. Lächerlicher Mensch – göttlicher Gott. Hass dem Niveau des Sumpfes aus Achtung vor seiner Menschlichkeit. (Tgb. 420, Juni 1902)

Klee entwirft also keineswegs eine Ethik, die „nichts zu erkennen gibt“85 bzw. kein Ideal formuliert. „Hass“ auf den Sumpf ist das Negativbild seiner „Achtung“ vor der Mensch Opus I: Die Inventionen. Satire und das Problem der „Wahrheit“  I  39

18  Paul Klee, Zweite Fassung „Weib und Tier“, 1903, Radierung, 21,7 x 28,2 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

19  Paul Klee, Weib u. Tier, 1904,13, Radierung, 20 x 22,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

lichkeit. Klee formuliert sein ethisches Ideal – zumindest in den Inventionen – indirekt in der Darstellung der Negativität menschlicher Verhaltensweisen. Wenn Klee an anderer Stelle formuliert: „Stil ist in der bildenden Kunst die dem Material angepasste Form der Wahrheit“86, so hat er dieses Ziel in den Inventionen ein Stück weit realisiert. Der Stil seiner Radierungen ist satirisch, d. h. die Figuren werden aus der Perspektive ihrer möglichen Menschlichkeit in ihrer Sexualität als lächerlich dargestellt. Stil als „Form der Wahrheit“ ist die satirische, also „lächerliche“ Darstellung der Lächerlichkeit. Dass Klee allerdings selbst in Widerspruch zu seinem Ideal von „Wahrheit“ gerät, zeigen seine 40  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

20  Paul Klee, Greiser Phönix (Inv.9), 1905, 36, Radierung, 27,1 x 19,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Blätter Weib, Unkraut säend und Jungfrau im Baum. Beide Blätter sind, genau genommen, keine Satire, keine satirisch gebrochene Wahrheit in Gestalt der Darstellung des Unwahren, sondern äußerst direkte Darstellungen einer „Unwahrheit“. Sie sind „falsch“, weil Weib, Unkraut säend nicht auf der Erkenntnis einer Wahrheit über „das Weib“ oder einer Wahrheit über das Verhältnis der Geschlechter beruht, sondern ein misogynes Klischee darstellt (wie es Klee in seinem Brief an Bloesch artikuliert), und Jungfrau, träumend nicht das Problem der erzwungenen Jungfräulichkeit darstellt, sondern Alter und Hässlichkeit der Frau, das hämische Klischee der „alten Jungfer“. In fast allen Frauendarstellungen spielen Klees misogyne Tendenzen eine wichtige Rolle: Klees Pandora-Bilder sind gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs. Weitere Sujets der Inventionen – Zwei Männer, einander in höherer Stellung ver­ mutend, begegnen sich (1903), Ein Mann versinkt vor der Krone (1904), Greiser Phönix (1905) – sind eher politischer Natur, gleichwohl geht es Klee auch bei ihnen um die „Wahrheit“. Da die Zusammenhänge und der Hintergrund gerade bei Greiser Phönix besonders aufschlussreich sind, möchte ich mich im Wesentlichen darauf beschränken. Über die Korrespondenz mit Lily Stumpf ist nachweisbar, dass sich Klee mit dem Problem des russischen Volksaufstands 1905 beschäftigte. Hintergrund dieser Beschäf­ tigung sind vor allem Diskussionen Klees in Bern mit seinem Freund Fritz Lotmar und dessen Vater Philipp Lotmar, einem liberalen Jura-Professor. In diesen Diskussionen wird eine persönliche „Wahrheit“ Klees sichtbar: seine häufig bis zur völligen Indifferenz Opus I: Die Inventionen. Satire und das Problem der „Wahrheit“  I  41

gehende Distanz zu politischen Ereignissen, wie er sie später (Anfang 1915) in seinem berühmten Diktum zum Ausdruck bringt – der Krieg gehe ihn „innerlich nichts an“ (Tgb. 952). Klee schreibt an seine Verlobte Lily Stumpf: Gestern bei Lotmars die Rede von Russland. Den Alten habe ich noch nicht so aufgeregt gesehen; dabei sah er so prachtvoll aus, dass ich den Verbrechern dankbar sein muss. Ich könnte niemals so wild Partei ergreifen; meine Art ist, still lächelnd zuzusehen und wenn auch alles in die Luft spränge. Am Ende gehöre ich auch zu den Menschen, die mit einem Witz sterben.87

Dennoch verbirgt Klee seine Sympathien nicht – er spricht von den Verantwortlichen als „Verbrechern“. Außerdem nimmt Klee an einem Benefizkonzert zugunsten „der Hinterbliebenen der in den Petersburger Straßenkämpfen Gefallenen“ teil (Tgb. 592) und scheint sogar mit dem Attentat auf den Großfürsten Sergius am 17.2.1905 zu sympathisieren88. Von Philipp Lotmar erhält Klee ein Exemplar von Oscar Wildes Der Socialismus und die Seele des Menschen, das er mit großem Interesse liest (er habe „etwas Interessantes“ gelesen, schreibt er an seine Verlobte) und über das er sich mit Lily austauscht. Wilde kann ihn freilich nicht überzeugen. „Und eine Diktatur der Arbeit vermag ich mir auch nicht als ideal vorzustellen. Bin also immer noch nicht zum Vollblutsocialisten erzogen.“89 Die Lektüre von Wildes Buch, vermutlich aber auch die Gespräche im Hause Lotmar regen ihn jedoch zu weiteren Überlegungen über den Sozialismus an: Wenn der Socialismus jeder Veranlagung das geeignete Milieu verschaffen will und kann, so bin ich auch Socialist. Doch fehlt mir da der Glaube, wie in den meisten Dingen. Aber dagegen würde ich nie sein, weil er die einzige anständige Bewegung ist.90

Damit ist, in groben Zügen, der politische und persönliche Hintergrund skizziert, vor dem die Radierung Greiser Phönix entstand. Anders als in späteren geschichtlichen Zusammenhängen (etwa dem Problem des Krieges), wird deutlich, dass Klee sich zu dieser Zeit dennoch mit Problemen des Sozialismus und der Revolution auseinandersetzte. Auch in Greiser Phönix wird Klees Skepsis, der fehlende „Glaube“, „wie in den meisten Dingen“, seine Schwierigkeit, „Partei“ zu ergreifen, deutlich. Der Phönix war von Klee ursprünglich als „auferstehender“ Phönix konzipiert und wurde erst später in den „greisen“ Phönix transformiert. Aber in beiden Varianten steht, wie aus dem Briefwechsel mit seiner Verlobten hervorgeht, das Thema „Unzulänglichkeit“ im Mittelpunkt. Über meine neueste Radierung zu sprechen, fällt mir schwer. Ich habe eine Allegorie der Unzulänglichkeit als auferstehender Phönix; bildnerisch sehr originell. Man muss sich zum Beispiel denken, es sei eben eine Revolution gewesen, man habe die Unzulänglichkeit verbrannt, und nun steige sie verjüngt aus der eigenen Asche empor. Das ist mein Glaube.91 (Hrv. MC) 42  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Deutlich wird, dass Klee hier doch Partei ergreift (d. h. an die Auferstehung der „Unzulänglichkeit“ glaubt), zugleich aber auch von einer irrtümlichen Variante des Phönix-Mythos ausgeht: dass der Phönix nämlich durch Selbstverbrennung aus seiner eigenen Asche auferstanden sei. In der späteren Variante des greisen Phönix bezieht sich Klee dagegen auf die ursprüngliche Ovid’sche Fassung des Mythos, wonach sich Phönix auf einem Blumenlager gleichsam in „Wohlgerüche“ aufgelöst habe92. Die Blumen am Fuße des greisen Phönix spielen deutlich auf die Ovid-Variante an. Klee merkte dazu lapidar an, dass ihm die Ovid-Fassung lieber sei („Mir ist lieber, er wird nicht gewaltsam verbrannt“, Tgb. 602). Das Thema der „Unzulänglichkeit“ bleibt jedoch in beiden Varianten erhalten. Über die endgültige Fassung des greisen Phönix notiert Klee: Ohne Tragik ist der Ausdruck auch nicht, und der Gedanke, daß dieses Wesen nun bald zur Parthenogenese schreiten wird, eröffnet auch keine heiteren Perspektiven. Der Rhythmus der Unzulänglichkeit mit 500jähriger Periodizität ist eine erhaben-komische Vorstellung. (Tgb. 602, Notizen für Leopold Zahn)

Zweifellos ist die Bildkonzeption des greisen anstelle des auferstehenden Phönix überzeugender. Das Thema der Unzulänglichkeit hätte in der Gestalt des jugendlichen P ­ hönix kaum so drastisch dargestellt werden können wie in der kläglichen Mensch-Tier-Gestalt des greisen. Andererseits wird in der greisen Phönixgestalt auch die Klee’sche Skepsis besonders drastisch deutlich: Die in dem Ovid-Mythos verkörperte Vorstellung einer ­triumphalen Wiederauferstehung aus „Wohlgerüchen“ wird für Klee zur tragischen Farce. Es ist eine „Absage an alle Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Veränderung zum Besseren [...]“ (Wedekind [1996], S. 111). Wie steht es im vorliegenden Falle um die „Wahrheit“? Diese Frage lässt sich gerade hier nicht stellen: Hier es geht vielmehr um eine Frage der „Weltanschauung“ (bzw. des „Glaubens“), die, wie wir gesehen haben, für Klee ebenfalls mit dem Stil verbunden ist. Stil ist für Klee ein Nicht-anders-Können (Tgb. 825). Die Frage nach der Berechtigung einer gene­ralisierten Skepsis (Auferstehung der „Unzulänglichkeit“) vs. der Hoffnung auf mögliche positive gesellschaftliche Veränderung ist – wie die Frage nach dem „Glauben“ – keine Wahrheitsfrage, sondern eine Frage der „Weltanschauung“. Wenn Klee an die per­manente Wiederauferstehung gerade der „Unzulänglichkeit“ „glaubt“, dann dürfen wir von ihm auch erwarten, dass sein Stil dies zum Ausdruck bringt, wie wir es in der Satire gesehen haben. Aber dann würde sein Stil auch zeigen, dass es keinen säkularen, innerweltlichen Fortschritt gibt. Statthalter der Hoffnung, wenn nicht gar der „Erlösung“ wäre dann nicht das „Diesseitige“, sondern das „Jenseitige“. Ab 1915 wird Klee diesen Gedanken folgerichtig in seine Kunstphilosophie integrieren und in seinen ­theoretischen Arbeiten in der Bauhaus-Zeit weiterentwickeln. In der Formulierung der von ihm angestrebten „Romantik, die im All aufgeht“ (Klee [1924], S. 64) wird dies ­deutlich. Im Diesseitigen gibt es keinen Platz für eine Hoffnung auf eine bessere Welt. Wir können bereits hier sehen, dass Klees späteres Selbstverständnis als „kosmogene­tischer“ Künstler in der skeptischen Weltanschauung der Inventionen vorweggenom­men ist. Opus I: Die Inventionen. Satire und das Problem der „Wahrheit“  I  43

21  Paul Klee, Weiblicher Halbakt mit im Rücken gefesselten Händen 1903,1, Feder, Pinsel und Bleistift auf Papier auf Karton, 7,9 x 6,4 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Kontrastierend dazu ließe sich einwenden, dass Klee im „Sozialismus“ die „einzige anständige Bewegung“ sah, eine Bewegung, die sich ja den innerweltlichen Fortschritt auf die Fahnen geschrieben hatte. Aber Klee konnte den Sozialismus lediglich als geistiges Prinzip, nicht als praktische Möglichkeit anerkennen. Dies stimmt wiederum damit überein, dass Klee, wie wir noch sehen werden, das „Jenseitige“ nicht als Transzendenz, also als einen der Erfahrung und dem Verstand nicht zugänglichen Bereich versteht, sondern letztlich als das Prinzip des Geistigen, als transzendental. Wir können Klee somit zu diesem Zeitpunkt, etwas vereinfacht, als eine Art geistigen „Socialisten“ betrachten. Das sollte sich später freilich ändern. In der Zeit zwischen 1903 und 1906, also parallel zu den formal gebändigten Formen der Inventionen, schuf Klee eine Reihe von Zeichnungen, die sich radikal von den Inventionen, ebenso von den akademischen Aktzeichnungen bei Knirr abheben. Der Zeichenstrich wirkt nervös, gekritzelt, gibt häufig nur die Umrisse ohne plastische Wirkung wieder und nimmt den Stil der Candide-Illustrationen (1911/12) vorweg. Auch hier geht es häufig um die Auseinandersetzung mit der Sexualität, etwa in Weiblicher Halbakt mit im Rücken gefesselten Händen (1903), Weiblicher Akt auf der Schaukel (1904)93, Weiblicher Akt, unten fragmentarisch (1904). Zum Halbakt mit im Rücken gefesselten Händen merkt Glaesemer an: „Die kleine Zeichnung wirkt wie ein apodiktischen Bekenntnis zur Grausamkeit und zum Hässlichen. [...] Schönheit war für Klee nicht mehr darstellbar, sie konnte nur durch ihr Negativ fassbar gemacht werden.“94 Dies entspricht Klees damaligem dialektischem Verständnis von Schönheit: 44  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Die Schönheit, die von der Kunst vielleicht nicht zu trennen ist, bezieht sich doch nicht auf den Gegenstand, sondern auf die bildnerische Darstellung. So und nicht anders überwindet die Kunst das Hässliche, ohne ihm aus dem Weg zu gehen. (Tgb. 733, Dezember 1905)

Der „unten fragmentarische“ Akt zeigt eine im Umriss skizzierte weibliche Figur mit versunkenem Gesichtausdruck und der Geste sexueller Selbstbefriedigung. Obwohl es sich bei den Zeichnungen um sexuelle Themen handelt, „there is no eroticism“, wie Franciscono auch im Blick auf die Inventionen feststellt. Es handelt sich um Karikaturen oder, wenn man will, um Travestien. Klees Entwicklung von den Knirr-Zeichnungen über die Skizzen der frühen Berner Zeit und die Inventionen macht die hervorgehobene Bedeutung der Zeichnung deutlich, der „Linie“, die Klee als sein „Ureigentum“ betrachtete. Wir werden sehen, dass spätestens in den Werken seit 1908 ein neues Stilelement in den Vordergrund treten wird: die „Reduction“ des Natureindrucks als erster Schritt auf dem Weg zur Abstraktion. Was freilich die Inventionen von den genannten Zeichnungen unterschied, ist, dass in Letzteren gleichsam Klees private Obsessionen zum Ausdruck kamen, während er in den Inventionen populäre Themen (angelehnt beispielsweise an Félicien Rops oder die Karikaturen des Simplicissimus) wiedergab, durchaus auch, um in der Öffentlichkeit mit diesen Themen wahrgenommen zu werden.

„Nulla dies sine linea“ Eine scheinbar beiläufige Bemerkung Klees erhellt Klees künstlerische Entwicklung nach seinem Opus I. Im März 1908 finden wir in Klees Tagebuch eine Notiz, die den Kern seiner bisherigen Auseinandersetzung mit der künstlerischen Form trifft. Klee schreibt zunächst: Im März mimte ich wieder einmal längere Zeit Kindermädchen, da uns ein Lausdirndl weggelaufen war. Daher musste ich mein nulla dies sine linea etwas lassen. Das kam aber einer wohlgelungenen Arbeit zugute, die besondere Frische der Formung aufweist. (Tgb. 813 a)95

„Nulla dies sine linea“, kein Tag ohne (gezeichnete) Linie: Dieser schlichte Satz von Plinius dem Älteren beleuchtet das Dilemma der frühen Jahre Klees als Künstler – eines Künstlers, der von seiner Ausbildung her, aber auch aufgrund seiner schon früh entwickelten Begabung, in erster Linie Zeichner war, gleichwohl Maler werden wollte. Er wolle Maler werden, sich die „Kunstmalerei als Lebensaufgabe“ wählen, schrieb er am 7.1.1940 rückblickend in seinem Lebenslauf für die Berner Einbürgerungsbehörde. 1908 sollte es noch sechs Jahre dauern (bis zu seiner Tunesienreise im Jahre 1914, Klee war zu diesem Zeitpunkt fast 35), bis Klee glaubte, dies erreicht zu haben. Die Zeit bis dahin war ein mühsames Ringen des Künstlers, seine künstlerischen Grenzen – er nennt sie sein „Dickicht“ – zu überwinden, die ihm durch seine Ausbildung gesetzt waren96. Wie für viele Künstler vor und nach ihm war auch für Klee die künstlerische Ausbildung nicht nur „Nulla dies sine linea“  I  45

eine Chance, sondern auch ein Hemmnis. Klee wollte deshalb in erster Linie „Selbstlehrling“ sein. Etwas zugespitzt spricht Werckmeister von der „professionelle[n] Planlosigkeit und ästhetische[n] Desorientierung“ seiner Ausbildung97. Allerdings werden wir auch sehen, dass Klee sich spätestens nach den Inventionen umfassend mit den aktuellen Strömungen der Kunst vertraut machte, von Selbstlehrlingshaftigkeit konnte seit dieser Zeit nicht mehr die Rede sein. Sie ist vielmehr Teil seiner „Künstlerlegende“. Es klingt somit geradezu wie ein Triumph, wenn er in seiner Tagebucheintragung aus dem Jahre 1908 fortfährt, dass eine „wohlgelungene Arbeit“ gerade deshalb zustande gekommen sei, weil er ein Stück weit „sine linea“, ohne Linien, arbeiten könne. Klee fährt fort: Dann vermochte ich mich von allem Zufälligen dieses Stückes „Natur“ loszureißen, sowohl in der Zeichnung als auch in der Tonalität und gab nur das „Typische“ in durchdachter formaler Genesis wieder. Ob ich nun aus dem Dickicht wirklich heraus bin? Dieser Küchenbalkon, das unbebaute Feld, die Hohenzollernstrasse. Der Anblick eines Gefangenen in mehrfacher Richtung. (Tgb. 813 a)

In seinen Notizen, die er später (1919/20) seinem Biographen Hausenstein zur Verfügung stellt, bejaht er diese Frage: Er bezeichnet sein Bild als „Hauptdocument der Befreiung aus der Enge“ (Tgb., Hausenstein I, S. 498). Paul Klee hat wie wenig andere moderne Künstler seine künstlerische Tätigkeit und Entwicklung reflektiert. Vergleichbar ist er unter seinen künstlerischen Zeitgenossen in dieser Hinsicht Kandinsky, mit dem er seit 1911 befreundet war. Noch immer fühlte sich Klee als Gefangener seiner zeichnerischen Ausbildung (und damit möglicherweise auch seines unbestreitbaren zeichnerischen Talents), zum anderen strebte er eine Kunst an, die nicht an der sichtbaren Oberfläche der Dinge stehen bleibt: Er sucht das „Typische“. Später wird er dies in dem programmatischen Satz zum Ausdruck bringen: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“98 Zwar betrachtete Klee seine „Linien“ als sein „Ureigentum“ – offensichtlich noch immer eine Stilisierung aus der Perspektive des „Selbstlehrlings“ –, zweifelte aber daran, ob sie als künstlerische Perspektive für ihn tragfähig sei. Wenige Monate danach, im Juli 1908, schreibt Klee: Die Linie! Meine Linien von 1906/07 waren mein Ureigentum. Aber ich mußte sie doch unterbrechen, es drohte ihnen irgendein Krampf, schließlich gar das Ornament. Kurz ich unterbrach erschreckt, obwohl sie tief in mir gefühlt waren [...]. Der Umschwung ist dann sehr krass gewesen, ich gab mich Sommers 1907 ganz der Naturerscheinung hin und baute auf diese Studien die schwarzweißen Landschaften hinter Glas 1907/08. Kaum besitze ich dieses Stadium, langweilt mich die Natur schon wieder. Die Perspektiven sind zum Gähnen. Soll ich sie nun verzerren. Auf mechanische Weise verzerren habe ich auch schon versucht. (Tgb. 831)99, 100

Wie glaubhaft ist es, dass Klee innerhalb weniger Monate einen Bildtyp, den er als „Hauptdocument der Befreiung aus der Enge“, als Entdeckung des „Typischen“ gerade46  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

22  Paul Klee, Blick vom Küchenbalcon in die Hohenzollernstraße , 1908, 56, Hinterglasmalerei, Privatbesitz USA, in: Felix Klee, Paul Klee (1960), S. 59

zu feierte, wieder entwertet, weil die Perspektiven „zum Gähnen“ seien? Zweifellos gehört das Bild, um das es ihm dabei ging, der Blick vom Küchenbalcon in die Hohenzollernstraße – ich werde später noch ausführlicher darauf eingehen –, zu den von ihm kritisierten perspektivischen Bildern. Darüber hinaus stammen die von Klee erwähnten „schwarzweißen Landschaften hinter Glas“ fast alle aus den Jahren 1908–1910 und nicht aus dem Jahr 1907: Strasse unter Bäumen (1908), Bern, Matte, industrieller Teil, Gepflegter Waldweg (beide 1909), um nur einige zu nennen. Farbige Landschaften hat Klee 1907 fast keine gemalt, eine Ausnahme bildet die aquarellierte Kohle-/Tuschezeichnung Im Ostermundinger Steinbruch, zwei Kräne. Dagegen finden sich unter der Zeichnungen der Jahre 1908–1910 zahlreiche Landschaften, etwa Aare bei Bern und die von van Gogh inspirierte Landschaft mit der Sonne (1909) – nach wie vor beschäftigte sich Klee mit der Perspektive, ob sie nun „zum Gähnen“ war oder nicht. Noch ist nicht klar, was Klee unter dem „Typischen“ verstand und ob dies mit der Perspektive unvereinbar war. Klar ist jedoch, dass er zur selben Zeit erkannte, dass Naturformen und die Formen der Kunst radikal differieren, dass die „Bildanatomie“ etwas anderes ist als die Anatomie des Naturgegenstandes (Tgb. 840, 1908). Die beiden zitierten Tagebuch-Passagen aus dem Jahre 1908, ebenso die Tagebucheintragung 840 aus demselben Jahr zeigen, dass von einer chronologischen – oder logischen – Entwicklung, die Klee uns nahelegen will, nicht die Rede sein kann. Abgesehen davon, dass sich Klee gelegentlich mit den Daten irrt, hat er durch seine nachträgliche Bearbeitung des Tagebuchs Zusammenhänge zeitlich komprimiert, Vorgriffe, Rückgriffe „Nulla dies sine linea“  I  47

und auf den ersten Blick widersprüchliche Passagen eingefügt, die ein unscharfes, teilweise verwirrendes Bild seiner künstlerischen Entwicklung vermitteln. Gleichwohl gibt es, wie ich im Folgenden darzustellen versuche, eine konsequente künstlerische Entwicklung Klees. Ungelöst bleibt weiterhin das Problem der Farbe. „Graphik“ einerseits, der Umgang mit „Ton nd Farbe“ andererseits, sind für Klee „grundverschieden“, wie er 1914 in seinem Tagebuch notiert (Tgb. 928). Das Ölbild erscheint ihm noch bis 1910 als uneinnehmbare „Gemäldefestung“ (Tgb. 875). Allerdings handelt es sich auch hier um ein Stück Selbststilisierung Klees. Bereits 1903 hatte er ein spätimpressionistisches Ölbild seiner Schwester Mathilde gemalt, und um 1905 zeigen Aquarelle, dass Klee beginnt, sich mit der Farbe zu beschäftigen. Das spätere, kubistisch inspirierte Bild Pflanzen in den Bergen (1913, Farbabb. I) zeigt dann bereits einen souveränen Umgang mit der Ölfarbe. Klee selbst hat jedoch die Beherrschung der Farbe auf das Jahr 1914, das Jahr seiner Tunesienreise, datiert. Wir werden sehen, dass Klee seine Tunesienreise und seine dort behauptete symbiotische Verschmelzung mit der Farbe als ein außeralltägliches, geradezu mystisches Ereignis gefeiert hat, eine unio mystica mit der Farbe, geeignet, ihm eine Aura des Charismatischen zu verleihen. Aus dieser Perspektive musste er in seinen Tagebüchern sein Verhältnis zur Farbe rückblickend geradezu zwangsläufig als unbefriedigend und defizitär darstellen.

Typik, Reduktion, Tonalität. Ambivalentes Verhältnis zum Impressionismus Klee ist somit nach den Inventionen an einem Punkt seiner künstlerischen Entwicklung angelangt, an dem ihm das rein Zeichnerische, sein „nulla dies sine linea“, nicht mehr ausreicht. Dies ist bemerkenswert, weil er damit sein von ihm zunächst sehr geschätztes Opus I abwertet, ein noch dem Symbolismus verhaftetes zeichnerisches Werk. Bei seinen Versuchen der Überwindung des Zeichnerischen tritt für Klee nunmehr, wie wir gesehen haben, zunächst das „Typische“ in den Mittelpunkt (Tgb. 813 a)101. Das Typische ist nicht das Formelhafte oder Ornamentale, vielmehr die Vermeidung des „Zufälligen“ der Natur. Im November 1908 notiert er in seinem Tagebuch: „Ich finde aus der Sackgasse des Ornaments, wo ich mich 1907 eines Tages befand, endlich hinaus“ (Tgb. 842). In den Zeichnungen nach Abschluss der Inventionen findet sich allerdings nur ein einziges Beispiel ornamentaler Gestaltung, das er selbst als Ornament aus einer weiblichen Figur (1907) bezeichnet. Es hebt sich stark von den übrigen umrisshaften Zeichnungen dieser Jahre ab, so dass man sich fragen muss, ob Klee mit der „Sackgasse“ nicht erneut eine gezielte Dramatisierung seines künstlerischen Schaffens versucht. Eine systematischere Auseinandersetzung mit dem „Ornament“ finden wir erst später, im Pädagogischen Nachlass, und hier in der bisher unveröffentlichten Bildnerischen Gestaltungslehre. Die Abkehr von der illusionistischen Wiedergabe der Oberfläche der Dinge, die Hinwendung zum „Typischen“ ist zudem keine Erfindung Klees: Sie ist charakteristisch für die gesamte Entwicklung der Moderne seit Cézanne. Dieser wird für Klee zu einem 48  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

außergewöhnlichen „malerische[n] Ereignis“, er sieht in ihm seinen „Lehrmeister“ (Tgb. 1909, Hausenstein II, S. 515), wobei er hinzufügt: „im Gegensatz zu van Gogh“. Einen ähnlichen Einfluss, eine Hinwendung zum „inneren Klang des Dinges“, sollte später Kandinsky auf ihn ausüben. Möglicherweise war Klee dabei auch von Goethe und dessen Morphologie beeinflusst (die er wahrscheinlich kannte), in der der Dichter das empirische Phänomen auf das „Typische“, das „Urphänomen“ zu reduzieren suchte (vgl. hierzu Kap. 4). Die Arbeiten der Jahre 1905–1910 und Klees Anmerkungen in seinem Tagebuch haben häufig die Frage aufgeworfen, ob Klee sich in dieser Zeit als impressionistischer Maler versteht. Glaesemer spricht von dem „neuen ‚impressionis­ tischen‘ 102 Stil[es]“ Klees in dieser Zeit und Franciscono folgt ihm darin im Wesentlichen. Klee war in dieser Zeit jedoch so stark mit der Suche nach dem „Typischen“, der Abwendung von der traditionel23  Paul Klee, Drohendes Haupt 1905, 37, Radierung, 19,7 x 14,5 cm, Zentrum Paul len Perspektive und der – um es mit einem Wort Klee, Bern seines Freundes Kandinsky zu bezeichnen – Aversion gegen die „äußere wohlschmeckende Schönheit“ beschäftigt, dass es wenig überzeugend ist, von Klee in dieser Zeit – und auch später – als von einem impressionistischen Maler zu sprechen. Klee hat dieser Fehleinschätzung ein Stück weit Vorschub geleistet, eine genauere Analyse des Kontexts zeigt jedoch, dass er in seiner künstlerischen Entwicklung allenfalls einige begrenzte Anregungen durch den Impressionismus erhielt. 1905 war Klee in seiner Unzufriedenheit mit den Inventionen noch geneigt, sich dem „Impressionistischen“ anzunähern. Mit dem Abschluss der Invention Drohendes Haupt (1905) fühlt Klee sich wie von einer „Krankheit“ genesen und suchte nach einer neuen künstlerischen Orientierung: In den nächsten Tagen radiere ich das Drohende Haupt, das mir bildnerisch noch lieber ist. Dann kann ich abschließen und die Sachen, hübsch auf weißen Carton aufgezogen, zur Ansicht fortsenden. Ich werde mich frei fühlen wie einer, der eine Krankheit hinter sich hat, und bilde mir ein, nun werde etwas Neues kommen. Was? Zuerst glaubte ich Plastik oder Lithographie, nun werde ich noch kühner und will weiter radieren, aber auf ganz neue Weise, mich dem Impressionistischen annähernd.103 (Hrv. MC)

In einer Tagebucheintragung vom Mai 1905, bei der er sich auf die parallel zu den Inventionen entstandenen Zeichnungen bezieht, verweist Klee jedoch auf eine von ihm angeTypik, Reduktion, Tonalität. Ambivalentes Verhältnis zum Impressionismus  I  49

strebte Richtung seiner künstlerischen Entwicklung, die wenig mit Impressionismus zu tun hat, gleichwohl aber die Zeichnungen der Jahre 1903–1905 gut charakterisiert: Der Vorstoß muss gemacht werden, weil er längst in vielen Ansätzen sich vorbereitete. Denn die paar Radierungen sind doch lang nicht die ganze Arbeit der letzten zwei Jahre. Eine Menge von Skizzen eigneten sich nur nicht zur Einordnung in jenes streng abstrahierende Formbekenntnis. Sie liegen und harren. Der Vorstoß ist reif. Ich beginne logischerweise beim Chaos, das ist das Natürlichste. Ich bin dabei ruhig, weil ich fürs erste selber Chaos sein darf. (Tgb. 633, Mai 1905)104

Hintergrund dieser Überlegungen ist, dass Klee in dieser Zeit beginnt, sich mit einer neuen Maltechnik zu beschäftigen, bei der das Verhältnis der schwarzen und weißen „Energien“ umgekehrt wird, d. h., es wird weiß auf schwarzem Grund – er assoziiert ihn mit dem „Chaos“ – gearbeitet, dem das „Es werde Licht“ folgt105, was er später insbesondere in einigen seiner Hinterglasbilder umsetzt, bei denen die Zeichnung in einen schwarzen Untergrund eingeritzt und mit Weiß hinterlegt wird: „Ich gleite dann sachte hinüber in eine neue Welt der Tonalitäten“ (Tgb. 632). Mit Impressionismus im herkömmlichen Sinn hat dies wenig zu tun, wohl aber damit, dass auf diese Weise ein Schritt vom Zeichnerischen zum Malerischen, zur „Tonalität“ vollzogen wird. Obwohl Klee bei seiner ersten Parisreise Ende Mai 1905 (die er zusammen mit Bloesch und Moilliet antrat) Gelegenheit hatte, im Luxembourg Bilder der Impressionisten zu sehen (Monet, Renoir, Sisley, Pissaro), geht aus seinen eher kursorischen, fast pedantischen Tagebucheintragungen nicht hervor, welchen Eindruck sie auf ihn machten. Stattdessen wiederholt er seine Distanz zu Raffael und seine Wertschätzung für die Spanier Goya und Zuloaga. Noch 1908 sieht sich Klee „mehr den Impressionisten“ zugehörig (Tgb. 812), nimmt dies offenbar aber nicht mehr ganz ernst. Klee schreibt dies in eher ironischem Zusammenhang seines Antrags auf Aufnahme in den Bund zeichnender Künstler und einem entsprechenden Briefwechsel mit seinen Malerkollegen Welti und Kreidolf: Ich dankte Welti für die gute Idee und für die freundschaftliche Gesinnung. Und sagte, dass der Ort wo er ausstelle für mich auch nicht so schlecht sein könne. Und dass ich Herrn Kreidolf sehr schätzte. Trotzdem gehörte ich wohl mehr zu den Impressionisten nach meinen jetzigen Arbeiten wenigstens (der Herr Lehrer fruchtete). Max Liebermann und Uhde täte ich schätzen, noch mehr aber die Franzosen. [...] Dann antwortete mir Kreidolf auch noch und teilte meinen Durchfall mit. Das war scha­reckelich. (Tgb. 812)

Aus dem Kontext geht hervor, dass es sich bei den „Lehrern“ um Julius Meier-Graefe und Karl Scheffler handelte, beide glühende Verfechter des Impressionismus: Gehe lernbegierig zur Schule bei Lehrer Meier-Gräfe oder bei Lehrer Karl Scheffler zu erfahren, wie ich es machen muss um ein guter Künstler zu werden. 50  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Hab ich doch schon am Progymnasium hingebungsvoll nach der Natur gezeichnet. So frei von Persönlichkeit braucht es ja nicht mehr abzugehen, aber frei von allzu vieler Beschäftigung mit der Persönlichkeit (der Lehrer hebt den Zeigefinger) darauf kommts stirngerunzelt an. [...] Wenn es aber einen Gott gibt? (Bscht!!) Der Herr Lehrer meint: Was kümmert dich das Wesen Gottes, sieh dir eines seiner Blumenbeete an, das genügt. Ich will brav sein Herr Lehrer. Außerdem ist es dir gesund, du lebst und webst im Freien, da gibt’s keines Gedankens Blässe. Du bist unter Blumen und Schmetterlingen eine kleine ameisige Emse. Herr Lehrer: Darf ich daneben auch noch etwas Mu- Mu- Musik machen? Vielseitige Künste? Ja! sollste, darfte! vielseitige Künste sind gut, wenn sie nur nicht zu’s Jesamtkunstwerk führen. (Tgb. 810)

Dies ist wohl eher ein charmantes Beispiel für Klees Humor als ein Bekenntnis zur plain-air-Malerei des Impressionismus. Und der Ratschlag, sich nicht allzu sehr mit der „Persönlichkeit“ zu beschäftigen, dürfte bei Klee eher auf taube Ohren gestoßen sein. Im engeren Sinn „impressionistisch“ hat Klee nicht gemalt, mit Ausnahme vielleicht von einigen farbigen Aquarellen wie etwa Gartenszene (1905, Farbabb. II) oder Im Ostermun­diger Steinbruch, zwei Kräne (1907). Dies ist nicht nur auf Klees zunehmende Aversion gegen ein konventionelles Naturverständnis zurückzuführen, die in den Zeichnungen der Jahre 1903–1910 zu einem bis zum Extrem getriebenen zeichnerischen Reduktionismus führt, sondern auch auf ein relativ vages Verständnis von „Impressionismus“, den er mit dem Begriff des „Fragmentarischen“ assoziiert: Das Fragmentarische was viele impressionistische Werke haben, ist eine Folge der Treue zur Inspiration. [...] Der Impressionist ist denn doch etwas menschlicher geworden, als der reine Materialist. Der Begriff des nüchternen sachlichen Könnens hört auf, um jeden Preis zu gelten. (Tgb. 615)

Auch alle späteren Bemerkungen zeigen ein eher assoziatives Verhältnis zum Impres­ sionismus: Er spricht 1911 von „zerflatternden Impressionismen“, die durch die Kontur eingefangen werden sollen (Tgb. 894), von der Linie, „die vom Impressionismus pro­ fitiert und ihn zugleich überwindet“ (Tgb. 899). Hier spricht er von seinen „Impressionismen“ auch als von „herumschwirrenden Kratzfüsschen“, die von der Linie gebändigt werden müssen: „Die Linie welche Kratzfüsschen frisst und verdaut“ (ebd.). Ungeachtet seiner Absage an das „nulla dies sine linea“ bleibt die Kontur, die Linie für Klee be­deutsam. Schließlich formuliert Klee auch noch eine eher humoristische Variante des Impressionismus:

Typik, Reduktion, Tonalität. Ambivalentes Verhältnis zum Impressionismus  I  51

Manches vollendete ich zum Schluss kompositorisch nach dem pseudo-impressionistischen Grundsatz: ‚was mir nicht passt, schneide ich mit der Schere weg‘. (Tgb. 892)

Auch im Rückblick – ebenfalls 1911 – beschreibt Klee ein distanziertes Verhältnis zum Impressionismus: Ich war das Abbild eines Stücks Kunstgeschichte, bewegte mich zum Impressionismus und über ihn hinaus. Ich will nicht sagen, über ihn hinaus alternd, hoffentlich stimmt das nicht. Das Abbild im kleinen war ich nicht aus Sport sondern aus Bescheidenem: die Dinge alle kennen zu wollen, um nichts ignorant links liegen zu lassen und um aus jedwedem zu verlassendem Gebiet gewisse wenn auch noch so kleine Teile zu assimilieren. (Tgb. 899)

Eine präzisere, freilich auch eigenwillige Definition des Impressionismus hat Klee erst später entwickelt. In einer Rezension der Ausstellung des Modernen Bundes im Kunsthaus Zürich schreibt Klee 1912: Um mit dem Expressionismus zu beginnen, muß ich wenigstens auf den Impressionismus zurückgreifen. Diese beiden sind wohl die hauptsächlichen aller neueren Ismen, fundamentale Formbekenntnisse, und aus Formfragen besteht die Kunst. Sie bezeichnen das ausschlaggebende Moment in der Genesis des Werkes, Impressionismus den Moment der Empfängnis des Eindrucks von der Natur, Expressionismus den späteren, im Einzelfall zuweilen nicht mehr mit dem ersteren als zusammenhängend nachweisbaren Moment der Wiedergabe desselben. [...] Man sieht gleich, der Impressionismus ist einfacher, engeres Gebiet, unmittelbarer, wenn man von der Natur ausgeht. Er gibt sich der Natur ohne die Aktivität von Voraussetzungen hin, er lernt sie erst ganz sehen und in ihren optischen Wirkungen erkennen. Daß man dabei der Kunst viel erobern konnte, ist klar [...] Der Raum um uns herum, die Luftperspektive in ihrer Optik lieferte neue Farben- und Gewichtsproportionen, welche aber [...] nur einen Stil von erweiterter naturalistischer Tendenz nähren konnten.106

Die beiden retrospektiven Kommentare machen deutlich, dass Klee ein lediglich pragmatisches und assoziatives Verhältnis zum Impressionismus hatte.107 Seine Abwendung vom Naturalismus und dem „Zufälligen“ in der Natur, sein Bekenntnis zur Reduktion und zum Typischen waren konträr zu den naturalistischen Tendenzen des Impressionismus. Noch negativer sollte Klee sich später, 1924, äußern, als er in seinem Jenaer Vortrag vom „Bodengestrüpp“ des Impressionismus sprach. Doch zurück zu Klee und seiner Genesung von der „Krankheit“ der Inventionen. Für Klee bieten sich zunächst drei Möglichkeiten an, um aus dem „Dickicht“ und den formalen Begrenzungen der Inventionen herauszukommen: die „Reduction“ der Mittel (die zur Wiedergabe des „Typischen“ führt), d. h. die Reduzierung der Darstellung auf einige „wenige Stufen“, die Verwendung des Lichts und später die „Tonalität“. Zeichnerischer Umriss (Klee spricht von der „rationellen Form“) und Licht liegen für Klee „im Kampf“. Das Licht bringt jedoch die rationelle Form in „Bewegung“: 52  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

... biegt gerade, ovalisiert parallele, dreht Kreise in die Zwischenräume, macht den Zwischenraum aktiv. Daher die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit. (Tgb. 834)

Es ist nicht ganz klar, worauf sich Klee hier bezieht, vermutlich darauf, dass intensive Lichteffekte optische Wahrnehmungsveränderungen, etwa in der Wahrnehmung ansonsten gerader Linien, erzeugt. Möglicherweise hat sich Klee hier an Helmholtz’ Handbuch der physiologischen Optik orientiert, das er vermutlich kannte108. Ich werde auf dieses Phänomen noch einmal später im Zusammenhang mit Klees „Lichtformen“ zurückkommen. Licht ist Energie, aber auch Schwarz kann Energie entfalten, wenn nämlich, wie in einigen von Klees Hinterglasbildern, auf einem schwarz gefärbten Glashintergrund die Bildgestalt ausgeritzt wird. Klees Bild seines Vaters (1906) ist das vielleicht bekannteste Beispiel dieses Bildtyps. Ich versuche nun Licht einfach als Energieentfaltung zu geben. [...] Ich erinnere an das durchaus vernünftige Schwarz des Lichts auf photographischen Negativen. (Tgb. 885)

„Reduction“ ist das Mittel, das „Typische“ zu erreichen, indem sie von der „Zufälligkeit der Natur“ abstrahiert. „Dann emanzipierte ich mich von der Genauigkeit und Zufälligkeit der Natur und steigerte (schwarz-weiß) ins Typische“1ß9 – die wahrscheinlich prägnanteste Formulierung von Klees ästhetischem Programm in dieser Zeit. Reduktion ist zugleich Sparsamkeit der Mittel, für Klee geradezu die „letzte professionelle Erkenntnis“: Der Künstler müsse „bis ins letzte sparsam sein“, schreibt Klee 1909 (Tgb. 857). Wenn seine Arbeiten manchmal „primitiv“ wirkten, so sei dies Ergebnis seiner „Disziplin, auf wenige Stufen zu reduzieren“ (ebd.). Klee formuliert zwei für die künstlerische Avantgarde geradezu paradigmatische Aussagen: Reduction. Man will mehr sagen als die Natur und macht den unmöglichen Fehler, es mit mehr Mitteln sagen zu wollen als sie, statt mit weniger Mitteln. (Tgb. 834) Die Natur kann sich Verschwendung in allem erlauben, der Künstler muss bis ins letzte sparsam sein. [...] Wenn bei meinen Sachen manchmal ein primitiver Eindruck entsteht, so erklärt sich diese ‚Primitivität‘ aus meiner Disciplin, auf wenige Stufen zu reduzieren. Sie ist nur Sparsamkeit, also letzte professionelle Erkenntnis. Also das Gegenteil von wirklicher Primitivität. (Tgb. 857)

Verwendung des Lichts, Reduktion und das Typische sind zentrale ästhetische Konzepte, die Klee hier als wesentliche Schritte in seiner Entwicklung darstellt. Seine wachsende Vertrautheit mit der Malerei seiner Zeit – insbesondere mit Cézanne, der für ihn, wie gesagt, vorübergehend zum „Lehrmeister“ wurde110, machte nunmehr auch seine Pose des „Selbstlehrlings“ obsolet. Klee hatte mittlerweile die Grundlagen einer eigenen Ästhetik geschaffen. Zu diesen Grundlagen gehört ein weiterer Gedanke, der deutlich macht, dass Klee mit dem „Typischen“ nicht einfach nur eine Reduktion von NaturTypik, Reduktion, Tonalität. Ambivalentes Verhältnis zum Impressionismus  I  53

24  Paul Klee, M. Vater, 1906, 23, Hinterglasmalerei, Pinsel und Ritzzeichnung, rekonstruierter Rahmen, 31,8 x 29,3 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

formen meint, sondern zugleich auch eine eigenständige Bildanatomie. Es liegt nahe, dass Klee damit den Gedanken Cézannes aufgreift, Kunst müsse eine Harmonie „parallel zur Natur“ schaffen: Wie der Mensch hat auch das Bild Skelett, Muskeln und Haut. Man kann von einer besonderen Anatomie des Bildes sprechen. [...] Man konstruiert fürs erste ein Gerüst der zu bauenden Malerei. Wie weit man über das Gerüst hinausgeht ist frei, es kann vom Gerüst schon eine Kunstwirkung ausgehen, eine tiefere als von der Oberfläche allein. (Tgb. 840)

Hier antizipiert Klee zugleich eine Entwicklung seiner Kunst, die erstmals in den Candide-Illustrationen (1911/12) deutlich in Erscheinung tritt: In diesen „reduziert“ Klee nicht mehr die Natur, sondern geht von einem „Gerüst“ der menschlichen Formen aus, die nur noch ein sehr gebrochenes Verhältnis zur Natur aufweisen. Ähnlich wie Cézanne unter Verwendung der Farbwerte eine eigenständige „Bildarchitektur“, ein „ästhetisches System“111 schafft, kreiert Klee mit der Bildanatomie der Candide-Illustrationen eine autonome ästhetische Struktur. Klees Überlegungen aus dem Jahr 1909 zeigen zudem große Übereinstimmungen mit den später entwickelten Gedanken Kandinskys.112, 113 In seiner Schrift Über die Formfrage, die Kandinsky erstmals im legendären Almanach Der Blaue Reiter veröffentlichte, ging er – im Rahmen seiner Unterscheidung zwischen der „Großen Realistik“ und der „Großen Abstraktion“ – detailliert auf das Problem der Reduktion ein: 54  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Die erwähnte, erst keimende große Realistik ist ein Streben, aus dem Bilde das äußerlich Künstlerische zu vertreiben und dem Inhalt des Werkes durch einfache (‚unkünstlerische‘) Wiedergabe des einfachen harten Gegenstandes zu verkörpern. Die in dieser Art aufgefasste und im Bilde fixierte äußere Hülse des Gegenstandes und das gleichzeitige Streichen der gewohnten aufdringlichen Schönheit entblößen am sichersten den inneren Klang des Dinges. Gerade durch diese Hülse bei diesem Reduzieren des ‚Künstlerischen‘ auf das Minimum, klingt die Seele des Gegenstandes am stärksten heraus, da die äußere wohlschmeckende Schönheit nicht mehr ablenken kann. (Kandinsky [1912/1987], S. 154, Hrv. MC)

Auch an anderer Stelle zeigt sich die Nähe Klees zu Kandinsky, etwa wenn Letzterer schreibt: „[D]as äußere Vergrößern eines Ausdrucksmittels führt unter Umständen zum Vermindern der inneren Kraft desselben“ (ebd., S. 154, Anm. 2). Klee schreibt: „Man will mehr sagen als die Natur und macht den unmöglichen Fehler, es mit mehr Mitteln sagen zu wollen, als sie, statt mit weniger Mitteln“ (Tgb. 857). Noch verfügt Klee zu diesem Zeitpunkt über keine klare Vorstellung, was ein „Mehr“ als die Natur sein soll (für Kandinsky ist es bereits klar: Es ist der „innere Klang des Dinges“), aber er weiß bereits, dass dies nur durch den Verzicht auf die übliche illusionistische, „wohlschmeckende“ schöne Wiedergabe möglich ist, mit Kandinsky gesprochen: mit der „unkünstlerischen“, „einfachen“ Wiedergabe. Erst ab 1914 wird Klee systematisch die Vorstellung des „kosmogenetischen“ Künstlers entwickeln, der mit seinem Werk die „Genesis“ nachvollzieht. Zwar wird es bei Klee in vielen Bildern eine „Schönheit“ der Farben geben (etwa in Bildern wie Eros [1923] oder Zaubergarten [1926]), aber er fühlte sich nie – außer vielleicht in seinen Schülerarbeiten – dem Illusionismus einer „äußeren Schönheit“ verpflichtet. Die Nähe Klees zu Kandinsky ist so auffällig, dass es naheliegend ist, dass Klee bei der Überarbeitung seiner Tagebücher Gedanken von Kandinsky aufgriff. Franciscono verallgemeinert dies noch: It is no doubt true, as has been argued, that in his diaries and ‚Creative Credo‘114, Klee was in the process of formulating a language for public consumption already current among artists, collectors and dealers. But this does not make it insincere; as we have seen, much of Klee’s language on art was borrowed from others.115

Linie, Reduktion, Typik, Bildanatomie, eine dialektische Konzeption von „schön“ und „hässlich“ und ein subjektives Verständnis von „Stil“ („Ich bin mein Stil“, „Alles wird Klee sein“[Tgb. 757]) sind nunmehr das Fundament von Klees künstlerischer Praxis, zugleich ein Ateliertraktat, das Klee, ähnlich wie Leonardo und Dürer, über viele Jahre systematisch weiterentwickeln wird. Dieses Fundament wird für Klee stets Gültigkeit behalten und insbesondere in seinem Spätwerk von Bedeutung sein. In seiner Bauhaus-Zeit wird er es in seiner Bildnerischen Formlehre und Bildnerischen Gestaltungslehre116 zu einer umfassenden Ästhetik ausarbeiten. Verbunden sind diese formalen ästhetischen Prinzipien mit Klees stilprägender pessimistischer „Weltanschauung“, die ihn auf Distanz zum „Diesseitigen“ hält, wie im Kontext der „Inventionen“ deutlich wurde. Typik, Reduktion, Tonalität. Ambivalentes Verhältnis zum Impressionismus  I  55

Exkurs: Die Zeichnungen der Jahre 1907–1910 In den Zeichnungen der Jahre 1907–1910 zeigt sich eine Entwicklung von satirischen Sujets, die im Stil und im Thema noch stark an die Inventionen erinnern, zugleich aber auch eine minimalistische Zeichensprache, die auf Klees spätere Candide-Illustrationen (1911/12) verweist. Drei Beispiele aus dem Jahr 1907 sind charakteristisch für die erste Gruppe: Es handelt sich um die Zeichnungen Akt, tanzende Venus, Vignettenartiger weiblicher Akt sich von einem Bandwurm befreiend, Weiblicher Akt, halb fliehend, halb tanzend, sich befreiend, hinten ein hilfloser Kinderakt. Alle Akte sind, ähnlich wie in den Inventionen, Travestien des Weiblichen. Dies wird insbesondere an der Zeichnung Weiblicher Akt deutlich. Hier hat Klee die Hässlichkeit der früheren Frauengesichter noch übertroffen: Das raubvogelartige Gesicht der Frau mit abstehenden Haaren lässt sich wohl kaum abstoßender darstellen. Da das „hilflose“ Kind hinter sie fällt und die Frau die Arme erhoben hat, legt das Bild nahe, dass die Frau das Kind hinter sich geworfen hat bzw. vor dem Kind flieht und zugleich (vor Freude?) tanzt. Dass Franciscono die Frau als „clutching her head in pain“ sieht, ist sowohl von der Bildsprache als auch vom Titel her nicht nachvollziehbar. Klee beschreibt die Frau als „halb tanzend, sich befreiend“, von „Schmerz“ kann somit keine Rede sein. Klee hatte, wie wir gesehen haben, früher einmal eingestanden, dass seine „sexuelle Ratlosigkeit“ Perversionen gebiert. Hier handelt es sich zwar um keine sexuelle, wohl aber um eine Art soziale Perversion: Eine Mutter, deren abstoßender Gesichtsausdruck wie auf einem spätmittelalterlichen Gemälde auch moralisch pejorativ wirkt, lässt ihr hilfloses Kind zurück. Klee zeichnet dieses Bild 1907, also während der Schwangerschaft von Lily Klee. Klee war nie begeistert davon, ein Kind zu haben. Das sonst kaum verständliche Bild ließe sich vor diesem Hintergrund möglicherweise als Projektion verstehen. Auch eine Pastellzeichnung der schwangeren Lily aus dieser Zeit (1907) (Abb. Nr. 134) gehört in denselben Zusammenhang: Klee zeichnet eine ältliche Frau mit unschönen Zügen, fliehendem Kinn und deformierten Ohren – ein Bild, aus dem nicht gerade Zuneigung spricht. Ähnliches gilt für den skurrilen „vignettenartigen“ weiblichen Akt, der schon einige Kommentatoren ratlos gemacht hat. Am drastischsten ist Werckmeisters Urteil: Er vergleicht den Akt mit Ensors Zauberer im Sturmwind (1888). Eigentlich handelt es sich dabei um eine Zauberin, aus deren Vagina monströse Figuren entweichen. Klee macht aus der Vagina den Anus, was nichts daran ändert, dass auch seinem weiblichen Akt Abstoßendes entweicht: ein Bandwurm. Umso direkter übernahm Klee von Ensor die rein linear, proportional verzerrte Aktkarikatur mit unterbrochenen Konturen für seine Zeichnungen. [...] Diese übertrafen an zynischer Verzerrung nicht nur alles, was er im Umfeld seiner Inventionen bisher geschaffen hatte, sondern sogar Ensors eigene Werke. [...] Insbesondere weibliche Figuren dieser Art bilden den Höhepunkt seiner Misogynie.117

Auch Franciscono ist konsterniert über die „Absurdität“ und das „Zotige“ („ribaldry“) der Zeichnung, versucht Klee aber gleichsam in Schutz zu nehmen und sieht das Vorbild eher bei Rodin als bei Ensor. 56  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

26  Paul Klee, Vignettenartiger weiblicher Akt sich von einem Bandwurm befreiend, 1907, 7, Bleistift auf Papier auf Karton, 10,5 x 12,3 cm, Zentrum Paul Klee, Bern 25  Paul Klee, Akt, tanzende Venus 1907, 5, Bleistift auf Papier auf Karton, 13 x 7,7 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

The absurdity of the activity shown and the ludicrous expression of vague concern on the face of the nude combine with Klee’s great delicacy of execution to make the drawing ribald rather then obscene.118

Wie immer man Klees Aktzeichnung formal bewerten mag, eindeutig ist, dass Klee hier ein Thema aus seinen Inventionen wiederholt, das Thema der Frau, die Unheilvolles und Abstoßendes von sich gibt, wie er es in der Radierung Weib, Unkraut säend (1903) darstellt. Möglicherweise greift der Akt auch, wie Franciscono anmerkt, das Thema der Geburt auf, das für Klee in dieser Zeit ja besonders aktuell war.119 Dann wäre allerdings Klees Urteil über das, was die Geburt zutage fördert, geradezu vernichtend. Die Zeichnung Akt, tanzende Venus ist mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Aktzeichnungen und -plastiken Rodins orientiert. Das angewinkelte rechte Bein bei ausgestrecktem linkem sowie die leichte Drehung des Oberkörpers entspricht von der Kontur her genau der aquarellierten Zeichnung Rodins Sitzender Frauenakt (vermutlich 1886), die Klee möglicherweise schon in Rom gesehen hatte120. Während Klee aber noch in der Zeit der Inventionen den nervösen „unscharfen“ Zeichenstil Rodins geradezu kopierte, ist die Konturzeichnung 1907 extrem vereinfacht. An einer Stelle zeigt sich in Klees Zeichnung allerdings noch ein Stück weit die Rodin’sche Konturierung (was es als nahezu sicher erscheinen lässt, dass Klee sich an Rodin orientierte): Das rechte Bein der tanzenden Venus zeigt auch bei Klee unterhalb des Knies die doppellinige Konturierung, die wir auch in Rodins Bild finden. Ein gravierender Unterschied besteht jedoch im GesamtExkurs: Die Zeichnungen der Jahre 1907–1910  I  57

27  Paul Klee, Weiblicher Akt, halb fliehend, halb tanzend, hinten ein hilfloser Kinderakt, 1907, 13, Bleistift auf Papier auf Karton, 14,8 x 11,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

eindruck der beiden Zeichnungen; während Rodin einen sinnlichen, erotischen Frauenkörper darstellt, zeigt Klee eine selbst im Tanz verkrampfte, geradezu ins Groteske verzerrte weibliche Figur. In der zweiten Gruppe der Zeichnungen (insbesondere aus den Jahren 1908–1910) verzichtet Klee auf derartige Travestien des Weiblichen und entwickelt einen Zeichenstil, der sich im Sinne seines Plädoyers für die Reduktion auf „einfachste Konturen“ beschränkt, wie Klee auch im Titel seiner Zeichnung Stehendes Mädchen, von hinten, einfachste Konturen (1908) vermerkt. Weitere eindrucksvolle Beispiele dieser reduzierten Kontur sind: Schleifer, im Hof und Frauen und Kinder auf dem Feld, einfachste Kontur (beide 1908). Ein frühes Beispiel des Klee’schen Humors, wie wir ihn später etwa in Bildern wie Zwitschermaschine finden, ist die Zeichnung Vogelkäfig auf der Säule (1908). Der zum Vogelkäfig gehörende Vogel ist (in „einfachster Kontur“?) einfach auf den Käfig aufgezeichnet worden. Besonders hervorzuheben sind Zeichnungen, die Klee als „Lichtformen“ bezeichnet, weil hier sein Stil am weitesten an die Candide-Zeichnungen angenähert ist, etwa die Zeichnung: Zwei Pferdeskizzen und eine andere (1909). Klee verwendet hier eine ­Technik, zu der er möglicherweise durch Helmholtz inspiriert wurde: Betrachtet man Gegenstände durch eine optische Linse, dann verschwimmen die Konturen (wobei dieser Effekt, wovon man sich leicht überzeugen kann, nur dann auftritt, wenn die Linse nahe ans Auge gehalten wird). Klee hatte diesen Effekt nach eigenen Angaben schon früher dadurch erzeugt, dass er die Gegenstände mit leicht zugekniffenen Augen 58  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

28  Auguste Rodin, Sitzender Frauenakt (um 1886), Aquarell und Feder auf Papier, Kat.Nr. 6164, Musée Rodin, Paris

29  Paul Klee, Vogelkäfig auf d. Säule, 1908, 60, Bleistift auf Papier auf Karton, 21,6 x 15,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

betrachtete. Dass dieser Effekt, wie er behauptet hatte („das Licht ovalisiert, biegt gerade“, Tgb. 834), auch durch Lichtstrahlen eintritt, ist für eine optische Versuchsanordnung zutreffend, dürfte allerdings en plain air nur eingeschränkt gültig sein: Er dürfte nur im Falle sehr starker Lichteinwirkung auftreten. Während Klee in den Zeichungen der Jahre 1907–1910 noch einmal auf sein „Ureigentum“ der Linie zurückgreift, ist er parallel dazu bemüht, das rein Zeichnerische zu überwinden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Entwicklung der „Tonalität“. Tonalität ist für Klee eine Zwischenstufe zur Beherrschung der Farbe. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um zwei Techniken. 1.) Abstufungen von Hell-Dunkel-Tönen, die Klee durch Verdünnung von schwarzer Aquarellfarbe erzielte, die schichtweise übereinandergelegt wird121. Er nennt die mit dieser Technik gemalten Bilder „Schwarzaquarelle“. Sein Selbstportrait en face i. die Hand gestützt (1909), ein Selbstportrait mit der tradierten Pathosformel des Melancholikers, ist ein eindrucksvolles Beispiel seiner künstlerischen Entwicklung, es zeigt Klee auf der Höhe einer eigenständigen Formsprache, die zwar Anregungen durch den Impressionismus erhielt, von Klee aber nicht als Stil übernommen wurde. 2.) Dunkel-HellTöne, die dadurch entstehen, dass Klee von einem schwarzen Untergrund ausgeht, dem schwarzen „Primäreffekt“, auf dem Weiß dann als Lichteffekt, als „helle Energie“ erscheint. Exkurs: Die Zeichnungen der Jahre 1907–1910  I  59

30  Paul Klee, Zwei Pferdeskizzen und eine andere, 1909, 61, Feder auf Papier auf Karton, 7,2 x 11,2 cm, 6,5 x 11 cm, 7,2 x11,2 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Klee wendet diese Techniken der Tonalität vor allem bei seiner Hinterglasmalerei an. Bei dieser unterscheidet er zwei weitere spezifische Techniken. Die erste entspricht der konventionellen Malerei, bei der Farbe auf eine weiße Grundierung aufgetragen wird. Übertragen auf die Hinterglasmalerei heißt dies: Klee färbte eine Glasplatte weiß, in die er dann mit einer Nadel ritzte und die so freigelegten Flächen schwarz oder farbig hinterlegte. Klee beschreibt diese erste Technik 1908 ausführlich in seinem Tagebuch: Raffinierte Hinterglas-Technik: 1.) Die Scheibe gleichmäßig mit Temperaweiß überziehen, eventuell durch Aufspritzen einer Verdünnung. 2.) Nach dem Trocknen mit der Nadel die Zeichnung hineinritzen. 3. Fixieren. 4. Hinterlegen von Schwarz oder farbigen Flächen. Die geübte Hand weiß es oft besser als der Kopf. Die kompositionelle Harmonie gewinnt an Charakter durch Dissonanzwerte, (Härten, Mängel), welche durch Gegengewichte wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Kunst mit nur schönen Werten ist wie Mathematik ohne negative Zahlen. (Tgb. 758)

Die zweite Technik arbeitet mit einer Umkehrung dieser konventionellen Hell-DunkelWerte: Hier wird vielmehr in eine geschwärzte Platte geritzt, so dass die Zeichnung weiß oder farbig hinterlegt auf dunklem Grund erscheint. „Helle“ oder „aufhellende Energie“ nannte Klee dies. Ein eindrucksvolles Beispiel dieser Hell-Dunkel-Technik ist Klees Bildnis meines Vaters (1906) (Abb. S. 40). Mit dem Problem weißer oder schwarzer „Energie“ bzw. dem „schwarzen Primäreffekt“ hatte Klee sich, wie bereits erwähnt, seit 1905 beschäftigt. Er sieht dies – nach den Inventionen – als eine Art Neubeginn seiner Kunst, als Übergang zu einer „malerischen 60  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

31  Paul Klee, Selbstportrait en face in d.Hand gestützt, 1909, 32, Aquarell auf Papier auf Karton, 13,7 x 13,4, Privatsammlung

Auffassung“. Hier taucht erstmals der später vorherrschende Gedanke einer „kosmogenetischen“, die Genesis nachvollziehenden Kunst auf; einer Kunst, die dann für Klee in seinem Jenaer Vortrag (1924) von zentraler Bedeutung sein würde. Als Übergang zu einer mehr malerischen Auffassung kratze ich mit der Nadel in eine geschwärzte Glasplatte. Eine Spielerei auf einem Porzellanteller brachte mich darauf. Das Mittel ist nicht mehr der schwarze Strich, sondern der weisse. Die helle Energie auf nächtlichem Grund entspricht sehr schön dem Wort ‚es werde Licht‘, So gleite ich sachte hinüber in die Welt der Tonalität. (Tgb. 632) Der schwarze Primäreffekt läuft entgegengesetzt, er beginnt da, wo in der Natur aufgehört wird. Nun aber ist es als ob die Sonne über dunkle Täler erst streifend aufgehe und im Höhersteigen allmählich tiefer eindringe. Die letzten Dunkelheiten sind Rest. (Tgb. 633)

Glaesemer misst dieser Hell-Dunkel-Technik – in der erneut die Bedeutung des „Lichts“ zum Ausdruck kommt – zentrale Bedeutung für Klees gesamtes Werk bei: Hier wird eine für Klees gesamtes bildnerisches Denken grundlegende Erkenntnis von ihrem Ursprung her greifbar, die Vorstellung nämlich, daß alle zeichnerischen und koloristischen Ausdrucksmöglichkeiten aus dem Gegensatz zwischen Hell und Dunkel erwachsen. Die schöpferische Handlung setzt im Augenblick ein, da sich aus dem schwarzen Chaos der helle Punkt ablöst und sich zur Linie, zur gestalteten Fläche, zur Tonalität und schließlich zur Farbe ausweitet.122 Exkurs: Die Zeichnungen der Jahre 1907–1910  I  61

32  Paul Klee, Gepflegter Waldweg (Waldegg bei Bern), 1909, 16, Hinterglasmalerei, Feder, Pinsel und Ritzzeichnung, rekonstruierter Rahmen, 13 x 18 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

„Schwarzaquarelle“ werden von Klee sowohl mit der Hinterglastechnik als auch auf Papier angefertigt. Das für Klee offenbar bedeutungsvollste dieser Hinterglasbilder in Schwarzaquarell-Technik ist das bereits erwähnte Blick vom Küchenbalcon in die Hohenzollernstraße (1908)123: Gesehen hatte ich das Bild schon einige Tage vorher, natürlich vom Küchenbalkon aus, welches mein einziger Ausgang war. Dann vermochte ich mich von allem Zufälligen dieses Stückes ‚Natur‘ loszureißen, sowohl in der Zeichnung als auch in der Tonalität und gab nur das ‚Typische‘ in durchdachter formaler Genesis wieder. Ob ich nun aus dem Dickicht wirklich heraus bin?? (Tgb. 813 a)

Klee ist aus seiner Sicht ein entscheidender Durchbruch gelungen. Er hat sich weitgehend vom Gegenstandsbezug „Natur“ abgelöst und das „Typische“ erreicht: ein „Hauptdocument der Befreiung aus der Enge“. Gleichwohl zeigt in Blick vom Küchenbalcon in die Hohenzollernstraße die Hintergrundarchitektur noch stark naturalistische Züge (wobei allerdings der Vordergrund aus kühnen, breit aufgetragenen, fast abstrakten Pinselstrichen besteht, was dem Bild eine eindrucksvolle Dynamik verleiht)124. Dagegen gelang ihm in Bildern wie Gepflegter Waldweg, Waldegg bei Bern (Schwarzaquarell hinter Glas, stellenweise geritzt, 1909)125 und Bern, Matte, industrieller Teil, darüber der Münsterturm (1909–1910) (Schwarzaquarell hinter Glas) ein weiterer Schritt in Richtung Abstraktion. Von dem Berner Bild (Bern, Matte) fertigte Klee 1910 eine Variante an, die zeigt, was er bereits 1908 unter „mechanischer Verzerrung“ eines Bildes verstand (Tgb. 831). Klee stellte das Hinterglasbild schräg gegen eine Lichtquelle, „am besten ein Benzinlicht“, so dass der Blick durch das Glasbild auf die zu bearbeitende Vorlage (Tgb. 892) eine horizontale Verzerrung ergab. Durch entsprechendes Drehen der Platte konnte zusätzlich eine diagonale Verzerrung erreicht werden. Klee verlieh diesem Bild sogar den Ehrentitel „hohe Auffassung“. 62  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

33  Paul Klee, Bern, die Matte, mit überragendem Münster (hohe Auffassung), 1910, 50, Zentrum Paul Klee, Bern

Ein wichtiger Schritt in Richtung Malerei gelingt Klee dadurch, dass er versucht, die erarbeiteten Hell-Dunkel-Abstufungen der Tonalität so auf die Farbe zu übertragen, „daß jeder Tonwertstufe je eine Farbe entspricht“ (Tgb. 879). „Mit farbigen und tonalen Flecken lässt sich jeder Natureindruck auf die einfachste Weise festhalten, frisch und unmittelbar“ (Tgb. 842). Er spricht vom „Herüberretten meiner zeichnerischen Grundfähigkeit ins Gebiet des Gemäldes“ (Tgb. 875).126 Ein Beispiel dieser neuen Technik sind die Aquarelle Eimer und Gießkanne (1910) und Blumensteg, Gießkanne und Eimer (1910, Farbabb. III). Dass Klee zumindest im Bereich der Aquarellmaler zu dieser Zeit Fortschritte gemacht hatte, zeigt sein Kommentar zu diesen Bildern: Aquarelle nass in nass auf wasserbestäubtes Papier. Schnelle nervöse Arbeit mit einem bestimmten Klang, dessen Teile über das Ganze verspritzt. (Tgb. 881)

Zwar gelingt es ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht, „frei“ auf dem „Farbklavier“ zu improvisieren, wie es ihm vorschwebt, aber er beginnt 1909 damit, „[v]erschiedene Flecken als Teile (Töne) des Farbakkords über das Ganze gestreut, sammeln zu Gebilden, teils mit Hilfe der konturierenden Linie“ (Tgb. 859). Resignierend bemerkt er jedoch 1909, er wolle wissen, was „ein gutes Bild sei“: „Denn daß ich nicht mit einiger Regelmäßigkeit gute Bilder male, resultiert eben aus meiner mangelnden Kenntnis von der Art eines guten Einzelwerkes“ (Tgb. 861).127 Auch hier stilisiert sich Klee noch einmal als „Selbstlehrling“: Er kannte bereits zahlreiche gute „Einzelwerke“, wie wir im Folgenden genauer sehen werden. Exkurs: Die Zeichnungen der Jahre 1907–1910  I  63

Ein wichtiges Ergebnis dieser Betrachtung des Klee’schen Werkes zwischen 1905 und 1910 ist somit, dass Klee – wie auch später, insbesondere in seiner Bauhaus-Zeit – selten stilistisch eindimensional arbeitete. Während Klee 1908 schrieb, er müsse seine Linien, sein „nulla dies sine linea“ „etwas lassen“, arbeitete er in der ganzen Zeit unbeirrt „cum linea“ an den minimalistischen Zeichnungen dieser Zeit und erreichte darin eine Perfektion, die zu seinen Candide-Illustrationen überleitete. Nachdem er sich 1907 (angeblich) der „Naturerscheinung“ hingegeben hatte, fand er die Perspektiven dann wieder zum „Gähnen“, suchte das Typische bzw. die Bildanatomie und wollte die Natur „mechanisch verzerren“. Zugleich zeigen seine landschaftsbezogenen Schwarzaquarelle und Hinterglasbilder wiederum deutliche perspektivische Strukturen, wenn auch nicht die der traditionellen Zentralperspektive. Dieses Fazit wird unseren weiteren Überlegungen zugrunde liegen. Zum einen arbeitet Klee ganz selten in einem ganz bestimmten Stil. Zum anderen sind Klees theoretische Ausführungen und die Praxis seiner Arbeit selten deckungsgleich. Klees „Theorie“, wie er sie bis zu diesem Zeitpunkt in seinen Tagebüchern formuliert, gleicht häufig eher einem Irrgarten, einem kunstvoll angelegten Labyrinth, als einem Wegweiser durch sein Werk.

Orientierungskünstler: Goya, van Gogh, Cézanne Klees angeblich fehlende Kenntnis eines „guten Einzelwerkes“ ist im Wesent­lichen eine Selbststilisierung. Neben Goya, van Gogh, Cézanne, Rodin, Ensor und Hodler (um nur die wichtigsten damaligen „Orientierungskünstler“ Klees zu nennen) hatte Klee seit seiner Studienzeit die Werke zahlreicher Künstler studiert und bewundert. Ab 1913 werden dann der Kubismus und insbesondere Picasso von nicht zu überschätzender Bedeutung für Klee sein. Schon 1902 hatten die Aktzeichnungen Rodins, die er 1902 in Rom sah, einen nachhaltigen Einfluss auf Klee hinterlassen. 1904 stieß Klee – anlässlich eines Besuchs im Münchner Kupferstichkabinett – auf Goya, der ihn faszinierte: „Ganz hinreißend fand ich Goya, Proverbios, Caprichios und besonders die Desastros de la guerra. Lily schenkte mir viele Photographien nach Gemälden des Goya“ (Tgb. 578).128 Nach Abschluss seiner Inventionen blickte er hoffnungsvoll „spanienwärts wo Goyas wachsen“ (Tgb. 602). Auch Corot sah er 1904 anlässlich einer Reise nach Genf. Ab 1905 (also seit seiner ersten Parisreise) begann sich Klee für den Impressionismus zu interessieren, nicht zuletzt durch die Bekanntschaft mit dem Kunsthistoriker Meier-Graefe, der versuchte, Klee von Graphik und Satire abzubringen. Über Cézanne, zeitweilig sein „Lehrmeister“, notiert er 1909 in seinem Tagebuch: „Cézannes i. der Sezession. Das größte malerische Ereignis bisher. Über van Gogh gestellt (war für mich damals auch heilsamer und wichtiger).“129 Wir hatten bereits gesehen, dass Klee – ähnlich wie Cézanne – damit ringt, eine autonome, nichtillusionistische Bildstruktur zu entwickeln. Klee war bereits in den Jahren 1907–1908 insbesondere durch Anregungen seines Freundes Paul Sonderegger mit den Werken von Ensor und van Gogh, zugleich auch mit 64  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Poe und Baudelaire in Berührung gekommen. Offenbar las Klee auch die Briefe van Goghs. „Der Sonderegger füttert mich mit seiner Lieblingskost“, notiert er Ende 1907 im Tagebuch (Tgb. 804). Der Einfluss Ensors und van Goghs ist in einigen seiner Zeichnungen aus der damaligen Zeit deutlich erkennbar. Werckmeister weist darauf hin, wie stark etwa das Hinterglasbild Musikalische Theegesellschaft (1907) von Ensor beeinflusst ist. Ähnliches gilt, wie erwähnt, für Vignettenartiger weiblicher Akt sich von einem Bandwurm befreiend (1907) (Abb. S. 43), das zumindest thematisch Ähnlichkeit mit Ensors Zauberer im Sturmwind (1988)130 besitzt. Die Bedeutung van Goghs für Klee ist von der Kunstgeschichte unterschätzt worden, vermutlich weil Klee von der Person van Goghs ausgesprochen irritiert war131. Zu Beginn des Jahres 1908 schreibt Klee: Van Gogh ist mir zeitgemäß [...] Natur ist vielleicht doch nicht so ohne. Schade, daß der frühe v.Gogh menschlich so schön und als Maler weniger gut und der ­spätere wunderbare Künstler ein so gezeichneter Mensch ist. Man müsste ein Mittel finden zwischen diesen vier Vergleichspunkten, dann ja, dann am liebsten selber so sein.132 (Tgb. 805/6, Hrv. MC) Sein Pathos ist mir fremd [...] aber er ist ganz sicher ein Genie. Pathetisch bis zum Pathologischen kann dieser Gefährdete Gefahr bringen, dem der ihn nicht überblickt. (Tgb. 816)

Klee erkannte die Gefahr, die van Gogh möglicherweise für ihn darstellen könnte. Die Abwendung vom „Pathos“ zeigt zugleich Klees fortschreitenden persönlichen Transformationsprozess in die Richtung des asketischen Künstlers. Viel später (1935) wird Klee allerdings selbst ein „pathetisches“ Bild von sich mit dem Titel Gezeichneter malen, ein Bild, das auf ergreifende Weise seine Lebenssituation verdeutlicht – und Klee ein Stück weit in die Nähe der Selbstportraits van Goghs rückt. Auch die Zeichnung Maske Schmerz gehört in diesen Zusammenhang. Ein Bild aus dem Jahre 1938 trägt den Titel Pathos. Es ist nicht zuletzt seine tödlich verlaufende Krankheit, die Klee wieder in die Nähe des „Pathos“ bringt. „Natürlich komme ich nicht von ungefähr ins tragische Geleis“, schreibt er 1940 an seinen Freund Will Grohmann.133 „Die Klee-Forschung hat bisher übersehen, wie viele Bildschemata Klee dem Werke van Goghs entnahm.“134 So zeigt Werckmeister zum Beispiel, dass Klees Zeichnung Landschaft mit der Sonne (1908) eine große inhaltliche und formale Ähnlichkeit mit van Goghs Zeichnung Weizenfeld mit aufgehender Sonne (1889) aufweist. In Häuser am Exerzierplatz Oberwiesenfeld bei München (1910) hat Klee das van Gogh’sche Bildschema einer abgeflachten Landschaftsperspektive mit Häusern am Horizont fast 1:1 reproduziert. Ich habe allerdings bereits darauf hingewiesen, dass Klee schon in Landschaft mit Berner Landhaus (1895) (Abb. S. 13) eine ähnliche Landschaftsperspektive verwendet hatte, vermutlich ohne van Gogh damals zu kennen. An der Kenntnis von guten Einzelwerken mangelte es Klee somit nicht: Aus dem prätentiösen „Selbstlehrling“ ist mittlerweile ein Künstler geworden, der die aktuellen Strömungen der Kunst geradezu wie ein Schwamm aufnimmt. Orientierungskünstler: Goya, van Gogh, Cézanne  I  65

Schwieriger zu rekonstruieren ist der Einfluss Cézannes, was sich am Beispiel des ­Bildes Mädchen mit Krügen (1910) zeigen lässt, das häufig als Beleg für den Einfluss Cézannes angeführt wurde.135 1908 unternahm Klee mehrere Anläufe, sich mit dem Problem der Ölmalerei auseinanderzusetzen. Zunächst beschäftigte er sich unter der Rubrik „Ölmalerei I“ mit der unterschiedlichen Behandlung von „Raum“ und „Figur“ (Tgb. 824). Unter der Rubrik „Abermals Ölmalerei“ versuchte er, sein Verfahren zu prä­ zisieren: 1) Anlage von Farbflecken zu Komplexen, frei aus der Empfindung heraus, als unverwischbare, wesentliche Hauptsache. 2) Dieses ‚Nichts‘ gegenständlich lesen (die Marmortische im Restaurant meines Onkels), figürlich machen und durch Licht- und Schattengestaltung verdeutlichen. Vorausgegangen war ein gegebener Grundton, der nun da und dort auf der ganzen Fläche resistiert. Das Bild ist fertig. (Tgb. 827)

Die auf diese Weise produzierten Bilder, etwa Sitzendes Mädchen, von vorne gesehen (1909) zeigen ein, zumindest im Vergleich zu Cézanne, unbefriedigendes Ergebnis. Klee verteilte in fast pointillistischer Manier Farbflecken auf der Leinwand, in die er dann die Kontur des sitzenden Mädchens einzeichnete. Noch war Klee von dem Erreichten überzeugt, wie er Lily berichtete: Der Stil ist jetzt endlich geschaffen, und es hat sich herausgestellt, daß ich doch ganz im Zeitstil zuhause bin. [...] Nun bringe ich den koloristischen Akkord in Farbflecken zerlegt ... Und daß ich durch Zeichnen zum Malen gelangt bin, hat sich gerade jetzt als die Wahrheit herausgestellt.136

Dass er damit noch keinesfalls am Ziel war, stellte er 1910 dann resigniert fest: „Denn Malen kann ich eben immer noch nicht, trotz meiner strengen Tonwertbeobachtung und trotz meiner raffinierten Art, das Mass der Helldunkelabstufungen zu treffen.“ (Tgb. 872). Klee hatte erkannt, dass er das Figur-Raum-Problem nicht allein mit „koloristischen“ Farbflecken lösen konnte. Betrachtet man sein in diesem Jahr geschaffenes Werk Mädchen mit Krügen (Farbabb. IV) vor dem Hintergrund Cézannes, so wird Klees harsche Selbstkritik verständlich. Zwar gelingt es Klee, mit unterschiedlichen Farbflächen von Rot, Grün, Grau und Schwarz annähernd die Kontur eines Mädchens mit Krügen herauszuarbeiten, aber eben nur annähernd. Ohne die mit Linien eingezeichneten Konturen würde das Bild auseinanderfallen, es hätte keine „rationale“ Form mehr. Es ist deshalb nicht überzeugend, wenn Franciscono Klees Bild geradezu mit Cézanne gleichsetzt: Like Cézanne’s its brushwork models forms while emphasizing their basic planarity: but the painting can be compared with Cézanne’s work structurally. [...] The picture is composed of small, roughly geometric areas – rectangles, trapezoids and circles – which are related to each other in such a way as to create larger geometric units.137 66  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Richtig ist, dass die verschiedenen Flecken größere „geometrische Einheiten“ bilden, aber sie modellieren keineswegs den Gegenstand, d. h. das Mädchen mit Krügen. Vielmehr verwendete Klee auch hier seine Linie, um dem Bild Kontur und Zusammenhalt zu geben. Noch immer repräsentierte die Linie für Klee sein „Urgebiet der psychischen Improvisation“ (Tgb. 842), das Terrain des Zeichnerischen, das er mittlerweile virtuos beherrschte. Ein kurzer Blick auf die Malweise Cézannes verdeutlicht den Unterschied der künstlerischen Konzeptionen. In einer frühen Fassung von Le Mont SainteVictoire (ca. 1895) benötigte Cézanne nur zwei Linien, um dem Bild Kontur und Festigkeit zu geben: eine für Sainte-Victoire selbst und eine zweite für einen niedrigeren Berg­rücken davor. Das gesamte übrige Bild besteht aus farbigen Flecken sowie aus 34  Paul Klee, Sitzendes Mädchen, 1909, 71, leicht diagonal und schraffurartig angeFeder und Ölfarbe auf Leinwand auf Karton, 33,4 x 21,7 cm, Zentrum Paul Klee, Bern brachten Farbstrichen. Eine Perspektive ist im Vordergrund nur leicht angedeutet. Das bedeutet, dass der weitaus größte Teil des Bildes aus farbigen Pinselstrichen aufgebaut ist, die dem Bild gleichwohl eine fast naturalistische Note verleihen. Zugleich aber ist das Bild antinaturalistisch, weil es auf einer autonomen Bildarchitektur aufgebaut ist, die sich durch die Zusammensetzung der Farben und deren Wahrnehmung ergibt („sensations colorantes“). In einer späteren Fassung des Sainte-Victoire-Themas (1905, Farbabb. V) benötigte Cézanne nur noch einige Linienfragmente, um den Berg zu konturieren: Der Vordergrund ist perspektivlos in Farbflecken aufgelöst, in denen nur ansatzweise einige Häuser erkennbar sind. In dem kurz danach geschaffenen Bild Le Jardin des Lauves (1906) ist die Gegenständlichkeit fast vollständig in Farbflecken aufgelöst. Klee konnte spätestens 1909 die Malweise Cézannes studieren, sie aber nicht in seine eigene Malerei integrieren, weil er noch immer unter dem Primat der Linie stand. Eine mit Cézanne vergleichbare autonome Farb-Bild-Architektur unter Verzicht auf die Linie wird Klee erstmals in seinen Tunesien-Aquarellen verwirklichen. Parallel zu seiner mühevollen Auseinandersetzung mit der „Gemäldefestung“ erzielte Klee – nach der Ausstellung der Inventionen in der Münchner Secession – einige, zunächst bescheidene Ausstellungserfolge: 1908 Wanderausstellung mit der Schweizer Gruppe Die Walze, 1908 Münchner und Berliner Secession, 1909 Münchner und Berliner Secession (mit je einer Arbeit), 1910 Wanderausstellung mit 56 Arbeiten, die in Bern, Zürich, Basel und Winterthur gezeigt wurden138. Anlässlich der Ausstellung in Winterthur Orientierungskünstler: Goya, van Gogh, Cézanne  I  67

gab es noch ein „Kleines Satyrspiel“ (Klee). Die ausstellende Galerie schrieb ihm, „dass eine große Mehrheit des besuchenden Publikums eine für Sie sehr unvorteilhafte Kritik übt“. Man bitte aus diesem Grund, „uns zu Händen der Ausstellungsbesucher Aufklärungen über Ihre Arbeiten zukommen zu lassen“. Gelassen und offensichtlich amüsiert schrieb Klee zurück: Sehr geehrter Herr, Ihre Verlegenheit ist ja an sich bedauerlich. Aber als Kunst-Fachmann müssen Sie doch schon davon gehört haben, dass dann und wann gute Künstler mit dem Publicum Konflikt kommen ... Ein Künstler, der außer seinen Werken auch Aufklärungen liefert, muss wenig Vertrauen in seine Sache setzen. Dazu ist die Kritik da und ich verweise auf die Besprechung Trog, neue Züri Zytig [...]. (Tgb. 884)

1911 konnte Klee erstmals in München in der Galerie Thannhauser ausstellen139. Thannhauser hatte ihm zunächst seine Arbeiten „uneröffnet“ zurückgesandt und auch einen zweiten Versuch mit fadenscheinigen Gründen zurückgewiesen. Es wäre geradezu eine „Sünde“, die „außergewöhnlichen“ Blätter Klees in einer Galerie zu zeigen, die hauptsächlich Gemälde ausstelle und wo man mithin an „Graphiken modernster Richtung gar kein Interesse“ zeige. Erst in einem dritten Anlauf war Klee erfolgreich: Die Galerie bot ihm einen Korridor an, in dem er 30 Graphiken und Zeichnungen ausstellen konnte.140 Erste finanzielle Erfolge stellten sich ein, was Klee 1910 dazu bewog, seine Zeit als „Hausmann“ – er war bisher für den Haushalt und die Versorgung seines Sohnes Felix zuständig, während Lily Klee durch Klavierunterricht für den Unterhalt aufkam – zu reduzieren. Er schreibt aus Bern an Lily (er hält sich auch nach der Eheschließung häufig mit seinem Sohn Felix in Bern auf), er könne nunmehr nur noch einen „halben Tag Wirtschaft“ machen, nicht einen „ganzen Tag“141. Selbstbewusst rechtfertigt er sich: Ich werde jetzt in Ruhe Bilder malen können, die ich sicher absetzen kann, wenn auch nicht zu sehr hohen Preisen. Ich denke jetzt durchaus nicht ans Berühmtwerden, das ist eine Sache für sich, aber an eine normale Produktion anständiger Arbeiten. Ich habe mich doch nicht umsonst all die Jahre abgeplagt oder hältst du mich für einen Don Quichote?142

1910 trat Klee der Münchner Künstlergruppe Sema bei, Ende 1911 kommt er in Kontakt mit der Gruppe des Blauen Reiters um Kandinsky, Marc, Macke und Gabriele Münter, nachdem er von seinem Freund Moilliet mit Kandinsky bekannt gemacht wurde. Die Querelen zwischen der Neuen Künstlervereinigung München (NKVM) und dem Blauen Reiter erlebte Klee allerdings nur am Rande. Nachdem Kandinsky den Bruch mit der NKVM geradezu provoziert und zusammen mit Marc den Blauen Reiter gegründet hatte, kulminierten die Auseinandersetzungen darin, dass die NKVM und der Blaue Reiter zur selben Zeit (Dezember 1911) und am selben Ort (in den Räumen Thannhausers im Arcor-Palais) zwei konkurrierende Ausstellungen abhielten. Den definitiven Anschluss an die Münchner Avantgarde erreichte Klee schließlich 1912 im Rahmen der Graphikausstellung der Gruppe Der Blaue Reiter in der Galerie Goltz in München, nach der Ausstel68  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

lung von 1911 die zweite Ausstellung dieser Gruppe. „Die beiden Ausstellungen wirkten als Demonstration, und plötzlich steht der Eigenbrötler Klee mitten im Kampf um die moderne Kunst und um ein neues Weltbild.“143 Klee schließt eine enge Freundschaft mit Marc (die allerdings bereits 1916 durch Marcs Tod im Felde jäh beendet wird) und lebenslange Freundschaften mit Kandinsky, Jawlensky (der Klee in seinen Lebenserinnerungen als einen der „größten Künstler Europas“ bezeichnet) und Marianne von Werefkin. Auf die künstlerisch produktiven, aber persönlich ambivalenten Beziehungen zu Marc und Kandinsky werde ich später ausführlicher eingehen, ebenso auf die zunächst nur künstlerische Auseinandersetzung mit Picasso. Persönlich sollte Klee Picasso erst 1937 kennenlernen.

„Primitivismus“ und Moderne Um 1909/10 macht Klee eine weitere wichtige Entdeckung. Ohne dass ein direkter Einfluss nachweisbar wäre, sucht Klee, ähnlich wie Picasso und mit ihm ein großer Teil der Künstler der Klassischen Moderne nach einfachen, „ursprünglichen“, „primitiven“ Ausdrucksmitteln. Das „Ursprüngliche“, durch akademische Tradition Unverfälschte und Unverkünstelte war spätestens seit Gauguin ein weitverbreiteter künstlerischer Topos. Auch im Blauen Reiter findet sich in einem Aufsatz von August Macke eine Huldigung an die archaische Ausdruckskraft der Masken und Plastiken, denen er die formbildende Kraft der Kinder zur Seite stellt: Schaffen von Formen heißt: leben. Sind nicht Kinder Schaffende, die direkt aus dem Geheimnis ihres Empfindens schaffen, mehr als der Nachahmer griechischer Kunst. Sind nicht die Wilden Künstler, die ihre eigene Form haben, stark wie die Form des Donners.

Wir werden sehen, dass Klee das Thema des „Ursprünglichen“ zu Beginn der zwanziger Jahre in seinen theoretischen Schriften wieder aufgriff, mit allerdings veränderter Bedeutung. Klee wird dann vom „Urgrund“ sprechen, wobei das „Ur-Sprüngliche“ nunmehr eine metaphysische und kosmologische Bedeutung erhält. „Primitiv“ oder „Primitivität“ sind Begriffe, die von nun an häufig in Klees Tagebüchern auftauchen. Während Picasso mehr oder weniger direkt Motive aus der altiberischen und afrikanischen Kunst aufgreift, ist dies bei Klee nicht der Fall. „Primitivität“ ist für Klee eher ein Ausdruck seiner reduktiven Bestrebungen. Im Katalog zur Ausstellung Klee trifft Picasso (Bern 2010) schreibt Christine Hopfengart: In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende waren Klee und Picasso, in einer für ihre Generation typischen Weise, auf der Suche nach ursprünglichen, primitiven Ausdrucksmitteln, um die Tradition zu überwinden und eine neue – moderne – Bildsprache zu entwickeln. Beide Künstler waren dabei sehr empfänglich für Anregungen, die ihnen den Weg zu einfachen Formen wiesen. Picasso war von der Urtümlichkeit altiberischer Skulpturen beeindruckt und vom magischen Reiz „Primitivismus“ und Moderne  I  69

afrikanischer und ozeanischer Kunst. Klee entdeckte die ‚Uranfänge von Kunst‘ in ­seinen eigenen Kinderzeichnungen, die er 1902 auf dem Dachboden seines Elternhauses fand.144

Gewisse Übereinstimmungen lassen sich feststellen, wenn man etwa Picassos Tête de Femme (1907) und Femme dormante (1908) mit Klees beiden Aktbildern aus dem Jahre 1910145, Mädchenakt und Mädchen mit Krügen (1910)146 vergleicht, Übereinstimmungen, die sich freilich nur auf den Grad der Reduktion beziehen. Picassos teilweise cloisonistisch inspirierte Bildarchitektur ist völlig anders als diejenige Klees. Zieht man insbesondere die beiden rechten Frauenfiguren von Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1907) heran, erkennt man deutlich die Grenzen der Übereinstimmung. Picassos Vereinfachungen sind an den harten Konturen der Vorbilder aus „primitiven“ Kulturen orientiert, während Klee versucht, eine eigene Bildsprache zu finden, in denen die menschliche Gestalt in vergleichsweise weichen Konturen vor erdig rotbraunem bzw. blaugrauem Hintergrund dargestellt ist. An primitive Masken oder Statuen erinnert ansatzweise dagegen Mädchenakt (1910). Anders als gelegentlich behauptet, fehlt dem Bild jegliche erotische Ausstrahlung: Das maskenhafte Gesicht mit den schwarz verschatteten Augen und dem statuarischen Mädchenkörper ohne weibliche Formen wirkt bedrohlich, fast unheimlich. Auch hier kommt Klees Tendenz zur Deformation des weiblichen Körpers zum Ausdruck. Derartige „Primitivismen“ sind freilich nur ein Aspekt der Bedeutung Picassos für Klee: Später wird sich Klee wesentlich ausführlicher mit der Bedeutung des Kubismus für seine Kunst beschäftigen. Obwohl es zu Klees Konzept des „Selbstlehrlings“ passen würde, Anregungen zur „Primitivität“ in seinen eigenen Kinderzeichnungen zu finden, ist dies gleichwohl nicht der Fall, da Klee derartige Anregungen zunächst eher in der „primitiven“ Kunst sucht. Im Januar 1912 notiert er in seinem Tagebuch: Es gibt nämlich noch Uranfänge von Kunst, wie man sie eher in ethnographischen Sammlungen findet oder daheim in seiner Kinderstube. Lache nicht, Leser. Die Kinder können es auch und es steckt Weisheit darin, daß sie es auch können! Je hilfloser sie sind, desto lehrreichere Beispiele bieten sie uns, und man muss auch sie schon früh vor einer Korruption bewahren. Parallele Erscheinungen sind die Arbeiten der Geisteskranken und es ist also weder kindisches Gebahren noch Verrücktheit hier ein Schimpfwort, das zu treffen vermöchte wie es gemeint ist. All das ist tief ernst zu nehmen, ernster als sämtliche Pinakotheken, wenn es gilt heute zu reformieren. Wenn wirklich, wie ich glaube, sämtliche Läufe der gestrigen Tradition versanden, [...] dann ist ein großer Augenblick gekommen und ich begrüße sie, die an der nun kommenden Reformation mitarbeiten. Der Kühnste von ihnen ist Kandinsky, welcher auch durch das Wort zu wirken sucht (das Geistige in der Kunst/bei Piper). (Tgb. 905)

Es bleibt wiederum unklar, wann Klee diese Eintragung tatsächlich schrieb. Die direkte Ansprache an den Leser macht deutlich, dass es sich hier um eine redigierte Tagebucheintragung handelt, wobei sie allerdings zeitlich zu Klees Beschäftigung mit Kubismus und 70  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

35  Pablo Picasso, Tête de femme, 1907, Öl auf Leinwand, 61,4 x 47,6 cm, The Museum of Modern Art, New York

36  Paul Klee, Mädchen-Akt , 1910, 122, Wasserfarbe auf Holz, 48,5 x 40,5, cm, Privatbesitz Schweiz, Depositum im Zentrum Paul Klee, Bern

Primitivismus passt. Wesentlicher ist jedoch, dass Klee hier in Übereinstimmung mit zahlreichen Künstlern der Moderne, Picasso und Kandinsky inbegriffen, die Kunst der Kinder, „Primitiven“ und „Geisteskranken“ in ihrer Bedeutung für die moderne Kunst rehabilitiert147. Erneut ist die Übereinstimmung mit Kandinsky frappierend. Im Almanach Der Blaue Reiter schrieb Kandinsky 1912: Das Praktisch-Zweckmäßige ist dem Kind fremd, da es jedes Ding mit ungewohnten Augen anschaut und noch die ungetrübte Fähigkeit besitzt, das Ding als solches aufzunehmen. Das Praktisch-Zweckmäßige wird erst später durch viele, oft traurige Erfahrungen langsam kennengelernt. So entblößt sich in jeder Kinderzeichnung ohne Ausnahme der innere Klang des Gegenstands von selbst. Die Erwachsenen, besonders die Lehrer, bemühen sich, dem Kind das Praktisch-Zweckmäßige aufzudrängen, und kritisieren dem Kind seine Zeichnung gerade von diesem flachen Standpunkt aus: ‚dein Mensch kann nicht gehen, weil er nur ein Bein hat‘ [...] Das Kind lacht sich selbst aus. Es sollte aber weinen.148 (Hrv. MC)

Allerdings ist Klees Bezugnahme auf das „Primitive“ ambivalent. Wir hatten bereits gesehen, dass die „Primitivität“ Klees Ergebnis seiner „Reduction“ ist: „Primitivität aus Reductionsvermögen“ konstatiert Klee lapidar (Tgb. 853, Hausenstein I, S. 500). Es gibt bei Klee keine Beispiele einer direkten Übernahme der Formsprache „primitiver“ Kunst „Primitivismus“ und Moderne  I  71

wie etwa bei Picasso, allerdings besonders im Spätwerk einen spezifisch Klee’schen „Primitivismus“, der wiederum häufig an Kinderzeichnungen erinnert. Es bedarf deshalb der Präzisierung, wenn beispielsweise Giedion-Welcker vom „primitiven Strich“ Klees spricht, der auf „prälogische Zonen der Ausdrucksmittel“ zurückverweise.149 Wenn Klee einen „primitiven Strich“ verwendet (etwa bei der Darstellung von Pflanzen oder Tieren, bei der Darstellung kosmischer Elemente wie Mond oder Sterne oder mit zunehmender Intensität im Spätwerk), so hat dies nichts mit angeblich prälogischen Ausdrucksmitteln zu tun, sondern – wie die Autorin später und zutreffender schreibt – mit einer „vereinfachenden suggestiven Zeichensprache“150, mit Klees „Hieroglyphen“151 und mit der Verwendung von „Symbolen“ (Tgb. 660). Als Symbole lassen sich beispielsweise seine kosmischen Zeichen verstehen, später wird der Pfeil für ihn von hervorgehobener symbolischer Bedeutung sein, insbesondere aber sein sowohl als Kunst- als auch als Selbstsymbol verwendeter „Kristall“. Weniger bekannt ist, dass Klee sich später, im Kontext seiner Bauhausaufzeichnungen, deutlich vom Symbolischen abgrenzt. Hierzu lesen wir in seiner Bildnerischen Gestaltungslehre: Aber ein Symbol ist für sich noch keine bildnerische Gestaltung. Dies Zeichen einer assoziativen Übereinkunft muss überwunden werden; es muss ohne den Pfeil gehen. Aber wie?152

Klee übersah vermutlich zu Beginn seiner Freundschaft mit Franz Marc, dass dieser einen Symbolbegriff vertrat, der Klees Kunstverständnis schon damals zutiefst fremd war. Marc schwärmte 1912 von „Symbolen“, „die auf die Altäre der kommenden geistigen Revolution gehören“ (Der Blaue Reiter, S. 31). Marc glaubte daran, „daß eine neue Religion im Lande umgeht, die noch keinen Rufer hat“. „Es sind eigenwillige, feurige Zeichen einer neuen Zeit, die sich heute an allen Orten mehren“ (ebd., S. 34 f.). Abgesehen davon, dass hier noch dunkel bleibt, worin diese „Symbole“ und die „neue Zeit“ bestehen, widersprach bereits ein derartiger Fortschrittsglaube dem Klee’schen Credo der „Unzulänglichkeit“ der weltlichen Dinge und seiner Überzeugung von der Periodizität des Unheils. Und mit Revolutionen wollte Klee schon gar nichts zu tun haben. Im Falle Marcs sollte Klee in seinem Pessimismus Recht behalten: Marc wird später in seiner Kriegsbegeisterung die Wiederkehr des Unheils in Gestalt des Krieges feiern. Soweit Klee für die Kriegszeit überhaupt Symbole verwendet, dann vorwiegend Symbole der Bedrohung und Zerstörung, wie sich u. a. in seiner Zeichnung Tod für die Idee (1914) (Abb. S. 46) zeigen sollte. Auch Kandinsky entwickelte in der Zeit zwischen 1910 und 1912 Ansätze eines „Primitivismus“, der sich erheblich von den bereits abstrahierenden Landschaftsbildern der Murnauer Zeit 1908/19 und seinen späteren abstrakten Bildern abhob, nachdem er noch zu Beginn des Jahres 1908 in einem spätimpressionistischen Stil gemalt hatte. Obwohl kein direkter Einfluss nachweisbar ist, gleichen die aquarellierten Entwürfe zum Umschlagentwurf des Almanachs des Blauen Reiters strukturell den Zeichnungen Klees. Auch die auf fast kindliche Weise vereinfachten Figuren in Studie zu Komposition II und Glasbild mit Sonne (beide 1910) weisen Ähnlichkeiten zu Klees Stil auf. Die Übernahme eines Kandinsky’schen Motivs könnte man in den pferdeartigen Figuren von Wichtige Eile 72  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

37  Pablo Picasso, Les Demoiselles d’Avignon, 1907, Öl auf Leinwand, 243,9 x 233,7 cm, The Museum of Modern Art, New York

(1912) vermuten. In der Studie zur Komposition II findet sich ein vergleichbares springendes Pferd, das sich bei Kandinsky von links nach rechts bewegt, während sich bei Klee die umgekehrte Richtung findet.153 Ein für die Entwicklung seines Stils außerordentlich wichtiges Experiment waren Klees Illustrationen zu Voltaires Roman Candide (1911/12), vor allem wenn man diese Zeichnungen im Hinblick auf sein Spätwerk betrachtet. Auch diesem vielleicht wichtigsten Werk seiner Frühzeit ging eine künstlerische und psychische Krise voraus, die, wie Klee anmerkt, mit seinen ersten „Erfolgen“ zusammenhing: Aus einer gewissen Depression heraus, die sich im Hinblick auf äußeren ‚Erfolg‘ einstellen wollte schüttelte ich mich gewaltig. Ich musste mich schütteln, weil mir für ein De profundis das geeignete Abführungsorgan fehlt. Vater Voltaire gefiel das, er jammerte ja auch nie, und gab mir einen Wink. Gleich war ich zur Stelle und machte mich jetzt sogleich an die Illustration von Candide. Ich fand auf seinen Wegen manches verlegte Gewicht, was früher, zu meiner Balance nötig, an seinem Ort war, vielleicht fand ich überhaupt mein eigentliches Ich jetzt wieder – doch darüber schwanken noch immer die Meinungen in mir. (Tgb. 897)

Es wird deutlich, dass es wahrscheinlich nicht in erster Linie der äußere „Erfolg“ – der noch relativ bescheiden war – ist, der Klee aus der „Balance“ bringt. Naheliegender ist das „Primitivismus“ und Moderne  I  73

Gegenteil: Noch war Klee in München weitgehend isoliert, Kandinsky und Marc begegnete er erst später, Ende 1911 – noch war er also nicht im Kreise der Münchner Avantgarde angekommen. Es waren dann vor allem die Candide-Illustrationen, die Marc von der künstlerischen Qualität des Klee’schen Schaffens überzeugten154. Im Almanach des Blauen Reiters hatte Klee eine eher unscheinbare Zeichnung, Steinhauer (1910), veröffentlicht. Es war dann auch Marc, der erhebliche Anstrengungen unternahm, einen Verleger zu finden, der an einer Neuauflage des Candide, versehen mit Klees Illustrationen, interessiert war. Es sollte schließlich bis 1920 dauern, bis sich mit Kurt Wolff ein Verleger fand. In den Candide-Illustrationen gelang es Klee, „Krampf“ oder „Ornament“ zu vermeiden. Sein Zeichenstil wirkt nervös, strichelnd, lediglich andeutend, er gibt in extrem gelängter Form nur das Wesentliche wieder. Auch der Handlungsrahmen, Himmel, Erde, Objekte werden mit knappen Schraffuren oder Linien nur angedeutet. Hausenstein, Klees zweiter Biograph (1921), der insbesondere von Klees Graphik fasziniert war, charakterisiert die Candide-Illustrationen als „den letzten überhaupt noch graphisch materialisierbaren psychologischen Reflex sinnlicher und mehr noch übersinnlicher Erlebnisse“.155 Das ist natürlich eine der für Hausenstein charakteristischen Übertreibungen, ebenso ist Glaesemers Behauptung, es handele sich bei Klees Figuren um „dünngliedrige Schattenwesen ohne materielle Substanz“, nur teilweise zutreffend.156 Klees Figuren besitzen zumeist „Substanz“, aber diese ist auf wellenförmige Linien oder Schraffuren beschränkt, wobei die Konturen noch durch fadenartige, horizontal und diagonal verlaufende Linien verwischt werden. Auch hier praktiziert Klee eine Form des Primitivismus, wobei er allerdings ansatzweise die Linien seiner Zeichnungen aus den Jahren 1903/05 wieder aufnimmt, was insbesondere im Vergleich zu der Zeichnung Akt, tanzende Venus (1905) deutlich wird. Am eindrucksvollsten ist vielleicht, dass es Klee durch den Rhythmus der Zeichnung und die Pose der handelnden Figuren gelingt, deren Emotionen wiederzugeben. Anders als Hausenstein unterstellt, wird der „psychologische Reflex“ der Ereignisse von Klees Lineament deutlich herausgearbeitet. Entsprechend seinem satirischen Temperament übersteigert Klee dabei Voltaires Vorlage an einigen Stellen ins Groteske. Klee hat dem Text Voltaires – der selbst schon satirisch ist – durchaus eigene Akzente hinzugefügt, wie sich besonders in der Illustration zum 12. Kapitel zeigt. Zu der Szene der hungernden Janitscharen und den von ihnen gefangen gehaltenen Haremsdamen schreibt Voltaire: Ein frommer, mitleidiger Iman war unter uns, der hielt ihnen eine schöne Predigt und riet ihnen, uns nicht ganz umzubringen. Er sagte: ‚Schneidet jeder dieser Damen einen Hinterbacken ab, daran könnt ihr euch gütlich tun. In ein paar Tagen habt ihr dann noch mal so viel. Der Himmel wird es euch lohnen, wenn ihr Barmherzigkeit übt.‘157

Die „schreckliche Operation“ (Voltaire) selbst wird nur angedeutet. Klee da­gegen zeichnet, wie einer der Janitscharen einer „Haremsdame“ mit Messer und Gabel den Pobacken abschneidet, während sich die Horde der übrigen Janitscharen, ebenfalls mit Messer und Gabel bewaffnet, auf den „feinen Braten“ (Voltaire) stürzt. 74  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

38  Paul Klee, Candide, 12. Cap., 1912, 38, Feder auf Papier auf Karton, 11,8 x 24 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Die Leichtigkeit der Linien und der rhythmische Schwung der Figuren lassen kaum erahnen, welche Mühe Klee hatte, einen fremden Text kongenial zu illustrieren. An Paul Eluard, der ihn bat, seine Gedichte zu bebildern, schrieb er: Was Zeichnungen oder Illustrationen für eine Publikation betrifft, muss ich Ihnen wieder sagen, dass eine sehr lange Erfahrung mich davor warnt, Zeichnungen ‚dazu‘ machen zu wollen. Ich habe einmal einen solchen Kampf im Verlauf zweier Jahre zu Ende gekämpft: (zu Voltaire, Candide). Diese beiden Jahre bereue ich durchaus nicht, weil sie eine Vereinigung schließlich brachten. Und weil man manchmal kämpfen muss.158

Mit seinen Candide-Illustrationen hat Klee erreicht, was ihm vorschwebte: eine nur scheinbare „Primitivität“, weil sie auf der „Sparsamkeit der Mittel“ beruhte, zugleich auch eine autonome Bildanatomie. Eine fast kindliche Primitivität gelang Klee auch in dem Aquarell Häuser an der Kiesgrube (1913). Es ist aufschlussreich, dass in Klees Spätwerk (in seinem Todesjahr 1940) mit dem Aquarell Gelbes Haus ein ähnlicher Bildtypus wieder auftaucht. Der „Primitivismus“ des Klee’schen Spätwerks – um an dieser Stelle vorzugreifen – ist weder „prälogisch“ noch symbolisch, sondern beruht ebenfalls auf kalkulierter Reduktion159. Es handelt sich – wie auch in den Zeichnungen der Jahre 1903/10 – um eine extrem vereinfachende, vordergründig kindlich anmutende Formsprache, die als art brut bezeichnet werden kann, wie sie in seinem Spätwerk etwa in Bildern wie Beim blauen Busch, Hungriges Mädchen (beide 1939) oder Verzweifelt rudern (1940) zum Ausdruck kommt. Hier ist „Primitivismus“ und Moderne  I  75

39  Paul Klee, Häuser an der Kiesgrube, 1913, 43, Aquarell auf Papier auf Karton, 15,6 x 15,2 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

es Klee gelungen, durch äußerste Reduktion existentielle Extremsituationen darzustellen: Einsamkeit, Hunger, Verzweiflung. Die Frage erscheint berechtigt, ob Klee in seinem Spätstil, insbesondere in den Arbeiten der Jahre 1939 und 1940, ein Stück weit zur „Primitivität“ seiner Anfänge zurückkehrte: Nicht, um den früheren Stil zu kopieren, sondern weil dieser Stil sich bereits bewährt hatte, das Ziel der „Reduction“ und „Sparsamkeit“ der Mittel, der Beschränkung auf das Typische und Wesentliche zu erreichen.

Genesis und „Metaphysik“ Die wichtigsten ästhetischen Konzepte des Klee’schen Frühwerks – Linie, Typik, Reduktion und Tonalität – stehen in engem Zusammenhang mit einem weiteren zentralen Begriff dieser Werkphase, „Genesis“, der sich zunächst nur auf die Bewegung der künstlerischen Formgebung bezieht, auf die Entstehung des Werkes. Anders gesagt: Klee ist nicht in erster Linie an den „Form-Enden“, am abgeschlossenen Werk, interessiert, sondern am Prozess der Formgebung. Für Klee wird es – ähnlich wie für Picasso – kein abgeschlossenes Werk geben. Nicht die Vollendung, sondern die „Genesis“ des Werkes interessiert ihn: Jedesmal wenn im Schaffen ein Typ dem Stadium der Genesis entwächst und ich quasi am Ziel anlange, verliert sich die Intensität sehr rasch, und ich muss neue Wege suchen. Productiv ist eben der Weg das Wesentliche, steht das Werden über dem Sein.160 (Tgb. 928, Hrv. MC) 76  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

Klee versteht bis zu diesem Zeitpunkt „Genesis“ noch ausschließlich als ästhe­tisches Prinzip, als „formale Bewegung“ (Tgb. 943). Klee spricht von „durchdachter formaler Genesis“ (Tgb. 813 a), mit der er das Typische herausarbeitet, Genesis also als der zeitbezogene Aufbau des Bildes. Die Betonung des „Werdens“ anstelle der Vollendung ermöglicht Klee eine spezifisch zeitliche Realisierung des „Typischen“: Das Werk muss nicht in einem traditionellen Sinn „abgeschlossen“ sein, es kann fragmentarisch bleiben, sofern das Ziel des Typischen damit erreicht ist. Je mehr Klee sich dem intendierten Ziel des Werkes nähert, desto geringer wird die „Intensität“ des Schaffens. Das Fragmentarische, Unvollendete kann gerade der Ausweis für die Qualität des Werkes sein: „Ein gutes Bild wirkt noch vor dem letzten Strich unvollendet“ (Tgb. 850). Bereits in den Tagebucheintragungen während seiner Italienreise hatte Klee das Unvollkommene und Fragmentarische höher geschätzt als die Vollkommenheit des „edlen“ Stils. Wir werden sehen, dass bei Klee spätestens ab 1920 der Begriff der Genesis in einer erweiterten, kosmologischen Bedeutung in Erscheinung tritt: Der Künstler vollzieht selbst das Werden nach, er schafft „weltschöpferisch“, „kosmogenetisch“ – vergleichbar dem divino artista oder alter deus der Renaissance – nicht nach der Natur, sondern wie die Natur. Der Künstler ist natura naturans, nicht natura naturata. Der Künstler wird mit grandiosem Gestus zum Schöpfer einer Welt sui generis, der die göttliche Genesis nachvollzieht. Noch etwas verklausuliert tauchte dieses erweiterte Verständnis von Genesis bereits 1914 (nach der Rückkehr von seiner Tunesienreise) bei Klee auf, dergestalt, dass das Kunstwerk über die „Genesis“ mit der Schöpfung verbunden ist, da es selbst eine Form von Genesis ist: Sie lebt „unter der sichtbaren Oberfläche des Werkes“. Genesis ist nunmehr nicht nur der zeitliche Aspekt des Kunstwerks, sondern das schöpferische Prinzip unter der Oberfläche. Ihm, nicht der sichtbaren Oberfläche ist Klee zufolge der Künstler verpflichtet. Kunst zeigt nicht das „Sichtbare“, sondern „macht sichtbar“, wie Klee in unterschiedlichen Varianten dieses Diktums betont161: Die Schöpfung lebt als Genesis unter der sichtbaren Oberfläche des Werkes. Nach rückwärts sehen das alle Geistigen, nach vorwärts (in die Zukunft) nur die Schöpferischen. (Tgb. 932)

Was Klee damit sagen will, ist, dass alle „Geistigen“ rückwärts das Prinzip der Genesis erkennen können. Nur die „Schöpferischen“, insbesondere die Künstler, können vorwärtsschauend zumindest erkennen, dass sie im Kunstwerk etwas Neues schaffen und damit die Genesis fortsetzen. Damit ist Klee nur noch wenig von der Position entfernt, die er dann am prägnantesten in seiner Jenaer Rede formuliert, nämlich dass der Künster „weltschöpferisch“, der „Genesis Dauer verleihend“ wirkt – damit wird er gottgleich (Klee [1924], S. 65). Nimmt man hinzu, dass Klee sich 1920 als „diesseitig“ nicht fassbar betrachtet und auf der Suche nach dem „Urgrund“, dem „Herz oder Hirn der Schöpfung“ ist (ebd., S. 66), dann wird bereits hier, 1914, eine metaphysische Haltung deutlich, die wir auch bei seinem Freund Marc finden. Prange weist – ähnlich wie Werckmeister, der von Klees „geschichtsenthobener Metaphysik“ spricht – zu Recht darauf hin, dass der Maler eine Auffassung des Künstlers propagiert, die der „Geschichtlichkeit“ enthoben ist.162, 163 Genesis und „Metaphysik“  I  77

Damit ist freilich ein neues Kapitel aufgeschlagen: Klees selbstgefertigte quasi religiöse Metaphysik und Kosmologie. Ich habe bisher in Anlehnung an Werckmeister für Klees Weltanschauung den etwas unscharfen Begriff „Metaphysik“ verwendet. Er wird dabei zunächst in seiner allgemeinen und wörtlichen Bedeutung „Meta-Physik“ verwendet, als ein „Jenseits“ der empirischen Phänomene.164 Für Aristoteles ist Metaphysik die Lehre vom Sein des Seienden, ontos on, d. h. Ontologie. Zu klären bleibt, in welcher Form der Begriff „Metaphysik“ auf Klee anwendbar ist. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Klees Begrifflichkeit, die sich auf ein „Jenseitiges“ bezieht („Diesseitig bin ich gar nicht fassbar“), nicht als Vorstellung von Transzendenz, sondern vielmehr in einem transzendentalen Sinne zu verstehen ist, wie er etwa in der Philosophie der Frühromantik entwickelt wurde, dass nämlich Gott, Schöpfung, Genesis selbst Schöpfungen des Menschen, genauer, des „absoluten Ichs“ (im Sinne Fichte und Schellings) sind. Ich werde in Kap. 4 näher auf diese Fragen eingehen, insbesondere auf Klees Nähe zur Frühromantik. Festzuhalten ist jedoch: Wenn Klee davon spricht, dass Kunst nicht das Sichtbare zeigt, sondern „sichtbar“ macht, dann ist dies nicht in dem trivialen Sinne zu verstehen, dass seine Kunst beliebige geistige Phänomene hinter dem Sichtbaren aufzeigen will, sondern in dem präziseren Sinne, dass er damit165 „metaphysische“ Phänomene meint: Kosmos, Genesis, Gott. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Linie, Reduktion, Typik, Bildanatomie, Tonalität und Genesis bis zu diesem Zeitpunkt die zentralen Kategorien der Klee’schen Ästhetik sind. Farbe und Abstraktion werden hinzukommen. „Primitivität“ wird dabei von Klee als Konsequenz seiner reduktionistischen Bestrebungen verstanden. Ich möchte im Folgenden zunächst auf das Problem der Abstraktion eingehen, weil Klee hier (1914/15) erstmals in unmissverständlicher Form die Beziehung einer ästhetischen Formel („Abstraktion“) zu einer weltanschaulich-metaphysischen Position ausbuchstabiert und zugleich im Sinne seines Stilverständnisses („Ich bin mein Stil“) auf die eigene Person bezieht.

78  I  Von der Linie zur Farbe: Klees Ringen um die Form

3. Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde Abstraktion: Die „kühle Romantik“

Wie ein Brief vom 25.10.1910 an Lily Klee zeigt, hatte Klee seine quälenden Selbstzweifel, nicht malen zu können, mittlerweile ein Stück weit überwunden1. Selbstbewusst spricht er nunmehr davon, eine „normale Produktion anständiger Arbeiten“ leisten zu können. Er hatte in mühsamer, weitgehend isolierter Arbeit einiges erreicht: Die Linie betrachtete er als sein „Ureigentum“, er hatte erste Schritte in Richtung Abstraktion unternommen und beherrschte die „Tonalität“. Erste Versuche mit farbigen Aquarellen waren ihm gelungen, die Auseinandersetzung mit der Moderne hatte sein Verständnis für das Problem des „Ursprünglichen“ und „Primitiven“ geschärft. Neben dem Streben nach Beherrschung der Farbe, dem Wunsch, auf dem „Farbklavier“ frei „phantasieren“ zu können, war für die künstlerische Entwicklung Klees ab 1910 die Auseinandersetzung mit der Abstraktion von zentraler Bedeutung. Dies erforderte, neben den Anregungen, die Klee durch Kandinsky, Marc, Delaunay, Macke erfuhr, u. a. auch eine intensive Beschäftigung mit Picasso und dem Kubismus. Die Anregungen, die Klee durch diese Künstler erhielt, gehen seiner triumphalen Verschmelzung mit der Farbe während seiner Tunisreise (1914) voraus. Auch Worringers einflussreiche Schrift Abstraktion und Einfühlung (1908), die insbesondere im Kreis des Blauen Reiters ausgiebig diskutiert wurde, spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle.2 „Abstraktion“ eignet sich Klee in ähnlicher Weise an wie die Farbe während seiner Tunesienreise („ich und die Farbe sind eins“, 1914): nicht nur formal, sondern mit dem Gestus einer symbiotischen Verschmelzung. Klee selbst ist nunmehr „abstrakt mit Erinnerungen“ (1915, Tgb. 952). Konträr zu seiner distanzierten Haltung Menschen gegenüber ist Klees Verhältnis zu seiner Kunst symbiotisch, eine unio mystica mit seiner Kunst und mit sich selbst. Ich möchte die wesentlichen Passagen, in denen Klee Anfang 1915 in seinem Tagebuch das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit der Abstraktion notiert, in leicht gekürzter Form wiedergeben: Das Herz, welches für diese Welt schlug ist mir wie zu Tode getroffen. Als ob mich mit ‚diesen‘ Dingen nur noch Erinnerungen verbänden [...] Ob nun der kristalline Typ aus mir wird? Mozart rettete sich (ohne sein Inferno zu übersehen) im grossen/ganzen in die freudige Hälfte hinüber. Wer das nicht ganz begreift, könnte ihn mit dem kristallinen Typ verwechseln. Abstraktion: Die „kühle Romantik“  I  79

Man verlässt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz ja sein darf. Abstraction. Die kühle Romantik dieses Stils ohne Pathos ist unerhört. Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute) desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt. Heute ist der gestrig-heutige Übergang. In der großen Formgrube liegen Trümmer, an denen man noch teilweise hängt. Sie liefern den Stoff zur Abstraction. Ein Bruchfeld von unechten Elementen, zur Bildung unreiner Kristalle. So ist es heute. Aber dann: einst blutete die Druse. Ich meinte zu sterben. Krieg und Tod. Kann ich denn sterben, ich Kristall? Ich Kristall (Tgb. 951) Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt. Daher geht er mich innerlich nichts an. Um mich aus meinen Trümmern herauszuarbeiten mußte ich fliegen. Und ich flog. In jener zertrümmerten Welt weile ich nur noch in der Erinnerung, wie man zuweilen zurückdenkt. Somit bin ich ‚abstract mit Erinnerungen‘. (Tgb. 952) Gewisse kristalline Gebilde, über die eine pathetische Lava letzten Endes nichts vermag. (Tgb. 953)

Dies ist Klees ausführlichste zusammenhängende Reflexion über die Bedeutung der „Abstraction“. Ausgangspunkt ist die persönliche Betroffenheit Klees über den Zustand der Welt (sein Herz ist „wie zu Tode getroffen“, „Je schreckensvoller diese Welt [...] desto abstrakter die Kunst“), die er dann in Tgb. 952 noch einmal aufgreift. Abstraktion ist die Kunstform, die – hier folgt Klee offensichtlich den Gedanken Worringers – den Schrecken der Welt bannt. Verbunden ist diese Betroffenheit mit einer zweiten persönlichen Überlegung, ob nun der „kristalline Typ“ aus ihm werden mag. Die tradierte Kunstmetapher des „Kristalls“ wird hier zugleich als subjektiver Zustand verstanden, der mit dem Hinweis auf Mozart präzisiert wird. Der Komponist dürfe nicht mit dem kristallinen Typ verwechselt werden, da er sich in die „freudige Hälfte“ hinübergerettet habe. Was immer Klees „Hälfte“ des kristallinen Typs sein mochte: Sie war jedenfalls nicht freudig, sondern wurde als eher leidvoll präsentiert, wie bereits die Eingangsformulierung nahelegt („zu Tode getroffen“). So wie Klee sich als Person fragt, ob der Schrecken der Welt ihn zum kristallinen Typus macht (eine Frage, die er dann am Ende der Eintragung nachdrücklich bejaht), so reagiert der Künstler auf den Schrecken der Welt mit „Abstraction“. Der abstrakte Künstler verlässt die „diesseitige Welt“ und baut hinüber in die „jenseitige“. Dies kann wiederum zunächst formalästhetisch verstanden werden: Die „Trümmer“ in der „großen Formgrube“ liefern den Stoff zur „Abstraction“, die damit eine andere, „jenseitige“ 80  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Welt erschafft. Das „Jenseitige“ bezieht sich jedoch auch auf die Person des kristallinen Künstlers, denn er wendet sich vom Schrecken der Welt ab, durch die sein Herz „wie zu Tode getroffen“ ist, und einer jenseitigen Welt zu: Er wird kristallin. Als Künstler ist der kristalline Künstler der abstrakte Künstler, ebenso wie der „kristalline Typ“ als Künstler abstrakt ist. Insbesondere die Schlussbemerkung dieser Tagebucheintragung macht deutlich, dass Klee Kristall und „Abstraction“ miteinander gleichsetzt und zugleich auf sich selbst bezieht: „Kann ich denn sterben, ich Kristall? ich Kristall“. Die ästhetischen Formeln „kristallin“ und „abstrakt“ werden von Klee personalisiert, auf ihn selbst als Person bezogen. Es handelt sich beim Kristallinen – als subjektivem Attribut – um eine Art magische Beschwörungsformel gegen Verletzbarkeit und Sterblichkeit. Ich hatte im vorhergehenden Kapitel darauf hingewiesen, dass die Begriffe der Diesbzw. Jenseitigkeit bei Klee nicht im herkömmlichen Sinne von Immanenz und Transzendenz, d. h. von Säkularität und einem der Erkenntnis entzogenen transzendenten Bereich verstanden werden dürfen. Das wird in den zitierten Passagen einmal mehr deutlich. Auch das „Jenseitige“ ist immanent, ist der Bereich, in den der Künstler mit der Abstraktion „hinüberbaut“, er wird durch die Abstraktion, durch den Künstler konstituiert. Franciscono bringt dies auf die lakonische Formel: „Klees higher realms in practice are treated as ironically as his people are – after all, they, too, are made by an artist, not by God.“3 Weniger klar ist, was Klee meint, wenn er von der „kühlen Romantik dieses Stils ohne Pathos“ spricht. Zunächst einmal entspringt dieser Stil selbst dem Pathos. Die zitierten Passagen machen ja deutlich, dass dieser Stil das Ergebnis einer Überwindung des Pathos ist. Insofern verweist er, was Klee ja auch deutlich macht, auf seine eigene Lebensgeschichte: Sein Herz ist „wie zu Tode getroffen“. „Kühl“ ist somit nur die Überwindung dieses Pathos bzw. die von Klee selbst häufig betonte „Kühle“ seiner Person. Aber weshalb „Romantik“? In seinem Jenaer Vortrag von 1924 spricht Klee von der „Romantik, die im All aufgeht“ (1924, S. 64): „Romantik“ ist für Klee die Chiffre für eine Kunst, die in den Kosmos, ins All ausgreift und somit weltschöpferisch ist. In Klees Verständnis einer kosmischen Kunst ist deshalb auch die von Klee neu entdeckte Abstraktion zu relativieren: Sie wird sich später als lediglich ein Element einer kosmischen Kunst erweisen, die ein Gleichnis zur Schöpfung sein soll. Letztlich verständlich wird dies freilich erst, wenn wir noch weitere Bemerkungen Klees zur Romantik und zum „Jenseitigen“ heranziehen, wie er sie später in seinem Pädagogischen Nachlass formuliert (ich werde darauf in Kap. 4 noch näher eingehen). An dieser Stelle lässt sich aber bereits so viel sagen, dass das von Klee angesprochene „Jenseitige“, in das er hinüberbauen möchte, eine doppelte Bedeutung besitzt. Es meint zum einen als Abstraktion ein „geistiges“ Phänomen im Gegensatz zum materiellen Diesseitigen, zum anderen ein Ausgreifen in eine kosmische Dimension, ins „Unendliche“. Beide Aspekte sind zentrale Topoi der romantischen Philosophie. Darüber hinaus bezeichnet das „Jenseitige“ auch den Punkt, an dem Klee nach Überwindung seines Pathos angekommen ist, so wie er es später in dem bekannten Diktum „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar“ zum Ausdruck bringt. Glaesemer sieht in diesem subjektiven Jenseitigen sogar einen Verdrängungsprozess: Abstraktion: Die „kühle Romantik“  I  81

Es drängt sich an dieser Stelle geradezu auf, dass Klees zielstrebige Versuche, diesseitig nicht faßbar zu sein, mit tiefliegenden Verdrängungen in Verbindung zu bringen und als eine Methode raffinierter Sublimierung unausgelebter erotischer und sexueller Vorstellungen zu deuten.4

In der nun folgenden Tagebucheintragung 952 schreibt Klee: Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt. Daher geht er mich innerlich nichts an.

Dies steht offensichtlich im Widerspruch zu Klees Ausgangsüberlegung. Wenn sein Herz ursprünglich für die Welt schlug und dann von „diesen Dingen“ „wie zu Tode getroffen“ war, dann kann er logischerweise nicht sagen, der Krieg ginge ihn nichts an. Verständlich werden Klees Äußerungen erst, wenn man davon ausgeht, dass bei ihm zwei Argumentationsstränge parallel verlaufen, die nicht ohne Weiteres kompatibel sind. Zum einen entwickelt Klee eine kunsttheoretische Argumention à la Worringer („Je schreckensvoller diese Welt [...], desto abstrakter die Kunst“). Klee und Worringer übersehen dabei allerdings, dass angesichts des Schreckens in der Welt eine nachahmende Kunst nicht prinzipiell unmöglich ist: Dies wäre im Sinne von Kandinskys „großer Realistik“ gleichsam die kritische Funktion der Kunst. Kunst würde die Dinge und die Welt so „schreckensvoll“ darstellen, wie sie sind. Klee postuliert demgegenüber, übereinstimmend mit Worringer, dass die abstrakte Kunst mit ihrem – angeblichen – Fluchtpunkt des „Absoluten“ eine Art Schutz- und Tröstungsfunktion besitzt. Dies wäre die mythische Funktion der Kunst: Kunst als Prävention und Bannung von Angst, als Apotropaion, wie in der Antike eine Schutzmaßnahme gegen Unheil genannt wurde.5 Kunst hat freilich auch noch eine andere, kritische Funktion: die Kunst des Unterscheidens und Beurteilens (kritiké), eine Funktion, die mit dem Wahrheitsanspruch der Kunst verbunden ist. In einem zweiten Argumentationsstrang drückt Klee seine ganz persönliche Sicht, seine Nichtbetroffenheit aus. Da er den Krieg schon in sich gehabt habe (selbstredend nicht den realen Krieg, der ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet ist), gehe dieser ihn nichts (mehr) an. Er zieht sich – diesmal ganz gegen Worringers Perspektive – auf sein inneres Erlebnis zurück. Der Schrecken wird in das Innere verlegt und dort überwunden. Theoretisch benötigte er die „Abstraktion“ dazu gar nicht mehr. Wir werden später sehen, dass Klee Worringer zwar in einigen Punkten folgt, aber letztlich doch einen anderen Weg einschlägt, insbesondere dessen kruden Antagonismus Mensch vs. (bedrohliche) Natur als Ausgangspunkt seiner Abstraktionstheorie ablehnt. Klee spricht in seinen komprimierten Formulierungen offensichtlich von zwei Kriegen: vom realen „äußeren“ Krieg, dem Ersten Weltkrieg, der sein Herz „wie zu Tode getroffen hat“, und einem „inneren“ Krieg, den er längst in sich gehabt habe, der für ihn ausgekämpft ist, weshalb ihn der äußere, reale Krieg nichts (mehr) angeht. Es sind auch nicht äußere Ereignisse, die den inneren Krieg beendet haben, da er diesen schon seit Langem in sich getragen und ausgefochten habe. Da es sich um zwei Kriege handelt, ergibt sich nicht unbedingt ein Widerspruch. Wenn Klees Herz „wie zu Tode getroffen“ ist, dann geht der äußere Krieg ihn offenbar doch noch etwas an. Den inneren Krieg 82  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

dagegen hat Klee abgeschlossen. Man gewinnt den Eindruck, dass Klee in den zitierten Passagen Worringers Position übernimmt (das bereits zitierte „Je schreckensvoller diese Welt [...], desto abstrakter die Kunst“), die jedoch nicht seinen tieferen „inneren“ Erfahrungen entspricht, und damit versucht, seine Tendenz zur Abstraktion theoretisch zu legitimieren. Man kann darin eine häufig zu beobachtende Dualität künstlerischen Schaffens erkennen, bei der Künstler bestimmte ästhetische Entwicklungen unabhängig von ihren persönlichen Motivationen und Erfahrungen aufgreifen. Anders gesagt: Epochale ästhetische Trends (wobei das „Epochale“ zunehmend kürzere Zeiträume umfasst) besitzen eine objektive Macht, die sich gleichsam „über die Köpfe“ der betroffenen Künstler hinweg durchsetzt. Kaum ein ernstzunehmender moderner Künstler konnte sich der Abstraktion oder der Tendenz zur Fläche entziehen, ganz unabhängig davon, wie dies persönlich begründet wurde. Kandinsky (1902) spricht deshalb zu Recht auch von der „inneren Notwendigkeit“ einer Epoche. Klees Gedanken zur Abstraktion und zur „kühlen Romantik“ sind ein – auch in ihrer Widersprüchlichkeit – beredtes Beispiel dafür, wie ein Künstler die „innere Notwendigkeit“ einer Epoche mit der ihm eigenen subjektiven „inneren Notwendigkeit“ (seiner Abkehr vom „Pathos“) zu verbinden sucht. Insbesondere die von Kandinsky, teilweise auch von Marc im Kreis des Blauen Reiters proklamierte Abstraktion dürfte Klee dabei beeinflusst haben. Wir werden im Folgenden sehen, wie sich Klee bereits vor seinen programmatischen Sätzen zu Beginn des Jahres 1915 das ästhetische Konzept der Abstraktion aneignete bzw. praktisch umsetzte.

Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte. Zur Ambivalenz der Avantgarde „Abstraktion“ ist für Klee, wie wir gesehen haben, mehr als ein ästhetisches Prinzip: Es ist eine geistige Haltung, die wir in ähnlicher Form auch bei Franz Marc finden. Sie ist für beide Künstler – ebenso für Kandinsky – Teil einer Seinslehre, die die Überwindung des Empirisch-Materiellen hin zum „Geistigen“ zum Ziel hat, eine neoplatonische Wendung der Kunst, wie sie spätestens seit Cézanne charakteristisch für die Moderne ist. Bemerkenswert ist dabei, dass Klee auf diese Übereinstimmung mit Marc – die beiden waren seit 1912 eng miteinander befreundet – nur floskelhaft eingeht6 und nach Marcs Tod dessen ästhetisch-philosophische Position geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Ähnliches gilt für den Einfluss von Delaunay, Macke und Moilliet. Klee unternahm seine Tunisreise zusammen mit den zwei Letztgenannten: Beide werden jedoch – als Künstler – von Klee allenfalls am Rande erwähnt. Erneut kommt bei dieser Ausblendung seiner „Künstlerfreunde“7 ein Stück von Klees Mythos des „Selbstlehrlings“ zum Tragen, seiner Selbstschöpfung und Selbstermächtigung als autonomer Künstler, der am Nullpunkt beginnt und seine Kunst aus sich selbst heraus schafft, sein eigener „Ursprung“ sein will. Als sich Klee und Marc 1912 im Umkreis des Blauen Reiters kennenlernten (vermittelt durch Louis Moilliet), war Marc künstlerisch weiterentwickelter, insbesondere was den Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte  I  83

Umgang mit der Farbe anbelangte, und zweifellos war er auch der weitaus Bekanntere. So mag es Klee geschmeichelt haben, dass Marc geradezu um seine Freundschaft warb, wie u. a. der Briefwechsel und der Austausch gemalter und gezeichneter Postkartengrüße zeigen. Der Austausch der Postkarten zeigt sehr deutlich, dass Klees Stärke noch immer im Zeichnerischen und nicht in der Verwendung der Farbe als autonomes ästhetisches Mittel lag.8 Es gab wechselseitige Besuche der Ehepaare Klee und Marc, und Maria Marc nahm regelmäßig Klavierstunden bei Lily Klee. Zugleich gab es eine über das Künstlerische hinausgehende Übereinstimmung in der spirituellen, geradezu mystischen Orientierung beider Künstler9. Auch nach 1914, als Marc bereits zum Militär eingezogen war, wurde Klee durch Marcs Essays, seine Aphorismen, seinen Briefwechsel mit Marc und durch den Briefwechsel zwischen Franz und Maria Marc detailliert über Marcs Gedanken informiert. Die geistige Übereinstimmung mit Marc hinderte Klee freilich nicht daran, Marc nach dessen Tod 1916 in seinen Tagebucheintragungen in einer Weise zu schildern, die geradezu als Entwertung verstanden werden muss. Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Es gibt beträchtliche Übereinstimmungen zwischen Klees Tagebucheintragungen seit 1915 und Marcs Texten und Briefen seit 1912, so dass Klee nicht umhin kann, darauf hinzuweisen, wie viel er Marc verdankt. Angesichts der engen Beziehungen zwischen den Ehepaaren Klee und Marc ist mit Sicherheit anzunehmen, dass Klee genauestens über Marc informiert wurde. Marc selbst verweist auf diesen Zusammenhang und auf teilweise heftige Diskussionen, die es offenbar zwischen Klee, dessen Frau Lily und Maria Marc gab.10 Nicht zuletzt spielte Klees vehemente Verteidigung der „Romantik“ – deren Ablehnung durch Franz und Maria Marc er „ungeheuerlich“ findet – in diesen Diskussionen eine Rolle. Klee nimmt nach Marcs Tod allerdings selbst dessen Positionen in Anspruch und reklamiert sie für sich. Klees Hang zur Selbststilisierung war offenbar stärker als Freundschaft und Pietät. Dieser Zusammenhang ist – sieht man von Werckmeisters Essay von 1981 ab – von der Klee-Forschung m. E. bisher kaum beachtet worden. Der Blick auf Klee und Marc eröffnet zugleich einen Blick auf geistige und theoretische Positionen der künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ebenso wie Klee Marcs okkultistische Phantasien, seine teilweise verworrene Rezeption der Naturwissenschaften und seine zumindest zu Kriegsbeginn nationalistisch-rassistischen Tendenzen nur am Rande wahrnahm, interessierte sich Marc offenbar auch nicht sonderlich für die tendenziell elitär-antidemokratische Einstellung Klees, der später in der Revolution von 1918 die Herrschaft des Pöbels befürchtete, sie als „banal“ abwertete und die „Halbbildung“ in der Demokratie beklagte11. Differenzen blieben weitgehend hinter dem Nebel einer von beiden geteilten diffusen, „parareligiösen Metaphysik“ (Werckmeister) verborgen, die im Detail – insbesondere hinsichtlich der Bedeutung des Krieges – dann von beiden Künstlern sehr unterschiedlich auf die Realität bezogen wurde. An der Frage des „Ichtums“ und des Krieges – und des von Marc in den Jahren 1914/15 entwickelten missionarischen Kriegspathos – prallten die Meinungen der beiden Künstler aufeinander, manchmal deutlich, häufig allerdings versteckt hinter Andeutungen und Anspielungen. 84  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Am Beispiel von Klee und Marc lässt sich zeigen: Wichtige Repräsentanten der künstlerischen Avantgarde waren nicht bereit oder nicht in der Lage, den soziologischen Ort ihrer Künstlerexistenz, d. h. ihre Zugehörigkeit zu einem konservativ-bürgerlichen Milieu zu reflektieren. An die Stelle einer Reflexion tritt eine diffuse selbstgefertigte Metaphysik, mit der die gesellschaftliche Realität, die bestehende Klassenstruktur und die imperiale Rolle des Deutschen Reichs kaschiert werden12. Dies lässt sich insbesondere an der Polarität von Marcs metaphysischer Überhöhung der chauvinistischen „Ideen von 1914“ und Klees Vorstellung eines „Jenseitigen“ zeigen, in dessen Kontext der Krieg ihn „innerlich“ nichts angeht.13 Kandinsky (1912) wiederum entwickelte eine Art theosophische Soziologie, die in dem Zerrbild der gesellschaftlichen „Pyramide“ mündete, die sich dank geistiger Weiterentwicklung der Menschen vorwärtsbewegt. Die nüchtern-hellsichtigen Analysen des kapitalistischen Systems durch bürgerliche Soziologen wie Georg Simmel und Max Weber (etwa zur Rationalisierung und „Entzauberung“ der Welt), ganz zu schweigen von der marxistischen Gesellschaftskritik, blieben den Avantgarde-Künstlern offenbar unzugänglich. Ein weiteres, aufschlussreiches Beispiel ist Emil Nolde. Nolde hatte noch 1913/14, im Kontext seiner Südseereise, Kolonialismus und Imperialismus mit stringenten Argumenten scharf kritisiert. In den zwanziger und dreißiger Jahren, mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, passte er sich jedoch zunehmend mit antisemitischen und rassistischen Äußerungen an die NS-Ideologie an. Eine Reflexion der politischen und sozialen Bedeutung des Faschismus fand nicht statt. In seinen Bildern ist diese Anpassung kaum auffindbar: Seine Meeresbilder, seine Bilder des Phantastischen und Fremdartigen14 und insbesondere seine expressionistisch-religiösen Bilder konnte er notfalls als „nordisch“ interpretieren, der NS-Kunstdoktrin entsprachen sie jedoch keineswegs. Zwangsläufig wurden seine Bilder 1937 in der Ausstellung Entartete Kunst gezeigt, anschließend wurde er mit absolutem Berufsverbot bestraft. Nolde war naiv genug zu glauben, dass er durch Anbiederung an das rassistische Ideal der NS-Kulturbonzen auch mit seiner Kunst akzeptiert würde. Letztere hatten jedoch ein untrügliches Verständnis dafür, dass möglicherweise zwar Noldes Meeres- und Blumenbilder in ihr Konzept arischer Kunst passen könnten, nicht aber dessen phantastisch-expressionistische Kunst. Auf den mentalitätstheoretischen Hintergrund der parareligiösen Selbstcharismatisierung zahlreicher Künstler, wie wir sie insbesondere bei Klee und Marc finden, ist Zitko in seinen Überlegungen zur Kunstwelt (2012) eingegangen: Die oft neoplatonisch argumentierende Kunstmetaphysik der klassischen Moderne dachte in eine ähnliche Richtung, indem sie den Künstler als ein Medium der Kundgabe höherer Wahrheiten behandelte. Dass sich die Kunst keineswegs bruchlos in die allgemeinen Prozesse der Säkularisierung sozialer Zusammenhänge einreihen lässt, wird schließlich nicht zuletzt am unübersehbaren Fortleben magischer Praktiken im Feld der Kunstrezeption deutlich [...]. Die sukzessive Auflösung von Traditionsbindungen in den neuzeitlichen Gesellschaften, die die ­Entwicklungs- und Handlungsspielräume des Einzelnen erheblich erweitern, bringt indessen ein Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte  I  85

40  Emil Nolde, Begegnung am Strand, 1920, Öl auf Leinwand, 86,5 x 100 cm, Nolde Stiftung Seebüll (Urban 918)

41  Emil Nolde, Verlorenes Paradies, 1921, Öl auf grober Leinwand, 106,5 x 157 cm, Nolde Stiftung Seebüll (Urban 952)

deutlich erhöhtes Maß an Irritabilität und Unsicherheit in den Persönlichkeitssystemen hervor [...] Anders als in den Kulturen des Mittelalters, in denen der Lebensweg des Einzelnen durch gesellschaftliche Rollenbilder weitgehend vorgezeichnet war, sieht sich das Individuum zunehmend mit dem kaum je abzuarbeitenden Problem der Legitimation und Stabilisierung eigener Existenz konfrontiert. Diese Situation bildet eine Rahmenbedingung der Produktion und Erfahrung von Kunst insbesondere im Zeitalter der Moderne.15

Klee hat versucht, sich diese Legitimation durch Selbststilisierung als „jenseitiger“, dem Kosmos und dem „Urgrund“ naher Künstler zu schaffen, eine Selbststilisierung, die – mit 86  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

tatkräftiger Unterstützung durch Klee selbst – bereits von seinen ersten Biographen Zahn (1920) und Hausenstein (1921) übernommen wurde16, von Klees Galeristen Goltz und Walden gefördert und später von Biographen wie Haftmann, Grohmann und Giedion-Welcker zur charismatischen Aura des weltentrückten, asketischen Künstlers ausgearbeitet wurde – ein Prozess der „Heiligsprechung“, wie spätere, kritischere Biographen süffisant anmerkten. Marc ging einen etwas anderen, wenn auch durchaus ähnlichen Weg. Er blieb nicht bei seiner anfänglichen Naturmetaphysik stehen. Vielmehr interpretierte er (insbesondere in seinen letzten Lebensjahren 1914–1916) sein Leben, seine Kunst, sein Verständnis des Krieges und seine Vorstellung einer Erneuerung Europas durch den Krieg zunehmend quasi religiös, bis hin zu der Vorstellung, dass das „wahre Sein“ (Marc) erst im Tode erreichbar sei, mit der Loslösung von jeder Form von Materialität.17 Eine derartige Vorstellung von Kunst ist profanen Kriterien nicht mehr zugänglich. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess der Selbstlegitimierung und Selbstimmunisierung der Kunst gegenüber Kritik, wie wir ihn auch bei Klee finden. Marcs Missverständnis war, dass seine Verherrlichung des Kriegs mit der viel banaleren, politisch geförderten Glorifizierung des Heldentodes für das Vaterland übereinstimmte, die er dann „metaphysisch“ überhöhte. Die Freundschaft und das zugleich spannungsvolle Verhältnis von Klee und Marc werden nirgendwo deutlicher als in der Einstellung der beiden Freunde zum Krieg. Hier werden in komprimierter Form die selbstgefertigten religiös-metaphysischen Positionen bzw. Differenzen der beiden Künstler erkennbar. Der Krieg geht Klee „innerlich nichts an“ (Tgb. 952), auch der „Staat“ „kümmert“ ihn nicht18, er distanziert sich von beiden, rettet sich im Kontext seiner „kühlen Romantik“ aus dem Diesseitigen ins Jenseitige und schließlich in den Kosmos19. Für Marc hingegen ist der Krieg ein Weg zu einer neuen Geistigkeit, er ist Bestandteil seiner privaten „Heilsgeschichte“.20 Erst 1916 verändert sich Marcs Einstellung zum Krieg und weicht einer kritischeren, geradezu fatalistischen Haltung, ohne freilich den Krieg selbst in Frage zu stellen. Pointiert lässt sich sagen: In der Einstellung zum Krieg werden zwei unterschiedliche „Heilswege“ deutlich: Erneuerung Europas und der Kunst durch den Krieg (Marc) bzw. Distanzierung vom Krieg durch parareligiöse Versenkung in den Bereich des „Jenseitigen“ (Klee). Marc hat diese Haltung zum Krieg nicht selbst „erfunden“. In den Grundzügen gleichen Marcs Gedanken den „Ideen von 1914“, einem Konglomerat von antidemokratischen und nationalistischen Vorstellungen, wie sie von zahlreichen deutschen Intellektuellen und Politikern vor 1914 verbreitet wurden. Ein zentrales Konzept dieser „Ideen“ bestand darin, der deutschen „Kultur“ entwertend die romanische und englische „Zivilisation“ gegenüberzustellen. Den antienglischen Affekt der „Ideen von 1914“ übernimmt Marc praktisch unmodifiziert. „Der Engländer“ verkörpert für ihn den verhassten Pragmatismus und Utilitarismus, wobei er sich u. a. auf Nietzsche bezieht. Ernst Lissauer hatte 1914 das Gedicht „Haßgesang gegen England“ veröffentlicht, das sich größter Beliebtheit erfreute21. „Gott strafe England“ wurde geradezu zu einer Grußformel. Auch Werner Sombart stimmte mit seinem chauvinistischen Pamphlet Händler und Helden in Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte  I  87

42  Max Beckmann, Die Kriegserklärung, 1914, Kaltnadelradierung, 20 x 24,9 cm, Privatbesitz

die allgemeine Englandkritik ein und bezichtigte England einer „händlerischen Kriegsführung“.22 Allerdings war die Begeisterung keineswegs allgemein: Viele hofften noch, dass England im beginnenden Krieg neutral bliebe. Zahlreiche bildende Künstler, Schriftsteller und Kunstkritiker teilten Marcs Kriegsbegeisterung und meldeten sich als Kriegsfreiwillige. Die meisten freilich waren schnell desillusioniert oder hielten dem Druck der Kriegsereignisse physisch und psychisch nicht stand. Kirchner und Beckmann (der sich zum Sanitätsdienst gemeldet hatte) erlitten Nervenzusammenbrüche. Grosz wurde als dienstuntauglich entlassen, 1917 wieder eingezogen und anschließend in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Beckmann stand dem Krieg zwar skeptisch gegenüber, erlebte ihn aber, wie auch seine Kriegszeichnungen zeigen, in einer Art masochistischer und zugleich sadistischer Faszination. „Es hat ein wildes, fast böses Lustgefühl, so mitten zwischen Tod und Leben zu stehen“, schrieb er an seine Frau.23 Beckmanns Radierungen aus der Zeit des Kriegsbeginns, etwa Die Kriegserklärung oder Die Granate (beide 1914), zeigen jedoch keinerlei Kriegsbegeisterung. Die teils skeptischen, teils ängstlichen Gesichter in Kriegserklärung galten in der Zeit ihrer Entstehung geradezu als defätistisch. Ähnlich geartet waren, wie wir sehen werden, Klees Zeichnungen zum Kriegsbeginn: Sie zeigen keinerlei Euphorie, sondern Zerstörung und Tod. Einer Künstler-Metaphysik, wie sie auch Klee und Marc vertraten, steht Beckmann freilich distanziert gegenüber: „Aus einer falschen und sentimentalen Geschwulstmetaphysik heraus werden wir jetzt hoffentlich zu der transzendentalen Sachlichkeit kommen, die aus einer tieferen Liebe zur Natur und den Menschen hervorgehen kann [...].24 Anders als die zuletzt genannten expressionistischen Künstler waren zahlreiche ­Vertreter des Impressionismus glühende Verfechter des Krieges. In dem wöchentlich 88  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

43  Max Beckmann, Die Granate, 1914, Kaltnadelradierung, 39,6 x 28,9 cm, Privatbesitz

erscheinenden Blatt Die Kriegszeit veröffentlichte Liebermann Lithographien, die mit Aussprüchen von Wilhelm II. unterschrieben waren, zum Beispiel mit „Jetzt wollen wir sie dreschen“.25 Besonders taten sich dabei Julius Meier-Graefe und Karl Scheffler hervor, also gerade diejenigen Kritiker, die Klee mit ironischem Unterton als seine impressionistischen „Lehrer“ bezeichnet hatte. Die erste Ausgabe von Die Kriegszeit enthielt ein handschriftliches und faksimiliertes Bekenntnis von Meier-Graefe, in dem der Kritiker sich an die deutschen Künstler wendete: „Aus Feuersschlünden, aus Not und Blut, aus Liebe und heiligem Hass wird uns Erlebnis. Wehe dem Künstler, der heute nicht erlebt.“26 Noch martialischer, von chauvinistischem Pathos geradezu triefend, äußerte sich Karl Scheffler, der mit Kunst und Künstler eine der einflussreichsten Kunstzeitschriften der Vorkriegszeit herausgab. Auf „blutgedüngtem Boden“ erwartete er reichhaltige Ernte. Ähnlich wie für Marc war für ihn der Krieg eine „Gnade“, ein Zeichen des „Weltgeistes“.27 Selbst der von Klee lange Zeit bewunderte Simplicissimus, der in der Vorkriegszeit liberal und obrigkeitskritisch war, schwenkte auf die Linie der Kriegsbefürworter ein. Eine Kriegsnummer (1916) der Zeitschrift zeigt den zähnefletschenden Hund, der zum Sinnbild des Simplicissimus geworden war, unter einem säbelschwingenden deutschen Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte  I  89

Kavalleristen (der in dieser Zeit allerdings kaum mehr eine kriegerische Bedeutung besaß). Wiederum zeigte sich, dass in diesem alles übertönenden Chor der Kriegsbegeisterung fast ausschließlich die expressionistisch orientierten Zeitschriften, Herwarth Waldens Der Sturm und Franz Pfemferts DIE AKTION, pazifistisch gesinnt blieben.28 Die „Ideen von 1914“ wurden später Teil des nationalsozialistischen Gedankenguts.29 In den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) hat der junge Thomas Mann die antidemokratische und antizivilisatorische Tendenz dieser Gedanken auf den affirmativen Punkt gebracht: „[...] Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur, wie in Frankreich oder England.“30 Seinen Bruder Heinrich Mann, mit dem er bis zu Beginn der Weimarer Zeit in heftigster Fehde lebte, bezeichnete er demgemäß auch als „Zivilisationsliteraten“. Ähnlich wie für Marc ist auch für Thomas Mann der Krieg eine „Veredelung“ des Menschen. In diesem Punkt stimmen beide mit der Agitation des von Hugenberg31 geförderten „Alldeutschen Verbandes“ überein, der in Deutschland am lautstärksten die Kriegspropaganda betrieb. Auch für den „Alldeutschen Verband“ war der Krieg der Motor für die „Höherentwicklung“ der Menschheit, insbesondere natürlich Deutschlands. Dass die Kriegsbegeisterung nicht nur eine Sache deutscher Intellektueller und Künstler war, sondern auch in der europäischen Avantgarde vertreten war, zeigt beispielsweise Marinettis futuristisches Manifest (1909): „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus [...] und die Verachtung des Weibes.“32, 33 Auf einer Postkarte schreibt Marc zu Beginn des Krieges (16.11.1914) an Kandinsky: ... mein Herz ist dem Krieg nicht böse, sondern aus tiefem Herzen dankbar, es gab keinen anderen Durchgang zur Zeit des Geistes, der Stall des Augias, das alte Europa konnte nur so gereinigt werden, oder gibt es einen einzigen Menschen, der diesen Krieg ungeschehen wünscht.34

Gleichsam als indirekte Antwort auf diese – ihm zumindest in den Grundzügen vertraute – Position Marcs schreibt Klee an Marc, mit vorsichtiger Kritik: Eigentlich sind doch wir gerade gegenwärtig hart betroffen worden in unseren zartesten Hoffnungen. Sie aber ersetzen den Verlust durch die kühnsten Erwartungen. Und wie wenige Deutsche sind wir doch noch – und trotzdem?!35

Deutlicher äußert sich Klee in einem Brief an Hermann Rupf, einem Berner Freund, der begann, Werke Klees zu sammeln: Was für ein Unglück für uns alle ist dieser Krieg und insbesondere für mich, der ich Paris so viel verdanke und geistige Freundschaft mit den dortigen Künstlern pflege. Wie wird man nachher sich gegenüberstehen. Welche Scham über die Vernichtung auf beiden Seiten.36

Auch in einem weiteren Brief an Marc äußert sich Klee kritisch gegenüber dem Krieg, in dem er – anders als Marc – an der Idee des Internationalismus festhält: 90  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Es könnte uns als Russe, Serbe, Franzose der eine oder andere scheinbar verloren gehen, sein Wesenskern bleibt uns jedoch erhalten, weil er immer im Grunde das selbe will wie wir. Im ersten Schrecken hatte ich an einen Zusammenbruch der Internationale gedacht. Es ist aber nicht möglich.37

Klee vermag die Folgen des Krieges einigermaßen realistisch und kritisch einzuschätzen – und desavouiert damit die Marc’sche bizarre Behauptung, es gebe keinen einzigen Menschen, der den Krieg „ungeschehen“ wünsche. Angesichts einer derart konträren Haltung dem Krieg gegenüber: Krieg als Unglück und Vernichtung (Klee), Krieg als Weg zur Vergeistigung, als Heilsweg (Marc), ist es fast verwunderlich, dass beide Künstler über Jahre eine intensive Freundschaft pflegen konnten. Verwunderlich ist auch, dass diese Kontroversen nicht schon früher auftauchten, da Marc seine Gedanken schon 1912, wenn auch in abgeschwächter Form, als messianische Verkündigung einer neuen „geistigen“ Religion in tendenziell aversiver Abgrenzung gegenüber der französischen Kunst, bereits im Almanach Der Blaue Reiter vortrug – an prominenter Stelle also38. Marc verkündete nichts weniger als die „Morgenröte“ einer „neuen Zeit“. Es ist unwahrscheinlich, dass Klee, für den die Aufnahme in den Kreis des Blauen Reiters gleichsam das Entrée in die künstlerische Avantgarde war und dessen Almanach seine Freunde Kandinsky und Marc herausgaben (er selbst war mit der Federzeichnung Steinhauer darin vertreten), den Almanach nicht gelesen hatte. Marcs Gedanken mussten Klees Skepsis gegenüber jeglicher Art von geistig-gesellschaftlichem Fortschrittsglauben zutiefst zuwidergelaufen sein. Im Almanach Der Blaue Reiter formuliert Marc mystisch-religöse Gedanken, die sich zunächst nur auf die Kunst und Künstler beziehen (in Anspielung auf die Fauves spricht er von den „Wilden“ Deutschlands, zu denen er die Dresdner Brücke, die Berliner Neue Secession und die Münchner Neue Künstlervereinigung zählte), letztlich aber auf eine geistige Erneuerung zielen, auf eine „Neugeburt des Denkens“.39 „Die Mystik erwacht in ihren Seelen und mit ihr uralte Elemente der Kunst“.40 Ziel ist, neue „Symbole“ zu schaffen, die „auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören“.41 Zwar sind die „jungen Franzosen und Russen“, die bei den „Wilden“ ausstellten, willkommen, gleichwohl ist eine Abgrenzung – die einer Entwertung gleicht – gegen Frankreich (gegen den Kubismus und indirekt auch gegen Delaunays „prismatischen“ Orphismus) deutlich: Die schönsten prismatischen Farben und der berühmte Kubismus sind als Ziel diesen ‚Wilden‘ bedeutungslos geworden [...]. Nicht alle ‚Wilden‘ in Deutschland und außerhalb träumen von dieser Kunst und diesen hohen Zielen. Um so schlimmer für sie. Sie mit ihren kubistischen und sonstigen Programmen werden nach schnellen Siegen an ihrer eigenen Äußerlichkeit zugrunde gehen.42

Auch in dem scharfen Ton gegenüber künstlerischen Strömungen, die ihnen missfielen, gleichen sich Marc und Klee. Klee wird später die Impressionisten pauschal als Künstler verurteilen, die im „Bodengestrüpp“ der täglichen Erscheinung verhaftet geblieben Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte  I  91

sind.43 Es bleibt in Marcs Almanach-Texten zunächst offen, worin die neue „geistige Religion“ besteht. Der messianische Ton ist freilich deutlich44. Parallelen zu Kandinskys neuer „Geistigkeit“, dem „Großen Geistigen“ sind offensichtlich. Diese Parallelen haben mög­ licherweise bei Klee aber auch die Einsicht verhindert, dass die von Marc verkündete ­ „Neugeburt des Denkens“ bereits 1912 unverkennbar nationalistische Tendenzen aufwies (die zumindest Kandinsky fremd waren). Nachdem Marc auf den schädlichen Einfluss der Wissenschaft auf die Religion hingewiesen hat (er wird später eine diametral entgegengesetzte Einstellung zur Wissenschaft einnehmen), schreibt Marc: Wohl fühlt man, dass eine neue Religion im Lande umgeht, die noch keinen Rufer hat, von niemand 44  Der Blaue Reiter, Umschlagbild des Almanachs „Der blaue Reiter“, 1912

erkannt [...] Es sind eigenwillige, feurige Zeichen einer neuen Zeit, die sich heute an allen Orten mehren. Dieses Buch soll ihr Brennpunkt werden, bis die Morgen-

röte kommt und mit ihrem natürlichen Lichte diesen Werken das gespenstige Aussehen nimmt.45

Zunächst fühlte Klee durch die nunmehr folgenden, zunächst vorwiegend ­kunst­theoretischen Überlegungen Marcs erneut eine Geistesverwandtschaft mit ­seinem Freund. In den Schriften bis Mitte 1914 versucht Marc dann zu prä­zisieren, was er unter der „neuen Religion“ versteht: Es handelt sich um eine Frage des wahren, „unteilbaren“, „unirdischen“ oder „eigentliche[n] Seins jenseits aller Sinnestäuschungen“. In Zur Kritik der Vergangenheit (Mitte 1914) beschreibt Marc in komprimierter Form seine Kunst- und Lebens- (bzw. Todes-)Philosophie: Die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein, nach Befreiung von den Sinnestäuschungen unseres ephemeren Lebens ist die Grundbestimmung aller Kunst. Ihr großes Ziel ist, das ganze System unsrer Teilempfindungen aufzulösen, ein unirdisches Sein zu zeigen, das hinter allem wohnt, die Spiegel des Lebens zu zerbrechen, dass wir in das Sein schauen. Es gibt keine soziologische oder physiologische Deutung der Kunst. Ihr Wirken ist durchaus metaphysisch.46

Hier stimmt Marc noch weitgehend mit Klee überein, der vom Diesseitigen ins Jenseitige hinüber„bauen“ wollte. Marc freilich radikalisiert – in direktem Zusammenhang zu dieser Formulierung – dieses „unirdische Sein“. 92  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Der Tote kennt nicht Raum und Zeit und Farbe, oder nur soweit er in der Erinnerung der Lebenden noch ‚lebt‘. Mit dem Tode beginnt das eigentliche Sein, das wir Lebende unruhvoll umschwärmen wie der Falter das Licht.47 (Hrv. MC)

An dieser Stelle fällt nicht nur die bereits erwähnte Ähnlichkeit mit der von Platon geschilderten Haltung des Sokrates auf,48 sondern auch mit einer der bekanntesten Äußerungen Klees, die lange Zeit als eine Tagebucheintragung galt, in Wirklichkeit aber für den Katalog seiner großen Ausstellung in der Galerie Goltz in München (1920) verfasst und anschließend in Zahns Klee-Biographie (1920) wiederholt wurde: Diesseitig bin ich gar nicht fassbar. Denn ich wohne grad so gut bei den Toten, wie bei den Ungeborenen. Etwas näher am Herzen der Schöpfung als üblich. Aber noch nicht nahe genug. Geht Wärme von mir aus? Kühle??49

Im Unterschied zu Marcs Diktum lässt sich diese Äußerung Klees aber nicht so verstehen, dass erst im Tode das „eigentliche Sein“ beginnt, sondern dass er bei den Toten und Ungeborenen „lebt“, also in der Vergangenheit und in der Zukunft nahe am „Herzen der Schöpfung“, d. h. in einem Bereich jenseits der menschlichen Triebe und Leidenschaften. Franciscono, wenig beeindruckt von Klees Pathos, spricht davon, dass Klee sich hier publikumswirksam „dramatisiert“ („dramatizing himself for the public“).50 Marc dagegen hat aus ontologischer Perspektive das Verhältnis von Leben und Tod umgekehrt und sieht das eigentliche Sein im Tode, eine Art Todessehnsucht, die ihn allerdings ein Stück weit in die Nähe der politisch motivierten Verherrlichung des Heldentodes bringt. Wir werden später sehen, dass diese Vorstellung des Todes als eigentliches Sein den metaphysischen Hintergrund von Marcs Kriegsbegeisterung darstellt, obwohl er dies nicht direkt ausspricht und stattdessen die Idee einer notwendigen „Reinigung“ Europas auf dem Weg zu einem neuen geistigen Europa propagiert. Marc war sich offenbar bewusst, dass seine Verklärung des Krieges, seine „Ideen“, wie sie in seinen Essays ab Herbst 1914 immer stärker in den Vordergrund treten, unscharf waren und Außenstehenden verworren erscheinen mussten. Er spricht deshalb auch von einem für andere noch nicht zugänglichen „Geheimwissen“. Kandinsky, dem er seine „Ideen“ anvertraute, war deshalb auch konsterniert und bemerkte lakonisch, dass mit einer „Idee“ eine „präzise Vorstellung“ verbunden sein müsse.51 Bemerkenswert an dem Aufsatz „Zur Kritik der Vergangenheit“ ist auch das von Marc formulierte Wissenschaftsverständnis, weil es dem später von ihm propagierten Verständnis der „exakten Wissenschaft“ als zentralem Weg der Seinserhellung diametral entgegengesetzt ist. Hier sieht er den „erzieherische[n] Wert der Wissenschaft“ „[g]erade in der Irrationalität der Wissenschaft“. So verwundert es auch wenig, wenn Marc „das Geistige, das wir so feierlich prophezeiten“, anhand okkulter Phänomene erläutert. Es darf vermutet werden, dass Marc hier von den theosophischen Spekulationen Helena Blavatskys beeinflusst war (die auch Kandinsky bekannt waren, wobei Kandinsky, ähnlich wie Klee, im Gegensatz zu Marc eine eher skeptische Distanz zur Theosophie beibehielt): Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte  I  93

Alle okkultischen Phänomene haben in der Form, in der sie sich uns heute zeigen, ein äußerliches Analogon, das man die materialisierte Form immaterieller Ideen nennen könnte. Das mediumistische Durchdringen einer Materie können wir durch die X-Strahlen gewissermaßen experimentell ausführen, das Schweben, d. h. das Aufheben eines spezifischen Gewichtes durch magnetische Experimente belegen. Ist nicht unser Telegraphenapparat eine Mechanisierung der berühmten Klopftöne? Oder die drahtlose Telegraphie eine Exempel der Telepathie? Die Grammophonplatte scheint experimentell zu beweisen, dass die Verstorbenen noch zu uns reden können.52

Im Gegensatz zu seiner späteren Entwertung des Materiellen ist Marc hier offenbar noch von den theosophischen Spekulationen über die Identität von Geist und Materie (wie wir sie später etwa auch bei Mondrian finden) beeinflusst. In „Zur Kritik der Vergangenheit“, zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns, hat Marc seine Vorstellung von Kunst im System eines okkultistisch gefärbten „Geheimwissens“ verortet, dessen Fluchtpunkt die Idee eines „eigentlichen Seins“ jenseits des Lebens ist, d. h. im Tode liegt. Das Wirken der Kunst ist somit „durchaus metaphysisch“. Marc steht in der Tradition einer weitver­ breiteten esoterisch-metaphysischen Tendenz der Avantgarde, in der insbesondere die Lehren von Blavatsky und Steiner eine prominente Rolle spielten. In dem folgenden Aufsatz „Im Fegefeuer des Krieges“ (Oktober 1914) wird der „sagenhafte Krieg“, in dem Europa sich befindet, buchstäblich mythisiert und mystifiziert, zugleich auch als Weg zu dem bisher unbestimmt Gebliebenen „Geistigen“, dem „Idealen“, stilisiert: Der Artilleriekampf hat selbst für den Artilleristen oft etwas Mystisches, Mythisches. Wir sind Kinder zweier Welten. Wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts erfahren täglich, dass alle Sage, alle Mystik, aller Okkultismus einmal Wahrheit wird, also auch einmal Wahrheit gewesen ist. Was Homer von dem unsichtbaren, donnergrollenden Zeus singt, dem fernhintreffenden, und von Mars mit seinen unsichtbaren Pfeilen, wir haben es zur Wahrheit gemacht. [...] Das Volk ahnt, dass es erst durch den großen Krieg gehen musste, um sich ein neues Leben und neue Ideale zu formen. Es behielt recht mit seinem Unwillen, in elfter Stunde neue Kunstideen aufzunehmen. Man sät nicht feinen Samen, wenn ein Sturm am Himmel steht.53

Es darf bezweifelt werden, ob das Volk ahnte, dass es „erst durch den großen Krieg gehen musste“, ob das „Volk“ deshalb unwillig war, „neue Kunstideen“ aufzunehmen, weil es erst ein „neues Leben“ und „neue Ideale“ durch den Krieg formen wollte, wobei Marc noch immer offen lässt, was dieses „Neue“ sein sollte. Die Bereitschaft für neue Kunstideen im Marc’schen Sinne war nach dem Krieg nicht höher als vorher. Wenn das „Volk“ nach dem Krieg für neue Ideen offen war, dann für solche, die – entgegen Marcs Vorstellung – das sinnlose Töten und die Gräuel des Kriegs anprangerten. Selbst noch in relativ apologetischen Büchern wie etwa Jüngers In Stahlgewittern wird – trotz aller Glorifizierung des Kampfes und des Heldentums – die Sinnlosigkeit des Tötens deutlich. Die nüchterne, geradezu protokollarische Darstellung Jüngers zeigt ein völlig anderes Bild als Marcs schwülstige Kriegsmetaphysik, nicht zuletzt auch des „mythischen“ Artille94  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

riekampfes. Jüngers Schilderungen zeigen, dass der größte Teil der menschlichen Opfer nicht auf dem „Heldentum“ des individuellen Kampfes, sondern auf der massenhaften Vernichtung durch den Artilleriekampf beruhte: Nach kurzem Aufenthalt beim Regiment hatten wir gründlich die Illusionen verloren, mit denen wir ausgezogen waren. Statt der erhofften Gefahren hatten wir Schmutz, Arbeit und schlaflose Nächte vorgefunden, deren Bezwingung ein uns wenig liegendes Heldentum erforderte. Schlimmer noch war die Langeweile, die für den Soldaten entnervender als die Nähe des Todes ist.54

Die anfängliche und schnell verflogene Kriegsbegeisterung, die zumindest nicht auf weite Teile der Sozialdemokratie zutraf (sie wies beizeiten auf die wahrscheinlichen Konsequenzen eines Krieges hin, stimmte aber dann doch den Kriegskrediten zu), war einerseits ein Ergebnis von kriegsvorbereitender Propaganda (einschließlich der von bürgerlichen Intellektuellen verbreiteten „Ideen von 1914“), bei denen nicht zuletzt der Hugenberg-Konzern eine bedeutende Rolle spielte, andererseits ein Reflex auf den schnell und mit relativ geringen Opfern gewonnenen Krieg gegen Frankreich 1871. Überlegungen dieser Art kommen auch bei Marc nirgendwo vor – sie werden sogar explizit zurückgewiesen. Auch die weltweit angeprangerten Gräueltaten der deutschen Armee beim Einmarsch in Belgien 1914 – es werden Hunderte von Zivilisten erschossen – werden von Marc ignoriert.55 Trotz aller Opfer und Gräuel, bleibt der Krieg für ihn im Kern ein geistiges Phänomen, der Weg zu einem neuen und besseren „Europa“. Im Kampf um Europa – und später auch in Europa selbst – soll Deutschland, so Marc, eine führende Rolle spielen. Deutschland nimmt geradezu das Opfer auf sich, den Kampf um das neue Europa zu führen. In seinem Aufsatz vom Oktober 1914 („Im Fegefeuer des Krieges“) schreibt Marc: [...] heute besorgen wir das Letzte: diesen entsetzlichen Krieg. Wer ihn draußen miterlebt und das neue Leben ahnt, das wir uns mit ihm erobern, der denkt wohl, dass man neuen Wein nicht in alte Schläuche fasst. Wir werden das neue Jahrhundert mit unserem formbildnerischen Willen durch­ setzen.56

Hier taucht erneut der Gedanke auf, den Marc bereits in seinen Aufsätzen im Blauen Reiter 1912 formuliert hatte: die Bedeutung der Kunst für die Erringung des neuen „Geistigen“, der neuen Religion. Hier wird die Kunst nunmehr auf den Krieg selbst angewandt: Die formbildenden Kräfte der Künstler und aller „Geistigen“ prägen das neue Jahrhundert über den Weg des Krieges. Dieses „Geistige“ wird von Marc eher paraphrasiert, in immer neuen Wendungen umkreist. Zum einen handelt es sich um ein „Absolute[s]“, das Marc, ähnlich wie später in seinen Aphorismen, in den „exakten Wissenschaften“ sieht. „Alle modernen Menschen, die guten Europäer stehen im Banne und Bunde dieses Reiches“ (ebd., S. 161). Zum anderen geht es in einem erweiterten Sinne, ähnlich wie bei den „exakten Wissenschaften“, um die Reinheit: Paul Klee und Franz Marc: Kunst und Krieg als Heilsgeschichte  I  95

Die Lust des reinen Wissens um die Dinge, die Erlösung vom Stoffglauben, Beherrschung und Überwindung des Stoffes, das Herrentum des Europäers, der seine Hand zwischen die Maschen der Natur schiebt, die Macht zu ‚binden und zu lösen‘, Paradigma aller alten Religionswunder, ihre Überwindung durch keusches Wissen – das ist das neue, endliche Europa.57

Das „neue Europa“, der „gute Europäer“ ist das geistige Leitbild Marcs. Allerdings wird dieses Leitbild Europas – anders als Marc-Apologeten dies sehen – von Marc nationalistisch und zugleich rassistisch verstanden. Der „kommende Typ des Europäers wird der Deutsche sein; aber zuvor muß der Deutsche ein guter Europäer werden“ (S. 161). So versucht Marc etwa zu zeigen, dass der Krieg nicht rassistisch ist, weil nämlich die „germanische Rasse“ zugleich die deutsche Rasse ist und folgert dann: „Man wird sich endgiltig [sic!] daran gewöhnen, statt ‚germanisch‘ das Wort ‚deutsch‘ zu setzen“ (ebd., S. 159). Es wird zu einem Europa unter deutscher Führung kommen, wobei es allerdings auch darum geht, andere Kulturen (etwa die französische) nicht „auszuschwefeln“, sondern deren beste Teile zu assimilieren: Das Deutschtum wird nach diesem Krieg über alle Grenzen schwillen. Wenn wir gesund und stark bleiben und die Frucht unseres Sieges [sic!] nicht verlieren wollen, brauchen wir eine ungeheure Saugkraft und einen Lebensstrom, der alles durchdringt, ohne Angst und Bedenken vor dem Fremden, Neuen, das unsere Machtstellung in Europa [sic!] bringen wird. Wie früher einmal Frankreich das Herz Europas war, wird es von nun an Deutschland sein [...].58 (Hrv. MC)

In seinem Aufsatz „Das geheime Europa“ (November 1914) wird Marc ein Stück weit deutlicher: Es gehe um „Reinigung“, um ein neues Europa, das nur dadurch erreicht werden könne, wenn der „Stall des Augias“ gereinigt und der „unsichtbare[n] Feind des europäischen Geistes“ besiegt werde: Um Reinigung wird der Krieg geführt und das kranke Blut vergossen.59 (Hrv. Franz Marc)

Wir erfahren nicht, wer der Feind des europäischen Geistes sein mag, da er ja „unsichtbar“ ist, allenfalls, dass es auch ein „innerer Feind“ ist. Und wessen „krankes Blut“ soll vergossen werden: das des Feindes oder auch der eigenen Landsleute, deren Blut möglicherweise ebenfalls „krank“ ist?60 Und wie erkennt man, wer krankes Blut besitzt? Nach dem Krieg jedenfalls wird man die „Dummheit und Dumpfheit“ auch im Inneren bekämpfen müssen (ebd., S. 163). Wenig später schreibt er: Das „alte Gift wird mit dem Blute ausgegossen“ (ebd., S. 166). War man zunächst nur über das Okkultistisch-Mystische der Marc’schen Gedanken konsterniert, ähnlich wie Kandinsky es war, so kann man sich hier wohl eines Schauderns nicht erwehren. Marc greift hier auf Gedanken zurück, auf den Mythos des „reinen Blutes“, des „Blutopfers“ (ebd., S. 163), die zum geistigen Repertoire des Faschismus gehören und Millionen das Leben gekostet haben – daran ändert auch seine Orientierung an einem „neuen Europa“ nichts, weil er sich dieses „neue Europa“ nicht anders als ein Europa unter deutscher Hegemonie vorstellen kann. 96  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Verglichen mit Marcs Anspruch, ein „gesamtes Deutungssystem“ entwickelt zu haben, das „Wesen der Dinge“ erkannt zu haben und zur „Welt>durchandurchauch< Geist ist. Aber was für eines langen Wegs [...] hat es bedurft, um zu erkennen, daß die Welt nur Geist, nur Psyche ist und die zaubervollen Naturgesetze nur unsere zweite, geistigere, tiefere Form und Formel für die Psyche, für unsere 100  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

eigene Psyche bedeuten. Die Naturgesetze sind das Werkzeug unserer zweiten, besseren Einsicht, unseres zweiten Gesichts, mit dem wir das Weltgeschehen heute betrachten. (Nr. 44)

An anderer Stelle fügt er, unter nicht weiter erläuterter Berufung auf Kant, hinzu, dass die Gravitationsgesetze „nur reine Anschauungsform der Liebe“ seien (Nr. 76). Marcs Texte lassen keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der „exakten Wissenschaft“ und mit ihrem Stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkennen74. Die Naturwissenschaften sind für Marc vielmehr eine Projektionsfläche für einen ganzen Gedankenkomplex: Philosophie des Absoluten, Verkörperung des „Reinen“, neues Europäertum – und schließlich Werkzeug des „Zweiten Gesichts“ (so der Untertitel der Aphorismen). Marc kann sich nicht entscheiden, ob er unter „exaktem Wissen“ spekulative, metaphysische Philosophie oder moderne Naturwissenschaft verstehen will, so dass er im selben Aphorismus das kritisch-naturwissenschaftliche Denken und Glauben gleichsetzt, um im selben Atemzug wiederum den „Glauben der Väter“ (ohne diesen Glauben präziser zu benennen) zu kritisieren (Nr. 42). Im folgenden Aphorismus präzisiert Marc dann noch einmal das Credo der „exakten Wissenschaft“ als die neue Form des „Glaubens“ und verbindet dies zugleich mit dem Problem der „Form“: Unser Glaube ist das zweite Gesicht, die zweite Stufe der Erkenntnis, die exakte Wissenschaft. Unser Glaube des Wissens wird seine große Form im 20. Jahrhundert haben.

Auch wenn diese Aphorismen an der Front, „im Sattel“ (Nr. 57), geschrieben wurden, so fällt gerade bei Marcs Gedanken zur Wissenschaft ein hohes Maß an Inkongruenz, ja Verworrenheit der Gedankengänge auf. Gerade bei Marc wird – deutlicher noch als bei Klee – ein Merkmal der künstlerischen Avantgarde deutlich. Häufig greift sie zur Legitimation ihrer Kunst auf Philosophie und Wissenschaft aus zweiter oder dritter Hand zurück. Da Marc große Mühe hat, sein Ideal der „Reinheit“ zu definieren, sucht er letztlich Zuflucht zu einer vorgeblich „reinen“, „exakten“ Wissenschaft. Kunst: Der „Fluchtversuch der Deutschen in die Musik brachte nicht die Befreiung“, gleichwohl war sie die „platonische Liebe der Deutschen“ zur Wahrheit, zum Absoluten. Es war gleichsam ein Traum – jetzt wird der „wahre Kampf“ um die Form, um die Wahrheit und das Absolute in anderer Weise, d. h. im Krieg, geführt: Doch der wahre Kampf um das neue Europa und die neue Form wird auf einer anderen Walstatt geführt. Nicht in Träumen. (Nr. 5) Der große Krieg hat dem hoffnungslosen Treiben ein Ende gesetzt und fuhr als deus ex machina reinigend über die europäische Bühne; wenigstens könnte man endlich erwarten, daß an die Stelle der Reform die Form tritt. (Nr. 6)

Vor dem Hintergrund der Marc’schen Überlegungen zum Krieg, zu Europa und zum Wissen wirken seine Gedanken zur Kunst vergleichsweise schlicht, gleichsam als Anhängsel der bereits vorgetragenen Gedanken. Die Gedanken zum „exakten Wissen“ als Glaubenssystem werden auch auf die Kunst übertragen, Kunst wird Ausdruck der neuen Religion: Exkurs: Franz Marcs Aphorismen  I  101

Die kommende Kunst wird die Formwerdung unserer wissenschaftlichen Überzeugungen sein; sie ist unsere Religion, unser Schwerpunkt, unsere Wahrheit. Sie ist tief und schwer genug, um die größte Formgestaltung, Formumgestaltung zu bringen, die die Welt erlebte. (Nr. 37)

Auch die bisherige Kunst zeigt dasselbe „Krankheitsbild“ wie Europa, wobei auch hier unklar bleibt, welche die Ursachen und Erscheinungsbilder dieser Krankheit der Kunst sind. Klar bleibt lediglich, dass durch die langen Kriegsvorbereitungen für das „Kunstwollen“ „kein Raum“ bestand (Nr. 8), dass der Krieg der Weg zur neuen Form sei und – wie Marc gegen Ende seiner Aphorismen deutlich macht – die „Abstraktion“ die neue Kunstform sein werde: So erscheint dem späten Denken das Abstrakte wieder als das natürliche Sehen, als das primäre, intuitive Gesicht, das Sentimentale aber als hysterische Erkrankung und Reduktion unseres geistigen Sehvermögens. Alle hohen Völker und nicht zum wenigsten die Orientalen verfielen alternd dieser Krankheit. Der Europäer als Arzt und Wiederverkünder alter Wahrheit – (Nr. 89)75 An die Stelle des Naturgesetzes als Kunstmittel setzen wir heute das religiöse Problem des neuen Inhalts. Die Kunst unserer Epoche wird zweifellos tiefliegende Analogien mit der Kunst längstvergangener primitiver Zeiten haben. (Nr. 78)

Versteht man das Intuitive und Antisentimentale der Abstraktion – die Nähe zu den Gedanken Worringers wird hier deutlich – zugleich als deren „neuen Inhalt“, so ergibt sich ein Dilemma für Marcs Kunstdefinition. Einerseits ist Kunst auch für Marc Form („Kunst ist niemals etwas anderes als Wille zur Form“, Nr. 29), andererseits ist sie – ähnlich wie bei Kandinskys „Großem Geistigen“ – quasireligiöse Botschaft, Mission. In diesem Sinne war auch für Kandinsky die Form lediglich Mittel zum Zweck, die „Seele“ einer höheren Geistigkeit zuzuführen (wobei die „Mission“ bei Kandinsky auch einer profan-weltlichen Verbesserung dienen soll). Allerdings ersetzt Marc Kandinskys soziale Pyramide – sein zaghafter Versuch, sich dem Problem des Gesellschaftlichen zu nähern – durch das „Volk“ und ist zweifellos optimistischer als Kandinsky, was die Bereitschaft des „Volkes“ anbelangt, die neue Botschaft zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang geht es auch Marc primär um den Inhalt, die Form wird sekundär und ein vom Inhalt abgeleitetes Phänomen: Die Neugierde des Lesers sucht in den Zeilen und zwischen den Zeilen nach der gewissen Formel der neuen Form. Aber noch immer hat das Volk selbst, – damit ist nicht die Menge gemeint –. der Kunst den Stil gegeben. Der Künstler ist nur Deuter und Erfüller des Volkswillens. Wenn aber das Volk nicht weiß, was es will, oder nichts will – der schlimmere Fall, den die Jahre vor dem Kriege lehrte – bleiben die Künstler, die triebhaft nach der Form suchen, isoliert und werden zu Märtyrern. (Nr. 61) Das Volk hat sich in seinem Instinkt nie beirren lassen, ausschließlich nach dem Inhalt der Kunst zu fragen. (Nr. 67) 102  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Natürlich hat Marcs Apotheose der Abstraktion nichts mit der von den Nationalsozialisten propagierten „deutschen Kunst“ gemeinsam. Marcs Vision einer religiös-geistigen Kunst wäre ebenso dem Verdikt einer „entarteten Kunst“ zum Opfer gefallen wie die Werke der meisten modernen Künstler. Strukturell jedoch gibt es eine Übereinstimmung der Argumentation. Auch für die Nationalsozialisten war das „Volk“ nicht die „Menge“, ­sondern ein ideologisch zurechtgestutztes Phantasma. Damit konnten die (kultur-)poli­ tischen Machthaber zu Propagandazwecken relativ willkürlich definieren, was Kunst sei oder nicht. Unabhängig von der Frage, ob es tatsächlich eine empirisch nachweisbare Affinität zwischen bestimmten Kunstphänomenen und einem wie immer zu definierenden „Volksempfinden“ geben mag: Der Künstler kommt gemäß Marcs Gedanken selbst in die Situation, mehr oder weniger willkürlich zu definieren, wie er sich die Erfüllung des „Volkswillens“ vorstellt. Anders gesagt: Die Vorstellung des Künstlers als „Deuter und Erfüller des Volkswillens“ ist ein ideologisches Konstrukt, das zur künstlerischen Selbststilisierung wie zur Machterhaltung eingesetzt werden kann.

Paul Klee: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar.“ Es war Marcs buchstäblich fatales Missverständnis, dass er den Krieg für die „Morgenröte“, für die Ankunft des neuen „Geistigen“ hielt und sich selbst als Freiwilliger meldete. Sieht man freilich Marcs Fluchtpunkt des Geistigen im Tode, also den Wunsch, sich vom Leib und vom Materiellen zu befreien, dann ist der Weg in den Krieg und damit in den Tod konsequent. Klee geht nach Marcs Tod im Jahre 1916 auf den Zusammenhang zwischen diesem Tod und seiner metaphysischen Orientierung ein. Er schreibt in seinem Tagebuch: In Marc steht der Erdgedanke vor dem Weltgedanken (ich sage nicht, dass er sich nicht hätte dahin entwickeln können, und doch, warum starb er dann). (Tgb. 1008)

Klee ordnet Marc dem „Erdgedanken“, also der Orientierung am Irdischen zu, während er für sich selbst geradezu selbstverständlich den „Weltgedanken“, den Gedanken also, der über das Irdische hinausführt, in Anspruch nimmt76 – eine Einschätzung, die, wie wir gesehen haben, Marcs Position kurzerhand in ihr Gegenteil verkehrt. Klee selbst dagegen sieht sich nicht mehr als „Species“, sondern als „Neutralgeschöpf“. Zwar spricht er seinem Freund großzügig Entwicklungsmöglichkeiten zu, um dann aber zugleich implizit sein eigenes Überleben mit seiner höheren Entwicklung in Verbindung zu bringen, d. h., er fragt sich, warum Marc, der sich doch zum „Weltgedanken“ hätte entwickeln können, sterben musste. Marcs Tod ist so, in Klees Logik, die Konsequenz seiner Verhaftung am „Erdgedanken“. Klees Interpretation der geistigen Haltung Marcs ist in dramatischer Weise falsch.77 Marc hat stets das Metaphysische, die Durchdringung des Scheins, das „wahre Sein“ und den Tod als Orientierungspunkte seines Denkens für sich in Anspruch genommen – bis hin zu sektiererisch-verworrenen Vorstellungen über den metaphysischen Sinn des Krieges. Paul Klee: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar.“  I  103

Man kann Klees Einschätzung des Marc’schen Schicksals kalt, überheblich oder zynisch nennen, jedenfalls erfolgt sie aus der großen Distanz eines „Neutralgeschöpfs“. Werckmeister bringt denn auch sein Befremden über diese Passage des Tagebuchs unmissverständlich zum Ausdruck: Klee konnte so sein eigenes Überleben als eine nicht weniger notwendige Folge seiner diametral entgegengesetzten künstlerischen Konzeption verstehen. Wenn Klee sich dabei selbst als ‚Neutralgeschöpf‘ ohne ‚leidenschaftliche Art der Menschlichkeit‘ charakterisiert, dann nahm er eine von Nietzsche abgeleitete Attitüde forcierter Kälte, Distanz und moralischer Gleichgültigkeit an.78

Über Klees Distanzierung von Marc – die in den wesentlichen Punkten eine Verfälschung des Marc’schen Denkens ist –, geben weitere Passagen aus der zitierten Tagebucheintragung Aufschluss, die ich an dieser Stelle etwas ausführlicher zitieren möchte. Klee schrieb unmittelbar nach dessen Tod: Wenn ich sage wer Franz Marc ist muss ich zugleich bekennen, wer ich bin, denn vieles woran ich teil nehme, gehört auch ihm. Menschlicher ist er, er liebt wärmer, ausgesprochener. Zu den Tieren neigt er sich menschlich, Er erhöht sie zu sich. Er löst nicht sich zuerst als zum Ganzen gehörig auf um sich dann nicht nur mit Tieren, sondern auch mit Pflanzen und Steinen auf einer gleichen Stufe zu sehen. Ich suche hierin einen entlegeneren, schöpfungsursprünglicheren Punkt, wo ich eine Art Formel ahne für Tier, Pflanze, Mensch, Erde, Feuer, Wasser, Luft und alle kreisenden Kräfte zugleich. In Marc steht der Erdgedanke vor dem Weltgedanken (ich sage nicht, dass er sich nicht hätte dahin entwickeln können, und doch: warum starb er dann?) [...] Der Übergang der Zeit bedrückte ihn, die Menschen sollten mit ihm gehen. Weil er selbst noch Mensch war, und ein Rest von Ringen ihn fesselte. Der letzte Zustand, wo das Gute noch Gemeingut war, das bürgerliche Empire kam ihm beneidenswert vor. Ich suche mir bei Gott einen Platz für mich, und wenn ich zu Gott verwandt bin, will ich mir nicht einbilden, dass meine Brüder nicht auch zu mir verwandt seien, doch ist das ihre Sache. Ein frauenhafter Drang, jedem von seinem Reichtum mitteilen zu können war ihm eigen. Daß nicht alle folgten, erfüllte ihn mit Bedenken über seinen Weg. Oft ahnte ich bang, er würde sich nach der Gärung zurückwenden zu irdischer Schlichtheit. Nicht aus Totalitäts­absichten diese Welt mitberühren, sondern ganz in sie zurückkehren aus Menschenliebe. Meine Glut ist mehr von der Art der der Toten und Ungeborenen [...]. Marc war noch Spezies, nicht Neutralgeschöpf. Ich erinnere mich seines Lächelns wenn meinem Auge irdische Momente entgingen. (Tgb. 1008)79

Klees Tagebucheintragungen sind ein Dokument geradezu mythischer Selbstüberhöhung, Arbeit am eigenen Charisma auf Kosten Marcs. Zugleich zeigen sie, dass Klee – beabsichtigt oder nicht – sich kaum Mühe machte, sich in die Gedanken seines Freundes zu versetzen. Dass Marc das „bürgerliche Empire“ beneidenswert erscheint, ist schlicht abwegig. Marc suchte, wie wir gesehen haben, das „neue Europa“, wenn auch auf nationalistische und tendenziell chauvinistische Weise, u. a. im Krieg gegen die utilitaristische „Vereng104  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

länderung“ Europas. Das „bürgerliche Empire“ war ihm ein Gräuel, ein „Augias-Stall“, der ausgemistet werden müsse. Klee nimmt den „Weltgedanken“ – statt des pro­fanen „Erdgedankens“ – für sich in Anspruch, er ist „Neutralgeschöpf“, das aus „Totalitätsabsichten diese Welt“ mitberührt, während Marc „noch“ Spezies ist. Klee sucht für sich den „schöpfungsursprünglicheren Punkt“, während Marcs Menschlichkeit als „frauenhafter Drang“, von seinem Reichtum mitteilen zu ­können, entwertet wird. Von den zu Beginn des Zitats angekündigten Gemeinsamkeiten bleibt nichts übrig. Dies schließt nicht aus, dass vieles, woran Klee teilnimmt, in der Tat auch Marc „gehört“ – ich hatte bereits darauf hingewiesen. In seinen Feldbriefen schrieb Marc an seine Frau, dass der Sinn seines Daseins im „Geistigen“ liege: [...] ich kann gar nicht anders meine Unvollkommenheiten und die Unvollkommenheiten des Lebens überwinden als indem ich den Sinn meines Daseins ins Geistige hinüberspiele, ins Geistige, vom menschlichen Leib Unabhängige, d. h. Abstrakte hinüberrette.80 (Hrv. Franz Marc)

In seiner vielzitierten Äußerung über die Verbindung des „Jenseitigen“ mit dem Abstrakten schreibt Klee: Man verlässt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz ja sein darf. Abstraktion (Tgb. 951)

Die „jenseitige“ Gegend, so hatten wir gesehen, ist ein Bereich des Geistigen, dem Klee hier den Namen „Abstraktion“ gibt. Sieht man von den unterschiedlichen Formulierungen ab, sagt Klee hier genau dasselbe wie Marc, der die „Unvollkommenheiten“ des Lebens (Klee: das „Diesseitige“) überwindet, indem er ins Geistige „hinüberspielt“ (Klee: ins „Jenseitige“ „hinüber baut“), für das in beiden Fällen das „Abstrakte“ steht. Marc konnte keinen Einblick in Klees Tagebücher haben, wohl aber konnte Klee aufgrund seiner engen Beziehung zu Maria Marc direkt oder durch mündlichen Bericht die Briefe Marcs kennen. Unabhängig von der Frage der zeitlichen Priorität ist festzuhalten, dass es eine weitgehende Übereinstimmung der Formulierungen gibt. Kein Zweifel dürfte außerdem daran bestehen, dass Klee die aus dieser Zeit stammenden abstrakten Werke Marcs, etwa die beiden abstrakten Kompositionen aus dem Jahr 1914 (Farbabb. VI), kannte. In einem Feldbrief vom 30.7.1915 spekuliert Marc über den Punkt der Gemeinsamkeit, der alle Menschen verbindet und schreibt an Maria Marc: „[...] dieser Punkt existiert ganz genau und scharf nur vor und nach dem Leben.“ Klee hingegen schreibt, dass er „diesseitig“ nicht fassbar sei, da er ebenso gut „bei den Toten und Ungeboren“ lebe.81 Die Übereinstimmung ist hier nicht so eklatant wie im Falle der „Abstraktion“, sie wird jedoch durch eine kleine Perspektivverschiebung deutlich. Was Marc als einen hypothetischen Punkt menschlicher Gemeinsamkeit sieht, wird von Klee metaphorisch für sich selbst in Anspruch genommen: ein Wohnen bei den Toten und Ungeborenen, d. h. nach und vor dem Leben. Paul Klee: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar.“  I  105

Ein letzter Punkt schließlich ist zu nennen, der Klee an dem „teilhaben“ lässt, was auch Marc gehört: Im Aphorismus 45 schreibt Marc, dass es dereinst „[e]ine Formel“ für die „größere Einheit“ der Natur und der Naturgesetze geben werde. Klee schreibt, dass er eine „Formel“ ahne „für Tier, Pflanze, Mensch, Erde, Feuer, Wasser, Luft und alle kreisenden Kräfte zugleich“ (Tgb. 1008). Allerdings sind bei dieser Koniologie Klees zwei wichtige Punkte zu berücksichtigen. Zum einen: Klee hatte diese Selbstbeschreibung nicht ad hoc entwickelt, um Marc zu entwerten. Vielmehr hatte er sein Selbstbild als „Neutralgeschöpf“ seit Beginn seiner asketischen Selbsttransformation, also seit seinen zwanziger Jahren geradezu systematisch entwickelt. Einen Höhepunkt erreichte diese Selbsttransformation zu Beginn des Jahres 1915 durch seine symbiotische Verschmelzung mit dem Kristallinen und der Abstraktion. Klee sah sich selbst als den „kristallinischen Typ“ und damit als „abstrakt“. Der zweite Punkt betrifft ein kunstmarktstrategisches Problem, für das allerdings weniger Klee selbst als vielmehr sein Berliner Galerist Walden (neben Goltz der wichtigste Händler Klees) verantwortlich war. Nach dem Tode von Macke und Marc sowie dem Exil Kandinskys und Jawlenskys hatte Walden seine wichtigsten Künstler verloren. So lag es nahe, Klee gleichsam als Nachfolger Marcs „aufzubauen“. Walden entwarf deshalb einen Nachruf auf Marc, in dem er den angeblichen Marc’schen „Erdgedanken“ erwähnt, ohne ihm freilich den „Weltgedanken“ abzusprechen, ein Nachruf, an dem sich Klee in allen wesentlichen Punkten orientierte82 – allerdings, um sich damit von Marc abzugrenzen. Ob Klee selbst auf diese Idee kam oder ob er einfach Waldens Vorgabe übernahm, ist dabei letztlich unwichtig. Entscheidend ist vielmehr, dass Klee eine Art Nachruf auf Marc verfasste, bei dem er sich nicht auf dessen Gedanken und schriftliche Äußerungen, sondern auf einen von Walden vorformulierten Text bezog. Was den Erfolg Klees am Kunstmarkt anbelangt, war Waldens Kalkül erfolgreich. Im Vergleich zum Jahre 1915 stiegen die Verkäufe Klees im Jahre 1916 sprunghaft an, von 1742 Mark (1914) und 870 Mark (1915) auf 3320 Mark (1916), 11585 Mark (1917) und 9455 Mark (1918).83 Obwohl Klee seine Bemerkungen zu Marc seinen späteren Biographen Zahn und Hausenstein nicht zur Verfügung stellte, waren sie ohne Zweifel für sein Selbstbild und seine Selbstpräsentation als Künstler von Bedeutung. Wir hatten am Beispiel der zitierten Texte Marcs gesehen, dass dessen Einstellung ebenso spirituell war wie diejenige Klees. Auch Marc suchte eine neue Geistigkeit, suchte nach dem „wahren Sein“, bis hin allerdings zu der für Klee abwegigen Vorstellung, die neue Geistigkeit mit Hilfe des Krieges in Europa zu verwirklichen. Vom Festhalten an einem „Erdgedanken“ kann keine Rede sein. Zutreffend mag freilich gewesen sein, dass Marcs Menschlichkeit „wärmer“ war als die distanzierte Neutralgeschöpfhaltung Klees. Marc bezahlte für seine Gleichsetzung der neuen Geistigkeit mit dem Krieg einen hohen Preis: seinen eigenen Tod; Klee seine Neutralgeschöpfhaltung mit menschlicher Distanz. Selbst seine „Freunde“, schreibt sein späterer Biograph und Freund Grohmann, wussten nicht wirklich, wer Klee war. Klees Frau Lily beklagt in einem Brief an Grohmann die „geistige Einsamkeit“ ihres Mannes: „Er ist ja ein geistig so völlig einsamer Mensch und sein Leben ist einsam und entsagungsvoll.“84 106  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass Maria Marc es ablehnte, dass Klee den Katalogtext für die Marc-Gedächtnisausstellung im Jahre 1916 verfasste (er wurde schließlich von Hausenstein, einem uneingeschränkten Marc-Bewunderer, geschrieben). Maria Marc, die Klees schwierige Beziehung zu ihrem Mann vermutlich mehr ahnte als dass sie genauere Kenntnisse darüber hatte, war Klee gegenüber ohnehin skeptisch eingestellt. Sie misstraute Klees Selbststilisierung als weltentrückter Künstler und sprach sogar von dessen „gänzliche[r] Gefühllosigkeit“.85 Gänzlich Unrecht hatte sie zumindest hinsichtlich Klees Verhältnisses zu Marc offensichtlich nicht. Auch in Klees Verhältnis zu seinen anderen Künstlerfreunden zeigt sich, wie wir sehen werden, eine ähnliche Haltung. Umgekehrt wird Maria Marc von Klee entwertet: Sie könne nicht auf „eigenen Beinen“ stehen. Klee und Marc schrieben sich in der Zeit von 1912–1914 zahlreiche künstlerisch gestaltete Postkarten86 (Farbabb. VII u. VIII). Anhand dieser gemalten oder gezeichneten Postkartengrüße lässt sich der Stand der malerischen Entwicklung beider aufzeigen. Schuster hat diesen künstlerischen Austausch untersucht und die These formuliert, dass er wesentlich zum Selbstverständnis Klees als Zeichner beigetragen und ihm zugleich – im Vergleich zu Marc – noch einmal seine Defizite im Umgang mit der Farbe gezeigt habe. Schuster charakterisiert die Unterschiede des künstlerischen Stils, der sich in den Postkartenillustrationen der beiden Maler zeigte: Um dieses Ziel einer reineren Welt zu erreichen, war Franz Marc in letzter Konsequenz bereit, für seine Künstlerexistenz als Soldat mit den Mitteln des Krieges zu kämpfen. Von daher zeigen Marcs Kartengrüße an Klee aus dem letzten Jahr vor dem Krieg nochmals das ganze Repertoire seiner künstlerischen Mittel, mit denen er sich eine Vision einer Welt des Geistigen zu imaginieren vermochte. Das Vorbild Kandinskys und sein Weg zur Abstraktion ist für Marc [...] ebenso wichtig, wie die kristalline Farbarchitektur des Orphismus von Delaunay. Marcs Karten [...] sind in ihren starkfarbig optimistischen Kreisstrukturen ohne den Einfluß von Delaunay nicht zu denken. Ganz anders Klee. Mit ihm antwortet ein verstörendes Kind auf Marcs verklärende Botschaften von den Tieren. Was bei Marc schönlinig, schmiegsam, kostbar und vollendet ist, das wirkt bei Klee gekritzelt, eckig, zittrig, unfertig, unperfekt ausgeschnitten und nachlässig eincollagiert, ohne buntfarbenen Glanz und meist in Schwarz und Weiß. Klees Krakelstil erscheint als die vollkommene Gegenposition zu Marcs Vollendung. Und doch schöpfen beide aus der gleichen Quelle kunstvoller Einfachheit.87

„Kunstvoller Einfachheit“ sind wir bereits in Klees Lob seines „Primitivismus“ begegnet. Marcs Kartengrüße (etwa Pferde in Landschaft mit Häusern oder Sonatine für Geige und Klavier) seien für Klee gleichsam Lehrstücke gewesen, um das für den „Linienkünstler“ Klee noch fast unlösbare Problem zu illustrieren, Linie und Farbe zusammenzubringen. Marc konnte Klee zeigen, wie es gelingt, „die mit schwarzer Kontur linear gefassten Bildgegenstände durch unterlegte und ineinander geschobene Farbflächen mit freier Überspielung der Gegenstandskontur zu einer prachtvollen Farbarchitektur zu verbinPaul Klee: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar.“  I  107

den“88. Diese These lässt sich gerade an Klees einziger farbiger Postkarte (Ohne Titel [1913]) gut belegen: diffuse, über die ganze Fläche verteilte Farbflecken erhalten nur dadurch eine Kontur – zwei Augenpaare –, indem ein Netz von Linien über die Farbflecken gelegt wird, die als solche, anders als bei Marc, keine Struktur haben. Allerdings gelangt Schuster auch zu eher fragwürdigen Thesen. Zum einen, dass Klee gerade in dieser Auseinandersetzung mit Marc zum Zeichner gewor-den sei. Allein der auch von Schuster selbst vorgebrachte Verweis auf Klees Candide-Illustrationen widerlegt dies. Ähnlich unbewiesen ist Schusters Behauptung, Klees vor oder nach der Tunesienreise gemalten Bilder (etwa Ohne Titel [1914] bzw. Föhn im Marc’schen Garten [1915]) seien „ohne den farbigen Kubismus der Fensterbilder Delaunays kaum möglich“89. Es gibt zweifellos einen starken Einfluss Delaunays auf Klee, aber gerade die Tunesienbilder und die darauf ­folgenden, in ähnlichem Stil gemalten Bilder zeigen zumindest ebenso eine Beeinflussung durch Macke und, was die Tunesienbilder anbelangt, sogar von Moilliet. Zuzustimmen ist Schuster allerdings dahingehend, dass die subtil verschachtelten Farbflächen von Ohne Titel zeigen, dass Klee auch schon vor der Tunesienreise über einen gekonnten Umgang mit der Farbe verfügte, sein tunesisches „Erweckungserlebnis“ hinsichtlich der Farbe somit eine Selbststilisierung darstellt. Ich möchte zum Schluss auf einen weiteren, diesmal künstlerischen Eingriff Klees in das Werk Marcs hinweisen. Am Beispiel des großformatigen Bildes von Marc (Tierschicksale [1913], 195 x 263,5 cm, Farbabb. IX) lassen sich die komplizierten Beziehungslinien zwischen Marc und Klee aufzeigen. Zunächst einmal hat Marc diesen Titel auf Vorschlag von Klee übernommen. In dem von Strahlen gleich durchbohrten und sich aufbäumenden Reh auf der linken Seite kann man eine Selbstdarstellung Marcs (der sich mit Tieren, in denen er sein Ideal der Reinheit verkörpert sah, identifizierte) vermuten: Er war bereit, den „Tod für die Idee“ zu sterben. Nach dem Tod von Marc wurde dieses Bild, in dem Marcs leuchtende Farbigkeit und kristalline Abstraktion bei gleichzeitigem gegenständlichem Bezug auf eindrucksvolle Weise miteinander verbunden sind, durch einen Brand schwer beschädigt. Klee unternahm für seinen gefallenen Freund die ­Aufgabe der Restauration. Allerdings verwendete er dabei Farben, die im Marc’schen Original kaum vorkommen. Fast das gesamte rechte Drittel des Bildes ist in dunklen RotBraun-Tönen gemalt, die das subtile Gleichgewicht der anderen Farbabstufungen beeinträchtigen. Es ist nicht nachweisbar, ob Klee Marcs Interpretation dieses Bildes kannte. Denkbar ist es jedoch, da Marc an seine Frau geschrieben hatte, dass dieses Bild für ihn ein Vorkriegsbild sei, dem nach dem Krieg andere Bilder folgen müssten: „Da muß man konstruktive, zukünftige Bilder malen, keine Erinnerungen, wie es meist Mode ist.“90 Wir haben gesehen, dass gerade Klee sich als „abstrakt mit Erinnerungen“ verstand. Er konnte somit Marcs Bemerkung auf sich selbst beziehen und sich als „Modemaler“ betrachten. Denkbar ist somit auch, dass Klee dem Bild Tierschicksale ambivalent gegenüberstand. Ich möchte meine Überlegungen zu Paul Klee und Franz Marc, zweifellos zwei der bedeutendsten Vertreter der künstlerischen Moderne, zusammenfassen: Wo die Gedan108  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

ken der beiden Avantgardisten über den pragmatischen „Atelierdiskurs“ hinausgehen, sind sie primär Suche nach dem „Jenseitigen“, dem „wahren Sein“, nach einer wie immer selbstgefertigten Metaphysik. Marc hat diese Metaphysik in die Richtung einer nationalistisch gefärbten Erneuerung und „Reinigung“ der Kunst und Europas weiterentwickelt, ein Ziel, das sich für ihn nur über den europäischen Krieg erreichen ließ. Das Konzept einer zukünftigen Kunst bleibt bei Marc vage: Sie soll „rein“ und damit „abstrakt“ sein. Zugleich soll sie aber auch Ausdruck des „Volkswillens“ sein. Klee dagegen entwickelte eine private Esoterik des „Jenseitigen“, die ihm ermöglichte, sich als weltentrückter und zugleich charismatischer Künstler zu stilisieren. Die von Klee ausgiebig untersuchten bildnerischen Konzepte – Linie, Reduktion, Tonalität, Genesis (Bewegung), Abstraktion und Farbe – waren für ihn letztlich nur Notbehelfe. Über der „Konstruktion“ steht für ihn die „Intuition“ (Kunst im „obersten Kreis“ erschließt sich nur der Intuition) und diese ist wesensmäßig mit der „Weltanschauung“ verbunden. „Das Formale muß mit der Weltanschauung verschmelzen“ (Tgb. 1081). Bei der Weltanschauung wiederum geht es um die Frage des Diesseitigen oder Jenseitigen: „Auf welcher Seite der Ton liegt, [...] daran erkennt man die jeweilige Weltanschauung. Und Weltanschauungskomplexe sind die höchsten Ordnungen, über allem stehend, während die spezifischen Stilgebiete sich unterordnen.“91 Andererseits wäre eine Kunst, die den „Volkswillen“ zum Ausdruck gebracht hätte, Klee geradezu wesensmäßig fremd gewesen. Marcs und Klees parareligiöse Esoterik kann als Flucht vor der sozialen, politischen und historischen Realität, psychologisch gesehen als deren Verleugnung verstanden ­werden. In Marx’scher Terminologie würde es sich um gesellschaftlich notwendig­ falsches Bewusstsein, um Ideologie in der ursprünglichen gesellschaftstheoretischen Bedeutung des Begriffs handeln. Insbesondere bei Marc wird – ähnlich wie bei Thomas Mann – deutlich, wie die imperialen Interessen an einer Hegemonie in Europa in die Propagierung einer geistigen Hegemonie v­ erwandelt werden. Dabei blieb die Frage unbeantwortet, weshalb zur Ver­wirklichung dieses Ziels Krieg erforderlich sei. Die Poli­ tiker und Apologeten des Deutschen Reiches stilisierten den Krieg in der Regel als ­Ver­teidigungskrieg, als Reaktion auf die Gefahr der „Einkreisung“. Marc entwickelt darüber hinaus einen radikaleren, offensiven und zugleich auf den Faschismus voraus­ weisenden Gedanken: Der Krieg wird um der „Reinigung“ – auch der des „Blutes“ – willen geführt. Nur wenn Europa vom Geist des Materialismus, zugleich auch vom „kranken Blut“ gereinigt werde, könne sich in Europa die „Geistigkeit“ der germanischen Rasse durchsetzen. Die geistige Tragik Marcs lässt sich an einem einfachen Gedanken auf­ zeigen (seine Frau Maria hat ihn nachdrücklich darauf hingewiesen): Marc hätte sich die Frage stellen müssen, wie es denkbar sein sollte, dass sich die neue „Geistigkeit“ in Europa mit Blut und Eisen durchsetzen ließe. Durch „geistige Umerziehung“, durch Zerstörung der kulturellen Strukturen der anderen Länder (die Marc allerdings ab-lehnte), durch Vernichtung des „Engländertums“ und die Dominanz des „deutschen Typs“? Marc stellte sich diese Fragen nicht, geschweige, dass er eine Antwort darauf hatte. Paul Klee: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar.“  I  109

Delaunay: Licht und Simultaneität Völlig anders geartet war Klees Beziehung zu Delaunay: Sie beschränkte sich auf Delaunays künstlerischen Einfluss. Dieses Einwirken auf Klee zeigt sich in dem bereits erwähnten Bild, das Klee noch vor seiner Tunesienreise gemalt hatte: dem Aquarell Ohne Titel (1914). Gerade dieses Bild wurde als Bestätigung dafür gesehen, dass Klee bereits vor seiner Tunesienreise die Farbe beherrschte. Allerdings ist das Problem seiner Aneignung der Farbe komplizierter. Klee hatte bereits in der Zeit vor 1913 Farbe in sehr unterschiedlicher Weise verwendet: etwa in dem teilweise an Cézanne orientierten Bild Mädchen mit Krügen (1910) (Abb. ). Weiterhin gibt es frühe farbige Aquarelle (etwa: Blumensteg, Gießkanne u. Eimer [1910]) und Bilder, in denen er Farbflecken mit einem krakeligen, kindlich anmutenden Lineament überzog (etwa: Häuser an der Kiesgrube [1913]) (Abb.). Schließlich gibt es ein Bild aus dem Jahre 1913 (Pflanzen in den Bergen), das in leuchtenden prismatisch facettierten Farben gemalt wurde – die Nähe zu Marc ist offensichtlich. Man könnte somit von einer kontinuierlich wachsenden Beherrschung der Farbe sprechen. Der Einfluss Delaunays auf Klee ist nicht zu bezweifeln, und dass beide Künstler sich auch persönlich nahestanden, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Delaunay Klee kurz nach seinem Besuch bei ihm in Paris (1912) sein Traktat „Über das Licht“ mit der Bitte um Übersetzung zusandte. Klee kam diesem Wunsch nach und veröffentlichte seine ­Übersetzung in Waldens Zeitschrift Sturm (die dann allerdings erhebliche übersetze­ rische Eigenmächtigkeiten Klees aufwies). Darüber hinaus sind auch die kunsttheoretischen Differenzen zwischen Klee und Delaunay unübersehbar, wie sich etwa an dem für Delaunay zentralen Begriff des Simultanen zeigt. Für Klee ist gerade die „Bewegung“ nicht nur ein kosmisches Prinzip92, sondern liegt auch seiner Rezeptionsästhetik zugrunde, wie in seinen Schriften aus seiner Bauhaus-Zeit deutlich wird. In einer Tagebucheintragung aus dem Jahr 1917 äußert sich Klee einigermaßen kryptisch über Delaunays Position. Einerseits betont er den Aspekt der Gleichzeitigkeit, indem er die „polyphone Malerei“ der polyphonen Musik als überlegen charakterisiert, weil es in ­Ersterer um Räumlichkeit geht: „Der Begriff der Gleichzeitigkeit tritt hier noch reiner hervor“ (Tgb. 1081). Diese Vorstellung von Gleichzeitigkeit hat jedoch kaum Ähnlichkeit mit Delaunays zentralem Konzept des Simultankontrasts. Delaunay hatte dieses Konzept an der von Eugène Chevreul 1839 publizierten Farbtheorie über Simultankon­ traste orientiert, in der u. a. das bereits seit Goethes Farbenlehre bekannte Phänomen beschrieben wird, dass Farben in der Wahrnehmung ihren Charakter durch ihre Nach­ barschaft zu anderen Farben verändern. Die Beschäftigung mit der Farbe führte Delaunay zum Postulat der „reinen Malerei“, die er in dem bekannten Diktum zusammenfasst, dass Malerei, die nicht vom Gegenstand loskomme, zur „Literatur“ erniedrigt werde. Ebenso versucht Klee Delaunays Position mit einem Begriff der Zeitlichkeit zu charakterisieren, der Delaunays Konzept des Simultanen diametral entgegen­gesetzt ist: 110  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Den Accent in der Kunst nach dem Beispiel einer Fuge im Bild auf das Zeitliche zu verlegen versuchte Delaunay durch die Wahl eines unübersehbar langen Formats. (Tgb. 1081)

Unabhängig davon, wie lang Delaunays Formate waren (es gibt lange, mittlere, quadratische und runde): Delaunay auf diese Form von Zeitlichkeit festzulegen, widerspricht eklatant dessen Verständnis von Simultaneität. Soweit es bei ihm um Zeitlichkeit geht, wird diese als „Rhythmus“ der Bewegung innerhalb der Simultankontraste verstanden. Es lässt sich nur darüber spekulieren, warum Klee diese Zuschreibung vornahm – möglicherweise handelt es sich um ein ähnliches Phänomen wie bei seiner willkürlichen Umdeutung von Marcs Position. Bemerkenswert ist darüber hinaus, wie zurückhaltend Klee sich in Tagebüchern und Briefen zu Delaunay äußerte. Im April 1912, anlässlich seiner Parisreise, finden wir in den Tagebüchern die lakonische Notiz: „11. April. Vormittags besuchte ich Delaunay in seinem Atelier“ (Tgb. 910). Nur 1909 finden wir noch eine Anmerkung zu Delaunay (in den Notizen, die er seinem Biographen Hausenstein übergab): Keine Lokalfarbe. (Das Delaunayprinzip vorausahnend). Zwischen Seurat und Delaunay die ich beide nicht kannte. (Tgb., Hausenstein I, S. 500)

Außer der lapidaren Bemerkung, dass Delaunay ihm „einen Artikel von sich über sich“ schickt, finden wir in dem Hausenstein-Text noch einmal die lapidare Wiederholung, dass er Delaunay kennengelernt habe. Nur einmal, im Rahmen einer Ausstellungsbesprechung (Die Alpen, Zürich 1912), geht Klee etwas ausführlicher auf Delaunay ein. Klee beschäftigt sich hier mit der „Inkonsequenz“ moderner Künstler, dass sie für den „Gegenstand“ gerade durch dessen „Maltraitierung“ Reklame machten: Dieser Inkonsequenz hat derjenige Künstler, der gerade an ihr besonders laborierte, Delaunay, einer der geistvollsten unserer Zeit, in verblüffender Weise dadurch abzuhelfen gewusst, dass er den Typus eines selbständigen Bildes schuf, das ohne Motive aus der Natur ein ganz abstraktes Formdasein führte. Ein Gebilde von plastischem Leben, nota bene, von einem Teppich ebenso weit entfernt, wie einer Bachschen Fuge. Zu dieser letzten Epoche in Delaunays Schaffen war in Zürich ein sehr benachbartes Bindeglied zu sehen, die Fensteransicht, zweites Motiv, erster Teil.93

Neben Kandinsky und Marc dürfte somit auch Delaunay einen beträchtlichen Anteil an Klees Auseinandersetzung mit der Abstraktion besitzen. Wenig später goss Klee freilich wieder Wasser in den Wein, als er den schweizerischen Maler Lüthy mit Delaunay und Le Fauconnier (auch mit Letzterem war Klee persönlich bekannt) verglich: Lüthy geht weder den gefährlichen Weg Delaunays noch hält er das Maß Le Fauconniers, er ist leidenschaftlicherer Spekulant, als dieser letztgenannte, und erheblich schwerer, als jener glänzende Franzose, wobei ich mehr seinen Charakter, als seinen Wert an den beiden messen will.94 Delaunay: Licht und Simultaneität  I  111

Bei aller Wertschätzung Delaunays als Künstler handelt es sich hier um eine ziemlich plumpe Abwertung Delaunays als Person, als „Charakter“. Auch am Beispiel Delaunays lässt sich zeigen, dass Klee über seine „Künstlerfreunde“ häufig geringschätzig urteilte, worüber sich im Übrigen auch Klees Freund Jawlensky einmal beklagte.95 Selbst sein Freund Kandinsky blieb davon nicht verschont.96 Sieht man einmal von diesem Aspekt ab (wir erfahren nichts darüber, wie es zu dieser Einschätzung Klees kam), so bleibt die Frage, weshalb Klee Delaunay in seinen Tagebüchern und Briefen nur am Rande erwähnte, obwohl er ihm offensichtlich künstlerisch viel zu verdanken hatte. Neben der bereits erwähnten Neigung Klees, sich als demiurgischer „Selbstlehrling“ zu stilisieren, kann vermutet werden, dass hier die – von vielen seiner Biographen konstatierte – Tendenz Klees zum Ausdruck kommt, andere Menschen mit Ironie oder Entwertung auf Distanz zu halten. Klee sah sich selbst als Einzelgänger, „hienieden“ allein, was nicht ausschloss, dass er sich gelegentlich anderer pragmatisch zu bedienen wusste.97 Obwohl es keine direkten Übernahmen von Motiven oder Kompositionen Delaunays gibt, ist der Einfluss gleichwohl in einer Reihe von Bildern Klees spürbar. Erwähnt wurde bereits das Aquarell Ohne Titel (Anfang 1914). In Im Stile v. Kairouan, ins Gemäßigte übertragen (1914) sind die Kairuan-Motive vollständig in Abstraktion aufgelöst, zugleich sind die Farben tendenziell als Spektralfarben angeordnet: von Rot (links) nach Blau (rechts) fortschreitend. In ähnlicher Weise arbeitete Klee in Abstrakt, farbige Kreise durch Farbbänder verbunden (1914) mit Farbkontrasten. Auf das ästhetische Prinzip der Bewegung stieß Klee in prononcierterer Form als bei Delaunay im Rahmen der von Walden 1912 veranstalteten Ausstellung des Futurismus in der Galerie Thannhauser, von der er außerordentlich beeindruckt war. Insbesondere Carrà hatte es ihm angetan: Aber zum Glück ist aus München in jüngster Zeit ein Platz geworden, wo manches gezeigt wird, ob München will oder nicht. Das grosse Talent, das ich erwähnte, heisst Carrà; man braucht nur über die Türschwelle zu stolpern, und kann hier an Tintoretto denken, oder an Delacroix, so verwandt sind die Klänge der Farbe und sogar das Temperament der Faktur: Bei Boccioni und Severini geht das mit den alten Meistern allerdings schon weniger gut. Da steht im Manifest beispielsweise zu lesen: Wenn man ein Fenster öffnet, tritt der ganze Lärm der Strasse, die Bewegung und die Gegenständlichkeit der Dinge von draussen plötzlich in das Zimmer. (Tgb. 916)

Voller Begeisterung schließt Klee seine Tagebucheintragung mit dem Satz: „Platze Du Spiess, ich glaube Dein Stündlein schlägt.“ Eine direkte Herleitung von Klees Konzept der Bewegung aus dem Bewegungsfuror, dem „Dynamismus“ der Futuristen muss nach der gegenwärtigen Forschungslage spekulativ bleiben. Eine Beeinflussung oder Bestätigung seiner Ideen ist jedoch durchaus wahrscheinlich.98 Das Konzept der „Bewegung“ war für Klee zu zen­tral, zu kosmologisch, als dass es sich aus einer bestimmten Kunstrichtung ab­leiten ließe.

112  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

„Ich und die Farbe sind eins“: Die Tunesienreise mit Macke und Moilliet Besonders in der Auseinandersetzung mit der Farbe wird Klees Tendenz zu einem symbiotischen Verhältnis zu seiner Kunst, zugleich auch zur Selbststilisierung deutlich. Sowohl in Klees Tagebüchern als auch in der ersten von Leopold Zahn verfassten Klee-Biographie (1920) wird die Aneignung der Farbe während Klees Tunesien-Aufenthalts als eine plötzlich hereinbrechende, außeralltägliche Erfahrung, eine unio mystica mit der Farbe, geschildert: Ich lasse jetzt die Arbeit. Es dringt so tief und mild in mich hinein. Ich fühle das und werde so sicher, ohne Fleiss. Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichsten Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler. (Tgb. 929 o.)

Hierzu schreibt der Klee-Biograph Rümelin: Das Ziel war dabei, die Nordafrikareise 1914 als einen plötzlichen Durchbruch darzustellen und nicht als einen Prozeß, dem eine lange Auseinandersetzung mit Tonalität und ein Ringen um die Farbigkeit vorausgegangen war. Die Unvorhersehbarkeit und Unmittelbarkeit des Ereignisses war dabei von besonderer Bedeutung. Die Zugehörigkeit zum Blauen Reiter war nicht ausreichend, ein Erscheinungsbild zu konstituieren, und deshalb bedurfte es einer anderen und unabhängigen Legitimation. Ein exotisches Reiseziel, wenn auch bei Künstlern seit dem 19. Jahrhundert populär, bot hierfür eine Möglichkeit. Klee konnte somit nicht nur die Aquarelle dieser Zeit als etwas Herausragendes bezeichnen, sondern die Plötzlichkeit des Durchbruchs als eine übernatürliche Gabe darstellen, die ihn in fast religiöser Weise der Welt enthob.99 (Hrv. MC)

Ich stimme Rümelins Darstellung zu, möchte allerdings zwei Einschränkungen machen. 1.) Die „lange Auseinandersetzung“ mit Tonalität und Farbe wird von Klee nicht verschwiegen, sie stellt vielmehr einen wichtigen Bestandteil seiner Tagebücher dar, wobei diese wiederum selbst ein Stück weit literarisch stilisiert und dramatisiert sind. Wesentlicher erscheint mir, dass Klee in seinen Tunesien-Notizen die bisherigen Einflüsse auf seine Malerei (also beispielsweise Marc, Kandinsky oder Delaunay) mit keinem Wort erwähnt. Die Auseinandersetzung mit der Farbe wird auf diese Weise in den Tagebucheintragungen von 1914 in der Tat zu einem außeralltäglichen Phänomen, einer „übernatürlichen Gabe“ erhoben. 2.) Was die Tunesienbilder unter dem Aspekt der Farbe charakterisiert, ist die besondere Bedeutung des Lichts, die von Klee – in Verbindung mit seinen ersten Ansätzen zur Abstraktion – auch selbst herausgestellt wird. Es ist also nicht Farbigkeit per se, sondern eine besonders transparente und leuchtende Farbigkeit, die Klee in dieser Form zuvor nicht verwirklicht hatte. Erst aus dieser Perspektive wird der von Klee hervorgehobene Charakter des Außeralltäglichen und Auratischen verständlich. Noch ein weiterer Aspekt der Klee’schen Selbststilisierung, sein „selbstlehrlingshafter“ Gestus, wird am Beispiel der Tunesienreise und der sich darauf beziehenden Tage„Ich und die Farbe sind eins“: Die Tunesienreise mit Macke und Moilliet  I  113

bucheintragungen deutlich. Klee hatte die Reise zusammen mit Macke und Moilliet angetreten: Sie reisten, lebten und malten zusammen („wir waren ja täglich und stündlich beisammen“, Tgb. 926 r.). Vergleicht man die während dieser Reise entstandenen Aquarelle, so fällt auf, dass sie stilistisch große Ähnlichkeiten aufweisen: Dies gilt insbesondere für die Aquarelle von Klee und Moilliet. Während über die Bedeutung Mackes für Klee in der Literatur ausführlich berichtet wurde, gilt dies nicht für das Verhältnis – und die mögliche wechselseitige Beeinflussung – von Klee und Moilliet. Generell wird Moilliet in der Literatur nur wenig beachtet.100 Schmalenbach hat jedoch zu Recht auf die Bedeutung von Moilliet als Aquarellmaler hingewiesen: Man wird durch überraschende künstlerische Begegnungen immer wieder aufgerufen, etwas zu dagegen zu unternehmen, daß die Kunstgeschichtsschreibung in ihren sanktionierten Konturen und in ihren sanktionierten Wertungen erstarrt. Zu dieser Ermahnung veranlaßt das Werk eines Malers, dessen Name zwar allen, die sich intimer mit der Kunst unseres Jahrhunderts befassen, geläufig ist, dessen Werk jedoch näher kennenzulernen man sich selten die Mühe genommen hat. Louis Moilliet ist außerhalb seines Landes – der Schweiz – kaum anders bekannt denn als der Dritte im Bunde jener denkwürdigen Tunisreise, die er im Frühjahr 1914 zusammen mit seinen Freunden Paul Klee und August Macke unternahm [...] Wir müssen also revidieren: in der Geschichte des Aquarells seit Cézanne müssen wir diesem Künstler, bei europäischer Betrachtung, einen Platz freihalten. Seine leise, doch unvergleichlich musikalische Stimme darf – da es eine Hierarchie der künstlerischen Gattungen nicht gibt – in der an Stimmen reichen Kunst dieses Jahrhunderts nicht überhört werden.101

Auffallend ist beispielsweise die stilistische Ähnlichkeit zwischen den Aquarellen Kairouan von Moilliet (Farbabb. XII) – angeblich (aber nicht überprüfbar) hat Moilliet nur drei ­Aquarelle während der Tunesienreise gemalt102 – und Klees Vor den Toren von Kairouan (Farbabb. XIII). Das Sujet ist weitgehend gleich, allerdings ist das Aquarell Klees offenbar aus größerer Entfernung gemalt. Ein Unterschied zeigt sich darin, dass die Bildarchitektur und die Konturen bei Moilliet klarer und fester sind, während die Konturen bei Klee tendenziell verschwimmen. Ebenso sind die Farbflächen bei Klee kleinteiliger und diffuser als bei Moilliet. Der Horizont ist bei Klee kleinflächig quadratisch gerastert, während er bei Moilliet aus drei, in sich noch einmal farblich gegliederten, großen Farbflächen besteht. Außerdem hat Moilliet noch eine Art Beduinenzelt in den Vordergrund gestellt, das mit den Farben Gelb, Schwarz und Rot keinen Bezug zu den Lokalfarben hat. Gleichwohl besitzt der Umgang mit Farbe und Kontur in den beiden Aquarellen große Ähnlichkeit. Nicht im Bildaufbau, wohl aber in der Verwendung der Farbe kann man Klees Bild zugleich mit Mackes Kairouan III (1914, Farbabb. X) vergleichen. Auch Schmalenbach betont die künstlerische Verwandtschaft von Macke, Klee und Moilliet: „Die drei Künstler standen einige Jahre lang und besonders in den tunesischen Tagen in beständigem Gespräch, so daß der jeweilige Anteil des Nehmens und Gebens schwer auszumachen ist.“103 Auf diesen wechselseitigen Einfluss geht Klee nicht ein. Moilliet wird von Klee in seinen Tagebüchern ironisch als „Graf Louis“ oder „Onkel Lui“ tituliert, dessen „Hechtauge“ 114  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

von weiblichen Reizen geradezu magisch angezogen werde („Louis’ Hechtauge sucht ein Opfer scheints“, Tgb. 926 r.) und dessen wichtigste tunesische Souvenirs offenbar „galante Photos“ waren. Bei der „Besichtigung“ der Bordellgassen von Tunis spielt Klee die Rolle des Tugendwächters, der seine beiden Freunde vor „unsittlichem Tun“ bewahrt (Tgb. ebd.). Er konzediert den beiden aber großmütig im Stil eines „Paten“, sie seien „Gute Jungen. Sehr begabt“ (Tgb. 926 p.). Weitere Hinweise auf Moilliets künstlerische Tätigkeit gibt es nicht, allenfalls ist Klee, wie er mehrfach erwähnt, etwas genervt durch Moilliets Aufforderungen, er, Klee, solle doch etwas malen, weil er dies doch so gut könne. Brigitte Kaul weist auf einen möglichen Hintergrund für Klees herablassendes Verhalten Moilliet gegenüber hin. Letzterer – fast gleichaltrig mit Klee und seit seiner Gymnasialzeit mit ihm bekannt – hielt sich 1903 einige Zeit in Bern auf, wo er den persönlichen und künstlerischen Kontakt mit Klee gesucht hatte: ‚Auch Herr Moilliet war da und will sich nach Modellen umsehen, um wieder mit mir zu arbeiten. Ich laß mir’s gern gefallen, denn er bildet sich fest ein, dabei etwas von mir zu profitieren‘. [...] Moilliets Aktzeichnungen und Portraits, thematisch und stilistisch Klees Vorgaben entnommen, verweisen indes auf ein Scheitern der Zusammenarbeit. Und so konnte Klee selbstgefällig über Moilliet urteilen: ‚Sein stärkerer Lehrer ist unstreitig Hodler – ohne seine Schuld, er kennt ihn kaum –, und ich bin froh darüber, nimmt er mir andererseits auch den Hauptteil der Schuldenlast, einen noch Unselbständigen zu stark beeinflusst zu haben, freundlich ab.104

Eigenartig ist auch Klees Verhältnis zu Macke, zumal in der Literatur häufig die „Freundschaft“ der beiden hervorgehoben wird, etwa bei Grohmann (1954) und in Felix Klees Erinnerungsbuch an seinen Vater (1960). Wie Moilliet taucht er in den Tunispassagen von Klees Tagebuch lediglich als herumtollender Junge mit einem Faible für das Bordellviertel von Tunis auf. Auch darüber hinaus gibt es in den Tagebüchern und Briefen nur lapidare Verweise auf Macke. Lediglich einmal, in den Tagebuchauszügen, die Klee seinem Biographen Hausenstein zur Verfügung gestellt hatte, gibt es einen knappen Verweis darauf, dass Klee sich von Macke beeinflusst fühlte: Durch Moilliet lernte ich Macke und Kandinsky und Marc kennen und näherte mich ihren Bestrebungen. Die weiteren und internationalen Gesichtpunkte sagten mir zu. (Tgb., Hausenstein I, S. 501)

Während Marc einen ergriffenen Nachruf auf Mackes frühen Tod am 16.9.1914 schrieb, finden wir keine Anmerkungen Klees zu Mackes Tod. Die Behauptung Grohmanns, Klee sei durch den Tod Mackes „erschüttert“ gewesen105, findet somit zumindest in Klees Aufzeichnungen keine Bestätigung. Interessanterweise findet sich auch in den Erinnerungen von Elisabeth Erdmann-Macke (Mackes Ehefrau) kein Hinweis auf eine „Freundschaft“ zwischen Macke und Klee (Erdmann-Macke [1962/2009]), sieht man von einer lapidaren Bemerkung im Kontext der gemeinsamen Tunesienreise ab (ähnlich auch Güse [1986]). Die „Freundschaft“ von Macke und Klee scheint eher eine Erfindung von Klees frühen Biographen gewesen sein. „Ich und die Farbe sind eins“: Die Tunesienreise mit Macke und Moilliet  I  115

In der Realität dürfte es so gewesen sein, dass Klee – angesichts seiner bis zur Tunesienreise für ihn unbefriedigenden Versuche der Aneignung der Farbe – durch den Farbvirtuosen Macke (der zudem acht Jahre jünger war) irritiert war und versuchte, dessen Einfluss zu bagatellisieren. Während Klee durch Impressionismus, Kubismus, Futurismus, durch Kandinsky und Marc bis dahin nur Anregungen erhalten hatte, ohne jedoch frei auf dem „Farbklavier“ improvisieren zu können, war es Macke gelungen, das Form- und Farbrepertoire dieser künstlerischen Strömungen in eigenständige Meisterwerke zu transponieren und konnte Klee in Tunesien somit direkt mit seiner Farbvirtuosität konfrontieren (Farbabb. XI).106 Angesichts seiner Vorstellung einer „außeralltäglichen“ und charismatischen Aneignung der Farbe musste Klee derartige Einflüsse ausblenden. Die Beispiele Marc, Delaunay, Moilliet und Macke zeigen, dass die kameradschaftliche Haltung, mit der Klee von seinen früheren Biographen gern geschildert wird, allenfalls partiell der Realität entsprach. Sein Urteil über seine Malerfreunde war scharf, häufig herablassend und im Falle von Marc von drastischer Selbststilisierung auf Kosten Marcs geprägt.107 Auch über seinen Freund Kubin schreibt er, dass er im „zähen Schlamm der Erscheinungswelt“ stecken blieb (Tgb. 958). Von der „heiteren Güte“ Klees (Haftmann) ist in diesen Urteilen Klees wenig zu spüren. Ähnlich gönnerhaft äußert sich Klee auch über Rilke, den er seit 1911 kannte – Rilke war zeitweilig Klees Nachbar in der Ainmüllerstraße – und der sich 1914/15 für Klees Bilder interessierte und ihm auch eines, im Kairuan-Stil, abkaufte: Dr. Hermann Probst besitzt einige meiner Aquarelle, Auf seine Anregung hin hatte Rilke eine kleine Kollektion von mir zugestellt bekommen und brachte sie mir persönlich zurück. Sein Besuch war mir wirklich eine große Freude. [...] Hierauf las ich im Buch der Bilder und in den Aufzeichnungen des L. Brigge. Seine Sensibilität liegt mir sehr nahe, nur dass ich jetzt zentraler vordringe, während er mehr unter der Haut herumpräpariert. Er ist noch Impressionist und ich habe auf diesem Gebiet nur noch Erinnerungen. (Tgb. 959)

In Klees Briefen wird Rilke nicht erwähnt. Anders als im Falle Marcs dürften sich die beiden Künstler in der Frage des ausbrechenden Krieges gut verstanden haben. Obwohl Rilke, wie Marc und viele andere, zunächst den „Krieg-Gott“ als eine Manifestation des Göttlichen gefeiert hatte, wich diese Begeisterung schnell einer Ernüchterung. Er sah im Krieg nunmehr nur noch „Chaos“, die Entfremdung der Völker und die Umsetzung von Profitinteressen.108

Kubismus und die Auseinandersetzung mit Picasso Klees Haltung zum Kubismus und zu Picasso – ein weiterer wichtiger „Orientierungskünstler“ Klees, dem Klee allerdings erst spät persönlich begegnete – war ambivalent. In einer Ausstellungsrezension für die schweizerische Zeitschrift Die Alpen (1911/12) schreibt Klee über den Kubismus: 116  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Dass so ein Bild nachher aussieht wie eine Kristallisation [...] ist kein Spaß, sondern die natürliche Folge des kubistischen Formdenkens, welches hauptsächlich in der Reduktion aller Proportionen besteht und zu primitiven Projektionsformen wie Dreieck, Viereck und Kreis.109

Anschließend fügt Klee eine Kritik des Kubismus hinzu, mit der er Letzteren auf Landschaftsdarstellungen beschränken möchte, während er für die Darstellung lebendiger Organismen nicht geeignet sei. Die reine Landschaft verträgt in der Tat mehr [...]. Strengere Organismen vertragen solche Umwertungen weniger gut. Tier und Mensch, welche eigentlich da sind um zu leben, verlieren an Lebensfähigkeit bei jeder Umrechnung.110

Wir haben gesehen, dass Begriffe wie „Kristall“ oder „Kristallisation“ später bei Klee mit besonders positiver Bedeutung wieder in Erscheinung treten. Während er hier das Kristalline des Kubismus dem Organischen als gewissermaßen wesensfremd gegenüberstellt, wird er sich später mit dem Kristallinen identifizieren. Statt des Organischen beansprucht er für sich – das heißt nicht nur als Kunstsymbol – in seiner Selbstwahrnehmung nunmehr das Anorganische. Hier dagegen betont er, dass Mensch und Tier solche „Umwertungen“ vom Organischen ins Anorganische, ins Kristalline deshalb nicht ver­ tragen, weil sie eigentlich da seien, „um zu leben“, sie „verlieren an Lebensfähigkeit“. Noch um diese Zeit (um 1911/12) sieht Klee also im Kristallinen etwas Lebensfeindliches. Umso mehr stellt sich damit die Frage, warum Klee später, in seiner „verjenseitigten“ Kunst, etwas für sich in Anspruch nimmt, dem er früher die „Lebensfähigkeit“ abge­ sprochen hat. Seine Vorbehalte hinderten Klee nicht daran, schon früh mit der kubistischen Formsprache zu experimentieren. Einen frühen kubistischen Versuch, Dickköpfe (1912), nannte Klee „kubistisches Spiel“. Man darf diese mit leichter Hand hingestrichelte ­Zeichnung, bei der zwei aus eckigen Formen zusammengesetzte Figuren vermutlich im Streit aufeinander losgehen, eher als pseudokubistisch bezeichnen. Ähnliches gilt für Ein unheimlicher Moment (1912), eine Zeichnung, in der Mensch und Tier aufeinandertreffen. Fabelhafte Insel (1913) ist bereits eine Annäherung an die kubistische Form­ sprache. Erst 1914, bereits nach der Tunisreise, gelingt Klee eine Adaption der kubistischen Bildsprache. Ohne Titel (1914), insbesondere aber die ironische (da mit „Picasso“ signierte) Postkartenzeichnung Dem Mann in Gunten ein großes? (um 1914)111 sind Zeichnungen, die sich von Picassos kubistischen Zeichnungen kaum noch unterscheiden lassen. Um Klees Verhältnis zu Picasso zu verstehen, muss man weiter ausholen. Wir werden sehen, dass sich Picassos Einfluss im gesamten künstlerischen Schaffen Klees bemerkbar machte. Klee verhielt sich Picasso gegenüber respektvoll und distanziert zugleich. Aber selbst bei Picasso fehlte es nicht an subtilen Abwertungen. Hopfengart, die sich ausführlich mit Klees Beziehung zu dem „Spanier“ beschäftigt hat, beschreibt sie folgender­ maßen112: Kubismus und die Auseinandersetzung mit Picasso  I  117

Denn je weiter man in das Werk Paul Klees eindringt und die Hintergründe und Mitteilungen seiner verklausulierten Bildsprache entziffert, desto mehr stellt sich heraus, daß Klee nicht nur anders als Picasso, sondern trotz Picasso anders war. Denn Klee ging nicht ‚an Picasso, der so manchen alpdrückt (!), [...] klaren Sinnes vorüber‘, wie ein Kunstkritiker es einmal formulierte, sondern er hatte ihn genau im Blick. Klee lebte weder auf einer Insel, noch ignorierte er seine Kollegen und den Kunstbetrieb.113

Allerdings betont auch Hopfengart: „Klee hatte generell ein schwieriges Verhältnis zu Vorbildern und künstlerischer Einflussnahme auf sein Schaffen. Sein Ideal war die größtmögliche Unabhängigkeit und individuelle Authentizität.“ 114 Wir haben bereits gesehen, dass Klees Selbststilisierung als „Selbstlehrling“ keineswegs bescheiden, sondern eine Art Selbstermächtigung als Künstler war, ein Mythos der Selbst-Ursprünglichkeit. Umso 45  Paul Klee, Dem Mann in Gunten ein bemerkenswerter ist somit, dass Klee im Falle großes ?, Federzeichnung auf einer Karte von Paul Klee an Louis Moilliet, 9 x 5,9 cm, Picassos eine Beeinflussung seines Schaffens sah, Privatbesitz wie ambivalent auch immer er dieses Zugeständnis formulierte. Picasso hatte ähnlich wie Klee eine klare Vorstellung von seiner Rolle als autonomer Künstler. Bereits in jugendlichen Jahren hatte er eine gewisse Perfektion als naturalistischer Maler erreicht und seine Ausbildung an der konservativen Malakademie La Lonja in Barcelona im Alter von 14 Jahren begonnen, allerdings auch bald wieder abgebrochen. Mit 16 erhielt er auf der Nationalen Kunstausstellung in Madrid für sein Bild Wissenschaft und Kunst eine ehrenvolle Auszeichnung. Anschließend kreierte Picasso alle fünf bis zehn Jahre einen neuen „Stil“: die blaue und rosa Periode, den Kubismus, den „Klassizismus“, seine figuralen Deformationen, seinen expressiven Spätstil etc. Picasso war, anders als Klee, ein Frühvollendeter und trat zugleich als künstlerischer Proteus in stets neuer Gestalt in Erscheinung: Picasso orientierte sich nicht an vorgegebenen Regeln, er schuf – im Sinne des Kant’schen „Genies“ – neue Regeln. Klee dürfte darin eine Ähnlichkeit, eine Art „Seelenverwandtschaft“ gespürt haben – und sich zugleich dem davon ausgehenden Sog widersetzt haben. Clive Bell hat bereits 1922 diesen Sog, die Gefahr des Epigonentums, der von Picasso ausging, anschaulich beschrieben: Sein [Picassos] Einfluß ist grenzenlos ... Dieser Rotte [seiner Epigonen] wirft er Brocken um Brocken hin. Und die Wölfe folgen immer weiter. Die ganze Strecke entlang, die er gegangen ist, sieht man 118  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

sie in Rudeln und Gruppen an einer aufgeschnappten Idee nagen und zerren. Würgen! Würgen! Würgen! [...] die Kräftigsten haben sich ein Häppchen davongeschleppt, das sie in Ruhe und allein verzehren, gierig schnappende Geschöpfe. Das Geheul ist furchtbar.115

Es bedarf kaum einer weiteren Erörterung, dass Klee sich diesen „Rudeln“ nicht anschloss. Es ist nur indirekt, insbesondere durch Erinnerungen seiner Schüler, bekannt, dass er vor dem künstlerischen Sog, der von Picasso ausging, warnte. Ju Aichinger-Grosch, eine langjährige Freundin der Familie Klee, erinnert sich an derartige Warnungen, aber auch an den Respekt und an die teilweise unverhohlene Bewunderung, die Klee für Picasso hegte: Eine tiefste Freude in den letzten Jahren bereitete ihm aber zweifellos der Besuch Picassos, von dem er immer wieder erzählte. Picasso verstand seine Art, seine Probleme, seine Wege und war zum Teil selbst durch alle diese Schwierigkeiten gegangen. Er hatte scheinbar einige sehr wichtige und schöne Dinge über Klees Bilder gesagt, denn Klee strahlte und sagte: ‚Sie haben ihm gefallen, aber für mich ist wichtig aufzupassen, daß sich seine Art bei mir nicht unwillkürlich einschleicht, denn er ist eine große und sehr starke Persönlichkeit, und es kommt leicht vor, daß man Dinge, die man bejaht, unbewußt übernimmt, aber jeder muß seinen eigenen Weg gehen.‘116

Dass der Besuch Picassos 1937 vermutlich doch etwas anders, vor allem wortkarger verlief, wie Bernhard Geiser berichtet, steht auf einem anderen Blatt117. „Ein Gespräch wollte einfach nicht aufkommen. Nur ab und zu stellte Picasso eine kleine Frage. Meist bezog sie sich auf das technische Verfahren.“118 Eine dieser Fragen war etwa, ob Klee eine Zeichnung mit der Feder gemacht habe („Avec la plume?“), worauf Klee lakonisch antwortete: „Avec la plume.“ Geiser berichtet auch darüber, dass Klee über die Verspätung von Picassos Besuch enttäuscht war und er bereits zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich angegriffen wirkte: Erstaunt und wohl etwas erzürnt schaute er uns an. Wahrscheinlich hatte er uns nicht mehr erwartet und hatte sich bereits umgezogen. Er trug nun eine wollene Hausjacke und an den Füssen warme Filzpantoffeln. Klee, der viel auf sein Äusseres gab, hätte sich am Tage Picasso kaum so präsentiert. In dieser Gewandung sah er übrigens sehr alt und leidend aus. Auffallend war die Müdigkeit, die in seinen Bewegungen und auch in seiner Stimme lag.119

Wir werden später sehen, dass Petra Petitpierre, Klees langjährige Freundin und ehemalige Schülerin, Klee zu diesem Zeitpunkt, als sie ihn nach vielen Jahren erstmals wiedersah, ähnlich schilderte wie Geiser. Geisers und Petitpierres Schilderungen unterscheiden sich signifikant von denjenigen Lily Klees, die immer wieder – etwa gegenüber Will Grohmann – betonte, dass es Klee relativ gut gehe und er sich auf dem Weg der Besserung befinde. Respekt und Distanz Klees gegenüber Picasso dürften jedoch in den Erinnerungen von Ju Aichinger-Grosch, die Klee sehr gut kannte, zutreffend wiedergegeben sein. Auch Kubismus und die Auseinandersetzung mit Picasso  I  119

wenn Picasso möglicherweise nicht viel sprach, bedeutet das nicht, dass er dem Werk des Kollegen nicht anerkennend begegnete. Hopfengart vermutet, dass Picassos Besuch bei Klee ein „zwiespältiges Gefühl“ hinterlassen habe.120 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die Bemerkungen des Picasso-Biographen Penrose zu diesem Zusammentreffen: Durch das Leben im Exil und die Qualen der politischen Ereignisse hatte Klees Gesundheit bereits gelitten, aber er begegnete Picasso mit großer Wärme. ‚Er war großartig, sehr würdevoll und verdient ob seiner Haltung und seiner Arbeit Respekt‘ erzählte mir Picasso [...]. Frau Klee spielte ihnen Bach vor121 und als die beiden Maler sich trennten, war ihre Hochachtung füreinander größer als je zuvor [...]. Er (Picasso) leugnete, Klee gegenüber die abgedroschene Bemerkung gemacht zu haben, die man ihm zugeschrieben hat: ‚Sie sind der Meister des kleinen, ich bin der Meister des großen Formats‘.122

Wie viele Bilder und Ausstellungen Picassos Klee gesehen hat, lässt sich nicht exakt rekonstruieren. Hopfengart weist darauf hin, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit Picassos große Retrospektive 1913 in Thannhausers Moderner Galerie in München besuchte. Sie weist in diesem Zusammenhang allerdings auch darauf hin, dass sich in den Tagebüchern Klees des Jahres 1913 kein Hinweis auf die Ausstellung findet. Da Klee aber auch die Tagebücher dieses Jahres später redigierte, liegt, so Hopfengart, die Vermutung nahe, dass er mögliche Eintragungen zu dieser Ausstellung nachträglich tilgte. „Anders als Klees schriftliche Äußerungen, die oft mehr verschweigen, als sie preisgeben, lässt Klees Werk der Jahre 1913 und 1914 erkennen, wie intensiv ihn Picasso und der Kubismus in der Folge beschäftigten.“123 Überliefert ist dagegen Klees Reaktion auf die große Picasso-Retrospektive aus dem Jahr 1932 in Bern, in der neben älteren Arbeiten Picassos insbesondere seine neueste großformatige Produktion ausgestellt wurde. In einem Brief an Lily Klee schreibt Klee: [...] die Picasso-Ausstellung war eine neue Bestätigung und die letzten starkfarbigen Bilder eine große Überraschung. Er hat auch noch Matisse mit einbezogen. Die Formate sind meist größer als man denkt. Viele der Badewitze gewinnen durch zarte Malerei. Alles in Allem d e r Maler von heute.124

Wir kennen derartige Äußerungen Klees gegenüber dem Werk von Kollegen bereits. Vordergründig dominiert Erstaunen, ja Respekt vor den großformatigen Bildern. In-­ direkt sagt er jedoch, dass Picasso Anleihen bei Matisse vorgenommen habe und ganz direkt, dass es sich bei einigen Bildern – vermutlich Picassos bekannte Figuren am Strand, etwa Sitzender Akt, sich den Fuß trocknend (1921) oder Badende am Strand (1931)125 – um einen „Witz“ handele. Auch dass Picasso „d e r“ Maler von heute sei, ist ein zwie­ spältiges Lob. Es kann auch bedeuten, dass Picasso eben der Maler ist, den derzeit alle Welt bewundert, der zeitgemäß ist, was nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal zu sein hat. 120  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Ehe ich auf Klees Rezeption des Kubismus eingehe, möchte ich mit einem – vielleicht überraschenden – Gedanken Werner Hofmanns zur Konzeption des Kubismus beginnen: Auf größere Geschichtszusammenhänge bezogen, erkennt man darin den anspruchsvollen Versuch, Idealismus und Naturalismus miteinander zu versöhnen. Da dieses weitgespannte Vorhaben nicht methodisch betrieben wird, treten einmal die wirklichkeitsnahen, das andere Mal die formstrengen Züge in den Vordergrund.126

Dieses Verhältnis von Idealismus und Naturalismus wird von Hofmann auch als Verhältnis von Form- und Sachinhalten bezeichnet ([1978], S. 280 ff.), deren teilweise antagonistisches Verhältnis, so Hofmann, die gesamte Kunst der Neuzeit bestimme. Das nichtmethodische Vorgehen des Kubismus zeige sich, Hofmann zufolge, auch in den unterschiedlichen „Wirklichkeitsstufen“ des Kubismus. Das künstlerische Vorgehen Klees sei dagegen grundsätzlich anders als das des Kubismus. Auch wenn man, oberflächlich betrachtet, sowohl im Kubismus als auch bei Klee das Bemühen erkennen könne, „sichtbar“ zu machen, statt an der Oberfläche des Sichtbaren zu verharren, werde dieses Bestreben in unterschiedlicher Weise verwirklicht. Während im Kubismus „Sachinhalte“ in bestimmter Weise konstruiert und „deformiert“ würden, um Aspekte sichtbar zu machen, die sich dem herkömmlichen optischen Zugang verschlössen, liege bei Klee der Schwerpunkt auf den „Forminhalten“, aus denen sich dann „Sachinhalte“, also Gegenstände ergeben könnten, die nicht mit den Gegenständen der gewohnten, optisch zugänglichen Welt übereinstimmen müssten. „Klee entdeckt den zwar schmalen, doch langen Grat, auf dem die formenden Mittel sich zu gegenständlichen Hieroglyphen ‚umfunktionieren‘ lassen, ohne deshalb ihre Eigenständigkeit preiszugeben.“127 Eine der prägnantesten Formulierungen von Klees Formvorstellung findet sich in seiner Jenaer Rede (1924). In einer der zentralen Passagen, die ich etwas ausführlicher zitieren möchte, beginnt Klee mit dem „Gegenständlichen“, macht aber deutlich, dass er ein weitgespanntes, „kosmisches“ Verständnis des Gegenständlichen besitzt. Zugleich verweist er auf die „Deformation“ des Gegenstandes, die, folgt man Hofmann, eigentlich charakteristisch für den Kubismus ist: Ich möchte nun die Dimension des Gegenständlichen in einem neuen Sinne für sich betrachten, und dabei zu zeigen versuchen, wieso der Künstler oft zu einer solchen scheinbar willkürlichen ‚Deformation‘ der natürlichen Erscheinungen kommt. Einmal misst er diesen natürlichen Erscheinungsformen nicht die zwingende Bedeutung bei, wie die vielen Kritik übenden Realisten. [...] Er ist vielleicht ohne es gerade zu wollen Philosoph. Und wenn er nicht wie die Optimisten diese Welt für die beste aller Welten erklärt, [...] so sagt er doch: In dieser ausgeformten Gestalt ist sie nicht die einzige aller Welten! So besieht er sich die Dinge, die ihm die Natur geformt vor Augen führt, mit durchdringendem Blick. Je tiefer er schaut, desto leichter vermag er Gesichtspunkte von heute nach gestern zu spannen. Kubismus und die Auseinandersetzung mit Picasso  I  121

Desto mehr prägt sich ihm an Stelle eines fertigen Naturbildes das allein wesentliche Bild der Schöpfung als Genesis ein. Er erlaubt sich dann auch den Gedanken, dass die Schöpfung heute kaum schon ab-­geschlossen sein kann, und dehnt jenes weltschöpferische Tun von rückwärts nach vorwärts. Der Genesis Dauer verleihend.128

Deutlich wird an dieser Stelle, worin sich Klees „Deformation“ des Gegenständlichen von den Kubisten unterscheidet: Klees Deformation dehnt sich in Richtung des Kosmos, der Genesis aus, bezieht sie in seine Sach- und Forminhalte ein. Klee möchte in einen Bereich vordringen, der jenseits unserer begrenzten irdischen Vorstellungen liegt. Hier wird noch einmal das Wechselverhältnis von Stil und Weltanschauung bei Klee deutlich. Wer, wie Klee, der Überzeugung ist, Kunst ins Kosmische ausdehnen zu müssen, wird dies kaum in nachahmender, auch nicht in ausschließlich abstrakter Form erreichen können: Er wird einen neuen „Stil“ finden müssen. Insofern ist Hofmanns „Hieroglyphen“-These, auch wenn sie sich nur an einem Teil der Klee’schen Werke verifizieren lässt, berechtigt. Welchen Respekt, bei aller Ambivalenz, Klee gegenüber Picasso besaß, zeigt insbesondere sein Ölbild in ovalem Rahmen Hommage à Picasso (1914, Farbabb. XIV). Schon hier zeigt sich, dass Klee den Kubismus auf eigene Weise interpretierte. Anders als in den Ovalbildern von Picasso und Braque werden in diesem Bild quadratische Flächen unterschiedlicher Größe nebeneinandergesetzt (Klees spätere „Quadratbilder“ vorwegnehmend), unter Verzicht auf die prismatische und polyperspektivische kubistische Flächengestaltung, die wir allerdings in späteren Bildern Klees durchaus finden. Außerdem fehlt die charakteristische formale Ausdünnung der kubistischen Ovalbilder zum Rand hin: In Hommage à Picasso füllen Form und Farbe gleichmäßig die Bildfläche. Geradezu karikaturistisch ist der Kubismus in Kl. Weihnachtsstilleben (1914) adaptiert. Die unterschiedlich rechteckigen Farbflächen sind mit Blumen und Bäumchen übersät, die dem Bild den Charakter eines phantasievoll gestalteten, etwas kitschigen Flickenteppichs verleihen. Doch dies war – Klee hatte bekanntlich einen ausgeprägten Hang zur Ironie – möglicherweise mit dem Titel „Weihnachtsstilleben“ auch beabsichtigt. Eine weitere – vieldiskutierte – Annäherung an den Kubismus ist die Zeichnung Tod für die Idee, die erste Arbeit Klees aus dem Jahre 1915. Dieses Bild wurde zu Unrecht als patriotische Äußerung Klees im Rahmen der damals vorherrschenden Kriegsbegeisterung interpretiert, die der Maler ja keineswegs teilte – zum Verdruss seines Freundes Marc (ich werde später noch einmal darauf zurückkommen). Unter einer vertikal aufragenden Architektur, in der auch Kirchturmspitzen erkennbar sind, liegt eine durchgestrichelte Figur, auf deren Kopf man ansatzweise eine Pickelhaube erkennen kann. Man kann diese Zeichnung als eine Anspielung auf den frühen Tod von Macke verstehen, der bereits in den ersten Kriegswochen fiel und der, anders als Klee, dem Krieg positiv gegenüberstand und geradezu enthusiastisch in den Krieg zog, also für eine „Idee“ starb. Soweit das Bild tatsächlich einen „Tod für die Idee“ darstellt, ist jedenfalls nicht erkennbar, dass die geradezu kläglich anmutende, durchgestrichene menschliche Figur eine Glorifizierung des Todes sein sollte. 122  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

46  Paul Klee, Der Tod für die Idee, 1915, 1, Lithographie, 15,5 x 10,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Regine Prange hat den Vorschlag gemacht, in Tod für die Idee eine Umsetzung von Klees Gedanken zur Kristallisation und zum „kristallinen“ Künstler zu sehen, die Klee in seinen Tagebüchern unmittelbar zu Beginn des Jahres 1915 formulierte. Den Tagebucheintragungen zufolge ist der kristalline Künstler derjenige, der sich qua Abstraktion von der scheinhaften äußeren Wirklichkeit abwendet und in einen „jenseitigen“ (Kunst-)Raum hinüberbaut (Tgb. 950). Pranges Interpretation zufolge wäre die aufragende Architektur eben dieses Hinüberbauen ins Jenseitige, was der Künstler mit dem Tod der diesseitigen Persönlichkeit qua Kristallisation bezahle.129 Dieser Interpretation steht nicht nur entgegen, dass die Kristallisation Klee zufolge Unsterblichkeit sichern soll, sondern auch die Vieldeutigkeit der durchgestrichenen Figur. Es ist einerseits nicht zu übersehen, dass die menschliche Figur zumindest andeutungsweise eine Pickelhaube trägt, was nahelegt, dass Klee hier vermutlich eine Verdichtung vom „Tod für das Vaterland“ und dem „kristallinen Künstler“ vorgenommen hat. Andererseits ist zu beachten, dass die durchgestrichene Figur keineswegs glorifizierend, sondern fast karikierend dargestellt ist, somit auch eine subtile Kritik an den Kriegs-„Ideen“ von Macke und Marc darstellen könnte. Die von Prange aufgestellte Gleichung „kristallin – Abstraktion – Tod“ ist irreführend. Der kristalline Künstler entäußert sich Klee zufolge nämlich nur des sinnlichen Teils Kubismus und die Auseinandersetzung mit Picasso  I  123

47  Paul Klee, Zerstörung und Hoffnung, 1916, 55, Lithographie, 40,5 x 33 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

seiner Persönlichkeit, er wird „Neutralgeschöpf“ im Sinne eines geistig-metaphysisch orientierten Wesens und damit quasi unsterblich. „Tod“ ist hier somit unzutreffend, vielmehr vergeistigt sich der Künstler im Kristallinen. Dem entspricht Klees Vorstellung, durch die Kristallisation gewissermaßen unsterblich zu werden: „Kann ich denn sterben, ich Kristall“ (Tgb. 951). Hinter der Anspielung auf die aktuelle politische Situation (der patriotische Tod für die Idee, die Pickelhaube) würde sich also eine ambivalente Symbolik verbergen: der reale – und möglicherweise sinnlose – Tod für die „Idee“, andererseits der symbolische „Tod“ des Künstlers und seine Wiederauferstehung als unsterblicher kristalliner Künstler. Im Gegensatz etwa zu Dem Mann in Gunten (Abb. 45) (1914) ist Tod für die Idee bestenfalls ein Experimentieren mit dem Kubismus. Dasselbe gilt für Bilder wie Zerstörung durch die Marine und Zerstörung und Hoffnung (beide 1914). Klee hat die Gegenständlichkeit nicht prismatisch aufgelöst, sondern sie auf wenige Konturen reduziert. Dies wird vor allem in Zerstörung und Hoffnung deutlich, das aus einem Konglomerat von Diagonalen, Kreisen und Schraffuren besteht. Das „Gegenständliche“ kommt dadurch wieder ins Bild, dass Klee kosmische Symbole (Mond, Sterne) ins Bild einfügt. Hier wird deutlich, wie schwer der kosmische Bezug, den Klee später in seiner Jenaer Rede in Anspruch nimmt, zu ver124  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

48  Paul Klee, (Im Stil v. Kairouan, ins Gemäßigte übertragen), 1914, 211, Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton, 12,3 x 19,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

wirklichen ist. Er kann dies in diesem Fall nur durch Inanspruchnahme von Symbolen andeuten: Aber die kosmischen Symbole sind keine „Hieroglyphen“, sondern eben nur Symbole. Dominant ist der Sach-, nicht der Formbezug. In Seelandschaft mit dem Himmelskörper (1920) greift er die Konstruktion von Zerstörung und Hoffnung etwas abgewandelt noch einmal auf. Auch diese Experimente mit formalen Elementen des Kubismus zeigen, dass es Klee nicht um eine Imitation des Kubismus ging, sondern dass dieser für ihn eher ein Vehikel war, sein Ziel der „Reduction“ qua Abstraktion voranzutreiben. So kann man in Steinbruch (1915) eine gelungene abstrahierende Naturdarstellung sehen, die zwar insoweit eine formale Übereinstimmung mit dem Kubismus besitzt, als die Wände des Steinbruchs sich aus rechteckigen „Kuben“ zusammensetzen – mit dem Kubismus Picassos und Braques hat dies jedoch kaum Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Klees Tunesienbilder, vor allem seine tunesischen Stadtansichten (insbesondere von Kairouan und Hammamet) zeigen stark abstrahierende Bildkonstruktionen und das Aquarell Im Stile von Kairouan, ins Gemäßigte übertragen (1914) ist vermutlich das erste abstrakte Bild Klees. Verblüffend bei diesem Bildtitel ist die angebliche Übertragung ins „Gemäßigte“, die sich nicht auf die Farben beziehen kann (sie gleicht den anderen Tunesienbildern). Hier wird vielmehr eine Bildsprache deutlich, die Klee später in den sogenannten „Quadratbildern“ weiterentwickeln wird. Eine Fortführung der abstrahierenden Formsprache finden wir auch in Rote u. weisse Kuppeln (1914) und in dem fast abstrakten Ölbild Über ein Motiv aus Hammamet (Farbabb. XV), ebenfalls eine Vorwegnahme der späteren Quadratbilder. Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel für Klees Auseinandersetzung mit der kubistischen Formsprache ist das 1917 entstandene Bild Mit dem Ei. Das Bild täuscht Gegenständlichkeit – die ja in fast allen kubistischen Bilder erhalten ist – vor, etwa in Form des „Eis“, das aber auch ein anderer Gegenstand sein könnte und nur durch den Titel zum Ei Kubismus und die Auseinandersetzung mit Picasso  I  125

49  Paul Klee, (Kakendaemonisch), 1916, 73, Aquarell auf Grundierung auf Baumwolle auf Karton, 18,5 x 25,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

50  Paul Klee, Tiergarten, 1918, 42, Aquarell auf Grundierung auf Papier auf Karton, 17,1 x 23,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

wird. Entscheidend ist, dass eine abstrakte Bildräumlichkeit erzeugt wird, die räumliche Tiefe suggeriert, die durch die Aufschichtung von unregelmäßigen Polyedern und kristallin-prismatischen Gebilden entsteht. Experimente mit der Bildräumlichkeit werden Klee auch in späteren Jahren immer wieder beschäftigen. 126  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Während der Kriegszeit entwickelte Klee diese Kombination von Abstraktion und Farbigkeit weiter, in der Regel durchmischt mit figuralen Elementen, u. a. in Anatomie der Aphrodite (1915), Stadt der Türme, Schiffssternenfest, Kakendämonisch, Mit dem H, Dämon über den Schiffen (alle 1916), Mit dem Regenbogen, Spiel der Kräfte einer Lechlandschaft (beide 1917), Burg mit untergehender Sonne, Berglandschaft, Unter dem schwarzen Stern, Kleine Vignette an Ägypten, Tiergarten (alle 1918). Bilder wie Kakendämonisch, Tiergarten oder Mit dem Ei zeigen Klee auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft in dieser Zeit. Nicht zuletzt durch die Förderung, die Klee durch seinen ersten Galeristen Goltz (mit dem er einen Alleinvertretungsvertrag abschloss) und durch das Engagement vonWalden, Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm und Betreiber der gleichnamigen Galerie in Berlin, erhielt, wurde Klee in Deutschland immer bekannter und konnte erstmals den Lebensunterhalt der Familie durch den Verkauf seiner Bilder sichern.130 Kubistische Elemente tauchen auch in späteren Arbeiten Klees wieder auf, etwa in den Zeichnungen Mechanik eines Stadtteils (1928) und Santa A in B (1929). Auch das in zwei Versionen vorliegende Bild (Öl auf Tempera bzw. Öl und Aquarell) Grenzen des Verstandes (1927, 1927/28) enthält Anspielungen auf den Kubismus, zugleich auch auf jenen Bereich des Bildnerischen – Klee spricht gelegentlich vom „Zwischenreich“131 –, in dem Klee zufolge der Intellekt „kläglich“ scheitert. Ein späteres Bild, Kristallinische Landschaft (1929), ist ebenfalls eine eindrucksvolle kubistisch-kristalline Konstruktion.

Exkurs: Die „Jenseitigkeit“ der Farbe Am Beispiel eines etwas später entstandenen, ebenfalls kubistisch inspirierten Bildes (Der Vollmond [1919], Farbabb. XVI) lässt sich exemplarisch zeigen, wie vielfältig, aber auch subjektiv und einseitig Klee interpretiert werden kann. Dabei wird einerseits die Gefahr sichtbar, dass sich Interpretationen allzu eng an die jeweiligen „Künstler­ theorien“, in diesem Fall an Klees esoterisches Selbstverständnis, anschließen132. Es ist ein Irrtum anzunehmen, die Selbstinterpretation eines Künstlers sei besser und treffender als die eines Kritikers. Der Künstler liefert eine, nicht die definitive und authentische Interpretation des Werkes. Deutlich wird aber andererseits auch die umgekehrte Gefahr: die Tendenz, dass Kommentare sich von den Werken ablösen und häufig nur noch dazu dienen, die Leere der Objekte zu kompensieren133. Ich möchte im Folgenden auf Werner Haftmanns Interpretation des Bildes Der Vollmond eingehen – als Beispiel dafür, wie beide Typen von Kommentaren in eine Interpretation einfließen können. Haftmanns Klee-Interpretation ist insofern von Bedeutung, als sein Klee-Buch die erste bedeutende Biographie des Malers nach 1945 und ein Orientierungspunkt der neuen Interpretation Klees nach dem Kriege war. Zunächst einmal beschreibt Haftmann zutreffend, dass in diesem Bild ein Bezug zum Kubismus und zum „Kristallinen“ zu erkennen ist, wenn auch nicht so ausgeprägt, wie er unterstellt: Exkurs: Die „Jenseitigkeit“ der Farbe  I  127

Aus dunklem Grund wachsen uns da kristalline Formen entgegen: Dreiecke, Quadrate vor einfachen Flächen. Vom Formalen her gesehen ordnet sich dieses Gefüge in vier flachen räumlichen Plänen, die sich der Vorderfläche parallel lagern. Die Verwandtschaft zum Bildbau des frühen kubistischen George Braque scheint unverkennbar. Indessen – verweilen wir auch nur kurz bei dem Vergleich, so macht uns schon die sonore, zwischen Violett und Orange gespannte Farblichkeit Klees schwanken.134

Im nächsten Schritt wird diese unterschiedliche Farbigkeit gleichsam kosmisch und metaphysisch aufgeladen. Während „der edle, aber ganz diesseitige Grau- und Ockerklang des frühen Braque“ eben nur diesseitig ist, wird die Farbigkeit Klees in „jenseitigere Regionen“ versetzt. Warum sind Braques „edle“ Grau- und Ockerfarben „diesseitig“, Klees Violett- und Orangetöne hingegen „jenseitig“? Man kann Klees Farben ja als angenehmer oder gar „schöner“ erleben, warum sie aber „jenseitig“ sein sollen, verrät Haftmann nicht. Er treibt diese Erhöhung Klees buchstäblich auf die Spitze, indem er auf die Kompositionsstruktur des Bildes eingeht: Als strebe das alles wie einzelne schüttere Teilformen magnetisch angezogen zu der runden Ganzheit des leuchtenden Lichts empor und gelange mit äußerster Kraft auf jene schmale Spitze, wo der Abstand vom Irdischen zum Kosmischen in Schärfe sichtbar wird. Unberührbar diese runde, lichte Form. Dies da auftauchende dichterische Ausdrucksmoment ist ein reines Formereignis, es wird erlebt aus den nach oben zielenden Bewegungsimpulsen der dunkel-licht gereihten fragmentarischen Splitterformen, deren Bewegung in der Dreiecksspitze ihre Kulmination findet und sich nun dem ganz Anderen [....] gegenüber findet – dem lichten Kreis: ‚diese reinste Bewegungsform, die kosmische, entsteht erst durch den Wegfall der irdischen Gebundenheit‘, wie Klee einmal den Kreis definiert.135

Wir finden dieses interpretatorische Vorgehen häufig in der Klee-Literatur. Ausgangspunkt und Gewährsmann derartiger Interpretationslyrik ist Klee selbst. Da der „Kreis“ – Klee zufolge – nun einmal nicht irdisch gebunden sein soll, bewegt sich Klee somit zwangsläufig im Bereich des Jenseitigen, während der schlichtere Braque im Diesseitigen verharrt. Dass dieses „Formereignis“ zudem noch „dichterisch“ ist, versteht sich damit fast von selbst. Klee wird von seinem Interpreten umstandslos ins Jenseits versetzt. Nüchterner gefragt: Wenn der Vollmond ein „reines Formereignis“ sein soll, weshalb repräsentiert er dann das „ganz Andere“? Wir haben gesehen, dass – sofern Klee nicht primär naturalistisch oder abstrakt arbeitet – die formenden Kräfte (also auch Klees „Hieroglyphen“) eben nicht einfach Formereignisse sind, sondern gerade den Bezug zum Kosmos und zur Genesis evozieren, „sichtbar“ machen sollen. Es gibt bei Klee keine reinen Formereignisse. Zumindest der Anspruch Klees ist hier erkennbar: Die pyramidale „diesseitige“ Flächenaufschichtung kommt kurz vor dem Vollmond zum Stehen und verweist somit auf dessen kosmische Bedeutung. Dass dies zugleich das „ganz Andere“ sein soll, ist Haftmanns Spekulation: Es ist der empirische, von der Erde entfernte Mond und nur in diesem Sinne ist er „kosmisch“. Auch für Klee ist der Mond nicht das „ganz Andere“, sondern – wenn auch im Kontext seiner romantischen Naturphilosophie – ein reales Objekt. 128  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Des Weiteren wäre auf Haftmanns Interpretation der von Klee verwendeten „Zeichen“ hinzuweisen, „wie sie Kinder oder Kartographen setzen, um das ganze Gebilde dinglich lesbar zu machen: drei Zeichen für die Bäume: Nadelbaum, Laubbaum, Kugelbaum, und schon wird die irdische Zone bezeichnet als Bergland unterm Zauberlicht des Mondes“ (Haftmann [1950], S. 55 f.). Warum soll eigentlich das „ganze Gebilde“ erst unter Verwendung derartiger Bäumchen „dinglich“ lesbar sein? Sie sind keine formbildenden Hieroglyphen, sondern tatsächlich nur „Zeichen“, icons, die dem Bild nichts Wesentliches hinzufügen. Ohne Bäume wäre Der Vollmond ein ebenso farbig ansprechendes, weitgehend abstraktes und zudem gut komponiertes Bild. So aber riskiert Klee die Nähe zum Kitsch, wie wir bereits an seinem Weihnachtsstilleben (1914) gesehen haben. Die ästhetische Sensibilität mancher Interpreten berauscht sich gleichsam an der eigenen poetischen Sprache bei gleichzeitiger partieller Blindheit gegenüber den Details des Werkes. Würde man die Bäume, wie Haftmann andeutet, Klees Neigung zum „Primitiven“ oder Kindlichen zurechnen, dann bliebe immer noch die Frage, warum Klee ein vorwiegend abstrakt-kristallin komponiertes Bild mit derartigen „Zeichen“ versehen musste. Wir werden in seinem Spätwerk sehen, dass er seinen „Primitivismus“ – eine Variante der art brut – auch ohne derartige Ausschmückungen gestalten konnte.

Picasso und das Spätwerk Klees Picassos Einfluss auf Klee beschränkte sich nicht auf die Übernahme kubistischer Stilelemente. Am offenkundigsten war bei Klee dabei die Veränderung der Bildformate, wofür die Picasso-Ausstellung von 1932 in Zürich ein wichtiges Datum darstellte136. Nachdem er die Großformate Picassos gesehen hat, vergrößert er selbst die Dimensionen seiner Bilder: Nachdem Klee Picassos große Bilder in Zürich gesehen hatte, reagierte er sofort. Bereits Ende des Jahres 1932 entstanden erste Gemälde, die seine bisher üblichen Dimensionen sprengten und maximale Seitenlängen von bis zu eineinviertel Meter erreichten137.

Neben der Größe der Formate gab es eine Reihe von weiteren Einflüssen Picassos auf Klee, insbesondere Veränderungen – „Metamorphosen“ – der menschlichen Figur und des menschlichen Gesichts. Hopfengart weist darauf hin, dass es bei Klee schon früh Beispiele für „verschobene“ Gesichter gab, beispielsweise als Klee mit der kleinformatigen Arbeit Bertha ([1920], Öl und Feder auf Papier) Frontal- und Profilansicht miteinander kombinierte. Das Bild Clown (1929), in dem diese Kombination ebenfalls in Erscheinung tritt, ist möglicherweise unter dem Einfluss von Picasso entstanden. Dies könnte bedeuten, dass es bei Klee frühe derartige Formexperimente gab, die dann durch Picasso gleichsam eine Bestätigung und Verstärkung fanden. Betrachtet man jedoch spätkubistische Bilder Picassos (etwa Die Schülerin, Mädchen mit Reifen), so erkennt man, dass Picasso die charakteristische Kombination von Profil- und Frontalansicht bereits 1919 Picasso und das Spätwerk Klees  I  129

51  Paul Klee, Clown, 1929, 133, Ölfarbe auf Leinwand, 67,3 x 50,5 cm, Hilti Art Foundation, Schaan

umsetzte, indem er das Gesicht zerschnitt und neu zusammensetzte. Es ist somit durchaus möglich, dass Klee, entgegen seiner Stilisierung als „Selbstlehrling“, auch bei diesen Formexperimenten von Picasso beeinflusst war. An einem Spätwerk Klees, Hungriges Mädchen (1939), lässt sich eine besondere Variante der Kombination von Profil- und Frontalansicht und ihre Adaption durch Klee sehr deutlich erkennen. Klee zeigt ein Zwitterwesen, das einerseits durch Kleidung und Haare als menschlich bzw. weiblich identifiziert werden kann, durch Schnauze und spitze Zähne andererseits tierartig ist – es könnte einen Hund oder ein Krokodil darstellen. Dabei sind die reptilienartigen Augen frontal, die Schnauze dagegen im Profil dargestellt. Dieses Muster tritt bei Picasso mehrfach in Erscheinung (u. a. in Kopf eines Mädchens [1929]). Bei Frau im Lehnstuhl (1927) etwa fällt die Ähnlichkeit nicht sofort ins Auge, weil der Mund nicht schnauzenförmig geöffnet ist, sondern ein bleckendes Gebiss gezeigt wird. Die Augen und die abstehenden Haare sind jedoch ­ähnlich wie bei Klee gestaltet. Deutlicher ist die Ä ­ hnlichkeit bei Großer weiblicher Akt in einem roten Sessel (1927, Farbabb. XVII); der Mund ist schnauzenförmig geöffnet, die Augen sind nicht im Profil, sondern frontal ausgerichtet.138 Anders als bei Klee ist bei Picasso jedoch die Geschlechtlichkeit der Frau (Brüste, Scham) deutlich hervorgehoben. Klees Hungriges Mädchen (Farbabb. XVIII) ist jedoch trotz dieser formalen Beziehung zu Picasso ein eigenständiges Kunstwerk von geradezu beängstigender Intensität und zeigt, wie Klee mit Motiven arbeitet. Klee hat Teile der formalen Elemente Picassos ­übernommen, abgewandelt, die Farbe verändert, sich in erster Linie auf den zwitterar­ tigen Kopf konzentriert – und schließlich noch etwas hinzugefügt, was das Erschreckende des Bildes verstärkt: Das hungrige „Mädchen“ hält seine Hand (oder Pfote) vor den Mund, so dass der Eindruck entsteht, es beiße sich vor Hunger in seine eigene Hand. Ähnlich wie Tod und Krankheit wird so auch Hunger zu einer existenziellen Chiffre in Klees Spätwerk. 130  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

52  Pablo Picasso, Frau im Lehnstuhl, 1927, Öl auf Leinwand, 128 x 97,8 cm, Fondation Beyeler, Riehen

53  Pablo Picasso, Kopf eines Mädchens, 1929, Öl auf Leinwand, 61 x 38 cm, Kunstmuseum BernHermann und Margrit Rupf-Stiftung

Im Spätwerk finden sich darüber hinaus zahlreiche Darstellungen fragmentierter Körper, am eindrucksvollsten in Angstausbruch III (1939) (Abb. 73)139. Hopfengart sieht hier Ähnlichkeiten mit Bildern Picassos, auf denen knochenartige Figurationen dargestellt sind (sie bezeichnet sowohl Picassos als auch Klees Bilder als „Knochenformationen“). „Knochenformation“ trifft den Sachverhalt nur ungenau. Während Picassos Bilder tatsächlich knochenartige Figurationen zeigen, ist dies bei Klee nicht der Fall: Es handelt sich bei ihm vielmehr um dissoziierte Körperteile, nicht um Knochen. Derartige Bilder bringen, wie Angstausbruch III deutlich zeigt, Klees Angst vor der eigenen körperlichen Dissoziation aufgrund seiner Krankheit Sklerodermie zum Ausdruck, die Angst, dass sich sein Körper aufgrund dieser Krankheit immer mehr der Kontrolle entzieht. Zudem warendurch die Erkrankung auch Klees Gehfähigkeit und die Beweglichkeit seiner Arme (offenbar aber nicht seiner Hände) stark beeinträchtigt – auch hier ein Verlust der Kontrolle. Klee hat diesen Kontrollverlust in den verschiedenen Versionen von Angstausbruch dramatisch in Szene gesetzt. Denkbar ist auch, dass Klee in Hungriges Mädchen direkt auf seine Krankheitssymptome anspielt. Aufgrund der Verhärtung der Speiseröhre hatte Klee große Probleme, Nahrung zu sich zu nehmen und musste sich phasenweise mit flüssiger Nahrung be­-gnügen. Klee war ein ausgezeichneter Koch, der ausgeklügelte Menüs herstellen konnte. Die Beschränkung auf flüssige Nahrung musste ihm als gravierender Mangel, als „Hunger“, erscheinen. Dass ihn die Krankheit gerade hier traf – Klees „Sinnlichkeit“ beschränkte sich zunehmend auf seine Oralität, auf Essen, Trinken und Rauchen –, mutet wie eine makabre Pointe seiner Erkrankung an. Picasso und das Spätwerk Klees  I  131

Klee und der Krieg Obwohl der Krieg Klee angeblich „innerlich“ nichts anging, beschäftigte er sich gleichwohl künstlerisch intensiv mit der Kriegsthematik. Klee hatte sich zunächst durch den Krieg sogar eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Kunst und der Künstler vorgestellt, wie er 1914 in einem Brief an Kandinsky schrieb. Wer wisse: [...] ob der nationale Aufschwung Deutschlands uns nicht auch wieder Mittel bringt (Geld und Mut von Seiten der Förderer und Verleger) zu denen unter dem Druck der letzten Jahre der Mut gefehlt hat140.

Klees ökonomische Spekulation auf den Krieg schlug zunächst fehl, sollte sich aber im Verlauf des Krieges tatsächlich bewahrheiten. Zu dem vierzehntägig erscheinenden ­Zeitecho. Ein Kriegstagebuch der Künstler, das weitgehend der Kriegseuphorie der ­ersten Kriegsjahre verpflichtet war, steuerte Klee eine Lithographie Schlachtfeld (1914) bei (sie wird in Klees Œuvre-Katalog nicht erwähnt), die offenbar nicht die Zustimmung der Herausgeber fand. Sie wurde nur in wenigen Exemplaren der Zeitschrift gedruckt. Angesichts der sonstigen Beiträge in der Zeitschrift, in der der Krieg stürmisch begrüßt wurde, ist diese Zurückhaltung nicht verwunderlich. Klee hatte eine abstrakte, kubistisch inspirierte Zeichnung eingereicht, die aus Kreisen, Linien und zumeist dreieckig an­geordneten Schraffuren bestand und keinerlei direkten Bezug zur Kriegsthematik aufwies.141 Vier andere Zeichnungen, die sich mit dem Thema Krieg beschäftigten, lagen unverkäuflich bei seinem Händler Goltz. Erfolgreicher war er mit der ebenfalls bei Zeitecho eingereichten (bereits oben besprochenen) Zeichnung Tod für die Idee (Abb. 46), die neben einem Gedicht von Trakl abgebildet war142: Dich sing ich wilde Zerklüftung Im Nachtsturm Aufgetürmtes Gebirge Ihr grauen Türme Überfließen von höllischen Fratzen Feurigem Getier Rauhen Farnen, Fichten Kristallinen Blumen [...]

Klees Zeichnung bezieht sich nur am Rande auf Trakls Gedicht: Klees Bild zeigt Kirchtürme, Häuser, Bäume, Treppen, doch darüber hinaus hat die Bildkonstruktion kaum Gemeinsamkeiten mit Trakls Thematik, schon gar nicht mit einer Glorifizierung des nicht Todes. Es handelt sich um eine kristalline Architektur und der „Tod für die Idee“ ist auch 132  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

54  Paul Klee, Ohne Titel (Schlachtfeld), 1914 (?), Lithographie, 6,8 x 10,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

heldenhaft, sondern eher kläglich. Dass Klee sich damit auf die Seite der Kriegsbe geisterung gestellt, sich gar „tief kompromittiert“ habe, ist nicht nachvollziehbar143. Naheliegender ist die Interpretation, dass durch die Graphik seine Vorstellung vom Dies- bzw. Jenseitigen zum Ausdruck gebracht worden sei: Diesseitig ist der Tod des realistisch dargestellten, durchgestrichelten, pickelhaubigen Soldaten, jenseitig die aufsteigende kristalline, ins All verweisende Architektur. Klee schuf 1914/15 eine Reihe weiterer Graphiken, beispielsweise Kristallinische Erinnerung an die Zerstörung durch die Marine144 und Zerstörung und Hoffnung (Abb. Nr. 61), die sich beide zunächst als unverkäuflich erwiesen. Zerstörung und Hoffnung entstand vermutlich Ende 1914 und wurde Klee von seinem Händler Goltz in Auftrag gegeben. Wie aus einem Brief Goltz’ hervorgeht, trug es ursprünglich den Titel Erobertes Fort, kann somit durchaus als affirmativer Beitrag zur deutschen Kriegsführung verstanden werden145. Goltz bat später Klee, die Graphik zu kolorieren; in diesem Zusammenhang wurde auch der Titel geändert. Auch die Arbeiten, die Klee zur Frühjahrsausstellung der Neuen Secession Februar bis März 1915 einreichte, blieben unverkäuflich. Danach verzichtete Klee auf die Kriegsthematik, auch das Wort „Krieg“ vermied er fürderhin: „Er zog damit die Konsequenz aus dem Mißerfolg seiner Versuche, zeitgemäße künstlerische Aussagen zu machen.“146 Verkäuflich waren demgegenüber Arbeiten im Stile seiner Tunesien-Aquarelle – Rilke erwarb ein Exemplar davon. Die neue Strategie, der Verzicht auf die Kriegsthematik und die Hinwendung zu einer stärker gegenständlichen Thematik, bewährte sich insbesondere in Klees erster umfassender Ausstellung in Waldens Sturm-Galerie im März 1916, also kurz vor Marcs Tod. Ich hatte bereits dargestellt, dass Walden nach Marcs Tod Klee gleichsam als dessen Nachfolger aufbaute und sich dieser in seiner Selbstdarstellung an Waldens Text über Marc orientierte. Wie Goltz vor und nach dem Krieg, Flechtheim in den zwanziger Jahren, so war während des Krieges Walden die treibende Kraft hinter Klees wirtschaftKlee und der Krieg  I  133

55  Paul Klee, Spiritistische Katastrophe, 1916, 32, Feder auf Papier auf Karton, 7,4 x 15,7 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

lichem Erfolg. Wie so häufig ist Klees Urteil auch über Walden eher abfällig. So schreibt er 1912 im Rückblick auf die von Walden organisierte Futuristen-Ausstellung: Nochmals tags drauf konnte man den kleinen Herwarth Walden beim Hängen der Futuristen in der Galerie Thannhauser beobachten. Lebt von Cigaretten, befiehlt und rennt wie ein Strateg. Er ist wer, aber irgend etwas fehlt. Er liebt die Bilder aber auch gar nicht! Er riecht nur was dran mit ­seinem guten Riechorgan. (Tgb. 914)

Dieser Kommentar Klees mag damit zusammenhängen, dass Walden sich zunächst Klee gegenüber sehr reserviert verhielt. Auf Wunsch Marcs ließ Walden „sich ein paar Zeichnungen für den Sturm in die Rocktasche gleiten“ (ebd.). Klee stellt nunmehr bei Walden nicht nur einen anderen Bildtypus aus, er änderte auch teilweise die Titel gegenüber dem Œuvre-Katalog, wodurch die Titel lyrischer oder pathetischer wurden. So radierte Klee etwa den an Krieg erinnernden Titel Gedanken an den Aufmarsch (1914) aus und ersetzte ihn durch Geordnetes Pathos.147 Aus Composition wurde nun Architektur der Höhe rötlich-bläulich. Die Ausstellung von 1916 wurde finanziell ein großer Erfolg: Der Verkauf musste Klee deutlich machen, daß auch das Publikum die Projektion weltferner Gedankenschwere eher akzeptierte als wörtliche Erinnerungen an den Krieg. Das Ideal einer ‚kühlen‘ Kunst ‚ohne Pathos‘ von 1915 [...] war damit ausdrücklich wiederrufen.148

Hier schießt Werckmeister freilich über das Ziel hinaus: Was Klee verkaufsfördernd auf den Markt brachte, ist nicht gleichzusetzen mit seiner gesamten Produktion. Das zeigt eine Aufstellung einiger der bekannteren Bilder aus der Zeit von 1915–1918. Alle diese Bilder sind entweder weitgehend abstrakt oder stellen kristalline Konstruktionen dar: 134  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

56  Paul Klee, Mit dem Adler, 1918, 85, Aquarell auf Grundierung auf Papier auf Karton, 17,3 x 25,6 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Anatomie der Aphrodite (1915); Kakendämonisch, Stadt der Türme, Schiffsternenfest, Dämon über den Schiffen (1916); Mit dem Ei, Mit dem Regenbogen, Spiel der Kräfte einer Lechlandschaft (1917); Der Traum (1918).

Angesichts der nach wie vor vorhandenen Orientierung Klees an den Abstraktionen des Blauen Reiters und der internationalen Bedeutung der abstrakten Kunst (etwa durch den Futurismus oder Malewitschs Suprematismus) ist auch kaum vorstellbar, dass sich der Künstler plötzlich aus ökonomischen Gründen ganz einer erzählenden, abbildhaften Malerei zugewandt hätte. Außerdem vernachlässigt Werckmeister eine Tendenz Klees, die ihn in die Nähe des Dadaismus (und später des Surrealismus) brachte, wie sie etwa in der Zeichnung Spiritistische Katastrophe (1916) zum Ausdruck kam, eine Arbeit, die sich bezeichnenderweise Max Ernst, als er Klee nach Kriegsende 1919 in München besuchte, zur Ansicht erbat. Klee stand seit 1916 mit den Dadaisten in Kontakt und war an drei Ausstellungen in der Dada-Galerie in Zürich beteiligt.149 Tatsächlich erzielte Klee in den beiden Sturm-Ausstellungen des Jahres 1917 mit eher konventionellen Bildern, die teilweise „fairytale-landscapes“ waren (Franciscono),150 einen durchschlagenden finanziellen Erfolg: Allein bei der ersten Ausstellung erreichte er einen Verkaufserlös von 3460 Reichsmark (der doppelte Jahreslohn eines Arbeiters). In der Dezemberausstellung desselben Jahres erzielte das „Spitzenbild“ (Werckmeister), das etwas kitschige Werk Drei schwarze Nachtigallen, 500 Reichsmark (was etwa 7000 Euro entspricht), wobei Klee mittlerweile die Preise seiner Aquarelle annähernd verdoppelt hatte. Das verkaufsträchtige Thema der Nachtigallen griff Klee dann auch in verschiedenen Variationen wieder auf (z. B. in Liebestod der persischen Nachtigall). Klees Verkäufe stiegen von 1742 (1914) auf 11585 (1917) und 9455 Reichsmark (1918) an,151 was zeigt, dass sich seine ökonomische Kriegskunst-Spekulation bewahrheitet hatte. Klee und der Krieg  I  135

Klees Spekulation war aus unterschiedlichen Gründen erfolgreich. Der Krieg hatte zu enormen Kriegsgewinnen, insbesondere in der Rüstungsindustrie geführt, so dass erhebliche Kapitalmengen frei wurden, die teilweise im Kunstbetrieb investiert wurden. Diesen Umstand bestritten die meisten Kunstexperten jedoch mit dem Argument, im Krieg wendeten sich die Kunstinteressierten eben – gleichsam als Tröstung – vermehrt der Kunst zu. Dass dies nicht, wie Klee für sich zunächst gehofft hatte, der abstrakten Kunst galt, zeigen seine steigenden Verkäufe von tendenziell gegenstandsorientierter Kunst. Darüber hinaus war sein künstlerischer Erfolg auf geradezu makabre Weise mit dem Tod Marcs verbunden. Nach dem Tod von Weisgerber und Marc (zuvor war bereits 1914 Macke gefallen) fasste das bayerische Königshaus den Entschluss, wichtige bayerische Künstler nicht mehr zum Kriegsdienst einzuberufen. So wurde Klee 1916 nach kurzer Rekrutenausbildung in Landshut zum Etappendienst in die Fliegerhorste Schleißheim und später Gersthofen abkommandiert, wo er Flugzeuge bemalte bzw. mit der Kassenverwaltung betraut wurde. An beiden Orten hatte er – er war als Künstler mittlerweile auch bei seinen Vorgesetzten bekannt – ausreichend Zeit, sich nicht nur an Ausstellungen zu beteiligen, sondern, wie seine umfangreiche Kriegsproduktion zeigt, auch die Muße, sich künstlerisch zu betätigen. Dass Klee es sich auch äußerlich einigermaßen komfortabel einrichten konnte, verdeutlicht die aquarellierte Zeichnung Gedenkblatt (an Gersthofen) (1918)152. Die äußeren Daten von Klees Militärlaufbahn sind ausreichend bekannt und müssen an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt werden. Bedeutungsvoller sind im Rahmen einer „inneren Biographie“ Klees seine Einstellungen zum Krieg bzw. zu dessen Ende, die nicht so eindeutig sind, wie sie häufig dargestellt werden. Zwar gehe ihn der Krieg „innerlich“ nichts an, er verachte die „blöd singenden Reserven in München“ (Tgb. 956) und selbst bei seinem Freund Marc schlägt die Abneigung gegen die Uniform geradezu in „Hass“ um. Andererseits kann er im Krieg auch Vorteile erkennen, ökonomische Vorteile: mehr „Mut und Geld“ seitens der Förderer der Kunst und der Verleger. Gravierender noch ist Klees Ambivalenz im Hinblick auf die Kunst selbst. Während er noch 1915 eine abstrakt-kristalline Kunst als Reaktion auf den Schrecken der Welt propagierte und verwirklichte, vertritt er 1918/19 eine Kunstvorstellung, im Rahmen derer er – möglicherweise beeinflusst durch die Reaktionen des zahlenden Publikums – eine Vorstellung von Kunst entwickelt, die genau dem Geschmack weiter Teile dieses Publikums entspricht: Kunst als Ablenkung und Zerstreuung, als villegiatura. Am Schluss seines Beitrags „Graphik“ zum Sammelband Schöpferische Konfession (1920) schreibt er:153 Die Kunst spielt mit den letzten Dingen ein unwissend Spiel und erreicht sie doch. Auf Mensch! Schätze diese Villegiatur, einmal den Gesichtspunkt wie die Luft zu wechseln und dich in eine Welt versetzt zu sehen, die ablenkend Stärkung bietet für die unvermeidliche Rückkehr zum Grau des Werktags. Noch mehr, sie verhilft dir, die Hülle abzulegen, dich auf Momente Gott zu wähnen. Dich stets wieder auf Feierabende zu freuen, in denen die Seele zur Tafel geht, ihre hungernden Nerven zu nähren, ihre erschlaffenden Gefässe mit neuem Saft zu füllen.154 (Hrv. Paul Klee) 136  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

Am Ende des Ersten Weltkriegs passt Klee sich – zumindest zeugt diese Textstelle davon – den Ablenkungs-, Tröstungs- und Konsumbedürfnissen seines bürgerlichen Publikums an. Bürgerliche Kultur und moderne Kunst finden in einer „gemeinsamen Ideologie“ zusammen155. Auch dies ist ein Aspekt der Ambivalenz der Avantgarde. Vollends in den Bereich der Künstlerlegende gehört die Vorstellung, Klee habe mit der Revolution von 1918 sympathisiert bzw. sich ihr gar angeschlossen. Der in diesem Zusammenhang häufig angeführte Beitritt zum Münchner Aktionsausschuss bildender Künstler blieb reine Formsache, Klee hat in diesem Ausschuss nie mitgewirkt.156 Aus Angst vor Repressalien nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik setzte er sich sogar zeitweilig nach Bern ab. Nach seiner Rückkehr schloss er sich gegenrevolutionären Kreisen an und ließ sich von seinen Biographen Zahn, Hausenstein und seinem Bewunderer von Sydow zum esoterisch-metaphysischen Künstler stilisieren157. Eindeutig sind in dieser Hinsicht Klees Eintragungen in seinem Tagebuch vom Oktober bis November 1918: Was für ein Moment, wie jetzt das Reich so ganz allein dasteht, bis an die Zähne bewaffnet und doch so hoffnungslos. Ob wohl auch die Hoffnung, dass nach innen Würde bewahrt werden möge und dass der Schicksalsgedanke über den alltäglichen Atheismus die Oberhand behalten werde zerschellen wird? Gelegenheit, wie ein Volk seine Katastrophe ertragen soll hätten wir ja jetzt. Wenn aber die Massen aktiv werden, was dann? Dann wird es sehr gewöhnlich zugehen, es fließt Blut und was noch schlimmer ist: es gibt Prozesse! Wie banal! Zur Zeit scheint ja noch alles ruhig. (Tgb. 1130)

Hier klingen Gedanken an, die an Marc erinnern. Dieser hatte im Krieg ja auch einen – wenn auch letztlich unergründlichen – Schicksalsweg des deutschen Volkes gesehen. Auch Klee wünschte sich, dass das deutsche Volk sein Schicksal in „Würde“ ertragen sollte, statt revolutionar „aktiv“ zu werden: Es wäre „banal“. Klee drückte Gedanken aus, die den „Ideen von 1914“ entsprachen: Politische Phänomene werden ins Geistige übertragen, die deutsche Kultur soll über die Zivilisation siegen. Bei Klee wird dementsprechend die militärisch-politische Niederlage zu einer vom Schicksal auferlegten Katastrophe, die das deutsche Volk in „Würde“ zu tragen hat. Dem entspricht auch, dass er – in einem Brief an Kubin – der Revolution allenfalls eine subjektive Bedeutung beimessen kann: „So wenig dauerhaft diese kommunistische Republic von Anfang an war, so gab sie doch Gelegenheit zur Überprüfung der subjektiven Existenz-Möglichkeiten in einem solchen Gemeinwesen.“158 Wir werden im Weiteren sehen, welchen Ausweg Klee aus dem Dilemma einer abstrakten Kunst einerseits und seiner zumindest partiellen Anpassung an den Geschmack eines bürgerlichen Kunstpublikums andererseits fand: nämlich in der konsequenten ­Stilisierung seiner Kunst als kosmisch, als „weltschöpferisches“ Tun. Eines der ersten Bilder – und vielleicht das programmatischste – dieser „kosmischen“ Kunst ist Mit dem Adler (1918). Das zentrale Auge unter einem schwarzen Bogen wird von zahlreichen Interpreten als das Auge Gottes oder als „kosmisches“ Auge (Glaesemer) betrachtet, das Klee und der Krieg  I  137

auf die Schöpfung blickt, der Adler auf dem Bogen, der im Begriff ist, sich in die Höhe zu schwingen, dagegen als Symbol des Geistigen, des Künstlers.159 Der Künstler, so lässt sich die Interpretation weiterführen, ist in der Lage, sich auf die Höhe Gottes zu erheben. Dass diese Interpretation wahrscheinlich zutreffend ist, zeigt sich daran, dass sie mit Klees späterer Selbstdarstellung übereinstimmt: der Künstler als alter deus.

138  I  Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

4. Klees Kunstphilosophie Klee, Worringer und die romantische Philosophie: ­A bstraktion und das „Absolute“

Mit zunehmender Popularität entschloss Klee sich ab 1920, seine bis zu diesem Zeitpunkt fragmentarisch gebliebenen Gedanken zu seiner Kunsttheorie in einer Reihe von Aufsätzen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Von besonderer Bedeutung war darüber hinaus sein Jenaer Vortrag „Über die moderne Kunst“ von 1924, der neben den Texten von Kandinsky zu den bedeutendsten kunsttheoretischen Abhandlungen der frühen Moderne zählt. Eine genauere Analyse der Schriften Klees zeigt, dass es in ihnen zwei theoretische Orientierungspunkte gibt: die Philosophie der deutschen Frühromantik und die Arbeiten Goethes zur Morphologie. Paul Klee wurde immer wieder mit der „Romantik“ in Verbindung gebracht,1 häufig allerdings nur in Andeutungen. Obwohl Klee den Begriff „Romantik“ immer wieder für seine Kunst und seine kunstphilosophischen Überlegungen in Anspruch nahm, fehlt sowohl in seinen Tagebüchern als auch in den von ihm selbst veröffentlichten Texten eine genauere Erläuterung dieses Begriffs. Lediglich in dem handschriftlichen, fast 4000 Seiten umfassenden Konvolut seines Pädagogischen Nachlasses2 finden sich prägnantere, freilich noch immer interpretationsbedürftige Ausführungen. In dem kurzen Text „exacte versuche im bereich der kunst“, in dem Klee seine Opposition zu dem zunehmenden Funktionalismus des Dessauer Bauhauses formuliert und versucht, den „begriff genie“ gleichsam zu reanimieren, zitiert er den Begriff „Romantik“ sogar als ein auf seine Kunst gemünztes „Schimpfwort“. Er schreibt, die Position seiner Gegner karikierend: „[...] wir sind dagegen! und dann die hagelnden schimpfwörter: romantik! kosmik! mystik!“3 Um Klees Beziehung zur Romantik zu verstehen, genügt es nicht, auf die bekannten Themen der romantischen Literatur (E.T.A. Hoffmann, Tieck, Wackenroder u. a.) oder einfach auf seine Bildinhalte zu verweisen.4 Es gibt allerdings auch nur wenige Bilder Klees, die sich direkt auf die Romantik beziehen, etwa Hoffmaneske Märchenscene (1921). Ich möchte – in diesem und im folgenden Abschnitt – zeigen, dass man Klees Überlegungen zur „Romantik“ nur verstehen kann, wenn man sie vor allem vor dem Hintergrund der Philosophie der deutschen Frühromantik betrachtet.5 Ich möchte mit einem Hinweis auf einen Maler beginnen – Philipp Otto Runge. Klee war nicht nur mit dem Werk, sondern auch mit der Farblehre und der „Weltanschauung“ Runges vertraut. Für Runge war die Vorstellung der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen, des Menschen als „Gleichnis Gottes“ von zentraler Bedeutung: „Das Gleichnis Gottes [...] ist nämlich das Edelste und Höchste, was je der Mensch gewesen ist [...].“6 Klee, Worringer und die romantische Philosophie: A ­ bstraktion und das „Absolute“  I  139

Klee verwendet fast identische Formulierungen. Für ihn ist das Kunstwerk ein „Gleichnis“ des Kosmos, der Genesis und Gottes: Der Künstler schafft „ein Werk, oder beteiligt sich am Erschaffen von Werken, die ein Gleichnis zum Werke Gottes sind“.7 Es gibt zahlreiche Hinweise Klees, dass er sich wie „Gott“ fühlt und schon 1901 schreibt er: „Ich bin Gott“ (Tgb. 155). Insbesondere seine Vorstellung, als Künstler die Genesis „weltschöpferisch“ fortzusetzen8, wie er es in seinem Jenaer Vortrag 1924 formuliert, beansprucht mehr als „Gottebenbildlichkeit“, es ist die Vorstellung des alter deus, des gottgleichen Künstlers. Schon aus diesen knappen Hinweisen wird deutlich, dass Klees „Gott“ wenig Ähnlichkeit mit dem transzendenten Gott der christlichen Überlieferung gemeinsam hat, er gleicht vielmehr dem pantheistischen Gott der Frühroman­tiker oder Goethes. 57  Paul Klee, Hoffmanneske Märchenszene, In ihrem Artikel über „Paul Klee und die 1921, 123, Farblithographie, 31,6 x 22,9 cm, Zentrum Paul Klee, Bern Romantik“ formuliert Tulliola Sparagni einen Hinweis auf Klees „Ich-Gott“ – führt ihn aber leider nicht weiter aus, so dass unklar bleibt, was sie darunter versteht.9 Ihr Hinweis hätte sie zu einem der zentralen Topoi der romantischen Philosophie führen können: zu der philosophischen Hypertrophierung, ja „Vergottung“ des Ichs, die sich – ausgehend von Fichtes Postulierung des „absoluten Ichs“ – durch die gesamte romantische Philosophie zieht.10 Das „absolute Ich“ ist nicht nur Zentrum einer „unendlichen“ Selbstreflexion, sondern schafft, indem es das „Nicht-Ich“ setzt – wie es Fichte in seiner Wissenschaftslehre formuliert –, zugleich auch die Welt. Es gibt im transzendentalen Idealismus kein „An-Sich“ im Kant’schen Sinne mehr, das für Kant die Existenz eines dem Subjekt gegenüberstehenden Objekts verbürgen sollte. Vielmehr wird nunmehr das „absolute Ich“ selbst zum „An-Sich“, zum schlechterdings Absoluten, die Subjekt-Objekt-Differenz wird aufgehoben. Wo es keine Subjekt-Objekt-Differenz mehr gibt, wird das Subjekt auch nicht mehr durch Objekte beschränkt, es ist im Prinzip unendlich. So schreibt etwa Friedrich Schlegel über das Ich (er bezeichnet es als „Ur-Ich“): Es will uns keineswegs einleuchten, daß wir unendlich sein sollen, und zugleich müssen wir uns doch gestehen, daß das Ich als Behälter von allem durchaus nicht anders als unendlich sein könne [...].11

140 I Klees Kunstphilosophie

Ähnlich äußert sich auch Schleiermacher: „Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind nur Wechselbegriffe; darum ist jede Reflexion unendlich.“12 Novalis sieht das Weltall „in uns“. Auch Klee greift den Gedanken des Unendlichen auf: Die gefühlsmäßige Möglichkeit über einen Anfang hinauszugelangen wird weiter im Begriff des Unendlichen gekennzeichnet, welcher von Anfang auf das Ende ausgedehnt [...] zum Kreislauf führt. [...] Von solcher Bewegung selbst erfasst, bildet sich in uns eine schöpferische Disposition13

Ich möchte an diesem Punkt zunächst festhalten: Klees „Ich-Gott“, sein „weltschöpferisches“ Tun, hat große Ähnlichkeit mit dem „abso­ luten Ich“ und sein Begriff des schöpferischen Unendlichen gleicht dem romantischen „Unendlichen“. Auch der bei Klee häufig verwendete Topos des Kreises oder der Kugel als Symbol für die Unendlichkeit hat sein Pendant in der Romantik (etwa bei Schelling, Carus und Oken).14 Damit werden Spekulationen überflüssig, ob Klee mit seinem Begriff des „Jenseitigen“ nicht vielleicht doch eine transzendente Größe gemeint haben könnte, etwas, was unserer Erfahrung und unserem Verstand nicht zugänglich ist: Geisti­ ger Bezugspunkt der Klee’schen Kunsttheorie ist die Transzendentalphilosophie der Romantik. Die genauere Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Klees Kunstphilosophie und der Philosophie der Romantik macht zunächst eine Auseinandersetzung mit Wilhelm Worringers Schrift Abstraktion und Einfühlung erforderlich. Dies ist mehr als ein akademischer Exkurs: In der Klee-Literatur werden nämlich häufig zentrale Begriffe der Klee’schen Kunstphilosophie – etwa „Kristall“, „Abstraktion“, „Totalität“ etc. – auf den Einfluss der Schrift Worringers zurückgeführt15. Dies ist teilweise richtig, verschleiert aber die entscheidenden Abweichungen Klees von Worringers Position, Abweichungen, in denen Klee Überlegungen entwickelt, die deutlich auf die Philosophie der Frühromantik verweisen, wobei offenbleiben muss, ob und wie weit Klee tatsächlich mit dieser Philosophie vertraut war, sie nur vom Hörensagen kannte oder unabhängig davon ähnliche Gedanken entwickelte16. Die 1908 erschienene Schrift Worringers Abstraktion und Einfühlung war äußerst einflussreich und wurde von zahlreichen modernen Künstlern als Bestätigung ihrer künstlerischen Praxis gesehen. Marc und Rilke haben sich geradezu enthusiastisch dazu geäußert. Sie ist gewissermaßen die Apotheose der „expressionistische[n] Kristallsymbolik“17, Öhlschläger bezeichnet sie als die „vielleicht bedeutendste Kunsttheorie des ‚geistigen‘ Expressionismus“18. Klee waren die Grundgedanken des Textes Worringers bekannt, wie aus seinem Brief vom 30.7.1911 an seine Frau hervorgeht.19 Worringer lebte einige Zeit in Bern, wo er auch mit der Arbeit Abstraktion und Einfühlung promovierte. Aus einem seiner Briefe geht hervor, dass er Klee zumindest einmal persönlich begegnete.20 Da dieser das intellektuelle Milieu Berns sehr gut kannte, ist jedoch anzunehmen, dass es nicht Klee, Worringer und die romantische Philosophie: A ­ bstraktion und das „Absolute“  I  141

bei einer einmaligen Begegnung blieb. Die Gedanken Worringers, schreibt Klee, seien für ihn „längst Errungenschaft“, „aber als wissenschaftliche Äußerung hocherfreulich“.21 Angesichts ihrer Bedeutung für die klassische Moderne, auch für Klee, erscheint es angemessen, die Schrift Worringers einer genaueren Analyse zu unterziehen. Worringer hat weniger eine Ästhetik als vielmehr eine Psychologie der Kunst geschrieben: Alle Kunst befriedige „psychische Bedürfnisse“.22 Worringer trifft die für ihn grundlegende Unterscheidung zwischen einem Nachahmungs- und einem Abstraktionsbedürfnis. Das Nachahmungsbedürfnis entdecke Schönheit im Organischen (man könnte auch sagen, in der Mimesis der Natur), während das Abstraktionsbedürfnis Schönheit „im lebensverneinenden Anorganischen, im Kristallinischen, allgemein gesprochen, in aller abstrakten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit“ finde23 (Hrv. MC). Die beiden Bedürfnisse beruhen, so Worringers These, auf ganz unterschiedlichen Voraussetzungen. Unter Berufung auf Theodor Lipps geht Worringer davon aus, dass die psychische Voraussetzung der Nachahmung „Einfühlung“ ist: Im Kunstwerk genießen wir uns selbst, genießen unsere Selbstbetätigung: „Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß“ (Lipps, zit. n. Worringer [1908/2007], S. 75). Ganz anders der „Abstraktionsdrang“: Er beruht letztlich auf einem Angstgefühl, ist Folge „einer großen inneren Beunruhigung durch die Erscheinungen der Außenwelt und korrespondiert in religiöser Beziehung mit einer stark transzendentalen Färbung aller Vorstellungen“.24, 25 Die ästhetische Erscheinungsform der Abstraktion beschreibt Worringer am Beispiel des von ihm unterstellten Kunstverständnisses der „orientalischen Kulturvölker“ folgendermaßen: Die Beglückungsmöglichkeit, die sie in der Kunst suchten, bestand nicht darin, sich in die Dinge der Außenwelt zu versenken, sich in ihnen zu genießen, sondern darin, das einzelne Ding der Außenwelt aus seiner Willkürlichkeit und scheinbaren Zufälligkeit herauszunehmen, es durch Annäherung an abstrakte Formen zu verewigen und auf diese Weise einen Ruhepunkt in der Erscheinungen Flucht zu finden.26

Dieselbe spirituelle und letztlich religiöse Tendenz findet Worringer in der Kunst der „primitiven“ Kulturen, ebenso in der altägyptischen, byzantinischen, romanischen und gotischen Kunst. Künstlerisches Leitbild der Abstraktion ist für ihn das geometrische „Ornament“.27 Bei Klee taucht bekanntlich eine ähnliche Überlegung auf, Kunst zeige nicht das „Sichtbare“, verharre also nicht in einer Repräsentation der Natur, in den Dingen der „Außenwelt“: „Eine Verwesentlichung des Zufälligen wird angestrebt.“28 Damit positionieren sich Worringer und Klee in einer ästhetischen Tradition, die von Kant über die Romantik bis zu Heidegger und Adorno reicht: Das Wesen und die „Wahrheit“ der Kunst bestehe nicht in der Abbildung, sondern in der Welterschließung, der „Lichtung“ (Heidegger). Transzendentaler Bezugspunkt29 dieser Welterschließung ist für Klee dabei das „Jenseitige“, der Kosmos, die Genesis, insbesondere aber das künstlerische Ich selbst, weil Klee selbst es ist, der „weltschöpferisch“ die Genesis fortsetzt. Das „Jenseitige“ bei Klee ist Immanenz, nicht Transzendenz, oder, wie wir noch genauer sehen werden, im 142 I Klees Kunstphilosophie

Sinne der Romantik, „Geist“, „Logos“. Daran wird auch die Differenz zu Worringer deutlich werden. Die „reinliche“ Trennung (Worringer) von Abstraktion und Einfühlung wird spätestens dann unscharf, wenn Worringer konzediert, dass wir uns z. B. in die „anorganischen“ Pyramiden „einfühlen“ können, sie also so rezipieren können wie „mimetische“ Kunst. Fraglich ist allerdings, ob die angeblichen psychischen Grundlagen der Abstraktion, die Reaktion auf die „Beunruhigung“ durch die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, letztlich also ein „Angstgefühl“, als Erklärung für den „Abstraktionsdrang“ ausreichend sind. Worringer liefert hierzu selbst ein erstes entscheidendes Argument. Er spricht nämlich davon, dass der Wert der Kunst, seine Schönheit in seinen „Beglückungswerten“ liegt.30 Dies ist freilich vom „objektiviertem Selbstgenuß“ der Einfühlung kaum mehr zu unterscheiden. Deutlich wird somit, dass Worringer von Mischformen der Einfühlungs- und der Abstraktionskunst ausgeht. Wesentlich ist, dass Worringer mit dieser Psychologie der Kunst eine zweite Frage verbindet: die nach einer psychologischen Begründung der Spiritualität und Religiosität, letzlich des „Absoluten“. Die Abstraktion versuche nämlich, das Objekt der Außenwelt [...] gleichsam aus dem Naturzusammenhang, aus dem unendlichen Wechselspiel des Seins herauszureißen, es von allem, was Lebensabhängigkeit, d. i. Willkür an ihm war, zu reinigen, es notwendig und unverrückbar zu machen, es seinem absoluten Wert zu nähern.31 (Hrv. Worringer)

Mit der Gleichung „Abstraktion gleich absoluter Wert“32 gerät Worringer in schwieriges philosophisches Fahrwasser, weil es bekanntlich nicht leicht ist, das Absolute zu bestimmen. Indem er unmittelbar anschließend den „absoluten Wert“ mit dem „Ding an sich“ gleichsetzt, fährt er fort: Um einen kühnen Vergleich zu brauchen: bei dem primitiven Menschen ist gleichsam der Instinkt für das ‚Ding an sich‘ am stärksten. Die zunehmende geistige Beherrschung der Außenwelt und die Gewöhnung bedeuten ein Abstumpfen, ein Getrübtwerden dieses Instinkts. Erst nachdem der menschliche Geist in jahrtausendelanger Entwicklung die ganze Bahn durchlaufen hat, wird in ihm als letzte Resignation des Wissens das Gefühl für das ‚Ding an sich‘ wieder wach. Was vorher Instinkt war, ist nun letztes Erkenntnisprodukt. Vom Hochmut des Wissens herabgeschleudert steht der Mensch nun wieder ebenso verloren und hilflos dem Weltbild gegenüber wie der primitive Mensch [...].33

Zu dieser fragwürdigen psychologischen Herleitung eines „Ding an sich“ sind zwei Anmerkungen erforderlich: 1.) Worringer geht von einer eingeschränkten Sicht auf das „Kunstwollen“ des „primitiven Menschen“ aus. Insbesondere die Magie beruht teilweise auf explizit mimetischen, abbildenden Prozeduren, Ähnliches gilt für die Kunst der Masken, des Totems etc.34 Der Mythos beispielsweise arbeitet per se mit dem Bildhaften. Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass die Tierdarstellungen des steinzeitlichen Höhlenmenschen Klee, Worringer und die romantische Philosophie: A ­ bstraktion und das „Absolute“  I  143

eine Doppelfunktion besitzen: Sie beschwören den Jagderfolg und sollen zugleich als Apotropaion die Angst vor dem „unbesetzten Horizont der Möglichkeiten“ reduzieren.35 Als ein solches schützendes Zeichen können die Gegenstände primitiver Kunst und Magie aber auch nur dann funktionieren, wenn sie zugleich ein Stück Abbildhaftigkeit besitzen. Da für Worringer – neben der geometrischen Abstraktion – der Verzicht auf Räumlichkeit zentrales Formprinzip der Abstraktion ist, fallen die meisten Erzeugnisse „primitiver Kunst“ geradezu zwangsläufig unter die Kategorie „Abstraktion“ und damit des „An-sich“. Bezeichnenderweise wird von Worringer die räumliche Kunst der Plastik weitgehend ignoriert, da sie nicht zu seiner These passt. Der argumentative Trugschluss Worringers besteht darin, dass der „primitive“ Glaube an Geister, Dämonen und sonstige übersinnliche Mächte bzw. der Versuch, diese durch Kunst, Magie oder Mythos zu bannen, von ihm mit einem „An-sich“, einem „Absoluten“ gleichgesetzt wird. 2.) Mit wenig aussagekräftigen Formulierungen, dass nämlich der moderne Mensch „ebenso verloren und hilflos dem Weltbild gegenüber[steht], wie der primitive Mensch“, skizziert Worringer ein völlig ahistorisches und leerformelhaftes Krisenszenario. Um welches Weltbild handelt es sich und welche Rolle spielen dabei die realen gesellschaftlichen Prozesse? Man könnte Worringers „Weltbild“ wohlwollend als die postreligiöse „Kontingenzerfahrung“ der Moderne bezeichnen – ausgeführt wird dieser Gedanke von ihm jedoch nicht. Es wird deutlich, dass Worringers universalgeschichtliche These, die von der Urangst des „primitiven“ Menschen bis zur Angst des modernen Menschen vor einem „Weltbild“ reicht, auf tönernen Füßen steht und letztlich ein Ausweichen vor der Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen des „primitiven“ wie des „modernen“ Menschen darstellt. Zu Recht spricht Lukács von Worringers „Fluchtideologie“, die sich dann in der Weltanschauung einer Reihe von Künstlern der Moderne wiederfinden lasse.36 Öhlschläger weist in ihrer Einleitung zur Neuedition von Worringers Text auf eine interessante Parallele zu Georg Simmels Text Die Großstädte und das Geistesleben (1903) hin37. Simmel sieht in den Großstädten eine wachsende Entfremdung der Subjekte von ihrer materiellen und geistigen Kultur (insbesondere Bauten, Technik, Institutionen), die er als „kristallisierte Gebilde“ bzw. als „krystallisierten“ Geist betrachtet. „Kristallisation“ ist für ihn somit nicht ein der künstlerischen Abstraktion innewohnendes Formprinzip, sondern Ausdruck der Entfremdung (ebd., S. 14 ff.).38 Simmels soziologische Analyse (deren theoretisches Vorbild die Marx’sche Entfremdungstheorie ist) zeigt, dass es sich bei seinem Verständnis von Kristallisation nicht wie bei Worringer um ein „Weltbild“ und eine dadurch motivierte Suche nach dem „Absoluten“ handelt, sondern um sehr reale Entfremdungsprozesse. Worringer mystifiziert die gesellschaftliche und geistige Krise seiner Zeit zu einer nicht näher bestimmten Krise des „Weltbildes“, woraus dann geradezu zwangsläufig resultiert, dass diese Krise nur durch eine neue Spiritualität, eine Suche nach dem „An-Sich“ überwunden werden kann, die Worringer künstlerisch in der geometrischen Abstraktion findet. „Fundiert“ ist diese Mystifikation letztlich nur darin, dass Worringer an die Stelle einer soziologischen Analyse die anthropologische These eines ursprünglichen Antagonismusses von Mensch und Natur setzt. 144 I Klees Kunstphilosophie

„Abstraktion“ ist für Worringer auch deshalb die ursprüngliche Form der Kunst, weil sie nicht auf dem Intellekt, sondern auf dem Instinkt für das „Ding an sich“ beruht, sie sucht ihre [...] geheimnisvolle Erklärung nicht im Intellekt des Betrachtenden, sondern in den tiefsten Wurzeln seiner körperlich-seelischen Konstitution. Ruhe und Beglückung konnten nur da eintreten, wo man einem Absoluten gegenüberstand. Infolge des tiefstinnersten Zusammenhangs aller Lebensdinge ist nun diese geometrische Form auch das Bildungsgesetz der kristallinisch-anorganischen Materie [...] [Wir] dürfen [...] mutmaßen, daß die Schöpfung der geometrischen Abstraktion eine reine Selbstschöpfung aus den Bedingungen des menschlichen Organismus heraus war, und daß ihre verwandtschaftliche Übereinstimmung mit den Gesetzen der kristallinen Form und im weiteren Sinne mit den mechanischen Naturgesetzen dem primitiven Menschen nicht bekannt war.39 (Hrv. MC)

Hier wird Worringers Argumentation geradezu selbstwidersprüchlich und verworren. Die geometrische Abstraktion soll nunmehr eine „Selbstschöpfung“ aus den „Bedingungen des menschlichen Organismus“ und den „mechanischen Naturgesetzen“ sein, die zugleich, anders als die „Armseligkeit rational-sinnlichen Erkennens“ (ebd., S. 106) den Zugang zum „Ding an sich“ finden soll. Es handelt sich nunmehr um eine biologisch-naturalistische Begründung der Ästhetik, die aber Worringers Ausgangsthese, dem Antagonismus von Mensch und Natur, widerspricht. Worringers Thesen beruhen auf zwei fundamentalen epistemologischen Missverständnissen: 1.) „Abstraktion“ ist keine „Selbstschöpfung“ aus den Bedingungen des menschlichen Organismus, sondern ein geistiger Prozess. Bereits die einfachste Begriffsbildung (das Abstraktum „Baum“ anstelle des einzelnen Baums) ist eine abstrahierende geistige Leistung. Auch die beiden von Worringer betonten Formen der Abstraktion, Flächigkeit und geometrische Abstraktion, sind geistige Leistungen, Absehen von den empirischen Details zugunsten des Allgemeinen. 2.) Wenn das Kristalline als paradigmatischer Ausdruck der geometrischen Abstraktion40 letztlich in den Naturgesetzen fundiert ist, dann wird Worringers These, dass die Natur insgesamt dem Menschen gegenüber feindlich eingestellt sei, unhaltbar. Demgegenüber hat Schellings Naturphilosophie den scheinbar paradoxen Versuch unternommen, das Kristalline den in der Natur wirkenden geistigen Kräften zuzurechnen, ganz im Sinne der romantischen Philosophie, dass nämlich die organische und unorganische Natur selbst letztlich „Geist“ sei. Ich werde später noch darauf zurückkommen. Abstraktion ist eine geistige Leistung, wie sie von der Kunst, aber bereits von der Begriffsbildung erbracht wird; weder Statthalter eines metaphysischen „Absoluten“ noch Ausdruck organisch-biologischer Phänomene.41 Worringer hat eine zutiefst irrationale Theorie des Ästhetischen entwickelt. Dass sie im Kreise der Avantgarde so hohe Zustimmung erfuhr, dürfte mit der neoplatonisch grundierten Sehnsucht der Avantgarde zusammenhängen, der Kunst eine Legitimierung durch den Bezug auf ein „Absolutes“ zu verschaffen. Klee, Worringer und die romantische Philosophie: A ­ bstraktion und das „Absolute“  I  145

In seiner vielzitierten Formulierung verbindet Klee die Abstraktion mit der Romantik: „Abstraktion. Die kühle Romantik dieses Stils ohne Pathos ist unerhört“ (Tgb. 951). Schon ein erster Blick auf diese Formulierung wirft die Frage auf: Woran orientiert sich Klee? An Worringers Verständnis von Abstraktion oder an bestimmten Topoi der romantischen Literatur oder Philosophie? Die roman­tische Literatur dürfte kaum in Frage kommen, da deren Thematik ja keineswegs als „kühl“ zu bezeichnen ist, sondern gerade das „Pathos“ des Sehnsüchtigen, Nächtigen und Unheimlichen pflegt. Genaueren Aufschluss geben Klees Notizen im Kontext seiner Bildnerischen Gestaltungslehre, speziell in seinen Ausführungen zur Bildnerischen Mechanik. „Diesseitig“ oder „Jenseitig“ werden hier zu Fragen des „Stils“: Sie werden von Klee im Kontext seiner bildnerischen Mechanik abgehandelt, deren fundamentale Prinzipien Statik und Dynamik sind. Schematisch wird die Statik, deren Symbol das Lot ist, der „Klassik“ zugeordnet, sie bleibt „diesseitig“, die Dynamik, deren Symbol der Pfeil bzw. der Kreis ist, dagegen der „Romantik“. Die Romantik ist „ungebunden, frei bewegt, dynamisch, kosmisch“, „jenseitig“.42 Hinzugefügt werden muss, dass für Klee das „Geistige“ in erster Linie vom Dynamischen, von der Bewegung repräsentiert wird.43 In der Bildnerischen Formlehre44 betont Klee, dass der „Geist“ der Vater der Bewegung sei: Der „Geist“ könne Irdisches und Überirdisches gleichermaßen „durchmessen“. Hinsichtlich des affektiven Aggregatzustands der Romantik unterscheidet Klee zwischen einer „pathetischen“ und einer „gekühlten und geläuterten“ Romantik. In der pathetischen Romantik komme die Anstrengung, sich von der Gebundenheit des Irdischen zu lösen, zum Ausdruck. Klee drückt es mit der Metapher des Flugzeugs aus, das sich durch die Anstrengung eines Motors in die Höhe erhebt. Die „kühle“ Romantik dagegen sei die Verwirklichung des Geis­tigen, das die pathetischen Anstrengungen bereits hinter sich gelassen habe: Die „Möglichkeit zur rein dynamischen Handlung ist das Geistige“, „die geistige Fähigkeit zum Jenseitigen“ im Gegensatz zur Gebundenheit an das Irdische.45 Klee geht, wie wir gesehen haben, so weit, dass er das Diesseitige und Jenseitige mit dem „mechanischen Wesen“ des Kunstwerks identifiziert, mit Statik und Dynamik. Damit wird auch eine weitere Formulierung Klees zur Romantik – in seinem Jenaer Vortrag – verständlich: „Romantik, die im All aufgeht“.46 Es ist erneut der Bezug zur romantischen „Unendlichkeit“, zum „Universum“, wie er auch in den Formulierungen von Schleiermacher und Novalis zum Ausdruck kommt. Deutlich wird damit, dass Klees Verständnis des „Absoluten“ wenig mit den Thesen Worringers zu tun hat. Worringer sucht in der Kunst ein transzendentes Absolutum, ein „An sich“,47 während Klee, in romantischer Übersteigerung, das Absolute im „All“, im „Unendlichen“, in der romantischen „Totalität“ sucht. Andererseits gibt es – oberflächlich betrachtet – eine Übereinstimmung Klees mit Worringers Kritik an rationalem Erkennen. Für Klee ist Kunst, die mehr ist als die Beherrschung der formalen Mittel, letztlich nicht mehr rational fassbar. Vor der Kunst im „obersten Kreis“ „erlischt“ der Intellekt „kläglich“.48 Aber auch hier wird sofort die Differenz deutlich. Klees Diktum hat nichts damit zu tun, dass Kunst auf ein transzendentes 146 I Klees Kunstphilosophie

An-Sich gerichtet und deshalb prinzipiell nicht rational fassbar sei, sondern mit der ur-romantischen Idee des unendlichen und damit begrifflich nicht ausschöpfbaren Bedeutungsgehalts der Kunst. Um zu zeigen, dass Klee der Romantik wesentlich näher stand als Worringer, ist es erforderlich, einige Grundgedanken der romantischen Philosophie näher zu erläutern (der an derartigen philosophischen Finessen nicht interessierte Leser kann zum nächsten Abschnitt übergehen). In der Nachfolge Kants hat sich die romantische Philosophie kritisch und geradezu exzessiv mit dem „An-Sich“ und mit dem Absoluten beschäftigt, allerdings in scharfer Opposition zu Kant, dem die romantischen Philosophen mittlerweile Altersstarrsinn vorwarfen, weil er die Problematik seiner Konstruktion des „An-Sichs“ nicht anerkennen wollte. Fichtes Position, die er vor allem in der Wissenschaftslehre formulierte, sollte richtungweisend für die Entwicklung der romantischen Philosophie sein. Ich möchte den Ausgangspunkt dieser Diskussion mit einer Formulierung von Frank skizzieren: Wenn es stimmt, dass das Gefühl des Gezwungenseins [durch das Nicht-Ich, MC] als Bedingung ­seiner Möglichkeit das Bewusstsein unserer selbst voraussetzt, so haben wir nicht das mindeste Recht, die Abfolge der Tatsachen zu verkehren und zu behaupten, es sei vielmehr das Ding (an sich), welches unser Bewusstsein (einschließlich der Rezeptivität unseres Bewusstseins) bestimmt.49

Mit anderen Worten: Es ist – Fichte zufolge – unser Ich, das das Nicht-Ich setzt, gleichsam aus sich hervorbringt und zugleich, wie der bekannte Kernsatz der Fichte’schen ­Philosophie lautet, sich selbst setzt („Das Ich setzt sich selbst“). Eine derartige Denk­ operation ist für den Skeptiker des 21. Jahrhunderts nur schwer nachvollziehbar, es gilt dabei jedoch, den historischen Ansatzpunkt dieser Form des Idealismus zu berücksichtigen. Die Kritik Fichtes, Schellings, Novalis, Hölderlins u. a. setzte zu Recht an dem heikelsten – und, wie Kant selbst betont, „höchsten“ – Punkt der Kant’schen Transzendentalphilosophie an: an der Vorstellung der „transzendentalen Apperzeption“ bzw. des transzendentalen Ichs. Dieses Ich ist bei Kant nicht weiter bestimmt, es ist gleichsam, so Kant selbst, eine „gänzlich leere Vorstellung“. Wenn dem so sei, so die Kritik Fichtes, dann sei es allerdings kaum möglich, das transzendentale Ich weiterhin als stichhaltiges begriffliches Fundament der Kant’schen Kritiken zu betrachten. Die Reflexion des transzendentalen Ichs wird im Anschluss an Fichte im Zentrum der romantischen Philo­ sophie stehen. Die äußerst komplexen Überlegungen, wie das absolute Ich die Welt aus sich hervorbringen könne, vor allem, was überhaupt das absolute Ich sei, muten heute wie müßige Gedankenakrobatik an, stellen aber gleichwohl die Grundlage dar, von der aus Hegel diese Selbstreflexion vom Kopf auf die Füße stellte (was Marx dann wiederum mit Hegel selbst versuchte) und zur Selbstreflexion des der historischen Entwicklung innewohnenden objektiven und „absoluten Geistes“ gelangt, gleichsam die objektivierende Transformation des „absoluten Ichs“. Ich möchte den Grundgedanken der Konstruktion des „absoluten Ichs“ in aller Kürze skizzieren. Klee, Worringer und die romantische Philosophie: A ­ bstraktion und das „Absolute“  I  147

Wenn ich versuche, mein „unmittelbares Bewusstsein“ zu reflektieren, gerate ich in den Zirkel eines unendlichen Regresses. Das Nachdenken über mein Bewusstsein erfordert zwangsläufig ein zweites Denken, das das Nachdenken denkt, dieses wiederum ein drittes usw., d. h., das Ich entzieht sich kontinuierlich meinem Denken, statt ihm näherzukommen. Die frühromantische Philosophie, insbesondere Schellings, versucht diesem Zirkel zu entgehen, indem sie betont, es müsse ein präreflexives Ich geben, ein „Ich bin“. In der „Anschauung“ und unmittelbaren Gewissheit des Ichs ist der Akt der Anschauung des Ichs identisch mit dem angeschauten Ich, d. h. das Ich konstituiert sich in einem Akt der Anschauung selbst, die Unterscheidung von Subjekt und Objekt ist aufgehoben50. Die romantische Philosophie hat für diesen nicht unproblematischen Versuch, einen Ausgangspunkt der Philosophie zu finden, den Begriff „intellektuale Anschauung“ (Schelling) geprägt.51, 52 Der Preis für diese Konstruktion besteht allerdings darin, dass ein derartiges „absolutes Ich“ dem präsymbolischen, symbiotischen Selbst der Psychoanalyse gleicht, bei dem ebenfalls keine Trennung von Subjekt und Objekt existiert und das Objekt lediglich eine Art Extension des Subjekts ist. Schellings Gedanken dazu – er versteht das absolute Ich als absolute Freiheit, als Unendlichkeit – zeigen das absolute Ich, ebenso wie die „intellektuale Anschauung“ gleichsam als eine Variante der romantischen Poesie, bei der der romantische Todesgedanke nicht fehlt. Mit absoluter Freiheit ist auch kein Selbstbewusstsein mehr denkbar. Eine Tätigkeit, für die es kein Objekt, keinen Widerstand mehr gibt, kehrt niemals in sich selbst zurück [...]. Wo aller Widerstand aufhört, ist unendliche Ausdehnung. Aber die Intension unseres Bewusstseins steht in umgekehrtem Verhältniß mit der Extension des Seyns. Der höchste Moment des Seyns ist für uns Übergang zum Nichtseyn, Moment der Vernichtung. Hier, im Moment des absoluten Seyns, vereinigt sich die absolute Passivität mit der unbeschränktesten Aktivität. Unbeschränkte Tätigkeit – absolute Ruhe, vollendeter Epikuräismus. Wir erwachen aus der intellektualen Anschauung wie aus dem Zustand des Todes.53 (Hrv. Schelling)

Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass es sich bei der „intellektualen Anschauung“ weniger um eine im strengen Sinne philosophische Konstruktion handelt als vielmehr um die poetische Vorstellung eines vorbegrifflichen „ozeanischen Gefühls“. Auf Klees Version des „absoluten Ichs“ werde ich im nächsten Abschnitt eingehen. Soweit Klee jedoch vom „Absoluten“ als solchem spricht, ist es für ihn – in Schelling’scher Manier – Ausdruck seiner Vorstellung von „Totalisation“ oder des „Totalitätsstandpunktes“ (Klee übernimmt hier praktisch wörtlich Schellings „Standpunkt der Totalität“).54 Auch an einem weiteren zentralen Punkt übernimmt Klee die Position der Romantik: Mensch und Natur stehen sich bei Klee nicht feindlich gegenüber, wie bei Worringer. Der Mensch – insbesondere der Künstler – steht bei Klee in „Zwiesprache“ mit der Natur, bleibt stets ein Teil von ihr.55 Natur ist für Klee, ähnlich wie für die Romantiker, „Idee“, „Logos“.56 148 I Klees Kunstphilosophie

Schelling hatte diesen Weg am konsequentesten eingeschlagen.57 Schelling geht von einer scheinbar ähnlichen Prämisse aus wie Worringer, nämlich der Fundiertheit der Kunst in Formationen der Natur. Er spricht u. a. von der „Kraft“, „die im Krystall wirkt“, sich aber auch in der Bildung des menschlichen Organismus wie ein „sanfter magnetischer Strom“ darstelle.58 Er sieht in der Natur eine sich noch nicht selbst reflektierende, zugleich aber „werkthätige Wissenschaft“ wirken: Diese werkthätige Wissenschaft ist in der Natur und Kunst das Band zwischen Form und Begriff, zwischen Leib und Seele [...], so wird das Kunstwerk in dem Maße trefflich werden, in welchem es uns diese unverfälschte Kraft der Schöpfung und Wirksamkeit der Natur wie in einem Umrisse zeige.59

Entscheidend ist jedoch, dass für Schelling bereits in der Natur, damit auch im „Kristallinen“ der Begriff „werkthätig“ ist. Das Kristalline verweist nicht auf ein transzendentes An-Sich, sondern auf einen Mensch und Natur verbindenden Geist. Das transzendente An-Sich verliert seine ontologische Autorität zugunsten eines immanenten Geistes: Darum trachtet die rohe Materie gleichsam blind nach regelmäßiger Gestalt, und nimmt unwissend rein stereometrische Formen an, die doch wohl dem Reich der Begriffe angehören, und etwas Geistiges sind im Materiellen.60 (Hrv. MC)

Mensch und Natur stehen sich bei Schelling und Klee nicht feindlich gegenüber: Über die Existenz eines beiden innewohnenden Geistes (Schelling spricht auch von „Intelligenz“) sind beide vielmehr miteinander verbunden. Schelling verweist emphatisch auf diese geistige Einheit von Mensch und Natur, in deren Phänomenen „bewusstlos schon der intelligente Charakter durchblickt“. Wenn die Natur „unwissend“ stereometrische, d. h. auch kristalline Formen annimmt, dann ist sie für Schelling kein transzendentes An-Sich, sondern ein Phänomen des der Natur innewohnenden Geistes. Die romantische Naturwissenschaft, etwa der Biologe Lorenz Oken, hat dies später fast 1:1 übernommen: „Die romantische Konzeption beruht also auf der Grundannahme, dass implizit alle Bildungen des Kosmos belebt sind.“61

Klee, die Romantik und das „absolute Ich“ Die Kunst construiren heißt, ihre Stellung im Universum bestimmen.62 Bereits bei der Diskussion der künstlerischen Beziehung zwischen Klee und Marc wurde deutlich, dass beide Künstler Elemente einer Zeitströmung aufgreifen, die in der Avantgarde, in der modernen Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts weitverbreitet war. Pauschal kann man diese Strömung als einen philosophisch wenig fundierten Neoplatonismus bezeichnen. Bei Marc drückt sich dies in der Suche nach dem „wahren Sein“ aus (das er letztlich nur im Tod findet), bei Klee in der Suche nach einem im Universum Klee, die Romantik und das „absolute Ich“  I  149

und in der Schöpfung beheimateten „Urgrund“, bei Kandinsky in einer Reihe theosophischer Spekulationen, von denen er sich später allerdings wieder distanziert63. Wir hatten gesehen, dass dieser Neoplatonismus auf Kant, die Romantik und deren Kantkritik, insbesondere auf Schelling, zurückführt. Mit seiner Ausarbeitung eines spezifisch ästhetischen Urteilsvermögens hatte Kant die Grundlagen für die romantische Kunstphilosophie gelegt, die Kunst erhielt eine neue epistemische Bedeutung: Kunst wurde für die Romantik zum Leitmedium der Erkenntnis. Für Kant ist das ästhetische Geschmacksurteil das „Mittelglied“, das theoretische und praktische Urteile miteinander verbindet, der Schlussstein seines philosophischen Systems. Kunst, das „Schöne“, wird zum „Symbol“ des Sittlichen64. Zugleich werden im ästhetischen Geschmacksurteil die „übersinnlichen“ Ideen des theoretischen Urteils („Zweckmäßigkeit“) und des praktischen Urteils („Freiheit“) zusammengeführt. Da im Geschmacksurteil Zweckmäßigkeit als „subjektive“ Zweckmäßigkeit in Erscheinung tritt65, Freiheit dagegen als Freiheit von kunstfremden Motiven erscheint, gleichsam als „Symbol“ des Moralischen, ist das ästhetische Urteil das komplexeste aller Urteile, ein „Reflexionsurteil“. Es ist weder „praktisch“, wie das moralische Urteil, noch „bestimmend“ wie das theoretische Urteil. Weiterhin skizziert Kant einen Gedanken, der für die romantische Philosophie, aber auch für die Moderne (u. a. besonders bei Adorno) von erheblicher Bedeutung sein wird: den Gedanken von der Rätselhaftigkeit und „Unendlichkeit“ des Kunstwerks. Unter einer ästhetischen Idee verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.66 (Hrv. MC)

Nicht zuletzt vertritt Kant eine Variante der Kunstphilosophie, die der Romantik besonders nahelag: seine Glorifizierung des „Genies“, in der Kunst und Natur vereint sind67. Das „Genie“ schafft die Regeln der Kunst, die von seinen Nachfolgern dann „nachgeahmt werden“, eine Nachahmung, „der die Natur durch das Genie die Regel gab“68. Die romantische Philosophie geht noch einen Schritt weiter: Für sie ist Kunst Ausdruck des „Unendlichen“ und bildet damit den Gipfelpunkt menschlicher Erkenntnis69. Weil das Kunstwerk – der Kant’sche Gedanke wird konsequent ­weitergeführt – unausdeutbar bzw. unendlich deutbar ist, wird es zur Objektivierung bzw. zum „Symbol“ des Absoluten. In ihrer privilegierten Beziehung zum Unendlichen drückt sich darüber hinaus der Wahrheitsanspruch der Kunst aus. Für die Romantik ist „Wahrheit das epistemische Korrelat der Totalität“70. Bei Klee, so haben wir gesehen, finden wir ebenfalls die Suche nach der „Tota­lität“, nach dem „Totalitätsstandpunkt“ und in seiner Definition des Roman­tischen rekurriert Klee auf das Unendliche, auf eine „Romantik, die im All aufgeht“71. Wenn wir uns im Folgenden Fragen der Klee’schen Kunst-Philosophie und -Meta­ physik zuwenden, bei denen es um „Geist“, „Schöpfung“, „Urgrund“, „Gott“ u. a. geht und dies vor dem Hintergrund der These, dass Klee im Geiste der romantischen Philo­ sophie und Kunsttheorie argumentiert, müssen wir uns vergewissern, wie derartige 150 I Klees Kunstphilosophie

Begriffe im Kontext und im Geist der Romantik verstanden wurden72. Rosenberg hat darauf hingewiesen, dass die romantische Religiosität eine Reaktion auf die Krise der Religion war73. Ähnlich argumentiert auch Glaesemer: Im Gegensatz zur Aufklärung erlebten die Romantiker das Schwinden des Glaubens jedoch als schweren Verlust. Sie hielten dem Wissen um die Dinge die Innerlichkeit des Empfindens gegenüber. Immer bilden das All, der Kosmos und die Zusammenhänge der Naturschöpfung die entscheidenden Bezugspunkte des romantischen Weltbildes.74

Wesentlich ist dabei, dass viele romantische Künstler auf diese Krise mit privaten „Kosmogonien“ reagierten, in denen das Irdische als Spiegel oder „Gleichnis“ des Göttlichen erscheint, eine Formel, die sie u. a. der Renaissance entlehnt hatten. Der Geist des Malers, so Leonardo, ist ein „Abbild göttlichen Geistes“75. Auf Runge, der in der Kunst ein derartiges Gleichnis des Göttlichen sah, wurde bereits verwiesen. Mehr noch als die „Innerlichkeit des Empfindens“ drückt die romantische Darstellung des Erhabenen in der Natur, in den in der Romantik beliebten Darstellungen, etwa von schroffen Gebirgslandschaften, wilden Schluchten oder der Unendlichkeit des Meeres, den Geist der romantischen Kosmogonien aus: Sie waren Ausdruck des göttlich Erhabenen. Eine derartige Konstruktion wäre für Kant undenkbar gewesen. Für Kant ist das Erhabene eine subjektive Reaktion, mit der wir auf die Übermächtigkeit der Natur mit dem Gefühl der „Erhabenheit“ des uns immanenten „moralischen Gesetzes“ reagieren. Gott ist für Kant ein transzendenter Bezugspunkt, ein „regulatives Prinzip“, und nichts, was „gleichnisartig“ in der Natur in Erscheinung treten könnte. Safranski spitzt die Bedeutung des Religiösen in der Romantik mit dem Hinweis zu, dass die Religiosität, zumindest der deutschen Romantik, „nicht eigentlich die christliche“ gewesen sei. „Es war eine Phantasie-Religion oder die Religion der Phantasie.“ Der herkömmliche Gottes- und Religionsbegriff wird zugunsten der menschlichen Denk- und Schöpferkraft aufgelöst: Der Mensch ist frei, weil er Gott schafft.76 Nicht Gott ist der universelle Schöpfer, sondern der Mensch selbst, das „absolute Ich“, wie es von Fichte und dem frühen Schelling deduziert wurde (und wie es im vorigen Abschnitt dargestellt wurde). Nur vor dem Hintergrund dieser Zentrierung des Menschen als Absolutum lässt sich die Philosophie und Weltanschauung der (Früh-)Romantik angemessen verstehen. Paradigmatisch wird das Religionsverständnis der Frühromantik von Schleiermacher formuliert, der als evangelischer Theologe zeitweilig der Blasphemie verdächtigt wurde. „Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe“, schreibt Schleiermacher. „Anschauung“ des Universums, des Unendlichen ist bei Schleiermacher bereits Religion oder, wie die bekannte Formulierung Schleiermachers lautet, Religion ist „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Was in den „Wechselbegriffen“ von Selbstanschauung und Anschauung noch etwas verklausuliert klingt, wird an einer anderen Stelle deutlicher: „Ihr werdet wissen, dass Eure Phantasie es ist, welche für euch die Welt schafft.“77 Auch „Gott“ ist in der Philosophie Schleiermachers, wie überhaupt in der romantischen Philosophie, eine menschliche „Setzung“.78 Die Bedeutung Schleiermachers besteht im Wesentlichen darin, dass er ein pantheistisches Gottesbild entwickelte, Klee, die Romantik und das „absolute Ich“  I  151

in dem Mensch, Gott und Universum letztlich gleichgesetzt werden, weil sie gleichermaßen Geist und menschliche Schöpferkraft darstellen. Rosenberg sieht als ein zentrales Merkmal der Romantik die „Umsetzung s­akraler Erfahrung in säkulare Bezirke“. Caspar David Friedrich ist für ihn pa­radigmatisch für diese Bestrebung, ähnlich wie Schleiermacher im Bereich der Theologie: Tatsächlich entspricht Schleiermachers Suche nach dem Göttlichen außerhalb kirchlicher Bindungen dem Kernproblem zahlreicher Künstler der Romantik. Wie lassen sich Erfahrungen des Spirituellen, des Transzentralen zum Ausdruck bringen, ohne Rückgriff auf traditionelle Bildthemen wie Anbetung, Kreuzigung, Auferstehung, Himmelfahrt [...].79

Eine der künstlerischen Strategien, dies zu bewältigen, war die Transponierung des Überirdischen und Göttlichen in die Natur, die zum „Gleichnis“ des Göttlichen wird – eine Formel, die Klee nicht nur auf die Kunst, sondern mit ähnlichen Worten auf die Natur selbst anwenden wird: die Natur als „Urgrund der Schöpfung“.80 Lässt man diese Zusammenhänge einer durch den Menschen selbst gesetzten Einheit von Mensch, Gott und Universum außer Acht, missversteht man das subversive – wie immer spekulative – Moment der Frühromantik, das die Heteronomie eines transzendenten Gottes zugunsten eines allumfassenden Mensch-Geist-Gott-Begriffs aufzulösen versucht. Man würde damit auch Klee missverstehen, dessen Kunstmetaphysik Transzendentalphilosophie im Sinne der Romantik ist. Auch für ihn sind Begriffe wie „Genesis“, „All“ und „Schöpfung“ geistige Phänomene – für den „Intellekt“ allerdings keineswegs ausschöpfbar, also im Sinne der Romantik „unendlich“. In einer zentralen Passage seines Jenaer Vortrags von 1924 schreibt Klee: Vom Vorbildlichen zum Urbildlichen! Anmaßend wird der Künstler sein, der dabei bald irgendwo stecken bleibt. Berufen aber sind die Künstler [...], die heute bis in einige Nähe jenes geheimen Grundes dringen, wo das Urgesetz die Entwicklung speist. Da, wo das Zentralorgan aller zeitlich-räumlichen Bewegtheit, heisse es nun Hirn oder Herz der Schöpfung alle Funktionen veranlasst, wer möchte da als Künstler nicht wohnen. Im Schoße der Natur, im Urgrund der Schöpfung [Hrv. MC], wo der geheime Schlüssel zu allem verwahrt liegt. Aber nicht alle sollen dahin! Jeder soll sich da bewegen, wohin ihn der Schlag seines Herzens verweist. So hatten zu ihrer Zeit unsere gestrigen Antipoden, die Impressionisten völlig recht, bei den Wurzelschösslingen, beim Bodengestrüpp der täglichen Erscheinung zu wohnen. Unser pochendes Herz aber treibt uns hinab tief hinunter zum Urgrund.81

Hier finden wir in verdichteter Form den zentralen Gedanken der Klee’schen Kunstphilosophie: die Suche nach einem die Kunst fundierenden „geheimen Grund“. Klee verwendet dabei unterschiedliche Begriffe, die jedoch alle in die gleiche Richtung zielen. Im Mit152 I Klees Kunstphilosophie

telpunkt steht der „Urgrund“, den Klee im „Schoße der Natur“ sucht bzw. der „geheime Grund“, gefolgt vom „Urbildlichen“ (anstelle des „Vorbildlichen“), dem „Hirn oder Herz der Schöpfung“ und dem „Urgesetz der Entwicklung“. Wir werden sehen, dass Klee eine Lösung dieses Problems im Geiste der Frühromantik findet. Ich werde mich Klees Suche nach dem „Urgrund“ deshalb zunächst von einer anderen Seite nähern: mit dem Versuch einer Rekonstruktion von Klees künstlerischer Selbststilisierung als jenseitiger Künstler. „Jenseitiger“ Künstler bedeutet – wie Klee insbesondere in seiner Bildnerischen Gestaltungslehre deutlich macht – den Bezug zum Geistigen, zum Dynamischen, das sich der Schwerkraft des Irdischen, der Statik entgegensetzt (ich hatte im vorhergehenden Abschnitt darauf verwiesen). „Jenseitig“ muss in seinem Gegensatz zum „Diesseitigen“, 58  Paul Klee, Bildnerische Gestaltungslehre Anhang (Illustration zu „Wege des Naturstudiums“), 1924, Erdverhafteten verstanden werden, als Feder auf Papier auf Karton, 30 x 21 cm, Zentrum Paul „Welt“ im Gegensatz zur „Erde“, wie Klee, Bern Klee es in seiner bekannten Graphik Ich – Du – Erde – Welt dargestellt hat82. Ende 1914 notiert Klee erstmals in systematischer Form seine Überlegungen zur Bedeutung der Abstraktion als „kühle Romantik“, wobei zugleich auch der Gedanke eines „Jenseitigen“ als Gegenpol zum „Diesseitigen“ formuliert wird. Die Abstraktion „baut“ hinüber in eine „jenseitige“ Gegend (Tgb. 951). Seit dieser Zeit stilisiert sich Klee als Künstler mit einer privilegierten Beziehung zum „Jenseitigen“: Man verläßt die diesseitige Gegend und baut dafür in eine jenseitige, die ganz ja sein darf. (Tgb. 951)

Auch der Begriff der „Tiefe“, ebenfalls als Gegenpol zum „Diesseitigen“, taucht auf. 1914 bzw. 1916 notiert Klee in seinem Tagebuch: Ich bin gewappnet, ich bin nicht hier, ich bin in der Tiefe, bin fern ... Ich glühe bei den Toten. (Tgb. 931) Meine Glut ist mehr von der Art der Toten und Ungeborenen. (Tgb. 1008) Klee, die Romantik und das „absolute Ich“  I  153

Klee wird diesen Gedanken vier Jahre später, 1920, wiederholen, nicht in seinem Tagebuch, sondern im Katalog seiner ersten großen Einzelausstellung bei seinem Kunsthändler Goltz, eine Formulierung, die dann in der Klee-Biographie von Leopold Zahn (1920) aufgegriffen wird. Diesseitig bin ich gar nicht fassbar. Denn ich wohne grad so gut bei den Toten, wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich. Und noch lange nicht nahe genug. Geht Wärme von mir aus? Kühle?? Das ist jenseits aller Glut gar nicht zu er­örtern.83

Dies dürfte nicht zuletzt eine an das Publikum gerichtete literarische Selbststilisierung Klees sein. Wenn Klee bei den Toten und Ungeborenen „wohnt“, dann soll dies nicht nur als allgemeiner Hinweis auf einen Bezug zu Vergangenheit und Zukunft verstanden werden, sondern als eine besondere Beziehung zur Jenseitigkeit als Geistigkeit, die Vergangenheit und Zukunft im Sinne des Klee’schen „Totalitätsstandpunktes“ umfasst. Zugleich bedeutet diese Beziehung zum Jenseitigen aber auch die Vorbereitung der künstlerischen Position, die er ab 1920 immer wieder als sein Credo verkünden wird: Dass er nicht beim Sichtbaren stehen bleibt, sondern mit seiner Kunst „sichtbar“ macht, Kunst also als Welterschließung versteht: „[v]om Vorbildlichen zum Urbildlichen“.84 Klee argumentiert damit erkennbar selbstreferentiell: Er ist diesseitig nicht fassbar, offenbar also nur jenseitig, er ist es selbst, der bei den Toten und Ungeborenen und in der Tiefe „wohnt“, er „baut“ hinüber in die „jenseitige“ Gegend. Das Jenseitige ist für Klee in der Tat eine Art geistiger „Wohnort“, kein Bereich von Transzendenz. Noch deutlicher wird diese Selbstreferentialität, wenn Klee in seinem Jenaer Vortrag den Gedanken entwickelt, dass der „Künstler“, d. h. auch er selbst, die Schöpfung, die „Genesis“ weiterführt und „weltschöpferisch“ tätig ist: Er erlaubt sich dann auch den Gedanken, dass die Schöpfung heute kaum schon abgeschlossen sein könne, und dehnt damit jenes weltschöpferische Tun von rückwärts nach vorwärts. Der Genesis Dauer verleihend.85

Klee ist nicht nur an der Vorstellung des alter deus, der Renaissance-Idee des gottähnlichen Künstlers orientiert, sondern, darüber hinausgehend, an der Vorstellung des Künstlers, der, gottgleich, „weltschöpferisch“ und „kosmogenetisch“ der Genesis „Dauer“ verleiht86. Dies ist, geradezu paradigmatisch das romantische „absolute Ich“, das sich selbst und zugleich die Welt und den Kosmos setzt. In seinen Notizen zur Bildnerischen Gestaltungslehre hat Klee, wie wir gesehen haben, seine Gedanken zum Jenseitigen bzw. Geistigen geradezu prosaisch, ohne poetische Ausschmückung, mit „Toten“ und „Ungeborenen“ formuliert.87 Hier macht Klee im Rahmen seiner Bildnerischen Mechanik eine einfache Unterscheidung: Die klassische Kunst folge der „Schwerkraft“, sei statisch, horizontal, diesseitig, die romantische Kunst orientiere sich an der „Schwungkraft“, sei dynamisch, vertikal und jenseitig. Das Jenseitige wird zu einer Frage des Stils, der bildnerischen Mechanik des Statischen und Dyna154 I Klees Kunstphilosophie

mischen.88 Spekulationen über eine mögliche metaphysische Bedeutung des „Jenseitigen“ bei Klee dürften sich damit erübrigen: „Das mechanische Wesen mit seinen zugehörigen Grundbegriffen diesseitig und jenseitig.“89 An die Stelle einer noch immer mitschwingenden mystischen Aura tritt eine nüchterne Bestandsaufnahme: das Diesseitige und das Jenseitige als Phänomene bildnerischer Mechanik. Einen ähnlichen Gedanken greift Klee in seinem Jenaer Vortrag noch einmal auf, wobei er allerdings hier mit einem romantischen Aufschwung ins „All“ verbunden wird: [...] Romantik, die im All aufgeht. Es decken sich also die statischen und dynamischen Teile der bildnerischen Mechanik ganz schön mit dem klassisch-romantischen Gegensatz.90

In Blüthenstaub formuliert Novalis ähnlich wie Klee den romantischen Drang ins All als Weg zu sich selbst, also selbstreferentiell: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.“ Die Phantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? [...] Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.91

Klees geistige Nähe zur Romantik ist unübersehbar. Novalis’ Aphorismus ist eine der komprimiertesten Formeln des ästhetischen Programms von Paul Klee: der kosmogenetische Weg ins Weltall, der zugleich der Weg nach innen ist. Es ist viel spekuliert worden, wie weit Klee die Romantiker, insbesondere Novalis, selbst gelesen hat, was von Grohmann mit Nachdruck behauptet wird. Huggler hat Parallelen zwischen den Tagebüchern und den Fragmenten von Novalis festgestellt. Wenn Franciscono gleichwohl skeptisch bleibt, weil Klee in der Tat Novalis nicht namentlich erwähnt,92 so trifft dies nicht den entscheidenden Punkt. Ich habe zu zeigen versucht, dass Klee vom „Geist“ der Romantik so nachhaltig beeinflusst war, dass es zweitrangig ist, woher er seine Kenntnisse bezog: durch eigene Lektüre, durch Sekundärliteratur oder durch Diskussionen mit seinen Freunden. Im Kontext der Bildnerischen Formlehre macht Klee seine Vorstellung des Jenseitig-Geistigen noch einmal aus anderer Perspektive deutlich: Der Vater jeder Bewegungs- oder Wurfgeschosses [...] war der Gedanke. Der Vater ist ganz Geist, ganz Idee [...] Diese Fähigkeit des Menschen geistig Irdisches und Überirdisches beliebig zu durchmessen im Gegensatz zu seiner physischen Ohnmacht ist die menschliche Tragik.93

Hier stoßen wir auf einen weiteren geradezu kanonischen Gedanken der Romantik: dass der menschliche Geist das Universum, die Unendlichkeit beliebig „durchmessen“ kann, ja diese letztlich in sich enthält. Denn da das Unendliche kein „Ding“ ist, kann der menschliche Geist es deshalb erfassen, weil er diesem kongruent ist. Bereits die Möglichkeit, Klee, die Romantik und das „absolute Ich“  I  155

über einen Anfang hinauszugelangen, ist für Klee durch den „Begriff des Unendlichen“ gekennzeichnet94. Ähnlich verhält es sich mit der Abstraktion: Diese wendet sich von der konkreten Dingwelt ab und versucht, das Geistige der Dinge und der Welt zu erfassen. In Schellings Identitätsphilosophie ist es der „Geist“, der die Übereinstimmung von Mensch und Natur gewährleistet; die Natur ist selbst Geist, der noch nicht zu sich gekommen ist. Es dürfte kaum mehr verwundern, dass wir auch diesen zentralen Topos der Romantik bei Klee wiederfinden. Die Formung und Gliederung der Natur, schreibt Klee, muss betrachtet werden [...] mit Bezug auf die zugrunde liegende Idee, auf den Logos oder wie übersetzt wurde: das Wort welches der Anfang war.95

Wir hatten bereits erwähnt, dass Klee die „Idee“, den „Geist“, den „Logos“ auch als das formative Prinzip, als natura naturans der Gestaltung der Pflanzenwelt ansieht. Dies entspricht sinngemäß Schellings Position, wie er sie u. a. in seiner Naturphilosophie formulierte: Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes i n uns und der Natur a u ß e r uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich sei, auflösen.96

Obwohl Klee, wie bereits sein Biograph Hausenstein (1921) erkannte und bedauerte, nicht im traditionellen Sinn religiös war (Klee dies jedoch, offenbar wenig überzeugend, Hausenstein nahelegen wollte), lässt er sich doch ein Hintertürchen zur christlichen Überlieferung offen. Am Anfang war das Wort: „[...] das Wort welches am Anfang war. Das Wort als Voraussetzung, als Idee zur Genesis eines Werkes.“97 Dies ist von Sartre missverstanden worden, als er Klee als einen Künstler der „Tat“ präsentierte.98 Wenn Klee jedoch das Wort „Gott“ oder das „Göttliche“ verwendet, dann handelt es sich nicht um den Gott der christlichen Überlieferung, sondern um den pan­ theistischen Gott der frühen Romantik, der letztlich nichts anderes ist als Geist oder Logos. Für Schelling, der sich selbst wiederum auf Spinoza bezieht, sind Gott und Universum äquivalent, zwei Seiten derselben Medaille99, d. h., Gott, der Geist ist, ist zugleich Universum. Klee präsentiert sich ab etwa 1902 immer stärker als ein Mensch und Künstler, der sich nach heftigen inneren Kämpfen von den sinnlich-triebhaften Aspekten seiner Existenz lossagt – ein Prozess der asketischen Selbsttransformation. Bereits 1904 hatte Klee festgestellt, dass er ein Leben der Gedanken führte, „bar des heißen Blutes“, und hinzugefügt, dass er dieses Leben werde „weiter führen müssen“ (Tgb. 186). 1907 schreibt er, dass er sich an einen Ort getragen fühle, „wo man die Wollust nicht mehr sucht“ (Tgb. 748). Bis dahin war Klee ausgesprochen „diesseitig“ orientiert, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Erotik und Sexualität. Dass Klee dieses Selbstbild als zunächst asketischer, später auch als weltentrückter, jenseitiger Künstler erst nach einer Phase 156 I Klees Kunstphilosophie

großer innerer Konflikte erreichte, lässt vermuten, dass sein Selbstverständnis als „Neutralgeschöpf“ ein äußerst zwiespältiger Schutzmechanismus war. Dies legt wiederum nahe, dass Jenseitigkeit als Prinzip des Geistigen nicht nur ein philosophisch-spekulatives Produkt, sondern auch Ausdruck eines persönlichen Entwicklungsprozesses war100. Glaesemer stellt diese Frage noch dezidierter: Er gibt zu bedenken, ob Klees vergeistigte „romantische[n] Triebe“ nicht [...] eine Folgeerscheinung seiner mönchischen Enthaltsamkeit [sind]? Und war nicht vielleicht mit dem frühen Verzicht auf eine vital ausgelebte Sexualität auch dieser besagte innere Krieg gemeint, auf den er sich 1914 berief, um zu erklären, warum ihn das aktuelle Kriegsgeschehen im Grunde nichts mehr angehe.101

Wenn die Parallele zu Novalis zutrifft, der Weg ins Weltall also zugleich der Weg „nach Innen“ ist, dann würde dieser Weg nach innen auch auf eine schwierige lebensgeschichtliche Entwicklung verweisen. Die Suche nach dem „Urgrund“ wäre dann eine Metapher für den Versuch einer Selbsterkundung, für den Weg „nach Innen“ – eine spekulative Annahme. Nicht spekulativ ist dagegen die Rekonstruktion, dass Klees kosmogenetischer, weltschöpferischer Gestus bedeutet, dass Klee sich als Fortsetzer der Genesis, als demiurgischen Schöpfer sah – und somit selbst „Urgrund“ war. Kunst ist für Klee somit nicht nur „Gleichnis“ der Schöpfung bzw. Gottes, sondern selbst Genesis. Der Künstler, als demiurgischer Schöpfer, ist selbst Urgrund, Logos und Natur zugleich. Der Künstler als Teil der Genesis, wird gottähnlich, ja gottgleich.102 Kunst wird damit selbst zum Absoluten: Sie bedarf keiner weiteren Rechtfertigung mehr, weil sie mit dem Kosmos und der Genesis übereinstimmt. Der Künstler Klee wird zum absoluten Ich, zum Schöpfer des Kosmos – eine Kosmogonie ganz im Sinne Fichtes und Schellings. Begriffsgeschichtlich lässt sich der Topos des „Urgrundes“ bis auf die vorsokratische Naturphilosophie, ja in die Mythologie fast aller Kulturkreise zurückverfolgen. Von den griechischen Naturphilosophen wurden unterschiedliche Elemente als „Urgrund“ verstanden: Wasser (Thales), Luft (Anaximenes), Feuer (Heraklit). Nach dem chinesischen Dao ist es der „Weg“, der zum Urgrund, zum Gesetz führt, das in allem wirkt. In der griechischen Mythologie war zunächst das „Chaos“ der Urgrund, aus dem alles entsteht, der später in Opposition zum Kosmos gesetzt wurde, eine Opposition, auf die sich Klee explizit in seiner Bildnerischen Gestaltungslehre bezieht. Eine der romantischen Philosophie nahestehende Position vertrat Anaximandros: Er sah im „Unbegrenzten“ (apeiron) den Urgrund. Auch die platonische Ideenlehre lässt sich als eine Theorie des „Urgrundes“ verstehen: Die Ideen sind das Sein des Seienden, ontos on, Urgrund des Seienden. Obwohl Klee – wie seine Tagebücher und Briefe zeigen – mit der klassischen griechischen Literatur vertraut war, sind klare Bezüge zur vorsokratischen oder platonischen Philosophie bei Klee nicht erkennbar. Wenn Klee sich also auf den „Urgrund“ bezieht, so handelt es sich dabei nicht um eine originäre philosophische Schöpfung Klees, sondern um einen verbreiteten mythologischen und philosophischen Topos. Klee, die Romantik und das „absolute Ich“  I  157

Goethes Morphologie und die Theorie der „Urphänomene“ Ein weiterer theoretischer Hintergrund der Klee’schen Kunstphilosophie ist abschließend zu erörtern: Goethes Morphologie, seine Theorie der „Urphänomene“ bzw. „Urformen“ oder „Urbilder“.103 Auch Goethes Konzeption der Urphänomene lässt sich aus der Perspektive der Auseinandersetzung mit Kants Erkenntnistheorie verstehen. Kant hatte eine scharfe und unübersteigbare Grenze gezogen zwischen dem, was wir durch unsere Verstandeskategorien erkennen können, was ein „Gegenstand der Erkenntnis“ sein kann, und dem, was die transzendentallogische Konstitution des zu erkennenden Gegenstandes übersteigt, der Bereich des Dings An-sich, die Grenze also zwischen dem transzendental Erkennbaren und dem transzendenten nicht erkennbaren An-sich. Goethe kritisierte diese strikte Trennung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis und entwickelte stattdessen – insbesondere in seiner Farbenlehre – die Theorie, dass Subjekt und Objekt „aufeinander hingeordnet und abgestimmt“ seien, also eine Art erkenntnistheoretischen Realismus, der gewissermaßen auf einer Übereinstimmung des Erkenntnisvermögens mit den Gegenständen der Erkenntnis basiert. Das Auge beispielsweise, so Goethe, „hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Licht fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete“.104 Goethes „Realismus“ ist jedoch keineswegs „naiv“, sondern basiert auf einer ausgefeilten experimentellen Methodik, die stellenweise an Poppers Forschungslogik erinnert. Am Beispiel Goethes und seiner empirisch-naturwissenschaftlichen Orientierung lässt sich zugleich zeigen, dass Klee – zumindest in seiner philosophischen Orientierung – der Frühromantik näherstand als Goethe. Goethe war – im modernen Sinne – Naturwissenschaftler. Er betrieb eine empiriebezogene Naturanschauung (und sprach von „anschauender Urteilskraft“), Klee dagegen eine auf Intuition basierende poetische Naturschau105. Benjamin hat zu Recht auf die Naturwissenschaften als die eigentliche Ästhetik Goethes hingewiesen: Goethes naturwissenschaftliche Studien stehen im Zusammenhang seines Schaffens an der Stelle, die bei geringeren Künstlern oft die Ästhetik einnimmt. Man kann gerade diese Seite des Goetheschen Schaffens nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er [...] nie seinen Frieden mit dem schönen Schein gemacht hat. Nicht die Ästhetik, sondern die Naturanschauung versöhnte ihn mit Dichtung und Politik.106

Cassirer weist auf die Breite der naturwissenschaftlichen Studie Goethes hin: Im stetigen Fortschritt [...] geht Goethe von der Mineralogie zur Geologie, von der Botanik zur allgemeinen Morphologie, von der vergleichenden Anatomie zur Physiologie, von Farbenlehre zu den Grundproblemen der Physik fort.107

Und im Gespräch mit Eckermann betont Goethe: 158 I Klees Kunstphilosophie

Ich habe mich [...] in den Naturwissenschaften ziemlich nach allen Seiten hin versucht, jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten [...].108

Goethe ist, wie er selbstironisch hervorhebt, „Stockrealist“, allerdings mit fundierten naturwissenschaftlichen Kenntnissen. Wenn frühere Biographen, wie etwa Grohmann, ähnlich profunde Kenntnisse Klees hervorheben, dann entspricht dies weniger der Realität als vielmehr dem Bemühen, Klee in dieser Hinsicht auf eine ähnliche Stufe zu stellen wie Goethe. Dessen enge Verbindung von Kunst und Natur ist ohne seine Naturanschauung nicht denkbar. Benjamin hatte, wie zitiert, darauf hingewiesen, dass Goethes Naturanschauung, die auf seinen eigenen intensiven Naturforschungen beruhte, Goethes „Ästhetik“ gewesen sei. Während seiner Italienreise notierte Goethe geradezu paradigmatisch seine Sicht des Verhältnisses von Natur und Kunstwerken: Diese hohen Kunstwerke sind von Menschen zugleich als die höchsten Naturwerke nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.109

Klees Vorstellung, als Künstler am „Urgrund“ zu leben, klingt zunächst wie eine Paraphrase von Goethes Gedanken zur Natur und deren „Geheimnissen“: Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigen Auslegerin, der Kunst.110

Das führt erneut zu der Frage, aus welcher Quelle sich Klee die entscheidenden Anregungen geholt hat: in der Frühromantik oder bei Goethe. Beides trifft vermutlich zu.111 Das Goethe-Zitat zeigt jedoch den Unterschied zwischen Goethe und Klee: Da, wo für Goethe die „Offenbarungen“ der Geheimnisse der Natur aus naturwissenschaftlicher Forschung resultieren, sind diese für Klee intuitive Ableitungen aus einem „Urgrund“ – eine traditionelle metaphysische Position, wäre der „Urgrund“ Klees letztlich nicht doch, wie wir gesehen haben, dessen eigenes „absolutes Ich“. Klee kann die Vorstellung hegen, mit dem „Urgrund“ in Verbindung zu stehen, während Goethe, wissenschaftlich geschult, dem „Unendlichen“ gegenüber skeptisch bleibt und stattdessen den mühsamen Weg der Empirie empfiehlt: Willst du ins Unendliche schreiten, Geh im Endlichen nach allen Seiten.112

Meine These lautet somit: Die Gesamtkonzeption der Klee’schen Kunstphilosophie, sein „Totalitätsstandpunkt“ (Schellings „Standpunkt der Totalität“), sein Ausschweifen ins „All“ (die romantische „Unendlichkeit“) entspricht der Frühromantik, seine Vorstellung von Urformen oder Urbildern dagegen Goethe, jedenfalls in der Zeit nach 1920.113 Auch mit Goethes Position, dass in der Natur etwas „Unerforschliches“ bleibe, stimmt Klee Goethes Morphologie und die Theorie der „Urphänomene“  I  159

überein: Für ihn besteht hier ebenfalls kein Zweifel, dass es einen Bereich gibt, in dem der „Intellekt“ kläglich scheitert. Sein erkenntnistheoretischer „Realismus“ und seine damit verbundene naturwissenschaftliche Forschung führen Goethe dazu, dass er zwischen drei Formen von Phänomenen unterscheidet: dem empirischen Phänomen, dem wissenschaftlichen Phänomen (dem wissenschaftlich-experimentell unter verschiedenen empirischen Bedingungen untersuchten Phänomen) und schließlich dem „reinen Phänomen“, dem „Urphänomen“, bei dem alles Zufällige und Unreine ausgeschieden ist und das als „Urbild“ hinter den empirisch wechselnden Erscheinungsformen erkennbar ist114 – eine Form von empirisch fundiertem Neoplatonismus. Goethe hat deutlich gemacht, dass das „Urphänomen“ kein transzendentes Phänomen im Sinne des Kant’schen „An sich“ ist, sondern eine empirische Basis besitzt. Es handele sich um „eine Grunderscheinung, innerhalb derer das Mannigfaltige anzuschauen ist“.115 So ist etwa für Goethe der Magnetismus ein Urphänomen.116 Ob dies, wie Goethe in seinem Aufsatz über Anschauende Urteilskraft – möglicherweise eine Anleihe bei Schellings „intellektualer Anschauung“ – betont, tatsächlich erkenntnistheoretisch haltbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Goethe selbst scheint hier seine Zweifel zu haben: Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation, aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere, oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums.117

Nicht zu bezweifeln dürfte sein, dass Klee Anleihen bei Goethes berühmter „genetischer“ Methode gemacht hat.118 „Genesis“ ist, wie wir gesehen haben, ein Zentralbegriff der Klee’schen Ästhetik. Im Rahmen seiner Suche nach den Urphänomenen postulierte Goethe ein „Urthier“ bzw. eine „Urpflanze“, aus denen sich genetisch alle übrigen Formen ableiten lassen sollten. Mit einer gewissen Ironie verwies Goethe in seiner Italienischen Reise auf die „Urpflanze“: „Die Urpflanze ist das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll.“ In seinem Jenaer Vortrag von 1924 formuliert Klee Gedanken, die Goethes genetischer Methode sinngemäß entsprechen. Über den Künstler schreibt Klee: So besieht der die Dinge, die ihm die Natur geformt vor Augen führt, mit durchdringendem Blick. Je tiefer er schaut, desto leichter vermag er Gesichtspunkt von heute nach gestern zu spannen. Desto mehr prägt sich ihm an der Stelle des fertigen Naturbildes das allein wesentliche Bild der Schöpfung als Genesis ein.119

Auch Goethes methodisches Vorgehen vom empirischen Phänomen zum „Typischen“ (dem Urphänomen) wird schon früh in Klees Tagebücher paraphrasiert: „Und aus Beispielen wird Typisches sich automatisch ergeben“ (Tgb. 412). Deutlicher noch veranschaulicht eine Mitschrift der Kleeschülerin Petra Petitpierre, dass Klee Goethes Theorie 160 I Klees Kunstphilosophie

der Urformen nicht nur nahestand, sondern sie unmittelbar in seinem Unterricht umsetzte: Wenn man sich hinein bemühte, könnte man in gewissen Bildern das eine oder andere auf die Urform deuten. Aber manchmal ist eine sehr große Distanz zum Urbildlichen vorhanden ... Man sieht oft Formen, die einfach deutbar sind: Blätterartiges, Blütenartiges, Tierisches, Menschliches, Gebautes, Künstliches oder auch Technisches, Erdiges. Luftiges, Festes. Diese bringen eine gewisse Charakteristik hervor, das heißt eine Rekonstruktion zum Urbildlichen [...]. Das Ich ist auch noch dabei, nicht nur das Urbildliche, das sich spiegelt und Distanzen durchläuft. Das aktive Ich, das sich in Beziehung setzt zum Urbild greift ein, unter Umständen vielleicht, die das Ich anderswoher empfangen hat [...]. Selbst in abstrakten Gebilden könnte man noch den Faden zum Urbildlichen spüren. Allerdings gehört dann eine spezifische Art der Erfahrung dazu. Aber manchmal ist schon auf den ersten Blick das Urbild des Abstrahierten zu eruieren [...].120 (Hrv. MC)

Hier wird deutlich erkennbar, wie Klees Begriff des „Urbildes“ changiert. Im Jenaer Vortrag von 1924 besaß das „Urbild“, obgleich angelehnt an Goethes „genetische“ Methode, noch eine gleichsam metaphysische Bedeutung. Es war dort Ausdruck des „Urgrund[es] der Schöpfung“, der sich dann allerdings selbstreferentiell, im „absoluten Ich“ des Künstlers auflöst. Hier lässt es sich, im Sinne Goethes, aus dem Mannigfaltigen der Erscheinungen rekonstruieren. Mit dem vermeintlichen „Urbildlichen“ des Abstrakten gelangt Klee freilich an einen Punkt, der sich mit Goethes Realismus nicht erklären lässt. Das Abstrakte, zusammengesetzt aus den ästhetischen Werten von Form und Farbe, ist ein autonomes Gebilde, es ist selbst „Urbild“, nicht im Sinne einer „Urpflanze“ oder eines „Urtieres“ im Sinne Goethes, sondern im Sinne einer Sichtbarmachung und Welterschließung. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass Klee mit seiner Konzeption des „Urgrundes“ bzw. des „Urbildes“ zwei unterschiedliche Gedankenstränge bzw. ästhetische Positionen miteinander verbindet. Zum einen handelt es sich dabei um eine transzendentale und zugleich selbstreferentielle Position (man könnte sie „solipsistisch“ nennen), indem Klee gleichsam demiurgisch die Genesis nachvollzieht, als gottähnlicher Künstler auftritt, also selbst „Urgrund“ ist. Es handelt sich um eine implizite Anleihe beim „absoluten Ich“ der Frühromantik. Zum anderen geht es um eine „realistische“ erkenntnistheoretische Position, bei der Klee, ähnlich wie Goethe, in seiner Morphologie, hinter der Welt der Erscheinung reale „reine Phänomene“ erkennt, also beispielsweise bestimmte Blatt-, Blüten- oder Tierformen. Somit ließe sich Klees Ästhetik, soweit sie in seiner Kunstphilosophie zum Ausdruck kommt, folgendermaßen formulieren: Der Künstler muss den in ihm selbst l­iegenden Urgrund, zugleich aber auch das Urbild, wie er es hinter den empirischen Erscheinungen erkennen kann, gestalten. „Urgrund“ und „Urbild“ (im Goethe’schen Sinne) sind nicht deckungsgleich, sie stammen vielmehr aus zwei unterschiedlichen Erkenntnissphären. Demiurg und Realist: So ließe sich die Spannbreite der Klee’schen Kunstphilosophie charakterisieren. Goethes Morphologie und die Theorie der „Urphänomene“  I  161

Abschließen möchte ich Klees Verhältnis zu Goethe mit einem kurzen Exkurs zu Goethes Farbenlehre, einem außerordentlich komplizierten Thema. Goethe hat selbst seine Farbenlehre – ein Traktat von über tausend Seiten, mit der Darstellung zahlloser optischer Experimente – höher geschätzt als seine literarischen Arbeiten und war sich sicher, die Newton’sche Farbenlehre damit überwunden zu haben. Die Resonanz auf sein Werk war verhalten und die Nachwelt hat fast immer die wissenschaftliche Stichhaltigkeit seiner Experimente in Frage gestellt, offenbar ohne sie tatsächlich zu reproduzieren. Goethe ging davon aus, dass sich die Farben nicht, wie bei Newton, aus einer prismatischen Zerlegung des weißen Lichts ergeben, sondern – wie es zumeist formuliert wird –121 aus der Wechselwirkung von Hell und Dunkel. Klee hat sich nicht nur am Goethe’schen Farbkreis orientiert, sondern offenbar dessen Theorie in genau dieser vagen Formulierung übernommen, wie Bemerkungen in seiner Bildnerischen Gestaltungslehre nahelegen: Die farbige Ordnung, wie wir sie auf dem Kreis darstellten, ist sozusagen eine Angelegenheit zwischen Licht und Schatten, zwischen schwarz und weiss. Darauf weist schon der im Farbkreis enthaltene Grauepunkt.122

Die „Angelegenheit“ dürfte jedoch weitaus komplizierter sind, wie eine umfangreiche aktuelle Studie von Olaf L. Müller zum Verhältnis von Goethes und Newtons Farbenlehre eindrucksvoll zeigt.123 In knappster Zusammenfassung lautet Müllers These (er spricht von einem „Symmetrie-Theorem“), dass beide, Newton und Goethe, Recht hatten, weil sie im Kern unterschiedliche Experimente in unterschiedlichen experimentellen Kontexten durchführten: Newton hat in seiner Dunkelkammer mit eng abgezirkelten Lichtstrahlen experimentiert, die er in ihre diversen bunten Bestandteile zerlegen konnte. Dabei entstand sein berühmtes Spektrum. [...] Goethe stellte diesem altbekannten Vorgehen etwas diametral anderes gegenüber, und zwar experimentell: Statt Lichtstrahlen im Dunklen durchs Prisma zu schicken, ließ er Schatten im Hellen durchs Prisma fallen; unter diesen Umständen entsteht ein völlig anderes Prisma!124

Mit anderen Worten: Goethe wies nach, dass nicht nur der Licht-, sondern auch der Schattenstrahl ein Farbspektrum ergibt und zwar – das ist das Aufsehen-er­regende – genau die Komplementärfarben zu Newtons Farbspektrum. Müller hat seine These durch die Wiederholung zahlreicher Experimente Newtons und Goethes belegt: Die farbigen Abbildungen seiner Experimente scheinen ihm Recht zu geben. Somit müsste die schwammige Hell-Dunkel-These der Goethe’schen Farbenlehre präziser lauten: Goethe hat nachgewiesen, dass auch der dunkle Strahl sich in ein – komplementäres – Farbspektrum zerlegen lässt. Das ist keine Widerlegung Newtons, sondern ein zusätzliches Phänomen. Aber möglicherweise ist der Streit um die Erkenntnisse Newtons und Goethes damit noch immer nicht abgeschlossen.

162 I Klees Kunstphilosophie

5. Von München nach Weimar Ex Oriente Lux: Wilhelm Hausensteins Kairuan -Monographie und der Orient-Mythos

Im Rahmen dieses Versuchs, Aspekte einer Biographie Klees aus der Perspektive des „Mythos Klee“ zu rekonstruieren, erscheint es mir wichtig, Personen zu Wort kommen zu lassen, die den Maler persönlich kannten. Dies sind insbesondere Lily und Felix Klee, Wilhelm Hausenstein, Will Grohmann und Klees Schülerin und Freundin Petra Petitpierre. Will Grohmann, Klees langjähriger Freund, der ihn, Lily Klee zufolge, am besten kannte, wurde bereits erwähnt. Lily und Felix Klee werden später noch zu Wort ­kommen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Wilhelm Hausenstein, der 1921 – also im Jahr der Berufung Klees an das Bauhaus – eine noch heute überaus lesenswerte Biographie über Klee veröffentlichte, der uns Klee vorstellt, wie er ihn insbesondere 1918–1920 persönlich erlebte, eine Biographie, die erstaunlicherweise in der Literatur nur wenig Beachtung fand1. Grohmanns und Hausensteins Texte haben – trotz aller Mystifikationen – den unschätzbaren Vorteil, dass die langjährigen persönlichen Er­ fahrungen der Autoren mit dem Menschen und Künstler Klee in sie einfließen. Gleichwohl vermitteln beide Autoren höchst unterschiedliche Sichtweisen auf Paul Klee. Während Hausenstein sich aus einer äußerst subjektiv gefärbten Position kritisch mit Klee auseinandersetzt, übernimmt Grohmann bereits in seinen frühen Aufsätzen, insbesondere aber in seiner Biographie aus dem Jahr 1954, weitgehend unkritisch die Gedanken Klees. Es mag verwundern, dass ich der Biographie von Hausenstein so viel Platz einräume. Der Grund dafür liegt darin, dass mit Hausensteins Biographie nicht nur eine eindringliche Schilderung des Menschen Klee vorliegt, sondern zugleich eine kunsttheoretische Diskussion deutlich wird, die von erheblicher Bedeutung für die künstlerische Entwicklung des Malers war. Öhlschläger sieht die Relevanz der Hausenstein-Biographie im „Kontext einer weitreichenden kulturkonservativen Debatte über Sinn und Zweck der Abstraktion“2. Hinzu kommt, dass Klee selbst wesentlich an der Entstehung der Hausenstein’schen Biographie mitgewirkt hat, so dass davon auszugehen ist, dass dessen Ausführungen zumindest in den Grundzügen von Klee gebilligt wurden. Um ein Bild des Menschen und Künstlers Klee um 1920 zu bekommen, ist Hausensteins Biographie unentbehrlich. Sieht man von dem „Büchlein“ (wie Klee es nannte) H. v. Wedderkops ab, eher ein kurzer Essay als ein Buch, so erschienen 1920 und 1921 die beiden ersten Monographien über Paul Klee: Leopold Zahns Paul Klee. Leben, Werk, Geist und Wilhelm Hausensteins Ex Oriente Lux: Wilhelm Hausensteins Kairuan-Monographie und der Orient-Mythos  I  163

Kairuan oder die Geschichte vom Maler Paul Klee.3 Auch Zahns „Biographie“ ist kaum mehr als ein – knapp 20 Seiten umfassender – Essay, der allerdings mit einem ausführlichen Bildteil versehen ist.4 Obwohl Hausenstein sein Buch – Klee zufolge – als „eine Art Roman“ bezeichnete, bietet es, vielleicht gerade wegen seines romanhaften Charakters, eine eindrucksvolle Schilderung Paul Klees aus persönlicher Erfahrung. Hausenstein und Klee kannten sich seit 1913, seit der Gründung der Münchner Neuen Secession, an der beide beteiligt waren5. Beide entschlossen sich 1918, gewissermaßen als Joint-Venture-Projekt, zur gemeinsamen Arbeit an einer Biographie des Malers: Klee lieferte umfangreiches biographisches Material,6 Hausenstein verfasste den Text. Trotz des pathetischen Tons seiner Darstellung erhält man nicht nur ein anschauliches Bild der Person Klees, sondern zugleich einen Einblick in einen Teil der damaligen kunsttheoretischen und kunstpolitischen Diskussion, die, wie insbesondere die Position Hausensteins zeigt, auch rückwärtsgewandte, ja reaktionäre Züge aufwies. Hausensteins Kairuan-Buch wurde, wie gesagt, in der Klee-Literatur bisher nur wenig rezipiert, was vermutlich daran liegt, dass die Bedeutung der kunsttheoretischen Kontroverse zwischen Hausenstein und Klee für Klees Entwicklung unterschätzt wurde. Eine Rolle hat möglicherweise auch Hausensteins eigentümliche kunsttheoretische Perspektive gespielt, eine Mischung aus konservativer Kunsttheorie, Theologie und rassistisch gefärbter Orientmythologie. Die romanhafte Klee-Biographie Hausensteins verrät somit ebenso viel über den Autor wie über den Protagonisten seines Werkes. Ähnlich wie Klee war Hausenstein eine komplexe, ja schillernde Persönlichkeit. Drei Jahre jünger als Klee, war er 1921 bereits durch eine Reihe kunsthistorischer Veröffentlichungen hervorgetreten, u. a. mit Soziologie der Kunst. Bild und Gemeinschaft (1912) und mit Die bildende Kunst der Gegenwart (1913). Seine Studienfächer (er promovierte 1905) zeigen die Breite seiner Interessen. 1907 trat er der Sozialdemokratischen Partei bei, 1919 trat er wieder aus (ein Wandel, der sich auch in seinem Buch über Klee niederschlägt). Während des Krieges änderten sich auch seine kunsttheoretischen Vorstellungen: War er vor dem Krieg ein glühender Verfechter der expressionistischen Kunst gewesen, so tendierte er danach zu einer organischen, „konstruktiven“ Kunst, die wesentlich in religiösen Vorstellungen begründet war7. Expressionismus war für ihn – die nationalsozialistische Kunstdoktrin vorwegnehmend – Ausdruck von Dekadenz. In seiner zunehmend kritischen Einstellung gegenüber Klees Kunst kommt dieser Wandel zum Ausdruck. Gleichwohl wurde Hausenstein später von den Nationalsozialisten drangsaliert: Er wurde aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, durfte aber bis 1944 in der Reichspressekammer verbleiben. 1944 verlor er endgültig seine Publikationserlaubnis und wurde als Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung entlassen. 1950 wurde er Diplomat, zunächst Generalkonsul, später dann Botschafter in Paris. 1957 starb er, hochgeehrt. Hausensteins Haltung Klee gegenüber war von Anfang an ambivalent. In seinem Buch Die bildende Kunst der Gegenwart (1913) bezeichnet er Klee als den „größten Deformator“ in der Geschichte der neueren Graphik. Während er Marc, der die „Gedanken der Zeit“ zum Ausdruck gebracht habe, begeistert lobt, zeigt seine Rezeption Klees eine eigentümliche Mischung aus Kritik und gleichzeitiger Zurücknahme derselben: 164  I  Von München nach Weimar

... man hat das Gefühl einer bis zur Kindlichkeit sublimen Verderbtheit [sic!], die aber keinen Moment im Stofflichen bleibt, sondern sich sofort mit größter Intensität in künstlerische Anschauung umsetzt und das verwischteste Erlebnis mit einer Handschrift von namenloser, dennoch präziser Erotik niederzuschreiben weiß. Begriffe wie Dekadenz sind hier sinnlos: die Intensität und die Schärfe der Form überwindet zuletzt jegliche Zerrüttung [...].8, 9

Wie einer Mitteilung Klees an Kubin zu entnehmen ist, schien der Maler durch diese gut versteckte Kritik eher geschmeichelt gewesen zu sein. Aber wie auch immer relativiert: „Deformator“ und „Zerrüttung“ liegen auf einer Linie und verweisen auf die spätere, direktere Kritik Hausensteins. Aufschlussreich ist auch, dass Hausenstein Marc, der als Freiwilliger in den Krieg gezogen war und diesen enthusiastisch feierte, bereits 1916 für seine „umfassende[r] gesellschaftliche[r] Gesinnung“ lobte10, also offenbar, zumindest in der Tendenz, Marcs Metaphysik des Krieges teilte. Die indirekte Spitze gegen Klee, dem derartige „gesellschaftliche Gesinnung“ fehlte, dürfte diesem nicht entgangen sein. Auch politisch mutet dieses Lob seltsam an: Hausenstein war zu dieser Zeit noch Sozialdemokrat (wenn auch möglicherweise bereits auf dem Wege der Ablösung). Der Plan Hausensteins, eine Klee-Biographie zu schreiben, dürfte 1918 (vielleicht auch schon früher) entstanden sein. Im Mai 1918 (Klee war damals noch Reservist auf dem Militärflugplatz Gersthofen) kündigte der Maler an, dass er Hausenstein biographisches Material zur Verfügung stellen werde. Bereits im März hatte Hausenstein erneut eine ambivalente Rezension von Klees Ausstellung im Rahmen der Münchner Neuen Secession geschrieben11 und in einem Artikel im selben Jahr schrieb er über Klees Arbeiten: „Aber ihre Subjektivität ist so schwer erreichbar, dass sie zugleich das Ende des unveräußerlichen Begriffs der künstlerischen Öffentlichkeit zu werden droht.“12 Wiederum fühlte sich Klee eher geschmeichelt und drückte Lily gegenüber aus, dass es geradezu ein „Wunder“ sei, in dieser Form gewürdigt zu werden – möglicherweise handelte es sich hier aber auch um eine Variante von Klees Ironie. Wesentlicher als diese Zurückhaltung ist eine gegenläufige Reaktion Klees. Klee, der wahrscheinlich Hausensteins Wendung zur Religion mitbekommen (oder vielleicht unmittelbar von ihm selbst erfahren) hatte, verteidigte sich Hausenstein gegenüber, indem er seine – angeblich – nunmehr erreichte Religiosität und Positivität (im Gegensatz zu seiner vermeintlichen früheren Negativität) hervorhob: Positive Religiosität im Gegensatz zum pathetischen Element der Verneinung von früher [...] Eine Vereinigung der verschiedenen selbständigen Kräfte zum Ganzen ist mein gegenwärtiges Wollen.13

Klee hat zwar gelegentlich gesagt, seine Kunst sei „religiös“, damit aber stets den kosmischen Bezugspunkt seiner Kunst gemeint. Auch hier betont er die Vereinigung des Positiven und Negativen. Gleichwohl schwenkt Klee ein Stück weit auf die von Hausenstein propagierte Linie des Konstruktiven und Religiösen ein. Hier stellt sich die Frage, der auch Werckmeister in seiner akribischen Untersuchung nicht weiter nachgegangen ist, nämlich ob Klee in seinen metaphysischen Spekulationen neben Worringer auch von Ex Oriente Lux: Wilhelm Hausensteins Kairuan-Monographie und der Orient-Mythos  I  165

Hausenstein beeinflusst wurde, wobei zunächst offenbleiben kann, ob dies aus Überzeugung oder aus dem Bedürfnis nach Anpassung an einen für die Reputation Klees nicht unwichtigen Kunsttheoretiker geschah. Zunächst musste Klee noch eine weitere Demütigung durch Hausenstein hinnehmen. Letzterer spielte in der Angelegenheit von Klees gescheiterter Berufung an die Stuttgarter Kunstakademie eine fragwürdige Rolle. In einem Brief an Schlemmer – damals Student an der Kunstakademie Stuttgart – vom 2.7.1919 hatte Klee sich zu einer Bewerbung um eine Professur (es handelte sich um die Nachfolge Adolf Hölzels) entschlossen und Hausenstein als Gutachter vorgeschlagen. Ob dies aus Naivität oder Berechnung (Hausenstein war damals ja sein Biograph und das Buch sollte ursprünglich 1920 ver­öffentlicht werden) geschah, lässt sich nicht mehr klären. Jedenfalls erhielt Klee Ende November von Hausenstein den Durchschlag einer Notiz, die dieser in den Münchner Neuesten Nachrichten (deren Kunstredakteur er war) am nächsten Tag zu veröffentlichen gedachte. Wieder glänzte Hausenstein durch seine Mischung aus Lob und Kritik: Ein Stuttgarter Korrespondent der ‚Kunstchronik‘ meldet, es sei in Stuttgart eine Agitation im Gange, die den Münchner Graphiker und Maler Paul Klee an die Stelle Adolf Hölzels, also an die Spitze der Stuttgarter Kunstschule zu bringen beabsichtige. Der Korrespondent tritt diesem Plan – soweit er an ihn glaubt – mit sachlichen Argumenten entgegen. In den M.N.N. ist der Kunst Klees wiederholt mit den Worten tiefer Sympathie gedacht worden. Um so mehr besteht selbstverständlich die Verpflichtung, zu betonen, daß der Gedanke an eine derartige Berufung Klees durch und durch verfehlt wäre. Es wäre deshalb verfehlt, weil er am eigentlichen Wert Klees, an der absoluten Subjektivität und Irrationalität seines Arbeitens (die nicht nur allem Lehrhaften, sondern beinahe aller Ausdeutung entzogen ist), geradenwegs vorbei geht. Man lasse Klee in der Sphäre, in der er einzig denkbar ist: in der Abseitigkeit seiner bedingungslos und ungehemmt persönlichen Phantasien und in der verborgenen Zauberwelt seiner Geige.14 (Hrv. MC)

Es handelt sich um vergiftetes Lob, wie es bei akademischen Bewerbungen auch noch heute nicht unüblich ist. Handschriftlich fügt Hausenstein hinzu, er halte es für seine „Loyalitätspflicht“, Klee davon zu unterrichten, er möge ihn doch bitte noch am selben Abend anrufen. Die angebliche „Abseitigkeit“ der künstlerischen „Phantasien“ Klees wird als Argument verwendet, dass der Betreffende für die Lehre fragwürdig sei (ein noch heute gern verwendetes „Argument“). Dass es sich in dem Bericht des Korrespondenten um eine „Agitation“ zugunsten Klees handele, wird von Hausenstein kommentarlos übernommen und Begriffe wie „absolute[n] Subjektivität und Irrationalität“ oder „Abseitigkeit“ werden nunmehr als pseudoobjektive Kriterien angeführt, die Hausenstein in seiner ­Ausstellungsrezension ja explizit zurückgewiesen hatte; sie sollten angeblich ­niemanden „verpflichten“. Ein derartig subjektiver, irrationaler und abseitiger Künstler könne nicht an einer Kunstakademie lehren. Die Notiz war heuch­lerisch, weil Hausenstein in seiner Stellungnahme verschwieg, dass er seine Position geändert hatte und mittlerweile eine noch kritischere Haltung Klee gegenüber eingenommen hatte als zuvor. Er wollte in Wirklichkeit dagegen votieren, dass jemand, den er kunsttheoretisch – bei aller Wertschätzung 166  I  Von München nach Weimar

der formalen Fähigkeiten Klees – letztlich ablehnte, eine wichtige Rolle im akademischen Betrieb einnehmen würde. Hausensteins Votum stellte, wie Werckmeister schreibt, einen „Eingriff in Klees Karriere“ dar, der umso „eigensinniger“ gewesen sei, als „Hausenstein den Plan zumindest mit Schweigen hätte übergehen können“15. Bemerkenswert ist wiederum Klees Reaktion auf diese Intervention Hausensteins. In einem Brief an diesen vom 9.12.1919 antwortet er lapidar und gleichsam entschuldigend, zugleich mit einer halbherzigen Rechtfertigung (dass Hausenstein sein Biograph war und gleichwohl gegen ihn intrigierte, schien keine Rolle zu spielen): Lieber Herr Doctor Die Stuttgarter Angelegenheit ist für mich vollständig erledigt und ich wüsste auch nicht, was die Öffentlichkeit damit anfangen soll. Es nützt ja doch nichts. Und für Sie ist sie vollends erledigt, da Sie ja die Berufung für verfehlt hielten. Für mich galt bloß das eine: dass man nicht gegen die Schüler lehren soll. Da z. Zt. aber in Stuttgart gegen die Schüler gelehrt wird, und da dieselben Schüler sich, völlig frei, in ihrer Bedrängnis an mich gewandt hatten, konnte ich nicht nein sagen [...].16

Erneut lässt sich nicht klären, warum Klee sich Hausenstein gegenüber so defensiv, fast unterwürfig verhielt, indem er darüber hinaus auch noch seine nunmehr „positive Religiosität“ gegenüber seiner früheren „Verneinung“ hervorhob. Deutlich ist jedoch, dass Klee in seiner verstärkten Wendung zu einer kosmisch-metaphysisch orientierten Kunst seit 1918 der kunsttheoretischen Position Hausensteins nahegekommen war. Zahn (1920) spricht deshalb auch von einer Hinwendung Klees zu einer „mystische[n] Lebenshaltung“ im Sinne Meister Eckharts.17 Außerdem dürfte Klee Hausensteins versteckte Kritik in der Rezension zu seiner Ausstellung 1918 wohl noch nicht vergessen haben. 1920 kam es zu einer weiteren Verstimmung in der Beziehung Klee – Hausenstein, diesmal auf der Seite Hausensteins. Hausenstein hatte nämlich – vermutlich durch Klees Kunsthändler Goltz, der für die Vermarktung von dessen Bildern zuständig war – erfahren, dass mittlerweile auch Zahn an einer Klee-Biographie arbeitete und dafür von Goltz Bildvorlagen erhalten hatte, worunter sich möglicherweise auch solche befanden, die Goltz vorher Hausenstein zur Verfügung gestellt hatte. Hausenstein sprach von einer „Intrige“ mit möglicher Beteiligung Klees, was Klee jedoch vehement zurückwies.18 Wie, um Hausenstein noch mehr zu reizen, bemerkte Klee süffisant: „Nun tauchten noch mehr Monographie Pläne auf (Es beginnt zu wimmeln sagte ich mir)“19 – möglicherweise war dies Klees Retourkutsche für Hausensteins Bewerbungsintrige. Ich möchte nunmehr auf die biographischen und kunsttheoretischen Aspekte von Hausensteins Kairuan-Buch eingehen. Hausenstein beginnt mit einer Schil­derung des Boheme-Milieus rund um die Kirche der hl. Ursula in Schwabing/München, die Hans Sedlmayer alle Ehre machen würde: Rings umher, in engen und weiten Kreisen zerstreut mehr als versammelt, wohnen die Maler und Dichter und was als Troß zu ihnen gehört. Kaum einer hat je den Entschluß gefasst, in die Kirche der Ex Oriente Lux: Wilhelm Hausensteins Kairuan-Monographie und der Orient-Mythos  I  167

Ursula hineinzugehen, denn jeder fürchtet, vom Äußeren beklemmt, unselige Offenbarungen der Enttäuschung. [...] So leben sie: Tage, Wochen, Monate Jahre, Jahrzehnte, zusammengeballt, auseinandergespellt, in schier gläsernen Gehäusen oberer Stockwerke, bald arbeitend, bald tanzend und zechend. Mit aufgespannten Leinwänden, mit Malkasten, mit Brot und Bier, mit Flöten, Violinen und Gitarren, in Kleidern des Karnevals, der Armut, der Eleganz und der greulich besonderen Erfindung laufen sie durch den Bereich des fiebernden Campaniles, der scharlachfarbenen Kuppel. Kaum einer ging je hinein: als ob er, wagte er den Schritt ins Innere, erst recht nicht erführe, was ihn Heimlicheres im Grund gerade dieser Gegend verpflichtet.20

Damit ist der Grundakkord des Kairuan-Buches angeschlagen: Geschildert wird eine seinsund gottvergessene Schwabinger Boheme der Dichter und Maler, bar jeder Bezüge und Hoffnung, bar der Religion, verkennend das Geheimnis, das in der Kirche der hl. Ursula auf sie wartet. Auch Klee wird dieser Boheme zugerechnet: Zwar sei er „fromm im Herzen und Geist“, gleichwohl aber „ketzerischer Hintersasse der ziegelroten Kirche“ (ebd., S. 19). Es ist das Thema des „Verlusts der Mitte“, das Hausenstein explizit erwähnt, eines spirituellen Zentrums, das sich wie ein roter Faden durch sein Buch zieht. Der Standpunkt im Weihrauch, klarsichtiger als jede Vernunft im Freien veräußerte sich. Er fand sich auf Platz und Straße wieder. Das Schiff der Kirche, sonst Sinn alles Raums und Daseins, wohltätig begrenzend sonst und alles Leben so reinlich wie überschwänglich umschreibend wurde Nebenzentrum. Ja – es wurde exzentrisch: denn Straße und Platz wurden Inbegriff des Standpunkts und also Zentrum. [...] Wie nun, wenn der Augenblick gemeinsamen Vermögens zu solcher Leistung vorüber ist? [...] Da bleibt der Geist wie eine Fledermaus in sich verhängt. Ihm bleibt, versagt er sich ehrlich die Schäbigkeit der Kompromisse, das Glück versagt, die Pracht der Farben auf einem plastischen Leib zu tragen. Ihm bleibt verwehrt, in jene Objektivation hinauszugehen, die Gegenstand genannt wird und, wiewohl nicht mehr, so doch Verdichtung des Geistes zum Sinnbild vorstellt.21

Hausenstein bedient sich der Sprache eines sektiererischen Predigers. Über die obligate Klage hinsichtlich des Substanzverlusts der modernen Kunst hinaus handelt es sich um Legitimierung der gegenständlichen Kunst: der „Gegenstand“ als „Verdichtung des Geistes“, „die Pracht der Farben auf einem plastischen Leib“. Hausensteins „Glaube“ ist der „Standpunkt im Weihrauch, klarsichtiger als jede Vernunft im Freien“, ein „Standpunkt“, über den vermutlich selbst Jesuiten den Kopf geschüttelt hätten. Ästhetisch ist Hausensteins „Zentrum“ durch eine neue Gegenständlichkeit, theologisch durch Verweis auf eine geistig erneuerte Kirche definiert. Es ist schwer vorstellbar, dass Klee und Hausenstein, die sich seit 1913, seit der Gründung der Neuen Secession kannten, bei der gemeinsamen Projektierung des Kairuan-Buches nicht auch über diese Punkte gesprochen haben sollten, zumal Hausenstein darauf hinweist, dass er sich nicht nur auf schriftliche Aufzeichnungen Klees, sondern auf dessen mündliche Ausführungen bezieht. Schwer nachvollziehbar ist auch, dass zum Beispiel Rilke Hausenstein „Nihilismus“ vorwarf, seinen Text möglicherweise als Parodie verstehend.22 168  I  Von München nach Weimar

Gleichsam wie mit einem Zoom bewegt sich Hausenstein nunmehr von der äußeren zur inneren Desolatheit der Schwabinger Boheme auf das Haus zu, in dem Klee wohnt, nicht ohne noch einmal auf die Entfremdung und Seinsvergessenheit Münchens hinzuweisen. Linkerhand läßt ein Tor zur Wohnung des Dichters Rilke ein. Zur Rechten führt ein intriganter Weg durch das erstickende Pflichtgrün eines hygienisch und freundlich gemeinten Hofes [...] über grässliche Treppen zur Wohnung des Malers Klee. Sechs oder acht Käfige mit hölzernen Türen. In jedem Käfig wohnen Leute. Zwischen ihnen wohnen die Leute Klee. Lauter eingeschlossene Leben. Sie werden nicht gezeigt. Einmal weil sie in Deutschland sind. Dann, weil sie in München sind, wo das Leben nie und nimmer die Form des Gemeinschaftlichen erreicht [...] O München zumal, Stadt der vollendesten Entfremdung aller von allen [...].23, 24

Hausenstein richtet nunmehr den Blick auf Klees Wohnung und auf Klee selbst: Ein paar Möbel sind aus jenen letzten klaren Stunden des neunzehnten Jahrhunderts hinterblieben: dies ist der Rest. Dies und im Oval eine alte Photographie der wunderschönen Mutter – Bildnis der Ahnfrau. Sonst steht und hängt in dieser Wohnung alles wie die Wut einer Invasion. Bilder von Modernen, unbedenklich grell, von Russen gemalt, von Kandinsky, Jawlensky. Aber das Seltsamste, das am tiefsten erschreckt: auf der blank polierten Kommode von altem Mahagoni, die wie ein kostbarer Block aus geronnenem Wein und Blut in der Ecke glänzt, stehen gleich einer Front von Soldaten aufgereiht unbegreifliche Figuren aus bemaltem Gips. Gelb wie die Zitrone, rot wie der Granatapfel, mit einem Skelett von schwarzen Strichen, das in der Oberfläche sitzt.25

Erwartungsgemäß werden die Bilder von Kandinsky und Jawlensky entwertet („unbedenklich grell“), auch die Gipsfiguren – Klee hatte sie als Spielzeug für seinen Sohn Felix angefertigt – werden als „schauerliche[r] Nippes“ abgetan. Hausensteins Beschreibung geht über zu den Musikinstrumenten, zum Flügel, zum Geigenkasten und schließlich zum „graue[n] Kater mit onyxgrünen Augen“. Dann begegnen wir Klee selbst: Von Heiligkeit ist etwas in ihm; etwas, das macht, daß dieser Anzug ihm geziemt, der einer zum Bürgerkleid verwandelten Kutte nicht unähnlich ist. Aber man könnte den Menschen auch ganz anders gekleidet denken: in einen weißen Burnus gehüllt, das Antlitz von weißen Tuch umrahmt und überschattet. Denn diesem wenig bewegten Körper scheint die schlafende Fülle unendlicher Schnelligkeit einverleibt [...]. Dieser Mensch ist nicht von hier. Die Blässe des hohen Kopfes ist das in nordischen Kellern ausgebleichte Braun eines arabischen Mannes ... Die faszinierende Kindlichkeit dieser Augen, ihre Unschuld selbst im Raffinierten – das eigentliche Geheimnis dieses Menschen und seiner unablässigen Produktivität im Dichten und Denken, im Malen und Zeichnen, im Geigen: dies ist nur möglich, wo ein Europäer noch die Erde der Rasse küsst – und wo die Rasse durch Exotisches sich der Unbedenklichkeit versichert ... Das Blut der Mutter – so heißt es – sei über Südfrankreich aus dem Orient hergeflossen. Einzelnes sei nicht mehr zu erweisen.26 Ex Oriente Lux: Wilhelm Hausensteins Kairuan-Monographie und der Orient-Mythos  I  169

Von nun an wird stereotyp der Begriff der „Rasse“ zur Beschreibung Klees verwendet. Dies geschieht nicht in diffamierender Absicht, gleichwohl wird deutlich, dass Hausenstein das Besondere der Kunst Klees, insbesondere seine „Phantasie“ auf seinen „rassischen“ Hintergrund zurückführt: „Sie ist das Blut; ist ein Echo des Ostens, unverständlich, irrationale Konfigurationen hervortreibend“ (S. 31). Er bescheinigt dem „Verzweifelnden“ sogar etwas „Maniakalisches“ (S. 35, 45). Bei Hausensteins Bewertung der Phantasie Klees wird allerdings deutlich, dass gerade dieses Phantastische und Irrationale für ihn Stein des Anstoßes ist. Gleichwohl konzediert er Klee den aufs „Metaphysische“ gerichteten Blick, den „Sinn für Totalität“. Aber bereits an Klees Auseinandersetzung mit der Kunst der Klassik und der Renaissance setzt seine Kritik an, vergleichbar seiner Rezension von Klees Ausstellung 191827: So war der Mensch beschaffen, der aus Italien das Bedürfnis mitgebracht hatte, Rom zu überwinden. Rom: das Bild der Diesseitigkeit, dies Objektive, diese schwellende Fülle physischer Beschaffenheiten. Der heidnischen Katholizität dieser Stadt galt es eine entkörperte Frömmigkeit entgegenzusetzen; der Objektivität jener schön geformten Steine ungefähr eine gewichtlose Subjektivität der Anschauung; dem überströmend Geselligen eine Einsamkeit, der Konventionalität eine ganz persönliche Revolte; der körperlichen Aus­ladung den Gedanken an psychische Konstruktionen von einer schon unwirklichen Verflüchtigung, dem ungeheuren Theater des Schaubaren aber den Geist der absoluten Musik. (S. 47)

Erst im letzten Kapitel seines Buches geht Hausenstein den vermeintlichen Mangel der Klee’schen „Frömmigkeit“ thematisch an: Hier entwickelt er ein ästhetisch-metaphysisches Konzept, an dem Klee gemessen wird. Klee, dem Hausenstein die „Züchtung der reinen Form“, den „Absolutismus des Mittels“ bescheinigt (S. 118), wird nunmehr aus der Perspektive des „Inhalts“ genauer untersucht: „Eines der formalsten Phänomene – Klee – wird nur gemessen und gewürdigt, wenn Originalität, Reichtum und etwa Ewigkeit des Inhalts begriffen wird“ (S. 121). Inhalt bedeutet für Hausenstein zunächst „Bezug“ oder „Bezogenheit“ der Kunst. In dieser Frage der „Bezogenheit“ liegt für Hausenstein das Problem Klees: Wo ist in dieser Kunst der Bezugspunkt? Wo der Richtpunkt ihrer seltsamen Perspektive? Jetzt wieder wird das Eingeständnis fällig: dieser Punkt ist unauffindbar. (S. 122)

Klee repräsentiert die Kunst des „geschichtlichen Augenblicks“, bei dem die Dinge nicht mehr in ihren „einfältigen Beziehungen“ ruhen, sondern in ihrer „Beziehung auf ein mögliches Jenseits“, also in den Bereich des „Metaphysischen“ übergehen, [...] das aber noch keine Zentralisation und Gliederung in einem Dogma fand. Aus dem Hautgout des Übergangs sind die Dinge noch nicht bei der neuen, beseligenden Gewissheit angekommen. (S. 122, Hrv. MC)

170  I  Von München nach Weimar

Noch hat Klee „die verborgene Hand Gottes“ nicht erkannt, „es kann nicht Ruhe sein, solange nicht die jenseitige Hand gewusst ist“28, wohl aber hat er mit dem Osten, mit dem Exotischen, mit Kairuan die „Unendlichkeit“ gesucht. Mit dieser Erfahrung wird Klees Kunst zum Versuch, „eine metaphysische Harmonie“ zu berühren. Anschließend wird diese Kunst an Hausensteins zentralen Kriterien Natur und Gott gemessen, die zugleich die ästhetische Resurrektion des „Gegenstandes“ beinhalten. Sowohl die formale als auch die inhaltliche Messlatte, die Hausenstein setzt, wird von Klee verfehlt, wenn auch nur knapp: Niemand weiß, was in einem Jahrzehnt oder zweien aus dem Malerzeichner Klee (und uns) geworden sein wird. Kairuan gab ihm einmal beinahe das Bild ruhender Welt wieder, und seine jüngsten Dinge suchen mit wunderbar noch immer steigender Verfeinerung der Werkzeuge mitunter den Umriß des Gegenstandes zurück. Der aber, der er im ganzen zu sein scheint, bleibt einstweilen das radikalste Kennzeichen zeitgenössischer Verfassung, [...] die aber von Natur nicht mehr genug, von Gott noch nicht viel weiß, daß sie das Zutrauen haben könnte, Dinge zu malen – denn dafür müsste sie wissen, daß Natur Grund des Daseins blieb, daß aber im Letzten Dinge und Menschen Kreaturen Gottes sind [...]. Das Werk des Seltsamen, schier Einzigartigen aus dem Inkommensurablen ins gänzlich Messbare gesteigert: sein Tiefsinn aus dem Imponderabilen ins völlig Wägbare gebracht, [...] seine Metaphysik befestigt, seine Abstraktion auf neue Weise materialisiert und nach göttlicher Botschaft geformt [...] dies alles wäre eine Vorstellung von Künftigem, die noch die Kraft besäße unser Leben zu verlängern und aus dem Windschiefen ins Gerade, aus dem Labilen ins Beständige zu kommen. (S. 129 ff., Hrv. MC)

Man reibt sich verwundert die Augen: Klee soll gleichermaßen messbar, wägbar, materialisiert, in der Natur begründet und zugleich religiös-metaphysisch „befestigt“ („nach göttlicher Botschaft geformt“) sein. Dass dies nicht mehr Klee wäre, ist die eine Seite der Botschaft, die andere zeigt, wie um 1920 ein religiös-gegenrevolutionärer Entwurf zeitgenössischer Kunst ausgesehen hat, was das Kairuan-Buch noch heute lesenswert erscheinen lässt. Hausensteins gegenrevolutionäres Konzept hat zwei theoretische Eckpunkte. Politisch sucht Hausenstein eine neue „Gestalt des Gemeinschaftlichen“, aus „erwachendem Glauben“ hervorgegangen, ästhetisch propagiert er die Resurrektion des Gegenstandes. Bezugspunkt für die Gesellschaft wie für die Kunst ist jedoch der Glaube: Von Glauben müsste die Rede sein: Dasein der Dinge für die Kunst ist endlich und erstlich nur durch ihn zu verbürgen. Es wäre aber nicht ein Glaube an einzelnes, sondern an alles und den höchsten Meister des Ganzen. (S. 132)

Zahn hatte in seinem polemisch gefärbten Artikel im Ararat eher noch untertrieben: An diesem Konzept gemessen wäre die abstrakte und expressionistische Kunst mausetot.

Ex Oriente Lux: Wilhelm Hausensteins Kairuan-Monographie und der Orient-Mythos  I  171

Zumindest vorübergehend hat Klee sich mit der Versicherung seiner „positiven Religiosität“ und seiner Abwendung von der „Verneinung“ an Hausensteins Wünsche und Ansprüche angepasst. Klee war sich offenbar darüber im Klaren, dass das Buch eines renommierten Kunsttheoretikers, veröffentlicht in einem angesehenen Verlag, seiner Karriere außerordentlich förderlich war. Werckmeister hebt Klees „Opposition“ Hausenstein gegenüber hervor: Der Aufsatz Hausensteins habe eine „Art Oppo59  Paul Klee, Der Traum, 1918, 121, Aquarell und Feder auf Grundierung auf Leinen auf Papier, sition“ in ihm hervorgerufen, schreibt 20 x 25 cm, Standort unbekannt Klee an seine Frau.29 Künstlerisch bleibt Klees „Opposition“ freilich begrenzt: Er schuf nunmehr „ein streng organisiertes Bild“. Es handelte sich dabei um das Bild Der Traum (1918): „Der Traum, eines meiner schlagendsten Blätter [...].“30 Klees „Opposition“ äußerte sich vornehmlich in einer pragmatischen Doppelstrategie: Er plante mit Hausenstein das Kairuan-Buch und gab zugleich sein E ­ inverständnis zu dem Buch von Leopold Zahn, was von Hausenstein, wie gesagt, mit Verärgerung vermerkt wurde. Klee hakte das Zahn-Buch lapidar als notwendige „Reclame“ ab, für die nicht er, sondern Goltz verantwortlich sei. Während Zahn fast 1:1 Klees autobiographisches Material übernahm (einschließlich der Klee’schen Selbstdarstellung als „mystischer“, „jenseitiger“ Künstler), hatte Klee es mit Hausenstein schwerer. Er versuchte, ihn seiner „positiven Religiosität“ im Gegensatz zu seiner „Verneinung von früher“ zu versichern, was keineswegs ­seiner wirklichen Position entsprach. „Im Gegensatz zu Kairuan gab sein [Zahns] Buch die Postur weltabgewandter Transzendenz, an dem Klee in dieser Phase seiner Karriere gelegen war, getreulich wieder.“31 Trotz seiner „Opposition“ versuchte Klee jedoch, ein Desiderat Hausensteins zu erfüllen: nämlich ins „Bildnis von Anarchie und Wesenlosigkeit [...] dichtere Beziehungen ins Unendliche hinüber“ zu weben. Allerdings zeigt sich dabei auch das grundlegende Missverständnis Hausensteins. Der Versuch, „dichtere Beziehungen“ zum Unendlichen zu weben, konnte Klees Verständnis zufolge eben gerade nicht gegenständlich sein. Klee entwickelte dafür andere, eigene Stilmittel: Reduktion, Abstraktion, Polyphonie32, nichtillusionistische Raumkonstruktion, Zeichen, ­Symbol, Märchenhaftes oder Ironisches, nicht zuletzt das Stilmittel des Hieroglyphischen. Hausensteins Buch war im Übrigen, wie der Verlag mitteilte, ein „absoluter Fehlschlag“.33 Grohmann, der versuchte, Klee von dem Ruf des esoterischen Magiers zu befreien, wurde unmittelbar mit diesem Problem konfrontiert. Er suchte vergeblich einen deutschen Verleger für das von ihm geplante Klee-Buch. 1925 änderte Hausenstein seine Meinung zu Klee erneut: In der Frankfurter Zeitung schrieb er am 26.5.1925 einen begeisterten Artikel über ihn. Über die Gründe dieses Meinungswandels kann nur 172  I  Von München nach Weimar

spekuliert werden. Möglicherweise erkannte Hausenstein, dass er mit seiner Propagierung des Gegenständlichen der nationalsozialistischen Kunstdoktrin nahekam, vielleicht aber erfuhr er auch als Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung ersten politischen Druck. Bereits 1923 war die Galerie Goltz, mit der Hausenstein verbunden war, in die Schusslinie des Völkischen Beobachters geraten. Wir werden später allerdings sehen, dass Lily Klee Hausenstein des politischen Opportunismus und der Verleugnung Klees bezichtigte. Wie dem auch sei: Letztlich wurde auch Hausenstein ein Opfer der nationalsozialistischen Kulturpolitik.

Die Stilisierung Klees zur Kultfigur Neben den Klee-Biographen von Wedderkop, Zahn und Hausenstein trug insbesondere Herwarth Walden zur Popularisierung Klees bei. Walden versuchte erfolgreich, Klee nach dem Tode von Marc zum bedeutendsten deutschen Künstler „aufzubauen“, eine Einschätzung, die Theodor Däubler übernahm (bzw. ­Walden von Däubler, die Priorität ist nicht aufzuklären). Bis 1921 organisierte Walden zwölf Klee-Austellungen, wodurch Klee der am meisten ausgestellte Künstler in Waldens Sturm-Galerie wurde. Flankiert wurden die Ausstellungen durch Abdrucke von Klees Bildern im Sturm, der „Wochenschrift für Kultur und die Künste“, sowie durch Kunstdrucke und Postkarten mit Motiven Klees. Auch Flechtheim hatte mittlerweile Kontakt zu Klee aufgenommen. Allerdings hatte Klee bereits 1919 einen Alleinvertretungsvertrag mit der „Firma Neue Kunst Hans Goltz“ abgeschlossen, in dem auf vier Seiten akribisch die Details der G ­ eneralvertretung geregelt wurden. Dabei konnte Klee durchaus seine Inte­ressen wahren: Er setzte die Preise fest und konnte sicherstellen, dass er weiterhin Verkäufe über Walden und Flechtheim tätigen konnte. Die Urheberrechte – was für Verlagsverträge wichtig war – lagen jedoch bei Goltz. Der Vertrag machte nicht den Eindruck, als sei er von einem weltfernen Künstler abgeschlossen worden34. Bedeutsamer waren jedoch die Stellungnahmen einer Reihe von Intellektuellen, die mit Walden und seiner Galerie verbunden waren und Klee geradezu hymnisch feierten: insbesondere Theodor Däubler, Adolf Behne und Eckart von Sydow35. Konträr dazu wurde Klee in den damals führenden Kunstzeitschriften Kunst und Künstler und Cicerone kaum beachtet. Erst später, 1924, gelang es Grohmann, einen ausführlichen positiven Artikel im Cicerone zu platzieren. Im Übrigen konnte der „weltferne“ Künstler Klee mittlerweile seinen Marktwert durchaus realistisch einschätzen. In einem Briefentwurf an Hausenstein notiert er 1920: Es ist mir wohl bewußt, daß mein Œuvre allmählich eine gewisse Macht vorstellt, und daß mit dem im Werden begriffenen Markt eine gewisse Speculation einsetzt.36

Am wortgewaltigsten und hymnischsten wurde Klee von Däubler, den er 1915 kennengelernt hatte, gefeiert. Unter Bezugnahme auf Klees Bild Schlimme Botschaft von den Die Stilisierung Klees zur Kultfigur  I  173

Sternen (1913), einem der Bilder, in welchen Klee sich ein Stück weit der kubistischen Formsprache annäherte, schreibt Däubler 1918: Ein leichter Frühlingswind streicht über die noch halbleblosen Gestalten in Klees innerer Welt. Das beunruhigt diese fernen Wesen. Sowie Gestirne aufgehen, müssen sie sich miterheben. [...] Da drängen sich diese Gespensterchen an die Ausgänge des inneren ‚Gesichts von Paul Klee. Er macht behutsam mit dem Bleistift eine Tür auf und die Geister können in unsere Welt eindringen.37

Dies hat erkennbar wenig oder nichts mit Klees Bild zu tun, sondern bewegt sich auf der Ebene der bekannten Klee-Interpretationslyrik, wie wir sie später insbesondere bei Haftmann, Grohmann oder Giedion-Welker wiederfinden werden. In seinen Tagebucheintragungen bezieht sich Klee häufig auf Däubler, so etwa im Februar 1917 auf eine kurze Rezension Däublers im Börsencourier, in dem dieser schreibt, die Ausstellung (bei Walden) sei „erschütternd“ gewesen (Tgb. 1062). Wie so häufig bei Klee, ist der Ton gegenüber Däubler distanziert-ironisch, obwohl gerade dieser viel zur Popularisierung des Malers beigetragen hat. Er spricht von ihm als der „prächtige dicke Däubler“ und in einer Tagebucheintragung vom Juni 1918 schreibt er über einen Aufsatz von Däubler (möglicherweise der erwähnte Aufsatz im Börsencourier): Der Aufsatz Däublers kurz, er versucht auf meiner Musikalität aufzubauen und verbreitet außerdem meinen internationalen Ruhm als Violinvirtuos. Engagements erster Konzertinstitute werden die nächste Folge sein. Ich aber werde zurücktelegraphieren: Feldgrau verhindert. (Tgb. 1122)

Gemäß den weiteren Tagebucheintragungen plante Klee die Mitarbeit an einem Buch Däublers (vermutlich handelte es sich um den Text Mit silberner Sichel), die jedoch nicht zustande kam. Über die Rolle Däublers schreibt Hopfengart: „Däubler wurde eine entscheidende Figur für Klees öffentliche Laufbahn.“38 Insbesondere Behne und von Sydow arbeiten am Mythos des weltentrückten Künstler-Poeten Klee, der mit herkömmlichen Maßstäben nicht gemessen werden könne und der zugleich eine autonome, gleichsam ex-nihilo-Kunst geschaffen habe, die jenseits aller historischen Bezüge stehe. Damit greifen sie ein Bild auf, das Klee schon früh von sich propagiert hatte, das des künstlerischen „Selbstlehrlings“, das freilich bereits von ihm selbst durch die zahlreichen Verweise auf seine Orientierungskünstler ad absurdum geführt wurde. Damit bereiteten sie den „Mythos Klee“ vor, der dann von Zahn sowie mit Einschränkungen auch von Hausenstein weitergesponnen wird und der dann über Jahrzehnte das öffentliche Bild Klees bestimmen sollte. Von Sydows Eloge auf Klee klingt, als nehme er Klees Selbststilisierung aus dem Jahr 1920 („Diesseitig bin ich gar nicht fassbar“) bereits vorweg: Wie mag er geworden sein? Eigentlich interessiert diese Frage hier gar nicht sehr. Sie ist ja nur dort sinnvoll, wo noch ein letzter Rest ererbter Gemeinsamkeit zwischen den Menschen sichtbar blieb –: 174  I  Von München nach Weimar

60  Paul Klee, Schlimme Botschaft von den Sternen, 1913, 32, Feder auf Papier auf Karton, 18 x 18 cm, Privatbesitz Frankreich

auf welchem Weg verlor sich der frühe Beginn? Fragt man sich dann selber. So nicht hier. Hier nämlich ist die innerste Ausdrucksform eine so andere, daß jene Frage nach historischem Sich-Entwickelthaben unsinnig erscheint.39

Allerdings gab es auch kritische Stimmen. Der einflussreiche Kritiker Karl Scheffler, Verfechter des Impressionismus, sah in Klee lediglich einen geschickten „Kunstgewerbler“. „Bei Fritz Gurlitt endlich sah man [...] reizende Vorsatzpapiere, Stickmuster u. dergl., biedermeierlich stilisiert, mithilfe von irgendwelchen Vorbildern geschickt archaisierend und geschmackvoll, ja geschmäcklerisch in Form und Farbe ausbalanciert, von Paul Klee.“40 Zehn Jahre später argumentierte Scheffler ähnlich, aber mit einem gewissen Respekt vor dem Einfallsreichtum Klees und seiner Fähigkeit, Natur fast auf Abstrak­ tionsebene zu reduzieren, obwohl Scheffler eher Gegner der Abstraktion war: Es gehört überhaupt alles zusammen: das Methodische der Kinderzeichnung, der faszinierende Klang, ohne dass es zur Melodienbildung kommt und die Edelfäule der Farbe. Man mag von Symbolkalligraphien sprechen und vom Ornament aus der Welt der Röntgenstrahlen.

Allerdings wiederholt er auch hier sein „Kunstgewerbe“-Verdikt, leicht variiert: Was entsteht ist Kunst für die Salons der Intellektuellen. Kunstkonfekt, das durch seine Süße besticht, das man aber eben darum nur in kleinen Quantitäten verträgt.41 Die Stilisierung Klees zur Kultfigur  I  175

Bauhaus: Weimar und Dessau (1921–1931) Der Blick auf das Bauhaus ist häufig von romantischer Verklärung getrübt: Das Bauhaus als Hort der fortschrittlichsten Künstler, als Tempel der Avantgarde, bewohnt von „lauter Genies“, wie es Klee mit ironischem Unterton einmal formulierte. Dies alles existierte, aber die Realität – auch wie Klee sie persönlich erlebte – war vielschichtiger und teilweise desillusionierend. Sie war von erbittert ausgefochtenen Richtungskämpfen, Intrigen und brachialem politischem Druck bestimmt – bis hin zur Schließung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten. Unter politischem, aber auch finanziellem Druck erfuhr die theoretische Ausrichtung des Bauhauses seit seinem Beginn unter Gropius bis zu seinem letzten Direktor Mies van der Rohe eine dramatische Veränderung. Auch die kunst­ theoretischen Positionen der Bauhaus-Künstler sind seither kritisch hinterfragt worden. Hinterfragt wurde auch Klees künstlerische und persönliche Beziehung zum Bauhaus. Wenn Klee in einem Brief an Kubin – ähnlich wie die Dadaisten und später die Surrealisten – die Bedeutung der schöpferischen Kreativität schmälert und stattdessen von einer Ausbildung von Handwerkern schwärmt, so gibt dies sicher nicht Klees persönliche Überzeugung wieder (die er auch am Bauhaus bald verkünden wird), sondern reflektiert vielmehr eine weitverbreitete Strömung unter den Nachkriegskünstlern, die auch in dem zur selben Zeit (April 1919) erschienenen und von Gropius verfassten Bauhaus-Programm verkündet wurde. Auch der sonst eher zurückhaltende Franciscono äußert sich kritisch zu Klees „commitment“ am Bauhaus: [H]e was the object – like Kandinsky – of Gropius’s doubt that he saw the school as anything more than a sinecure [...] The impression he gives is of having used the Bauhaus for purely personal ends [...]. Nor does his activity as a teacher support his wish for ‚great revival‘ of the arts and the abolition of the academies.42

Gropius’ Befürchtungen, so Franciscono, schienen sich spätestens 1928 zu bewahrheiten: By 1925 Klee was beginning to feel the burden of his teaching and by 1928 what Gropius had already feared three years earlier became a reality: he had substantially lost any sense of commitment in the school that he might have had.43

Auf einem Missverständnis dürfte auch beruhen, dass Klee wegen seiner „revolutionären“ Betätigung ans Bauhaus berufen wurde, wie gelegentlich behaup-tet wurde, und falls dem so gewesen sein sollte, beruhte dies auf einer Fehleinschätzung von Klees politischer Orientierung. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Klee in dem revolutionären Münchner Aktionsausschuss bildender Künstler nie aktiv war und sich seit 1919 geradezu gegenrevolutionär orientierte. Realistischer ist, dass sich Freunde (etwa Däubler), insbesondere der Esoteriker Itten (der bei Klees Vater in Bern Musik studiert hatte), für die Berufung Klees einsetzten. 176  I  Von München nach Weimar

Um ein anschauliches Bild von der Atmosphäre am Bauhaus zu vermitteln, möchte ich zunächst auf die Erinnerungen eines Zeugen zurückgreifen, der Klee und das Bauhaus aus allernächster Nähe und zugleich einer gewissen Distanz erlebt hat: Klees Sohn Felix. Anschließend möchte ich auf Klees eigene Schilderungen seiner Bauhaus-Zeit eingehen, wie er sie in seinen Briefen an die Familie, d. h. an seine Frau Lily, seinen Sohn Felix, seine Eltern und seine Schwester Mathilde, formuliert hat. Da wir für die Bauhaus-Zeit nicht wie bis 1918 auf Klees Tagebucheintragungen zurückgreifen können, besitzen die Briefe einen ähnlichen Stellenwert wie die Tagebücher: Sie sind – bei aller Vorsicht, auch im Hinblick darauf, was Klee in ihnen nicht berichtet hat – unentbehrliche Selbstzeugnisse des Künstlers. Zu Wort kommen soll, neben dem Briefeschreiber, auch der Theoretiker Klee (soweit dies nicht bereits im Kontext der Klee’schen Kunstphilosophie behandelt wurde), der seine Gedanken zur Kunst in einer Reihe von Aufsätzen, darüber hinaus auch in dem mehrere Tausend Seiten umfassenden Konvolut seines Pädagogischen Nachlasses, der bis heute noch nicht umfassend ausgewertet ist, niedergelegt hat. Den engsten persön­lichen und künstlerischen Kontakt – neben seiner Familie – hatte Klee in seiner Bauhaus-Zeit mit Kandinsky, mit dem er in der Dessauer Zeit im selben großzügig kon­ zipierten „Meister“-Haus zusammenlebte. Kandinsky, der seine bereits 1912 veröffentlichten Gedanken über Das Geistige in der Kunst in dieser Zeit weiterentwickelte, legte mit Punkt und Linie zu Fläche (1926) einen kunsttheoretischen Grundlagentext vor, der auch Klee beeinflusste, zumal Klee und Kandinsky ja bereits seit 1911 in engem geistigem Austausch miteinander standen44. Klee selbst hatte 1925 eine kurzgefasste Darstellung seiner kunsttheoretischen und -pädagogischen Überlegungen als Band 2 der bauhausbücher veröffentlicht.45 Auf die Beziehung Klee – Kandinsky soll später noch näher eingegangen werden. Felix Klee verweist zunächst auf die heitere Seite des Bauhauses (wobei er sich in erster Linie auf die Weimarer Zeit – also bis 1925 – bezieht): „Was wäre das Bauhaus mit seinen Kämpfen, Problemen, dem Mazdanankult und sonstigen Auseinandersetzungen ohne seine großartigen Feste gewesen“ (F. Klee [1960], S. 75). Auch die introvertierte Art seines Vaters erwähnt Felix Klee: „Als Nichttänzer sah er dem wilden Völkchen leise schmunzelnd und später etwas gelangweilt zu und verschwand sehr bald nach Hause, um dort noch zu arbeiten“ (ebd.). Betrachtet man allerdings einen eigenen Bericht Klees über einen „Bauhaustanzabend“, dann dürfte diese Schilderung Felix Klees eher euphemistisch gewesen sein: „Die Stimmung war recht grob und gewaltsam da. Furchtbar viel Lärm, unschön.“46 Die Jahre in Weimar waren für Klee – im Gegensatz zur späteren Dessauer Zeit – verhältnismäßig harmonisch und unproblematisch. Er unterrichtet, hält Vorträge, berichtet über Theater-, Konzert- und Opernbesuche und über die Einladungen bei seinen Weimarer Kollegen. Er versäumt nicht, Lily ausführlich die Befindlichkeiten seiner geliebten Katzen zu schildern – über seine Katzen schrieb Klee zumeist liebevoller als über Menschen.47 Lediglich hinsichtlich des Ausmaßes der Gremiensitzungen gab es bei ihm erste Anzeichen von Irritation: „Wir tagen, wir tagen und wir tagen.“48 Begeistert ist Klee von Bauhaus: Weimar und Dessau (1921–1931)  I  177

Weimar allerdings auch nicht, gelegentlich findet er es „fad“. Klee verschweigt allerdings, dass er sich an diesen Sitzungen kaum beteiligte: „Klee ist der Passivste, er schweigt fast ganz“, bemerkt Schlemmer in einem Brief.49 Klees Ruf, gewissermaßen eine „moralische Instanz“, beruhte also möglicherweise darauf, dass er schwieg. 1925 schloss die Landesregierung von Thüringen mit ihrem „ersten Naziparlament“ – so die nicht ganz präzise Darstellung von Felix Klee – die „ihr nicht genehme Schule“. Das Bauhaus musste nach Dessau umziehen, was eine erhebliche atmosphärische und inhaltliche Veränderung bedeutete: Dessau war eine völlig verschlafene kleine Residenzstadt. [...] Während des Ersten Weltkrieges wurden, wie überall in Mitteldeutschland, auch dort große Industriewerke angesiedelt, welche dieser Stadt plötzlich ein neues Gepräge gaben. Der rührige Oberbürgermeister Hesse wollte zu dieser umfangreichen Industrie einen geistigen Kontrapunkt schaffen, indem er das Bauhaus von Weimar übernahm. [...] Das romantische und auch bescheidenere Weimarer Bauhaus wurde nun in Dessau von der praktischen, großzügigen und wohl auch nüchternen Erfüllung aller gehegten Wünsche und Pläne abgelöst.50

Indem er auf die Veränderung der Ausrichtung des Bauhauses insbesondere unter seinem neuen Direktor Hannes Meyer – als Nachfolger von Gropius – anspielt, verhehlt Felix Klee seine Skepsis gegenüber dieser Entwicklung nicht, wenn er von der „immer sachlicher werdenden Entwicklung des Dessauer Bauhauses“ spricht.51 Soweit die Schilderungen von Felix Klee – doch zurück zu seinem Vater, den 1920 ans Bauhaus berufenen „Bauhaus-Meister“. 1919 gegründet und zunächst von Walter Gropius geleitet, stand das Bauhaus von Anfang an im Fokus poli­tischer Auseinandersetzungen, obwohl Gropius bemüht war, es als unpolitische Lehranstalt zu präsentieren. Bereits die Berufung Lyonel Feiningers 1919 führte jedoch zu heftigen Reaktionen konservativer Kreise. Man fördere „einseitig den Expressionismus“.52 Zwei Jahre später kam es zur Neugründung der Großherzoglich sächsischen Hochschule für bildende Kunst, die nunmehr unter dem Namen Staatliche Hochschule für Bildende Kunst firmierte. Es war ein Sieg der konservativen Professoren aus dem Kreis der Alt-Weimarer Malerschule. Nach den Wahlen zum dritten thüringischen Landtag (10.2.1924), aus denen eine rechtsgerichtete Regierung hervorging, war die weitere Entwicklung absehbar. Bereits am 18.9.1924 hatte der Minister für Volksbildung „vorsorglich“ den Vertrag mit dem Bauhaus zum 31.3.1925 gelöst. Die entscheidenden Weichen wurden dann in den Sitzungen des thüringischen Haushaltsausschusses vom 7.–15.11.1924 gestellt: Der Etat des Bauhauses wurde um die Hälfte gekürzt, was eine sinnvolle Fortführung der dortigen Arbeit unmöglich machte. Es folgte am 23.12.1924 ein „Besuch“ von Regierungsmitgliedern im Bauhaus: Die „Aussprache“ wurde zum „Fiasko“.53 Am 26.12. teilte dann das Lehrerkollegium des Bauhauses dem Minister für Volksbildung mit – um einer Kündigung zuvorzukommen –, dass man nicht bereit sei, den Vertrag über den 1.4.1925 hinaus zu verlängern. Gropius resümiert die politischen Auseinandersetzungen in dieser Bauhausphase: 90 Prozent der Anstrengungen aller Beteiligten auf Seiten des Bauhauses 178  I  Von München nach Weimar

seien „auf die Abwehr von Feindseligkeiten auf lokaler und nationaler Ebene verwandt [...] und nur zehn Prozent für die eigentliche schöpferische Arbeit übriggeblieben“54. Der erste und später insbesondere von Mies van der Rohe wiederholte Versuch, das Bauhaus aus den politischen Querelen herauszuhalten, war gescheitert. „Aus einem zeitgeschichtlichen Kontext heraus erwies sich das Bemühen, das Bauhaus zu einer unpolitischen Schule zu machen, allerdings als Illusion.“55 Klee war von diesen ganzen Querelen, die letztlich die Existenz des Bauhauses betrafen, „innerlich nur wenig berührt“, wie er am 11.1.1924 an Lily schrieb. Ich referiere diese Vorgänge so ausführlich, weil wir in Klees Briefen kaum einen Niederschlag dieser dramatischen Entwicklung finden. Würden wir nur diese Briefe kennen, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich um einen zwar schwierigen, aber letztlich mehr oder weniger normalen Vorgang der Verlagerung des Bauhauses von Weimar nach Dessau gehandelt habe. Wir finden bei Klee lediglich einige lapidare Hinweise auf die Verhandlungen mit der Regierung und dem Haushaltsausschuss: Man ist in fieberhafter Tätigkeit, auf die große Krise hin; in etwa acht Tagen. Ich bin noch so voll von Sizilien, daß es mich innerlich nur wenig berührt.56 Über den Stand der Dinge kann ich nichts Definitives melden, es geht im Haushaltssausschuss hin und her, einmal scheints besser, ein anderes Mal schlechter. Es ist möglich, daß die ‚zu hängenden‘ wieder von der Leiter steigen, um Atem zu schöpfen, es ist möglich, daß man sie dann doch wieder hinauf schickt.57

Den Umzug nach Dessau schildert Klee als eine Art feucht-fröhlichen Beisammenseins: „Das Schulgebäude ist gesichert. Deshalb kam ich in eine gute Stimmung hinein, und wir feierten bis spät in einem Weinhaus.“58 Denkbar wäre, dass Klee Lily schonen wollte. Schon in der Weimarer Zeit wurde immer deutlicher, dass Lilys nervliche Belastung zunahm – sie sollte später selbst von einer „Nervenerkrankung“ sprechen, auf deren Gründe ich später noch eingehen werde –, was wiederum auch Klee belastete. Wie wir bereits im Kontext von Klees Reaktion auf den Ersten Weltkrieg gesehen hatten: Die politischen Kämpfe auch dieser Zeit berührten ihn „innerlich“ wenig, so wie ihn einst der Krieg „innerlich“ nichts anging. Am 11.11.1924 schrieb Klee nochmals über die Diskrepanz zwischen Weimar und seiner Sizilienreise: Ich erlebe nichts, will auch gar nichts erleben, ich trage die Berge Siciliens in mir und jene Sonne. Alles andere ist fad.59

Dieses „Alles andere ist fad“ gilt – im Hinblick auf die politische Entwicklung des Bauhauses – mehr oder weniger für Klees gesamte Bauhaus-Zeit. So anregend die kollegialen Kontakte (insbesondere zu Kandinsky) waren, so intensiv er seine Seminare vorbereitete: Was ihn wirklich interessierte, waren neben seinem künstlerischen Werk in erster Linie seine Reisen in den Süden. Vergleichbar mit der Leidenschaft für den Süden war Bauhaus: Weimar und Dessau (1921–1931)  I  179

allenfalls noch seine Begeisterung für Musik- und Theateraufführungen. Lediglich 1930, im letzten Jahr seiner Bauhaustätigkeit, finden wir eine Reihe von Bemerkungen, die zeigen, wie sehr ihm die Auseinandersetzungen im und um das Bauhaus auf die Nerven gingen. Die erste Bauhausphase ist gelegentlich als „expressionistisch“ bezeichnet worden. In der Tat waren am frühen Bauhaus, nicht zuletzt durch den Einfluss von Itten, metaphysische und esoterische Gedanken verbreitet. Gropius brachte diese Tendenz des Bauhauses 1922 auf die Formel, das Bauhaus müsse „typische [...] die Welt versinnbildlichende ­Formen schaffen“.60 Zugleich sollte das Bauhaus die Einheit von Kunst und Handwerk wiederherstellen. Gropius selbst verfolgte bald eine neue Linie, die er schließlich auf die Formel brachte: „Kunst und Technik – eine neue Einheit“ (u. a. machte sich hier der Einfluss van Doesburgs, der die „de Stijl“-Philosophie auf das Bauhaus übertragen wollte, und dessen Kritik am „Biedermeier“ des Bauhauses bemerkbar). Diese Umorientierung des Bauhauses war freilich keine willkürliche Entscheidung von Gropius. Eine wirkliche Zusammenarbeit mit dem Handwerk war nicht zustande gekommen, stattdessen gab es gute Kontakte zur Industrie, die Interesse am „Bauhaus-Design“ zeigte. Außerdem wollte Gropius vor dem Hintergrund der politischen Querelen das Bauhaus langfristig finanziell unabhängig machen, was nur möglich war, wenn eine eigene Produktion aufgebaut wurde, sei es in Form des Verkaufs von Lizenzen oder der Herstellung eigener Produkte. Die zweite Bauhausphase, die somit bereits in der Weimarer Zeit begann, kann somit als „funktionalistisch“ – oder konstruktivistisch – bezeichnet werden. Im Vordergrund stand nicht mehr die künstlerische Gestaltung, sondern Funktion und Norm. Es ist naheliegend, dass Klee sich stärker mit der frühen Ausrichtung des Bauhauses identifizierte. Wiederum finden wir in seinen Briefen keine Hinweise darauf, wie er zu der späteren Kursänderung stand. Im Gegenteil: Die vorhandenen spärlichen Hinweise legen nahe, dass sein persönliches Verhältnis zu Hannes Meyer, der nach dem Weggang von Gropius die funktionalistische Tendenz des Bauhauses verstärkte, im Wesentlichen positiv war (was möglicherweise auch dadurch beeinflusst war, dass Meyer Schweizer war). Meyer, seit 1927 am Bauhaus tätig, wurde – auf Vorschlag von Gropius, der sich freilich später von ihm distanzierte – ab 1929 dessen Direktor. Er machte keinen Hehl aus seiner sozialistischen Gesinnung (und ging später nach Moskau, wo er bis 1936 als Professor für Architektur tätig war, bevor er anschließend in die Schweiz zurückkehrte) und wollte mithilfe des Bauhauses praktische und preiswerte Gegenstände für den „Volksbedarf“ statt für den „Luxusbedarf“ herstellen. Kunst war für ihn Luxus, der am Bauhaus fehl am Platz war. Allerdings musste, jenseits des persönlichen Verhältnisses, Klee für Meyer all das repräsentieren, was er von seiner funktionalistischen Orientierung (aber auch seiner marxistischen Überzeugung) her ablehnte. Klee, so beschreibt Werckmeister den Konflikt zwischen Meyer und Klee in wahrscheinlich überspitzter Form, wurde von Meyer „zur Personifikation alles dessen erklärt[e], was er am Bauhaus ändern wollte“.61 Trotz seiner persönlich positiven Beziehung zu Klee fand Meyer drastische Worte für die Maler des Bauhauses und insbesondere für Klee: 180  I  Von München nach Weimar

Inzüchtige Ideen versperrten jeden Zugang zur lebensrichtigen Gestaltung. [...] Das Quadrat war rot. Der Kreis war blau. Das Dreieck war gelb. [...] Statt exotischer Tiere hält man sich jene absonderlichen Menschen, welche die Welt als große Künstler verehrt. [...] Das Klee-Feld junger Bauhaus-Künstler, gezüchtet vom wundersamsten Malerindividualisten, wird brach liegen in unserer Epoche großer sozialer Umschichtung und kollektiver Lebensnot.62

Zunehmend deutlicher äußert sich Klee jedoch über seine Belastung durch die Lehr- und Gremientätigkeit am Bauhaus, die ihm immer weniger Zeit zur produktiven künstlerischen Arbeit lasse. Die Atmosphäre in Dessau empfand er nicht nur als „fad“, sondern als „freudlos“. Nach einer Sommerreise (ohne Lily) schreibt er am 14.11.1926: Ich beginne mich in meinen Alltag hineinzufinden. Die Reise liegt in einem fernen sonnigen Schimmer schon recht weit zurück, und das ist gut, sonst müsste man hier am Ort unter einem freudlosen Kontrast freudlos dahindenken. Das nützt einmal nichts, man arbeitet, eine ideelle Wirklichkeit gewinnt allmählich glaubwürdige Umrisse. Unterricht habe ich auch schon gegeben, mit einem krampfhaften Anlauf raffte ich mich ins neue Gebäude auf.63

Die „ideelle Wirklichkeit“ als Flucht aus der „faden“ Weimarer und der „freudlosen“ Dessauer Realität! Bereits 1926 schildert er also Lily ungeschminkt seine Unzufriedenheit – als „Schonung“ seiner Frau lässt sich dies nicht mehr betrachten. Klees Klagen über das Bauhaus nehmen zu. Er müsse „um seine eigene Seele kämpfen“64 und finde nicht mehr genügend Zeit zum produktiven Arbeiten: Man kann mit Unruhe im Leib ein paar Kleinigkeiten hinhauen, aber nichts was eine gewisse Fülle braucht [...]. Ich müsste vielleicht sogar zeitweise die letzte Freiheit haben, eine Zeitlang überhaupt N i c h t s zu malen ... Aber so geht es nicht, ich mach Alles halb [...].65.

Am deutlichsten wird er in seinem Brief an Lily vom 13.9.1929: Das Bauhaus regt mich nicht weiter auf. Aber man verlangt von mir Dinge, die nur sehr teilweise fruchtbar sind. Das ist und bleibt unerfreulich. Niemand kann etwas dafür, außer mir, der ich nicht den Mut finde, wegzugehen. Auf diese Weise werden kostbare Jahre der Production teilweise entzogen. Etwas Unökonomischeres und Dümmeres gibt es nicht.66

Nachdem er wiederholt über die Gremienarbeit klagte (er werde durch „Semestersitzungen und Detailbesprechungen in unangenehmster Weise in Anspruch genommen“; Brief an Lily Klee, 12.4.1930), teilte Klee seiner Frau am 15.5.1930 schließlich mit, dass er in einem Gespräch mit Hannes Meyer seine Kündigung zum 1.4.1931 ausgesprochen habe. Über die politischen Hintergründe der Bauhauskonflikte schwieg Klee allerdings67. Als er Lily den Brief vom 15.5.1930 schrieb, war die Position von Meyer am Bauhaus bereits unhaltbar geworden. Am Bauhaus hatte sich eine zahlenmäßig starke kommunistische Zelle unter den Studenten gebildet, was Anlass zu Angriffen der rechten Presse gegen Bauhaus: Weimar und Dessau (1921–1931)  I  181

das Bauhaus bot. Allerdings waren um diese Zeit schon eine Reihe kommunistischer Studenten relegiert worden. Am 5.5.1930 fand ein Gespräch zwischen dem Dessauer Oberbürgermeister Hesse, dem Landeskonservator Grote, dem zuständigen Oberschulrat Blum und Hannes Meyer statt, bei dem sich zeigte, dass die politischen Differenzen zwischen Hesse, Grote und Blum einerseits und Meyer andererseits unüberbrückbar waren, anders formuliert: Hesse war nicht mehr gewillt, Meyer am Bauhaus zu halten. Der Verlauf dieses Gesprächs wurde nachher von Grote und Hesse als ausschlaggebend dargestellt für ihr Bestreben, Meyer von seinem Direktorenposten zu entfernen, um die Schule zu „retten“. „In dieser Besprechung hatte er ausdrücklich erklärt, daß er philosphisch-marxistisch sei und in diesem Sinne auf die Bauhausarbeit einwirke“, resümiert Oberbürgermeister Hesse das Gespräch.68

Nachdem Meyer am 1.8.1930 erklärte, er werde nicht zurücktreten, machte Hesse von seinem Recht zur fristlosen Kündigung Gebrauch. Es kam schließlich doch noch zu Verhandlungen vor einem Schiedsgericht, worauf Meyer schließlich „freiwillig“ zurücktrat. Seine Sicht der Dinge publizierte er am 16.8.1930 in einem offenen Brief an Hesse („Mein Hinauswurf aus dem Bauhaus“). Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass Klee in einem Brief an Lily am 10.5.1930 berichtet, er sei bei Grote eingeladen gewesen und sogar das Menü beschreibt, aber kein Wort über die massiven politischen Konflikte im Hintergrund verliert, über die Grote ja aus erster Hand informiert war. Außerdem war Klee mit Sicherheit auch durch Meyer über die Vorgänge informiert. Vermutlich aber ließen auch diese Konflikte Klee „kühl“ (wie er es gerne formulierte). Auch diese Phase des Klee’schen Lebensweges, seine Bauhaus-Zeit, ist in der Literatur häufig harmonisiert und beschönigt worden69. Es steht außer Zweifel, dass Klee sich intensiv auf seinen Unterricht vorbereitete und theoretisch wie künstlerisch enorm produktiv war. Dem steht jedoch gegenüber, dass er sich von vielen Aspekten des Bauhauses distanzierte (wie u. a. sein Artikel exakte versuche im Bereich der kunst [1928], deutlich macht), sein Leben dort häufig als „freudlos“ und für seine künstlerische Produktivität geradezu schädlich ansah. Was Klee ebenfalls verschweigt, ist, dass bereits unter Meyer, mehr noch dann unter Mies van der Rohe, linksgerichtete Studenten gegen Klees Lehre protestierten.70 Auch dies gehört zu den noch immer weitverbreiteten Klee-Legenden: Klee sei so überaus beliebt bei seinen Studenten gewesen. Mag sein, dass dies zu Beginn seiner Lehrtätigkeit so gewesen war. Seine immer stärker von der gesellschaftlichen ­Realität abgehobene, „weltferne“ und metaphysische Orientierung musste jedoch den linken Studenten am Bauhaus ein Dorn im Auge gewesen sein. Eine gewisse Tragik bestand darin, dass Klee in seinen Überlegungen zur Kunst auf einstmals progressive, ja auf­rührerische Gedanken des Deutschen Idealismus zurückgriff, ohne dies allerdings den Studenten vermitteln zu können. Möglicherweise befürchtete er, dann umso mehr der „Mystik“ und „Romantik“ bezichtigt zu werden, wie er in exacte versuche im bereich der kunst schrieb. Hinzu kommt, dass sich Klee, bei aller Bescheidenheit seines persönlichen Auftretens, durch seinen Anspruch einer „kosmischen“ Kunst und seiner Propagierung des profanen 182  I  Von München nach Weimar

Kriterien enthobenen Genies – möglicherweise, ohne dies zu beabsichtigen – in die Rolle eines autoritären Charismatikers brachte. Werckmeister spricht von einer „autoritären Meisterpostur mit Anspruch auf eine rationaler Kritik enthobene wesenhafte Welterkenntnis“.71 Nicht ohne Grund wurde Klee schon früh von Studenten als „Buddha“ karikiert. Mag sein, dass er gegenüber den praktischen Arbeiten seiner Schüler nicht „dogmatisch“ war,72 der Gestus seiner Kunstphilosophie war es jedenfalls. Über seine Kunst äußerte sich Klee in seinen Briefen eher sporadisch. Gleichwohl finden wir hier Markierungspunkte, die zeigen, welche künstlerischen Fragen ihn in seiner Bauhaus-Zeit beschäftigten. Bereits im Frühjahr 1921, also zu Beginn seiner dortigen Tätigkeit, ließ er sich über die Bedeutung von Farbe und Rhythmus aus: Die Tonalität der letzten Aquarelle suche ich jetzt auf zwei Farben streng aufzubauen, nicht mehr rein gefühlsmäßig. Und die Zeichnung geht streng mit der malerischen Form, sozusagen melodisch.73 In meinen streng rhythmischen tonalen Aquarellen fahre ich jetzt weiter, vielleicht entsteht draus eine neue Ölmalerei.74

Wie zentral für ihn seine Arbeit war, drückt er in einem Brief vom 16.4.1921 aus: Mir geht’s gut, das heißt, ich arbeite. Ich erweitere mir das durch die abgestufte Tonmalerei Gewonnene und kann es wahrscheinlich auf das größere Gemälde übertragen. Saugender Gips und benzinverdünnte Farbe.75

Die auf zwei Farben aufbauende „Tonalität“ führt Klee zum Prinzip der „Polyphonie“ (die ein zentrales Thema seiner späteren Bauhausbilder sein wird): „Ich werde an vier bis fünf Beispielen den Weg zum polyphonen Stil zweier Gemälde analysieren.“76 (Farbabb. XIX) Bedauerlicherweise brechen Klees Nachrichten über die Entwicklung seiner Arbeit nunmehr für längere Zeit ab (das Tagebuch endete ohnehin 1918), jedenfalls soweit sie sich in seinen Briefen niederschlagen. An ihre Stelle tritt mehr und mehr seine Unzufriedenheit mit der Tätigkeit am Bauhaus. Erst im Sommer 1927 – nach Abschluss des Semesters – findet sich wieder eine ausführlichere Nachricht zur inhaltlichen Seite seiner Arbeit, überschattet freilich wiederum von seinem Unmut über den Zeitdruck: Man kann auch wieder das nicht tun, was man am liebsten möchte: in großer Breite an ein gewisses Format herangehen. Ich haue noch ein paar Aquarelle hin, die von der eingetretenen Intensivierung der Farbe mit ergriffen sind und eine Hoffnung bedeuten, daß das Mittelmeer diesmal direkter sich auswirken wird, als das letzte Mal auf Elba.77

Tatsächlich wird er geradezu enthusiastisch von den „Klängen“ und „Farben“ berichten, denen er auf seiner Urlaubsreise in den Süden begegnete (er hielt sich, ohne Lily, auf Porquerolles, in Südfrankreich und auf Korsika auf). Allerdings, so fügte er einschränkend hinzu, sei der Süden mit seinen „Reflexen“ kein „gutes Atelier“. Dementsprechend sind die Bilder, die er aus Porquerolles und Calvi mitbringt, vorwiegend Kohle- und Federzeichnungen. Bauhaus: Weimar und Dessau (1921–1931)  I  183

Sieht man von einigen eher beiläufigen Bemerkungen ab (etwa zum vergrößerten Format seiner Bilder), so lassen sich auch Klees Schilderungen der ägyptischen Landschaft (im Rahmen seiner Ägyptenreise vom 17.12.1928–17.1.1929, wiederum ohne seine Frau) deutlich mit seiner Kunst in Verbindung bringen. Diese Eindrücke schlagen sich – in abstrakter Form – in Klees sogenannten „Ägyptenbildern“ nieder: Dann ist die Landschaft und die Landwirtschaft in Ägypten ganz einzigartig. Der Strom ist die Ader des Ganzen. Wo er ist, und von Kairo abwärts ist er sehr ausgebreitet, da ist zauberhaftes Grün als Futter, als Gemüse. Als Fruchtbaum, und entsprechend viel Vieh ist zu sehen. [...] Der Bewässerungsbetrieb wird durch Tier- und Menschensklaven in Bewegung gesetzt, Schöpfräder wie zu Pharaos Zeiten bringen das Wasser aus den größeren Kanälen in die kleineren und kleinsten.78

Dass Klee von Kairo „unendlich viel Schönes“ zu berichten wusste, wie sein Sohn schreibt,79 ist allerdings nur bedingt richtig und gehört wiederum zu den Euphemismen, die für Felix Klees Darstellungen charakteristisch sind. Der Vergleich mit Tunis und seiner Tunesienreise von 1914 fällt eher negativ aus und von den Ägyptern fühlt sich Klee weitgehend abgestoßen. Schmutz und Armut werden nicht ausgeblendet, sondern fast angewidert registriert: Die arabische Kultur ist alt. Wer sich so etwas wie reiche Töne oder edle Patina denkt, geht fehl. Schmutz, Krankheit und wieder Schmutz, das ist das Volk, Furchtbare Armut bei Reichtum des Landes und gewisser Kasten, kein Zeitbegriff, kein Unternehmungsgeist, kein Verantwortungsbegriff. Ist das noch die Hochkultur, die in der Kunst sich ausspricht? ... Ich hatte von Tunis andere Eindrücke mitgebracht und bin überzeugt, daß Tunis viel reiner ist. Die Moscheen von Kairuan besagen sogar, daß Tunis immer reiner war. Dagegen sind die Cairoer Moscheen kitschig, so ziemlich alle [...].80

Auch rassistische Töne schlug Klee an: Die Nubier seien die „bessere“, „reinere“ Rasse als die Ägypter, wobei er nicht versäumte, auf die „Frechheit des niederen Volkes“ hinzuweisen81. Klee fand in Ägypten keine „ideelle Wirklichkeit“ – umso ernüchternder, ja deprimierender war, ungeachtet aller landschaftlichen Schönheit, die soziale ­Realität. Gegen Ende seiner Bauhaus-Zeit – Klee hatte sich bereits dazu entschlossen, das ­Bauhaus zu verlassen – taucht noch einmal ein neuer Aspekt auf: Räumlichkeit, die geradezu eine „neue Malerentwicklung“ verspricht. Beispielhaft sei hier genannt Mögliches auf See. Nun taucht wieder eine neue Nuance des räumlichen Gestaltens aus der Vorbereitungsschicht (mit dem Begriff des Grundrisses operierend) auf. Jedenfalls ist durch das räumliche Studium ein Gebiet erschlossen, das nach neu riecht. Man könnte auf dieser Grundlage eine neue Malerentwicklung nehmen. Vielleicht hab ich Glück – und fang von vorn an.82 184  I  Von München nach Weimar

Dementsprechend können wir davon sprechen, dass Polyphonie und Räumlichkeit zwei neue – oder genauer: wiederentdeckte – Stilelemente Klees waren, die insbesondere in der Bauhaus-Zeit weiterentwickelt wurden. Eine ausführliche Würdigung der Werke Klees während seiner Bauhaus-Zeit werde ich am Ende dieses Kapitels vornehmen. Ein weiteres Problem aus Klees Bauhaus-Zeit wird in seinen Briefen deutlich erkennbar: das Verhältnis zu seiner Frau Lily. Klees Beziehung zu ihr gestaltete sich zunehmend distanziert, man könnte – aus einer Außenperspektive – von Entfremdung sprechen. Klee hatte Lily allerdings schon frühzeitig mitgeteilt, dass er die Ehe wesentlich als eine Einrichtung zur Erhaltung und Steigerung der „Arbeitsfähigkeit“ sehe: Alles läuft schließlich darauf hinaus, die Arbeitsfähigkeit zu steigern; und das eheliche Verhältnis soll sich diesem alleinseligmachenden Prinzip unterordnen.83

Ein Indiz dieser Distanzierung ist Klees wachsende Abneigung gegen das Briefeschreiben, wobei sein Ton zunehmend ungeduldiger, schließlich geradezu aggressiv wird. Im Herbst 1926 schreibt er noch relativ moderat: Wenn nicht die Briefe wären, was für ein Leben könnte man führen, aber so ... und die Gewissensbisse ... statt daß man als Maler jetzt mit freiem Kopf an die Arbeit ginge.84

Die „Gewissensbisse“ verschwinden mit der Zeit, allerdings verweigert Klee nunmehr Ausführlichkeit und „Regelmäßigkeit“ der Briefe an Lily. Man könne keine Regelmäßigkeit von ihm verlangen, weil er auf „regelmäßige Dinge nicht reagiere“. Das Bauhaus sei „gerade belastend genug“. Versprechen wolle er alles Mögliche, „wenn ich es nicht zu halten brauche“ (6.7.1927). An Felix Klee schreibt er: „Mutter verlangt auch, daß ich mehr schreibe. Das geht zu weit, ich will gern ab und zu ein Zeichen geben“ (8.7.1927), und am 2.4.1930 schreibt er an Lily: „Passiert ist nichts, rein nichts. Und möge das so bleiben. Aber was soll dann in den vielen regelmäßigen Karten gesagt werden??“ Ein Indiz für die zunehmende innere Distanz zwischen Paul und Lily ist auch die räumliche Entfernung, die u. a. auch dadurch bedingt war, dass Lily Klee mehrfach Erholungsaufenthalte in Sanatorien benötigte: 1927 in Oberstdorf und 1930 zweimal in Sonnmatt/ Luzern. Weitere Sanatoriumsaufenthalte sollten hinzukommen. Auch seine Reisen absolvierte Klee häufig ohne Lily (1927 war Klee mit Felix zusammen auf Porquerolles und Korsika, 1928/29 war er in Ägypten, 1930 in Viareggio/Italien, 1932 in Venedig, jeweils ohne Lily). Klee gab Lily indirekt, gelegentlich aber auch direkt zu verstehen, dass er auch ohne sie zurechtkomme. Aufschlussreich ist dabei die Planung einer gemeinsamen Mittelmeerreise 1927, als Lily sich gerade in Oberstdorf aufhielt und man sich in Bern treffen wollte. Zunächst einmal versuchte Klee, Lily davon zu überzeugen, dass sie, wenn sie sich an die „Höhenluft“ in Oberstdorf gewöhnt habe, in Gedanken bald nicht mehr in Dessau (d. h. bei ihm) sei, was ohnehin kein Problem darstelle: „Wir machen ja dann doch nur, was uns möglich ist“ (6.7.1927). Dieser Satz lässt verschiedene Interpretationen zu. Wollte Klee einfach Bauhaus: Weimar und Dessau (1921–1931)  I  185

nur sagen, dass er durch Bauhaustätigkeit und künstlerische Arbeit sehr belastet sei? Das hätte er nicht schreiben müssen, da Lily dies natürlich bekannt war. Wenn er ihr jedoch nahelegt, dass sie auch in Gedanken nicht in Dessau sein müsse, da man doch nur mache, was „uns möglich“ sei, dann entwertet er das Zusammensein mit Lily. Denkbar ist schließlich auch eine Interpretation vor dem Hintergrund von Klees Verständnis der Ehe. Was Klee schon früh angekündigt hatte, nämlich dass die eheliche Beziehung der „Steigerung der Arbeitsfähigkeit“ diene und eine volle „Harmonie“ ohnedies nicht zu erreichen sei, schien Realität zu werden. Zwar besorgte Klee für Lily noch einen „französischen Paß“ für die Einreise nach Frankreich, schrieb aber zugleich: „[D]ann liegt es an dir, ob Du auch nach Frankreich kommst“ (12.7.1927). Es ist nicht klar, wie Lily auf diese „Einladung“ reagierte und so schrieb er am 23.7.1927: [I]ch reise nun eben und kann wegen der Distanz und so weiter nicht alles mit Dir besprechen. Es ist für Dich das Beste, sich in aller Ruhe auf sich selbst abzustellen, so erholt man sich am besten.85

1930 hielt sich Lily zwei Mal im Sanatorium Sonnmatt/Luzern auf, vom 31.3.–12.7. und vom 19.8.–8.10.1930, insgesamt also mehr als fünf Monate. Die offizielle Diagnose lautete: „vollständige Nervenerschöpfung“, was mit Schlafstörungen und starkem Gewichtsverlust verbunden war (Frey [o. J.], S. 174). Wir finden in Klees Briefen keinen Hinweis, was die Ursachen einer derartig massiven Erkrankung gewesen sein mochten oder was sie für die Ehepartner bedeutete – mit Ausnahme einer Beschwerde Klees über die Nervosität Lilys. In der Zwischenzeit, zwischen den beiden Kuren, trafen sich Paul und Lily in den Schweizer Bergen, in Sils Baselgia – ein Treffen, zu dem Klee sich nur bereit erklärt hatte, wenn er anschließend die „Freiheit“ habe, allein an sein geliebtes „Mar“ zu fahren. Der gemeinsame Aufenthalt hatte die Gesundung von Lily offenbar nicht gefördert, so dass die Ärzte zu einer „Nachkur“ rieten. Die Briefe, die Klee an Lily während ihrer Kur schrieb, waren – vorsichtig ausgedrückt – distanziert. Am 15.4.1930 schrieb er: „Das Beste wäre, du würdest an gar nichts denken, es geht auch ohne Dich, schief oder gerade, wie’s trifft.“ Am 10.4.1930 wünschte er ihr einen „zeitlosen“ Aufenthalt in Sonnmatt, verbunden mit dem Eingeständnis, dass dies zugleich seiner Arbeitsfähigkeit dienlich sei: Dein Aufenthalt möge zeitlos verlaufen, daß du nicht glaubst, mit seiner Dauer irgendwie rechnen zu müssen. Ich kann auch mehr leisten, wenn ich auf nichts Nervöses Rücksicht nehmen muß.86

Als ihm Lily schrieb, sie habe sich einen „Rachenkatarrh“ zugezogen, antwortete Klee ihr nicht gerade einfühlsam: „Hoffentlich bist du von deinem dummen Katarrhrach [Klees Schreibweise] jetzt befreit. Störungen – um von Krankheit zu sprechen – von Angina aus sind scheint’s modern.“87 Der fünfmonatige Aufenthalt in Sonnmatt und die psychiatrische Diagnose zeigen, dass Lily Klee sich auch schon vor der Zeit der Emigration und der Erkrankung ihres Man186  I  Von München nach Weimar

nes in einer äußerst prekären psychischen Verfassung befand, was in der Klee-Literatur in der Regel verschwiegen wird. Es lässt sich freilich nur darüber spekulieren, welchen Anteil Lilys schwierige Ehe daran trug. Klees wenig emphatische Bemerkungen zu ihrer psychischen und physischen Verfassung legen allerdings nahe, dass ein Grund dort zu suchen war. Klee ging es ähnlich wie Goethe: Er musste Krankheit von sich fernhalten, sie hätte seine innere „Jenseitigkeit“ bedroht. Dementsprechend geht Klee auch auf Lilys besorgniserregende Diagnose nicht ein, Mitgefühl wird nicht geäußert. Man wird an Maria Marcs Einschätzung erinnert, die Klee Gefühllosigkeit vorwarf. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Klee Lily auch seine eigenen körperlichen Beschwerden mitteilte, freilich eher am Rande. Am 26.4.1930 schrieb er: „Ein Rheuma in der rechten Schulter hinderte mich heute an Allem.“ Am 30.4. fügte er hinzu: „Jetzt habe ich den Unterricht noch etwas hinausgezögert, einen tatsächlichen Rheumatismus zu einem tiefsitzenden Hexenschuß übertreibend.“ Diese beiläufigen Bemerkungen sollten nicht überbewertet, aber auch nicht ignoriert werden. Die spätere rheumatische Erkrankung Klees, systemische Sklerodermie, brach 1935 aus. Klees Bemerkungen aus dem Jahre 1930 legen jedoch nahe, dass die Anfänge seiner Krankheit weiter zurückliegen.88 Als weiterer Hinweis auf die schwieriger gewordene Beziehung zwischen Paul und Lily kann schließlich eine Fehlleistung Lilys gewertet werden. In ihren Lebenserinnerungen beschreibt Lily Klee eine gemeinsame Reise in die Bretagne (angeblich 1925) gleich zwei Mal, mit unterschiedlichen Formulierungen. Dann bricht der bis dahin chronologische Bericht über ihr Leben mit Paul Klee ab – es folgen nur noch einzelne Notizen, die in keinem chronologischen oder erkennbaren inhaltlichen Zusammenhang mehr stehen. Alle verfügbaren biographischen Quellen (z. B. auch des Sohnes) weisen jedoch darauf hin, dass die Reise in die Bretagne 1928 stattgefunden hat. Man könnte diese eigentümliche Berichterstattung so verstehen, als sei die auf das Jahr 1925 zurückverlegte Reise die letzte ungetrübte Erinnerung an das gemeinsame Leben, die aus diesem Grund noch einmal wiederholt wird.

Theorie und Praxis der Kunst am Bauhaus Doch zurück zu Klee und seiner Tätigkeit am Bauhaus. In seinem Jenaer Vortrag von 1924, in dem er wesentliche Aspekte seiner Kunstphilosophie aufzeigte, hatte er auch kunstpraktische Überlegungen entwickelt, in denen er bereits früher erarbeitete Gedanken zu Linie, Tonalität und Farbe darlegte: In der Linie kommt das „Maß“, in der Tonalität das „Gewicht“ und in der Farbe die „Qualität“ der Malerei zum Ausdruck. In seiner Baum-Metapher hatte Klee das Verhältnis von Kunst, Künstler und Realität anschaulich dargestellt: Wie die Wurzeln eines Baumes wurzelt auch der Künstler in der Realität. Der Stamm repräsentiert den Künstler, der diese Wirklichkeit umformt, die dann als Krone des Baumes als Kunstwerk in Erscheinung tritt. Krone und Wurzel können verständlicherweise nicht homolog sein. Der Vorwurf, Kunst bilde die Realität nicht richtig ab, Theorie und Praxis der Kunst am Bauhaus  I  187

geht für Klee ins Leere. Mit subtilem Humor zitiert er die Vorstellung des „Laien“, der portraitierte „Onkel“ lasse jegliche Ähnlichkeit mit der Realität vermissen89. Der Künstler ist, Klee zufolge, nicht primär an den Formen, d. h. der Krone des Baumes, sondern an den formenden Prozessen zwischen Wurzel und Krone interessiert, er ist natura naturans. Er bildet die Natur nicht ab, sondern ist selbst schaffende Natur, Genesis: Er schafft nicht nach der Natur, sondern wie die Natur. Klee war bereits früher, in seinem Aufsatz Wege des Naturstudiums (1923) auf die Arbeit des Künstlers und auf sein Verhältnis zur Realität eingegangen.90 Zugleich beschrieb er an dieser Stelle wesentliche Aspekte seiner Rezeptionsästhetik. Die „Zwiesprache mit der Natur“ sei für den Künstler nach wie vor conditio sine qua non. Die Frage für Klee war jedoch, in welcher Form diese Zwiesprache zu seiner Zeit, in einem neuen Verständnis von Kunst, aussehe. Klee scheut nicht davor zurück, in diesem Zusammenhang von einem „revolutionär[en]“ Neuen zu sprechen. Der traditionelle Künstler (derjenige also, der sich gemäß seinen Überlegungen im Jenaer Vortrag dem „Urgrund“ noch nicht genähert hat, sondern, wie etwa die Impressionisten, im „Bodendickicht“ stecken geblieben ist), habe die „Kunst des optischen Sehens“ ausgebaut, „gegenüber welcher die Kunst des Betrachtens und Sichtbarmachens unoptischer Eindrücke und Vorstellungen vernachlässigt zurückblieb“91. Der heutige Künstler sei mehr als eine „verfeinerte Kamera“, er strebe vielmehr eine „Totalisierung“ an: Der Gegenstand erweitert sich über seine Erscheinung hinaus durch unser Wissen um sein Inneres. Durch das Wissen, daß das Ding mehr ist, als seine Außenseite zu erkennen gibt. Der Mensch seziert das Ding und veranschaulicht sein Inneres an Schnittflächen, wobei sich der Charakter des Gegenstandes ordnet nach Zahl und Art der notwendigen Schnitte. Das ist die sichtbare Verinnerlichung, teils durch das Mittel des einfach scharfen Messers, teils mit Hilfe feinerer Instrumente [...]. Die so gemachten Erfahrungen befähigen in der Summe das Ich zu Schlüssen von der optischen Außenseite auf das gegenständliche Innere, und zwar intuitiv, indem schon auf dem optisch-physischen Wege die Erscheinung das Ich zu gefühlsmäßigen Schlüssen angereizt wird [...].92

Es ist naheliegend, dass Klee hier Gedanken zur polyperspektivischen Darstellung des Kubismus aufgreift. Klee prägt in diesem Zusammenhang auch den für die Rezeption seines Werkes wichtigen Begriff des „Resonanz-Verhältnisses“, das ein über die optischen Grundlagen hinausreichendes intuitives nichtoptisches Verständnis des künstlerischen Gegenstandes ermöglicht. Klee nennt zwei Wege dieses nichtoptischen Zugangs qua Resonanz-Verhältnis: Erstens der nicht optische Weg gemeinsamer irdischer Verwurzelung, der im Ich von unten ins Auge steigt, und zweitens der nicht optische Weg kosmischer Gemeinsamkeit, der von oben einfällt. Metaphysische Wege in ihrer Vereinigung.93 (Hrv. MC)

Zu dem oberen Weg führt „die Sehnsucht, von der irdischen Gebundenheit sich zu lösen“. „Sämtliche Wege treffen sich im Auge und führen, von ihrem Treffpunkt aus in 188  I  Von München nach Weimar

Form umgesetzt, zur Synthese von äußerem Sehen und inneren Schauen.“94 Wir dürfen, nach unseren bisherigen Überlegungen, diese „Sehnsucht“ als Klees Sehnsucht nach innerer „Jenseitigkeit“, nach dem „Geistigen“ verstehen, nicht als eine wie auch immer geartete „Transzendenz“. Klee hat dieses Verhältnis in seiner berühmten Graphik (s. Abb. Nr. 78) anschaulich dargestellt. Klees „Metaphysik“ tritt hier als Kosmologie in Erscheinung, die das Diesseitige und das Jenseitige, das Irdische wie das Überirdische (das, was man auf „anderen Sternen“ an „anderen Formen“ finden kann, wie er es 1924 formuliert95) umfasst. In dieser Kosmologie kommt zugleich Klees „Totalitätsstandpunkt“ zum Ausdruck, ein Standpunkt, der im Sinne der Romantik Mensch und Kosmos, Natur und Geist gleichermaßen umfasst. Klee beschließt seine Selbstdarstellung mit den Worten über den Künstler als Studierenden: „Er schafft dann ein Werk, oder er beteiligt sich am Schaffen von Werken, die ein Gleichnis zum Werke Gottes sind.“96 Hier bedient er sich – scheinbar bescheiden – der christlichen Formel des „Gleichnisses“. Unübersehbar ist, dass Klee sich hier aber auch – ähnlich wie der Renaissancekünstler – als alter deus versteht, der gottgleiche Werke schafft. Im Jenaer Vortrag fasst er diesen Anspruch in der Form zusammen, dass der Künstler die „Genesis“ nachvollziehe, „weltschöpferisch“ tätig und damit auch als Künstler gottgleich sei. Hier wird deutlich, dass Klees „Totalitätsstandpunkt“ der Anspruch aufs Absolute ist. Dies bedeutet nicht, wie Franciscono betont, indem er sich kritisch mit Grohmanns mystischen Schwärmereien über Klee auseinandersetzt, dass der Maler eine „ultimate truth“ besitzt, sondern dass das Gravitationszentrum von Klees Kunst das schöpferische Ego des Künstlers, sein „göttliches Ich“, sein „divine ego“ (Franciscono) ist97. Klee hinterließ im Rahmen seiner Lehrtätigkeit am Bauhaus in Weimar und Dessau ein Konvolut von mehr als viertausend Seiten handschriftlicher Texte und Skizzen, die er selbst in zwei große Gruppen eingeteilt hatte: in Beiträge zur Bildnerischen Formlehre98 und die bisher nur in Teilen veröffentlichte Bildnerische Gestaltungslehre. Bis heute ist das gewaltige Konvolut Bildnerische Gestaltungslehre nur unvollständig ausgewertet und veröffentlicht (ein textkritischer Auszug dieses Materials findet sich in Paul Klee. Die Kunst des Sichtbarmachens [2000]). Im Gegensatz zu der heterogenen Textsammlung der Bildnerischen Gestaltungslehre sind die Beiträge zur Bildnerischen Formlehre eine relativ geschlossene Darstellung von Klees Kunsttheorie, wie er sie in seinen Vorlesungen der Jahre 1921/22 am Bauhaus seinen Studenten vortrug. Ich möchte mich deshalb auf eine Darstellung der wichtigsten Gedanken aus diesen Vorlesungen beschränken.99 Klee beginnt mit einer ausführlichen Darlegung des „primitivsten [graphischen] Mittels“: der Linie, die sich „nach Ansetzen des Stiftes“ aus dem Punkt entwickelt.100 Diese Überlegung hat er an verschiedenen anderen Stellen dargestellt, so dass ich mich auf die wesentlichen begrifflichen Bestimmungen beschränken kann. Klee unterscheidet ­zwischen einer aktiven, einer medialen und einer passiven Linie. Die aktive Linie könne „frei“ sein (dann gleiche sie einem „Spaziergang“), sie könne aber auch „befristet“ sein, indem sie verschiedene Punkte verbinde (dann ähnele sie einem „Geschäftsgang“). Bei der medialen Linie „umschreibt die befristete Linie Figuren der Fläche wie Dreieck und Theorie und Praxis der Kunst am Bauhaus  I  189

Viereck oder hier Kreis und Ellipse“.101 Passiv sei die Linie als Begrenzung gefüllter Flächen, als Ergebnis von „Flächen-Handlungen“. Die Linie werde in diesem Falle nicht „getan“, sondern „erlitten“.102 Einfacher formuliert: Während eine mediale Linie eine Fläche linear umreißt, ist die passive Linie das Ergebnis einer Fläche. Es folgen ausführliche Darstellungen der Perspektive, des Rhythmus, des Gleichgewichts103 von Struktur und Funktion (dargestellt an anatomischen und physikalischen Phänomenen)104 sowie von Horizontale, Vertikale und Diagonale etc. Diese Darstellungen sind programmhaft-didaktisch und enthalten nur wenig spezifische Überlegungen Klees. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang jedoch die Nähe zu Kandinskys Gedanken zu den ästhetischen Werten von Vertikale, Horizontale und Diagonale.105 Während Kandinsky die Horizontale als kalt, die Vertikale als warm und die Diagonale als Mischform bezeichnet, ist für Klee die Horizontale „episch“ und die Vertikale „dramatisch“. Klees eigenes Terrain sind dagegen seine Gedanken, die sich auf die Kunst-„Symbole“ der Spirale, des Pfeiles, des Lotes und der Waage beziehen106, sowie seine Überlegungen zur Bewegung und zur Farbe. Ich möchte mit dem Konzept der Bewegung beginnen, das vor allem hinsichtlich Klees Theorie der prozessualen Rezeption des Kunstwerks von Bedeutung ist: Allem Werdenden ist Bewegung eigen und bevor das Werk ist, wird das Werk, genau wie die Welt, bevor sie war, nach dem Wort „am Anfang schuf Gott“ geworden ist, und des weiteren wird, bevor sie in Zukunft ist [...]. Kosmisch betrachtet ist die Bewegung überhaupt das Gegebene und sie bedarf als unendliche Kraft keines besonderen energetischen Anstosses107. Die Ruhe der Dinge auf der irdischen Sphäre ist die materielle Hemmung der gegebenen Bewegung. Dies Haften auf der Erde als Norm zu nehmen ist trügerisch. Die Geschichte des Werkes, welches in erster Linie Genesis ist, kann in kurzen Zügen beschrieben werden als ein geheimer Funke von irgendwoher, welcher glimmend des Menschen Geist entzündet, des Menschen Hand bewegt und von da aus als Bewegung der Materie übermittelt wird [...]. Der Aufnehmende, welcher mit der Person des Schaffenden identisch sein kann, geht sozusagen den umgekehrten Weg. Aber auch er ist durchaus zeitlich-bewegt.108 (Hrv. Paul Klee)

Erneut taucht der Gedanke einer geheimnisvollen Inspiration des Künstlers auf („ein geheimer Funke von irgendwoher“, an anderer Stelle hatte Klee geschrieben, er sei Werkzeug eines „fernen Willens“). Allerdings ergibt sich hier die Frage: Wenn Bewegung das „Gegebene“ ist, welche Bedeutung hat dann noch der „geheime Funke“? Klees Konzept der gleichsam weltschöpferischen „Bewegung“ ist eher in der Tradition der aristotelischen Philosophie als in der christlichen „Genesis“-Lehre zu verorten. Während in Letzterer die Genesis ja am „siebten Tage“ abgeschlossen ist, ist für Aristoteles „Bewegung“ ontologisch zentral: Ursache oder Urgrund der Bewegung ist der unbewegte Beweger, d. h. Gott. Klee allerdings ersetzt den aristotelischen Gott durch den „Geist“, den „Logos“. 190  I  Von München nach Weimar

Eher kunstpraktisch entwickelt Klee aus dem Konzept der Bewegung seine Theorie der ästhetischen Rezeption. Während das Auge gezwungen ist, von Punkt zu Punkt zu gehen, hat das Gehirn die Fähigkeit, „Erinnerungsbilder aufzuspeichern und zum Ganzen zu sammeln“.109 Auf diese Weise gelangt Klee zu der amüsanten Metapher der ästhetischen Rezeption als grasendes bzw. jagendes Tier, ein Gedanke, den er in ähnlicher Form bereits in seiner Schöpferischen Konfession (1920) entwickelt hatte: Auf diese Weise tastet das Auge gleich einem grasenden Tier die Fläche nicht nur von oben nach unten, sondern auch von links nach rechts und in jeder Richtung ab, zu der ein Anlaß gegeben ist. Es begeht die Wege, die ihm im Werk eingerichtet, welches selber bewegt entstanden war und festgelegt Bewegung wurde. Es begeht diese Wege in verschiedener Art je nach der Einrichtung des Werkes. Ist das Werk mit Bestimmtheit und Festigkeit gebaut, bei sukzessiver Wert-Entwicklung, so schreitet das Auge weidend von den Werten, die es anziehen zu den Werten, die es weiter anziehen, wenn die ersten Werte schon abgegrast sind. Ist das Werk mit Bestimmtheit und Festigkeit gebaut, aber zugleich von starker Gegensätzlichkeit der Werte regiert, so bewegt sich das Auge mehr sprungweise, in der Art eines jagenden Tieres.110

Hier gilt es einem Missverständnis vorzubeugen. Zu beachten ist nämlich, dass auch hier Klees Verständnis von „Energie“ als konstitutivem Merkmal von Kunst ins Spiel kommt. Insbesondere Weiß und Schwarz seien durch eine bestimmte Energie charakterisiert, ebenso andere formale Elemente des Kunstwerks. Das Auge werde gewissermaßen durch die im Kunstwerk verkörperten Energien gereizt, es springe „auf die stärkste Energie“ (S. 60), wobei es je nach der Verteilung dieser Energien einmal „weidet“, das andere Mal „jagt“. Das zu vermeidende Missverständnis ist dabei, dass Klee durch die „Wege“ dem Auge gewissermaßen objektiv vorschreibe, wo es zu weiden bzw. zu jagen habe und damit auch die Rezeption des Kunstwerks festgelegt sei. Sicher gibt es bestimmte „Energiewerte“ des Kunstwerks, aber in welcher Weise und auf welchen Wegen der Rezipient dieselben „abgrast“, liegt in seinem subjektiven Ermessen. Auch wenn Klee anschließend schreibt, die „Funktion des Bildwerks“ sei, dass der „dem Bildwerk jeweils eigene Bewegungscharakter dem Auge und dem dahinter liegenden Aufnahmevermögen aufgezwungen wird“ (S. 59), so lässt sich daraus nicht ohne weiteres ableiten, dass Klee den Rezipienten als eine gleichsam passive und „objektive“ Kamera versteht. Dies wäre seinem Verständnis einer intuitiven, „gefühlsmäßigen“ Resonanz diametral entgegengesetzt. Wir sind – wie der Künstler selbst – eben gerade keine Kamera, sondern legen auch als Rezipienten „Schnitte“ durch die Dinge, um ins „Innere“ der Dinge zu schauen111. Diese Sichtweise wird unterstrichen durch Klees Verwendung poetisch-metaphorischer Bildtitel: Diese regen eine intuitive Resonanz an, ohne sie festzulegen. Deutlich wird dies beispielsweise an einem der Klee’schen Meisterwerke Ad marginem (1930, Farbabb. XX). Hier wird das „Auge“ durch Titel und die sich am Rande eines Sonnensymbols (im Zentrum) Theorie und Praxis der Kunst am Bauhaus  I  191

befindenden Figuren (ad marginem) dazu angeregt, sich diese näher zu betrachten. Klee selbst hat jedoch einer derartigen simplifizierenden Sichtweise einen Riegel vorgeschoben, indem er die Seitenangaben links/rechts vertauscht hat. Wollen wir uns anschauen, was wirklich links und was rechts ist, müssen wir das Bild umdrehen, wodurch wir einen ganz anders gearteten Blick darauf erhalten. Durch die Einführung eines quasi zeitlichen Moments (Bewegung durch Drehen des Bildes) regt uns Klee an, das Bild auch noch weiter­ zudrehen, um auf diese Weise zu verschiedenen Perspektiven darauf zu gelangen. Dieser Aspekt, der vorgegebene „Bewegungscharakter“ des Auges und die damit ermöglichten unterschiedlichen Perspektiven, was Klee gewissermaßen durch einen kleinen Trick (die Vertauschung von links und rechts) bildhaft verdeutlicht, besitzt noch weitergehende Bedeutung. Wir müssen nämlich bei der ästhetischen Rezeption eine „objektive“ materiale Struktur des Werkes voraussetzen, d. h., dass Blau nicht Rot ist und ein Pferd kein Haus. Dies ist im Werk für das Auge tatsächlich so „eingerichtet“. „Objektiv“ heißt dabei aber, dass es innerhalb bestimmter Grenzen eine intersubjektiv verbindliche Wahrnehmung gibt. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns überhaupt über die Realität verständigen können. Wenn wir uns nicht darauf einigen können, ob es sich z. B. um eine reale oder um eine abgebildete Pfeife handelt bzw. ob es sich überhaupt um eine solche dreht und nicht etwa um einen Regenschirm, ist eine Diskussion über ästhe­ tische Erfahrung sinnlos. „Objektivität“ schwebt nicht gleichsam über den Köpfen der Subjekte, sondern wird durch diese intersubjektiv verbindlich hergestellt. Erst vor dem Hintergrund dieser intersubjektiven Objektivität sind sinnvolle, d. h. intersubjektiv kommunizierbare Interpretationen möglich. Einen beträchtlichen Teil der Bildnerischen Formlehre widmet Klee der Ausarbeitung einer Symboltheorie. Zunächst werden die zentralen Symbole Pendel, Spirale und Pfeil von Klee in einen inneren Zusammenhang gebracht. Ausgangspunkt ist das Pendel, das sich unter bestimmten Bedingungen kreisförmig um eine Achse (Punkt C) dreht und sich dabei zentrifugal oder zentripetal bewegen kann. Die zentrifugale Bewegung kann als eine sich nach außen bewegende ­Spirale verstanden werden, die zentripetale Bewegung als eine sich nach innen bewegende. Es handelt sich also um eine Frage der Bewegungsrichtung, die durch einen nach außen oder nach innen gerichteten Pfeil angegeben werden kann: Diese Richtung müssen wir kennen, weil die von der Radiusverlängerung oder -verkürzung abhängige Frage psychisch wesentlich ist. Sie lautet: löse ich mich von Zentrum in immer freier werdender Bewegung los? Oder: werden meine Bewegungen von einem Zentrum immer mehr gebunden, bis es mich schließlich ganz verschlingt? ... Die Frage heißt nichts geringeres als Leben oder Tod. Und die Entscheidung darüber hat der kleine Pfeil.112

Auch diese Radiusbewegungen sind für Klee verbunden mit den Fragen des Dies- bzw. Jenseitigen: Die zentrumsgebundene Bewegung repräsentiert das Diesseitige, die vom Zentrum sich lösende das Jenseitige. Vom kleinen Pfeil als Symbol für Leben und Tod 192  I  Von München nach Weimar

gelangt Klee gleichsam zum „großen Pfeil“ als „Bewegungsgeschoss“. Da für Klee der „Gedanke“ der „Vater“ dieses Pfeils ist, der sich anders als Letzterer unbeeinflusst durch äußerliche Hindernisse „endlich oder unendlich“ bewegen kann, wird der Pfeil für ihn zum Symbol für die Fähigkeit des Menschen, „Irdisches und Überirdisches beliebig zu durchmessen“. Ich möchte Klees Philosophie des Pfeils noch einmal zitieren, weil hier das transzendentale Verständnis des Malers von „Irdischem“ und „Überirdischem“, Diesseitigem und Jenseitigem besonders deutlich wird: Der Vater jedes Bewegungs- oder Wurfgeschosses, also auch des Pfeils war der Gedanke: wie erweitere ich meine Reichweite dorthin? Über diesen Fluß, diesen See, über diesen Berg dorthin [...]. Der Vater ist ganz Geist, ganz Idee, eben ganz Gedanke. Seine Bewegung kann mathematisch gerade sein, unbeeinflusst von Hindernissen, reibungslos, weil körperlich ungehemmt an Länge, endlich oder unendlich. Diese Fähigkeit des Menschen geistig Irdisches und Überirdisches beliebig zu durchmessen im Gegensatz zu seiner physischen Ohnmacht, ist die menschliche Urtragik. Die Tragik der Geistigkeit. Die Folge dieser gleichzeitigen Ohnmacht des Körpers und der gleichzeitigen geistigen Beweglichkeit ist die Zwiespältigkeit des menschlichen Seins ... Je weiter die Reise von hier nach dort, desto empfindlicher die Tragik. Begründet ist sie jedoch schon in der Tatsache des Ausgangspunktes, in der Notwendigkeit, sich von einer Gebundenheit loslösen zu müssen, Bewegung werden zu müssen, und nicht Bewegung schon zu sein. Also am Anfang liegt die Tragik schon.113 (Hrv. MC)

Wann immer wir in den Bildern Klees dem Pfeil begegnen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass es sich dabei um Symbole für Leben und Tod, zugleich für das Verhältnis von Irdischem zu Überirdischem handelt. Gelegentlich (etwa in Betroffener Ort [1922, Farbabb. XXI], Betroffene Stadt [1936]) dürfen wir davon ausgehen, dass er beides zugleich bedeutet. Allerdings gehört zur „Tragik“ des zentrifugalen Pfeils auch, dass er nicht zu einer unendlichen, sondern nur zu einer endlichen Bewegung fähig ist. D. h., er ist nicht unendlich zur „kosmischen Kurve“ befähigt, die sich von der Erde entfernt, sondern fällt zurück auf den Erdball, womit er wieder zur zentripetalen Spirale wird: Er mutiert, ähnlich einem kreisenden Gestirn, das sich einem anderen immer mehr annähert, „zur bewegungsfeindlichen Spirale, zur Todesspirale, in der die Bewegungskurve enger und enger wird, was in verfänglicher Weise zum Nichts führt“114. Allein der Geist als solcher ist in der Lage, „Irdisches und Überirdisches beliebig zu durchmessen“, die romantische Unendlichkeit zu erreichen. 1924, also einige Zeit nach den Vorlesungen zur Bildnerischen Formlehre, überarbeitete Klee seine Gedanken zur Symbolik noch einmal. Obwohl er in den Notizen der Bildnerischen Gestaltungslehre noch immer mit dem Stilmittel des Symbols arbeitete (insbesondere das Symbol des „Lots“, das für das Erdgebundene, Statische und Diesseitige steht, erhält hier eine besondere Bedeutung), formulierte Klee hier auch Kritik an der Theorie und Praxis der Kunst am Bauhaus  I  193

Symbolik. Im Rahmen einer von ihm konzipierten Aufgabenstellung wollte er „Bewegung“ nicht durch Symbole – wie etwa den Pfeil –, sondern durch „Kontraste“ darstellen. Er lässt offen, wie dies genau geschehen soll, postuliert aber, dass dies auch „ohne Zuhilfenahme assoziativer Mittel“ möglich sein soll.115 Von besonderer Bedeutung ist die Bildnerische Formlehre auch deshalb, weil Klee hier seine Farbtheorie, in der er sich an Runge und Goethe116 orientierte, dargelegt hat. Klee geht vom Regenbogen aus, der nach gängiger Einschätzung aus sieben Farben besteht: Rotviolett, Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Blauviolett. Diese Darstellung erscheint Klee aus zwei Gründen „mangelhaft“: Erstens hätten wir es bei dem Regenbogen nur mit einen Halbkreis zu tun und zweitens sei die Trennung in zwei gegenüberliegende Violett-Töne fragwürdig bzw. „unstimmig“ (es „spuke“ gewissermaßen an den Rändern des Regenbogens) (ebd., S. 84). Klee löst das Problem mit der Konstruktion des an Goethe angelehnten „Farbkreises“. Die reinen Farben (die drei Primär- und drei Sekundär- bzw. Komplementärfarben) werden nicht, wie im Regenbogen, gleichsam „endlich“ angeordnet, sie müssen vielmehr symbolisch die Unendlichkeit widerspiegeln und damit kreisförmig formiert sein: Der Hauptmangel aber besteht in der Endlichkeit dieser Farbenreihe. Die reinen Farben sind eine jenseitige Angelegenheit. Das vermittelnde atmosphärische Reich ist so gütig, sie uns zu vermitteln, aber nicht in ihrer jenseitigen Form, die unendlicher Natur sein muß, sondern in einer Zwischenform. Die kosmische Angelegenheit der reinen Farben hat die ihr gemäße Darstellung auf dem Kreis gefunden. Das irdisch wahrnehmbare Erscheinen der reinen Farben im Regenbogen, welches nur Reflex einer vorerst unbekannten Totalität war, liegt nun synthetisch geformt und auf das jenseitige große Ganze bezogen vor unseren Augen als Farbkreis. Daher mag Violett als Bruchstelle des Angriffs jener Macht vermerkt bleiben, die umgekehrt die göttlichen Dinge vermenschlicht und umformt um sie uns zu offenbaren. Jener Vorgang würde sich also abgespielt haben, daß dem Farbkreis bei Violett Gewalt angetan wurde, wobei er zerriss, sich streckte und als Farbpunktreihe im Regenbogen daher marschierte (die göttliche Tragik).117

Im Gegensatz zu Goethes experimentell fundierter Naturanschauung handelt es sich bei Klee um eine intuitive und metaphysische Naturschau. Für Klee ist das Rätsel der unterschiedlichen Violetts nunmehr gelöst. Im Farbkreis stehen sich, durch ein Dreieck miteinander verbunden, die Primärfarben Blau, Rot und Gelb gegenüber. Ihre Mischungen ergeben (und zwar in der Reihenfolge Blau-Rot, Rot-Gelb und Gelb-Blau) als Komplementärfarben jeweils Violett, Orange und Grün, die sich ebenfalls zu einem Dreieck verbinden lassen. Der Farbkreis hat somit die Reihenfolge Blau, Violett, Rot, Orange, Gelb, Grün (die Reihenfolge kann natürlich auch in umgekehrter Richtung gelesen werden). Je nachdem, wie sich eine dieser Komplementärfarben in die eine oder andere Richtung bewegt, d. h. in Richtung einer benachbarten Primärfarbe, verändert sich ihr Farbwert. Tendiert das Violett mehr zum Blau, handelt es sich um Blauviolett, tendiert es mehr zum 194  I  Von München nach Weimar

Rot, wird es zum Rotviolett. Das Problem, dass sich zwei Violett-Töne auf einer Farbenreihe – wie beim Regenbogen – jeweils am Ende gegenüberstehen, taucht auf diese Weise nicht mehr auf. Es folgen in Klees Darstellungen einige Versuche, die das Phänomen der Komple-mentärfarben belegen: Betrachten wir z. B. längere Zeit eine rote Fläche und anschließend eine weiße, so verwandelt unser Auge das Rot in seine komplementäre Farbe Grün (und umgekehrt)118. Stellen wir uns weiterhin die jeweilige Primär- und Komplementärfarbe durch eine Linie verbunden vor, so können wir durch Drehung dieses Durchmessers eine praktisch unendliche Zahl von Farbmischungen erzeugen, wobei stets die beiden gegenüberliegenden Farben in einem Komplementärverhältnis stehen. Klee hat mit diesen Überlegungen aus seiner Sicht erreicht, dass die „größte Exaktheit“ der Farbbestimmungen erreicht ist. Farben lassen sich so mit „mathematischer“ Präzision bestimmen. Zugleich hat er, indem er die Farben auf einem Kreis anordnet, ein Symbol für das Unendliche, für den Kosmos gefunden. Es komme, so Klee, jedoch „noch etwas hinzu“. Die Farben klängen im Farbkreis nicht „einstimmig“, sondern „in einer Art von Dreistimmigkeit“. „Kanonartig setzen die Stimmen hintereinander ein. Bei jedem der drei Hauptpunkte (der Primärfarben) kulminiert eine Stimme, setzt eine andere Stimme leise ein und verklingt eine dritte Stimme.“ Damit will der Maler ausdrücken, dass in jeder der drei Primärfarben die beiden anderen eine Rolle spielen: „Demnach ist Grün der indirekte und mittelbare Gehalt von Blau und Gelb.“119 Klee spricht in diesem Zusammenhang vom „Kanon der farbigen Tonalität“: Er kreist dreiteilig, wobei die Gliederung bestimmt wird durch die drei Gipfelpunkte der Primären [Rot, Blau und Gelb, MC]. An diesen Gipfelpunkten ereignet sich außerdem noch das Einsetzen und Verklingen der beiden anderen hier nicht kulminierenden Primären. Zwischen den drei Kulminationspunkten aber erscheinen da, wo sich die beiden Stimmen, die eben noch kulminierende und die neu einsetzende sich zunehmend und abnehmend begegnen (wo sie gleichwertig sind) die Sekundären, in jedem Abschnitt wieder eine andere Sekundäre120.

Klee beendet seine Überlegungen mit einem didaktischen und zugleich theoretischen Hinweis. Es werde gesagt, dass keine der drei Stimmen seines Farbkanons dominieren solle, von keiner solle zu viel oder zu wenig vorhanden sein: Das ist ein sehr beherzigenswertes Gesetz, wenn man sich vor einem Schematismus hütet, der das nackte Gesetz in die Sache umsetzen will. Solche Missverständnisse führen zu Konstruktionen um ihrer selbst willen. Sie spuken in Köpfen engbrüstiger Asthmatiker, welche Gesetze geben an Stelle von Werken. Welche zu wenig Luft haben, um zu begreifen, daß Gesetze nur zu Grunde liegen sollen, damit es auf ihnen blühe. Dass man nach Gesetzen nur forscht, um Werke zu prüfen, wie sie von den natürlichen Werken um uns, von Land, Vieh und Leuten abweichen, ohne darum unvernünftig zu werden. Daß Gesetze nur gemeinsame Grundlage von Natur und Kunst sind.121 Theorie und Praxis der Kunst am Bauhaus  I  195

Diese Überlegungen waren zentraler Bestandteil des Klee’schen Bauhaus-Unterrichts. Ich möchte mich deshalb abschließend damit beschäftigen, wie dieser Unterricht vermutlich auf seine Studenten gewirkt hat. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema hat bisher meines Wissens nur Franciscono unternommen. In der Regel begnügen sich die Darstellungen des Klee’schen Unterrichts mit der Schilderung eines charismatischen und zugleich toleranten Lehrers.122 Franciscono hält zwar Klees Kunsttheorie (er bezieht sich dabei insbesondere auf Klees Vorstellung der Einheit von Kunst und Natur) insgesamt für „rational“, zumindest in dem Sinne, dass man sie nicht pauschal als „irrational“ abtun könne, hält aber die Art und Weise, wie Klee seine Überzeugung im Unterricht umsetzte, für „ultimately irrational“123. Zur Begründung seines harten Urteils führt Franciscono – neben anderen Beispielen – etwa Klees Vorstellung an, die dieser auch seinen Schülern gegenüber vertrat, dass „die Rippen [eines Blattes] als konstruktive, gliedernde Energien“124 die Form des Blattes bestimmten. Franciscono kann darin lediglich ein „poetic image of natural forces“ erkennen.125 Beispielhaft für Klees „Irrationalität“ sind seine oben zitierten Ausführungen über den Farbkreis. Klee betrachtet, wie wir gesehen haben, das Auseinanderfallen von Blauund Rotviolett im Regenbogen, als den „Angriff jener Macht [...] die umgekehrt die göttlichen Dinge vermenschlicht und umformt um sie uns zu offenbaren“. Dem Violett im Kontext des kosmischen Farbkreises wurde durch göttliche Kräfte „Gewalt angetan“ und es wird im Regenbogen in zwei verschiedene Violett-Töne aufgespaltet. Das sind in der Tat „poetische Bilder“ kosmisch-göttlicher Kräfte, intuitive Naturschau, die im Rahmen von Klees ­Naturmetaphysik durchaus vertretbar sind, die aber, ex cathedra vorgetragen, den Lehrer in die Position eines Sprachrohrs unhinterfragbarer kosmischer ­Weisheit bringen. Anders gesagt: Klee trat den Studenten mit dem autoritären Gestus metaphysischer Welterkenntnis gegenüber. Klee inszenierte vor den ­Studenten geradezu jenen mystischen Bereich, in dem der Intellekt „kläglich scheitert“. Damit ist das Problem – das Franciscono geradezu satirisch aufspießt – freilich noch nicht ad acta gelegt. Klee vertritt nämlich, wie wir gesehen haben, eine philosophische Position, die der deutschen Frühromantik, insbesondere der Schellings, nahekommt. Auch die Philosophie der Frühromantik hatte die Einheit von Natur und Mensch, von Natur und Kunst postuliert. Zentral für die Überlegung war die Vorstellung eines der Natur und dem Menschen gleichermaßen innewohnenden „Geistes“ (oder „Logos“ oder „Idee“): Die Natur ist der (noch) nicht zu sich selbst gekommene Geist. Aus heutiger Sicht klingt dies esoterisch, zur damaligen Zeit besaß die frühromantische Philosophie in ihrer Kritik des Kant’schen Systems durchaus philosophische Schlagkraft und Dignität. An die Stelle des Kant’schen unerkennbaren „An-Sich“ setzte die frühromantische Philosophie das „An-Sich“ des Subjekts in Gestalt des „absoluten Ichs“. Mit dem Gestus der Allmächtigkeit des Subjekts wurde der „Geist“ zum immanenten Prinzip des Subjekts und des Universums. Die philosophische Konstruktion dieses Gedankengebäudes – an der u. a. Hölderlin, Schelling und Novalis beteiligt waren – wirkte zur damaligen Zeit auf viele Zeitgenossen geradezu elektrisierend. 196  I  Von München nach Weimar

Aufschlussreich ist, dass sich Klee bei der Erläuterung des von Franciscono herangezogenen Blattbeispiels – allerdings nur in der Bildnerischen Gestaltungslehre – implizit auf diese frühromantische Geist-Konzeption bezieht. Er spricht nämlich präzisierend von der „gliedernde[n] Energie“, die in den Blattrippen wirkt: Es walten in dieser Gliederung Ideen und Verhältnisse der Gliederung die im kleinen ein Abbild der Gliederung des Ganzen sind.126

Es handelt sich also um Überlegungen, die fast wörtlich mit der romantischen Biologie – etwa bei Oken – übereinstimmen. Kurz darauf spricht er statt von der „Idee“ auch vom „Logos“, als der in der Natur und in der Genesis wirkenden Kraft.127 Es ist bedauerlich, dass Franciscono auf diese Stellen nicht eingeht (oder sie in dem 3800 Seiten starken Konvolut der Bildnerischen Gestaltungslehre übersieht): Er hätte damit die tieferliegenden Schichten der „Rationalität“ Klees erkannt. Verständlich bleibt freilich, dass Klee die philosophischen Hintergründe dieser romantischen Rationalität nicht ohne weiteres in seinen Unterricht einbringen konnte – man hätte ihn des Obskurantismus bezichtigt. Gleichwohl musste er deshalb auf viele seiner Studenten „ultimately irrational“ wirken – vermutlich auch auf einige seiner Bauhaus-Kollegen, wie Klee selbst schreibt: Mit den Unterstellungen von „romantik“ und „mystik“ seitens seiner Kollegen hatte er zweifellos den Nagel auf den Kopf getroffen.128 Gegen derartige Beurteilungen Klees als eines oskuren Romantikers war die publizistische Arbeit von Will Grohmann, dem langjährigen Freund Klees seit der Weimarer Zeit, in den zwanziger Jahren gerichtet. Grohmann versuchte, Klee von dem Odium des „Sonderfalles“ zu befreien und ihn vielmehr als richtungweisend für die moderne Kunst zu präsentieren. Die Ironie seines Versuchs bestand jedoch darin, dass Grohmann dann in der Nachkriegszeit wie kein anderer Klee zum Paradefall des mystischen, an der „Offenbarung“ partizipierenden Künstlers stilisierte.

Paul Klee und Will Grohmann: Kunst als mystische „Offenbarung“ Kaum jemand kannte Klee besser als Will Grohmann, mit dem Klee seit seiner Weimarer Zeit befreundet war und mit dem das Ehepaar Klee regen Kontakt pflegte. Grohmanns Klee-Biographie (1954) wurde später dann auch für lange Zeit richtungweisend für die Nachkriegsrezeption von Paul Klee. Lily Klee war der Ansicht, dass lediglich Grohmann das Werk ihres Mannes wirklich verstanden habe. „Ihre Einfühlung in Klees Wesensart und Kunstschaffen ist unerreicht.“129 Dass Klee einer anderen Person Einblick in sein Innenleben gab, ist allerdings ungewöhnlich. So schreibt er 1929 an Grohmann: Ich muß ihnen meine Bewunderung aussprechen, wie Sie mein compliziertes Innenportrait zu zeichnen wussten. Ein paar Mal war es mir, als ob Sie mir leibhaftig drinnen säßen – ein eigenes Gefühl. Und in so knapper, klarer Fassung wußten Sie alle Dinge mit Naturtreue unterzubringen.130 Paul Klee und Will Grohmann: Kunst als mystische „Offenbarung“  I  197

Grohmanns Interpretationen Klees verdienen somit – trotz ihrer apologetischen Tendenz –, ernst genommen zu werden. Mehr noch als Hausenstein war Grohmann mit der Person und dem Künstler Klee vertraut. Ich möchte zunächst auf Grohmanns einflussreiche Vorkriegsrezeption Klees und anschließend auf dessen Buch, Paul Klee, aus dem Jahre 1954 eingehen. Streng chronologisch gesehen gehört dieser spätere Text in den Kontext der Rezeption Klees in der Nachkriegszeit. Da Grohmanns Biographie jedoch zahlreiche Gedanken aus den Vorkriegsschriften wiederholt, andererseits aber auch seine Interpretation Klees signifikant verändert, erscheint es sinnvoll, beide zusammen im Hinblick auf die Mythisierung Klees zu behandeln. Seit 1924 hat Grohmann Klees Karriere publizistisch begleitet und erheblich zu dessen Erfolg beigetragen. Grohmann ist der prominenteste unter den Klee-Biographen, die dessen Stilisierung zum weltentrückten Künstler, seine Sakralisierung und „Heiligsprechung“ (Hopfengart) vorangetrieben haben. Dies war nicht von Anfang an der Fall: 1924 versucht er, das Bild des „Sonderfalles“ (ein Bild, zu dem Hausensteins Biographie erheblich beigetragen hat) bzw. „Mystikers“ (Zahn) Klee zu korrigieren, indem er ihn zu einem zentralen Repräsentanten der modernen Kunst erklärte: Paul Klee ist heute weder ein musikalisches Intermezzo noch eine mystische Konfession, noch eine exotische Provinz. Man tut ihm Unrecht, will man ihn als Sonderfall isolieren und seinen Anteil an der gegenwärtigen Kunst in Europa schmälern. Klees Werk ist, wie die Arbeiten der letzten Zeit einwandfrei belegen, kein romantischer Irrtum auf der Grenze von Weisheit und Darstellung, sondern einer der aufschlussreichsten Beiträge zur Erkenntnis der Möglichkeiten in der Malerei überhaupt.131

Grohmann weist zunächst – zu Recht – darauf hin, dass man Klee nicht unter das Etikett „Abstraktion“ subsumieren darf. Wir haben bereits gesehen, dass Klees Orientierung an der „Reduction“ ihn häufig in die Nähe dieser Abstraktion brachte, dass andererseits die Orientierung an der „Natur“ für ihn jedoch conditio sine qua non blieb: In den letzten zehn Jahren ist die Fülle seiner Gesichte so über alle Vorstellung hinaus gewachsen, daß er sich ihrer nur erwehren konnte, indem er einen Stil entwickelte, der vom Wirklichen nur das behält, was für den betreffenden Fall unentbehrlich ist.132

Grohmann konzediert, dass in manchen Arbeiten die Abstraktion so weit fortgeschritten ist, „daß schon eine ziemlich genaue Kenntnis aller Arbeiten dazugehört, um ihren Sinn zu verstehen“.133 Vehement wendet er sich dagegen, Klees Kunst aus der Musik bzw. aus Klees Musikalität abzuleiten, wie dies u. a. Hausenstein und Däubler getan ­hatten. Am Beispiel von Fuge in Rot (1921) versucht er nachzuweisen, dass der Musik und den Arbeiten Klees ganz unterschiedliche Ordnungsprinzipien zugrunde liegen. „Das Blatt ist dem Musiker tot, dem Augenmenschen, der nichts von Musik versteht, lebendig [...].“134 198  I  Von München nach Weimar

Die weiteren Überlegungen Grohmanns sind entweder wörtliche Übernahmen aus Klees Texten oder Paraphrasen derselben. Zunächst entwickelt er die These von Klees „konzentrischen Kreisen von einem Zentrum nach außen“135, eine These, die er später in seiner Biographie aus dem Jahr 1954 wieder aufnehmen wird. Damit spielt Grohmann auf Klees Vorstellung von Kunst im „obersten Kreis“ an, in dem der Intellekt „kläglich“ scheitert. Es folgen Übernahmen weiterer zentraler Aspekte der Klee’schen Kunstphilosophie: 1. Das Desiderat der „Totalisierung“ bzw. des „Totalitätsstandpunktes“, d. h. die Verortung der Kunst im Kosmos.136 2. Grohmann wiederholt wörtlich (ohne Zitatangabe) Klees Formulierungen seines berühmten Schemas Ich – Du – Erde – Welt und der „metaphysischen“ Beziehung zwischen den Komponenten des Schemas (Abb. Nr. 78).137 3. Grohmann übernimmt Klees Postulat, dass Kunst nicht das Sichtbare zu zeigen habe, sondern sichtbar machen solle: „Sichtbares bietet keinen Vergleichspunkt, vieles sollte sichtbar werden, was wir begreifen, aber nicht sehen [...]. Aufgabe der Kunst ist für ihn, das alles sichtbar zu machen; das eigentlich Sichtbare sei im Verhältnis zum Weltganzen nur ein isoliertes Beispiel, andere Wahrheiten seien latent in der Überzahl.“138 Grohmann kommt zudem das Verdienst zu, entscheidend an der Popularisierung Klees in Frankreich mitgewirkt zu haben. Er veröffentlichte eine Klee-Monographie in den Editions Cahiers d’Art und mehrere Aufsätze in der gleichnamigen Zeitschrift. 1934 vollendete er seine „Handzeichnungen von Paul Klee“, die, unmittelbar nachdem sie auf den Markt gekommen waren, von der Gestapo konfisziert und nicht mehr freigegeben wurden. In seiner nach dem Krieg verfassten Biographie (1954) revidierte er sein Klee-Bild, indem er ihn – konträr zu seiner ursprünglichen Auffassung – zum mystischen Künstler und zugleich zum Universalgenie stilisierte. Grohmann proklamierte nunmehr den „Offenbarungscharakter“139 des Klee’schen Werkes, indem er ihm eine Art mystischen Symbolismus unterstellte. Dieser Versuch ist schon deshalb problematisch, weil Klee zwar offensichtlich Symbole verwendet hat (Pfeil, Spirale, Kreis, kosmische Symbole wie Sonne, Mond, Sterne etc.), aber genau wusste, dass sich ein Kunstwerk nicht in einem engen Begriff von Symbol, in symbolischem „Schematismus“ erschöpft. In seinen Notizen zur Bildnerischen Gestaltungslehre (die Grohmann vermutlich nicht kannte) kritisiert Klee explizit die Verwendung des Symbols: Aber ein Symbol ist für sich noch keine bildnerische Gestaltung. Die Zeichen einer assoziativen Übereinkunft müssen also überwunden werden; es muss auch ohne Pfeil gehen. Aber wie?140

Dagegen schreibt Grohmann über Klees angeblichen Symbolismus: Viele seiner psychischen Energien haben den Charakter des Reliktes, sind Erinnerungen an das Uralte Dunkle, er wohnt ‚bei den Toten und den Ungeborenen‘, er kennt jenes Reich, wo aus allem noch alles werden kann, wo die Quelle der Bilder ist, jene Bilder, die eine auffallende Ähnlichkeit mit Mythologien haben, [...] Sie sind nicht eindeutig, und ihr Offenbarungscharakter nähert sie dem Paul Klee und Will Grohmann: Kunst als mystische „Offenbarung“  I  199

Symbol. Das Symbol ist ja seinerseits ein Unbegreifliches, Unerklärbares und drückt Wahrheiten aus, ohne die Wahrheit selbst zu sein (Goethe), es verhüllt und offenbart und weist auf die Grundphänomene des Seins und Werdens [...]. Das Zusammenwirken der Symbolzeichen ergibt ein Gewebe kompliziertester Art, in dem alles enthalten ist, die Sache selbst, ihr Ursprung und Werden, ihr Sinn und ihre metaphysische Bezogenheit, das Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so dass der Betrachter am Ende in den großen Schöpfungsprozeß eingeschaltet wird.141 (Hrv. MC)

Dazu ist anzumerken, dass das Symbol nicht zwangsläufig „Ursprung“ und „metaphysische Bezogenheit“ oder gar etwas „Unbegreifliches“ ausdrückt. Vielmehr ist das Symbol aufgrund seiner präsentativen Logik – anders als in der diskursiven Logik der Sprache – jeweils Verweis auf etwas „Anderes“. Die Flagge beispielsweise steht für ein Land, in der Mythologie steht Wasser für Geburt, in der gotischen Kunst Licht für das Göttliche, für Klee eine „assoziative Übereinkunft“. Grohmann versucht, ein Stück weit Klees Metaphysik nachzuvollziehen, aber mit einer Sprache, die noch geheimnisvoller raunt (das „Uralte Dunkle“, „Offenbarungscharakter“, „Grundphänomene des Seins und Werdens“) als Klees eigene Sprache. Das Symbol wird zur Chiffre einer geheimnisvollen mystischen Offenbarung, in deren Besitz Klee ist. Grohmann übersieht dabei, dass das Symbolische des Kunstwerks nicht auf spezifische Zeichen beschränkt ist, sondern dass es insgesamt symbolisch ist. Oscar Wilde hat dies auf die prägnante Formel gebracht, dass alle Kunst zugleich Oberfläche und Symbol sei. Vor dem Hintergrund seines Symbolverständnisses entwickelte Grohmann seine These des äußeren, mittleren und inneren Kreises im Werk von Klee, die er bereits in seinem Cicerone-Aufsatz von 1925 angedeutet hatte: Von Weimar aus könnte man Klees Arbeiten einteilen in solche, die sich im innersten Kreis seines Schaffens befinden, und solche, die nach der Peripherie zu liegen. Im Zentrum stehen Bilder, in denen sein Verhältnis zur Welt sinnbildlich in Erscheinung tritt, in denen das Phänomen des Bildes unauflösbar ist oder höchstens durch Vergleich mit anderen Werken oder durch Rückverfolgung des künstlerischen Prozesses auf frühere Stufen bis zu einem gewissen Grad erklärbar wird. Es sind die Arbeiten, in denen Gegenstand oder Thema von ihrer bildnerischen Entstehung und Entwicklung nicht zu trennen sind. Sie sind vorwiegend naturfern, wenn dieser Ausdruck noch zutrifft, abstrakt kann man bei Klee kaum sagen. [...] Die Bilder sind eher übergegenständlich als ungegenständlich, man könnte sie mit ihm kristallinisch nennen. In einer mittleren Gruppe tritt Gestalt und Sinn aus einem Gewebe bildnerischer Elemente und Zeichen heraus, das wohl auch in eine beträchtliche Tiefe weist, ohne gerade bis zur Symbolhaftigkeit vorzudringen. Im äußersten Kreis würden Arbeiten stehen, in denen Klee sich mit den Vorgängen des Lebens und der Natur momentan auseinandersetzt, aus der gegebenen Situation heraus und nicht so sehr vom inneren Bild her, immerhin unter dem Gesichtspunkt der Totalität, der Gesamtheit aller in Frage kommenden Dimensionen des Bildnerischen und Schöpferischen. Der Begriff der Totalität würde also für alle Arbeiten gelten.142 (Hrv. MC) 200  I  Von München nach Weimar

Grohmann nimmt von hier aus eine problematische Bewertung der Arbeiten Klees vor: Am höchsten rangieren bei ihm die „symbolischen“ Bilder des „innersten“ Kreises, während die Werke der mittleren Gruppe den Status des „Symbols“ noch nicht erreicht haben und die Arbeiten des äußeren Kreises gar situativ verhaftet bleiben. In den Werken des innersten Kreises zeigt sich das Symbolische am reinsten, was, wie er an späterer Stelle schreibt, dem „Urbild“ am nächsten kommt (ebd., S. 207). Wir sollen durch diese Bilder angeregt werden, „die Wahrheit“ zu suchen, das „Urbildliche“, das zugleich das „Absolute“ sein soll.143 Leider erklärt Grohmann weder, was das „Urbild“ noch was das „Absolute“ sein soll. Dies mag daran liegen, dass Begriffe wie „Urbild“ oder „Urgrund“ bei Klee, wie wir gesehen haben, nur mit erheblichem hermeneutischem Aufwand zu klären sind. Der Gedanke, dass es sich dabei im Wesentlichen um Anleihen bei der frühromantischen Philosophie, teilweise auch bei Goethe handelt, taucht bei Grohmann nicht auf. Betrachten wir die verschiedenen Gruppen von Bildern, die zum inneren Kreis gezählt werden, dann wird das Problem Grohmanns noch deutlicher. Vergleicht man etwa die Gruppe der „glasfensterhaften Tafeln aus farbigen Quadraten und Rechtecken, die abstrakt erscheinen und auch entsprechende Titel haben wie Harmonie, Klang, Dreigliederung, Architektur, Musik“144 (Hrv. MC), mit den „Theaterbildern“, so muss man sich die Frage stellen, worin die die erste Gruppe dieser Bilder verbindende „Urbildlichkeit“ besteht.145 Zweifellos sind Architektur (1923) oder Rhythmisches (1930), die von Grohmann als Beispiele für die erste Gruppe angeführt werden, eindrucksvolle Beispiele für die von Klee in seiner frühen Bauhaus-Zeit entwickelten Farbexperimente. Welches „Urbild“ sich hinter dem Schleier ihrer Oberfläche verbirgt, bleibt jedoch offen. Zusätzlich verwirrend wird Grohmanns Argumentation, wenn er von Klees Vorstellung des „Absoluten“ spricht und zwar in der Form, dass man sie auf alle drei Kreise beziehen kann: Klee möchte für den Ausdruck abstrakt lieber den Ausdruck ‚absolut‘ setzen, denn abstrakte Kunst könne sehr konkret und ungeistig sein, [...] das Absolute aber sei ein ‚An und für sich‘, wie das Absolute eines Musikstücks, ein Psychisches, nicht ein Theoretisches [...].146

Will Klee hier, Grohmann zufolge, zum Ausdruck bringen, dass das „Absolute“ gleichsam seine ureigenste Domäne sei und seine Malerei von ihm generell als „absolute“ Malerei verstanden wird? Dann wäre Grohmanns Dreiteilung hinfällig, einmal ganz abgesehen davon, wie man das „Absolute“ begrifflich bestimmen könnte. In ähnlicher Weise trifft das auf den Begriff der „Totalität“ zu, den Grohmann ebenfalls allen drei Kreisen zuspricht. Ich komme damit auf meine Überlegung zurück, dass „Urbild“ und „Urgrund“ bei Klee analytisch zu trennen sind. „Urgrund“ ist letztlich nur selbstreferentiell zu bestimmen, ein metaphysisches Wissen, das Klee selbst auf geheimnisvolle Weise besitzt, weil er selbst demiurgisch, „weltschöpferisch“ die Genesis weiterführt. Klees „Urbild“ dagegen ist von Goethes Morphologie des Urphänomens inspiriert, ein geistiges Konstrukt, Paul Klee und Will Grohmann: Kunst als mystische „Offenbarung“  I  201

von dem, wie etwa am Beispiel der „Urpflanze“ zu sehen ist, andere Phänomene gewissermaßen ableitbar sind. Ähnlich wie Goethe geht Klee sowohl beim „Urgrund“ als auch beim „Urbild“ von einer transzendentalen Kosmologie aus, in der Mensch und Kosmos vereint sind und der Künstler kraft seiner besonderen Fähigkeiten die Wahrheit dieser Vereinigung verstehen und zum Ausdruck bringen kann. Als Höhepunkt seiner Biographie wird Klee in den Olymp der größten Geister der Weltgeschichte gehoben und zum Universalgenie schlechthin erklärt: Der Künstler weiß alles, und bei Klee ist die Entsprechung von Ich und Welt vollständiger und lückenloser als bei jedem seiner Zeitgenossen. [...] Allein die Zusammenstellung seiner Themen ergäbe das ganze Universum, und nicht nur die Fülle der Dinge, sondern die Geheimnisse ihrer Entstehung und Entwicklung und die ihrer zahllosen irdischen und transzendenten Beziehungen. Es fehlt bei ihm kaum ein Gebiet, das dem menschlichen Geiste zugänglich ist [...]. Die Welt der Kunst selbst wird zum Thema, die Welt der Musik und der Dichtung, aber auch das gesamte Reich der exakten Wissenschaften, der Physik und Mathematik, der Geologie und Kosmologie, das Reich der Geschichte und das der reinen Erfindung.147

Damit ist Klees Heiligsprechung abgeschlossen, sie sollte noch viele Jahre das Bild Klees bestimmen, der Künstler verschwindet hinter Weihrauchschwaden. Vor dieser Verklärung als allwissender Künstler wirkt Klees Naturbild, in dem er das Wirken der Naturgesetze mit einem der Natur immanenten Geist oder „Logos“ erklärt, zwangsläufig banal. Klee verfügte, wie insbesondere seine Bildnerische Gestaltungslehre zeigt, über allenfalls rudimentäre Kenntnisse der exakten Wissenschaften, über eine intuitive Naturschau, die ihn nicht vor gravierenden Missverständnissen schützte.

Freundschaft und Auseinandersetzung mit Kandinsky Nach Marc, Hausenstein und Grohmann war Kandinsky ein weiterer bedeutender Zeitgenosse, mit dem Klee eine lange Freundschaft verband. Aber anders als Hausenstein und Grohmann wurde Kandinsky nicht zum „Zeitzeugen“, der uns ein schriftliches ­Zeugnis über Klee hinterlassen hätte. Auch der Briefwechsel zwischen den beiden Künstlern ist eher beiläufig und selbst bei Klee finden wir nur einige verstreute Hinweise auf Kandinsky, von denen sich ein erheblicher Teil auf die Schilderung von Essenseinladungen und Café-Besuchen bezieht. Demgegenüber ist jedoch der Einfluss, den Kandinskys theoretische und künstlerische Arbeiten auf Paul Klee ausübten, kaum zu überschätzen. Klee wurde 1920 ans Bauhaus berufen, 1922 folgte Kandinsky aus dem 1914 erzwungenen Exil. Die 1912 in München begonnene Freundschaft wurde fortgesetzt und vertieft. In Dessau wohnten die Familien Klee und Kandinsky im selben Meisterhaus. Zusammen unternahmen sie 1929 eine Reise nach Hendaye an der französischen Atlan tikküste, wobei Klee und Kandinsky sich in aller Bescheidenheit in der Pose von Goethe 202  I  Von München nach Weimar

und Schiller fotografieren ließen. Nach Ittens Fortgang waren Klee und Kandinsky die charismatischen Lehrer am Bauhaus, wie u. a. an zwei Karikaturen ihrer Schüler zu erkennen ist. Klee wurde – in einer Karikatur von Kállei – als Buddha dargestellt, vor dem die Schüler (genauer: die Schülerinnen) andächtig knien, Kandinsky (in einer Collage von Schlemmer) mit Punkt, Linie und Fläche gleichsam mit den „Insignien der Macht“ (Prange) versehen. Mit der zunehmenden Politisierung des Bauhauses (insbesondere unter Hannes Meyer) gerieten Klee und Kandinsky allerdings immer stärker in den Fokus studentischer Kritik, allerdings auch von Meyer selbst. In der Klee-Literatur wird in der Regel die freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden Künstlern hervorgehoben: Nachbarschaft, gemeinsame Reise, kultiviertes gemeinsames Teetrinken und künstlerische Affinität bedeuten keineswegs, dass zwischen 61  Paul Klee und Wassily Kandinsky, Hendaye, Klee und Kandinsky ungetrübte Harmonie August 1929 , Foto: Nina Kandinsky, Zentrum Paul Klee, Bern herrschte. Die Distanz kam auch dadurch zum Ausdruck, dass beide lebenslang beim „Sie“ blieben. „Klee nahm sich die beiden Kandinskys zur Zielscheibe seines Spotts und lästerte insgeheim über Ninas Naivität und Kandinskys Hang zur Großartigkeit.“148 Wir werden sehen, dass Klees Kritik an Kandinsky noch tiefer ging. Kandinskys theoretischer Einfluss auf Klee während der Bauhaus-Zeit hat sich insbesondere in Klees Beiträgen zur bildnerischen Formlehre und in Pädagogisches Skizzenbuch (1925)149 niedergeschlagen. Kandinskys wichtigster Text aus seiner Zeit am Bauhaus, Punkt und Linie zu Fläche erschien zwar später als Klees Pädagogisches Skizzenbuch (nämlich 1926), wurde aber, Kandinskys Angaben zufolge, bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs konzipiert und geschrieben. Da Kandinsky zunächst Deutschland verlassen musste, ist es verständlich, dass dieser Versuch einer „elementaren Begründung“ der „Kunstwissenschaft“ erst später veröffentlicht wurde. Aber auch die früheren Schriften Kandinskys, etwa der bereits im Almanach des Blauen Reiters veröffentlichte und für die Avantgarde richtungweisende Aufsatz „Über die Formfrage“, haben Klee nachhaltig beeinflusst. Wir können, angesichts der freundschaftlichen Beziehung und der Nachbarschaft von Klee und Kandinsky davon ausgehen, dass sich beide über die Fragen der Kunsttheorie austauschten150, können aber auch erkennen, dass sie in dieser Frage sehr unterschiedliche Wege einschlugen. Freundschaft und Auseinandersetzung mit Kandinsky  I  203

62  Wassily Kandinsky und Paul Klee, Dessau 1927, Foto: Lily Klee, Zentrum Paul Klee, Bern

Kandinsky entwickelte in seinem Text aus dem Jahre 1926, Punkt und Linie zu Fläche, einen im Vergleich zu Klee geradezu positivistischen Ansatz, der die Elemente des Zeichnerischen und Malerischen minutiös analysierte und versuchte, eine „normale“ wissenschaftliche Methode in die kunstwissenschaftliche Forschung einzuführen151. Zwar spricht auch Kandinsky von einer „schließlich“ sich ergebenden „Synthese“ des Menschlichen und Göttlichen, doch bleibt diese Synthese eine Hintergrundannahme, die nicht weiter ausgeführt wird. Bei Klee hingegen tritt uns das „Göttliche“ zumindest metaphorisch entgegen, etwa als „Urgrund“ oder als „Herz oder Hirn der Schöpfung“.152 So wie in der bekannten Formel der Schelling’schen Kunstphilosophie in der Kunst das Endliche Symbol des Unendlichen wird, wird für Klee Kunst zum „Gleichnis“ des Göttlichen. In beiden Fällen wird Kunst zum Symbol des Absoluten. In Kandinskys kunstwissenschaftlicher Elementarlehre hingegen hat das Absolute keinen Platz: Die wissenschaftliche Sprache sei „relativ“, „Absolutes kennen wir nicht“, eine Formulierung, die er später noch einmal wiederholt.153 Das hindert ihn freilich nicht daran, ähnlich wie Klee, über einen der Materie innewohnenden „Geist“ zu spekulieren. Der zentrale kunsttheoretische Begriff Kandinskys ist die Kraft als „Urquelle jeder Linie“. Kandinsky lässt offen, was er unter „Kraft“ versteht. Da er jedoch unterstellt, dass die Kunst „kosmischen Gesetzen“ unterworfen sei, dürfen wir vermuten, dass „Kraft“ mehr bedeutet als die individuelle Fähigkeit des Künstlers. Wir haben gesehen, dass im Kontext der Schelling’schen Identitätsphilosophie Geist und Materie nicht getrennt sind und gerade die Materie durch ihr innewohnende „werkthätige Kräfte“ charakterisiert ist; eine Überlegung, die selbst wiederum unter anderem auf Spinoza verweist. Kandinsky reproduziert diesen Gedanken – möglicherweise auch noch als Nachhall der Blavatsky’schen Theosophie – fast wörtlich: „So ist die tote Materie lebender Geist.“ „Kraft“ äußert sich im Kunstwerk in Spannungen, die sich, aus der Sicht Kandinskys, exakt bestimmen lassen, zugleich sind sie Ausdruck immanenter „lebendiger Kräfte“: 204  I  Von München nach Weimar

Die Mitarbeit der Kraft an dem gegebenen Material führt in das Material das Lebendige ein, das sich in Spannungen äußert. Die Spannungen lassen ihrerseits das Innere des Elementes zum ­Ausdruck kommen. Das Element ist das reale Resultat der Arbeit der Kraft am Material. Die Linie ist der deutlichste und der einfachste Fall dieser Gestaltung [...] So ist die Komposition nichts weiter als eine exakt-gesetzmäßige Organisierung der in Form von Spannungen in den Elementen eingeschlossenen lebendigen Kräfte.154 (Hrv. im Original)

Bereits hier wird die Doppelstruktur der Kandinsky’schen Argumentation deutlich: einerseits eine quasi positivistische „exakt-gesetzmäßige Organisierung“ von Spannungen, andererseits der Rekurs auf die Vorstellung lebendiger, gleichsam beseelter „Elemente“ der Kunst155. Eine derartige Bestimmung der Komposition als „gesetzmäßige“ Organisation von „Spannungen“ wäre für Klee kaum denkbar. Ziel der Komposition ist für Klee vielmehr die Konstruktion kosmischer Totalität als Ausdruck des Absoluten. In den Notizen zur Bildnerischen Gestaltungslehre nennt Klee deshalb seinen „Stil“ auch „kosmogenetisch“.156 Kunst ist nicht nur „Gleichnis“, sondern darüber hinaus Nachvollzug der Schöpfung. Allerdings wird in den aus dem Jahre 1924 stammenden Notizen seiner Bildnerischen Gestaltungslehre, insbesondere in den Teilen Wege zur Form157 und Bildnerische Mechanik158 und der dort behandelten „Spannung“ von Statik und Dynamik deutlich, dass mittlerweile auch für Klee das Konzept der „Spannung“ relevant geworden ist.159 Um den gleichsam positivistischen Aspekt seiner Überlegungen auf die Spitze zu ­treiben, fährt Kandinsky fort, dass jede Kraft „ihren Ausdruck in der Zahl“ finde160. Dies wird insbesondere in Kandinskys Ausführungen zur „Grundfläche“ deutlich. Ausgehend von unterschiedlichen Wertigkeiten der unteren und oberen Horizontalen der Grundfläche sowie der linken und rechten Seitenlinien gelangt Kandinsky zu einer „exakten“ Berechnung der „Gewichte“ der einzelnen Flächenteile (z. B. der in vier unterschiedlich gewichtete Quadranten aufgeteilten Grundfläche). Zeitdiagnostische Probleme, die für Kandinsky 1912 noch in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst eine zentrale Rolle spielen, sind in seiner neueren Arbeit dagegen von untergeordneter Bedeutung.161 Derartige Fragen der Gewichtung sind allerdings auch Klee nicht fremd: ­Farben und Formen können unterschiedliche Gewichte haben und müssen in ein Gleichgewicht gebracht werden, wie er insbesondere in der Bildnerischen Gestaltungslehre ausführt. Klees zentraler kunsttheoretischer Begriff ist dagegen die Bewegung. „Bewegung“ ist für Klee kosmisch und in der Genesis fundiert: „Bewegung liegt allem Werden zugrunde“, schreibt er 1920 in seinem Beitrag zum Sammelband Schöpferische Konfession. Auch Kandinsky kennt natürlich die „Bewegung“: Die Linie entsteht aus dem Punkt, aus der Bewegung, deren Ursache die „Kraft“ ist ([1926/1955], S. 57), wobei, wie gesagt, der Begriff der Kraft unscharf bleibt. Allerdings bleibt Klees Bestimmung der vom Punkt ausgehenden Bewegung ähnlich vage wie Kandinskys „Kraft“. Klee rettet sich gleichsam in Metaphern: Der Punkt habe – wie der Samen oder das Ei – „concentrischen Urcharakter“, er sei „kosmogenetisches Moment“ oder „Idee allen Anfangs“.162 Freundschaft und Auseinandersetzung mit Kandinsky  I  205

63  Wassily Kandinsky, Schwarze Beziehung, 1924, Aquarell und Feder, 14,5 x 14,5 cm, The Museum of Modern Art, New York, Aquired through L.P. Bliss Bequest

Im Kern verweist Kandinskys Kunsttheorie jedoch auf „exakt-gesetzmäßige“, letztlich zahlenmäßig erfassbare Kompositionsmerkmale, Klees Theorie dagegen auf die „kosmogenetische“, weltschöpferische Tätigkeit des Künstlers. Zahlenverhältnisse tauchen zwar auch bei Klee auf (etwa bei der Darstellung rhythmischer Strukturen oder beim „goldenen Schnitt“), sind aber theoretisch von untergeordneter Bedeutung. Als endlicher Ausdruck des Unendlichen, als „Gleichnis“ der Schöpfung beansprucht jedes Bild Klees letztlich die Dignität des Absoluten, während Kandinskys Bild an den Kriterien von Spannung und Zahl gemessen werden will. Zwar spricht auch Kandinsky vom „Urelement“ oder vom „Urklang“ der künstlerischen Elemente. Er meint damit jedoch empirische Phänomene wie etwa den isolierten oder den zentral auf einer Fläche positionierten Punkt. Allerdings treffen Kandinskys wissenschaftlich-methodische Überlegungen seines Textes aus dem Jahre 1926 (die möglicherweise auch eine Konzession an den neuen funktionalistischen Geist des Bauhauses waren) nicht den Kern seiner Vorstellung von der missionarischen Aufgabe der Kunst. Hier muss auf seine früheren Schriften, Über das Geistige in der Kunst (1912) und den im selben Jahr im Almanach Der Blaue Reiter erschienenen Aufsatz „Über die Formfrage“, zurückgegriffen werden, an denen sich auch das Verhältnis Kandinskys zu Klee weiter verdeutlichen lässt. Kandinskys Ausgangspunkt in Über das Geistige in der Kunst war eine Zeitdiagnose – zeitdiagnostische Überlegungen waren Klee bekanntermaßen fremd –, die einen allgemeinen geistigen und seelischen Niedergang beklagt: Unsere Seele, die nach der langen materialistischen Periode erst im Anfang des Erwachens ist, birgt in sich Keime der Verzweiflung, des Nichtglaubens, des Ziel- und Zwecklosen. Der ganze Alpdruck [!] der materialistischen Anschauungen, welche aus dem Leben des Weltalls ein böses Spiel gemacht haben, ist noch nicht vorbei. Die erwachende Seele ist noch stark unter dem Eindruck dieses ­Alpdrucks. Nur ein schwaches Licht dämmert wie ein einziges Pünktchen in einem enormen Kreis des Schwarzen.163 206  I  Von München nach Weimar

Es kann offen bleiben, worauf sich Kandinsky im Einzelnen bei dieser „Diagnose“ stützte. Eine gewisse Nähe zu Worringers und Marcs Überlegungen wird sichtbar, aber auch zur Theosophie von Blavatzky und Steiner. Die mentale und soziale Struktur der Gesellschaft verglich Kandinsky mit einer Pyramide (oder einem Dreieck – ein Bild, das Kandinsky vermutlich aus der Theosophie übernommen hat), die er in verschiedene Abteilungen oder Schichten unterteilte und an dessen Spitze letztlich nur noch ein Mensch steht. Erstaunlicherweise kann sich diese Pyramide bewegen, z. B. in Richtung gesellschaftlichen Fortschritts. Auf die Details dieser esoterischen „Gesellschaftstheorie“ muss hier nicht näher eingegangen werden. Beispielhaft sei die unterste und größte „Abteilung“ erwähnt: Sie besteht aus einer skurrilen Mischung von Atheisten, Volksvertretungsanhängern, Republikanern und Sozialisten. Auch die Bewohner der nächsten Abteilung kommen nicht viel besser weg, denn sie unterscheiden sich von der untersten Schicht allenfalls dadurch, dass sie ihre Ignoranz durch „fremde Worte“ und „viele Zitate“ begründen können (offenbar dadurch, dass sie zu viele „politische Leitartikel“ lesen, ebd., S. 36). Soziologisch gesehen ist dies abstrus, so wie wir leider bei vielen Künstlern derartige selbstgestrickte Gesellschaftstheorien finden – der wegen seines angeblichen Irrationalismus geschmähte Beuys machte sich später darüber lustig. Wichtiger ist jedoch, dass Kandinsky dem Künstler vor diesem düsteren Hintergrund eine bedeutende, vielleicht sogar die zentrale Rolle der Veränderung zuschrieb. Auch die Theosophie, „eine der größten geistigen Bewegungen“, der er positiv anrechnete, dass sie sich mit spiritistischen Phänomenen beschäftigt, gleichsam als Widerpart des Materialismus (eine Einschätzung, die Marc möglicherweise von Kandinsky übernommen hatte), trage zur Veränderung bei, letztlich aber seien es die Künstler, die den nach „geistigem Brot“ Hungernden Nahrung böten. Derartige Überlegungen sind Klee, den Politik und Gesellschaft „innerlich“ nichts angingen und der sich lieber dem „Jenseitigen“ zuwandte, völlig fremd. Auf diese Weise soll der Künstler eine zentrale, ja geradezu missionarische und „heilige“ Rolle übernehmen: Er müsse – wie Kandinsky vor allem im letzten Kapitel seines Textes ausführte – entscheidend zur geistig-moralischen Veränderung der Gesellschaft beitragen. Entscheidend sei das „Was“, nicht das „Wie“. L’art pour l’art ist Kandinsky ein Gräuel, schlimmer noch: ein „Verbrechen“. Die Malerei ist eine Kunst und die Kunst im ganzen ist nicht ein zweckloses Schaffen der Dinge, die im Leeren zerfließen, sondern eine Macht, die zweckvoll ist, und muß der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen – der Bewegung des Dreiecks. Sie ist Sprache, die in nur ihr eigener Form von Dingen zur Seele redet, die für die Seele das tägliche Brot sind, welches sie nur in dieser Form bekommen kann. [...] In erster Linie soll dann der Künstler die Lage zu ändern versuchen, dadurch daß er seine Pflicht der Kunst gegenüber anerkennt und sich nicht als Herr der Lage betrachtet, sondern als Diener höherer Zwecke, dessen Pflichten präzis, groß und heilig sind. [...] Freundschaft und Auseinandersetzung mit Kandinsky  I  207

Der Künstler muß etwas zu sagen haben, da nicht die Beherrschung der Form seine Aufgabe ist, sondern das Anpassen dieser Form dem Inhalt.164 (Hrv. Kandinsky)

Hier klingt deutlich Adornos Diktum an, dass Form „sedimentierter Inhalt“ sei.165 Damit würde auch für Kandinsky eine weitere zentrale ästhetische Kategorie Adornos zur Geltung kommen (ohne dass Kandinsky dies vermutlich beabsichtigte): das „Bewegungsgesetz“ als immanentes Formgesetz der Kunst. Kunst, so Adorno, sei stets am „Anderen“ der Kunst, in ihrer Beziehung beispielsweise zu den historisch variablen gesellschaftlichen Verhältnissen zu messen166. Dem trägt Kandinsky, wenn auch in Gestalt einer esoterischen Soziologie, in seiner Zeitdiagnose Rechung. Kunst erhält bei Kandinsky die „Aufgabe“, ihre Form diesem Inhalt anzupassen. Hier wird deutlich, dass in der Theorie Kandinskys „Bewegung“ (Bewegung des „Dreiecks“, der sozialen Pyramide, ist für ihn ja letztlich Ziel der künstlerischen Arbeit) im Prinzip als soziologisch-historische Kategorie verstanden werden kann, während „Bewegung“ bei Klee eine kosmologische Kategorie ist. Selbstverständlich, fährt Kandinsky fort, gehe es nicht darum, „gewaltsam in jedes Werk einen bewussten Inhalt hineinzupressen oder diesen erdachten Inhalt gewaltsam künstlerisch zu bekleiden“. Es gehe vielmehr um die „Erziehung der Seele“, damit letztlich aber auch um gesellschaftliche Veränderung. Erfülle der Künstler diese Aufgabe, dann trage er zum „Neubau des neuen geistigen Reiches“, zur „Epoche des großen Geistigen“ bei. Ein derartiger missionarischer Eifer wäre für Klees skeptische „Weltanschauung“ undenkbar.

Exkurs: Der „innere Klang“. Kandinsky und Kants Ästhetik Wie kann es dem Künstler gelingen, zur „Verfeinerung“ der Seele und durch diese zum „großen Geistigen“ beizutragen, wenn im Vordergrund weder die Form noch beliebige bewusste oder erdachte „Inhalte“ stehen sollen? Kandinsky entwickelte zur Lösung dieser Frage eine Argumentation, die an Kants Kritik der Urteilskraft angelehnt ist und, wie eine Reihe von Begriffen bei Kandinsky nahelegt, implizit auf Kants transzendentale Begründung des Ästhetischen zurückgreift. Dieser Zusammenhang ist bisher kaum erkannt worden. Der Inhalt, den die Formen ausdrücken, liege in den Formen selbst begründet, in ihrer inneren Bedeutung oder, wie Kandinsky stets betont, in ihrem „inneren Klang“: im „Klang“, der „Temperatur“ und der inneren Kohärenz der Formen und Farben. Der innere, nicht an den äußeren Gegebenheiten (etwa der illustrativen Abbildung) orientierte Gehalt der Formen spreche die Seele an, versetze sie in „Vibrationen“. Am deutlichsten komme der innere, geistige Gehalt der Formen in der Abstraktion zum Ausdruck, da sich die Kunst hier am radikalsten von der äußeren Bedeutung losgelöst habe, obwohl Kandinsky 1912 selbst argumentierte, dass die Kunst noch nicht so weit sei, um dieses Postulat vollständig zu realisieren. Neben der „Großen Abstraktion“ sei auch die „Große Realistik“ in der Lage, den „inneren Klang“ auszudrücken. 208  I  Von München nach Weimar

Wie kam Kandinsky zu seiner Überzeugung des „inneren Klangs“, die ihm häufig den Vorwurf des Irrationalismus eingebracht hat?167 Kandinsky ging von Spekulationen aus, die er möglicherweise der Theosophie Blavatsky entlehnt hatte, die aber ebenfalls auf die frühromantische Philosophie verweisen – die wechselseitige Durchdringung des Materiellen und des Geistigen: Die Welt klingt. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen. So ist die tote Materie lebender Geist.168

Die bereits erwähnten, in den „Elementen“ der Kunst „eingeschlossenen lebendigen Kräfte“ und Kandinskys Vorstellung von den in der Kunst wirkenden „kosmischen Gesetzen“ stehen ebenfalls in diesem Zusammenhang. Damit befand sich Kandinsky wiederum in der Nähe Klees, denn auch dieser sprach von einem „Logos“, einer „Idee“, die den Kosmos vergeistige169. Möglicherweise wurde Klee von den Gedanken Kandinskys – oder umgekehrt – beeinflusst. Wir haben allerdings gesehen, dass Klees häufige Verweise auf die Romantik einen theosophischen Hintergrund dieser Überlegungen unwahrscheinlich machen, so dass es naheliegender ist, dass Klee und Kandinsky sich über die philosophischen Fragen der Frühromantik austauschten. Derartige am „inneren Klang“ orientierte Formen sind Kandinsky zufolge „zweckmäßig“, um die Seele in „Vibration“ zu versetzen. Zweckmäßigkeit ist auch ein zentraler Begriff der Ästhetik Kants, ein Prinzip a priori, das unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit gewährleisten soll, zu einem „reinen“ apriorischen ästhetischen Urteil zu gelangen, d. h. einem Urteil, das weder theoretisch noch moralisch noch am bloß sinnlichen „Angenehmen“ orientiert ist. Diese Distanz zum theoretischen, moralischen und sinnlichen Urteil ermögliche ein eigenständiges „interessefreies“ ästhetisches Urteil und begründet damit den Gegenstand des Ästhetischen. Zweckmäßigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang: Das Kunstwerk ist subjektiv „zweckmäßig“ für das harmonische Zusammenspiel von Anschauung und Begriff,170 ein Zusammenspiel, das konstitutiv ist für das positive ästhetische Urteil. Zweckmäßigkeit begründet somit gegenüber dem theoretischen, moralischen oder sinnlichen Urteil einen eigenständigen Urteilsbereich, ein Reflexionsurteil: Ein Gegenstand ist für unser ästhetisches Urteil subjektiv zweckmäßig, wenn er, Kant zufolge, Einbildungskraft und Verstand, Anschauung und Begriff in ein „harmonisches“ Verhältnis bringt, was zur Folge hat, dass wir den Gegenstand als „schön“ empfinden. Anders ausgedrückt: Wenn wir uns aller kunstfremden Urteile enthalten, käme das für alle geltende Prinzip a priori der Zweckmäßigkeit zum Tragen und wir könnten im Prinzip Urteile fällen, die für jedermann gültig sind – weshalb Kant klugerweise zur Absicherung seiner Konstruktion zusätzlich den Begriff eines ästhetischen „Gemeinsinns“ (sensus communis) einführte. Kant unterstellte also, dass es für den ästhetischen Gegenstand, den wir als „schön“ empfinden, eine Art Passungsverhältnis von Anschauung und Begriff gibt, das für alle Subjekte gleichermaßen gilt. Streiten wir also über ein ästhetisches Urteil, so bedeutet dies nicht, wie Kant in seiner „Antinomie des Geschmacks“ ausführt171, das Prinzip a priExkurs: Der „innere Klang“. Kandinsky und Kants Ästhetik  I  209

ori in Frage zu stellen, es bedeutet vielmehr, dass wir es unterschiedlich anwenden oder dass es nicht zum Tragen kommt, weil wir es beispielsweise durch kunstfremde Motive gleichsam außer Kraft gesetzt haben. Es ist in der Literatur häufig darauf hingewiesen worden, dass Kant erhebliche Mühe hatte, ein derartiges „harmonisches“ Verhältnis von Anschauung und Begriff genauer zu bestimmen. Weder darf die Anschauung durch sinnlich-angenehme Empfindungen gleichsam kontaminiert sein (diese dürfen weder „Reiz“ noch „Rührung“ auslösen), noch dürfen Begriffe oder Moral dominieren. Kant ließ offen, wie ein derart minimalistisches „harmonisches“ Verhältnis möglich sein könne. So ist es nicht verwunderlich, dass Kant im Bereich der bildenden Kunst zur Veranschaulichung eines interessefreien ästhetischen Urteils häufig geradezu banale Gegenstände wählt („Ziergärten“, „Stubenverzierungen“, „barockes Ameublement“ etc.).172 Kandinsky hat Kant zumindest in einem Punkt zu Ende gedacht, indem er Zweck­ mäßigkeit am inneren Wert von Formen und Farben (die synästhetisch wahrgenommen werden können, d. h. zugleich Hör-, Seh-, Tast- und Geschmackssinn affizieren) festmacht, weil durch eine derartige ästhetische Erfahrung weder die gröberen „materiellen Gefühle (Liebe, Angst etc.)“173 noch Begriffe evoziert werden. Kants „interesseloses“ ästhetisches Urteil wird von Kandinsky durch die reine ästhetische Erfahrung der inneren Werte von Form und Klang präzisiert, die damit imstande ist, „feinere seelische Vibra­ tionen“174 zu „verursachen“. Kandinsky kann das Problem der „Interesselosigkeit“ der sinnlichen Erfahrung (qua „Anschauung“) dadurch lösen, dass er sie auf die Erfahrung der „reinen“ Inhalte der Formen und Farben bezieht. Ungeklärt bleibt damit allerdings das Problem der von Kant supponierten Allgemeingültigkeit des ästhetischen aprio­ rischen Urteils. Nicht ganz zu Unrecht wurde Kandinskys Konzept der Synästhesie (etwa der Kongruenz von Formen und Farben), das eine derartige Allgemeingültigkeit unterstellt, der Willkür bezichtigt, u. a. von Hannes Meyer. Philosophisch gesehen hat ­Kandinsky ein schlüssiges idealistisches Konzept von Ästhetik (eines unter vielen mög­ lichen) vorgelegt. Ob freilich die Aktivierung der feineren seelischen „Vibrationen“ tatsächlich die Bewegung der gesellschaftlichen „Pyramide“ befördert, darf bezweifelt werden. Wie bei Kant ist auch für Kandinsky Ästhetik Rezeptions- und Produktionsästhetik zugleich. Während jedoch bei Kant in beiden Bereichen das Prinzip der Zweckmäßigkeit gleichermaßen gilt, nimmt Kandinsky hier eine Differenzierung vor. Theoretisch hätte er ähnlich verfahren können wie Kant. Wenn Kandinsky jedoch produktionsästhetisch argumentiert, wechselt er das theoretische Terrain: Hier geht es ihm nunmehr nicht mehr nur um die „innere Notwendigkeit“, mit der durch Form und Farbe die „Seele“ affiziert wird, sondern zugleich um die innere Notwendigkeit (a) des Künstlers selbst, (b) der einer Epoche und (c) der der Kunst selbst, das „Element des Rein- und Ewigkünstlerischen“175, wobei er alle drei Elemente als „mystische Notwendigkeiten“ bezeichnet. Leider führt Kandinsky nur wenige Beispiele der „inneren Notwendigkeit“ als eines formalen, reinkünstlerischen Prinzips an, die über die bekannten Beispiele von Quadrat, Kreis und Dreieck hinausgehen.176 Es wird deutlich, dass innere Notwendigkeit als formales 210  I  Von München nach Weimar

Prinzip und als Prinzip des Künstlers nicht ohne weiteres kongruent sind. Ein Künstler kann aus „innerer Notwendigkeit“ etwas schaffen, auch wenn es einer formalen inneren Notwendigkeit keineswegs entspricht, was Kandinsky in anderen Zusammenhängen durchaus billigt. Zu welcher Erkenntnis hat uns dieser Exkurs verholfen? Zum einen wurde deutlich, dass das Problem der ästhetischen Theorie Kandinskys nicht etwa in dessen Neigung zu Theosophie und Okkultismus liegt, wie ihm u. a. die russischen Kollegen aus dem Kreis der Konstruktivisten vorwarfen. Das Problem besteht vielmehr darin, dass Kandinsky versucht, eine formale und subjektive innere Notwendigkeit einerseits und eine „ewig-objektive“ Notwendigkeit andererseits auf einen Nenner zu bringen, was nur mit der Unterstellung eines quasihegelianischen Kunstverständnisses funktioniert, wodurch es ein fortschreitendes Zu-sich-selbst-Kommen der Kunst durch Entfaltung eines objektiven Prinzips der Kunst gibt. Andererseits zeigt sich, wie sehr sich Klees Kunstverständnis von Kandinskys Kunsttheorie unterscheidet. Trotz aller esoterischen Anspielungen ist Kandinskys Theorie im Kern säkular. Sie unterstellt hegelianisch das Wirken eines ästhetischen Weltgeistes, in dessen Dienst der Künstler steht und der dessen Fortschreiten beschleunigen kann. Klee hingegen rekurriert auf die Pseudo-Transzendenz einer kosmogenetischen Totalität, die bei Klee, wie wir gesehen hatten, letztlich selbstreferentiell bestimmt ist: durch Rückbezug auf die eigene Person, das „göttliche Ich“ des Künstlers. Der Künstler trägt als „Mitlenker der Weltschöpfung“177 die Genesis weltschöpferisch in sich selbst. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass auch Kandinsky, einer der wenigen engen Freunde Klees, zwangsläufig Gegenstand Klee’scher Kritik werden musste. Wir erhalten davon zwar nur indirekt Kenntnis, durch eine Vorlesungsmitschrift von Petra Petitpierre, die jedoch, wie wir noch sehen werden, als zuverlässige Quelle gelten darf. Aus den Notizen Petitpierres zu einer Düsseldorfer Vorlesung Klees (möglicherweise hätte dieser es in Dessau, in Anwesenheit Kandinskys, nicht auf dieselbe Weise formuliert) erfahren wir: Wenn Kandinsky lacht, dann hat er etwas sehr Gewaltiges an sich, es dröhnt dann. Er hat eine Gestalt wie Jupiter [...] Seine Musik hätte etwas Barbarisches, wenn er sie spielen würde. Aber Kandinsky hat den Mut gehabt zum Neuen, das hat auch mir Mut gegeben. Dieser Mut ist zu bewerten. Eine Verwandlungskraft hatte er allerdings nicht.178

Das klingt auch deshalb authentisch, weil wir diese Art subtiler Entwertung – bei gleichzeitigem Lob – auch bei anderen Künstlerfreunden Klees gefunden haben. Kandinsky ist Klee zufolge demnach auf eine bestimmte Art abstrakter Kunst festgelegt, während er, Klee, für sich „Verwandlungskraft“ in Anspruch nimmt. Dabei handelt es sich nicht um eine Art „Legendenbildung“, der Klee selbst aufgesessen ist, wie Prange annimmt.179 Auch wenn Klee 1925 von den Surrealisten – trotz erheblicher Differenzen der künstlerischen Position – gleichsam kooptiert wurde, bedeutet dies nicht, dass Klee die Vorstellung seiner eigenen Verwandlungsfähigkeit daraus ableitete. Exkurs: Der „innere Klang“. Kandinsky und Kants Ästhetik  I  211

Wahrscheinlicher ist, dass Klee eine entsprechende Formulierung seines Bewunderers Carl Einstein aufgreift, der gerade Anfang der dreißiger Jahre Klee diese Verwandlungsfähigkeit bescheinigt hatte: Klee gab der deutschen Kunst eine wichtige Wendung. Endlich löste man sich aus der negativen Phase der Objektzerstörung. Anscheinend musste man, um hierzu zu gelangen, die neutrale Zone des ornamentalen, gegenstandslosen Bildens durchlaufen. Mit Klee wird ein menschlich ­wichtiges Problem erhoben, nämlich das der Verwandlung und Neubildung der Welt durch den Menschen.180

Realiter geht es bei dem Problem der „Verwandlungskraft“ um zwei unterschiedliche grundsätzliche Kunstauffassungen. In gewissem Sinn hatte Klee Recht mit der Behauptung seiner Verwandlungskraft, wenn man sein zentrales Axiom des „Totalitätsstandpunktes“ in Betracht zieht. Wie wir gesehen haben, hatte Klee spätestens 1924 sein grandioses Konzept „weltschöpferischen“ Schaffens formuliert, wozu nicht nur die thematische, sondern auch die stilistische Verwandlungskraft gehört. Stil ist für Klee nie etwas Fixes, nicht einmal etwas für eine bestimmte Schaffensphase Festgelegtes, wie insbesondere seine Arbeiten aus der Bauhaus-Zeit zeigen, sondern Resultat seiner kosmogenetischen „Weltanschauung“: „Weltanschauungskomplexe sind die höchsten Ordnungen, über allem stehend, während die spezifischen Stilgebiete sich unterordnen.“181 „Stil“, das ist Klee selbst, sein Innerstes, „Ich bin mein Stil“. Dies ist keine Bewertung der Kunst Klees und Kandinskys, sondern zeigt die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Künstler: eine säkulare, gleichwohl visionäre, auf gesellschaftliche Veränderung angelegte bei Kandinsky, eine kosmogenetisch-metaphysische bei Klee.

Werke aus der Bauhaus-Zeit: konstruktiv, phantastisch, surreal Eine Klassifikation von Klees Bildern aus seiner Bauhaus-Zeit stößt auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten – aus dem einfachen Grund, dass Klee zu keiner anderen Zeit seines Schaffens so unterschiedliche Bilder geschaffen hat wie in der Zeit zwischen 1921 und 1930. Seine Werke zeugen von einer geradezu überbordenden Phantasie und Kreativität, so dass man manchmal Mühe hat, die Bilder tatsächlich einem Maler zuzuordnen. Dies erweckt den Eindruck, als wolle Klee gerade in seiner Bauhaus-Zeit seinen Anspruch auf kosmische Totalität verwirklichen. Sehr vereinfachend gesagt, gibt es in dieser Zeit zwei fundamentale Tendenzen: eine konstruktiv-geometrisierende und eine phantastisch-surrealis­tische. Grohmanns Klassifikationsansatz ist nicht haltbar, weil er versucht, Hete­rogenes unter dem Dach der irrationalen Prämisse symbolischer und zugleich metaphysischer „Kreise“ zu vereinen, die nicht dem Klee’schen kosmologischen Verständnis von Metaphysik entspricht. Überzeugender wirken die Versuche, die Geelhaar (1972) und Glaesemer (1976) unternommen haben, aber auch sie ­stoßen bei dem Versuch, das Werk Klees aus dieser Zeit zu systematisieren, an ihre Grenzen. 212  I  Von München nach Weimar

Ähnlich wie bis 1914 spielte auch in der Bauhaus-Zeit die Farbe für Klee eine zentrale Rolle. Während er sich 1914 auf seiner Tunesienreise „gefühlsmäßig“ und symbiotisch mit der Farbe vereinigte, versuchte er nunmehr, wie seine differenzierten Ausführungen zur Farbe zeigen, sich analytisch und systematisch mit dem Phänomen Farbe auseinanderzusetzen. Bereits 1921 schreibt er an seine Frau: „Die Tonalität der letzten Aquarelle suche ich jetzt auf zwei Farben streng aufzubauen, nicht mehr rein gefühlsmäßig. Und die Form geht streng mit der malerischen Form, sozusagen melodisch.“182 Ich möchte meine Ausführungen deshalb vorrangig auf das farbige Werk aus der Bauhaus-Zeit richten, weil sich hier Klees künstlerische Entwicklung am deutlichsten aufzeigen lässt. Meisterwerke dieser Zeit, in denen sich die Tendenzen von Klees damaligem Schaffen exemplarisch zeigen, sind Eros (1923, Farbabb. XXIV) und Ad marginem (1930), wobei Eros eher der konstruktiven, Ad marginem (Farbabb. XX) eher der phantastischen Tendenz zugeordnet werden kann. In die Richtung des Surrealen verweist dagegen Angelus Novus (1920, Farbabb. XXIII). Eros gehört zu einer umfangreichen Gruppe von Bildern, in denen Klees konstruktives Experimentieren mit Farbe und Form am deutlichsten hervortritt. Auch Bilder wie Scheidung. Abends (1922) und Doppelzelt (1923) gehören farblich und konzeptionell zu dieser Gruppe. Hier werden auch der Einfluss der Klee’schen Farbenlehre und das Verhältnis zwischen den Primär- und Komplementärfarben und deren Übergängen, gleichsam also Farbbewegungen, deutlich. Ad marginem hat auf den ersten Blick nicht das Geringste mit Eros tun. Um eine rote Sonne im Mittelpunkt (man könnte an den altägyptischen Sonnengott Aton denken) gruppiert sich an den Rändern (ad marginem) eine phantastische Tier- und Pflanzenwelt. Beiden Bildern gemeinsam ist jedoch der Bezug zur Weiterentwicklung von Klees Raumkonzeption in der Bauhaus-Zeit. Tendenziell „surreal“ ist Angelus Novus, weil die schielende Figur mit ihren Pseudo-Flügeln und scharfen Krallen kein Engel, sondern eine Engel-Parodie ist, eine Mischung aus „Kind und Menschenfresser“, wie es Benjamin einmal formuliert hat. Unbestreitbar gibt es darüber hinaus eine Reihe von Bildern, die auch mit diesem Systematisierungsversuch nicht zu fassen ist, etwa der populäre, massenhaft auf Kalendern und Postkarten reproduzierte Goldfisch, ein verspieltes Farbe-Form-Ensemble. Ich möchte mit der Gruppe der „surrealistischen“ Bilder beginnen, weil hier Klees „Verwandlungsfähigkeit“ am deutlichsten sichtbar wird und er spätestens mit seiner großen Ausstellung 1928 bei Flechtheim – u. a. von Carl Einstein – als angeblich führender surrealistischer Künstler gefeiert wurde. Bei der legendär gewordenen Ausstellung La peinture surréaliste 1925 war Klee mit einer Reihe von Bildern vertreten und wurde schon früher von den Surrealisten begeistert rezipiert.183 Im Katalog der Flechtheim-Ausstellung 1928 findet René Crevel poetische Worte zu Klee: Guten Tag kleine Kreaturen mit dem unendlichen Blick, Algen ohne Gestein, Dank euch, Wesen, Vegetationen, Dinge, die der übliche Boden nicht stützt und die ihre euch dennoch in eurer unberührbaren Überwirklichkeit [...] widerstandsfähiger und wirklicher erweist als unsere Häuser, Gaslampen, Cafés und das Fleisch unserer alltäglichen Liebe [...].184 Werke aus der Bauhaus-Zeit: konstruktiv, phantastisch, surreal  I  213

Klee gefiel das vermutlich. Obwohl er in den Ausstellungen von 1925 und 1928 als führende Figur des Surrealismus präsentiert wird, ist sein Verhältnis zum Surrealismus ausgesprochen ambivalent. Meiner Meinung nach können jedoch einige seiner Bilder als „surrealistisch“ bezeichnet werden. Ein Bild etwa wie Siebzehn, irr (1923) mit seinen beiden pathetischen, comicartig gemalten Gesichtern und seinen verqueren Blickachsen könnte der Phantasie eines Dalí oder Max Ernst entsprungen sein185 – es ist auch als Darstellung einer „amour fou“ interpretiert worden.186 Ob man Bild aus dem Boudoir (1922) als surrealistisch bezeichnen kann187, ist fraglich, surrealistisch ist jedoch zweifellos Magnetischer Reagenzmesser für Frauen (1921, Abb. 64). Die Verbindung menschlicher Körperteile (in diesem Falle der Vagina, die gleich zweimal in Erscheinung tritt) mit Maschinen (hier mit abstrusen Sensoren) ist ein geläufiger surrealistischer Topos. Insbesondere Dalí mit seinen Mensch-Maschinen und anthropomorphen Geräten hat diesen Topos perfektioniert. Ebenfalls in die Reihe der Maschinen-Menschen gehört Automat (1922). Eine Reihe weiterer Bilder befindet sich zumindest in der Nähe des Surrealismus, vor allem Die Zwitschermaschine (1922), wohl eine der phantasievollsten Tier-Maschinen-Konstruktionen Klees. Bemerkenswert ist an diesem Bild auch die äußerst differenzierte Farbabstufung von Blau-, Grau- und Rottönen. Geisterzimmer mit der hohen Tür (1925, Abb. 65) gehört zum Umkreis des Surrealismus, zumindest insoweit, als unsere Alltagsvorstellung von Realität durch dieses Bild in Frage gestellt wird. Das Bild ist im Vordergrund streng zentralperspektivisch aufgebaut, was aber im Hintergrund durch eine unvermittelt flächig-parallele Linienführung konterkariert wird. Die „hohe Tür“ am Ende des Zimmers ist darüber hinaus ein Vexierbild: Es lässt sich nicht entscheiden, ob die Tür in den Raum hineinragt oder aber einen kleinen Korridor in den Hintergrund bildet. Betrachtet man das Bild einige Zeit, so geraten sämtliche Raumkoordinaten ins Wanken, ein Gefühl des Schwindels stellt sich ein. Auch die geläufige Beziehung Fläche – Gegenstand wird destruiert: Es gibt zwar Gegenstände im Bild, aber es lässt sich kaum entscheiden, ob es sich wirklich um solche oder um Teile von Perspektiv­linien handelt. Eher dem Umkreis des Phantastischen als dem Surrealen zuzuordnen ist das Bild Das Vokaltuch der Sängerin Rosa Silber (1922). Die Vokale des Titels (also a, o, u, e und i) tauchen in dem Bild als gemalte Buchstaben wieder auf, wobei jedem Buchstaben eine Farbe zugeordnet ist. Der Sinn des Bildes bleibt jedoch verborgen. Insbesondere in den Jahren 1922–1925 hat Klee eine ganze Reihe weiterer Bilder des Phantastischen geschaffen, etwa Zaubertheater, Carneval im Gebirge oder Zwerg Märchen. In komprimierter Form kommt Klees Darstellung des Phantastischen in Seltsamer Garten (1923, Farb­ abb. XXII) zum Ausdruck: In ihm hat der Maler geradezu ein Panoptikum phantastischer Objekte geschaffen, mit denen er sich damals beschäftigte: Menschen, Masken, seltsame Tiere und Pflanzen, geschlechtsorgan­artige Gebilde. Ebenfalls in diesen Umkreis dürfte wohl Klees kolorierte Ölpause Der Seiltänzer (1923, Abb. 66) gehören: Auf einem fragilen, rational nicht rekonstruierten Gerüst balanciert leichtfüßig die anthropomorphe Figur eines Seiltänzers. Ein Bild, das ich dem Umkreis des Surrealismus zugerechnet habe, ist Angelus novus. Das Bild ist insbesondere durch Benjamins Interpretationen bekannt geworden. In einer 214  I  Von München nach Weimar

64  Paul Klee, Magnetischer Reagenzmesser für Frauen, 1921, 155, Feder auf Papier auf Karton, 22 x 29 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

früheren Interpretation von 1931 hatte Benjamin das Fragwürdige dieser Figur gesehen, die eher ein Monstrum als ein Engel ist: Er spricht von ihr als „Geschöpf aus Kind und Menschenfresser“, als „Unmensch“. In einem weiteren Hinweis (1933), einem kryptischen Text mit dem Titel Agesilaus Santandér, hat man in dem Titel das Anagramm Der Angelus Satanas gesehen – der Angelus Novus als Verkörperung des Satans188. Benjamin hatte das Bild 1921 von Klee in München gekauft, dann seinem Freund Gershom Sholem zur Aufbewahrung gegeben, der es dann nach Berlin schickte. Nach Benjamins Emigration 1933 gelangte es dann auf Umwegen wieder zu ihm nach Paris. In seinen Thesen über den Begriff der Geschichte (1940) entwickelt Benjamin nunmehr eine neue Interpretation des Angelus Novus, die des „Engels der Geschichte“: Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf abgebildet, der aussieht, als wäre er im Begriff sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.189

Zweifellos ist diese neue Interpretation Benjamins von dessen messianisch-eschatologischen Hoffnungen und seiner gleichzeitigen Skepsis gegenüber dem Fortschritt geprägt. Werke aus der Bauhaus-Zeit: konstruktiv, phantastisch, surreal  I  215

Benjamin hat bei seiner Interpretation jedoch einige Details übersehen, die seine Interpretation in Frage stellen. Zum einen und am offensichtlichsten: Der „Engel“ hat keine Flügel, sondern nur ausgebreitete Hände, die in einer Art Ärmel stecken – kaum verwechselbar mit einem Flügel. Ein Sturm kann sich in diesen Ärmeln schlecht verfangen. Ein Sturm scheint auch nicht zu wehen, eher schwebt das eigenartige Wesen. Zweitens wirkt der Engel ausgesprochen bedrohlich: Er hat scharfe Klauen und eigentümlich zugespitzte Zähne, was kaum zu einem „Engel der Geschichte“ passt, eher zu Benjamins „Menschenfresser“. Drittens schließlich schaut der „Engel“ nicht nach vorne, in die Vergangenheit, wie Benjamin vermutet, vielmehr schielt er mit seinem rechten Auge (von vorn gesehen). Weniger offensichtlich, aber auch deutlich erkennbar an der Mundstellung ist, dass der Angelus Novus ärgerlich ist und vielleicht schimpft. Eberlein sieht in ihm sogar einen „autoritären männlichen Typus, wie ihn viele Politiker fast for65  Paul Klee, Geisterzimmer mit der melhaft vortrugen, Hindenburg, aber auch Ebert“190. hohen Türe (Neue Fassung), 1925, 102, Ölpause und Aquarell auf Papier auf Ist der Angelus Novus möglicherweise die prophetiKarton, 48,7 x 29,4, The Metropolitan sche Vorwegnahme Hitlers? Angelus Novus ist teils Museum of Art, New York, The Mensch, teils Vogel, vielleicht auch die Karikatur Berggruen Klee Collection eines Politikers, jedenfalls kein „Engel“. Obwohl sich die Surrealisten ausgesprochen schmeichelhaft über Klee äußerten, darf nicht übersehen werden, dass es zwar Übereinstimmungen, aber auch erhebliche Diskrepanzen zwischen Klees Kunstkonzeption und dem Programm der Surrealisten gab. Ich möchte nur einige kurz erwähnen. Gemeinsam ist zunächst eine Vorstellung von Totalität, von „Vollständigkeit“, die versucht, Realität und „Überrealität“ zu einem komplexen Bild des Realen zusammenzufügen: Deshalb wäre es verkehrt, anzunehmen, der Begriff der Surrealität bezeichnete eine Wirklichkeit über, unter, oder neben der gewöhnlichen. Seine Bedeutung ist nicht transzendent, sondern kritisch. Er reklamiert eine Vollständigkeit des Realen, eine ‚absolute Realität‘, wie Breton sich ausdrückt [...].191

Gemeinsam ist beiden auch das Konzept der Metamorphose, d. h., dass Dinge in einen neuen unerwarteten Kontext versetzt werden (bereits Duchamp hatte sich dieser Stra­ tegie bedient). Was Klee jedoch fernlag, war die Vorstellung des Schocks, der durch diese Verwandlungen erreicht werden sollte. Klee wollte nicht „schockieren“, sondern Schritt für Schritt sein kosmisches theatrum mundi – freilich nicht als barocke Metapher der vani216  I  Von München nach Weimar

tas, sondern als Vorstellung der Totalität – entwickeln. Noch ferner lag Klee der Gedanke, mit seiner Kunst eine Veränderung der Gesellschaft zu erzielen (wie dies im Konzept seines Freundes Kandinsky angelegt war), die Surrealisten dagegen strebten die révolution sur­realiste an. Auch wenn die Surrealisten eine komplexe „höhere Wirklichkeit“ als Zielvorstellung hatten, so wäre diese für Klee, gemessen an seinem hochfliegenden kosmologischen Projekt, noch zu wenig gewesen, jedenfalls in der Form, wie Breton sie dachte. 1924 schreibt Breton im Manifest des Surrealismus: Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen.192

66  Paul Klee, Der Seiltänzer, 1923, 121, Ölpause, Bleistift und Aquarell auf Papier auf Karton, 48,7 x 32,2 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Dies wäre Klee zu wenig transzendental, zu wenig „kosmisch“ gewesen. Denkbar ist, dass er im Surrealismus ein Stück seiner Suche nach „Jenseitigkeit“ wiederfand, also den Impuls, die gegebene Wirklichkeit in Richtung einer „höheren Wirklichkeit“, einer Sur-Realität zu übersteigen. Die Kritik der Surrealisten am logisch-rationalen Denken – was ihre „Wahrheitssuche“ nicht ausschloss – war sicher nach seinem Geschmack. Ich möchte mich nunmehr den „konstruktivistischen“ Bildern zuwenden. Eine besondere Rolle spielen in Klees Werk die sogenannten „Quadratbilder“, weil sie einerseits eine Kontinuität zu Klees Früh- und Spätwerk herstellen, andererseits zeigen, wie Klee auf ähnliche Werke seiner Bauhauskollegen reagierte. Der Vergleich etwa von Rote und weiße Kuppeln (1914), ein Bild aus der Reihe der Tunesienbilder, und Städtebild mit roter Kuppel (1923) zeigt, dass Klee inhaltliche und formale Elemente aus einer früheren Phase wieder aufnimmt. Verändert gegenüber dem Bild von 1914 ist in dem Städtebild von 1923, dass die Quadrate ­kleinflächiger und abstrakter geworden sind. Hier klingt auch die während der Tunisreise von Klee reflektierte Vorstellung einer „Synthese Städtebauarchitektur-Bildarchitektur“ an. Mit Über ein Motiv aus Hammamet (1914, Farb­ abb. XV) hat Klee ein Meisterwerk des Bildtyps Stadt-Bildarchitektur geschaffen (es wird in der Klee-Literatur erstaunlicherweise nur selten gezeigt). Dabei handelt es sich vermutlich um das erste fast vollständig abstrakte Bild Klees193, gegenständliche architektonische Referenzen sind nur angedeutet, der Übergang zu den Quadratbildern wird ein Werke aus der Bauhaus-Zeit: konstruktiv, phantastisch, surreal  I  217

Stück weit vorweggenommen. In dem kleinformatigen Ölbild sind die Kuben in unregelmäßig geführten Horizontalen und Vertikalen so angeordnet, dass an einigen Stellen eine Art Schachbrettmuster entsteht. Da ein gegenständliches Motiv fehlt, ergibt sich der Effekt einer gleichsam abstrakten Raumtiefe – ein Stilprinzip, das Klee in seiner Bauhaus-Zeit weiter ausarbeiten wird. Auch im Spätwerk taucht das Thema der Quadratbilder auf, stilistisch allerdings erheblich verändert, ohne die subtilen Farbabstufungen der Bauhaus-Zeit, z. B. in Glasfassade (1940) oder Der Teppich (1940) (in Letzterem entsteht der Quadratcharakter durch ein Raster grober schwarzer Horizontalen und Vertikalen). Zumeist bleibt bei der Erörterung der Quadratbilder unerwähnt, dass dieses Thema – jedenfalls in der Form, wie Klee sie im Bauhaus praktizierte – keine originäre Schöpfung Klees ist, sondern dass schachbrettartige Farbfelder bei zahlreichen Bauhaus-Künstlern zu finden sind. Itten etwa benutzte sie als Demonstrationsobjekt in seinem Vorkurs,194 auch Albers fertigte aus farbigen Glasquadraten derartige Schachbrettmuster an.195 Klee hat diese Schachbrettmuster weiterentwickelt und durch hochdifferenzierte Farbstufungen und Größenvariationen der einzelnen Felder und Variationen der Horizontalen und Vertikalen künstlerisch perfektioniert. In Bildarchitektur rot, gelb, blau (Architektur gestufter Kuben) (1923) dominieren Rot-, Gelb-, Blau- und Schwarztöne. Die über die ganze Bildfläche verteilten gelben Kuben verleihen auch diesem Bild eine bemerkenswerte Bildräumlichkeit. Man kann sie als Öffnungen in einen Bildhintergrund, zugleich aber auch als Vordergrund vor den Rot-, Blau- und Schwarztönen sehen. Weniger mit farb-räumlichen Effekten als mit Flächendynamik arbeitet Harmonie aus Vierecken mit Rot, Gelb, Blau, Weiss und Schwarz (1923). Auch das Thema der Harmonie spielte für Klee eine zentrale Rolle. In Bildnerische Formlehre führt er beispielsweise aus, dass der Kontrast eines dunklen und eines hellen Rots von gleicher Größe disharmonisch sei. Dem hellen Rot müsse deshalb ein dunkles Rot von geringerer Größe zur Seite gestellt werden. Derartige „Vermittlungen“ sind in Harmonie aus Vierecken mit Rot, Gelb, Blau, Weiss und Schwarz (Farbabb. XXV) deutlich zu beobachten. Bereits 1908 notiert Klee zu diesem Problem in seinem Tagebuch: „Die Harmonie im Bild aus disharmonischen Einzelheiten“ (Hausenstein I, S. 499). Ein Meisterwerk der Quadratbilder ist das kleinformatige Ölbild Alter Klang (1925, Farbabb. XXVI). Durch die Farbabstufung von dunklen Tönen (schwarz, rot, dunkelblau) am Rand und hellen (ocker, gelb) in der Mitte entsteht eine Raumtiefe von geradezu suggestiver Wirkung. Auch hier variiert Klee sein für die Bauhaus-Zeit bedeutendes Thema einer nichtillusionären Raumtiefe (eine besonders spektakuläre Variante ist das bereits erwähnte Geisterzimmer mit der hohen Tür [1925]). Bemerkenswert ist auch die formale Spannbreite der Quadratbilder. Sie reichen von perfekt rechtwinklig konstruierten Bildern, die in Farbe und Struktur an Mondrian erinnern (Harmonie der nördlichen Flora [1927]) und gewissermaßen den funktionalen „Bauhaus-Stil“ verkörpern, bis zu Bildern, in denen die „verwackelte“ Anordnung der Kuben mit pastosem Farbauftrag die Arbeiten von Scully vorwegnehmen (rhythmisches strenger und freier [1930]). Die Pastosität rührt daher, dass Klee hier statt Aquarell- oder Ölfarben Kleisterfarbe verwen218  I  Von München nach Weimar

dete. Zur Bedeutung der Quadratbilder in Klees Werk schreibt Glaesemer: „Die Quadratbilder galten ihm als die reinste gestalterische Form im Umgang mit der Tonalität und Farbe. Mit keiner malerischen Bildgattung beschäftigte er sich deshalb auch so anhaltend bis ins Spätwerk.“196 Allerdings, so muss hinzugefügt werden, spielen im Spätwerk die Quadratbilder keineswegs dieselbe bedeutende Rolle wie in der Bauhaus-Zeit. Von den meisten dieser früheren Arbeiten lässt sich eine Reihe von konstruktivistischen Bildern aus der späteren Bauhaus-Zeit konzeptionell abgrenzen.197 Auch hier erscheint die Vermutung berechtigt, dass sich in ihnen der Einfluss des Bauhaus-Konstruktivismus, wie er u. a. von Moholy-Nagy vertreten wurde, bemerkbar macht. Mit aller gebotenen Vorsicht lassen sich diese späteren Arbeiten in drei Gruppen unterteilen: 1. Eine Variation der Quadratbilder, die durch rechtwinklig angeordnete Farbflächen unterschiedlicher Größe charakterisiert ist; 2. die „polyphonen“ Bilder und 3. Bilder, in denen durch subtile streifenartig angeordnete Farbflächen eine starke farbliche Bewegung und Dynamik entsteht (sogenannte „Streifenbilder“). Farblich und formal herausragende Beispiele der ersten Gruppe (rechtwinklige Farbflächen) sind Feuer abends (1929, Farbabb. XXVII) und Individualisierte Höhenmessungen der Lagen (1930). Obwohl beide Bilder völlig abstrakt sind, lässt sich in Feuer abends ein realer Bezug ahnen. Inmitten unterschiedlich abgestufter Rot-, Blau-, Grau- und Grüntöne erlaubt ein leuchtend rotes Quadrat in der Mitte des Bildes eine Assoziation an Feuer, während die Blautöne am oberen Rand einen Abendhimmel erahnen lassen. Ausgehend von dem roten Quadrat in der Mitte, von dem das Auge unwillkürlich angezogen wird, entfaltet das Bild insgesamt eine geradezu magische Leuchtkraft. Derart realistische Assoziationen bleiben bei Höhenmessungen weitgehend verwehrt. Insofern ist der Titel auch charakteristisch für zahlreiche andere Bildtitel Klees: Die Titel erläutern keine Bild­ thematik, sondern ermöglichen davon weitgehend unabhängige narrative Assoziationen. In seinen „polyphonen“ Bildern greift Klee seine frühen Experimente der Analogisierung von Musik und Malerei wieder auf. Bildnerische Polyphonie ­(also die Überlagerung von Form und Farbe) setzt Klee in zwei unterschiedlichen F­ ormen um: figural und geometrisch198. Zur Verdeutlichung dieser Werkgruppen sei exemplarisch auf zwei Bilder verwiesen. In den Bereich der figuralen Poly­phonie fällt das Bild Dynamisch-polyphone Gruppe (1931). Es handelt sich um amorphe, miteinander verschlungene Flächen, die dort, wo sie sich überlappen, unterschiedlich intensive Schwarz-Weiß- bzw. farbige Flächen erzeugen. Die Konturen der einzelnen Flächen werden zumeist von innenseitig angebrachten Schraffuren verstärkt. Zum Bereich der geometrischen Polyphonie gehört Polyphon gefasstes Weiß (1930, Farbabb. XIX). Durch übereinandergelegte, transparente Farbflächen werden von einem dunklen Rand her (Rot- und Blaugrau-Töne) die Farbabstufungen zur Mitte hin immer heller (Rosa- und Grautöne), bis ein ausgespartes weißes Quadrat in der Mitte des Bildes erreicht ist. Wiederum entsteht eine starke Raumtiefe, die den Blick sogartig auf sich zieht. Auch einige der Bilder, die Klee später malte und als „pointillistisch“ oder „divisionistisch“ bezeichnete, etwa Frühlingsbild (1932) und Polyphonie (1932, Farbabb. XXX), entsprechen dem Prinzip der Polyphonie. Werke aus der Bauhaus-Zeit: konstruktiv, phantastisch, surreal  I  219

Eines der herausragenden Werke der dritten Gruppe, der „Streifenbilder“, ist Eros (Farbabb. XXII), wobei in diesem Fall die Streifenmuster mit Dreieckskonstruktionen kombiniert werden, was dem Bild eine hohe formale Spannung verleiht. Dominant sind in Eros zunächst zwei unterschiedlich große schwarze Pfeile, die auf ein kleines, rotes, auf die Spitze gestelltes Dreieck verweisen. Berücksichtigt man Klees Symbolik des Pfeiles, so darf man vermuten, dass hier der „Gedanke“ (der, wie wir gesehen haben, im Pfeil symbolisiert wird) angesprochen wird, der auf das Objekt des „erotischen“ Begehrens verweist. Der Pfeil folgt, um eine Denkfigur von Klee aufzugreifen, dem „Gesetz seines Eros“. Auffällig ist – ähnlich wie in dem formal und farblich verwandten Doppelzelt – die komplexe Dreieckskomposition des Bildes. Ein Dreieck, das auf der Grundlinie steht und fast den ganzen Bildraum ausfüllt, verdeckt – polyphon – ein kleineres, das invers zum ersten Dreieck steht, d. h. mit der Spitze nach unten. Etwas spekulativ könnte man, im Sinne von Klees Überlegungen in Wege des Naturstudiums oder seines Jenaer Vortrags von 1924 vermuten, dass in Letzterem die Beziehung zum Überirdischen, zum Kosmos zum Ausdruck gelangt, zugleich aber auch auf das Irdische verwiesen wird, während das fest auf seiner Basis stehende Dreieck das Irdische repräsentiert. Das kleinere, rote Dreieck befindet sich dann an der Stelle, an der sich Irdisches und Überirdisches überschneiden. Eindrucksvoll ist auch die Farbkonstellation des Bildes. Von unten nach oben wechselt bei Basis und Hintergrund der Dreiecke die Farbe von Blau über verschiedene Blauabstufungen zu Violett. Das auf der Basis stehende Dreieck zeigt von unten nach oben schichtförmige Blauabstufungen, an den Seiten ebenfalls schichtförmige chromatische Blau-, Grün- und Orangeabstufungen199. In der Mitte des Dreiecks befinden sich mehrere Schichten von lichtem Blau, wobei in der Mitte sehr helle Schichten – und eine fast weiße Schicht – ausgespart sind. Damit entsteht ein erstaunlicher Effekt. Der Blick wird von den dominanten schwarzen Pfeilen abgelenkt und auf das Zentrum des größeren Dreiecks gerichtet. Damit entsteht wiederum ein nichtillusionistischer Bildraum-Effekt, ähnlich wie bei Polyphon gefasstes Weiß. Der Blick kann frei vom Zentrum in die verschiedenen chromatischen Farbabstufungen und wieder zurück ins helle Zentrum des Bildes schweifen. Farbige Streifen, Dreieckskonstruktion, Farbabstufungen und Pfeile erzeugen ein Spannungsfeld, das die Wahrnehmung des Bildes zu einem intensiven sinnlichen Erlebnis macht.200 Es ist erstaunlich, dass Grohmann gerade dieses Bild im Kontext von Klees „kosmogonischem“ Eros nicht erwähnt. Klee selbst hat eine Interpretation des Eros angeboten: „Das Dreieck kam zustande dadurch, dass ein Punkt zu einer Linie in ein Spannungsverhältnis geriet und dem Gesetz seines Eros folgend dieses Verhältnis vollzog.“201 Eine mögliche Interpretation von Eros wäre, in ihm die Verkörperung von Klees „kosmogonischem“ Eros zu sehen. Folgt man dieser Interpretation, dann wäre es Klee gelungen, „Eros“ in einer vollständig abstrakt-kristallinen Bildsprache, als vergeistigtes und gleichsam kosmisches Phänomen darzustellen. Wenn Klee in seinen Bildern eine kosmogonische Symbolik anstrebte, dann erhalten wir mit Eros eine Ahnung dessen, was ihm möglicherweise vorschwebte. Verglichen mit Eros erreichen Bilder, wie etwa die als Schlüsselwerke betrachteten Haupt- und Nebenwege (1929) oder Ad Parnassum (1932) nicht dieselbe farbliche und formale Spannung und Überzeugungskraft. 220  I  Von München nach Weimar

Entgegen den Annahmen einiger Klee-Biographen gilt auch für weitere Bilder dieses Typs, die „Streifenbilder“ der Ägyptenreise, der künstlerische Niederschlag von Klees Reise in das nordafrikanische Land Ende 1928 (17.12.1928–17.1.1929), dass der narrative Bezug in den Hintergrund tritt. Die Ägyptenbilder folgen einem mehr oder weniger identischen Muster: Horizontale Streifen unterschiedlicher Farbe, die immer dann, wenn eine Vertikale oder Diagonale sie durchkreuzt, halbiert werden, so dass es Aufspaltungen in eine halbe, viertel, achtel etc. Breite gibt. Geelhaar spricht deshalb auch zu Recht von einer „Norm“. Am deutlichsten ist diese Norm erkennbar in Monument an der Grenze des Fruchtlandes (1929). Die „Norm“-Größen befinden sich an der rechten Seite des Bildes und werden dann in ihrem Verlauf nach links mathematisch präzise jeweils halbiert (Geelhaar [1972], S. 119). Klee spricht von einer Cardinal-Progression. Mit „Norm“ hat Geelhaar zugleich eine Schwäche dieses Bildes formuliert, zumal auch dessen Farben eher stumpf wirken. Trotz einiger diagonaler Kreuzungen hat die Wiederholung der Halbierungen etwas Mechanisches, wodurch das Bild weitgehend seiner Spannung beraubt wird, weshalb Geelhaar zu Recht von einer „Mathematisierung“ spricht. Weniger nachvollziehbar ist, dass Geelhaar gerade an diesem Bild die besondere Bedeutung des Lichts für Klee nachweisen will. Licht, so haben wir gesehen, war bereits in einer frühen Phase der künstlerischen Entwicklung Klees bedeutungsvoll: Nicht der Mathematisierung des Schaffensprozesses gilt das Hauptanliegen des Künstlers: die Begegnung mit Ägypten hat die Lösung des wichtigsten Problems gefördert, welches seiner noch harrte – das Phänomen des Lichts. Die lichten Pastelltöne in Monument an der Grenze des Fruchtlandes evozieren die flimmernde Helle von blendendem Sonnenlicht und heißen Wüstensand. Gleichförmig öffnen sich nach rechts die unbegrenzten Weiten der Einöde. Die Mittelzone, das Monument verhindert das Weiterwandern der Sanddünen nach dem Fruchtland, wo blaue Bewässerungskanäle das bestellte dunkelbraune Erdreich durchziehen.202

Zunächst einmal ist die Vorstellung, irgendein „Monument“ könne das Weiterwandern von Sanddünen verhindern, abwegig, abgesehen davon, dass keineswegs klar ist, um welches Monument es sich auf dem Bild handelt und vor allem, welche Ausdehnung es hat. Darüber hinaus ist die Rede von einer flimmernden Helle, von blendendem Sonnenlicht, Kunstlyrik, die wenig mit dem Bild selbst zu tun hat. Weder flimmert noch blendet es auf dem Bild, jedenfalls nicht so, wie dies in Nordafrika der Fall wäre, die Farben sind vielmehr pastellfarbig abgetönt, häufig stumpf. Geelhaars Beschreibung dürfte eher auf ein anderes der Ägyptenbilder zutreffen: auf Monument im Fruchtland (1929, Farb­ abb. XXVIII). Zum einen lassen die von unten nach oben reichenden, zugleich aber unterbrochenen Diagonalflächen tatsächlich eine Assoziation an ein Monument – an eine Pyramide – zu, zum anderen sind hier die Farben tatsächlich „licht“ und strahlend. Es mag für manche Ohren geradezu blasphemisch klingen: Beide Bilder gehören eher zu den schwächeren Werken Klees. Dasselbe gilt auch für das vielgelobte Bild Haupt- und Nebenwege (1929, Farbabb. XXIX), das ebenfalls auch auf die Ägyptenreise verweist. Werke aus der Bauhaus-Zeit: konstruktiv, phantastisch, surreal  I  221

Ad marginem (1930, Farbabb. XX), gleichsam ein Gegenentwurf zu den genannten Bildgruppen, der eindrucksvoll die Spannbreite von Klees Bauhausschaffen zeigt, entstand gegen Ende seiner Bauhaus-Zeit und entfaltet eine ähnlich intensive Spannung wie Eros. Mit Eros verbindet es stilistisch kaum etwas. Man wird geradezu an Picasso erinnert, der, nach seinem Stil gefragt, antwortete, Gott habe auch keinen Stil. Im Mittelpunkt von Ad marginem steht ein roter, schwarz umrandeter Kreis, der ein kosmisches Symbol für die Sonne darstellen könnte203. Möglicherweise war Klee, der Ende 1928 eine Ägyptenreise unternommen hatte, von der Darstellung des altägyptischen Sonnengottes Aton, dessen Symbol die Sonne war, beeinflusst204. Leicht geschwungene Linien, die sich über das ganze Bild ziehen, erzeugen die Vorstellung einer abstrakten Bildräumlichkeit. Die Spannung und Dramatik des Bildes – ich hatte bereits darauf hingewiesen – wird allerdings erst deutlich, wenn man die Ränder (ad marginem) betrachtet. Hier hat Klee Buchstaben eingefügt, die scheinbar die seitlichen Begrenzungen des Bildes markieren: „r“ (rechts), „l“ (links), „o“ (oben) und „u“ (unten). Die Markierungen sind jedoch vordergründig falsch: „r“ steht nämlich am linken Rand, „l“ am rechten. Man muss das Bild also umdrehen, auf den Kopf stellen. Tut man dies, verändert sich der Charakter des Bildes; wir erkennen nunmehr am oberen (früher unteren) Rand Masken, Fratzen, Augen, und ein spitzer Gegenstand scheint die Sonne zu bedrohen – ein fast unheimlicher Anblick. Thematisch werden Bezüge zu Seltsamer Garten deutlich. Am unteren Rand dagegen finden wir einen Vogel in einer idyllischen Gegend, der uns zuvor nur auf dem Kopf stehend begegnet ist. In Ad marginem spielte Klee erneut ein raffiniertes Spiel mit der Bildräumlichkeit und der Bewegung. Zunächst erzeugte er mit der Linienführung des Bildes eine Vorstellung von Räumlichkeit. Dann stellte er jedoch mit der Umkehrung von links und rechts, oben und unten unser Raumverständnis in Frage und zeigte, dass sein Bild räumlich und gegenständlich umgedreht ganz anders wirkt als zuvor. Damit wird zugleich auch das Phänomen der Zeit und der Bewegung angesprochen. Wir müssen das Bild zumindest einmal umdrehen, um zu sehen und zu verstehen, was Klee uns zeigen wollte.

222  I  Von München nach Weimar

6. Düsseldorf und Bern Berufung an die Düsseldorfer Kunstakademie 1931

Im Mai 1930 informiert Klee den Bauhausdirektor Hannes Meyer über seine Pläne, an die Düsseldorfer Kunstakademie zu wechseln. Die internen Querelen am Bauhaus und die Arbeit mit den Studenten erlebt er zunehmend als Belastung, als „Sclaverei“, die ihn von der „alleinseligmachenden“ künstlerischen Arbeit abhalten. In einem Brief von 15.5.1930 berichtet er Lily von dieser „Sclaverei“ und seinen Plänen, das Bauhaus zu verlassen. Lily hält sich in Sonnmatt zur Kur auf, während er in Dessau unterrichten muss. Er könne sie nur für wenige Tage besuchen, aber „das wäre grausamer, als wenn ich gar nicht käme“. Aber so käme mir meine Sclaverei allzu bitter zum Bewusstsein. Ich will darüber nicht das alte lamentierende Lied singen, es kann ja auch nicht mehr lang so weitergehn. Hannes Meyer ist schon informiert. Es trifft ihn weniger, als es bei der Kündigung, die ich im Herbst vornehme, die Stadt treffen wird. Er selber klammert sich auch nicht so sehr ans Bauhaus, wie ich sah, hat andere Aussichten genug. Jedenfalls weiß er, dass ich am 1. April 1931 aufhöre. Alles natürlich streng unter uns. Dass ich dann am 1. April ein völlig freier Mensch würde, ist nach der Laune der Zeiten in wirtschaftlicher Beziehung zu riskiert. Denn man muß, [...] auch auf Eventualitäten wie Krankheiten gefaßt sein.1

Klee hatte keineswegs die Absicht, die wirtschaftliche Seite seiner Kündigung zu ignorieren. Bereits im März 1929 hatte er von Walter Kaesbach, dem Leiter der Düsseldorfer Kunstakademie, das Angebot erhalten, an der Akademie eine Malklasse zu übernehmen: [...] ganz persönlich u. ganz vertraulich möchte ich die Frage an Sie richten: Würden Sie eine Berufung als Leiter einer Malklasse an die D’dorfer Akademie annehmen? (Die Stelle ist zum 15. Oktober d. J. zu besetzen). Überlegen u. antworten Sie Ihrem Sie und Ihre Frau Gemahlin herzlich grüssenden W. Kaesbach.2

Wie das Datum des Schreibens zeigt, zogen sich die Verhandlungen zäh hin, bis Klee schließlich im Herbst 1930 die offizielle Kündigung aussprach. Über die politischen Auseinandersetzungen am Bauhaus – die Studenten rebellierten, Meyer war aus politischen Gründen aus dem Amt gedrängt worden, der als Direktor autoritär regierende Mies van der Rohe trat seine Nachfolge an – erfahren wir aus den Briefen dieser Zeit jedoch kaum etwas.3 Berufung an die Düsseldorfer Kunstakademie 1931  I  223

Klee musste in Düsseldorf nicht nur Abstriche bei seinen Gehaltsvorstellungen machen, sondern vor allem darauf verzichten, dass ihm, wie zuvor in Dessau, ein eigenes Haus zur Verfügung gestellt wurde. Obwohl er sich über die hohen Heizkosten seines Dessauer Meisterhauses häufig beschwerte, fühlte er sich dort wohl und hätte gern in Düsseldorf ähnliche komfortable Bedingungen vorgefunden. Klee lebte deshalb, praktisch bis zur Zeit seiner Suspendierung im April 1933, in einer Mietwohnung, fuhr allerdings häufig zurück nach Dessau, wo Lily weiterhin wohnte. Die bittere Ironie dabei war, dass Klee erst kurz nach seiner Suspendierung am 21.4.1933 in ein für ihn und Lily akzeptables Haus in der Heinrichstraße 36 in Düsseldorf einzog (1.5.1933). Klee genoss das Leben im großstädtischen, weltoffenen Düsseldorf mit zahlreichen Galerien, einem ausgezeichneten Opernhaus und einem guten Theater, was für den leidenschaftlichen Opern- und Theaterbesucher von erheblicher Bedeutung war. Über eine Aufführung von Mozarts Entführung aus dem Serail, die er mehrfach sah, äußerte er sich Lily gegenüber begeistert, eine Aufführung von Lohengrin findet er „genial“.4 Sein spezifischer Kunstgeschmack kommt jedoch in seinem Urteil über K. Weills Oper Die Bürgschaft zum Ausdruck. Er lobte die Aufführung, fügte jedoch hinzu: „Der Stoff ist sozial und mit primitiver Haltung gearbeitet“5. Allergisch reagierte er auf die Musik von Richard Strauss. Klee lernte auch Walter Iltz, den Generalintendanten der Düsseldorfer Bühnen kennen, der für die Karriere seines Sohnes von Bedeutung sein sollte. Mit dem Kunsthändler Vömel, der das Haus Flechtheim in Düsseldorf repräsentierte, war er freundschaftlich verbunden: Häufig war er bei diesem zu Gast, zusammen mit Vömels Sohn unternahmen sie kleine Reisen in die Umgebung6. Klee schätzte Vömel und Flechtheim (er nannte ihn „Onkel Alfred“) und sagte, da die beiden einen Atelierbesuch bei ihm planten, sogar ein Treffen mit einer alten Bekannten, der Tänzerin Palucca, ab, die gerade in Düsseldorf gastierte.7 Flechtheim bemühte sich schon seit Kriegsende um Klee, und nachdem dieser 1925 seinen Generalvertretungsvertrag mit Goltz aufgelöst hatte, intensivierten sich die Geschäftsbeziehungen der beiden. Flechtheim war mittlerweile zum bedeutendsten Kunsthändler Deutschlands aufgestiegen und besaß Niederlassungen in Berlin und Düsseldorf, zeitweilig auch in Köln, Wien und Frankfurt. Künstlerisch war Flechtheim primär an den französischen Künstlern der „klassischen Moderne“, etwa Matisse, Derain und Picasso interessiert, was nicht zuletzt auch auf seine engen persönlichen und geschäftlichen Beziehungen zu Kahnweiler zurückzuführen war. Auch die Beziehung Flechtheims zu Christian Zervos, der als Herausgeber der einflussreichen Cahiers d’art um die positive Rezeption Klees in Frankreich bemüht war und mehrfach Bilder in seiner Zeitschrift veröffentlichte, dürfte von Bedeutung gewesen sein. Konzeptionell passte Klee zunächst eigentlich nicht in sein Ausstellungsprogramm, was sich jedoch angesichts der begeisterten Aufnahme Klees durch die Pariser Surrealisten änderte. Der geschäftstüchtige Flechtheim nutzte diese neue Popularität Klees und erklärte den Maler kurzerhand „zum eigentlichen Schöpfer des Surrealismus“.8 In rascher Folge veranstaltete Flechtheim zwischen 1927 und 1931 fünf Ausstellungen, beginnend mit einer kleineren Schau in Düsseldorf und einer umfangreichen Ausstellung mit den neuesten Werken Klees in Berlin 224  I  Düsseldorf und Bern

1928.9 1929 folgte die Ausstellung zum 50. Geburtstag von Klee mit einer Retrospektive von 150 Arbeiten, die, so Grohmann später, in Berlin „Tagesgespräch“ gewesen sei10. Die Ausstellung wurde 1930 vom Museum of Modern Art in New York übernommen, ein enormer Erfolg Klees auf der internationalen Bühne. Wie mit Walden in der Kriegs- und Nachkriegszeit hatte Klee also mit Flechtheim einen weiteren Förderer und erfolgreichen Propagandisten gefunden. Und ebenso wie Waldens Sturm war auch Flechtheims Monatszeitschrift Querschnitt ein weiterer medialer Kanal, um Klee mit Text und Bild in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aufgrund dieser langjährigen Beziehung zu Flechtheim und der freundschaftlichen Beziehung zu dessen Düsseldorfer Repräsentanten Vömel war Klees Aufenthalt am Rhein gewissermaßen ein Heimspiel. Über die üppigen Essenseinladungen bei Vömel berichtete Klee voller Enthusiasmus an Lily. Diese – zumindest vorübergehend – komfortable Situation Klees in Düsseldorf beschreibt Grohmann folgendermaßen: Klee hätte es sich 1930 wahrscheinlich leisten können, auf eine Anstellung an einer Kunsthochschule zu verzichten und von den Verkäufen zu leben. [...] Die beiden Düsseldorfer Jahre sind viel lockerer mit der Lehrtätigkeit verknüpft als die Weimarer und Dessauer. Da Klee es sich so einrichtet, dass er in regelmäßigen Abständen hinfährt, ist das Ganze mehr eine Folge von Gastspielen.11

„Das Leben hier ist leicht und freundlich, du wirst es dereinst einsehen und nicht mehr wissen, warum du nicht her wolltest“, schreibt er 1931 an Lily.12 Darüber hinaus sei das Lehramt „angenehm“. Klee hatte zunächst nur vier Schüler, die ihm von Dessau nach Düsseldorf gefolgt waren, darunter auch Petra Petitpierre, die uns später noch beschäftigen wird.13 Sein Atelier (es ist wesentlich größer als in Dessau) ist für ihn inspirierend: Es regt ihn zu größeren Formaten und zum Experimentieren mit der Farbe an. Der Blick aus den großen Atelierfenstern auf die Landschaft zeige ihm „zwei herrliche Riesenlandschaften“ und verschaffe ihm „Lust zur Farbe“ (Brief an Lily Klee, 17.2.32). Wenn man Klees Besuch der Picasso-Ausstellung im Jahre 1932 zu Recht als Anregung für großformatige Bilder verstehen kann, so sollte man dennoch Klees Bemerkungen aus dem Jahre 1932 nicht unbedingt auf den Einfluss Picassos zurückführen. Seinen Kollegen an der Akademie steht er teils wohlwollend, teils ablehnend gegenüber. Etwas überheblich notiert er in einem Brief an Lily: „Wer malt denn eigentlich gut? An den Fingern abzuzählen“ und mit einem nostalgischen Rückblick auf Dessau schreibt er: Wenn es in Düsseldorf auch nicht lauter Genies gibt wie in Dessau, so spürt man doch die künstlerische Durchtränkung und fühlt sich zu Hause. Auch conservative Geister setzen sich intensiv mit dem Fortschritt auseinander, sie sind zum Teil ehrlicher als die Modernisten und darum zum Teil interessant.14

Über seine Kollegen Klapheck15 und Clarenbach äußert sich Klee ausgesprochen schroff: „zwei Nullen“. Klee übersah dabei, dass er außer Kaesbach wenig „Verbündete“ an der Berufung an die Düsseldorfer Kunstakademie 1931  I  225

Akademie hatte und dass sich gerade in den Kreisen der „conservativen Geister“ erheblicher Widerstand gegen ihn regte, ein Umstand, der zu seiner Amtsenthebung beitragen sollte. Befreundet war Klee mit dem schweizerischen Bildhauer Zschokke, der 1931 eine Portraitbüste von ihm anfertigte – die Sitzungen hätten Klee, so Zschokke, offenbar sichtlich irritiert. Von Zschokke stammt angeblich der Satz, Klee habe mit den 243 Blättern, die er 1933 in einem ungewöhnlich „bogigen“ Stil zeichnete, den sogenannten „Revolutionsblättern“, die „nationalsozialistische Revolution“ gezeichnet (darauf wird später noch zurückzukommen sein).16 Felix Klee war zum Zeitpunkt von Klees Wechsel nach Düsseldorf in Basel als Regieassistent am Theater tätig, eine offenbar problematische Zusammenarbeit. Man bescheinigte ihm zwar theoretische Kenntnisse, aber wenig praktische Erfahrung und eine unglückliche Hand im Umgang mit den Künstlern. Felix war somit auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit. Klee arrangierte ein Gespräch zwischen dem Generalintendanten Iltz und Felix, mit dem Ergebnis, dass Felix ein (offenbar unbezahltes) Volontariat an den Düsseldorfer Bühnen antreten konnte. Klee riet seinem Sohn, die Stelle anzunehmen und berichtete Lily über den Hintergrund der Angelegenheit: Heute suchte ich den Generalintendanten auf, verfehlte ihn, aber kurz darauf erschien er in der Akademie, und wir konnten, da gerade Mittagspause war, ruhig über filio nostro sprechen. Ich habe den Eindruck eines besonnenen und überlegten Mannes, der sich den Fall besieht, außerdem habe ich den Eindruck, daß von ihm Hilfe kommen kann, (nicht einfach so, wie filio nostro sich’s denkt!, erster und zweiter Regisseur, schwipp, schwapp, schwupp!) sondern ein Versuch, ihn mehr als Lehrling zu betrachten und practisch zu f­ ördern.17

Felix zog mit seiner Frau Efrossina („Phroska“), die er 1932 geheiratet hatte, nach Düsseldorf, wobei er jedoch aufgrund seiner Volontariatsstellung von seinem Vater finanziell abhängig blieb. Felix und Efrossina revanchieren sich durch Essenseinladungen: Freitags zu „Tisch und Fisch“ bei Sohn und Schwiegertochter, notierte Klee mehrfach. Seinen Geburtstag am 18.12.1932 feierte er mit Felix und Efrossina. Lily, die sich zu dieser Zeit in Braunlage im Oberharz zur Kur aufhielt, schien er nicht sonderlich zu vermissen. Am 21.12.1932 schrieb er ihr, als Ankündigung seines Besuchs, er glaube nicht, dass er es „allzu lang in der Einsamkeit des Oberharzes aushalten werde“18. Er blieb dann auch über die Weihnachtsfeiertage in Düsseldorf und traf nicht vor dem 29.12. in Braunlage ein, wie sein Brief an Felix Klee vom 28.12. aus Dessau zeigt. Die Distanz zu Lily, die bereits in Dessau vorhanden gewesen war, schien sich nicht verringert zu haben.

Freundschaft mit Petra Petitpierre Vor diesem Hintergrund war Klees enge Freundschaft mit seiner Schülerin Petra Petitpierre, die ihm von Dessau nach Düsseldorf gefolgt war, eine etwas heikle Angelegenheit.19 Klee verschwieg Lily gegenüber nicht, dass er eine besonders intensive Beziehung 226  I  Düsseldorf und Bern

zu seiner Schülerin hatte: Am 17.1.1932 schreibt er seiner Frau, dass Petitpierre „einige ausgezeichnete Sachen“ gemalt habe. Am 15.2. wird er genauer: Der Sonntag war still, und da war es mir ganz angenehm, bei Fräulein Kessinger Thee zu trinken. Sie machte schon länger an diesem Plan herum, hatte mir eine Havanna aufgespart und ich sollte ihr Atelier sehen. Und es war dann sehr nett, so ein wenig Atelierzauber [...] Nachdem muß Petitpierre ein Muster sein, daß sie ihn liebt. Oder vielleicht ist das etwas ganz anderes, wo Kritik nicht in Frage kommt.20

Lily konnte natürlich zwischen den Zeilen lesen. Wenn ihr sonst so zurückhaltender Mann anfing, sich voller Bewunderung über eine junge Frau zu äußern – sie war 25 Jahre jünger als Klee – und zudem noch mit ihr „Atelierzauber“ zelebrierte, hatte sie Grund, zumindest nachzufragen. Außerdem verriet ihr Klee noch, dass Fräulein Kessinger dies von langer Hand vorbereitet hatte. Es gab – voraussehbar – Komplikationen. Klee versuchte, Lily seine Beziehung zu Frieda Kessinger zu erklären, indem er zwischen „Wahlverwandtschaft“ und „Eros“ unterschied. Mit Frieda Kessinger verbinde ihn Wahlverwandtschaft, mit Lily Eros. An Lily schreibt er (nicht ohne Anspielung auf deren angespannte psychische Verfassung): Leider scheint Deine seelische Verfassung noch schwankend. Es war wohl für mich auch die Aufgabe, aufrichtig und schonend zugleich zu sein, nicht lösbar (nicht nur für mich, sondern überhaupt). Wahlverwandtschaft besteht im Geistigen da und dort. Beispielsweise ist Reichel wahlverwandt und verfallen [...] Als Lehrer kann man solchen Fällen nicht aus dem Wege gehen. Das hat mit Eros (im gefürchteten Sinne) so wenig zu tun, als Eros auf Wahlverwandtschaft zu beruhen braucht. Du zum Beispiel bist nicht wahlverwandt und nicht verfallen, aber unsere Beziehungen waren und sind erotisch.21

Schaut man sich diese Zeilen genauer an, wird man an einigen Stellen stutzig. In welcher Hinsicht musste Klee „schonend“ sein, angesichts Lilys „schwankender“ seelischer Verfassung? Hatte er etwas zu verschweigen? Klee hätte sich ja von Anfang an deutlich auf die „Wahlverwandtschaft“ beziehen können, ohne zu insinuieren, Lily schonen zu müssen. Was meinte er, wenn er sagt, Lily sei ihm weder wahlverwandt noch „verfallen“? Wenn er mit Frieda Kessinger, nicht aber mit Lily wahlverwandt war, entwertete er ein Stück weit seine geistige Beziehung zu ihr zu Gunsten der „erotischen“, von der er aber schon sehr früh deutlich gesagt hatte, dass sich die Ehe der „Steigerung der Arbeitsfähigkeit“ unterzuordnen habe. Man kann – angesichts von Klees Abspaltung von Körperlichkeit und Erotik und seiner Stilisierung als „Neutralgeschöpf“ – berechtigte Zweifel an seiner „erotischen“ Beziehung zu Lily haben. Es ist nicht leicht, diese Zeilen zu interpretieren, gleichwohl entsteht der Eindruck, dass Klee hier – vielleicht unbewusst – eine psychische Kompromissleistung bewerkstelligte. Er wollte Lily „schonend“ vermitteln, wie nahe Frieda Kessinger ihm stand, sie zugleich aber damit trösten, dass sie, Paul und Lily, ja eine „erotische“ Beziehung hätten. Freundschaft mit Petra Petitpierre  I  227

Stutzig macht auch, mit welchem Nachdruck Klee betonte, dass Frieda Kessinger ihren Verlobten Hugo Petitpierre „liebt“. Entweder war Klee tatsächlich ahnungslos (was zu bezweifeln ist) oder er verschwieg Lily, dass sich Frieda Kessingers Beziehung zu ihrem Verlobten bereits in Dessau erheblich abgekühlt hatte. Da Petra Petitpierre – wie ich sie im Folgenden nennen werde – ähnlich wie Lily Klee in der Klee-Literatur nur als Randfigur vorkommt22, möchte ich auf ihre Person und ihre Beziehung zu Paul Klee etwas näher eingehen. Petra Petitpierre wurde am 13.5.1905 in Zürich geboren und stammte aus bescheidenen Verhältnissen, was sich später, während ihres Studiums in Dessau und Düsseldorf, als erhebliches Problem erweisen sollte, wie die geradezu monotonen ­Klagen in ihren Tagebüchern über ihre finanzielle Lage zeigen. Petra Petitpierre, die sich nach ihrem Studium zu einer anerkannten Künstlerin ent­ wickelte, wurde nicht alt: Sie starb am 23.12.1959, also im Alter von gerade einmal 54 Jahren. Petra Petitpierre war während ihrer ganzen Jugend leidend. Sie erkrankte im Alter von 9 Jahren an einer Hüftgelenksentzündung, was schließlich zu einem Beckenschiefstand von 16 cm führte. Zahlreiche Operationen führten zu keiner Besserung. Erst mit 21 Jahren fand eine erfolgreiche Operation statt, die den Beckenschiefstand weitgehend beseitigen konnte, sie allerdings für ein Jahr arbeitsunfähig machte. 1929 wurde sie im Bauhaus Dessau als Studentin aufgenommen und erhielt ein äußerst knapp bemessenes Stipendium. Unter den anwesenden Bauhaus-Lehrern bewunderte sie besonders Paul Klee, als Künstler wie auch als Mensch, sie verehrte ihn geradezu. Als Künstler stellte sie Klee über Kandinsky: „Klee lebt, Kandinsky ist tot.“23 In ihrem Tagebuch notiert sie: Prof. Klee hat den besten Charakter und eine unerhört intuitive Gabe. Wenn ich an die Verschiedenheit seiner Bilder denke: einfach einzigartig diese Welt. (13.9.1930) Prof. Klee ist ein unerhört feiner Mensch. Ich werde hier viel lernen können. (27.9.1930)

Sie würde auch emotional viel lernen. Während sie 1928 noch von ihrem Verlobten Hugo Petitpierre, einem schweizerischen Architekten, schwärmte („Hugo, Hugo, wie ich dich liebe“, 11.3.1928), kühlte sich das Verhältnis in den folgenden Jahren sichtlich ab. Der geplanten Eheschließung stand sie ambivalent, später geradezu ablehnend gegenüber. Malen erscheint ihr zunehmend wichtiger als die Ehe: Es hat keinen Wert, nur so zu heiraten, malen, malen, malen. (August 1930) Mein Gott hilf mir noch um ein Jahr, nur ein einziges grosses Jahr – und dann, gewiss auch dann steht eine grosse klaffende Leere da. Steht da, gähnend, abgrundtief. (6.9.1931)

Der Grund für diese Skepsis ist u. a. darin zu suchen, dass ihr Verlobter Hugo ihr immer fremder wurde bzw. sie sich von ihm nicht mehr verstanden fühlte:

228  I  Düsseldorf und Bern

Hugo hat sich verändert und vieles an ihm macht mich nervös. (22.11.1930) Wenn es so ist, dass Hugo mich nicht mehr verstehen will, tja, dann ist nichts mehr zu machen. (Januar 1931)

Das klingt nicht gerade nach einer guten Prognose für die geplante Eheschließung. Andererseits schien sie sich Klee immer mehr anzunähern (was vermutlich ein weiterer Grund für die Entfremdung von Hugo war). August 1930 notiert sie in ihrem Tagebuch folgendes Gedicht: Wer bist du? Seltsames Wesen, dein Lachen ist eigen, Deine Gesichtszüge gut, Deine Augen klar, Die Stimme hellwach, tief prägt sich der Eindruck, doch wer bist du (2.11.1930)

Es ist nicht Hugo Petitpierre – mit dem ihr die Ehe als eine „klaffende Leere“ (s. o., 6.9.1931) erschien –, sondern Paul Klee, über den sie hier rätselte, was auch mit der Distanziertheit Klees übereinstimmt. Eine andere, aber nicht eindeutig zuzuordnende Stelle weist vermutlich in dieselbe Richtung. Sie sei ein „kompliziertes Menschenkind“, wichtig sei jedoch, notiert sie im August 1930 im Tagebuch: [...] dass ich nur dich liebhabe.

Da Hugo Petitpierre sie bereits kurze Zeit später, im November 1930, „nervös“ machte und sie zudem die Ehe mit ihm mit großer Skepsis betrachtete, ist es wahrscheinlich, dass sich diese Stelle nicht auf ihren Verlobten, sondern auf Klee bezieht. Im April 1940, als sie ihren Lehrer kurz vor seinem Tod ein letztes Mal sieht, bezeichnet sie Klee als den „liebsten Menschen“.24 Ich werde ­später, im Kontext der Erkrankung Klees, noch einmal auf Petra Petitpierre zurück­kommen. Es ist darüber spekuliert worden, ob Klee und Petra Petitpierre eine erotische bzw. sexuelle Beziehung hatten (erotisch „im gefürchteten Sinne“, wie Klee treuherzig schreibt). Vor dem Hintergrund des Bildes von Paul Klee, das sich bisher abgezeichnet hat, möchte ich dies bezweifeln. Dass die Beziehung zwischen Wahlverwandtschaft und Eros oszillierte, wobei der Eros wahrscheinlich überwog, wird jedoch deutlich. Petra Petitpierre sollte dann Hugo Petitpierre 1934 doch noch ehelichen. Aus der Ehe ging eine Tochter, Simone, hervor. Es verwundert nicht, dass die Ehe bald wieder geschieden wurde. Tina Roßbroich kommt zu dem wenig schmeichelhaften Urteil:

Freundschaft mit Petra Petitpierre  I  229

Ihr wurde bewusst, daß sie ihre Ehe gar nicht mehr wollte, sie aber nicht aufhalten konnte. So heiratet sie am 3. November 1934 in erster Linie aus finanziellen Gründen.25

Aufstieg des Nationalsozialismus, Amtsenthebung und Emigration Klee hatte die politische Situation der damaligen Zeit auf geradezu dramatische Weise falsch beurteilt. 1930 schätzte er die Situation so ein, dass notfalls das Ausland bei einem allzu bedrohlichen Aufstieg der Nationalsozialisten intervenieren würde. Beunruhigt schien er indes nicht zu sein: Über die Wahlen kann man natürlich nur den Kopf schütteln, aber schwarz sehn, liegt mir einfach nicht. [...] Es kommt ja doch anders, und im Notfall sind England und Frankreich auch noch bereit, ein Wörtchen mitzureden; innere Politik hin und her, es wirkte sich zu sehr nach außen aus, wenn Gelüste in Tat umgesetzt würden.26

1932 war er eher besorgt um seine Residenzpflicht in Düsseldorf, die jetzt vom preußischen Kultusministerium von ihm gefordert wurde, was ihn dazu bewegte, seinen Umzug nach Düsseldorf zu beschleunigen. Man wisse ja nicht, „wer in Preußen die nächsten Verbrechen gegen die Kultur begehn wird“27. Auf ein naheliegendes „Verbrechen gegen die Kultur“, dass nämlich bereits 1932 das Bauhaus von den Nationalsozialisten in Dessau geschlossen worden war, ging Klee nicht ein. Dies ist erstaunlich, da das Bauhaus, trotz aller Queleren, ja für lange Zeit gewissermaßen seine künstlerische Heimat gewesen war. Schwer zu entscheiden, ob er das Bauhaus verdrängt oder „vergessen“ oder überhaupt nie eine tiefergehende Bindung zu ihm entwickelt hatte, was ja Gropius’ Befürchtung gewesen war. Das Einzige, was ihn aktuell am Bauhaus interessierte, war der „Auszug“ Kandinskys, die anderen Auszüge „berühren mich kaum“. Dass es sich dabei auch wohl kaum um „Auszüge“ handelt, erwähnte Klee nicht: Dieser Auszug ist derjenige, der etwas für mich besagt. Die anderen Auszüge berühren mich kaum. Es ist eine Freundschaft, die über eine Reihe von negativen Positionen hinwegkommt, weil die Plusseite standhält und vor allem, weil ein Zusammenhang mit meiner productiven Jugend vorliegt.28

Hier wird ein Stück der Klee’schen Ambivalenz Kandinsky gegenüber sichtbar, die er in seiner Bemerkung über seine größere „Verwandlungskraft“ nur angedeutet hatte. Die Bedeutung von Hitlers „Machtergreifung“ – genau genommen wurde ihm ja die Macht übertragen – am 30.1.1933 wurde von Klee heruntergespielt, zugleich aber auch das Volk von ihm als zu „dumm“ für politische Fragen bezeichnet: Fast hätte ich dir jetzt im ersten Schwung mitgeteilt, daß Hitler Reichskanzler ist, und zwar in einem Kabinett, das ihm kaum die halbe Macht gibt. Es ist ein ‚demokratisches‘ Kabinett, das also eine Mehrheit finden kann auf der rechten Seite des Parlaments, solange es nicht rein radical zu regieren 230  I  Düsseldorf und Bern

versucht. Damit wäre trotz des Ereignisses die Abschwächung der vor einem halben Jahr viel größeren Gefahr Tatsache. [...] Und dann besteht noch die Gefahr, daß Hitler dem Papen entgleitet und dann entgleisen wird. [...] Das Übrige wird sich dem Neugierigen bald zeigen, insofern es ihn persönlich betrifft. Daß dem Ganzen je zu helfen ist, glaube ich nicht mehr. Das Volk ist zu ungeeignet für reale Dinge, zu dumm in dieser Hinsicht.29

Mit der erwähnten „Gefahr“ sollte Klee Recht behalten. Der Reichstag wurde aufgelöst und spätestens am 27.2.1933, mit dem Reichstagsbrand, begann der nationalsozialistische Terror. Tausende von Kommunisten und Sozialdemokraten wurden sofort verhaftet, die sozialdemokratischen Zeitungen verboten und durch eine Notverordnung Hindenburgs wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt. In Klees Briefen findet sich davon praktisch kein Echo. Die naive Hoffnung des Malers auf ein „demokratisches Kabinett“ hatte sich nicht erfüllt. Fast zwanzig Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs finden wir bei Klee erneut eine Haltung, wie sie schon in der Kontroverse mit Marc zum Ausdruck kam. Während Marc das (deutsche) „Volk“ mystifizierte, es als Vehikel zur Einigung und Reinigung Europas unter deutscher Führung verstand, misstraute Klee dem Volk (eine Sichtweise, die sich auch in seiner Haltung gegenüber der Revolution von 1918 zeigte). Eine realistische Einschätzung der politischen und sozialen Lage fehlte bei beiden. Klee und Marc waren auf unterschiedliche Weise Vertreter eines zutiefst unpolitischen deutschen Bürgertums, das Politik durch Patriotismus oder durch eine diffuse politische Metaphysik substituierte, wie sie etwa auch in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen zum Ausdruck kommt: Kultur vs. Zivilisation, Volk vs. Gesellschaft, Reinheit vs. Degeneration. Auch seine Befürchtungen hinsichtlich seiner eigenen Position an der Akademie versuchte Klee herunterzuspielen: „Die Akademie regt sich über Änderungen im Kultusministerium bis jetzt nicht auf“, schrieb er noch am 10.2.1933, also nach der „Machtergreifung“ Hitlers.30 Zwei Monate später, nach den Reichstagswahlen vom 5.3.1933, erhielt er am 21.4.1933 ein Telegramm mit der Mitteilung seiner Amtsenthebung („sie [!] mit sofortiger Wirkung zu beurlauben“).31 Allerdings nahm Klee eher ironisch zur Kenntnis, dass sein neuer Vorgesetzter nunmehr ein „Hitlerischer Studienrat aus Hannover“ war. Mit einer geradezu hypertrophen Beschwörungsformel – vergleichbar seiner Kristallmetapher – versuchte er, die Bedeutung Hitlers zu bagatellisieren: [...] [es] wird, wenn es so weitergeht mit Sport und Mißsport, lang brauchen, bis es [sein eigenes Werk, MC] einmal als Culturgeschichte und Kunstgeschichte beachtet wird, und bis dann vielleicht niemand, ohne im Lexikon nachzuschlagen, sagen kann, er eigentlich der große Hitler war.32

Vollständig verleugnen kann Klee sein Unbehagen allerdings nicht: Vorläufig drückt ein unangenehmes Gefühl auf den Magen, als ob dem neuen Jahr des geeinten nationalen Deutschlands eine allzu zackelfugige [i. e. „fackelzugige“, MC] Schaumweinorgie zum Aufbruch verholfen hätte.33 Aufstieg des Nationalsozialismus, Amtsenthebung und Emigration  I  231

Klees Gesundheitszustand verschlechterte sich. Rheumatische Beschwerden tauchten erneut auf: Es gibt doch nichts Feindlicheres, als wenn Wasser zu Eis wird. Noch nie habe ich bei größter Hitze Schmerzen an den Fingern gespürt.34

Klee klagt über Gleichgewichtsstörungen, auch den Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und Krankheit spricht er an (eine der ganz seltenen Bemerkungen dieser Art). Zunächst machte er sich Hoffnungen auf eine Weiterbeschäftigung: Es war mir möglich mit Junghanns ganz aufrichtig zu sprechen. Ich bin natürlich an der Reihe beurlaubt zu werden, aber er hat noch einige Hoffnung, durch eine andere Eingliederung meiner Person in den Lehrbetrieb, ohne daß ich in meiner Lehrfreiheit beeinträchtigt werde.35

Er musste dann aber an Lily schreiben: Ich gebe zu, daß die ganze Ungewissheit um Amt und Bezüge aufregend wirken kann. Doch das nützt ja nichts, im Gegenteil, es macht krank, zehrt an den Nerven und am Gemüt, und dann geschieht wirklich ein Hauptunglück als wankende Gesundheit.36

Inzwischen nahm die nationalsozialistische Hetze gegen die Düsseldorfer Kunstakademie, gegen Kaesbach und Flechtheim, insbesondere aber gegen Klee zu. In der Zeitschrift Volksparole erschien am 28.3.1933 ein Artikel mit der Überschrift „In der Düsseldorfer Kunstakademie wird aufgeräumt“ (Untertitel: „Was das System Kaesbach verbrochen hat“), verfasst von einer „Fachgruppe für bildende Kunst in Düsseldorf“ und in der NS-Zeitung Rote Erde hieß es am 1.4.1933 über Klee: Dann hält der grosse Klee seinen Einzug, berühmt schon als Lehrer des Bauhauses Dessau. Er erzählt jedem, er habe arabisches Vollblut in sich, ist aber typisch galizischer Jude. Er malt immer toller, er blufft und verblüfft, seine Schüler reissen Augen und Maul auf, eine neue, noch unerhörte Kunst zieht in das Rheinland ein.37

In seinen Briefen an Lily Klee mokierte sich Klee eher über derartige Angriffe (aus denen ja auch eine gewisse Bewunderung sprach), weigerte sich aber zunächst, einen Ariernachweis zu erbringen, nur „wenn er offiziell von mir verlangt wird“. Er wolle sich durch vorauseilenden Gehorsam kein „komisches Denkmal“ setzen38, allerdings sah er sich schließlich doch gezwungen, beim Standesamt Thann (Rhön), dem Geburtsort seines Vaters, den geforderten Nachweis einzuholen. In der Begründung der vorgesehenen Entlassungen der Professoren der Düsseldorfer Kunstakademie heißt es zu Klee lapidar: „Prof. Paul Klee wird als Jude und als Lehrer für unmöglich und entbehrlich angesehen.“39 Die Liste der zu entlassenden Professoren stammte von Prof. Junghanns, der als kommissarischer Leiter eingesetzt worden war, 232  I  Düsseldorf und Bern

ebenjenem Junghanns, von dem Klee sich eine Weiterverwendung auf einer anderen Position erhofft hatte. Noch früher, Ende März 1933, war Kaesbach entlassen worden: Er wurde aufgefordert, innerhalb einer Stunde das Gebäude zu verlassen und es nie mehr zu betreten.40 Nachträglich kann man nur mit einem gewissen Schaudern konstatieren, dass die kulturelle Gleichschaltung Deutschlands innerhalb weniger Monate und ohne nennenswerten Widerstand erfolgte – und Klee dies mit einer gewissen Nonchalance zur Kenntnis nahm. Dass es dabei nicht einfach um eine kulturelle Wende, sondern um „Ausmerzung“ „artfremder Elemente“ ging, macht u. a. ein Artikel in der einflussreichen Deutschen Kulturwacht deutlich, in dem es hieß, dass „eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Befreiung der vierzehn Jahre lang von artfremden Elementen geknebelten deutschen Kunst“ erreicht sei.41 Bemerkenswert ist, dass es zwischen dem 6.4. und 21.9.1933 keinen Briefwechsel zwischen Paul und Lily gab42. Der Briefwechsel wurde erst in der Zeit Anfang Oktober, als Lily sich im Sanatorium Sonnmatt aufhielt, wieder reger. Scheinbar unberührt durch die drohende politische Katastrophe unternahm Klee in seiner Düsseldorfer Zeit eine Reihe von Reisen. Vorübergehend hielt er sich auch in Bern auf. Unmittelbare Gefahr für sich schien er zunächst nicht zu befürchten. Er besuchte 1932 die große Picasso-Ausstellung in Zürich, Anfang Oktober fuhr er – ohne seine Frau – nach Venedig weiter, das offensichtlich einen zwiespältigen Eindruck in ihm hinterließ: Hier ist eine Stadt ohne Auto, ohne Droschken, ohne Pferde, ohne Esel, ohne Bäume, mit wenig Hunden, vielen Katzen (aber keinen schönen). Der Grund ist die permanente Überschwemmung vieler Straßen und der Hauptstraße [...] Man kann wohl auch zu Fuß gehen, aber das ist eine wirre Sache, und die vielen Brücken – viel ist untertrieben – bieten hochrunde Hindernisse, aber noch die geringsten. Das Haupthindernis ist das Fehlen jeglichen Blickpunktes, so dass eine Orientierung ohne Compaß unmöglich ist [...] Unter diesen Umständen bin ich heute stundenlang herumgelaufen, und ohne Training war das viel. Aber doch sehr neuartig und darum reizvoll.43

Gleichwohl kam er mit neuer Arbeitsfreude aus Venedig zurück: Seit meiner Rückkehr aus Venedig habe ich nicht mehr so gearbeitet wie in den beiden Wochen, [...] die Bannung aller Skepsis aus diesem Process ist von Neuem geglückt. Dabei wird manches frei, was Ballast werden wollte.44

Begeistert äußerte sich Klee 1933 über seine Reise im Spätherbst an die Côte d’Azur. Er hielt sich u. a. in Monaco, Nizza, St. Raphael und Port Cros auf. Aus St. Raphael schrieb er an Lily, die sich erneut in Sonnmatt aufhielt (obwohl ihre Kur in Braunlage erst einige Monate zurücklag): Frankreich sei „bald das einzige Land, in dem es nicht penetrantelt“45. Auch hier sollte Klee sich – zumindest in politischer Hinsicht – täuschen, wenn auch nicht so gravierend wie im Hinblick auf Deutschland. Auch in Italien war der Faschismus Mussolinis längst an der Macht. Aus Port Cros schreibt er an Lily: Aufstieg des Nationalsozialismus, Amtsenthebung und Emigration  I  233

... ich bin jetzt ins Paradies gekommen, wo es keine Straßen [...] höchstens einen Esel, überhaupt nichts Böses, nicht einmal elektrisches Licht, sondern schöne warme Petroleumlampen an allen Ecken des Hauses [gibt], wo alles provencalisch ist ...46

Auf der Rückfahrt fuhr er über Paris: Der Verkauf seiner Bilder war jetzt nur noch im Ausland möglich und er traf sich am 23./24.10.1933 mit Kahnweiler, Flechtheim und Kandinsky (beide waren mittlerweile nach Frankreich emigriert). Mit Kahnweiler schloss er einen Generalvertretungsvertrag. Am 26.10. notierte er in seinem Taschenkalender: „nachmittag 2 Uhr bei Picasso“47. Ob er Picasso tatsächlich traf oder ob es sich um einen Termin handelte, der nicht zustande kam, bleibt offen. Picasso erinnerte sich jedenfalls nicht an ein derar­tiges Treffen. Um diese Zeit fällt auch der Entschluss, Deutschland zu verlassen, nicht zuletzt weil sich das Ehepaar Klee nach einer Hausdurchsuchung in Dessau allmählich darüber im Klaren ist, dass Deutschland ein gefährliches Pflaster wird (Klees Bilder wurden dann auch 1937 in der Ausstellung Entartete Kunst ausgestellt). Möglicherweise kam seine sich verdüsternde Stimmung in einer Postkarte aus Paris – das er eigentlich liebte – an Will Grohmann zum Ausdruck: „Schön ist nichts, die Omnibusse und die Autos und die ganze blaustinkende Maschinerie machen traurig.“48 Am 20.12.1933 reiste Lily Klee nach Bern ab, vier Tage später ihr Mann. Weihnachten verbrachten sie bereits gemeinsam in Bern. Die neue Adresse stand schon im November 1933 fest, wie Lily Klee an Will Grohmann schrieb: Bern, Obstbergweg 6, eine vorübergehende Notunterkunft bei Klees Eltern. Zugleich teilte sie ihm mit: „Ja es sieht für unseren Kreis trübe aus. [...] Von Weiterarbeit ist bei Klee keine Rede – nur einpacken u.s.w.“ 49 Ähnlich schrieb sie zwei Monate später, wieder an Grohmann: „Mein Mann hat mit der Arbeit noch nicht wieder angefangen. Er geigt nur sehr viel. Aber es kommt wol [!] bald und urplötzlich der Antrieb“50. Als Übergangslösung fanden Paul und Lily zunächst eine kleine möblierte Wohnung am Kollerweg 6, Lily nannte sie „unser kl. möbliertes boarding-house apartment“. Sie schreibt auch wieder hoffnungsvoller an Grohmann: Wir haben uns beide hier völlig erholt u. sind gern hier. Mein Mann hatte einen großen moralischen Sieg in London bei seiner ersten dortigen Ausstellung. Ich lege Ihnen zwei Besprechungen bei.51

Klee selbst äußerte sich sehr zurückhaltend zu diesen persönlichen und politischen Umbrüchen. In seinem Taschenkalender notierte er: „hinkt Europa oder hinke ich?“52 und an Will Grohmann schrieb er im Mai 1934 aus Bern: Die große Stille zwischen mir und Deutschland ist ja auch zu unheimlich, um für bar genommen zu werden. Daß persönliche Beziehungen latent sind, liegt ja zwar an mir, der ich meine Existenz dislocieren mußte. [...] Unser Leben ist hier still und einfach, ich habe mit ganz kleinem Orchester wieder einiges gemalt.53 234  I  Düsseldorf und Bern

Die Auswirkungen seiner „Dislocierung“ sollte Klee bald auch in seiner Zusammenarbeit mit Grohmann erfahren. Als gemeinsames Projekt war geplant, dass Grohmann einen Band Handzeichnungen 1921–1930 im Rahmen einer mehrbändigen Gesamtausgabe veröffentlichen sollte. Als der Band dann 1934 erschien, wurde er, wie nicht anders zu erwarten, von der Gestapo beschlagnahmt. Verhandlungen Grohmanns und des Verlags blieben erfolglos, der Band wurde als „unerwünschtes Schrifttum“ kon­ fisziert. Damit war das Projekt beendet, weitere Veröffentlichungen Klees in Deutschland ausgeschlossen. Grohmann selbst war mittlerweile als Gymnasiallehrer entlassen worden. Ganz so „still“, wie Klee schreibt, verlief das Leben in Bern allerdings doch nicht. Paul und Lily trafen alte Freunde und Bekannte wieder: die Jugendfreunde Fritz Lotmar, Hans Bloesch und Louis Moilliet, Hanni Bürgi und ihren Sohn Rolf, das Sammlerpaar Herrmann und Margrit Rupf. Es war insbesondere Rolf Bürgi, der den Klees bei ihrer Emigration und bei der Freigabe der beschlagnahmten Unterlagen zur Seite stand. Da Paul und Lily exzellente Musiker waren, waren sie rasch gern gesehene Gäste im Berner Musikleben. „Eine herausragende Rolle in der Berner Gesellschaftskultur spielten die Musikabende bei Bürgis, nicht nur wegen ihrer Eleganz, sondern auch wegen der Teilnahme junger Talente. In diesem Kreis hörten sie den Pianisten Walter Gieseking und trafen den jungen Komponisten Albert Moeschinger.“54 Aus der Sicht Lily Klees fand Paul allmählich wieder in seinen alten Arbeitsrhythmus zurück. Nach einer Pause – Klees Malmaterial war noch in Düsseldorf – nahm Klee seine Arbeit im Mai 1934 wieder auf. Er kam, trotz Zwangspause in diesem Jahr, immerhin auf mehr als 200 Werke.55 Einigermaßen zuversichtlich schrieb Klee an Grohmann, dass er wieder male. Ebenfalls an Grohmann schrieb Lily am 9.6.1935: „Es geht uns gut. M. Mann arbeitet: ich hätte fast gesagt Tag und Nacht.“56 Mittlerweile hatten die Klees auch eine eigene bescheidene Wohnung im Kistlerweg 16 gefunden. Trotz aller äußeren Schwierigkeiten fand 1934 eine Ausstellung in London (in The Mayor Gallery) statt, die, wie Lily Grohmann gegenüber betonte, positiv besprochen wurde. Eine von Max Huggler organisierte Retrospektive 1935 mit 273 Arbeiten in Bern wurde zwar in der Presse wohlwollend erwähnt, Verkäufe hingegen fanden kaum statt. Da man mit der Verständnislosigkeit des Berner Publikums rechnete, wurden den Bildern Klees Plastiken seines Freundes Haller zur Seite gestellt. Ein eigentümliches Zusammentreffen, über das Klee vermutlich nicht allzu begeistert war: Klee hatte ­mehrfach negativ über Haller geurteilt, als Mensch, aber auch als Künstler. Huggler übertraf die Vorsichtsmaßnahmen noch dadurch, indem er Grohmann, der den Eröffnungsvortrag halten sollte, ausdrücklich bat, sich mit „psychologischen oder kunst­ theoretischen Ausführungen“ zurückzuhalten.57 Geradezu parodistisch mutet an, dass Huggler darüber hinaus versuchte, Klee als schweizerischen, ja als Berner Künstler zu präsentieren: In den wenigen Sätzen seines Katalogvorworts gelang es ihm, Klees kulturelle Verankerung in Deutschland, seine Lebens- und Arbeitszeit in München und am Bauhaus bis hin zu seiner EmigraAufstieg des Nationalsozialismus, Amtsenthebung und Emigration  I  235

tion fast vollständig auszuklammern. An einer Stelle sprach er von einem ‚Aufenthalt im Ausland‘, so als wäre dies ein kurzer Abstecher von seinem eigentlichen Lebensort Bern gewesen [...].58

Von der Schweizerischen Nationalausstellung 1936 in Bern blieb Klee erstaunlicherweise ausgeschlossen. Auch die Verkäufe gingen stark zurück, so dass er auf die Unterstützung einzelner Sammler (etwa Rolf Bürgi) angewiesen war. Werckmeister führt dies – mit einer diplomatischen Formulierung – darauf zurück, dass Klee in der „nüchterneren künstlerischen Kultur“ der Schweiz wenig Anklang fand: Dass Klee seine Kunsttätigkeit in der Schweiz kategorisch privatisierte, entsprach den Verhältnissen, denn hier konnte er weder auf eine technologisch verklärte künstlerische Kultur zurückgreifen, wie sie ihn am Bauhaus in Dessau gestützt hatte, noch konnte er die mystische Selbstexaltierung fortsetzen, mit der er sich schließlich jener Kultur entzogen hatte und die auf deutsche Verhältnisse zugeschnitten war [...].59

Positiver als in der künstlerisch konservativen Schweiz war die Rezeption seines Werkes in den USA und in England, während Klee in Frankreich, anders als in den zwanziger Jahren und trotz der Unterstützung durch Zervos und die Cahiers d’art, nur noch auf geringes Interesse stieß. Durch die Initiative Flechtheims, der nach England emigrierte, fanden bereits 1934 und 1935 in England zwei Klee-Ausstellungen in The Mayor Gallery statt, wobei die Reaktion von Publikum und Kritik zunächst verhalten war. Es waren schließlich die Artikel von Herbert Read, die Klee einem breiteren Publikum näherbrachten. 1938 war Klee an der Exilausstellung 20th Century German Art beteiligt, die für ihn auch finanziell erfolgreich war. Weitere Ausstellungen folgten, 1945 sogar in der National Gallery. In Frankreich hatte Kahnweiler durch die Vermittlung von Flechtheim und dem schweizerischen Sammler Rupf die Generalvertretung von Klee übernommen. Kahnweiler veranstaltete 1934 und 1938 zwei Klee-Ausstellungen, die finanziell weitgehend erfolglos waren und auch von der Kritik kaum wahrgenommen wurden. Zudem verlor Klee vorübergehend die Unterstützung von Zervos: Er hatte sich, anders als Picasso, Braque und Kandinsky, geweigert, eine Arbeit für die Unterstützung der finanziell angeschlagenen Zeitschrift zur Verfügung zu stellen.60 Eine „Erfolgsgeschichte“ war dagegen Klees Präsenz in den USA. Während Galka Scheyers Projekt der Blauen Vier (Klee, Kandinsky, Jawlensky, Feininger) in den zwanziger Jahren mehr oder weniger erfolglos gewesen war, hatte Klee 1930 eine erste große Ausstellung im Museum of Modern Art. Nach anfänglicher Verständnislosigkeit des amerikanischen Publikums trug die Vermittlungsarbeit des Museumsleiters Barr schließlich Früchte. Ein besonderer Glücksfall war für Klee, dass drei deutsche Kunsthändler, J. B. Neumann, Karl Nierendorf und Curt Valentin, nach New York emigrierten und von nun an eine geradezu rastlose Ausstellungstätigkeit entwickelten. Den Galeristen gelang es offenbar, über ihre weiterhin bestehenden Kontakte – u. a. mit der Berliner Galerie Buchholz – aus dem Fundus der von den Nazis konfiszierten „entarteten Kunst“ Klee-Bilder aufzukaufen, ein Teil der ausgestellten – und verkauften – Bilder stünde dann unter 236  I  Düsseldorf und Bern

dem Verdacht der Raubkunst. Im Kontext der Ausstellung Gute Geschäfte – Kunsthandel in Berlin 1933–1945 (2011) heißt es: Die NS-Regierung beauftragte vier Galeristen – Ferdinand Moeller, Karl Buchholz und Bernhard Böhmer in Berlin sowie Hildebrand Gurlitt in Hamburg mit dem devisenbringenden Verkauf der beschlagnahmten Werke im Ausland. [...] Bei den Recherchen stellte sich heraus, dass nur einer der von uns erfassten Kunsthändler [Neumann, Nierendorf und Valentin, MC] nach der Emigration ausgebürgert wurde. Dies legt die Vermutung nahe, dass die im Ausland lebenden Kunsthändler vom NS-Staat als mögliche Devisenbringer willkommen waren und damit eine Sonderstellung erhielten. Curt Valentin konnte in New York mit Kunstwerken handeln, die ihm von der Galerie Buchholz aus Berlin zugesandt wurden. Auch Karl Nierendorf verkaufte in New York Bilder aus dem Bestand seiner Berliner Galerie, deren Erlöse in Devisen allerdings abgeführt werden m ­ ussten.61

Die Arbeiten aus der Düsseldorfer Zeit Ich habe bereits auf 1935, auf den Beginn von Klees Erkrankung und zugleich seines Spätwerks, vorgegriffen. Es bedarf deshalb noch einmal eines Rückblicks und einer Würdigung der Bilder aus der Düsseldorfer Zeit. Dabei müssen zunächst einige Fakten erwähnt werden. Nach Klees Weggang aus dem Bauhaus gibt es – sieht man von einigen Hinweisen in den Briefen an Lily ab – keine schriftlichen Äußerungen zu seinen Bildern mehr, auch nicht in Form von Skizzen, wie sie in seinem Pädagogischen Nachlass enthalten sind. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Klee seine theoretischen und pädagogischen Überlegungen speziell für seine Arbeit am Bauhaus konzipiert hatte, bei der er sich angesichts der chronischen Konflikte über die Ausrichtung des Bauhauses, auch aufgrund der Tatsache, dass er in den akademischen Unterricht eingebunden war und dabei auch angegriffen wurde, theoretisch und pädagogisch legitimieren musste62. In Düsseldorf dagegen hatte er nur noch eine Malklasse zu betreuen. Mit seinen weitgehend traditionell orientierten Kollegen kommunizierte Klee zwar, musste sich ihnen gegenüber jedoch nicht rechtfertigen, zumal er die Protektion des Akademie-Direktors Kaesbach besaß. Wir sind deshalb, was die Düsseldorfer Zeit anbelangt, ausschließlich auf Klees Briefe angewiesen. Die Düsseldorfer Bilder, obwohl es sich um eine Schaffensphase von fast drei Jahren handelt, werden von Klee selbst, aber auch von einer Reihe seiner Interpreten eher kursorisch behandelt, so als seien sie lediglich eine Übergangsphase zu seinem Spätwerk. Der Fokus liegt dabei dann zumeist auf seinen „pointillistischen“ Bildern, unter denen Ad Parnassum (1932, Farbabb. XXXI) eine besondere Rolle spielt.63 Während Klee in seinen Briefen an Lily zum Beispiel ausführlich über seine Inventionen oder über seine Farbund Raumexperimente am Bauhaus berichtet, beschränkte er sich in seiner Düsseldorfer Zeit auf Andeutungen. Der „Pointillismus“, der einige der zentralen Werke Klee aus dieser Zeit (insbesondere 1932) prägt, wird von Klee eher beiläufig erwähnt: Die Arbeiten aus der Düsseldorfer Zeit  I  237

Meine Arbeit betrifft zur Zeit weniger abzuschließende Bilder, als Versuche mit verschiedenen neuen Grundierungen. Dadurch komme ich wieder auf Lasuren. Wahrscheinlich verbinde ich damit das sogenannte Pointillieren. Zunächst laß ich’s. Es sind zum Teil Gründe mit viel Sand, aber sachgemäß gearbeitet (in der maltechnischen Versuchswerkstätte).64

Ähnlich kursorisch, um nicht zu sagen enigmatisch, ist eine weitere Bemerkung Klees über seine Absicht, das „Voluminöse“ „direct“ zu gestalten. Wir finden im Werk keinen Anhaltspunkt dafür, ob Klee damit eine neue Maltechnik meinte. Das Bild Kleine Felsenstadt (1932) z. B. reproduzierte, was Klee schon seit Jahren anstrebte, nämlich Volumina flächig – also „direct“? – darzustellen:65 Ich malte eine Landschaft etwa wie der Blick von den wüsten Bergen des Thales der Könige ins Fruchtland. Die Polyphonie zwischen Untergrund und Atmosphäre ist so locker wie möglich gehalten. Nun folgt ein Versuch, das Voluminöse direct zu gestalten, trüb und düster im Colorit, aber es muss wohl sein. Das Andere hört deswegen nicht auf.66

Man sollte sich durch das „Nun folgt“ nicht verwirren lassen. Gerade der Hinweis auf das Tal der Könige, also auch auf die Ägyptenbilder macht deutlich, dass Klee in diesen Bildern Volumina (zum Beispiel „Monumente“) ausnahmslos flächig, „direct“, darstellte. Etwas aufschlussreicher sind Bemerkungen, die er im Februar 1933, nach der Rückkehr von seiner Venedigreise im Spätherbst 1932, Lily gegenüber machte. Er erfahre eine neue künstlerische Inspiration, könne „Ballast“ abwerfen und erlebe einen „gelinden Zeichenrappel“: Seit meiner Rückkehr aus Venedig habe ich nicht mehr so gearbeitet wie in den beiden Wochen. Die Zahl sagt’s nicht, aber die Ganzheit und die Freude, die sich dabei täglich auf ein paar Stunden einstellte. Die Bannung aller Skepsis aus diesem Process ist von Neuem geglückt. Dabei wird manches frei, was Ballast werden wollte. Alles abgeworfen. Da sind einige Zeichnungen, die sich ausdrücklich mit Ballastabwerfen befassen. [...] ‚Impondérable‘ und ‚Sozusagen‘ sind hierfür wohl die Hauptbeispiele.67

Obwohl Klee einen „gelinden Zeichenrappel“68 erfuhr, bleibt unklar, was Ballastabwerfen hier bedeutet. Erst im extrem reduktionistischen Spätstil sollte „Ballastabwerfen“ ein zentrales Thema werden. Der „Zeichenrappel“ hingegen, wie die folgenden Bemerkungen in Klees Brief zeigen, bezog sich vermutlich auf den politischen Kontext. Man hat deshalb diesen „Zeichenrappel“ mit den so­genannten „Revolutionsblättern“ in Verbindung gebracht, Blätter, die Klee offenbar seinem Freund Zschokke gezeigt hatte, der sie – so Lily Klee – als Zeichnungen zur „nationalsozialistischen Revolution“ gedeutet hat. Sieht man sich diese Blätter genauer an (etwa: Gewalt [1933], Abb. 68), so hat man nicht den Eindruck, dass sie sich direkt auf die „nationalsozialistische Revolution“ beziehen, sondern eher in allgemeiner Form Gewalt und Militarismus darstellen. Eine direkte Kritik am Nationalsozialismus wäre für Klee möglicherweise lebensgefährlich geworden. 238  I  Düsseldorf und Bern

67  Paul Klee, Kleine Felsenstadt, 1932, 276, Ölfarbe auf Leinwand, 44,5 x 56,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Wahrscheinlich hat Grohmann Recht: Sieht man einmal von den – direkt oder indirekt – politisch motivierten Arbeiten ab, dann stehen die pointillistischen Arbeiten im Mittelpunkt der Düsseldorfer Zeit, und in ihnen wiederum das Ausloten des „Lichtraums“. Damit hätte Klee für sich nicht nur einen Abstand zu den konstruktivistischen Arbeiten der Dessauer Zeit geschaffen, sondern auch eine neue Raumperspektive für sich eröffnet. „An die Stelle der räumlichen Konstruktion, die zur Not auch ohne Farbe darstellbar wäre, tritt nun der farbige Lichtraum. Für Goethe war das Licht ein Urphänomen, in der Natur wie in der Kunst [...] und die Farben waren ihm Taten und Leiden des Lichts.“69 Allerdings hatte Klee auch schon in seiner Dessauer Zeit begonnen, mit pointillistischen Bildern zu experimentieren, wie etwa Sonnenuntergang (1930) zeigt. Seit 1931 war Klee in rascher Folge eine Reihe von eindrucksvollen pointillistischen Arbeiten gelungen (da Klee zwischen Dessau und Düsseldorf pendelte, lässt sich der genaue Entstehungsort der Bilder nicht rekonstruieren). Auffällig ist dabei auch die Vergrößerung der Formate, die, wie wir gesehen haben, Klee in seinem Brief an Lily vom 17.2.1932 erwähnt. Klee führte die großen Formate – auch eine neue „Lust an der Farbe“ – u. a. auf die großen Fensterausschnitte seines neuen Düsseldorfer Ateliers zurück, also nicht primär auf die Bekanntschaft mit den großen Formaten Picassos, die er erst in der Picasso-Ausstellung in Zürich im Oktober 1932 kennenlernen sollte70. Zu den wichtigsten großformatigen pointillistischen Arbeiten der Düsseldorfer Zeit gehören: Das Licht und Etliches ([1931], 95 x 97 cm), Diana ([1931], 80 x 60 cm), Polyphonie ([1932] Farbabb. XXX, 66 x 106 cm), Ad Parnassum ([1932], 100 x 126 cm, Farbabb. XXXI). Die im Werkverzeichnis Klees unmittelbar hintereinander geschaffenen Werke Polyphonie und Ad Parnassum (sie tragen die Werknummern 273 und 274) sind die größten von Klee bisher geschaffenen Formate. Die von Klee entwickelte pointillistische Technik war außerordentlich aufwendig und unterschied sich wesentlich von der von Seurat und Die Arbeiten aus der Düsseldorfer Zeit  I  239

68  Paul Klee, Gewalt, 1933, 138, Kreide auf Papier auf Karton, 17,1 x 20,9 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Signac entwickelten. Wenn beide gelegentlich – auch von Grohmann – unter dem Titel „Divisionismus“ zusammengefasst werden, dann übergeht diese Bezeichnung den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Malweisen. Während sich für Seurat und Signac die Farben nach dem Prinzip der Simultankontraste im Auge zusammensetzen bzw. mischen, beginnt Klee mit einem mit Stempel oder Pinsel aufgetragenen mosaikartigen Farbfleck, der anschließend mit verschiedenfarbigen Lasuren überzogen wird, so dass sich eine transparente Farbmischung bei jedem einzelnen der Mosaikelemente ergibt. Anschließend werden diese zu Farbflächen zusammengefügt, die sich dann polyphon – d. h. transparent – überlagern. Dieser Effekt lässt sich am deutlichsten in Polyphonie (1932, Farbabb. XXX) beobachten: Die mosaikartig zusammengefügten Farbflächen überlagern sich transparent, so dass Klee in der Regel keine zusätzlichen konturierenden Linien benötigt, wie dies in den polyphonen Bildern der Dessauer Zeit noch weitgehend der Fall war (etwa in Polyphon gefasstes Weiss [1930]). Es entsteht ein autonomes, fast vollständig von delikaten Farbabstufungen und -überlagerungen getragenes Bild. Dies ist Klee mit Ad Parnassum nicht in demselben Maße wie in Polyphonie gelungen. Die gegenständlichen Elemente des Bildes (eine pyramidale Erhöhung im Hintergrund, möglicherweise der „Parnass“, ein irrational großes Eingangstor, eine rote Sonne) legen eine realistische Bildperspektive nahe, die im Widerspruch zu dem abstrakt-polyphonen Farbaufbau des Bildes steht.71 Ähnliches gilt für Das Licht und Etliches (1931). Das Bild gleicht eher Polyphonie, besitzt allerdings nicht dessen klare, geometrisch aufgebaute polyphone 240  I  Düsseldorf und Bern

Flächen. Gelungener erscheint eine derartige lineare Gliederung in Aufgehender Stern (1931), ohne dass damit das zugrunde liegende Problem der Disharmonie zwischen abstrakt-farbiger und gegenständlicher Darstellung gelöst wäre. Aus formaler Perspektive ist Klee die Lösung dieses Problems in Polyphonie am überzeugendsten gelungen. Der zweite bedeutende Bilderkomplex aus der Düsseldorfer Zeit sind die Arbeiten, die sich, anders als die „Revolutionsblätter“, direkter auf politische Zusammenhänge beziehen. Trotz seiner stellenweise naiven politischen Äußerungen hat Klee gleichwohl eine Reihe eindrucksvoller Werke geschaffen, in denen er sich mit der politischen Entwicklung auseinandersetzte, beginnend mit der ätzenden Karikatur Stammtischler (1931), in der er, ohne direkt auf naturalistische Ähnlichkeit abzuheben, Hitler als hämischen kleinbürgerlichen „Stammtischler“ darstellt. Hinreißend und in ihrem verhaltenen Pathos ergreifend ist die Zeichnung Auswandern (1933), in der sich ein Mann und eine Frau in einen leeren Raum 69  Paul Klee, auswandern, 1933, hineinbewegen, der Mann angestrengt nach vorn schau181, Kreide auf Papier auf Karton, 32,9 x 21 cm, Zentrum Paul Klee, end, während die Frau ihren Kopf resigniert an seine Bern Schulter lehnt. Zweifellos hat Klee darin sein eigenes Schicksal gesehen, über das er nach seiner Amtsenthebung wohl keine Zweifel mehr hatte. Dass Klees Malerei 1933 unter dem Zeichen seiner Amtsenthebung und be-­ vorstehenden Emigration stand, zeigt auch das ergreifende Ölbild Von der Liste gestrichen (1933). In gedämpften Farben zeigt es ein trauriges, schrundiges Gesicht mit geschlossenen Augen und extrem nach unten gezogenen Mundwinkeln – eine Art Vorwegnahme des Bildes Gezeichneter, in dem sich bereits Klees Krankheit und Emigration niederschlugen. Der linke Teil des Kopfes ist mit einem schwarzen Kreuz durchgestrichen. Das Motiv der geschlossenen Augen erscheint auch in Kopf eines Märtyrers (1933). Eine Reaktion auf den geforderten Ariernachweis dürfte das mit Kleisterfarbe gemalte Bild Maske roter Jude (1933) sein, ein Meisterwerk der subtilen Ironie Klees. Einerseits zeigt das Bild eine „typisch jüdische“ übergroße gebogene Nase und einen stechenden Blick. Allerdings ist das Gesicht, ähnlich wie in Von der Liste gestrichen, durchgestrichen, u. a. mit einem stilisierten, erst auf den zweiten Blick erkennbaren Hakenkreuz. Auch in dem Bild Europa (1933, Farbabb. XXXII) taucht das Durchstreichen als Motiv wieder auf. Wie in einer wehmütigen Reminiszenz griff Klee das Thema des farbenfrohen pointillistischen Mosaiks bzw. des Lichtraums wieder auf. Diesmal jedoch sind die Elemente des Mosaiks verwittert oder teilweise schon abgefallen, so dass der Malhintergrund, die nackte Leinwand, sichtbar wird: Europa zerfällt. Der mittlere Teil des Bildes, an dem die Die Arbeiten aus der Düsseldorfer Zeit  I  241

Verwitterung am stärksten ist, ist durchgestrichen, eine weibliche Figur am linken Bildrand starrt gleichsam ­ratlos ins Leere. Ein schwarzes Ausrufezeichen am rechten Rand soll die politische Botschaft vermutlich verstärken. Eine Reihe von Bildern lassen sich keiner dieser beiden Gruppen zuordnen, teilweise erinnern sie an die phantastisch-surrealen Werke der Bauhaus-Zeit, teilweise sind sie Vorgriffe auf Klees Spätwerk. Charakteristisch ist das skurrile Lumpengespenst (1933, Farbabb. XXXIII), das Klee der „Sonderklasse“ zurechnete. Es ist zumindest insofern „Sonderklasse“, als sich dafür in Klees bisherigem Schaffen kein direktes Vorbild findet. Vergleichbar ist es am ehesten der Vogelscheuche aus dem Jahr 1935, die selbst wiederum dem expres­ siven Spätwerk zuzurechnen ist. Lumpengespenst be70  Paul Klee, von der Liste gestrichen, 1933, 424, Ölfarbe auf steht aus einer dunkel-olivgrünen Maske vor dunklem Papier auf Karton, 31,5 x 24 cm, Hintergrund, die auf zwei roten Beinen geht. Die Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Maske ist dem Betrachter zugewandt und besteht Livia Klee lediglich aus kreisartig angedeuteten Augen sowie einfachen Strichen für Nase und Mund. Eigenartig daran ist, dass der Kopf der Maske von einer Art rotem Flammenkranz umgeben und der Mund zugenäht ist. Dies dürfte als politische Botschaft zu verstehen sein: Zwar ist mein Mund zugenäht, aber mein Kopf steht in Flammen. Weniger überzeugend ist allerdings der mit einem ähnlich expressiven Gestus gemalte Negerblick (1933): Das Weiß des („Neger“-)Augapfels, das sich von einem schwarzen Hintergrund abhebt. Negerblick dürfte den von Franciscono sogenannten „Abstrusitäten“ Klees zugehörig sein.

Erkrankung (1935–1940) Im Herbst 1935 zog erneut eine dunkle Wolke in Klees Leben auf: Er erkrankte zunächst an einer langanhaltenden Bronchitis, zu der Ende des Jahres noch ein Hautausschlag hinzukam, den die Ärzte fälschlicherweise als Masern diagnostizieren. Ab 26.10. wurde Klee bettlägerig, vom 15.–17.11. trat hohes Fieber auf. Lily Klee beschreibt in einem Brief an Grohmann vom 16.11. die ersten Anzeichen von Klees Erkrankung (sie sollte sich später als systemische Sklerose bzw. Sklerodermie herausstellen, die damals noch nicht als solche diagnostiziert werden konnte72): „M. Mann ging es die ganze Zeit nicht besonders. Ein hartnäckiger tiefsitzender Bronchial-Katarrh hat ihn sehr mitgenommen.“73 Die Ärzte hätten „völlige körperliche Schonung verordnet“. Sie verweist in ihrem Brief auch auf den Besuch Jawlenskys (der inzwischen an chronischer Arthritis erkrankt war), dem es gesundheitlich ebenfalls schlecht ging: Er leide „unsägliche Schmerzen“. Obwohl Lily 242  I  Düsseldorf und Bern

aufgrund ihrer Freundschaft mit Marianne von Werefkin vermutlich nicht unbedingt gut auf Jawlensky zu sprechen war, äußert sie sich ausgesprochen liebevoll: „ein rührend lieber und sensibler Mensch“.74 Ich möchte im Folgenden auf den – bisher weitgehend unveröffentlichten – Briefwechsel zwischen Lily Klee und Will Grohmann eingehen, weil dieser, trotz aller Versuche Lilys, die Krankheit ihres Mannes herunterzuspielen, ein anschauliches, teilweise dramatisches Bild von Klees psychischer und körperlicher Verfassung in den Jahren von 1935 bis 1940 vermittelt. Weniger umfangreich, gleichwohl aufschlussreich ist Paul Klees Briefwechsel mit seinem Freund Grohmann. Beide Korrespondenzen zusammen vermitteln wahrscheinlich den direktesten derzeit verfügbaren Einblick in Klees Leben von 1935 bis zu seinem Tod 1940. Ergänzt werden diese Briefwechsel durch die autobiographischen Aufzeichnungen von Petra Petitpierre. Auf diese Weise können wir Klee in der Zeit seiner Erkrankung – die zugleich die Zeit seines Spätwerks war – aus drei verschiedenen Blickwinkeln sehen, was in der Synthese ein einigermaßen authentisches Bild seines Lebens zwischen 1935 und 1940 ergeben mag. Da Lily Klee auch mit Grohmanns Frau Gertrud („Eulein“) freundschaftlich korrespondierte, gab es in dieser Viererkorrespondenz, wie bereits erwähnt, ein Tabu: Grohmann war – vermutlich ab 1934 – mit Gret Palucca liiert, einer weiteren Freundin des Ehepaares Klee. Weder Paul noch Lily Klee gingen auf Grohmanns Dreierkonstellation ein. Kurz nach dem Brief vom 26.11., am 2.12.1935, schreibt Lily, wie schwer Klees Erkrankung nicht nur ihn selbst, sondern auch sie getroffen habe. Gleichzeitig verweist sie auf einen weiteren Schicksalsschlag (eine „schwere Zeit“), der sie und Paul bereits früher ereilt habe: der Tod von Karla Grosch (1933)75, die von den Klees wie eine Tochter aufgenommen worden war. Leider kann Ihnen mein Mann noch nicht selbst schreiben, sodaß ich alle Korrespondenz nun für ihn besorgen muß [...] Sie werden von Ihrer l. Frau gehört haben, was für eine schwere Zeit wir durchgemacht haben. Ich war nur noch ein Nervenbündel, bis mich die liebe Frau Grosch (Karlas Schwester) seit 21. November entlastet hat [...] Mein Mann liegt nun schon die 6. Woche im Bett, aber Gottlob geht es nun doch schon etwas aufwärts, wenn auch sehr langsam. Wir hoffen, daß er Ende der Woche zum 1. Mal ein wenig aufstehen darf. Allerdings wird es noch einige Zeit dauern, bis er völlig wiederhergestellt ist und bei völligen Kräften ist.76

In scherzhaftem Ton fügt sie noch hinzu, dass Klee nun wieder esse und er, Grohmann, sich vorstellen könne, mit „welchem Raffinement“ beide – Lily und Paul – sich die Speisen ausdächten. Bedrohlich, geradezu düster klingt jedoch ein Brief vom 29.12.1935, in dem Lily sich auch auf die Glückwünsche zu Klees Geburtstag bezieht: Den Menschen kam offenbar zu Bewusstsein, daß es doch ein Verlust gewesen wäre, wenn der Maler Klee von seiner schweren Erkrankung nicht wieder aufgestanden wäre. Die Möglichkeit war einige Zeit dazu vorhanden. Aber so ist es besser und schöner dem Lebenden zu schreiben.77 Erkrankung (1935–1940) I 243

Sie fügt hinzu, dass Klee derzeit täglich nur „2½ Std. außer Bett“ ist. Lily unterschätzte bis zu Klees Tod die Schwere seiner Erkrankung. Da es immer wieder kurze Erholungsphasen gab, schrieb sie auch verhalten optimistische Briefe an Grohmann, z. B. nach einer fünfwöchigen Kur Klees 1936 in Tarasp, wobei sie zumindest rückblickend erkannte, dass sich Klee in Lebensgefahr befunden hatte: Ich mache mir keine Illusionen, daß er ganz gesund hier weggehen wird. ... Vielleicht wird es noch ein Jahr dauern, bis er wieder 100 % gesund sein wird. Sie dürfen nicht vergessen, daß er nicht weit vom Ende war.78

Lily bezweifelte den Sinn der Kur („M. Mann braucht keine Kur“), begleitete Paul auch nicht dabei und deutete Grohmann gegenüber an, dass eigentlich sie eine Kur nötig habe, zumindest aber „Ruhe“: Ich habe ja nun allein auch die nötige Ruhe, die ich notwendig brauche, um meine Nerven wieder in Ordnung zu bringen. Es war ein schweres Jahr für mich u. jetzt erst merke ich, wie müde [...] ich geworden bin.79

Es ist für das Verständnis der Krankheit Klees, aber auch für die Entwicklung seines Spätwerks wesentlich, dass Klee seit Beginn seiner Erkrankung mit wenigen Unterbrechungen schwer krank war, mit anderen Worten, sein Werk in dieser Zeit der Krankheit abgerungen war. Lily dagegen verharmloste in ihren Briefen den sich sukzessiv verschlechternden Gesundheitszustand ihres Mannes. Paul Klee absolvierte 1936 noch eine weitere Kur in Montana sur Sierre, wobei Lily ihn diesmal begleitete und selbst eine Kur benötigte. Sie musste zugeben, dass ihrem Mann die Kuren gut getan hatten: „[D]ie Kräfte sind bedeutend besser geworden.“ 1936 war auch das Jahr, in dem Klees künstlerische Produktion am stärksten zurückgegangen war, er schuf nur noch 26 Arbeiten. Lily notierte das Datum, an dem Klee wieder zu malen begann: der 7.4.1936.80 Etwas später schreibt sie an Grohmann: Erfreulich ist, dass er ganz von selbst in den letzten Wochen wieder angefangen hat wieder etwas zu arbeiten. Nach 1 Jahr. Es sind 6 sehr schöne Pastelle entstanden, mit teilweise etwas düsterem Kolorit.81

Auffällig ist, dass Lily ab Mitte 1937 Klees Gesundheitszustand verharmloste, dagegen seine gesteigerte Produktivität, ihre eigene Belastung und ihren Anteil an Klees angeblicher Besserung hervorhob. Am 15.5.1937 schreibt sie an Grohmann: Ihm geht es Gottlob recht ordentlich. Seine Kräfte nehmen täglich zu [...] Durch eine äußerst sorgfältige Diät, von mir ausgeklügelt, sind seine Kräfte vorangekommen [...] Was das Schönste ist, er hat eine ausgezeichnete Arbeitszeit. Es ist viel Neues erprobt u. entstanden u. er ist im besten Zug u. voll Ideen. Wenn ich mir nicht das Hoffen abgewöhnt hätte [...] so würde ich sagen: er ist über 244  I  Düsseldorf und Bern

den Berg. Dagegen hat mich der Winter viel Nervenkraft gekostet. Andauernde anstrengende Pflege, Sorgen um ihn – das spüre ich jetzt an lästigen Neuralgien u. sonstiger allgemeiner Gleichgültigkeit.82 (Hrv. MC)

Am 3.7.1937 berichtet sie Grohmann von einer „Zeichenperiode“ Klees: „Er sitzt abends bis 11 Uhr u. Blatt für Blatt fällt zu Boden wie einst. Seltsam. Dabei ist er doch noch immer nicht wieder ganz gesund.“ Am 13.8.1937 schreibt sie Grohmann aus Ascona, wo sie und Paul sich „ein winzig kleines Häuschen, sehr billig, für mehrere Monate“ gemietet hatten. „Ihm geht es im Großen und Ganzen ordentlich, wenn auch ab und zu Beschwerden sich einstellen.“ Aus den Aufzeichnungen Petra Petitpierres können wir dagegen entnehmen, dass sie 1937, nach Jahren der Trennung, einem von der Krankheit schwer gezeichneten Mann gegenübersteht. Anschließend folgt eine Ausführung über Klees Kälteempfindlichkeit, die geradezu skurril anmutet und ein Licht auf Lilys und Pauls diesbezügliche Arrangements wirft: Wir müssten eigentlich den ganzen Winter hierbleiben. Ich hoffe, dass wir das in einem anderen Jahr verwirklichen können, denn d. Winter in Bern ist für eine so zarte Konstitution wie m. Mann sie hat, geradezu verheerend.83

Am 12.11.1937 schreibt sie dann: „Wir sind gerade rechtzeitig [sic!] vor dem Eintreten des winterlichen Wetters, Kälte und Schneefall“ aus dem „ticono“ zurückgekehrt. Es blieb beim einmaligen Aufenthalt im Tessin. Am 2.5.1938 schreibt sie an Grohmann, es sei „winterlicher denn je, schneit, schneestöbert, sodass er nicht hinauskann“.84 Knapp zwei Monate später, am 12.6.1938, schreibt sie dann w ­ iederum, die „kolossale Sommerwärme“ 85 tue Klee gut. Der Briefwechsel mit Grohmann gibt keinen Aufschluss darüber, warum die beiden, angesichts der „zarte[n] Konstitution“ Klees „rechtzeitig“ in die winterliche Kälte Berns zurückgekehrt waren und auch den Aufenthalt im milderen Klima Asconas nicht wiederholten. Finanzielle Gründe allein konnten es nicht gewesen sein, denn im Sommer 1938 und 1939 verbrachten sie wieder längere Zeit in St. Beatenberg im Berner Oberland (1938) bzw. in Faoug am Murtensee (1939). Zugleich schreibt Lily erneut am 29.1., 1.3. und 26.8.1938 an Grohmann, ihrem Mann gehe „es ordentlich“. Man gewinnt den Eindruck, dass Lily so sehr mit ihrer eigenen Befindlichkeit beschäftigt war, dass sie die ihres Mannes nicht mehr richtig einschätzen konnte. Auch 1939 berichtet sie mehr über sich als über ihren Mann: Ich hatte einen sehr schlechten Winter mit Neuralgien u. Grippe u. habe mich sehr langsam erholt, da ich mit den Nerven sehr herunter war [...] Mein Mann hat einen relativ guten Winter gehabt. Die Grippe streifte ihn nur. Allerdings konnte er nur sehr wenig hinaus. Der März brachte einen bösen Nachwinter mit meterhohem Schnee u. Stürmen.86

Ähnlich notiert sie in einem Brief vom 28.11.1939 über sich: „Leider habe ich sehr sensible Nerven von zuhause aus. Sozusagen über den Berg bin ich erst seit Faoug, wo wir uns Erkrankung (1935–1940) I 245

beide erholt haben.“87 In Faoug waren die Klees vom September bis Ende Oktober 1939. Was sie in ihrem Brief nicht erwähnte, ist, dass sie selbst vom 16.4.–16.6.1939 erneut zwei Monate wegen „schwerer Nervenstörung“88 im Sanatorium Sonnmatt war – ohne ihren Mann. Im selben Brief, wenige Monate vor seinem Tod, ebenso in ihren Briefen aus Klees Todesjahr, steigerte sich ihre partielle Verleugnung der Krankheit geradezu zur Blindheit: Mein Mann hat sehr viel gearbeitet, diesmal auch in Faoug [...] Es geht ihm relativ gut, abgesehen von kleineren Beschwerden, die sich ab und zu mal einstellen.89 Es ist ja richtig, ich bin auch mitverantwortlich dafür, dass es ‚ihm‘ jetzt besser geht nach einer Pflege von 3½ Jahren. Leider habe ich es selbst gesundheitlich so schwer und bitter büssen müssen, da ich auch schwer u. lange erkrankt war im Jahre 1939 [...].90 (Hrv. MC)

Es geht angesichts dieser Briefstellen nicht darum, Lily Klee der Empathielosigkeit zu bezichtigen. Vielmehr wird deutlich, wie das jahrelange Zusammenleben mit einem Schwerkranken gleichsam „blind“ machen kann – was Lily nach Klees Tod in einem weiteren Brief an Grohmann auch erkannte. Klee selbst schätzte seine Situation sehr viel realistischer ein; seine häufig zitierte eigene Einschätzung der Situation hielt er in einem Brief an Grohmann 1940 fest: Natürlich komme ich nicht von ungefähr ins tragische Geleis, viele meiner Blätter weisen darauf hin und sagen: es ist an der Zeit. Ob ich je eine Pallas hervorbringe!?91

Als Petra Petitpierre Klee 1937 nach fünf Jahren erstmals wiedertraf, verfasste sie rückblickend ein dreiseitiges handgeschriebenes Manuskript, das die eindringlichste Schilderung von Klees Verfassung zu diesem Zeitpunkt, also bereits drei Jahre vor seinem Tod, enthält: Nach Jahren der Trennung sollten wir92 endlich den Menschen, der mir näher gestanden als viele die ich kennengelernt, wieder sehen. Wir waren strahlend jung mit roten Rosen bewaffnet und fanden dann den liebsten Menschen geknickt, durch Krankheit geschwächt, kaum mehr erkennbar. Wo war der große imposante Kopf mit der breiten Stirn? Dieser Kopf war nun fast klein geworden und nur die Augen brannten fieberhaft. Die breiten Schultern waren nicht mehr da. Und die Hände? Sie zitterten ständig und konnten kaum einen Gegenstand halten. Auch die Beine versagten den Dienst. Das Lachen erstarb uns bei der Begrüßung & unsere Worte waren ein Gestotter, denn unsere Freude des Wiedersehens passte nicht zu der Erscheinung vor uns. [...] Diese Verzerrung zwischen Erinnerungsbild und vorhandener Wirklichkeit nahm mit jedem Besuch zu. Wir sahen wie ein menschlicher Körper verging und wollten es doch nicht wahrhaben. Wir schämten uns fast unserer Gesundheit und fürchteten der Wirklichkeit des Verfalls ins Angesicht zu sehen oder uns zu sagen: ‚auch wir werden einmal nicht mehr sein‘.93

Diese Niederschrift bezieht sich auf einem Zeitpunkt, als es Klee Lily zufolge „ordentlich“, „relativ gut“ etc. geht, abgesehen von „kleineren Beschwerden“. 246  I  Düsseldorf und Bern

In einem Brief an Grohmann nach Klees Tod schildert Lily ihre eigene „Blindheit“: Gesundheitlich geht es mir schon seit längerer Zeit besser. [...] Nur durch das furchtbare seelische Erleben waren meine Kräfte angegriffen u. ich muss mich noch schonen. Ich begreife heute nicht, dass ich nicht gesehen habe, dass es dem Ende zugeht. Ich hoffte eben noch immer eigentlich bis zuletzt. Wir Menschen sind ja so blind, besonders wenn es sich um die Nächsten handelt. Aber es ist ja auch ein Geschenk Gottes, dass wir nicht alles voraussehen, was uns so im innersten Lebensnerv bedroht u. trifft, sonst könnte man ja keinen Tag länger leben. [...] Klees Urne steht noch i. Atelier immer unter Blumen.94 (Hrv. MC)

Die Erkrankung Klees, Sklerodermie, nahm einen – aus heutiger Sicht – fast lehrbuchartigen Verlauf: Insbesondere treten zunächst die charakteristischen Hautveränderungen auf (eines der zentralen diagnostischen Kriterien dieser Krankheit). Es kommt zur Verdickung und Verhärtung der Gesichtshaut, des Mundes (was dessen Öffnen erschwert) und der Augenlider, die Mimik wird beeinträchtigt. Klee bekam ein „Maskengesicht“, wie man deutlich an einem Vergleich von Fotos aus dem Jahre 1940 und solchen erkennen kann, die zwanzig Jahre früher aufgenommen worden waren (Abb. 71, 72). Klee kommentierte dies mit der für ihn charakteristischen Ironie: Er könne sich jetzt kein Monokel mehr einklemmen, „denn ein Einglas hält in meinem jugendlichen Angesicht nicht mehr“95. Offenbar waren die Hände nicht betroffen96, womit feinteiliges Malen und Zeichnen weiterhin möglich war. Dies schließt aber nicht aus, dass Klee Schmerzen in Händen und Armen hatte bzw. längeres Malen für ihn anstrengend war. So sollte er auf ärztliches Anraten, um sich nicht zu überanstrengen, auf sein geliebtes Geigenspiel verzichten – ein fragwürdiger Rat, wenn man berücksichtigt, wie existentiell für Klee gerade das Musizieren war. Ein weiteres, im Falle Klees besonders schmerzhaft ausgeprägtes Symptom war der Befall der Schleimhäute (Mund, Zunge, Speiseröhre, Magen). Dies führte zu einer ­Verhärtung der Speiseröhre, so dass ihm das Schlucken von Speise im-mer schwerer fiel (was ärztlicherseits erstmals 1938 festgestellt wurde). Sein Sohn Felix sprach davon, der Vater habe kein „Reiskorn“ mehr schlucken und schließlich nur noch flüssige Nahrung zu sich nehmen können. Klee – als rou­tinierter Koch – ging dazu über, seine Nahrung selbst zuzubereiten, wobei er dies, mit einem Anflug von makabrem Humor, u. a. damit begründete, die Frauen kochten heute nicht mehr so gern. Immerhin war es ihm in vorübergehenden Phasen der Besserung möglich, auch nicht von ihm selbst zubereitete Speisen zu sich zu nehmen. So spricht er davon, während eines Ausflugs „Maultäschli“ gegessen zu haben. Felix Klee berichtet, dass sein Vater diese Beschwerden seit Beginn seiner Krankheit gehabt habe und „unsäglich“ darunter gelitten haben müsse: Wenn auch dieser Zustand periodisch unterschiedlich war, so muß mein Vater doch von Beginn seiner Krankheit bis zu seinem Tode fast fünf Jahre lang unsäglich darunter gelitten haben. Doch nie kam ein Wort der Klage über seine Lippen. Klee fühlte jedoch genau, daß seine Krankheit im Grunde keine Besserung erfuhr, daß seine Zeit zu leben begrenzt war.97 (Hrv. MC) Erkrankung (1935–1940) I 247

Es folgte der Befall des Darmes, verbunden mit Durchfall, was Klee die kleinen Reisen, die er mit dem befreundeten Ehepaar Rupf unternahm, verleidete, der Lungen 98 und schließlich des Herzens. Dies führte zu einer Verdickung und Verhärtung des Herzmuskels, einhergehend mit einer Entzündung desselben (Myokarditis). Diese war schließlich auch die auf der offiziellen Totenbescheinigung von 29.6.1940 angegebene Todesursache. Ab wann wusste Klee, dass er unheilbar krank war? An diesem Punkt gehen die Meinungen auseinander. Suter ist überzeugt, dass Klee bis zu seinem 60. Geburtstag Hoffnung auf Gesundung hatte. Glaesemer dagegen notiert: „Fraglos wusste Klee sehr genau über seinen hoffungslosen Gesundheitszustand Bescheid.“99 Auch Felix Klee scheint dieser Ansicht gewesen zu sein, wie seine oben zitierte Bemerkung zeigt. Schließlich ist auch der bereits zitierte Brief an Grohmann von 2.1.1940 ein Hinweis darauf („es ist an der Zeit“), dass Klee den bevorstehenden Tod ahnte. In welcher körperlichen und psychischen Verfassung befand sich Klee, als er 1935 erkrankte? Anders gefragt: War Klees Krankheit ein plötzlich hereinbrechendes, schicksalhaftes Ereignis oder hatte es bereits früher Anzeichen gegeben, die darauf hindeuteten? Suter, der sich zu Beginn seiner Untersuchung sehr zurückhaltend zu dieser Frage äußert, wird später deutlicher: Ich bin überzeugt, dass die Verfemung und Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten sowie die Emigration in das von ihm als eigentlicher Heimatsort bezeichnete Bern zur Krankheitsauslösung beigetragen haben [...] Auch andere Autoren, wie F. J. Beer, Michael Reiner und Gabriele Castenholz, halten einen Zusammenhang des Krankheitsausbruchs mit den Diffamierungen und der Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten für möglich oder wahrscheinlich. Kränkung macht bekanntlich krank.100

Wie bereits erwähnt, geht Glaesemer noch einen Schritt weiter: Er hält Klees Krankheit für einen „Teil seines Wesens“, „es erfüllen sich in ihr Merkmale seiner individuellen Psyche“101. In einem Brief Klees 1939 an den New Yorker Kunsthändler J. B. Neumann wird ein weiterer Aspekt deutlich. Dann bin ich ein Maler und einer der von Conceptionen befallen ist. Ich möchte nachdem ich nicht mehr der Jüngste bin, noch die letzten mir möglichen Dinge realisieren. Das braucht eine immerwährende Bereitschaft, den günstigen Moment zu nutzen. Kurz letzte Concentration. Ausserdem hatte ich nie soviel überschüssige Kräfte, und heute habe ich sie erst recht nicht.102

Man kann diese Äußerungen Klees nicht als beiläufige Bemerkung abtun, mit der ein aufdringlicher Kunsthändler abgewimmelt werden soll. Dazu stimmt sie zu sehr mit Aussagen Klees überein, in denen er seine Disziplin, seine Ökonomie der Kräfte, sein Bestreben, eine „raffinierte ökonomische Taktik“ zu entwickeln, um sich gegen „Angriffe des Schicksals“ zu wehren, hervorhob. Seine Befürchtung war dabei, ob dies nicht zur „Verarmung“ seiner „vitalen“ Fähigkeiten führen würde. Auch Lily Klee verweist auf Klees 248  I  Düsseldorf und Bern

„zarte Konstitution“. Klees psychische Immunisierung kulminierte in der Vorstellung, selbst „Kristall“ zu sein, dem die „pathetische Lava“ nichts anhaben kann. Für ihn musste es deshalb unerträglich sein, dass er in eine Situation kam, in der die äußeren Verhältnisse (Amtsenthebung, Emigration, Verschlechterung seiner finanziellen Situation) ihm die Umsetzung seiner „ökonomischen Taktik“ nahezu unmöglich machten und er den „Angriffen des Schicksals“ mehr oder weniger hilflos ausgeliefert war. Ich hatte bereits ausgeführt, dass Klees Abspaltung vitaler Affekte und seine Tendenz zur Askese in der Tat die Gefahr einer „Verarmung“ beinhaltete. Andererseits ist eine derartige Abspaltung, wenn man Klees Bemerkung über das Fehlen „überschüssige[r] Kräfte“ ernst nimmt, eine Art Überlebensstrategie, um mit den vorhandenen Kräften hauszuhalten103. Das von Klee mehrfach variierte Thema des Seiltänzers würde diese Überlegung bestätigen. Der Seiltänzer wäre dann nicht nur ein ästhetisches Thema, in dem Klees Beschäftigung mit dem Problem des Gleichgewichts zum Ausdruck käme, sondern zugleich eine lebensgeschichtliche Metapher, vergleichbar der des Kristalls. Diese Überlegung wirft auch ein Licht auf die Frage, wie es Klee möglich war, seine Krankheit geradezu stoisch zu ertragen. Die Motive Kristall und Seiltänzer würden darauf hindeuten, dass es sich dabei nicht um eine Maske handelte (so wie Klees Komiker eine solche trägt), sondern um eine Art nietzscheanisches amor fati.104

Das Spätwerk: Durchbruch zu einem neuen Stil. Art brut Jürgen Glaesemer hat das Spätwerk Klees mit großer Eindringlichkeit, aber auch mit einer gewissen kritischen Distanz geschildert. So spricht er für die Zeit ab 1933 von einem zeitweiligen „Nachlassen der Kräfte“, einer „Unsicherheit“, die in einer „Vergröberung der technischen Ausführung und in einer gewissen routinemäßigen Anwendung der bildnerischen Mittel ihren Ausdruck fand“105. Obwohl Glaesemer erkennt, dass bei Klee ab 1938 ein ganz spezifischer Spätstil in Erscheinung tritt, mit dem der Maler unverkennbar Neues schafft, muss betont werden, dass Klee auch schon in den Jahren 1934–1937 ähnliche Werke geschaffen hatte, die keinesfalls als „routinemäßig“ bezeichnet werden können. In diesen Arbeiten wird erkennbar, wie Klee seine schwierige soziale Situation, aber auch seine prekärer werdende psychische und körperliche Verfassung verarbeitete. Wir haben dies bereits am Beispiel des am Ende seiner Düsseldorfer Zeit geschaffenen Von der Liste gestrichen (1933) gesehen. 1934 entstanden zwei Werke, die man als Todesahnungen verstehen kann: die Zeichnung Einsames Ende und das Aquarell Ent-Seelung. Dass es sich – wie Glaesemer annimmt – bei Letzterem um eine „heitere Umkehrung ins Komische oder Groteske“ handeln soll, ist – besonders wenn man es auf das thematisch ähnliche Einsames Ende bezieht – kaum nachvollziehbar: Es gibt keinerlei Hinweise auf Komik oder Groteske. 1935 entstand – noch vor Klees Erkrankung – das kleinformatige Ölbild Gezeichneter (32 x 29 cm, Farbabb. XXXIV), bei dem diese Tendenz noch deutlicher in Erscheinung trat. Erstaunlicherweise wird dieses Schlüsselbild Klees weder von Glae­ semer noch von Grohmann erwähnt106. Obwohl es keinen direkt erkennbaren Bezug zur Das Spätwerk: Durchbruch zu einem neuen Stil. Art brut  I  249

Person Klees gibt, liegt es nahe, einen Zusammenhang mit Klees psychischer und physischer Verfassung im Jahre 1935 zu sehen. Auch Suter, der mit einer Psychologisierung des Klee’schen Schaffens zurückhaltend ist, gelangt zu dieser Einschätzung: Das Gemälde dürfte eine Selbstdarstellung sein. Der Künstler ist enttäuscht über seine Amtsenthebung und die Diffamierung durch die Nationalsozialisten. Möglicherweise ahnt er auch sein schweres persönliches Schicksal voraus.107

Gezeichneter gehört zu den auratischsten Bildern Klees, „Aura“ im Sinne Walter Benjamins verstanden.108 Das Bild muss lange angeblickt werden, bis es „zurückblickt“ – und es muss im Original betrachtet werden. Anders als manche Vertreter der „Bildwissenschaft“ verstehe ich dies metaphorisch: Ein Bild blickt nicht als materielles Bild zurück, sondern nur, wenn wir es in einer bestimmten Weise betrachten, wenn wir versuchen, es zu er leben und zu verstehen109. Nicht aus Originalitätsfetischismus halte ich die Betrachtung des Originals von Gezeichneter für wichtig, sondern weil die haptischen Qualitäten und der „Blick“ des Bildes erst am Original wirklich erkennbar werden. Obwohl ich Ben­ jamins Thesen in seinem Kunstwerk-Aufsatz für fragwürdig halte110, muss ich ihm im Falle von Gezeichneter zustimmen: Die „technische Reproduktion“ zerstört die Aura das Bildes. Die pastos aufgetragenen Farben zeigen ein Gesicht, dessen Haut nicht glatt, sondern schrundig und erstarrt wirkt. Eine Assoziation zu Klees Erkrankung Sklero­ dermie, die durch eine Verhärtung der Haut gekennzeichnet ist, drängt sich auf. Das Gesicht ist fast abstrakt, lediglich durch Horizontale und Diagonale konturiert. Gleichwohl wirken Augen und Mund melancholisch, fast kindlich. Die schwarzen, runden Knopfaugen (ohne Iris und Pupille) wirken zunächst fast nebensächlich, beginnen aber den Betrachter zu fixieren, je mehr er sie ansieht. Da sie aber letztlich nur schwarze Löcher sind, entziehen sie sich auch wieder, rücken in die „Ferne“ (Benjamin), um den Betrachter im nächsten Augenblick doch wieder zu fixieren – ein raffiniertes und suggestives Spiel von Leere und Präsenz: Aura als Nähe, die sich in die Ferne zurückzieht und umgekehrt. Klees Schaffen in den ersten Jahren seiner Emigration kann somit keineswegs als „routinemäßig“ gesehen werden. Die erwähnten Bilder zeigen darüber hinaus, dass Klee sich bereits ab 1934 künstlerisch mit Vereinsamung, Krankheit und Tod auseinandersetzte. Auch wenn man Bilder wie Gezeichneter, Einsames Ende und Ent-Seelung lediglich als Metaphern versteht, so bedeuten sie doch, dass Klee sich intensiv mit diesen Themen beschäftigt hat. Er schien intuitiv zu spüren, dass ihm eine schwierige Zeit bevorstand. Ehe ich auf Klees Spätwerk im eigentlichen Sinne eingehe, möchte ich an dieser Stelle ein weiteres Werk aus dem Jahre 1934 erwähnen, Botanisches Theater, ein Bild, das aus der Reihe der Werke der ersten Emigrationsjahre, ebenso aus dem Spätwerk stilistisch herausfällt, was offenbar damit zu tun hat, dass das Bild schon früher begonnen wurde (möglicherweise schon in den zwanziger Jahren) und in der Zwischenzeit eine Reihe von Überarbeitungen erfahren hatte. Die Arbeit zeigt, dass Klee 1934/35 zwar mit „Reprisen“ früherer Werke beschäftigt war111, einige diese Reprisen jedoch durchaus eine 250  I  Düsseldorf und Bern

eigenständige Qualität besitzen. Das Bild besitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit Seltsamer Garten (1923) oder Ad marginem (1930), stellt aber in der Fülle der bizarren botanischen und animalischen Details und einer unterwasserartigen, fluoreszierenden Atmosphäre erneut eine im Werk Klees singuläre Schöpfung dar: Die Gegenstände des Bildes sind flächig dargestellt, schaffen jedoch eine Raumtiefe, die an ein Aquarium erinnert. Denkbar ist, dass Klee hier die Spekulationen von Hans Driesch, insbesondere dessen Konzept der „Entelechie“ und die damit verbundenen verschiedenen „Adaptionen“ der Organismen, aufgriff. Auch ein Bezug zu Goethes Morphologie, seine Theorie der Entwicklung der „Urformen“ wäre denkbar. Neben seiner Kritik an der routinemäßigen Ausführung mancher Werke Klees nach 1933 erkennt Glaesemer zugleich Tendenzen der Entwicklung eines neuen Stils ab 1935. Glaesemer macht im Wesentlichen zwei Ursachen für die Veränderungen im Schaffen Klees verantwortlich: Der Stilwandel, der in den folgenden Jahren zur Gruppe der späteren Werke überleitet, muss mit Klees persönlichen Lebensbedingungen in unmittelbarem Zusammenhang gesehen werden. Der Spätstil ist erfüllt vom Ausdruck menschlichen Mit-Leidens, der in solcher Unmittelbarkeit bis dahin in seinem Werk kaum anzutreffen war. Was im einzelnen diesen Wandel im Stil und in der Lebenshaltung bewirkt hatte, lässt sich nur ahnungsweise erfassen. Teil daran hatte sicher der Umstand, dass ihn seine Versuche einer Analyse des bildnerischen Denkens, verbunden mit dem Hochschulunterricht, an einen Endpunkt geführt hatten. Teil daran hatte aber auch das persönliche Leiden am deutschen Verhängnis, an der Emigration, an Europa. Denkwürdigerweise fällt 1935/36 der Ausbruch der Krankheit zeitlich nahezu mit dem Durchbruch zu einer neuen bildnerischen Sprache zusammen.112

Glaesemer weist darauf hin, dass „unverwechselbar Neues“ zunächst ausblieb und Klee sich auf „bereits erprobte bildnerische Ausdrucksmittel“ beschränkte. Er macht seine Einschätzung u. a. daran fest, dass die wesentlichste Neuerung zunächst in „größeren Formaten“ bestand, denen es freilich an „innerer Notwendigkeit“ fehle. Ein von ihm hervorgehobenes Beispiel ist Ruhende Sphinx (1934), eine Variante des 1932 mit Aquarellfarben auf Leinwand gemalten Bildes Siesta der Sphinx (1932). Was mochte Klee dazu bewogen haben, dieses Motiv in nahezu doppelter Vergrößerung zu wiederholen? Das Formgefüge, das die verschiedenen Farbflächen gegeneinander abgrenzt, ist in beiden Fassungen nahezu identisch [...] Die Formen, die sich wie ­Spiegelungen auf einer bewegten Wasseroberfläche ineinander verschlingen, erlauben der Vorstellung, andeutungsweise eine Figur, ein Sphinxwesen zu erkennen. [...] Der geheimnisvolle Charakter will sich im Tafelbild mit seinen ­großen Farbflächen allerdings nur zögernd einstellen. [...] Die Darstellung ist in Gefahr, in spannungslose Gefälligkeit abzugleiten.113

Es ist jedoch weder das Format noch die „innere Notwendigkeit“, die die beiden Bilder unterscheiden. Vielmehr sind beide Bilder in Sujet und Stil durch eine gewisse „spanDas Spätwerk: Durchbruch zu einem neuen Stil. Art brut  I  251

71  Paul Klee (1939), Foto: Walter Henggeler

nungslose Gefälligkeit“ charakterisiert. Die verschiedenen, sich teilweise überlagernden grün-roten Farbflächen sind zwar farblich und figurativ ansprechend, aber – im Vergleich zu anderen Bildern Klees – wenig originell oder spannungsvoll. Der Kopf der Sphinx mit ihren gesenkten Augenlidern und ­kleinem Mündchen ist geradezu kitschig und keine Spur von „geheimnisvoll“. In der Tendenz stimme ich der Interpretation Glaesemers somit zu: Ehe Klee zu ­seinem ausdrucks- und spannungsvollen Spätstil fand, scheint es eine Phase relativer Stagnation, vielleicht besser: des Atemholens gegeben zu haben. Zahlreiche Klee-Biographen – etwa Haftmann, Grohmann oder Giedion-Welcker – tendieren zu einer undifferenzierten Glorifizierung der Bilder Klees. Eine derartige Verherrlichung schadet aber letztlich der Rezeption des Malers, weil sie die überragenden Werke auf dieselbe Stufe stellt wie die weniger gelungenen. Um es deutlicher zu sagen: Eine Reihe von Klee-Bildern, frühere und spätere, darunter die beiden Sphinx-Bilder, sind – misst man sie an den Ansprüchen, die wir etwa an die Bilder von Picasso, Kandinsky oder auch an Klee selbst anlegen – vergleichsweise banal. Arbeiten dieses Typs sind jedoch nicht nutzlos, sie dienen dem Künstler, sein Auge durch Vergleich zu schärfen und bieten dem Rezipienten einen Einblick in den kreativen Prozess des Schaffenden. Jeder, der wie immer anspruchsvoll oder bescheiden künstlerisch tätig ist, weiß, wie viel Experimentieren erforderlich ist, um ein einigermaßen gelungenes Werk zu schaffen. Niemand wusste besser als Klee, dass häufig auch der kairos, der glückliche Moment oder Zufall, eine Rolle spielt. Glaesemer gehört zu den wenigen Klee-Biographen, die eine kritische Distanz zu ihrem Protagonisten beibehalten. So betont er etwa, dass eine Reihe von 252  I  Düsseldorf und Bern

72  Paul Klee (1939), Foto: Walter Henggeler

Landschaftsbildern jener Zeit, etwa Vollmond im Garten, Spärlich belaubt, Landschaft mit Akzenten (alle 1934) wie „abgezirkelt“ wirken, „das organische Leben scheint aus ihnen gewichen“. Er hält diese Bilder für eine Gruppe von Werken, „in denen Ermüdung und Resignation nicht verborgen ­bleiben“114. Eine derartige „Resignation“ ist bei einer Reihe von Bildern, die bereits seit 1933 entstanden und die auf das eigentliche Spätwerk verweisen, nicht festzustellen.115 Vorwegnahmen des späteren Stils sind großartig „reduktionistische“ Bilder wie Lumpengespenst (1933) – das noch in Düsseldorf gemalt wurde – oder Tafelobst (1934). 1935 entstand mit Vogelscheuche eine Art „remake“ von L­ umpengespenst, das allerdings durch die starke Geometrisierung nicht die expressive Dynamik seines Vorläufers erreichte. Die groteske Physiognomik von Lumpengespenst (das Klee selbst der „Sonderklasse“ zurechnete) erinnert in seiner skurrilen Einfachheit an Dubuffet oder Tàpies, Tafelobst an die flächigen Arrangements bei Matisse, wirkt dabei aber einfacher und reduzierter. In seinen letzten Bildern, z. B. Hungriges Mädchen, Beim blauen Busch (1939), Assel, ­Verzweifelt rudern, Not durch Wasser, Paukenspieler (alle 1940) erreicht diese Vereinfachung ihren Höhepunkt. Hier greift Klee auf die „Reduction“ und den „Primitivismus“ seiner frühen Jahre zurück: Die Bilder wirken spontan, unmittelbar, teilweise geradezu kindlich, es gelingt ihm jedoch, den „inneren Klang“ der Dinge (Kandinsky) mit einfachsten künstlerischen Mitteln auszudrücken. Was charakterisiert den „Spätstil“ Klees, bei dem es keine spezifische „Einheit“ des Stils gibt, sondern vielmehr die Verwendung bestimmter, bereits früher verwendeter Das Spätwerk: Durchbruch zu einem neuen Stil. Art brut  I  253

und erprobter Stilelemente?116 Stichwortartig lässt sich dieser Spätstil beschreiben als erneutes Hervortreten der Linie, eine teilweise ins Extrem getriebene Reduktion, eine radikalisierte Form des „Primitivismus“, eine Reduzierung der Farbpalette und die besondere Bedeutung der Chiffren bzw. des Hieroglyphischen117. Man kann dies in gewissem Sinn als Entwertung der Form bezeichnen zugunsten einer Aufwertung des Gegenstandes bzw. der Narration. Dies entspricht dem „Formverzicht“, der der gesamten Moderne innewohnt, „zugunsten des reinen, unkonventionellen Aussprechens der Empfindung bzw. des unmittelbaren Mitteilens der Wahrnehmungsinhalte“118. Insbesondere bei den früheren Werken des Spätstils ist häufig von „Geheimzeichen“ Klees gesprochen worden, eine von Klee selbst geprägte Formulierung. Werke wie Boote in der Überflutung, Legende vom Nil, Geheime Schriftzeichen, Abstraktes Ballett (1937), Nach rechts, nach links, Eile, Tänze vor Angst, Vorhaben, Vor dem Frost, Äolisches, Wachstum regt sich, Alphabet II, Park bei Luzern (1938) sind exemplarisch für diese Werkgruppe. Es ist häufig gerätselt worden, ob die „Geheimzeichen“ einen „über den formalen Ausdruck der Zeichen hinausweisenden Inhalt“ besäßen oder nicht.119 Die Frage scheint mir falsch gestellt zu sein. Verfolgt man die Entwicklung Klees zwischen 1934 und 1940, so kann man einen Prozess feststellen, der der Entwicklung in den Jahren von 1905 bis 1914 gleicht: Der Versuch, Natur durch „Reduction“ auf das Wesentliche darzustellen, durch einfachere Mittel mehr zu sagen als die Natur selbst, Klees bekannte Sparsamkeitsregel. Mit Über ein Motiv aus Hammamet (1914) (Farbabb. XV), einem Meisterwerk aus der Nach-Tunesien-Phase, hatte Klee dieses Ziel zunächst erreicht – ein äußerstes Maß an Reduktion bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung rudimentärer Naturnähe. Es wird deutlich, dass Klee insbesondere ab 1937/38 in einer Reihe tendenziell abstrakter Bilder mit dem farbigen (bzw. dem schwarzen) Strich – als Variante der Linie – experimentierte, sei dies nun mit Öl, Kleisterfarbe, Pastell oder einfacher Zeichnung. Der Strich ist zunächst stark geometrisiert (Linie, Balken oder Kurve), die Bildkonzeption abstrakt, was sich exemplarisch an Harmonisierter Kampf (1937) zeigen lässt. Dies hat auch Konsequenzen für Klees Raumkonzeption. War noch in der Bauhaus-Zeit der Raum, auch der nichtperspektivische, homogen, vorwiegend ein Kontinuum, so wird er jetzt (sofern man überhaupt noch von „Raum“ sprechen kann) eine Resultante von Zeichen120. Die „geheimen Schriftzeichen“ sind somit vor allem Experimente mit dem Stilelement der geometrisierten Linie. Klee selbst hat – in einem Brief an Felix Klee – diese Geheimzeichen in die Nähe der surrealistischen écriture automatique gebracht: Ich bin selbst ganz erstaunt und schaue meiner Feder zu, wie sie sich eintaucht, obschon sie einem Füllfederhalter anzugehören scheint, und wie sie über das schöne Papier läuft und zwar in allgemein verständlicher Schrift und nicht in solchen Geheimzeichen wie sonst.121

Die Feder läuft also, wie auch bei seinen „Geheimzeichen“, geradezu von selbst, automatisch über das Papier. Wir stoßen bei der Entwicklung der „Geheimzeichen“ jedoch bald auf den Übergang zu einer mehr „naturalistischen“ und damit auch weniger 254  I  Düsseldorf und Bern

73  Paul Klee, Angstausbruch III, 1939, 124, Aquarell auf Grundierung auf Papier auf Karton, 63,5 x 48,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

geometrisierten Darstellung (also gleichsam den umgekehrten Weg verglichen mit dem Frühwerk), die gleichwohl „reduktiv“ ist, also Natur nicht einfach kopiert. Beispielhaft zeigt sich dieser Übergang in Bildern wie Vorhaben und Park bei Lu(zern) (beide 1938). Hier sieht man auch, dass erneut gegenständliche Bezüge auftauchen, während die nichtperspektivische Bildräumlichkeit beibehalten wird. In Bildern wie Drei junge E ­ xoten, Coelin-Frucht, Erd-Hexen, Früchte auf Blau, Pamona überreif (alle 1938) ist die geometrische Linie fast vollständig zugunsten einer (re-)naturalisierten Linie aufgelöst worden. Auch an dem großformatigen Bild Fama (1939) (90,5 x 100 cm) lässt sich der Übergang von „Geheimzeichen“ zur Figuration gut beobachten: Die rätselhafte Figur im Bildzentrum ist vollständig aus schwarzen Linien aufgebaut. Von Interesse ist dieses Bild darüber hinaus, weil Klee hier – im Gegensatz zu der Konzeption der Surrealisten – seine Vorstellung des demiurgischen Schöpfers, der gleichzeitig Vater und Mutter des Kunstwerks ist, deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Er schreibt, dass er das Bild „geboren“ und „getauft“ hat122. Ab 1939 wird der re-naturalisierte Strich von Klee für zahlreiche Darstellungen fragmentierter Körper verwendet (u. a. Angstausbruch III, Liebeslied bei Vollmond, Niederlage). Als Übergang von der re-naturalisierten abstrakten Linie zur quasi realistischen Darstellung fragmentierter Gegenstände kann das kompositorisch und farblich besonders eindrucksvolle Bild Zerstörtes Labyrinth (1939, Farbabb. XXXV) angesehen werden, obwohl Körperlichkeit hier nur angedeutet ist. Es geht also, wie so häufig bei Klee, um den Entwicklungsprozess der angeblichen Geheimzeichen. Das Spätwerk: Durchbruch zu einem neuen Stil. Art brut  I  255

Nirgendwo ist das persönliche Leid Klees so direkt ins Bild gesetzt worden wie in diesen Bildern. Klee selbst hat dies unmissverständlich mit seinem „es ist an der Zeit“ zum Ausdruck gebracht. Ich möchte das Zitat an dieser Stelle noch einmal wiederholen: „Natürlich komme ich nicht von ungefähr ins tragische Geleis, viele meiner Blätter weisen darauf hin und sagen: es ist an der Zeit.“123 Dass Klee seine Lebenssituation in seine Werke transponierte, hat nichts mit einer angeblichen „Symbolsprache“ (Glaesemer) zu tun, die von Klee selbst äußerst kritisch gesehen wurde, sondern – formal betrachtet – mit dem gezielten Einsatz und der Weiterentwicklung reduktionistischer Stilmittel. Angstausbruch III (1939) beispielsweise repräsentiert keine „Symbolsprache“: Es handelt sich vielmehr um eine mit reduziertesten Mitteln dargestellte Situation der körperlichen Fragmentierung, ein unübersehbarer Verweis auf Klees „biographische Situation“. Ähnliches gilt, wie gesagt, für Zerstörtes Labyrinth. Klees unheilbare Krankheit, deren ganze Tragik wir Lily Klees Schilderungen entnehmen konnten, musste in ihm das Gefühl hervorrufen, dass sein Körper außer Kontrolle geraten war, was zugleich Angst vor psychischer Fragmentierung auslösen musste124. Die angstverzerrten Gesichter und die fragmentierten Körper, insbesondere in Niederlage Liebeslied bei Vollmond und in den verschiedenen Versionen von Angstausbruch (alle 1939) bringen dies zum Ausdruck125. Ein Bild wie Beim blauen Busch (1939, Farbabb. XXXVII) zeigt darüber hinaus, dass Klee sich in dieser Zeit auch mit der Vereinsamung auseinandersetzt, die durch eine tödliche Erkrankung zwangsläufig entsteht. Der Text, den Klee mit Kinderschrift in das Bild eingefügt hat, lautet: „Stelzichein Bleib talein“. Das Bild zeigt eine Kinderfigur mit stelzenartigen Beinen und Händen, die wie angeklebt wirken. Wer mit solchen Stelzen durch die Welt geht, „bleib talein“126. Auch die gezeichneten Serien Der Inferner Park (1939)127, Eidola (1940) oder das farblich großartige Bild Tod und Feuer (1940, Farbabb. XXXVI) verweisen auf das Thema Krankheit, Vergänglichkeit und Tod. Ein weiteres hervorragendes Beispiel dieses reduzierten und spontanen Malstils, verbunden jedoch mit äußerst raffinierter farblicher Nuancierung ist das Aquarell Abfahrt des Abenteurers (1939, Farbabb. XXXVIII). In diesem Bild hat Klee eines seiner Ziele, Meister auch der Farbe zu werden, beispielhaft verwirklicht. In subtiler Weise klingt auch hier das Todesthema an: der Anbruch der letzten Reise. Eine Flagge mit dem umgekehrten Zeichen „K“ verdeutlicht, wer der Reisende ist. In Bildern schließlich wie Ernste Miene, Friedhof (Farbabb. XLII), Hungriges Mädchen, Ein Ausdruck auch des Leibes, Beim blauen Busch, Nordischer Künstler (alle 1939) hat Klee zu seinem eigentlichen Spätstil gefunden. Es sind Experimente in art brut, die in Klees Werken des Jahres 1940 fortgesetzt werden. Stärker noch als bei früheren Bildern wird man an Dubuffet und Tàpies erinnert. Was für Dubuffet gilt, trifft auch für diesen Teil des Spätwerks von Klee zu: [...] Dubuffet, von tiefem Misstrauen gegen den offiziellen Kunstbetrieb erfüllt, [hatte] in den Kunstäußerungen von Geisteskranken, Naiven und Kindern, die er Art brut, ‚rohe Kunst‘ nannte, nach einer neuen, unverbildeten Ursprünglichkeit und Spontaneität gesucht. Von diesen Eindrücken ist 256  I  Düsseldorf und Bern

auch seine eigene, wenngleich hochbewusste und intellektuell reflektierte neoprimitive Kunst der vierziger und fünfziger Jahre geprägt [...].128

Eines der eindrucksvollsten Beispiele dieser art brut ist Hungriges Mädchen (Farbabb. XVIII). Das hungrige Mädchen hat kein Gesicht, nur ein Krokodilsmaul (oder eine Hundeschnauze) mit scharfen Zähnen und Augen, die aus einem einfachen schwarzen Kreis mit reptilienartigen Pupillen bestehen. Was sie sich in ihr Krokodilsmaul steckt, ist nicht klar erkennbar, es könnte ihre eigene Faust sein, auf die sie aus Hunger beißt. In größter Vereinfachung wird das existentielle Problem des Hungers dargestellt – zweifellos eines von Klees Meisterwerken aus dieser Phase. Auf die formalen Ähnlichkeiten dieses Bildes mit einigen Motiven der Frauenbilder Picassos hatte ich bereits hingewiesen.129 Charakteristisch für Klees Spätstil ist neben der Vereinfachung auch die enorme Steigerung seiner Produktivität. Ich habe bereits erwähnt, dass Klees Produktivität nach dem Ausbruch seiner Krankheit signifikant zurückging. 1936 schuf er nur noch 25 Werke, 1937 bereits wieder 264, 1938 waren es 489 und 1939 1254 Zeichnungen und Gemälde. Es scheint, als habe Klee am Ende seines Lebens, vielleicht auch unter dem Druck seiner Krankheit, in höchster Vereinfachung das erreicht, was ihm schon immer vorgeschwebt hatte. Klee hat zum einen sein Ziel der „Reduction“, die auf das „Typische“, ontos on der Dinge zielt, erreicht, Sparsamkeit der Mittel als „letzte professionelle Erkenntnis“ – und damit zugleich sein Ziel des Sichtbarmachens. Der „Primitivismus“ seiner frühen Arbeiten tritt nunmehr in einem spontanen, unmittelbaren Gestus, einer scheinbar kindlichen, geradezu aggressiven art brut in Erscheinung. Zum anderen hat Klee – nach dem Experimentieren mit „Geheimzeichen“ – zu einer neuen Form der autonomen Linie gefunden, die zugleich Ausdruck der psychischen Improvisation ist – sein „Ureigentum“, wie er es bereits 1906 bezeichnete (Tgb. 831): Geometrische, später re-naturalisierte Geheimzeichen, die nunmehr mit einem einfachen schwarzen – manchmal auch farbigen – Pinselstrich ausgeführt werden und auf diese Weise Raum und Gestalt hervorbringen. Die autonome, aktive und re-naturalisierte Linie finden wir am deutlichsten in Werken wie Ein Antlitz auch des Leibes (1939), in Verzweifelt rudern, Barbaren-Kopf oder Paukenspieler (alle 1940). In wenigen breiten Pinselstrichen hat Klee in Ein Antlitz auch des Leibes einen weiblichen Akt geschaffen, der in der Direktheit der Darstellung der Geschlechtsmerkmale jeden anderen Akt Klees übertrifft. Jeder Anklang an überflüssiges Dekor ist in diesen Bildern getilgt: Die Darstellung ist unmittelbar, „primitiv“, „brut“. Insula dulcamara (1938, Farb­abb. XLIII)130, das als eines der Meisterwerke Klees angesehen wird, repräsentiert dagegen ein Zwischenstadium auf diesem Weg. Die Linien sind teils geometrisiert, teils naturalistisch, sie zeigen die Umrisse einer Insel (Grohmann zufolge sollte das Bild ursprünglich Insel der Kalypso heißen), ein Gesicht (vermutlich ein Todessymbol) sowie weitere kurvige und wellenförmige Linien, am linken und rechten oberen Rand sind zwei schalenartige Gebilde zu sehen, dazwischen andeutungsweise ein Schiff. Aufgrund seines Formats, seiner figurativen und farblichen Harmonie wirkt Insula dulcamara eindrucksvoll. Dennoch fehlt es dem Bild an Spannung: Die gekurvten Das Spätwerk: Durchbruch zu einem neuen Stil. Art brut  I  257

und geraden Linien wirken wie ein stilisiertes Naturabbild. Anders als in den „wilden“ Linien der oben genannten Bilder des Jahres 1939 wirkt das Bild eigentümlich brav. Es zeigt Harmonie, nicht die eruptive Expressivität und existentielle Not der späteren Bilder. Ich halte es auch für verfehlt, in Insula dulcamara eine metaphysische Bedeutung hineinzulesen, so als sei das Bild „allem Irdischen entrückt[en]“ (Glaesemer). Es ist m. E. auch kein „Schlüssel zum Verständnis des gesamten Spätwerks“.131 Mit dem Reduktionismus der Spätwerke ab 1939 hat es nur wenig gemein. Das Bild arbeitet mit „Symbolen“ für Leben und Tod, von „Süßem“ und „Saurem“ (wie Klee die beiden Schalen am oberen Rand bezeichnet), vielleicht auch von Ankommen und Abschied. Der weiße Kopf in der Mitte des Bildes hat Ähnlichkeit mit dem Kopf in Tod und Feuer (1940) und kann als „Symbol“ des Todes verstanden werden. Dies sind jedoch Symbole, wie wir sie bei vielen Bildern, auch bei Klee, finden, ohne dass man ihnen deshalb eine metaphysische Bedeutung zuschreiben würde. Poussins Garten der Flora etwa arbeitet mit ähnlichen Symbolen, es hat sogar insofern einen Bezug zum „Überirdischen“, als die griechische Götterwelt thematisiert wird. Das ist jedoch lediglich ein Verweis auf das „Überirdische“, womit aber keineswegs das Bild dem Irdischen „entrückt“ wird. Klee hat in der Zeit von 1939 bis 1940 noch eine Reihe von Bildern geschaffen, in denen er ältere Themen wieder aufgreift, etwa mit Bildern, die Kirchenfenstern gleichen und die an die Quadratbilder aus den zwanziger Jahren erinnern (Glas-Fassade, Kirchen [1940]). Nymphe im Garten (1939) wiederum hat Ähnlichkeit mit Siesta der Sphinx und Ruhende Sphinx. In jenem Bild verfällt Klee – eine der seltenen Ausnahmen in dieser Zeit – noch einmal ins Dekorative und Gefällige. Das herzförmige Mündchen der Nymphe etwa kontrastiert merkwürdig mit dem aggressiv-expressiven Stil der meisten anderen Bilder aus dieser Zeit. 1940 steigerte Klee die „Primitivität“ und Aggressivität seines Stils weiter: in seinen Assel-Bildern, Verzweifelt rudern, Not durch Wasser, insbesondere aber durch Paukenspieler, einem Meisterwerk seines letzten Lebensjahres und einem seiner eindrucksvollsten Bilder. Die Aggressivität und Direktheit von Klees Bildern aus dem Jahr 1940 hat auch Glaesemer hervorgehoben: Die aggressive Intensität der von schwarzen Balken gerahmten brennenden roten, blauen oder giftig grünen Töne ist in so kompromissloser Direktheit in früheren Werken nicht anzutreffen.132

Glaesemer hat dies in erster Linie auf die „Glasfenster-Bilder“ Klees bezogen. Es gilt aber mehr noch für die meisten anderen Bilder des Jahres 1940. Paukenspieler besteht im Wesentlichen aus einem schwarz umrandeten Auge und zwei schwarzen Paukenschlegeln, von denen einer mit dem Auge verbunden ist, und zwei farbigen Flecken unterschiedlichen Rots (Farbabb XLI). Das Auge ist von höchster Eindringlichkeit. Es könnte das Auge Gottes sein, die Zeit oder der Tod, der sagt: „Es ist an der Zeit.“ Der erhobene, vom Körper getrennte zweite ­Paukenschlegel könnte diese Mahnung signalisieren. Eine eindeutige Interpretation ist nicht möglich: Das Bild erschließt und verschließt sich zugleich, es rückt in die „Ferne“ und bleibt rätselhaft133. Der „Rätselcharakter“ des 258  I  Düsseldorf und Bern

74  Paul Klee, verzweifelt rudern, 1940, 347, Kleisterfarbe auf Papier auf Karton, 20,9 x 29,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

Kunstwerks (Adorno), das sich der diskursiven Logik entzieht, wird von Paukenspieler geradezu exemplarisch verwirklicht.134 Damit nähert sich Klee dem ästhetischen Ideal der Romantik. In der unendlichen Auslegbarkeit des Kunstwerks ­symbolisiert das Kunstwerk etwas, was eigentlich nicht darstellbar ist: das Unendliche. In Thomas Manns Künstlerroman Doktor Faustus führt der Tonsetzer Adrian Leverkühn einen aufwühlenden Dialog mit dem Teufel. Der Teufel präsentiert Leverkühn eine Theorie des Ästhetischen (sie entspricht in vielem der ästhetischen Theorie Adornos), deren Wirkung sich der Tonsetzer nur durch Ironie erwehren kann: Werk, Zeit und Schein, sie sind eins, zusammen verfallen sie der Kritik. Sie erträgt Schein und Spiel nicht mehr, die Fiktion, die Selbstherrlichkeit der Form, die die Leidenschaften, das Menschenleid zensuriert, in Rollen aufteilt, in Bilder überträgt. Zulässig ist allein der nicht verspielte, der universellste und unverklärte Ausdruck des Leides in seinem realen Augenblick. Seine Ohnmacht und Not sind so angewachsen, daß kein scheinhaftes Spiel mehr damit erlaubt ist.135

Damit ist die andere Seite des Klee’schen Spätwerks angesprochen. Zwar kann das Kunstwerk den ästhetischen Schein nicht vollständig abstreifen, aber „Ohnmacht und Not“ dominieren bei Klee. Den „schönen Stil“ seiner frühen Jahre hat Klee radikal überwunden. „Form“ spielt nur insoweit eine Rolle, als sie diesen Aufschrei künstlerisch authentisch gestalten kann, als kalkulierter „Formverzicht“. Die von Thomas Mann dem Teufel zugeschriebene Formulierung trifft sich so auch mit der Bestimmung von Schönheit, die Klees Freund Kandinsky Jahrzehnte früher formuliert hatte: „Das ist schön, was einer inneren seelischen Notwendigkeit entspringt.“136 In diesem besonderen Sinne kann Klees Spätwerk als „schön“ bezeichnet werden. Trotz der Suche nach der „absoluten Form“ war insbesondere Klees spätes künstlerisches Schaffen letztlich thematisch bestimmt. Das Spätwerk: Durchbruch zu einem neuen Stil. Art brut  I  259

75  Paul Klee, Ecce …, 1940, 138, Kreide auf Papier auf Karton, 29,7 x 21,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

Der „Stil“ musste mit der „Weltanschauung“ übereinstimmen. Sein „Urgebiet“, schrieb Klee, sei die „psychische Improvisation“, das zu schaffen, was die „Seele gerade belastet“ (Tgb. 841). In den letzten Jahren waren dies bei Klee zweifellos seine Emigration, seine Einsamkeit und seine Krankheit. Ich möchte abschließend auf ein Bild hinweisen, das uns später noch beschäftigen wird: Ecce ...(1940). Das Bild ist in mehrfacher Hinsicht bedeutungsvoll. Zum einen zeigt es einen Christuskopf mit Dornenkrone (der Titel bezieht sich, wie auch die Auslassungszeichen nahelegen, auf den Ausspruch „ecce homo“ des Pontius Pilatus). Das Christus-Gesicht trägt zweifellos die Züge eines durch Sklerotomie veränderten Gesichts, zeigt insofern eine Identifikation Klees mit dem Schmerzensmann. Andererseits liegt nahe, dass es sich um eine Anspielung auf Nietzsches Spätschrift Ecce homo handelt. Klee hat sich im Rahmen seiner philosophischen Lektüre immer wieder mit Nietzsche beschäftigt und eine genauere Betrachtung zeigt eine Reihe von Übereinstimmungen seiner „Welt­ anschauung“ mit den Gedanken Nietzsches. Auf der letzten Seite seines Klee-Buches kommt Grohmann zu einer bemerkenswerten Einschätzung des Klee’schen Spätstils: Vielleicht werden viele Freunde der Kunst Klees die Arbeiten zwischen 1920 und 1930 den späteren Realisierungen vorziehen und nicht verstehen, warum die Preisgabe von so vieler ‚Schönheit‘ nötig war. Klee wußte darum, er hatte oft genug erfahren, daß auch Menschen seines engeren Kreises an Bildern hingen, deren Überzeugungskraft für ihn schon überholt war; [...] Die letzten Bilder wird 260  I  Düsseldorf und Bern

Klee für seine wahrsten und vollkommensten gehalten haben, denn sie haben etwas von der Unerbittlichkeit und Größe des ‚Stirb und werde‘. [...] Ob er 1940 fertig war, wer wagte das zu entscheiden; der Metamorphosen gab es bei ihm viele, aber vielleicht übersprang Klee nahe dem Ende eine Anzahl solcher Übergänge, um mit dem Tod ganz in Einklang zu sein.137 (Hrv. MC)

Grohmann hat den Kern des Problems getroffen: „Schönheit“ bestand für Klee in seinem Spätwerk in der authentischen Darstellung seiner „inneren Notwendigkeit“ und damit auch seiner „inneren Not“ – es sollten seine „wahrsten“ Bilder sein.138 (Letztes Stilleben [1940] Farbabb. XLI)

Nach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees. Heideggers, Adornos und Hofmanns Kleerezeption Der Mythos vom jenseitigen, „mystischen“ Künstler Klee wurde im Deutschland der Nachkriegszeit wesentlich durch die Arbeiten von Werner Haftmann (1950) und Will Grohmann (1954) verbreitet, wobei beide Klees Selbstdarstellung weitgehend übernahmen. Ähnlich wie in dem bereits 1948 erschienenen Büchlein von H. F. Geist (es umfasste gerade einmal 44 Seiten)139 wurde das Bild Klees von Haftmann und Grohmann nunmehr ergänzt um die Vorstellung des vollkommenen und allwissenden Künstlers. Eine kurzgefasste, von Carola Giedion-Welcker zuerst 1951 in den USA veröffentlichte Biographie, die sich um eine stilgeschichtliche Einordnung des Malers bemühte, aber ebenfalls der Klee-Hagiographie zugerechnet werden muss, blieb zunächst ohne größere Resonanz.140 Nach Haftmanns Biographie war Grohmanns Buch die erste ausführliche Darstellung von Klees Leben und Werk in deutscher Sprache nach dem Krieg, zugleich ein Markstein für nachfolgende Klee-Interpretationen. Es ist vor allem Grohmanns Biographie gelungen, die „Postur weltabgewandter Transzendenz“ (Werckmeister) Klees posthum zu ratifizieren und damit den Prozess der Re-Mythisierung Klees zu befördern, die einer Heiligsprechung gleichkam. Ausgangspunkt einer Entmythisierung Klees – nachdem er zwischenzeitlich zu einer Art Pop-Künstler geworden war – bildeten dann Werner Hofmanns Grundlagen der modernen Kunst (1978), in denen die formalen und theoretischen Grundlagen der Klee’schen Kunst weitgehend sachlich dargestellt wurden. Allerdings verlief die Rezeption Klees zunächst keineswegs so, wie es der Intention Haftmanns und Grohmanns entsprochen hätte. Zeitgeschichtliche Faktoren und Veränderungen des Publikumsgeschmacks spielten dabei eine erhebliche Rolle. Nachdem bereits 1945 der Ausstellungsbetrieb wieder aufgenommen wurde, zeigte sich, dass die Einstellung des Publikums Klee gegenüber zunächst ambivalent, teilweise sogar ausgesprochen feindselig war. Möglicherweise noch unter dem Einfluss der Nazipropaganda lehnte ein Teil der Besucher Klees Kunst nach wie vor ab. Andererseits wurde von Galerien wie von offizieller Seite versucht, Klee nicht nur zu entstigmatisieren, sondern ihn als zukunftsweisendes Beispiel deutscher Kunst aufzuwerten. Politische Verfolgung wurde mehr oder weniger gleichgesetzt mit moralisch vorbildlicher Haltung. Zugleich Nach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees  I  261

stand Klee, was die „deutsche Kunst“ anbelangte, zunächst in Konkurrenz zu Nolde, von dessen Verwicklung mit den Nationalsozialisten damals nur Eingeweihte wussten. Teilweise war die Rezeption Noldes implizit gegen Klee gerichtet: Nolde stand an der Spitze der künstlerischen Hochachtung, Er galt als der große alte Mann der deutschen Kunst und seine Bilder schienen am konzentriertesten den Bedürfnissen der Zeit entsprochen zu haben. [...] Angesichts solcher Präferenzen ist es leicht einsehbar, daß Klee den Zeitgenossen wenig bieten konnte. Hier ließ sich kein Ringen ablesen und keine ‚Deutung des menschlichen Daseins‘, noch konnte er den Hang zum Pathos und zur expressiven Geste zufriedenstellen. Er entsprach auch nicht den nachkriegs-humanistischen Vorstellungen einer Kunst der Zukunft, wie sie damals theoretisch entworfen wurde. Vorstellungen, die ein ‚starkes, klares, zuchtvolles Menschentum‘ voraussetzten, das ‚fern allem Verschwommenen, Spielerischen und Morbiden‘ konstruktiv an der Bewältigung der Zukunft arbeitet.141

Dies sollte sich bald ändern. Christine Hopfengart hat sich mit den Gründen des Aufstiegs Klees nach 1945 zum „Quotenkünstler“ beschäftigt. Sie sieht die Ursachen dafür in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Es fand gewissermaßen eine Art „Wiedergutmachung“ zugunsten der im Nationalsozialismus verfemten Künstler statt. In diesem Prozess, der ebenso kollektiv war, wie die vorausgegangene Diffamierung, wurde aus der ‚entarteten‘ die ‚verfemte‘ Kunst und die zuvor verfolgten Künstler wurden moralisch wieder aufgewertet. Eine Aura von Erhabenheit und Unantastbarkeit wurde um die Künstler gelegt [...].142

Diese „Wiedergutmachung“ hätte für Klee allerdings nicht ausgereicht, um ihn zum „Quotenkünstler“ zu machen. In den Mittelpunkt rückte er erst, als es um die zukünftige Ausrichtung der Kunst ging: Denn schon bald nach Kriegsende begann man zu erkennen, dass die Nationalsozialisten mit ihrer Verfolgung der Moderne auch die Kontinuität der Entwicklung zeitgenössischer Kunst zerstört hatten und sich deshalb nach 1945 keine kraftvolle Kunst aus dem Untergrund zurückmeldete, sondern vielmehr Ratlosigkeit herrschte. Man suchte deshalb nach Anknüpfungspunkten in der Zeit vor 1933 und befragte verschiedene Stilrichtungen auf ihre Eignung für die Gegenwart. Der Expressionismus kam dabei noch einmal auf den P ­ rüfstand und der Surrealismus wurde erneut debattiert, beide Richtungen aber als nicht mehr zeitgemäß verworfen. Erst als Mitte 1946 die abstrakte Kunst in den Mittelpunkt rückte [...] erkannte man dort einen künstlerischen Aufbruch in die Zukunft, da – so die zeitgenössische Begründung – ‚die Abstraktion nicht in Zweifel und Verzweiflung, Klage und Anklage [...] aufgeht‘.143

Einmal davon abgesehen, dass Klees Etikettierung als „abstrakter“ Künstler, der damit zusammen mit Kandinsky zur „Vaterfigur“ für künftige Künstlergenerationen werden sollte, kaum zutreffend ist (Klee wurde keineswegs zur „Leitfigur“ für die abstrakte 262  I  Düsseldorf und Bern

Moderne144), weist Hopfengart darauf hin, dass der eigentliche Aufstieg zum populären Künstler auch nicht über die „Abstraktion“ gelang. Auch bei Haftmann und Grohmann steht die „Abstraktion“ Klees keineswegs im Mittelpunkt. Hopfengart verweist zum einen darauf, dass Klee in einer „von der historischen Realität geschüttelten Nachkriegszeit in das Zentrum der aktuellen Kunstbedürfnisse“ geriet145. Klee erfüllte durch seinen „Abstand zur Realität“ – ähnlich wie nach 1918 – eine gleichsam kompensatorische Funktion für das bürgerliche Kunstpublikum der Nachkriegszeit. Damit verbunden ist, dass sich zumindest ein Teil der Klee’schen Kunst für eben dieses Publikum leicht vermarkten ließ: Es gab, so Hopfengart, ein großes Bedürfnis nach „heiterer Kleinkunst“. Mit dezenter Ironie beschreibt sie die Marktkonformität dieses Teils des Klee’schen Werkes: Klees zunehmende Popularität ging Hand in Hand mit neuen, spezifischen Produkten wie Kleinbüchern, den bereits erwähnten Postkarten sowie Kalendern und Reproduktionen im Wandbildformat. Aus heutiger Sicht handelt es sich um marginale Erzeugnisse, die nicht nur längst überholt sind, sondern auch als Verbrauchsprodukte schlecht dokumentiert sind. Ihre damalige Bedeutung für die Kunst Paul Klees kann jedoch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.146

Derartige „marginale Erzeugnisse“ sind keineswegs „überholt“, wie noch heute ein Blick auf die Klee-Reproduktionen in Arztpraxen und Büros zeigt. Für die Popularisierung Klees waren die in hoher Auflage verbreiteten Postkarten ebenso wie „heitere“ Kleinbücher über Klee von erheblicher Bedeutung. Insbesondere das „Massenmedium“ Postkarte spielte in der Nachkriegszeit „eine kaum zu überschätzende Rolle in der Beschäftigung mit Kunst“.147 Nach wie vor ist der Versand von Klee-Postkarten bei einem gebildeten Publikum äußerst beliebt, es gibt aktuelle Weinetiketten mit Klee-Motiven und das von Hopfengart zitierte Beispiel des Produzenten von Katzennahrung, der mit dem Klee-Bild Katze und Vogel wirbt, ist keineswegs weit hergeholt. Populär wurde somit „einerseits das anekdotische und poetische Moment, andererseits farbliche Dekorativität“. Klee wurde auf die Rolle des „Romantikers und hintersinnigen Poeten“ festgelegt148 – sehr zum Schaden der anspruchsvollen Kleebilder und insbesondere der Rezeption seines Spätwerkes. Einen erheblichen Beitrag zur Popularisierung Klees leistete zudem Grohmanns Veröffentlichung der Handzeichnungen Klees als „Insel-Buch 294“ mit eher heiter-anekdotischen Bildern. Es wurde zum Publikumsrenner und erlebte in kurzer Zeit eine Auflage von 72000. Ich möchte nunmehr auf Haftmanns Paul Klee. Das bildnerische Denken eingehen, ein Buch, das vier Jahre vor Grohmanns umfangreicher Biographie erschien und den Beginn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Klee im Nachkriegs-Deutschland markierte. Auch Haftmanns Buch war ein verlegerischer Erfolg und wurde bereits 1952 in einer zweiten Auflage veröffentlicht. Haftmann greift den bereits von Hausenstein entwickelten Mythos vom weltfernen Künstler wieder auf und erweitert ihn um die Mythen der künstlerischen „Vollkommenheit“ und der von Klee repräsentierten „höchste[n] moralische[n] Instanz“.149 Haftmann stellt einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Qualitäten Klees her: Nach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees  I  263

Klees bildnerische Taten an der Schnur der Jahre aufzureihen, ist nicht eben einfach. Er beherrschte die Tastatur der bildnerischen Mittel in einer so vollkommenen Weise, daß ihm eigentlich alles und zu allen Zeiten möglich wäre. [...] Denn Klees produktive Kraft saß im Zentrum seiner Menschlichkeit und war auch Läuterungsorgan für diese. Das einzelne Werk war, bei aller Hingabe an seine formale Vollendung, Abfallprodukt einer ständigen, angestrengten höher gerichteten geistigen Tätigkeit. ‚Der Mensch Klee überragte eben noch den Künstler Klee‘ – urteilt Walter Gropius.150 (Hrv. MC)

Aufgrund dieser „höher gerichteten geistigen Tätigkeit“ war es Klee möglich, „den höchsten Begriff von Sittlichkeit als Ethos der Form in Arbeit umzusetzen“. Auf diese Weise galt der Maler „in Deutschland bei allen wahren Künstlern [sic!] und bei allen, die irgendwann in seine Nähe kamen, als höchste moralische Instanz [...]“.151 Klee hatte mit Sicherheit nicht die geringsten Sympathien für den Nationalsozialismus, hatte sich aber auch bis zu seiner Amtsenthebung nicht dezidiert dazu geäußert, eher zeigt er seine gewohnte politische Indifferenz, wie wir sie bereits in seiner Stellung zum Krieg gesehen haben. Als „stille Heiterkeit“ bezeichnet Haftmann diese Haltung Klees zum Krieg.152 Dass Haftmann nunmehr versucht, Klee mit einem gleichsam protestantischen Arbeitsethos zur „höchste[n] moralische[n] Instanz“ zu erheben, mutet eigentümlich an. Kant jedenfalls hätte sich über Haftmanns Verständnis von Moralität gewundert. Plausibel wird Haftmanns Argumentation jedoch dadurch, dass er versucht, Klee zur moralischen Instanz der Nachkriegszeit zu stilisieren, zweifellos ein Versuch, Klee im Rahmen des moralischen Klimas der Nachkriegszeit eine richtungweisende Führungsposition zuzuweisen: Klee hat eine Fackel angezündet, die weitergereicht werden muß. [...] Er ist die eigentliche moralische Instanz in der Malerei unserer Tage. Sein Geist und sein Denken hätten heute über Kunstschulen und Akademien zu stehen.153

Zugleich wird Klee zum Mystiker und Übermenschen, quasi zu einem Heiligen erhoben, der meditierend und betend der Offenbarung harrt: Seine Kunst und der Umgang mit den Farben waren wachsend in das Gebiet der Meditation getreten [...] Malen war Handlung zur Erwartung, suchte das Offenbarte mit gefalteten Händen und stand dem Beten nahe, dieser paulinischen Form des Betens ohne Worte mit gerungenen Händen, die um eine Gnade rang, die im Tun auftauchen musste. In der Düsseldorfer Zeit tritt Klee in diesen abgeschlossenen Ring des Lebens weiter zurück. Zauberisch für seine Umwelt, seltsam, unbegreiflich oft, empfand doch jeder, der sich ihm näherte, die tiefe sinnende Menschlichkeit, ein gütig Jenseitiges, das Klee zu einem kleinen etwas mehr als ein Mensch machte. (Hrv. MC)154

In den Mittelpunkt seiner theoretischen Überlegungen zu Klee stellte Haftmann dessen „bildnerisches Denken“. Dieses Konzept erweist sich jedoch als äußerst unscharf und nimmt proteushaft immer neue Gestalten an. Zunächst einmal wird es formal als eine 264  I  Düsseldorf und Bern

besondere Form der „Intelligenz“, als ein besonderes „Ausdrucksverfahren des ins Ganze der Welt gestellten menschlichen Geistes“ bestimmt: „Es bedient sich besonderer Sprachmittel, im Falle der Malerei der farbigen Formen, und es hat seine genaue Logik.“155 Dieses Konzept wird um eine psychische Dimension erweitert und damit verändert. Haftmann bezieht sich auf das, was Klee „Ausdruck der Seele“ oder „psychische Improvisation“ nennt: „An einen Natureindruck nur ganz indirekt gebunden, kann ich das gestalten, was die Seele gerade belastet“156 – also eine Art kathartische Funktion der Kunst. Haftmanns neue Bestimmung des bildnerischen Denkens lautet nunmehr: Konstruktion und psychische Improvisation: daraus ergibt sich einem logisch arbeitenden bildnerischen Denken ein Verwirklichungsverfahren von selbst. Man beginnt das Bild mit einer Konstruktion, ordnet aus der freien Empfindung die Gruppierung der farbigen Formen als das unverrückbar Wesentliche des Bildes.157

Das ist allerdings nicht mehr, was Klee mit „psychischer Improvisation“ meinte. Klee spricht eindeutig von dem, was „die Seele gerade belastet“ und nicht von einer Empfindung, nach welcher er die Elemente des Bildes gruppiert. Diese Bedeutung des Inhaltlichen zieht sich durch alle schriftlichen Äußerungen Klees bis hin zur Bedeutung der „Weltanschauung“ für die künstlerische Arbeit. So ist es denn auch eine Verfälschung des „bildnerischen Denken[s]“ Klees, wenn Haftmann ihm unterstellt, er verzichte auf Inhaltliches und sei ausschließlich auf der „formalen Ebene“ zu verorten: Die Formen sind keineswegs Träger von gegenständlichen Inhalten. Sie sind selbständige, durchaus eigenlebige Gebilde, Formen unter Formen. Sie entstehen und ordnen sich zusammen als ein Ergebnis auf der formalen Ebene.158

Trotz der geradezu hymnischen Glorifizierung Klees hat Haftmann dennoch einen, vielleicht sogar den zentralen Aspekt des Klee’schen Schaffens herausgearbeitet: seinen „kosmogenetischen“ Anspruch. Dieser Aspekt war in der Vorkriegsdiskussion nicht in dieser Deutlichkeit untersucht worden. Klee übertrifft die herkömmliche Vorstellung des Künstlers als natura naturans durch seinen Anspruch „weltschöpferischen“ Tuns, d. h., der Künstler kann vergangene, zukünftige und außerirdische Welten schaffen. Ausgangspunkt ist zwar die Natur als „conditio sine qua non“ (Klee), erweitert aber um das „Wissen“ der Naturgesetze. So gelangt der junge Klee schnell zu der Einsicht, daß jedes Detail aus dem organischen Reichtum der Natur auf ein strukturelles Gesetz zurückweist, ‚daß im äußersten Blättchen Analogien zur totalen Gesetzgebung sich mit Präzision wiederholen‘.159 Das ganze Tun Klees ist darauf angelegt, die Schöpfung in sich zu wiederholen, um durch dieses Tun das Ganze zu begreifen und aus diesem Wissen Gebilde zu schaffen, die sich als neu erschaffene Dinge dem Gering des Ganzen einfügen und hinzufügen. Klee kann also die Natur gar nicht reproduzieren. Die Natur ist in ihm, er ist selbst Natur.160 Nach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees  I  265

Versteckt in seinen Formulierungen weist Haftmann zu Recht darauf hin, dass es sich bei Klee nicht um ein wirkliches „Wissen“ der Naturgesetze handelt, sondern dass die Natur „in ihm“ selbst ist, d. h., er schafft die Natur aus sich selbst. Darin unterscheidet er sich von dem Klassizisten Goethe, der die „Gesetze“ der Natur nicht aus sich herausspann wie die Spinne ihren Faden, sondern, anders als Klee, in seinen naturwissenschaftlichen Untersuchungen, insbesondere in seiner Morphologie, zu ergründen versuchte. Haftmann deutet diese Differenz zumindest an: Goethe hat diese Einsichten um ein weniges mehr von seiner naturwissenschaftlichen Beschäftigung her erfahren. Er hat sie in seinen Schriften zur Morphologie der Pflanzen entfaltet. Goethe wollte aus den verworrenen vielfältigen Erscheinungsformen der Natur schauend die Urbilder entwickeln, die allen Erscheinungen zugrunde liegen. Sein Erkenntnismittel war die anschauende Urteilskraft, die die Vielfalt der Dinge auf ihr Typisches hin durchschaut und diese als Gestalt entwickelt. Auch die Gestalt im Sinne Goethes reicht vor und zurück in die zukünftigen und vergangenen Entwicklungsglieder der Schöpfung, auch in ihr begreift sich die Welt als Genesis, als wandelnd bildende Natur.161

Damit gelangt Haftmann zur zentralen Aussage über Klees „weltschöpferisches“ Tun: „Offenbar kann man also, wenn man einmal mit durchdringendem Blick auf diese Formchiffren in der Natur gestoßen ist, ganz neue Arten erfinden, die auch sein k ö n n t e n.“ (Hrv. Haftmann)162 Das Problem wird deutlich, wenn Haftmann Klees imaginierte Naturschau der Goethe’schen wissenschaftlichen Position gegenüberstellt. Haftmann zitiert den berühmten Satz Goethes, den dieser in seiner Italienischen Reise formuliert: Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen. Da ist Notwendigkeit, da ist Gott.163

Für Goethe waren die Naturgesetze nichts Imaginäres, Eingebildetes, sondern im Rahmen seines erkenntnistheoretischen Realismus „real“ und objektiv. Gesetze der Natur und Gesetze der Kunst sollten übereinstimmen. Wenn Goethe auf ein „Urbild“ oder „Urphänomen“, etwa einer Pflanze, zurückgriff, war dieses das Resultat einer systematischen Reduktion ausgehend von empirischen Phänomenen von der empirischen Pflanze. Klees „Naturgesetze“ dagegen sind, wie Haftmann erkennt, weitgehend imaginierte Gesetze. Das Verdienst des Buches von Haftmann besteht somit darin, dass der Autor nachdrücklich auf die kunstimmanente Logik der Kosmologie Klees hingewiesen hat, sie als Kunstprodukt, als selbstreferentiell versteht.164 Umso bedauerlicher ist, dass er am Ende seines Textes, als er eher kursorisch das Spätwerk abhandelt, erneut das angeblich „Mystische“ des Malers ins Spiel bringt: Dem Mönch ziemt bitterste Askese, seinen Bildern das härene Gewand. In dieser Askese aber glüht die Farbe mystisch auf. Das ist das Formereignis dieser Jahre, daß die 266  I  Düsseldorf und Bern

Farbe die höchste Kraft der Einfachheit gewinnt, die in die Dimension des Mystischen hinüberreicht und nun die lapidare schwarze Zeichenschrift als das zu Lesende auf sich trägt. Es ist um das Jahr 1937, daß Klee der Farbe jede Verhüllung nimmt und ihrer Macht allein es anvertraut, das Bild ins Reich des Mystischen gelangen zu lassen.165

Warum die Vereinfachung der Farbe zugleich das „Reich des Mystischen“ evoziert, bleibt Haftmanns Geheimnis. Klees „Primitivismus“, auch der Farbe, die Unmittelbarkeit des Ausdrucks steigern sich insbesondere im Spätwerk der beiden letzten Jahre zu höchster expressiver Kraft, zur Reduzierung auf das absolut Notwendige. Hier erreicht Klee eine innerweltliche Transzendenz, die nichts „Mystisches“ hat. Da ich Grohmanns Untersuchung der Klee’schen Werke bereits ausführlich dargestellt habe, möchte ich nunmehr auf den Beitrag Grohmanns zur Mythisierung Klees eingehen, mit dem er das Bild des Universalgenies vervollständigt. Grohmann kann man zwar nicht vorwerfen, er habe Klee zum „hintersinnigen Poeten“ stilisiert, wie dies im Kontext der Popularisierung des Malers der Fall war, aber am Bild des asketischen und weltentrückten Künstlers hat er entscheidend mitgewirkt. Letztlich greift er erneut die bereits von Haftmann entwickelten „Mythen“ – vielleicht sollte man besser von Künstlerklischees ­sprechen – wieder auf. Von Grohmann erfahren wir zunächst zu unserer Überraschung, dass Klee über sein „Leben“ mit Ausnahme von „kurzen Andeutungen“ geschwiegen habe, ungeachtet des umfangreichen biographischen Materials, das er in seinen Tagebüchern und Briefen vorgelegt hat: Sein persönliches Leben und das seiner Mitmenschen tritt kaum in Erscheinung; nur aus der Münchner Akademiezeit gibt es hin und wieder eine kurze Andeutung über ein Missgeschick in der Liebe oder ein offenes Urteil über einen Altersgenossen. Von Frauen ist fast nie die Rede und aus seinen Briefen und Aufzeichnungen würde man nicht einmal erfahren, wie er zu seiner eigenen Frau gestanden hat.166

Grohmann spricht von der „Indirektheit“ der Existenz Klees, einer Existenz, die sich deshalb auch nur „indirekt“ aus den Äußerungen seiner Werke erschließen lasse, und er gelangt zu der Feststellung, dass Klee „kaum ein Dasein außerhalb seines Schaffens hatte“. Klee gehe „fast vollständig in seiner Arbeit auf“167 – der Mythos des asketischen Künstlers, der nur für seine Arbeit lebt168. Diese Darstellung Klees entspricht für die mittleren und späteren Jahre ein Stück weit der Realität, der Weg dahin war für Klee jedoch mühe- und leidvoll, ein Kampf zwischen Hedonismus und Askese, zwischen Geist und Trieb. Klammert man diesen Weg aus, entsteht ein schiefes Bild des Künstlers. Grohmann fügt seiner These vom asketischen Künstler Klee eine zweite hinzu, diejenige vom weltfernen Künstler: In welchen Kreisen Klee auch gegenwärtig war, er verharrte in seiner Zurückgezogenheit. Nicht daß er es gewollt hätte; er konnte nicht anders; er lebte in einer anderen Welt und sah durch die Dinge hindurch.169 Nach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees  I  267

Allerdings enthält Grohmanns Briefwechsel mit Klee zahlreiche Details der Ausstellungsund Verkaufspraxis, die Klee keineswegs als „weltfernen“ Künstler170 zeigen. Auch dessen Geschäftsbeziehungen zu Goltz, Walden und Flechtheim zeigen ein anderes Bild. Außerdem bescheinigt Klee selbst Grohmann eine profunde Kenntnis seiner Person. Wie gut sich die beiden kannten, zeigt ein Brief Klees, den ich an dieser Stelle noch einmal zitieren möchte: ... ich muß Ihnen meine Bewunderung aussprechen, wie Sie mein kompliziertes Innenportrait zu zeichnen wussten. Ein paar Mal war es mir, als ob Sie leibhaftig drinnen säßen – ein eigenes Gefühl. Und in so knapper klarer Fassung wussten Sie alle Dinge mit Naturtreue unterzubringen.171

Anders als Grohmann unterstellt, war er durch seine Freundschaft, seinen Briefwechsel mit Klee und durch den Briefwechsel mit dessen Frau bestens über seinen Freund informiert. Auch Hausenstein und Kandinsky, die mit Klee jahrelang befreundet waren, kannten ihn verhältnismäßig gut. Gleichwohl wird Klee als „weltferner“, „jenseitiger“ Künstler präsentiert, der „in einer anderen Welt lebte“ und den auch seine Freunde nicht wirklich kennen. Ein weiteres von Grohmann verbreitetes Künstlerklischee sei abschließend erwähnt. Grohmann schreibt: „Klee hat sich als Mensch im Laufe der Jahre kaum verändert, und auch der Ruhm verwandelte ihn nicht.“172 Diese Beschreibung kann nicht gerade als Kompliment verstanden werden, darüber hinaus ist sie auch falsch. Wie bereits beschrieben, hat sich Klee zumindest zweimal stark verändert: in der Zeit zwischen 1900 und 1910 sowie in der Zeit seiner Emigration in die Schweiz. Amtsenthebung, Weggang aus Deutschland und seine beginnende Erkrankung veränderten ihn zwangsläufig. Man könnte dies als eine dritte Mythisierung Klees ansehen: die Vorstellung einer einmaligen und unveränderbaren Identität des Künstlers, eines Künstlers, der jenseits historischer Bezüge stets und überall mit sich identisch ist. Zum Mythos des vollkommenen Künstlers, des Universalgenies Klee, hat Grohmann, wie wir gesehen haben, wahrscheinlich am nachhaltigsten beigetragen: Der Künstler weiß alles, und bei Klee ist die Entsprechung von Ich und Welt vollständiger und lückenloser als bei jedem seiner Zeitgenossen.173

Ähnlich wie bei Haftmann lässt sich am Beispiel von Grohmanns einflussreicher Klee-Biographie exemplarisch nachvollziehen, wie ein sakralisiertes Bild Klees, gleichsam seine Heiligsprechung, entworfen wird, bei der die schwierigen Seiten ausgeblendet werden. Nur an einer Stelle wird die Schattenseite dieses Klee-Portraits erwähnt, wenn Grohmann von den psychischen Problemen in der frühen Entwicklung spricht. Hier finden wir den prägnanten Satz: „Er war mit seiner singulären Kunst oft an der Grenze des Wahnsinns gewesen, wie er später erzählte [...].“174, 175 Weniger zur Künstlerlegende als vielmehr zu einer gewissen Popularisierung Klees in Kreisen der zeitgenössischen Philosophie trug Heideggers Klee-Rezeption bei176. Hei268  I  Düsseldorf und Bern

degger beschäftigte sich in den fünfziger Jahren intensiv mit Klee und die Ausstellung der Thompson-Sammlung (88 Werke, die anschließend vom Land Nordrhein-Westfalen en bloc aufgekauft wurden) durch den Galeristen Ernst Beyeler in Basel (1958), die er mehrfach besuchte, steigerte seine Wertschätzung Klees. Offenbar erwog Heidegger sogar unter Bezugnahme auf Klee ein „Pendant“ zu seinem Kunstwerk-Aufsatz zu schreiben:177 Überraschend war die Intensität mit der Heidegger über Paul Klee sprach. Heidegger betonte, daß er von Klee her einen zweiten Teil, ein ‚Pendant‘ zu seinem Kunstwerk-Aufsatz schreiben wolle. Er meinte aber, Klee habe noch mehr ‚gedacht‘, als in der kantischen Manier seiner Texte ausgesagt sei.178

Das „Pendant“ kam nicht zustande, ebenso wenig ein offenbar geplanter Vortrag über Klee, hinterlassen wurden jedoch zahlreiche Notizen, u. a. „17 Zettel zu Klee, die nicht im geringsten an einen Vortrag erinnern“.179 Heidegger kannte offenbar die Bücher von Haftmann und Grohmann, war aber, so Pöggeler, „ganz unbefriedigt über das bahnbrechende Buch von Haftmann“.180 Dies ist nicht verwunderlich bei einem Denker, der – ähnlich wie Adorno, aber von einem anderen Denkansatz her – gerade den Wahrheitsanspruch der Kunst betonte, während Haftmann, wie ich gezeigt habe, Klee in ein nebulöses Reich des Mystischen versetzt. Bei aller Wertschätzung, ja Begeisterung für Klee bleibt relativ vage, wie Heidegger Klee einschätzte. Die Schilderungen von Heinrich W. Petzet, dem Biographen und Freund Heideggers, der zahlreiche Gespräche mit dem Philosophen über Klee führte und die Ba­seler Klee-Ausstellung mit ihm zusammen besuchte, geben zumindest einen gewissen An­haltspunkt, um Heideggers Position zu bestimmen. Dessen Äußerungen zu Klee im Gespräch mit Petzet bleiben jedoch Aperçus: „Es ist etwas eingetroffen, was wir alle noch nicht erblicken können“ (Heidegger, 21.2.1959).181 Kryptisch mutet auch Heideggers Bemerkung zu Klees „Kosmologie“ an, was Petzet leider nur in indirekter Rede wiedergibt: Für ihn (Heidegger) ergebe sich eine Schwierigkeit besonders aus Folgendem: daß noch nicht klar sei, inwiefern die Selbstinterpretation Klees (‚Kosmisches‘, etc.) eigentlich ganz das vorstelle, was in seinem Schaffen geschehe? Wahrscheinlich sei überhaupt der ganze Tachismus eine aus einem (unbewußten) Missverständnis hervorgegangene Folge dieser irrtümlichen Selbstauslegung, die an einer der gefährdetsten Berührungsstellen zwischen der Metaphysik und dem Kommenden vor sich gehe.182

Heidegger hat natürlich auf gewisse Weise recht: Das „Kosmische“ ist Klees Selbstauslegung, selbstreferentiell, romantische Naturschau, freilich dennoch zentraler Aspekt seines Werkes. Aufschlussreicher sind Heideggers Kommentare zu den Werken Klees während des Besuchs der Baseler Ausstellung. Die Kommentare sind so gehalten, dass man eine tendenziöse Darstellung durch Petzet ausschließen kann. Vor allem zwei Bilder standen im Mittelpunkt seines Interesses: Patientin und Ein Tor. Vor Ersterem, Nach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees  I  269

[...] das so merkwürdig an Grünewald erinnert, einem Bilde, das mit seinen Wurzelfasern bis in die äußersten Winkel vegetativer Pein zu reichen scheint, hielt er inne und sagte, [...] hier kann ein Arzt mehr lernen als aus medizinischen Lehrbüchern.183

Die Betonung dieser „vegetativen Pein“ kommt, wie wir sehen werden, Adornos Interpretation nahe, der den Wahrheitsgehalt der Kunst, insbesondere der von Klee, gerade darin sieht, dass sie das nicht im Begriff Aufgehende, Nichtidentische, letztlich auch das „Vegetative“ thematisiert. Da wir Heideggers Meinung zu Klee nur sehr ungenau ­kennen, mag die These spekulativ sein: Es entsteht der Eindruck, als seien Heidegger und Adorno an ähnlichen Aspekten in Klees Werk interessiert gewesen. Die Gouache Ein Tor, ein Bild des Spätwerks aus dem Jahre 1939, habe Heidegger in „tiefe Schweigsamkeit“ ­versetzt: „Das ist das Tor, durch das wir alle einmal gehen müssen – der Tod.“184 Heidegger ließ sich das Bild später noch mehrfach zeigen, so dass es Beyeler angeblich nicht verkaufte, sondern in seinem Besitz behielt.185 Auch von dem Bild Bunter Blitz „konnte Klee sich kaum wieder trennen“186. „Heidegger selbst sah sich durch den Blitz der Seinsfrage auf den Wege seines Denkens gebracht. Er hat daran erinnert, daß nach Hölderlin der Dichter den Blitz als Zeichen des Göttlichen dem Volk ins Lied gehüllt reichen muß.“187 Heidegger sah vermutlich Klees Kunst als Gegenspielerin, ja als Gegengift zum „Gestell“ der Technisierung und Mechanisierung der Welt an. Das entspricht Adornos Kritik an der Dialektik der Aufklärung. Alle Versuche von Klee-Biographen, Klees Rede von den Naturgesetzlichkeiten realistisch und physikalisch zu sehen, gehen in die Irre. Die „Naturgesetze“ Klees waren ebenso wenig Physik wie die Naturgesetze der Romantiker. Klees „Naturgesetze“ waren imaginierte, künstlerische Gesetze, Naturschau. Seine Kosmologie war romantische Universalpoesie, dem Denken der „Dichter“ nah, wie sie Novalis in seinem Heinrich von Ofterdingen beschrieben hat. Darüber hinaus dürfte die besondere Faszination, die Klees Ein Tor auf Heidegger ausübte, damit zu tun haben, dass es ein zentrales Thema der Philosophie Heideggers ansprach: Erinnerung an Endlichkeit und Tod, ein Thema, das vom „Gestell“ der Technik verdrängt wurde. Adorno hat vermutlich weniger zur philosophischen Popularisierung Klees beigetragen als Heidegger, ihn dafür aber in seiner Ästhetischen Theorie zum „exempla­rischen Künstler der Epoche“, vergleichbar mit Schönberg und Picasso, erhoben.188 Adornos ­Aufmerksamkeit richtet sich weniger, wie bei Heidegger, auf die Inhalte, als vielmehr auf die ästhetische Struktur des Klee’schen Werkes. Klee wird für ihn zu einem Künstler, an dem er seine Theorie des ästhetischen Scheins, der Dialektik von Oberfläche und Mate­ rialität des Kunstwerks und dessen Rätselcharakter verdeutlicht. Adornos Ansatz – ­Hintergrund ist seine Kritik am positivistischen Denken der Aufklärung, wie er sie bereits in der Dialektik der Aufklärung formulierte – geht von einer Kritik des begrifflichen Denkens aus, das das Andere des Begriffs, die Einzelheit, verfehlt, eines Anderen, das nicht im identifizierenden Begriff aufgeht. Die identifizierende Logik ist in gewissem Sinne unlogisch, weil sie gerade dieses Andere, das Nichtidentische, worauf Adorno zufolge das Denken auch zielen sollte, vernachlässigt. Der Rätselcharakter der Kunst ist 270  I  Düsseldorf und Bern

für Adorno gleichsam der Statthalter dieses Anderen – Kunst, die in ihrer Rätselhaftigkeit daran festhält, dass sie nicht in identifizierendem Denken aufgeht. Adornos Denkfigur ist schwierig, aber in sich konsistent. Sie geht davon aus, ähnlich wie Nietzsche, auf dessen Konzeption der Dialektik des ästhetischen Scheins sich Adorno explizit bezieht, dass „Wahrheit“, die nicht im begrifflichen Denken aufgeht, d. h. der Mimesis ans Einzelne bedarf, ohne zugleich begriffliches Denken insgesamt preiszugeben.189 Mimesis ans Einzelne, ist, wie es Adorno in seiner Schlussbemerkung zur Negativen Dialektik formuliert, Statthalter der Metaphysik „im Augenblick ihres Sturzes“.190 Kunst repräsentiert diesen mime­ tischen Ansatz, ähnlich wie Nietzsche in seiner aphoristisch-metaphorischen Diktion glaubte, dieser Wahrheit näherzukommen: Alle Kunstwerke und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt man den Rätselcharakter der Kunst unterm Aspekt der Sprache.191 Die Werke sprechen wie Feen im Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables. [...] Je dichter die Men-

76  Paul Klee, Ein Tor, 1939, 911), Tempera auf Grundierung auf Papier, 31,8 x 14 cm, Fondation Beyeler, Riehen/Basel

schen, was anders ist als der subjektive Geist, mit dem kategorialen Netz übersponnen haben, desto gründlicher haben sie das Staunen über jenes Andere sich abgewöhnt, mit steigender Vertrautheit ums Fremde sich betrogen.192

Wenn etwa Haxthausen (1990) mit einer gewissen Berechtigung betont, dass Klees Bilder keine direkte kommunikative Funktion besäßen, unterschlägt er dennoch, was sich erst einer differenzierten ästhetischen Theorie erschließt: den „Rätselcharakter“ seiner Bilder, der, ausgehend von der Oberfläche der Werke, uns einen assoziativen Bereich zeigt, den mimetischen Blick aufs Einzelne, der dem Desiderat Adornos einer nichtprädikativen Wahrheit entspricht: Emphatische Moderne entwindet sich dem Bereich einer Abbildung des Seelischen und geht über zu einem keiner meinenden Sprache Aussprechlichen. Das Werk Paul Klees ist aus der jüngeren Vergangenheit dafür wohl das bedeutendste Beispiel [...].193 Durch Organisation werden die Werke mehr als sie sind. In jüngeren Debatten zumal über bildende Kunst ist der Begriff der écriture relevant geworden, angeregt wohl durch Blätter Klees, die einer gekritzelten Schrift sich nähern. Jene Kategorie der Moderne wirft als Scheinwerfer Licht über ­Vergangenes; alle Kunstwerke sind Schriften, nicht erst die, die als solche auftreten, und zwar hieroNach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees  I  271

glyphenhafte, zu denen der Code verloren ward [...] Aber die verschwiegene und bestimmte Antwort der Kunstwerke offenbart sich nicht mit einem Schlag, als neue Unmittelbarkeit der Interpretation, sondern erst durch alle Vermittlungen hindurch, die der Disziplin der Werke, wie des Gedankens, der Philosophie. Der Rätselcharakter überlebt die Interpretation, welche die Antwort erlangt.194

Die beiden letzten Sätze des Zitats sind eine wichtige Erläuterung zu Adornos Verständnis des Rätselcharakters der Kunst. Die „Rätsel“ lassen sich ein Stück weit entschlüsseln, aber die dabei zu Tage tretenden „Wahrheiten“ sind nicht prädikativ festgeschrieben: Vielmehr tauchen in den „Konstellationen“ (ein zentraler Begriff der Erkenntnistheorie Adornos) der Interpretation, etwa der philosophischen, Hieroglyphen oder Chiffren auf, die uns eine Vorstellung des Nichtbegrifflichen, Anderen vermitteln, ohne dass der Rätselcharakter deshalb verschwinden würde. Um ein Beispiel aus dem Spätwerk Klees anzuführen (das Spätwerk bleibt bei Adorno erstaunlicherweise unerwähnt): Das Bild Hungriges Mädchen (1939) drückt keinen „Seelenzustand“ – und den des Künstlers allenfalls am Rande –, sondern ein existentielles Phänomen aus. Wir wissen nicht, was das Mädchen empfindet, ihr schnauzenartiges Gesicht mit den Reptilienaugen blockiert zunächst jeg­ liche „Einfühlung“. Gleichwohl können wir nachempfinden, dass der Biss in die eigene Faust Schmerz verursacht, einen halb animalischen, halb menschlichen Schmerz, der gleichwohl nicht durch den Begriff „Schmerz“ einholbar ist. Beispielhaft für die Versachlichung und Ent-Mythisierung Klees nach 1945 sind Hofmanns Grundlagen der modernen Kunst (1978) und das darin enthaltene ausführliche Kapitel über Paul Klee. Hofmann bedient sich dabei der Strategie des Vergleichs von Klee mit Picasso. Picasso habe sich sein „Formvolumen“ in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit angeeignet. Indem er die Vergangenheit absorbiere, ausbeute, vergewaltige und zerstöre, bleibe er „ihrem Bann verfallen“. Picasso orientiere sich an der seit Giotto und der Renaissance gestellten Frage, wie es möglich ist, [...] Bildzeichen für ein Raum-Körper-Kontinuum zu finden? Aus dieser Darstellungsproblematik bezieht Picassos Malerei ihr stereometrisches Grundgerüst.195

Klee geht umgekehrt vor: Er schafft (Hofmann bedient sich dabei gern der Klee’schen Formulierung des „Erwanderns“) aus „Forminhalten“ eine eigenständige Welt von „Sachinhalten“: Sein Verhältnis zu den Kunstmitteln ist darum weder der Deformation ausgesetzt, noch der Abstraktion zugänglich, denn es setzt beim Allereinfachsten an, es tastet sich aus den vorgegenständlichen Bereichen von Punkt, Linie, Halbdunkel und Farbe allmählich an Gegenständliches heran. Während Picasso sich präexistenter Form- und Sachkomplexe bemächtigt, widmet sich Klee dem Versuch, seine Form- und Sachinhalte zu erwandern. Das ist keine Metapher, sondern wörtlich zu nehmen.196

Kern der daran anschließenden Argumentation von Hofmann ist, dass Klee den Kampf zwischen Form- und Sachinhalten gleichsam unterlaufen habe, indem er formale Mittel 272  I  Düsseldorf und Bern

entwickelte, aus denen sich künstlerisch unbegrenzt Sachinhalte erschaffen ließen, d. h., der Künstler seine Gegenstandswelt überhaupt erst kreiert. Er muss demnach nicht Kompromisse mit dem Eigensinn und den Komplikationen von Wahr­ nehmungsdaten schließen. Folglich kann er, ohne die Eigenmacht der Forminhalte zu schmälern, Inhaltliches in grenzenloser Vielfalt in ihnen unterbringen. Klee entdeckt den zwar schmalen, doch langen Grat, auf dem die formalen Mittel sich zu gegenständlichen Hieroglyphen ‚umfunktionieren‘ lassen, ohne deshalb ihre Eigenständigkeit preiszu­geben.197

Dies ist eine überzeugende formanalytische Beschreibung und Begründung des „weltschöpferischen“ Anspruchs von Klee. Sie lässt sich allerdings nur in einem schmalen Bereich des Werkes Klees überzeugend demonstrieren, der überdies in erster Linie seinem Spätwerk zugehörig ist. Für sein Frühwerk, auch für seine Bauhausarbeiten (etwa für seine geometrisierenden oder polyphonen Arbeiten, auch für den Pointillismus der Düsseldorfer Zeit) lässt sich diese originelle, um nicht zu sagen revolutionäre Lösung des Form-Inhalt-Problems nicht nachweisen. Als Veranschaulichung der Hofmann’schen Interpretation kann beispielsweise Insula dulcamara (1938) herangezogen werden. Klee hat mit sparsamsten, nichtillusionistischen Mitteln das Bild einer Insel und die Vorstellung des Süßen und Bitteren (die beiden Schalen) evoziert. Aber bereits im Zentrum des Bildes gibt es ein Problem: Beruht der Kopf (ich hatte ihn als „Totenkopf“ interpretiert) auf der Verwendung eines mehrdeutig einsetzbaren Formelements, wie die übrigen „Linien“ des Bildes, oder ist er eine reduktionistische, gleichwohl noch immer ein Stück weit realistische Darstellung eines Kopfes? Es ist die von Klee immer wieder bemühte „Reduction“, die die These Hofmanns relativiert. Dasselbe Problem ist am Beispiel von Legende vom Nil (1937) erkennbar. Das Bild ist im Wesentlichen mit hieroglyphischen Zeichen aufgebaut. In der Mitte des Bildes ist jedoch eindeutig ein Ruderboot erkennbar. Hieroglyphe oder „Reduction“? Eines der Werke, bei denen Hofmanns Konzept tatsächlich „funktioniert“, ist Zerstörtes Labyrinth (1939). Hier wird mit ungegenständlichen Formelementen tatsächlich etwas Gegenständliches evoziert: Das Bild eines zerstörten Labyrinths, das zugleich aus fragmentierten Körpern zu bestehen scheint. Ganz kann sich allerdings auch Hofmann der Tendenz zur Idealisierung Klees – was freilich etwas anderes ist als eine Mythisierung – nicht entziehen. Klee wird auf die Höhe Leonardos gehoben. Klee habe eine „geschichtliche Leistung“ vollbracht, die der „formalen und theoretischen Neuorientierung ebenbürtig ist, die wir mit dem Namen Leonardo da Vincis verknüpfen“.198 Klee lehne „die Verbindlichkeit der empirischen Welt ab und gewinnt dadurch das Recht, einen neuen, von keiner Erfahrung legitimierten Raum zu betreten und formal zu bestimmen“.199 Ende der siebziger Jahre war offenbar der Zeitpunkt gekommen, an dem man einen Schlussstrich unter die „Wiedergutmachungs“-Phase der Klee-Rezeption und die damit verbundene erneute Mythisierung zog und sich kritischer und objektiver mit dem Werk – allerdings noch nicht mit dem Leben Klees – auseinandersetzte. Vorbereitet wurde dies Nach 1945: Re-Mythisierung und Ent-Mythisierung Klees  I  273

nicht zuletzt durch die Arbeiten von Geelhaar, der 1976 die Rezensionen und theoretischen Arbeiten von Klee publizierte und damit die Möglichkeit einer gesicherten textkritischen Auseinandersetzung mit dem Maler schuf und mit der Untersuchung der redigierten Tagebücher (1979) die retrospektive „literarische Selbststilisierung“ und „Fiktionalisierung“ Klees in dessen Tagebüchern nachwies200. Ein Meilenstein für die sachliche Auseinandersetzung mit Klee war die Veröffentlichung (1988) der Tagebücher 1898–1918: Eine wirklich historisch-kritische Ausgabe der Tagebücher steht freilich noch aus. 1981 und 2000 wies Werckmeister in seinen Untersuchungen über die künstlerische Karriere Klees, die erstmals einen materialistisch-sozialgeschichtlichen Ansatz in die Klee-Forschung einführten201, darauf hin, dass es sich bei Klee um alles andere als um einen weltfernen Künstler und Poeten gehandelt habe, sondern dass dieser – mit Unterstützung von Goltz und Walden – sehr wohl in der Lage war, sich marktkonform auf die Bedürfnisse eines bürgerlichen Publikums und dessen kompensatorischer Kunstrezeption einzustellen. Klee formulierte dies, wie wir gesehen haben, 1920 geradezu programmatisch, indem er dem bürgerlichen Publikum Kunst als Möglichkeit einer vom ­Alltag entlastenden „Villegiatur“ anpries.202 1991 folgte dann die nüchterne, freilich ­respektvolle Bestandsaufnahme der Kunst Klees durch Franciscono, die jeglichen Unterstellungen „magischer“ oder „mythischer“ Qualitäten Klees eine deutliche Abfuhr erteilte.

274  I  Düsseldorf und Bern

7. Eros und Thanatos Keine noch so edle Sinnlichkeit brückt zu den Vielen hinüber. (Paul Klee)1

Die Authentizität der Tagebücher und Briefe Klees

Um eine „innere Biographie“ Paul Klees, ein „Innenportrait“ (Klee) des Künstlers jenseits der Klee-Mythen und -Legenden zu entwerfen, muss auch die Authentizität der Tagebücher und Briefe Klees geklärt werden. Die künstlerischen Entwicklungsschritte Paul Klees sind vor allem in seinen Tagebüchern aus den Jahren 1898–1918 minutiös festgehalten, während die Aussagen zu seiner Person im Verlauf der Tagebücher immer spärlicher werden. Ab 1918 sind wir – sieht man von den autobiographischen Texten ab, die Klee seinen Biographen zur Verfügung gestellt hat – vollständig auf seine Briefe angewiesen. Auch wenn es sich bei den Tagebüchern nicht um Originalaufzeichnungen, sondern um nachträglich – häufig erst spät – redigierte Fassungen handelt, bilden die Tagebücher eine Quelle von unschätzbarem Wert.2 Klees Tagebücher sind zunächst insoweit „authentisch“, als sie zeigen, wie Klee gesehen werden wollte. Dies scheint trivial zu sein, wirft aber eine folgenreiche Frage auf: Jemand, der wie Klee so außerordentlich auf sein öffentliches Bild als Künstler bedacht war, würde – so dürfte man vermuten – problematische Aspekte seiner Per­sönlichkeit nicht veröffent­ lichen, zumal er nicht die geringste Neigung besaß, als enfant terrible des Kunstmarktes in Erscheinung zu treten. Dass seine Tage­bücher tatsächlich zur Veröffentlichung vor­ gesehen waren, wurde ja von Klee mehrfach betont. Mit Sicherheit war sich Klee darüber im Klaren, dass etwa seine misogynen Äuße­rungen3 in der Öffentlichkeit nicht reputationsförderlich waren (zumindest dürfte dies für den weiblichen Teil seiner Bewunderer zutreffen), selbst wenn sie ein Stück weit dem Zeitgeist à la Nietzsche oder Weininger entsprachen. Auch die Darstellung seiner sexuellen Misserfolge bzw. „Blamagen“ und die ironische Ableitung seiner „Askese“ aus diesen Misserfolgen gehören in diesen Zusammenhang. Um ein weiteres Beispiel anzuführen: Welches Selbststilisierungsinteresse könnte Klee gehabt haben, einen Teil seiner künstlerischen Produktion der frühen Münchner Jahre als Resultat seiner sexuellen Probleme darzustellen: Was in diesen Tagebüchern unklar ist, wirr und unterentwickelt, wirkt kaum so abstoßend oder gar lächerlich wie die ersten Versuche, diese Zustände in Kunst umzusetzen [...] Die sexuelle Ratlosigkeit gebiert Monstren der Perversion. Amazonensymposien und anderes Schreckliche. Ein dreiteiliger Cyklus: Carmen-Gretchen-Isolde. Ein Cyklus Nana. Der Ekel: eine Dame welche mit dem Oberkörper über einem Tisch liegt und ein Gefäß ekelhafter Dinge ausgießt. (Tgb. 170, Hrv. MC) Die Authentizität der Tagebücher und Briefe Klees  I  275

Klee spricht geradezu von seinem sexuellen „Pandämonium“4. Dass er diese Details dennoch in sein Tagebuch aufnahm, legt nahe, dass es für ihn ein Bedürfnis nach authentischer Selbstdarstellung gab, ein Bedürfnis, das möglicherweise stärker war als der Gedanke an ein möglichst positives Image in der Öffentlichkeit. Dass er die Tagebücher zu veröffentlichen gedachte, und zwar als „Hauptwerk“, wird bereits in einer Tagebucheintragung 1905 deutlich: „Die Autobiographie. Dein Hauptwerk ????“ (Tgb. 692). Hätte Klee, wie er im Anschluss an die Tagebucheintragung Nr. 170 schreibt, nur seinen Prozess menschlicher „Läuterung“ als Teil eines phantasievollen konventionellen „Künstlerromans“ darstellen wollen, hätten die zahlreichen Stellen, in denen er sich in unverfänglichen Formulierungen allmählich von „Wollust“ und Triebhaftigkeit löst, völlig ausgereicht. Auch die wagnerianische Figur der Erlösung durch die Liebe zur „reinen“ Jungfrau hätte man ihm vermutlich abgenommen. Warum gibt Klee so viel von sich preis? Das Verhältnis von Selbststilisierung und Authentizität bei Klee dürfte folgendermaßen aussehen: Die Tendenz zur positiven Selbststilisierung wird immer wieder durch Details konterkariert, die zu spezifisch, zu konkret und zu entlarvend sind, als dass sie lediglich als Erfindungen im Rahmen eines Künstlerromans gelten könnten.5 Misogynie, sexuelle Blamagen und triebgesteuerte Perversionen in seiner Kunst sind keine Erfindungen Klees, die geeignet wären, ein „interessantes“ und prestigeträchtiges Image als Künstler, gewissermaßen eine „Marke Klee“ zu etablieren. Klee wollte, wie er es an den Tagebüchern Friedrich Hebbels bewunderte und nachahmen wollte, ein literarischen Kunstwerk schaffen, ein „Hauptwerk“, zu dessen Ästhetik schonungslose Selbstpreisgabe gehörte, dessen Details somit nicht allein seiner Phantasie entspringen durften. Dass sich Klee einer „literarischen Selbststilisierung“ bediene, ist ein schwaches Argument. Wir finden diese Art von Selbststilisierung von Anfang an in Klees Tagebüchern. Seine Hymnen etwa an die Kunstfigur „Eveline“, aus der allmählich die reale Lily Stumpf wird, sind einerseits eine Art romantischer Poesie, andererseits beschreiben sie realistisch sein Werben und seine Annäherung an Lily bis hin zu ihrer „Verlobung“ im Juni 1901 (Tgb. 163). Auch Klees Wandlung vom Bohemien und Libertin zum „sittlichen Mann“ und Asketen ist in diesen um Eveline/Lily kreisenden Tagebucheintragungen im Kern zutreffend beschrieben, wie auch Klees Briefe zeigen. Unter Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses von Selbststilisierung und schonungsloser Selbstentblößung dürfen die Tagebücher Klees als in der Tendenz authentisch betrachtet werden. In der „Tendenz authentisch“ heißt: Natürlich hat Klee Formulierungen seines ursprünglichen Tagebuchs modifiziert oder verändert, ohne jedoch den Kern der Aussage zurückzunehmen. Ein Beispiel ist die bereits erwähnte Tagebuchnotiz Nr. 1007. In der handgeschriebenen Fassung hieß es: „Mir fehlt jegliche Art leidenschaftlicher Menschlichkeit.“ In der redigierten Fassung dagegen liest man: „Meiner Kunst fehlt leidenschaftliche Art der Menschlichkeit.“ Klees Briefe an die Familie sind nicht so dicht und prägnant geschrieben wie die redigierten Tagebücher, besitzen andererseits jedoch den Vorzug, dass sie nicht nachträglich überarbeitet wurden. An zahlreichen Stellen lassen sich Briefe und Tagebücher miteinander vergleichen, nicht zuletzt weil Klee die Angewohnheit hatte, in seinen Briefen 276  I  Eros und Thanatos

auch Teile seiner Tagebücher (und umgekehrt) zu verwenden. Signifikante Abweichungen zwischen den Tagebüchern und den Briefen lassen sich nicht feststellen. Würde man unterstellen, dass auch die Briefe an die Familie manipuliert sind – über das Maß hinaus, in dem jeder Tagebuch- oder Briefeschreiber sich auch ein Stück weit bedeckt hält –, dann müsste man zwangsläufig davon ausgehen, dass das gesamte autobiographische Material Klees bloße Maskerade, „Fiktion“ ist. Für ein tiefergehendes Verständnis der Klee’schen Selbstdarstellung unter dem Aspekt ihrer „Authentizität“ ist eine kurze hermeneutische Erläuterung erforderlich. Die ambivalente Selbstdarstellung Klees spielt sich vorwiegend im Bereich bewusster Intentionen ab. Darüber hinaus gibt es jedoch Aspekte der Tagebücher, die sich als latente psychische Realität erweisen, eine Realität, von der wir annehmen dürfen, dass sie Klee nicht oder nur teilweise bewusst war und die er deshalb auch nicht redigieren oder manipulieren konnte. Die Erschließung dieser latenten psychischen Realität eines Textes ist die eigentliche methodische Domäne der Psychoanalyse, die sich nicht auf eine Triebtheorie reduzieren lässt. Dies bedeutet, dass die sprachlichen Sequenzen auf ihre manifeste und latente Bedeutung und zugleich auf die biographische Entwicklung hin untersucht werden müssen. Entscheidend ist dabei die manifeste und latente Konsistenz der Bedeutungen, d. h., dass sich ein bestimmtes Strukturmuster über längere Zeit hin zeigt und man auf diese Weise – indem man jeweils neue Daten berücksichtigt – geradezu experimentell überprüfen kann, ob sich eine bestimmte Interpretation bestätigt oder nicht. Niemand kann sich auf Tausenden von Seiten vollständig verstecken und lediglich eine Maske präsentieren. Es würden zwangsläufig Brüche, Inkonsistenzen, literarische Plagiate etc. auftauchen, die die Maske desavouierten. Schließlich ist genrespezifisch anzumerken, dass eine eindeutige Unterscheidung zwischen „genuinen“ und „literarischen“ (d. h. für die Öffentlichkeit bestimmten) Tagebüchern nicht möglich ist. Auch genuine Tagebuchschreiber fantasieren, schmücken aus – ganz abgesehen davon, dass sie sich häufig über sich selbst täuschen. Das Konzept der latenten psychischen Realität6 besagt, dass in autobiographischen Texten eine psychische Realität sichtbar wird, die dem Verfasser des Textes nicht oder nur bruchstückhaft bewusst ist. Es handelt sich gewissermaßen um das unbewusste Lebensskript des Autors, das definitionsgemäß nicht gefälscht werden kann, weil es sich nicht auf bewusste Intentionen des Autors bezieht, sondern aus der objektiven Struktur des Textes erschlossen wird. Um zur Verdeutlichung ein Beispiel zu nennen, das vermutlich jedem kriminalistischen Ermittler vertraut ist: Finden wir bei einem Befragten durch­ gängig, dass alle problematischen Ereignisse (lebensgeschichtliche Krisen, finanzielle Probleme, kriminelle Handlungen etc.) auf Fremdeinwirkungen zurückgeführt werden, so dürfen wir vermuten, dass es sich entweder um Ausflüchte bzw. gezielte „Desinformationen“ oder aber um unbewusste Motive handelt, dass also Mechanismen der Projektion und Externalisierung vorliegen und diese Mechanismen die Erzählung des Befragten prägen. Wir hinterfragen also die subjektive Intention des Befragten nicht, indem wir mut­ maßen oder spekulieren, sondern indem wir die von ihm generierte objektive sprachliche Struktur seiner Erzählung untersuchen7. Die Authentizität der Tagebücher und Briefe Klees  I  277

Erst in einem nächsten Schritt beziehen wir die sprachliche Struktur der Erzählung auf die Intention des Sprechers, indem wir fragen: Hat dieser die objektive Bedeutung des Textes erkannt oder nicht? Hier muss stets eine Reihe von Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, u. a.: 1.) Die Erzählung wird strategisch, d. h. bewusst, zur Selbstdarstellung, Rechtfertigung, Desinformation oder Täuschung eingesetzt. 2.) Die objektive Bedeutung ist unbewusst. 3.) Die objektive Bedeutung wird, jenseits strategischer oder unbewusster Mechanismen, aus sprachlogischen Gründen nicht oder nicht vollständig erkannt. Alle drei Möglichkeiten kommen bei Klee in Betracht. Die erste Variante etwa lässt sich am Beispiel von Klees Darstellung der Position Marcs verdeutlichen: Klee verfälscht dessen Position (was wir anhand von Marcs autobiographischen Texten feststellen können), argumentiert also strategisch im Sinne einer gezielten Desinformation. Die zweite Variante zeigt sich u. a. darin, dass es Klee nur sehr rudimentär bewusst war, dass die Abspaltung vitaler Bedürfnisse zur psychischen „Verarmung“ (Klee) führen würde. Ich werde im Folgenden versuchen, zur Vertiefung der „inneren Biographie“ Klees dessen latente psychische Realität zu berücksichtigen, soweit dies auf der Grundlage der Tagebücher und Briefe Klees möglich ist. Versuche in diese Richtung wurden bereits unternommen, wobei die Ergebnisse nur wenig überzeugend waren. Teilweise fehlte das entsprechende methodische Instrumentarium, teilweise war auch die Datenbasis zu schmal, so im Falle von Eckstaedts Klee-Biographie (2005). Es geht dabei, um dies noch einmal zu betonen, um die Konstruktion einer Realität, wie sie sich auf der Grundlage der Tagebücher und Briefe darstellt. Zeugnisse Dritter (etwa Lily Klees oder Petra Petitpierres), die zusätzlich herangezogen werden, erhöhen dabei – im positiven Falle – die Wahrscheinlichkeit, „dass es so war“, wie Klee es darstellt. Geraten wir damit nicht in eine zirkuläre Argumentation, eine Kreisbewegung auf schwankendem Boden? Streng genommen: ja. Wir geraten in jenen berüchtigten hermeneutischen Zirkel, mit dem sich jeder Biograph auseinandersetzen muss: Können wir beispielsweise eine problematische Äußerung von Bethmann-Hollweg durch eine ebenso problematische von Wilhelm II. (und umgekehrt) „belegen“? Es gibt, wie in jeder Wissenschaft, die nicht der Metaphysik einer „objektiven“ Wahrheit verhaftet ist, nur einen Ausweg: Daten und die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen, so klar und intersubjektiv nachvollziehbar wie möglich darzustellen. Ich möchte im Folgenden versuchen, dies am Beispiel eines Klee-Bildes „jenseits des Mythos“ zu zeigen.

Ein Klee-Bild jenseits des Mythos: Einsamkeit, Depression, Krankheit Durch alle Aufzeichnungen Klees, Tagebücher und Briefe, zieht sich als eine Art Generalbass die enge Beziehung zwischen Kunst und Leben, genauer gesagt: die Dominanz der Kunst in Klees Leben. Viele seiner Biographen, beispielsweise Grohmann, sprechen geradezu von einer Identität von Kunst und Leben bei Klee bzw. von einem Dasein, das 278  I  Eros und Thanatos

außerhalb seiner Kunst kaum existierte. Kunst (dazu gehört auch Klees virtuoses Geigenspiel) war das bedeutsamste und vitalste Element in Klees Leben, ein Element, das ihm half, Phasen der Isolation zu ertragen und das ihm im Verlauf seiner schweren Krankheit bis zu seinem Tod Überlebenswillen gab. „Glück“ findet Klee in der Zeit seiner Erkrankung in der künstlerischen Arbeit. Andererseits sieht er allerdings schon früh seine vitalen Kräfte begrenzt: „Meine Lebensfunktionen waren irgendwo in einer Schatulle. Wenn man das Ohr daranhielt, hörte man den Puls leicht ticken“, schreibt Klee im Juli 1904 in seinem Tagebuch (Tgb. 573). Auch seine „Allegorie der Überkrustung“, bei der er sich in eine Nussschale eingeschlossen fühlt, gehört in diesen Zusammenhang. Ähnlich äußerte er sich sehr viel später in dem bereits zitierten Brief an den Kunsthändler J. B. Neumann, in dem er davon spricht, dass er nie über „überschüssige“ Kräfte verfügt habe.8 Auch wenn Klee in seiner Tagebucheintragung 573 in der Vergangenheitsform spricht, so wird dennoch deutlich, wenn man die Gesamtheit seiner Tagebucheintragungen überblickt, dass Klees selbstgewählte asketische Lebensführung – wie er selbst befürchtete – auf eine Einschränkung und Verarmung seiner „Lebensfunktionen“ hinausläuft, zugunsten einer fast vollständigen Unterordnung seines Lebens unter die Kunst. Im Kontext einer „raffinierten ökonomischen Strategie“, mit der er „Angriffe des Schicksals“ dadurch abwehren will, dass er „das Innerste allerheiligst“ verschließt, stellt Klee sich die Frage, wie weit dies auf eine „gewisse Verarmung“ hinausläuft (Tgb. 605 vgl. S. 297). Wir haben gesehen, dass für Klee Erotik und Sexualität immer mehr in den Hintergrund traten und das „Jenseitige“ und Neutralgeschöpfhafte an Bedeutung gewannen. Helfenstein konstatiert eine „asketisch-neutrale, von Emotionen und Leidenschaften nicht beeinträchtigte Haltung“ Klees9, Baumgartner/Hopfengart sprechen von einer „frauen- und körperfeindliche[n]“ Einstellung Klees. 10 Ich möchte zunächst auf Klees Versuch einer psychischen Immunisierung eingehen. Asketisches Künstlertum, der Anspruch eines privilegierten Zugangs zum Jenseitigen und zum „Urgrund“, die Vorstellung, „Neutralgeschöpfe“ zu sein, sind zentrale Elemente der Selbststilisierung und Selbstmythisierung Klees. Von der frühen Klee-Biographik wurden sie weitgehend unhinterfragt ratifiziert. Sie begründen Klees Charisma als eines der profanen Welt entrückten Künstlers, der „diesseitig“ nicht fassbar ist. Damit ist auch seine Kunst mit profanen Kriterien nicht fassbar, sondern besitzt gleichsam mystische oder magische Qualität. Haftmann und Grohmann hatten dies expressis verbis so formuliert. Picasso hatte sich als König stilisiert – Yo, el Rey, lautet der Titel eines Selbstportraits aus dem Jahre 1900. Bei Klee hingegen kann man davon sprechen, dass er sich ab Mitte seiner zwanziger Jahre als Eremit, als eine „Art Mönch“ (Tgb. 605) stilisiert, weltabgewandt und asketisch, was dann insbesondere von Haftmann zu einer Art Heiligenstatus ausgesponnen wurde: ein „etwas mehr als ein Mensch“.11 Es bedarf somit der Klärung, was sich hinter Klees Selbstdarstellung, hinter dem von ihm selbst und seinen Biographen geschaffenen Mythos verbirgt. Hinter der Maske des Mythos – so können wir insbesondere den frühen autobiographischen Texten Klees entnehmen – werden bei Klee Gefühle der Isolation, Einsamkeit und Depression, Suizidphantasien, Ein Klee-Bild jenseits des Mythos: Einsamkeit, Depression, Krankheit  I  279

Ängste vor dem Scheitern als Mensch und Künstler, frustrierende sexuelle Erfahrungen und Ängste vor unzulänglicher und schwindender Vitalität sichtbar. Klee selbst hat nicht nur an seinem Mythos mitgewirkt, er hat ihn zugleich konterkariert. Zur Vermeidung von Miss­ verständnissen: Es geht nicht um die wohlfeile „Entlarvung“ eines großen Künstlers. Im Gegenteil: Gerade als leidender Mensch (ich hatte, am Beispiel von Klees Ecce ... auf dessen Identifizierung mit Christus, mit dem „Schmerzensmann“, hinge­wiesen), erhält Klee eine Größe und Würde, die er als entrückte „jenseitige“ Lichtgestalt nicht erreicht. Klee wusste, warum er sich von dem Pathos van Goghs distanzierte. Er war selbst voller Pathos. Klee fühlte sich lange Zeit als Künstler isoliert, eine Isolation, die sich – zumindest äußerlich – erst mit seiner Aufnahme in den Kreis des Blauen Reiters änderte. Neben der künstlerischen Isolation zeigen seine Tagebücher und Briefe aber auch eine menschliche und geistige Isolation: Einsamkeitsgefühle hat Klee schon sehr früh in seinen Tagebüchern notiert. Er war von einer „Atmosphäre der Versenkung und Abgeschlossenheit“ umgeben, ein „Einzelgänger“, wie Carola Giedion-Welcker in ihrer sprachlich leider nur schwer genießbaren Klee-Biographie anmerkt12. Auch wenn es Klee gelang, seine an­ fängliche künstlerische Isolation zu überwinden, blieb er trotz seiner Popularität und seinen umfangreichen persönlichen und künstlerischen Kontakten ein in sich verschlossener und – nimmt man Klees Selbstzeugnisse ernst – letztlich einsamer Mensch. Auch die persönliche Erfahrung seines ersten Biographen, Leopold Zahn, weist in diese Richtung: Sich abzusondern, für sich zu leben in eigener Welt, auf die der Alltag nur huschende Reflexe warf, war ihm Bedürfnis. Nicht, daß er sich dem Gesprächspartner durch ein Pathos der Distanz entzogen hätte. Immer unterhielt er sich einfach und freundlich mit mir, doch ohne Expansivität, und eine kameradschaftliche Vertraulichkeit, wie sie mich mit vielen Künstlern München damals verband, war ihm gegenüber unvorstellbar.13

Auch Lily Klee formuliert in einem Brief an Grohmann sehr deutlich die Einsamkeit Klees: Ich brauche Ihnen gar nicht zu sagen, daß Sie einer der Wenigen sind, welche bis zum innersten Kern seiner künstlerischen Mentalität vorgedrungen sind und ihn völlig würdigen können. Er ist ein geistig so völlig einsamer Mensch und sein Leben ist einsam und entsagungsvoll.14

Deutlicher kann man es nicht sagen: Er sei nicht nur „geistig“ einsam, sein „Leben ist einsam und entsagungsvoll“. Klee notiert schon früh, im Mai 1905, in seinem Tagebuch: „Denn man ist letzten Endes hienieden allein, auch in der Liebe“ (Tgb. 635). Klee hat sein „Innerste[s] allerheiligst verschlossen“ (Tgb. 605) und in den autobiographischen Notizen für seinen Biographen Hausenstein führt er dies in aller Deutlichkeit weiter aus: Streben nach Reinigung und Isolierung des männlichen Typus in mir. Trotz Ehereife ganz auf sich abstellen, sich auf größte Einsamkeit vorbereiten. Abneigung gegen die Fortpflanzung (ethische Überempfindlichkeit). (Tgb., Hausenstein I, S. 490 f., Hrv. MC)15 280  I  Eros und Thanatos

In der ihm eigenen prägnanten Sprache beschreibt Klee auch seine künstlerische Isolation zu Beginn seiner Karriere, bezeichnenderweise in einem Augenblick (November 1908), als er gerade eine neue Chance entdeckt, aus seinen mühevollen Experimenten mit Linie, Tonalität und Farbe einen kreativen Ausweg zu finden, in Gestalt der „psychischen Improvisation“. Neu gestärkt durch meine naturalistischen Etüden darf ich dann wieder wagen, mein Urgebiet der psychischen Improvisation neu zu betreten. Hier an einem Natureindruck nur ganz indirekt gebunden, kann ich dann wieder wagen, das zu gestalten, was die Seele gerade belastet ... Hier liegt eine neuschöpferische Möglichkeit längst vor, welche nur s. Z. durch die Ängstlichkeit des Isoliertseins unterbrochen worden war. So wird meine reine Persönlichkeit zu Wort kommen, sich in größter Freiheit befreien können. (Tgb. 842, Hrv. MC)

Auch hier wird deutlich, wie Klee in seinen redigierten Tagebüchern bei aller Selbstkritik kompensatorisch zugleich sein eigenes Heldenepos schreibt, das dann seinen Interpreten und Biographen als Vorlage diente: der Mythos des unermüdlich arbeitenden und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchenden Künstlers. Dies gleicht dem Mythos, den Sabartés über seinen Freund Picasso verbreitete. Auch Sabartés schildert Picasso als Asketen und als einen mit geradezu übernatürlichen Fähigkeiten ausgestatteten „Magier“.16 Die von Lily Klee angesprochene Einsamkeit ist nicht in erster Linie auf äußere Umstände zurückzuführen, wenngleich Klees Entlassung aus dem Amt eines Akademieprofessors in Düsseldorf durch die Nationalsozialisten und seine anschließende Emigration in die Schweiz seine Einsamkeit mit Sicherheit verstärkten. Seine Einsamkeit ist selbstgewählt, genauer, sie ist ein Teil seiner psychischen Entwicklung. Einsamkeit – trotz zunehmender sozialer Kontakte bei wachsender Berühmtheit als Künstler – ist für Klee keine Pose, keine Selbststilisierung: Die Schilderungen seiner Frau, von Freunden und Zeitgenossen bezeugen dies. Eine andere Frage ist, wie weit Klee bei seiner Selbstdarstellung und Selbststilisierung auf „seinerzeit aktuelle Konstrukte“ zurückgegriffen hat, wie Zöllner (2002) nachzuweisen versucht. An den Topoi „Einsamkeit“ oder „Abneigung gegen Fortpflanzung“ lässt sich eine Verbindung zu Nietzsche und Otto Weininger feststellen, was jedoch nicht ausschließt, dass Klee sich tatsächlich einsam fühlte und eine Abneigung gegen Fortpflanzung hatte (die Vorstellung, Vater zu werden, hatte zwiespältige Gefühle in ihm ausgelöst). Allerdings lässt sich zeigen, dass Klee sich gerade im Falle Nietzsche nur derjenigen „Konstrukte“ bediente, die ihm gewissermaßen „in den Kram passten“, andere jedoch unberücksichtigt ließ. Wie alle Schreibenden griff auch Klee auf „Konstrukte“ zurück, vornehmlich solche, die gerade „aktuell“ waren. Seine zeitweiligen Depressionen passen jedoch nicht in derartige „aktuelle Konstrukte“ und seine Überlegung, dass sexuelle Misserfolge oder „Blamagen“ ihn zur Askese geführt hätten, ist ebenfalls kein „Konstrukt“, sondern eher eine indirekte, fast parodistisch anmutende Entlarvung der Misogynie Weiningers und seiner These von der notwendigen sexuellen Enthaltsamkeit. Ein Klee-Bild jenseits des Mythos: Einsamkeit, Depression, Krankheit  I  281

Die Metaphorik des Verschlossenseins („Ich habe mein Innerstes allerheiligst verschlossen“, Tgb. 605) taucht in eindringlichen Bildern auch an anderen Stellen auf. Im Juli 1905 notiert Klee: Wenn ich ein ganz wahres Selbstportrait malen sollte, so sähe man eine merkwürdige Schale. Und drinnen, müsste man jedem klar machen, sitze ich wie der Kern in einer Nuß. Allegorie der Überkrustung könnte man dieses Werk nennen. (Tgb. 675, Hrv. MC)

Wenig später schreibt er: „Das Genie sitzt im Glashaus aber im unzerbrechlichen, Ideen gebärend.“ (Tgb. 690). Später (1914) sieht Klee sich als „kristallin“, als „kristallinischen Typ“ (Tgb. 950) – eine Metamorphose vom Organischen ins Anorganische. Die Metapher der „Überkrustung“, die er bereits 1905 formulierte, wird damit noch gesteigert: Das Kristallinisch-Harte, Undurchdringliche der Oberfläche bezieht sich jetzt auf die ganze Person, eine Veränderung des Körperbildes weg vom Organischen zum Anorganischen, die psychische Immunisierung wird zur Selbstpetrifikation, gleichsam eine Inversion von Leben und Tod. In geradezu beklemmender Weise verweisen derartige Bilder auf Klees Erkrankung Systemische Sklerose oder Sklerodermie, eine Krankheit, die sich zunächst in einer Austrocknung, Verhärtung und „Versteinerung“ der Haut, später aller inneren Organe äußert. Ich möchte diese Bilder als somatoforme Metaphorik, als Körpermetaphorik Klees bezeichnen. Körperbilder sagen bekanntlich viel über die Selbstwahrnehmung eines Menschen aus. Ich möchte damit nicht behaupten (weil dies kaum nachweisbar wäre), dass Klee seine spätere Erkrankung gewissermaßen geahnt oder gar vorausgesehen hatte, obwohl dies bei einem Menschen mit ausgeprägter Intuition, wie sie Klee zweifellos besaß, denkbar ist, sondern mich zunächst mit der Feststellung begnügen, dass es eine auffallende Parallelität zwischen Klees Vorstellung einer seelischen „Überkrustung“ und seiner späteren körperlichen „Überkrustung“ gibt. Dem körperlichen Panzer (als solcher wird Sklerodermie häufig bezeichnet) korrespondiert ein seelischer Panzer. Sofern daraus eine These ableitbar ist, dann die, dass es bei Unterstellung einer Leib-Seele-Einheit (anstelle einer Leib-Seele-Dualität) zumindest möglich ist, dass angesichts einer in ihren Ursachen noch immer weitgehend ungeklärten Autoimmunerkrankung psychische Faktoren eine wesentliche Rolle spielen. Dieser Zusammenhang wird von einer Reihe von Klee-Biographen (u. a. auch von Suter, dessen Monographie eine umfassende Würdigung der medizinischen Daten enthält) tatsächlich angenommen, aber wesentlich auf Klees Belastung durch seine Emigration aus Nazi-Deutschland und die Schwierigkeiten seiner Einbürgerung in die Schweiz zurückgeführt. Klees Tagebücher hingegen sind im Kontext dieser Fragestellung erstaunlicherweise bisher wenig berücksichtigt worden, vermutlich aus dem Grund, dass Klees Sakralisierung den Gedanken nicht zuließ, dass es möglicherweise schon früh psychische und psychosomatische Probleme gegeben hatte. Dennoch wird dieser Zusammenhang gelegentlich angesprochen, wenn auch nur am Rande. So schreibt Glaesemer in seiner Klee-Monographie (wenn auch versteckt in einer Fußnote): 282  I  Eros und Thanatos

Die Frage, ob und in welcher Form spezifische Merkmale der Krankheit in Klees Psyche und damit auch in seinem Werk zum Ausdruck kommen, würde eine eingehende Analyse aller erreichbaren Fakten unter neurologischen und psychiatrischen Kriterien voraussetzen. Von einer ausgesprochenen psychischen Erkrankung oder gar Minderung der geistigen Fähigkeiten kann bei Klee nicht die Rede sein. Seine Krankheit ist als Teil seines Wesens zu verstehen, es erfüllen sich in ihr Merkmale seiner individuellen Psyche.17

Leider führt Glaesemer nicht aus, was diese Merkmale der „individuellen Psyche“ sein könnten. Ähnlich, wenn auch etwas vager, schreibt Haftmann, dass Klees Krankheit 1935 „aus ihrer Latenz“ heraustrat: „Lange trug Klee den Tod in sich.“18 Offen bleibt, welchen Zeitraum Haftmann damit meint; immerhin sagt er damit, die Krankheit sei bereits vor 1935 latent gewesen. Klee litt vor 1935 nicht unter einer manifesten psychischen oder psychosomatischen Erkrankung, lebte aber gewissermaßen in einem psychischen Grenzbereich, einer Einschränkung und „Verarmung“ seiner vitalen „Lebensfunktionen“ zugunsten der Kunst, die den Ausbruch einer schweren psychosomatischen Erkrankung zumindest möglich erscheinen lassen. Klee neigte zu depressiven Verstimmungen, die sich gelegentlich bis zu Todesphantasien steigerten. Während seiner dreijährigen Ausbildung in München (1898–1901) zweifelte er an seiner Kunst, hatte aber gleichwohl das Bedürfnis nach „absoluter Form“. Seine Bemühungen um die Malerei empfand er als Misserfolge, die ihn depressiv stimmten, „aber aus den Depressionen noch immer misslungener Malerei muß ich heraus ...“ (1903, Tgb. 513). Ein Jahr vor seinen „Depressionen“ hatte Klee den Wunsch, „am besten nicht geboren sein“, wobei er betonte, diese Vorstellung gehöre zwar nicht zu seinen „besten“, wohl aber zu seinen „klarsten Momenten“ (Tgb. 357). Aus der Perspektive einer oberflächlichen Betrachtung könnte man dies als beiläufige Bemerkung abtun. Dann entstünde freilich die Frage, welche Aussagen man überhaupt ernst nehmen sollte.19 Im Kontext der Depressionen bedeutet der Satz, dass Klee zu dieser Zeit am Leben zweifelte. Ebenso beklagte Klee sein „Mißgeschick auf jenem so problemreichen Sexualgebiet“ (Tgb. 103), er sprach erneut von der „Verzweiflung der Einsamkeit“ (Tgb. 106) und er­wähnte „nervöse Herzaffektionen“. Trost fand er jedoch immer wieder in der Musik. Noch glaubte er sich zur „Liebe geboren“ und damit zugleich prädestiniert für „Qualen“: „Qualen waren stets mein Los, da ich zur Liebe geboren bin“ (Sommer 1901, Tgb. 180). Der Sommer 1901 war freilich zugleich auch die Zeit der Wendung in die Richtung des „sittlichen Mannes“, nachdem er zuvor Keuschheit verurteilt, Polygamie gepriesen und – unter Bezugnahme auf Nietzsche – den „Sexualtrieb ohne Schranken“ (Tgb. 68) gefeiert hatte. Nach sexuellen „Missgeschicken“ und „Blamagen“ bahnte sich ein Wandel an, denn er glaubte sich nunmehr imstande, sexuell „entsagen“ zu können: „Ich klammerte mich ganz an die künstlerische Aufgabe, die Zukunft schien etwas greifbarer, nachdem ich mich auf ein etwas engeres Gebiet beschränkt hatte“ (1901, Tgb. 157). Später (1904) sprach er statt von Entsagung von gewollter Entbehrung und mit einem Anflug von Bedauern davon, dass er nunmehr ein „Leben der Gedanken, streng, bar jeden heißen Blutes“ führe (Tgb. 564). Wie konflikthaft dieser Wandel war, beschreibt Klee anschaulich: Ein Klee-Bild jenseits des Mythos: Einsamkeit, Depression, Krankheit  I  283

Ich philosophiere mich krampfhaft vom Weibe los, kam aber nicht los vom tiefsinnigen Anblick junger Mädchen. Im Tristan waren während des II. Aktes meine Nerven wahrhaft aufgepeitscht. Ich guckte so ein Geschöpf, das sich in meiner Nähe befand, unverwandt an und beschrieb seine Erscheinung hernach im Tagebuch bis ins kleinste. (1901, Tgb. 150, Hrv. MC)20

Dies klingt nicht nach der intellektuellen Übernahme eines „Konstrukts“, sondern nach einem massiven inneren Konflikt. Alle bisher erwähnten psychischen Konflikte, einzeln oder zusammengenommen, sind nicht per se pathologisch. Wir würden sie bei zahllosen Menschen in ähnlicher Form finden und bei einem Künstler möglicherweise als Normalfall ansehen. Deutlich wird jedoch eine p ­ sychische Disposition Klees, die durch ein hohes Maß an Affektivität, Sensibilität, Konfliktneigung und damit Vulnerabilität gekennzeichnet ist. Lily Klee be­zeichnet ihren Mann als „hochsensibel“21 und konstatiert eine „zarte Konstitution“.22 Sich „krampfhaft vom Weibe“ loszuphilosophieren, zeigt, in welch heftigem affektivem Konflikt Klee sich damals befand. Seine Verschlossenheit kann somit als Folge, als bewusster, wahrscheinlich auch unbewusster Schutzmechanismus gegenüber seiner Verletzbarkeit angesehen werden, mit der er sich gegen „An­ griffe des Schicksals“ (Tgb. 605) zu Wehr setzen möchte. Was Klee vermutlich nur ansatzweise bewusst war, ist der Preis, den er für diesen Schutzmechanismus bezahlen musste. Erkennbar war für ihn nur, dass dies zu einer „gewissen Verarmung“ führen kann. Wie weit seine „Lebensfunktionen“ insgesamt davon betroffen waren, dürfte ihm weniger bewusst gewesen sein. Ebensowenig, dass dieser Schutzmechanismus zu einer Spaltung statt zu einer Selbstintegration geführt hatte; die ursprünglich stark ausgeprägten sinnlich-triebhaften Anteile wurden abgespalten.23 Es gibt auch keine Hinweise, dass ihm nach den erotischen Wirrungen seiner Münchner Zeit eine Reintegration dieser sinnlich-triebhaften Anteile gelungen war, was auch durch Grohmanns Hinweis, bei Klee fehle der „ichbezogene“ Eros zugunsten des „kosmogonischen“, bestätigt wird.24, 25 Dieser Prozess darf nicht damit verwechselt werden, dass jemand, sei es konstitionell oder durch eine schwierige psychosexuelle Entwicklung, sein Interesse an der Sexualität verliert. Klee hatte seine Sexualität gleichsam „abgeschaltet“. Diese Abspaltung des Sinnlich-Triebhaften ist ein wesentlicher Aspekt der psychischen Realität Klees. Sie wird, wenn auch mit anderen Worten, von fast allen neueren Klee-Biographen, so konstatiert. Theoretisch besteht die Möglichkeit, diesen Prozess als Sublimierung triebhafter Anteile zu betrachten. Dies ist jedoch wenig wahrscheinlich. Normalerweise findet ­Sublimierung als ein langsamer Prozess statt, der in der Jugend beginnt, wie etwa Freud sehr anschaulich am Beispiel Leonardos gezeigt hat. Bei Klee handelt es sich jedoch um einen abrupten Bruch, der sich im Zeitraum von höchstens zwei Jahren abspielte. Die Annahme einer Spaltung – ein psychisch „archaischer“ Abwehrmechanismus – ist somit wesentlich plausibler als die Vorstellung einer Sublimierung. Klees Konfliktneigung und die Abspaltung des sinnlichen Eros werden in der Klee-Biographik häufig erwähnt, aber in ihrer Bedeutung für die psychische Entwicklung Klees nicht weiter verfolgt.26 Glaesemers bereits zitierte Randbemerkung über das Ver284  I  Eros und Thanatos

hältnis von Psyche und Erkrankung bei Klee zeigt dies beispielhaft. Ebenfalls eher am Rande schreibt Glaesemer, Klee sei in der Zeit, als er an den Inventionen arbeitete, „an die Grenzen der Verzweiflung und Selbstzerstörung“ gekommen.27 Krasser noch ist der Hinweis Grohmanns, Klee sei mit „seiner singulären Kunst oft an der Grenze des Wahnsinns gewesen“.28 Ist Klee somit ein Grenzgänger am Rand der Selbstzerstörung und des Wahns? Auch wenn es sich dabei möglicherweise um zugespitzte Bemerkungen handelt, so machen sie doch deutlich, dass es sich keineswegs um singuläre Ereignisse handelt und Klees Psyche keineswegs stabil oder „robust“ war. Auch die Amtsenthebung, die Emigration und die Schwierigkeiten mit der Einbürgerung können als Belastungsfaktoren gesehen werden, die zum Ausbruch seiner Autoimmunerkrankung beitrugen. Suter zufolge können für die „Krankheitsauslösung“ „die erlittenen Schicksalsschläge in Deutschland und die zeitbedingte weitgehende Isolation als Künstler nach Klees Rückkehr in die Schweiz“ „nicht ganz ausgeschlossen werden“.29 Eine Briefstelle von Petra Petitpierre30 lässt eine weitere mögliche psychische Dimension von Klees Autoimmunerkrankung erkennen. Auf die Frage der Schülerin und langjährigen Vertrauten Klees, warum er krank geworden sei, kam die Antwort: „I ha gnueg.“31 Petitpierre fragte nicht, wie es ihm ginge, sondern: Warum bist du krank geworden?, und verweist also auf 1935. War Klee also schon 1935, nach seiner Amtsenthebung und Emigration, resigniert und müde? Eine genaue Durchsicht der Briefe Klees an seine Frau zeigt, dass die Anfänge der Erkrankung wahrscheinlich tiefer reichten, bis in die Zeit der Tagebücher zurück. Bereits 1905 klagte er Lily gegenüber über Rheumatismus: „Nun muß ich schließen. Rheumatismus.“32 1930 berichtet er über heftige rheumatische Schmerzen: Ein Rheuma in der rechten Schulter hindert mich heute an Allem.33 Jetzt habe ich den Unterricht noch etwas hinausgezögert, einen tatsächlichen Rheumatismus zu einem tiefsitzenden Hexenschuß übertreibend.34

1933 klagte er, bei der Kälte Schmerzen in den Fingern zu empfinden35, was ebenfalls als Symptom einer rheumatischen Erkrankung verstanden werden kann. Es wird deutlich, dass Klees rheumatische Symptome bereits vor seiner Amtsenthebung und Emigration auftraten und so möglicherweise als Vorläufer seiner späteren Erkrankung gesehen werden können.36 Ich erspare mir an dieser Stelle, näher auf das Argument einzugehen, es handele sich bei Klees Erkrankung um einen Gendefekt, wie bei Sklerodermie gelegentlich behauptet wird. Zum einen gibt es keine empirischen Beweise dafür, dass systemische Sklerose eine genbedingte Erkrankung ist, allenfalls können Genfaktoren eine gewisse Rolle spielen. Zum anderen gehört es mittlerweile zum medizinischen Basiswissen, dass Gene nicht einfach per se Krankheiten auslösen. Sie müssen vielmehr gewissermaßen ein- oder ausgeschaltet werden, wobei Stress – vermittelt über Hormonausschüttungen, z. B. Cortisol – einen der wichtigsten Gen-„Schalter“ darstellt und sich negativ auf das Immunsystem auswirkt.37 Alle diese Aspekte der Person Klees sind im Kern bekannt oder zumindest in den vergangenen Jahren bekannt geworden, blieben aber letztlich Aperçus. Dies erfordert, dass Ein Klee-Bild jenseits des Mythos: Einsamkeit, Depression, Krankheit  I  285

eine Korrektur des tradierten Klee-Bildes vorgenommen wird. Ein realistischeres Bild Klees zeigt einen leidenden Menschen mit heftigen emotionalen, insbesondere auch sexuellen Konflikten und Widersprüchen, die ihn häufig in die Nähe der Depression und Verzweiflung, vielleicht sogar an den Rand der „Verzweiflung und Selbstzerstörung“ (Glaesemer) brachten. Bei Klee zeigt sich ab 1901 eine konflikthafte Transformation zum asketischen Künstler, die später dann sein öffentliches Bild prägt, eine Transformation, die er dann in der Körpermetaphorik seiner kristallinischen („abstrakten“) Persönlichkeit und seinem Insistieren darauf, er sei „diesseitig“ nicht fassbar, eindrucksvoll zum Ausdruck bringt. Hausensteins Klee-Biographie hatte trotz der pseudoreligiösen Vernebelung des Klee-Bildes einen richtigen Punkt getroffen: Bei aller Sehnsucht nach der „absoluten Form“ ist Klees Kunst subjektiv, Ausdruck seiner Persönlichkeit. Er möchte gestalten, „was die Seele gerade belastet“ (Tgb. 842). Erotik, so wie etwa Picasso oder Matisse erotische Bilder geschaffen haben, gehört nicht dazu, wohl aber als Satire oder Travestie. Eindrucksvolle Beispiele für dieses Genre sind – neben den Inventionen – die Aquarelle Heuchlerpaar (1919) oder Die Büchse der Pandora als Stilleben (1920) (Abb. 13)38. Nachdem die „sexuelle Ratlosigkeit“ ihn zunächst zu „Perversionen“ geführt hat, wird sie nunmehr durch Satire bewältigt. Hinsichtlich der Subjektivität seiner Kunst berührt Klees Kunst sich mit der ästhetischen Position seines Freundes Kandinsky, für den „Schönheit“ Ausdruck einer „inneren seelischen Notwendigkeit“ ist.39 Bei aller Perfektion der formalen Mittel haben Klee und Kandinsky ein ästhetisches Paradigma der Moderne formuliert: das der radikalen Subjektivität der Kunst. Auch Klees Kosmologie beruht auf einer radikal subjektiven Interpretation der Natur, auf einer romantisch inspirierten Naturschau. Kunst tritt als subjektive Wahrheit in Erscheinung, die gerade in ihrer Singularität einen Wahrheitsanspruch erhebt, als Negation des „Vorhandenen“, das – wie Heidegger es formuliert – sich als das „vermeintlich wahre Seiende“ aufspielt.40 Kunst erhebt den Anspruch eines An-sich, eines Absoluten, wie er sich metaphorisch in Klees Vorstellung eines „weltschöpferischen“ Tuns manifestiert. Radikale Subjektivität ist das Gegenteil von Beliebigkeit, wie sie in der Tapetenmuster-Ästhetik zahlloser documentas und Biennalen zum Ausdruck kommt, deren „Harmlosigkeit“ und „Spannungslosigkeit“ schon Adorno als größte Gefahr der modernen Kunst sah.41 Bemerkenswert ist, dass die Gründe für Klees Hinwendung zur Askese nicht eingehender untersucht worden sind. Klees eigene Äußerungen wurden dabei in der Regel nicht ernst genommen und – beispielsweise – von Zöllner als Selbststilisierung, als Pose im Lichte aktueller „Konstrukte“ missverstanden. Wenn Klee etwa über sein „Mißgeschick auf jenem so problemreichen Sexual­gebiet“ spricht (Tgb. 103), dann spricht er auch, in geradezu psychoanalytischer – oder nietzscheanischer – Schärfe davon, dass dieses Missgeschick und seine damit verbundenen sexuellen „Blamagen“ ihn zur „Askese“ und zur „Moral“ geführt hätten, nicht über ein „Konstrukt“. Mit Nietzsche gesprochen: „Schwäche“ führt – wie dieser es in seiner Theorie der décadence darlegt – zur Etablierung eines moralischen „Ideals“, im Falle Klees zum Ideal des „sittlichen Mannes“. ­Auf die Paradoxien dieses Ideals werde ich im nächsten Kapitel eingehen. Dass diese Selbstanalyse Klees nicht genauer beachtet wurde, lässt sich erneut nur dadurch erklä286  I  Eros und Thanatos

ren, dass man den Mythos Klee nicht beschädigen wollte. Dementsprechend wurde auch Klees Verhältnis zu Nietzsche bis heute nur wenig untersucht.

Klee und die Philosophie Nietzsches Es muss somit der Frage nachgegangen werden, inwieweit Klees Weg in die „Askese“ mehr ist als eine künstlerische Selbststilisierung, die publikumswirksame Übernahme eines „Konstrukts“ im Sinne Nietzsches oder Weiningers. Nietzsche hat sich bekanntlich mehrfach zum Problem des „asketischen Ideals“ im Hinblick auf den Künstler geäußert und dabei – wie so häufig bei Nietzsche – geradezu widersprüchliche Positionen vertreten. Zöllner (2002) hat sich eingehend mit dem Verhältnis Klees zu Nietzsche beschäftigt und bemerkt dazu: „Das Verhältnis Klees zu Nietzsche ist bislang wenig geklärt.“42 Zöllner verweist zunächst darauf, dass Klee nachweislich Nietzsche kannte, zumindest Teile von dessen Werk.43 Er versucht nachzuweisen, „dass das asketische Künstlertum Klees zu einem guten Teil [als] eine für ihn typische Selbstinszenierung zu sehen ist“ – und zwar im Sinne Nietzsches. Klee hatte im Kontext seiner Gedanken zur Triebökonomie von seiner „raffinierten ökonomischen Taktik“ gesprochen und dabei implizit auf Nietzsches Gedanken zur Psychologie des Künstlers Bezug genommen44: Vielleicht steht der Instinct des productiven Künstlers da bei mir als oberster Imperativ. Vielleicht ist das Ganze auch gar nicht so rational aufzufassen, sondern es waltet ein uralter philosophischer Geist, der diese Welt überwindet und sollte es den Weg in die Wüste bedeuten. (Tgb. 605)

Klee hatte zu seiner „raffinierten ökonomischen Taktik“ angemerkt, sie sei „nicht frei gewählt, sondern auch bei Zeiten schon so in mir gewachsen“ (Tgb. 605). Zöllner verweist darauf, dass Klee „an einigen Punkten fast deckungsgleiche Ansichten“ Nietzsches aufgreife45, etwa bei eben diesem Problem des Künstler-„Instinkts“. So schreibt Nietzsche in der von ihm geplanten Schrift Der Wille zur Macht: Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunstkonzeption und die man im geschlecht­lichen Aktus ausübt: es gibt nur eine Kraft. Hier zu unterliegen, hier sich zu verschwenden ist für einen Künstler verräterisch: es verrät einen Mangel an Instinkt, an Wille überhaupt. Es kann ein Zeichen von décadence sein [...]. (Hrv. MC)46

An anderer Stelle schreibt Nietzsche, dass Künstler „Kraftthiere“ seien, „ohne eine gewisse Überhitzung des geschlechtlichen Systems ist kein Raffael zu denken“, fügt aber hinzu, Keuschheit ist bloß die Ökonomie eines Künstlers ... und jedenfalls hört auch bei Künstlern die Fruchtbarkeit mit der Zeugungskraft auf ... Die Künstler sollte nichts so sehen, wie es ist, sondern voller, sondern einfacher, sondern stärker: dazu muß ihnen eine Art Jugend und Frühling, eine Art habitueller Rausch im Leben eigen sein.47 (Interpunktion von Nietzsche) Klee und die Philosophie Nietzsches  I  287

Andererseits gibt es auch gegenläufige Passagen, so etwa wenn Nietzsche davon spricht, dass Keuschheit die „eigentlichste Künstlerkorruption“ sei: Eine Künstlerdienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstlerkorruption, die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten, denn nichts ist korruptibler als ein Künstler.48

Bemerkenswert ist bei den beiden erstgenannten Zitaten, dass Nietzsche hier auf eine innere Verbindung von Sexualität und Kunst verweist, auf eine „Kraft“, die in beiden wirksam ist. Es geht also nicht um eine Ausschaltung, sondern gleichsam um eine Bändigung der Sexualität, die als Kraft gleichwohl wirksam bleibt. Auch das zweite Zitat aus Der Wille zur Macht ist nicht so eindeutig, wie Zöllner annimmt. Legt man nämlich die Betonung auf Ökonomie, so besagt der Satz, dass Keuschheit „bloß“ die Ökonomie des Künstlers sei, nicht seine eigentliche Triebfeder, er bedarf darüber hinaus der Zeugungkraft und des habituellen Rausches, also des „Dionysischen“. Auch ein weiterer von Zöllner zitierter Satz ist nicht eindeutig. Der Künstler, so Nietzsche, benötigt die Verteilung des semen ins Blut [...] Das Verlangen nach Kunst und Schönheit ist ein indirektes Verlangen nach den Entzückungen des Geschlechtstriebes, welche er dem cerebrum mitteilt. Die vollkommen gewordene Welt, durch ‚Liebe‘.49

Auch in der Kunst geht es also um die „Entzückungen des Geschlechtstriebs“, wenn auch in sublimierter Form. Noch deutlicher schreibt Nietzsche in Ecce homo: Askese, Keuschheit sei „die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens“50 (Hrv. MC). Was Nietzsche in seinen Überlegungen zur „Künstlerökonomie“ propagiert, ist keine Theorie der „Entsagung“, sondern eine Variante der Freud’schen Sublimierungstheorie, wobei Nietzsche Wert darauf legt, dass im künstlerischen Schaffen noch die „Entzückungen des Geschlechtstriebes“ und der „Rausch“, das „Dionysische“, präsent sind. Alles andere würde den Intentionen des großen Apologeten des Lebens, des Leibes, der „Gesundheit“, gegen deren Verneiner, die „décadence“ und die Moral zuwiderlaufen: Für einen Physiologen läßt ein solcher Wertgegensatz (zur Moral der décadence) gar keinen Zweifel. Wenn innerhalb des Organismus das geringste Organ in noch so kleinem Maße nachläßt, seine Selbsterhaltung, seinen Kraftersatz seinen ‚Egoismus‘ mit vollkommener Sicherheit durchzusetzen, dann entartet das Ganze.51

Man kann Nietzsches Kompetenz als „Physiologe“ in Frage stellen (und etwa auf die Fähigkeit der funktionellen Kompensation hinweisen) – zweifellos zeigt dieses Zitat jedoch, wie rigoros Nietzsche seine Philosophie der „Gesundheit“ bis ins (Geschlechts-) Organische vorantrieb. Allerdings trug diese Philosophie den Stempel des Kompensatorischen: Nietzsche selbst litt immer wieder unter der Schwäche seiner „Organe“, seinem „Kranksein“, das er in Ecce homo geradezu schonungslos beschreibt: 288  I  Eros und Thanatos

Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin ich auch dessen Gegensatz [...] Ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum L e b e n meine Philosophie.52

Das Rauschhafte, Dionysische Nietzsches – wie immer sublimiert – fehlt in Klees Kunst: Nietzsches Urteil über Klee wäre eindeutig ausgefallen. In der Beschreibung seines Freundes Haller – Nietzsche würde sie vermutlich als „Ressentiment“ bezeichnen – geht Klee indirekt auf Nietzsches These des Künstlerinstinkts ein. Der angeblich ausschweifende Lebenswandel Hallers erfordere „an sich schon eine Riesennatur“ (Nietzsches „Kraftthier“?), so dass diese Verausgabung nur negative Folgen für sein „künstlerisches Schaffen“ haben könne – ganz „im Gegensatz“ zu ihm: Ich selbst war einmal unruhig in meiner Lebensführung, bis ich eine natürliche Basis gewann, um mich von jener Art abzuwenden. [...] Im Gegensatz zu ihm war ich also eine Art Mönch geworden [...]. (Tgb. 605)

Den „Entzückungen des Geschlechtstriebes“, dem „Rausch“, dem Kraftthierhaften, so legt dieses Zitat nahe, vermag Klee nichts mehr abzugewinnen. Zöllners These zum Verhältnis Klees zu Nietzsches Theorie des Künstlers (wie immer widersprüchlich Nietzsche sich dazu auch äußerte), steht auf wackligen Beinen. Zöllner zufolge ist ja Klees asketische Selbststilisierung in erster Linie auf die Rezeption eines bestimmten Typs von Literatur gegründet, d. h. auf zu Klees Zeiten „aktuelle Konstrukte“. Zöllners Argumentation ist aus zwei Gründen unzureichend. 1.) Zum einen gibt es bei Klee zahlreiche Hinweise auf eine Einschränkung seiner „Lebensfunktionen“ (Tgb. 573), wie er sie etwa auch in einer Schlussbemerkung zu seiner „ökonomischen Taktik“ konstatiert: „Ob diese Taktik nicht zu einer gewissen Verarmung führen kann, wird sich zeigen“ (Tgb. 605). Auch der mögliche „Weg in die Wüste“ (ebd.) ist ein Preis dieser Taktik. Wenn dem so wäre, würde dies bedeuten, dass Klee sich ab einem bestimmten Punkt tatsächlich vor „Verausgabung“ schützen musste. Er besaß – wie wir gesehen haben – weder eine „robuste Psyche“53 noch eine robuste körperliche Konstitution. Allerdings taucht dabei die Frage auf: Was ist Ursache, was ist Wirkung, führte Klees „Konstitution“ zur Askese oder umgekehrt? Am wahrscheinlichsten ist: Klee verfügte tatsächlich nicht – wie er selbst schrieb – über „überschüssige Kraft“, er war kein „Kraftthier“. Konflikte – auch seine „sexuellen Misserfolge“ – verarbeitete er nicht aktiv, sondern passiv, mit Rückzug, mit Ich-Einschränkung und Askese. 2.) Das zweite Argument betrifft Klees Nietzsche-Rezeption. Ich möchte zeigen, dass zahlreiche Aspekte der Klee’schen „Selbststilisierung“ Parallelen, aber ebenso signifikante Abweichungen von Nietzsche aufweisen, so dass die Frage gestellt werden muss, bis zu welchem Punkt Klee, nicht als Begründung seiner asketischen „Lebensführung“, wohl aber zur Darstellung derselben, auf bestimmte Gedanken und Formulierungen von Nietzsche zurückgegriffen hat und sich zugleich von anderen distanzierte. Dies lässt sich an den Topoi Askese, Einsamkeit und Misogynie zeigen. Sofern Klee sich bei seinem Weg in die Askese überhaupt auf ein literarisches Konstrukt stützte, wäre angesichts seiner Klee und die Philosophie Nietzsches  I  289

Affinität zur Romantik der Bezug zu Novalis viel naheliegender. In seinem Roman Heinrich von Ofterdingen – der sich in Klees Nachlassbibliothek befindet – beschreibt Novalis die „Dichter“: [...] sie die schon hier im Besitz der himmlischen Ruhe sind und, von keinen törichten Begierden umhergetrieben, nur den Duft der irdischen Früchte einatmen ohne sie zu verzehren und dann unwiderruflich an die Unterwelt gekettet zu sein.54

Klees Bemerkung im Rahmen seiner „ökonomischen Taktik“, er habe „Momentansichten“ der „Hölle“ gesehen (Tgb. 605), wäre dann eine Paraphrase der Novalis’schen „Unterwelt“. Ähnlich auch sein Epigramm an einen „homme triste“: „Das fleischliche Fleisch hat dieser Mann sich je gehütet zu fressen. Er hat nur gerochen daran [...].“ (Tgb. 466) Ich möchte im Folgenden die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Klee und Nietzsche aufzeigen: 1.) „Askese“ bei Klee und „Askese/Keuschheit“ im Sinne Nietzsches sind nicht deckungsgleich. Der „Instinct des productiven Künstlers“ bei Klee, obwohl er an Nietzsches Künstler-„Instinkt“ gemahnt, ist eine Abspaltung von Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit – der Geist „überwindet“ die Welt (Tgb. 605). Für Nietzsche dagegen ist „Keuschheit“ der Habitus einiger Künstler (der Künstler, so Nietzsche, ist „oft sogar“ ein „keuscher Mensch“), eine Umformung, Sublimierung ihrer Sexualität, ein indirektes ­Verlangen nach den „Entzückungen des Geschlechtstriebs“. Sie kann zugleich aber auch die „eigentlichste Künstlerkorruption“ sein. Apollinisches und Dionysisches, Geist und Rausch bleiben bei Nietzsche unauflöslich miteinander verbunden, wie er insbesondere in Die Geburt der Tragödie ausgeführt hat. In der „Szene“ der Tragödie kommen Dionysisches und Apollinisches zusammen und begründen somit eine höhere Wahrheit als die der rein begrifflichen Erkenntnis. Demgegenüber spielt das Dionysische bei Klee eine zunehmend geringere Rolle, wie er selbst zu Beginn seiner Italienreise 1901 betont. Dies zeigt sich deutlich an jener Stelle, an der Klee vermutlich auf Nietzsches Zarathustra anspielt, wenn er davon spricht, dass seine „ökonomische Taktik“ in die „Wüste“ führen könne: „ein philosophischer Geist, der diese Welt überwindet, und sollte es den Weg in die Wüste bedeuten“ (Tgb. 605). Das ist geradezu antinietzscheanisch gedacht. Für Nietzsche gibt es keine Überwindung der Welt (alle „Überwinder“ der Welt landen für ihn bei der „Moral“, dem „du sollst“ und damit schließlich bei Gott). Für Nietzsche gibt es vielmehr nur ein Ja-Sagen zur Welt, auch wenn dies einen Kampf zwischen Geist und Sinnlichkeit bedeutet, die beide für Nietzsche nur verschiedene „Tugenden“, Apollinisches und Dionysisches darstellen. Das „Orgastische“ des Dionysischen wird dagegen von Klee schon früh (1902) als geradezu kunstfremd zurückgewiesen. Zum Auftritt der Tänzerin Otéro, den er in Rom bewundert, schreibt er: „Abgesehn von dem schließlich Orgastischen, kann ein Künstler hier viel lernen“ (Tgb. 363). Für Nietzsche war dagegen gerade die ideale Kunst durch das Zusammenspiel von Apollinischem und Dionysischem bestimmt: Hier wird, zumindest aus der Perspektive Nietzsches, eine Grenze der 290  I  Eros und Thanatos

Klee’schen Kunst erkennbar: eine Grenze, die seine Kunst zu einer Kunst des „Gedankens“ macht. Einen beträchtlichen Teil seines Zarathustras hat Nietzsche der Polemik gegen die „Verächter des Leibes“ gewidmet, und der Kampf, die „Schlacht“ der Tugenden gegeneinander ist für ihn Bejahung der Welt, geradezu ein Lebenselixir: Mein Bruder, wenn du Glück hast, dann hast du Eine Tugend und nicht mehr: so gehst du leicht über die Brücke. Auszeichnend ist es, viele Tugenden zu haben, aber ein schweres Los; und mancher ging in die Wüste und tötete sich, weil er es müde war, Schlacht und Schlachtfeld von Tugenden zu sein. Mein Bruder, ist Schlacht und Schlachtfeld böse? Aber notwendig ist dies Böse, notwendig ist der Neid und das Misstrauen und die Verleumdung unter deinen Tugenden. (Hrv. MC)55

Genau dieser Schlacht war Klee müde. Er hatte in die „Hölle“ geschaut und sich für die Askese entschieden, die für ihn möglicherweise der Weg „in die Wüste“ ist. Für Nietzsche dagegen ist der Weg in die Wüste gerade nicht die Askese, ­sondern die Schlacht zwischen den Tugenden, die zum Tode führen kann. Den Kampf zwischen Apollinischem und Dionysischem hatte Klee zugunsten des ­Ersteren entschieden: für ein Leben, „bar des heißen Blutes“, des „Jenseitigen“. 2.) Beim Thema „Einsamkeit“ gibt es eindrucksvolle Übereinstimmungen zwischen Klee und Nietzsche. Nietzsche bezeichnet seinen Zarathustra geradezu als einen „Dithyrambus auf die Einsamkeit“ und damit zugleich auf die „Reinheit“.56 Reinheit ist der Ekel gegenüber dem „Gesindel“ und in dieser Reinheit kommt bei Nietzsche ein Thema zur Sprache, das auch für Klee eine bedeutende Rolle spielt: Einsamkeit und Reinheit, die als „Kälte“ erscheinen: Wahrlich keine Heimstätten halten wir bereit für Unsaubere! Eishöhlen würden ihren L­ eibern unser Glück heißen und ihren Geistern.57

Wenn Klee im Kontext seiner „ökonomischen Taktik“ davon spricht, dass er sein Innerstes „allerheiligst verschlossen“ habe, so erinnert dies an Nietzsches „Ummauerung“, die er insbesondere in Phasen der Kreativität benötigt. Eine fast wörtliche Übereinstimmung gibt es, wenn Nietzsche davon spricht, seine Einsamkeit führe dazu, „mit Einem Fuße j e n s e i t s des Lebens“ zu stehen58 (Hrv. Nietzsche). Dies stimmt mit dem Klee’schen Motto überein, er sei „diesseitig“ nicht fassbar, sondern nur „jenseitig“. Es ist nicht nachweisbar, dass Klee tatsächlich Ecce homo gelesen hat, umso bemerkenswerter ist die Übereinstimmung mit Nietzsches Gedanken. Dies ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, ob Klee sich hier lediglich eines „Konstruktes“ bediente, das sich zu einer zeitgemäßen Selbststilisierung eignete? Es dürfte eher so gewesen sein, dass sowohl Klees Konfliktneigung als auch das Fehlen der „überschüssigen“ Kräfte ihn für seine Verschlossenheit, seine Selbst-„Ummauerung“ disponierten. Seine Vorstellung, sein Innerstes „allerheiligst“ zu verschließen und Klee und die Philosophie Nietzsches  I  291

sich zur „Einsamkeit“ heranzubilden, haben eine psychische Schutzfunktion, wie sie sich auch in seiner Metapher der „Kristallisation“ äußert, gegen die die „pathetische Lava“ nichts mehr vermag. Klees „Jenseitigkeit“ ist kein Konstrukt, sondern Ausdruck einer komplexen Motivlage. 3.) Ähnlich verhält es sich mit Klees kaum zu bestreitender Misogynie. Auch hier gibt es Formulierungen bei Klee, die denen Nietzsches gleichen. So schreibt Nietzsche: Der Mann fürchtet sich vor dem Weibe, wenn es haßt: denn der Mann ist im Grunde seiner Seele nur böse, das Weib aber ist dort schlecht.59

Es sei dahingestellt, ob die Differenzierung, der Mann sei in seiner Seele „nur böse“, das Weib aber „schlecht“, eine hinreichende Begründung für die moralische Überlegenheit des Mannes darstellt. Klee fällt ein ähnliches Urteil, wenn er betont, er selbst lüge Frauen gegenüber nur aus Gründen der Schonung, Frauen jedoch aus dem „Grunde des falschen Herzens“ (Tgb. 146). Misogyne Äußerungen gibt es bei Klee nicht nur in seinen Tagebüchern, auch die Briefe an seinen Jugendfreund Bloesch weisen in diese Richtung, ebenso seine Bilder, die – mit wenigen Ausnahmen – die Frau als Karikatur oder Bedrohung darstellen. Nietzsche – ebenso Weininger – lieferten Klee die literarischen Vorlagen, mit deren Hilfe er seine eigenen Motive artikulieren konnte. Es gibt eine selektive Nähe Klees zu „Konstrukten“ der nietzscheanischen Philosophie. Sie sind jedoch nicht Ursachen der Klee’schen Selbststilisierungen, sondern literarisches Mittel zur Darstellung derselben.

292  I  Eros und Thanatos

8. Chronique sentimentale Erotische Metamorphosen

Ich habe zu zeigen versucht, dass Klee keineswegs ein weltentrückter Künstler war, ­sondern eine Reihe menschlich-allzumenschlicher Konflikte durchzustehen hatte, die ihn zuweilen an den Rand von Depression und Lebensüberdruss führten. Andererseits war Klee in der Vermarktung seiner Kunst äußerst geschickt, also keineswegs weltfern, und konnte sich nach dem Tod von Macke und Marc sowie der Emigration von Kandinsky als einer der führenden Künstler der Moderne in Deutschland etablieren. Ich möchte nunmehr versuchen, den bisherigen Ansatz einer „inneren Biographie“ Klees ein Stück weiterzuführen, indem ich auf Gedanken und Erinnerungen Klees eingehe, in denen sich Klees kindliche und jugendliche Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte spiegeln. Im Anschluss daran werde ich noch einmal auf seine Münchner Studienzeit zurück­ kommen. Zu Klees frühesten Erinnerungen gehört, dass ihm seine Großmutter mütterlicherseits beibrachte, mit „farbigen Stiften“ zu zeichnen (eine Reihe dieser Kinderzeichnungen sind erhalten, einige von ihnen zeigen eine erstaunliche bildnerische Ausdrucksfähigkeit). Sie vermittelte ihm nicht nur die Technik, sondern auch die „Lust am Zeichnen und Kolorieren“. Als seine Großmutter starb, fühlte Klee sich „bildnerisch verwaist“ (Tgb., Hausenstein II, S. 504). Wir kennen diese Erzählungen frühen künstlerischen Könnens von zahlreichen anderen Künstlern, Giotti und Picasso sind wahrscheinlich die bekanntesten unter ihnen, das Meiste davon ist wahrscheinlich der Künstlerlegende zuzurechnen1. „Lapiz“, Bleistift, soll angeblich das erste Wort gewesen sein, das Picasso aussprechen konnte. ­Später wird Klee sich anerkennend zur künstlerischen Qualität von Kinderzeichnungen, der Kunst der Geisteskranken und der sogenannten primitiven Kunst äußern. Er selbst bezeichnet seinen auf Sparsamkeit der Mittel beruhenden Stil als „primitiv“. Bemerkenswert ist eine Reihe erotischer Phantasien aus dieser frühen Zeit (im Alter von etwa 3–4 Jahren). So bewundert er die „Schönheit kleiner Mädchen“ und wünscht sich, selbst ein Mädchen zu sein (Tgb. 6). Er träumt vom „Geschlechtsteil“ des Dienstmädchens, das er sich aus vier kindlich-männlichen Geschlechtsteilen zusammengesetzt vorstellt: Es gleiche „etwas dem Euter einer Kuh“ (Tgb. 8). Dies ist keineswegs bizarr und entspricht der verbreiteten Phantasie des männlichen Kindes, das sich zunächst das weibliche Geschlechtsteil in Analogie zu seinem eigenen vorstellt: das Phantasma der „phallischen Mutter“. Freud hat diese Phantasie ausführlich im Rahmen des sogenannten „Geiertraums“ Leonardo da Vincis analysiert2. Erotische Metamorphosen I 293

77  Paul Klee, Ohne Titel (Mimi überreicht Madame Grenouillet Blumen), 1883–85, Bleistift auf Papier, 28,3 x 18,8 cm, Privatbesitz Schweiz, Depositum im Zentrum Paul Klee, Bern

Bemerkenswert ist Klees Wunsch, ein Mädchen zu sein: Er betrauert geradezu, dass es nicht möglich ist, „so entzückende weisse Hosen mit Spitzen zu tragen“ (Tgb. 6). Man könnte dies als belanglose Kinderphantasie abtun. Die empirische Kreativitätsforschung hat jedoch gezeigt, dass Künstler über eine hohe Ambivalenz männlicher und weiblicher psychischer Anteile verfügen (jedenfalls so, wie in den westlichen Gesellschaften noch immer männlich-weiblich definiert wird), d. h. über aktive und passiv-rezeptive Fähigkeiten3. Anders ließe sich künstlerische Kreativität auch gar nicht denken. Gerade bei Klee finden wir immer wieder Hinweise, dass er bestrebt ist, die männliche und die weibliche Seite in sich zu vereinigen, er bezeichnet sich gelegentlich als Vater und Mutter eines Werkes. Klees Verhältnis zur Sexualität und zu Frauen, das er in seinen frühen Eintragungen seiner Studienzeit ausführlich behandelt, war – wie wir gesehen haben – außerordentlich zwiespältig. Auch über dieses Thema schweigen die Biographen zumeist – Ausnahmen bilden die Arbeiten von Wedekind (1996), Zöllner (2002) und Eckstaedt (2008). Im Rückblick auf seine Kindheit schreibt Klee, dass er (als etwa Zwölfjähriger) „eine Leidenschaft für Mädchen“ entwickelte (Tgb. 63) und eine „körperlich leidenschaftliche“ Annäherung „an die 9 jährige kleine Helene“ erlebte (Tgb. 36). Auch später schien Klee in puncto Erotik zunächst – der Zusatz „zunächst“ ist wichtig – ausgesprochen positiv, ja hedonistisch eingestellt zu sein. Am 13.2.1898 notiert er im Tagebuch (Klee vermerkt an dieser Stelle ausdrücklich das Datum): Die erotische Phantasie in mir als polygam erkannt ... Verachtung der Keuschheit. (Tgb. 61)

Sich gleichsam verteidigend fügt Klee jedoch in Form eines kleinen Gedichts hinzu: Keusch sind diese vier Wände Dass ich’s ja erwähne 294 I Chronique sentimentale

Rein sind diese zwei Hände Und wie ich ehrlich gähne

Die „polygame“ erotische Vorstellung dürfte den erotischen Phantasien eines durchschnittlichen männlichen Adoleszenten entsprechen. Auffallend ist jedoch, dass Klee, kaum verhüllt, sich gegen den Verdacht der Masturbation wehrt (zugleich aber darüber „gähnt“) und dies, angesichts der redigierten Tagebücher, gleichsam mit Blick auf die Öffentlichkeit. Will er damit sagen, er habe noch nie masturbiert? Immerhin ist er bereits 18. Wir stoßen an dieser Stelle auf eine erste Diskrepanz in Klees Äußerungen zur Sexualität – zwischen einer „polygamen“ Phantasie und der Vorstellung des Verzichts auf sexuelle Befriedigung. Die Vermutung einer puritanisch geprägten Erziehung dürfte naheliegen. Sie wird dadurch bestärkt, dass Klee als Kind von seiner Mutter gerügt wird, weil er „pornographische“ Zeichnungen (etwa von einer Frau mit übergroßem Brüsten) angefertigt habe. In offenbar ironischer Weise hat Klee dieses Thema später in dem Hinterglasbild Bildnis einer gefühlvollen Dame (1906) noch einmal aufgegriffen. Möglicherweise ist das winzige Hündchen mit Nasenring eine Art Selbstportrait Klees. Es ist zugleich eine Variation des Themas Weib und Tier, das ihn seit 1903 beschäftigt. Erste Zweifel kommen Klee in München während seines Studiums. Er möchte einerseits das „Leben“ kennenlernen, hält dies aber auch für eine Art „Lumperei“ gegenüber der Kunst, für „charakterschwach“. Fast trotzig beharrt er jedoch auf seiner hedonistischen Orientierung und berichtet zugleich über ein erstes Scheitern: Kurz ich sollte ein Mensch werden vor allem, die Kunst würde draus folgern. Und dazu gehörten natürlich Beziehungen zu Frauen. Eine meiner ersten Bekanntschaften war ein Fräulein N. aus Halle a. d. Saale. Ich hielt sie (allerdings aus einem Irrtum) für frei und für geeignet, mich in jene Mysterien zu führen, um die sich diese Welt, das „Leben“ nun einmal dreht. Viel später [...] erfuhr ich dann von ihrer unglücklichen Liebe zu einem Sänger. Vielleicht war es gut für mich, so hat sich diese Dame nicht allzu fest an mich anklammern können. (Tgb. 66, Hrv. MC).

Seinen Versuch einer „verfeinerten Sexualität“ erklärt er damit für gescheitert und spricht sich nunmehr ganz direkt für das „Mysterium“ aus, was freilich hier nichts anderes als eine Umschreibung für Sex ist: Ich wollte nur das Mysterium kennenlernen. Die Persönlichkeit des Weibes war innerhalb gewisser Grenzen unwesentlich. (Tgb. 73)

Das „Mysterium“ sollte er mit einer Frau kennenlernen, die er sein „Verhältnis“ nennt: eine Kellnerin namens „Tini“. Zuvor hatte er (im Herbst 1899) Lily Stumpf, seine spätere Frau, ausgebildete Pianistin und Tochter eines wohlhabenden Medizinalrats, kennengelernt. Bei Lily stößt er hinsichtlich des „Mysteriums“ auf erhebliche Probleme und Widerstände. Kompensatorisch schafft er sich ein Idealbild, das er „Eveline“ nennt: Erotische Metamorphosen I 295

Unter Eveline verstand ich die Erfüllung, das Ideal. Die Wirklichkeit war ein aktueller oder latenter Kampf um die Durchsetzung dieses Ideals bei Lily und außerdem die Befriedigung der Neugier nach dem sex. Mysterium. In dürren Worten, ich hatte mit einem unter mir stehenden Mädchen ein Verhältnis angefangen (nach Neujahr 1900). Ich fühlte mich wohl im Sturm des Lebens. Etwas Ruhe wäre gesünder doch unmöglich [...] Zu der ganzen Bewegung waren alkoholische Exzesse organisch zugehörig. Im Rausch nach langen Abendgesellschaften gemachte Eintragungen müssen hier wegfallen, da sie hernach immer total unverständlich waren. Lily war doch nicht ganz Heiterkeit, sie sagt, daß sie oft traurig ist. Warum das zu mir? Jedesmal fühle ich mich tiefer in ihrer Schuld. Ich kann ihr nicht sagen: ‚Schon wieder habe ich mich gegen das vergangen, was das Schönste und Beste wäre, daß ich bei dir meine ganze Lust suchen und finden dürfte!‘ Manchmal ekelt mich wirklich. (Tgb. 90, 91, Hrv. MC)4

Sein Ekel bezieht sich also offensichtlich darauf, dass er neben Lily noch ein „Verhältnis“ hat. Sein Verhältnis wird schwanger: Das Kind wird im November 1900 geboren und stirbt wenige Wochen später. Klee gibt der Mutter eine kleine Abfindung; sie verlässt München, was ihm „angenehm“ ist. Ende 1900 hat er noch eine kurze Affäre mit einem sechzehnjährigen Aktmodell, Cenzi, die ihn nach einer Woche wieder verlässt, was allerdings für Klee den Vorteil hatte, dass sie „keine Liebesschwüre“ verlangte (Tgb. 127). Damit ist das „Leporello-Register“ (wie er es frei nach Mozarts Don Giovanni ironisch nennt) seiner erotischen Beziehungen erschöpft.

78  Paul Klee, Bildn. einer gefühlvollen Dame, 1906, 16, Hinterglasmalerei, Aquarell und Ritzzeichnung, rekonstruierter Rahmen, 24 x 15,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Da mir nun auch Cenzi fernblieb und von diesem Abenteuer nur noch einige schwache Gedichte im Volkston übrigblieben, war ich wieder ganz für die edlere Liebe zu haben. Am Bauernball 5. Februar 1901 näherte ich mich Lily aufs Neue oder sie sich mir, bis auf ganz kurze Distanz. Aber gleich darauf zog sie sich wieder zurück und nannte es Stimmungssache. (Tgb. 129)

Kurz darauf notiert er: Lily und wieder Lily. Abermals fühlte ich mich bestärkt in meinen Gefühlen zu ihr und kurz darauf wieder erschüttert. Weder Weg noch Steg. (Tgb. 131)

Es ist bemerkenswert, wie viel Klee geradezu selbstanklägerisch, quasi öffentlich von sich preisgibt (es handelt sich ja um die bereits redigierten Tagebücher). Wenn er davon 296 I Chronique sentimentale

spricht, dass er sich „vergangen“ habe, dass er nicht seine „ganze Lust“ bei Lily gesucht habe, dann spricht er ja offen von anderen Affären in der Zeit seiner „Liebe“ zu Lily. Allerdings ist auch hier ein Stück Skepsis angebracht. Klee schrieb die Passage über den „Ekel“ Anfang 1900, also kurz nach seiner ersten Begegnung mit Lily Klee Ende 1899. Die Beziehung zwischen beiden scheint lange Zeit recht förmlich gewesen zu sein. Erstmals Mitte 1901 (am 2.7.) spricht Klee Lily in einem Brief mit „Liebe Lily“ und mit „du“ an, nachdem sie zuvor stets seine „Liebe Freundin“ oder sein „Liebes Fräulein“ war. In der Zeit seiner Münchner „Affairen“ um 1900 gab es somit noch keine Liebesbeziehung zu Lily. In ihren Lebenserinnerungen schreibt Lily Klee: Erst als Paul im Juni 1901 zu uns nach Wiessee a. Tegernsee eingeladen wurde, fanden wir uns endlich. Auf dem Wallberg über Tegernsee gelobten wir uns einander an u. unsere Herzen fanden sich in völliger Übereinstimmung.5

Dieses Treffen war, wie auch Klee bestätigt, gewissermaßen die inoffizielle Verlobung des Paares. Es ist schwierig, aus dieser Konstellation eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Warum sollte Klee bereits kurz nach dem ersten Kennenlernen Ekel darüber empfinden, dass er bei Lily nicht seine „ganze Lust suchen und finden“ kann? Eine gewisse Selbststilisierung im Sinne einer Hypermoral liegt nahe. Denkbar ist aber auch, dass Klee seine autobiographische Erzählung für den geplanten Künstlerroman mit Gewissensbissen etwas ausschmückt und dramatisiert. Beim nun folgenden Wandel vom Libertin der frühen Münchner Zeit zum „sittlichen Mann“ kann man geradezu von einer Transformation der Persönlichkeit sprechen. Klee beginnt, sein Leben vollständig der Kunst unterzuordnen – und dies nicht nur hinsichtlich seiner Trieb-, sondern seiner gesamten Lebensökonomie. Der Wandel lässt sich auch so charakterisieren, dass Klee seine Maxime, er wolle ein Mensch werden, der Künstler werde daraus folgen, nunmehr in sein Gegenteil verkehrt: Er will Künstler werden, der Mensch werde daraus folgen, ein Mensch, den er später als eine „Art Mönch“ charakterisiert (Tgb. 958). Der Wandel deutet sich bereits im Sommer 1900 an, also zu der Zeit, in der er noch mit Tini zusammen ist. Im Rückblick aus dem Jahre 1901 beschreibt er die letzten drei Jahre als Zeit der „sexuellen Ratlosigkeit“, die „Monstren der Perversion“ gebiert (Tgb. 170). Er fleht Eveline (alias Lily) geradezu an, ihn aus seiner Ratlosigkeit und Triebhaftigkeit zu „retten“: Ich versprach dir zuviel. Ein sittlicher Mensch zu sein. [...] Knien muß ich zuerst vor Gott. Dann, Eveline rette mich vollends. Sonst hab’ ich keinen Menschen. (Tgb. 99)

Seine Entwicklung zum „sittlichen Mann“ verdanke er seiner Verlobten („Eveline“ hat mittlerweile ausgedient), schreibt er dann im Sommer 1901: Daß du mich neugeboren hast in Schönheit. (Die Geliebte als Mutter des neuerstandenen, des sittlichen Mannes). (Tgb. 173) Erotische Metamorphosen I 297

Eine andere, auf den ersten Blick irritierende Variante formuliert er dagegen Ende des Jahres 1901 in ambivalenter Freimütigkeit in einem Brief an Lily. Bei seiner Verwandlung zur „Askese“ und zum „sittlichen Manne“ hätten auch sexuelle „Blamagen“ eine Rolle gespielt: So reihen sich Moral und Blamage aneinander und hoben mich immer höher, bis ich auf den gegenwärtigen Stand gelangte, der fast etwas Asketisches hat.6

Das ist nur scheinbar widersprüchlich, wenn man eine weitere Wendung Klees hinzunimmt. Klee hat mittlerweile seine „sexuelle Ratlosigkeit“ und die damit verbundenen „Blamagen“ überwunden und kann sich nunmehr, nachdem er Lily für sich gewonnen hat, höheren Dingen zuwenden: Gott bzw. dem Himmel. In diesem höheren Bereich ist es unerheblich, ob er durch Lily oder sexuelle Blamagen zum „sittlichen Mann“ geworden ist. Über den Sternen will ich meinen Gott suchen. Als ich nach irdischer Liebe rang, suchte ich keinen Gott. Nun ich sie habe, muß ich ihn finden, der Gutes an mir tat, als ich von ihm abgewandt war. (Tgb. 176)

Nun tauchen bei Klee erstmals jene Gedanken auf, die sich später wie ein roter Faden durch seine Selbstreflexion ziehen: Einsamkeit, Jenseitigkeit, Klees „göttliches Ich“. Noch ist Lily einbezogen in diese Selbststilisierung: Ich bin Gott. [...] Ich erwarb ein Stück Himmel, dort kann ich keinen brauchen von dieser Welt. [...] Vertraue meinem Schritt und dem eisig hohen Geiste. Dann sind wir zu zwei wie Gott. (Tgb. 155, 160, 165)

Soweit Klees Tagebücher im Wesentlichen authentisch sind (was mit guten Gründen angenommen werden kann), lässt sich Klees Verwandlung vom nietzscheanischen Hedonisten und Libertin zum „sittlichen Manne“ ziemlich genau auf das Jahr 1901 datieren, das Jahr, in dem er die „irdische Liebe“ Lilys errungen hatte und damit glaubte, die „sexuelle Frage“ für sich gelöst zu haben. Sein Geist, so fügt Klee hinzu, sei nunmehr „eisig“ geworden, Metaphern seiner „jenseitigen“ und kristallinen Existenz vorwegnehmend. Seine Verwandlung ließe sich geradezu auf den 8.6.1901 datieren, den Tag nämlich, an dem Paul und Lily ihre geheime Vorlobung besiegeln (die Zeitangabe stimmt, wie wir gesehen haben, mit derjenigen Lilys überein): Am 8. Juni besprachen wir, was zu tun sei um unsere Liebe ernstlich durchzuführen. Man kann diesen Tag in unserer ganzen Verlobungsperiode als den wichtigsten bezeichnen [...]. (Tgb. 163)

Paradoxerweise entwickelt Klee praktisch zur selben Zeit ein Pathos der Einsamkeit und Verschlossenheit. Seine neue Trieb- und Lebensökonomie formuliert er erstmals ausführ298 I Chronique sentimentale

lich in seiner Tagebucheintragung 605. Ich möchte sie noch einmal zitieren, weil sie Klees zukünftiges Lebensskript anschaulich wiedergibt. Im Hinblick auf seine Freunde Bloesch und Haller schreibt Klee 1905: Ich habe im Gegensatz zu diesen Menschen eine raffinierte ökonomische Taktik in mir ausgebildet. Ich weiß genau die Gefahren alle zu erkennen, einige Momente meiner noch halbkindlichen Jahre haben mir Momentansichten dieser Höllen gezeigt, und das genügt. Seither ist mir das Innerste allerheiligst verschlossen. Ich meine jetzt nicht die Liebe allein, denn hier habe ich ja gut reden, sondern alle Frontteile rings herum, auf dem Angriffe des Schicksals in irgendeiner Form Aussicht auf Erfolg hätten. Ob diese Taktik nicht zu einer gewissen Verarmung führen kann, wird sich zeigen. Sie ist nicht frei gewählt, sondern auch bei Zeiten schon so in mir gewachsen. (Tgb. 605)

Im Klartext bedeutet dies, dass Klee 1905 eine (lebens-)ökonomische Taktik entwickelt hat, bei der er sein Innerstes „allerheiligst verschlossen“ hat, er damit unangreifbar und emotional unerreichbar geworden ist, eine psychische Selbstimmunisierung, die Klees fiktivem Selbstportrait, der „Allegorie der Überkrustung“ entspricht. Dass man auch in der Liebe „letzten Endes hienieden allein“ ist, schrieb er annähernd zur gleichen Zeit (Tgb. 635). 1906 fühlt er sich an einen Ort „getragen“, „wo man die Wollust nicht mehr sucht“ (Tgb. 748). Allerdings sieht Klee zu dieser Zeit noch die Gefahr einer „gewissen Verarmung“, was in dieser Form später nicht mehr auftaucht. Klee hat 1905 die wesentlichen Aspekte seines Transformationsprozesses klar beschrieben: seine Entwicklung zum „sittlichen Mann“, seine Askese, seinen „eisig hohen“ Geist, sein Einzelgängertum – oder, wie Lily Klee es am deutlichsten ausdrückt: seine Einsamkeit. Noch klingen die Äußerungen Klees etwas literarisch konstruiert. Er bedient sich aus dem Fundus christlicher Mythologie: den „Weg in die Wüste“, wie ihn der hl. Antonius von Ägypten ging, um gegen die Dämonen zu kämpfen (Tgb. 605) und eine Anspielung auf Dantes „Inferno“. Klees gewandelte Einstellung wird später – ab 1915 – in der Metapher des Kristallinen noch deutlicher zum Ausdruck gelangen. Klee stellt die Frage: „Kann ich denn sterben, ich Kristall?“ und gelangt in der folgenden Zeile – im Text durch ihn hervorgehoben – zu der apodiktischen Feststellung: ich Kristall (Tgb. 951). Seine berühmt gewordene Überlegung zum Krieg schließt sich an: „Ich habe diesen Krieg längst in mir gehabt. Daher geht er mich innerlich nichts an.“ (Tgb. 952). In einer triumphalen Geste substituiert er den Krieg als äußeres Ereignis durch einen inneren Krieg. So als wolle er erläutern, was er unter „kristallinisch“ versteht, fügt er in der nächsten Eintragung hinzu: „Gewisse kristallinische Gebilde über die eine pathetische Lava letzten Endes nichts vermag“ (Tgb. 953). In einer weiteren Formulierung beschreibt er den Prozess der Kristallisierung: Einst blutete die Druse. Ich meinte zu sterben. Krieg und Tod. Kann ich denn sterben, ich Kristall. (Tgb. 951) Erotische Metamorphosen I 299

„Druse“ ist die wenig gebräuchliche Bezeichnung für den Hohlraum einer Mineralformation. Klee möchte damit offenbar zum Ausdruck bringen, dass er sich die Entstehung einer Druse durch Ausscheiden von Flüssigkeit, gleichsam durch „Weinen“ vorstellt. Das Weinen ist nunmehr beendet, er ist Kristall geworden. Es ist nicht schwer zu erraten, dass sich diese Veränderungen auf Klees Verhältnis zu Lily auswirkten. Ende 1915 schreibt er rückblickend: „Meine Ehe fasste ich als sexuelle Kur auf.“ An anderer Stelle sagt Klee, dass er das „sexuelle[n] Mysterium“ in der Ehe „mitberührt“ findet „und das konnte genügen“ (Tgb. 958). In einem Brief an Lily macht er 1904 unmissverständlich sein Konzept der Ehe deutlich: Alles läuft schließlich darauf hinaus, die Arbeitsfähigkeit zu steigern; und das eheliche Verhältnis soll sich diesem alleinseligmachenden Zweck unterordnen.7

Ebenfalls rückblickend schreibt er 1919 in Notizen, die er seinem ersten Biographen Hausenstein zur Verfügung stellte: Die Folge davon war dann die Erkenntnis, daß es für mich angebracht war, möglichst bald durch eine Ehe die sexuelle Frage zu lösen um mich ganz konzentrieren zu können. Ich verlobte mich heimlich mit meiner nachmaligen Gattin. (Hausenstein II, 1901, S. 507)

Und 1914, während eines Aufenthalts in Palermo, notiert er im Tagebuch: „Die Liebe, wie man hier das Wüsteste und Schönste mit demselben Namen ‚Amore‘ nennt, kommt mir dagegen unwichtig vor“ (Tgb. 926 s.). Foucault hat dieses Konzept der Triebökonomie als „Konjugalisierung“ bezeichnet: Die problematische oder vielleicht auch lästige sexuelle Triebhaftigkeit wird in die Ehe eingebunden und damit gewissermaßen gebändigt. Klees triebökonomisches Konzept geht freilich über diese Konjugalisierung hinaus. Bereits 1906, also im Jahr seiner Eheschließung, schreibt er an seine damalige Verlobte: Wenn man in ein Lebensstadium getreten ist, wo einem der Coitus an sich nichts mehr sagt, so hat der Münchner Carneval seinen ganzen Reiz und Sinn verloren.8

Leider wissen wir nicht, wie Klees Verlobte auf dieses „Geständnis“ ihres Verlobten reagiert hat. Wir dürfen jedoch daran zweifeln, ob sie darüber zu diesem Zeitpunkt, also im Jahr ihrer Eheschließung, sehr erfreut gewesen ist. Klee radikalisiert seine Einstellung zu seinem metaphorischen Verschluss: Er signalisiert seiner Verlobten, dass der „Coitus“ für ihn gerade noch als eine Art Pflichterfüllung in Frage kommt. Den Lebenserinnerungen von Lily Klee und den Briefen an ihren Sohn Felix können wir entnehmen, dass sie keineswegs die heitere, lebensfrohe Frau war, als die sie so oft beschrieben wurde. Sie litt unter ihrer Mutter und unter den Belastungen ihrer Kindheit und Jugend und spricht selbst von ihrer „Nervenerkrankung“,9 was anlässlich ihrer zahlreichen Sanatoriumsaufenthalte von ärztlicher Seite auch so diagnostiziert wurde. Selbst wenn sie zu dieser Zeit ähnlich triebfeindlich 300 I Chronique sentimentale

eingestellt gewesen sein sollte wie Klee selbst (was wir nicht wissen), so dürften Klees Vorstellungen von Ehe und Sexualität für sie als Frau dennoch kränkend gewesen sein.

Lily Klee Von Klee-Biographen erfahren wir wenig über Lily Klee und das Wenige, das wir erfahren, lässt Lily und Paul Klee zumeist im Glanze einer Biedermeier-Idylle erstrahlen. Möglicherweise waren die verklärenden Erinnerungen von Ju Aichinger-Grosch eine der Hauptquellen für diese euphemistische Darstellung.10 Ju (Juliane) Aichinger-Grosch – die Schwester von Karla Grosch – war mit den Klees seit deren Bauhaus-Zeit befreundet. Nach Ausbruch von Klees Erkrankung wohnte sie oft „monatelang“ bei Paul und Lily. „Ich wohnte in einem Dach­stübchen, wo sämtliche Klee-Bilder in Regalen standen, und ich machte für mich alle paar Nächte eine neue Ausstellung.“11 Für die Bauhaus-Zeit beschreibt sie Lily Klee (Lily war damals gerade in ihren Vierzigern) als „energische Mami Klee, die immer ihr Herz auf dem rechten Fleck hatte“.12 Und die Beziehung zwischen Paul und Lily beschreibt sie folgendermaßen: Paul war immer mit seiner Frau auf das tiefste verbunden und hielt sein ganzes Leben lang in jeder Lage zu ihr, vielleicht gerade weil sie sein Gegensatz war. Sie, die lebenssprühende, lustige, vitale Münchner Pianistin, er, der zarte, stille, über den Dingen stehende Maler – zwei Menschen, denen wir ewig dankbar sein müssen.13

Leider ist Ju Aichinger-Grosch notorisch unzuverlässig. Die von ihr geschilderte Begegnung Klees mit Picasso, die Klee geradezu beflügelt habe, ist, nach Aussage des bei dieser Begegnung anwesenden Bernhard Geiser14, sehr viel wortkarger und für Klee unbefriedigender verlaufen. Ju Aichinger arbeitete an der Verbreitung eines weiteren Künstler-Mythos: des stillen, „über den Dingen stehende[n]“ Malers, der als Ergänzung die „lebenssprühende“, vitale und pragmatische Frau benötigt. Die Realität der Künstler-Paare sah, wie u. a. von Beyme zeigt, anders aus, auch beim Ehepaar Klee. Dass gerade Lily Klee „lebenssprühend“ gewesen sei, gehört zu den seltsamsten Blüten der Klee-Saga. 1930 war Lily, also noch während der Bauhaus-Zeit, für insgesamt sechs Monate wegen „völliger Nervenerschöpfung“ im Sanatorium Sonnenmatt/Luzern. Klee hat offenbar früh erkannt, dass Lily keineswegs das von Ju Aichinger geschilderte heitere und vitale Gemüt war. Eine entsprechende Passage – sie wurde bereits zitiert – in seinen Tagebüchern lautete: „Lily war doch nicht ganz Heiterkeit, sie sagt, dass sie oft traurig ist“ (Tgb. 91). In einem Brief Lilys an ihren Sohn wird deutlich, dass sie offenbar seit ihrer Jugend an massiven psychischen Problemen litt und ihre Nerven immer auf „das Heftigste gespannt“ waren: Du mußt auch nicht d. Gründe meiner Nervenerkankung vergessen. Daß ich von früher Jugend schwer arbeiten mußte u. bis zum Jahre 21 ohne mich je schonen zu können, ge­arbeitet habe, leiLily Klee I 301

der erblich mit schwachen Nerven belastet (von meiner l. Mutter her). Einmal hat sich das gerächt ... Sieh das Leben war seit d. Tod meiner Mutter als ich 16 Jahre alt war ein schwerer Kampf für mich. Meine Ehe war bis ca. zum Jahre 1920 ein schwerer finanzieller Kampf um unser 3 Existenz u. vor allem daß Vater sich in aller Ruhe entwickeln konnte ... Meine Nerven waren immer aufs Heftigste gespannt. Dann kam der Schmerz, daß ich mein einziges Kind selbst nicht eigentl. aufziehen konnte, des Berufs wegen, der mich den ganzen Tag von hause [sic!] fernhielt. Auch Krankheiten und Geldsorgen haben uns nicht verschont. Urteile selbst, nun als reifer Mensch, ob es verwunderlich ist, daß es einmal einen Nervenzusammenbruch geben mußte.15

Warum gerade Lily, Tochter eines wohlhabenden bayerischen Medizinalrates, in ihrer Jugend schwer arbeiten musste, erfahren wir nicht. Aus dem dokumentarischen Material geht auch nicht klar hervor, wie viele „Nervenzusammenbrüche“ sie erlitt. Dokumentiert ist jedoch – neben einem längeren Kuraufenthalt 1927 – ihre Erkrankung Ende 1929, die dazu führte, dass sie sich vom 31.3.–12.7.1930 zur Kur im Sanatorium Sonnenmatt/Luzern aufhielt, also bereits in der angeblich harmonischen Bauhaus-Zeit. Über ihre Diagnose schreibt sie an ihren Sohn Felix: D. Diagnose lautet auf völlige Nervenerschöpfung durch l. Krankheit u. Diät [...] Ich bin nahezu gänzlich schlaflos u. kann nur etwas mit Schlafmitteln schlafen. Ich liege todmüde zu Bett u. finde keinen Schlaf [...] Ich liege den ganzen Tag auf dem Liegestuhl.16

Nach ihrer Entlassung aus Sonnenmatt rieten die Ärzte zu einer Nachkur in den Schweizer Bergen, die sie zusammen mit Paul vom 12.7. bis zum 19.8. in Sils Baselgia absolvierte. Auch die Nachkur war wenig erfolgreich. Nach vier Wochen klagte Lily wiederum über Schlafstörungen und „nervöse Störungen“. Erneut hielt sie sich vom 19.8. bis 8.10. in Sonnenmatt auf, bis eine gewisse Verbesserung ihres Zustandes eintrat. Das bedeutet, dass Lily sich mehr als sechs Monate in Kurbehandlung befand, ohne wesentliche Verbesserung ihres Gesundheitszustandes. Klee hatte dem Aufenthalt in Sils Baselgia im Übrigen nur unter der Bedingung zugestimmt, dass er „die Freiheit habe, die zweite Hälfte der Ferien an meinem geliebten Mar zu verbringen“.17 So reist er denn auch unmittelbar nach dem Aufenthalt in Sils Baselgia nach Viareggio/Italien ab und schreibt bereits am 20.8.1930 von dort an Lily. All dies klingt nicht nach „Heiterkeit“, sondern nach einer „Nervenerkrankung“ – aus heutiger Sicht würde man wahrscheinlich von einer rezidivierenden depressiven Episode mit somatischen Begleiterscheinungen sprechen. Während der gemeinsamen Bauhaus-Zeit hielt sich Lily bereits 1927 längere Zeit zur Kur in Oberstdorf auf, was dazu führte, dass der geplante gemeinsame Urlaub nicht zustande kam und Klee ohne Lily mit seinem Sohn ans Mittelmeer fuhr. Über die Gründe für diesen Kuraufenthalt können wir diesmal nichts erfahren. Dass dies mit Lilys „Nervenerkrankung“ zusammenhing, ist jedoch zu vermuten. Dokumentiert ist dagegen, dass Klee von Lilys Erkrankung belästigt war und sich – wie bereits geschildert – ganz unverhohlen dafür aussprach, dass sie sich in Oberstdorf so lange wie möglich aufhalten sollte, weil er sich durch sie in seiner Arbeit gehindert fühlte. Geradezu mitleidlos schrieb er an Lily: 302 I Chronique sentimentale

Dein Aufenthalt möge zeitlos verlaufen, dass du nicht glaubst, mit seiner Dauer irgendwie rechnen zu müssen. Ich kann auch mehr leisten, wenn ich auf nichts Nervöses Rücksicht nehmen muß.18

Dies entspricht der Maxime, die Klee bereits 1904 seiner Frau gegenüber ge­äußert hatte: Die Ehe habe die Aufgabe, die Arbeitsfähigkeit zu steigern und Lily sich diesem „alleinseligmachenden Zweck“ unterzuordnen. Einen „Rachenka­tarrh“, den sich Lily zugezogen hat, bügelt er als Modekrankheit ab (24.6.1930). Auch Lily gegenüber ist wenig von der „heiteren Güte“ zu spüren, die Klee angeblich seinen Mitmenschen gegenüber zeigte. Zwischen Mitte November 1932 und Anfang 1933 (also zur Zeit von Klees Tätigkeit an der Kunstakademie Düsseldorf) wird ein weiterer Kuraufenthalt erforderlich, den Lily diesmal in Braunlage (Oberharz) absolviert. Aus Andeutungen ihres Mannes können wir entnehmen, dass auch diesmal „seelische“ Probleme eine Rolle spielten. Anders als bei Lilys Aufenthalt in Oberstdorf ist Klee in seinen Briefen diesmal zurückhaltend und besorgt. Auffällig ist allerdings, dass Klee Weihnachten ohne Lily verbringt und sie erst am 29.12.1932 besucht. Schließlich verbringt Lily im Oktober 1933 noch einmal knapp 14 Tage in Sonnmatt (ihr dritter Aufenthalt), in der krisenhaften Zeit nach Klees Amtsent­hebung. Eine mit Paul geplante Reise ans Mittelmeer sagt sie ab – erneut reist Paul ohne Lily nach Südfrankreich19. An ihre Schwiegertochter Efrossina – Felix Klee und Efrossina hatten im April 1932 geheiratet – schreibt sie am 5.10.1933 und weist auf ein Versagen ihrer „Nerven“ hin: Ich fühle erst jetzt wie sehr ich von alledem u. was vorher war, mitgenommen bin u. schwanke sehr ob ich nicht statt d. anstrengende Reise zu machen, lieber für 10 Tage ins Kurhaus Sonnenmatt gehen soll, um mich etwas auszuruhen u. zu pflegen. [...] Ich habe mich 2 Tage gar nicht wohl gefühlt. Sind die Nerven, die versagen. Es war auch wirklich zu viel für mich [...] V[ater] hat ohne mich auch mehr Bewegungsfreiheit, will arbeiten.20

Durch die Pflege ihres Mannes seit 1935 ist Lily 1939 nervlich und körperlich völlig überfordert, so dass zwischen dem 16.4. und dem 16.6.1939 ein weiterer Aufenthalt in Sonnmatt erforderlich wird. Diagnostiziert wird – laut Lily Klee – eine „schwere Nervenstörung“. An ihre Freundin Gertrud Grote schreibt sie: D. Überanstrengung hängt mit d. schweren jahrelangen Krankheit m. Mannes zusammen, u. mit dem vielen damit verbundenen seelischen Kummer. Oder glauben Sie, daß die Diffamierung m. Mannes ebenso wenig wie bei ihm spurlos an mir vorübergegangen wäre? da ich ebenso wie er so hochsensibel veranlagt bin.21 (Herv. MC)

Und an ihren Sohn schreibt sie den bemerkenswerten Satz: „[...] ich glaube, nachdem der 1. Trennungsschmerz überstanden, genießt er wie ich, das 1. Alleinsein nach Jahren.“22 Was für ein Mensch war Lily Klee? Jedenfalls entsprach sie nicht dem Klischee der heiteren und vitalen Künstlergattin. Zunächst einmal sieht sie sich selbst „mit schwachen Lily Klee I 303

Nerven belastet“ und „hochsensibel“. Ihre Lebenserinnerungen geben nur sehr begrenzten Aufschluss über ihre Persönlichkeit. Am interessantesten sind vielleicht ihre Urteile über die Menschen, denen sie begegnete: Diese schwanken zwischen Idealisierung und Entwertung, zeigen gewissermaßen eine Tendenz zu psychischer Spaltung. Bei der Idealisierung steht verständlicherweise Paul Klee an erster Stelle, gefolgt von Franz Marc und Klees Mutter Ida. Ihre erste Begegnung und den Beginn ihrer Beziehung schildert sie romantisch verklärt – auf die anfänglichen Schwierigkeiten ihrer Beziehung, die von Klee ja ausführlich beschrieben wurden, geht sie nicht ein. Den „schicksalhaften“ Beginn ihrer Beziehung schildert sie folgendermaßen: Es war im Jahre 1899 gerade an der Jahrhundertwende als wir uns schicksalhaft zum 1. Mal begegneten u. zusammen musizierten. Jene 1. Begegnung hat einen unauslöschlichen Eindruck in mir hinterlassen. Wir musizierten damals öfters in meinem Elternhause. Er spielte ja so wunderbar Geige, dass ich niemals auch selbst von Berufsmusikern annähernd je etwas Ähnliches an Spiel gehört habe. Dann ging er im Jahre 1900 nach Bern zurück u. als er im Herbst 1900 n. München zurück kehrte da begannen wir, nachdem wir öfters Briefe gewechselt hatten, wieder mit dem Musizieren. Wir besuchten im Febr. 1901 gemeinsam einen Ball, die in München bekannte Bauernkirchweih i. Schwabing, wo alle Künstler zu treffen waren. Dort merkte ich zum 1. Mal, dass ich ihm nicht gleichgültig war. Unsere Beziehungen kamen aber zu keinem Abschluss.23

Wir kennen aus Klees Tagebuch seine Sicht der Begegnung während des „Bauernballs“. Er hatte gerade seine Beziehungen zu seinem „Verhältnis“ und zu Cenci abgebrochen (bzw. sie zu ihm) und sich Lily wieder genähert, die sich jedoch ein Stück weit zurückzog, sie nannte es, so Klee, „Stimmungssache“. Zu einem ersten „Abschluss“ der Beziehungen kam es, wie wir gesehen haben, im Laufe des Jahres 1901, also noch vor Klees Italienreise: Erst als Paul im Juni 1901 zu uns nach Wiessee a. Tegernsee eingeladen wurde, fanden wir uns endlich. Auf dem Wallberg über Tegernsee gelobten wir uns einander an u. unsere Herzen fanden sich in völliger Übereinstimmung [...] Schon damals erwartete ich von meinem Vater nicht d. geringste Hilfe u. wusste, dass er dieser Verbindung gegenüber feindlich eingestellt sein würde. So mussten wir unser Verlöbnis geheim halten.24

Zu einem zweiten „Abschluss“ kam es dann 1902, nach Klees Rückkehr von seiner Italienreise: Das Wiedersehen nach einjähriger Trennung fand in Possenhofen am Starnbergersee statt, welcher Ort in unserem späteren Leben noch eine grosse Rolle spielen sollte. Unvergeßlich in mein Herz gegraben ist mir jenes Wiedersehen geblieben [...] Ich erkannte ihn kaum wieder. Sein in Süditalien verbrachtes Jahr hatte ihn äußerlich ganz verändert. Wie ein Südländer, unendlich verfeinert u. vergeistigt mit einem schwarzen Vollbart trat er mir entgegen. Das Wiedersehen war überwältigend für uns. 304 I Chronique sentimentale

Weil dieses Wiedersehen so „überwaltigend“ war, kam es denn auch kurz danach zu dem, was Lily „Gewissensehe“ nennt – eine Umschreibung dafür, dass sie eine sexuelle Beziehung eingingen: Wir gingen eine Gewissensehe ein, da der Widerstand meines Vaters sich weiterhin unsrer erwünschten Verbindung entgegensetzte. Wir feierten unsere Hochzeit in München u. verbrachten 14 der glücklichsten Tage unseres Lebens am Starnbergersee.25

Bei Lilys Entwertungstendenzen steht ihre Stiefmutter (die nur wenig älter war als Lily selbst, ihr Vater hatte nach dem Tod seiner ersten Frau noch einmal geheiratet) ganz oben. Lily Klee wirft ihr vor allem vor, dass sie mit dem Vermögen ihres verstorbenen Mannes, also ihres Vaters, leichtfertig umgegangen sei. Sie hatte dessen Grundstücke verkauft und so durch die Inflation fast alles verloren, sein Vermögen sei „in Rauch aufgegangen“: Meiner Stiefmutter fehlte nicht nur ein gütiges Herz, sondern auch der weitblickende Verstand. Sie war eine dumme Frau.26

Aufschlussreich sind Lilys Beurteilungen von Klees Eltern und Schwester. Über Klees Mutter Ida äußert sich Lily vorbehaltlos positiv: „eine reizende Frau, die mich in liebevollster Weise empfing“.27 Sehr viel ambivalenter sind ihre Schilderungen von Mathilde, Klees Schwester, und von Klees Vater. Über Mathilde schreibt sie: [...] ihr eigenartiges Wesen fiel mir sofort auf. Sie war gänzlich zurückgezogen u. führte ein traumverlorenes Eigenleben. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie an Allem, was um sie vorging, keinen wahren Anteil nahm. Auch nicht an meiner Person. M. Schwägerin hat im Lauf der vielen Jahre sich immer mehr zu einer grande égoiste entwickelt.28

Ähnlich fällt das Urteil über Klees Vater aus: Dieser Vater so bedeutend als Charakter, Eigenart u. Begabung er war, hatte soviel Lebensdrang bis zuletzt, dass er niemals dran gedacht hatte, seine Tochter, die ihm ihr ganzes, wenn auch bescheidenes Leben geopfert hatte, versorgt zurückzulassen. In seiner naiv kindlichen Art wurde er dadurch zu einem der größten Egoisten, den ich je gesehen. Obwol er wunderbare Eigenschaften hatte. Aber ich habe nie bemerkt, dass irgend etwas was nicht mit seiner eigenen Person oder deren Interessenkreis zusammenhing, ihm jemals nur das geringste Interesse abgenötigt hätte.29

Zweierlei fällt an diesen Charakterisierungen auf. Ein wesentlicher Teil ihres Urteils über Mathilde dürfte damit zusammenhängen, dass diese an ihrer, Lilys, Person „keinen wahren Anteil“ nahm. Auch wenn sie Klees Vater schildert, wird die Parallele zu ihrem eigenen Vater deutlich: Auch diesen empfand sie als „egoistisch“, da dieser ihr nichts, seiner zweiten Frau hingegen alles hinterlassen hatte. Der zweite Aspekt betrifft Klee selbst, Lily Klee I 305

ihren Mann. Möglicherweise aufgrund ihrer Spaltungstendenz (Idealisierung/Entwertung) fällt ihr offensichtlich gar nicht auf, wie viel Klee mit seiner Schwester und seinem Vater gemeinsam hat. So wie sie Mathilde und Hans Klee als „Egoisten“ schildert, hätte sie auch ihren eigenen Mann beschreiben können, als jemanden, der vorwiegend mit seinem eigenen „Interessenkreis“ beschäftigt ist. Im Übrigen hat sie diametral entgegengesetzte Präferenzen als ihr Mann: Klee hatte ein gespanntes Verhältnis zu seiner Mutter, der Vater hingegen stand „oben-an“. Trotz dieser Spaltungstendenzen gelingen ihr einige aufschlussreiche Vignetten von Menschen aus ihrem und Pauls engstem Bekanntenkreis. An erster, positiv besetzter Stelle steht für sie Franz Marc. Dabei ist freilich zu beachten, dass ihre und Marcs Mutter miteinander befreundet waren und – so jedenfalls ihre Schilderung – sie und Franz als Kinder Spielgefährten waren: Wir besuchten Marc in Sindelsdorf öfters. Franz Marc war wohl einer der wunderbarsten u. schönsten Menschen, die mir je begegnet sind, nicht nur äußerlich. Auch innerlich. Liebenswürdig, klug, hoch begabt, von einer seltenen Güte u. vornehmen Gesinnung auch Anderen gegenüber.30 Der Tod von Franz Marc traf meinen Mann mitten ins Herz.31

Von Lily Klee erfahren wir auch, dass Klee das durch einen Brand erheblich beschädigte Marc-Bild Tierschicksale restaurierte. Dass Lily, Paul und weitgehend auch Maria Marc zur Frage des Krieges ganz andere Ansichten hatten als Franz Marc und es aus diesem Grunde mit Marc zu erheblichen Spannungen kam, wird von Lily verschwiegen. Auch auf die Kontroversen, die sich zwischen ihr, Paul und Maria Marc entwickelten, die unter anderem Klees Kunstverständnis betrafen, geht Lily nicht ein. Kandinsky (und Klees langjährige Freundschaft mit ihm) schildert sie respektvoll. Die Freundschaft zwischen W. Kandinsky u. meinem Mann sollte in der Zukunft die meiste Annäherung u. gemeinsame geistige Zusammenarbeit haben.32 Er [Kandinsky] machte in einer Abendgesellschaft einen unauslöschlichen Eindruck.33

An anderer Stelle schreibt sie, Kandinsky habe „etwas Gebieterisches, Jupiter­haftes“ besessen.34 Weniger gut schneidet dagegen Moilliet ab (Lily notiert diese Bemerkungen anlässlich des Todes von Hélène Moilliet, die nach der Geburt ihres Kindes gestorben war): Ein weicher und etwas labiler Mensch. Seine ungezählten Liebschaften hatten schon i. Anfang ihrer Ehe der armen Helene Kummer genug bereitet. Auch auf Louis Kunst wirkte sich dieser Leichtsinn in der Lebensführung aus. Viele Jahre hat er sich künstlerisch nicht weiterentwickelt. [...] Louis ist ein charmanter Mann, das sichert ihm seine Erfolge bei Frauen.35

Wir erinnern uns an Klees abfällige Bemerkungen über „Onkel Louis“, an dessen „Hechtauge“, das jeden Frauenrock mit lüsternen Blicken verfolge, und an seine Rügen 306 I Chronique sentimentale

gegenüber Macke und Moilliet, die er von leichtfertigen Abenteuern im Rotlichtviertel von Tunis abhalten wollte. Geradezu schneidend urteilt sie über Klees Biographen Hausenstein, was möglicherweise auch damit zusammenhängt, dass sie mit Hausensteins ambivalenter Klee-Biographie und dessen opportunistischem Verhalten in der Stuttgarter Berufungsangelegenheit wenig anfangen konnte. Hausenstein habe in der Zeit des heraufziehenden Nationalsozialismus nicht nur die moderne Kunst, sondern auch ihren Mann verleugnet: „So leugnete er aus Furcht vor dem entsetzlichen Regime alles ab, was er vorher angebetet hatte.“36 Allerdings stützt sie diese Einschätzung nicht auf persönliche Erfahrung, sondern auf einen Bericht ihres Patensohnes Rudolf Bach. Hausenstein wurde später selbst von den Nationalsozialisten verfolgt. Ähnlich zweigeteilt sind ihre Urteile während der gemeinsamen Bauhaus-Zeit. Zunächst die positiven Urteile: Gertrud Grunow (die am Bauhaus für die obligatorischen Entspannungsübungen zuständig war) war für Lily „eine der wenigen schöpferischen Frauen, die mir im Leben begegnet sind“. Über die damals außerordentlich renommierte Tänzerin Palucca schreibt sie, diese sei „eine der großartigen, einzigartigen Tanzbegabungen“.37 Abfällig äußert sie sich über van Doesburg: Er habe das Bauhaus mit „unfeinen Waffen“ bekämpft und sei von „niedriger Gesinnungsart“38. Ähnlich entwertend schreibt sie über Ilse Gropius (die zweite Frau von Gropius): Eine hübsche junge Frau, mit einem sehr unangenehmen Charakter. Sie war mir vom ersten Moment an unsympathisch.39

Bei ihrer Beurteilung von Julia Feininger ist das Urteil geradezu hämisch, diese sei „nur intellektuell“ und zudem: „Sie war stets voll Neid u. Missgunst u. Rivalität gegenüber anderen Künstlern.“40 Als sie und Paul später, schon in der Berner Emigrationszeit, 1934 von Ernst Ludwig Kirchner (der 1938 Suizid beging) besucht werden, schreibt sie an Felix: „... ein krankes, galliges u. ekelhaftes Mannsbild.“41 Es entsteht der Eindruck, dass Lily Klee Begabungen, zumal wenn sie eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten (Marc, Kandinsky, Palucca, Grunow), anerkennen konnte, auf andere – weniger begabte oder renommierte – Menschen jedoch häufig mit einer rein emotional begründeten Antipathie reagierte. Dem entspricht auch ihre Neigung zum Namedropping: So berichtet sie voller Stolz, dass sie während einer Bauhaus-Veranstaltung zwischen Busoni und Strawinsky saß. Auch Rilke habe bei ihr einen „unauslöschlichen Eindruck hinterlassen“.42 Angesichts der Verklärung, die Lily Klee in der Klee-Biographik häufig erfuhr (abgesehen von der Tendenz, sie allenfalls am Rande zu erwähnen), ist es an der Zeit, ein realistisches Bild dieser Frau zu zeichnen, die selbst künstlerisch begabt war und möglicherweise mit ihren Ambitionen als Konzert-Pianistin nur deshalb scheiterte, weil sie bis 1920 weitgehend für die materielle Sicherung des Haushaltes zuständig war. Es darf auch nicht übersehen werden, dass Lily trotz eigener Krankheiten ihren Mann während dessen Krankheit aufopferungsvoll pflegte. Zugleich sorgte sie bis zu Klees Lily Klee I 307

79  Lily Klee, 1936, Fotograf unbekannt, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee

Berufung ans Bauhaus mit enormer Energie (sie gab häufig bis zu acht Stunden Klavierunterricht am Tag, wobei dieser Unterricht in der Regel bei ihren Schülern/-innen stattfand) dafür, dass Klee sich seiner Kunst widmen konnte. Sie war, ähnlich wie ihr Mann, eine „hochsensible“ Persönlichkeit, besaß aber zugleich doch ein erstaunliches Maß an Pragmatismus und Bodenständigkeit. So vermerkt sie an einer Stelle ihrer Erinnerungen geradezu stolz, dass es ihr gelungen sei, ihre Familie durch die harte Zeit der Inflation zu bringen, weil sie zuvor für ein Jahr Lebensmittelvorräte gehortet habe. Dies ist umso höher zu bewerten, als ihre psychische Verfassung ausgesprochen labil war.

Frühe Traumatisierung? – Idealisierung und Entwertung der Frau Vor dem Hintergrund von Klees asketischer und zugleich phobischer Lebens- und Sexualökonomie wird seine vielzitierte Selbstdarstellung besser verständlich: Diesseitig bin ich gar nicht fassbar. Denn ich wohne grad so gut bei den Toten, wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich. Aber noch lange nicht nahe genug. Geht Wärme von mir aus? Kühle?43

Was Klee mit dieser dunklen Formulierung vermutlich sagen möchte, ist, dass er in einem Bereich jenseits der menschlichen Triebe und Leidenschaften „wohnt“, d. h. bei den 308 I Chronique sentimentale

Toten und den Ungeborenen, jedenfalls nicht einfach bei den Menschen. Gegenüber den Lebenden hat er sein Innerstes „allerheiligst“ verschlossen. Das von Klee so oft erwähnte „Zwischenreich“ hat hier jede Heiterkeit verloren. „Diesseitig“ lässt sich so auch nicht entscheiden, wer Klee ist: Ist er kühl oder warm? 1916 schreibt er in einer Tagebucheintragung: „Meine Glut ist mehr von der Art der Toten oder der Ungeborenen“ (Tgb. 1008). Gäbe es nicht zugleich den Hinweis auf das „Herz der Schöpfung“, dem Klee sich nahe fühlt, wäre man an Dantes Inferno – Klees „Hölle“ – erinnert. Gibt es eine Möglichkeit zu verstehen, wie Klee in dieses düstere Zwischenreich der Toten und Ungeborenen gelangt ist? Die Erklärung, er habe sein Leben der Kunst untergeordnet, greift zu kurz: Warum wählte er gerade diesen Weg als Künstler? Aus psychoanalytischer Sicht könnte man vermuten, dass eine schwere Störung der frühkindlichen Entwicklung vorliegt, zum Beispiel ein singuläres oder kumulatives Trauma. Es bedarf also einer weiteren Analyse, um zu verstehen, wie Klee in dieses danteske Zwischenreich gelangt ist. Eine der wenigen Autoren/-innen, die versucht haben, dieses Neuland zu erforschen, ist Anita Eckstaedt mit ihrer Arbeit über Klee und Bruno Goller (2008). Eckstaedt hat sich – aus psychoanalytischer Perspektive – mit Leben und Werk Paul Klees, insbesondere mit dessen Kindheit, auseinandergesetzt und spricht in der Tat von einer „frühen Traumatisierung“, die sie als Klees „basalen Konflikt“ bezeichnet.44 Sie bezieht sich dabei in erster Linie auf die Zeichnung des vierjährigen Pauls, Mimi überreicht Madame Grenouillet Blumen (1883–1884) (Abb. 77), die auf einen populären Bilderbogen aus Épinal zurückgeht, und versucht, die Deutung dieses Bildes durch den Blick auf spätere Werke Klees zu bestätigen: Der Konflikt auf dem Bilderbogen wie auf der Kinderzeichnung handelt von der inneren Annahme, die Akzeptanz und Anerkennung einschließt, und bedeutet einen basalen Konflikt von nicht nur momentaner Aktualität. Er hat in der Folge Auswirkungen, auf die mit einer spezifischen Verarbeitung reagiert wird. [...]45

Den basalen Konflikt Klees an einer Kinderzeichnung festzumachen und von hier aus die Kontinuität der „persönlichen Struktur“ Klees abzuleiten, ist eine riskante These. Ihre Stichhaltigkeit wird von der Stringenz der Interpretation der Kinderzeichnung, mehr noch aber von dem Nachweis abhängen, dass diese Struktur auch in den späteren Werken zum Ausdruck kommt. Klees Kinderzeichnung ist die Adaption eines Bildes aus dem populären französischen Bilderbogen Mimi et Azor (Épinal, um 1860). Der junge Klee hat in seiner Zeichnung die Vorlage signifikant umgearbeitet. Die beiden Protagonisten, die Katze Mimi und Madame Grenouillet, eine großmütterlich wirkende Frau, sind jetzt seitenverkehrt dargestellt (Mimi befindet sich jetzt links statt rechts und ist in Haltung und Ausdruck verändert). Der Hund Azor, anfänglich ein Konkurrent Mimis um die Gunst von Madame Grenouillet, befindet sich nicht mehr auf der Zeichnung, er ist als Konkurrent gewissermaßen eliminiert worden. Die Veränderung betrifft jedoch insbesondere Madame Grenouillet. Sie wirkt nunmehr erheblich jünger, hat aber jetzt nur noch Stummelarme und keine Augen. Zugleich sitzt sie Frühe Traumatisierung? – Idealisierung und Entwertung der Frau  I  309

wesentlich weiter von Mimi entfernt als auf dem Bilderbogen. Auch Mimi hat keine Augen, dafür scheinen ihre gespitzten Ohren umso aufmerksamer zu sein. Auffällig ist an Mimi, dem Katzenmädchen, das durch ein Röckchen deutlich als weiblich charakterisiert ist, dass es nunmehr ein kleines Bärtchen trägt. In der Tat ist diese in knappen, aber präzisen Strichen angefertigte Umarbeitung eines eher behäbigen und künstlerisch anspruchslosen Bilderbogens inhaltlich und ästhetisch erstaunlich46. Eckstaedts Interpretation der Zeichnung erscheint somit plausibel: Die inhaltliche Betrachtung der Zeichnung führt dann von der ‚entzückenden Szene‘ weg, wenn man die Arme von Madame ansieht. Sie sind stummelförmig, zu kurz und wie verkümmert, ein Arm halb erhoben und fast abwehrend. Damit kann Madame den Blumenstrauß gar nicht erreichen und fassen, damit kann sie auch niemals ein Kind in die Arme nehmen. Es wird noch tragischer, wenn ich ein Weiteres, das weggelassen ist, benenne: beide dargestellten Figuren haben keine Augen. Das bedeutet: sie sehen sich gar nicht. Das kann bei dieser sorgfältigen Zeichnung nur einem inneren Erleben Ausdruck verleihen und besagt, wie sich das Kind dieser Figur, Madame, die eine mütterliche Figur sein soll, gegenüber fühlt: es fühlt sich nicht gesehen und im weiteren Sinne nicht anerkannt.47

Die frühe „Traumatisierung“ Klees bestünde somit darin, dass Klee sich von der Mutter nicht gesehen und anerkannt fühlte. Problematisch ist die Art und Weise, in der Eckstaedt weitere Belege für Klees „basalen Konflikt“ „findet“. Ich möchte das methodische und inhaltliche Problem ihres Vorgehens anhand einer weiteren Bildinterpretation Eckstaedts verdeutlichen. Das Bild Rosengarten (1920, Farbabb. XXXIX) besteht, vereinfacht ausgedrückt, aus einer rotbraunen, manchmal durch Schwarz unterbrochenen rasterartigen Bildkonstruktion. Es stellt eine Reihe von Gebäuden dar, deren Charakteristikum ist, dass sie – mit einer Ausnahme – keine Eingänge haben. Bei dem einzigen Gebäude mit einem Eingang (in der Mitte oben), wird auf den Eingang durch vier konzentrisch zulaufende weiße Flächen, die die Form eines unregelmäßigen Kreuzes haben, verwiesen. Aber auch dieser Eingang ist eigentlich kein Eingang, sondern ein viereckiges schwarzes Loch, das durch diese Hervorhebung etwas Bedrohliches erhält. Über dem Eingang ist ein sternförmiges Zeichen angebracht. Wenn sich einmal die Häuser so als vielfach aufgestockte Häuser präsentieren und dieselben andererseits als unzugänglich, ohne Türen, allein mit ihren Fenstern sogar bedrohlich erscheinen, könnte man sagen, daß es hier um Suche wie auch Verfolgung geht. Der zentrale, dunkle Eingang, der keine Tür erkennen lässt, aber mit seiner perspektivischen Betonung in Weiß einen Sog ausübt, spricht deutlich davon. Wenn man das Zeichen, über diesem Eingang, ein doppeltes weißes Kreuz, als Erkennungsmerkmal hinzunimmt, das auf dem Bild Nymphe im Gemüsegarten von 1939 eindeutig das weibliche Genitale markiert, dann versteht man sowohl die Sehnsucht nach dem Mutterleib, der einst totale Geborgenheit bot, eine Sicherheit, die nicht mehr zu bekommen ist, eine Erhöhung in der unio mystica, wie auch die Sehnsucht, zeugend sein zu können. Letzteres sagt die Rose ohne Stiel vor dem Eingang aus.48 (Hrv. MC) 310 I Chronique sentimentale

Abgesehen davon, dass Klee sternförmige weiße Zeichen auch in anderen Zusammenhängen verwendet, dies somit keine sichere Ausgangsbasis für weitere Interpretationen darstellt, werden in dieser Interpretation zwei Thesen miteinander vermischt. Zum einen stimmt die These, die Eckstaedt nunmehr entwickelt, mit der ursprünglichen, aus der Kinderzeichnung abgeleiteten, in der es um „Anerkennung“ geht, nicht überein. Zum anderen versucht Eckstaedt in ihrer neuen Interpretation, zwei Ebenen miteinander zu verbinden, die nicht kompatibel sind: die prägenital-symbiotische mit einer genitalen, d. h., die Sehnsucht nach dem Mutterleib wird mit der Zeugung verbunden. Der dunklen Öffnung und dem sternförmigen Zeichen (als Zeichen für das „weibliche Genitale“) werden somit zwei psychoanalytische Standarddeutungen (prägenital/genital) übergestülpt, ohne zu fragen, ob es noch andere Bedeutungen des Sternzeichens gibt. In Eckstaedts ursprünglicher These ging es dagegen um „Anerkennung“, d. h. um ein narzisstisches Problem, nicht um das Problem symbiotisch/prägenital/genital. Man kann die bedrohliche Öffnung in Rosengarten – zumindest aus psychoanalytischer Perspektive – jedoch auch als Angst vor der Sexualität, spezifischer als Angst vor dem „weiblichen Genitale“ verstehen, eine Interpretation, die Eckstaedt überhaupt nicht in Betracht zieht. Dies gilt in ähnlicher, vielleicht noch akzentuierterer Form für die Zeichnung Ordensburg (1929). Die dunkle Türöffnung des Gebäudes ist so platziert, dass erneut die Assoziation mit dem weiblichen Genitale naheliegt. Ein weiteres Mal bemüht Eckstaedt die „Urphantasie“ der Rückkehr in den Mutterleib, ohne andere Interpretationsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Es mag theoretisch betrachtet richtig sein, eine derartige Phantasie anzunehmen, allerdings finden wir dafür in Klees autobiographischen Äußerungen keine Belege – außer man interpretierte Klees kosmische unio mystica als Verschmelzungsphantasie im psychoanalytischen Sinne. Auch einen anderen Aspekt hat Eckstaedt außer Acht gelassen: Es ist nämlich gar nicht sicher, ob es sich bei „Madame“ tatsächlich um Klees Mutter und nicht vielmehr um die geliebte Großmutter handelt. Danckwardt hat darauf hingewiesen, dass beispielsweise der Dutt von Madame mit dem der Großmutter in Mit seiner Großmutter (1933) übereinstimmt,49 Madame trägt auch die Haube der Großmutter. Was das autobiographische Material dagegen deutlich zeigt, ist Klees Askese, sein Zurückweichen vor der Sexualität, seine Ängste, als Künstler von dieser verschlungen zu werden. In diesem Sinne fasst Klee, wie wir gesehen haben, die Ehe als „sexuelle Kur“ (Tgb. 958), um sich „ganz konzentrieren zu können“ (Tgb., Hausenstein II, S. 507), als Veranstaltung, die sich der Steigerung der künstlerischen „Arbeitsfähigkeit“ unterzuordnen habe50. Zugleich verweist das autobiographische Material auf das Thema des Sichverschließens. Methodisch müssen wir bekanntlich davon ausgehen, dass Bildsymbole mehrdeutig sind und Klees Topos der „gefährlichen Öffnungen“ somit als Selbstwie auch als Objektsymbol verstanden werden kann51. Klee sieht sich in der Sexualität als Subjekt gefährdet und muss sich deshalb verschließen, so wie andererseits die Öffnungen des Objekts gefährlich sind und geschlossen bleiben müssen. Klee hat, wie Schneider Brody es drastisch formuliert, „[...] a sense of horror concerning all that is feminine“.52 Frühe Traumatisierung? – Idealisierung und Entwertung der Frau  I  311

Dass es sich bei Klees Ängsten (und Wünschen) weniger um ein „Eindringen“ – als Rückkehr – in den Mutterleib, sondern um phallische Ängste handelt, verdeutlicht auch eine Zeichnung Klees aus dem Jahre 1939, Mit Artillerie?. In dieser Zeichnung fährt ein winziges Männchen auf einem Wagen mit phallischer Lanze auf eine gigantische Frauenfigur mit rautenförmig geöffneter Vagina zu. Die Vagina ist so groß, dass sie das Männchen samt Wagen ohne Mühe gleichsam verschlingen könnte. Gegen diese Bedrohung bliebe die phallische Spitze wirkungslos bzw. könnte allenfalls zu einer Verletzung der Vagina führen. Vagina und Phallus stehen sich als einander gegenseitig bedrohende Elemente gegenüber. Man könnte dies, kleinianisch, als Angriff auf den Mutterleib interpretieren. Als Rückkehr in den Mutterleib im Sinne der Interpretation Eckstaedts lässt sich die Zeichnung jedoch nur dann verstehen, wenn man die „phallische Artillerie“ negieren würde. Der bedrohliche Antagonismus von Phallus 80  Paul Klee, Mit Artillerie?, 1939, 727, und Vagina als Metapher für Klees Verhältnis zu Bleistift auf Papier auf Karton, 27 x 21,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern Sexualität? Für die Überprüfung der disparaten Thesen Eckstaedts („frühe Traumatisierung“ durch Nichtanerkennung seitens der Mutter, Wunsch nach „Rückkehr in den Mutterleib“ und zugleich nach „Zeugung“) wäre es zwingend erforderlich gewesen, Klees Verhältnis zu seiner Mutter und darüber hinaus zu Frauen im Allgemeinen näher zu untersuchen. In einem Brief an Lily Stumpf53 beschreibt Klee seine Familie und Verwandten als „Gespenster“, die ihn „trübselig“ machten. Der Vater „gehört obenan, ich habe ihn gern. Von ihm aber steigt meine Empfindungsskala hinab zum tiefsten Haß“. In „vielen disharmonischen Jahren“ hätten sich die Charaktere „zu egoistisch entwickelt“. Er betont, dass ihm „eine objektive Beurteilung“ noch nicht möglich sei, fügt aber gleichwohl hinzu: Meine Mutter ist für die Familie ziemlich das Gegenteil des Vorbildlichen. Sie ist wohl leidend, aber es will mir nicht gefallen, daß sie selber alles damit entschuldigt. Gegen mich ist sie übertrieben gut, eine Ungerechtigkeit, die mich abstoßen könnte, geschweige denn, daß sie mich in der Erkenntnis des Wahren hinderte.54

Dies ist offenkundig ein gut verpacktes, letztlich aber vernichtendes Urteil – und steht in eklatantem Widerspruch zu der Behauptung vieler Klee-Biographen, Klee habe ein harmonisches Verhältnis zu seiner Mutter gehabt. Andererseits ist Eckstaedts Vermutung, Klees Mutter habe ihren Sohn Paul abgelehnt, weil dieser „angesichts ihrer eigenen 312 I Chronique sentimentale

künstlerischen Begabung und auch Ausbildung kaum Anlaß zu Stolz und Freude war“, nicht nur rein spekulativ, sondern vor allem auch wenig plausibel55. Betrachten wir vor diesem Hintergrund noch einmal einige Arbeiten Klees unter dem Aspekt seines Verhältnisses zu Frauen. Hier sind zunächst zwei seiner frühen Radierungen (aus der Gruppe der Inventionen) von Bedeutung. Jungfrau (träumend) (1903) zeigt eine unschöne abgemagerte Frau mit Hängebrüsten, auf einem Baum liegend. Das Liebesmotiv ist durch zwei Vögel im Hintergrund angedeutet. Klee bemerkt dazu: „Die Dame wartet jungfräulich auf den Freier, den die Gesellschaft ihr erlaubt. Schöner wird die Alternde dadurch nicht.“ Dies als „Protest gegen die sterile Moral der bürgerlichen Gesellschaft“ zu verstehen, erscheint kühn.56 Es handelt sich, wie bereits erörtert, um eine Travestie der alternden und hässlichen Frau. Möglicherweise hat Klee dabei auch einen etwas grenzwertigen Spruch seines Vaters parodiert, der von der Jungfrau als „trockenes Mädel“ spricht (Tgb. 13). In der zweiten Version von Weib und Tier (1904) sehen wir eine ähnlich unschöne Frau mit winzigen Brüsten, hervorstehendem Bauch und süffisant-kokettem Gesichtsausdruck. Sie hält einem eigenartigen Tier, einer Mischung aus Hund und Gazelle, eine Blume entgegen, die es zugleich anlockt und auf Abstand hält. Auffällig ist die Geste, mit der sie mit ihrer Hand zwischen ihre Beine fasst, offensichtlich um ein nach unten rutschendes Tuch, mit dem sie sich umhüllt hat, festzuhalten, zugleich die Andeutung einer autoerotischen Geste. Die „Dame“ lockt das lüsterne Tier und hält es, selbstgefällig lächelnd, gleichzeitig auf Abstand. Klee schreibt hierzu: Das Tier im Manne verfolgt die Dame, die dafür nicht ganz unempfänglich ist. Beziehungen der Dame zum Tierischen. Eine kleine Entkleidung der Damenpsyche. Feststellung einer nach außen gern verschleierten Wahrheit. (Tgb., Notizen für Leopold Zahn, Nr. 513, S. 523)

Die „Wahrheit“, so Klee, sei, dass die Frau ein ebenso triebhaftes Wesen besitze wie der Mann, dies jedoch hinter Koketterie verberge. Noch drastischer ist die Radierung Weib, Unkraut säend, die Frau ist hier die Urheberin des Unheils. Klees Frauen sind fast ausnahmslos hässlich, womit sie durch eine Art magischen Gegenzauber ihrer gefährlichen Macht beraubt werden. Der Gestus der Entlarvung und der tendenziell misogyne Charakter seiner Radierungen sind nicht zu übersehen. Ebenfalls auf der Linie der Ent-larvung der „Damenpsyche“ liegt die Bemerkung Klees: „Nur aus Mitleid würde ich ein Weib belügen. Das Weib aber lügt aus dem Grund eines falschen Herzens.“ (Tgb. 146). Betrachtet man schließlich noch Klees Hinterglasbild Schwangerschaft (1907), das sich vom Datum her auf Lily Klees Schwangerschaft bezieht, gewinnt man den Eindruck, dass es sich hier ebenfalls um eine aggressive Entwertung handelt. Die schwangere Frau ist durch eine großmütterlich wirkende Frisur, ein fliehendes Kinn und eine unschöne Knollennase charakterisiert. Selbst Grohmann bemerkt zu dieser Darstellung der schwangeren Lily, dass Klees Blick „erbarmungslos“ sei, „A sense of horror“ gegenüber dem Weiblichen, wie Schneider Brody zu Recht bemerkt. Frühe Traumatisierung? – Idealisierung und Entwertung der Frau  I  313

81  Paul Klee, Schwangerschaft, 1907, 19, Hinterglasmalerei, Pinsel, weiß hinterlegt, rekonstruierter Rahmen, 27,5 x 32,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

Es gibt jedoch auch einen anderen, scheinbar diametral entgegengesetzten Aspekt des Klee’schen Frauenbildes: den Typus der sittlich-reinen, hehren Frau (den er freilich als Bild nicht darstellt). Dieser Frauentyp wird dadurch entsinnlicht, dass er zur Mutter­ figur wird. Lily Stumpf (der er ja schrieb, dass ihm der „Coitus“ nichts mehr bedeute) scheint für ihn diesem Typus zu entsprechen. In seinem Tagebuch schreibt er, an Lily gerichtet: Ich schenke dir mein Ganzes und gab dir doch nichts, bedenkend, daß ich das Leben aus Deiner Hand empfing. Daß du mich neugeboren hast in Schönheit. (Die Geliebte als Mutter des neuerstandenen, des sittlichen Mannes). (Tgb. 173)

Die Frau wird für Klee geradezu verehrenswert, wenn sie ihrer Sinnlichkeit beraubt, zur Mutterfigur, zugleich auch zur Jungfrau und Göttin wird. Es handelt sich genau genommen somit nicht mehr um eine Frau, sondern um eine Projektion von Reinheit und Erlösung (dem idealisierten Wagner’schen Frauentypus ähnlich), mit der der bedrohliche Antagonismus von Penis und Vagina durch Entsinnlichung und Idealisierung abgewehrt wird. Die unbewusste psychische Dimension lässt sich zumindest ahnen, wenn berücksichtigt wird, dass Klees Verhältnis zu seiner Mutter ausgesprochen konflikthaft war, sie möglicherweise von ihm sogar gehasst wurde. Seine Idealisierung der Mutter-Frau kann somit als Reaktionsbildung verstanden werden. Die aggressiven Impulse werden dadurch abgewehrt, dass die Frau zur Mutter stilisiert und damit idealisiert wird. Klees Verhältnis zu Frauen ist durch die Dualität von Idealisierung und Entwertung geprägt. 314 I Chronique sentimentale

Transpathologie: Die „zweite Haut“ Die These von einer angeblichen frühen Traumatisierung konnte uns keinen Aufschluss über Klees Weg in sein düsteres „Zwischenreich“ geben. Sie hat allerdings auch gezeigt, dass sich Klees Psyche mit einfachen psychoanalytischen Konzepten wie „Verschmelzungsphantasien“ oder „Trauma“ aufgrund fehlender Anerkennung nicht entschlüsseln lässt. Eine andere – ebenfalls psychoanalytische – Richtung der Interpretation schlägt Marta Schneider Brody ein. Während Eckstaedt das Problem von Klees Sklerodermie-Erkrankung weitgehend ignoriert, hat Schneider Brodys Ansatz den Vorteil, dass sie über das Thema „Haut“ einen Beitrag zum Verständnis von Klees Erkrankung liefert. Sie skizziert, im Anschluss an den Psychoanalytiker Ogden, das Konzept einer „second skin formation“, einer „zweiten Haut“, was angesichts von Klees maligner Hautverdickung und -verhärtung von besonderem Interesse ist. Sie geht von dem kleinianischen Konzept der schizoid-paranoiden und depressiven Position aus, der sie einen „autistic-contiguous“ Modus vorschaltet, der durch Ängste vor Fragmentierung, Auflösung und Vernichtung charakterisiert ist. Wesentlich ist dabei, dass „second skin formation“ einen Schutzmechanismus bezeichnet: „In the autistic-contiguous mode, the individual often attempts to defend himself against anxiety ‚by means of a second skin formation‘ (Ogden 1991, p. 594)“.57 Es ist an dieser Stelle erforderlich, eine Anmerkung zur physiologischen und psychologischen Bedeutung der Haut zu machen. Die Haut ist eine organische und zugleich „imaginäre“ Gegebenheit – Letztere wird von Anzieu als „Haut-Ich“ bezeichnet.58 In beiden Fällen, als Organ und als „Haut-Ich“ erfüllt die Haut eine „Doppelfunktion“ als „Reizschutz“ und als „Berührungssensibilität“.59 Die bewusste und unbewusste Vorstellung, ein intaktes Haut-Ich zu haben, bietet Schutz bei gleichzeitiger Möglichkeit, angstfrei mit Anderen in Kontakt zu treten. Tritt, wie im Falle Klees, im Haut-Ich der Reizschutz in den Vordergrund (Sich-Verschließen, Kristallisation etc.), wird also die Abwehrfunktion „überbesetzt“, leidet die Berührungssensibilität, die Doppelfunktion der Haut wird beeinträchtigt oder gar zerstört. Ich möchte auch zeigen, dass aufgrund belastender Ereignisse (Amtsenthebung, Isolation infolge der Emigration) der „Reizschutz“ von Haut und Haut-Ich nicht mehr funktionierte und Klee somit ausschließlich auf seine Kunst als schützende „zweite Haut“ angewiesen war. Schneider Brody sieht in Klees Radierung Comedian60 einen Beleg dafür, dass für Klee die Kunst eine derartige „zweite Haut“ („second skin“) war: Die Maske des „Komikers“ wirke wie „angewachsen“. Sie bezieht sich dabei auf Klees Kommentar zu der Radierung: Vom Komiker lässt sich noch sagen, die Maske bedeute die Kunst und hinter ihr verberge sich der Mensch. (Tgb. 618)

Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass Maske und Gesicht des Komikers nicht „angewachsen“ sind, wie Schneider Brody unterstellt, sondern – und zwar in allen Versionen – Transpathologie: Die „zweite Haut“  I  315

deutlich getrennt sind. Die Maske ist am Kopf des Komikers befestigt und ermöglicht so den Vergleich von Maske und Gesicht. Ungeachtet der nicht ganz präzisen Wiedergabe der Bildstruktur ist Schneider Brodys Hinweis gleichwohl aufschlussreich: Kunst verbirgt als Maske den Menschen Klee und stellt so eine „zweite Haut“ dar. Zugleich schützt die Maske: Man kann den Menschen hinter der Maske, seine Reaktionen und Emotionen nicht erkennen, das „Innerste“ bleibt „allerheiligst verschlossen“ (Tgb. 605). Leider hat Schneider Brody ihre Überlegungen nicht auf die Spätphase der persönlichen und künstlerischen Entwicklung Klees ausgeweitet. Es wäre ihr sonst aufgefallen, dass Klee in seinem Spätwerk (ab 1939) tatsächlich Darstellungen der Fragmentierung und Auflösung geschaffen hat, am drastischsten vielleicht in Angstausbruch III (1939), ähnlich in Liebeslied bei Neumond (1939)61. Schutz gegen die Gefahr der Fragmentierung wäre dann die künstlerische Darstellung derselben, Kunst als schützende „zweite Haut“. Kunst als „second skin formation“, als Medium der Selbstintegration und Selbstimmunisierung finden wir in der Biographie zahlreicher Künstler62. Bei Klee stößt die Selbstintegration jedoch auf ein besonderes Problem: Die sinnlich-triebhaften Impulse bleiben abgespalten. Klees Askese beruhte auf der Vorstellung, er könne als Asket, als eine „Art Mönch“, künstlerisch am produktivsten sein. Das Problem dabei zeigt sich bereits 1914/15 in der Doppelbedeutung des Kristallinen. Das Bild des Kristallinen, dem die „pathetische Lava“ nichts mehr anhaben kann, ist ambivalent. Es ist einerseits Kunstsymbol, Vorstellung der Unsterblichkeit, insoweit Schutz, zugleich aber auch Erstarrung, Verwandlung ins Anorganische, im Sinne des Haut-Ichs der Verlust der „Berührungssensibilität“ und damit die Inversion des Schutzes. Bereits 1901, nachdem Klee gerade die Liebe Lilys errungen hat, deutet sich eine derartige Transformation an: Er spricht nunmehr fast übergangslos von seinem „eisig hohen Geist“ (Tgb. 165). Warum degeneriert die „second skin formation“ vom Schutz zur lebensbedrohlichen Erstarrung? Es ist ja offensichtlich nicht die Kunst selbst, die zu diesem Phänomen führt. Kunst bleibt bei Klee stets Ausdruck seiner Vitalität. Schneider Brody geht diesem Problem in einem weiteren Beitrag nach, in dem sie sich ebenfalls auf die hier bereits diskutierten Phänomene des Verschließens und der „Überkrustung“ bezieht (das in diesem Zusammenhang ebenfalls relevante Phänomen der Kristallisation wird von ihr nicht berücksichtigt). Sie sieht darin Ogdens „description of one type of autism“, in welchem „the individual experiences his surface [...] as a hard crust of armor that protects him against unspeakable dangers“ (Hrv. MC).63 Sie sieht zwar in Klee keinen Autisten, aber in dem charakteristischen rigiden Sich-Verschließen Züge einer „schizoid personality“.64 Damit bleibt das Problem weiterhin ungelöst, es wird der Fokus von der Kunst auf das Phänomen der „Überkrustung“ verschoben. Übersehen wird der entscheidende Punkt: die Doppeldeutigkeit der Kunst, ihre Janusköpfigkeit. Kunst ist einerseits schützende „zweite Haut“, andererseits bedarf Klee zu deren Schutz wiederum Verschlossenheit, psychische Immunisierung, „Überkrustung“ und Kristallisierung. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Das Problem besteht darin, dass diese Immunisierung nicht allein ein Prozess im Dienste der Kunst bleibt, sondern zu Klees Lebensskript wird. 316 I Chronique sentimentale

82  Paul Klee, Komiker, 1904, 10, Radierung, 14,6 x 15,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Das lässt sich beispielsweise an Klees „Lösung“ der „sexuellen Frage“ zeigen: Während zunächst das Leben der Kunst untergeordnet wird, prägte die Abspaltung von Sinnlichkeit und Eros später nicht nur seine Kunst, sondern die ganze Person Klee. Es ist somit erforderlich, das Konzept der „zweiten Haut“ zu erweitern: Es gibt noch eine weitere psychische „Hautformation“, die der malignen psychischen Überkrustung und Kristallisation, die mit der Kunst in Verbindung steht, zugleich aber über sie hinausweist, sein Leben prägt. Im Rahmen des Konzepts des „Haut-Ichs“ wäre es die Überbesetzung der Abwehr, des Reizschutzes, auf Kosten der Berührungssensibilität. In der Tat ging es – wie Suter schreibt – „eigenartig“ zu mit Klees Erkrankung.65 Der Schutz, der als Verschließen des „Innersten“, als „Überkrustung“, als metaphorische Verwandlung ins Anorganische gesucht wird, wendet sich gegen seinen Urheber und lässt Klee nunmehr auch körperlich erstarren. Der Schutz wendet sich gegen die physiologische Haut, greift sie an bis zu ihrer Verhärtung und später bis zum tödlichen Befall der inneren Organe.66 Man könnte es auch so formulieren: Das Körper- und Selbstbild der Verhärtung und Erstarrung wird auf der Haut real. Man mag diese Überlegungen als spekulativ zurückweisen. Das Beklemmende, geradezu Unheimliche daran aber ist, dass die Metaphern der Überkrustung und der Kristallisierung genau das abbilden, was sich bei Klee auf physiologischer Ebene tatsächlich ereignet hat. Insofern ist die These der malignen Inversion dieses „Schutzmechanismus“ plausibler als die These einer frühen Traumatisierung, für die es keine Belege gibt. Sie bedarf insbesondere keiner Diagnose frühkindlicher Störungen, sondern kommt mit einer gleichsam phänomenologischen Interpretation aus. Pathologie wird somit nicht als Transpathologie: Die „zweite Haut“  I  317

Ergebnis diskreter pathogener Faktoren verstanden, sondern als Konsequenz eines Lebensentwurfs – als Transpathologie. So hatte es auch, wenn auch mit anderen Worten, bereits Glaesemer, der vielleicht beste Klee-Kenner, gesehen: Klees Erkrankung als „Teil seines Wesens“67. Einen strikt naturwissenschaftlichen Beweis für die pathogene Bedeutung des Klee’schen Körperbildes gibt es nicht, wohl aber eine starke hermeneutische Plausibilität – wie bei den meisten psychosomatischen Argumentationen. Dass – beispielsweise – die hysterische Erblindung geradezu buchstäblich einem Augenverschließen vor schmerzhaften Erlebnissen entspringt, ist nicht naturwissenschaftlich, wohl aber durch therapeutische Erfahrung nachweisbar. Eine ähnliche Sicht vertritt auch Anzieu am Beispiel der Autoimmunreaktion (Klees Sklerodermie-Erkrankung gehört zu den Autoimmunerkrankungen): Die unbewußten Angriffe [auf die Haut, MC], scheinen mir Selbstanteilen zu enspringen, die mit Abkömmlingen des dem Ich zugehörigen Selbstzerstörungstriebes verschmolzen sind. Diese Abkömmlinge wurden an die Peripherie des Selbst verschoben und sind in der oberflächlichen Schicht – dem Haut-Ich – eingekapselt.68

Klee hat wie Thomas Manns Adrian Leverkühn einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, allerdings konträr zu jenem: Während Leverkühn den Pakt mit dem Teufel besiegelt, indem er sich mit der Hetäre Esmeralda einlässt und dafür mit dem Leben bezahlt, entsagt Klee der Sinnlichkeit zugunsten der Kunst, muss aber für seine Entsagung ebenfalls mit dem Leben bezahlen. Es wäre reizvoll, eine psychodynamische These zu entwickeln, mit der wir Klees Persönlichkeit schlüssig aus frühkindlichen Konflikten ableiten könnten. Das uns zur Ver­ fügung stehende Material lässt jedoch keine derartige These zu: Relativ zuverlässige Auskunft über Klees Entwicklung erhalten wir erst seit seinen Jugend- und Studienjahren. Selbst wenn wir es, wie etwa in einer analytischen Psychotherapie, mit einem leibhaftigen Gegenüber zu tun haben und der therapeutische Dialog uns die Möglichkeit gäbe, unsere Gedanken und therapeutischen Konzepte im Laufe des therapeutischen Prozesses zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren, ist es problematisch, mit scheinbar schlüssigen psychodynamischen Thesen zu arbeiten. Bestenfalls können wir – vornehmlich durch den Prozess von Übertragung und Gegenübertragung – bestimmte Aspekte unseres Gegenübers verstehen und deuten. Die Verlockung, pauschale psychoanalytische Interpretationen Klees zu konstruieren, wäre groß, wenn es ausführlicheres Material über Kindheit und Jugend Klees gäbe. Sie wären vermutlich aber noch fragwürdiger als diejenigen, die wir in der Psychotherapie entwickeln. Ich habe deshalb eine „dichte Beschreibung“ dessen vorgezogen, was wir aus Klees autobiographischem Material ­wissen69. Ich habe Klees Entwicklung als einen Prozess der Selbsttransformation, der Asketisierung und der Abspaltung triebhaft-sinnlicher Anteile beschrieben, dem er seine Kunst als Ausdruck eines „kosmogonischen Eros“ entgegenstellte. Seine Vitalität hat Klee primär im Bereich der Kunst gelebt. Wie weit ihm dieser Prozess und seine Folgen bewusst 318 I Chronique sentimentale

waren, muss offen bleiben. Klee selbst sieht eher eine Art schicksalhaftes Wachstum: Seine „raffinierte ökonomische Taktik“ und sein Sich-Verschließen seien nicht „frei gewählt, sondern auch bei Zeiten schon so in mir gewachsen“ (Tgb. 605). „Glücklicher“, schreibt Klee allerdings, sei er dadurch nicht geworden.70 Klee war nicht einfach Künstler, er hat vielmehr sukzessiv und rückhaltlos sein Leben der Kunst untergeordnet. Er hat sein Künstlertum zunehmend als Askese erlebt, die es ihm – gemäß seiner Vorstellung von Künstlertum – auferlegte, an einem Ort zu leben, an dem es keine „Wollust“ mehr gibt, wo er „Neutralgeschöpf“ ist. Das Ringen um die künstlerische Form bei gleichzeitigem Kampf gegen die Sinnlichkeit stürzt ihn in seinen frühen Jahren zeitweilig in Depression, Verzweiflung und Lebensüberdruss. Es ist deshalb nicht übertrieben, wenn sein Freund Grohmann, ähnlich wie sein Biograph Glaesemer, ihn zuweilen dem „Wahnsinn“ nahe sah. Bis in seine frühen zwanziger Jahre hinein ist Klee somit alles andere als der weltentrückte, „jenseitige“ Künstler, als den man ihn später so gern sah. Klees Leben ist in dieser Zeit geprägt durch den Konflikt zwischen Geist und Trieb. Zum „jenseitigen“ Künstler wird Klee erst über seine Askese, seine Vorstellung, eher bei den Toten und Ungeborenen zu leben, „Neutralgeschöpf“ zu sein71. Er hat sein „Innerstes allerheiligst verschlossen“, sich mit einem kristallinen Panzer umgeben und glaubt, damit gegen die „Angriffe des Schicksals“ gefeit zu sein: eine grandiose Selbstüberhöhung und Selbstmythisierung, zugleich aber auch – jedenfalls für seine späteren Jahre – ein Stück weit authentische Selbstwahrnehmung. Klee hat dafür einen Preis bezahlt und gelegentlich geahnt, dass er ihn bezahlen müsse. Andererseits war für ihn die Kunst das vitalste Element seines Lebens. 1939 schrieb er an Grohmann, dass er trotz seiner Krankheit seine „Lebensfreude“ durch die Arbeit „reconstruieren“ könne72. Dieses Leben-Können durch die Kunst hat es ihm ermöglicht, in seinen letzten Lebensjahren ein Werk von höchster künstlerischer Qualität zu schaffen, das Beste, was es von ihm gibt, ein Werk, das in seiner virtuosen Einfachheit und Direktheit berührt und ergreift, singulär für die Moderne, das dem Betrachter mit dem Anspruch eines existentiellen Absoluten gegenübertritt. Er hat die von ihm angestrebte „Reduction“ und den damit verbundenen „Primitivismus“ erreicht, er ist einer der bedeutensten Künstler einer art brut geworden. Die Frage, die sich der Leser am Ende stellen mag, ob Klee ein glückliches oder unglückliches Leben geführt habe, lässt sich angesichts der unterschiedlichen Äußerungen Klees nicht beantworten. Eines jedoch lässt sich mit Sicherheit sagen: Glück und Lebensfreude fand Klee in seiner Kunst. Einst werde ich liegen im Nirgend Bei einem Engel Irgend73

Transpathologie: Die „zweite Haut“  I  319

Anmerkungen 1. Einleitung

4  P. Klee, Beitrag für den Sammelband „Schöpferische Konfession“, in: Geelhaar

1  Meine

keinen

(1976), S. 118. Im Folgenden werden – sofern

Anspruch auf Vollständigkeit. Ich möchte mei-

Untersuchung

nicht anderes angegeben – die Schriften Klee

nen Text vielmehr mit Probebohrungen in das

nach dem von Geelhaar herausgegebenen Sam-

gewaltige künstlerische und biographische

melband zitiert.

Massiv Klee vergleichen. Angesichts des immen-

5  Vgl. hierzu van Goghs Briefe an Gauguin, in:

sen Umfangs der bisher vorliegenden Klee-For-

Vincent van Gogh (2001), Briefe.

schung seit den zwanziger Jahren des 20. Jahr-

6  P. Klee, Wege des Naturstudiums, in: Geel-

hunderts erschiene mir die Bezeichnung

haar (1976), S. 126.

„Versuch“ angemessen. Auch O. K. Werckmeis-

7  Klee (1924), S. 66.

ters Text aus dem Jahre 1981, Beginn einer kriti-

8  Ebd., S. 65. Vgl. hierzu auch Klees Pädagogi-

schen Klee-Forschung, trägt den Titel Versuche

scher Nachlass (PN), BG A/38 (der Nachlass ist

über Paul Klee.

transkribiert und im Internet über das Archiv

2  Eine Aufarbeitung des biographischen Hin-

des Zentrums Paul Klee Bern zugänglich). Hier

tergrunds Klees fordert Werckmeister bereits

macht Klee unmissverständlich klar, dass er sich

seit den achtziger Jahren (1981, 1982, 1989).

am kosmischen „Urgrund“ wähnt.

Den aktuellen Stand der Klee-Forschung reprä-

9  L. da Vinci (1990), Sämtliche Gemälde und

sentiert die 2012 erschienene umfangreiche

die Schriften zur Malerei, S. 207.

und mit opulentem Bildmaterial ausgestattete

10  Zitate aus den Tagebüchern von Petitpierre

Klee-Biographie Paul Klee. Leben und Werk

finden sich bei Roßbroich (2003) und Sickert

(2012, hrsg. vom Zentrum Paul Klee, Bern), vgl.

(o. J.).

hierzu meine Besprechung in der FAZ, 8.7.2013.

11  Auf die Übereinstimmung der kosmischen

3  Die bisher unveröffentlichten Lebenserinne-

Phantasien von van Gogh und Klee hatte ich

rungen Lily Klees (Archiv Zentrum Paul Klee,

bereits im Vorwort hingewiesen. Auch Klees

Bern) ermöglichen, wenigstens umrisshaft ein

Vorstellung eines Lebens als eine Art „Mönch“ –

Bild der Frau zu skizzieren, die Klee in den

das bei van Gogh Bordellbesuche nicht aus-

Höhen und Tiefen des gemeinsamen Lebens zur

schloss – ist möglicherweise von van Gogh

Seite stand, ein Bild, das erheblich von der

beeinflusst. Vgl. van Gogh (2001), S. 213, 222.

angeblich so heiteren und bodenständigen Lily

12  E. Kris/O. Kurz (1980), Die Legende vom

Klee abweicht, wie es in der Regel in der

Künstler. Ein geschichtlicher Versuch.

Klee-Biographik geschildert wird. Von Bedeu-

13  Klee selbst verwendet einen ähnlichen

tung sind in diesem Zusammenhang auch bis-

­Ausdruck: In einem Brief an Will Grohmann

her unveröffentlichte Briefe an ihren Sohn Felix

(3.7.1927) lobt er diesen dafür, dass er ein so

und an Will Grohmann, mit dem Lily und Paul

„kompliziertes Innenportrait“ von ihm gezeich-

Klee seit ihrer Bauhaus-Zeit befreundet waren.

net habe.

320 I Anmerkungen

erhebt

14  P. Klee (1988), Tagebücher 1898–1918. Text-

23  Eine dieser Ausnahmen bildet Suters rich-

kritische Neuedition, bearbeitet von W. Kersten.

tungsweisende Monographie über die Erkran-

15  So schreibt Klee 1904 an seine Verlobte Lily

kung Klees: H. Suter (2006), Paul Klee und seine

Stumpf: „Manchen der letzt-verflossenen

Krankheit.

Abende verwendete ich auf die Redaktion mei-

24  Eine textkritische Untersuchung des Päda-

nes Tagebuches [...] Ich ging mit der größten

gogischen Nachlasses, die wissenschaftlichen

Ironie, Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit vor

Kriterien entspricht, ist neuerdings mit der Dis-

und ja nicht im Einblick auf den Fall, dass ein

sertation von Fabienne Eggelhöfer (2012) vor-

anderer Mensch dahinter käme, sondern in der

gelegt worden.

Absicht, es später einmal als Material einer

25  Vgl. Hopfengart (2008). Hopfengart spricht

Autobiographie zu verwenden.“ Brief an Lily

u. a. von Klee-„Hagiographien“ (S. 75). Klee ist

Stumpf, 16.4.1904, in: Briefe an die Familie

geradezu ein klassisches Beispiel der „Heroisie-

(1979), Bd. 1, S. 413 f.

rung“ des Künstlers, wie sie von Kris/Kurz (1980)

16  Brief an Lily Klee 26.4.1930, in: Briefe an

beschrieben wurde.

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1116.

26  Es bedürfte einer gesonderten Untersuchung,

17  Da diese ursprüngliche Fassung der Tage-

um zu zeigen, welch’ dichotomisches Denken sich

bücher nur bruchstückhaft vorliegt, ist ein sys-

in dem Vorwurf des „Psychologismus“ verbirgt.

tematischer Vergleich der verschiedenen Fas-

Die Vorstellung, man könne das Werk eines Künst-

sungen nicht möglich. Die ausführlichste

lers säuberlich von seiner biographischen Entwick-

Untersuchung darüber, welche Veränderungen

lung, seiner Auseinandersetzung mit lebensprakti-

Klee in seinen Tagebüchern vorgenommen hat,

schen, sozialen und historischen Phänomenen

findet sich bei Geelhaar (1979). Entsprechend

trennen, ist nicht nur in höchstem Maße welt-

der Untersuchung von Geelhaar müssen wir

fremd, eine Idealisierung der Kunst, sondern

davon ausgehen, dass Klee sein Tagebuch bis

widerspricht dem Selbstverständnis der meisten

etwa 1921 redigierte und damit nachträgliche

Künstler – nicht zuletzt auch demjenigen Klees.

Veränderungen einfügte.

27  J. Richardson (1991), Picasso. Leben und

18  M. Franciscono (1991), Paul Klee. His Work

Werk, Bd. 1, S. 15.

and Thought. S. 9.

28  Klee (1924), S. 64.

19  O. K. Werckmeister (1981), Versuche über Paul

29  Der Begriff der „Askese“ spielt auch in der

Klee, S. 196. Während, so Werckmeister, Glaesemer

Philosopie Nietzsches eine bedeutende Rolle.

in seiner umfangreichen Untersuchung zu Klee

Klee kannte einige Texte Nietzsches, u. a. den

(1976) „Klees Selbstdarstellung wissenschaftlich

Zarathustra. Es ist allerdings nicht nachweisbar,

ratifiziert“ habe, billigt er Geelhaar zu, in seiner

dass Klee die Stellen kannte, in denen sich

Dokumentation zu Klees Schriften (1976) einen

Nietzsche explizit mit dem Problem der Askese

Beitrag zu einem „geschichtlichen Verständnis“

auseinandersetzte, etwa in Zur Genealogie der

von Klee geleistet zu haben (Werckmeister [1981],

Moral. Zu Klees Auseinandersetzung mit Nietz-

S. 192). Es gibt allerdings durchaus kritische

sche vgl. Kap. 7.

Anmerkungen Glaesemers zu Klee.

30  Zentrum Paul Klee (2012), S. 40.

20  Lily Klee, Brief an Will Grohmann,

31  Haxthausen (1990), S. 28. Haxthausen bezieht

9.10.1938, Archiv Zentrum Paul Klee, Bern.

sich wesentlich auf einen knappen, zehn Seiten

21  W. Grohmann (1954), Paul Klee, S. 50

umfassenden Bericht von H. F. Geist, in dem dieser

22  Glaesemer (1987), S. 28.

über eine Begegnung mit Klee berichtet, und Einleitung I 321

auch hier wiederum nur auf einen Satz Klees:

indem er mögliche psychische Ursachen unter-

„Meine Zeichen sind keine gewollten Träger von

sucht. Glaesemer hat diesen Aspekt, wenn auch

Inhalten“ (Geist, in: Grote [1959], S. 90). Das ganze

nur in einer Anmerkung, prägnant zum Aus-

Gespräch zwischen Klee und Geist bezieht sich

druck gebracht, indem er darauf verweist, dass

dabei auf Kinderzeichnungen, die ihm Geist vor-

Klees Erkrankung „Teil seines Wesens“ gewesen

gelegt hatte. Entgegen früherer Äußerungen

sei ([1976], S. 318, Anm. 17).

urteilt Klee hier kritisch über die „Kunst“ des Kin-

36  Brief an Will Grohmann, November 1939,

des: „Sein Zeichnen ist eine biologische Notwen-

in: Gutbrod (1968), S. 81.

digkeit. Es zeichnet, wie es läuft, wie es spricht. Es muß das Gesehene, das Gewünschte [...] festhalten. Das Kind deformiert nicht!“ (ebd, .S. 88). Werckmeister weist darauf hin, dass Geists Noti-

2. Von der Linie zur Farbe: Klees ringen um die Form

zen „mit Vorsicht gelesen werden“ müssen“, (Werckmeister [1981].S. 165). Für Werckmeister ist

1  Die Tagebucheintragung schließt mit dem

der Text Geists, in dem er Nähe zu Klee betont,

Satz: „Es ist Zeit, aus dem Lande Schweiz dem-

„offensichtlich ein Versuch des Autors, sich von

nächst für immer abzureisen.“

seiner Verbindung mit den Nationalsozialisten zu

2  Hans Klee stammte aus Thann in der Rhön.

rehabilitieren“ (ebd., S. 177).

Da Klees Vater nie die schweizerische

32 Ebd.

Staatsbürgerschaft erwarb, war auch Paul Klee

33  In seinem kenntnisreichen Text behauptet

offiziell Deutscher, was sich bei seiner Emigra-

Franciscono (1991), dass Klees Werk durch den

tion in die Schweiz 1933 und seinen Einbürge-

Schwerpunkt auf Repräsentation („representa-

rungsversuchen als äußerst hinderlich erwies.

tion“) statt auf Abstraktion charakterisiert sei.

3  Vgl. P. Klee (1988), Tagebücher, Hausenstein

Abgesehen davon, dass Klees künstlerisches

I, S. 482.

Streben stets auf „Reduction“, „Sparsamkeit

4  Hausenstein (1921), S. 28. Möglicherweise

der Mittel“, gerichtet war und Repräsentation

war Hausenstein wiederum von der ersten

und Abstraktion sich kontinuierlich abwech-

Klee-Biographie beeinflusst, in der der Verfas-

seln, übersieht Franciscono, dass sich Klees

ser Zahn von Klees „maurisch-spanischen

Werk nicht auf der Achse Repräsentation – Abs-

Augen“ spricht (Zahn [1920], S. 7).

traktion bestimmen lässt. Zentral ist zumindest

5  Vgl. hierzu Kap. 6.

für den späteren Klee seine kosmologische Ori-

6  Brief an Hans Bloesch, 10.10.1998, zit. n. J.

entierung und die Darstellung existentieller

Glaesemer (1973), S. 74.

Grundsituationen unter Berücksichtigung der

7  Dies entspricht der Künstlerlegende, dass

damit verbundenen Formprobleme.

viele berühmte Künstler zunächst von ihrer

34  „Wenn ich ein ganz wahres Selbsportrait

Mutter gefördert wurden. Ich werde später dar-

malen sollte, so sähe man eine merkwürdige

auf eingehen, dass Klee – entgegen einer in der

Schale. Und drinnen, müsste man jedem klar-

Literatur vertretenen Annahme – seiner Mutter

machen, sitze ich wie der Kern in einer Nuß.

außerordentlich skeptisch gegenüberstand.

Allegorie der Überkrustung könnte man dieses

Bereits im Alter von acht Jahren notiert Klee

Werk nennen.“ (Tgb. 675).

rückblickend in seinem Tagebuch: „Meine Mut-

35  Suters Monographie über Klees Erkran-

ter kam nach einer Reise von etwa 3 Wochen

kung (2006) greift diesen Zusammenhang auf,

nachts zurück als ich längst im Bett lag und

322 I Anmerkungen

schlafen sollte. Ich stellte mich schlafend [...].“

19  „Bei Knirr habe ich Akte und Köpfe in einer

(Tgb. 28). Positiver war Klees Verhältnis zu

etwas ästhetisierenden Manier zeichnen

­seinem etwas despotischen und sarkastischen

gelernt ... Formal war dabei weder Können

Vater, den er zunächst vorbehaltlos bewun-

noch Wollen“ (Tgb., Hausenstein II, S. 506).

derte: „Eine längere Zeit glaubte ich be-

20  Brief an Hans Bloesch, 27.11.1998, zit. n.

dingungslos an den Papa und hielt sein Wort

Glaesemer (1973), S. 75.

‚Papa kann alles‘ für pure Wahrheit.“ (Tgb. 7).

21  Bei dieser Kritik ist zu berücksichtigen, dass

8  Die Zeichensetzung entspricht – wie in allen

von Stuck gerade auch als Zeichner berühmt

Klee-Zitaten – dem Originaltext.

war. Für Kandinsky ist er „der erste Zeichner

9  Es ist bemerkenswert, dass auch Picasso im

Deutschlands“ (vgl. Riedl [2009], S. 20).

Alter von 13 Jahren die ersten Zeichnungen

22  Brief „Ihr Lieben“, 20.11.1900, in: Briefe an

anfertigte, die einigermaßen technisch-forma-

die Familie (1979), Bd. 1, S. 101.

len Anforderungen entsprachen.

23  Haftmann (1950), S. 19.

10  Vgl. die Abbildungen bei Glaesemer (1973),

24  „Er sagte mir zum Beispiel ‚Illustrieren tut

S.  26 f.

Ihnen gut, auch wenn Sie’s gar nicht brau-

11  Franciscono (1991), S. 17.

chen‘.“ Brief an Hans Klee, 26.2.1901, in: Briefe

12  Werckmeister (2008), S. 32.

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 113.

13  Zuvor hatte v. Wedderkop (1920) in der

25  „Stuck meinte mir zur Bildhauerei zuraten

Reihe Junge Kunst eine Broschüre über

zu dürfen, wenn ich dann wieder malen wollte,

Klee veröffentlicht, die jedoch – nach einer Ein-

könnte ich dann das Erlernte gut brauchen [...]

leitung – hauptsächlich aus Abbildungen be-

ein Beweis dafür dass er nichts von der Welt der

stand.

Farbe versteht.“ (Tgb. 140).

14  Tgb. 425. Wie bei allen Tagebucheintra-

26  „Mir ist nämlich wieder einmal deutlich

gungen wissen wir – aufgrund der von Klee vor-

geworden, dass ich nicht malen kann, und das

genommenen nachträglichen Redaktion – auch

ist so eine Sache trotz dem Äquivalent, das in

hier nicht, wie diese Eintragung genau zu datie-

meinen plastischen Versuchen besteht. Die

ren ist.

Leute, die sie gesehen haben, sagten: ‚Schade!

15  Zentrum Paul Klee (2012), S. 40. Die Auto-

Der wird niemals Maler‘.“ Brief an Lily Stumpf,

ren sprechen von einer „frauen- und körper-

15.1.1901, in: Briefe an die Familie (1979), Bd. 1,

feindliche[n]“ Haltung Klees. Insbesondere

S.  107 f.

Werckmeister hat in aller Deutlichkeit auf Klees

27  Brief an die Familie, März 1901, in: ebd.,

Zynismus und Misogynie bei der Darstellung

S. 116.

des weiblichen Körpers hingewiesen (Werck-

28  13.4.1901, in: ebd., S. 120.

meister [2008], S. 27 f.).

29  20.8.1901, in: ebd., S. 145.

16  Brief an Lily Stumpf, 19.2.1905, in: Briefe

30  In einem seiner ersten Briefe an seine Fami-

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 476.

lie spricht Klee von der „Zeitdauer“ seines Stu-

17  „[Haller] kam in die Knirrschule, wo er sich

diums. „Und ich schätze sie auf zwei Jahre

als ich kam schon sehr zu Hause fühlte, aller-

München und ein Jahr Paris“ (29.10.1898, ebd.,

dings hatte ihm die Freundschaft des ‚besten

S. 22). Später teilt er seinem Freund Bloesch die

Schülers seit 10 Jahren‘ gute Dienste gethan“

Veränderung seiner Pläne unter dem Einfluss

(Tgb. 80).

von Knirr mit: „Von Paris wird nächstes Jahr

18  Briefe an die Familie (1979), Bd. 1, S. 99.

laut Knirr keine Rede sein, wohl aber wahr-

Von der Linie zur Farbe: Klees ringen um die Form  I  323

scheinlich von Stuck.“ (Brief an Bloesch,

41  Klee notierte, es sei für ihn notwendig,

2.12.1899, zit. in: Glaesemer [1973], S. 75).

durch die Ehe „[...] die sexuelle Frage zu lösen,

31  Brief an die Familie, 29.10.1898, in: ebd.,

um mich ganz konzentrieren zu können“ (Tgb.,

S. 22.

Hausenstein II, S. 507). Bei den Tagebuch-Noti-

32  Vgl. Glaesemer (1973), S. 74.

zen „Hausenstein I, II“ handelt es sich um Noti-

33  Ebd., S. 76.

zen, die Klee seinem Biographen Wilhelm Hau-

34  Ebd., S. 77.

senstein zur Verfügung stellte.

35  „Vielleicht ist sein Prinzregentenkopf das

42  Er schreibt u. a. an Lily, das sein „Herz“

Größte, was ich in diesem Genre gesehen habe.

Wein nicht vertrage, später, bereits wesentlich

Einfach unerreichbar.“ Brief an Ida Klee,

besorgter: „Ich bin jetzt recht ruhig, glaube

19.10.1898, in: Briefe an die Familie (1979),

aber nicht, dass mein Herz je wieder ganz

Bd. 1, S. 18. An anderer Stelle nennt er Stuck ein

gesund werden wird. Einmal in der Woche

„Genie“. Auffällig ist allerdings, dass diese

pumpt es, wenn auch nicht mehr beängstigend

bewundernden Worte sich nur in Klees Briefen

wie früher.“ Briefe an Lily Stumpf, 30.11.1901,

finden. In den Tagebüchern ist er zurückhalten-

30.1.1902, in: Briefe an die Familie (1979), B. 1,

der, was auch besser zu seiner Selbststilisierung

S. 176, 204.

passt, dass er die Malerei gleichsam für sich

43  Ebd., S. 130.

selbst erfinden müsse. An einer Stelle in seinen

44  So spricht etwa Suter (2006) von Klees

Tagebüchern bestreitet Klee sogar, dass Stuck

„robuster Konstitution“ (S. 153). Einige Seiten

überhaupt etwas von Farbe verstehe (Tgb. 140).

später verweist Suter allerdings auf einen Brief

36  Schwebende Grazie (im pompeianischen

Klees an den New Yorker Kunsthändler Neu-

Stil) (1901).

mann, in dem Klee schreibt, dass er nie viel

37  Ich möchte dieser Einschätzung Werckmeis-

„überschüssige Kräfte“ gehabt habe (ebd.,

ters zustimmen, entgegen der Ansicht, Klee

S. 157).

habe die bürgerliche Sexualmoral seiner Zeit

45  „Dann besuchte mich mein Verhältnis und

kritisieren wollen. Zu den frühen Radierungen

erklärte sich für schwanger“ (Tgb. 90).

Klees aus der Reihe der Inventionen schreibt

46  Wedekind (1996), S. 33.

Werckmeister: „Die zweite Fassung von Klees

47  Vgl. hierzu insbes. Kap. 7–8 sowie Wede-

Radierung Weib und Tier [...] wirkt wie eine

kind (1993).

misogyne Travestie von Hodlers Gemälde Weib

48  Brief an Lily Klee, 11.10.1901, in: Briefe an

am Bach [...] Nicht weniger misogyn wirkt die

die Familie (1979), Bd. 1, S. 154.

gezwungene, ja verrenkte Haltung, mit der sich

49  Brief an Lily Klee, 24./25.12.1901, in: ebd.,

die nackte Frau in Klees Radierung Jungfrau im

S. 190.

Baum [...] mit verdüstertem Gesicht auf den

50  Brief an Lily Klee, 12.2.1902, in: ebd.,

Ästen eines gestutzten Baumes als liegende

S. 207.

Aktfigur in Positur zu setzen versucht [...].“

51  Vgl. hierzu auch in Kap. 8, „Idealisierung

(Werckmeister [2008], S. 28).

und Entwertung der Frau“.

38  Eine ähnliche Zurückhaltung zeigt Klee

52  Brief an Lily Klee, 10.5.1904, in: Briefe an

auch gegenüber den erotischen Zeichnungen

die Familie (1979), Bd. 1, S. 421.

von Beardsley.

53  Es ist unklar, wann Klee diese Eintragung

39  Zit. n. Wedekind (1996), S. 19.

verfasst hat, da sie in der chronologischen Rei-

40  Grohmann (1954), S. 30.

henfolge seiner Tagebucheintragungen nicht

324 I Anmerkungen

enthalten ist. Würde man diese Chronologie

63  Wir werden sehen, dass Klee sich gegen-

zugrunde legen, müsste sie sich auf Ende 1903

über seinem späteren Biographen Hausenstein

beziehen.

wegen angeblicher „Negativität“ rechtfertigen

54  Brief an Lily Stumpf, 1.11.1903, in: Briefe

musste. Hausenstein gegenüber betont er, dass

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 359.

er keineswegs „negativ“ eingestellt sei, was in

55  Wedekind formuliert dies geradezu apo-

seiner religiösen Orientierung zum Ausdruck

diktisch: „[Klees] Selbstverständigung als Künst-

gelange.

ler lief zuallererst über eine Auseinanderset-

64  „Man misst sich an diesen Offenbarungen

zung mit der ‚sexuellen Frage‘. Sie führte zur

des menschlichen Geistes und muß, seine Scham

Übernahme eines kulturellen Konstruktes von

in Wut verwandelnd, diese an irgend etwas aus-

Sexualität“ (Wedekind [1996], S. 25).

lassen. Zum mindesten an den dunklen Mäch-

56  Giedion-Welcker (2007), S. 23. Ähnlich auch

ten oder an der Zeit, in der man lebt. An sich

Baumgartner (2010), S. 49.

selber lieber nicht, weil dies zu sehr demorali-

57  Brief an Lily Stumpf, 18.7.1903, in: Briefe

siert“ (Brief an Lily Stumpf, 25.11.1901, in:

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 338 f.

Briefe an die Familie [1979], Bd. 1, S. 169).

58  Zur theoretischen Begründung des Habi-

65  Brief an Lily Stumpf, 31.10.1901, in: ebd.,

tus-Konzepts vgl. Bourdieu (2001), Teil II.

S. 162.

59  Franciscono (1991), S. 35.

66  Brief an Lily Stumpf, 10.7.1902, in: ebd.,

60  Brief an Lily Stumpf, 29.10.1901, in: Briefe

S. 254.

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 158. Ich habe

67  Brief an Lily Stumpf, 2.11.1901, in: ebd.,

bereits darauf hingewiesen, dass Klee seit der

S. 163.

Zeit seiner Verlobung mit Lily Klee Liebe zuneh-

68  Es handelt sich um eine kleinformatige

mend platonisch sah. Im Dezember 1902 no-

kolorierte Zeichnung, die Klee in den gemein-

tiert Klee in seinem Tagebuch über sich: „Das

sam mit Hans Bloesch produzierten Gedicht-

fleischliche Fleisch hat dieser Mann sich je ge­­

band Das Buch eingeklebt hatte, der jedoch nie

hütet zu fressen. Er hat nur gerochen dran,

fertiggestellt wurde.

unterdessen bleibt rein er und viel zu feig zur

69  Allerdings ist nicht bekannt, an welcher

Tat.“ (Tgb. 466). Zugleich berichtet er noch

„pompeianischen“ Vorlage sich Klee orientiert

1902 über widersprüchliche Gefühle. „Man

hat, so dass nicht klar ist, ob es möglicherweise

wird oft nach den schönen Römerinnen gefragt

eine entsprechende Vorlage gab (was eher

und keine Frage ist müssiger. Man will ja keine

unwahrscheinlich ist) oder ob es sich um eine

solche heiraten [...] Ich habe in 5 Monaten in

originäre „Invention“ Klees handelt.

vollem Sinne kein Weib berührt. Es war nicht

70  Franciscono (1991), S. 36.

mein Wille allein und es wäre auch nicht leicht

71  Brief an Lily Stumpf, 1.7.1903, in: Briefe an

gewesen. Von der Prostitution spreche ich nicht,

die Familie (1979), Bd. 1, S. 333.

sie kam u. kommt nicht in Frage für mich.

72  Brief an Lily Stumpf, 12.7.1903, in: ebd.,

Gegen ein kleines Verhältnis ohne Aufregung

S. 336.

und Gefahr hätte ich mich vielleicht nicht mit

73  Wedekind (1996), S. 55.

vollem Erfolg gesträubt, man ist Mensch, man

74  „Ich habe nämlich die zehn Rahmen aufge-

isst ja auch und trinkt“ (Tgb. 397).

geben, nicht etwa bloß, weil gerade, als Dein

61  Suter (2006), S. 157, vgl. Anm. 89.

Telegramm kam, mein Plan des großen Passe-

62  Tgb. 294, Tgb Leopold Zahn, S. 521.

partouts war, und ich mich definitiv an den Von der Linie zur Farbe: Klees ringen um die Form  I  325

einen Rahmen gewöhnt hatte, sondern weil ich

86  Brief an Lily Stumpf, 8.2.1905, in: Briefe an

fürchte, es würden mir bei zehn Rahmen ein

die Familie (1979), Bd. 1, S. 480.

Teil refüsiert werden. So sieht’s nun sehr anstän-

87  Brief an Lily Stumpf, 31.1.1905, in: ebd.,

dig aus ...“ (Brief an Lily Stumpf, 1.5.1906, in:

S. 476.

Briefe an die Familie [1979], Bd. 1, S. 622).

88  Es ist nicht untypisch für Klee, dass er das

75  Auf seine Beziehung zu Rops hat Klee

Attentat auf Großfürst Sergius zunächst mit

mehrfach hingewiesen.

dem auf den russischen Innenminister Plehwe

76  Wedekind (1996), S. 67.

im Jahre 1904 verwechselte. Anlässlich der

77  Es handelt sich dabei allerdings nicht um

Wohltätigkeitsveranstaltung schreibt Klee:

einen „Rehbock“, sondern um eine Mischfigur

„Während des Festes verbreitete sich die Nach-

aus Gazelle und Hund.

richt, dass Plehwe einem Attentat zum Opfer

78  Werckmeister (2008), S. 28.

fiel, und machte merklich Stimmung“ (Tgb. 592

79  Tgb., Notizen für Leopold Zahn, Nr. 514,

a, Februar 1905). Die Verwechslung könnte

S. 523.

dadurch zustande gekommen sein, dass Klee in

80 ebd.

diesem Fall seine „Tagebuch“-Eintragung

81  Tgb. 513, ähnl. S. 523.

erheblich später vornahm. In seinem Brief an

82  Anders als Wedekind (1996), S. 163 ff., bin

Lily Stumpf vom 19.2.1905 korrigiert er seinen

ich der Ansicht, dass Klee sich hier, wie auch in

Irrtum: „Ein geistvoller Zufall wollte, daß

anderen Zusammenhängen, keineswegs auf

gerade am Abend des Wohltätigkeitsfestes die

ein – angeblich sokratisches – „wissendes Nicht-

Nachricht von der trefflichen Execution des

wissen“ festlegt, das zugleich die Absage an jeg-

Großfürsten Sergius im Saal angeschlagen

liche positive Formulierung des „Ideals“ dar-

wurde [...].“

stelle. Vielmehr zeigt sich, dass gerade in den

89  Brief an Lily Stumpf, 31.1.1905, in: Briefe

beiden Fassungen von Weib und Tier die neue

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 476.

„Ethik“, zu der sich Klee im Laufe des Jahres

90  Brief an Lily Stumpf, 19.2.1905, in: ebd.,

1901 durchgerungen hatte (vgl. oben Kunst und

S. 482. Im selben Brief erwähnt Klee zudem ein

Sexualität. Misogynie und Doppelmoral) sehr

Buch des russischen Sozialisten Leo Deutsch, das

deutlich zum Ausdruck kommt. Es handelt sich

ihn über die russischen Verhältnisse, insbeson-

um eine Art Triebpsychologie aus einer asketi-

dere das „Kerker- und Deportationswesen“,

schen und moralischen Perspektive.

informiert. „Es ist ungemein fesselnd durch sei-

83  Brief an Lily Stumpf, 12.7.1903, in: Briefe

nen Stoff.“

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 335.

91 Ebd.

84  Brief an Lily Stumpf, 1.12.1904, in: ebd.,

92  „Hat er ein Alter von fünfhundert Jahren

S. 459.

erreicht, so baut er sich auf den Zweigen der

85  Wedekind (1996), S. 163. Es entsteht der

Steineiche oder im Wipfel der schwanken Palme

Eindruck, dass möglicherweise auch Wedekind

mit seinen Klauen und dem reinen Schnabel ein

die zitierte Passage missverstanden hat. Klee

Nest. Sobald er darin ein Lager aus Sennesblät-

formuliert seine Ideale, wenn auch häufig indi-

tern und zarten Rispen der Narde, aus Zimtrin-

rekt, als Darstellung der Negativität. Klee zeigt

denstücken und gelblicher Myrrhe bereitet

darin eine gewisse Affinität zur Ästhetik Ador-

hatte, setzt er sich hinein und endet sein Dasein

nos. Es ist also keineswegs so, dass er „nichts zu

in Wohlgerüchen. Darauf soll zu einem gleich

erkennen“ gebe.

langen Leben aus dem Leib des Vaters ein klei-

326 I Anmerkungen

ner Phönix hervorgehen“ (Ovid [1989], Meta-

Damit konnte er zwangsläufig eine Verzerrung

morphosen, S.  448 f.).

der Perspektive erreichen.

93  Das Bild der Frau auf der Schaukel ent-

101  Rein quantitativ gesehen, steht bei Klee

spricht der „swinging nude, a fin-de-siècle sym-

der Begriff des „Typischen“ nicht im Vorder-

bol of feminine caprice and frivolity depicted by

grund. Erwähnt wurde er allerdings bereits

Klinger and others“ (Franciscono [1991],

1902 (Tgb. 412). In Verbindung mit Konstrukten

S.  68 f.).

wie „Reduction“ oder „Sparsamkeit“ der Mittel

94  Glaesemer (1973), S. 117.

gewinnt das Typische für Klee jedoch zentrale

95  Es handelt sich nach Klees eigenen Anga-

Bedeutung.

ben um das Hinterglasbild (Schwarzaquarell)

102  Glaesemer (1973), S. 137.

Blick vom Küchenbalcon in die Hohenzollern-

103  Brief an Lily Klee, 20.3.1905, in: Briefe an

straße (1908) (Tgb., Hausenstein I/II, S. 498, 514).

die Familie (1979), Bd. 2, S. 489.

Als Werkverzeichnis wurde von Klee angege-

104  Es ist bemerkenswert, dass Klee hier von

ben: „1908/56“. Felix Klee reproduziert das Bild

einem „abstrahierenden“ Formbekenntnis

unter dem Titel Blick vom Balkon der Wohnung

spricht. Im Gegensatz zu den gleichzeitig ent-

in der Ainmillerstraße auf die Hohenzollern-

standenen Zeichnungen zeichnen sich die

straße ([1960], Abb. S. 59).

Inventionen durch eine geschlossene Form mit

96  Geelhaar (1977) notiert zu diesem Ringen:

klaren Konturen aus. Sie sind jedoch keines-

„Doch nützt dem Künstler die geistvollste Auf-

wegs abstrahierend, sondern symbolistisch.

fassung des Zusammenwirkens dieser Dinge im

Möglicherweise hat Klee seine Charakterisie-

Weltganzen nichts, wenn zur bildhaften Dar-

rung der Inventionen im Zuge seiner nachträgli-

stellung ihm das notwendige Rüstzeug fehlt.

chen Überarbeitung der Tagebücher eingefügt.

Klee hat sich mit wohl einzigartiger Konse-

105  Zumindest terminologisch handelt es sich

quenz um die systematische Aneignung der

hier um eine Anspielung auf das von Klee spä-

entsprechenden Gestaltungsmittel bemüht“

ter entwickelte Konzept von Kunst als „Gene-

(S. 10).

sis“.

97  Werckmeister (2000), S. 41.

106  In: Geelhaar (1976), S. 106. Im selben Jahr

98  Beitrag für den Sammelband „Schöpferi-

schreibt er auch, „dass der Impressionismus also

sche Konfession“ (1920), in: Geelhaar (1976),

bereits der Geschichte angehört“ (ebd., S. 98).

S. 118 ff. Zugleich macht Klee aber auch deut-

107  Es kann also keinesfalls von einer „disco-

lich, dass die „Zwiesprache“ mit der Natur con-

very of the impressionists“ gerade im Jahre

ditio sine qua non für den Künstler sei (ebd.,

1908 gesprochen werden, wie Franciscono

S. 124).

(1991), S. 107, behauptet.

99  Auch hier macht die quasi literarische Dik-

108  Vgl. hierzu ebd., S. 118 f.

tion deutlich, dass Klees „Tagebücher“ nach-

109  Brief an Lily Klee, 29.9.1908, in: Briefe an

träglich redigiert wurden und an die Öffentlich-

die Familie (1979), Bd. 1, S. 679.

keit gerichtet waren.

110  Klee sah Cézanne 1909 in München in

100  Auf „mechanische Weise“ verzerren heißt

einer Ausstellung in der Münchner Secession.

in diesem Zusammenhang u. a., dass Klee Zeich-

111  Vgl. Imdahl (1996), S. 274 ff.

nungen auf transparentem Material (Glas oder

112  Legt man für Klees Überlegungen die

Papier) anfertigte und sie schräggestellt gegen

Jahre 1908/09 zugrunde, dann konnte Klee

eine Lichtquelle hielt und dann nachzeichnete.

Kandinskys auffallend ähnliche Gedanken-

Von der Linie zur Farbe: Klees ringen um die Form  I  327

gänge noch nicht kennen: Diese wurden erst

entwickelte deshalb die Vorstellung, dass die

1912 publiziert. Aber auch hier gilt, was bereits

Kinder aus dem Anus geboren werden.

oben angemerkt wurde. Da Klee, wie Geelhaar

120  Ein formaler Unterschied zwischen den

belegt, sein Tagebuch III, in dem er diese

beiden Bildern besteht darin, dass Rodins Akt

Gedanken notierte, frühestens 1921 redigierte,

sitzend dargestellt wird, während er bei Klee

ist nicht auszuschließen, dass er nachträglich

tanzt.

Überlegungen Kandinskys übernahm.

121  „Tonalität“ ist natürlich keine Erfindung

113  Zu den Anregungen, die Klee von ande-

von Klee (wie dieser gelegentlich andeutete),

ren Künstlern erhielt, vgl. Werckmeisters Dar-

sondern ein bereits im 19. Jahrhundert verbrei-

stellung der Klee’schen „Orientierungskünst-

teter Ausdruck für ein entsprechendes maltech-

ler“, zu denen auch Kandinsky gehörte

nisches Konzept.

(Werckmeister [2008], S. 36 f.). Werckmeisters

122  Glaesemer (1976), S. 15. Klee geht dabei

Darstellung ist eine exzellente Demonstration

soweit, dass er – wie sich in seiner Bildnerischen

der Relativität künstlerischer Kreativität. Zwei-

Gestaltungslehre zeigt – in Anlehnung an

fellos schuf Klee später unverwechselbare

Goethes Farbenlehre auch die Farben als Resul-

Werke; in seinen frühen Jahren wird jedoch

tat von Hell-Dunkel-Abstufungen versteht.

deutlich, in welchem Umfang er mit Stil- und

123  Vgl. Klees Tagebuch (Hausenstein I, S. 514,

Formelementen anderer Künstler arbeitete. Ich

vgl. auch S. 498). Glaesemer (1976), S. 21, geht

stimme Werckmeister darin zu, dass Klee in for-

davon aus, dass es sich hier um das Bild Belebter

maler Hinsicht von Kandinsky nur wenig beein-

Platz vom Balkon aus handelt. Klee verweist im

flusst wurde, bin aber der Ansicht, dass Klee,

Ergänzungsmanuskript Hausenstein I (S. 498)

der von Kandinskys theoretischer Souveränität

jedoch ausdrücklich auf den Blick vom Küchen-

außerordentlich beeindruckt war, Gedanken

balkon in die Hohenzoll. Straße (Klee schreibt

von diesem übernahm.

„Balkon“ sowohl mit „k“ als auch mit „c“ bzw.

114  Klees Text Schöpferische Konfession

schreibt „Hohenzoll. Straße“ auch als „Hohen-

(1920).

zollernstraße“ und nennt dabei die Werknum-

115  Franciscono (1991), S. 172 f.

mer 56, nicht 62, wie Glaesemer angibt). Eine

116  Eine zuverlässig transkribierte Buchfas-

Verwechslung der beiden Bilder ist nicht mög-

sung liegt bisher nur von Beiträge zur bildneri-

lich, da sie eine ganz unterschiedliche Bildstruk-

schen Formlehre vor (1978, transkribiert und

tur besitzen. F. Klee (1960), Abb. S. 59, reprodu-

eingeleitet von J. Glaesemer). In der Bildneri-

ziert das Bild mit etwas geändertem Titel als

schen Formlehre, aber auch in anderen Aufsät-

Blick vom Balkon der Wohnung in der Ainmül-

zen der Bauhaus-Zeit wird die „Linie“ für Klee

lerstraße auf die Hohenzollernstraße, ein klarer

erneut von Bedeutung sein.

Hinweis darauf, dass es sich hier um das von

117  Werckmeister (2008), S. 30.

Klee Hausenstein gegenüber erwähnte Bild

118  Franciscono (1991), S. 88.

handelt.

119  Diese Vermutung Francisconos lässt sich

124  Im Vergleich zum thematisch sehr ähnli-

aus psychoanalytischer Sicht bestätigen. In der

chen Belebter Platz vom Balkon aus ist die Hin-

analen Phase der frühkindlichen Entwicklung

tergrundarchitektur in Blick vom Küchenbalcon

(bis zum 3. oder 4. Lebensjahr) ist – oder zumin-

in die Hohenzollernstraße skizzenhafter, gera-

dest: war – den Kindern der Geschlechtsunter-

dezu „verwackelt“, was verdeutlicht, warum

schied noch weitgehend unbekannt. Das Kind

Klee bei diesem Bild von einem Sich-Losreißen

328 I Anmerkungen

von der Natur spricht. Auch der abstrakt-ex-

129  Tgb., Hausenstein I, S. 500.

pressive Pinselduktus im Vordergrund von Blick

130  Ensors Zauberer, wie bereits erwähnt, ist

vom Küchenbalcon in die Hohenzollernstraße

in Wirklichkeit eine Zauberin, die in der Luft

spricht dafür, dass Klee sich hier auf dieses Bild

schwebt und aus deren Vagina monströse Figu-

und nicht auf Belebter Platz vom Balkon aus

ren entweichen. Die Vagina ist nur angedeutet.

bezieht.

Picasso hat zahlreiche auf den weiblichen

125  Mit diesem Bild ist Klee ein fast abstraktes

Unterleib fokussierte Zeichnungen gemacht; in

Schwarzaquarell gelungen. Werckmeister ist

einem Fall entweicht eine Schlange der Vagina.

der Ansicht, dass Klee hier einem „Parkbild“

Die Schlange ist jedoch ein Symbol der Sexuali-

van Goghs „folgt“ (Werckmeister [2008], S. 32).

tät, während der Bandwurm ein Symbol der

126  Allerdings hat Klee bereits 1905 mit Gar-

Analität darstellt.

tenszene (Gießkanne, eine Katze, ein roter

131  Dies gilt zumindest nicht für Haftmann,

Stuhl) nach der Natur ein Beispiel farbiger Hin-

der den Einfluss van Goghs ausführlich würdigt.

terglasmalerei geschaffen (vgl. Abb. Glaesemer

„Doch in der Zucht seines eigenen Wachstums-

[1976], S. 17).

gesetzes braucht er jetzt van Gogh zur Weiter-

127  Werckmeister (2008) hat in seinem Artikel

führung der von Ensors Graphik bestätigten

dargelegt, wie stark Klee durch andere Künstler

Einsichten. Wenn van Gogh über den Naturalis-

beeinflusst war. Werckmeister nennt in diesem

mus hinausführt, so liegt dies, vom Zeichneri-

Zusammenhang van Gogh, Hodler, Ensor,

schen her begriffen, daran, dass er die Linie als

Kubin, Kandinsky, Marc, Delaunay. Klee kannte

ganz selbständiges Element auftreten lässt.“

also zweifellos „gute Einzelwerke“. Bei aller

(Haftmann [1950], S. 29).

selbstkritischen Einschätzung ist immer wieder

132  Die Nummerierung fehlt im Tagebuch,

das Bemühen Klees zu erkennen, sich als Künst-

muss aber gemäß der Reihenfolge um 805/6

ler zu präsentieren, der Werke autonom, ex

ergänzt werden.

nihilo, schuf. Die Tunesienreise wird später

133  Paul Klee, Brief an Will Grohmann,

dann zur Apotheose des nur aus sich selbst

2.1.1940, in: Gutbrod (1961), S. 84.

schaffenden Künstlers, der symbiotisch mit der

134  Werckmeister (2008), S. 32.

Farbe verschmilzt.

135  Franciscono (1991), S. 124 f., Zentrum Paul

128  Zwiespältig reagierte Klee in diesem

Klee (2012), S. 76. Bemerkenswerterweise geht

Zusammenhang auf Beardsley: „Der Stil japani-

Glaesemer auf diesen möglichen Bezug nicht

siert und gibt zu denken. Irgend ein Verführeri-

ein.

sches ist dabei, man folgt mit einigem Zögern“

136  Kartenfragment an Lily Klee, 12.7.1909,

(ebd.). Diese Reserviertheit Klees ist angesichts

in: Briefe an die Familie (1979), Bd. 2, S. 716.

der teilweise drastischen Erotik Beardsleys ver-

137  Franciscono (1991), S. 124.

ständlich. An anderer Stelle nennt er Beardsley

138  Vgl. Grohmann (1954), S. 48. Klee nennt

„pervers“, fügt aber hinzu, dass Perversion für

diese Ausstellung etwas missverständlich „Kol-

einen Künstler von Vorteil sein könne, „sie

lektivausstellung“, obwohl es keinen Verweis

erweitert das Gebiet des persönlichen Aus-

auf andere noch teilnehmende Künstler gibt. In

drucks“ (Brief an Lily Stumpf, 8.2.1905, in: Briefe

Briefen an Lily Klee spricht er jedoch von „sei-

an die Familie [1979], Bd. 1, S. 490). Wir hatten

ner“ Ausstellung. Bei den 56 ausgestellten

bereits gesehen, dass Klee auch die erotischen

Arbeiten handelt es sich ausschließlich um

Bilder Stucks ignoriert.

Arbeiten aus den Jahren 1909–1910 (Tgb. 880). Von der Linie zur Farbe: Klees ringen um die Form  I  329

139  Anders als Haftmann (1950) unterstellt,

153  Vgl. hierzu Franciscono (1991), S. 148.

hatte Klee die zweite Ausstellung der Neuen

154  Baumgartner zufolge sah Marc die Candi-

Künstlervereinigung München (NKVM) in der

de-Illustrationen spätestens am 28.6.1912

Galerie Thannhauser im Jahre 1910, in der auch

(Baumgartner [2010], S. 51).

einige der Fauves ausgestellt waren (u. a.

155  Hausenstein, zit. n. Baumgartner (2010),

Derain, van Dongen und Vlaminck), nicht gese-

S. 55. Hausenstein schrieb dies allerdings 1914,

hen. Er hielt sich zu dieser Zeit in Bern auf und

zu einem Zeitpunkt, als er Klee noch weniger

war mit seiner eigenen Ausstellung beschäftigt.

skeptisch gegenüberstand als in seiner späteren

140  Diesmal reagierte Klee weniger amüsiert.

Biographie (1921). Wenn Baumgartner in die-

„Kurz und mit dürren Worten: der Gang den

sem Zusammenhang schreibt, dass Klee durch

Herr Thannhauser bot, hatte eigentlich etwas

die Lektüre Voltaires in seiner „Verachtung für

Kränkendes an sich“ (Tgb. 896). Süffisant nennt

die bürgerliche Gesellschaft“ bestärkt wurde

Klee Thannhauser dann auch einen „früheren

(ebd., S. 49), so ist das offensichtlich unzutref-

Maßschneider“ und „Hebräer“ (Tgb. 889, 896).

fend. Klee hat an keiner Stelle „Verachtung“

141  Brief an Lily Klee, 25.10.1910, in: Briefe an

für die bürgerliche Gesellschaft zum Ausdruck

die Familie (1979), Bd. 1, S. 756.

gebracht. Wie oben am Beispiel Greiser Phönix

142  Ebd., S. 755.

gezeigt wurde, geht Klee generell von der

143  Grohmann (1954), S. 50.

„Unzulänglichkeit“ gesellschaftlicher Verhält-

144  Hopfengart (2010), S. 86.

nisse aus. Klees Haltung ist die einer generali-

145  Zentrum Paul Klee, Ausstellungskatalog

sierten Skepsis, die sich nicht nur auf die „bür-

(2010), S. 87, 91.

gerliche Gesellschaft“ bezieht. Auch die

146  Ebd., S. 120.

Invention Jungfrau im Baum (1903) ist keines-

147  Bemerkenswert ist dabei, dass sich Kandin-

wegs ein „Protest gegen die sterile Moral der

sky nicht auf die Kunst der Geisteskranken

bürgerlichen Gesellschaft“, sondern, wie bereits

bezieht. Möglicherweise wollte er damit nicht

erörtert, eine Travestie der alternden Frau. Die

noch weitere Vorurteile schüren, die gegenüber

angebliche Passivität der Frauen, die auf den

den Bildern des Blauen Reiters und seinen eige-

Freier warten müssen, hat Klee in Weib und Tier

nen Bildern bestanden. Klee hat seine Einstel-

(1904) aus einer anderen Perspektive viel über-

lung zur „Kinderkunst“ später revidiert, besser

zeugender dargestellt, indem er den Fokus auf

gesagt präzisiert. Im Gespräch mit H. F. Geist

die durchaus aktive weibliche „Koketterie“

betont er die Inhaltsbezogenheit der kindlichen

richtet. Die „Passivität“ der Frau muss Klee

Kunst: „Das Kind will das wirkliche Leben so, wie

wohl in dem späteren Bild selbst als ideologi-

es ihm erscheint, umspielt, umkleidet von seinen

sches Konstrukt der bürgerlichen Gesellschaft

Phantasien. Man sollte nicht von der ‚Kunst‘ des

erkannt haben.

Kindes sprechen. Das schafft Irrtum! Kunst ist

156  Glaesemer (1973), S. 180.

etwas anderes“ (zit. n. Geist [1959], S. 85).

157  Voltaire (1994), S. 172 f.

148  W. Kandinsky (2012), Über die Formfrage,

158  Zit. n. Glaesemer (1973), S. 179.

S. 168.

159  Genau genommen ist Kunst stets „prälo-

149  Giedion-Welcker (1961), S. 106.

gisch“, da sie nicht mit den Mitteln diskursiver,

150  Ebd., S. 110.

sondern präsentativer Logik arbeitet.

151  Hofmann (1978), S. 423.

160  Klee notiert dies im April 1914 in seinem

152  BG II, 21/57.

Tagebuch, also bereits nach Rückkehr von sei-

330 I Anmerkungen

ner Tunesienreise, mit der eine neue künstleri-

seiner Ausbildung her Zeichner und Graphiker

sche Schaffensphase begann. Die Notiz kann

war. Außerdem hatte er sukzessiv Fortschritte in

aber rückblickend als Credo seines bisherigen

der Aneignung der Farbe gemacht, was er aller-

Schaffens gesehen werden.

dings in seinem charismatischen Farberlebnis in

161  „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder,

Tunesien verleugnete. Meiner Meinung nach

sondern macht sichtbar.“ Beitrag für den Sam-

handelt es sich bei Klees Darstellung seines Rin-

melband „Schöpferische Konfession“ (1920), in:

gens um die Farbe teilweise auch um eine

Geelhaar (1976), S. 118.

Künstlerlegende.

162  Werckmeister spricht von der „geschichts-

2  Auf Worringer werde ich in Kap. 4 einge-

enthobene[n] Metaphysik von Klees Kunst“

hen, auf die Bedeutung Kandinskys im Kontext

(Werckmeister [1981], S. 196). Dem setzt er die

von Klees Bauhaus-Zeit (Kap. 5).

Forderung nach einer Interpretation Klees im

3  Franciscono (1991), S. 193. Auch Franciscono

sozialen und historischen Kontext entgegen.

hat Mühe, klar zwischen „transzendent“ und

163  Prange (1991), S. 263.

„transzendental“ zu unterscheiden. Allerdings

164  Zum Begriff der Metaphysik in der Kunst

spricht er auch, in den einleitenden Bemerkun-

vgl. Adorno (1972), S. 48, 100 u. a. So spricht

gen zu dem obigen Zitat, von der Abstraktion

Adorno z. B. vom Werk Prousts als „Kunstmeta-

dann zutreffend als dem „transcendental

physik“ (S. 100). Zur Dialektik der „Transzen-

realm“ (ebd.).

denz“ der Kunst vgl. ebd., S. 122. Streng

4  Glaesemer (1987), S. 26.

genommen sieht Adorno die Metaphysik als

5  Vgl. Blumenberg (1986), S. 22 ff.

gestürzt an („Metaphysik im Augenblick ihres

6  „Wenn ich sage wer Franz Marc ist muss ich

Sturzes“); sie wird substituiert durch das, was

zugleich bekennen, wer ich bin, denn vieles

nicht im identifizierenden Denken aufgeht,

woran ich Teil nehme gehört auch ihm“

durch das „Nichtidentische“ (Adorno [1966],

(Tgb. 1008).

S. 398). Es liegt nahe, dass sich Adorno hier

7  Dies gilt nicht für Kandinsky, dessen Bedeu-

implizit auf Nietzsches Konzept des Dionysi-

tung Klee stets anerkannte. Dies mag damit

schen bezieht.

zusammenhängen, dass beide Künstler eine

165  Weltanschauung und Kunst bzw. „Stil“

jahrzehntelange Freundschaft verband und

sind für Klee untrennbar miteinander verbun-

beide zusammen am Bauhaus, erst in Weimar,

den, vgl. Klee (1924), S. 68. In seinem Tagebuch

dann in Dessau, tätig waren. Klee veröffent-

notiert Klee: „Das Formale muss mit der Wel-

lichte u. a. einen Beitrag zur Jubiläumsausstel-

tanschauung verschmelzen“ (Tgb. 1081, S. 440).

lung anlässlich des 60. Geburtstags von Kandinsky (1926). Neben der Kürze dieses Beitrags ist auch auffällig, dass Klee darin nicht auf das

3. Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde

künstlerische Schaffen Kandinskys eingeht, sondern nur auf die „Zusammenhänge des Gefühls“ (in: Geelhaar [1976], S. 127 f.). Aller-

1  Ob dies, wie Dankwardt (2005), S. 165,

dings gibt es, wie Petra Petitpierres Notizen aus

annimmt, eine „neurotische Kompromißbil-

dem Unterricht von Klee zeigen, auch gegen-

dung“ war, lässt sich auf der Grundlage der

über Kandinsky Tendenzen einer subtilen

autobiographischen Angaben Klees m. E. nicht

Abwertung. Ich werde in Kap. 5 näher darauf

klären. Wesentlicher dürfte sein, dass Klee von

eingehen. Auch die Bedeutung Picassos wurde

Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde  I  331

von Klee anerkannt: Er hielt jedoch immer eine

(Tgb. 961, Frühjahr 1915). Marc wiederum teilt

respektvoll-kritische Distanz zu dem „Spanier“.

Maria Marcs Kritik an Romantik und „Ichtum“

8  Zur Dokumentation des Postkartenaus-

und wird seinerseits relativ scharf gegenüber

tauschs vgl. Baumgartner u. a. (Hrsg.) (2010).

Klee: „Aber die Gewissensfrage (die Frage nach

9  Werckmeister spricht bei Marc von einer

der Sache, nach dem Wesentlichen) bleibt doch

„metaphysischen Erfahrung der Natur“, einer

die letzte und unumgängliche Frage, – nicht

„mystischen Erkenntnis der Schöpfung“, bei

dein „Ich und die Romantik [...] Wo das Ich

Klee von einer „parareligiösen Metaphysik“

wichtiger genommen wird, als die Sache, da ist

(Werckmeister [2008], S. 42 f.).

schlechte, unreine Kunst“ (Brief an Klee,

10  Marc selbst verweist auf diesen Zusammen-

10.5.1915). Was freilich die „Sache“ ist, präzi-

hang. Am 10.5.1915 schreibt er an Klee: „Du,

siert Marc in seinem Brief nicht. In seinem Ant-

deine Frau und Maria, – Ihr scheint Euch ja in

wortbrief vom Juni 1915 geht Klee in die Defen-

einem richtigen erbitterten Frontalkampf der

sive: Natürlich meine er mit dem Ich das

Meinungen gegenüberzuliegen; ich kenne

„göttliche Ich“: „Unsere Sonne bleibt immer

Maria ja gut: wenn sie einmal eine ideale For-

das göttliche Ich als Zentrum.“ Ähnlich wie

derung aufstellt, da lässt sie nicht locker“ (zit.

Marc vermeidet Klee eine nähere Bestimmung

n. Meißner [1989], Nr. 254). Es ist nicht eindeu-

dieses „göttlichen Ichs“. Nach Klees damaligen

tig rekonstruierbar, worum es in diesen Konflik-

und späteren Überzeugungen meint er damit

ten ging. Einerseits waren sich Klee, seine Frau

sein eigenes, „jenseitiges“ Ich. Der Konflikt

und Maria Marc – anders als Franz Marc – in der

wird sich dann später, in einer ähnlich scharfen

Ablehnung des Krieges einig. Als es dann um

Auseinandersetzung, um die Frage des Krieges

Kunstfragen ging, scheint Maria Marc sich kri-

drehen (Briefwechsel Klee – Marc zit. n. Archiv

tisch gegenüber Klees Apologie der Romantik

Zentrum Paul Klee, Bern).

geäußert zu haben: „[D]ie Ablehnung der gan-

11  Vgl. Kap. 3, „Klee und der Krieg“.

zen Romantik finde ich ungeheuerlich“,

12  Von Beyme spricht vom weitverbreiteten

schreibt Klee entgegen seiner sonstigen Zurück-

„Irrationalismus“ der Avantgarde, was eine

haltung geradezu empört am 28.4.1915 an

„libertär-anarchoide“ Position nicht ausschloss

Marc und beharrt zugleich auf der Bedeutung

(v. Beyme [2005]).

von „Ich und Romantik“. Zugleich äußert sich

13  Liebhabern der Kunst Marcs und Klees mag

Klee ausgesprochen negativ über Maria Marc,

meine Darstellung dieser beiden bedeutenden

allerdings nur in seinem Tagebuch: „An Franz

Künstler zu schroff, vielleicht sogar ungerecht

Marc musste ich ins Feld schreiben, länger und

erscheinen. Dies liegt nicht in meiner Absicht.

viel ernsthafter als mir liegt. Ich erklärte mein

Ich versuche vielmehr, textkritisch die künstleri-

Bedauern, daß ich mich mit seiner Frau zu

schen und theoretischen Positionen dieser bei-

kunstheoretischen Auseinandersetzungen her-

den Maler, zugleich auch ihre spannungsvolle

beigelassen hatte [...] Was war der Anlass zu

freundschaftliche Beziehung herauszuarbeiten

solchen unnützen und für den im Feld stehen-

und sie zeitgeschichtlich einzuordnen. Damit

den pinsellosen Maler beunruhigenden

wende ich mich gegen oberflächliche Hagiogra-

Geschichten? Die Schwäche seiner Frau, die

phien, die beiden Künstlern eine „idealistische“

nicht auf eigenen Beinen stehen konnte und

Einstellung zuschreiben. Wenn z. B. Lankheit

der Einfluß eines Propheten Kaminski, der in

den „sittlichen Ernst“ des „Europäers“ Marc

der dortigen Gegend wirkt und einfließt“

lobt, so geht dies an der Realität vorbei. Marcs

332 I Anmerkungen

Texte zeigen, dass sein Europäertum nationalis-

28  1916 schrieb DIE AKTION über sich: „Da die

tisch und teilweise – etwa in seiner Kritik an der

AKTION (als einziges bürgerliches Blatt in

„Verengländerung“ Europas – chauvinistisch

Deutschland) auch nach dem August 1914 nicht

gefärbt war.

‚umlernte‘, so sah sie sich gezwungen, während

14  Bespiele dafür sind etwa Vor Sonnenauf-

der Dauer des Krieges als politisches Organ zu

gang (1901) oder Meerweib (1922). Auch seine

schweigen.“ (ebd., S. 141).

religiösen Bilder (etwa Martyrium I–III [1921]

29  Zur ideologischen Dimension des Faschis-

oder Verlorenes Paradies [1921]) sind häufig

mus vgl. Clemenz (1974, 1976).

bizarr und keineswegs für andächtige Betrach-

30  Th. Mann (1956), Betrachtungen eines

tung geeignet.

Unpolitischen, S. 23.

15  Zitko (2012), S. 28 ff.

31  Hugenberg war Chef eines äußerst einflus-

16  So wird Klee von seinem Biographen Zahn

sreichen Medienkonzerns („Hugenberg-Kon-

(1920) umstandslos in die Reihe der Mystiker

zern“) und in der Weimarer Republik Vorsitzen-

(etwa Meister Eckhart) eingereiht.

der der antidemokratischen Deutsch-Nationalen

17  Dies entspricht tendenziell der Position des

Volkspartei.

Sokrates, wie sie im Phaidon von Platon (2013)

32  Marinetti (1909), Manifest des Futurismus,

dargestellt wird. Es gibt m. E. jedoch keine Hin-

Punkt 9 (www.kunstzitate.de).

weise darauf, dass Marc Platon kannte.

33  Es ist bezeichnend für die Kunstgeschichte,

18  Brief von Paul Klee an Franz Marc, 3.2.1915

dass der fanatische Militarismus der Futuristen,

(Archiv Zentrum Paul Klee, Bern). In fast krän-

aber auch der Nationalismus Franz Marcs heute

kender Weise fügt er hinzu: „Für mich ist ein

kaum mehr präsent sind, wie etwa die Ausstel-

Krieg eigentlich nicht mehr notwendig gewe-

lung 1914. Die Avantgarden im Kampf (Bonn,

sen, aber vielleicht für die Anderen alle, die

2014) zeigte. Das erschwert die Aufarbeitung

noch so zurück sind.“

der unübersehbaren Ambivalenzen der Avant-

19  „Man verlässt die diesseitige Gegend und

garde.

baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz

34  Zit. n. Meißner (1989), Nr. 248.

ja sein darf“ (Klee, Tgb. 951).

35  Paul Klee, Brief an Franz Marc, 17.10.1914,

20  Hünecke (2010), S. 125.

Archiv Zentrum Paul Klee.

21 In: Der Deutsche Krieg im Deutschen

36  Zit. n. Ofzarek/Frey (2010), S. 212.

Gedicht, Berlin 1914. Vgl. hierzu Piper (2013),

37  Paul Klee, Brief an Franz Marc, 3.2.1916,

S.  131 ff.

Archiv Zentrum Paul Klee.

22  Vgl. Piper (2013), S. 305.

38  Die drei einleitenden Artikel des Alma-

23  Zit. n. R. Spieler (2011), Max Beckmann

nachs wurden von Marc verfasst.

1884–1950, S. 25.

39  Franz Marc, in: Der Blaue Reiter (1912/

24  Ebd., S. 31. Beckmann verwendet den

1987), S. 30.

Begriff „transzendental“ korrekt, d. h. als

40 Ebd.

Gegensatz zu „transzendent“. Wir haben gese-

41  Ebd., S. 31.

hen, dass auch Klees „Metaphysik“ in diesem

42  Ebd., S. 31 f.; diese Bemerkungen von Marc

Sinne „transzendental“ ist.

sind aus zweierlei Gründen bemerkenswert.

25  Piper (2013), S. 106.

Einerseits waren Kandinsky, Kubin, Münter und

26 Ebd.

Marc selbst 1911 aus der Neuen Künstlervereini-

27  Ebd., S. 102.

gung München (NKVM) ausgetreten, um eine Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde  I  333

konsequent avantgardistische Position zu ver-

58  Ebd., S. 161.

wirklichen. Andererseits waren in der zweiten

59  Ebd., S. 164.

Ausstellung des Blauen Reiters vom 12.2.–

60  Es handelt sich um einen „inneren“ Feind,

18.3.1912 gerade auch die gerügten „Kubisten“

dessen „Dummheit und Dumpfheit“ auch nach

vertreten, nämlich Braque und Picasso. Außer-

dem Krieg bekämpft werden müssen (ebd.,

dem war auch Delaunay mit einem Bild (Tour

S. 163).

Eiffel) im Almanach vertreten.

61  Ebd., S. 170.

43  Klee, Über die moderne Kunst (1924), S. 67.

62  Noch 1912/13 übte Marc Kritik an der „ple-

44  Zugleich sucht Marc in der Vorkriegszeit,

bejischen Wissenschaftsgläubigkeit“, die die

zunächst durchaus vergleichbar mit Klee, nach

Menschen vom Denken abhalte. Auch die neue

der „inneren Wahrheit der Dinge“ und ver-

Sicht der Wissenschaft wird von Marc nicht wei-

sucht, eine Art pantheistische Einfühlung in den

ter erläutert.

kosmischen Gesamtzusammenhang zu finden:

63  Franz Marc an Maria Marc, 2.12.1915, in:

„Ich suche mein Empfinden für den organischen

Briefe aus dem Feld (1948), S. 117.

Rhythmus aller Dinge zu steigern, suche mich

64  Franz Marc an Maria Marc, 2.3.1916, ebd.,

pantheistisch einzufühlen in das Zittern und

S. 152.

Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen,

65  Franz Marc an Maria Marc, 1.12.1915, ebd.,

in den Tieren, in der Luft [...]“ (zit. n. Kling-

S. 114.

söhr-Leroy [2010], S. 156, 165). Wir werden

66  Neujahr 1916, in: ebd., S. 126 f.

sehen, dass Klee eine Uminterpretation Marcs

67  2.2.1916, ebd., S. 136.

versucht, indem er ihn als einen Künstler dar-

68  Ebd., S. 80, 154.

stellt, der – angeblich im Gegensatz zu seiner

69  13.4.1915, ebd., S. 67.

eigenen Orientierung – noch dem „Diesseiti-

70  Vgl. hierzu auch v. Beyme (2005, 2009).

gen“ verhaftet sei.

71  „Aber die Eckensteher des europäischen

45  Franz Marc, Der Blaue Reiter (1912/1987),

Dramas haben nicht unserer Achtung und wer-

S.  34 f.

den keinen Gewinn von ihrer Ruhe haben. Sie

46  In: Lankheit (1978), S. 118.

gaben ihren Leib nicht der Läuterung des Krie-

47  Ebd., S.  117 f.

ges preis; ihr Gemüt brannte nicht im Fegefeuer

48  Platon (2013), S. 116 ff.

des Krieges [...]“ (Nr. 22). Noch deutlicher wird

49  Zahn (1920), S. 5.

er im Aphorismus Nr. 26: „Viele, die die innere

50  Franciscono (1991), S. 188.

Glut nicht haben, werden frieren und nichts

51  Zit. n. Förster (2000), S. 157.

fühlen als eine Kühle und in den Ruinen ihrer

52  In: Lankheit (1978), S. 119.

Erinnerungen wohnen.“ In seinen Überlegun-

53  Ebd., S.  158 f.

gen zur Abstraktion schrieb Klee Anfang 1915:

54  Jünger (1994), In Stahlgewittern, S. 15.

„In jener zertrümmerten Welt weile ich nur

55  Beim völkerrechtswidrigen Einfall der

noch in der Erinnerung, wie man zuweilen

deutschen Armee in Belgien 1914 wurden Hun-

zurückdenkt. Somit bin ich ‚abstrakt mit Erinne-

derte von Zivilisten erschossen, weil sie fälschli-

rungen‘“ (Tgb. 952). Und am Ende seiner bereits

cherweise als Freischärler betrachtet wurden.

zitierten Selbststilisierung als „jenseitiger“

Vgl. hierzu Piper (2013), S. 151 ff.

Künstler schreibt Klee: „Geht Wärme von mir

56  Zit. n. Lankheit (1978), S. 160.

aus? Kühle?“ In einem Brief vom 21.7.1915

57  Ebd., S. 164.

schreibt Marc: Es gehe ihm auf die „Nerven“,

334 I Anmerkungen

„wenn wir jemand sehen, der so tut, als ginge

Klees Diktum von Marcs angeblichem „Erdge-

ihn der Krieg, auch als Ereignis, gar nicht an“,

danken“ (anstelle des „Weltgedankens“) abwe-

was eine fast wörtliche Paraphrase von Klees

gig erscheinen. Zugleich zeigt sich hier, dass sich

bekannter Tagebucheintragung ist. In einem

Marc – ähnlich wie auch Klee – auf die Gedan-

Brief vom 3.2.1916 „revanchiert“ sich Klee, wie

kengänge von Worringers Abstraktion und Ein-

erwähnt, auf ungewohnt schroffe Weise: „Für

fühlung bezieht. Bemerkenswert ist an dieser

mich ist ein Krieg eigentlich nicht mehr not-

Stelle, dass Marc sich deutlich von H. St. Cham-

wendig gewesen, aber vielleicht für die ande-

berlain – ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts

ren alle die noch so zurück sind“ (Archiv Zent-

vielgelesener Autor – unterscheidet. Chamber-

rum Paul Klee).

lain geht ähnlich wie Marc von der Überlegen-

72  Hier fällt die Nähe zu religiös-sektiere­

heit des Germanentums aus und postuliert eine

rischen Positionen auf. Gemäß den Zeugen

für dieses spezifische Kunstform. Wie bei Marc

Jehovas wird nach Ankunft der „letzten Tage“

steht die „Seelenwahrheit“ bei Chamberlain

von Jesus ein „Endzeitkrieg“ geführt, in dem

vor der Form. Anders als bei Marc allerdings

schließlich die Macht Satans gebrochen wird.

muss für Chamberlain die germanische Kunst

Nach dem Krieg wird ein tausendjähriges Reich

„naturalistisch“ sein: „Echte germanische Kunst

göttlicher Herrschaft anbrechen. Die National-

muß naturalistisch sein, wo sie es nicht ist, ist sie

sozialisten, obwohl sie die Zeugen Jehovas

durch äußere Einflüsse aus ihren eigenen, gera-

v erfolgten, hatten kein Problem, sich des ­

den, in den Rassenanlagen deutlich vorgezeich-

Topos eines tausendjährigen Reiches zu bedie-

neten Wegen hinausgedrängt worden“ ([o. J.],

nen.

S. 1180). Erkennbar ist, dass die Kunstideologie

73  In seinen Gedanken zum Tode Marcs greift

des Nationalsozialismus auf Chamberlain – der

Klee implizit diese Reflexion Marcs auf, wobei

auch im Bayreuther Wagner-Zirkel einflussreich

er ebenfalls den Terminus „Formel“ verwen-

war – zurückgreift.

det – freilich ohne Verweis auf Marc: „Ich suche

76  Diese Dichotomie zwischen Erde und Welt

hierin einen entlegeneren, schöpfungsur-

wird später den Ausführungen Heideggers in

sprünglicheren Punkt, wo ich eine Art Formel

seinem Der Ursprung des Kunstwerks (1936/

ahne für Tier, Pflanze, Mensch, Erde, Feuer,

2008) zugrunde liegen.

Wasser, Luft und alle kreisenden Kräfte

77  Sieht man einmal von den regelrechten

zugleich. In Marc steht der Erdgedanke vor dem

Feindschaften zwischen Künstlern ab, so sind

Weltgedanke [...]“ (Tgb. 1008).

die Einschätzungen der Künstler untereinander

74  Die sich seit 1911 entwickelnde Atomfor-

erfreulicherweise häufig auch durch pointier-

schung – bahnbrechend für das Weltbild der

ten Witz charakterisiert. Bekannt ist etwa Cha-

modernen Wissenschaft – wird von Marc nicht

galls Bemerkung über Picasso: Picasso sei zwar

erwähnt. Ähnliches gilt auch für Klee. Von

ein Genie, schade sei nur, dass er nicht malen

Beyme spricht von dessen „fatale[r] Liebe zur

könne.

Wissenschaft“. Viele seiner wissenschaftlichen

78  Werckmeister (1981), S. 39. Hierzu ist anzu-

Begründungen seien nach Urteilen von Fachleu-

merken, dass sich zwar Klees und Marcs künstle-

ten „nicht nur falsch, sondern einfach unsin-

rische Vorstellungen ein Stück weit, nicht aber

nig“ (v. Beyme [2009], S. 24).

„diametral“ unterscheiden, die metaphysische

75  Auch derartige Gedanken eines Antinatu-

Grundorientierung sich jedoch weitgehend

ralismus und einer Antisentimentalität lassen

gleicht.

Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde  I  335

79  Klee verfasste ebenfalls einen Nachruf auf

seinen aufschlussreichen Kommentaren zu

Marc, dessen Manuskript offenbar verloren

Klees Texten hingewiesen: „Und doch: über-

gegangen ist, und der auf Betreiben von Marcs

blickt man die Reihe der Galeristen, deren

Witwe nicht veröffentlicht wurde.

Tätigkeit in den ‚Alpen‘ (eine schweizer Zeit-

80  Franz Marc, Brief an Maria Marc, 2.12.1915,

schrift, für die Klee Rezensionen verfasste)

in: Briefe aus dem Feld (1948), S. 117.

gewürdigt wird, so erweist sich, dass es mit

81  Zit. n. Zahn (1920), S. 5.

einer einzigen Ausnahme genau jene sind, mit

82  Vgl. Werckmeister (1981), S. 37 f. Werck-

denen gut sich zu stellen dem Maler vorteilhaft

meister merkt zutreffend an: „Klees Selbstklä-

erscheinen musste. Erwähnung finden nämlich

rung seines Verhältnisses zu Marc war so litera-

Kunsthändler, mit denen Klee – früher oder spä-

risch vorgeprägt, wie es ihre hochstilisierte

ter – selbst geschäftliche Beziehungen pflegte,

Niederschrift vermuten lässt. Aber die Quellen

zumal Thannhauser und Goltz“ (Geelhaar

waren nicht mehr Marcs Texte.“ (Hrv. MC).

[1978], S. 15). Allerdings äußerte sich Klee

83  Ebd., S. 83.

zumindest in seinen Tagebüchern an anderer

84  Zit. n. Suter (2006). S. 95.

Stelle über Thannhauser äußerst abfällig. Dieser

85  Zit. n. Werckmeister (1982), S. 78.

hatte mehrfach – mit fadenscheinigen Begrün-

86  Zumeist wurden die Postkarten von den

dungen – Bilder von Klee abgelehnt. Der

Frauen der beiden Künstler geschrieben und

angeblich weltferne Künstler Klee wusste

abgesandt, während Klee und Marc jeweils die

offenbar gut einzuschätzen, welche Verbindun-

Illustrationen vornahmen. 17 der erhaltenen

gen für ihn nützlich waren.

Karten wurden von den Marcs, sieben von den

98  Haftmann (1950), S. 45, zählt auch den

Klees verschickt.

Futurismus zum künstlerischen Fundament

87  Schuster (2010), S. 19 f.

Klees.

88  Ebd., S. 25.

99  Rümelin (2004), S. 48.

89 Ebd.

100  Ich möchte in diesem Zusammenhang –

90  Zit. n. Meißner (1989), S. 131.

neben dem im Folgenden zitierten Aufsatz von

91  Bildnerische Mechanik, Vorlesung vom

Ammann – insbesondere auf die Monographie

2.7.1924, zit. n. Geelhaar (1972), S. 31.

von Ammann (1972) sowie auf den Aufsatz von

92  „Allem Werdenden ist Bewegung eigen

Kaul (1997) hinweisen.

und bevor das Werk ist, wird das Werk“,

101  Schmalenbach (1997), S. 152.

schreibt Klee 1921/22 in Beiträge zur bildneri-

102  Umstritten ist auch, wie viele Aquarelle

schen Formlehre (1978), S. 54.

Klee tatsächlich in Tunesien gemalt hat. Groh-

93  Klee in: Geelhaar (1978), S. 108.

mann spricht von 30–35, während Haxthausen,

94  Ebd., S. 110.

der sich auf einen Brief Klees von 30.4.1914 an

95  Brief an Galka Scheyer, 22.10.1919, in: Jaw-

Sonderegger bezieht, nur 18 erwähnt. Vgl.

lensky (1983), S. 110. Jawlensky schreibt an Galka

Franciscono (1991), S. 323.

Scheyer, er habe von Moilliet gehört, dass Klee

103  Schmalenbach (1997), S. 153.

seine (Jawlenskys) „Köpfe“ für „zu gedacht“ hielte.

104  Kaul (1997), S. 159.

96  Ich werde in Kap. 5 auf diesen Aspekt

105  Grohmann (1954), S. 56.

näher eingehen.

106  Hinzu kommt, dass Macke den metaphysi-

97  Auf eine derartige Tendenz Klees hat Geel-

schen Spekulationen Klees und Marcs distan-

haar – mit leicht sarkastischem Unterton – in

ziert gegenüberstand. Klees kritische Anmer-

336 I Anmerkungen

kungen zu dem „Erdgedanken“ Marcs hätten

Klees Hinweis auf die „zarte Malerei“ würde

viel besser auf Macke als auf Marc gepasst.

dabei am ehesten auf Sitzender Akt zutreffen.

107  Grohmann (1954) bemerkt dazu: „Das

126  W. Hofmann (1978), Die Grundlagen der

Wort Freund hat Klee nur ein paar Mal im

modernen Kunst, S. 271.

Leben gebraucht“ (S. 56).

127  Ebd., S. 423. Ich werde später, im Kontext

108  Vgl. Öhlschläger (2000), S. 231 ff.

der Nachkriegsrezeption Klees, noch einmal

109  Klee, in: Geelhaar (1976), S. 107.

ausführlicher auf Hofmanns Argumentation zu

110 Ebd.

Klee und dem Kubismus eingehen.

111  Der Adressat ist vermutlich Moilliet, der

128  Klee (1924), S. 64 f.

damals in Gunten lebte.

129  Prange (1991), S. 327 f.

112  Ich beziehe mich auf Hopfengarts Einlei-

130  Vgl. hierzu unten „Klee und der Krieg“.

tung und Kommentare zum Katalog Zentrum

131  Der Begriff des Zwischenreichs lässt sich

Paul Klee: Klee trifft Picasso (2010).

bei Klee nur schwer definieren. Er bedeutet u. a.

113  Hopfengart, in: Zentrum Paul Klee (2010),

das Zwischenreich zwischen Realität und Phan-

S. 33.

tasie, aber auch zwischen Diesseitigem und Jen-

114  Ebd., S. 34.

seitigem. Auch die Atmosphäre oder das Wasser

115  Ebd., S.  33 f.

werden von Klee als Zwischenreich bezeichnet

116  Aichinger-Grosch in: Grote (1959), S. 54.

(1924), S. 63.

117  Geiser, in: Zentrum Paul Klee (2010), S. 260 ff.

132  Zu Haftmanns Klee-Interpretation vgl.

Klee hatte vermutlich im Herbst 1933, anlässlich

auch Kap. 7.

eines Besuchs bei Kahnweiler, Picasso in seinem

133  Vgl. Clemenz (2012 b, 2013). Ich habe in

Atelier besucht. Wir finden darüber nur eine Ein-

diesem Zusammenhang von einem speziellen

tragung in seinem Notizbuch: „26. Okt. Galerie

Typ der Fälschung gesprochen, der semanti-

Simon. Nachmittag 2 Uhr bei Picasso“ sowie eine

schen Fälschung. Je mehr die Kunst „kommen-

knappe Mitteilung an seine Frau, in der ebenfalls

tarbedürftig“ wird (Gehlen), desto eher besteht

nur darauf hingewiesen wird, dass er Picasso

die Gefahr, dass die Kommentare sich von den

besuchte (Hopfengart [2010], S. 52). Erstaunlicher-

Werken lösen und damit beliebig austauschbar

weise berichtet Geiser, dass Picasso behauptet

werden.

habe, Klee erstmals 1937 in Bern begegnet zu sein.

134  Haftmann (1950), S. 54.

118  Ebd., S. 262.

135 Ebd., S. 55.

119  Geiser, in: Zentrum Paul Klee (2010), S. 62.

136  Neben der Ausstellung von 1932, dem

120  Hopfengart (2010), S. 63.

fraglichen Treffen von 1933 und dem von 1937

121  Davon wird bei Geiser allerdings nichts

hatte Klee auch früher, seit seiner Zeit beim

berichtet. Vielleicht handelt es sich um eine der

Blauen Reiter, ausführlich Gelegenheit, sich mit

von Picasso geschätzten Ausschmückungen der-

Picasso auseinanderzusetzen: Durch Ausstellun-

artiger Treffen.

gen (etwa der Picasso-Retrospektive von 1913

122  Penrose (1981), S. 361 f.

in der Galerie Thannhauser), private Sammlun-

123  Hopfengart (2010a), S. 40.

gen (u. a. des Berner Sammlers Rupf, der auch

124  Brief an Lily Klee, 7.10.1932, in: Briefe an

Klee sammelte), später auch durch die Cahiers

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1189.

d’art, die regelmäßig das Werk Picassos präsen-

125  Es handelt sich hier allerdings um zwei in

tierten, war Klee mit dem Werk des „Spaniers“

gänzlich unterschiedlichem Stil gemalte Bilder.

(wie er Picasso nannte) somit bestens vertraut.

Abstraktion und Farbe. Klees Künstlerfreunde  I  337

137  Hopfengart (2010), S. 47.

dem von Klee geschätzten Kunsthistoriker Wil-

138  Zu diesen tendenziell abstoßenden Akten

helm Worringer (u. a. mit dem skurrilen Argu-

hat Picasso einmal gesagt, wenn er eine Frau in

ment, die französische Gotik sei ohnehin die

einem Sessel male, habe er sie bereits verlassen.

Domäne der deutschen Kunsthistoriker gewe-

Der Unterschied wird deutlich, wenn man sie

sen).

etwa mit den erotischen Akten vergleicht, die

146  Werckmeister (1981), S. 22.

Picasso von Marie-Therèse Walter gemalt hat.

147  Ebd., S. 35.

139  Vgl. hierzu Kap. 6, „Das Spätwerk“.

148 Ebd.

140  Paul Klee, Brief an Kandinsky, 19.8.1914,

149  Franciscono (1991), S. 217 ff.

zit. n. Zentrum Paul Klee (2012), S. 89.

150  „Most of Klee’s pictures in the later years

141  Abb. dieser selten reproduzierten Litho-

[d. h. nach 1915] avoid reference to moral con-

graphie bei Werckmeister (1981), S. 11.

flicts in any form whatever, tending instead

142  Im Begleittext zu Trakls Gedicht hieß es in

towards an imagery of fairytale-landscapes

der Zeitschrift, Trakl sei seinen Kriegsverwun-

made otherwordly by the inclusion of enigmatic

dungen erlegen. In Wirklichkeit hatte Trakl mit

signs [...]“ (Franciscono [1991], S. 211).

einer Überdosis Kokain Suizid begangen.

151  Werckmeister (1981), S. 83.

143  Werkmeister (1981), S. 15.

152  Die teilweise irrationale Perspektive vom

144  Das Bild, das ausweislich des Œuvre-Kata-

Klees Arbeitsraum erinnert an das spätere Geis-

logs Anfang 1915 entstanden war, bezieht sich

terzimmer, in dem die Brüche und Verschrän-

möglicherweise auf den Untergang der „Lusita-

kungen der Perspektivlinien geradezu schwin-

nia“. Dieses Passagierschiff wurde am 7.5.1915

delerregend sind.

von deutschen U-Booten torpediert und ver-

153  Der Beitrag wurde zwar erst 1920 veröf-

senkt, wobei Hunderte von Zivilisten den Tod

fentlicht, Klee arbeitete allerdings, wie seine

fanden. Nachträgliche Untersuchungen stellten

Briefe an Lily zeigen, bereits seit 1918 daran. Da

fest, dass das Schiff tatsächlich größere Mengen

Klee in dieser Zeit auch eng mit Wilhelm Hau-

Kriegsmaterial befördert hatte. Gleichwohl

senstein zusammenarbeitete, der 1921 eine Bio-

handelte es sich angesichts der hohen Zahl an

graphie über den Maler veröffentlichen sollte,

zivilen Opfern um einen völkerrechtswidrigen

ist denkbar, dass Klee bei seiner Ausarbeitung

Akt, was allerdings in der deutschen Öffentlich-

auch von Hausenstein beeinflusst wurde. Er

keit weitgehend anders gesehen wurde. Klees

war – wie noch gezeigt werden soll – auch

Graphik enthält keine Glorifizierung der „Zer-

bereit, gewisse Konzessionen an Hausensteins

störung durch die Marine“, sondern eine dis-

neue religiöse Überzeugungen zu machen.

krete Distanzierung von deren „Zerstörungen“.

154  Klee (1920), zit. n. Geelhaar (1976), S. 122.

145  Brief von Hans Goltz an Karl-Ernst Ost-

155  Werckmeister (1981), S. 87.

haus, 9.10.1916, zit. n. Franciscono (1991),

156  Vgl. Zentrum Paul Klee (2012), S. 98.

S. 208. Franciscono verweist darauf, dass sich

157  Zu Hausensteins ambivalenter Klee-Bio-

die Thematik der Graphik auf die Beschießung

graphie vgl. Kap. 5. Werckmeister beschreibt

der Kathedrale von Reims durch die deutsche

Klees künstlerische und politische Orientierung

Artillerie beziehen könnte, die im Ausland als

um 1919 folgendermaßen: „Nach der Unterdrü-

weiteres Beispiel für die Barbarei der deutschen

ckung der Räterepublik wirkte Klee an der

Kriegsführung galt. In Deutschland wurde sie

gegenrevolutionären ideologischen Neuorien-

als militärisch notwendig legitimiert, auch von

tierung mit, die seine Kollegen von der Münch-

338 I Anmerkungen

ner Secession in der Zeitschrift Neue Blätter für

den Gebrüdern Schlegel oder Schleiermacher

Dichtung und Graphik propagierten, und ließ

entwickelt wurde. Bei meinen Verweisen auf

sich darin von dem Kunstkritiker Eckart von

die Philosophie des transzendentalen Idealis-

Sydow zur weltabgewandten, ja parareligiösen

mus beziehe ich mich u. a. auf die Ausführun-

Figur verklären.“ (Werckmeister [2000], S. 53).

gen von Manfred Frank (1985, 1989) sowie auf

158 Ebd.

Walter Benjamins Arbeit Der Begriff der Kunst-

159  Glaesemer (1973), S. 118.

kritik in der deutschen Romantik (1974). Eine erfreulich klare und prägnante Darstellung der Philosophie des frühen Schellings findet sich bei

4. Klees Kunstphilosophie

Fukaya (2006). Bei der Bedeutung der Romantik für die bildende Kunst beziehe ich mich insbe-

1  Vgl. hierzu u. a. Glaesemer (1987), Francis-

sondere auf Rosenberg (1981). Wir haben im

cono (1991), Watson (2009), Sparagni (2009).

Übrigen bereits gesehen, mit welcher Vehe-

Dem Thema wurde eine Ausstellung gewidmet:

menz Klee Marc gegenüber die Bedeutung der

Paul Klee und die Romantik. Ausstellungskata-

Romantik verfocht.

log (2009).

6  Zit. n. Schuster (1995), S. 48.

2  Paul Klee, Bildnerische Gestaltungslehre

7  Klee, in: Geelhaar (1976), S. 126.

(BG), Archiv Zentrum Paul Klee (der Text steht

8  Den Ausdruck „weltschöpferisch“ hat Klee

im Internet unter diesem Titel zur Verfügung).

aus dem Philosophischen Wörterbuch, hrsg. v.

Vollständig veröffentlicht aus dem Pädagogi-

H. Schmidt (1916), übernommen, aus dem er

schen Nachlass ist bisher nur Klees Vorlesungs-

diesen Begriff mit genauer Seitenangabe

manuskript Beiträge zur bildnerischen Form-

(S. 145) zitiert.

lehre (1978).

9  Sparagni (2009), S. 20.

3  In: Geelhaar (1976), S. 131. Genau betrach-

10  Zu Recht gibt Günter Blöcker seiner ausge-

tet sind diese drei Begriffe für Klee tatsächlich

zeichneten Kleist-Studie (1983) den Titel: Hein-

zutreffend.

rich von Kleist oder Das absolute Ich.

4  „Klees Bezug zur Romantik ist vielschichtig. Er

11  Zit. n. Benjamin (1974), S. 34 f.

erschließt sich in seiner ganzen Dimension erst,

12  Ebd., S. 35.

wenn man den Blick auf Besonderheiten der Bild-

13  BG I, 2/76.

gestaltung richtet und nach dem ‚Wie‘ des Dar-

14  Vgl. Köcky (1987).

gestellten fragt. Dann wird deutlich, dass es Klee

15  Vgl. hierzu etwa Kersten (2005), S. 74 ff.

weniger darum ging, [...] einen ‚Lehrgang in

Eine detaillierte und kenntnisreiche Auseinan-

romantischer Weltanschauung und Gefühlskultur

dersetzung mit Worringer findet sich bei Öhl-

zu inszenieren‘, sondern in erster Linie darum,

schläger (2005).

Bilder zu malen.“ (Sparagni, in: Paul Klee und die

16  In der Nachlassbibliothek Klees findet sich

Romantik [2009], S. 34). Dem kann man nur ent-

lediglich eine Reihe der Schriften von Novalis

gegenhalten, dass Klee weitaus stärker in der

(schriftliche Mitteilung von Eva Wiederkehr,

„romantischen Weltanschauung“ verhaftet war,

Zentrum Paul Klee).

als es auf den ersten Blick erscheint.

17  Prange (1991), S. 345.

5  Ein etwas präziserer Terminus hierfür wäre:

18  Öhlschlager (2000), S. 236.

Philosophie des „transzendentalen Idealismus“,

19  Brief an Lily Klee, 30.7.1911, in: Briefe an

wie er von Fichte, Schelling, Hölderlin, Novalis,

die Familie (1979), Bd. 2, S. 768. Klees Kunstphilosophie I 339

20  Worringer, Brief an den Kunstsammler und

33  Worringer (1908/2007), S. 84.

Klee-Förderer Otto Ralfs, 10.1.1951, Archiv Zen-

34  In ihrer Einleitung zu Worringers Text weist

trum Paul Klee. Worringer spricht davon, dies

Öhlschläger (2007) auf dieses Problem hin: „In

sei die einzige Begegnung gewesen, die ihm als

diesem völkerpsychologischen und ideologi-

„bedeutsam“ in Erinnerung geblieben sei.

schen Zuschnitt einer Kunstgeschichte, die

21  Brief an Lily Klee, 30.7.1911, in: Briefe an

zugleich Universalgeschichte zu sein bean-

die Familie (1979), Bd. 2, S. 768.

sprucht, liegt sicherlich die größte Schwierigkeit

22  Worringer (1908/2007), S. 79.

von Worringers Abstraktionstheorie“ (S. 13).

23  Ebd., S. 73.

35  Blumenberg (1986), S. 12 ff.

24  Ebd., S. 82.

36  G. Lukács (1971), Gesamtausgabe, Bd. 4,

25  Es ist fraglich, ob der Terminus „transzen-

S. 124.

dental“ an dieser Stelle angemessen ist, da

37  Öhlschläger (2007).

Worringers Überlegungen ja auf ein Ding

38  Ich werde später (Kap. 7) die These begrün-

„An-Sich“, auf ein „Absolutes“, hinauslaufen.

den, dass auch Klees „Kristallisation“ eine Form

„Transzendental“ dagegen bedeutet „erkennt-

der Entfremdung darstellt.

niskonstituierend“.

39  Worringer (1908/2007), S. 97.

26  Worringer (1908/2007), S. 83.

40  Es ist die „geometrische Abstraktion“, die

27  Worringer bezieht sich in seinen Ausfüh-

die „absolute Form“ und damit den Zugang zum

rungen explizit auch auf Alois Riegl, insbeson-

Absoluten und zum „Ding an sich“ verbürgt:

dere auf dessen Theorie des „Kunstwollens“

„Sie war die für den Menschen einzig denkbare

und des „Ornaments“ (vgl. ebd., S. 72, 86 etc.).

und erreichbare absolute Form“ (ebd., S. 98).

28  Klee (1920), zit. in: Geelhaar (1978), S. 120.

41  Ich werde später darauf eingehen, dass –

29  „Transzendental“ wird hier im Sinne Kants

aus der Perspektive Adornos – der „Wahrheits-

als erkenntniskonstituierend bzw. vernunftnot-

anspruch“ der Abstraktion durchaus fragwür-

wendig verwendet. Entsprechend der transzen-

dig ist.

dentalen Dialektik Kants sind somit die Ideen

42 Klee, Bildnerische Gestaltungslehre, BG II,

„Seele“, „Welt“ und „Gott“ transzendentale

21/4. Ich werde auf diese Zusammenhänge noch

Ideen.

einmal im Kontext der Klee’schen Bauhauslehre

30  Worringer (1908/2007), S. 80.

zurückkommen.

31  Ebd., S. 83.

43  Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass

32  Es bedürfte einer längeren Diskussion, um

Klee die „Klassik“ für „geistlos“ hielt. Es ging

zu zeigen, was Worringer bei seiner Grund-

ihm um das Prinzip des Geistigen, das für ihn

these alles ausgeklammert hat. So allgemein,

mit der Bewegung assoziiert wird, Bewegung,

wie er das Phänomen der Spiritualität fasst,

die für ihn auch das Prinzip des Kosmos

müsste fast alles unter diesen Begriff subsu-

schlechthin darstellte und die für ihn am deut-

miert werden. Magie wäre dann ebenso ein

lichsten im „Geist“ der Romantik verkörpert war.

Mittel, sich der Relativität der Außenwelt ent-

44  Klee (1978), Beiträge zur bildnerischen

gegenzustellen wie Religion oder Naturwissen-

Formlehre.

schaft. Sloterdijks Theorie der „Immundisposi-

45  Klee, BG 21/91.

tive“ hat diese Zusammenhänge überzeugend

46  Klee (1924), S. 64.

herausgearbeitet (Sloterdijk [2011], Du musst

47  Worringer übersieht auch, dass eine

dein Leben ändern, S.  18 ff.).

Kunstepoche wie die klassisch-griechische, die

340 I Anmerkungen

ihm zufolge von Einfühlung und (Natur-)Nach-

57  Schellings Philosophie war lange Zeit fast

ahmung geprägt war, teilweise deutlich meta-

vergessen. Nicht zuletzt durch Heideggers

physisch orientiert war. Gerade die platonische

Schelling-Vorlesungen wurde dessen Bedeu-

Philosophie sieht den „absoluten Wert“ nicht in

tung als idealistischer Philosoph gleichsam wie-

den wechselnden empirischen Erscheinungen,

derentdeckt. Neuere Interpretationen haben

sondern in den „Ideen“, dem schlechthin Seien-

das Schwergewicht auf unterschiedliche

den, dem ontos on. Deshalb verurteilt Platon

Aspekte seiner Philosophie gerichtet, u. a. auf

die Kunst auch als Trugbild, als Schein des

die Topoi der Freiheit, des Absoluten oder der

Scheins. 

Bedeutung des Göttlichen. Mit den von mir aus-

48  Klee (1920), in: Geelhaar (1976), S. 124.

gewählten Zitaten und meiner Interpretation

49  Frank (1985), S. 80.

beanspruche ich keine verbindliche Interpreta-

50  Ähnlich argumentiert im Übrigen auch Sar-

tion Schellings. Ich habe mich auf diejenigen

tre (2003) in Das Sein und das Nichts im

Aspekte konzentriert, anhand derer die Nähe

Abschnitt über das „präreflexive cogito“.

zu Klees Kunstphilosophie deutlich wird.

51  Derartige Überlegungen sind insofern auch

58  Zit. n. Prange (2013), S. 77.

noch heute relevant, wenn es etwa bei Bestre-

59  Ebd., S. 78.

bungen der philosophy of mind darum geht,

60 Ebd.

menschliches Denken durch Computerprozesse

61  Oken, zit. n. Köcky (1987), S. 111.

zu simulieren. Computer sind „intelligent“, sie

62  Schelling (1859/1976), S. 17.

können ihr „Tun“ analysieren und sind zu

63  Vgl. hierzu Kap. 5. Die prägnanteste Äuße-

„Urteilen“ fähig. Sie besitzen aber kein autono-

rung Kandinskys zu derartigen Spekulationen

mes, „absolutes Ich“, sondern sind von einem

ist sein Diktum, dass es in der Wissenschaft kein

Ich abhängig, das sie programmiert, sie sind

„Absolutes“ gebe, wobei er seine eigenen

be-dingt, also „Dinge“.

kunsttheoretischen Untersuchungen zweifels-

52  Das Konzept der „intellektualen Anschau-

frei als „Wissenschaft“ versteht.

ung“ ist das wahrscheinlich komplizierteste und

64 Kant, Kritik der Urteilskraft (KdU), § 59.

dunkelste der romantischen Philosophie. Eine

Kant formuliert dieses Programm in seiner Ein-

einigermaßen transparente Darstellung dessel-

leitung zur KdU: „Also muß es doch einen

ben würde einen gesonderten Beitrag erfor-

Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches

dern.

der Natur zugrunde liegt, mit dem was der Frei-

53  Zit. n. Frank (1985), S. 57 f.

heitsbegriff praktisch enthält, geben“ (KdU,

54  Klee, in: Geelhaar (1976), S. 126, Schelling

Einleitung XX). Kurz darauf formuliert er diesen

(1859/1976), S. 29. Darüber hinaus ist das „Abso-

Gedanken noch prägnanter: Die Urteilskraft

lute“ für Schelling die „Totalität“ aller „ideellen

„[...] gibt den vermittelnden Begriff zwischen

Bestimmungen“, ebd., S. 8.

den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff,

55  „Die Zwiesprache mit der Natur bleibt für

der den Übergang von der theoretischen zur

den Künstler conditio sine qua non. Der Künst-

reinen praktischen (Vernunft) [...] möglich

ler ist ein Mensch, selber Natur und ein Stück

macht“. In dem ob seiner komplizierten Argu-

Natur im Raume der Natur“ (Klee, in: Geelhaar

mentation berüchtigten § 57 über die „Auflö-

[1976], S. 124).

sung der Antinomie des Geschmacks“ versucht

56 Klee, Bildnerische Gestaltungslehre, Prinzi-

Kant zu zeigen, dass Geschmacksurteile sowohl

pielle Ordnung, I. 2/4.

in der Idee der Freiheit als auch in der Idee der Klees Kunstphilosophie I 341

Zweckmäßigkeit der Natur begründet sind, im

72  Literaturangaben zur Philosophie der

„übersinnlichen Substrat der Menschheit als

Romantik vgl. Kap. 4.1.

auch im übersinnlichen Substrat der Erscheinun-

73  Rosenberg (1981), S. 16 ff.

gen“.

74  Glaesemer (1987), S. 19.

65  Kant, KdU, Einleitung XLIII/IV. Ich werde

75  da Vinci (1990), S. 165.

das Problem der „Zweckmäßigkeit“ weiter

76  Safranski (2007), S. 134 f.

unten noch näher ausführen, vgl. insbes. Kap. 5,

77  Ebd., S. 148.

„Freundschaft und Auseinandersetzung mit

78  „Denn im Fühlen wird Gott wieder vom

Kandinsky“. Vereinfacht ausgedrückt besagt

Subjekt gesetzt“ (zit. n. Hirschberg [1980],

der auf den ersten Blick vielleicht befremdliche

Geschichte der Philosphie S. 399).

Begriff der Zweckmäßigkeit bei Kant, dass das

79  Rosenberg (1981), S. 16.

Kunstwerk „zweckmäßig“ ist, um in uns ein

80  Klee (1924), S. 66.

„harmonisches“ Zusammenspiel von Einbil-

81  EBd. (Hrv. Klee).

dungskraft und Verstand zu bewirken – ein

82  Paul Klee, Schema Ich – Du – Erde – Welt,

durchaus subjektives Verständnis von Zweckmä-

BG, Bildnerische Mechanik (II/21), Archiv Zent-

ßigkeit. Andererseits ist das Geschmacksurteil

rum Paul Klee.

„zweckfrei“, d. h., es enthält weder theoreti-

83  Faksimile der Handschrift Klees, in: Zahn

sche Bestimmungen noch moralische Forderun-

(1920), S. 7.

gen. Insofern ist die scheinbar paradoxe Formel

84  Klee (1924), S. 66.

Kants zutreffend, das Kunstwerk sei „Zweckmä-

85  Ebd., S. 65.

ßigkeit“ ohne „Zweck“.

86  Den Ausdruck „weltschöpferisch“ hat

66  Kant, KdU, § 49, B 192 f.

Klee – mit Zitatangabe – aus H. Schmidt (1916),

67  Dass Kant selbst die Naturanlage des

Philosophisches Wörterbuch, übernommen.

Genies keineswegs einseitig verabsolutierte,

Zum Begriff „kosmogenetisch“ siehe BG I, 1/16.

sondern auch dem Schulgerechten und Mecha-

87  Dies mag damit zusammenhängen, dass

nischen im ästhetischen Produktionsprozess

die Bildnerische Gestaltungslehre im Wesentli-

einen wichtigen Stellenwert einräumte, zeigt H.

chen Unterrichtsnotizen enthält. Vor einem lite-

Zitko (2014), S. 98 ff., in: Reflexion und ästheti-

rarischen Publikum kam Klees Tendenz zur

sche Wahrnehmung. Zum schwierigen Verhält-

Selbststilisierung zum Tragen, wie wir sie schon

nis von Theorie und Praxis in der Kunst.

in seinen frühesten Tagebucheintragungen

68  Kant, KdU, § 49, B 199 f.

(„Ich bin Gott“) finden.

69  Ich beziehe mich dabei in erster Linie auf

88  „Die Fragen nach romanisch? gothisch,

die Frühromantik, wie sie zwischen 1795 und

spätgothisch, klassisch [...] bekommen ein prae-

1805 insbesondere von Schelling, Novalis, Höl-

zises Gesicht durch eine Kritik nach dem mecha-

derlin und Schleiermacher ausgearbeitet

nischen Wesen hin. Das mechanische Wesen mit

wurde, die sich wiederum wesentlich auf die

seinen zugehörigen Grundbegriffen diesseitig

Philosophie Fichtes beziehen.

und jenseitig sagt dann auch viel mehr und

70  Frank (1989), S. 234.

wesentlich Geistiges aus als die Beschäftigung

71  „Die gefühlsmäßige Möglichkeit über einen

mit den äußerlich-formalen Erkennungsmerk-

Anfang hinaus zu gelangen, wird weiter im

malen all der verschiedenen Stile.“ (BG II,

Begriffe des Unendlichen gekennzeichnet [...].“

21/100f.).

Klee, BG I, 2/76, vgl. auch Klee (1924), S. 64.

89 Ebd.

342 I Anmerkungen

90  Klee (1924), S. 64.

103  Es ist bisher m. E. nicht geklärt worden,

91 Novalis, Aphorismen („Blütenstaub“), 16.

ob Klee Goethes Schriften zur Morphologie

Fragment, in: Novalis (1992).

selbst gelesen hat. Immerhin befindet sich in

92  Franciscono (1991), S. 3. Immerhin befin-

Klees Nachlassbibliothek eine Gesamtausgabe

den sich folgende Schriften von Novalis in Klees

Goethes. Klees Unterricht am Bauhaus zeigt

Nachlassbibliothek: Novalis, Werke in vier Tei-

jedoch, dass er Goethes Morphologie nahe-

len, Gedichte, Die Lehrlinge zu Sais, Heinrich

stand.

von Ofterdingen, Entwürfe, Fragmente I, Frag-

104  Zit. nach Schmidt (1984), S. 49. In meinen

mente II, Tagebücher, Aufsätze, hrsg. von H.

Überlegungen schließe ich an Schmidts exzel-

Friedemann (o. J. [1908]) (schriftliche Mitteilung

lente Darstellung der Goethe’schen Erkenntnis-

von Eva Wiederkehr, Zentrum Paul Klee).

theorie an.

Außerdem hat Klee, eigenen Angaben zufolge,

105  Zu den von Grohmann verbreiteten

F. Schlegels Roman Lucinde gelesen, ohne frei-

Klee-Mythen gehören auch Klees angebliche

lich allzu sehr von ihm begeistert gewesen zu

fundierte naturwissenschafliche Kenntnisse.

sein – er war ihm zu „erotisch“.

„Gewiß war Klee Maler, aber auch Naturfor-

93  Klee (1921/1922, 1978), S. 127.

scher, Philosoph, Dichter [...] Seine Einsichten in

94  Klee, BG I, 2/76.

die Natur gingen über die des Fachmanns gele-

95  Klee, BG I, 2/8.

gentlich hinaus, und die ‚anschauende Urteils-

96  Schelling (2004), S. 280. Hier hat Schelling

kraft‘ führte ihn zu ebenso tiefen, nur zeitnähe-

zugleich eine vereinfachte Fassung seiner Iden-

ren Erkenntnissen wie Goethe.“ (Grohmann

titätsphilosophie formuliert.

[1954], S. 378). Klee äußert sich in seinen veröf-

97  Klee, BG I, 2/19. An anderer Stelle schreibt

fentlichten Schriften nur sehr selten zu den

Klee: „Das erste Buch Moses, das sich mit der

Naturwissenschaften (etwa in „exakte versuche

Erschaffung der Welt befasst, wird auch die

im Bereich der kunst“) und seine „naturwissen-

Genesis genannt.“ (Klee [1978], Beiträge zur

schaftlichen“ Vorstellungen, wie er sie etwa in

bildnerischen Formlehre, S.  13 f.).

seinem Pädagogischen Nachlass äußert, sind

98  Sartre verfälscht Klee, indem er den zwei-

allenfalls im Kontext der romantischen Philoso-

ten Teil eines Satzes von Klee schlicht unter-

phie von Relevanz. So spricht er etwa davon,

schlägt: „Im Anfang ist wohl die Tat, aber darü-

dass in der Gliederung von Baum und Blättern

ber liegt die Idee“ (Klee [1920], S. 119) (Sartre

„Ideen“ „walten“ (BG I, 2/4).

[1968], S. 333).

106  Benjamin, zit. n. Schmidt (1984), S. 20.

99  Schelling (1859/1976), S. 10.

107  Cassirer, zit. n. ebd., S. 22.

100  Vgl. hierzu meine Ausführungen in „Eros

108  Ebd., S. 29.

und Thanatos“, Kap. 7.

109  J. W. v. Goethe, Italienische Reise, Teil III,

101  Glaesemer (1997), S. 26.

6.9.1787, in: Gesamtausgabe in 22 Bänden,

102  Auch Werner Hofmann hat die Bedeu-

Bd. 9, S. 646.

tung des Demiurgischen in der Kunstphiloso-

110  Zit. n. Schmidt (1984), S. 25.

phie Klees hervorgehoben und zugleich auf die

111  Vgl. hierzu auch Hoppe-Sailer (2009).

Nähe zu Goethe verwiesen: „Diese Einstellung

112  J. W. v. Goethe, Italienische Reise, in:

gegenüber den Naturprozessen macht den

Gesamtausgabe in 22 Bänden, Bd. 9, S. 48.

Künstler zum Mithelfer und Mitlenker der Welt-

113  Auch Goethe spricht gelegentlich von

schöpfung.“ (Hofmann [2003], S. 427).

„Totalität“, allerdings anders als Klee. Für Klees Kunstphilosophie I 343

Goethe als skeptischem Empiriker ist „Totalität“

5. Von München nach Weimar

nicht erreichbar, allenfalls als Zukunftsprojekt für die gesamte Menschheit.

1  Eine Ausnahme bildete zunächst Werckmeis-

114  J. W. v. Goethe, Erfahrung und Wissen-

ters ausgezeichneter und gut dokumentierter

schaft, in: Gesamtausgabe in 22 Bänden, Bd. 18,

Aufsatz über Hausensteins Kairuan-Buch (1982).

S. 95.

Öhlschläger (2000) sieht Hausenstein im Kon-

115  Brief an von Buttel, 3.5.1827, zit. n.

text einer kulturtheoretischen Debatte. Neuer-

Schmidt (1984), S. 46, Hrv. im Original.

dings ist auch Hopfengart (2005), neben den

116  J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexio-

früheren ambivalenten „Würdigungen“ Klees

nen, in: Gesamtausgabe in 22 Bänden, Bd. 2,

durch Hausenstein, auf dessen Kairuan-Buch

S. 719. Auch hier zeigen sich wiederum Ähnlich-

eingegangen. Allerdings bleiben ihre Anmer-

keiten mit Schelling, für den das Absolute nur

kungen dazu relativ kursorisch. Sie übersieht

in der Mannigfaltigkeit angeschaut werden kann.

insbesondere die Wandlung Hausensteins von

117  Ebd., S. 744.

einem Verfechter der expressionistischen Kunst

118  „Die

Verbindung

genetischer

in einen rückwärtsgewandten Kunsttheoretiker,

Methode und Urtypus ist von nicht zu unter-

der den „Nihilismus“ der Gegenwart anpran-

schätzender Bedeutung für Klees ästhetisches

gert.

Programm“ (Hoppe-Sailer [2009], S. 61). Aller-

2  Öhlschläger (2000), S. 236.

dings wird bei Hoppe-Sailers im Wesentlichen

3  Der Titel erfährt auf der Innenseite noch

überzeugender Beurteilung von Klees Verhält-

eine Erweiterung: Eine Geschichte vom Maler

nis zu Goethe nicht deutlich, dass beide letztlich

Paul Klee und von der Kunst dieses Zeitalters.

doch eine sehr unterschiedliche Vorstellung von

Beide Bücher waren bereits 1920 fertiggestellt,

„Naturwissenschaft“ hatten.

als Jahr der Veröffentlichung von Hausensteins

119  Klee (1924), Über die moderne Kunst,

Text wurde jedoch 1921 angegeben.

S. 65.

4  Zahn (1920), Faksimile-Nachdruck Ulan-

120  Petitpierre, zit. in F. Klee (1960), S. 258.

press, Marstone Gate (o. J.).

Anders als bei Kandinsky ist bei Klee nirgendwo

5  Über die Rolle Hausensteins bei der Grün-

erkennbar, dass er sich die transzendentalphilo-

dung der Münchner Neuen Secession gibt es

sophische Position Kants zu eigen gemacht

unterschiedliche Einschätzungen. Werckmeister

hätte.

sieht dabei eine führende Rolle Hausensteins,

121  So etwa bei Wikipedia (https://de.wikipe-

für die es allerdings keine weiteren Bestätigun-

dia.org/wiki/Farbenlehre_(Goethe)).

gen gibt. Laut https://dictionaryofarthistorians.

122  Klee, BG I, 2/117.

org war er lediglich „involved“.

123  O. L. Müller (2015), Mehr Licht. Goethe

6  Es handelt sich um die insgesamt 40 Seiten

mit Newton im Streit um die Farben.

umfassenden Manuskripte Hausenstein I und II

124  Ebd., S. 34. Goethe hatte offenbar nicht

(Klee [1988]).

die Mühe, die Müller annimmt, um im „Hellen“

7  In stark polemischer Form hat L. Zahn in

zu arbeiten. Der Dichter spricht davon, dass er

einem Artikel in Ararat (7 [1920], S. 53) einen

in einem „völlig geweissten Zimmer“ experi-

Vortrag von Hausenstein kommentiert (Zahn

mentierte (Farbenlehre, Einleitung und Histori-

war damals Redakteur der von Goltz heraus­

scher Teil, in: Gesamtausgabe in 22 Bänden,

gegebenen Zeitschrift Ararat und zugleich Kon-

Bd. 21).

kurrent Hausensteins hinsichtlich einer Klee-

344 I Anmerkungen

von

Biographie): „Einer, dem die ‚Rechte‘ der Kunst

14  Zit. n. ebd., S. 82.

verargte, daß er es mit der ‚Linken‘ hielt, stand

15 Ebd.

auf, sagte sich von der expressionistischen Irr-

16  Faksimileabdruck des Schreibens in: Grote

lehre los, gestand seinen Irrtum, verbarg nicht

(1959), S. 39.

seine Enttäuschung (die er auch auf andere

17  Zahn (1920), S. 17.

sowohl politische wie gesellschaftliche Erschei-

18  Klee (1988), Briefentwurf für Wilhelm Hau-

nungen ausdehnte) und kehrt reueerfaßt zum

senstein, S. 528.

impressionistischen Glauben Meier-Graefes

19  Ebd., S. 529. Wie wenig „weltfern“ Klee

zurück (woher er gekommen), aber als ein Hoff-

war, zeigt auch dieser Briefentwurf, in dem er

nungsbarer, der das Ende der Kunst überhaupt

sich auf mehreren Seiten mit den Details von

kassandrierte“ (zit. n. Werckmeister [1982],

Verlagsproblemen beschäftigt.

S. 92).

20  Hausenstein (1921), S. 10 f.

8  Zit. nach Werckmeister (1982), S. 27.

21  Ebd., S.  17 f.

9  Es ist unklar, worauf sich Hausensteins Hin-

22  Öhlschläger (2000), S. 237.

weis auf die „sublime Verderbtheit“ Klees

23  Hausenstein (1921), S. 21 f.

bezieht. In Frage kommen eigentlich nur die

24  Es ist aufschlussreich, Hausensteins Be­schrei-

Inventionen. Diese sind allerdings nicht „ver-

bung mit derjenigen von Thomas Mann zu ver-

derbt“, sondern, soweit es sich um die Frauen-

gleichen, der München ebenfalls gut kannte

darstellungen handelt, tendenziell misogyn.

(allerdings gilt dessen Darstellung dem München

10  Katalog zur Gedächtnisausstellung für

des Jahres 1910, vgl. hierzu auch Kap. 2). Thomas

Marc 1916. Ursprünglich sollte Klee diesen Bei-

Mann schreibt im Doktor Faustus: „Wovon ich

trag schreiben, durch die Intervention der

spreche ist das München der späten Regent-

Witwe Marcs wurde schließlich Hausenstein mit

schaft, nur vier Jahre noch vom Kriege entfernt,

dieser Aufgabe betraut. Es handelte sich aber

dessen Folgen seine Gemütlichkeit in Gemüts-

nicht darum, wie Geelhaar (1979), S. 257, ver-

krankheit verwandeln und eine trübe Groteske

mutet, dass der Text Klees „allzu persönlich“

nach der anderen zeitigen sollten, [...] München

war, sondern dass Maria Marc ein tiefes Miss-

mit [...] seiner Oktoberwiese, wo eine trotzig-fi-

trauen gegenüber Klee hegte.

dele Volkhaftigkeit, korrumpiert ja längst von

11  „Das Urteil ist vollkommen persönlich

modernem Massenbetrieb, ihre Saturnalien fei-

gemeint; es verpflichtet niemand. Zumal bleibt

erte; München mit seiner stehengebliebenen

die Einschätzung Klees sich bewusst, daß sie

Wagnerei, seinen esoterischen Koterien, die hin-

eine irgendwie allgemeingültige Urteilsnorm

ter dem Siegestor ästhetische Abendfeiern zele-

weder geben kann noch will; seine Zeichnung

brierten, einer in öffentliches Wohlwollen gebet-

ist so subjektiv und so voll von grundsätzlich

teten und grundbehaglichen Bohème.“ (Mann

Problematischem, daß sie objektiv-allgemeinen

[1967], S. 270). Der weitere Verlauf des Romans

Kunstmaßstäben gegenüber unmöglich geltend

macht jedoch deutlich, dass Thomas Mann mit

gemacht werden kann“ (zit. n. Werckmeister

seiner „trübe[n] Groteske“ keineswegs die Hau-

[1982], S. 79).

senstein’sche „Entfremdung“ meint.

12 Ebd.

25  Hausenstein (1921), S. 24.

13  Einseitiges Manuskript, datiert mit „Klee

26  Ebd., S. 27.

1918“ im Besitz von Renée-Marie Parry-Hausen-

27  Werckmeister (1982) hat sich ausführlich

stein, zit. n. ebd.

mit diesen Passagen auseinandergesetzt und Von München nach Weimar  I  345

zeigt, dass Hausenstein Klees diesbezügliche

42  Franciscono (1991), S. 243.

schriftliche Äußerungen nur einseitig rezipierte.

43  Ebd., S. 266.

28  Klees Formulierung, er sei „Werkzeug“ eines

44  Auch hier stoßen wir auf ein uns bereits

„fernen Willens“, spielt möglicherweise auf diese

bekanntes Phänomen. Während Klee in seinen

Passage an. Dies würde bedeuten, dass Klee von

Briefen an Lily minutiös über zahlreiche Einla-

Hausenstein nicht nur die Anregung aufgegriffen

dungen bei Kandinsky berichtet (bis hin zu den

hätte, sich intensiver mit religiös-metaphysischen

Gerichten, die ihm vom Ehepaar Kandinsky ser-

Fragen zu beschäftigen, sondern an diesem

viert wurden, z. B. „Hirsch und Spaghetti“),

Punkt eine Formulierung Hausensteins mehr

fehlt jeglicher Hinweis auf die geistige und

oder weniger direkt übernommen hätte.

künstlerische Auseinandersetzung mit Kandin-

29  In einem Brief an Lily Klee vom 19.8.1918

sky. Etwas skurril wirkt dabei der Hinweis, er

schreibt Klee über die Rezension Hausensteins

habe mit Kandinsky zusammen vor einem Café

in den Münchner Neuesten Nachrichten: „Der

umkehren müssen, weil sie angeblich kein Geld

Hausensteinsche Aufsatz, so schmeichelhaft er

hatten. Dieser Hinweis war allerdings an Felix

für mich ist, hat doch wieder eine Art Opposi-

mit dem mahnenden Zeigefinger adressiert,

tion in mir hervorgerufen und ich malte ein

man könne auch ohne „Vermögen“ „guter

streng organisiertes Stück Der Traum, eines mei-

Dinge“ sein (Briefe an die Familie, 20.12.1923,

ner schlagendsten Blätter, auf grobes Papierlei-

Bd. 2, S. 993).

nen mit Gipsgrund“ (in: Briefe an die Familie

45  Klee (1925), Pädagogisches Skizzenbuch

[1979], Bd. 2, S. 933).

(wiederaufgelegt als Faksimile-Ausgabe 1965).

30 Ebd.

46  Brief an Lily Klee, 25.10.1925, in: Briefe an

31  Werckmeister (1982), S. 89.

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1002.

32  In einem Brief an Lily Klee (24.6.1921)

47  Über seinen Kater Fritzi schreibt Klee an

bezeichnet Klee die „Polyphonie“ als eigen-

Lily: „Er ist sehr lieb, kriecht neuerdings unter

ständiges Stilprinzip.

die Bettdecke wie ein Mensch ... Es geht ihm

33  Hopfengart (2005), S. 80.

nichts ab ... hie und da Gehacktes und heut vom

34  „Vertrag“ Klee – Goltz, 1.10.1919, Archiv

lieben Gott die schöne Maus; es lässt sich ertra-

Zentrum Paul Klee.

gen, sagt er.“, Brief an Lily Klee, 5.10.1922, in:

35  Bei meinen Ausführungen zu Däubler,

ebd., S. 988.

Behne und von Sydow orientiere ich mich u. a.

48 Ebd.

an Hopfengarts (2005) Darstellung dieser Phase

49  Zit. n. Zentrum Paul Klee (2012), S. 127.

in Klees künstlerischer Karriere.

50  F. Klee (1960), S. 78.

36  Klee (1988), S. 528.

51  Ebd., S. 86.

37  Zit. n. Hopfengart (2005), S. 35.

52  Droste (1991), bauhaus 1919–1933, S. 48.

38  Ebd., S. 30.

53  Die Vorgänge, die zur Auflösung des Wei-

39  von Sydow (1919), zit. n. Hopfengart

marer Bauhauses führten, sind detailliert von V.

(2005), S.  33 f.

Wahl (2009), Das Staatliche Bauhaus in Weimar,

40  Scheffler (1920), zit. n. Hopfengart (2005),

dargestellt worden. Vgl. hierzu insbes. S. 48 ff.

S.  46 f.

54  Droste (1991), S. 49.

41  Scheffler (1930), Paul Klee, in: Kunst und

55 Ebd.

Künstler (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/

56  Brief an Lily Klee, 1.11.1924, in: Briefe an

kk1930/0136).

die Familie (1979), Bd. 2, S. 995.

346 I Anmerkungen

57  Brief an Lily Klee, 4.11.1924, in: ebd.,

der dort, wo sie durch eine Vertikale oder Hori-

S.  997 f.

zontale geschnitten werden, jeweils halbiert

58  Brief an Lily Klee, 23.6.1925, in: ebd.,

weiterführt, d. h., wir sehen Farbbänder, die die

S. 999.

Hälfte, ein Viertel, ein Achtel etc. der ursprüng-

59  Ebd., S. 997.

lichen Breite aufweisen.

60  Droste (1991), S. 58.

79  F. Klee (1960), S. 92.

61  Werckmeister (2000), S. 58.

80  Brief an Lily Klee 26.12.1928, in: Briefe an

62  H. Meyer, Mein Hinauswurf aus dem Bau-

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1074.

haus. Offener Brief an Oberbürgermeister

81  Brief an Lily Klee, 8.1.1929, in: ebd., S. 1083.

Hesse. Zit. n. Prange (2000).

82  Brief an Lily Klee, 26.4.1930, in: ebd.,

63  Brief an Lily Klee, 14.11.1926, in: Briefe an

S. 1116.

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1016.

83  Brief an Lily Klee, 10.5.1904, in: Briefe an

64  Brief an Lily Klee, 14.9.1929, in: ebd.,

die Familie (1979), Bd. 1, S. 421.

S. 1100.

84  Brief an Lily Klee, 31.10.1926, in: ebd.,

65  Brief an Lily Klee, 21.9.1929, in: ebd.,

S. 1012.

S. 1102.

85  Brief an Lily Klee, 23.7.1927, in: ebd.,

66  Brief an Lily Klee, 13.9.1929, in: ebd.,

S. 1054.

S. 1100.

86  Brief an Lily Klee, 10.4.1930, in: ebd.,

67  Lediglich an einer Stelle, in einem Brief an

S. 1120.

Lily vom 3.5.1930, berichtet Klee lapidar von

87  Brief an Lily Klee, 24.6.1930, in: ebd.,

„Aufrührern gegen den Kunstunterricht“,

S. 1130.

womit vermutlich die kommunistischen Studen-

88  Bereits 1905 erwähnt Klee einen „Rheuma-

ten gemeint waren, die nach Relegation ihrer

tismus“, Brief an Lily Klee, 5.10.1905, in: ebd.,

Kommilitonen auch Meyer attackierten.

S. 522.

68  Droste (1991), S. 199.

89  Sieht man von den „repräsentationalen“

69  So etwa bei Giedion-Welcker (2007).

Elementen seiner Kunst zwischen 1914–1918

70  Werckmeister (2000), S. 59.

ab, denen andererseits seine rein abstrakten

71 Ebd.

Werke in dieser Zeit gegenüberstehen, zeigen

72  Zentrum Paul Klee (2012), S. 128.

auch die Bemerkungen in Klees Jenaer Vortrag,

73  Brief an Lily Klee, 16.4.1921, in: Briefe an

dass sein Werk nicht auf der Achse Repräsenta-

die Familie (1979), Bd. 2, S. 975.

tion – Abstraktion zu verstehen ist. Es handelt

74 Ebd.

sich dabei vielmehr, wie bereits betont worden

75  Brief an Lily Klee, 21.6.1921, in: ebd.,

ist, um eine transzendentale Kosmologie, die

S. 980.

am ehesten der im Deutschen Idealismus veran-

76  Brief an Lily Klee, 24.6.1921, in: ebd.,

kerten Romantik vergleichbar ist.

S. 981.

90  Klee (1923/1976), Erstveröffentlichung in:

77  Brief an Lily Klee, 16.7.1927, in: ebd.,

Staatliches Bauhaus Weimar 1919–1923, S. 24 f.

S. 1053.

91  In: Geelhaar (1976), S. 124, Hrv. MC.

78  Brief an Lily Klee, 16.12.1928, in: ebd.,

92  Ebd., S. 126.

S. 1074 f. Diese Verzweigung des Kanalsystems

93 Ebd.

hat Klee in seinen Ägyptenbildern in geometri-

94 Ebd.

scher Form wiedergegeben, indem er Farbbän-

95  Klee (1924), S. 66. Von München nach Weimar  I  347

96  In: Geelhaar (1976), S. 126.

108 Klee (1978), S.  54 f.

97  Franciscono (1991), S. 6, 11.

109  Ebd., S. 56.

98  Klee (1978), Beiträge zur Bildnerischen

110  Ebd., S.  56 f.

Formlehre. Transkribiert und eingeleitet von J.

111  In seinem Beitrag zur „Schöpferischen Kon-

Glaesemer.

fession“ modifiziert Klee diese Vorstellung: Hier

99  In verknappter Form sind diese Überlegun-

spricht er vom Betrachter auch als „weidendem

gen in Klee (1925), Pädagogisches Skizzenbuch,

Tier“, dem im „Kunstwerk Wege eingerichtet“

wiedergegeben.

sind (Klee [1920], in: Geelhaar [1976], S. 120).

100  Klee (1978), S. 15.

112  Klee (1978), S. 66.

101  „Medial“ lässt sich hier so verstehen, dass

113  Ebd., S. 69.

die Linie ein Medium ist, um Flächen bilden.

114  Ebd., S. 71.

Gelegentlich verwendet Klee aber auch die

115 Klee, Bildnerische Gestaltungslehre, BG II,

Bedeutung, dass „medial“ eine Mittelstellung

21/70.

zwischen Linie und (gefüllter) Fläche einnimmt,

116  Zu Goethes Farbenlehre vgl. den entspre-

also ein „Medium“ beider ist.

chenden Abschnitt in Kap. 4.

102  Klee (1978), S. 16.

117  Klee (1978), S. 83 ff.

103  Die von Klee in diesem Zusammenhang her-

118  Klee griff hier noch einmal den Gedanken

vorgehobenen Kunstsymbole sind das Lot und –

des Simultankontrasts, wie er ihn bereits früher

als „Hauptsymbol“ – die Waage (ebd., S. 40).

bei Delaunay kennengelernt hatte (der sich

104  In Analogie zur Linie unterscheidet Klee

wiederum auf die Farbtheorie von Chevreul

hier zwischen dem aktiven Charakter des

bezieht), auf. Bereits Goethe hatte den von

Gehirns, dem medialen Charakter der Muskeln

Klee beschriebenen Effekt experimentell nach-

und dem passiven Charakter der Knochen.

gewiesen.

105  Vgl. hierzu Kandinsky (1926/1955). An die-

119  Klee (1978), S. 97 f.

sem Versuch, Grundlagen einer „Kunstwissen-

120  Ebd., S. 99.

schaft“ zu entwickeln, hatte Kandinsky nach

121  Ebd., S.101.

eigenen Angaben bereits seit 1914 gearbeitet.

122  So etwa bei Geelhaar (1972).

Ähnlich wie Klee wollte auch Kandinsky seine

123  Franciscono (1991), S. 259.

Untersuchung systematisch und exakt anlegen:

124  Klee, 29.10.1923, zit. n. Francisono (1991),

„Die Untersuchung sollte peinlich genau,

ebd.

pedantisch exakt vor sich gehen. Schritt für

125 Ebd.

Schritt sollte dieser ‚langweilige‘ Weg gegan-

126 Klee, Bildnerische Gestaltungslehre, BG I,

gen werden [...]“ (ebd., S. 19).

2/4.

106  Später, in den Notizen der Bildnerischen

127  Ebd., BG I, 2/8.

Gestaltungslehre, kritisierte Klee dagegen das

128  „romantik, kosmik, mystik“ – das sind die

Symbol als eine zu überwindende „assoziative

„hagelnden Schimpfworte“, die Klee nicht zu

Übereinkunft“ (BG II, 21/57).

Unrecht bei einigen seiner Kollegen vermutet

107  Dies ist möglicherweise eine implizite Kri-

(zit. in: Geelhaar [1976], S. 130).

tik an Kandinsky, der eine Kraft als movens

129  Brief Lily Klee an Will Grohmann,

unterstellte. Logischerweise benötigte Kandin-

4.7.1927, Archiv Zentrum Paul Klee.

sky deshalb auch keinen geheimen Funken

130  Brief Paul Klee an Will Grohmann,

„von irgendwoher“.

3.7.1929, Archiv Zentrum Paul Klee.

348 I Anmerkungen

131  Will Grohmann, Paul Klee 1923/24, in: Der

151  Kandinsky (1926/1955), S. 20.

Cicerone 17 (1925), S. 786.

152  Klee (1924), S. 66.

132 Ebd.

153  Kandinsky (1926/1955), S. 29, 140. Seine

133 Ebd.

ursprüngliche Sympathie für die Theosophie

134  Ebd., S. 788. Allerdings konnte Grohmann

von Blavatzky und deren „ewigwährende“

damals noch nicht wissen, dass sich später

Wahrheiten scheint Kandinsky 1926 weitge-

gerade Musiker von Klees Bildern inspirieren

hend überwunden zu haben.

ließen. Außerdem hat Klee sich intensiv mit

154  Ebd., S. 100.

dem Problem der „Polyphonie“ in der Musik

155  Es ist fraglich, ob man dies als „vitalisti-

wie in der Malerei beschäftigt.

sche Sicht“ Kandinskys bezeichnen kann

135 Ebd.

(Prange [2001], S. 6). Eher könnte man von

136  Ebd., S. 791.

einer Art Animismus sprechen. Im Übrigen ist

137 Ebd.

auch für Adorno, vitalistischer Tendenzen

138 Ebd.

unverdächtig, „Spannung“ eine zentrale kunst-

139  Grohmann (1954), S. 184.

theoretische Kategorie.

140  Klee, BG II, 21/57.

156  Klee, BG II, 21.

141  Grohmann (1954), S. 184.

157  Klee, BG II, 5.

142  Grohmann (1954), S. 189 f.

158  Klee, BG II, 21.

143  Ebd., S. 208.

159  In seinem Notizbuch aus dem Jahre 1926

144  Ebd., S. 207.

findet sich der Eintrag: „8. Jan. 11–1 Unterricht

145  Das Geistige eines Kunstwerkes ist viel-

in Dessau, materielle und ideelle Spannung“, in:

schichtig und vieldeutig: Wäre es lediglich

Briefe an die Familie (1979), Bd. 2, S. 1018. Fran-

Abbild eines Urbildes, benötigte man kein Bild,

ciscono führt die zunehmende Beschäftigung

man könnte es auch beschreiben, vorausge-

mit dem Konzept der „Spannung“ auf den Ein-

setzt, man wüsste, was dieses Urbild ist. Weiß

fluss von Kandinsky und Moholy-Nagy zurück.

man es nicht, ist es wiederum schwierig zu

160  Kandinsky (1926/1955), S. 100. Kandinsky

bestimmen, ob und in welcher Weise der Künst-

unterstellt Picasso, er habe den Kubismus aus

ler das Urbild erreicht hat. Klees „Sparsamkeits-

Zahlenverhältnissen konstruiert ([1912], S. 52).

regel“ (der Künstler müsse bis zum Äußersten

161  1912 hatte Kandinsky noch von einer

sparsam sein) und sein Credo, dass Kunst sicht-

kommenden „Epoche des großen Geistigen“

bar machen müsse, sind eine festere Grundlage

geschwärmt, die er auf einer Theorie einer

der Interpretation als Grohmanns Raunen von

pyramidenförmigen sozialen Schichtung der

der „metaphysischen Bezogenheit“ Klees.

Gesellschaft aufbaute. Kunst, so schrieb er 1912,

146  Grohmann (1954), S. 199.

solle „der Entwicklung und Verfeinerung der

147  Ebd. (1954), S. 377 f. Wie bereits mehrfach

menschlichen Seele dienen“ (ebd., S. 134, 143).

erörtert: „Transzendente“ Beziehungen gibt es

162  Klee, BG I, 1/16, ähnlich BG II, 21/122.

bei Klee nicht, nur transzendentale.

163  Kandinsky (1912/1963), S. 22.

148  Zit. n. Zentrum Paul Klee (2012), S. 174.

164  Ebd., S.  134 f.

149  Erschienen 1925 als Band 2 der bauhaus-

165  Adorno (1972), S. 15: „Die dem Anschein

bücher, hrsg. von Gropius und Moholy-Nagy.

nach reinsten Formen, die traditionell musikali-

150  Prange (2000), S. 72, hält dies für unwahr-

schen, datieren bis in alle idiomatischen Details

scheinlich, freilich ohne nähere Begründung.

hinein auf Inhaltliches wie den Tanz zurück.“ Von München nach Weimar  I  349

166  Dass Adorno damit keinem naiven Abbil-

unkünstlerische Wirkung), oder als ein unge-

drealismus à la Lúkacs verfällt, dürfte hinläng-

schickt aufgefasstes Märchen [...].“ (ebd.,

lich bekannt sein.

S. 120). Wie dieses Prinzip einer formalen „Har-

167  So etwa auch von Prange (2000).

monie“ mit der von Kandinsky stets propagier-

168  Kandinsky (1912/1955), S. 40.

ten künstlerischen Freiheit zu vereinbaren ist,

169  Klee, BG I, 2/4, 2/8.

bleibt offen.

170  Subjektiv „zweckmäßig“ im Unterschied

177  Hofmann (1978), S. 427.

zur objektiven teleologischen Zweckmäßigkeit

178  Zit. n. Prange (2000), S. 76.

einer „Als-ob“-Konstruktion, die den zweckmä-

179  Ebd., S. 78.

ßigen Zusammenhang der Natur unterstellt.

180 Ebd.

171  Kant, KdU, § 56.

181  Klee, BG II, 21/101.

172  Genau genommen ist „subjektive Zweck-

182  Brief an Lily Klee, 16.4.1921, in: Briefe an

mäßigkeit“ ein philosophischer Trick Kants, weil

die Familie (1979), Bd. 2, S. 925.

damit der Unterschied zwischen „Zweckmäßig-

183  Bereits 1922 schrieb Aragon in der Zeit-

keit“ als einem Urteilsprinzip a priori und einem

schrift Littérature einen Artikel über Klee, „Le

subjektiven, also nicht apriorischen Urteil theo-

dernier été“, in dem er ihn mit einer geheimnis-

retisch verschleiert wird. Kant kann nicht

vollen Pflanze („Hexenzahn“) verglich.

begründen, ob es sich bei dem ästhetischen

184  Zit. n. Prange (2000), S. 78.

Urteil um ein apriorisches Urteil oder um ein

185  Es wurde abgebildet in La Révolution Sur-

empirisches Phänomen handelt, d. h. um eine

realiste (1925); vgl. Klee (2012), S. 150.

subjektive Reaktion, die z. B. mit der Bildungsge-

186  Zentrum Paul Klee (2012), S. 150.

schichte des Subjekts zusammenhängt. Eine

187 Ebd.

unterschiedliche Bildungsgeschichte würde,

188  Eberlein (1991). Die Deutung des Titels als

obwohl die Urteile formal korrekt, d. h. ohne

Anagramm ist übrigens nicht überzeugend, in

kunstfremde Erwägungen zustande kämen,

der Umwandlung des Anagramms müssen alle

unterschiedliche ästhetische Urteile nach sich

Buchstaben vertreten sein. In „Der Angelus

ziehen, selbst wenn diese im Kant’schen Sinne

Satanas“ fehlt dagegen das i.

„interesselos“ wären. Ein „sensus communis“

189  Benjamin (1974), S. 697 f.

käme nicht zum Tragen. Kant hypostasiert ein

190  Eberlein (1991).

apriorisches Subjekt, bei der derartige empiri-

191  H. Freyer (1983), Odyssee eines Pariser

sche Differenzen keine Rolle spielen sollen. Zur

Bauern: Aragons „mythologie moderne“ und

Konstruktion von Kants Kritik der Urteilskraft

der Deutsche Idealismus, S. 158. Freyer weist

vgl. Clemenz (2010 a, Teil I).

u. a. auch darauf hin, dass Aragons Konzept des

173  Kandinsky (1912/1963), S. 124.

Surrealen Ähnlichkeit mit Hegels Konzept des

174 Ebd.

„Konkreten“ besitzt.

175  Ebd., S. 80.

192  A. Breton (1924), Manifest des Surrealis-

176  So führt Kandinsky z. B. an: „Die naturelle

mus, vgl. auch Pfeiffer (2011), S. 17.

Unmöglichkeit eines roten Pferdes verlangt

193  Klee berichtet bereits 1906/07 von „Abs-

unbedingt ein ebenso unnaturelles Milieu, in

traktionsübungen“ (Hausenstein I, S. 497), die

welches das Pferd gestellt wird. Anderenfalls

jedoch weitgehend Absichtserklärungen blieben.

kann die Gesamtwirkung entweder als Kuriosi-

Allein einige Hinterglasbilder mit Landschaftsmo-

tät wirken (also nur oberflächliche und ganz

tiven zeigen eine Tendenz zur Abstraktion.

350 I Anmerkungen

194  Die erhaltenen Arbeiten des Itten-Schü-

204  Altägyptische Darstellungen zeigen das

lers Wilhelm Hackelberg (aus der Berliner Zeit

Sonnensymbol mit einer ähnlichen Umrandung,

Ittens um 1930) zeigen anschaulich, wie derar-

wie Klee sie auf seinem Bild umsetzte.

tige Farbexperimente aussahen (Hackelberg [1992] und Archiv des Autors). In den Quadrat-

6. Düsseldorf, Bern, nach 1945

bildern findet die stärkste Anpassung Klees an den Genius Loci des Bauhauses statt. 195  Vgl. Droste (1991), S. 86. Auch ein Teppichentwurf von Gertrud Arndt zeigt dieses Mus-

1  Brief an Lily Klee, 15.5.1930, in: Briefe an die

ter (ebd., S. 72).

Familie (1979), Bd. 2, S. 1121.

196  Glaesemer (1976), S. 180 (Hrv. MC).

2  Zit. n. Zentrum Paul Klee (2012), S. 213.

197  Es ist nicht auszuschließen, dass einige der

3  Vgl. Brief an Lily Klee, 18.9.1930, in: Briefe

Bilder später, d. h. in Düsseldorf gemalt wurden.

an die Familie (1979), Bd. 2, S. 1141. Auch die

Generell ist eine scharfe Abgrenzung hier nicht

Querelen um die Entlassung und Nachfolge von

möglich, da Klee seinen Wohnsitz in Dessau

Meyer werden von Klee in seinen Briefen nicht

behielt, somit Bilder aus der Düsseldorfer Zeit

erwähnt, etwa die Tatsache, dass auch Kandin-

auch in Dessau gemalt sein können.

sky gegen Meyer votierte.

198  Die von Geelhaar getroffene Unterschei-

4  Brief an Lily Klee, 11.1.1933, in: ebd., S. 1216.

dung von „dynamischer“ und „farbiger“ Poly-

5  Brief an Lily Klee, 18.4.1932, in: ebd., S. 1188.

phonie ist ungenau, da es auch im Bereich

Kurt Weills Oper wurde 1932 in Berlin uraufge-

dynamischer Polyphonie farbige Werke gibt,

führt und später von den Nationalsozialisten

wie die von Geelhaar reproduzierten Werke

verboten. Sie basiert auf einem Libretto von

Klees zeigen.

Caspar Neher nach einem Text von J. G. Herder

199  Klee arbeitet in diesem Bild – sieht man

(Der afrikanische Rechtsspruch).

von Weiß und Schwarz ab – also nur mit soge-

6  Klee hatte inzwischen einen Vertrag mit

nannten echten Farbkontrasten, d. h. mit Pri-

Flechtheim abgeschlossen.

mär- und Komplementärfarben.

7  Die Beziehung zu Gret Palucca verkompli-

200  Klees Rezeptionsästhetik, wonach das

zierte sich später, weil Klees verheirateter

Auge die durch das Bild vorgegebenen Wege

Freund Grohmann eine Liebesbeziehung mit ihr

beschreitet, lässt sich an diesem Bild verdeut­

einging und Lily und Paul Klee auch eng mit

lichen. Das Bild hat kompositorisch und farb-

Grohmanns Frau befreundet waren.

lich eine klar herausgearbeitete Struktur. Wie

8  Hopfengart (2005), S. 73.

wir diese Wege jedoch beschreiten, in welcher

9  Im Ausstellungskatalog von 1928 wurde

Richtung also, bleibt dem Betrachter überlas-

auch die bereits erwähnte Huldigung René Cre-

sen.

vels abgedruckt. Vgl. ebd.

201  Zit. n. Geelhaar (1972), S. 56.

10  Grohmann (1954), S. 74.

202  Ebd. (1972), S. 120.

11 Ebd.

203  Ob der Kreis zugleich als „Leben spenden-

12  Brief an Lily Klee, 11.6.1931, in: Briefe an

des Kräftezentrum“ zu verstehen ist, mag

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1156.

dahingestellt bleiben, vgl. Scholz/Thomson

13  Es dürfte sich dabei um Petra Petitpierre,

(2008), S. 88. Für Klee war der Kreis in erster

Eugen Batz, Emil Hartwig und Henri Pfeiffer

Linie ein Symbol der Unendlichkeit.

gehandelt haben. Düsseldorf, Bern, nach 1945  I  351

14  Brief an Lily Klee, 21.11.1931, in: Briefe an

23  P. Petitpierre, Tagebuch 1928–1932, unver-

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1166 f.

öff. Autograph, Archiv Zentrum Paul Klee.

15  Es handelt sich um den Kunsthistoriker

24  P. Petitpierre, Die letzte Station, unveröff.

Richard Klapheck, Vater des Malers und Graphi-

Autograph, Archiv Zentrum Paul Klee, S. II.

kers Konrad Klapheck. Auch Richard Klapheck

25  Roßbroich (2002), S. 37.

wurde 1934 von den Nationalsozialisten entlas-

26  Brief an Lily Klee, 21.9.1930, in: Briefe an

sen.

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1143.

16  Lily Klee an Zschokke (16.7.1945), Archiv

27  Brief an Lily Klee, 1.12.1932, in: ebd.,

Zentrum Paul Klee.

S. 1204.

17  Brief an Lily Klee, 20.1.1932, in: Briefe an

28  Brief an Lily Klee, 11.12.1932, in: ebd.,

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1174.

S. 1207.

18  Brief an Lily Klee, 21.12.1932, in: ebd.,

29  Brief an Lily Klee, 30.1.1933, in: ebd.,

S. 1211.

S. 1225.

19  Petra Petitpierre (vor ihrer Verheiratung

30  Brief an Lily Klee, 10.2.1933, in: ebd.,

Frieda Kessinger, geboren 1905 in Zürich) stu-

S. 1230.

dierte zunächst Zeichnen und Malerei an der

31  Telegramm von Junghanns, kommissari-

ETH Zürich, später ging sie nach Dessau, wo sie

scher Leiter der Düsseldorfer Akademie an Paul

erst bei Kandinsky und Albers, später auch bei

Klee, Dessau, 21.4.1933, in: Zentrum Paul Klee

Klee studierte. Sie folgte Klee nach Düsseldorf

(2012), S. 225.

und fertigte Mitschriften seines Unterrichts an,

32  Brief an Lily Klee, 10.1.1933, in: Briefe an

die später auch veröffentlicht wurden. 1934

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1226.

heiratete sie den Architekten Hugo Petitpierre.

33 Ebd.

Sie blieb bis zu Klees Tod Freundin und Ver-

34  Brief an Lily Klee, 1.2.1933, in: ebd.

traute des Künstlers und machte sich selbst als

35  Brief an Lily Klee, 3.4.1933, in: ebd., S. 1233.

Künstlerin einen Namen.

Es war dann Junghanns selbst, der eine weitere

20  Brief an Lily Klee, 15.2.1932, In: Briefe an

„Eingliederung“ Klees abwies. Vgl. Werckmeis-

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1177. Frieda Kessin-

ter (2000), S. 61.

ger litt, wie sie in ihren – bisher unveröffentlich-

36  Brief an Lily Klee, 6.4.1933, in: Briefe an die

ten – Tagebüchern schreibt, unter chronischem

Familie (1979), Bd. 2, S. 1233 f.

Geldmangel, so dass sie sich häufig nicht einmal

37  Zit. n. Zentrum Paul Klee (2012), S. 224.

Briefmarken leisten konnte. Dass sie gleichwohl

Dass Klee „jedem“ erzähle, dass er arabisches

für Klee eine Havanna „aufsparte“, zeigt, dass

Vollblut in sich habe, dürfte eine Erfindung der

sie dem Treffen mit Klee offenbar eine große

Nationalsozialisten gewesen sein. Der einzige

Bedeutung beimaß.

mir bekannte Hinweis dieser Art findet sich in

21  Brief an Lily Klee, 17.4.1932, in: ebd.,

Hausensteins Kairuan-Buch über Klee, in dem

S. 1187.

dies jedoch lediglich als Vermutung geäußert

22  Sie wird als Klee-Vertraute zwangsläufig

wird.

erwähnt, ohne dass jedoch ihre Beziehung zu

38  Brief an Lily Klee, 6.4.1933, in: Briefe an die

Klee genauer untersucht wurde. Lediglich in

Familie (1979), Bd. 2., S. 1234. Es blieb Klee

der veröffentlichten Dissertation von Roßbroich

jedoch dann doch nichts anderes übrig, als den

(2003) erhält man einige Informationen über

Ariernachweis zu beantragen (vgl. ebd.,

ihre Beziehung zu Paul Klee.

S. 1244).

352 I Anmerkungen

39  www.juedische-allgemeine.de/article/print/

schen Schriften als ein „Traktat“ à la Leonardo

id/22642.

zu veröffentlichen, fallen ließ.

40  Volksparole, 28.3.1933.

63  Dies lässt sich etwa bei Glaesemers volumi-

41  Deutsche Kulturwacht 10 (1933), zit. n.

nösem Werk über Klees farbige Arbeiten im

Hopfengart (2005), S. 99.

Berner Kunstmuseum (1976) feststellen. Groh-

42  Bei Frey (o. J.) findet sich der Hinweis, dass

mann (1954) und Franciscono (1991) bemühen

sich Klee im Sommer 1933 in Bern aufgehalten

sich dagegen um eine gewisse typologische Ein-

habe, da er befürchtete, in Deutschland wegen

teilung der Düsseldorfer Arbeiten. Deren politi-

Devisenvergehens behelligt oder gar verhaftet

sche Dimension wird häufig nur am Rande

zu werden. Offenbar war diese Befürchtung

bearbeitet (vgl. Zentrum Paul Klee [2012]).

jedoch unberechtigt.

64  Brief an Lily Klee, 11.3.1932, in: Briefe an

43  Brief an Lily Klee, 9.10.1932, in: Briefe an

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1180.

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1180.

65  Vgl. Zentrum Paul Klee (2012), S. 232.

44  Brief an Lily Klee, 3.2.1933, in: ebd., S. 1228.

66  Brief an Lily Klee, 17.4.1932, in: Briefe an

45  Brief an Lily Klee, 10.10.1933, in: ebd.,

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1187.

S. 1236.

67  Brief an Lily Klee, 5.2.1933, in: ebd., S. 1228.

46  Brief an Lily Klee, 15.10.1933, in: ebd., S. 1237.

68  Brief an Lily Klee, 30.1.1933, in: ebd.,

47  In: ebd., S. 1242.

S. 1226.

48  Postkarte Paul Klee an Will Grohmann,

69  Grohmann (1954), S. 281.

24.10.1933, Archiv Zentrum Paul Klee.

70  Interessanterweise hatte Klee ein Jahr

49  Brief Lily Klee an Will Grohmann,

zuvor, also in Düsseldorf, einen Stierkopf

24.11.1933, Archiv Zentrum Paul Klee.

geschaffen, der von Picasso beeinflusst sein

50  Brief Lily Klee an Will Grohmann, 25.1.1934,

könnte.

Archiv Zentrum Paul Klee.

71  Ad Parnassum gehört zu den wenigen Bil-

51  Brief Lily Klee an Will Grohmann, 8.3.1934,

dern, zu denen Klee technische Erläuterungen

Archiv Zentrum Paul Klee.

gegeben hat. Ihnen können wir entnehmen,

52  19.1.1934, in: Briefe an die Familie (1979),

dass das Bild auf ungrundierte Leinwand

Bd. 2, S. 1242.

gemalt wurde, und sowohl die basalen Mosai-

53  Brief an Will Grohmann, Mai 1934, in:

kelemente als auch die darüber gelegten Lasu-

Grote (1968), S. 78.

ren aus Ölfarbe bestehen (Zentrum Paul Klee

54  Zentrum Paul Klee (2012), S. 249.

[2012], S. 240).

55  Ebd., S. 255.

72  Suter (2006), der sich am differenziertesten

56  Lily Klee, Brief an Will Grohmann, 9.6.1935,

mit Klees Erkrankung beschäftigt hat, verwen-

Archiv Zentrum Paul Klee.

det beide Begriffe, bevorzugt aber den Termi-

57  Hopfengart (2005), S. 113.

nus „Systemsklerose“. Die Krankheit ist auch

58  Ebd., S. 114.

noch heute unheilbar und führt in der Form der

59  Werckmeister (2000), S. 63.

bei Klee diagnostizierten „diffusen Systemsk-

60  Hopfengart (2005), S. 120.

lerose“ „nach fünf bis zehn Jahren zum Tod“

61  Fischer-Defoy (2011), Gedenkstättenrund-

(ebd., S. 53). Bei der diffusen, im Gegensatz zur

brief 162 (8/2011).

„limitierten“ Verlaufsform handelt es sich um

62  Dies mag auch der Grund dafür gewesen

eine äußerst seltene Erkrankung. Sie tritt mit

sein, dass Klee seinen Plan, seine kunsttheoreti-

einer Häufigkeit von 1:1 Mio. auf. Düsseldorf, Bern, nach 1945  I  353

73  Brief Lily Klee an Grohmann, 16.11.1935,

90  Brief Lily Klee an Gertrud Grohmann,

Archiv Zentrum Paul Klee.

20.1.1940, Archiv Zentrum Paul Klee.

74  Brief Lily Klee an Grohmann, 16.10.1935,

91  Paul Klee, Brief an Will Grohmann,

Archiv Zentrum Paul Klee. Vgl. hierzu meine

2.1.1940, in: Gutbrod (1968), S. 84.

Untersuchung Jawlensky und Werefkin, Eine

92  Da Petra Petitpierre zu diesem Zeitpunkt

erotisch-platonische Freundschaftsliebe (2015).

noch verheiratet war, dürfte sich das „wir“ auf

75  Die Klees kannten Karla Grosch (die Schwes-

sie selbst und ihren Ehemann Hugo Petitpierre

ter von Juliane – genannt „Ju“ – Grosch) vom

beziehen.

Bauhaus her, wo sie als Gymnastiklehrerin tätig

93  Petra Petitpierre, „Die letzte Station“, Auto-

gewesen war. Zeitweilig war Karla Grosch mit

graph, Archiv Zentrum Paul Klee. Der ur-

Felix Klee liiert. Karla Grosch, eine ausgezeich-

sprüngliche Titel (von Petitpierre durchgestri-

nete Sportlerin, ertrank 1933 beim Schwimmen

chen) lautete: „Ein Mensch stirbt“. Petitpierre

am Strand von Tel Aviv. Auch sie war mit ihrem

hat diese Gedanken dann in ein weiteres Manu-

Verlobten vor den Nationalsozialisten geflüch-

skript, „Skizzen nach rückwärts“, eingearbeitet

tet.

(Archiv Zentrum Paul Klee), wobei die Formulie-

76  Brief Lily Klee an Grohmann, 2.12.1935,

rungen weitgehend identisch sind.

Archiv Zentrum Paul Klee.

94  Lily Klee, Brief an Grohmann, 14.9.1940,

77  Brief Lily Klee an Grohmann, 29.12.1935,

Archiv Zentrum Paul Klee.

Archiv Zentrum Paul Klee.

95  Brief an Lily Klee, 25.4.1939, in: Briefe an

78  Brief Lily Klee an Grohmann, 18.9.1936,

die Familie (1979), Bd. 2. S. 1286.

Archiv Zentrum Paul Klee.

96  Klee litt also nicht an Sklerodaktylie, einem

79  Brief Lily Klee an Grohmann, 6.6.1936,

weiteren Symptom von Sklerodermie.

Archiv Zentrum Paul Klee.

97  F. Klee (1960), S. 110.

80  Brief Lily Klee an Grohmann, 7.4.1936,

98  Die für eine Lungenfibrose charakteristi-

Archiv Zentrum Paul Klee.

sche Symptomatik mit Atemnot bei körperlicher

81  Brief Lily Klee an Grohmann, 24.8.1936,

Anstrengung, dem sich über lange Zeit hinzie-

Archiv Zentrum Paul Klee.

henden Husten und einer Lungen- und Brustfel-

82  Brief Lily Klee an Grohmann, 16.5.1937,

lentzündung ist auch bei Klee nachgewiesen

Archiv Zentrum Paul Klee.

(Suter [2006], S. 71).

83  Brief Lily Klee an Grohmann, 15.9.1937,

99  Glaesemer (1979), S. 16, zit. n. Suter (2006),

Archiv Zentrum Paul Klee.

S. 156.

84  Brief Lily Klee an Grohmann, 2.5.1938,

100  Suter (2006), S. 153.

Archiv Zentrum Paul Klee.

101  Glaesemer (1976), S. 318.

85  Brief Lily Klee an Grohmann, 22.6.1938,

102  Paul Klee, Brief an J. B. Neumann,

Archiv Zentrum Paul Klee.

9.1.1939, zit. n. Suter (2006), S. 157.

86  Brief Lily Klee an Grohmann, 20.3.1939,

103  Auch Helfenstein (1990) verweist auf den

Archiv Zentrum Paul Klee.

„haushältischen“ Umgang Klees mit seinen

87  Brief Lily Klee an Grohmann, 28.11.1939,

Kräften, ohne freilich auf den Zusammenhang

Archiv Zentrum Paul Klee.

mit dessen Lebensgeschichte einzugehen.

88  Lily Klee, in: Frey (o. J.), S. 186.

104  Auf Klees Verhältnis zu Nietzsche werde

89  Brief Lily Klee an Grohmann, 28.11.1939,

ich in Kap. 7 eingehen. Ich werde zeigen, dass es

Archiv Zentrum Paul Klee.

nicht nur intellektuelle, sondern auch lebensge-

354 I Anmerkungen

schichtliche Übereinstimmung mit dem Philoso-

henden Übergangsstil. Genau genommen gibt

phen gab. Auch Nietzsche litt, wie er insbeson-

es jedoch nicht den Spätstil Klees. Klee hat, wie

dere in Ecce homo in aller Deutlichkeit

wir gesehen haben, im Laufe seiner künstleri-

ausführte, an seiner prekären gesundheitlichen

schen Entwicklung eine Reihe distinkter Stilele-

Verfassung, die er mit einem forcierten Vitalis-

mente entwickelt. Der Spätstil zeichnet sich vor

mus, seiner bekannten Kritik an der décadence,

allem dadurch aus, dass hier bestimmte, bereits

zu kompensieren versuchte.

erprobte Stilelemente in neuer Form in Erschei-

105  Glaesemer (1976), S. 308.

nung treten.

106  Dies mag damit zusammenhängen, dass

116  Glaesemer versucht, die Besonderheit

dieses Bild nicht zum Bestand des Paul-Klee-Zen-

des Spätstils durch Improvisation und Reduzie-

trums gehört, sondern sich in der Sammlung des

rung der Farbpalette zu bestimmen, was m. E.

Düsseldorfer Kunstmuseums K20 befindet.

nicht ausreichend ist. „An die Stelle komplizier-

107  Suter (2006), S. 124.

ter Kopier- und Pausverfahren tritt im Spätwerk

108  Anders als in seinem Das Kunstwerk im

vermehrt die freie Improvisation. Spontanes

Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Komponieren und eine schnelle Ausführung

(1936) versteht Benjamin im Kontext seiner Pas-

gehören zu den wesentlichen Merkmalen dieser

sagen-Arbeit unter Aura: „Aura als Ferne des im

Schaffensweise. Dabei beschränkte sich Klee

Angeblickten erwachenden Blicks.“

zumeist nur noch auf ein Spektrum von we-

109  Zur Kritik der „Bildwissenschaften“ vgl.

nigen Farbtönen [...] Statt differenzierter tona-

Wiesing (2013).

ler Abstufungen wie in den Werken der zwanzi-

110  Vgl. hierzu meine Kritik an Benjamins

ger Jahre steigerte Klee die Farben ebenso wie

Aura-Begriff in (2014 a).

die Formen zu Signalen. Heftige Kontraste sor-

111  Vgl hierzu Zentrum Paul Klee (2012),

gen dabei für Dynamik“ (Glaesemer [1976],

S.  268 ff.

S. 326).

112  Glaesemer (1976), S. 308.

117  Vgl. hierzu die Genese diese Stilelemente

113  Ebd., S.  309 f.

in Kap. 2.

114  Ebd., S. 317. Klee hat immer wieder

118  Hofmann (1978), S. 225.

betont, dass für ihn nicht die „Formenden“ –

119  Glaesemer (1976), S. 327.

also das fertige Werk – entscheidend sind, son-

120  Ob und wie weit sich Klee hier auf die

dern der Prozess des Schaffens. Vor diesem Hin-

Leibniz’sche Raumkonzeption bezieht, lässt sich

tergrund sollte man auch das „Übergangswerk“

nicht feststellen.

Klees seit 1933 beurteilen, nämlich als einen

121  Brief an Felix Klee, 29.11.1938, in: Briefe

Prozess des Experimentierens. Es ist bekannt,

an die Familie (1979), Bd. 2, S. 1282.

dass Klees Produktivität nach dem Ausbruch sei-

122  Brief an Lily Klee, 26.5.1939, in: ebd.,

ner Krankheit (1935) zunächst signifikant

S. 1291.

zurückging, um dann wieder rapide anzustei-

123  Brief an Will Grohmann, 2.1.1940, in: Gut-

gen. 1935 schuf er 148 Werke, 1936 nur noch 25

brod (1968), S. 84.

Werke, 1937 bereits wieder 264, 1938 sind es

124  Ich werde in Kap. 7 und 8 noch einmal auf

489 und 1939 die kaum fassbare Zahl von 1254

das Problem der physischen und psychischen

Zeichnungen und Gemälden.

„Fragmentierung“ eingehen.

115  Ich spreche hier pauschalisierend von

125  In diesen Zusammenhang gehört auch die

Spätstil bzw. einem diesem Spätstil vorausge-

Zeichnung Schmerz aus dem Jahre 1938. Düsseldorf, Bern, nach 1945  I  355

126  Beim blauen Busch ist in formaler und bio-

Glasschale, scheinbar deshalb, weil es sich um

graphischer Hinsicht ein Schlüsselwerk Klees.

die Umkehrung eines anderen Motivs handelt:

Umso erstaunlicher ist, dass es in den Katalog-

um Personen, die auf Rädern fahren (oder flie-

werken nur äußerst selten abgebildet wird. Ver-

hen). Daneben befindet sich ein Objekt, das an

mutlich entspricht es nicht den Vorstellungen

einen Magen erinnert, möglicherweise eine

vom „schönen“ Stil Klees. Die Schreibweise des

Anspielung auf Klees Krankheit.

Begleittextes entspricht dem Klee’schen Original.

139  H. F. Geist (1948, Paul Klee).

127  Franciscono hat vorgeschlagen, dass

140  C. Giedion-Welcker (1952), Paul Klee. Der

„Inferner Park“ eine Klee’sche Wortschöpfung

Text erschien 1954 erstmals auf Deutsch und

sei und auf „Inferno“ verweise.

erlebte als Rowohlt-Monographie zahlreiche

128  Ruhrberg (1987), S. 325.

Neuauflagen. Obwohl sich die Autorin um eine

129  Vgl. Kap. 3.

stilgeschichtliche Analyse bemüht, ist ihr Buch

130  Es handelt sich bei dem Titel um eine Wort-

keine objektive Analyse, sondern eine weitere

bildung aus dulcis (süß) und amarus (bitter).

Klee-Hagiographie.

131  Glaesemer (1976), S. 333.

141  E. M. Kretschmar (1946/47), Die Aussaat,

132  Ebd., S. 345.

H. 10/11, zit. n. Hopfengart (2005), S. 134.

133  Godards Film Außer Atem enthält eine

142  Hopfengart (2009), S. 71.

kleine Hommage an den Paukenspieler. An der

143  Ebd., S.  71 f.

Wohnungstür der Protagonistin (gespielt von

144  Ebd., S. 71.

Jean Seberg) hängt eine Reproduktion dieses

145  Ebd., S. 72.

Bildes.

146  Ebd., S.  73 f.

134  Zu Adornos Kleerezeption vgl. Kap. 7.

147  Ebd., S. 173. An der Verbreitung der

135  Th. Mann (1967), Doktor Faustus, S. 321.

Klee-Postkarten waren insbesondere die Ver-

136  Kandinsky (1912), S. 157.

lage Fingerle und Klein beteiligt (ebd.).

137  Grohmann (1954), S. 382.

148  Ebd., S. 74.

138  Umso erstaunlicher ist, dass in dem Stan-

149  Haftmann (1950), S. 163.

dardwerk des Zentrums Paul Klee (2012) nur

150  Ebd., S. 138.

wenige der Bilder wiedergegeben sind, in

151  Ebd., S.  162 f.

denen sich der Spätstil der Jahre 1939/40 zeigt.

152  Ebd., S. 53.

Eine der Ausnahmen bildet dabei Klees Letztes

153  Ebd., S. 9.

Stilleben (1940), ein im Schaffen Klees singulä-

154  Ebd., S. 156.

res Bild, das sich keiner der Phasen des Spätstils

155  Ebd., S. 8.

zuordnen lässt. Es handelt sich um eine an

156  Ebd., S. 30.

Matisse erinnernde flächige Anordnung von

157 Ebd.

Objekten, die in der künstlerischen Entwicklung

158  Ebd., S. 107.

Klees von Bedeutung waren, gleichsam also um

159  Ebd., S. 127. Klee wiederholt diesen zent-

ein künstlerisches Testament. Auffällig ist dabei

ralen Gedanken in verschiedenen Variationen.

eine Bildachse von unten links nach oben

So schreibt er etwa in seinen Notizen für Leo-

rechts. Unten links befindet sich die Reproduk-

pold Zahn: „Weiß man das einmal, so kann man

tion eines Engelbildes, oben rechts eine Frauen-

auch im äußersten Blättchen eine Wiederho-

plastik, die dem Engelsbild lächelnd zuwinkt.

lung des ganzen Gesetzes erkennen und sich

Links oben liegen scheinbar Blumen in einer

zunutze machen.“ (Klee Tgb. S. 524).

356 I Anmerkungen

160  Haftmann (1950), S. 100. Mit „Gering“ ver-

mit den renommiertesten Künstlern der Avant-

wendet Haftmann einen Begriff Heideggers,

garde befreundet war und zu seiner Zeit als

ohne ihn freilich auf seine Relevanz für Klee

eine Art „Kunstpapst“ galt. Eine Klee-Biogra-

genauer zu untersuchen. Mit „Gering“ meint Hei-

phie Grohmanns musste deshalb nachhaltig das

degger die „Ringe“, die Erde und Welt, Menschli-

öffentliche Bild Klees prägen.

ches und Göttliches miteinander verbinden.

172  Grohmann (1955), S. 25.

161  Ebd., S. 128.

173  Ebd., S. 377.

162  Ebd., S. 90.

174  Ebd., S. 50.

163  Brief Goethes an Herzog Carl August,

175  Eine ähnliche Formulierung finden wir bei

25.1.1788, zit. n. ebd., S. 126. Auch hier gibt es,

Glaesemer (1987), S. 28, wobei offenbleibt, ob

wie durchweg bei Haftmann, keine Zitatanga-

sich Glaesemer implizit auf diese Bemerkung

ben, was die Lektüre erschwert. Zuweilen wer-

Grohmanns bezieht oder ob er selbst zu dieser

den häufig Zitate Klees als Haftmanns eigener

Schlussfolgerung gelangt ist.

Text wiedergegeben und zudem auch verän-

176  Dies zeigt sich insbesondere in der franzö-

dert.

sischen und amerikanischen Literatur. Vgl.

164  Vgl. hierzu meine Ausführungen in

hierzu u. a. Watson (2009), D. J. Schmidt (2013).

Kap. 4.

177  M. Heidegger (1960), Der Ursprung des

165  Ebd., S. 168.

Kunstwerks.

166  Grohmann (1954), S. 25.

178  Pöggeler (2002), S. 118. Heideggers Hin-

167  Ebd., S. 9.

weis auf eine angeblich „kantische Manier“

168  Auf verblüffende Weise ähnelt Groh-

geht in die Irre. Pöggeler weist zu Recht auf

manns Klee-Biographie der Darstellung Picassos

Klees Nähe zur Romantik und zu Goethe hin,

durch Sabartés. Auch Sabartés stellt Picasso als

die Heidegger offenbar damals nicht bekannt

unermüdlich arbeitenden asketischen Künstler

war (ebd., S. 132). Ähnlich auch H. W. Petzet

dar, der zusätzlich über außeralltägliche, magi-

(1983), Auf einen Stern zugehen. Begegnungen

sche Fähigkeiten, eine Art Mana, verfügt. Zu

mit Martin Heidegger 1929–1976, S. 157.

welchen Paradoxien dies offensichtlich im Falle

179  Pöggeler (2002), S. 123.

Picassos führen musste, habe ich an anderer

180  Ebd., S. 118.

Stelle dargestellt (Clemenz [2010 b]).

181  Petzet (1983), S. 158. Allerdings sind Pet-

169  Grohmann (1954), S. 9.

zets Darstellungen mit einer gewissen Vorsicht

170  Grohmann hatte u. a. in Der Cicerone

zu genießen. Pöggeler bezeichnet ihn als „Hof-

1924 einen Artikel über Klee veröffentlicht, bei

biograph[en] Heideggers“, der dessen „politi-

den Cahiers d’Art einen Sammelband über Klee

sche Verirrungen nicht entschieden genug auf-

mit Beiträge u. a. von Aragon, Eluard, Crevel

deckte“ (Pöggeler [2002], S. 119). Es ist also

und Tzara herausgegeben (1927) und Klees

durchaus denkbar, dass Petzet die eine oder

Handzeichnungen 1921–1930 veröffentlicht

andere problematische Äußerung Heideggers

(1934). Letztere fielen dann der Zensur durch

zu Klee nicht wiedergab.

die Nationalsozialisten anheim und konnten

182  Petzet (1983), S. 157. Die vermeintliche

nicht mehr vertrieben werden.

Beziehung zwischen Klee und dem „Tachismus“

171  Brief an Will Grohmann, 3.7.1929, zit. n.

bleibt unklar. Ein Hinweis findet sich bei Pögge-

Gutbrod (1968), S. 74. Der bei Gutbrod veröf-

ler, der erwähnt, dass 1955 in Basel eine Ausstel-

fentlichte Briefwechsel zeigt, dass Grohmann

lung moderner Kunst stattgefunden habe, die Düsseldorf, Bern, nach 1945  I  357

als „Tachimus“ bezeichnet wurde. Petzet fügt

ter redigierten und veröffentlichten Tagebü-

dem o. a. Zitat später hinzu, im Tachismus werde,

chern (1988) nicht vollständig übereinstimmen.

Heidegger zufolge, das „Laufenlassen“ zum

Das Pendant zu dieser Passage in Klees Tagebü-

Prinzip, während Klee stets das „Ganze“ im

chern lautet: „Also finde ich nicht die Liebe vie-

Auge gehabt habe. Dann wird allerdings noch

ler. Keine noch so edle Sinnlichkeit brückt zu

fraglicher, was der Tachismus mit einer „irrtümli-

ihnen.“ (Tgb. 1007). Der Plural „zu den Vielen“

chen Selbstauslegung“ Klees zu tun haben sollte.

ist umfassender als „vieler“. In derselben Tage-

183  Ebd., S. 156.

bucheintragung nimmt er eine weitere bereits

184 Ebd.

zitierte Einschränkung vor. Schrieb er ursprüng-

185  Pöggeler allerdings bezweifelt, dass Hei-

lich in der handschriftlichen Fassung: „Mir fehlt

degger das Bild in der Beyeler-Ausstellung gese-

leidenschaftliche Art der Menschlichkeit“, so

hen habe, da es sich im Besitz des Kunstmuse-

schwächte er dies später ab zu: „Meiner Kunst

ums Basel befunden habe und erst 1966 in die

fehlt leidenschaftliche Art der Menschlichkeit.“

Sammlung Beyeler gekommen sei (Pöggeler

2  Es gibt m. W. noch keine systematische

[2002], S. 135).

Untersuchung dazu, welche „redaktionellen“

186  Petzet (1983), S. 156.

Veränderungen Klee vorgenommen hat. Geel-

187  Pöggeler (2002), S. 129.

haars Untersuchung (1980) vermittelt zumin-

188  Adorno (1972), S. 381.

dest einen Eindruck davon, wie stark Klee

189  Auf die Nähe Nietzsches und Adornos im

bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen zurück-

Hinblick auf die Rolle der ästhetischen Erfah-

datierte – Geelhaar zufolge teilweise aus der

rung weist z. B. Zitko (1991) hin, insbes. S. 167–

Perspektive von 1921. Partsch (2007) merkt an,

175.

dass Klee sehr an seinem Bild in der Öffentlich-

190  Adorno (1966), S. 398.

keit gelegen war: „Paul Klee hatte es darauf

191  Adorno (1972), S. 182.

angelegt, daß in der Öffentlichkeit ein ihm

192  Ebd., S. 191.

genehmes Bild von sich bekannt wurde“

193  Ebd., S. 96.

(Partsch [2007], S. 7).

194  Ebd., S. 189.

3  So schreibt er etwa: „Das Weib aber lügt aus

195  Hofmann (1978), S. 417.

dem Grunde des falschen Herzens“ (Tgb. 146).

196  Ebd., S. 419.

Misogyne Äußerungen fanden sich ebenfalls in

197  Hofmann (1978), S. 423.

den Briefen an seinen Freund und Vertrauten

198  Ebd., S. 426.

Bloesch. Wollte man unterstellen, dass derar-

199  Ebd., S. 427.

tige misogyne Formulierungen bloße Selbststili-

200  Geelhaar (1979), S. 248.

sierung sind (was, wie gesagt, wenig wahr-

201  Werckmeister (1981) und (2000).

scheinlich ist), müsste man logischerweise

202  Klee (1920), S. 122, zit. n. Geelhaar (1976).

annehmen, dass er sich auch gegenüber Bloesch verstellte, eine m. E. unplausible These. Auch in der Radierung Weib, Unkraut säend (1903/04),

7. Eros und Thanatos

in der er eine Zeichnung von Rops variiert, vermittelt er ein nicht gerade schmeichelhaftes

1  Zitiert n. F. Klee (1960), S. 28; Felix Klee zitiert

Bild der Frau.

hier aus den ihm handschriftlich vorliegenden

4  Ansatzweise zeigt sich dieses sexuelle „Pan-

Tagebuchnotizen seines Vaters, die mit den spä-

dämonium“ noch einmal in dem späteren

358 I Anmerkungen

Aquarell Büchse der Pandora als Stilleben

14  Zit. n. Suter (2006), S. 95.

(1920).

15  Wenn Wedekind (1996) in diesem Zusam-

5  Erfahrungen mit biographischen Interviews

menhang schreibt: „Mittels des Schutzschildes

zeigen (wie jeder Kriminalist weiß), dass es

einer monogamen Beziehung und der Stillung

gerade empirische Details sind, die am wenigs-

des sexuellen Grundbedürfnisses wollte Klee

ten „gefakt“ werden können.

jedwede Triebverstrickung für sich ausschlie-

6  Wenn ich im Folgenden das Konstrukt der

ßen“ (S. 29, Hrv. MC), so muss dies vor dem Hin-

latenten psychischen Realität der Klee’schen

tergrund zahlreicher anderer Tagebuch- und

Tagebücher in Anspruch nehme, so bedeutet

Briefstellen relativiert werden. Dass ihm das

dies nicht, dass ich damit behaupte, die „objek-

„eheliche Verhältnis“ in erster Linie zur Steige-

tive“ psychische Realität Klees erfasst zu haben.

rung der Arbeitsfähigkeit dienen solle und ihm

Es geht dabei ausschließlich um eine Realität,

der „Coitus“ nichts mehr sage, wie er 1906 an

die sich aus dem autobiographischen Material

Lily schreibt, weist in diese Richtung.

Klees ergibt. Äußerungen Dritter wurden

16  Dass sowohl Hausenstein als auch Sabertés

berücksichtigt, die jedoch selbst wieder einer

ihre Protagonisten (also Klee und Picasso) als

sorgfältigen Interpretation unterzogen werden

„Magier“ aus dem „Orient“ bzw. aus dem

müssen. Jede biographische Darstellung ist eine

„Morgenland“ beschreiben, ist ein nicht

nachträgliche „Konstruktion“, nicht „die“

unwichtiges Detail.

Wirklichkeit.

17  Glaesemer (1976), S. 318, Anm. 17.

7  „Objektiv“ meint hier keine transsubjektive

18  Haftmann (1950), S. 166.

Wahrheit, sondern das, was sich in einem inter-

19  Freud hat dies in seinen Vorlesungen zur

subjektiven, „herrschaftsfreien“ Diskurs, also in

Einführung in die Psychoanalyse (1969)

einer „idealen“ Interpretationssituation als

sehr deutlich gemacht, wenn er etwa am Bei-

„objektiv“ erweisen würde.

spiel der Aufklärung einer Fehlleistung da-

8  Brief an J. B. Neumann, 9.1.1939.

rauf beharrt, dass die sprachliche Äußerung

9  Helfenstein (1990), S. 65.

eines Befragten als wissenschaftliches Datum zu

10  Zentrum Paul Klee (2012), S. 40.

betrachten sei, vergleichbar einer chemischen

11  Haftmann (1950), S. 165.

oder physikalischen Messung. Tue man dies

12  Giedion-Welcker (232007, Erstveröffentli-

nicht, dann könne man in ähnlicher Weise auch

chung 1952), S. 8. Ich möchte als Beispiel hier

mit Messdaten verfahren und sie als „zufällig“

nur eine ihrer Stilblüten zitieren: „Immer wie-

betrachten, was das Ende jeglichen wissen-

der wird nun in Klees Werk durch eine von

schaftlichen Vorgehens sei.

allem wirklichen Zusammenhang losgelöste

20  Da sich eine Beschreibung dieses „Geschöp-

Formensprache ein Raumschweben in spirituel-

fes“ im Tagebuch nicht finden lässt, haben wir

len Regionen dargestellt und das Mystische

an dieser Stelle ein weiteres Bespiel dafür, was

durch das Medium einer sublimierten Sinnlich-

Klee nachträglich getilgt hat: die Beschreibung

keit in universal gültigem Ausdruck sichtbar

erotisch anziehender Frauen. Eine der wenigen

gemacht“ (S. 46). Abgesehen davon, dass dieser

Ausnahmen bildet die Beschreibung römischer

Satz bezogen auf Klee inhaltlich unsinnig ist, ist

Frauenschönheiten während eines Opernbe-

er ein Beispiel unfreiwillig parodistischer Kun-

suchs.

stinterpretation.

21  Lily Klee, Brief an Gertrud Grote, 13.6.1939,

13  Zahn (1959), S. 31.

zit. n. Frey (o. J.), S. 186. Eros und Thanatos  I  359

22  Lily Klee, Brief an Will Grohmann,

35  Brief an Lily Klee, 1.2.1933, in: ebd., S. 1226.

15.9.1937, Archiv Zentrum Paul Klee.

36  Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen

23  Ich habe an anderer Stelle darauf hinge-

auch Ostendorf u. a. (2004), S. 320, in ihrer

wiesen, dass Konfliktneigung für Künstler gera-

medizinisch orientierten Beurteilung von Klees

dezu charakteristisch ist und produktiv für die

Krankheit.

künstlerische Kreativität sein kann, soweit sie –

37  Vgl. Bauer (2004).

insbesondere durch die künstlerische Arbeit

38 In Büchse der Pandora wird Pandora als

selbst – wiederum zu einer Selbstintegration

weibliche Figur dargestellt, die anstelle des

führt, d. h. zu einer Integration der konflikt-

Mundes eine Vagina besitzt, aus der dann, ana-

haften und möglicherweise abgespaltenen

log zur „Büchse“ der Pandora, das Unheil ent-

Selbstanteile führt (vgl. hierzu Clemenz [2010

springt.

a], Kap. III). Bei Klee hingegen finden wir eine

39  „Das ist schön, was einer inneren seelischen

Tendenz zur Abspaltung der sinnlich-triebhaf-

Notwendigkeit entspringt“ (Kandinsky [1912/

ten Aspekte.

1963], S. 137). Allerdings gibt es, worauf bereits

24  Grohmann (1954), S. 377.

hingewiesen wurde, bei Kandinsky noch andere

25  Das Buch von Klages, Vom Kosmogoni-

Notwendigkeiten in der Kunst: formale, epoch-

schen Eros, befand sich in der Bibliothek von

ale und „ewige“.

Lily Klee. Klee selbst bezog sich gelegentlich auf

40  Heidegger (1960), S. 73.

die (entwertende) Bedeutung, die Klages dem

41  Adorno (1972), S. 51, 85.

„Sexus“ im Gegensatz zum „Eros“ verlieh.

42  Zöllner (2002), S. 248.

26  Ausnahmen stellen die Arbeiten von Wede-

43  Aus Klees Tagebüchern wissen wir, dass er

kind (1996) und Zöllner (2002) dar.

sich während seiner Zeit in Gersthofen mit Nietz-

27  Glaesemer (1976), S. 37.

sches Zarathustra beschäftigt hat. Außerdem

28  Grohmann (1954), S. 50.

bezieht sich Klee in der Tagebucheintragung 415

29  Suter (2006), S. 107.

auf Zitate aus Nietzsches Wille zur Macht, die ihm

30  Petra Petitpierre, Brief an Josef Albers,

aus einer ausführlichen, mehrteiligen Rezension

14.4.1942, Archiv Zentrum Paul Klee. Das

von Josef Victor Widmann (Der Bund [1902])

Gespräch hat vermutlich 1939 stattgefunden.

bekannt waren. Hierzu schreibt Klee: „Ich

31  „Und vor Allem lernte ich Frau Prof. Klee

brauchte ein anderes Futter. Vielleicht in der Art

näher kennen [...] und da wusste ich es plötz-

der Nietzsche-Citate im Feuilleton des Berner

lich, dass er ohne seine Ironie diese Hölle nicht

Bund“ (Tgb. 415). Später schreibt er an Lily:

so lange ertragen hätte. – Als ich ihn hier in

„Schopenhauer und Nietzsche will ich in der

Murten einmal fragte: ‚Warum sind Sie krank

nächsten Zeit kennen lernen“ (Brief an Lily Klee,

geworden?‘ (in Dialekt, wärum si Sie krank

21.5.1904, in: Briefe an die Familie [1979], Bd. 1,

worde – wir sprachen immer, seit Anfang in

S. 424). 1917 schreibt er erneut an Lily Klee: „Das

Dessau, Dialekt zusammen), antwortete er: ‚I ha

nächste Mal nehme ich doch Nietzsches ‚Zarathus-

gnueg!‘“. Brief an Josef Albers, 17.4.1942, ebd.

tra‘ mit, wenn dir bis dahin nichts Geeigneteres

32  Brief an Lily Klee, 6.10.1905, in: Briefe an

einfällt“ (ebd., 10.7.1917, S. 873).

die Familie (1979), Bd. 1, S. 522.

44  Es ist zu vermuten, dass Klee die Formulie-

33  Brief an Lily Klee, 26.4.1930, in: Briefe an

rung „ökonomische Taktik“ (Tgb. 605) sinnge-

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1116.

mäß von Nietzsche übernommen hat.

34  Brief an Lily Klee, 10.4.1930, in: ebd., S. 1117.

45  Zöllner (2002), S. 229.

360 I Anmerkungen

46 Ebd.

hierzu meine Re-Interpretation dieser Kind-

47  Nietzsche (1959), Nr. 800. Eine eigenhän-

heitserinnerung in Clemenz (2005).

dige Disposition des umfangreichen Werkes

3  Vgl. M. Csikszentmihalyi (1997), Kreativität.

hatte Nietzsche 1887 vorgenommen, 1901

4  In dieser Tagebucheintragung finden wir

erschien erstmals eine unvollständige, teils ent-

den ersten Hinweis auf die sogenannte „Nerve-

stellte Ausgabe des Werkes.

nerkrankung“ Lilys.

48  Zöllner (2002), S. 229.

5  Lily Klee, Lebenserinnerungen, S. 5, Archiv

49  Nietzsche (1959), Nr. 805.

Zentrum Paul Klee.

50  Nietzsche (1954), S. 345.

6  Brief an Lily Klee, 24./23.12.1901, in: Briefe

51  Ebd., S. 368.

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 190.

52  Ebd., S.  301 f.

7  Brief an Lily Klee, 11.5.1904, in: ebd., S. 421.

53  Suter (2006), S. 127.

8  Brief an Lily Klee, 27.2.1906, in: ebd., S. 597.

54  Novalis (1958), S. 106.

9  Zit. n. Frey (o. J.), S. 173 ff.

55  Nietzsche (1988), S. 37 f.

10  Juliane Grosch war die ältere Schwester

56  Nietzsche (1954), S. 312.

von Karla Grosch, eine Tänzerin und Paluc-

57  Ebd., S. 313.

ca-Schülerin, die am Bauhaus als Gymnastikleh-

58  Ebd., S. 304.

rerin tätig war. Karla Grosch war eine Freundin

59  Nietzsche (1988), S. 70 f.

der Klees und eine Zeit lang die Geliebte von Felix Klee. 11  Ju Aichinger-Grosch, in: Grote (1959), S. 50.

8. Chronique sentimentale

12  Ebd., S. 48. 13  Ebd., S. 55.

1  Vgl. Kris/Kurz (1980), Kap. II.1, „Die Jugend

14  Geiser (2010), S. 260–265.

des Künstlers“. Ich habe bereits darauf hin-

15  Lily Klee, Brief an Felix Klee, 23.9.1930,

gewiesen, dass ich die vielzitierte Zeichnung

Nachlass Familie Klee, Zentrum Paul Klee, Bern

Klees Mimi überreicht Madame Grenouillet

(Orthographie gemäß dem Autographen). Lily

­Blumen (1883–1884) nicht für das Bild eines

Klee nahm ihre Arbeit als Klavierlehrerin bereits

Vier- bis Fünfjährigen halte. Dazu sind die

zwei Monate nach der Geburt (einer schwieri-

geschwungenen Linien der Katze, von Madame

gen Zangengeburt unter Narkose) wieder auf.

und ihrem Stuhl viel zu gekonnt. Außerdem zei-

Felix Klee wurde somit hauptsächlich von sei-

gen die diversen Linien im oberen Teil vermut-

nem Vater aufgezogen.

lich den Eingriff eines Erwachsenen. Andere

16  Lily Klee, Brief an Felix Klee, 2.4.1930, ebd.

Zeichnungen aus dieser Zeit zeigen deutlich die

17  Brief an Lily Klee, 20.6.1930, in: Briefe an

etwas ungelenke Linienführung eines Vier- bis

die Familie (1979), Bd. 2, S. 1128.

Fünfjährigen.

18  Brief an Lily Klee, 10.4.1930, in: ebd.,

2  S. Freud (1910/1969), Eine Kindheitserinne-

S. 1120.

rung des Leonardo da Vinci. Der „Geier“ ist frei-

19  Zu Klees Reisen mit und ohne Lily, vgl.

lich nur aufgrund einer fehlerhaften Überset-

Kap. 6.

zung Freuds ein Geier, vielmehr handelt es sich

20  Zit. n. Frey (o. J.), S. 179 f. Lily hielt sich ins-

um einen Milan (nibbio). Der Geier passte aller-

gesamt 12 Tage in Sonnmatt auf. Klee war zu

dings, als androgynes ägyptisches Muttersym-

diesem Zeitpunkt allerdings nicht allzu sehr an

bol, besser zu Freuds Interpretationslinie. Vgl.

Arbeit interessiert. Er hielt sich 14 Tage an der Chronique sentimentale I 361

französischen Mittelmeerküste auf und schrieb

46  Ich habe bereits Zweifel vorgebracht, ob

an Lily begeisterte Briefe über die Schönheit

diese Zeichnung wirklich von einem vier- bis

der Landschaft. Anschließend fuhr er über Paris

fünfjährigen Kind angefertigt und nicht etwa

(wo er sich mit Kahnweiler, Flechtheim, Kandin-

zurückdatiert wurde. Es gibt eine Zeichnung

sky und vermutlich auch Picasso – so jedenfalls

Klees, aus dem Jahr 1883, Droschkengespann,

Klees Eintragung am 26.10.1933 in seinem

die in der Unsicherheit des Strichs wesentlich

Kalender – traf) wieder nach Düsseldorf zurück.

authentischer wirkt.

21  Zit. n. ebd., S. 186.

47  Ebd., S. 34.

22  Lily Klee, Lebenserinnerungen, Archiv Zen-

48  Ebd., S. 64.

trum Paul Klee.

49  J. F. Danckwardt (2005), S. 188 f.

23  Ebd., S. 1.

50  Brief an Lily Klee, 10.5.1904, in: Briefe an

24  Ebd., S. 2.

die Familie (1979), Bd. 1, S. 421.

25  Ebd., S. 4.

51  Es finden sich eine Reihe von Stellen, an

26  Ebd., S. 123.

denen Klee seine Abscheu vor weiblichen Akt-

27  Ebd., S. 7. Wie bereits erwähnt, war für

modellen und vor dem nackten weiblichen Kör-

Klee gerade die Mutter die problematischste

per zum Ausdruck bringt: So spricht er von einer

Figur in seiner Familie, was er Lily auch schon

„scheußlichen Hetäre von der Berner Matte“

früh mitteilte.

(zit. n. Grohmann [1954], S. 50) oder von „ekel-

28  Ebd., S. 8.

haften Schamhaaren“ (Tgb. 65). Das nackte Akt-

29  Ebd., S.  8 f.

modell impliziert zwangsläufig die Nähe zu

30  Ebd., S. 18.

„gefährlichen Öffnungen“. In Ab­­ wandlung

31  Ebd., S. 19.

einer Zeichnung Ensors, Dame sich von einem

32  Ebd., S. 18.

Bandwurm befreiend, konzentriert Klee sich

33  Ebd., S. 25.

auch auf den Anus statt auf die Vagina, offen-

34  Ebd., S. 140.

bar das sexuell weniger gefährliche Organ.

35  Ebd., S. 40.

52  Schneider Brody (2004), S. 397.

36  Ebd., S. 27.

53  Brief an Lily Stumpf, 25.7.1901, in: Briefe

37  Ebd., S. 80.

an die Familie (1979), Bd. 1, S. 136.

38  Ebd., S. 129.

54  Ebd., S. 137.

39  Ebd., S. 127.

55  Eckstaedt (2008), S. 149.

40  Ebd., S. 140.

56  Giedion-Welcker (2007), S. 23.

41  Lily Klee, Brief an Felix Klee, 25.4.1934,

57  Schneider Brody (2001), S. 374.

Zentrum Paul Klee (2012), S. 288.

58  Anzieu (2013), S. 13 ff.

42  Lily Klee, Lebenserinnerungen, S. 56, Zent-

59  Ebd., S. 29.

rum Paul Klee.

60  Es handelt sich dabei offensichtlich um die

43  Zit. in Zahn (1920). S. 5. Es handelt sich

verschiedenen Versionen der Radierung Komi-

dabei, wie erwähnt, nicht um eine Tagebuch-

ker (1903–1904).

eintragung, sondern um eine Formulierung

61  Ich habe oben an Bildern wie Niederlage

Klees im Katalog seiner ersten großen Einze-

oder der verschiedenen Versionen von Angst­

lausstellung bei Goltz in München.

ausbruch gezeigt, dass sich Fragmentierung

44  Eckstaedt (2008), S. 22.

bzw. der Versuch ihrer Bewältigung im Werk

45 Ebd.

Klees deutlich widerspiegelt.

362 I Anmerkungen

62  Eine ausführliche Begründung dieser These

dem Befall der inneren Organe findet eine

findet sich im III. Teil meiner Arbeit Affekt und

„Inversion“ in einen tödlichen Prozess statt (ich

Form (2010). Picasso und van Gogh sind Bei-

danke Herrn Dr. Suter, Fahrni/CH, für diesen

spiele, die diese These erhärten. Aufschlussreich

wichtigen Hinweis).

ist in diesem Zusammenhang auch die Biogra-

67  Glaesemer (1976), S. 318.

phie von Franz Marc, der in seiner Jugend unter

68  Anzieu (2013), S. 143.

schweren Depressionen litt. Ähnlich auch P. Noy

69  Vgl. hierzu auch Geertz (1987).

(1984), Die formale Gestaltung in der Kunst.

70  Brief an Lily Klee, in: Briefe an die Familie

Niki de Saint Phalle, die als Kind schwer trauma-

(1979), Bd. 1, S. 190.

tisiert wurde, hat in ihren autobiographischen

71  Es habe Klee, Grohmann zufolge, sehr

Texten diese Selbstintegration durch Kunst ein-

„berührt“, wenn die Mitwelt ihn nur als „Neu­

drücklich beschrieben.

tralgeschöpf“ sah. Bezeichnenderweise fügt

63  Schneider Brody (2004), S. 400. In ähnlicher

Grohmann jedoch hinzu: „Er war es schon, aber

Weise verweist auch Anzieu auf das „Haut-Ich“

nur um der Kunst willen [...] Wurde im Werk der

des Autisten mit der Metapher des „Krustentie-

Eros vermisst? Der elementare und kosmogoni-

res“ (Anzieu [2013], S. 136).

sche sicher nicht, der war da, er verbindet bei

64  Schneider Brody (2004), S. 399.

Klee fernste Wesen und durchflutet Räume und

65  Suter bezieht dies darauf, dass Klee bereits

Zeiten, der ichbezogene aber fehlt tatsächlich,

1933 eine Zeichnung (Starre) anfertigt: „Eigen-

und er fehlt wohl auch in der Kunst des zwan-

artig auch, dass sein Körper in wenigen Jahren

zigsten Jahrhunderts überhaupt, die ‚ichfrei‘ ist

als Folge einer unheilbaren Krankheit erstarren

und unprivat“ ([1954], S. 377). Leider führt

wird.“ (Suter [2006], S. 24).

Grohmann nicht näher aus, bei welchen Künst-

66  Zu diesem paradoxen Phänomen gibt es

lern des 20. Jahrhunderts der „ichbezogene“

ein physiologisches Pendant: Die Verdickung

Eros tatsächlich fehlt. Hier irrt sich Grohmann

und Verhärtung der Haut zu Beginn der sklero-

offensichtlich.

dermitischen Erkrankung kann zunächst als

72  Zit. in: Gutbrod (1968), S. 84.

sinnvolle Abwehrreaktion gegen widrige

73  Klee (2010), S. 9.

äußere Einflüsse verstanden werden. Erst mit

Chronique sentimentale I 363

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Abbildungs- und Reproduktionsnachweis Abb. 8 ©Staatliche Graphische Sammlung München; Abb. 13, 65, XVI, XXII, XXXIV © bpk berlin; Abb. 28 ©Agence photographique du Musée Rodin, Paris; Abb. 35, 37, 52, 53, XVII ©Succession Picasso, VG Bild-Kunst Bonn 2015; Abb. 40, 41, ©Nolde Stiftung Seebüll; Abb. 42, 43, XII © VG BildKunst, Bonn 2015; Abb. 63, XXVII ©Scala Archives, Firenze; Abb. 71, 72 ©keystone; Abb. 76, XXIX Archiv des Verfassers; Abb. III, XL ©repro-lenbachhaus München; Abb. V, IX, XV, XX, XXVI, XXX ©Kunstmuseum Basel; Abb. VI, VII, ©Franz Marc-Museum Kochel am See; Abb. X, ©LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster; Abb. XXIII ©The Israel Museum Jerusalem; Abb. XXIV ©Museum Sammlung Rosengart Luzern; Abb XXXII ©Kunsthalle Bielefeld; Abb. XXXVII ©Wilhelm Hack-Museum Ludwigshafen; Briefwechsel Paul Klee – Franz Marc, Franz Marc – Museum, Kochel am See; Briefwechsel Lily Klee – Will Grohmann, Archiv Will Grohmann, Staatsgalerie Stuttgart. Der Verfasser hat sich bemüht, alle Rechte einzuholen. Dies war in einigen Fällen nicht möglich. Sollten Rechteinhaber nicht genannt worden sein, werden diese gebeten, sich an den Verlag zu wenden.

370  I  Abbildungs- und Reproduktionsnachweis

Tafelteil

I  Paul Klee, Pflanzen in den Bergen, 1913, 192, Ölfarbe auf Karton, 26,4 x 42,8 cm, Privatbesitz Deutschland

Tafelteil I 371

II  Paul Klee, Gartenscene (Gießkannen, e. Katze, e. roter Stuhl), 1905, 24, Hinterglasmalerei, Aquarell, rekonstruierter Rahmen, 13 x 18 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

III  Paul Klee, Blumensteg, Gießkanne u. Eimer, 1910, 47, Aquarell auf Papier auf Karton, 13,9 x 13,3 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, mit Mitteln aus dem Vermächtnis Gabriele Münters erworben

372 I Tafelteil

IV  Paul Klee, Mädchen mit Krügen, 1910, 120, Ölfarbe auf Grundierung auf Karton, 35 x 28 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

V  Paul Cézanne, Le Mont Sainte-Victoire, von Les Lauves aus gesehen, 1904–1906, Öl auf Leinwand, 60 x 73 cm, Kunstmuseum Basel

Tafelteil I 373

VI  a,b) Franz Marc, Abstrakte Komposition, 1914, Bleistift und Aquarell auf Tusche auf Papier, 15,2 x 12,2 cm. Bleistift und Aquarell auf Papier, 12 x 15 cm, Franz Marc Museum, Kochel am See

374 I Tafelteil

VII  Paul Klee, ohne Titel (zwei Figuren), Postkarte von Lily und Paul Klee an Maria Marc, 9. April 1913, Bleistift, Feder, Aquarell auf Papier auf Postkarte, 9,1,x 14 cm, Franz Marc Museum, Kochel am See, Stiftung Etta u. Otto Stangl

VIII  Franz Marc, Postkarte von Franz Marc an Lily Klee mit „Sonatine für Geige und Klavier“, 7.2.1913, Bleistift, Aquarell und Gouache auf Halbkarton, 9,8 x 15 cm, Privatbesitz Schweiz, Depositum im Zentrum Paul Klee, Bern

Tafelteil I 375

IX  Franz Marc, Tierschicksale, 1913, Öl auf Leinwand, 195 x 263,5 cm, Kunstmuseum Basel

X  August Macke, Kairouan III, 1914, Aquarellfarbe über Bleistift auf Zeichenpapier, 22,5 x 28,9 cm, LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster

376 I Tafelteil

XI  August Macke, Farbenkreis II (groß), 1913/14, Farbkreide auf Papier auf Karton, 27,3 x 24,3 cm, Kunstmuseum Bonn

Tafelteil I 377

XII  Louis Moilliet, Kairouan, 1914, Aquarell auf Papier, 22,8 x 28,6 cm, Museum Ludwig, Köln

XIII  Paul Klee, Vor den Toren v. Kairuan, 1914, 216, Aquarell auf Papier auf Karton, 20,7 x 31,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

378 I Tafelteil

XIV  Paul Klee, Hommage à Picasso, 1914, 192, Ölfarbe auf Karton, 38 x 30 cm, Privatsammlung

Tafelteil I 379

XV  Paul Klee, Über ein Motiv aus Hammamet, 1914, 57, Ölfarbe auf Karton, 26 x 21,5 cm, Kunstmuseum Basel, Geschenk von Dr. h.c. Richard Doetsch-Benziger

380 I Tafelteil

XVI  Paul Klee, Der Vollmond, 1919, 232, Ölfarbe auf Papier auf Karton, 50.4 x 38,5 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München, Pinakothek der Moderne

Tafelteil I 381

XVII  Pablo Picasso, Großer weiblicher Akt in einem roten Sessel, 1929, Öl auf Leinwand, 195 x 129 cm, Musée Picasso Paris

382 I Tafelteil

XVIII  Paul Klee, Hungriges Mädchen, 1939, 671, Kleisterfarbe und Bleistift auf Papier auf Karton, 27,1 x 21,3 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

Tafelteil I 383

XIX  Paul Klee, Polyphon gefasstes Weiss, 1930,140, Feder und Aquarell auf Papier auf Karton, 33,3 x 24,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

384 I Tafelteil

XX  Paul Klee, Ad marginem, 1930, 210, Aquarell auf Grundierung auf Karton, 46 x 36 cm, Kunstmuseum Basel, Vermächtnis Richard Doetsch-Benziger 1960

Tafelteil I 385

XXI  Paul Klee, Betroffener Ort, 1922, 109, Feder, Bleistift und Aquarell auf Papier auf Karton, 30,7 x 23,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

XXII  Paul Klee, Seltsamer Garten, 1923, 160, Aquarell auf Grundierung auf Gaze auf Karton, 40 x 28,9 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York, The Berggruen Klee Collection

386 I Tafelteil

XXIII  Paul Klee, Angelus Novus, 1920, 32, Ölpause und Aquarell auf Papier auf Karton 31,8 x 24,2 cm, The Israel Museum, Jerusalem, Schenkung John und Paul Herring, Jo Carole und Ronald Lauder, Fania und Gershom Scholem

Tafelteil I 387

XXIV  Paul Klee, Eros, 1923, 115, Aquarell, Gouache und Bleistift auf Papier auf Karton, 33,3 x 24,5 cm, Museum Sammlung Rosengart, Luzern

388 I Tafelteil

XXV  Paul Klee, Harmonie aus Vierecken mit Rot Gelb Blau Weiss und Schwarz, 1923, 238, Ölfarbe auf Grundierung auf Karton, 69,7 x 50,6 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

XXVI  Paul Klee, Alter Klang, 1925, 236, Ölfarbe auf Karton, 38,1 x 37,8 cm, Kunstmuseum Basel, Vermächtnis Richard Doetsch-Benziger

Tafelteil I 389

XXVII  Paul Klee, Feuer abends, 1929, 95, Ölfarbe auf Karton, 33,8 x 33,4 cm, The Museum of Modern Art, New York, Mr. und Mrs. Joachim Jean Aberbach

XXVIII  Paul Klee, Monument im Fruchtland, 1929, 41, Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton, 45,7 x 30,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

390 I Tafelteil

XXIX  Paul Klee, Hauptwege und Nebenwege, 1929, 90, Ölfarbe auf Leinwand, 83,7 x 67,5 cm, Museum Ludwig, Köln

XXX  Paul Klee, Polyphonie, 1932, 237, Ölfarbe und Kreide auf Leinwand, 66,5 x 106 cm, Kunstmuseum Basel, Depositum der Emanuel Hoffmann-Stiftung

Tafelteil I 391

XXXI  Paul Klee, Ad Parnassum, 1932, 274, Öl- und Kaseinfarbe auf Leinwand, 100 x 126 cm, Kunstmuseum Bern, Dauerleihgabe des Vereins der Freunde des Kunstmuseums Bern

392 I Tafelteil

XXXII  Paul Klee, Europa,1933, 7, Aquarell auf Papier auf Karton, 49 x 38,2 cm, Kunsthalle Bielefeld, Nachlass Herta König

Tafelteil I 393

XXXIII  Paul Klee, Lumpengespenst, 1933, 465, Kleisterfarbe und Aquarell auf Papier auf Karton, 48 x 33,1 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

394 I Tafelteil

XXXIV  Paul Klee. Gezeichneter, 1935, 146, Ölfarbe und Aquarell auf Grundierung auf Gaze auf Karton, 32 x 29 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Tafelteil I 395

XXXV  Paul Klee, Zerstörtes Labyrinth, 1939, 346, Ölfarbe und Aquarell auf Grundierung auf Papier auf Jute, 54 x 70 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

XXXVI  Paul Klee, Tod und Feuer, 1940, 332, Öl- und Kleisterfarbe auf Jute, 46,7 x 44,6 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

396 I Tafelteil

XXXVII  Paul Klee, Beim blauen Busch, 1939, 801, Kleisterfarbe auf Papier auf Karton, 26,5 x 21 cm, Wilhelm Hack-Museum, Ludwigshafen

XXXVIII  Paul Klee, Abfahrt des Abenteurers, 1939, 735, Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton, 21,5 x 27 cm, Privatsammlung Landshut, Bayern

Tafelteil I 397

XXXIX  Paul Klee Rosengarten. 1920, 44, Ölfarbe und Feder auf Papier auf Karton, 49 x 42,5 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung

398 I Tafelteil

XL  Paul Klee, Paukenspieler, 1940, 270, Kleisterfarbe auf Papier auf Karton, 34,6 x 21,2 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Tafelteil I 399

XLI  Paul Klee, Ohne Titel (Letztes Stilleben), 1940, Ölfarbe auf Leinwand, 100 x 80,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee

400 I Tafelteil

XLII  Paul Klee, Friedhof, 1939, 693, Kleisterfarbe auf Papier auf Karton, 37,1 x 49,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

Tafelteil I 401

XLIII  Paul Klee, Insula dulcamara, 1938, 481, Öl- und Kleisterfarbe auf Papier auf Jute, 88 x 176 cm, Zentrum Paul Klee, Bern

402 I Tafelteil

Personenregister A

Bürgi, H., Schweizer Sammlerin und Freundin

Aichinger-Grosch, J., Freundin der Familie Klee  119, 243, 301

von Paul Klee  235 Bürgi, R., Schweizer Sammler und Freund

Adorno, Th.W.  142, 208, 259, 261, 269–272, 331, 349

von Paul Klee  235, 236 Burckhardt, J.  32

Anaximandros 157 Anaximenes 157

C

Anzieu, D.  315, 318, 363

Cassirer, P., Deutscher Verleger und Galerist 

Aragon, L.  350

158

Aristoteles  78, 190

Carrà, C.  112

Azbé, A.  21, 24

Carus, C.G., Deutscher Mediziner und Natur­

B

Cézanne, P.  48, 53, 54, 64, 66, 67, 83, 327

Bach, J.S.  36

Chamberlain, H.St.  335

Barr, A., Gründungsdirektor Museum

Chevreul, E., Französischer Farbtheoretiker  110

forscher 141

of Modern Art. N.Y.  236

Clarenbach, M., Deutscher Maler  225

Baumgartner, M.  8, 279, 330, 332

Clemenz, M.  337, 343, 350, 354, 360, 363

Beckmann, M.  88, 88, 89, 89

Crevel, R., Französischer Dichter  213, 351

Behne, A., Deutscher Architekt  174

Corot, C.  64

Benjamin, W.  158, 213, 214, 215, 216, 250, 339,

Däubler, Th.  174

354

Dali, S.  214

Bell, C., Englischer Kunstkritiker  118

Danckwardt, J. F.  331

Beardsley, A.  329

Dante Alighieri  299, 309

Beyeler, E., Schweizer Galerist  269, 270

Delaunay, R.  79, 83, 108, 110–113, 116, 334

Beyme, von, K.  97, 334, 332

Derain, A.  224

Blavatsky, H., Theosophin  93, 204, 207, 209

van Doesburg, Th.  180, 307

Blöcker, G.  339

Dubuffet, J.  253, 256

Bloesch, H., Freund Paul Klees  23, 27, 31, 35,

Duchamp, M.  216

37, 41, 50, 235, 292, 299, 325

Dürer, A.  55

Blumenberg, H.  143, 331 Böhmer, B., Deutscher Kunsthändler  237

E

Bordieu, P.  325

Eckhart, Meister  167

Braque, G.  125, 128, 334

Eckstaedt, A.  278, 294, 309–312, 315

Breton, A.  216, 217

Eggelhöfer, F.  321

Buchholz, K,, Deutscher Kunsthändler  236,

Erdmann-Macke, E., Ehefrau von A. Macke  115

237

Einstein, C., Deutscher Kunsthistoriker  213 Personenregister I 403

Eluard, P.  75

Grohmann, G., Ehefrau von W. Grohmann  243

Ensor, J.  56, 64, 329, 362

Grohmann, W.  9, 12, 65, 97, 106, 115, 155, 163,

Ernst, M.  135, 214

189, 197–202, 220, 225, 234, 235, 242, 243, 244, 247–249, 252, 260, 261, 263, 267–269,

F

278, 279, 280, 284, 285, 319, 343, 349, 357,

Feininger, J., Ehefrau von L. Feininger  307

363

Feininger, L.  178, 236

Gropius, I., zweite Ehefrau von W. Gropius  307

Fichte, J.G.  13, 78, 140, 147, 151, 157

Gropius, W., Bauhausdirektor  176, 178–180, 230

Flechtheim, A., Deutscher Kunsthändler

Grosch, K., Gymnastikleherin am Bauhaus  243,

und Galerist  213, 224, 225, 232, 234, 236, 268

354 Grosz, G.  88

Foucault, M.  300

Grote, L., Landeskonservator Sachsen-Anhalt  182

Franciscono, M.  12, 19, 32, 36, 45, 49, 55–57,

Grunow, G., Gymnastiklehrerin am Bauhaus  307

66, 81, 97, 135, 155, 176, 189, 196, 197, 242,

Gurlitt, F., Deutscher Kunsthändler und

274, 322, 327, 328, 331, 338 Friedrich, C.D.  152

Galerist 175 Gurlitt, H., Deutscher Kunsthändler und

Fukaya, M., japanischer Kunsthistoriker  339

Galerist 237

Frank, M.  339 Freud, S.  293, 359, 361

H

Frey, S., Schweizer Kunsthistoriker  8, 186, 353,

Hackelberg, W., Deutscher Maler, 1934

361

emigriert 351 Haftmann, W.  12, 127, 128, 129, 252, 261, 263,

G

264, 265, 266, 267, 268, 269, 279, 283, 330,

Gack, O., Verwandter der Familie Klee  22

357

Gauguin, P.  10, 69, 320 Geelhaar, Ch.  12, 221, 273, 321, 327, 336, 351, 358 Geiser, Ch., Schweizer Schriftsteller  119, 301, 337

Haller, H., Schweizer Bildhauer, Freund von Paul Klee  299 Hausenstein, W.  9, 15, 22, 30, 74, 87, 111, 115, 137, 156, 163–172, 198, 202, 263, 268, 286, 300, 307, 322, 325, 330, 338, 344, 345, 346

Geist, H.F., Deutscher Pädagoge  14, 261, 330

Haxthausen, C.W.  13, 271, 321

Giedion-Welcker, C.  12, 72, 252, 261, 280, 356,

Hebbel, F.  276

359 Glaesemer, J.  12, 44, 49, 61, 81, 137, 219, 248, 249, 251, 252, 256, 258, 282, 283–285, 286, 318, 319, 328, 353, 355, 357 Goethe, J.W.  10, 32, 49, 139, 158–162, 194, 201, 202, 239, 266, 328, 343, 344, 348

Hegel, G.W.F.  147 Heidegger, M.  142, 261, 268–270, 286, 335, 357 Helfenstein, J., Schweizer Kunsthistoriker  279, 354 Helmholtz, H. von   58 Heraklit 157

van Gogh, V.  10, 20, 49, 64, 65, 320, 329, 363

Hesse, F., Oberbürgermeister von Dessau  178, 182

Goltz, H., Deutscher Galerist und Kunsthänd-

Hitler, A.  230, 231, 241

ler  68, 87, 93, 106, 127, 132, 133, 154, 167,

Hodler, F.  37, 64

268, 274, 362

Hölderlin, F.  196

Goya, F.  50, 64, 99 404 I Personenregister

Hölzel, A.  26, 166

Hofmann, W.  121, 122, 261, 272, 273, 343

Klee, Lily, geb. Stumpf, Ehefrau von Paul Klee 

Hopfengart, C.  8, 12, 69, 117, 118, 120, 131,

9–12, 17, 24, 27, 29, 30, 41, 42, 64, 68, 79,

262, 263, 279, 344, 346

84, 106, 119, 163, 165, 177, 179, 181, 183,

Hoppe-Sailer, R.  344

185–187, 197, 213, 224, 225, 227, 232, 233,

Hugenberg, A., Leiter des Hugenberg-­

234, 235, 237, 238, 239, 242–244, 247, 248,

Konzerns  95, 333

256, 276, 278, 280, 281, 284, 285, 295–298,

Huggler, M., Schweizer Kunsthistoriker  155, 235

301–308, 312–314 Klee, Hans, Vater von Paul Klee  15, 16, 17, 305,

I

313, 322

Illtz, W., Generalintendant der Düsseldorfer Bühnen 224

Klee, Ida, Mutter von Paul Klee  15, 16, 17, 305, 312 Klee, Mathilde, Schwester von Paul Klee  15,

Itten, J.  180, 218

16, 17, 305 Kirchner, L.  88, 307

J

Knirr, H.  20, 21, 23–25, 37, 44

Jawlensky, A.  21, 24, 69, 106, 169, 236, 242, 336, 354 Jünger, E.  92–93

Kreidolf, E., Schweizer Malerkollege Klees  50 Kris, E./Kurz, O.  11, 320, 321 Kubin, A.  137, 333

Junghanns, J.P., kommissarischer Leiter der Kunstakademie Düsseldorf seit 1933  232,

L

233, 352

Le Fauconnier, H.  111 Lipps, Th.  142

K

Lissauer, E., Deutscher Dichter  87

Kaesbach, W., Leiter der Düsseldorfer

Löfftz, L. von, Direktor der Münchner Kunst-

Kunstakademie, 1933 entlassen  223, 232, 233, 237 Kahnweiler, D.-H., deutsch-französischer Kunst-

akademie  18, 20, 22 Lotmar. F., Freund von Paul Klee  41, 235 Lotmar, Ph., Schweizer Jurist, Vater von

händler und Schriftsteller  224, 234, 236 Kandinsky, W.  9, 10, 13, 21, 24, 49, 54, 55, 68, 70–74, 79, 82, 83, 85, 90–93, 106, 111, 112,

F. Lotmar  41, 42 Lüthy, O., Schweizer Malerkollege Klees  111 Lukács, G.  144

113, 115, 116, 132, 150, 169, 176, 177, 202, 203, 204–206, 207–210, 217, 230, 236, 253,

M

286, 327, 330, 331, 333, 346, 348–350, 360

Macke, A.  68, 69, 79, 83, 108, 113–115, 116,

Kant, I.  142, 147, 150, 151, 158, 208, 210, 259, 262, 264, 268, 340, 341, 342, 350

122, 123, 136, 293, 307, 336 Mann, H.  90

Kaul, B.  115

Mann, Th.  22, 90, 109, 231, 259, 318, 345

Klages, L.  360

Marc, F.  9, 10, 23, 68, 69, 72, 74, 77, 79, 83–109,

Klapheck, R., Deutscher Kunsthistoriker, 1934 entlassen  225, 452 Klee, E., Ehefrau von Felix Klee  226, 303 Klee, F., Sohn von Lily und Paul Klee  11, 47, 68,

111, 113, 115, 116, 123, 136, 141, 149, 164, 165, 202, 207, 293, 278, 332, 333, 335 Marc, M., Ehefrau von F.Marc  84, 98, 105, 107, 187, 332, 336, 345

115, 163, 177, 185, 247, 254, 300, 303, 346,

Marinetti, F. T.  90, 333

358, 361

Marx, K.  109, 144, 147 Personenregister I 405

Matisse, H.  120, 224, 253, 286, 356

Petitpierre, P., eigentlich Frieda Kessinger,

Meier-Gräfe, J., Deutscher Kunsthistoriker  50,

Schweizer Malerin, Freundin von Paul Klee

64, 89

10, 119, 160, 163, 225, 226–229, 243, 278,

Meyer, H., Bauhausdirektor  178–182, 203, 210, 223

285, 331, 352, 354 Petzet, H.W.  269, 357, 358

Michelangelo Buonarotti.  34

Pfemfert, F., Deutscher Verleger  90

Mies van der Rohe, L., Bauhausdirektor  176,

Picasso, P.  9, 18, 36, 69, 70, 71, 72, 73, 76,

182, 223

116–120, 122, 125, 129, 130, 131, 222, 224,

Moeller, F., Deutscher Kunsthändler  237

225, 233, 234, 239, 279, 281, 286, 293, 337,

Moholy-Nagy, L.  219

338, 353, 357

Moilliet, L., Freund von Paul Klee  50, 68, 93, 108, 113–116, 235, 307

Piper, E.  333, 334 Platon 341

Mozart, W.A.  79, 80, 296

Pöggeler, O.  269, 357, 358

Müller, O.L., Deutscher Physiker  162

Poussin, N.  258

Müller-Petitpierre, S.  8

Prange, R.  77, 123, 203, 349

Münter, G.  68, 333

Probst, H., Kunstsammler  116 Proust, M.  331

N Neumann, J.B., Deutscher Kunsthändler  32, 236, 237, 248, 279

R Raffael, eigentlich Raffaelo Santi  33, 50

Newton, I  162

Ralfs, O., Förderer Klees  340

Nierendorf, K., Deutscher Kunsthändler  236, 237

Read, H.  236

Nietzsche, F.  32, 87, 249, 260, 275, 281, 283,

Richardson, J.  12

286–292, 298, 321, 331, 355, 360, 361

Riegl, A.  340

Nolde, E.  85, 86, 262

Rilke, R.M.  116, 141, 168, 169, 307

Novalis, eigentlich G. Ph. F. von Hardenberg 

Rodin, A.  33, 57, 58, 59

13, 141, 155, 157, 196, 270, 290, 339, 343

Rops. F.  38, 326, 358 Rosenberg, R.  151, 152, 339

O

Rümelin, C.  113

Ogden, Th. H., Amerikanischer Psychoanalytiker

Runge, Ph.O  15, 51

315, 316

Rupf, H. und M., Schweizer Sammler  90, 235,

Öhlschläger, C.  144, 339, 340, 344

236, 248

Oken, L, Deutscher Biologe und Naturforscher  141, 149, 197

S

Ostendorf, B. u.a.  360

Safranski, R.  151

Ovid, eigentlich Publius Ovidius Naso  43

Sartre, J.P.  156, 341, 343 Scheffler, K.  50, 89, 175

P

Schelling, F.W.J.  13, 78, 141, 148–151, 156, 157,

Palucca, G., Deutsche Tänzerin  243, 351 Partsch, S.  358 Petitpierre, H., Schweizer Architekt, Ehemann von P. Petitpierre  228, 229 406 I Personenregister

159, 196, 204, 341, 343, 344 Scheyer, G., Malerin, Freundin von A. Jawlensky  236, 336 Schlegel, F.  140, 343

Schleiermacher, F.  141, 151, 152

Voltaire, eigentlich F.M. Arouet  74

Schlemmer, O.  166, 178, 203

Vömel, A., Repräsentant und Teilhaber der

Schmalenbach, W.  114, 336

Galerie Flechtheim in Düsseldorf  224, 225

Schmidt, A.  343 Schneider Brody, M., Amerikanische Psycho­ analytikerin  311, 313, 315, 316 Schuster, P.-K.  107, 108

W Wagner, S.  314 Walden, H., eigentlich Georg Lewin, Galerist

Scully, S.  218

und Verleger  87, 90, 106, 110, 112, 127,

Seurat, G.  239, 240

133, 134, 225, 268, 274

Sholem, G.  215

Walter, M.-Th., Geliebte Picassos  338

Signac, P.  240

Wedderkop, H. von  163

Simmel, G.  85, 144

Weber, M  85

Sloterdijk, P.  340

Wedekind, G.  12, 28, 30, 43, 294, 325, 326, 359

Sokrates  93, 333

Weill, K.  224

Sombart, W.  87

Weiniger, O.  29, 30, 275, 281, 292

Sonderegger, P., Freund von Paul Klee  64, 65

Weisgerber, A., Deutscher Maler  136

Sparagni, T.  140

Welti, A., Schweizer Malerkollege Klees  50

Spinoza, B.  156

Werefkin, M. von   22, 69, 243, 354

Steiner, R.  207

Werkmeister, O.K.  8, 12, 20, 23, 26, 37, 65, 77,

Strauss, R.  224

78, 104, 134, 135, 165, 172, 183, 261, 274,

Stuck, F. von   21, 22, 23, 24, 26, 37

320, 321, 328, 329, 331, 332, 335, 336, 338,

Suter, H.  7, 248, 250, 282, 285, 317, 321, 322, 336, 353, 363 Sydow, E. von, Deutscher Kunstkritiker  137, 174

344, 345 Wiederkehr-Sladeczek, E.  8 Wilde, O.  42, 200 Wolff, K., Deutscher Verleger  74 Worringer, W.  9, 10, 79, 80, 82, 83, 139,

T

141–147, 207, 338, 340

Tàpies, A.  253, 256 Thales 157

Z

Thannhauser, H., Deutscher Galerist und

Zahn, L.  13, 21, 87, 93, 106, 137, 154, 163, 164,

Kunsthändler  68, 112, 120, 134, 330, 336 Trakl, G.  338

167, 171, 172, 198, 280, 344 Zervos, Ch., Französischer Verleger  224, 236 Zitko, H.  7, 85, 333, 358

V

Zöllner, F.  281, 286, 289, 294

Valentin, C., Deutscher Kunsthändler  236, 237

Zschokke, A., Schweizer Bildhauer  226, 238

da Vinci, L.  10, 55, 151, 273

Zuloaga, I., Spanischer Maler  50

Personenregister I 407