Der Mythos der religiösen Neutralität: Eine Studie zum verborgenen Einfluss des religiösen Glaubens auf Theorien 9789004300965, 9789004300958

Geschrieben für Bachelor-Studenten, für gebildete Laien und für Wissenschaftler in anderen Feldern als der Philosophi

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German Pages x, 368 [478] Year 2020

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Der Mythos der religiösen Neutralität: Eine Studie zum verborgenen Einfluss des religiösen Glaubens auf Theorien
 9789004300965, 9789004300958

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Der Mythos der religiösen Neutralität

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_001

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Philosophical Studies in Science and Religion Series Editors Dirk Evers (Martin-Luther-University Halle-Wittenberg, Germany) James Van Slyke (Fresno Pacific University, usa) Advisory Board Philip Clayton (Claremont University, usa) George Ellis (University of Cape Town, South Africa) Niels Henrik Gregersen (University of Copenhagen, Denmark) Antje Jackelyn (Bishop of Lund, Sweden) Nancey Murphy (Fuller Theological Seminary, usa) Robert Neville (Boston University, usa) Palmyre Oomen (Radboud University Nijmegen, The Netherlands) Thomas Jay Oord (Northwest Nazarene University) V.V. Raman (University of Rochester, usa) Robert John Russell (Graduate Theological Union, usa) F. LeRon Shults (University of Agder, Norway) Nomanul Haq (University of Pennsylvania, usa) Kang Phee Seng (Centre for Sino-Christian Studies, Hong Kong) Trinh Xuan Thuan (University of Virginia, usa) J. Wentzel van Huyssteen (Princeton Theological Seminary, usa)

VOLUME 6

The titles published in this series are listed at brill.com/pssr





Der Mythos der religiösen Neutralität Eine Studie zum verborgenen Einfluss des religiösen Glaubens auf Theorien Von

Roy A. Clouser

LEIDEN | BOSTON

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Originalausgabe: Clouser, Roy A., The Myth of Religious Neutrality. An Essay on the Hidden Role of Religious Belief in Theories. Notre Dame, London: University of Notre Dame Press, 2005 (1991) – Rev. ed. Übersetzt von Johannes Corrodi Katzenstein und Cécile Capelli. The Library of Congress Cataloging-in-Publication Data is available online at http://catalog.loc.gov

Typeface for the Latin, Greek, and Cyrillic scripts: “Brill”. See and download: brill.com/brill-typeface. issn 1877-8542 isbn 978-90-04-30095-8 (paperback) isbn 978-90-04-30096-5 (e-book) Copyright 2021 by Koninklijke Brill nv, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Hes & De Graaf, Brill Nijhoff, Brill Rodopi, Brill Sense, Hotei Publishing, mentis Verlag, Verlag Ferdinand Schöningh and Wilhelm Fink Verlag. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Requests for re-use and/or translations must be addressed to Koninklijke Brill NV via brill.com or copyright.com. This book is printed on acid-free paper and produced in a sustainable manner.

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur revidierten Auflage iX

1 Einführung 1

teil 1 Religion 2

Was ist Religion? 11 2.1 Das Problem 11 2.2 Ein Lösungsvorschlag 22 2.3 Einige weiterführende Klärungen 33 2.4 Antworten auf kritische Einwände 38 2.5 Einige weitere Definitionen 43 2.6 Ist jeder Glaube an etwas an sich Göttliches religiös? 48

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Typen von religiösem Glauben 60 3.1 Die Vergleichsbasis der Religionen 60 3.2 Der pagane Typ 61 3.3 Der pantheistische Typ 65 3.4 Der biblische Typ 69 3.5 Warum glauben, dass überhaupt etwas göttlich ist? 75

teil 2 Theorien 4

Was ist eine Theorie? 81 4.1 Einleitung 81 4.2 Was ist eine Theorie? 82 4.3 Abstraktion 85 4.4 Aspekte der Erfahrung 88 4.5 Theorietypen 92 4.6 Kriterien zur Beurteilung von Theorien 110

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Theorien und Religion: Die Alternativen 119 5.1 Religiöser Irrationalismus 119 5.2 Religiöser Rationalismus 122 5.3 Die radikal biblische Position 125

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Inhaltsverzeichnis

5.4 Religiöser Scholastizismus 130 5.5 Der Konflikt dieser Alternativen 138 6

Die Idee der religiösen Kontrolle 145 6.1 Der Irrtum des Fundamentalismus 145 6.2 Voraussetzung 159

teil 3 Fallbeispiele 7

Theorien der Mathematik 171 7.1 Einleitung 171 7.2 Zahl-Welt Theorie 173 7.3 Die Theorie von J.S. Mill 175 7.4 Die Theorie von B. Russell 176 7.5 Die Theorie von J. Dewey 178 7.6 Welchen Unterschied machen solche Theorien? 181 7.7 Die Bedeutung der Religion in diesen Theorien 185

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Theorien der Physik 192 8.1 Mögliche Missverständnisse 192 8.2 Die Theorie von E. Mach 194 8.3 Die Theorie von A. Einstein 198 8.4 Die Theorie von W. Heisenberg 201 8.5 Welchen Unterschied machen solche Theorien? 204 8.6 Die Bedeutung der Religion in diesen Theorien 206

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Theorien der Psychologie 210 9.1 Einleitung 210 9.2 Die Theorien von J.B. Watson, E.M. Thorndike und B.F. ­Skinner 214 9.3 Die Theorien von A. Adler und E. Fromm 223 9.4 Die menschliche Natur 235

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Die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes 241 10.1 Einführung 241 10.2 Warum Theorien unweigerlich von einem religiösen Glauben gesteuert sind 243 10.3 Eine philosophische Kritik des Reduktionismus als ­Theoriestrategie 252

Inhaltsverzeichnis

10.4 Eine religiöse Kritik des Reduktionismus 259 10.5 A. Eine Beurteilung des AAA-Gottesgedankens 268 10.6 B. Pankreationismus 281 10.7 Die kappadozische und (neu-)reformierte theologische ­Tradition 288 10.8 Antworten auf Einwände 294 10.9 Schlussfolgerung 310

teil 4 Nicht-reduktionistische Theorien 11

Eine biblische Theorie der Wirklichkeit 313 11.1 Das Projekt biblisch-theistischer Theorien 313 11.2 Einige grundlegende Prinzipien 318 11.3 Das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis 321 11.4 Die Natur der Dinge 345

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Eine nicht-reduktive Theorie der Gesellschaft 358 12.1 Einführung 358 12.2 Fakt versus Norm 365 12.3 Individualismus versus Kollektivismus 373 12.4 Von Teilen und Ganzen 379 12.5 Sphärensouveränität 386

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Eine nicht-reduktive Theorie des Staates 403 13.1 Einführung 403 13.2 Was ist der Staat? 404 13.3 Was der Staat nicht ist 429 13.4 Postskriptum 434

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Nachwort: Glaubenstektonik 437

Literaturverzeichnis  441 Register 453

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur revidierten Auflage Auflage Vorwort zur revidierten

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Vorwort zur revidierten Auflage In den frühen 1960er Jahren hat jemand, dessen Name mir entschwunden ist, eine Rezension von Herman Dooyeweerds vierbändigem Hauptwerk A New Critique of Theoretical Thought verfasst. Der Rezensent erkannte die Tiefe, die enorme Gelehrsamkeit und die Originalität dieses Werkes, schloss jedoch mit einer ironischen Bemerkung. Er sagte, die Entdeckung von Dooyeweerds Werk im herrschenden philosophischen Klima sei wie die Entdeckung einer riesigen Eiche mitten in der Wüste. Obwohl er sich das Staunen nicht versagen konnte, so der Kommentar des Verfassers, habe die Frage, wie in aller Welt diese Eiche dort hingekommen war, eine Art lähmende Perplexität in ihm ausgelöst. In diesem Buch versuche ich eine Oase rund um diese Eiche zu pflanzen, so dass deren schiere Existenz nicht das kopfschüttelnde Erstaunen auslöst wie in besagtem Rezensenten. Dann kann sich die Aufmerksamkeit auf das richten, was sie verdient hat: auf die originellste philosophische Theorie seit Kant. Diese zweite Edition hat es mir möglich gemacht einige Dinge zu klären, die Missverständnisse hervorgerufen haben, auf Einwände einzugehen, und die Hauptthese des Buches mit ausführlicheren Argumenten zu stützen. Die stärksten Überarbeitungen haben Kapitel zwei, vier, zehn, elf und dreizehn erfahren, nebst zahlreichen kleineren Verbesserungen, die das ganze Buch durchziehen. Die Anmerkungen wie das Register sind vollständiger geworden. An dieser Stelle möchte ich auch denjenigen danken, die zur Verbesserung des Buches beigetragen haben. Dirk Stafleu und Gerald Barnes haben den gesamten Text kommentiert; Walter Hartt, Bruce Wearne und Martin Rice haben wertvolle Anstösse gegeben. Die erste Ausgabe dieses Werks war Prof. Herman Dooyeweerd gewidmet, der während vier Monaten zahlreiche Gespräche mit mir über sich ergehen lassen hat, sowie meiner Frau Anita, die das Buch ediert hat. Auch die Neuausgabe sei ihnen gewidmet, sowie meinen langjährigen Mentoren: William White Robert Rudolph T. Grady Spires Johan van der Hoeven James Ross Ohne deren Einfluss, Geduld und Instruktion wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Roy Clouser Frühjahr 2005

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Vorwort Zur Revidierten Auflage

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Einführung

1. Kapitel

Einführung Was die Bedeutung betrifft, die Religion und Wissenschaft für das mensch­liche Leben haben, ist es nicht übertrieben zu sagen, dass der zukünf­tige Verlauf der Geschichte von der Entscheidung dieser Generation abhängt, wie das Verhältnis der beiden zu sehen ist. Alfred North Whitehead

⸪ Welchen Einfluss hat der religiöse Glaube auf die Art und Weise, wie Menschen leben und sich und ihr Dasein verstehen? Alles hängt davon ab, wie religiös jemand ist. So lautet die wohl populärste Antwort auf die Frage. Religiöser Glaube hat praktisch keinen Einfluss auf Atheisten oder Agnostiker. Dagegen können sich religiöse Fanatiker mit nichts Anderem beschäftigen. Für die Mehrheit der Menschen, die irgendwo zwischen diesen beiden Extremen steht, hat die Religion mehr mit dem jenseitigen Schicksal als mit dem Leben im Hier und Jetzt zu tun – einmal abgesehen von der moralischen Orientierung und dem Trost, den Religion angesichts des Todes zu stiften vermag. Doch für die meisten der täglichen Angelegenheiten ist der religiöse Glaube ohne Belang. Nach fast fünfzig Jahren intensiver Beschäftigung mit diesen Fragen, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass die verbreitete Ansicht falsch ist. Im Gegenteil halte ich den religiösen Glauben für die einflussreichste Art von Überzeugung überhaupt, und für die stärkste Kraft in dieser Welt. Es ist der religiöse Glaube, der den vergleichsweise grössten Einfluss auf unsere Haltung in allen wichtigen Lebensfragen ausübt, und zwar was das gesamte menschliche Erfahrungsspektrum betrifft. Doch entfaltet der religiöse Glaube seine Wirkung auf uns Menschen unabhängig von der bewussten Annahme oder Zurückweisung der religiösen Traditionen, mit denen wir vertraut sein mögen. Dennoch entzieht sich der gewaltige Einfluss des religiösen Glaubens dem flüchtigen Blick. Religion verhält sich zum Rest des Lebens wie die grossen geologischen Platten der Erdoberfläche zu den Kontinenten und Ozeanen. Die Bewegung dieser Platten entgeht der oberflächlichen Betrachtung einer Landschaft und kann nur mit grösster Schwierigkeit wahrgenommen werden. Doch

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1. Kapitel

ist die Ausdehnung und Kraft dieser Platten so enorm, dass ihre sichtbare Wirkung – Bergketten, Erdbeben, vulkanische Eruptionen – im Vergleich zu den Platten selbst nicht viel mehr als winzige Schönheitsflecken darstellen. Ähnlich sind die historischen Überlieferungen der grossen religiösen Lehren und die Institutionen, die deren Erhaltung dienen, nichts weiter als die Oberflächenerscheinungen eines religiösen Glaubens. Dieser ist eine weitaus umfassendere und allgemeinere Realität als die Gesamtheit all jener. Mit zu den Ursachen, warum dieser Einfluss so oft übersehen wird, gehören zwei verlockende Einstellungen, zu der viele Menschen neigen. Eine davon besteht in der irrigen Annahme, die meisten religiösen Traditionen würden sich im Wesentlichen nicht von der eigenen unterscheiden. Die andere meint, dass die Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen religiösen Traditionen in deren auffälligsten äusseren Erscheinungsmerkmalen liegen müssten. Diese beiden Irrtümer verstellen unseren Blick sowohl auf das eigentliche Wesen des religiösen Glaubens wie auf dessen Auswirkungen. Unsere erste Aufgabe besteht also darin, anhand der gemeinsamen Merkmale, die den grossen religiösen Traditionen und ebenso vielen kleineren eignen innewohnen, das Wesen des religiösen Glaubens herauszuarbeiten. Die resultierende Definition wird für manche überraschend ausfallen. Denn sie schliesst eine Anzahl Überzeugungen mit ein, die für gewöhnlich nicht als religiös erachtet werden, da sie weder zu Kult, Anbetung, oder anderen Formen von Verehrung führen. Wer im Kraftfeld der beiden erwähnten Fehlüberzeugungen steht, wird dieser Definition wohl mit Zurückhaltung und Misstrauen begegnen. Dennoch liegt eine ihrer grössten Stärken gerade darin, dass sie zeigt, warum nicht jeder religiöse Glaube an ein entsprechendes Ritual, und nicht einmal an einen ethischen Verhaltenscode gebunden sein muss. Wie überraschend diese Entdeckung auch immer sein mag, sie ist von grösster Bedeutung für unser Ansinnen, den versteckten Fäden zwischen dem religiösen Glauben und den vermeintlich religiös neutralen Dingen des Lebens nachzuspüren. Aus der Behauptung, der religiöse Glaube sei von allen Überzeugungen die stärkste und verbreitetste, folgt nun nicht, dass wir Wörter anders aussprechen oder eine Zahlenkolonne anders addieren, je nach dem, welchem religiösem Glauben wir anhängen. Oft bewegt sich unser Sprechen oder Rechnen auf einer alltäglichen Ebene, in der das Verhalten und Wissen vieler Menschen auffällig gleichförmig ist. Doch es gibt noch eine andere Dimension, von der sich Menschen immer schon angezogen fühlten. Von ihr geht die Hoffnung auf eine Deutung und Klärung der Welt und unseres eigenen Menschseins aus. Unsere Kultur war und ist nun besonders durch die Haltung geprägt, dass Theorien dieses tiefere Verständnis des Daseins ermöglichen. Mittels philosophischer

Einführung

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und wissenschaftlicher Theorien versuchen wir, all das zu verstehen und zu erklären, was in unseren alltäglichen Erfahrungshorizont eintritt. Die zentrale Aussage dieses Buches ist nun die, dass keine Theorie umhin kommt, vom einen oder anderen religiösen Glauben geprägt und geleitet zu werden. Viele Leser und Leserinnen werden diese Behauptung nicht nur überraschend, sondern geradezu schockierend finden. Denn gerade unsere wissenschaftlichen Theorien scheinen die neutralsten und unvoreingenommensten aller möglichen Erklärungen zu sein. Meine Behauptung mag deshalb einige zur Annahme verleiten, dass ich sie nicht wörtlich gemeint haben kann. J­ edoch möchte ich hier betonen, dass ich keine überspitzten Äusserungen mache, nur um sie später aufzuweichen. Ich werde also zum Beispiel nicht argu­mentieren, dass alle Theorien unbeweisbare Annahmen machen müssen, diese Annahmen dann als „religiösen Glauben“ bezeichne, und dann den Schluss ziehe, Theorien seien in diesem Sinn von einem religiösen Glauben beeinflusst. Das wäre blosse Zeitverschwendung. Die allermeisten Menschen, die in Wissenschaft oder Philosophie tätig sind, wissen sehr genau, dass alle Theorien unbeweisbare Voraussetzungen haben. Aber eine Voraussetzung ist nicht etwa deshalb schon religiös, weil sie unbeweisbar ist. Ebensowenig werde ich die Sicht vertreten, die Konstruktion einer Theorie sei von den moralischen Vorannahmen ihrer Erfinder beeinflusst, um dann Religion mit Moral zu verbinden oder sie gar gleichzusetzen. Freilich gibt es bedeutsame Fälle, in denen ein moralischer Einfluss auf die Theoriebildung auszumachen ist; und in einigen Fällen stammen die moralischen Überzeugungen direkt aus einer religiösen Tradition. Aber all das hat noch nichts mit meiner zentralen Behauptung zu tun. Ich werde auch nicht die oft wiederholte Meinung vertreten, Philosophie und Wissenschaft seien begrenzt in dem was sie erklären könnten, und deshalb sei ein religiöser Glaube nötig, um die Lücken einer Theorie zu schliessen. Meine zentrale Behauptung beschränkt sich nicht darauf, dass Theorien auf diese Weise einem religiösen Glauben Raum machen können. Vielmehr werde ich zu zeigen versuchen, wie der eine oder andere religiöse Glaube auf alle Theoriebildung einwirkt, und zwar in dem Sinn, dass der eigentliche Gehalt einer Theorie vom Gehalt des vorausgesetzten religiösen Glaubens abhängt. Auch so formuliert ist unsere These aber noch nicht eindeutig genug, da sie immer noch auf zwei verschiedene Weisen aufgefasst werden kann. Sie kann zum einen bedeuten, dass ein religiöser Glaube jemanden inspiriert, auf eine bestimmte Theorie zu kommen. Oder aber sie besagt, dass das Wesen eines theoretisch gesetzten Gegenstandes je nach religiösen Voraussetzungen unterschiedlich konzipiert ist. Selbstverständlich habe ich die zweite

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1. Kapitel

dieser beiden Interpretationen im Auge. Meine These geht nicht dahin, dass jeder theoretisch postulierte Gegenstand von einem religiösen Glauben abgeleitet, oder durch ihn inspiriert ist; obwohl das von Zeit zu Zeit vorkommt. Die Behauptung ist vielmehr die, dass der eine oder andere religiöse Glaube ein Spektrum von akzeptablen Interpretationen festlegt, worin das Wesen des durch die Theorie veranschlagten Gegenstandes bestehen soll. In diesem Sinn halte ich den Einfluss von religiösen Überzeugungen für allverbreitet. Dementsprechend können die meisten Divergenzen zwischen konkurrierenden Theorien in Wissenschaft und Philosophie letztlich auf Unterschiede in deren religiösen Grundannahmen zurückgeführt werden. Das bedeutet dann aber auch, dass Theorien in Mathematik und Physik, Soziologie und Ökonomie, Kunst und Moral, Politik und Recht nicht religiös neutral sein können. Alle sind sie von einem religiösen Glauben bestimmt. Der Einfluss eines solchen Glaubens reicht also weit über die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod und den Bereich moralischer Wertvorstellungen hinaus. Als zentraler Faktor der Theoriebildung reicht er in die Interpretation aller Dinge hinein. Diese Position wird manchenorts auf zähen Widerstand stossen. Dabei richtet sich der stärkste Protest ohne Zweifel gegen die Auffassung, der so verstandene Einfluss religiösen Glaubens mache vor niemandem Halt. Sollte ich wirklich erklären wollen, alle Menschen hätten einen religiösen Glauben, obwohl viele gerade darauf beharren, keinen zu haben oder haben zu wollen? An diesem Punkt muss ich mich einmal mehr mit der verbreiteten Meinung anlegen, dass jemand, der keinen religiösen Glauben zu haben vermeint, auch tatsächlich keinen solchen hat. „Schliesslich“, so heisst es, „muss ich es doch am besten wissen, ob ich einen religiösen Glauben habe oder nicht! Und ist es nicht offensichtlich, dass viele Menschen durch und durch areligiös sind?“ Diese gängige Sicht der Dinge bezieht ihre vermeintliche Plausibilität meines Erachtens aus den beiden erwähnten Fehlannahmen. Wenn religiöser Glaube Anbetung, Verehrung und Loyalität einem Glaubensbekenntnis gegen­ über einschliessen muss, gibt es bestimmt viele Menschen, die ohne aus­ kommen. Ist unsere Definition des religiösen Glaubens aber einmal deutlich geworden, und dessen Verhältnis zu Theorien geklärt, wird einsichtig werden, warum Menschen einem solchen Glauben anhängen können selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Gleichwohl werde ich nicht die angeborene Religiosität des Menschen zu beweisen versuchen. Mein Projekt ist bescheidener, aber trotzdem signifikant. Gegenstand der Beweisführung ist also allein die Tatsache, dass jeder abstrakte Erklärungsansatz nicht umhin kann, einen religiösen Glauben vorauszusetzen. Dementsprechend werden wir sagen, dass es jemandem genau dann

Einführung

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möglich ist, frei von jedem religiösen Glauben zu sein, wenn er oder sie überhaupt keiner Theorie folgt. Hier sei in aller Kürze die Gestalt umrissen, die die Verteidigung meiner scheinbar hoffnungslosen These annehmen wird. Nachdem der Ausdruck „religiöser Glaube“ definiert ist, müssen wir uns damit beschäftigen, wie Theorien eigentlich zustande kommen. In diesem Zusammenhang unterscheiden wir einige wichtige Theorietypen und beschreiben gewisse unvermeidbare Aktivitäten, die in jede Theoriebildung einfliessen. Wir werden die gängigsten Vorstellungen Revue passieren lassen, wie sich Theorien und religiöser Glaube zu einander verhalten, um dann auf deren Defizite aufmerksam zu machen, was die tatsächliche Reichweite des Einflusses von religiösem Glauben auf Theorien angeht. Anschliessend werde ich eine Reihe von Fallbeispielen aus Mathematik, Physik und Psychologie präsentieren, in denen sich der behauptete Einfluss in actu aufzeigen lässt. Diese Theorien gehören zu den berühmtesten und wichtigsten, die in der Mathematik, Physik und Psychologie aufgestellt wurden. In jeder dieser Wissenschaften lässt sich zeigen, wie herrschende Uneinigkeiten hinsichtlich der wichtigsten konkurrierenden Theoriesysteme auf die unterschiedlichen religiösen Prämissen eben dieser Theorien zurückzuführen sind. Die Entdeckung der tatsächlichen Einflussnahme von religiösem Glauben auf die Theoriebildung ist nicht nur eine Sache der intellektuellen Neugier. Ihr kommt vielmehr die grösste praktische Bedeutung zu. Wenn Theorien von unver­einbaren religiösen Annahmen ausgehen, sollten sich die Theorien der Menschen, die an Gott glauben, von den Theorien, die einen anderen Glauben voraussetzen, ebenso unterscheiden. Aus diesem Grund schliesst dieses Buch mit dem Entwurf eines Vorgehens, wie Theorien so (re-)konstruiert werden können, dass sie vom Glauben an Gott geprägt sind. Dieser Entwurf enthält grundlegende Richtlinien für eine Theorie der Gesamtwirklichkeit, eine Gesellschaftstheorie und eine politische Theorie, die allesamt vom Bestreben charakterisiert sind, die biblische Auffassung von Gott zur normierenden Prämisse zu erheben. Das übergeordnete Ziel dieses Buches besteht also weder darin, seine Leser und Leserinnen zum Glauben an Gott zu bekehren, noch den Atheismus, den Agnostizismus oder den säkularen Humanismus zu widerlegen. Soweit solche „-ismen“ überhaupt erwähnt werden, sind sie meinem hauptsächlichen Anliegen untergeordnet. Dieses Buch richtet sich zuerst an Menschen, die an Gott glauben. Ich schreibe als Christ, der seine Brüder und Schwestern in der Glau­ bensgemeinschaft des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs davon überzeugen möchte, dass ihr Glaube eine eigenständige Perspektive für die Interpretation aller Lebensaspekte möglich und erforderlich macht. Diese Per­spektive

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1. Kapitel

­ mfasst auch die Konstruktion und Reinterpretation von wissenschaftlichen, u philosophischen oder irgendwelchen anderen Theorien. Denn, wie gesagt, es gibt keinen Bereich, der sich zum christlichen Glauben neutral verhalten würde. Ich bin mir wohl bewusst, dass die Mehrheit der Theisten diese Position nicht teilt. Dies obwohl die Verfasser der Bibel wiederholt zu verstehen geben, dass alle Erkenntnis und Wahrheit vom Glauben an den rechten Gott abhängen. Die Unfähigkeit, diese biblische Sicht ernst zu nehmen, hat zu einer langen Geschichte von Fällen geführt, in denen theistische Denker Theorien aufgesessen sind, die mit dem biblischen Glauben unvereinbar sind. Und der Verlust der Einsicht, wie der religiöse Glaube an Gott unsere theoretischen Annahmen prägen kann, trägt viel zur gegenwärtigen Konfusion hinsichtlich des Verhältnisses von biblischem Glauben und wissenschaftlichem Denken bei. Die hier vorgetragene Position macht deutlich, warum es nicht im Geringsten zutrifft, dass Glaube und Wissenschaft einander feindlich gesinnt sein müssen. Gleichzeitig zeigt sie, wie der Glaube an Gott menschliche Theoriebildung ­leiten kann, ohne dass alle Theorien aus der Schrift abgeleitet, oder an ihr überprüft und durch sie bestätigt werden müssten, wie dies in fundamentalistischen Kreisen versucht wird. Meine Position wird somit eine Alter­­native zu allen gegenwärtig vorherrschenden Auffassungen bieten, wie sich religiöser Glaube und Theorie allgemein gesehen zu einander verhalten. Die Diskussion all dieser Fragen beginnt auf einer einführenden Stufe. Sie versucht auf die Bedürfnisse einer Leserschaft einzugehen, die über wenige bis keine philosophischen Kenntnisse verfügt, einige Bruchstücke an naturwissenschaftlichem Elementarwissen mit sich herumträgt, und grundsätzlich ­verwirrt ist in Sachen Religion. Der Argumentationsgang des Buches ist fortlaufender Art und sollte auch entsprechend nachvollzogen werden; in jedem Kapitel ist das vorausgesetzt, was in einem früheren erklärt wurde. Damit der Text auch für eine nichtprofessionelle Leserschaft zugänglich bleibt, ist aber selbst auf der fortgeschrittensten Stufe des Arguments darauf geachtet worden, dass die etwas technischeren Punkte nicht im Text selber verhandelt werden, sondern auf die Anmerkungen beschränkt bleiben. Die Diskussion auf einer solchen Ebene zu führen hat freilich auch Nachteile. Viele Dinge, die eingebracht werden könnten, mussten ausgelassen werden. Und viele Dinge, die angesprochen werden, verlangen nach weit ausführlicherer Analyse und Diskussion, als unser Vorgehen erlaubt. Das hat seine frustrierenden Seiten. Aber immerhin ist es so möglich, die ganze Position in einem einzigen Buch darzu­stellen, und sie auch da verständlich zu kommunizieren, wo kein philoso­phischer Hintergrund vorhanden ist. Meine Hoffnung ist, dass die wichtigsten Elemente dennoch so weit hervortreten, dass ansatzweise

Einführung

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ersichtlich wird, wie sie in einem detaillierteren Rahmen verteidigt werden könnten. Trotz der Einschränkungen, die aus dem Entscheid herrühren, die Diskussion auf einer einführenden Stufe beginnen zu lassen, hoffe ich sehr, auch die anspruchvollsten Leser und Leserinnen dafür zu sensibilisieren, wie weitreichend der Einfluss religiösen Glaubens tatsächlich ist. Dann möchte ich diejenigen, die an Gott glauben, dazu ermuntern, sich diese Position anzueig­nen und sie weiterzuführen. Ebenso möchte ich alle christlichen Leser und Leserinnen dazu ermutigen, Theorien zu entwickeln, die vom Neuen Testament inspiriert und reguliert sind.

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1. Kapitel

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Einführung

Teil 1 Religion



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1. Kapitel

Was ist Religion?

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2. Kapitel

Was ist Religion? 2.1

Das Problem

Eine Definition von „Religion“ zu finden ist bekanntlich schwierig. Denn das Wort wird auf äusserst unterschiedliche Weise gebraucht. Es kann auf Rituale, Organisationen, Überzeugungen, Lehrmeinungen und Gefühle, sowie auf ganze Traditionen, wie den Hinduismus, den Buddhismus, den Taoismus, das Judentum, das Christentum und den Islam angewendet werden. Dazu kommt, dass Diskussionen über den religiösen Glauben oft ziemlich emotionsgeladen sind. Doch ist das nur natürlich, da Religion die Menschen auf der tiefsten Ebene der Gefühle, Überzeugungen und Wertvorstellungen bewegt. Um diese Schwierigkeiten etwas zu vermindern, wollen wir uns im Folgenden an zwei Dinge halten. Erstens, wir werden nicht auf die Frage eingehen, welche Religion wahr oder falsch ist. Vielmehr werden wir zu verstehen ­suchen was Religion – irgendeine Religion – ist. Als Antwort auf diese Frage, werde ich eine sogenannte Real- oder Wesensdefinition vorschlagen und vertei­digen; d.h. eine Definition, die präziser oder ‚wissenschaftlicher‘ ist als umgangssprachliche Definitionen. Zweitens werden wir uns auf einen besonderen Aspekt von „Religion“ konzentrieren, nämlich auf den religiösen Glauben. Unsere Suche nach einer Bestimmung von „Religion“ zielt demzufolge auf die Unterscheidung von religiösen und nicht-religiösen Überzeugungen (beliefs) ab. Das ist der entscheidende Punkt, denn es ist eine religiöse Überzeugung bzw. ein Glaube, die eine Person, eine Praxis, ein Ritual oder eine Tradition, die wir gemeinhin als religiös bezeichnen, leitet und antreibt. Wodurch zeichnet sich aber eine solche Überzeugung oder Glaube aus? Wir können die Frage folgendermassen angehen. Jeder von uns trägt tausend Überzeugungen und Meinungen über Tausende von Dingen mit sich herum. In diesem Moment bin ich zum Beispiel davon überzeugt, mit bestimmten Menschen verwandt zu sein, dass 1 + 1 = 2, dass am kommenden Freitag Lohn auf mein Konto überwiesen werden sollte, dass es vor 13’000 Jahren eine Eiszeit gab, und dass in den 1640er Jahren in England der Bürgerkrieg tobte. Obschon die meisten Menschen darin übereinstimmen werden, dass keine dieser Ansichten religiöser Natur ist, hielten die alten Pythagoreer daran fest, dass es sich bei 1 + 1 = 2 in Wirklichkeit um einen religiösen Glauben handelt! Deshalb müssen wir wissen, worin genau der Charakter eines religiösen Glaubens besteht. Und wir müssen wissen, wie es möglich ist, dass ein und dieselbe Überzeugung im Fall bestimmter Menschen religiösen Charakter, für andere aber keinen solchen, besitzt. © koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_003

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2. Kapitel

In unserer Diskussion müssen wir uns weiterhin Klarheit darüber verschaffen, was eine Definition zu leisten hat, wenn sie nicht willkürlich sein soll. Eine nicht-willkürliche Definition muss die Menge der Merkmale herausgreifen, die von allen Dingen des definierten Typs geteilt werden. Die Vorgehensweise besteht darin, dass eine möglichst grosse Anzahl Dinge des zu definierenden Typs untersucht wird, um die Merkmalskombination isolieren zu können, die auf diese Dinge, und nur auf diese, zutrifft. Nun ist das bereits ein schwieriges Unterfangen, wo wir es mit fassbaren Dingen wie Stühlen und Computern zu tun haben. Ungleich schwieriger nimmt sich die Sache aber dort aus, wo Abstraktionen und Ideen, wie zum Beispiel religiöse Überzeugungen, im Spiel sind. Was solche Definitionen allererst möglich macht, ist die Tatsache, dass wir bestimmte Gegenstände als zu einer bestimmten Art gehörig identifizieren können, lange bevor wir in der Lage sind, die entsprechende Art genau zu definieren. Wir alle wissen zum Beispiel, was Bäume sind, bevor wir uns der schwierigen Aufgabe zuwenden, die Menge der Merkmale aller Bäume, und nur der Bäume, zu analysieren. Obwohl der Definitionsprozess mit einer anfänglichen Reihe von Dingen der zu erfassenden Art beginnt, brauchen wir doch nicht alle einzeln durchzugehen, um eine Definition formulieren zu können. Tatsächlich könnten wir dies auch nicht, ohne bereits auf eine Definition zurückzugreifen, die es uns ermöglicht zu entscheiden, was dazugehört und was ein Grenzfall ist. Jeder Definitionsprozess beginnt also mit einer Reihe von Gegenständen, und lässt umstrittene Fälle beiseite. Das Erstellen einer anfänglichen, unstrittigen Liste von Religionen, mit dem Ziel, gemeinsame Elemente in deren massgeblichen Überzeugungen herauszuarbeiten, scheint mir noch einigermassen einfach. Die meisten werden mit mir einig gehen, dass das Judentum, das Christentum und der Islam, sowie der Hinduismus, der Buddhismus1 und der Taoismus auf unsere Liste gehören. Ebenso sind sich wohl praktisch alle darin einig, dass auch der altgriechische Glaube an die olympischen Götter, die griechischen Mysterienkulte, der römische Pantheon, der ägyptische Polytheismus und der palästinische Ba’alsglaube jeweils eine religiöse Tradition begründete. Noch scheint es mir strittig zu sein, dass auch solche Lehren als religiös gelten können, die nie eine grosse Anhängerschaft gefunden haben, wie zum Beispiel die epikureische Götterlehre. Es scheint also eine ziemlich grosse, anfängliche Liste zu geben, die zudem noch 1 Einige Wissenschafter bezweifeln, dass der Buddhismus eine Religion ist, weil der Thera­vada Buddhismus lehrt, dass es keine Götter gibt. Aber weil die meisten Buddhisten an Götter glauben, werde ich – vorläufig – alle buddhistischen Formen mit Ausnahme des The­ravada Buddhismus als Religion miteinbeziehen.

Was ist Religion?

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den Druidismus, den Isis- und Mithrasglauben, den Zoroastrianismus, den Schintoismus und eine Menge weiterer Kandidaten einschliesst. Aus welchem Grund sollte man verneinen wollen, dass in jedem dieser Fälle eine Religion und ein religiöser Glaube vorliegt? Sie alle werden (oder wurden) von ihren Anhängern als solche angesehen, und die Mehrheit der aufgezählten Traditionen nahm andere auf der Liste ohne Zögern als alternative oder sogar konkurrierende Religionen wahr. Trotzdem eine Liste von unkontroversen Beispielen existiert, hat es sich als äusserst schwierig erwiesen, irgendwelche Glaubensüberzeugungen herauszufiltern, die von den angeführten Religionen, und nur von diesen, geteilt werden. Um die Tragweite dieser Feststellung zu erfassen, müssen wir uns erst einmal vor Augen führen, wie kläglich einige der meist verbreiteten Definitionen versagen, wenn sie auf die genannten Religionen angewendet werden. Zuerst wollen wir eine Reihe populärer Vorstellungen kritisch begutachten, und uns dann einigen der einflussreichsten wissenschaftlichen Definitionsvorschlägen zuwenden. Eine der populärsten Vorstellungen ist wohl die, dass religiöse Überzeugungen einen Moralcode inspirieren und sanktionieren. Viele Leute scheinen zu glauben, dass die hauptsächliche Funktion von Religion darin besteht, moralische Orientierung ins Leben zu bringen. Obwohl dies zunächst plausibel klingen mag, ist es doch so, dass einige der genannten Religionen keine ethischen Lehren enthalten. Der antike Epikureismus, zum Beispiel, hat keine Verbindung zwischen dem Glauben an die Götter und unseren Pflichten anderen Menschen gegenüber hergestellt. Nach epikureischer Auffassung sind die Götter gegenüber menschlichen Angelegenheiten gleichgültig. Demnach kann eine Person moralisch völlig abgestumpft sein – den Göttern ist es einerlei. Andere Beispiele von Religionen, die eine solche „Verbindungslücke“ aufweisen, sind die japanische Schinto-Tradition und einige Religionsformen der römischen Antike. Noch schlimmer sieht es mit diesem Definitionsvorschlag aus, wenn wir uns einigen offenkundig nicht-religiösen Überzeugungen zu­ wenden, die einen moralischen Code anregen und mit einschliessen. Das Handbuch der Pfadfinder, zum Beispiel, enthält einen solchen; dann gibt es Ehren­codes in Schulen, Sportvereinen, Armeen, privaten Clubs, und nicht ­zuletzt in kriminellen Organisationen. Selbst wenn nun alle Religionen moralische Verhaltensanweisungen enthielten, würde dieser Tatbestand schon ausreichend verdeutlichen, dass das vorgeschlagene Kriterium allein nicht taugt, religiöse von nicht-religiösen Ansichten zu unterscheiden. Weiterhin ist es auch nicht so, dass jeder religiöse Glaube zu irgendeiner Form von Verehrung, Anbetung oder Gottesdienst führt. Aristoteles argumentierte für die Existenz eines höchsten göttlichen Wesens, das er den Ersten

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2. Kapitel

Beweger nannte. Doch weil er auch glaubte, dass es unter der Natur und Würde des Ersten Bewegers sei, sich mit irdischen Dingen abzugeben, hielt er jede Form der Verehrung für überflüssig. Die oben erwähnten Epikureer stimmten mit dieser Sicht überein: Die Götter geben nichts auf die Belange der Welt. Die Existenz der Götter ist zwar eine interessante Tatsache für uns Menschen, fordert aber nicht zur Anbetung heraus. Auch in unserer Zeit gibt es Formen des Hinduismus und des Buddhismus, die keinerlei Verehrung oder Anbetung kennen. Manchmal wird suggeriert, eine etwas erweiterte Kombination der beiden letzten Vorschläge könnte die gewünschte Definition ergeben. Stellen wir uns also vor, religiös sei der Glaube, der einen Moralcode und/oder eine rituale Praxis generiert, wobei letztere nicht spezifisch eine Form von Anbetung sein muss. Sollte das nicht ausreichen als Definition? Die Antwort fällt einmal mehr negativ aus. Was das eingeforderte rituale Element angeht, führt der Vorschlag zu einem vitiösen Zirkel. Das heisst, wir müssen schon wissen, welche Rituale religiös sind, um bestimmte Überzeugungen als religiöse identifizieren zu können; gleichzeitig müssen wir aber auch wissen, worin eine religiöse Überzeugung besteht, um zu bestimmen, welche Rituale diesen Charakter aufweisen. Wenn es denn eine Reihe spezifischer Rituale gäbe, die allein durch einen religiösen Glauben erzeugt würden, könnte dieser Versuch allenfalls gelingen. Doch gibt es eine grosse Vielfalt an Ritualen, die in einer bestimmten Situation religiöser Art sind, in einer anderen jedoch nicht. Beispiele sind: Ein Haus niederbrennen, Feuerwerke anzünden, fasten, Feste feiern, Geschlechtsverkehr praktizieren, singen, chanten, sich mit einer Klinge schneiden, ein Kind beschneiden, den Körper mit Dung bedecken, sich waschen, ein Tier schlachten, einen Menschen töten, Brot und Wein einnehmen, das Haupt rasieren, u.v.a. Es scheint deshalb so zu sein, dass der einzige Weg, auf dem wir bestimmen können, ob ein Ritual religiösen Charakter hat, an den Glaubensüberzeugungen der Beteiligten vorbeiführen muss. Wenn der motivierende Glaube religiöser Art ist, mag es das Ritual ebenso sein. Wenn wir aber nicht wissen, ob eine Handlung aus einem religiösen Grund geschieht, lässt sich ein Gebet nicht von einem Akt des Fantasierens oder einem Selbstgespräch unterscheiden. Bemerkenswert ist, dass viele der genannten Rituale einen ethischen Verhaltenscode beinhalten, selbst wenn sie aus nicht-religiösen Gründen vollzogen werden. Andere wiederum werden für unethisch gehalten, wenn sie keinem religiösen Zweck dienen! Clubrituale, die mit einem solchen Verhaltenscode einhergehen, oder Amtseinführungszeremonien in Wirtschaft und Regierung, die gewisse moralische Richtlinien voraussetzen, können hier als Beispiele dienen. Anderseits galt die rituelle Tötung eines Menschen zu religiösen Zwecken den Azteken als fromme Handlung, während es sich sonst um Mord handelte.

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Deshalb komme ich zum Schluss, dass der vorliegende Definitionsversuch scheitert. Gewisse Ansichten sind nicht schon deshalb religiös, weil sie Rituale und/oder moralische Werte hervorbringen. Es gibt religiöse Überzeugungen, denen beides fehlt, und solche nicht-religiöser Art, die beides erzeugen. Vielleicht die populärste unter den populären Vorstellungen von Religion ist aber die, nach der ein religiöser Glaube der Glaube an ein höchstes Wesen ist. Viele Menschen scheinen zu glauben, dass dieser Glaube nicht nur in allen Religionen vorhanden ist, sondern dass in allen Religionen dasselbe höchste Wesen unter verschiedenen Namen verehrt wird. Doch das ist schlicht unzutreffend. Nicht alle Traditionen auf unserer Liste schliessen den Glauben an ein höchstes Wesen ein. Dazu kommt, dass zum Beispiel im Hinduismus das Göttliche (Brahman-Atman) überhaupt kein Wesen ist. Vielmehr ist es das „Sein-selbst“. Aus diesem Grund kann Brahman-Atman auch nicht mit einem Gott identifiziert werden, da ein Gott immer eine individuelle und persönliche Wesenheit ist. Der Buddhismus geht noch weiter. Aus Furcht davor, dass „Seinselbst“ noch zu bestimmt ist, besteht er auf den Bezeichnungen „Nicht-Sein“ oder „Nichts“. Obwohl diese Religionen an eine göttliche Realität glauben, wird diese nicht überall als höchstes Wesen verstanden, und vielfach nicht einmal als ein Seiendes aufgefasst. Überraschenderweise schneiden viele der wissenschaftlichen Definitionen von Religion nicht wesentlich besser ab als die populären. Eine der einflussreichsten Definitionen der letzten fünfzig Jahre war die von Paul Tillich, der die Religion im „letzten Anliegen“ um das, „was uns unbedingt angeht“ erkannte.2 Dieser Ausdruck tritt auf mit dem Anspruch, das Skelett aller Religion freizulegen. Tillich behauptete, alle Menschen hätten ein letztes Anliegen; dieses Anliegen aber ist Religion. Was bedeutet es, an etwas interessiert zu sein, das einen unbedingt angeht? Die vermutlich naheliegendste Weise, den Ausdruck zu verstehen, rückt das Anliegen um das, was unbedingte Wirklichkeit besitzt, in den Vordergrund. Hiermit scheint etwas ausgedrückt, das den Religionen tatsächlich wichtig ist; auch gibt es gute Gründe anzunehmen, dass Tillich auf diese Weise verstanden werden wollte.3 Einmal von der Dunkelheit des Ausdrucks des „sich interessieren“ abgesehen, bleibt uns mit dieser Interpretation aber das Problem, was mit „unbedingt“ oder „letzthinnig“ gemeint sein soll. Das muss geklärt werden, damit wir in der Lage sind zu beurteilen, welcher Glaube und welche Haltung 2 P. Tillich, Systematic Theology (Chicago: University of Chicago Press, 1951), vol. 1, 11–55. Siehe auch sein The Dynamics of Faith (New York: Harper & Bros., 1957), 1–40. 3 P. Tillich, Dynamics of Faith, 10, 76–77, 96. Siehe aber auch ders., Systematic Theology, vol. 1, 211.

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sich auf etwas beziehen, dem unbedingte Realität zukommt, und dementsprechend religiös sind. Tillich setzt das, was unbedingte Realität besitzt, mit „dem Heiligen“ und „dem Göttlichen“ gleich.4 Das ist freilich nicht sehr hilfreich, denn was sollen nun diese Ausdrücke bedeuten? Immerhin fügt Tillich hinzu, dass „das Seinselbst“ und „das Unendliche“ allein letzte Realität beanspruchen können, und damit rechtmässiger Gegenstand unseres letzten Anliegens sind.5 Darüber hinaus macht Tillich deutlich, dass das Unendliche in seinem Sinn etwas vollständig Unbegrenztes sein muss, so dass neben diesem nichts Anderes existieren kann. Wenn also jemand glaubt, dass Gott unbedingte Realität besitzt, aber daran festhält, dass Gott ein vom Universum verschiedenes Wesen ist, kommt es unweigerlich zu einem Selbstwiderspruch. Gäbe es ausser Gott noch etwas Anderes, wäre Gott durch das, was er nicht ist, begrenzt. Dann aber wäre Gott nicht unbedingt und hätte keine „letzte“ Realität. Wer einem Gott, der nicht das Sein-selbst, sondern ein existierendes Wesen ist, letzte Realität zuspricht, setzt den Glauben nach Tillich in etwas, das diesen Glauben nicht verdient, und ist dementsprechend Opfer eines fehlplatzierten Glaubens.6 Weil Tillich „unbedingt“ so definiert wie er es tut, stellt sich die vorgeschlagene Definition von religiösem Glauben als zu eng heraus. Vielmehr als auf ein gemeinsames Element in allen Religionen zu stossen, gerät Tillich dahin, uns seine Version von wirklicher oder echter Religion vorzuschreiben. Er versäumt es, dem Ausdruck „unbedingt“ eine Bedeutung zu geben, die wahrem wie falschem religiösen Glauben Raum machen würde. Wenn der religiöse Glaube an eine unbedingte Realität im Sinne Tillichs gebunden ist, verfügen die Menschen, die sich wohl auf eine solche Realität, nicht aber nach einem unendlichen Sein-selbst ausrichten, über keinen religiösen Glauben. Tillich hat also den religiösen Glauben so definiert, dass allein seine Vorstellung von wahrem Glauben darunter fällt. Ob seine Sicht von wahrer Religion richtig ist oder nicht tut hier nichts zur Sache. Denn zunächst braucht uns bloss das Faktum 4 P. Tillich, Dynamics of Faith, 13. 5 Ibid., 13, 14. Siehe auch Systematic Theology, vol. I, 237. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die zweite Passage zunächst Gottes Unendlichkeit bestreitet, dann aber genau von dieser Unendlichkeit handelt. Es ist mir nicht klar, wie damit umzugehen ist, aber es scheint mir doch so, dass für den grössten Teil der folgenden Argumentation das Göttliche in dem Sinn als unendlich angesehen wird, dass es sowohl unbedingt wie allumfassend ist. 6 P. Tillich, Dynamics of Faith, 12. Abgesehen von seiner starren Meinung, dass seine Auffassung von Unendlichkeit von grösster Bedeutung ist, dennoch ist Tillichs Definition der von mir vorgeschlagenen so nahe, dass ich ihn später als Unterstützer meiner Position anführen werde. Tillichs Definition verkörpert dieselbe Grundeinsicht und ist, wie er mir gegenüber eingestanden hat, von demselben Kommentar Luthers abgeleitet, der auch mich auf diese Spur geführt hat – jener Kommentar, der in Fussnote 22 zitiert ist.

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zu interessieren, dass gewisse Religionen nichts kennen, worauf Tillichs Definition von „unbedingter“ Realität zutreffen würde. Tillich war sich dieses Einwandes durchaus bewusst. Was er aber nicht wahr­haben wollte oder konnte war die Tatsache, dass seine Definition damit auch schon erledigt ist. Tillich versuchte dem Einwand durch die Erklärung zu entgehen, dass diejenigen Religionen, denen es nicht um das Unendliche in seinem Sinn zu tun ist, sich wohl auf dieses auszurichten versuchten, dabei aber zu kurz greifen würden. Sein Ausweichmanöver läuft auf die Behauptung hinaus, wahre Religion bestehe in einem Anliegen oder einem Glauben, der sich erfolgreich nach dem Unendlichen ausrichte, währenddessen falsche Religion dies erfolglos versuche. Doch diese Erklärung ist unzureichend. Die biblischen Religionen des Juden- und Christentums und der Islam vertreten eine Schöpfungslehre, wie sie im Buch Genesis zum Ausdruck kommt. Sie sind nicht darauf aus, an etwas Unendliches im Sinne Tillichs zu glauben. Vielmehr setzen sie ihren Glauben in einen Gott, der ein personales und vom Universum verschiedenes Wesen ist. Das Universum hängt von Gott ab, der es aus dem Nichts ins Sein gerufen hat, und ist nicht Teil von Gott. Deshalb ist die Ausrichtung auf das, was uns unbedingt angeht, nicht Merkmal dieser Religionen, und deshalb zu eng als Definition des Wesens von Religion. Eine weitere, bedeutende wissenschaftliche Definition von Religion besagt: Religion ist der variable symbolische Ausdruck davon, und die adäquate Reaktion darauf, was Menschen mit Bedacht als das anerkennen, was für sie von unbegrenztem Wert ist.7 In anderen Worten, wem oder was auch immer jemand unbegrenzten Wert zuschreibt, wird als der essentielle Kern eines jedes religiösen Glaubens verstanden. Diese Definition mag plausibler erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. Zuweilen bezeichnet man die Obsession einer Person als deren „Religion“. So bezeichnen wir die Hingabe eines Sportfanatikers an seine Sportart als dessen Religion, aufgrund der Ähnlichkeit dieser Hingabe mit der eines Propheten oder eines Heiligen. Die Ähnlichkeit der Inbrunst und Hingabe eines Sportfanatikers mit der eines Heiligen macht aber aus einem Sport noch lange keine Religion, noch aus der Religion einen Sport. Und es gibt weitere Gründe zu glauben, dass diese Definition nicht richtig ist.

7 Wenn nicht anders aus dem Literaturverzeichnis erkennbar, sind die Zitate von den Über­ setzern ins Deutsche gebracht.  T. W. Hall, ed., Introduction to the Study of Religion (San Francisco: Harper &Row, 1978), 16.

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Zum einen existieren Formen des Polytheismus, in denen einige Götter nur wenig geliebt werden, wenn nicht geradezu verhasst sind.8 Wenn der religiöse Glaube sich daran festmacht, was eine Person am meisten wertschätzt, müsste der Glaube an diese Götter als nicht-religiös gelten! Wenn der Glaube an die Götter aber nicht religiöser Art ist, welcher ist es dann? Ich gehe hier und im Folgenden von der Annahme aus, die meines Erachtens keiner eigenen Begründung bedarf, dass jede Definition, die den Götterglauben als nicht-religiös ausschliesst, sich selber eliminiert. Solche Formen des Polytheismus sind aber nicht die einzigen Beispiele, die gegen den vorliegenden Vorschlag sprechen. Das Christentum ist ein weiteres Gegenbeispiel. Es ist ohne Zweifel wahr, dass die richtige Ordnung unserer Werte und Wünsche ein zentrales Anliegen des Neuen Testaments ist. Diese Ordnung wird dort aber vielmehr als Folge des Glaubens an Gott gesehen als mit diesem Glauben identisch gesetzt. Christen sind dazu aufgefordert, das Reich Gottes und die Gerechtigkeit, die denen verheissen ist, die an Gott glauben, über alles andere zu stellen (Mt 6,33). Doch das Neue Testament macht auch deutlich: Wer ein gottgefälliges Leben führen will, muss zuerst an Gottes Existenz glauben und daran, dass er die belohnt, die ihn suchen (Hebr 11,6). Wenn nun der Glaube, dass Gott wirklich und vertrauenswürdig ist, die notwendige Voraussetzung für die Wertschätzung der Gnade Gottes und seines Reiches ist, kann der Glaube an Gott nicht identisch sein mit der Wertordnung, die aus diesem Glauben hervorgeht. Kurz gesagt, Gott ist nach biblischer Lehre nicht ein Wert, sondern der Schöpfer aller Werte. Und das richtige Verhältnis zu Gott besteht darin, ihn mit unserem ganzen Wesen zu lieben und nicht nur darin, ihn wertzuschätzen. Der christliche Glaube ist also ein Gegenbeispiel zur vorgeschlagenen Definition, wenn diese jeden religiösen Glauben im Glauben an etwas bestehen lässt, dem man höchsten Wert zuschreibt. Denn dann wäre der Glaube an Gott nicht-religiöser Art. Natürlich ist das, was jemand am meisten wertschätzt oft ein Indikator dafür, was er oder sie für göttlich hält. Was mir am wertvollsten ist, kann auf einen religiösen Glauben hinweisen, muss es jedoch nicht. Noch viel weniger kann religiöser Glaube auf diese Weise definiert werden. Der Raum zur Diskussion weiterer Definitionsvorschläge steht hier nicht zur Verfügung.9 Eine solche ist meines Erachtens aber auch gar nicht notwen8

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So zum Beispiel der böse Geist der Dakota, siehe J. Frazer, Der Goldene Zweig (Leipzig: C.L. Hirschfeld Verlag, 1928). Auch Platon kann als Beispiel dienen, denn er besteht auf einem bösen und einem guten Weltgeist (Nomoi 10, 896). Hier noch einige weitere: Friedrich Schleiermacher definiert Religion als „die Summe aller höheren Gefühle“, vornehmlich der Gefühle von Abhängigkeit (Schleiermacher

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dig, da immer mehr Religionswissenschafter darin übereinkommen, dass eine Wesensdefinition von Religion nicht möglich ist.10 Die jetzt vorherr­schende

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1984, 42). Aber natürlich kann Religion Überzeugungen (beliefs) nicht ausser Acht lassen, und alle Überzeugungen weisen eine begriffliche Komponente und eine Gefühls­ komponente auf. Andererseits spricht Schleiermacher auch von der Abhängigkeit vom Absoluten als Kern von Religion, was hervorragend zu der Definition passt, die ich verteidigen werde (allerdings ohne Schleier­machers Identifikation des Absoluten mit dem Uni­ versum zuzustimmen). Um die Schwierigkeiten einer Wesensdefinition zu vermeiden, bietet William Tremmel stattdessen eine ‚funktionale Definition‘ an: eine Definition dessen, was Religion bewirkt und der Erfahrung, die dahinter liegt (Tremmel 1997, 7). Leider verfehlt seine Beschreibung von religiöser Erfahrung deren religiösen Charakter, weil er sie nur als eine Erfahrung von „great worth and satisfaction – even ecstasy“ [von grossem Wert und Befriedigung – ja sogar von Ekstase] beschreibt. Diese Definition könnte auch auf einen Sieg in einem Sportwettbewerb, das erhaltene Lob für eine erbrachte Leistung, oder die Erfahrung des sexuellen Höhepunkts zutreffen. Ferner verfehlen die Handlungen, die er als durch religiösen Glauben motiviert beschreibt, ebenfalls deren religiösen Charakter, weil sie beschrieben werden als das, was Menschen tun, um damit klar zu kommen, was schreck­lich, nicht handhabbar und lebensbedrohlich ist, und als Hand­ lungen, mittels derer das Gefühl der Endlichkeit überwunden werden soll. Das erscheint aber in jeder Hinsicht falsch. Zeitweise bewältigen Menschen das Entsetzliche, indem sie sich in die Psychose zurückziehen, Drogen nehmen oder Selbstmord begehen; und zeitweise bewältigen Menschen das Lebens­bedrohliche mit einem ausgelassenen Lebensstil oder dem Begehen von Verbrechen. Und während Hinduismus und Bud­dhismus lehren, dass mit dem Erreichen des Nirwana unsere Endlichkeit von der gött­lichen Unendlichkeit absorbiert wird, verneinen Judentum, Chris­tentum und Islam, dass Menschen im Unter­ schied zu Gott jemals etwas anderes als endliche Kreaturen sind. Wieder andere Denker gelangen zu einer richtigen Definition, setzen dem aber etwas hinzu, was diese verfälscht. Joachim Wach beispielsweise hält fest, dass Religion eine „response to what is experienced as ultimate reality … that which conditions all … which impresses and challenges us” ist (Reaktion darauf, was als unhintergehbare Realität erfahren wird … das, was alles bedingt … was uns beeindruckt und herausfordert) (J. Wach, Types of Religious Experience Christian and Non-Christian (Chicago: The University of Chicago Press, 1965), 32). Wäh­ rend der erste Teil richtig klingt, stimmt das Ende nicht: Pferderennen und Puzzeln können herausfordern und beeindrucken. Ebenso ist die „Paraphrase“ von Hans Küng nur halbrichtig. Der falsche Teil liegt in der Feststellung, dass Religion „eine soziale und individuelle Beziehung ist … mit etwas, das transzendent ist und den Menschen und dessen Welt umfasst“ (Christianity and World Religion, xvi). Diese Definition ist zu eng, weil viele pagane Religionen das Göttliche entweder nicht als transzendent oder nicht als allumfassend ansehen, wie ich im nächsten Kapitel ausführen werde. Küng stellt im Fortgang seiner Argumentation fest, dass die Wirklichkeit, die Gegenstand der religiösen Überzeugung ist, zu verstehen ist als „die eigentliche, wahre Wirklichkeit…“ (Küng 1978) Das, so werde ich argumentieren, ist absolut richtig. Siehe z.B. W.C. Smith, The Meaning and End of Religion (New York: Harper& Row, 1978), bes. xiv, 11–14, 141–46.

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Meinung ist, dass religiöse Glaubensüberzeugungen nur mehr „Familienähnlichkeiten“ denn gemeinsame Wesenszüge besitzen. Um besser sehen zu können, warum sich viele Wissenschafter und Wissenschafterinnen zu dieser Schlussfolgerung gedrängt fühlen, sollten wir uns vergegenwärtigen, welche Hindernisse einer solchen Wesensdefinition im Weg stehen. Stellen wir uns vor, wir würden ihrer Meinung entgegen halten, jede Religion enthalte einen Glauben an irgendetwas Göttliches. Obwohl zutreffend, ist diese Beobachtung nicht sehr hilfreich. Das Problem verlagert sich nur darauf, was als Definition des „Göttlichen“ gelten kann. Wie, so möchte man fragen, sollten wir auch nur etwas Gemeinsames in den Vorstellungen des Göttlichen finden, die in den Weltreligionen der Gegenwart vertreten sind? Was haben die Vorstellungen von Gott im Judentum, Christentum und Islam, die hinduistische Auffassung von Brahman-Atman, die Idee des Dharmakaya im Mahayana Buddhismus und die des Tao im Taoismus gemeinsam? Die Vorstellung, ein gemeinsames Element zu finden, ist schon in diesen Fällen überaus entmutigend. Und selbst wenn wir erfolgreich wären, müsste dasselbe Element auch noch in den religiösen Vorstellungen des alten Ägypten, Babylon, Palästina und Griechenland nachgewiesen werden können. Dazu kommen die Gottheiten Chinas und Japans, der pazifischen Inseln, Australiens, der Druiden, der Stämme Afrikas sowie Süd- und Nordamerikas. Ist es nicht einleuchtend, fragen viele Religionswissenschafter, dass es in all diesen verschiedenen Vorstellungen des Göttlichen nichts Gemeinsames gibt? So gefragt, würde ich mit der erwarteten negativen Antwort voll übereinstimmen. Die jeweiligen, vermeintlichen Gottheiten sind so verschieden, dass es in der Tat keine gemeinsamen Wesenszüge zwischen ihnen gibt. Bevor wir die Suche nach einer Wesensdefinition aber aufgeben, sollten wir uns einmal fragen, ob die eben aufgeführte Liste, deren Elemente verglichen werden sollen, tatsächlich so unschuldig ist, wie sie aussieht. Einge­stand­ enermassen sind die verschiedenen Glaubensgegenstände prima facie ohne ­Ausnahme religiöser Art. Doch sind sie religiös in ein und demselben Sinn? Könnte es nicht sein, dass unsere Liste einen wichtigen Bedeutungsunterschied des Ausdrucks „religiös“ verbirgt, was die verglichenen Glaubensauf­ fassungen betrifft? Präziser gefragt, könnte es sein, dass einige Auffassungen in einem grundlegenderen Sinn religiös sind, so dass andere Auffassungen auf der Liste diese tiefere Bedeutungsebene voraussetzen? Gewisse Glaubens­ gegen­stände, bzw. -auffassungen, wären dann religiös in einem sekundären Sinn. Wenn dem so wäre, hätte es unsere Aufzählung versäumt, Überzeugungen, die in primärem Sinn religiös sind, von solchen zu unterscheiden, die diese Bezeichnung allein in einem abgeleiteten Sinn verdienen. Vielleicht könnte

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hier der Grund dafür gesucht werden, dass bisher keine Wesensdefinition aller aufgelisteten Glaubensüberzeugungen geglückt ist. Nun gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, wie eine Überzeugung (belief) fundamentaler als eine andere sein kann. Erstens, in einem noetischen Sinn, das heisst, was die Ordnung unserer Überzeugungen betrifft. In diesem Sinn ist eine Überzeugung primär in Bezug auf eine andere, wenn sie eine notwendige Voraussetzung für die andere darstellt, so dass niemand die sekundäre Überzeugung teilen kann ohne die primäre zu teilen. Die zweite Möglichkeit ist ontischer Art, das heisst sie betrifft die Ordnung der Realität. In diesem Sinn ist eine Überzeugung primär in Bezug auf eine andere, wenn der Gegenstand des primären Glaubens so verstanden wird, dass von ihm die Realität des sekundären Glaubensgegenstandes abhängt. In beiden Fällen ist das, was primär genannt wird, die notwendige Voraussetzung dafür, was als sekundär gilt. Im ersten Fall ist die primäre Überzeugung notwendig, um die sekundäre aufrechtzuerhalten; im zweiten Fall ist der Gegenstand der primären Über­zeugung notwendig für die Existenz des Gegenstandes der sekundären Über­zeugung. Meine Vermutung ist nun die, dass in unserer Kurzliste der Religionen sowohl primäre wie auch sekundäre Überzeugungen vermischt sind. Vielleicht ist das der Grund, warum eine Wesensdefinition der aufgelisteten Elemente unmöglich erschien. Wenn sich das so verhält, könnte es durchaus sein, dass die Suche nach einer Wesensdefinition vorschnell aufgegeben wurde. Möglicher­weise teilen die primären Elemente sehr wohl gemeinsame, definitorische Merkmale, die den sekundären Elementen nicht zukommen; mit der Folge, dass über die ganze Liste gesehen, allenfalls Familienähnlichkeiten auftreten. Dieser Punkt kann mit einer Analogie verdeutlicht werden. Angenommen wir wollten definieren was als Schule gilt, und schlagen dazu die Bezeichnung „Bildungseinrichtung“ vor. Ausgehend von dieser Bezeichnung listen wir die grösstmögliche Anzahl von Schultypen auf, die uns einfallen. Nehmen wir weiter an, wir würden auch die Eltern-Lehrer Vereinigungen mit einschliessen, die in bestimmten Ländern zur Unterstützung des Schulbetriebes existieren. Dann könnte es sein, dass wir bei der Durchsicht aller aufgelisteten Organisationen kein einziges, ausschliesslich ihnen gemeinsames Merkmal ent­decken. Der Grund dafür wäre, dass die von einem Kindergarten, einer Grundschule, einem Gymnasium, einer Universität, und einer Fachschule etc. geteilten Merkmale nicht unbedingt auf die Eltern-Lehrer Vereinigung zutreffen. Doch kann diese Vereinigung nur in sekundärer Bedeutung eine Bildungseinrichtung genannt werden. Es kann sie nur geben, weil es Schulen gibt. Wir k­ önnen nur erwägen, ob wir eine solche Vereinigung brauchen und welche Aufgaben sie zur Unter-

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stützung des Schulbetriebes erfüllen soll, wenn wir glauben, dass wir Schulen haben, und uns bewusst sind, welchen Aufgaben die Schule nachzukommen hat. In diesem Fall würde unsere Unfähigkeit, eine Wesensdefinition­zu finden, daher rühren, dass wir eine sekundär-unterstützende Bildungseinrichtung zu den Organisationen gerechnet haben, die primär Bildung an Schüler und Studentinnen vermitteln. Denn alle Schulen teilen das Ziel, Bildung zu vermitteln, weisen dasselbe allgemeine Verhältnis zwischen Auszubildenden und Ausbildenden auf, und operieren auf der Basis derselben Vorstellung von Autorität, die in der Expertise der Ausbildenden begründet ist. Eltern-Lehrer Vereinigungen teilen nichts von alledem. Deshalb wäre es unser eigenes Versäumnis nicht zwischen primären und sekundären Bedeutungen des Ausdrucks „Bildungseinrichtung“ zu unterscheiden, das uns zu der falschen Schlussfolgerung führen würde, es gäbe keine Wesensdefinition dessen, was eine Schule ausmacht. Weil einiges auf dem Spiel steht, lohnt es sich der Frage nachzugehen, ob nun gerade das der Fall ist hinsichtlich „religiöse Überzeugung“. Deshalb müssen wir zu unserer Kurzliste zurückkehren und uns fragen, ob innerhalb einer bestimmten Tradition gewisse Überzeugungen nicht eine voraussetzungslogische Abhängigkeit aufweisen, oder deren Gegenstände von den Gegenständen anderer Vorstellungen abhängig gemacht werden. Falls das zutreffen sollte, könnten wir die sekundären Überzeugungen von der Liste streichen, und die primären daraufhin analysieren, ob sie wirklich nur Familienähnlichkeiten oder eben nicht doch gemeinsame definitorische Eigenschaften aufweisen. 2.2

Ein Lösungsvorschlag

Eines geht aus dem bisher Gesagten deutlich hervor. Alle religiösen Traditionen gründen in dem, was ihnen als göttlich erscheint. In der Frage, worin dieses Göttliche aber bestehen soll, gehen die Reaktionen weit auseinander. Das Göttliche kann der jeweiligen Tradition entsprechend als transzendenter Schöpfer, als zwei einander ewig entgegengesetzte Kräfte, als eine grosse Anzahl Götter, als das Sein-selbst, als das Nichts etc. vorgestellt werden. Letztlich sind es diese massiven Glaubensverschiedenheiten, die die oben aufgeführten Definitionen zu Fall bringen und viele Wissenschafter und Wissenschafterinnen daran verzweifeln lassen, jemals auf ein gemeinsames Element in allen religiösen Glaubensauffassungen zu stossen. Auf die Unterscheidung des letzten Abschnittes aufbauend, möchte ich nun klären, ob irgendwelche der aufgezählten Überzeugungen sekun­­dären statt primären Charakter haben. Die Antwort fällt in der Tat positiv aus. In den Mythen vieler polytheistischer Traditionen finden sich Erzählungen, wie die Götter geboren wurden.

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Das bedeutet, dass die Göttlichkeit dieser Götter wie selbstverständlich für abgeleitet und sekundär erachtet wird, verglichen mit jener Wirklichkeit, die an sich göttlich und der Ursprung der Götter ist. Schauen wir uns zum Beispiel die Göttererzählungen des alten Griechenlands an, wie sie von Homer und Hesiod überliefert wurden. Gemäss Hesiods Darstellung ist die natürliche Welt in undifferenziertem Zustand das, was einfach ist. Ihre Existenz ist bedingungslos wirklich; aus ihr entstand alles weitere, nachdem sie eine Teilung zwischen Himmel und Erde hervorgebracht hatte, die Hesiod Chaos nennt. Im Anschluss an diese erste Teilung wurden alle weiteren Existenzformen erzeugt, ein­schliess­lich die der Götter. In Homers Erzählung war die ursprüngliche Wirklich­keit Okeanos, eine weiten Ausdehnung von Wasser, aus der heraus alles andere entstand, auch die Götter. Trotz den Unterschieden, gehen die beiden Darstellungen darin überein, dass die Götter von einer fundamentaleren Realität abhängen.11 Sie sind also abgeleitete Wesenheiten. Das ist der Grund, weshalb keiner der Götter, noch alle zusammen, „Schöpfer“ genannt werden konnten, ausser derjenige, den das biblische Buch Genesis Gott nennt. Diese ontische Abhängigkeit entspricht der voraussetzungslogischen Abhängigkeit der Göttervorstellungen von einem Glauben an etwas an sich Göttliches. Denn kein einzelnes Wesen konnte als ein Gott betrachtet werden, das heisst als ein Wesen mit mehr göttlicher Macht als menschliche Wesen, unabhängig vom Glauben an eine ursprüngliche göttliche Quelle alles Seienden, die Menschen und Göttern unterschiedliche Macht verleiht. Dasselbe trifft auf die alten babylonischen Mythen zu. Auch in ihnen empfangen die Götter ihren göttlichen Status und ihre Macht von woanders her. In diesen Mythen … liegt der Ursprung aller Dinge im Chaos oder Urgewässer, das vom Paar Apsu und Tiamat vertreten wird … Mit ihnen beginnt die kosmoserzeugende Theogonie.12 Auch in anderen Traditionen sind die Götter Wesenheiten, die über mehr Macht als der Mensch verfügen. So zum Beispiel im Schintoismus, der das an sich Göttliche „Kami“ nennt. In nochmals anderen Traditionen durchdringt eine göttliche Macht alle Dinge, ist aber in bestimmten Gegenständen, Orten und Menschen besonders präsent. Die antik-römische Vorstellung des Numen, 11

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G.S. Kirk und J.E. Raven, The Presocratic Philosophers (Cambridge: Cambridge University Press, 1960), 10–18, 24–31; W. Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker (Zürich: Kohlhammer, 1953), 9. G.F. Moore, History of Religions (New York: Charles Scribner‘s Sons, 1913), vol. 1, 209–10.

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das Mana der Melanesier, der Wakan- oder Orenda-Glaube der amerikanischen Indianer sind Beispiele dafür.13 Dieselbe Beobachtung wurde in einigen afrikanischen Religionen gemacht. Obwohl an einen höchsten Gott geglaubt wird, unterscheidet sich dieser Glaube doch von dem des biblischen Theismus. Ein Autor hat ihn deswegen „diffusen Monotheismus“ genannt, … weil wir hier einen Monotheismus haben, in dem andere Mächte existieren, die von der Gottheit eine solche Seinskraft und Autorität be­ziehen, dass sie als praktisch eigenständig betrachtet werden können.14 Es ist nun nicht nötig, jede sekundäre Glaubensvorstellung auf unserer Liste aufzuspüren. Wichtig ist nicht so sehr zu wissen, wie viele von ihnen die Liste „verunreinigen“, als dass sie tatsächlich „verunreinigt“ ist. Das hat uns dazu gebracht, Gottheiten, die im eigentlichen Sinn für göttlich gehalten werden, mit solchen zu vergleichen, die ihre Existenz und übermenschliche Macht dem Göttlichen an sich verdanken. So haben wir Vorstellungen, die von anderen als ihren eigentlichen Voraussetzungen abhängen, mit solchen verglichen, die grundlegend sind. Kein Wunder also, dass wir keine gemeinsamen, wesensmässigen Merkmale unter ihnen feststellen konnten. Was geschieht, wenn wir die sekundären Gottheiten von unserer Liste streichen? Stellt die Suche nach einer essentiellen Definition primärer Glaubensvorstellungen nicht immer noch eine äusserst schwer zu bewältigende Aufgabe dar? Die Antwort kann auch diesmal nur affirmativ ausfallen. Und genau aus diesem Grund möchte ich jetzt eine Unterscheidung vorschlagen, die uns helfen kann, etwas Gemeinsames in allen verbleibenden geglaubten Gottheiten zu finden. Mein Vorschlag ist der, dass wir den göttlichen Status aller primären Gottheiten als dasjenige betrachten, was ihnen gemeinsam ist. Davon zu unterscheiden ist die konkrete Beschreibung dessen, was diesen Status inne­hat. Das ist natürlich nur ein Hilfsmittel. Es besteht kein absoluter Unterschied zwischen dem Status von etwas und seinen Eigenschaften, denn dieser Status ist eine seiner Eigenschaften. Doch soll uns diese Unterscheidung davor 13 14

M. Eliade, Patterns in Comparative Religion (New York: Sheed & Ward, 1958), 10–21. E.B. Idowu, African Traditional Religion (London: SCM Press, 1973), 135. Siehe auch Geoffrey Parrinder’s “The Nature of God in African Belief,” in The Ways of Religion, ed. Roger Eastman (San Francisco: Canfield Press, 1975), 493–99; H. Dooyeweerd, A New Critique of Theoretical Thought, Philadelphia: Presbyterian & Reformed, 1955), vol. 2, 316; und B. Malinowski, Magic, Science and Religion (New York: Doubleday, 1948), 19, 20, 76-79. Vgl. auch A.C. Bouquet, Comparative Religion (London: Penguin, 1962), 45; und M. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion: Die Religion Griechenlands bis auf die griechische Weltherrschaft (München: C. H. Beck Verlag, 1967).

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schützen, in eine der Definitionen zurückzufallen, die sich oben als falsch erwiesen hat. Sie soll uns helfen, unser Augenmerk auf das zu lenken, was eine vermeintliche Gottheit göttlich macht, anstatt dass wir auf etwas Anderes zurückgreifen müssen, das die Menschen im Göttlichen vielleicht auch noch sehen (etwa den Gegenstand von Anbetung und Lob, usw.). Um diesen Fokus zu verdeutlichen, möchte ich eine weitere Analogie herbei ziehen. Auf die Frage: „Wer ist der Präsident der Vereinigten Staaten?“, kann man auf zwei verschiedene Weisen antworten. Einmal, indem man die Person beschreibt, die das Präsidentenamt gegenwärtig besetzt. Die andere mögliche Antwort besteht in der Auskunft, dass der Präsident diejenige Person ist, die bestimmte Vollmachten und Verpflichtungen hat. Dann folgt die Beschreibung des Amtes des Präsidenten. Der Unterschied zwischen den beiden Möglichkeiten auf die Frage zu antworten, wer der Präsident ist, gleicht dem Unterschied der beiden Arten zu erklären, was mit etwas „Göttlichem“ gemeint sein soll. Wir können fragen: „Was ist göttlich?“, und dabei eine Beschreibung davon verlangen, was göttlichen Status hat. Oder aber wir können eine Definition jenes Status verlangen, unabhängig davon, was oder wer diesen Status beklei­det. Mein Vorschlag läuft also auf die Definition des Status von Göttlichkeit hinaus, anstatt etwas Gemeinsames in all den verschiedenen Vorstellungen dessen entdecken zu wollen, das ihn angeblich innehat. Der Unterschied ist entscheidend. Wenn das Resultat einer Präsidentenwahl so knapp ausfällt, dass man sich darüber streitet, wer denn nun wirklich gewonnen hat, fallen die Beschreibungen des vermeintlichen Siegers sehr verschieden aus. Dennoch sind sich alle über die Art des Amtes einig, das es zu besetzen gilt. So stellt sich die Frage: Gibt es etwas, das in ähnlicher Weise unterschieden werden kann als Status der Göttlichkeit an sich? Ist es möglich, dass in den Religionen Einigkeit darüber besteht, was es heisst, göttlichen Status zu besitzen, obwohl die Vorstellungen darüber, was diesen göttlichen Status besitzen soll, so weit auseinander gehen, dass es scheinbar kein gemeinsames Element zwischen ihnen gibt? Wenn das zutrifft, sind die Unterschiede zwischen den Religionen immer noch bedeutsam. Der Streitpunkt ist dann die korrekte Identifikation dessen, was göttlichen Status hat. Die universale Übereinkunft hinsichtlich der Bedeutung jenes Status bliebe jedoch unangefochten. Genau das aber ist der tatsächliche Befund! Ich bin bis jetzt noch keiner einzigen Religion begegnet, die das Göttliche nicht als dasjenige auffassen würde, was unbedingte, nicht-abhängige Realität besitzt. Dieser Punkt könnte leicht missverstanden werden. Meine Behauptung ist nicht die, dass es keine Uneinigkeiten darüber gibt, was es bedeutet, göttlichen Status zu besitzen. Solche Verschiedenheiten existieren tatsächlich. Aber sie alle betreffen das, was noch zu diesem Status mit dazu gehören mag, also über die blosse Nicht-Abhängigkeit hinausgeht. Meine Behauptung ist vielmehr die,

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dass sich der interreligiöse Konsens genau und nicht weiter als auf die Einsicht der Nicht-Abhängigkeit erstreckt. Im weiteren behaupte ich natürlich auch nicht, dass jeder Mythos, jede heilige Schrift und jede Theologie den Ausdruck „Nicht-Ab­hängig­keit“, oder ein Synonym dafür, verwendet. Viele Traditionen kennen diesen Ausdruck, aber bei weitem nicht alle. Zum Beispiel sprechen viele Religionen vom Göttlichen als dem „für sich Existierenden“ oder SelbstExistenten, dem „Absoluten“, dem „Nicht-Verur­sachten und Unhintergehbaren“, oder von dem, was „einfach da“ ist. Und in einigen Religionen wird alles Nicht-Göttliche schlicht auf einen Ursprung zurückgeführt, dessen Status nicht weiter hervorgehoben oder expliziert wird. In diesen Beschreibungen ist das ursprüngliche Etwas aber unweigerlich in die Position des Nicht-Abhängigen gerückt. Es ist von nichts die Rede, wovon es abhängen würde, wobei alles andere von diesem abhängig gemacht wird. Es wird also still­schweigend mit dem Status der Unabhängigkeit versehen. Ganz gleich wie unausge­sprochen oder vorsichtig angedeutet dieses Etwas bleibt, es hat nicht-abhängigen Status so weit seine Beschreibung eben reicht. Diese Definition scheint mir grössere Erfolgsaussichten zu haben als jede andere. Zum einen kann sie ein gemeinsames Element im Glauben an Gott, Brahman-Atman, das Dharmakaya, und das Tao aufweisen; etwas, das schon auf dem Hintergrund unserer ersten Kurzliste so schwierig erscheinen musste. Die Definition deckt aber auch ab, was in den folgenden Glaubenstraditionen für an sich göttlich erachtet wird: Nam im Sikhismus, Ahura Mazda (Ohrmazd) im früheren Zoroastrianismus, respektive Zurvan in einer späteren Entwick­lungsstufe, den Seele/Materie-Dualismus im Jainismus, den Hochgott der D ­ ieri Aborigenes, das Mana im Glauben der Trobriander, Kami in der Schinto-Tradition, Raluvhimba in der Religion der Bantu, die Leere und das Nichts in den verschiedenen Formen des Buddhismus, und den Wakan- oder Orenda-Glauben verschiedener Stämme Nord- und Südamerikas. Ebenfalls trifft sie auf das altrömische Numen, auf Chaos oder Okeanos in den Mythen Hesiods und ­Homers, und auf unzählige andere Vorstellungen zu. Die Definition erfasst, um noch etwas präziser zu sein, jeden religiösen Glauben, den ich kenne, insofern er auf etwas abzielt, was an sich göttlich ist, und nicht auf etwas, dem Göttlichkeit in einem bloss sekundären Sinn zukommt. Man könnte hier nun einwenden, dass meine Aufzählung von religiösen Traditionen, obwohl umfangreich, doch nicht umfangreich genug ist, so dass meine Definition auf ungenügender empirischer Basis fusst. Dem möchte ich entgegenhalten, dass die vorgeschlagene Definition nicht allein aus meiner eigenen Übersicht stammt. Wie ich herausfinden konnte, nachdem ich sie aufgestellt hatte, ist diese Definition überhaupt nicht neu, sondern hat schon viele Vertreter gekannt. Sie baut deshalb nicht nur auf meinen eigenen Nachforschungen auf, sondern auf der kumulativen Rezeption und Erfahrung vieler Denker, von denen ich einige zitieren werde.

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Erstens konzipierten praktisch alle Vorsokratiker den Status der Göttlichkeit so, dass was immer ihn besitzen mag, in seiner Existenz von nichts Anderem abhängt. Auf dieser Grundlage debattierten sie dann heftig, wem oder was dieser Status tatsächlich zukommt.15 Die Pythagoreer können als Beispiel aufgeführt werden. Nach ihrer Ansicht besitzen die Zahlen göttliche Realität, da die Gegenstände unserer Erfahrung angeblich aus Zahlen und Zahlenrelationen bestehen. Sie glaubten in anderen Worten, dass die Zahlen das Wesen aller Dinge ausmachten. In dieser Sichtweise mögen die Zahlenkombinationen, die in die verschiedenen Dinge eingehen, entstehen und vergehen; die Zahlen selbst aber sind völlig unabhängig und ewig. In einem pythagoreischen Gebet, das an die Zahl Zehn gerichtet ist, kommen sowohl der göttliche Status als auch dessen Realisierung durch die Zahlen sehr schön zum Ausdruck. Segne uns, göttliche Zahl, die du Götter und Menschen hervorbringst! O heilige, heilige Tetraktys, die du die Wurzel und Quelle der ewig fliessenden Schöpfung enthältst! Denn die göttliche Zahlenreihe beginnt mit der tiefen, reinen Einheit und schreitet fort bis zur heiligen Vier; dann gebiert sie die Mutter von allem, die allumfassende und alles-verbindende, die erstgeborene, die unerschütterliche und nie ermüdende, heilige Zehn, die Schlüssel zu allem ist.16 Hier ist der Status der Göttlichkeit der unveränderlichen Zahlen als „Wurzel und Quelle“ alles Veränderlichen umschrieben. Ich verstehe das so, dass alles von den Zahlen abhängt, sie selbst aber von nichts weiterem abhängen (das ist der Grund, weshalb für die Pythagoreer 1 + 1 = 2 eine religiöse Glaubensüberzeugung war, wie weiter oben schon erwähnt wurde). Für Plato waren es nicht die Zahlen, die göttlichen Status besitzen, sondern die Realitäten, die er „Formen“ nannte. Plato macht deutlich, dass diese Realitäten „selbst-existent“ sind (Tim. 50 ff.; Phil. 53–54); des weiteren bekräftigt er deren göttlichen Status, indem er sie „Götter“ nennt (Tim. 37). Auch Aristoteles macht deutlich, was es bedeutet, dass etwas göttlichen Status hat: Von demjenigen Seienden also, das trennbar und unbeweglich ist, handelt eine andere … Wissenschaft... Und wofern es in dem Seienden eine solche Wesenheit gibt, so muss da auch wohl das Göttliche sich finden, und dies würde das erste und vorzüglichste Prinzip sein (Metaphysik 1064a34). 15 16

W. Jaeger, Die Theologie der frühen Griechischen Denker, 31-32. T. Dantzig, Number, The Language of Science (Garden City, N.Y.: Doubleday-Anchor, 1954), 42.

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Das Göttliche ist hier explizit als das charakterisiert, was unabhängig von allem anderen bestehen kann, obwohl Aristoteles hinzufügt, dass es ebenso unveränderlich ist – ein Punkt, der nun nicht allgemein geteilt wird. Unmittelbar anschliessend wird „das erste und vorzüglichste Prinzip“ so erläutert, dass es „vor allem“ anderen ist, das heisst, dass alles von diesem abhängt.17 Diese Sichtweise ist jedoch nicht auf das antike Griechenland beschränkt, denn sie folgt ebenso aus den Aussagen mehrerer biblischer Verfasser oder ist in diesen zumindest vorausgesetzt. Eine dieser Aussagen ist nichts weniger als das fundamentale Bekenntnis zu dem Gott und Schöpfer von allem, das von ihm verschieden ist. Daraus folgt, dass Gott derjenige ist, von dem alles abhängt, um überhaupt existieren zu können, derweil Gottes Existenz von nichts abhängt.18 Natürlich hat Gott in der Bibel auch den Status des Erretters und Erlösers, und den des einzig Anbetungswürdigen. Doch die Verfasser der biblischen Schriften erachten das Schöpfersein Gottes für grundlegend. Weil Gott der Schöpfer ist, kann er die Erlösung all derer bewirken, die an ihn glauben; 17

18

Aristoteles behauptet nicht nur die Göttlichkeit der Formen, sondern betrachtet ebenso die Materie als unabhängige Existenz. Daher ist er ein religiöser und metaphysischer Dualist (Metaphysik 1042a). Zusätzlich zu den bereits zitierten Denkern behauptet Thales, dass das Göttliche „das ist, das weder einen Anfang noch ein Ende hat“ (Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, 29); während Anaximander sagt, dass das Göttliche das ist, was „nicht geboren und unvergänglich … und alles beherrschend ist“ (siehe Aristoteles, Physik, 3.4, 203b14). W.E. Albright weist darauf hin, dass der heilige Eigenname Gottes, den er Moses offenbarte (JHWH), so viel bedeutet wie: „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘.“ (Ex 3,14). Siehe Von der Steinzeit zum Christentum (Bern: Francke, 1949), 15–16. Der Prophet Jesaja hält dies ebenfalls fest, wenngleich etwas anders gewendet: „Um meinetwillen, ja um meinetwillen, will ich’s tun, dass ich nicht gelästert werde; denn ich will meine Ehre keinem andern lassen.“ (Jes 48,11). Davor hatte Jesaja bereits spezifiziert, was die Ehre ist, die Gott keinem anderen zuschreiben will: „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll!“ (Jes 6,3) Obwohl diese bekannte Passage seit langem Teil der christlichen Liturgie ist, weisen einige Wissenschafter (so z.B. J.A. Alexander) darauf hin, dass der letzte Satzteil besser zu übersetzen sei: „Die Fülle der Erde ist deine Ehre.“ Mit anderen Worten, Gottes Ehre als Schöpfer besteht darin, die Erde mit Kreaturen zu füllen. Daher ist der Glaube an irgendetwas, wovon alles auf der Erde abhängt, ein Gottessurrogat, das Gott seiner Ehre beraubt. Das Neue Testament nimmt diese Einsicht auf. In Röm 1,25 lesen wir, dass alle Menschen entweder an einen Gott als Schöpfer glauben oder die Wahrheit über Gott in Lüge verwandeln, indem sie etwas als Schöpfer anbeten, das Gott selbst erschaffen hat: „Sie, die Gottes Wahrheit haben verwandelt in die Lüge und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr denn dem Schöpfer, der da gelobt ist in Ewigkeit“. Gal 4,3 und Kol 1,17; 2,8 kontrastieren die vier Elemente der alten griechischen Metaphysik (Erde, Luft, Feuer und Wasser) mit Gott und beharren darauf, dass der Kosmos von Gott in Christus abhängt, und nicht von den Elementen.

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und weil er der Erlöser ist, schulden ihm die, die an ihn glauben, Anbetung und Dank.19 Andere biblische Aussagen scheinen diese Definition vorauszusetzen. Das ist dort der Fall, wo von falschen Göttern oder „Idolen“ die Rede ist. Obwohl heute viele Menschen denken, einen Götzen zu haben bedeute lediglich, einem Erlösersubstitut oder einem falschen Gegenstand der Anbetung anzuhängen, nennen die biblischen Verfasser etwas nicht allein schon deswegen einen falschen Gott, weil es angebetet wird (manchmal wird auch Gier als Idolatrie bezeichnet). Vielmehr nennen sie all das einen Götzen oder ein Idol, das in irgendeiner Weise den wahren Gott ersetzt. Aus dieser Perspektive ist die Anerkennung eines Schöpferersatzes nicht weniger Ausdruck von Götzenglauben als einem Ersatzerlöser zu vertrauen. Dieser Punkt ist in der Tat von grundlegender Bedeutung, um verstehen zu können, warum überall in der Bibel davon ausgegangen wird, dass alle Menschen von Natur aus religiös sind – das heisst Gott oder einem Idol folgen. Denn wenn religiös zu sein bloss bedeutet, etwas als Quelle der Erlösung anzusehen oder etwas anzubeten, stimmt die Aussage offenkundig nicht, dass alle Menschen religiös sind. Wenn religiös zu sein aber ebenso bedeutet, an die Stelle Gottes etwas zu setzen, von dem man glaubt, es besitze unabhängige Realität, und von dem alles nicht an sich Göttliche abhängt, ist es alles andere als offensichtlich, ob es Menschen gibt, die jeden Glauben dieser Art vermeiden können.20 Im Mittelalters erlagen jüdische, christliche und islamische Theologen oft der Tendenz, den Unterschied zwischen dem Status der Göttlichkeit und dessen Inhaber aus den Augen zu verlieren – aus verständlichen Gründen. Da alle drei Religionen die Realität eines transzendenten Schöpfers als das einzig Göttliche anerkannten, wurde die unabhängige Existenz, die auch bei an­tiken Denkern den göttlichen Status definierte, wie selbstverständlich zur Eigen­ schaft Gottes. Bemerkenswert ist, dass aber auch diese Religionen „Selbst-Existenz“ nicht einfach als ein weiteres Attribut Gottes betrachteten. Vielmehr insistierten sie darauf, dass diese wesentlich für Gott ist. Gott, so wurde gesagt, ist die Realität, deren Wesen und Existenz ein und dasselbe ist. Also erkannten 19

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Siehe z.B. Offb 4,11: „Herr, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen haben sie das Wesen und sind geschaffen.“ Und 1 Joh 4,19 legt unsere Liebe zu Gott auf die Basis von unserem Empfang seiner Liebe: „Lasset uns ihn lieben; denn er hat uns zuerst geliebt.“ Hierin liegt das wirklich Wichtige an der biblischen Bemerkung: „Der Tor spricht in seinem Herzen: ‚Es ist kein Gott!‘“ (Ps 14,1) Im Gegensatz zu Anselms Auffassung meinen diese Worte nicht, dass Atheisten sich selbst widersprechen, sondern, dass jeder sich selbst täuscht, der glaubt, keinen Gott (nichts Göttliches) zu haben.

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auch sie, dass die Göttlichkeit Gottes primär in dessen nicht-abhängiger Wirklichkeit besteht. Gleichwohl die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts vieles an den mittelalterlichen Theologien auszusetzen wussten, stimmten sie in diesem Punkt mit diesen überein. Sowohl Luther als auch Calvin bejahten Gottes bedin­gungslose Wirklichkeit. „Nichts ist Gott eigentümlicher“, so Calvin, „als ­seine Ewigkeit und Selbst-Existenz“.21 Trotz der Tatsache, dass es im Theismus keinen Unterschied zwischen dem ontischen Status der Göttlichkeit und dem Statusträger gibt, war Luther doch einiges daran gelegen, die noetische Distinktion wiederherzustellen, die so wichtig ist, um den nicht-theistischen Glauben zu verstehen.22 Allein im letzten Jahrhundert wurde diese Definition des (primären) religiösen Glaubens von einer Reihe bedeutender Denker immer wieder entdeckt, zum Beispiel von W. James, A.C. Bouquet, H. Dooyeweerd, H. Küng, P. Tillich, M. Eliade, N.K. Smith, J. Wach, C.S. Lewis, W. Herberg, W. Jäger, P. Chaunu und R. Neville, um nur einige zu nennen.23 Das ist meine Antwort auf den Einwand, dass meine Wesensdefinition von religiösem Glauben auf einer zu schmalen empirischen Basis fusse. Ich halte die Tatsache für enorm evidenzträchtig, dass alle diese Denker, trotz ihrer unterschiedlichen Zeitumstände, Kultur, Sprache, Lebensstile, und Überzeu­ gungen hinsichtlich der weiteren Beschreibung dessen, was göttlichen Status hat, alle mit der folgenden Definition übereinstimmen: Religiöser Glaube ist der Glaube an etwas an sich Göttliches, wie auch immer dieses beschrieben wird, wobei „göttlich“ gleichbedeutend ist mit dem Besitz von unbedingter, nicht-abhängiger Realität. 21 22

23

Institutes of the Christian Religion, I, xiv, 3. “Wie ich oft gesagt habe, dass alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott. Ist der Glaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht, und wiederümb, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. … Worauf Du nu (sage ich) dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.” (Luther, “Grosser Katechismus” in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967), 560. Siehe auch Lectures on Romans in: Library of Christian Classics (Philadelphia: Westminster, 1961), vol. 15, 23. Siehe Bouquet, Comparative Religion, 37; Dooyeweerd, New Critique, vol. 1, 57; N.K. Smith, The Credibility of Divine Existence (New York: St. Martin’s, 1967), 396; W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, E. Herms (Übers.) (Olten: Walter-Verlag, 1979); M. Eliade, Patterns in Comparative Religion, 23–25; C.S. Lewis, Miracles (New York: MacMillan, 1948), 15–22; W. Herberg, “The Fundamental Outlook of Hebraic Religion,” in The Ways of ­Religion, ed. R. Eastman (New York: Canfield, 1975), 283; R. Neville, The Tao and the Daimon (Albany: State University of New York Press, 1982), 117. Tillich, Küng, und Wach schliessen sich ebenfalls dem wesentlichen Punkt dieser Definition an; gleichwohl fügen sie fragwürdige Ergänzungen hinzu (Siehe Anm. 6 und 9).

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Obwohl nun diese Definition wie keine andere an den Kern des religiösen Glaubens rührt, schliesst sie doch den Glauben an etwas aus, das seine Göttlichkeit woanders her bezieht und also nicht an sich göttlich ist. Auch solche Vorstellungen und Überzeugungen, die in einem weiteren, abgeleiteten Sinn als religiös gelten können, sind nicht berücksichtigt. Darunter fallen Vorstellungen, die sich darauf beziehen, wie das Nicht-Göttliche vom Göttlichen abhängt, oder solche, die erklären, wie Menschen in Beziehung zum an sich Göttlichen treten können. Doch selbstverständlich müssen auch solche Vorstellungen von jeder nur einigermassen plausiblen Definition abgedeckt werden. Denn immerhin machen sie den Löwenanteil des Glaubensinhalts der meisten religiösen Traditionen aus. Zum Beispiel lehrt der Hinduismus, ­Brahman-Atman sei die nicht-abhängige Wirklichkeit, die alles umfasst. Doch enthält er auch eine Karma-Lehre, einen Reinkarnationsglauben, sowie ver­ schiedene Wege der Vereinigung mit Brahman-Atman. Auch das Christentum erschöpft sich nicht in der Überzeugung, dass Gott der Schöpfer in keinerlei Weise von irgendetwas abhängig ist. Ebenso umfasst es den Glauben an einen Bund zwischen Gott und Mensch, die Verheissung eines Messias, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, und die Auferweckung der Gläubigen zu ewigem Leben. Allgemeiner gesagt ist der Punkt der, dass der innerste Kern des Göttlichen nie allein das Wesen dessen ausmacht, was diesen Status besitzt. Dieser Kern ist vielmehr wie eine Leerstelle in die die verschiedensten Vorstellungen eingetragen werden können. Die konkreten Vorstellungen, die diese Leerstelle ausfüllen, verbinden sich dann mit weiteren Glaubensauffassungen, vor allem mit solchen, die das richtige Verhältnis zum Göttlichen betreffen. Das Bild der Leerstelle sollte nun nicht so (miss)verstanden werden, dass der primäre Glaube an dasjenige, was die Lücke ausfüllt, den davon abhängigen Vorstellungen zeitlich vorangeht. Es ist nicht so, dass die Menschen zuerst die Lücke identifizieren, um sich dann nach einer passenden Beschreibung ihres Inhalts umzusehen. Vielmehr gründen primäre wie sekundäre Vorstellungen in derselben Quelle, das heisst in einer religiösen Erfahrung. Die Erfahrung einer göttlichen Realität bringt unweigerlich eine Beschreibung deren Inhalts mit sich, die über den göttlichen Status dieser Realität hinausgeht – selbst wenn jene Beschreibung grösstenteils negativ ausfällt, wie das etwa im Buddhismus der Fall ist. Aus diesem Grund entsteht ein primärer Glaube an etwas an sich Göttliches immer zusammen mit einem sekundären Glauben, wie die nicht-göttliche von der göttlichen Wirklichkeit abhängt, und wie wir Menschen in das richtige Verhältnis zum Göttlichen treten können. Der Hinweis auf religiöse Erfahrung ist deshalb zentral, weil die Vorstellungen, worin ein richtiges Verhältnis zum Göttlichen besteht, meistens nicht aus begrifflich deduziert wird oder einfach nur historischer ­Zufall ist.

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Diese Glaubensüberzeugungen wurzeln vielmehr in der konkreten religiösen Erfahrung. Um vollständig zu sein, muss unsere Definition deshalb folgendermassen ergänzt werden. Ein Glaube ist genau dann religiös wenn er: 1. 2. 3. 4.

ein Glaube an etwas an sich Göttliches ist, egal wie dieses weiter beschrieben wird, oder er festlegt, wie das Nicht-Göttliche vom an sich Göttlichen abhängt, oder er bestimmt, wie Menschen im rechten Verhältnis zum an sich Göttlichen stehen, wobei der wesentliche Kern von Göttlichkeit an sich darin besteht, den Status von unbedingter, nicht-abhängiger Wirklichkeit zu besitzen.

Zwei Anmerkungen sind anzufügen. Erstens: Obschon ich die Glaubensvorstellungen des Typs (2) und (3) als „sekundär“ bezeichnet habe, heisst das in keiner Weise, dass sie weniger wichtig wären. Wie ich weiter oben gesagt habe, sind sie sekundär allein hinsichtlich einer Wesensdefinition des religiösen Glaubens, nicht aber im religiösen Leben und Handeln. In der Praxis des religiösen Lebens sind die Auffassungen, was an sich göttlich ist, immer in Überzeugungen des Typs (2) und (3) eingebettet, und es sind Glaubensüberzeu­­gungen des Typs (3), die es den Menschen ermöglichen, die erstrebte Erfüllung der menschlichen Natur ins Auge zu fassen. Ich habe bereits gesagt, dass Überzeugungen des Typs (3) nicht aus der Beschreibung dessen, was im eigent­lichen Sinn göttlichen Status hat, abgeleitet sind, noch als aus dieser Beschreibung ableitbar verstanden werden. Dem muss ich hier anfügen, dass das Verhältnis von Überzeugungen des Typs (2) und solchen des Typs (1) oft in einer Kombination von logischer Schlussfolgerung und religiöser Erfahrung besteht. Das ist deshalb der Fall, weil die Beschreibung dessen, was göttlichen Status hat, gar nicht umhin kommt, bestimmte Auswirkungen auf unsere Vorstellungen d­ avon zu haben, worin das Wesen des Menschen, seine Erfüllung und sein Schick­sal besteht. Zweitens sollte jetzt ersichtlich geworden sein, warum und wie die Aufzählung von Göttern, die nicht an sich göttlich sind, die anfängliche Kurzliste, die unserem Versuch zugrunde lag, eine Wesensdefinition des religiösen Glauben zu finden, unbrauchbar machte. Der Glaube an diese Götter ist zwar genuin religiöser Natur, doch allein in abgeleiteter Bedeutung des A ­ usdrucks. Dies obwohl in vielen Tradition, in denen diese Art von Götterglaube vorkommt, dem vermeintlich Göttlichen im eigentlichen Sinn fast keine Aufmerksamkeit

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­geschenkt wird.24 Die Götter dieser Traditionen ziehen den Fokus der Aufmerksamkeit nahezu ausschliesslich auf sich, weil sie die einzige Möglichkeit bieten, sich zum Göttlichen an sich zu verhalten. Das heisst, unsere Beziehung zum Göttlichen ist nach dieser Auffassung indirekter Art, also durch die Götter vermittelt. Gerade wegen seiner herausragenden praktischen Bedeutung verdunkelt diese Art Götterglaube den Kern des Göttlichen im primären Sinn. Gleichzeitig führte das zur Situation, dass die offenkundige Sinnverschiebung im Ausdruck „Gott“ nicht ausreichend wahrgenommen wurde. So konnte der Ausdruck unbemerkt einmal das Göttliche an sich bezeichnen, wie in den theistischen Religionen, ein andermal aber etwas, das aufgrund seiner grösseren göttlichen Kraft die Verbindung zwischen uns und dem Göttlichen aufrechterhält, wie im Polytheismus. 2.3

Einige weiterführende Klärungen

Die Unterscheidung zwischen primär und sekundär religiösen Glaubensüberzeugungen erlaubt es uns auch noch andere, oft anzutreffende Missverständnisse bezüglich religiösem Glauben zu vermeiden. Denn manchmal ist auch dort von religiösem Glauben die Rede, wo es sich weder um einen primären noch um einen sekundären Glauben handelt, sondern bloss um eine Überzeugung, die davon beeinflusst ist. Nehmen wir zum Beispiel die von Juden und Christen geteilte Überzeugung, dass Sklaverei falsch ist. Dieser Glaube ist nicht Teil der jüdisch-christlichen Auffassung von Gott, noch wird er in der Torah, den Prophetenbüchern oder dem Neuen Testament vertreten. Doch wenn heutige Juden und Christen die Institution der Sklaverei im Lichte ihres Glaubens betrachten, kommen sie praktisch ausnahmslos zum Schluss, Sklaverei sei mit der in ihren primären und sekundären Glaubensüberzeugungen verwurzelten Perspektive auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit unvereinbar. Der Einfluss war so indirekt, dass es mancherorts geraume Zeit brauchte, bis diese Perspektive tatsächlich wirksam wurde. Mein Punkt hier ist bloss ­dieser: Wo immer ein Zusammenhang zwischen einer religiösen Glaubenswahr­heit und einer anderen Ansicht gesehen wird, besteht die Gefahr der Überbewertung dieses Zusammenhangs. Der religiös beeinflusste Glaube wird dann oft selbst als religiöser Glaube ausgegeben. (Dies geschah in der Anti-Sklaverei Bewegung in den Vereinigten Staaten.) Doch obwohl der Einfluss, den ein religiöser Glaube auf einen nicht-religiösen Glauben ausübt, äusserst signifikant 24

M. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, 26–27.

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sein kann, ist es doch wichtig, die beiden nicht zu verwechseln. Ein Glaube ist nicht schon dadurch religiös, weil er durch einen solchen beeinflusst ist. Etwas weiteres ist hier zu bemerken. An unserer Definition gibt es nichts, das vorschreiben würde, dass das Göttliche an sich zahlenmässig eines und nur eines sein müsste. In manchen Religionen gibt es zwei oder drei göttliche Prinzipien. Wo mehr als nur ein Göttliches angenommen wird, bestehen mehrere Möglichkeiten, wie das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem NichtGöttlichen gesehen werden kann. Nehmen wir an, X wird für unbedingt wirklich gehalten. Ich sehe nun keinen Grund, warum dieser Glaube nicht um den Glauben an zwei weitere Realitäten, Y und Z, ergänzt werden könnte, so dass Y und Z zusammen, aber keines von ihnen für sich allein, unbedingte Wirklichkeit haben sollen. In diesem Fall würden sowohl X als auch YZ für an sich göttlich betrachtet werden. Solch ein Glaube wäre die Basis einer dualistischen Religion, in der eines der beiden göttlichen Prinzipien selber noch einmal unterteilt wäre. Darüber hinaus gibt es Religionen, in denen an eine ganze Reihe von Wesenheiten geglaubt wird, wobei jede von ihnen angeblich unbedingte, vollständig unabhängige Wirklichkeit besitzt. Ich kann nichts Inko­härentes an einer solchen Sichtweise finden. Ebenso könnte es eine unbe­–schränkte Anzahl von Wesenheiten geben, die in einem sekundären, abgeleiteten Sinn für göttlich gehalten werden. Wo an mehr als nur eine Gottheit geglaubt wird, gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Nicht-Göttlichen gedacht werden kann. Zum Beispiel kann eine Religion lehren, dass ein Bereich nicht-göttlicher Wirklichkeit von einem göttlichen Prinzip, ein anderer Bereich aber von einem anderen solchen abhängt. Merkmal wieder einer anderen Religion könnte sein, dass sie einen bestimmten Teil eines jeden Dinges auf ein Göttliches zurückführt, die restlichen Bestandteile all ­dieser Dinge aber von einem anderen Göttlichen abhängig macht. Obschon die Gesamtheit der nicht-göttlichen Wirklichkeit also immer von mindestens ­einem Teil des Göttlichen abhängt, gibt es doch sehr verschiedene Weisen, wie das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Nicht-Göttlichen aufgedröselt werden kann. Die wichtigsten Typen dieser Abhängigkeitsverhältnisse sollen im nächsten Kapitel eingehender erläutert werden. Dadurch, dass unsere Definition grosse Variationsmöglichkeiten bezüglich der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Göttlichem und Nicht-Göttlichem zulässt, wird auch eine Schwierigkeit überwunden, mit der andere Definitionen zu kämpfen haben. Wohin mit der schon weiter oben gemachten Beobachtung, dass in einigen Religionen der Glaube an Gottheiten fortlebt, von deren Existenz wenig bis nichts in unserer Erfahrungswelt abhängt? (In allen mir bekannten Fällen handelt es sich um sekundäre Gottheiten, aber ich sehe

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keinen Grund, warum dieser Punkt nicht auch für primäre Gottheiten gelten könnte.) In diesen Religionen kommt etwas göttlichen Status zu, das weder geschätzt noch verehrt wird, da es das Leben der Gläubigen auf keine Weise berührt. Oder es wird gefürchtet, oder sogar verachtet und gehasst. Wir haben bereits einige Traditionen erwähnt, deren Götter als Quelle des Bösen gelten. In solchen Fällen werden diese Götter nicht einmal „göttlich“ genannt – wenn „Göttlichkeit“ als Ehrentitel verwendet werden soll. Das ändert aber nichts daran, dass sie in dem einen oder anderen Sinn, wie oben definiert wurde, für göttlich gehalten werden. Der Glaube an die Götter ist damit nicht weniger religiös. Noch einmal: Etwas ist nicht deshalb göttlich, weil es personal, gut, geliebt, oder angebetet ist. Die Göttlichkeit von etwas besteht darin, dass es für unbedingt wirklich gehalten wird, oder darin, dass es über mehr göttliche Kraft verfügt als wir Menschen – ganz gleich ob es unpersönlich ist oder gehasst wird (vgl. die Aussage in Jakobusbrief 2,19 wonach auch Dämonen an die Existenz Gottes glauben, in aber weder lieben noch ihm dienen). An dieser Stelle wird manchmal der Einwand erhoben, dass nicht alle Religionen ein bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Göttlichem und Nicht-Göttlichem lehren. Gibt es nicht Religionen, die alles für göttlich ansehen? Trifft es dann nicht zu, dass überhaupt nichts Nicht-Göttliches existiert, das vom Göttlichen abhängen könnte? Zum Beispiel gibt es viele Menschen, die glauben, dass Gott und Natur eins sind. Und lehren nicht sowohl der Hinduismus wie auch der Buddhismus, dass nur das Göttliche existiert? Bevor ich mit einer Antwort darauf weiterfahre, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass das Gesagte, selbst wenn es zutreffen würde, keinen wirklichen Einwand gegen meine Definition von religiösem Glauben darstellt. Gemäss der Definition wird etwas für an sich göttlich erachtet, wenn es für vollständig unabhängig gehalten wird, gleichviel ob anderes davon abhängt oder nicht. Der Grund weshalb das Thema der Abhängigkeitsverhältnisse in unserer Diskussion auftaucht, ist der, dass die meisten Religionen sowohl eine nicht-göttliche als auch eine göttliche Realität anerkennen, und sich auf die Abhängigkeit der einen von der anderen beziehen, um die Existenz des NichtGöttlichen zu erklären. Dazu kommt, dass die Abhängigkeit des Nicht-Göttlichen als Kontrastfolie benutzt wird, um das Göttliche zu identifizieren. Selbst wenn also jemand die äusserst bizarre Ansicht vertritt, alle Dinge des Universums seien selbst-existent, das heisst göttlich, würde das noch keine Schwachstelle in der vorgeschlagenen Definition bedeuten. Die Verneinung jeglicher nicht-göttlicher Existenz halte ich für bestenfalls unplausibel, und zwar aus folgendem Grund: Es ist offensichtlich, dass die meisten Dinge, denen wir im täglichen Leben begegnen, kommen und (ver) gehen. Alle diese Dinge, Situationen und Ereignisse werden unmittelbar als

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nicht-göttlich erfahren. Wenn nun jemand glaubt, dass allein das natürliche Universum ex­istiert (und es damit für göttlich hält, da ja nichts Anderes existiert, von dem es abhängen könnte), müsste er oder sie doch zugeben, dass die Dinge, die wir im Universum beobachten, nicht-göttlich sind. Deshalb muss dieser naturalistische Glaube auch eine Vorstellung davon haben, wie die einzel­nen, nicht-göttlichen Dinge vom Ganzen des (göttlichen) Universums abhän­gen. Die Vorstellung zielt unweigerlich auf das, was wir ein Abhängig­ keitsverhältnis nennen. Nun wird aber im Hinduismus und Buddhismus die offenkundige NichtGöttlichkeit der einzelnen Dinge in unserer alltäglichen Erfahrung als Maya, das heisst als Illusion, bezeichnet. Diese Traditionen kommen der Verneinung jeglicher nicht-göttlichen Wirklichkeit tatsächlich sehr nahe. Doch indem man etwas als „Illusion“ bezeichnet, wird man es dennoch nicht ganz los. Es ist nur eine andere Weise zu sagen, dass etwas nicht das ist, was es zu sein scheint. Die Unterscheidung zwischen einer vermeintlichen Welt und der göttlichen Wirklichkeit, lässt die Abhängigkeit des Bereichs der Maya vom Göttlichen unerklärt. Der Hinduismus nimmt dieses Problem explizit auf, und erklärt, dass Brahman-Atman die Illusion einer realen Welt erzeugt. Der Buddhismus aber geht der Frage aus dem Weg, da das Nachdenken über die vermeintlich reale Welt spirituell abträglich ist.25 Doch weder die Auffassung die das Universum als Ganzes für göttlich hält, noch die hinduistische/buddhistische Maya-Lehre, macht unserer Definition die geringste Schwierigkeit. Ganz im Gegenteil, denn unsere Definition kann nun dazu verwendet werden, die schon erwähnte Frage zu klären, ob der Theravada Buddhismus eine Religion ist oder nicht. Einige Wissenschafter haben das bezweifelt, da Buddha schliesslich kundtat, dass er weder wisse, noch wissen wolle, ob irgendwelche Götter existierten, und die Theravada Strömung dieselbe Einstellung bewahrt. Dennoch entpuppt sie sich gemäss unserer Definition als eine Religion – trotzdem einige Theravada Buddhisten die Meinung vertreten, sie hätten keinen religiösen Glauben. Doch würde niemand unter ihnen behaupten wollen, dass das Nicht-Sein, in dem sie sich auflösen werden (der Zustand des Nirwana), von irgendetwas Anderem abhängt. Noch würden sie zugestehen wollen, dass das Nirwana im wortwörtlichen Sinn nichts ist; vielmehr ist damit ein Zustand der „unaussprechbaren Glückseligkeit“ gemeint. Dazu kommt, dass Buddhisten die asketische Disziplin und Meditation mit dem deklarierten Ziel aufnehmen, das rechte Verhältnis zum Göttlichen zu erreichen, da dieses Verhältnis jener Zustand namens Nirwana ist. Es scheint also, dass die buddhistische 25

Darum hat nur der Buddhismus als einzige grosse Religion keinen Bericht über die Schöpfung. Siehe Neville, The Tao and the Daimon, 116.

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­ blehnung der Religion allein durch den populären westlichen Glauben motiA viert ist, eine Religion müsse notwendig eine individuelle Gottheit und deren Anbetung einschliessen, derweil der Theravada Buddhist beides hinter sich zurücklässt.26 26

Einige Kritiker weisen darauf hin, dass der Buddhismus keine Idee von Göttlichkeit hat, so wie ich diese definiert habe. Das ist schlichtweg falsch. Im berühmten Dialog der buddhistischen Schriften, genannt „Die Fragen von König Milinda“, finden wir folgende Worte: „Man kann auf den Weg zur Verwirklichung des Nirwanas hinweisen, aber man kann keinen Grund für seine Herstellung darlegen. Und warum ist das so? Weil dieses Dharma, Nirwana unbegründet ist. [ … ] Es ist durch nichts gemacht, [ … ] es ist etwas, das ist.“ (E. Conze, The Buddhist Scriptures [Baltimore: Penguin, 1968], 159) Der Pali Kanon (Udana 8.3) stellt ebenfalls fest, dass Nirwana ohne jegliche Begründung, ohne Entwicklung, ohne Raum ist. Dies kommentierend, zeigt Lambert Schmithausen auf, dass „einige Passagen davon handeln, dass das Nirwana ein transzendenter metaphysischer Zustand oder eine derartige Essenz ist. [ … ] Gemäss dieser Passagen gibt es eine metaphysische Wirklichkeit, [ … ] die auch Nirwana genannt wird und vor dem Nirwana existiert, das ein spirituelles Ereignis ist.“ (Küng, Christentum und Weltreligionen, 463). Diejenige Lehre, die am ehesten so aussieht, als würde sie meine Definition des Göttlichen zurückweisen, ist die Lehre des Nagarjuna, einem Lehrer des Shunyavada Zweig des Buddhismus (ca. vor 1’800 Jahren). Spricht er vom Göttlichen redet er von der „Leere“ und behauptet, dass sogar die Dharma leer von Wirklichkeit sind – weswegen Nagarjuna für einen ontologischen Nihilisten gehalten wird. Tatsache ist allerdings, dass er dergleichen nie gesagt hat. Seine These ist vielmehr, dass individuelle Dinge keine Wirklichkeit haben in dem Sinn, dass sie keine eigene Natur besitzen und dass sie deshalb nicht dauernd sind – sie kommen in die Welt und verschwinden aus der Welt der Erscheinungen, gemäss dem Gesetz der ,bedingten Entstehung‘ (siehe H. Beckert, “Buddhist Perspectives,” in Christianity and the World Religions, 363). Der Kontrast zwischen dem Veränderlichen und Abhängigen einerseits, und dem Unveränderlichen und Unabhängigen andererseits, setzt genau die Definition des Göttlichen voraus, die ich verteidige. Auch andere Wissenschaftler sind zu diesem Schluss gelangt, so David Dilworth in “Whitehead’s Process Realism, the Abhidharma Dharma Theory, and the Mahayana Critique,” International Philosophical Quarterly 18, no. 2 (1978): 162–63, und Robert Neville, The Tao and the Daimon, 116. Im Grossen und Ganzen lässt sich feststellen, dass der Buddhismus den ontologischen Nihilismus verwirft. In „The Sutra of Hui Neng“ (übersetzt von Wang Mou-lam, Phoenix: H.K. Buddhist Book Distributor Press, 1982) lesen wir: „Um die höchste Erleuchtung zu erreichen, muss man spontan seine eigene Natur oder Essenz des Geistes erkennen können, die weder geschaffen ist noch zerstört werden kann.“ (17) „Wer hätte gedacht, dass die Essenz des Geistes in sich frei ist davon, zu werden oder zu vergehen? Wer hätte gedacht, dass die Essenz des Geistes in sich selbst-genügend ist? Wer hätte gedacht, dass alle Dinge Manifestationen der Essenz des Geistes sind?“ (20) „Gelehrtes Publikum, wenn du mich über die Leere (void) sprechen hörst, verfalle nicht der Idee von Inhaltslosigkeit (vacuity), weil diese die Häresie der Lehre von der Zerstörung involviert.“ (28)

38 2.4

2. Kapitel

Antworten auf kritische Einwände

Der Einwand, dem ich oft zuerst begegne, geht aus dem Unbehagen hervor, das unsere Definition auslöst, weil sie vom alltäglichen Gebrauch der Ausdrücke „religiös“ und „religiöser Glaube“ abrückt. Immerhin macht unsere Definition Ethik und Verehrung zu nicht-konstitutiven Elementen von Religion. Ich kann gut verstehen, warum dies als störend empfunden wird. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wesentliche Definitionen fast immer diesen ­Effekt haben. Führen wir uns das Beispiele der Wale vor Augen. Früher wurden sie als Fische klassifiziert. Der Grund dafür war, dass Wale wie Fische aussehen, im Ozean leben, und wie die Fische schwimmen. Aber als man mehr über sie herausfand, wurden sie als Säugetiere eingestuft. Man erkannte, dass sie Warmblüter sind, keine Kiemen haben und Luft atmen, ihre Jungen lebend auf die Welt bringen und diese aufziehen. Trotz ihrer fischähnlichen Flossen und Finnen, wie auch der Tatsache, dass sie ihr Leben im Wasser verbringen, haben sie mehr mit Säugetieren als mit Fischen gemeinsam. Vielleicht wurde diese Behauptung von einigen Leuten anfänglich als störend empfunden, da sie zur Folge hat, dass ein Walkörper mehr mit dem menschlichen Körper zu tun hat, als mit dem eines Fisches! Aber eine präzise Definition ist nicht allein deshalb schon falsch, weil sie als störend empfunden wird, oder weil sie sich nicht mit unserem einstigen Wissen deckt. Wir stellen Definitionen auf, um mehr über das zu lernen, was wir zu definieren versuchen; und das kann auch bedeuten, etwas korrigieren zu müssen, das wir irrtümlicherweise als wahr angenommen hatten. Sprich, wir haben an dieser Stelle ebenso gute Gründe, einen (primären) religiösen Glauben als den Glauben an etwas an sich Göttliches zu definieren, wie einen Wal als Säugetier einzustufen. Es bleibt auch zu berücksichtigen, dass immer wenn wir einen Gegenstandstyp genau zu definieren versuchen, die Definition mit grosser Wahrscheinlichkeit einige der Merkmale ausschliesst, die wir für gewöhnlich mit diesem Gegenstand assoziieren. Wenn wir an Bäume denken, kommen uns meistens Blätter in den Sinn. Aber diese gehören nicht zur Definition eines Baumes; einige Baumsorten haben keine Blätter. So mag es Merkmale von Dingen geben, von denen wir zuerst annehmen, dass sie nicht wichtig sind, und die sich dann doch als definierende Eigenschaften eines bestimmten Typs von Gegenstand entpuppen. Natürlich trifft es zu, dass vorwissenschaftliche Definitionen im alltäglichen Leben einen praktischen Wert haben. Ich behaupte aber auch gar nicht, dass sie alle zurückgewiesen werden müssten. Ich halte allein daran fest, dass wissenschaftliche Definitionen unsere alltägliche Vorstellung von gewissen Dingen verbessern können und eine grössere Präzision mit sich bringen,

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die nicht schon deshalb verschmäht werden sollte, weil sie unseren alltäglichen Vorstellungen abgeht. Die zweite Beobachtung, zu der dieser Einwand einlädt, besteht darin, dass er durch die westlichen Vorstellungen von Religion, die fast immer von der jüdischen, christlichen und islamischen Tradition abgeleitet sind, bedingt ist. Das ist in gewisser Hinsicht auch verständlich. Es ist nur vernünftig, wenn unsere anfänglichen Vorstellungen von Religion von den Religionen geprägt sind, die uns am meisten vertraut sind. Aber es ist nicht vernünftig, darauf beharren zu wollen, dass jeder religiöse Glaube genau so aussehen muss wie die uns bekannten; schon gar nicht, nachdem wir mit ganz andersartigen Vorstellungen konfrontiert worden sind. Dieser Punkt ist vor allem wichtig, wenn eingeworfen wird, dass gemäss unserer Definition Anbetung und Verehrung nicht unbedingt Bestandteil eines religiösen Glaubens sein müssen. Manche Leute haben eine derart starke Assoziation zwischen religiösem Glauben und Anbetung aufgebaut, dass sie allein schon deswegen unsere Definition von „göttlich“ zu verwerfen geneigt sind. Dem kann ich nur entgegenhalten, dass es religiöse Überzeugungen gibt, die in kultische Rituale eingebettet sind, die keine Anbetung kennen; so zum Beispiel der brahmanische Hinduismus und der Theravada Buddhismus. Das Beispiel des Theravada Buddhismus ist besonders instruktiv auch hinsichtlich der Frage, ob sich Atheismus und religiöser Glaube ausschliessen. Wir haben bereits herausgearbeitet, wie ein Mensch, der an den nicht-abhängigen Status von Zahlen oder eine andere, unpersönliche, nicht-individuelle Wirklichkeit glaubt, einen ebenso religiösen Glauben hat, wie jemand, der sich einem personalen Gott oder Göttern verbunden weiss. Und wir haben auch gesehen, warum das Charakteristikum eines genuin religiösen Glaubens nicht darin besteht, dass der Gegenstand jenes Glaubens der „Gottheit“ derjenigen Religion ähnlich ist, mit der wir am meisten vertraut sind. Diejenigen, die im Bann dieser Fehlannahme stehen, gehen oft davon aus, dass Materialismus und religiöser Glaube exakte Gegenteile sind. Nach unserer Definition ist das wenig plausibel – und nicht wegen unserer Definition. Im griechischen Altertum gab es Mysterien-Religionen, die den immerwährenden Fluss des Lebens und der Materie für göttlich erachteten. Und im Hinduismus gibt es noch immer eine Tradition, die Brahman-Atman mit der Materie identifiziert. Dem kann man nun nicht entgegenhalten, dass Materialisten praktisch immer auch Atheisten sind. Denn an dieser Stelle sollte es deutlich genug geworden sein, warum sich jemand zurecht Atheist nennen kann, und doch einen religiösen Glauben hat. „Atheismus“ bedeutet wörtlich „kein Gott“ und ist die Verneinung der Existenz des biblischen Gottes oder irgendwelcher Götter. Doch unsere Definition zeigt, warum jeglicher Glaube an etwas Unbedingtes ein religiöser

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2. Kapitel

Glaube ist, ob er nun auf Gott abzielt oder nicht. In dieser Hinsicht bedeutet Atheist zu sein soviel wie Vegetarier zu sein. Wenn ich weiss, dass jemand Vegetarier ist, weiss ich, was er nicht isst; nicht aber, was er tatsächlich isst. Und wenn ich weiss, dass jemand Atheistin ist, weiss ich, woran sie nicht glaubt; nicht, was sie für göttlich hält. („Atheismus“ im Sinn der umfassenderen Sichtweise, dass nichts und niemand an sich göttlich ist, lässt keine kohärente Interpretation zu, wie ich im nächsten Kapitel darlegen werde.) Das grösste Hindernis, das sich denjenigen entgegensetzt, die all dies für inakzeptabel halten, scheint einmal mehr darin zu bestehen, dass ein genuin religiöser Glaube notwendig zu Verehrung und Anbetung führen muss, selbst wenn keine organisierte Gruppe von Gläubigen existiert, die diesem Glauben folgt. Und tatsächlich gibt es gute Gründe für die starke Assoziation zwischen Glaube und Verehrung. Angesichts der Erfahrung von etwas an sich Göttlichem, scheinen Gefühle der Ehrfurcht und des Respekts natürliche menschliche Reaktionen zu sein, und Anbetung ist der natürliche Ausdruck für solche Gefühle. Trotzdem gibt es Traditionen, die diese natürliche Tendenz umgehen. Das geschieht aus einem einfachen Grund: Verehrung ist sicherlich angebracht, wenn das Göttliche in personalen Kategorien vorgestellt (oder personifiziert) wird. In diesem Fall ist der Ausdruck von, beispielsweise, Dankbarkeit, Teil einer persönlichen Beziehung. Aber die Mönche im Theravada Buddhismus und die Brahmanenpriester glauben nicht, dass das Göttliche personal ist, und deshalb beten sie es nicht an. Gleichermassen führt der Glaube an die Selbst-Existenz der Materie nicht unbedingt dazu, dass der Materialist zu subatomaren Partikeln betet, oder Hymnen zur grösseren Ehre von Kraftfeldern singt. Ebenso wenig wird ein moderner Rationalist, der zum Beispiel mathematische Gesetze als selbst-existent betrachtet, geneigt sein, eine „Liturgie der Quantitativen Anbetung“ zu entwickeln – obwohl die Pythago­reer genau dies getan haben, wie wir weiter oben feststellen konnten. Nichtsdesto­trotz schreiben diese Vorstellungen der Materie, bzw. den mathe­matischen Gesetzen, ­genau denselben Status zu, wie ihn Juden, Muslime und Christen Gott zuschreiben, oder ein Hindu Brahman-Atman. Vielmehr als keine Religion zu besitzen, haben solche Leute eine sehr unterschiedliche Auffassung des Göttlichen; eine Auffassung, die jede Form von Verehrung unangebracht erscheinen lässt. Da dieser Punkt dermassen weitreichende Implikationen für das Verhältnis von religiösem Glauben und Theorien, und deshalb für die Hauptaussage dieses Buches hat, habe ich ihn an dieser Stelle bloss erwähnt, und werde mich den gegen ihn erhobenen Einwänden in einem separaten Abschnitt am Ende dieses Kapitels stellen.

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Ein weiterer Einwand, der gegen meine Definition aufgebracht werden kann, entstammt der Sorge, dass wenn der Fokus so stark auf primäre Glaubensüberzeugungen gerichtet ist, Religion zu einer bloss mentalen Angelegenheit wird. Die Definition könnte so dazu führen, dass gottesdienstlich-rituelle Handlungen und andere praktische Aktivitäten ausgeblendet werden, obwohl sie doch mindestens ebenso zentrale Elemente von Religion sind wie der Glaube. Und manchmal wird der Einwand tatsächlich so weit getrieben, dass der richtige Ausgangspunkt der Erforschung von Religion nicht der Glaube sein kann, da dies jede zum Beispiel historische oder soziologische Untersuchung von vornherein unmöglich mache. Dazu muss erstens einmal gesagt werden, dass dieser Einwand kein wirklicher Einwand ist. Unsere Definition kann auch dann zutreffen, wenn es denn wahr sein sollte, dass ihr Fokus die potentielle Gefahr mit sich bringt, die Bedeutung von anderen Elementen des religiösen Lebens und Praxis zu schmälern. Gleichzeitig bin ich aber auch der Überzeugung, dass die vorgeschlagene Definition in dieser Hinsicht völlig unschuldig ist. Sie reduziert Religion nicht auf etwas Mentales, wenn „reduzieren“ heissen soll, dass Religion auf eine mentale Grösse beschränkt wird. Ich behaupte allerdings, dass allein Menschen im eigentlichen Sinn religiös sind, und diese Tatsache im Glauben an etwas an sich Göttliches zum Ausdruck kommt. Alle Dinge, die auch noch „religiös“ genannt werden können, sind es in einem abgeleiteten Sinn – abgeleitet von der religiösen Konstitution der menschlichen Natur, wie sie sich im Glauben an etwas an sich Göttliches manifestiert. Aber das bedeutet keineswegs, dass es keine extra-mentalen Dinge gibt, die genuin religiöse Bedeutung annehmen im Zusammenhang mit diesem Glauben und den Menschen, die ihn teilen. Aus demselben Grund trifft es auch nicht zu, dass meine Definition historische, soziologische oder sonst welche Untersuchungen von Religion ausschliesst. Was die Definition jedoch zeigt, ist, dass der angestrebte Erfolg dieser Untersuchungen massgeblich davon abhängt, ob diese in der Lage sind, bestimmte Überzeugungen als religiöse zu identifizieren, und wie historische Ereignisse und soziale Körperschaften mit diesen Überzeugungen zusammenhängen. Denn wenn wir nicht in der Lage sind, einen religiösen Glauben von einem nicht-religiösen zu unterscheiden, oder den religiösen Gehalt des Glaubens der Teilnehmer und Glieder des untersuchten Rituals oder Institution festzustellen, können wir auch nie sicher sein, ob das Ritual oder die Institution religiösen Charakter haben. Noch können wir dann jemals sicher sein, in welchem Sinn ein Ritual oder eine Institution religiös ist (man erinnere sich an die Vielzahl der oben aufgeführten Praktiken, die religiös sein können oder auch nicht).

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Die Tatsache, dass wir manchmal in der Lage sind, den religiösen Charakter gewisser Praktiken und Institutionen zu erschliessen, selbst wenn wir die zugrunde liegenden Vorstellungen nur unzureichend kennen, spricht nicht gegen diesen Punkt. Manchmal gelingt es uns festzustellen, dass es sich bei einer Handlungssequenz um ein Anbetungsritual handelt, selbst wenn wir Menschen beobachten, deren Gebräuche und Sprache uns fremd sind. Aber wir können das nur aufgrund der Ähnlichkeit der beobachteten Handlungen mit solchen, von denen wir bereits wissen, dass es sich um Anbetung handelt. Es bleibt also dabei: Wir können Praktiken und Institutionen nur dann als religiöse ausmachen, wenn wir ihr Verhältnis zu primär- oder sekundär-religiösen Überzeugungen kennen, gleichviel, ob wir den Charakter dieser Praktiken nun direkt oder durch Analogie erschliessen. Aus diesem Grund bin ich überzeugt, dass die vorgeschlagene Definition die soziologische oder historische Forschung nicht behindert. Im Gegenteil, sie macht es uns allererst möglich zu wissen, wann eine Praxis oder Institution als eigentlich religiös gelten kann. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, müssen wir aber daran festhalten, dass eine Organisation oder Institution allein aufgrund ihrer Prägung durch einen sekundär-religiösen Glauben vom Typ (3) religiös genannt werden kann. Denn, wie gesagt, allein Menschen und ihre Überzeugungen vom Typ (1) haben primär-religiösen Charakter. In diesem Sinn ist eine Institution oder Praxis genau dann religiös, wenn ihre Leitfunktion darin besteht, Menschen darin zu unterstützen, ein rechtes Verhältnis zum Göttlichen zu gewinnen. So gesehen sind Kirche, Synagoge, Moschee oder Tempel spezifisch religiöse Institutionen. Eine Zeltlager-Freizeit mit dem Ziel der Vertiefung des religiösen Glaubens der Teilnehmenden ist es ebenso. Ebenso zählen Gebet, Fasten, Opfer oder das Begehen eines heiligen Tages als religiöse Praktiken, wenn sie demselben Ziel dienen. Dagegen sind Familie, Schule, Unternehmen, Regierung keine religiösen Institutionen, selbst wenn ihre faktische Prägung je nach Einfluss eines bestimmten religiösen Glaubens verschieden ist.27 Eine Schule, die unter anderem das Studium eines 27

Die Feststellung, dass eine soziale Organisation einen zentralen Zweck hat, setzt die Entwicklung von differenzierten Organisationen voraus. Wenn die einzige soziale Gruppe beispielsweise ein Stamm ist, dann mag sie nicht nur den einen zentralen Zweck haben, sondern sie umfasst alle Zwecke, die heutzutage durch Staat, religiöse Institutionen, Schule, Familie etc. abgedeckt werden. Des Weiteren, selbst wenn Organisationen diffe­ ren­ziert sind, ist es möglich, dass ein und dieselbe Person oder Gruppe von Personen beispielsweise als religiöse und als politische Autorität auftreten kann. Das zeigt keines­ wegs, dass dieselbe Organisation gleichzeitig religiös und politisch ist. Vielmehr bedeutet das, dass dieselbe Person oder Gruppe Autorität in beiden Organisationen ausüben kann, einmal in der einen, einmal in der anderen Stellung. Daher macht ein Monarch, der auch

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religiösen Glaubens oder sogar dessen Verteidigung propagiert, steht offenkundig unter dem Einfluss eines solchen Glaubens, wie auch eine Regierung, die Polygamie verbietet, oder ein Unternehmen, das seinen Angestellten einen religiösen Feiertag gewährt. Allein, ein solcher Einfluss reicht nicht aus, um diese Organisationen in eigentlich religiöse zu verwandeln. Denn die Leitfunktion dieser Institutionen besteht immer noch darin zu erziehen, zu regieren, und Profit zu erzielen, und nicht den Menschen zu einem rechten Verhältnis zum Göttlichen zu verhelfen. Auf diesem Weg kann meine Definition einen wichtigen hermeneutischen Schlüssel für das historische und soziologische Verständnis von Religion bieten. Können wir also, gewappnet mit diesen Antworten auf kritische Einwände, behaupten, die vorgeschlagenen Definitionen von primären und sekundären Glaubensvorstellungen, sowie des an sich Göttlichen, seien über jeden Zweifel erhaben? Nun, ich glaube das wäre etwas zuviel verlangt. Mir ist kein Weg bekannt, auf dem irgendeine Definition als über jeden möglichen Zweifel erhaben erwiesen werden könnte. Deshalb müsste die Frage so lauten: Können die vorgeschlagenen Definitionen erwiesenermassen starke Plausibilität und Evidenz für sich beanspruchen, die sie über alle anderen hinaushebt und mit grosser Wahrscheinlichkeit für ihre Richtigkeit zeugt? Ich gestehe ein zu glauben, dass dem so ist. Ich kenne keine religiöse Tradition, in der diese Definitionen nicht zum Tragen kommen. Und den anderen Denkern und Forschern, die diese Sicht vertraten, erging es ebenso. Mir fällt beim besten Willen kein ersichtlich nicht-religiöser Glaube ein, den die Definitionen zu Unrecht als religiös einstufen würden (das war der Punkt, den ich am Ende des Kapitels etwas detaillierter zu erörtern und zu verteidigen versprach). Deshalb halte ich dafür, dass die hier vorgeschlagene Definition von religiösem Glauben den besten Ansatz bietet, diesen Glauben zu verstehen, und werde sie im Folgenden für korrekt voraussetzen, bis sie sich vielleicht einmal als eindeutig inadäquat herausstellen sollte. 2.5

Einige weitere Definitionen

Der wichtigste Begriff, der mit dem des religiösen Glaubens verwandt ist und noch der Erörterung bedarf, ist der des „Vertrauens“ (faith). In der Analyse dieses Begriffs wird es mir wiederum um dessen Verhältnis zu religiösen Glaubensüberzeugungen zu tun sein. Ich werde die Position vertreten, dass Glaube (belief), im weitesten Sinn des Wortes, die erworbene Disposition ist, sich der der Vorsteher der religiösen Institution oder der Schulen einer Gesellschaft ist, diesen Staat nicht gleichzeitig zu einer religiösen Institution oder zu einer Schule. Jede Organisation wird ihren jeweils charakteristischen Zweck beibehalten.

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Vorstellung eines Sachverhaltes als zutreffend anzuvertrauen. Anders gesagt handelt es sich um die Neigung zu denken, zu sprechen, zu handeln oder weitere Überzeugungen zu bilden, die in der Gewissheit wurzelt, dass die sprachliche Behauptung dieses Glaubens eben das zum Ausdruck bringt, was in Wirklichkeit der Fall ist. Bleibt zu sagen, dass ich den Ausdruck „Vertrauen“ in einem umfassenderen Sinn als üblich verwende, wenn ich diesen auf alle Ansichten und Überzeugungen beziehe. Denn im alltäglichen Sprachgebrauch ist das Anwendungsspektrum des Wortes „glauben“ viel grösser als das von „vertrauen“. „Vertrauen“ wird allein im Zusammenhang mit solchen Vorstellungen gebraucht, die etwas Wünschenswertes zum Ausdruck bringen. So ist es zum Beispiel nicht aussergewöhnlich, wenn jemand sagt, er glaube, der ärztliche Befund werde schlecht ausfallen, oder dass er demnächst ein Kündigungsschreiben erhalten werde. Aussergewöhnlich ist es jedoch, wenn jemand behauptet, sein Vertrauen darauf zu setzen, dass der ärztliche Befund schlecht ausfallen wird, oder den Glauben zu haben, dass ein Kündigungsschreiben ins Haus steht. Kommt hinzu, dass Vertrauen und Glaube im engeren Sinn meist in Zusammenhang mit Vorstellungen gebracht werden, die eine starke persönliche Überzeugung reflektieren, und sich damit zusätzlich von irgendwelchen Meinungen abheben. Zum Beispiel glaube ich, dass vor 20’000 Jahren eine Eiszeit war, ohne dass ich auf diese Meinung so viel gebe, dass sie einen praktischen Unterschied für mich macht. Darum weise ich hier besonders darauf hin, dass im letzten Abschnitt, in dem der Ausdruck „Glaube“ umschrieben wurde, die üblichen Einschränkungen des alltäglichen Gebrauchs von „Vertrauen“ fallen gelassen wurden. In Abweichung davon, spreche ich von Vertrauen wenn immer wir etwas für wahr halten, ob es nun wünschenswert ist oder nicht. So gesehen sind alle geglaubten Vorstellungen von etwas an sich Göttlichem, ob wünschenswert oder nicht, auf Vertrauen gebaut. Und natürlich üben alle diese Überzeugungen immensen praktischen Einfluss auf das Leben derer aus, die sie besitzen. Es gibt ein Merkmal von religiösem Vertrauen, das auf nicht-religiöses Vertrauen nicht zutrifft. Es besteht darin, dass religiöses Vertrauen in etwas an sich Göttliches seinen vermeinten Gegenstand als bedingungslos vertrauens­würdig annimmt, währenddessen nicht-religiöses Vertrauen in der Regel mit der Einschränkung ausgeübt wird, dass sein Objekt durch Umstände beeinflusst wird, die seine Vertrauenswürdigkeit durchaus beeinträchtigen können. Um den bekannten Ausspruch Luthers zu ergänzen: Das, woran sich unser Herz als bedingungslos vertrauenswürdig hängt und klammert, ist in Tat und Wahrheit unser Gott (das, was wir als an sich göttlich annehmen). Dies kann nicht anders als mit unserer Definition von „göttlich“ übereinzustimmen. Denn nichts und niemand kann bedingungslos vertrauenswürdig sein, das

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nicht unbedingte Realität besitzt. Etwas oder jemanden als bedingungslos vertrauenswürdig zu betrachten setzt deshalb dessen Göttlichkeit voraus, so wie wir diese definiert haben. Und das bleibt auch dann der Fall, wenn das subjektive Gefühl von Vertrauen nicht mit dem unbedingten Status korrespondiert, der dem geglaubten Gegenstand des religiösen Glaubens zugedacht wird. Es ist immer möglich, dass Menschen mehr oder weniger Vertrauen haben, als das Objekt ihres Vertrauens verlangen oder rechtfertigen würde.28 Mit diesen Erläuterungen im Rücken, können wir auf einige feinere Bedeutungsunterschiede in den Ausdrücken „Glauben“ und „Vertrauen“ eingehen, wenn diese im Zusammenhang mit religiösen Überzeugungen stehen. Einer dieser Unterschiede ergibt sich daraus, ob „Glaube“/“Vertrauen“ von einem „dass“ oder einem „an/in“ begleitet wird. Zum Beispiel sprechen wir manchmal vom Vertrauen, dass Gott uns helfen wird; oft aber auch vom Vetrauen in Gott. Obwohl diese beiden Bedeutungen nahe bei einander liegen, scheint es doch einen Unterscheid zwischen ihnen zu geben.29 Meines Erachtens ist Vertrauen „in“, bzw. Glaube „an“, Vertrauen im grundlegenden Sinn: Die zuversichtliche Annahme, und das Bauen auf die Verlässlichkeit dessen, was geglaubt wird. Auf der anderen Seite meint der Glaube oder das Vertrauen, „dass“ etwas der Fall ist, eine Überzeugung die bereits einem reflektierenden Urteil unterzogen wurde. Es ist der Glaube, dessen Inhalt schon mehr oder weniger analysiert und bewusst artikuliert wurde, und damit die Form einer Aussage über das angenommen hat, was als zuverlässig betrachtet wird. In der religiösen Sphäre ist der „Glaube, dass“ Gott dieses oder jenes tun wird, oftmals die reflektierte Folge unseres „Glaubens an“ Gott als jemand, der zuverlässig ist. Ich will damit aber nicht suggerieren, dass Vertrauen „in“ zu dem Vertrauen „dass“ in irgendeiner Spannung steht. Da Menschen nicht anders können als darüber nachzudenken, worauf sie vertrauen, hat jedes Vertrauen eine Dimension der Reflexion, und jedes Nachdenken eine Dimension des Vertrauens. Deshalb wird aus dem religiösen „Glauben an“ unwei­gerlich ein „Glaube dass“; die beiden Elemente können nicht unabhän28

29

Nicholas Wolterstoff bietet einen erhellenden Kommentar bezüglich der Varia­bilität von Gefühlen des Vertrauens vis-à-vis dessen, was als objektive Wahrheit angenommen wird, in seinem ­Vergleich von Locke und Calvin. Siehe “The Assurance of Faith,” Faith and Philosophy 7, no. 4 (Oct. 1990): 396–417. Siehe auch die Bemerkungen von William James in Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 258. Siehe H. Price, “Belief ‘In’ and Belief ‘That’,” Religious Studies 1, no. 1 (Oct. 1965): 5–27. Wie die Verfasser der Bibel, werde auch ich „Glaube“ oder „Vertrauen“ nicht verwenden für den Glauben, dass Gott real ist. Sie verwenden diese Begriffe ausschliesslich für das Vertrauen, das man in Gottes Verheissungen setzt, niemals in die Tatsache seiner Existenz. Letzteres wird immer als „Wissen“ bezeichnet. Siehe bes. Dtn 4,35; 1 Sam 3,7; Ps 46,10; Jes 12,2; 1 Tim 4,3; Joh 6,69 und 10,38; 1 Joh 2,3.

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2. Kapitel

gig voneinander existieren. Trotzdem sind die beiden Ausdrucksweisen insofern nützlich, als sie uns zwischen diesen beiden Elementen zu unterscheiden helfen, und wir jedes für sich benennen können, wenn wir das wollen. Eng verbunden mit dem Unterschied zwischen Glauben „an“ und Glauben „dass“ ist der Unterschied, der sich daraus ergibt, ob Glaube den Akt oder den Gehalt des Glaubens meint. In Wendungen wie der „christliche Glaube“, der „jüdische Glaube“, usw., handelt es sich um Glaube im Sinne eines Glaubensinhaltes. Hier meint „Glaube“ wesentlich „Bekenntnis“ oder „Lehre“ (creed). Diese Unterscheidung ist deshalb hilfreich, weil wir uns oft klar werden müssen, ob von einem Akt des Vertrauens oder von einem Urteil über den Gegenstand des Vertrauens die Rede ist. Aber noch einmal: Hier werden Dimensionen ­eines jeden Glaubens unterschieden, die nicht unabhängig voneinander auftreten. Nachdem die wichtigsten Begriffe im Zusammenhang mit dem religiösen Glauben erläutert worden sind, möchte ich ein mögliches Missverständnis ausräumen, das sich am Ausdruck „etwas als göttlich betrachten“ festmachen könnte. Ich sagte, wenn jemand etwas als unbedingt wirklich ansieht – was immer es auch sei – wird es von dieser Person damit als göttlich betrachtet. Diese Art zu sprechen soll jedoch nicht suggerieren, dass jede Vorstellung des Göttlichen gleichermassen zutrifft und alle resultierenden Glaubensaussagen deshalb gleich wahr sind. Allein die Tatsache, dass jemand etwas als schlechthin unabhängig voraussetzt, macht dieses noch nicht schlechthin unabhängig. Der Glaube an etwas an sich Göttliches mag noch so fromm, glühend, und aufrichtig sein, aber dennoch falsch oder fehlgeleitet. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass unsere Definition von religiösen Glauben eine Definition des Status von Göttlichkeit an sich war. Das war das Einzige, worin alle mir bekannten primären religiösen Glaubensüberzeugungen übereinstimmten. Trotz dieser Überein­ stimmung, sind die Religionen jedoch weit davon entfernt, Einigkeit in der wei­te­ren Beschreibung dessen, was diesen Status inne hat, zu erzielen. Die Unter­­schiede sind ebenso gross, wenn man das Verhältnis des Göttlichen zum Nicht-Göttlichen, oder das rechte Verhältnis der Menschen zum Göttlichen betrachtet. Wo unvereinbare Ansichten hinsichtlich dieser Dinge auftreten, sorgen allein die Gesetze der Logik dafür, dass nicht alle gleich wahr sein ­können. Zum Beispiel kann es unmöglich wahr sein, dass der in der Torah, im Neuen Testament oder im Koran offenbarte Gott göttlich ist, und auch Brahman-Atman Göttlichkeit an sich besitzt. Das wäre allein dann möglich, wenn „Gott“ und „Brahman-Atman“ verschiedene Namen derselben Wirklichkeit ­wären, anstatt verschiedene Wirklichkeiten, denen derselbe göttliche Status zugeschrieben wird. Da Gott eine individuelle Person und von allem anderen ver-

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schieden, Brahman-Atman aber weder das eine noch das andere ist, können sie nicht dieselbe Wirklichkeit sein. Es ist logisch ausgeschlossen, dass das Universum vollständig verschieden von der Gottheit ist, von der es abhängt (wie im Fall der Existenz Gottes), und zugleich als Ganzes ein Teil der Gottheit ist, von der es abhängt (wie im Fall von Brahman-Atman). Das wäre wiederum nur dann möglich, wenn „verschieden von“ und „Teil von“ gleichbedeutende Ausdrücke wären. Deshalb trifft es auch nicht zu, dass der biblische Gott derselbe Gott ist, von dem alle anderen Religionen nur eine schattenhafte Ahnung haben, oder weniger von ihm wissen, oder sich bezüglich seines Wesens irren.30 Zusammenfassend gesprochen verlangt die einfache Logik, dass sowohl religiöses wie auch nicht-religiöses Vertrauen wohl platziert oder fehlgeleitet sein kann, und religiöse Überzeugungen wie andere Überzeugungen wahr oder falsch, aber nicht beides zugleich sein können. Daraus folgt: Wenn sich zwei Aussagen über das Göttliche widersprechen, muss eine oder beide (zumindest teilweise) falsch sein. Im nächsten Kapitel werden wir das noch deutlicher sehen wenn wir die hier entwickelte Definition dazu verwenden, die verschiedenen Typen von Abhängigkeitsverhältnissen zu unterscheiden, die in den Weltreligionen im Zusammenhang mit dem jeweils entsprechenden 30

Wilfred Cantwell Smith hat seit langem die Position eingenommen, dass alle Religionen gleich effektiv darin sind, Menschen in die rechte Beziehung zum Göttlichen zu bringen – trotz der Tatsache, dass sie unterschiedliche Erklärungen darüber geben, was göttlichen Status hat (siehe The Meaning and End of Religion). John Hick verteidigt dieselbe Position in Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, übersetzt von C. Wilhelm (München: Diederichs, 1996). Dazu drei Kommentare meinerseits: Es ist interessant zu sehen dass selbst für Smith und Hick nicht alle Überzeugungen der verschiedenen Traditionen gleichzeitig wahr sein können; sie geben zu, dass das unmöglich ist. Sie behaupten, dass alle Personen dieselbe göttliche Realität erfahren, diese Realität aber unterschiedlich konzeptualisieren. Obwohl also die begrifflichen Überlagerungen nicht übereinstimmen, spielt dies keine Rolle für das endgültige Schicksal der Gläubigen. Eine ernstzunehmende Schwierigkeit mit der Smith/Hick-Position liegt darin, dass sie einfach nicht zutrifft auf die Beschreibung der religiösen Erfahrungen derer, die diese Erfahrungen gemacht haben die sie machen. Wie William James in Die Vielfalt religiöser Erfahrung zeigt, sind es die Erfahrungen selbst, die sich unterscheiden, nicht bloss die daran anschliessende Interpretation. Des Weiteren kann die Frage nach der Wahrheit nicht so einfach abgetan werden. Entweder sind das Göttliche und unsere angemessene Beziehung zu ihm so, wie wir sie konzipieren, oder sie sind es nicht, und jede Religion besteht darauf, dass es für die Menschen wichtig ist, in diesem Punkt richtig zu liegen. Weil Smith und Hick das bestreiten, behaupten sie, dass alle Religionen dieser Welt in der Tat falsch sind, was aber keine Bedeutung für das endgültige Schicksal der Gläubigen hat. Daher haben sie tatsächlich eine neue Religion entwickelt, die mit allen anderen nicht kompatibel ist, statt einen Weg aufzuzeigen, wie bestehende Religionen miteinander versöhnt werden können.

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2. Kapitel

„Gottesglauben“ entstanden sind. In der Diskussion jener Unterscheidungen wird ersichtlich werden, warum auffallende Ähnlichkeiten zwischen den Traditionen bestehen, die dasselbe Abhängigkeitsverhältnis propagieren. Diejenigen Traditionen, die von verschiedenen Abhängigkeitsverhältnissen ausgehen, sind jedoch, wie sich ebenfalls erweisen wird, hoffnungslos unvereinbar. Weit davon entfernt, auf denselben Berg zu führen, sind sie sich gerade nicht einig, auf welchen Berg man überhaupt klettern sollte.31 2.6

Ist jeder Glaube an etwas an sich Göttliches religiös?

Dies ist nun der oben erwähnte Punkt, auf den ich zurückzukommen versprach und der einer eigenen Erörterung bedarf. Dies erstens, weil er für meine fundamentale These zentral ist. Zweitens, weil er unweigerlich von all denen bekämpft wird, die daran festhalten, dass der religiöse Glaube in der Theoriebildung nicht die geringste Rolle spielt. Der Einwand ist folgender: Selbst wenn die oben vorgeschlagenen Definitionen korrekt sind und einen unverzichtbaren Beitrag zur Religionswissenschaft bilden können, zwingt nichts von dem bisher Gesagten zur Schlussfolgerung, dass jeder Glaube an etwas bedingungslos Wirkliches religiöser Art sein muss. „Denn“, so könnte man sagen, „jeder Hund ist ein Tier, aber nicht jedes Tier ein Hund. So ist vielleicht jeder primäre religiöse Glaube ein Glaube an etwas Nicht-Abhängiges, doch trifft es deshalb noch lange nicht zu, dass jeder Glaube an ein Nicht-Abhängiges religiöser Art ist. Das ist bestimmt gerade nicht der Fall! Gibt es nicht Theorien in Philosophie und Wissenschaft, die etwas Nicht-Abhängiges postulieren oder voraussetzen? Bestimmt sind diese Glaubensannahmen nicht religiös, und jeder Versuch sie als solche zu definieren, nicht mehr als ein billiger Trick.“ Nun bin ich mir bewusst, dass viele Menschen eine derart starke Abneigung gegen alles Religiöse haben, dass nichts von dem, was ich sage, sie überzeugen wird, dass Religion ein grundlegendes Thema für die wissenschaftliche Theoriebildung oder sonst irgendetwas ist. Ich habe noch lebendige Erinnerungen an die Zeit, als einer meiner Mitstudenten sagte: „Weise mir eine Überzeugung nach, die irgendetwas Religiöses an sich hat, und ich gebe sie auf der Stelle 31

Auch die Verfasser der Bibel bestehen auf diesem Punkt. Sie behaupten, dass andere religiöse Überzeugungen den Status, der allein Gott zukommt, etwas anderem als Gott zuschreiben (siehe Jes 42,8, 44,6; Röm 1,25). Was alle Religionen (und alle Menschen) zumindest erahnen, ist, dass etwas göttlich ist. Das ist es, was Calvin den „Sinn für das Göttliche“ (sensus divinitatis oder semen religionis) nannte, der von allen Menschen geteilt wird, aber seit dem Sündenfall deformiert ist. Einen vergleichbaren Punkt findet man oft in anderen Religionen, zugunsten ihrer eigenen im Gegensatz zum Glauben an Gott.

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auf.“ Dennoch liegt das weitaus grössere Gewicht der Argumente auf der Seite derer, die behaupten, dass jeder Glaube an etwas bedingungslos Unabhängiges ein religiöser Glaube sei. Tatsache ist: Wenn man etwas – was immer es auch sein mag – als unhintergehbare und unbedingte Realität annimmt, wird dieselbe „Leerstelle“ und dieselbe Rolle im Gesamtsystem der eigenen Glaubensüberzeugungen besetzt, wie sie im religiösen Denken von etwas an sich Göttlichem ausgefüllt wird. Alles, was als unhintergehbar wirklich angenommen wird, fällt unter eine Beschreibung, deren Implikationen sekundär-religiöser Art (Typ 2) sind: Es handelt sich um Vorstellungen, die das Wesen des Menschen, dessen Glück und Schicksal betreffen. Betrachten wir das Beispiel des philosophischen Materialismus. Hier ist die unhintergehbare Wirklichkeit die Materie. Alles ist entweder Materie, oder hängt von ihr ab.32 Weit davon entfernt, das Gegenteil eines religiösen Glau32

Dasselbe gilt für andere „Ismen“ in den Theorien über die Wirklichkeit. Der Positivismus beispielsweise nimmt sinnliche Wahrnehmung anstelle der Materie als göttlich an. So stellt Ernst Mach fest: Somit ist die Behauptung also richtig, dass die Welt nur aus unseren Sinneswahrnehmungen besteht. In diesem Fall besteht unser Wissen einzig aus unseren Sinneswahrnehmungen.“ (“The Analysis of Sensation”, in J. Blackmore, Ernst Mach [Berkeley: University of California Press, 1972], 327n14) Im Gegensatz dazu versucht J.S. Mill die Erklärung einen Schritt ­weiter hinten ansetzen zu lassen. Auf die Frage, was die Wahrnehmung verursacht, antwortet er, dass sie das Produkt dessen ist, was er „die ständigen Möglichkeiten von Wahrnehmung“ nennt. Mill betrachtet diese mysteriösen Entitäten als metaphysisch fundamental. „In der Natur existiert eine Anzahl von permanenten Ursachen, die fortdauerten [ … ] für eine unbestimmte und möglicherweise enorm lange Zeitspanne. [ … ] Aber wir können keine Erklärung über den Ursprung dieser permanenten Ursachen selbst geben. [ … ] Aus­nahms­­los alle Phänomene, die zu existieren beginnen, abgesehen von den ursprünglichsten Gründen selber, sind entweder unmittelbare oder mittelbare Effekte dieser Ursprungsfakten oder einer Kombination dieser.“ (J.S. Mill, Philosophy of Scientific Method, ed. E. Nagel [New York: Hafner, 1950], 202–3) Diese mysteriösen Entitäten gelangen deshalb automatisch in den Status des Göttlichen, weil sie bedingungslos existieren. Oder betrachten wir Jacques Derridas Äusserung, dass die Grundlage seiner Ansicht von Wirklichkeit, deren „anökonomisches“ Moment ist, ­welches ihm angekündigt wird, eine Aufforderung, die auf ihn niederfährt und ihn ergreift, ihn niemals verlässt und das ist, „was höchst unbestreitbar wahr ist“. (J. Derrida, Philosophy in a Time of Terror: Dialogues with Jurgen Habermas and Jacques Derrida [Chicago: University of Chicago Press, 2003], 134). Dasselbe gilt für Richard Rorty; trotz der Tatsache, dass er darauf besteht, dass „wir den Punkt erreichen sollten, an dem wir nicht länger irgendetwas anbeten, nichts als quasi göttlich behandeln, sondern alles – unsere Sprache, unser Bewusstsein, unsere Gemeinschaft – als ein Produkt von Zeit und Zufall behandeln. Um diesen Punkt zu erreichen, müsste man, in Freuds Worten, den Zufall als würdig ansehen, unser Schicksal zu bestimmen.“ (R. Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity [Cambridge: Cambridge University Press, 1989], 22) Ungeachtet dieser Mahnung lässt sich Rorty dazu hinreissen, die Natur der Kontingenz zu spezifizieren, was einem

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2. Kapitel

bens zu sein, handelt es sich um eine Möglichkeit neben anderen, dasjenige zu identifizieren, was (vermeintlich) göttlichen Status hat. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an das bereits aufgeführte Beispiel einiger Religionen, die glaubten, oder glauben, dass Materie göttlich an sich ist. Worin soll denn der Unterschied zwischen der wirklichkeitsumgreifenden Sicht des modernen Materialismus und der Position dieser Religionen sein? Ich kann keinen signifikanten Unterschied feststellen. Beide implizieren dieselbe allgemeine Sicht des Menschen, jede bestimmt das menschliche Schicksal auf dieselbe Art, ­beide haben dieselben Konsequenzen für unsere Sicht der Werte, und beide laufen auf ein ähnliches Bild hinaus, worin die Erfüllung des menschlichen Daseins liegt. Dieser Punkt fordert in der Regel mehrere Einwände heraus. Der erste kommt aus der Beobachtung, dass die religiösen Traditionen ihre Vorstellung von unbedingter Wirklichkeit durch eine Reihe von sekundär-religiösen Vor­­stel­lungen des Typs (3) ergänzen. Philosophische und wissenschaftliche Theorien sind jedoch an der Erklärung der uns umgebenden Wirklichkeit inte­ ressiert, und nicht daran, uns in ein rechtes Verhältnis zum Göttlichen zu bringen. Dieser Einwand geht also davon aus, dass ein Glaube nicht allein schon dadurch religiös ist, dass er eine unhintergehbare Realität zum Gegenstand hat, sondern es erst wird, wenn er durch einen sekundär-religiösen ­Glauben des Typs (3) ergänzt wird – ein Glaube, der dazu verhilft, im rechten Verhältnis zum Göttlichen zu stehen und der Sicherung gewisser Vorteile dient, die auf anderem Weg nicht erreichbar sind. Und, so könnte man hinzufügen, wenn schon auf die unverzichtbare Rolle von Vorstellungen des Typs (2) und (3) in allen kultischen Religionen hingewiesen wurde, können die Vorstellungen des Typs (3) nun nicht einfach ignoriert werden. Dieser Einwand greift einerseits einen in der Tat zentralen Punkt auf, verfällt andererseits aber einem ebenso schwerwiegenden Irrtum. Tatsächlich gehen in den religiösen Traditionen primär-religiöse Vorstellungen immer mit sekun­där-religiösen einher. Das sollte nicht ausgeblendet werden. Der Irrtum des Einwands aber liegt in der Meinung, dass eine primär-religiöse religiösen Glauben gleichkommt. Während alle anderen Überzeugungen auf praktische Bedürfnisse reduziert werden, ist die Unabhängigkeit der physischen/biotischen Wirk­ lichkeit und die darwinistische Evo­lution für ihn in dem Sinn wahr, wie er behauptet, dass nichts als wahr angesehen werden kann. Rorty stellt sich in eine Reihe mit den Pragmatisten, die „mit der darwinistischen Erklärung der Menschen als Tiere beginnen, welche ihr Bestes tun, um mit der Umgebung zurecht zu kommen – indem sie Werkzeuge entwickeln, die sie ermächtigen, mehr Lust und weniger Schmerz zu erleben“ (R. Rorty, “Relativism: Finding and Making,” in Debating the State of Philosophy, ed. J. Niznik und J. Sanders [Westport ­London: Praeger, 1996], 38). Rortys Insistieren, dass kein (anderer) Glaube je mit der Wirklichkeit übereinstimmt, basiert also auf seinem eigenen Glauben, dass die biologische Evolution gilt (siehe auch R. Clouser 1997).

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Glaubensüberzeugung – ganz egal, ob in theoretischem oder in religiösem Kontext – nicht notwendig sekundäre Glaubensüberzeugungen beiden Typs mit sich zieht. Bleiben wir beim Beispiel des Materialismus. Genau wie die sekundären Überzeugungen einer religiösen Tradition, legt der Materialismus nicht nur ein bestimmtes Spektrum an vertretbaren Auffassungen der menschlichen Natur und des Weltenlaufs fest, sondern lenkt auch unsere Vorstellungen, was zur Verbesserung der conditio humana getan oder nicht getan werden kann. Erhebt der Materialismus nicht eine spezifische Sichtweise der menschlichen Werte und Ideale zur rechten Lebenseinstellung? Bedingt er nicht die Haltung, dass Werte und Normen entweder nicht real, oder aber ausschliesslich physisch determiniert sind? Haben nicht die grössten Vertreter dieser Perspektive immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass diese uns von allen vermeintlich falschen Alternativen „befreit“, und uns damit Lebensvorteile sichert, die anderweitig nicht erreichbar sind? Selbstverständlich gilt dies nicht nur für den Materialismus. Jede Auffassung des letztlich Wirklichen führt sekundäre Vorstellungen des Typs (2) und (3) mit sich. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die verschiedenen Sichtweisen nicht im Geringsten von ein­ander, ob sie nun in kultisch-religiösen Traditionen, Theorien, oder sonst wo auftreten.33 Freilich soll nichts des eben Gesagten suggerieren, es bestünden keine Unterschiede zwischen einer Theorie und einer Religion. In Theorien werden religiöse Überzeugungen dazu verwendet, Erklärungen zu generieren. Das heisst, diese Überzeugungen funktionieren als grundlegende Prämissen, die die Theoriebildung leiten. Im Kontrast dazu, legen die Religionen das Gewicht darauf, ihre Anhänger in die rechte Beziehung zum Göttlichen hineinzuführen, damit diese aktuelles Heil erfahren, und (oftmals, aber nicht immer) sich auf ihr letztes Schicksal vorbereiten können, das nicht anderweitig zu erreichen ist. Das ist ein gewichtiger Unterschied, aber ein quantitativer, nicht ein exklusiver. Der „Gottesglaube“ einer religiösen Tradition kann auch als Erklärung fungieren, und, wie ich soeben dargetan habe, kommen Theorien nicht umhin, wo sie angenommen werden, Konsequenzen für die persönliche Lebenseinstellung und Verhaltensweisen zu haben. Die Mehrheit der Philosophen hat diesen Punkt nicht nur eingestanden, sondern sich positiv darum bemüht, die persönlichen 33

Andererseits könnte eingewandt werden, dass Typ (3) Überzeugungen nicht allen Religionen gemeinsam sind. Die Epikureer glaubten an viele Götter und Aristoteles glaubte an einen Gott, aber in diesen beiden Fällen sind keine Typ (3) Überzeugungen involviert. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese Götter alle göttlich in einem abgeleiteten Sinn waren. Für die Epikureer war das Atom im Raum per se göttlich, und für Aristoteles waren es Formen und Materie. Und in beiden Fällen sind diese „Göttlichkeiten“ nicht nur von sekundären Überzeugungen, sondern auch von Überzeugungen von Typ (3) ­begleitet.

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Vorteile ihres Wirklichkeitsverständnisses herauszustellen. Sie waren darauf aus zu zeigen, dass ihre Auffassung der Wirklichkeit durchwegs praktische Folgen für unsere Lebensführung hat. Sozialwissenschaftliche Theorien leisten dasselbe. Es sind die Theorien der Naturwissenschaften, die am persönlichen Ergehen ihrer Vertreter und Vertreterinnen scheinbar uninteressiert sind (abgesehen vom Versprechen, wahre Einsicht in die Dinge zu bieten). Aber dieses scheinbare Desinteresse ist dann irrelevant für meine Behaup­tung der religiösen Dimension von Theorien, wenn auch naturwissenschaftliche Theorien nicht anders können, als irgend eine Vorstellung von letzter, unhintergehbarer Wirklichkeit vorauszusetzen – was ich in den folgenden Kapiteln aufzeigen werde. Wenn Theorien in den Naturwissenschaften aber nicht darauf verzichten können, auf einem Bild der „wirklichen“ Wirklichkeit aufzubauen, haben auch sie Folgen für das persönliche Leben ihrer Vertreter, ob diese Folgen nun explizit gemacht werden oder nicht. Konkreter gesprochen: In den nachfolgenden Kapiteln werde ich zu zeigen versuchen, dass alle Theorien entweder direkt oder indirekt durch primär-religiöse Vorstellungen geprägt sind. Die direkte Kontrolle kommt da zum Vorschein, wo eine Theorie eine explizite Aussage über die Natur der Dinge macht; denn (so werde ich argumentieren) jede Aussage über das Wesen der Dinge enthält auch eine Sicht der „letzten“ Wirklichkeit, oder setzt doch eine solche voraus. Eine indirekte Kontrolle ist dort am Werk, wo eine Theorie zwar keine Aussage über das Wesen der Dinge enthält, aber doch einschlägige Hintergrundannahmen macht. Und natürlich werde ich argumentieren, dass keine philosophische oder wissenschaftliche Theorie ohne ein leitendes Vorverständnis der Wirklichkeit auskommt, ob dieses nun artikuliert wird oder nicht. Wenn das zutrifft, kann keine Theorie darauf verzichten, einen primär-religiösen Glauben entweder zu enthalten oder vorauszusetzen. Darum stimme ich mit dem erhobenen Einwand überein. Es spielt für meine Definition keine Rolle, ob die Vorstellung einer nicht-abhängigen Wirklichkeit für sich allein genommen schon religiös ist, oder es erst dann wird, wenn sie zusammen mit Ansichten über die menschlichen Natur, unser Geschick, unsere Werte und die rechte Lebensführung auftritt. Auch wenn dem so wäre, stellt sich eine „letzte“ Wirklichkeitsvorstellung als religiös heraus – ob sie nun in einer Theorie oder in einer religiösen Tradition auftritt. Ein zweiter Einwand gegen unsere Sicht besteht darin zu sagen, dass weder ein primärer Glaube an das unhintergehbar Wirkliche, noch sekundäre Glaubensüberzeugungen wirklich religiös sind, wenn sie auf rationaler Basis anstatt aus blossem Glauben angenommen werden. Wenn es Gründe gibt für solche Überzeugungen, gehören sie zur Philosophie oder in die Wissenschaft und sind dann keineswegs religiös. Erst wenn sie aus Glauben angenommen werden, gewinnen sie religiöse Bedeutung. Anders als der erste Einwand, will dieser die Theoriebildung gegen den Einfluss des religiösen Glaubens nicht

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dadurch immunisieren, dass auf einen Unterschied im Aussagegehalt abgehoben wird, sondern indem ein Unterschied in der Grundlage, auf der diese Aussagen angenommen werden, gesehen wird. Tatsache ist jedoch, dass Gründe und Argumente nicht auf Philosophie und Wissenschaft begrenzt sind. Es gibt viele Argumente, die von religiösen Denkern und Denkerinnen und Theologen und Theologinnen vorgetragen worden sind. Zum Beispiel gibt es Argumente für die Existenz von Gott und solche, die einen alternativen „Gottesglauben“ kritisieren. Allein diese Tatsache widerlegt den zweiten Einwand. Denn dieser läuft darauf hinaus, dass alle, die solche Argumente akzeptieren, einen nicht-religiösen Glauben an Gott haben! Doch wie ich schon erwähnt habe, untergräbt jede Sichtweise, die den Glauben an Gott zu einem nicht-religiösen Glauben umdeutet, ihre eigene Glaubwürdigkeit. Dazu kommt, dass dieser Einwand den Prinzipien der Vernunft göttlichen Status zuschreibt, und damit selber auf einer religiösen Überzeugung fusst. Denn es kann keine Gründe oder Argumente für die Zuverlässigkeit der Vernunft geben, die nicht eben das voraussetzten, was sie zu beweisen suchen. Das ist nicht der einzige Grund, warum dieser Einwand sein Ziel verfehlt. Er geht von der simplen Alternative aus, dass ein „Gottesglaube“ entweder aufgrund rationaler Argumente oder blindem Vertrauen angenommen wird. Tatsache ist jedoch, dass keine Religion, die ich kenne, je dazu aufgefordert hat, ihr blindlings zu folgen. Alle insistieren sie darauf, dass jeder Mensch für sich selber die Erfahrung machen muss, die darin besteht, die Wahrheit „gesehen“ zu haben. Wie kommt man dann aber darauf, dass argumentative Begründungen und blindes Vertrauen die einzigen Alternativen darstellten? Weder im Umfeld des religiösen Glaubens noch in der Auseinandersetzung mit nichtreligiösen Überzeugungen sind das die einzigen Optionen. Viele unserer Überzeugungen gehen auf direkte Erfahrung zurück und sind dadurch weder von anderen Auffassungen argumentativ abgeleitet, noch im blinden Glauben übernommen. Zum Beispiel lesen Sie gerade diese Worte. Die Überzeugung, diese Worte zu lesen, fusst gerade nicht auf irgendwelchen anderen Überzeugungen, aufgrund derer Sie schliessen, diese Worte zu lesen. Aber ebenso wenig geht es um blindes Vertrauen. Viele Denker sind zur Einsicht gekommen, dass religiöse Überzeugungen auf ähnlichem Weg gewonnen werden. Der bekannte Philosoph Paul Ziff hat seine materialistische Grundüberzeugung einmal so beschrieben. Er sagte: „Wenn Sie mich fragen, warum ich Materialist bin, weiss ich nicht genau, was ich antworten soll. Es ist nicht wegen der Argumente. Ich glaube, ich muss einfach sagen, dass mir die Wirklichkeit unwiderstehlich physisch erscheint“.34 Erstaunlicherweise ist das genau dasselbe, was Johannes Calvin von seinem Glauben an Gott gesagt hat: 34

Der Kommentar war Teil eines Vortrages über die Philosophie der Sprache an der Universität von Pennsylvania im März 1962.

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Wenn man daher fragt: „Woher sollen wir denn die Überzeugung haben, die Schrift komme von Gott her zu uns … ?“ so ist das genau so, als wenn jemand fragte: „Woher sollen wir denn Licht und Finsternis, Weiss und Schwarz, Süss und Bitter unterscheiden lernen?“ Denn die Wahrheit der Schrift erweist sich ganz von selbst und ist darum nicht weniger deutlich als die Farbe an einem weissen oder schwarzen, der Geschmack an einem süssen oder bitteren Ding!35 In späteren Kapiteln werde ich indirekt auf diesen Punkt zurückkommen. Ich werde zeigen, warum es keine theoretische Rechtfertigung dafür geben kann, irgend etwas in den Status von unbedingter, nicht-abhängiger Existenz zu heben, wie das in so vielen Theorien geschehen ist und geschieht (zum Beispiel die Gesetze der Vernunft, die Materie, die Sinneswahrnehmung etc.). Wenn meine Argumentation aber zutrifft, bleiben genau zwei Möglichkeiten. Entweder sind alle diese vortheoretischen Auffassungen schlechterdings fehlgeleitet oder in nichts als blindem Vertrauen gegründet, oder sie haben eine reale Grundlage in unserer Erfahrung – wie Calvin, Ziff und unzählige andere geglaubt haben. Anderswo habe ich eine detaillierte Begründung der Verwurzelung des religiösen Glaubens in der Erfahrung präsentiert. Hier steht der Raum nicht zur Verfügung, um all das dort Gesagte zu wiederholen.36 Was ich aber tun kann, 35

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Institutes of the Christian Religion I, vii, 2. Hinzuzufügen ist die Erfahrung von Alister Hardy: „Es war während einer Predigt in der St. Mary's Kirche, dass ich zur Überzeugung der Realität Gottes gelangte. Die Emotionen waren auf ein Minimum zurückgeschraubt. [ … ] Das Überzeugt-sein war aber auch nicht prinzipiell intellektueller Natur. Ich wusste einfach, dass der Prediger die Wahrheit sagte.“ (The Spiritual Nature of Man: A Study of Contemporary Religious Experience [Oxford: Clarendon, 1979], 100) Auch Tillich hält fest, dass die weithin akzeptierte Vorstellung von „Vertrauen“ (faith) als Glauben ohne Beweis nicht die richtige Beschreibung der Erfahrung ist, in der das Gottesvertrauen gründet. Diese irrtümliche Ansicht hält Vertrauen für einen „Akt der Erkenntnis, dem es an Beweisen mangelt, welche dafür durch einen Willensakt ersetzt werden. Diese Ansicht wird dem existenziellen Charakter des Glaubens nicht gerecht.“ Er schliesst dem an: „Die Gewissheit des Glaubens hat eine ‚existenzielle‘ Bedeutung, die die gesamte Existenz des Gläubigen involviert. [ … ] Es ist eine Gewissheit über das eigene Wesen, [ … ] die Gewissheit, mit etwas Endgültigem und Bedingungslosem verbunden zu sein.“ The Dynamics of Faith. (34, 35) Tillich spricht dann auch davon, dass man in diesem Fall eher das Gefühl hat, von der Wahrheit „ergriffen“ zu werden, als sich bewusst dafür zu entscheiden. (37) Siehe R. Clouser, Knowing with the Heart: Religious Experience and Belief in God (Downer’s Grove, Ill.: InterVarsity Press, 1999). Weil die Behauptung, dass der Glaube an Göttlichkeit an sich auf religiöser Erfahrung basiert zahlreichen unterschiedlichen Missverständnissen unterliegt, sei hier eine kurze Skizze derjenigen Position gegeben, die ich in meinem Buch Knowing with the Heart formuliert habe: ‚Religiöse Erfahrung‘ soll jede Erfahrung beschreiben, die einen religiösen Glauben erzeugt, vertieft oder bestätigt. Sie ist daher

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ist kurz darauf hinzuweisen, warum die Erfahrung von etwas an sich Göttlichem die universale Verbreitung des religiösen Glaubens unter Menschen aller Orten und Zeiten am Besten zu erklären vermag. Die Frage nach ihrem eigenen Ursprung hat die Menschen seit jeher in ihren Bann gezogen; nicht nur in dem Sinn, welche natürlichen Prozesse die menschliche Gattung hervorgebracht hat, sondern (und hauptsächlich), woran das ganze menschliche Dasein hängt. Deshalb habe ich den Ausdruck „religiös“, im eigentlichen oder unqualifizierten Sinn, als Bezeichnung einer existentiellen Bedingung des Mensch­seins genommen. Diese Grundbedingung betrifft das Dasein des ganzen Menschen, nicht nur des Denkens, des Fühlens, des Wollens etc. Der Glaube an etwas an sich Göttliches ist die primäre Manifestation davon, aber auch dieser Glaube entspringt dem angeborenen Impuls der Menschen, sich nach nicht auf unübliche oder ungewöhnliche Erfahrungen wie Stimmenhören, Visionen, mystische Vereinigung mit dem Göttlichen oder Wunder beschränkt. Solche relativ seltenen Erfahrungen, so argumentiere ich, sind in ihrer Bedeutung in der Tat abhängig von der Erfahrung der direkten Wahr­heitseinsicht – die Art von Erfahrung, die in anderem Kontext als Intuition der Selbstevidenz der Wahrheit eines Glaubens bezeichnet wird. Solch eine direkte Wahrheitserfahrung schliesst sich, so mein Argument, gewöhnlichen Erfahrungen (wie dem schlichten Lesen der Schrift) und den eher ungewöhnlichen Erfahrungen (siehe dazu das Zitat von Hardy in der vorherigen Fussnote) an. Ich verteidige diese Ansicht, indem ich erstens zeige, dass die traditionellen Einschränkungen der wahren Selbstevidenz Unfug sind: Es gibt und es kann keine Rechtfertigung für die Behauptungen geben, dass ein Glaube selbstevident ist, nur wenn alle rationalen Menschen diesen als solchen erfahren (worauf Descartes und Locke bestanden), oder dass die Selbstevidenz nur notwendigen Wahrheiten anhaftet und unfehl­bare Überzeugungen hervorbringt (wie Aristoteles behauptete). Gleichzeitig gibt es aber keine guten Gründe daran zu zweifeln, dass Intuitionen der Selbstevidenz, wie Wahrnehmung und logisches Denken, verlässliche Quellen von Wahrheit sind. Ich argumentiere dann, dass unter den richtigen Bedingungen, die Selbstevidenz in Bezug auf das Göttliche in demselben epistemologischen Boot sitzt wie die Selbstevidenz von logischen oder mathematischen Axiomen. Diese Darstellung ist daher eine Verteidigung der Position, die Calvin in dem Zitat der vorherigen Fussnote einnimmt, der aber auch Pascal zustimmt, wenn er schreibt: „Wir erkennen, sagen sie, die Wahrheit nicht bloss durch Vernunft, sondern auch durch Gefühl und durch eine lebendige und klare Anschauung und gerade auf diese letzte Weise erkennen wir die ersten Principien. Umsonst versucht die Vernunft … sie zu bekämpfen. ... Wir wissen, dass wir nicht träumen, wie unvermögend wir auch sind es mit der Vernunft zu beweisen… die Erkenntnis der ersten Principien wie z.B. dass es Raum, Zeit, Bewegung, Zahl, Materie giebt, ist ebenso gewiss wie jede von denen, die unsre Vernunftschlüsse uns geben. Und auf diese Erkenntnisse der Anschauung und des Gefühls muss die Vernunft sich stützen und alle ihre Aussage gründen. … Deshalb sind diejenigen, denen Gott durch Intuition Religion verliehen hat, sehr glücklich und zu Recht überzeugt. (B. Pascal, Pensées, aus dem Französischen übersetzt von Karl Adolf Blech [Berlin: Wilhelm Besser, 1840], 202).

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der letzten Realität auszurichten, von der sie und alles andere abhängt. So versuchen sie notgedrungen, ihr eigenes Wesen und das Ziel ihres Lebens im Licht dessen zu verstehen, was immer für sie göttlichen Status einnimmt.37 Instinktiv haben Menschen immer solche Vorstellungen in sich ausgebildet, auch wenn sie diese nicht immer in Argumente kleideten. Und selbst wenn kein Zweifel daran besteht, dass Menschen bestimmte Götter als Träger göttlicher Macht erfunden haben, mussten sie dafür, wie oben erläutert, doch bereits an etwas an sich Göttliches glauben. Einzelne Götter mögen reine Erfindung sein, die Religion als solche aber war es nicht. Sie entsprang vielmehr der Tatsache, dass die Menschen in ihrer Erfahrung auf irgendetwas stiessen, das den unwiderstehlichen Anschein von Unbedingt­heit hatte. Wenn diese Sichtweise stimmt, kann ein „Gottesglaube“ als grundlegend oder unhintergehbar stehen gelassen werden, weil er nicht von anderen Überzeugungen abgeleitet ist.38 In diesem Fall geht ein religiöser Glaube weder auf blindes Vertrauen noch auf irgendwelche Argumente zurück. Dann aber fällt der Einwand in sich zusam37 38

Cf. Dooyeweerd, New Critique, vol. 1, 55–57. Mehrere Denker bekennen sich in letzter Zeit zu dieser Position. Ich zähle hier nur einige wenige auf: A. Plantinga, “Reason and Belief in God,” in Faith and Rationality, Hrsg. A. Plantinga und N. Wolterstorff (Notre Dame, Ind.: University of Notre Dame Press, 1983), 16–93; A. Plantinga, Warrant and Proper Function (Oxford: Oxford University Press, 1993) und A. Plantinga, J. Schultz (Übersetzer), Gewährleisteter christlicher Glaube (Berlin: De Gruyter, 2015); W. Alston, Gott wahrnehmen: Die Erkenntnistheorie religiöser Erfahrung (Berlin: De Gruyter, 2006) und N. Wolterstorff, “Can Belief in God Be Rational If It Has No Foundations?” in Faith and Rationality, 135–86. Ich möchte ebenfalls betonen, dass ich gerade gesagt habe, dass religiöser Glaube fundamental „sein kann“, um anzuerkennen, dass er es für die meisten Menschen nicht ist. Viele nehmen eine Religion aus anderen Gründen an, ohne deren Wahrheit direkt zu erfahren – Gründe wie, dass sie ihnen Trost bringt, dass Religion mit anderen verbindet oder dass sie Ordnung und Schönheit in ihr Leben bringt, etc. Oftmals fügen diese Menschen hinzu, dass niemand wirklich wissen kann, ob irgendeine religiöse Überzeugung wahr ist, und sie geben zu, dass die Annahme ihrer eigenen Überzeugungen auf pragmatischen Gründen beruht, z.B. dass sie Trost und Hoffnung angesichts von Tragödie oder Tod zu spenden. Solche Menschen sind die­ jenigen, die ich, mit Blick auf den Punkt, den ich vorher gemacht habe, als religiöse „Weggenossen“ bezeichne. Jede grosse Religion behauptet, dass echte Gläubige nur die­jenigen sind, die die religiösen Lehren für sich als wahr erkannt haben. Diese Unterscheidung soll aber nicht suggerieren, dass Weggenossen ihre religiöse Zugehörigkeit auf die leichte Schulter nehmen. Im Gegenteil sind sie oft sehr eifrige Verfechter ihres Glaubens und loyal bis zum Äussersten. In der Tat halte ich religiösen Fanatismus für stark assoziiert mit einer Gruppenbindung, die die eigene Wahrheitserkenntnis ersetzt, und daher eher für ein Pro­dukt der Überzeugungen von Weggenossen. Es ist oftmals Gruppenbindung, die zu Verletzung genau derjenigen Lehren führt, der die Gruppe eigentlich verpflichtet ist. Im Gegensatz dazu übertrumpft eigene Wahrheitserkenntnis andere Loyali­täten und Verpflichtungen.

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men, derselbe Glaube sei immer dann nicht-religiöser Art, wenn er in theoretischem Zusammenhang auftritt. Wenn der Glaube an eine unhintergehbare oder letzte Realität keine theoretische Rechtfertigung zulässt (wofür ich später Argumente präsentieren werde), sondern das Produkt einer direkten Erfahrung ist (wie ich hier voraussetze und an anderer Stelle begründet habe), dann sind die Begründungen eines solchen Glaubens, die in Theorien vorgetragen werden, nur gerade Konsequenzen, und nicht die eigentliche Grundlage der Annahme dieses Glaubens. Die Position einer erfahrungsbezogenen Grundlage des religiösen Glaubens untergräbt erfolgreich (selbst wenn man diese Position anfechten möchte) die Behauptung, ein Glaube sei dann nicht-religiöser Natur, wenn er mit Argumenten unterfüttert ist. Denn allein die schlichte Möglichkeit, dass der religiöse Glaube auf Erfahrung und nicht auf Argumenten basiert, macht diese Behauptung unschlüssig. Schon die Tatsache, dass eine prima facie plausible Sichtweise existiert, dergemäss der religiöse Glaube in Erfahrung anstatt blindem Vertrauen oder Argumenten wurzelt, bedeutet, dass es nicht einfach genügen kann zu behaupten, letztere erschöpften alle Möglichkeiten, worin der Glaube gründen kann. Um das zu zeigen müsste zuerst ein halbwegs plausibles Argument gefunden werden, aufgrund dessen man die mögliche Erfah­ rungsgrundlage des Glaubens zu Recht ausschliessen könnte. Doch bis anhin ist niemand auch nur im Entferntesten an ein solches Argument heran­ge­ kommen, und ich sehe keine reellen Chancen, dass in Zukunft eines gefunden werden könnte. Deshalb ziehe ich den Schluss, dass der zweite Einwand ebenso erfolglos bleibt wie der erste. Zuletzt sollten wir noch auf den Einwand eingehen, dass mein Plädoyer für den religiösen Charakter von Überzeugungen, die auf irgend eine unhintergehbare Realität abzielen, genau so gut umgedreht werden könnte zugunsten des philosophischen Charakters solcher Überzeugungen. Warum, so der Einwand, sollte man nicht von philosophischen Theorien anstatt von Religionen ausgehen, um darauf zu kommen, dass alle Wirklichkeits- und Erkenntnistheorien eine irgendwie bestimmte unhintergehbare Wirklichkeit voraussetzen? Dann würde man ebenso leicht zum Schluss gelangen, alle Religionen basierten auf philosophischen Annahmen anstatt philosophische Theorien auf religiösen. Bricht dadurch nicht die gesamte Vorstellung einer unvermeidlichen religiösen Kontrolle von Theorien zusammen? Meine Replik auf diesen Einwand besteht aus zwei Teilen. Der erste besteht darin zu betonen, dass ich nicht in erster Linie für das sprachliche Etikett „religiös“ plädiere. Wenn jemand darauf besteht, einen anderen Ausdruck, zum Beispiel „metaphysisch“, zu verwenden, wird das für meine zentrale These ­keinen nennenswerten Unterschied machen. Denn wenn, wie ich zu zeigen versuchen werde, „metaphysische“ Überzeugungen einen unvermeidlichen Einfluss auf alle Theorien ausüben, wird mein Plädoyer keinen Schaden

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dadurch erleiden, dass diese Vorstellungen einfach anders genannt werden. Meine zentrale These kann ebenso gut in der Behauptung bestehen, dass es dieselbe Art von Überzeugung ist, die die Theoriebildung reguliert und im Zentrum der Religionen steht, dass diese Art von Überzeugung für keinerlei theoretische Rechtfertigung zugänglich ist, und dass sie in der menschlichen Erfahrung unabhängig von Theorien auftritt und deshalb nicht von diesen Theorien abgeleitet wird. Auf diesem Hintergrund würde sich nichts Wesentliches an meiner These ändern, wenn man die Ausdrücke vertauscht. Es bleibt jedoch die berechtigte Frage nach dem passenden Ausdruck für die besprochenen Glaubensüberzeugungen. Ist „metaphysisch“ wirklich gleichermassen adäquat wie „religiös“? Das ist zweifelsohne ein seltsamer und ­wenig überzeugender Vorschlag. Denn wenn der Glaube an etwas Nicht-Abhängiges in der vortheoretischen Erfahrung geboren wird, wenn er sich der Art von Begründung verweigert, die in der Theoriebildung angestrebt wird, und er über 100’000 Jahre das menschliche Dasein prägte, bevor irgendwelche Theorien aufgestellt wurden, was auf Erden könnte dann der Grund dafür sein, diesen Glauben mit dem Namen einer bestimmten Art von Theorie belegen zu wollen? Um die Bedeutung dieser Frage richtig ermessen zu können, nehmen wir einmal an, die Dinge verhielten sich genau umgekehrt. So hätte kein solcher Glaube vor dem Aufkommen der Theoriebildung existiert und wäre erst in diesem Zusammenhang entstanden. Nehmen wir an, es wären Kulte auf­ gekommen, die die Anbetung der in bestimmten Theorien vorgeschlagenen unhin­tergehbaren Realitäten propagierten, nebst und zusätzlich zu deren Verwendung als theoretische Erklärungsmittel. Wäre es dann überzeugend zu insistieren, die menschlichen Vorstellungen von einer letzten Wirklichkeit seien religiöser und nicht philosophischer Natur? Würden sich die Gegner der Religion nicht vielmehr darüber empören? Würden sie nicht sagen, der Ursprung dieser Vorstellungen liege in der Philosophie, und deshalb sei jede Behauptung, dass sie in Wirklichkeit religiös seien, und auch so genannt werden müssten, Ausdruck eines inakzeptablen Imperialismus? Und würden sie nicht weiter einwenden, dass die Einführung von solchen Vorstellungen in die Religion rein gar nichts daran ändern könne, dass sie das Produkt der menschlichen Theoriebildung seien und blieben? Ich denke, dass man genau das sagen würde – und zwar mit gutem Recht. Aber weil sich die Dinge nicht so verhalten, weisen dieselben Gründe in die von mir vertretene Richtung, so dass „religiös“ der richtige Ausdruck für diese Vorstellungen ist, ob sie nun in Theorien auftauchen oder nicht. Das Scheitern auch dieser letzten Einwände bestärkt mich in der Überzeugung, dass die vorgeschlagenen Definitionen tatsächlich erfolgreich sind. Der religiöse Charakter des Glaubens an etwas unbedingt Reales egal in welchem

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Zusammenhang dieser Glaube erscheint, bleibt unangetastet. Im nächsten Kapitel werde ich die erarbeiteten Definitionen deshalb heranziehen, um die grundlegenden Typen der in den gegenwärtigen Weltreligionen vertretenen Abhängigkeitsverhältnisse zu erläutern. Die Bedeutung dieser Abhängigkeitsverhältnisse erschöpft sich freilich nicht in der Rolle, die sie in den Reli­gionen spielen. In späteren Kapiteln führt uns die anstehende Unterscheidung der wichtigsten Typen zur Erkenntnis, dass die selben Abhängigkeits­verhältnisse auch in der wissenschaftlichen und religiösen Theoriebildung auf­treten.

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3. Kapitel

3. Kapitel

Typen von religiösem Glauben Wir wenden uns nun einigen der bekanntesten Religionen der Gegenwart zu, um zu sehen, wie die erarbeiteten Definitionen uns helfen, diese Religionen besser zu verstehen. Freilich können wir hier keinen ausführlichen Vergleich anstellen – nicht einmal von zwei solchen Religionen, geschweige denn von fünf oder sechs – ohne von unserem eigentlichen Thema abzukommen. Jedoch ist es äusserst hilfreich, einen kurzen Blick auf die Weltreligionen zu werfen mit der Frage, wie sie die Abhängigkeit des Nicht-Göttlichen vom Göttlichen bestimmen. Wir stützen uns dabei auf die Abhängigkeitsverhältnisse, die im letzten Kapitel als religiöse Glaubensvorstellungen des Typs (2) eingeführt wurden. Eine Analyse der verschiedenen Abhängigkeitsverhältnisse wirft nicht nur beträchtliches Licht auf die jeweiligen Traditionen, sondern wird uns in späteren Kapiteln auch ermöglichen, diese Verhältnisse im Kontext der Theoriebildung bewusster wahrzunehmen. 3.1

Die Vergleichsbasis der Religionen

Der nachfolgende Vergleich der wichtigsten Weltreligionen hinsichtlich der Frage, wie das Nicht-Göttliche vom Göttlichen abhängt, ist eine direkte Frucht der im letzten Kapitel gewonnenen Definitionen. Denn diese Definitionen bewahren uns davor, die verschiedenen Religionen nach irgendwelchen willkür­ lich ausgewählten Merkmalen zu klassifizieren. In der Vergangenheit wurden Religionen zum Beispiel nach der Anzahl ihrer Götter gruppiert, oder nach der Frage, ob sie eine strenge Moral propagieren, usw. Doch diese Typologien von Religion sind nicht nur willkürlich, ihr Anwendungsspektrum ist auch viel zu beschränkt. Wenn wir das grundlegende Abhängigkeitsverhältnis zwischen Göttlichem und Nicht-Göttlichem als Vergleichsbasis heranziehen, wird deutlich, dass in der heutigen Welt drei solche Verhältnisse dominieren. (Diese sind nicht die einzig möglichen; theoretisch bin ich auf mindestens vierzehn gekommen). Es handelt sich um das pagane, das biblische, und das pantheistische Modell. Der generische Ausdruck „biblisch“ steht in meinem Gebrauch für den Glauben an einen transzendenten Schöpfergott, der das Judentum, das Christentum und den Islam prägt. Der Ausdruck „pantheistisch“ bezieht sich auf Hinduismus, Buddhismus, und die späteren Formen des Taoismus. Der pagane Glaubens-

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_004

Typen von religiösem Glauben

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typ, schliesslich, deckt eine derart grosse Vielfalt von Traditionen ab, dass ich ihn an dieser Stelle nicht spezifizieren kann, indem ich eine oder zwei dieser Traditionen nenne; doch werden wir in Kürze einige seiner Hauptvertreter näher betrachten. Bevor wir das tun, möchte ich aber noch darauf hinweisen, dass der Ausdruck „pagan“, so wie ich ihn verwende, nicht abwertend gemeint ist. Ich gebrauche ihn nicht so, wie zum Beispiel christliche Missionare des neunzehnten Jahrhunderts das Wort „Heide“ gebraucht haben. Der Ausdruck bezieht sich nicht nur auf so genannt abergläubische und irrationale Vorstellungen, oder auf solche, die unter „primitiven“ Völkern verbreitet sind. Im Gegenteil, wir werden sehen, dass der pagane Glaube hoch entwickelt oder kultiviert sein kann, und in dieser Form auch heutzutage eine ungeheure Anziehungskraft ausübt. 3.2

Der pagane Typ

Das wesentliche Merkmal des paganen Abhängigkeitsverhältnisses liegt darin, dass das an sich Göttliche Teil, Aspekt, Prinzip oder eine Kraft im Universum ist, und der gewöhnlichen Erfahrung und dem gewöhnlichen Denken zugänglich ist. Anders gesagt, der pagane Glaube geht von einer einzigen, kontinuierliche Wirklichkeit aus. Das Göttliche ist ein Teil davon; derjenige Teil eben, von dem der gesamte Rest abhängt. Vielleicht hilft folgende Abbildung, die Dinge zu veranschaulichen. Wenn wir eine ausgezogene Linie benützen, um das Göttliche darzustellen, und eine nicht-ausgezogene Linie für das Nicht-Göttliche verwenden, sieht unser visuelles Schema zum besseren Verständnis der paganen Grundidee folgendermassen aus:

 Abbildung 1

Eine grosse Bandbreite religiöser Überzeugungen fällt unter diesen paganen Typ. Naturreligionen, die eine göttliche Macht in der Erde, in der Sonne, in Flüs­sen, im Ozean etc. anbeteten, sowie die meisten Polytheismen, sind ein-

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3. Kapitel

gängige Beispiele davon. Eine der am meisten verehrten Gottheiten der antiken Welt war zum Beispiel der Gott, der die Stürme kontrollierte. Im Nahen Osten wurde er Ba’al, in Griechenland Zeus, in Rom Jupiter genannt. In jedem Fall war dieser Gott eine Gottheit neben anderen, deren Göttlichkeit abgeleiteter oder sekundärer Natur war: Diese Gottheiten verdankten ihre Existenz etwas an sich Göttlichem, verfügten jedoch über weit mehr göttliche Kraft als die Menschen. Der bereits erwähnte Mana-, Numen-, und Kami-Glauben gehörten ebenso zu diesem Typ. Obwohl sich diese Traditionen in den N ­ amen und der genauen Beschreibung, die sie den verschiedenen Göttern ­gaben, oft uneinig waren, und obwohl einige Traditionen Götter kannten, die in anderen nicht vorkamen, gingen sie alle von derselben generellen Beziehung aus, wie das Göttliche und das Nicht-Göttliche verbunden sind. Diese Beziehung besteht darin, dass das Göttliche Teil jedes nicht-göttlichen Dinges ist. So lässt sich Werner Jaeger Beschreibung dieses Verhältnisses im Denken des antiken Griechen Hesiod mühelos auf jeden paganen Glauben übertragen: Das philosophische Denken, das das Denken Hesiods ablösen wird, wird im Gegensatz zu der aus der Genesis erwachsenen Theologie das Göttliche in der Welt, nicht jenseits von ihr suchen.1 Im Zusammenhang mit meiner Bemerkung, dass der pagane Glaube auch in der heutigen Welt von grosser Bedeutung ist, sollten wir uns, wie im letzten Kapitel dargelegt, daran erinnern, dass Religion nicht immer zu Anbetung und Verehrung führen muss. Wenn man sich den paganen Glauben nur in seinen Ausformungen in Ritual und Verehrung vor Augen hält, wird man unmöglich sehen können, warum der pagane Glaube auch in unserer Welt enorme Kraft hat. Der pagane Glaube, der in Verehrung mündet – wir können ihn „kultisches“ Heidentum nennen – ist angesichts der Verbreitung des Hinduismus, des Buddhismus, des Christentums und des Islams seit langer Zeit im Rückzug begriffen. Nicht-kultische pagane Glaubenssysteme wie der Materialismus und andere Theorien, die einen Teil des Universums für nicht-bedingt halten, haben zusätzlichen Druck auf das kultische Heidentum ausgeübt. Andererseits haben diese nicht-kultischen Glaubensformen weiterhin Verbreitung gefunden. Viele moderne Denker in Philosophie und Wissenschaft vertreten Theorien, die ebenso von pagan-religiösen Glaubensvoraussetzungen ausgehen wie ihre antiken Vorläufer. Zum Beispiel ist die religiöse Gemeinschaft der Pythagoreer längst ausgestorben, und niemand, den ich kenne, ­richtet Gebete an Zahlen. Doch ist der Glaube, dass Zahlen oder andere mathe­matische Elemente Teil eines selbst-existenten Bereichs sind, von dem alles andere abhängt, längst nicht ausgestorben. Im Gegenteil dominiert er bis heute weite 1 W. Jaeger, Die Theologie der frühen Griechischen Denker, 17.

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Bereiche des wissenschaftlichen Denkens.2 Und wie gesagt, handelt es sich auch da um einen nicht-kultischen paganen Glauben, wo Materie und Energie anstatt Zahlen zur nicht-abhängigen Wirklichkeit erklärt werden, von der alles andere abhängen soll. Auch dies ist ein Beispiel dafür, wie ein Aspekt der natürlichen Welt zu göttlichem Status kommen kann. An dieser Stelle kann es erhellend sein, wenn ich meine Darstellung des pagan-religiösen Glaubenstyps auf die Theorie des dialektischen Materialismus von Karl Marx anwende. Diese Theorie ist ein besonders interessanter Fall, da der Marxismus oftmals eine entschieden anti-religiöse Stosskraft hatte. In seiner Interpretation der gesamten Wirklichkeit, von der Physik und der Biologie zur Ökonomie, Geschichte und Politik, erklärte der Marxismus gegen jede Art von Religion zu sein. Gemäss der Theorie von Marx ist Materie/Energie die fundamentale Wirklichkeit; ein der Materie innewohnendes Gesetz steuert das Verhalten der Dinge gemäss dem Prozess der so genannten „dialektischen“ Entwicklung. Dieses Gesetz hat die Materie über Millionen von Jahren dazu gebracht, eine Vielfalt von Formen auszubilden: Galaxien und Sonnensysteme, Lebewesen, Menschen, und menschliche Gemeinschaften sind allesamt Produkte der Materie, organisiert nach dem dialektischen Entwick­lungsgesetz. Im marxistischen Denken soll dieses dialektische Gesetz, wenn richtig verstanden, zeigen, wie die freie Marktwirtschaft (Kapitalismus) ungerechte und repressive Regierungsformen hervorbringt, und daher zum Verschwinden verurteilt ist. Das Ende des Kapitalismus naht, wenn sich Regierungsformen entwickeln, die bereit sind, das private Eigentumsrecht abzuschaffen, das die Wurzel aller Übel ist. Wenn kommunistische Wirtschaftssysteme einmal eta­ bliert sind, werden sie ihrerseits Regierungen hervorbringen, die immer mehr der Gerechtigkeit verpflichtet sind, so dass das Wohl der Menschen ­ständig zunimmt. Das Endresultat wird der Durchbruch der letzten Entwicklungsstufe der Geschichte sein: die kommunistische Gesellschaft. In dieser Gesell­schaft werden die Menschen nicht nur kein Eigentum besitzen, sie werden vielmehr frei von allen privaten Besitzansprüchen sein. Aus diesem Grund wird auch die Kriminalität verschwinden, sowie die Notwendigkeit jeder Regierung. Die gegen­seitige Entfremdung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wird überwunden sein, da es keine durch gegensätzliche Interessen konstituierte Klassen mehr gibt. Die Entfremdung des Menschen gegenüber der Natur, sowie gegenüber den Produktionsmitteln zur Herstellung von lebensnotwendigen Gütern, wird verschwinden. Die Menschen werden glücklich und gut sein, und in Frieden miteinander leben. Obwohl Marx Atheist war, lag seinen Theorien die Nicht-Abhängigkeit oder Selbst-Existenz der Materie zugrunde. Die physische Materie und ihr Gesetz 2 Siehe W. Heisenberg, Physics and Philosophy (New York: Harper, 1958), 72–73.

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3. Kapitel

der dialektischen Entwicklung sind „einfach gegeben“.3 Materie ist von überhaupt nichts abhängig, und die gesamte Wirklichkeit ist entweder mit ihr identisch oder von ihr verursacht. Aus diesem Grund, und entgegen jeder noch so vehementen Behauptung des Gegenteils, gründet die Theorie von Marx in einem religiösen Glauben. Das heisst, es handelt sich um einen typisch paganreligiösen Glauben, der eine Dimension des Universum herausgreift und diese zum selbst-existenten Segment macht, von dem alles andere abhängig sein soll. Wir sind zu dieser Schlussfolgerung berechtigt, da unsere Definitionen nicht nur klar gezeigt haben, dass ein Glaube selbst dann religiösen Charakter haben kann, wenn er keinen Kult hervorbringt, sondern auch dann, wenn seine Vertreter dessen religiösen Charakter selbst nicht wahrhaben wollen. Ich wiederhole diesen Punkt deshalb, weil es so oft vorkommt, dass besonders die Exponenten eines nicht-kultischen, paganen Denkens den religiösen Charakter ihrer Überzeugungen mit Nachdruck bestreiten. Oft werden diese Überzeugungen als „säkular“ oder „nicht-konfessionell“ bezeichnet, was soviel heissen soll, dass sie religiös neutral sind. Sobald man diese Überzeugungen mit der vorgeschlagenen Definition von „göttlich“ vergleicht, kann man sich jedoch leicht davon überzeugen, warum viele als „humanistisch“ oder „säkular“ ausgegebene Ansichten in Wirklichkeit alternative Glau­bens­überzeugungen religiöser Art sind. Die Beispiele des Pythagoreismus und des Materialismus fallen unter einen paganen Glaubenstyp, der nur eine Art von Realität kennt, die göttlichen Status an sich hat. Der Grossteil der in der Geschichte auftretenden paganen Glaubensformen fällt allerdings unter einen dualistischen Religionstyp. Das bedeutet, es werden zwei verschiedene „Gottheiten“ anstatt nur eine anerkannt. Gemäss den einflussreichsten Vorstellungen, die unter diesen Untertyp fallen, ist es die Interaktion zwischen den beiden göttlichen Prinzipien die den nicht-göttlichen Rest der Wirklichkeit erzeugt. Der Form-Materie Glaube der antiken Griechen ist Beispiel eines solchen Dualismus, ebenso wie die Lehre von Yin-Yang im Taoismus. Abbildung 2 ist eine Modifikation von Abbildung 1 und stellt eben diesen Unterschied dar:

Abbildung 2

 Abbildung 2

3 J. Van der Hoeven, Karl Marx: The Roots of His Thought (Amsterdam: Van Gorcum, 1976), 12.

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In den Religionen, die zwei verschiedene Gottheiten oder göttliche Prinzipien kennen, ist die eine der beiden Gottheiten häufig die Quelle des Guten in der Welt und die andere die Quelle alles Schlechten und Bösen. Der dualistische Glaube des antiken Griechenlandes, den ich soeben erwähnte, ist ein markantes Beispiel. Die zwei göttlichen Prinzipien waren: (1) Materie, ein ursprünglicher Stoff, aus dem alles gemacht ist, und (2) Form, das Ordnungsprinzip, das diesen Stoff zur intelligiblen Welt formt, die auch Gegenstand unserer Erfahrung ist. Gemäss den Ausführungen mancher griechischer Denker war das göttliche Ordnungsprinzip logischer Natur, für andere war es von mathematischer Art. Auf den Menschen angewandt, lehrte dieser dualistische Glaube, dass menschliche Lebewesen aus einer Kombination von Form und Materie bestehen. Der menschliche Körper ist materiell; er erzeugt die Gefühle und Leidenschaften. Im Gegensatz dazu ist der menschliche Geist eine Verkörperung des Formprinzips, da er imstande ist, logisch und/oder mathematisch zu denken. In dieser Perspektive ist alles Gute, Schöne und Wahre von wesentlich rationaler Art und wird durch das rationale Denken erkannt. Das Böse und Missgestaltete wird hingegen durch die körperlichen Impulse irrationaler Gefühle und Leidenschaften geboren. Das menschliche Leben ist deshalb ein fortwährender Kampf zwischen der emotionalen und der rationalen Natur des Selbst, zwischen Körper und Geist. Ausgehend von der grundlegenden Dualität seiner beiden göttlichen Prin­ zipien, sah diese Art von paganem Glauben nicht nur die menschliche Natur, sondern das ganze Universum von Gegensatzpaaren durchdrungen: gut vs. böse, rational vs. irrational, Stabilität vs. Veränderung, Ordnung vs. Unordnung, Schönheit vs. Hässlichkeit, etc. Diese Perspektive erfreut sich auch in unserer heutiger Kultur grosser Popularität. Doch ungeachtet der Tatsache, dass sich viele Anhänger eines nicht-paganen Glaubens an diese dualistische Sicht der Dinge gewöhnt haben, steht letztere doch in Konflikt mit dem biblischen sowie dem pantheistischen Typ des religiösen Glaubens. 3.3

Der pantheistische Typ

Die wichtigsten Weltreligionen der Gegenwart, denen ein pantheistisches Abhängigkeitsverhältnis zugrunde liegt, sind der Buddhismus und der Hinduismus. Dieses Verhältnis kann gewissermassen als die Umkehrung der paganen Ordnung verstanden werden. Anstatt dass die göttliche Realität als ein Teilsegment der einen, durchgehenden Wirklichkeit aufgefasst wird, ist in pantheistischer Sicht all das, was wir als nicht-göttliche Realität erfahren, in Wirklichkeit Teil der göttlichen Realität, die sowohl unendlich wie allumfassend ist. Da wir

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3. Kapitel

aber keinen unendlich grossen Kreis zeichnen können, erzeugt dieser letzte Punkt eine Schwierigkeit, was die graphische Illustration der pantheistischen Sicht betrifft. Deshalb werde ich hier einfach stipulieren, dass der endliche Kreis in Abbildung 3 für einen unendlichen stehen soll.

Abbildung 3

Abbildung 3

Dieses Schema verdeutlicht, dass der pantheistische mit dem paganen Glauben die Überzeugung teilt, dass es nur eine, kontinuierliche Wirklichkeit gibt. Die beiden religiösen Perspektiven gehen jedoch darin auseinander, ob diese Wirk­lichkeit mehr als nur Göttliches enthält (paganer Glaube), oder ob das Gött­liche und die Wirklichkeit gleich umfassend sind, so dass das Nicht-Gött­ liche eine Unterteilung des Göttlichen darstellt (pantheistischer Glaube). Aufgrund dieses Unterschiedes können wir nun feststellen, dass vom paganen Standpunkt aus eine klare Trennlinie zwischen dem besteht, was göttlich ist, und dem, was es nicht ist. Aus pantheistischer Sicht ist diese Unterscheidung jedoch eine heikle Sache. Denn wenn das Nicht-Göttliche in seiner Gesamtheit Teil des Göttlichen ist, wie kann es dann überhaupt etwas geben, das nicht göttlich ist? Und wenn es so etwas nicht gibt, wie kann man dann zwischen dem einen und dem anderen unterscheiden? Die Antwort, die man aus pantheistischer Sicht auf diese Frage erhält, wurde im letzten Kapitel bereits angedeutet. Sie geht davon aus, dass das Göttliche in der Tat das Wesen und Sein aller Dinge ausmacht, aber dass wir Menschen die individuellen Dinge und Ereignisse unser alltäglichen Welt trotzdem als nicht-göttlich wahrnehmen. Deshalb besteht die Unterscheidung, die in den pantheistischen Traditionen gemacht wird, nicht zwischen einer wahrhaft göttlichen Dimension der Wirklichkeit und einer wahrhaft nicht-göttlichen. Die Unterscheidung verläuft vielmehr zwischen dem göttlichen Sein aller Dinge und der illusorischen Erfahrung der Existenz nicht-göttlicher Dinge. Der Graben zwischen unseren illusorischen, alltäglichen Erfahrungen (Maya) und der dahinter liegenden göttlichen Realität ist dermassen gross, dass die Schriften und Übungswege der pantheistischen Traditionen nicht nur diese Lehre verbreiten, sondern auf eine mystische Erfahrung der Einheit aller Dinge hinweisen. Nur durch eine solche mystische Erfahrung, so wird gelehrt, kann man

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den Schleier der Illusion ablegen; nur so kann man hinter die Welt der blossen Erscheinungen sehen und der göttlichen Realität gewahr werden, die dahinter verborgen liegt. Diese göttliche Wirklichkeit wird im Hinduismus BrahmanAtman genannt; Dharmakaya, die Leere, Soheit, Nicht-Sein, Nirwana (und andere Ausdrücke) bezeichnen sie im Buddhismus; im Taoismus heisst sie Tao. An dieser Stelle muss nochmals das radikale Ausmass betont werden, in dem die pantheistischen Traditionen die Welt, die sich unserer alltäglichen Erfahrung und Verstandeserkenntnis darstellt, für irreal halten. Es wird nicht nur gelehrt, dass die alltägliche Welt weniger real ist als die göttliche Wirklichkeit, die durch erstere verdunkelt wird; vielmehr ist alles an dieser Welt unwirklich. In diesen Traditionen zeigt die mystische Erfahrung nicht nur, dass das Gött­ liche Wesen und Sein aller Dinge, sondern auch die einzige Wirklichkeit ist. Ausser ihr gibt es nichts. In dieser Sicht sind noch die beständigsten Erfahrungen unserer Welt illusorisch.4 Zum Beispiel gibt es keine einzelnen Gegenstände, die sich von einander unterscheiden würden, keine Qualitätsunterschiede, nicht einmal der zwischen gut und böse. Im Grunde sind alle Dinge eins. Nur das Göttliche existiert. Vielen westlichen Menschen und Betrachterinnen erscheint diese Lehre seltsam und ungeniessbar, da sie zu logischen Widersprüchen führt. Als Antwort auf solche Kritik warnen diese Traditionen, dass man ohne die unverzichtbare mystische Erfahrung die (verborgene) Identität aller Dinge mit dem Göttlichen weder verstehen noch annehmen kann. Das kritische Argument, dass dieser Glaube selbst-widersprüchlich ist, übersieht – so die Verteidiger – dass das logische Denken ebenso Teil der illusorischen Wirklichkeit ist. Es ist Teil der Täuschung, die die Menschen davon abhält, den göttlichen Kern aller Dinge zu entdecken. Gemäss dem pantheistischen Abhängigkeitsverhältnis ist das Göttliche deshalb nicht nur nie als Teil oder Aspekt der Welt zu begreifen (wie im paganen Glauben); da die Logik zurückgelassen wird, kann das Göttliche vielmehr überhaupt nicht begriffen werden. Das ist der Grund, warum die hinduistischen und buddhistischen Traditionen auf der mystischen Erfahrung als dem einzigen Weg, zur Wahrheit des Göttlichen zu gelangen, insistieren. Die Differenz zwischen dem paganen und pantheistischen Abhängigkeitsverhältnis führt zu weiteren gewichtigen Unterschieden. Betrachten wir zum Beispiel die verschiedenen sekundären Glaubensüberzeugungen des Typs (3), 4 Siehe J.B. Noss, Man’s Religions (New York: Macmillan, 1980), 181. Natürlich gibt es auch Versionen der pantheistischen Tradition, die nicht so extrem sind und das Göttliche bloss als realer als einzelne Dinge der alltäglichen Erfahrung ansehen. Solche wichtigen Unterschiede sind typisch für die Tradition des Pantheismus; die vielen Lehrrichtungen unterscheiden sich weit mehr voneinander als beispielsweise die der Theisten.

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3. Kapitel

die unsere Interpretation des menschlichen Wesens und Daseins, inklusive der rechten Werteordnung leiten. Gemäss der schon skizzierten, einflussreichen griechischen Version des paganen Glaubens besteht der Grundirrtum der Menschen in der mangelnden Erkenntnis, dass der menschliche Geist dieselben Prinzipien verkörpert, die der gesamten Wirklichkeit zugrunde liegen. Damit einher geht die Unfähigkeit und das Versäumnis, die emotionalen Impulse zu überwinden, indem man die Rationalität zum höchsten Gut in seinem eigenen Leben und im Leben der Gesellschaft macht. In dieser Sicht besteht das richtige Verhältnis zum Göttlichen in einem Leben, das sich allein nach den Prinzipien der Vernunft richtet. Das ist das höchste Ziel im Leben, das zur wahren Glückseligkeit führt. Im Gegensatz dazu bestehen die pantheistischen Traditionen darauf, dass der Grundirrtum der Menschen in ihrem Festhalten an der Wirklichkeit der illusorischen Welt, einschliesslich ihrer vermeintlichen Rationalität, liegt. Da in pantheistischer Sicht kein Teil oder Aspekt der natürlichen Welt göttlich oder auch nur real ist, besteht das wahre Verhältnis zum Göttlichen in der Überwindung und Loslösung von der illusorischen Welt der gewöhnlichen Erfahrung. Allein auf diesem Weg gelangt man zur Entdeckung der wahren (göttlichen) Wirklichkeit. Das höchste Ziel ist gemäss dieser Auffassung nicht die rationale Ordnung des Lebens, sondern die totale Zurückweisung von gewöhnlicher Erfahrung und Verstand. Dies geschieht, wie bereits gesagt, durch die mystische Erfahrung der vollständigen Vereinigung mit dem Göttlichen. Diese Erfahrung bewirkt mehr als nur die Enthüllung des Göttlichen. Sie ist auch das Mittel zur Befreiung von der (unwirklichen) Welt der Illusion und des Leidens. Allen pantheistischen Traditionen gemeinsam ist deshalb die Lehre, dass die richtige Einstellung zum Göttlichen und das höchste Ziel im Leben die Suche nach Erleuchtung durch mystische Erfahrung ist. Wer in diesem Leben nicht zu dieser Erfahrung gelangt, wird wiedergeboren und durchschreitet ein weiteres Leben in der Welt der Illusion und des Leidens. Man glaubt, dass dieser Prozess (normalerweise über Millionen von Lebenszyklen) andauert, bis ein Mensch endlich durch die mystische Erfahrung erleuchtet wird, und ihm dadurch zukünftige Inkarnationen erspart bleiben. Einmal erleuchtet, ist dem Menschen Nirwana garantiert: der Zustand, in dem das (illusorische) individuelle Selbst im Göttlichen aufgeht „wie ein Wassertropfen im Ozean“. Das ist der Zustand der „unaussprechlichen Wonne“, die wahre Erfüllung der menschlichen Natur und die Glückseligkeit im eigentlichen und höchsten Sinn.

Typen von religiösem Glauben

3.4

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Der biblische Typ

Im Gegensatz zur paganen und zur pantheistischen Sicht der Dinge, verneint das biblische Abhängigkeitsverhältnis die Vorstellung einer einzigen, umfassenden Wirklichkeit. Im jüdischen Schöpfungsglauben, der auch für das Christentum und den Islam konstitutiv ist, unterscheidet sich Gott der Schöpfer (Allah) vom Universum, das er aus dem Nichts ins Dasein gerufen hat. In diesem Glauben ist das Göttliche nicht Teil des Universums, und ebenso wenig ist das Universum Teil der göttlichen Wirklichkeit. Zwischen dem Schöpfer und allem, was zu seiner Schöpfung gehört, besteht eine grundlegende Diskontinuität. Will Herberg hat diesen grundlegenden Unterschied treffend formuliert. Er braucht die Wendung „griechisch-oriental“ um sowohl die pagane wie auch die pantheistische Sicht zu bezeichnen, und den Ausdruck „hebräisch“ für das biblische Abhängigkeitsverhältnis. Herberg sagt: Hebräische und griechisch-orientalische Religion als Religion stimmen in der Bejahung einer absoluten und unhintergehbaren Realität überein, haben aber fundamental verschiedene Auffassungen dieser Realität. Im griechisch-orientalischen Denken, ob mystisch oder philosophisch, ist die letzte Realität eine ursprüngliche, unpersönliche Kraft … eine unaus­ sprechliche, unveränderliche, teilnahmslose göttliche Substanz, die den Kosmos durchwaltet oder vielmehr mit dem Kosmos identisch ist, insofern diesem eigentliche Wirklichkeit zukommt. Nichts könnte der normativen hebräischen Religion fremder sein … Im Gegensatz zur griechisch-orientalischen Auffassung von Immanenz, der gemäss das Göttliche alle Dinge durchdringt und deren Wirklichkeit ausmacht, bejaht hebräische Religion Gott als transzendente Person, die das Universum erschaffen hat, aber nicht ohne Blasphemie mit diesem identifiziert werden kann. Wo griechisch-orientalische Religion eine Kon­ti­nuität zwischen Gott und Universum sieht, insistiert hebräische Religion auf Diskontinuität.5 Aus diesem Grund heben die biblischen Traditionen keinen Teil oder Aspekt der erschaffenen Wirklichkeit zu göttlichem Status empor, noch verbannen sie das erschaffene Universum in den Rang der Illusion. Das Universum ist freilich insofern weniger real als Gott, als es von diesem abhängt, wo hingegegen Gott von überhaupt nichts abhängig ist. Obgleich abhängig, ist das Universum wirklich, weil es von Gott erschaffen ist. Und es ist von grosser Bedeutung, weil es dem Menschen Raum gibt, in Gemeinschaft mit Gott zu leben und ihm zu 5 W. Herberg, “The Fundamental Outlook of Hebraic Religion,” op. cit., 283.

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3. Kapitel

dienen. Der Kosmos ist sowohl von Bedeutung als auch vollständig abhängig; es gibt keinerlei Hinsicht, in der er nicht von Gott abhängig wäre. Jedes Ding, jedes Ereignis, jeder Sachverhalt, jeder Teil und Eigenschaft, jedes Faktum und jede Facette, jedes Gesetz und jede Norm – kurz, alles ausser Gott selbst – ist von Gott ins Dasein gerufen und bleibt von dem abhängig, der einzig göttlich ist. Abbildung 4 stellt das biblische Abhängigkeitsverhältnis dar:

Abbildung

Abbildung 4

Dieses Abhängigkeitsverhältnis erklärt, warum in den biblischen Traditionen der Offenbarung zentrale Bedeutung zukommt. Gott ist nicht so beschaffen, dass sein Wesen und seine Ziele durch die Erforschung des Universums, oder durch eine mystische Erfahrung im pantheistischen Sinn, entdeckt werden könnten. Dagegen sind die biblischen Traditionen alle vom Glauben durchdrungen, dass Gott selbst im Universum eine verständliche Offenbarung ­seiner Beziehungen zum Universum erschaffen hat, und vor allem seiner Beziehung zu den Menschen. Diese Glaubenslehren bilden die autoritativen Leitlinien für jede Gotteserkenntnis (einschliesslich der Interpretation von aussergewöhnlichen religiösen Erfahrungen). Sie lehren, dass Gott allein an sich göttlich ist und vermitteln den Gehalt des erlösenden und heilschaffenden Bundes; das heisst, sie umfassen auch die sekundären Glaubensüberzeugungen des Typs (3), die unverzichtbar für das rechte Verhältnis der Menschen zu Gott sind. Indem sich Menschen diesem Heilsbund anschliessen, werden sie Glieder des Reichs Gottes und gewinnen ewiges Leben. Im Gegensatz zu paganen Traditionen, ist die zentrale religiöse Erfahrung des Theismus also nicht auf einen Teil oder Aspekt der natürlichen Welt bezogen, sondern auf eine Sammlung von Schriften. Trotz allen Unterschieden kann der Islam deshalb Juden- und Christen ebenso als „Völker der Schrift“ anerkennen. Obwohl die biblischen Religionen die Rolle der persönlichen Erfahrung für den Glauben betont, machen sie nicht zur Bedingung, dass es sich dabei um eine „mystische“ Erfahrung handelt wie im Hinduismus und Buddhismus. Da Gott in biblischer Sicht die Schöpfung vollständig transzendiert, ist auch die Erfahrung der Vereinigung mit Gott niemals die Vereinigung mit seinem göttlichen Sein. Jegliche Gotteserfahrung ist vielmehr durch eine kreatürliche Wirklichkeit vermittelt und immer auf eine solche bezogen. Noch weniger führt

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eine religiöse Erfahrung dazu, dass man Teil von Gott wird. Das den Glaubenden verheissene Schicksal ist nicht die Auflösung in Gottes eigenem Sein. Gemäss den biblischen Religionen sind Menschen von Gott unterschiedene Kreaturen und werden es immer bleiben. Es sind individuelle Menschen, als Glieder der Körperschaft des Volkes Gottes, die die göttliche Liebe und Versöhnung erfahren. Und auch das ewige Leben in Gottes ultimativem Reich wird einem Menschen als einem besonderen Individuum geschenkt. Dieses Reich ist die Gemeinschaft mit Gott und allen Menschen, die Gott lieben; sie ist das wahre Glück und die Erfüllung der menschlichen Natur. Wie ein christlicher Katechismus festhält: „Frage: Was ist das höchste Gut des Menschen? Antwort: Gott zu verherrlichen und sich in Ewigkeit an ihm zu freuen.“ Es ist notwendig anzumerken, dass aus der Hervorhebung der unüberbrückbaren Differenz zwischen Gott und Schöpfung nicht folgt, Gott könne nicht in die Schöpfung eintreten und in ihr handeln; es bedeutet nicht, dass Gott unter den Menschen nicht anwesend sein, oder dass er nicht mit ihnen kommunizieren kann. Es bedeutet nur, dass seine Gegenwart und Selbstmitteilung immer dem menschlichen Verstehen angepasst sind, indem sie durch einen bestimmten Teil der Schöpfung vermittelt werden, dessen sich Gott für diesen Zweck bedient. Seine Kommunikation schiebt die menschlichen Fähigkeiten nicht beiseite; vielmehr hat Gott die Menschen so erschaffen, dass seine Offenbarung menschlicher Erfahrung und menschlichem Wissen zugänglich ist, so wie wir auch Gottes Welt verstehen können, um ihm darin zu dienen. Auch wenn die Propheten im Empfang der göttlichen Offenbarung ungewöhnliche Erfahrungen durchliefen war diese Offenbarung doch nicht von einer Art, dass sie von der gewöhnlichen Erfahrung und vom Verstand keinen Gebrauch machte, oder die Welt als blosse Illusion enthüllte. In biblischer Perspektive verdunkelt die Welt die Wirklichkeit Gottes nicht, wie das der Pantheismus lehrt. Die Welt wurde vielmehr geschaffen um Gott zu offenbaren. (Der Grund warum Menschen Gottes Offenbarung in der Natur und in seinem Wort nicht wahrzunehmen vermögen wird von den biblischen Autoren als „Sünde“ bezeichnet. Wir werden auf diesen Punkt in Kürze zurückkommen.) Obwohl aus biblischer Sicht Gott einerseits immer jenseits des menschlichen Begreifens ist, sind wir Menschen dennoch in der Lage, Wahres von und über Gott zu erfahren. Dies weil Gott zwei Dinge getan hat: Erstens hat er das Universum so geformt, dass es, recht besehen, über sich selbst hinausweist auf ihn, den transzen­denten göttlichen Ursprung. Zweitens hat er sich der menschlichen Erfahrung und dem menschlichen Verstand angepasst, und diese seine Selbst­ anpassung durch die Geschichte hindurch mitgeteilt. Das beinhaltet auch die Hervorbringung einer schriftlichen Aufzeichnung dieser Mitteilung in den biblischen Schriften.

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3. Kapitel

So ist jede Gotteserfahrung durch Gottes Selbstoffenbarung bedingt, und ist nie einfach nur die Frucht menschlicher Anstrengung, wie das in den pantheistischen Traditionen gelehrt wird. Die Rolle eines biblischen Propheten ist deshalb nicht die eines hinduistischen Swami oder die eines buddhistischen Meisters. Im Hinduismus und Buddhismus sind die Meister religiöse Experten, die aus eigener Initiative den Schlüssel zur Erfahrung des Göttlichen gefunden haben. Im Gegensatz dazu ist der Prophet ein Gesandter Gottes, ein erwählter Mensch, der die Botschaft Gottes ausrichten soll; er ist nicht ein Experte, der eine religiöse Wahrheit entdeckt hat, sondern ein Botschafter, dem Gott eine religiöse Wahrheit offenbart hat (tatsächlich ist es so, dass sich die Propheten oft darüber beklagten, sie würden die ihnen anvertraute Botschaft nicht verstehen). Die Initiative für jede Offenbarung liegt bei Gott, nicht bei den Menschen. Dazu kommt, dass in den biblischen Religionen die religiöse Erfahrung selbst niemals Massstab oder Norm für den Glauben ist. Vielmehr besteht die zentrale religiöse Erfahrung in der Entdeckung von Gottes Wort als Massstab und Norm des Glaubens. Anders gesagt, die Erfahrung selbst ist nie die letzte religiöse Autorität. Diese kommt allein Gottes Selbstoffenbarung zu. Das ist die umgekehrte Situation wie im Pantheismus, wo die mystische Erfahrung der letzte religiöse Bezugspunkt ist. Mit diesen Unterschieden bezüglich Erfahrung und Offenbarung geht eine weitere, wichtige Differenz einher. In pantheistischer Sicht müssen Menschen die Erlangung der mystischen Erfahrung über viele Leben hindurch anstreben. Erst in einer solchen Erfahrung werden sie erkennen, dass in Wahrheit alle Dinge eins sind, und so dem Fluch der endlosen Wiedergeburt entrinnen, also ins Nirwana eingehen. In biblischer Sicht aber gewähren die Vorkehrungen des Bundes schon jetzt Erlösung, und zwar all denen, die ihren Glauben und ihre Liebe auf Gott richten. Erlösung ist von Anfang an ein Geschenk Gottes und kein Verdienst, das man unterwegs erlangt. Die Gewissheit der Errettung ist deshalb integraler Bestandteil einer jüdischen, christlichen und muslimischen Existenz. Sie kommt nicht erst am Ende als Resultat einer Anstrengung, die über viele Leben hinweg gemacht werden muss. Natürlich geht auch nach biblischer Sicht der Versuch, Gott im täglichen Leben zu dienen, nicht ohne Selbstüberwindung von der Bühne. Die Antwort auf Gottes freies Geschenk der Liebe bedeutet manchmal Anstrengung und sogar Leiden. Die Vertiefung des Glaubens an Gott und der Liebe zu anderen Menschen ist unmöglich ohne Werke und Gebet. Diese sind oft von Schmerzen begleitet. Dennoch steht das letzte Heil der Gläubigen in den alltäglichen Versuchen, Gott zu dienen, nicht auf dem Spiel. Allein die Nähe der Beziehung zu Gott und das Ausmass des Lohnes, den die Gläubigen von Gott dereinst empfangen werden, sind davon berührt. Denn gemäss den biblischen Schrif­-

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ten hat jeder Mensch, der die Wahrheit der göttlichen Selbstoffenbarung in sein Leben aufnimmt und Gott liebt, die Verheissung auf Erlösung und das Geschenk des ewigen Lebens schon empfangen. Um die Darstellung der Unterschiede weiter fortzuführen, müssen wir auch auf die spezifisch biblische Sichtweise der menschlichen Natur eingehen, die in noch grösserem Gegensatz zur paganen und pantheistischen Auffassung des Menschen steht als diese zu einander. Im Gegensatz zur weit verbreiteten paganen Sichtweise, sieht die biblische Auffassung die Gefährdung des menschlichen Daseins nicht darin, dass Menschen einen Körper, Gefühle und Emotionen haben. Nach den biblischen Autoren kann der Geist, der Körper, die Emotionen, die Gedanken, etc. gut oder schlecht sein. Alles hängt davon ab, ob sie dazu verwendet werden Gott zu dienen oder nicht. W. Herberg bringt die Sache einmal mehr auf den Punkt: Bekannt und plausibel wie [die] dualistische Sicht vielen religiösen Menschen heute erscheinen mag, steht sie der hebräischen Auffassung dennoch diametral entgegen. Im authentisch hebräischen Glauben ist der Mensch keine Kombination zweier „Substanzen“, sondern eine dynamische Einheit … Der Körper, seine Impulse und Leidenschaften, sind nicht schlecht oder böse; als Teil der von Gott erschaffenen Welt sind sie unschuldig, und, wenn richtig geordnet, im eigentlichen Sinn gut. Andererseits ist der menschliche Geist auch nicht die „falsche Gottheit“ der Griechen. Geist ist die Quelle von Gutem und Schlechtem, denn Geist ist Wille, Freiheit, Entscheidung.6 In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass die biblische Vorstellung von Sünde nicht in erster Linie ein moralisches Fehlverhalten meint. Obwohl unethische Handlungsweisen tatsächlich „Sünden“ genannt, und als solche verurteilt werden, ist der zentrale Mangel der Menschen in biblischer Perspektive grundsätzlich religiöser Art. „Sünde“ ist der Name der condition humaine, die zwischen den Menschen und der Erkenntnis der göttlichen Wahrheit steht, und es ihnen deshalb verunmöglicht, Gott mit ihrem ganzen Leben zu dienen und zu lieben. „Sünde“ im religiösen Sinn bedeutet, dass etwas an die Stelle von Gott gesetzt wird; das heisst, einer falschen Gottheit zu folgen. Aus diesem Grund verlangt die Schrift zuerst, dass wir Gott lieben, um dann zugleich die Liebe zu unserem Nächsten wie zu uns selbst zu fordern – der Nächste ist ebenso wie wir als „ Ebenbild Gottes“ geschaffen. Nach biblischer Auffassung ist Sünde erst in zweiter Linie eine Frage von unmoralischen 6 Ebd., 284. Auf diese Problematik werde ich im 10. Kapitel näher eingehen.

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3. Kapitel

Absich­ten und Handlungen. Zuerst ist sie die Ausrichtung unseres Glaubens und unserer Liebe auf etwas Anderes als den Schöpfer. An Stelle Gottes wird etwas von Gott Erschaffenes als göttlich betrachtet. Wie es ein Rabbi vor langer Zeit sagte: Denn es wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten … welche die Wahrheit Gottes in die Lüge verwandelt und dem Geschöpf Verehrung und Dienst dargebracht haben statt dem Schöpfer (Röm 1,18). Es ist interessant, dieses Zitat von Paulus einmal im Licht des Gegensatzes zwischen paganer und biblischer Religion, wie er vom paganen Denker Alfred North Whitehead gezogen wurde, zu betrachten. Whitehead zitiert die in der Bibel gestellte Frage: „Kannst du die Tiefen Gottes erreichen oder die Vollkommenheit des Allmächtigen ergründen?“ (Hiob 11,7) Da der Text offensichtlich eine negative Antwort erwartet, macht Whitehead die treffende Bemerkung, die zugrunde liegende Haltung sei „gut hebräisch, aber schlecht griechisch“; oder, in meiner Terminologie, biblisch und nicht pagan. Whitehead schliesst dann die geistreich-bissige Bemerkung an, die biblische Sicht sei etwas für „weniger helle Geister, die sich daran ergötzen, dass die Grundfesten der Welt in dichtem Nebel gelegt wurden.“7 An anderer Stelle kommt Whitehead auf denselben Punkt zurück. Diesmal weist er sowohl die biblische wie die pantheistische Perspektive zurück, um dann der Überlegenheit des paganen Ansatzes Ausdruck zu verleihen, der die Verwandtschaft von menschliche Vernunft und göttlicher Weltordnung voraussetzt. Was ist der Status der beständigen Stabilität in der Ordnung der Natur? Es gibt die summarische Antwort, der gemäss die Natur auf eine hinter ihr zurückliegende, grössere Realität verweist. Diese Realität erscheint in der Geschichte des Denkens unter vielen Namen, als Absolutes, Brahma, als himmlische Ordnung, Gott … Mein Punkt ist der, dass jede summarische Schlussfolgerung, die von einer solchen Ordnung der Natur zur bequemen Annahme einer letzten, unhintergehbaren Realität springt … einer Verweigerung des rationalen Denkens selber gleichkommt. Wir müssen danach forschen, ob die Natur nicht ihrem eigenen Wesen nach selbsterklärend ist.8 7 A.N. Whitehead, Adventures of Ideas (New York: Mentor Books, 1955), 108. 8 A.N. Whitehead, Science and the Modern World (New York: Free Press, 1967), 92.

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Dieser klarsichtige, aus paganer Sicht formulierte Gegensatz zwischen paganem und biblischem Glauben korrespondiert perfekt sowohl mit der paulinischen Unterscheidung wie mit meinen Abbildungen, die die zentralen Unter­schiede zwischen paganen, pantheistischen, und biblischen Abhängigkeitsverhältnissen darstellen. Alles zusammen untermauert meine Behauptung, dass der pagane Glaube, zumindest in seinen nicht-rituellen Versionen, in der westlichen Kultur alles andere als ausgestorben ist. Die aufgezeigten Unterschiede zwischen den drei Ideenkomplexen, wie das Nicht-Göttliche vom Göttlichen abhängt, kratzen nur gerade an deren Oberfläche, indem sie einige der herausragendsten Merkmale vergleichen. Dennoch mögen sie vielleicht genügen, um drei Punkte zu verdeutlichen, die für das Verständnis der folgenden Kapitel wesentlich sind: (1) Wie grundlegend die Auffassungen allein schon darüber abweichen, was an sich göttlich ist, und wie sich dieses zum Nicht-Göttlichen verhält; (2) warum die hier vorgestellten Glaubenstypen unvereinbar sind; und (3) wie einfach es ist, den religiösen Charakter einer Überzeugung zu übersehen, wenn sie in einem fremden Kleid auftritt oder aus einer fremden Tradition stammt – besonders dann, wenn sie nicht mit einer kultischen Praxis verbunden ist. 3.5

Warum glauben, dass überhaupt etwas göttlich ist?

Nachdem ich die drei dominierenden Glaubenstypen erläutert habe, die in den grössten Religionen der Gegenwart zu finden sind, gehe ich zum Schluss dieses Kapitel auf die im ersten Kapitel aufgeworfene Frage ein, warum denn überhaupt etwas göttlich sein sollte. Die Frage ist, warum die Reaktion auf das bisher Gesagte nicht folgendermassen lauten sollte: „Man mag eingestehen, dass Sie auf das wesentliche Verbindungsglied zwischen den religiösen Glau­ benssystemen gestossen sind. Man mag eingestehen, dass religiöse Glaubensauffassungen in der Theoriebildung eine wichtige Rolle gespielt haben. Doch das ist nicht mehr als eine bedauernswerte Tatsache. Denn unvermeidbar ist sie bestimmt nicht. Warum sollten wir uns nicht einfach etwas mehr anstrengen, um unsere Theorien frei von jedem religiösen Überbau zu halten? Warum kann der Atheismus nicht in einer Weise ausgedehnt werden, dass nicht nur die Existenz von Göttern, sondern von all dem, was in Ihrem Sinn als göttlich gelten muss, ausgeschlossen ist?“ Der Frage, ob es eine Theorie vermeiden kann, einen religiösen Glauben zu beinhalten oder vorauszusetzen, soll später noch mehr Raum gewidmet werden. An dieser Stelle konzentriere ich mich auf den Punkt, ob die Behauptung „Nichts hat unbedingten Status“ irgendwie plausibel gemacht und begründet

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3. Kapitel

werden kann. Meine Position ist, wie gesagt, dass diese Auffassung keine kohärente Interpretation zulässt. Wir können uns anstrengen wie wir wollen, so meine Behauptung, es wird uns nicht gelingen, einen irgendwie fassbaren Sachverhalt zu spezifizieren, in dem nichts göttlichen Status hat. Natürlich können wir die Worte „Nichts hat unbedingten Status“ aussprechen und auch verstehen was sie meinen. Aber wir können uns keine Bedingungen ausdenken, unter denen dieser Satz wahr ist – so wie wir die Worte „viereckiger Kreis“ ausssprechen können, ohne dass es uns gelingt etwas zu denken, das ihnen entspricht. Doch vielleicht ist die Auffassung, dass allein das Universum existiert und dieses aus Gegen­ständen und Ereignissen besteht, die allesamt abhängig sind, die tragfähige Basis einer Perspektive, die ohne etwas an sich Göttliches auszukommen vermag? Wäre im dargestellten Fall nicht alles und jedes existierende Ding abhängig? Könnten wir dann nicht sagen, dass nur abhängige Dinge existieren, die entstehen, andere Dinge verursachen, und wieder vergehen? Ist dies nicht ein vorstellbarer Sachverhalt? Sollte er nicht genügen, um eine Welt zu haben, in der nichts Göttliches existiert? Die Antwort fällt negativ aus. Denn auch in diesem Ansatz bleibt, trotz der angestrengten Absicht eben das zu vermeiden, etwas zurück, das göttlichen Status beansprucht. Denn in dieser Sicht ist das gesamte Spektrum abhängiger Dinge göttlich. Da gemäss diesem Vorschlag nichts Anderes existiert als die einzelnen Elemente der Gesamtmenge, gibt es nichts, wovon diese Menge abhängen könnte. Es gibt nichts, das erklären würde, warum sie existiert; sie ist einfach da. Deshalb kommt es in der Beurteilung dieser Sicht gar nicht darauf an, dass jedes Ding und Ereignis innerhalb des Spektrums abhängig ist. Die Gesamtwirklichkeit als solche ist es nicht und fällt deshalb unter die Defi­nition von etwas an sich Göttlichem. Die Frage „Warum existiert es, und nicht viel­ mehr nichts?“ bleibt unbeantwortet. Der Inbegriff aller Dinge nimmt zwangs­ läufig unbedingten Status ein. Man könnte nun einwenden wollen, in der vorgeschlagenen Sichtweise sei das Gesamtspektrum der Dinge sehr wohl von etwas abhängig, nämlich von den Elementen, die es umfasst. Denn es kann ja nicht ohne diese existieren. Doch dieser vermeintliche Einwand beruht auf einer Konfusion. Das Gesamtspektrum ist kein individueller Gegenstand, der von seinen Teilelementen abhängig wäre. Ich habe das Wort „Spektrum“ für den gesamten Komplex abhän­giger Dinge und Ereignisse verwendet. Dieses Spektrum ist deshalb nicht von seinen Elementen abhängig, weil es mit seinen Elementen identisch ist. Die Aussage, dass das Spektrum von seinen Elementen abhängig ist, läuft darauf hinaus, dass es von sich selbst abhängt. Aber das ist nur eine andere, obgleich weniger deutliche, Weise zu sagen, dass es nicht-abhängig ist.

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Für den Fall, dass die Begründung meiner Zurückweisung von „Nichts ist göttlich“ nicht klar genug geworden ist, will ich sie auf anderem Weg nochmals vorbringen. Die Gesamtwirklichkeit, egal wie konzipiert, müsste insgesamt oder teilweise einfach darum göttlich sein, weil es nichts Anderes gibt, von dem sie abhängen könnte. Der einzige Weg, auf dem man diese Schlussfolgerung vermeiden könnte, geht von der Behauptung aus, dass der Ausdruck „Gesamtwirklichkeit“ unsinnig ist. Doch warum sollte man das annehmen? Ich zumindest glaube zu wissen, was darunter zu verstehen ist: Alles was ist, was immer man sich darunter auch vorstellen muss. Wenn die Gesamtwirklichkeit unabhängig ist, dann trifft eine Version des pantheistischen Abhängigkeitsverhältnisses die Sache. Wenn die Gesamtwirklichkeit teils unabhängig, teils ­abhängig ist, dann trifft entweder das pagane oder das theistische Abhängig­ keitsverhältnis zu. Falls das unabhängige Segment im abhängigen enthalten ist und dieses durchdringt, dann hat das pagane Denken die Wahrheit der Erkenntnis auf seiner Seite. Doch wenn das unabhängige Segment der Gesamtwirklichkeit das abhängige Segment transzendiert (nicht Teil davon ist), dann ist das biblische Abhängigkeitsverhältnis das richtige. Verschiedene Dinge müssen zu diesem Argumentationsgang gesagt werden. Den ersten Punkt habe ich schon erwähnt als ich gesagt habe, dass die drei Abhängigkeitsverhältnisse der gegenwärtigen und vergangenen Religionen dieser Welt nicht die einzig möglichen sind. Diese drei wurden nur deswegen verhandelt, weil sie faktisch das Feld beherrschen, und nicht weil ich von der Voraussetzung ausgehe, dass es keine anderen geben könnte. Zweitens, was ich über diese Abhängigkeitsverhältnisse gesagt habe trifft ganz unabhängig davon zu, welche weiteren Beschreibungen des an sich Göttlichen man als richtig annimmt. Ich habe soweit nur von den Abhängigkeitsverhältnissen, und nicht vom vermeinten Wesen des an sich Göttlichen gesprochen, von denen die nicht-göttliche Wirklichkeit abhängen soll. Es ist durchaus denkbar, dass jemand eines dieser drei Abhängigkeitsverhältnisse für gültig erachtet, jedoch eine andere Vorstellung dessen, was göttlichen Status besitzen soll, vertritt, als die, die von den religiösen Traditionen überliefert wird, die in jenem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis ihre historischen Wurzeln haben. Mein Argument versucht nicht zu zeigen, welches Abhängigkeitsverhältnis oder welche Vorstellung des an sich Göttlichen richtig ist. Es zeigt nur, warum die Behauptung, nichts habe an sich göttlichen Status, keinerlei Sinn ergibt. Wir können uns nicht den Anflug einer Vorstellung machen, wie eine Wirklichkeit zu denken ist, die ohne etwas Göttliches auskommt. Schliesslich sollte auch noch bemerkt werden, dass dieses Argument keineswegs zeigt, dass jeder Mensch einen Glauben an etwas an sich Göttliches hat. (Ich bin davon überzeugt, weil es in der Heiligen Schrift bezeugt ist, und

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3. Kapitel

nicht in erster Linie wegen des vorgelegten Arguments). Die Tatsache, dass eine Auffassung keine kohärente Alternative zulässt, garantiert schliesslich nicht, dass alle dies auch glauben. Damit sind wir am Ende unserer Diskussion des religiösen Glaubens angelangt. Wir wenden uns jetzt der Frage zu, was eine Theorie ist, und werden einige der wichtigsten Theorietypen unterscheiden. Dies ermöglicht es uns zu erkennen, wie und warum die eine oder andere Beschreibung des an sich Göttlichen eine unverzichtbare und grundlegende regulative Kontrolle auf jede abstrakte Theorie ausübt.

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Teil 2 Theorien



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Was ist eine Theorie? 4.1 Einleitung Wir beginnen mit der Frage, warum man sich ausgerechnet mit dem Verhältnis zwischen religiösem Glauben und Theorien beschäftigen sollte. Vielleicht steckt hinter dieser Frage das Gefühl, dass zum richtigen Verständnis des Lebens weit mehr gehört als wir je aus Theorien lernen könnten. Sind Theorien ausserdem nicht höchst technische Angelegenheiten, die nur von Wissenschaftern und Philosophinnen verstanden werden können? Tragen sie letztlich nicht sehr wenig dazu bei, wie die meisten Menschen leben, und sich selbst und ihr alltägliches Leben verstehen? Nun, einige Theorien sind tatsächlich sehr technisch und können nur von Experten verstanden werden. Doch viele andere sind es nicht. Die Vorstellung, dass sich Theoriebildung jenseits des durchschnittlichen Verständnishorizonts gewöhnlicher Menschen abspielt, rührt vermutlich von der Assoziation des Wortes „Theorie“ mit den allerneuesten Erkenntnisfortschritten im Bereich der Physik, Chemie oder Astro­nomie her. Doch sollten wir uns bewusst sein, dass es auch äusserst einflussreiche Theorien zur Natur politischer Rechte, menschlicher Erfüllung, ethischen Verhaltens, der Kunst, der Erziehung von Kindern, medizinischer Behandlungsmethoden, und öffentlicher Bildung gibt – um nur einige wenige zu nennen. Viele dieser Theorien liegen durchaus im Fassungsvermögen der meisten Menschen. Und man kann sich fragen, ob überhaupt jemand existiert, der zu keinem dieser Dinge eine Theorie hat. In Tat und Wahrheit ist es wohl so, dass die meisten Menschen sehr stark von Theorien beeinflusst sind. Ein weiterer Grund, warum wir uns mit dem Verhältnis zwischen religiösem Glauben und Theorien beschäftigen müssen, liegt in der Autorität, die viele Theorien für sich beanspruchen, besonders in den Naturwissenschaften. Es herrscht die Überzeugung, dass eine wissenschaftliche Theorie, wenn sie einmal veröffentlicht, getestet und von den meisten Experten akzeptiert ist, den höchsten Massstab zur Bewertung des Wahrheitsgehalts dessen bildet, was in ihrem Bereich liegt. Es folgt auf der Hand, dass wenn ein religiöser Glaube und eine weit herum akzeptierte Theorie in Konflikt geraten, die Ablehnung der Theorie zugunsten des religiösen Glaubens an schiere Perversion grenzt. In den letzten hundertfünfzig Jahren wurde diese Schlussfolgerung jedenfalls wiederholt gezogen, von Vertretern der Biologie Darwins, der Psychologie

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_005

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Freuds, und der marxistischen Auffassung von Politik, um nur gerade die bekanntesten Beispiele zu erwähnen. Können diejenigen von uns, die an Gott glauben, den Glauben annehmen, Theorien seien die höchste Wahrheitsinstanz? Sind Theorien wirklich neutral in Bezug auf den religiösen Glauben? Verdienen sie unsere uneingeschränkte Loyalität, wie so oft zu vernehmen ist? Wenn ja, sind Theorien tatsächlich in der Lage, über Wahrheit oder Rationalität des religiösen Glaubens zu entscheiden? Und wie sollen wir uns zur verbreiteten Ansicht verhalten, Theorien seien für einen Bereich des Lebens zuständig, der religiöse Glaube für einen anderen? Ist das eine befriedigende Lösung des Problems, wie der Glaube an Gott und die Theoriebildung zu einander stehen? Um diese, und andere wichtige Fragen zu beantworten, müssen wir zuerst klären, was Theorien eigentlich sind, um dann ihr Verhältnis zu primär religiösen Glaubensvorstellungen herausarbeiten zu können. 4.2

Was ist eine Theorie?

Die Seele einer Theorie ist ihre Hypothese. Eine Hypothese wiederum ist eine intelligente und sachkundige Vermutung, die zur Erklärung von irgendetwas aufgestellt wird. Nun folgt aus der Tatsache, dass alle Hypothesen Vermutungen sind, nicht, dass alle Vermutungen auch Hypothesen wären; denn nicht alle Vermutungen wollen etwas erklären. Zum Beispiel raten wir manchmal und stellen Vermutungen an, um einen Preis zu gewinnen, oder um eine wit­ zige Pointe zu erzielen. Im folgenden werden wir uns demnach nur mit den Vermu­tungen beschäftigen, die etwas erklären wollen, mit den spezifischen Vermutungen eben, die wir „Hypothesen“ nennen. Gleich zu Beginn möchte ich darauf aufmerksam machen, dass ich mich der gewöhnlichen Praxis anschliesse, die „Hypothese“ und „Theorie“ als austauschbare Ausdrücke nimmt, um damit eine einzelne erklärende Vermutung oder eine Reihe eng verwandter Erklärungen (zusammen mit ihren Anfangsbedingungen und Hintergrundannahmen) zu bezeichnen. Es gibt jedoch noch eine weitere Verwendungsweise von „Theorie“, die ich nicht akzeptieren kann. Es ist die von vielen gegenwärtigen Autoren geteilte Gewohnheit, jede beliebige Art von Erklärung eine Theorie zu nennen, egal ob diese aus Hypothesen besteht oder nicht. Für diese Autoren ist schlicht jede erklärende Darstellung, Interpretation, oder Verständnishilfe eine Theorie. Doch solch eine Verwendung des Ausdrucks „Theorie“ ist verwirrend und irreführend, da sie gerade das verdunkelt, was eine Theorie von anderen Er­ klärungen abhebt. Zum Beispiel lässt dieser Sprachgebrauch die Möglichkeit

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nicht zu, zwischen einer Theorie und einem Mythos zu unter­ scheiden. In vielen Mythen wurden die Kräfte der Natur personifiziert und die Beziehungen zwischen ihnen erklärt, wie wir die Beziehungen zwischen Menschen ­erklären würden. Es war dieser spezifische Typ von Erklärung, den die Philo­ sophen der griechischen Antike durch Hypothesen ersetzten, die verschiedene Phänomene durch deren Eigenschaften und die Gesetzmässig­keiten, denen sie unterworfen sind zu erklären suchten. Die vorgeschlagenen Hypothesen wurden dann zum Gegenstand der Debatte, indem Argumente produziert, und Beweismaterial für oder gegen sie herangezogen wurde. Da wir zur Erklärung der Natur nicht länger solche personifizierenden Mythen bilden, mag der Unterschied zwischen ihnen und Theorien vielleicht unwichtig erscheinen. Doch greifen wir, von Mythen einmal abgesehen, auf andere Erklärungen zurück, die keine Theorien sind. Zum Beispiel sind die Anweisungen, wie man zu meinem Büro kommt, oder wie man einen Helikopter fliegt, gewiss auch Erklärungen. Diese beinhalten jedoch keine Hypothesen und sollten deswegen nicht Theorien genannt werden. Deshalb werde ich den Ausdruck „Theorie“ nur für diejenigen Erklärungen verwenden, die mit Hypothesen verbunden sind und durch Argumente und Beweise erhärtet oder entkräftet werden. Wenn wir von der Definition einer Theorie als einer erklärenden Vermutung ausgehen, wird sofort ersichtlich, dass die Erzeugung von Theorien nicht das ausschliessliche Geschäft von Wissenschafterinnen und Philosophen ist. Ein Fahnder stellt Theorien über einen Fall auf, an dem er arbeitet; eine Autofahrerin hat eine Theorie, was hinter den seltsamen Geräuschen stecken mag, die der Motor von sich gibt; ein Büroangestellter schlägt eine Erklärung vor, warum der Chef heute so übel gelaunt ist. Da alle diese Vermutungen zur Erklärung von etwas angestellt werden, handelt es sich dabei genauso um Theorien, wie bei den Modellen der Atomphysik oder der Freudschen Psychologie. Darüber h ­ inaus sind beide Arten von Theorien – alltägliche und wissenschaftlichphilosophische – durch dieselbe Frustration motiviert: Sie werden immer dann aufgestellt, wenn die Antwort auf eine Frage nicht direkt entdeckt werden kann. Wenn das passiert, suchen und rätseln wir nach einer Antwort. Dann finden sich aber auch beträchtliche Unterschiede zwischen Theorien, wie sie in Wissenschaft und Philosophie aufgestellt werden, und solchen, die in Haus und Garten üblich sind. Zwei dieser Unterschiede haben fast univer­ sale Anerkennung gewonnen: 1) Theorien in Wissenschaft und Philosophie sind abstrakter als Alltagstheorien;1 2) die Methoden zur Beurteilung wissen­1 E. Nagel, The Structure of Science (New York: Harcourt, Brace & World, 1961), 1–28; J. Kemeny, A Philosopher Looks at Science (New York: Van Nostrand Rienhold, 1959), 156 ff.; R. Giere, Understanding Scientific Reasoning (New York: Holt, Reinhart & Watson, 1979), 61, 80, 163; M.

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schaftlicher und philosophischer Theorien sind sehr viel komplexer und ausgefeilter. Diese Komplexität rührt einerseits von der Abstraktheit der Theorien her, andererseits aber daher, dass verschiedene Theorien zwar dieselben Phänomene erklären wollen, dabei aber oft in Konflikt zueinander geraten. Die Methoden zur Überprüfung einer Theorie sind deshalb nicht nur auf deren interne Stimmigkeit ausgelegt, sondern auch auf den Vergleich mit konkurrierenden Theorien. Im Verlauf dieses Kapitels werden wir die wichtigsten Unterschiede zwischen hoch abstrakten und alltäglichen Theorien genauer anschauen. Das ist deshalb notwendig, weil die Existenz dieser Unterschiede zwar weit herum gesehen wird, ihnen aber nur selten auf den Grund gegangen wird, und ihre weitreichenden Konsequenzen deshalb nur selten zu Tage kommen.2 Ich Martin, Concepts of Science in Education (New York: Scott, Foresman, 1972), 50–58; N. Rescher, Scientific Explanation (New York: Free Press, 1970), 8–24; J.J.C. Smart, Between Philosophy and Science (New York: Random House, 1968), 53–88; M. Wartofski, Conceptual Foundations of Scientific Thought (London: Macmillan, 1968), 35, 240; G. Gale, Theory of Science (New York: McGraw-Hill, 1979), 193–235; W. Balzer und C.U. Moulines, eds., Structuralist Theory of Science: Focal Issues, New Results (Berlin: Walter de Gruyter, 1996), 1–13; M. Morrison und M.S. Morgan, eds., Models as Mediators: Perspectives on Natural and Social Sciences (Cambridge: Cambridge University Press, 1999), 10–37; K. Popper, Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis, Band 10 aus Gesammelte Werke in deutscher Sprache (Tübingen: Mohr Siebeck, 2009). U. Mäki, “Isolation, Idealization and Truth in Economics,” in B. Hamminga und N.B. de Marchi, eds., Idealization VI: Idealization in Economics. Poznan Studies in the Philosophy of the Sciences and the Humanities, vol. 38 (Amsterdam: Rodopi, 1994), 147–68. 2 Die hier dargelegten Kernaussagen sind eine Zusammenfassung von Dooyeweerds Position (New Critique, siehe bes. vol. 1, 38ff). Dooyeweerd benützt seine Abstraktionsanalysen als Grundlage für eine „transzendentale Kritik“ von Theorien. Damit meint er, dass Abstraktion (zumindest teilweise) eine Antwort auf die transzendentale Frage ist, die lautet: Was macht Theorien möglich? Während Dooyeweerd eingesteht, dass der Ansatz, den er verfolgt, Kant geschuldet ist, ist doch seine eigene Entwicklung davon (und seine eigenen weiterführenden Theorien) wesentlich nicht-kantisch. In aller Kürze: Dooyeweerd unterstreicht, dass Kant auf seine transzendentale Frage: „Was macht Erfahrung möglich?“ sofort eine Theorie anbietet, die diese Frage beantwortet: ohne die nächste, offensichtliche, kritische Frage zu stellen, nämlich: „Was macht Theorien möglich?“ Daraus resultiert, so Dooyeweerd, dass Kant die kritische Grundhaltung nicht aufrechterhalten kann. In dieser Hinsicht scheitert Kants Bemühung genau in der Weise, die R. Chisholm in The Foundations of Knowing (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1982), 95–99 allen vorangehenden transzendentalen Ansätzen vorwirft. Im Gegensatz dazu hält Dooyeweerd die transzendentale Grundhaltung aufrecht, indem er eine deskriptive Analyse der Ausübung hoher Abstraktion formuliert, die der Bestätigung durch eigene Selbstreflexion unterworfen ist. Aufgrund dieser Art von Bestätigung nennt Dooyeweerd seine Beschreibung der Abstraktion „transzendental-empirisch“, da sie weder auf apriorischen Annahmen beruht noch auf einer Schlussfolgerung, deren Prämissen ver-

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­ eise auf diesen Punkt hin, weil sich herausstellen wird, dass unter diesen w Konse­quenzen Dinge sind, ohne deren Beachtung eine adäquate Darstellung des Verhältnisses zwischen Theorien und religiösem Glauben nicht möglich ist. Wir brauchen also zunächst eine Erläuterung dessen, was unter Abstraktion zu verstehen ist; danach werden wir uns auf das konzentrieren, was wissenschaftliche Theorien von philosophischen Theorien unterscheidet. Mit diesen Erkenntnissen ausgerüstet, werden wir uns zwei verschiedenen Arten von abstrakten Hypothesen zuwenden, die sowohl in wissenschaftlichen wie in philosophischen Theorien eine Rolle spielen. Schliesslich werden wir das Bild mit der Diskussion verschiedener Leitprinzipien zur Bewertung von Theorien dieser beiden Typen abrunden. 4.3 Abstraktion Obwohl oft davon ausgegangen wird, dass wissenschaftliche und philosophische Theorien hoch abstrakt sind, wird selten geklärt, was mit „abstrakt“ und „hoch“ eigentlich gemeint sein soll. Ein naheliegender Versuch diesem Fragekomplex näher zu kommen, geht von der wörtlichen Bedeutung dieser Ausdrücke aus: „Abstrahieren“ meint etwas absondern, etwas von seinem weiteren Hintergrund (mental) abheben. Diese Aktivität ist praktisch dieselbe wie die Aufmerksamkeit auf etwas ausrichten; eine Aktivität also, die wir täglich ausüben. Wenn wir zum Beispiel nach einem Buch mit grünem Umschlag Ausschau halten, suchen wir das Büchergestell nach allen Büchern mit grünem Umschlag ab. Um das zu tun, müssen wir die Farbe grün von allen anderen Farben herausheben, und wir müssen die Farbe eines jeden Buches von seinen anderen Merkmalen und Eigenschaften unterscheiden. Diese Art von Abstraktion ist uns so geläufig, dass wir ihr für gewöhnlich keine Aufmerksamkeit schenken. Zum Beispiel gehen wir etwas aus dem Weg, neint werden könnten. Ferner bietet Dooyeweerds Erklärung der hohen Abstraktion nicht so sehr die Grundlage für irgendeine spezifische Theorie; vielmehr kann sie herangezogen werden, um Kohärenz-Kriterien für alle Theorien zu entwickeln. Daher verwendet sie Dooyeweerd im Gegensatz zu Kant beispielsweise nicht für den Beweis einer vom menschlichen Gedanken unabhängigen Welt – was, wie Straud (“Transcendental Arguments,” Journal of Philosophy 65, no. 9 [1968], 241–56) gezeigt hat, unmöglich auf der Basis von transzendentalen Argumenten möglich ist. Dooyeweerds Kriterien zeigen aber, warum Theorien, die versuchen die Ablehnung einer Welt ausserhalb der menschlichen Erfahrung zu rechtfertigen, diese Kriterien verletzen und daher Inkohärenzen verfallen, die sie selber blossstellen. Diese Kriterien werden später in diesem Kapitel dargelegt, und eine Zusammenfassung von deren Anwendung auf Kants Theorie findet der Leser in der Fussnote 18.

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das schlecht riecht, oder wir schätzen etwas zu gross ein, damit es in einem bestimmten Behälter Platz hätte, oder wir ziehen eine Handlungsweise einer anderen vor, weil sie fairer ist. Gewöhnlich wie diese Handlungen sind, verlangen sie doch, dass wir zunächst Geruch, Grösse oder Fairness von allen anderen Eigenschaften derjenigen Dinge abstrahieren, die schlecht riechen, zu gross sind, oder fairer sind. In solchen Fällen geschieht die mentale Hervorhebung jener Eigenschaften aber nicht so, dass letztere von den Dingen oder Ereignissen isoliert würden, die diese Eigenschaften aufweisen. Das heisst, auf dieser Abstraktionsstufe richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht in einem solchen Ausmass auf Geruch, Grösse etc., dass die Kontinuität dieser Eigenschaften zu allen anderen Eigenschaften ihrer Träger unterbrochen würde. Auf dieser Stufe wird eine Eigenschaft, obwohl hervorgehoben und unterschieden, noch immer als Merkmal desjenigen Gegenstandes erfahren, dessen Eigen­schaft sie ist. Ich werde dies die niedrige Abstraktionsstufe nennen. Im Kontrast dazu sind wir aber auch in der Lage, den Fokus unserer Aufmerksamkeit so zu intensivieren, dass eine Eigenschaft tatsächlich von seinem Träger isoliert wird, um so unsere Aufmerksamkeit auf die Eigenschaft selbst zu richten. Diese werde ich hohe Abstraktion nennen. Da diese hohe Abstraktionsstufe ein derart wichtiges Element von wissenschaftlichen und philosophischen Theorien ist, werde ich den Unterschied zur niedrigen Abstraktionsstufe etwas eingehender erläutern. Nehmen wir zum Beispiel jemand, der soeben ein neues Auto gekauft hat und es einer Gruppe von Freunden zeigt. Eine umstehende Person sagt, dass sie die Farbe des Autos mag, jemand anders, der Wagen sehe gut aus, andere wiederum fragen, wie viel er gekostet hat oder wie viel er wiegt. Alle diese Bemerkungen zeigen, dass die Sprecher auf einer niederen Stufe verschiedene Eigenschaften des Autos abstrahiert haben: dessen Farbe, Aussehen, Preis und Gewicht. Doch keine dieser Eigenschaften wurde vom Auto getrennt; sie wurden vielmehr als Eigenschaften dieses Autos erfahren und auch gedacht. Wenn wir uns jedoch auf die Eigenschaft des Gewichts selber konzentrieren, unabhängig von diesem Auto oder eines jeden anderen konkreten Gegenstandes, würden wir Gewicht in hoch abstrakter Weise auffassen. Andere Eigenschaften wie Geschwindigkeit, Masse, Dichte, und Volumen können ebenso isoliert werden. In dieser Weise rüstet uns das hoch abstrakte Denken mit einer besonderen Art von Begriffen aus, die ohne dessen Hilfe nicht zur ­Ver­fü­gung stünden. Diese Begriffe eröffnen eine neue Dimension der Theorie­ bil­dung. Sie ermöglichen es uns, Hypothesen sowohl über hochabstrakte Eigen­schaften, Funktionen, Relationen, etc. aufzustellen, wie auch über die Dinge und Ereignisse, deren Eigenschaften, Funktionen, Relationen, etc. sie

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sind. Die Verwendung hoch abstrakter Begriffe macht es uns möglich, sowohl Abstraktionen wie auch die Dinge und Ereignisse, die wir weiterhin im ununterbrochenen Zusammenhang ihrer Eigenschaften erfahren, zu erklären. Indem wir Eigenschaften abstrahieren, können wir nach möglichen Beziehungen zwischen diesen Eigenschaften und nach Kombinationen und Mustern in ­diesen Beziehungen fragen; und all das, unabhängig von den konkreten Gegenständen und Ereignissen, zwischen denen diese Beziehungen und Beziehungsmuster auftreten.3 Die in der Theoriebildung wichtigsten Relationen, die auf diesem Wege gefunden werden, heissen Gesetze. Zu den Gesetzen, die zwischen den eben erwähnten Eigenschaften gelten, gehören zum Beispiel diese: Impuls = Masse × Geschwindigkeit, oder Dichte = Masse / Volumen Gesetze, die für andere Eigenschaften gelten, sind zum Beispiel die Bewegungsgesetze, die Gesetze der Thermodynamik, oder Einsteins berühmter Satz E = mc2. Die Fähigkeit zum hoch abstrakten Denken gestattet uns, Fragen bezüglich bestimmter Eigenschaften zu stellen; Fragen, die wir nicht stellen könnten, ohne die Eigenschaften von den Dingen zu abstrahieren, denen sie anhaften. Und wir könnten die gestellten Fragen nicht beantworten, wenn es uns nicht gelingen würde, Relationen zwischen eben jenen Eigenschaften zu isolieren – vor allem Gesetzesrelationen. Die meisten Theorien in Wissenschaft und Philosophie sind so beschaffen, dass man ohne hohe Abstraktion weder die Fragen versteht, die dahinter stehen, noch die Antworten, die auf diese Fragen gegeben werden. Dazu kommt, dass die Erbringung von Argumenten oder Indizien für oder gegen die Wahrheit solcher Theorien ebenso hohe Abstraktion fordert. Tatsächlich sind die Argumente für eine Theorie oft noch ausgeklügelter und raffinierter als die Hypothesen selber. Wissenschaftliche und philosophische Theorien unterscheiden sich demnach von common sense Theorien, dass sie mindestens in einer der drei fol­ genden Hinsichten von hoher Abstraktion Gebrauch machen: 1) in der Frage­stellung, auf die die Theorie eine Antwort geben soll; 2) in der Konstruktion von Hypothesen, die als Antwort in Frage kommen; oder 3) in der Beurteilung des Wahrheitsgehaltes der Hypothesen.4 Da ich im folgenden nur noch 3 Siehe Nagel, Structure of Science, 4, 11. 4 Hier sind einige Beispiele der drei Möglichkeiten, wie hohe Abstraktion in Theorien involviert sein kann: (1) Es bedarf keiner hohen Abstraktion, um sich darüber zu wundern, warum Wasser immer Feuer löscht; es bedarf ihrer sehr wohl, um zu fragen, wie Hitze von einem Objekt zum anderen transferiert wird. (2) Es bedarf keiner hohen Abstraktion, um die Hypothese zu formulieren, dass Wasser nicht jede Art von Feuer löscht, aber es bedarf ihrer,

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Theorien diskutiere, die auf hoher Abstraktionsstufe angesiedelt sind, werde ich nicht mehr explizit auf diese Unterscheidungen eingehen. Der Ausdruck „Theorie“ wird sich fortan immer auf den hoch abstrakten Typ beziehen, und der Ausdruck „Abstraktion“ auf hohe Abstraktion anstatt auf die blosse Hervorhebung der Eigenschaft eines Dinges, bei der die Eigenschaft nicht vom Ding isoliert wird. 4.4

Aspekte der Erfahrung

Zusätzlich zu den drei soeben besprochenen, Rollen spielt die hohe Abstraktion eine weitere, grundlegende Rolle in der Theoriebildung. Wir abstrahieren nicht nur einzelne Eigenschaften, Beziehungen, und Beziehungsmuster, wir abstrahieren auch ganze Arten davon. Betrachten wir die eben erwähnten Eigenschaften: Gewicht, Masse, Impuls und Dichte. Wir sehen, dass sie, und die Gesetze, die zwischen ihnen gelten, gemeinsam die weitere Eigenschaft teilen, physischer Art zu sein. Die Unterscheidung dieser umfassenden, übergeordneten Art von Eigenschaften und Gesetzen beruht deshalb auf einer weiteren Abstraktion neben den abstrahierten Eigenschaften und Gesetzen, die von dieser Art sind. Die Abstraktion von einzelnen Eigenschaften und Gesetzen geschieht also direkt an den Dingen und Ereignissen der gewöhnlichen Erfahrung; doch die Idee der Gattung, der sie angehören, ist eine Abstraktion von Abstraktionen. Einmal erkannt, dienen solche Gattungsbegriffe der Theoriebildung, i­ ndem sie die Abgrenzung von verschiedenen Forschungs- und Untersuchungsbereichen ermöglichen; im obigen Beispiel war es der physische Erfahrungsbereich, der als Forschungsgebiet isoliert wurde – das Gebiet für die Theorien der Physik, mit allen ihren Untergebieten und Verzweigungen. Auf dem selben Weg wurden viele andere Arten von Eigenschaften-undGesetzen abstrahiert und zu distinkten Forschungsgebieten gemacht. Biologische Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten sind Gegenstand der Biologie, räumliche Eigenschaften und Gesetze stecken hingegen das Gebiet der Geometrie ab. Theorien in Ökonomie und Ethik entspringen gleichermassen der Isolierung von Eigenschaften und Gesetzen der jeweiligen Arten. Das er­ möglicht sowohl die Erforschung der Beziehungen zwischen verschiedenen Eigenschaften innerhalb dieser Bereiche als auch die Erforschung von deren um die Hypothese zu formulieren, dass Hitze durch den Zusammenstoss von schnell vibrierenden Molekülen mit weniger schnell vibrierenden Molekülen transferiert wird. (3) Es bedarf keiner hohen Abstraktion, sich den Test auszudenken, Wasser über unterschiedliche Feuer zu giessen, bis man eines findet, dass sich nicht mit Wasser löschen lässt; es bedarf ihrer aber, um sich Argumente und Tests zur Theorie des molekularen Hitzetransfers auszudenken.

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Verhältnis zu den einzelnen Dingen, die diese Eigenschaften besitzen. Über die letzten sechsundzwanzig Jahrhunderte sind so stetig neue Arten abstrahiert worden, die zu eigenständigen wissenschaftlichen Forschungsdisziplinen w ­ urden, mit ihren je spezifischen Weisen der Theoriebildung. Unter den wichtigsten Arten von Eigenschaften-und-Gesetzen die als theoretische Forschungs­bereiche isoliert werden konnten, sind mindestens die folgenden zu finden (die einzelnen Bereiche und deren Anordnung soll in späteren Kapiteln ausführlicher behandelt werden):

• fiduziär • ethisch • justitiär • ästhetisch • ökonomisch • sozial • linguistisch • historisch • logisch • sensorisch • biotisch • physisch • kinetisch • räumlich • quantitativ Ich werde diese Arten von Eigenschaften-und-Gesetzen (modale) Aspekte der Gegenstände unserer Erfahrung nennen; die Disziplinen, die der Erforschung dieser Aspekte gewidmet sind, werde ich als Wissenschaften bezeichnen. Der Ausdruck „Aspekt“ soll unterstreichen, dass die Arten von Eigenschaften in den Gegenständen unserer vor-abstraktiven Erfahrung wurzeln, und von diesen (indirekt) abstrahiert werden. Der Ausdruck „Wissenschaft“ bezieht sich auf jede Forschungsdisziplin, die durch einen oder mehrere Aspekte begrenzt, und durch die Konstruktion von Theorien gekennzeichnet ist. Die aufgeführte Liste sollte nun nicht als dogmatische Behauptung verstanden werden, alle diese Aspekte seien real und unverzichtbar; es gibt zweifellos Denker, die eine ganz andere Liste aufstellen würden. Vielmehr ist sie zunächst als Beschreibung (und nicht als Theorie) der Art und Weise zu verstehen, wie wir zur Erfahrung von unterschiedlichen Eigenschaften gelangen; sei es von Eigenschaften in isoliertem Zustand oder in deren Verbindung in einem konkreten Gegenstand. Und dann handelt es sich bei dieser Liste um eine

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Wiedergabe der Summe von Aspekten, die von den meisten Wissenschaftern und Denkern als reale Forschungs- und Theoriebereiche aufgefasst wurden. Unsere Auflistung dieser Aspekte soll also nur zum besseren Verständnis der wichtigsten Forschungsdisziplinen der Gegenwart dienen. Sie erhebt nicht den Anspruch, die einzig mögliche Darstellung der einzig realen Aspekte unserer Welt zu sein. Wenn ich fortan Ausdrücke wie „Aspekte von Dingen“, „Aspekte der Welt“ oder „Erfahrungsaspekte“ benutze, sollten diese so verstanden werden wie hier in unserer Liste. Sie alle beziehen sich auf die unterschiedlichen Arten von Eigenschaften-und-Gesetzmässigkeiten, die gemäss vielen Denkern an den Gegenständen unserer Erfahrung auftreten, bevor sie zum Gegenstand der Theoriebildung werden. Unsere Liste schliesst mögliche Alternativen nicht aus. Sie verlangt auch keineswegs, dass unsere alltägliche Erfahrung in gewisser Hinsicht nicht irren könnte, oder dass keine Theorie jemals zeigen könnte, warum die Welt in bestimmter Hinsicht davon abweicht, wie sie sich in unserer vortheoretischen Erfahrung darstellt. Obwohl viele Wissenschaften durch einen bestimmten Aspekt begrenzt sind, den sie erforschen, und sogar ihren Namen von diesem beziehen, gibt es auch Disziplinen, deren Bereich und Name sich von einer bestimmten Klasse von Gegenständen herleiten. Entomologie, Paläontologie und Botanik sind Beispiele dafür.5 Diese Tatsache spricht aber nicht gegen die soeben betonte Rolle von Aspekten in der Theoriebildung. Auch wenn eine Wissenschaft ihren Namen von einer bestimmten Sorte von Gegenständen bezieht, kann sie doch nicht alle Aspekte dieser Gegenstände erforschen. Es sind immer bestimmte Aspekte oder Hinsichten unter denen Insekten, Fossilien oder Pflanzen untersucht werden. Andererseits brauchen Wissenschaften nicht durch einen einzigen Aspekt begrenzt zu sein. Die Kulturanthropologie, zum Beispiel, beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten alter Kulturen und schliesst Theorien ein, wie sich bestimmte Daten aus verschiedenen Bereichen zu einander verhalten. Auch dies mindert die Rolle der Abstraktion von Aspekten in der Theoriebildung nicht im geringsten. Ob nun eine Wissenschaft nach einem bestimmten Aspekt, nach einem bestimmten Spektrum von Dingen, oder nach verschiedenen Aspekten dieser Dinge benannt ist – die Abgrenzung von Aspekten bleibt ein zentrales Problem. Eine Theorie muss an jedem Punkt klarmachen

5 Die Soziologie tendiert dazu, eine bunt gemischte Sammlung unterschiedlicher The­men­ bereiche zu untersuchen.. Einige Theorien handeln vom sozialen Aspekt des Lebens, wie z.B. Eigenschaften, Normen, und Relationen, die mit Prestige, Respekt, Status, Gewohnheit, Tradition, Kleidungsstil etc. zu tun haben. Andere Theorien wenden sich den sozialen Gemeinschaften zu und behandeln einen oder mehrere Aspekte derselben. In Kapitel 12 werde ich die Position einnehmen, dass Gemeinschaften am besten als Resultat zu verstehen sind, wie das gesellschaftliche Verhältnis von Autorität organisiert wird.

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können, mit welchen Arten von Eigenschaften sie es zu tun hat, und welche Art Gesetze sie verwendet, um ihre Daten zu verbinden und/oder zu erklären. Nachdem ich die Rolle der Abstraktion in der Isolierung von Aspekten herausgestrichen habe, gebe ich gerne zu, dass viele Wissenschafter und Wissenschafterinnen, wenn danach befragt, wohl antworten würden, dass sie sich der Abstraktion von ganzen Aspekten nicht bewusst sind. Dem mag so sein. Aber es spricht nicht gegen die Notwendigkeit und Wichtigkeit dieser Art von Abstraktionsleistung. Der Grund warum sich jemand ihrer nicht bewusst ist, besteht einfach darin, dass die Abstraktion von ganzen Aspekten in der Regel so automatisch geschieht, dass sie der betreffenden Person überhaupt nicht ins Auge springt – so wie wir uns der Bewegung unserer Augen beim Lesen meist nicht gewahr sind. In ­beiden Fällen handelt es sich um ein untergeordnetes Ereignis in einer umfassenderen Aktivität, das um dieser Aktivität willen auftritt. Wir bewegen unsere Augen um zu lesen, und unsere Aufmerksamkeit ist auf das intendierte Ziel gerichtet anstatt auf die Bewegung der Augen, die diesem Ziel untergeordnet ist. In derselben Weise und aus demselben Grund kann auch die Abstraktion eines Aspektes unbewusst bleiben. Sie ist dann ganz auf die Erforschung der Eigenschaften und Gesetze ausgerichtet, die unter diesen Aspekt fallen. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich eine in der Wissenschaft tätige Person der Rolle der Abstraktion in der Isolierung bestimmter Eigenschaften und Verbindungen zwar bewusst ist, nicht aber der Isolierung ganzer Aspekte. Diese ist so grundlegend, dass man sie glatt übersehen kann. Ich werde jetzt einige Beispiele geben, wie die Abstraktion von Aspekten in die wissenschaftliche Theoriebildung einfliesst. Um die Pointe dieser Beispiele zu erfassen, muss man den oben erwähnten Punkt in Erinnerung behalten, dass die Abstraktion eines Aspektes nicht zu einem Punkt führt, wo sich die Erfahrung oder das Denken der Forscherperson bis auf den abstrahierten Aspekt vollständig entleeren würde. Diese Beispiele zeigen vielmehr auf, wie die Abstraktion eines Aspektes unsere Erfahrung erweitert, und warum diese Erweiterung für das gesamte Unternehmen der wissenschaftlichen Theoriebildung unverzichtbar ist. Stellen wir uns zur Veranschaulichung zuerst eine Biologin vor, die Mikroben durch ein Mikroskop betrachtet. In ihrer Wahrnehmung haben die Mikroben räumliche Ausdehnung und Form, sensorische Farbe, physische Masse, etc. Die Anzahl der Mikroben an einem bestimmten Ort mag ebenso von Bedeutung sein. Aber alle diese Eigenschaften werden vom Blickwinkel der abstra­hierenden Fokussierung auf den biologischen Aspekt der Mikroben verstanden. Es ist dieser Blickwinkel, der das Denken der Biologin leitet. Obwohl die Grösse, Masse, Farbe und Anzahl der Mikroben keine biologischen Eigenschaften sind, liegt ihre Bedeutung darin, dass sie zum Verständnis der Lebensprozesse der untersuchten Organismen beitragen. Es ist die Fokussierung auf

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den biologischen Aspekt, die die Fragestellungen und die erklärenden Vermutungen leitet, die sich unserer Biologin als Antwort auf diese Fragen aufdrängen. Um die Relevanz dieses Punktes für die anderen Wissenschaften zu erkennen, nehmen wir ein Beispiel, in dem die Aufmerksamkeit eines Forschers durch die Abstraktion des ökonomischen Aspektes geleitet wird. Der Ökonom mag sogar mit denselben Mikroben zu tun haben, die von der Biologin untersucht wurden. Anstatt diese aber als Phänomene zu betrachten, die einer biologischen Erklärung zugeführt werden sollen, betrachtet er sie unter einem ökonomischen Gesichtspunkt. Er wird nach Erklärungen suchen, deren theoretische Prinzipien das Gesetz von Angebot und Nachfrage und das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens mit einschliessen. Das Verhalten der Mikroben wird durch die Erklärungen des Ökonomen abgedeckt, die sich auf die öko· nomischen Eigenschaften der untersuchten Organismen beziehen, obschon diese Eigenschaften natürlich davon abhängen, ob die Mikroben tot sind oder lebendig. Das sind Beispiele einer zentralen Funktion des abstrahierenden Denkens in der Theoriebildung, deren Bedeutung oft nur unzureichend ermessen wird. Ohne die Abstraktion von ganzen Aspekten, wäre es jedoch nicht möglich, die Eigenschaften zu spezifizieren, die untersucht werden sollen; und es wäre auch nicht möglich, die Gesetzmässigkeiten zu identifizieren, die erklären sollen, was immer als erklärungsbedürftig angesehen wird. Aus diesen und anderen Gründen, denen wir in Kürze nachgehen werden, ist die Abstraktion von Aspekten unverzichtbar für die Theoriebildung. Egal, mit welcher Liste von Aspekten jemand arbeitet, irgendeine Liste ist immer vorausgesetzt. 4.5 Theorietypen An dieser Stelle sollten wir uns dem Unterschied zwischen wissenschaftlichen und philosophischen Theorien zuwenden. Beide sind offensichtlich hoch abstrakt. Aber wo die Fachwissenschaften einen oder mehrere Aspekte zu ihrem Forschungsbereich machen, scheint die Philosophie keinen eigenen „Grund und Boden“ zu haben. Tatsächlich könnte die Durchsicht der vorgeschlagenen Aspekte die Vermutung aufkommen lassen, dass sich die Wissenschaften den ganzen Kuchen der Erfahrungswirklichkeit teilen, und der Philosophie nichts übrig bleibt. Und die Sache wird nochmals komplizierter, wenn wir sehen, dass viele Themen, über die in der Philosophie nachgedacht wird, dieselben sind wie die, die auch einzelne Disziplinen beschäftigen. Zum Beispiel gibt es eine Flut von Untersuchungen in der Philosophie der Mathematik, in der

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Geschichtsphilosophie, in der Rechtsphilosophie, usw. Das lässt es so erscheinen, als ob die Philosophie kein eigenes Gebiet hat, sondern auf allen anderen herumwildert. Ich darf hier jedoch bekannt geben, dass sich die Philosophie dennoch eines eigenen Territoriums rühmen darf. Und wenn die Art dieses Gebietes einmal erfasst ist, wird auch der Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Theorie innerhalb eines bestimmten Aspektes und einer philosophischen Theorie, die sich mit demselben Aspekt beschäftigt, deutlich. Wir haben schon gesehen, dass einige Wissenschaften sowohl über verschiedene Aspekte hinweg als auch innerhalb der jeweiligen Aspekte Theorien aufstellen. Das erlaubte, uns die Möglichkeit einer allgemeineren Art von ­Theorie zu identifizieren, die nicht durch einen spezifischen Aspekt begrenzt ist, sondern darüber Auskunft gibt, wie sich die Eigenschaften verschiedener Aspekte in einem bestimmten Phänomen verbinden. Hier tut sich also die Möglichkeit einer allgemeinen Theorie auf, wie sich alle Aspekte zu einander verhalten. Und das ist genau der Blick, der das philosophische Denken von den Wissenschaften abhebt. Wo die Wissenschaften mit einem oder mehreren Aspekten beschäftigt sind, zielt die Philosophie auf eine umfassende Zusammenschau; sie stellt Theorien auf, die die allgemeinen Beziehungen aller Aspekte, und deshalb aller Wissenschaften zu einander, erklären sollen. Zugegebenermassen haben einzelne Philosophen diese Definition von Zeit zu Zeit zugunsten eines weniger hochgesteckten Anspruchs in Zweifel gezogen. Doch ihre Argumente sind selber Zeugnis dafür, dass die Philosophie seit ihren Anfängen genau diese Art von Übersicht zu geben versucht hat. Dazu Gilbert Ryle: Die Art des Denkens, die zu Fortschritten in der Biologie führt, ist nicht dieselbe wie die Art des Denkens, das die Behauptungen und Gegenbehauptungen zwischen Biologie und Physik evaluiert. Diese inter-theoretischen Fragen sind nicht selbst Teil dieser oder jenen Art von Theorie. Es handelt sich nicht um biologische oder um physikalische, sondern um philosophische Fragen.6 Der berühmte Psychologe Jean Piaget war sich dieser Eigenheit des philosophischen Denkens ebenso bewusst als er bemerkte: Die Überschreitung der Grenzen der eigenen Disziplin impliziert eine Synthese, und die Disziplin, die sich auf Synthese spezialisiert … ist keine andere als die Philosophie selbst.7 6 G. Ryle, Dilemmas (Cambridge: Cambridge University Press, 1956), 13. 7 J. Piaget, Main Trends in Interdisciplinary Thought (Nw York: Harper & Row, 1970), 12–13.

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Die beiden Arten von Theorien, die in der Philosophie aufgestellt werden, um alle Aspekte der Erfahrung in einer Gesamtsicht zu vereinen, sind: (1) eine allgemeine Theorie der Wirklichkeit, und (2) eine allgemeine Theorie der Erkenntnis. Die technischen Namen dieser Theorien sind „Ontologie“ (der manch­mal auch der Spitzname „Metaphysik“ verliehen wird), respektive „Episte­mologie“. Die Entwicklung von Ontologien und Erkenntnistheorien ist das eigentliche Unterfangen der Philosophie. Dagegen könnte man einwenden, dass damit alle anderen Gebiete eingeschlossen sind, und das würde genau zutreffen! Doch liegt hier auch der Grund, warum eine philosophische Theorie über Mathematik, Physik, Logik, oder Ethik, nicht einfach ein Herumwildern auf deren Gebiet ist. Eine philosophische Theorie dringt nicht nur in diese Gebiete ein, da sie eben auch die Ergebnisse einer allgemeinen Theorie der Wirklichkeit oder der Erkenntnis in die Erforschung des jeweiligen Bereiches hineinträgt. Aus demselben Grund verstricken sich Wissenschafter unweigerlich in philosophische Probleme, wenn immer eine Fragestellung sie dazu zwingt, Stellung zum Verhältnis ihrer eigenen Disziplin zu einer anderen zu beziehen. Diese Beobachtung ist wohlgemerkt nicht als Kritik zu verstehen. Es kann nichts falsch daran sein, dass sich aspektspezifische Theorien auf ein grösseres Bild der Dinge beziehen. Im Gegenteil werde ich argumentieren, dass es ganz und gar unmöglich ist, aspektspezifische Theorien aufzustellen, die nicht zumindest unbewusst eine Antwort auf die Frage voraussetzen, wie sich jener Aspekt zu allen anderen verhält. Der Unterschied ist also bloss ein gradueller, das heisst ein Unterschied der Gewichtung. Denn obschon wissenschaftliche Theorien die Frage nach dem Gesamtzusammenhang der verschiedenen Aspekte nicht vermeiden können, mag das jeweilige Wirklichkeitsverständnis aus Hintergrundannahmen bestehen, die weder explizit thematisiert, hinterfragt, noch verteidigt werden. Doch währenddessen die Wissenschaften ein solches Wirklichkeitsverständnis oft stillschweigend voraussetzen, spezialisiert sich die Philosophie gerade in der Beschäftigung damit. Zuoberst auf der philosophischen Tagesordnung steht die Begründung einer Sicht des Gesamtzusammenhanges (Theorie der Gesamtwirklichkeit); alle weiteren Theorien werden dann wenn möglich im Einklang mit den Erfordernissen aufgestellt, die sich aus einer allgemeinen Theorie der Wirklichkeit und/oder der menschlichen Erkenntnis ergeben. Was aber soll mit einer „allgemeinen Theorie der Wirklichkeit“ gemeint sein? Nichts Anderes als eine Theorie, die das Wesen der Wirklichkeit zu erhellen sucht. Ihr Ziel ist es zu bestimmen, welche Arten von Dingen es gibt. Diese Formulierung sollte nun nicht mit der Frage verwechselt werden, welche konkreten Gegenstandstypen existieren. Denn die Aufzählung solcher

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Typen würde zu einer unabschliessbaren Liste führen: Schuhe, Berge, Tiere, Wolken, Menschen, etc. Deshalb kann die philosophische Frage nicht lauten, welche konkreten Gegenstandstypen es gibt, sondern nur, worin deren Wesen besteht. Die Frage lässt sich folgendermassen veranschaulichen: wenn die verschie­denen Aspekte der Dinge unserer Erfahrung Perlen einer Kette sind, worin besteht dann die Schnur? Wovon sollen alle diese Aspekte Aspekte sein? Traditio­nellerweise haben die verschiedenen Wirklichkeitstheorien diese Frage zu beantworten versucht, indem sie einen oder zwei dieser Aspekte selbst als Schnur betrachtet haben – als das eigentliche Wesen aller Dinge. Zum Beispiel haben einige Theorien postuliert, dass alle Dinge wesentlich physisch sind; andere wiederum besagen, dass die Wirklichkeit durch eine Kombination von physischen und logischen Eigenschaften/Gesetzen zusammengehalten wird; wieder andere meinen, dass die Dinge im Kern mathematischer, oder sensorischer, usw. Art sind. Dasselbe gilt für die Erkenntnistheorie. Hier geht es um eine Familie von Theorien, die das Wesen von Erkenntnis überhaupt zu bestimmen sucht, nicht nur einer bestimmten Art davon, wie zum Beispiel mathematische Erkenntnis, ästhetische Erkenntnis, moralische Erkenntnis, etc. Vielmehr werden Fragen wie diese gestellt: Was unterscheidet Erkennen von blossem Meinen? Wie wird Wissen gewonnen? Was ist Wahrheit? Um auf diese Fragen zu antworten, muss eine Erkenntnistheorie auf das Gemeinsame aller (aspektspezifischen) Arten von Wissen eingehen. Wie viele traditionelle Wirklichkeitstheorien, hat auch die Epistemologie oft eine aspektspezifische Art von Erkenntnis zum Schlüssel alles Wissens erhoben. Eigentliches Wissen soll wesentlich mathematischer Art, sinnlich-sensori­scher Art, logischer Art, historischer Art, usw. sein.8 Es fällt auf, dass die verschiedenen Erkenntnis- und Wirklichkeitstheorien das Gemeinsame zwischen den Aspekten und spezifischen Forschungsdisziplinen in ähnlicher Weise zu erklären versuchen, wie die meisten Wissenschaften ihre Daten innerhalb eines bestimmten Aspektes. Eine zweite Unterscheidung, die eingeführt werden muss, betrifft zwei ­Arten von Hypothesen, die sowohl in der wissenschaftlichen wie in der philo­ sophischen Theoriebildung auftreten. Die erste Art werde ich Gegenstands­ hypothese nennen. Ich gebrauche hier den Ausdruck „Gegenstand“ wegen seiner Dehnbarkeit und Unbestimmtheit; diese erlaubt es, den Ausdruck auf 8 Die Behauptung, dass alle Theorien von einem religiösen Glauben reguliert werden, wird in nachfolgenden Kapiteln mit Bezug auf Wirklichkeitstheorien entwickelt werden, aber es ist nicht genug Raum dafür, dasselbe auch in epistemologischer Hinsicht durchzuführen. Eine kurze Erläuterung der Anwendungsmöglichkeiten auf epistemologische Theorien findet sich in Knowing with the Heart.

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irgendwelche Art von Wirklichkeit zu beziehen: auf Dinge, Ereignisse, Tatsachen, Relationen, Eigenschaften, Gesetze, und auf alles weitere, von dem man sprechen möchte. Eine Gegenstandshypothese ist eine Hypothese, die einen neuen Gegenstand als Antwort auf eine Frage oder Rätsel einführt. Anders gesagt postuliert diese Art von Hypothese einen dem Rätsel zugrunde liegenden, verborgenen Faktor. Dieser soll erklären, was wir zu erklären wünschen. Die Lücke zwischen den Dingen, die Teil unserer bisherigen Erfahrung sind, wird überbrückt, indem intelligente Vermutungen über Dinge angestellt werden, die ausserhalb unserer Erfahrung liegen. Es ist wie wenn wir ein Puzzle vor uns haben, von dem wir nicht wissen, was es am Ende darstellen soll, und wir nur gerade dessen äussere Form kennen. Wenn wir die vor uns liegenden Teile nicht in die gewünschte Verbindung bringen können, vermuten wir, dass ein Teilchen fehlt; ein Teilchen, das, hätte es die und die Form, an diesen bestimmten Ort passen würde, und damit alle umliegenden Teile in die richtige Anordnung bringen würde. Die meisten Theorien, die einer breiten Öffent­ lichkeit bekannt sind, haben diesen Charakter. Die Atomtheorie und die Big ­Bang-Theo­rie der Physik, die Evolutionstheorie der Biologie, und Freuds psycholo­gische Theorie des Es, Ich, und Über-Ich sind allesamt Beispiele von Hypothesen, die die Existenz von etwas vorschlagen, das nicht im Horizont unserer direkten Erfahrung liegt, um damit Phänomene erklären zu können, die sozusagen vor Augen liegen. Hier ist ein simples Beispiel, wie eine solche Theorie ausgeheckt werden kann. Nehmen wir an, wir beobachten, dass die Vermischung von roter Farbe und blauer Farbe Purpur ergibt. Wir wollen nun wissen, warum das so ist. Keine nähere Beobachtung gibt darüber Auskunft. Selbst wenn wir unsere Köpfe in den Mischbehälter steckten, könnten wir nicht sehen, warum die Flüssigkeit eben diese und nicht eine andere Farbe annimmt. Also erfinden wir eine Theorie. Wir nehmen an, dass die Farbflüssigkeit aus winzig kleinen Teilchen besteht, die wir von blossem Auge nicht wahrnehmen können. Diese Teilchen sind derart geformt, so unsere Vermutung, dass sie verschiedene Wellenlängen des Lichts reflektieren. Die rote Farbe erscheint rot, weil ihre Bestandteilchen Licht in der Wellenlänge reflektieren, die mit unserem Eindruck von Rot gekoppelt ist. Entsprechendes gilt für die blaue Farbe und unser „Blau-Sehen“. Wir schlagen also vor, dass die beiden verschiedenförmigen Teilchensorten, wenn kombiniert, eine neue Gestalt annehmen; eine Gestalt, die Licht in der Wellenlänge reflektiert, die mit unserem Eindruck von Purpur einhergeht. Diese Theorie hat nun eine Anzahl Gegenstände postuliert: winzige Farbteilchen, Wellenlängen des Lichts, Verbindungen zwischen bestimmten Wellen­­längen und Farbeindrücken, und Gesetze, die die Verbindungen von Farbteilchen zu neuen Formkombinationen steuern. Man sieht, dass die Form

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der Erklärung der eines logischen Argumentes gleicht. In einem Argument werden Prämissen als Gründe für eine Schlussfolgerung aufgelistet; dann werden die logischen Regeln spezifiziert, nach denen die Schlussfolgerung aus diesen Gründen hervorgeht. In einer Gegenstandshypothese nehmen die anfänglichen Bedingungen die Stelle von Prämissen ein, und was erklärt werden soll entspricht der Schlussfolgerung. So erhalten wir folgenden Aufbau: P1. Wir nehmen rote Farbe P2. Wir nehmen blaue Farbe P3. Wir mischen die Farben S. Es entsteht Purpur Was wir jedoch nicht wissen ist, warum 1, 2, 3 die in S beobachtete Wirkung erzeugen. So fragen wir uns: Geschieht etwas, das wir nicht beobachten können? Welche anderen Faktoren, neben 1, 2, und 3 sind an der Produktion von S noch beteiligt? Unsere Vermutungen, worin diese Faktoren bestehen könnten, machen dann unsere Hypothesen aus. Sie nehmen die Stelle der fehlenden Information ein. Wenn wir diese Hypothesen mit 1, 2, 3 verbinden könnten, würde S nach logischen Regeln folgen. In unserem Beispiel schlägt die Theorie vor, worin die fehlenden Informationen bestehen. Sie versucht also zu zeigen, dass die Angabe dieser Informationen, zusammen mit den genannten Anfangsbedingungen 1, 2, 3 zur logischen Schlussfolgerung S führt. In diesem Sinn kann gesagt werden, dass die Theorie S erklärt. Selbst aus dieser sehr vereinfachten Darstellung geht hervor, dass solche Theorien nicht, wie oben gesagt, nur Hypothesen umfassen. Zu Theorien ­gehören auch noch Anfangsbedingungen (wie 1, 2, 3), und Hintergrundan­ nahmen (zum Beispiel Beweisregeln). Meine Hervorhebung der Rolle von Hypothesen ergibt sich aus der Tatsache, dass sie oft missverstanden wird; dann aber auch daraus, dass sich der kontrollierende Einfluss von religiösen Annahmen auf Hypothesen besonders gut aufzeigen lässt. Es ist vielleicht auch nicht überflüssig zu sagen, dass die Hypothesen von Gegenstandstheorien mit dem zu erklärenden Sachverhalt über mathematische wie über logische Regeln verbunden werden können. Und es ist auch nicht so, dass Hypothesen nur in Theo­ rien mit logisch-deduktivem Charakter auftreten; vielmehr können Gegen­standstheorien auch nur gerade die grössere Wahrscheinlichkeit als bestehende Alternativen für sich beanspruchen. Wahrscheinlichkeitsargumente weisen jedoch dasselbe logische Format wie alle anderen Argumente auf, da die Theorie als Ganze, grob gesehen, immer noch die Form eines logischen Argumentes besitzt. Mit anderen Worten versucht das Argument zu zeigen, dass, die nötigen Faktoren vorausgesetzt, die Theorie die Wahrscheinlichkeit X

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besitzt, und nicht, dass ihr die Wahrscheinlichkeit X nur wahrscheinlich zukommt. Wenn ein neuer Gegenstand postuliert wird, möchte die Forschungsgemeinschaft der jeweiligen Disziplin selbstverständlich feststellen, ob dieser auch tatsächlich existiert. Doch weil theoretisch postulierte Gegenstände oft keiner direkten Erfahrung zugänglich sind, kann deren Realität nur indirekt erwiesen werden.9 Die allgemeinste Beschreibung einer solchen indirekten ­Erhärtung besteht darin, dass man sagt, die Theorie werde danach beurteilt, wie gut sie das zu erklären vermag, was den Ausschlag zu ihrer Erfindung gegeben hat. Dazu gehört auch die Frage, ob eine Theorie besser abschneidet als ihre Rivalen. Die übliche Checkliste zur Beurteilung umfasst dann die Punkte: Konsistenz einer Theorie; die Gründlichkeit, mit der sie die relevanten Daten erklären kann; und die Breite ihrer Anwendbarkeit. Oft ist dieser letzte Gesichtspunkt ausschlaggebend; ich nenne ihn „Extensivität über Intensivität“. Soll heissen: Wenn die zur Lösung eines Rätsels vorgeschlagene Theorie unerwartet Licht in weitere Rätsel bringt, wird es zunehmend schwierig zu ver­neinen, dass sie auf etwas Reales gestossen ist.10 Eine weitere, besonders 9

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Wenn eine Theorie die Existenz eines Gegenstands postuliert, der möglicherweise direkt erfahr­bar ist, aber bislang noch nicht gefunden wurde, dann wäre der Fund der Beweis, dass die Theorie wahr ist. So wurde die astronomische Theorie bestätigt, dass es einen neunten Planeten in unserem Sonnensystem gibt, als Pluto 1930 entdeckt wurde. Die Keimtheorie als Ursache von Krankheit ist ein anderes Beispiel. Immer wenn das, was eine Theorie vorschlägt, tatsächlich gefunden wird, dann ist ihre Annahme keine Vermutung mehr und die Theorie hört auf, eine Hypothese zu sein. Es sollte selbstverständlich sein, dass die Mehrheit der Theorien in Philosophie und Wissenschaften keine direkt erfahrbaren Gegenstände postulieren. Damit soll in der Realismus- vs. Anti-Realismus-Debatte in Bezug auf theoretische Gegenstände keine Position eingenommen werden, da beide Positionen zu extrem sind. Die Aussage ist aber näher am Realismus, da sie darauf besteht, dass Gegenstandstheorien sicherlich anstreben, bislang unerwartete Realitäten zu entdecken; ohne jedoch zu behaupten, dass dies zweifelsfrei erreicht wurde (mit der Ausnahme, die in der vorigen Fussnote dargelegt wurde). Der Hauptfaktor in der Rechtfertigung von Theorien ist bereits hervorgehoben worden: Der Grund, an eine Theorie zu glauben, liegt darin, wie gut sie erklärt, was sie vorschlägt zu erklären. Während „Extensivität über Intensivität“ und „Konvergenz der Beweise“ berechtigterweise zur Annahme einer Theorie führen, so kann dennoch der Fall bestehen bleiben, dass das, was in einer Theorie mit der Realität übereinstimmt (der Grund, warum sei funktioniert), etwas anderes ist, als die Theorie vorschlägt. Ausserdem wird die Schlussfolgerung, welche Theorie - oder Interpretation einer Theorie – die beste Erklärung liefert, je nach Denker weiterhin unterschiedlich ausfallen und sich somit auch aufgrund des religösen Glaubens des Denkers von anderen Auffassungen unterscheiden. – Dooyeweerd erinnert uns immer wieder daran, dass es im

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schlagkräftige Art der Bestätigung einer Theorie liegt dann vor, wenn eine Hypothese mit ursprünglich geringer Evidenz von unerwarteter Seite neue Unterstützung bekommt. Diese „Konvergenz der Beweise“ ist dann ebenso schwer zu ignorieren. Es ist ebenso schwer zu glauben, dass eine Hypothese völlig danebenliegt, die unerwarteterweise Dinge erklären kann, zu deren Erklärung sie gar nicht erfunden worden ist, wie zu glauben, dass sie ganz falsch sein kann, wenn verschiedene Arten von Indizien oder Beweisgründen aus verschiedenen Quellen zusammenkommen, und die Hypothese stützen. All das bedeutet natürlich nicht, dass eine Theorie jemals über alle Zweifel erhaben wäre. Das ist nicht einmal dann der Fall, wenn die Theorie von erfolgreichen Experimenten gestützt wird. Wir wollen nun sehen, warum das so ist. Viele Gegenstandshypothesen schliessen experimentelle Resultate in ihren Bewertungsmethoden ein. Weil aber die Rolle von Experimenten weit verbrei· teten Missverständnissen ausgesetzt ist, werde ich mir etwas Zeit nehmen, zwei dieser Missverständnisse auszuräumen. Das erste Missverständnis besteht in der Auffassung, dass eine Theorie nicht wissenschaftlich ist, wenn kein Experiment existiert, anhand dessen man sie testen könnte. Die Wahrheit ist jedoch, dass Experimente zwar wünschenswert, oft aber nicht möglich sind. Eine Theorie wird nicht einfach deswegen verworfen, weil sie nicht experimentell getestet werden kann. Die zweite Fehlannahme ist, dass wenn ein Experiment erfolgreich verläuft, eine Theorie nicht mehr vernünftig in Frage gestellt werden kann und als definitiv wahr zu betrachten ist. Dieser Irrtum geht oft mit einem weiteren einher, demgemäss das Vorhandensein von ex­ perimentellen Beweisen den Unterschied zwischen wissenschaftlichen und philosophischen Theorien ausmacht. Wissenschaftliche Theorien können angeblich experimentell bewiesen werden, wohingegen philosophische Theorien unbeweisbar sind, weil sie eben nicht getestet werden können. Doch obwohl es richtig ist, dass sich bestimmte philosophische Theorien über Jahrhunderte bekämpft haben, ist es doch nicht deswegen, weil die eine Art von Theorie immer beweisbar wäre und die andere nicht. Tatsächlich kommt es hier überhaupt nicht auf irgendwelche Experimente an. Und so kehren wir zum zweiten Missverständnis zurück: Die Idee, dass genügend Experimente eine Theorie beweisen könnten. Experimente spielen jedoch eine andere Rolle. Um zu verstehen, warum Experimente eine Theorie niemals beweisen können, müssen wir uns zwei einfache logische Regeln vor Augen führen. Die erste besagt: Wenn es zutrifft, dass „wenn A, dann B“, und A tatsächlich wahr ist, Bereich der Theorie keine Gewissheit gibt, ausser die Gewissheit, die wir aus der vortheoretischen Erfahrung mitbringen.

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dann muss B ebenso wahr sein. A könnte zum Beispiel heissen „Es regnet“, und B „Die Strasse wird nass“. In diesem Fall würde „Wenn A, dann B“ lauten: „Wenn es regnet, wird die Strasse nass“. Die Regel sagt also, wenn dieser Satz wahr ist, und ebenso wahr ist, dass es regnet, dann auch wahr sein muss, dass die Strasse nass wird. Als Formel aufgezeichnet, sieht die Regel so aus: 1. Wenn A, dann B 2. A 3. Deshalb B Der zentrale Punkt an dieser Regel ist nun, dass sie von links nach rechts gilt, aber nicht von rechts nach links. Wir sind also nicht berechtigt zu schliessen: 4. Wenn A, dann B 5. B 6. Deshalb A Selbst wenn die Strasse nass wird, bedeutet das noch lange nicht, dass es regnet. (Etwas Anderes als Regen könnte dazu führen, dass die Strasse nass wird). Zu behaupten, dass ein erfolgreiches Experiment eine Theorie bewiesen hätte, heisst nun, denselben Fehler wie in 4, 5, und 6 zu begehen. Das Argument würde lauten: 7. Wenn die Theorie stimmt, dann ist das Experiment erfolgreich 8. Das Experiment ist erfolgreich 9. Deshalb stimmt die Theorie So beruht die Auffassung, dass ein Experiment eine Theorie beweisen kann, auf einem logischen Denkfehler. Es gibt jedoch eine andere logische Regel, die von rechts nach links geht. Sie sieht folgendermassen aus: 10. Wenn A, dann B 11. nicht B 12. Deshalb nicht A

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Auf unser Beispiel übertragen, lautet das Argument so: Wenn es wahr ist, dass Regen die Strasse nass macht, und es stimmt, dass die Strasse keine Anzeichen von Nässe aufweist, dann muss auch zutreffen, dass es nicht regnet. Wenn der Wert eines Experiment so verstanden wird, haben wir es mit einem logisch gültigen Argument zu tun: 13. Wenn die Theorie stimmt, dann ist das Experiment erfolgreich 14. Das Experiment ist nicht erfolgreich 15. Deshalb stimmt die Theorie (wenigstens teilweise) nicht Hier liegt die zentrale Bedeutung von Experimenten in der Theoriebildung. Sie können nicht zeigen, dass eine Theorie wahr ist; aber sie können zeigen, dass eine Theorie (wenigstens teilweise) falsch ist. Doch selbst diese Rolle ist noch begrenzt. Bleibt es bei dem Nachweis der partiellen Fehlerhaftigkeit einer Theorie, wissen wir noch nicht, in welchem Teil das Problem steckt. Und es bleibt die Möglichkeit, dass ein Experiment nicht richtig durchgeführt wurde, oder dass es erst gar nicht richtig konzipiert wurde. Und selbst wenn ein Experiment gut geplant und durchgeführt wird, besitzen Theorien oft ein derart grosses Erklärungspotential, dass sie nicht einfach aufgegeben werden, wenn ein paar Experimente misslingen. Deshalb ist die eigentliche Rolle von Experimenten in der Theoriebildung wesentlich differenzierter zu sehen. Man könnte sie so umschreiben: Wenn eine Theorie eine Reihe (gut geplanter und durchgeführter) Versuche überlebt, die darauf angelegt waren, die Theorie zu falsifizieren, dann glauben sich die Forschenden der jeweiligen Disziplin berechtigt, der Theorie grösseres Vertrauen entgegenzubringen. Dann kann die Wahrheit der Theorie, wie man sagt, als „experimentell erwiesen“ gelten. (Experimente können selbstverständlich auch noch andere Funktion haben. Sie können zum Beispiel Entscheidungshilfe bieten, wenn man zwischen konkurrierenden Theorien zu wählen hat). Aber keine Serie von erfolgreichen Experimenten kann eine Theorie je abschliessend beweisen. An diesem Punkt verspürt man vielleicht die Neigung zu fragen, „Warum ist es dann so, dass experimentelle Widerlegungen in den Wissenschaften scheinbar öfter vorkommen als in der Philosophie?“ Die Antwort darauf lautet, dass es neben Gegenstandshypothesen noch andersartige Theorien gibt, die überhaupt nicht experimentell getestet werden können. Obwohl Gegenstandshypo­ thesen und Theorien dieser Art in Wissenschaft und Philosophie vorkommen, sind doch die berühmtesten wissenschaftlichen Hypothesen Gegenstandshypothesen, derweil die berühmtesten philosophischen Theorien von dieser

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zweiten Art sind. Diese Art von Theorie besteht nicht darin, dass eine vorher unvermutete und ausserhalb der bisherigen Erfahrung liegende Wirklichkeit postuliert wird. Die erhobenen Daten werden in anderer Weise erklärt. Greifen wir auf das Bild des Puzzles zurück. Wenn das zu Erklärende durch den äusseren Umriss des Puzzles dargestellt wird, dann versucht diese Art von Theorie den gesuchten Umriss dadurch zu rekonstruieren, dass ein vorliegendes Teilstück als Schlüssel für die richtige Anordnung aller anderen Teilen angesehen wird. Vielmehr als ein weiteres Puzzleteilchen zu postulieren, schlägt diese Theorie eine neue Perspektive auf die wechselseitige Anordnung und Platzierung der schon bekannten Teilchen vor. Die vorhandenen Teile werden als zur Lösung des Puzzles ausreichend betrachtet, wenn wir nur das Schlüsselstück für die Anordnung aller anderen richtig identifizieren. Deshalb nenne ich diese Art von Theorie eine perspektivische Hypothese. Beispiel einer perspektivischen Hypothese ist die marxistische Interpretation von Geschichte. Gemäss dieser Theorie liegt der Schlüssel zum Verständnis der geschichtlichen Entwicklung immer in den ökonomischen Verhältnissen. Der ökonomische Faktor wird als grundlegend für den Lauf der Geschichte angesehen, so dass andere mögliche Erklärungsfaktoren wie religiöser Glaube, Rassenhass, politische Rivalitäten, Machtstreben, oder das Talent und der Einfluss besonderer Individuen immer durch die wirtschaftlichen Umstände bestimmt werden und niemals umgekehrt. Offensichtlich handelt es sich hier nicht um eine Gegenstandshypothese; dass okönomische Faktoren eine Rolle in der menschlichen Geschichte spielen, dürfte wohl keine Vermutung sein. Aber es ist eine Hypothese, dass allein ökonomische Faktoren den Lauf der Geschichte bestimmen. Die Unterscheidung von Gegenstandshypothesen und perspektivischen Hypothesen ist aus verschiedenen Gründen wichtig. Zum einen erlaubt sie uns wahrzunehmen, warum Theorien, die in der Philosophie eine wesentliche Rolle spielen – Theorien, die ein grundsätzliches Verständnis von Wirklichkeit oder Erkenntnis zur Sprache bringen – perspektivische Theorien sind. Wir haben diesen Punkt im Zusammenhang mit der vorherrschenden Auffassung in der westlichen Philosophie, wie allgemeine Wirklichkeits- und Erkenntnistheorien zustande kommen, schon berührt. Nach dieser Auffassung wird das eigentliche Wesen von Wirklichkeit und Erkenntnis durch die Isolierung eines oder zweier Aspekte festgelegt (ausgehend von der jeweils vorausgesetzten Liste). Im Bild gesprochen, bilden eine oder zwei der Perlen einer Kette auch die Schnur. Diese Annahme legt das Wesen von Wirklichkeit und Erkenntnis fest, indem der Vorrang eines oder zweier Aspekte vor allen anderen postuliert wird. Dieser angebliche Vorrang wird damit begründet, dass die ausgesuchten Aspekte die Verbindung aller anderen Aspekte gewährleisten, weil letztere

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entweder identisch mit den hervorgehobenen Aspekten sind oder von diesen erzeugt werden. Die vermeintliche Hierarchie ist deshalb ontologischer Natur. Weil ich verhindern möchte, dass dieser letzte, äusserst wichtige Punkt allzu schnell vorbeizieht, stelle ich ihn nochmals aus einem anderen Blickwinkel dar. Die Annahme, das Wesen der Wirklichkeit und der Erkenntnis sei mit ein oder zwei Aspekten unserer Erfahrung identisch, diktiert die jeweilige Strategie zur Verteidigung der Wahl dieser grundlegenden Aspekte in einer Theorie. Die Strategie zur Begründung einer so beschaffenen Theorie kann im Wesentlichen zwei Wege beschreiten. Die verbreitetere Variante, wie Theorien die Sonderstellung ihrer jeweils bevorzugten Aspekte begründen, geht von der Existenz einer Vielzahl von Aspekten aus, führt diese jedoch auf die favorisierten Aspekte zurück. Letztere haben angeblich Vorrang vor ersteren, weil sie diese vermeintlich erst hervorbringen. Theorien, die diesen ersten Weg beschreiten, begründen ihre Auswahl damit, dass die bevorzugten Aspekte das grundlegende Wesen von Wirklichkeit und Erkenntnis bilden. Im Gegensatz dazu, versucht die zweite Variante der Strategie zu zeigen, dass der bevorzugte Aspekt der einzig wirkliche ist, so dass alle (vermeintlichen) anderen in diesem aufgehen. Gemäss dieser Variante, konstituiert der ausgewählte Aspekt nicht nur das grundlegende Wesen der gesamten Wirklichkeit, sondern ihr ausschliessliches Wesen. Das Gemeinsame dieser beiden Varianten – das Herz der Strategie – besteht in der Annahme, der Vorrang eines bevorzugten Aspektes manifestiere sich darin, dass dieser ohne alle anderen existieren könne, wo hingegen die anderen nicht ohne die grundlegenden Aspekte existieren können. Das ist der Grund, warum die hier gesetzte Hierarchie ontologischer Natur ist, und warum sie den bevorzugten Aspekten gleichzeitig göttlichen Status an sich zuschreibt.11 Zuletzt ist die Anerkennung der Besonderheit von perspektivischen Überblickstheorien auch darum wichtig, weil sie uns zu sehen erlaubt, wie eine Wirklichkeits- oder Erkenntnistheorie die Begriffe und Theorien der einzelnen Wissenschaften durchdringt, und eben nicht bloss auf die Philosophie 11

Wenn ich davon rede, dass ein Aspekt als göttlich angesehen wird, dann ist dies eine elliptische Ausdrucksweise. Genauer gesagt wird davon ausgegangen, dass ein Aspekt die Natur des Göttlichen, beschreibt. Ältere Wirklichkeitstheorien achteten sorgsam darauf, nicht nur zu spezifizieren, welche Art von Sache göttlich ist, sondern festzustellen, was dasjenige ist, dass diese Natur besitzt. Neuere Wirklichkeitstheorien sind hingegen nur selten so mitteilsam. Beispielsweise sind sich gegenwärtige Materialisten darin sicher, dass die funda­mentale Natur der Wirklichkeit (und daher die Natur der unhintergehbaren Wirklichkeit) physisch ist, aber keiner von ihnen würde sich festlegen wollen, welche (angeblichen) rein physischen Dinge oder Prozesse es denn schlussendlich sind, die unabhängige Realität haben und von denen alles andere abhängt.

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beschränkt bleibt. Tatsächlich wird der kontrollierende Einfluss eines religiösen Glaubens auf wissenschaftliche Theorien vor allem durch die von der Theo­rie vorausgesetzte Sicht der Gesamtwirklichkeit ausgeübt. Unsere Kern­ behauptung der unvermeidlichen Abhängigkeit von Theorien von einem religiösen Glauben teilt sich also in zwei Ebenen auf: wissenschaftliche Theorien setzen notwendig eine bestimmte Theorie der Gesamtwirklichkeit voraus, und die jeweilige Wirklichkeitstheorie setzt den Glauben an etwas an sich Göttliches voraus. Ein religiöser Glaube reguliert die entsprechende Wirklichkeitstheorie deshalb auf direkte Art und Weise; durch die Vermittlung dieser Perspektive prägt er wissenschaftliche Theorien aber auf indirekte Weise. In meinen Vorlesungen und Seminaren bin ich oft auf Widerstand gegenüber der Idee gestossen, dass wissenschaftliche Theorien nicht anders können als auf einem Vorverständnis der grundsätzlichen Beschaffenheit von Wirklichkeit aufzubauen, und somit einen religiösen Glauben vorauszusetzen. Auch diejenigen, die keine Probleme damit haben, dass philosophische Theorien der Gesamtwirklichkeit unweigerlich einen religiösen Glauben voraus­ setzen, schrecken oft davor zurück, diesen Punkt auf die Wissenschaften auszudehnen. Obwohl eine gründliche Verteidigung dieser Behauptung bis zum Kapitel zehn warten muss, scheint hier eine grobe und vorläufige Erklärung dennoch angebracht. Da der Nachweis der behaupteten Verbindung nicht nur philosophische Theorien betrifft, greife ich zu ihrer Illustration zunächst auf den Begriff eines gewöhnlichen Gegenstandes (Salzstreuer) zurück. Danach soll die Geschichte am Begriff des Atoms durchgespielt werden. In der Analyse dieser Begriffe kann die Frage nicht mehr abgewiesen werden, wie sich die aspektuell verschiedenen, im Begriff vereinten Arten von Eigenschaften zu einander verhalten. Das ist die Frage – die Frage welche Art von Verhältnis zwischen den Eigenschaften verschiedener Aspekte besteht – die so viele Denker dazu verleitet hat, einen oder zwei Aspekte zum Ursprung aller anderen zu erheben. Dies geschieht darum, weil das Verhältnis zwischen Eigenschaften derselben aspektspezifischen Art niemals so problematisch erschien wie das von Eigenschaften verschiedener Aspekte. Innerhalb ein und desselben Aspekts können Eigenschaften kausal miteinander verbunden sein, sich gegenseitig ausschliessen, in typischen Kombinationen auftreten, usw. Das ist deshalb möglich, weil die Verbindungen von derselben Art wie die verbundenen Eigenschaften sind. Doch quer zu den verschiedenen Aspekten werden die Verbindungen zum eigentlichen Problem: welcher Art sind sie? Wie zum Beispiel können Eigenschaften einer bestimmten Art andersartige Eigenschaften generieren? Um solche Fragen beantworten zu können haben viele Denker auf ein hierarchisches Prioritätsschema zurückgegriffen. Es wird postuliert, dass die Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten eines bestimmten Aspekts

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unabhängig von allen anderen existieren und die anderen hervorbringen ­können. So sehen viele Denker die Art von Verhältnis zwischen aspektuell verschiedenen Eigenschaften, die wir in gewöhnlichen Gegenständen wahrnehmen oder in theoretischen Gegenständen postulieren. Auf diesem Weg wird die Art von Wirklichkeit deutlich, von der Erfahrungsgegenstände wie hypothetische Gegenstände abhängen sollen. Diese Sichtweise ist also nichts weniger als eine Theorie der Gesamtwirklichkeit, und identifiziert somit auch die Natur dessen, was als an sich göttlich angenommen wird. Nehmen wir an, ich esse mit einem Materialisten zu Mittag und bitte ihn, mir das Salz herüberzureichen. Mein Gegenüber ist durchaus in der Lage meine Bitte zu verstehen, und das aus verschiedenen Gründen. Erstens ist er ebenso wie ich in der Gegenwart des Salzstreuers, und seine Wahrnehmung funktioniert einwandfrei. Also ist auch er der Überzeugung, dass ein Salzstreuer auf seiner Seite des Tisches steht. Keiner von uns beiden gelangt zu dieser Überzeugung aufgrund des Glaubens an das, was wir jeweils als göttlich voraussetzen, sondern einfach weil wir den Salzstreuer dort stehen sehen. Unsere Wahrnehmung dieses Gegen­standes ist nun nicht ausschliesslich sensorischer Art, sondern umfasst viele verschiedene (aspektspezifische) Eigenschaften, die dieser Gegenstand unserer Wahrnehmung präsentiert. Diese Eigenschaften können logisch unterschieden und von jedem von uns zum Begriff eines Salzstreuers kombiniert werden, und zwar so, dass eine grosse Übereinstimmung zwischen unseren Begriffen zustande kommt. Es ist diese Übereinstimmung, die uns wie selbstverständlich davon ausgehen lässt, dass wir es mit ein und demselben Gegenstand zu tun haben. Auf dieser Ebene der Erfahrung und des Denkens stellen sich keine philosophischen und religiösen Probleme. Mein Tischgenosse reicht mir ganz einfach das Salz. Analysierten wir unsere jeweiligen Begriffe des Salzstreuers aber etwas weiter, würde sich ziemlich rasch herausstellen, dass ich keine Art von Eigenschaft und Gesetzmässigkeit, die in diesem Begriff enthalten ist, als das Produkt einer anderen Art, sondern als von Gott erschaffen betrachte, währenddessen mein Gegenüber glaubt, dass sie alle entweder von etwas Physischem erzeugt, oder mit diesem letztlich identisch sind. Obschon wir uns auf einer anfänglichen Ebene durchaus einig sein können, dass der Salzstreuer schön anzusehen und wohl auch ziemlich teuer ist, brächte eine eingehendere Betrachtung ans Licht, dass der Begriff, den sich mein Gesprächspartner vom Salzstreuer macht, ihn zwingen würde zu verneinen, dass es nicht-physische Eigenschaften wie Schönheit und Preis überhaupt gibt, oder ihn darauf insistieren liesse, diese seien irgendwie von den physischen Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten abhängig, die den Salzstreuer zu dem Gegenstand machen,

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der er tatsächlich ist. Der Grund für das Verhalten meines Tischgenossen liegt darin, dass aus einer materialistischen Perspektive nicht-physische Eigenschaften – falls es denn solche geben sollte – ihre Existenz allein etwas Physischem verdanken.12 All dies würden wir jedoch nur dann herausbekommen, wenn wir unsere Begriffe gründlicher analysierten als im alltäglichen Erfahrungs- und Denkhorizont jemals nötig ist. Theorien beginnen ebenso mit der gemeinsamen Erfahrung der Welt, die uns umgibt. Auch sie basieren auf unseren Wahrnehmungen und den Wahrnehmungsberichten anderer, und sie gehen ebenso von der Tatsache aus, dass die Gegenstände unserer Erfahrung verschiedene Arten von Eigenschaften besitzen und verschiedene Arten von Gesetzmässigkeiten an den Tag legen, das heisst unter verschiedene Aspekte fallen. Anders als der Begriff eines Salzstreuers sind die Begriffe von hypothetischen Gegenständen jedoch unsere eige­nen Erfindungen. In diesen Begriffen vereinen wir nur gerade die Eigenschaften, die wir zum Wesen des Gegenstandes machen wollen, der die ausgemachte Lücke in unserem Wissen füllen soll. Das heisst, wir schlagen niemals einen Gegenstand vor, ohne gleichzeitig dessen Natur zu konkretisieren. So können wir zum Beispiel nicht einfach sagen: „Es gibt Atome.“ Wir müssen schon eine gewisse Ahnung haben, welche Art von Ding ein Atom ist, um zu verstehen was durch die Annahme von Atomen erklärt werden, und wie die Erklärung funktionieren soll. Der Begriff eines hypothetischen Gegenstandes zeigt also viel unmittelbarer als unsere Begriffe von Gegenständen der vortheoretischen Erfahrung, welche Art von Verhältnis zwischen den Eigenschaften besteht, die in diesem Begriff gebündelt sind. Im Begriff des Atoms sind es zum Beispiel physische Eigenschaften, die in ein bestimmtes Verhältnis zu den mathematischen und räumlichen Eigenschaften des Atoms gebracht werden 12

Es ist die durch Apriori-Zuschreibungen vermittelte Ungleichheit der Realität, die zu beanstanden ist, weil diese Ungleichheit einen pagan-religiösen Glauben widerspiegelt. In diesem Zusammenhang sollte ein Punkt, den ich im 2. Kapitel gemacht habe, im Gedächtnis behalten werden: wenn eine Erklärung alles auf eine oder mehrere Quellen zurückführt, ohne deren Status als unabhängige Realität ausdrücklich zu behaupten, wird diesen Quellen implizit unabhängiger Status gewährt. Soweit gesagt wird, sind diese Quellen dann göttlich. Damit soll nicht geleugnet werden, dass bestimmte Eigen­schaften, die in einem Begriff (oder einem Ding) enthalten sind, gewichtiger sein können als andere. Aber ich werde später zeigen, warum es einfacher ist, die grössere Bedeutsamkeit bestimmter Eigenschaften eines Begriffs oder eines Dinges zu erklären, ohne den Aspekt, der sie qualifiziert, als göttlich zu inthronisieren, und ohne eine entsprechende Reduktion im ontologischen Status der verbleibenden Aspekte vorzunehmen. Allein die Tatsache, dass eine derartige Erklärung möglich ist, dient zur Bestätigung, dass die Beständigkeit von ontologischer Reduktion im westlichen Denken nicht von einer theoretischen Notwendigkeit herrührt, sondern von einer pagan-religiös motivierten Weltsicht.

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müssen, wie auch zu allen anderen Arten seiner Eigenschaften, zum Beispiel zu den sensorischen, die Gegenstand unserer Wahrnehmung sind. Solche inter-aspektuelle Verbindungen müssen selbst auf eine bestimmte Art und ­Weise konzipiert werden. Wie auch immer dieses Problem gelöst wird, stillschweigend oder explizit, die Antwort liegt immer in einer bestimmten Wirklichkeitstheorie. Denn sowohl Atome wie auch die Dinge, die aus ihnen bestehen, hängen von der Verbindung all ihrer Eigenschaften ab. Was immer diese Verbindung ausmacht ist auch das vermeintliche Wesen der Wirklichkeit, die Gegenstand unserer Erfahrung ist. Dieser Sachverhalt kann auch von einer anderen Seite her beleuchtet werden. Eine Forscherin, die einem bestimmten Aspekt unhintergehbare Wirklichkeit zuschreibt, verpflichtet sich auf ein Wirklichkeitsverständnis, das mit dieser Annahme logisch kompatibel ist. Das ist auch dann der Fall, wenn die jeweilige Forscherin von der bewussten Ausarbeitung einer theoretischen Gesamtübersicht absieht. Selbst wenn eine solche Gesamtsicht der Wirklichkeit in unreflektiertem oder unbewusstem Zustand belassen wird, pflanzt sie sich doch unweigerlich in den theoretischen Begriffen einer Hypothese fort, die von der Wissenschafterin vertreten wird. Denn in jedem Begriff eines hypothetischen Gegenstandes ist die Art und Weise, wie die verschiedenen Eigenschaften zum Wesen des vorgeschlagenen Gegenstandes kombiniert werden, untrügliches Anzeichen dafür, ob bestimmten Eigenschaften unabhängige Existenz zugedacht wird, oder ob sie ihre Existenz einer anderen Art von Eigenschaft verdanken. Wenn die wesensstiftenden Eigenschaften des Gegenstandes als die einzig realen betrachtet werden, oder zumindest von einer Art sind, die allein unabhängige Wirklichkeit besitzt, dann liegt diese Art von Eigenschaft der gesamten Wirklichkeit zugrunde, das heisst sie beansprucht göttlichen Status. Wenn aber die Eigenschaften, die im Begriff des vorgeschlagenen Gegenstandes vereint sind, als von Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten einer anderen Art abkünftig präsentiert werden, dann ist das Wesen des hypothetischen Gegenstandes nicht-göttlich. Doch in diesem Fall liegt das Erklärungspotential des Gegenstandes allein in seiner Verbindung zu den göttlichen Eigenschaften und Gesetzen, von denen das Wesen des Gegenstandes letztlich abhängt. In beiden Fällen kann die Frage nach der Art der Verbindung, die zwischen Eigenschaften verschiedener Aspekte auftritt, nicht vermieden werden. Bis hierhin scheint es jedoch so zu sein, dass unsere Darstellung nur gerade den strittigen Punkt wiederholt, da sie von jemandem ausgeht, der schon ein religiös verankertes Prioritätsschema hat. Es mag scheinen als wurde nur ­erklärt wie im Denken derjenigen Forscher, die bereits über eine Theorie der Gesamt­wirklichkeit inklusive religiösem Ausgangspunkt verfügen, die wissen­ schaft­liche Begriffsbildung durch diese Wirklichkeitstheorie beeinflusst wird.

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Doch der Schein trügt. Was vor dem letzten Abschnitt gesagt wurde, hat schon gezeigt, warum der Begriff eines hypothetischen Gegenstandes nicht um die Annahme einer bestimmten Auffassung herum kommt, wie die verschiedenen Arten von Eigenschaften in jenem Gegenstand vereint sind. Das gilt nun für jeden Begriff, egal ob die Person, die von ihm Gebrauch macht, ein ihr bewusstes Wirklichkeitsverständnis hat, das durch die Vorrangstellung ausgewählter Aspekte gekennzeichnet ist. Denn es ist unvermeidlich, dass die Wesenseigenschaften eines theoretisch postulierten Gegenstandes unter eine der drei folgenden Möglichkeiten fallen: (a) Sie gehören zu den einzig realen Eigenschaften, oder aber zu einer Art, von der alle anderen Arten erzeugt werden; (b) sie verdanken ihre Existenz den Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten eines anderen Aspekts, der unabhängige Realität besitzt; (c) sie verdanken ihre Existenz und Kohäsion etwas Anderem, das überhaupt kein Aspekt ist. Welche dieser Alternativen vorausgesetzt wird, ist alles andere als eine triviale Angelegenheit. Vielmehr kann das Erklärungspotential eines Gegenstandes nur dann ­beurteilt werden, wenn wir wissen, ob in seinem Wesen irgendwelche unabhängigen Eigenschaften eingeschlossen sind, oder, wenn nicht, wovon dieses Wesen letztlich abhängt. Auf diesem Weg manifestiert die Art und Weise, wie die Eigenschaften eines beliebigen Gegenstandes in einem Begriff verbunden sind, eine allgemeine Auffassung des Verhältnisses aller Aspekte. Eine solche Auffassung ist aber wie gesagt nichts Anderes als ein umfassendes Grundverständnis von Wirklichkeit. So ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Aspekten kaum zu umgehen. Ob eine Antwort stillschweigend übernommen oder offen begründet wird ändert nichts daran, dass eine solche immer im Spiel ist, wo Begriffe gebildet und verwendet werden. Hier liegt der eigentliche Grund, warum selbst noch der einfachste und grundlegendste wissenschaftliche Begriff je nach gewählter Gesamtperspektive ­verschieden interpretiert wird.13 (Beispiele davon werden wir in den Fall­studien-Kapiteln 13

In seinem Buch Personal Knowledge (New York: Harper & Row, 1962) hat Michael Polanyi dasselbe Argument in Bezug auf Regeln für die Wissenschaft vorgebracht, wie ich für theoretische Begriffe: „Alle formalen Regeln für wissenschaftliche Verfahren stellen sich unweigerlich als mehrdeutig heraus, weil sie durchaus unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem, von welchen Auffassungen der Natur der Dinge der Wissenschaftler geleitet wird.“ (167), Hervorhebung durch den Verfasser Ich sollte hinzufügen, dass ich bei der Formulierung meines Arguments hoch abstrakte Begriffe sowohl von Wahrnehmungsgegenständen wie auch von hypothetischen Entitäten verwendet habe; z.B. Begriffe, die in Wissenschaft und Philosophie entstehen. Im Fall von weniger abstrakten Begriffen, wie sie im alltäglichen Denken und Erfahren auftreten, sind sich Menschen nur selten bewusst, welche Eigenschaften sie als von anderen Eigenschaften abhängig sehen. In einem nicht-theoretischen Kontext können Menschen auf die Frage, welche der

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antreffen, wo wir Theoriekonflikte in Mathematik, Physik und Psychologie besprechen werden.) Etwas muss an dieser Stelle klargestellt werden. Obwohl bisher vor allem Theorien und Begriffe in den Blick genommen wurden, die auf der Basis von (a) oder (b) entstanden sind, geschah das nur deswegen, weil diese die Wissenschaften und die Philosophie über weite Teile dominiert haben. Sie sind jedoch nicht die einzig möglichen, wie Alternative (c) zeigt. Aufgrund meiner Überzeugung, dass Optionen (a) und (b) eine pagan-religiöse Grundlage voraussetzen, ist leicht einzusehen, warum ich glaube, dass diese von Theisten verworfen werden sollten. In den letzten drei Kapiteln werden wir deshalb der Frage nachgehen, wie Theorien und Begriffe aussehen könnten, die auf der Grundlage der dritten Alternative konstruiert werden. Im Verlauf dieser vorläufigen Skizze habe ich ausschliesslich von Begriffen gesprochen, die in Gegenstandshypothesen verwendet werden. Ich habe gezeigt, wie der kontrollierende Einfluss von religiösen Glaubensannahmen auf Gegenstandshypothesen über ein aspektzentriertes Prioritätsschema verläuft, das sich im wissenschaftlichen Begriff selbst widerspiegelt; der religiöse Einfluss kommt also nicht nur durch den äusseren Kontakt mit einer philosophischen Theorie zustande.14 Derselbe Sachverhalt kommt in perspektivischen Theorien der Wissenschaft nun ebenso zum Tragen wie im Fall von Gegenstandshypothesen. Wie schon erwähnt, gibt es sowohl in den Wissenschaften wie in der Philosophie perspektivische Theorien. Zum Beispiel kann ein Biologe die äusserst simple Hypothese aufstellen, dass die Bienen durch die Farbe anstatt durch den Geruch einer Blume angezogen werden. Das wäre eine perspektivische Hypothese, aber bestimmt keine Theorie, wie sich all die verschiedenen Aspekte zueinander verhalten. Doch selbst in diesem allereinfachsten

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Eigen­schaften, die in ihrem Begriff von etwas enthalten ist, diejenige ist, wovon alle anderen abhängig sind, ehrlich antworten: „Ich weiss es nicht.“ Das zeigt allerdings nicht, dass sie keinen „Gottesglauben“ haben, sondern nur, dass es sich um unbewusste Vorannahmen handelt. Rückfragen dazu, was es heisst, Mensch zu sein (anstatt ein Salzstreuer), enthüllen oft viel mehr über den implizit vorhandenen „Gottesglauben“. Ich versuche hier deutlich zu machen, dass das Vorschlagen, Verteidigen oder Annehmen einer Entitätshypothese durch einen Wissenschaftler nicht unbedingt unter dem Einfluss eines bestimmten Philosophen stehen muss. Die Behauptung lautet nicht, dass ein philoso­phisch-theoretisch ausgearbeiteter Überblick über das Wesen der Wirklichkeit, not­wen­digerweise einen regulativen Einfluss auf wissenschaftliche Theorien ausübt. Viel­mehr ist es die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit, die nicht vermieden werden kann, unabhängig davon, ob das, was der Wissenschaftler voraussetzt, von einem Philosophen stammt oder jemals in einer philosophischen Theorie ausgearbeitet wurde.

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Fall würde eine eingehende Analyse der verwendeten Begriffe – wie im Fall des Salzstreuers und des Atoms – das in ihnen vorausgesetzte Verhältnis zwischen aspektspezifischen Eigenschaften ans Tageslicht befördern. Das ist der Grund, warum die Frage nach der Gesamtperspektive nicht eliminiert werden kann, und warum sich die Wissenschaften niemals vollständig von philosophischen Problemen emanzipieren können. Und weil wir bereits erläu­tert haben, ­warum eine Übersichtstheorie der Wirklichkeit immer auf ein religiöses Vorverständnis zurückverweist, liegt hier auch der Grund begraben, warum wissen­ schaftliche Begriffe niemals vom regulativen Einfluss eines religiösen Glaubens befreit werden können. Das ist nun ganz unabhängig davon der Fall, ob ein Wissenschafter oder Denker diesem Einfluss zustimmt oder nicht, ihn wegwünscht oder nicht, oder auch nur die Spur eines Bewusstseins davon hat. 4.6

Kriterien zur Beurteilung von Theorien

Die Methoden, die wir haben, um Gegenstandshypothesen zu überprüfen sind scheinbar präziser und besser definiert als die, die sich zur Bestätigung von perspektivischen Übersichtstheorien anbieten. Wie schon erläutert, kann das Erklärungspotential einer Gegenstandshypothese mathematisch und/oder logisch auf seine Gründlichkeit hin getestet werden, indem die Anfangsdaten einer Theorie mit dem vorgeschlagenen Gegenstand ergänzt werden, und dann geschaut wird, ob schon bekannte Fakten daraus folgen. Dann gibt es Argumente, die zu zeigen versuchen, warum eine bestimmte Gegenstandshypothese wahrscheinlicher ist als ihre theoretischen Alternativen. Gegenstandshypothesen führen auch oft zu Voraussagen, die experimentell überprüft werden können. Das Anwendungsspektrum ist im Fall einer Gegenstandshypothese ebenfalls einfacher zu bestimmen. Es kann offensichtlich sein, ob ein vorgeschlagener Gegenstand, wenn er von einer anderen Theorie verwendet wird, überprüfbare Resultate liefert. Gegenstandshypothesen können auch hinsichtlich der Anzahl unbekannter Elemente beurteilt werden, die sie zu postulieren brauchen. Die Regel ist: Wenn zwei ebenso erklärungsträchtige Theorien miteinander verglichen werden, ist die mit der geringeren Anzahl Hypothesen der anderen vorzuziehen. Auf diese Weise können Gegenstandshypothesen evaluiert, verbessert, oder verworfen werden. Im Gegensatz dazu scheinen die Standardprozeduren zur Beurteilung von Gegenstandshypothesen im Fall von perspektivischen Übersichtstheorien keine Anwendung zu finden. Da eine Veränderung der Blickrichtung auf die Wirklichkeit keine Frage der Kombination von hypothetischen Gegenständen und Anfangsbedingungen ist, die darauf hin beurteilt werden kann, ob sie bestimmte Resultate impliziert, haben perspektivische Überblickstheorien nicht

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wie Gegenstandshypothesen die Form eines logischen Argumentes. Aus diesem Grund können sie fast nie experimentell bestätigt werden. Und wenn gegensätzliche Perspektiven auf ihre Gründlichkeit hin verglichen werden, scheint die plausiblere Theorie die Dinge besser zu erklären, selbst wenn die andere mit einer gründlicheren Erklärung aufwarten sollte. Tatsächlich erscheint die Theorie, die sich durch die gründlichere Erklärung einer grösseren Anzahl von Dingen hervortut, nur umso gründlicher falsch, wenn sie einem nicht einleuchtet.15 Kommt hinzu, dass der Umfang einer perspektivischen Übersichtstheorie potentiell universal ist; die gesamte Wirklichkeit kann aus, sagen wir, quantitativer, räumlicher, physischer sensorischer, logischer etc. Sicht betrachtet werden. Schliesslich hat es auch keinen Sinn, zwei Perspektiven hinsichtlich der Anzahl postulierter Gegenstände zu vergleichen, da gar keine postuliert werden. Daraus scheint klar hervorzugehen, dass perspektivische Überblickstheorien ihre eigenen Evaluationskriterien brauchen. Natürlich sollen Übersichtstheorien wie Gegenstandshypothesen logisch konsistent sein. Eine Theorie, die sich selber widerspricht, kann zumindest in der Form nicht richtig sein. Das ist nichts Neues. Wenn wir über die logische Widerspruchslosigkeit hinaus fragen, besteht das bisher einzige Kriterium zur Prüfung einer Überblickstheorie darin, ob es irgendwelche Daten gibt, die in dieser Perspektive überhaupt keine plausible Erklärung haben. Zum Beispiel ist es so, dass ältere Formen des Materialismus nicht in der Lage waren, eine irgendwie plausible Auskunft über das Wesen von Begriffen zu geben. Zeitgenössische Materialisten verweisen jedoch auf die Fähigkeiten von Computern und erklären die menschliche Begriffsbildung im wesentlichen als dieselbe Art von Prozess. Ob diese Sichtweise erfolgreich verteidigt werden kann oder nicht, der Materialismus verfügt damit über eine eigene Erklärung des begrifflichen Denkens wo früher keine existierte. Dieses Evaluationskriterium ist freilich um einiges loser als die Art und Weise, wie Gegenstandshypothese beurteilt werden, und zeitigt dementsprechend auch weniger präzise Resultate. Obwohl es gegen eine Perspektive spricht, dass sie überhaupt keine (irgendwie geartete) Erklärung gewisser Phänomenen bereit hält, wird einem die angebotene Erklärung doch falsch erscheinen, wenn man eine andere Perspektive hat. Dazu kommt, dass es gar keine klaren Richtlinien gibt, was eine „plausible Erklärung“ genannt werden kann und was nicht. Um das Mass der Schwierigkeiten noch zu steigern ist es 15

„Im Fall von theoretischen Disputen scheint es, dass die beiden Parteien nicht dieselben ‚Fakten‘ als Fakten akzeptieren – und noch weniger dieselben ‚Beweise‘ als Beweise. […] Das liegt daran, dass innerhalb zwei verschiedener begrifflicher Rahmen derselbe Erfahrungsbereich die Gestalt unterschiedlicher Fakten und unterschiedlicher Beweise annimmt.“ (Polanyi, Personal Knowledge, 167).

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nun so, dass selbst wenn gezeigt werden könnte, warum alle vorliegenden Erklärungen gewisser Daten aus einer bestimmten Perspektive unplausibel sind, eben doch nicht folgt, dass jede zukünftige Erklärung aus dieser Perspektive das auch sein wird. Und so können die Debatten zwischen den Perspektiven über Jahrhunderte anhalten. Dennoch sehe ich die Möglichkeit von zusätzlichen Richtlinien, die die Beurteilung von Überblickshypothesen verschärfen können. Jede dieser Richtlinien äussert sich in der Feststellung einer bestimmten Art von zu vermeidendem Widerspruch oder Inkohärenz (selbstverständlich sollen diese Widersprüche auch in perspektivischen Hypothesen mit eingeschränkter Reichweite und in Gegenstandshypothesen vermieden werden. Ich diskutiere sie hier jedoch vor allem mit Blick auf umfassende Wirklichkeits- und Erkenntnistheorien). Über den logischen Widerspruch hinaus können nun mindestens drei weitere Arten von Widersprüchen identifiziert, definiert, und vermieden werden. Diese drei sind oft subtiler und schwieriger zu erkennen als simple logische Widersprüche. Oft ist es auch so, dass logische Widersprüche einfacher zu beheben sind, und deren Korrektur nur selten umwälzende Eingriffe in die Architektur einer Theorie verlangt, in der sie auftreten. Im Gegensatz dazu, sind die drei Arten von Widersprüchen, die ich formulieren werde, nicht leicht auszumerzen. Sie treten oft im Herzen einer Theorie auf und können daher nicht eliminiert werden ohne tiefgreifende Modifikation oder gar Verneinung der zentralen Aussagen der betroffenen Theorie. Zwei dieser Widersprüche sind in der philosophischen Diskussion durchaus bekannt, obwohl sie meines Erachtens zu wenig ernst genommen werden. Die Entdeckung der dritten Art liegt noch nicht so weit zurück; vor ungefähr fünfzig Jahren wurde diese Art von Widerspruch von Herman Dooyeweerd erstmals definiert und als Richtschnur des Denkens konsequent eingesetzt.16 16

Einige Kritiker haben eingewendet, dass die von mir genannten Kriterien für Theorien jeglicher Pointe entbehren, wenn alle unter dem Einfluss dessen, was als göttlich vorausgesetzt, interpretiert werden. „Sind diese Kriterien nicht nur für diejenigen bindend, die deinen „Gottesglauben“ teilen?“, fragen sie. Andere haben dieselbe Art von Erwiderung gegen meine Definition von religiösem Glauben erhoben, und ein Kritiker hat sogar vorgeschlagen, dass die Annahme einer religiösen Kontrolle von Theorien auf selbstreferentielle Weise inkohärent ist. Setzen wir uns zunächst mit der zuletzt angeführten Kritik auseinander. Unsere Behauptung lautet nicht, dass alle Theorien durch einen „Gottesglauben“ produziert oder uns durch diesen Glauben aufgezwungen werden. Es liegt also keine selbstreferentielle Inkohärenz vor. Die Behauptung lautet, dass die Natur der Postulate einer Theorie immer angesichts dessen interpretiert wird, was als göttlich vorausgesetzt wird. Im Fall von Überzeugungen, die keine Hypothesen sind, habe ich stets zu verdeutlichen versucht, dass es unzählige Sachverhalte gibt, die auf einem Erfahrungsund Denkniveau erkannt werden, das von allen gleichermassen geteilt wird (siehe dazu

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Das erste Kriterium weist jede Theorie zurück, die eine Behauptung enthält, die, obwohl nicht in Konflikt mit einer anderen Aussage der Theorie, mit sich selber im Konflikt steht. Diese Art von Behauptung kann im Gefolge von einigen zeitgenössischen Denkern als „selbst-referentiell inkohärent“ bezeichnet werden. Wir können eine starke und eine schwache Version unterscheiden, in der eine Aussage gegen diese Forderung verstossen kann. Eine Aussage ist im starken Sinn selbst-referentiell inkohärent, wenn sie selbst eine Ausnahme zum behaupteten Sachverhalt bildet. In diesem Fall eliminiert sie die Möglichkeit ihrer Wahrheit gleich selber. In der schwachen Version dagegen verlangt eine Aussage, die mit dieser Art von Widerspruch behaftet ist, nicht die Annahme ihres eigenen Gegenteils, sondern eliminiert bloss die Möglichkeit, dass irgend jemand sie als wahr einsehen könnte. Obwohl die Aussage wahr sein kann, führt die Tatsache der Unentscheidbarkeit ihrer Wahrheit dazu, dass sie zur Erklärung von etwas Anderem nicht taugt. Zur Illustration der starken Version einer selbst-referentiellen Inkohärenz verweise ich auf die Behauptung, die von Taoisten manchmal erhoben wird, dass nichts über das Tao ausgesagt werden kann. Ohne einschränkende meine Kommentare im 1. Kapitel). Jeder kann erkennen, dass beispielsweise das Stopplicht auf Rot steht oder dass im Garten Bäume sind etc. Das bleibt selbst dann der Fall, wenn auf einer tieferen Analyseebene die Begriffe dieser Sachverhalte Unterschiede hinsichtlich des „Gottesglaubens“ zeigen (ich werde das in Kürze an einem Beispiel von zwei Personen illustrieren, die sich bei Tisch einen Salzstreuer reichen). Dasselbe gilt für Kriterien, die hier für Theorien angeboten werden, wie auch für die Definition des religiösen Glaubens und die Behauptung, die über die religiöse Kontrolle von Theorien aufgestellt wurde. Dabei geht es immer um solche Sachverhalte, die selbst keine Hypothesen sind; es handelt sich nicht um wohlbegründete Vermutungen, die Erklärungslücken schliessen sollen. In dieser Hinsicht haben sie unserem zentralen Anspruch gegenüber einen Status analog zu demjenigen des Gesetzes des zu vermeidenden Widerspruchs. Dieses Gesetz ist ebenfalls keine Theorie, sondern dem logischen Aspekten unserer Erfahrung durch Abstraktion entnommen. Als solches kann es von jedem erkannt werden, unabhängig von der eigenen religiösen Orientierung. Es wird dann natürlich im Licht des jeweiligen religiösen Glaubens einer Person interpretiert, weshalb es unterschiedlich ausgelegt wird: als ein zufälliges Produkt der Evolution unseres Gehirns, anwendbar auf unsere Gedanken, aber nicht auf die aussermentale Wirklichkeit, anwendbar auf Sprache, aber nicht auf Mathematik, anwendbar auf die Welt der alltäglichen Wahrnehmung, aber nicht auf die subatomare Wirklichkeit, als Teil der Illusion dieser Welt, die wir zurückweisen müssen, um den Zyklus von Geburt zu verlassen, etc. Genauso verhält es sich mit der Behauptung über die religiöse Kontrolle von Theorien, der Definition von religiösem Glauben und der für Theorien angebotenen Kriterien. Es handelt sich um Sachverhalte, die der Erfahrung entnommen sind. Natürlich werden auch sie von unterschiedlichen religiösen Standpunkten her interpretiert, aber das bestätigt bloss unser Argument, und untergräbt es nicht (siehe H. Dooyeweerd, vol. 1, 34–37, 82–86, 545–66; vol. 2, 366–80, 429–34, 466–71; vol. 3, 1–53, 145).

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Qualifizierung (die im Taoismus durchaus intendiert ist), führt diese Aussage zu einem Problem. Denn die Aussage „Nichts kann über das Tao gesagt werden“ ist schon eine Aussage über das Tao. Auf sich selbst angewandt, eliminiert diese Aussage die Möglichkeit ihrer Richtigkeit. Als Beispiel für die schwache Version, kann die von S. Freud einst aufgestellte Behauptung gelten, jeder Glaube sei das Produkt unbewusster, emotionaler Bedürfnisse seines jeweiligen Subjekts. Wäre diese Aussage wahr, müsste man sie ebenso auf die Aussage selber anwenden können, da sie eine Überzeugung Freuds ausdrückt. Sie verlangt von sich selbst, dass sie nichts weiter als das Produkt von Freuds unbewussten, emotionalen Bedürfnisse sei. Daraus folgt nun nicht notwendig, dass diese Aussage falsch ist. Es folgt bloss, dass niemand, weder Freud noch sonst irgend jemand, jemals wissen kann ob sie zutrifft oder nicht. Sie erlaubt allein zu sagen, dass jemand nicht anders kann, als sie für wahr zu halten. Das nächste Kriterium verlangt, dass eine Theorie nicht inkompatibel sein darf mit den Vorannahmen, die gemacht werden müssen, damit die Theorie wahr sein kann. Eine Theorie, die gegen dieses Kriterium verstösst, kann als „voraussetzungslogisch inkohärent“ bezeichnet werden. Als Beispiel dieser Art von Inkohärenz führen wir die Behauptung bestimmter Philosophen an, alles sei exklusiv physischer Natur. Verfechter dieser Behauptung meinen damit, dass kein Ding irgendwelche Eigenschaften besitzt, oder irgendwelchen Gesetzmässigkeiten untersteht, die nicht physischer Art wären. Doch schon der Satz, der diese Behauptung ausdrückt, der Satz „Alles ist exklusiv physischer Natur“, hat ein sensorisches Laut- oder Erscheinungsbild, und eine linguistische Bedeutung. Diese sind keine physischen Eigenschaften. Ohne sie wäre der Satz aber überhaupt kein Satz. Er wäre nur gerade eine Reihe physischer Laute oder Flecken, die keine linguistische Bedeutung haben und deshalb keine Behauptung ausdrücken können – wie eine zufällige Ansammlung von Kieselsteinen, Wolken oder Blätter auch keine linguistische Bedeutung hat und keine Behauptung enthält. Zudem ist die Behauptung dieses exklusiven Materialismus dasselbe, wie seine Wahrheit zu behaupten, was nun eine weitere, nichtphysische Eigenschaft ins Spiel bringt. Die Behauptung der Wahrheit des Materialismus setzt weiterhin voraus, dass sein Gegenteil falsch sein muss; ein Sachverhalt, der auf logischen, nicht phy­sischen Gesetzen basiert (tatsächlich wird jede Theorie, die die Existenz von logischen Gesetzen verneint, mit einem Schlag und hoffnungslos voraussetzungslogisch inkohärent, da schon diese Verneinung in einer Weise als wahr gesetzt wird, dass die Falschheit ihres Gegenteils logisch ausgeschlossen ist). Das zeigt, warum die Behauptung „Alles ist exklusiv physischer Art“ voraussetzt, dass ihr selbst auch nicht-physische Eigenschaften zukommen und sie nicht-physischen Normen untersteht, um überhaupt verstanden und als wahr behauptet werden zu können. Anders

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gesagt, wie intelligent und raffiniert die Argumente, die diese Art von Materialismus stützen sollen, auch immer daher kommen mögen, bleibt dessen Behauptung doch inkompatibel mit bestimmten Annahmen, die für die Wahrheit der Theorie erforderlich sind. Die Theorie ist deshalb voraussetzungslogisch inkohärent, und zwar im starken Sinn.17 Die Tatsache, dass das vorausgegangene Beispiel mit solchen Theorien zu tun hatte, die eine genuine Vielfalt verschiedener Aspekte verneinen, ist nicht zufällig. Obwohl diese Theorien nicht als einzige gegen das Kriterium verstossen, sind Theorien, die bestreiten, dass die Welt, so wie wir sie erfahren, Dinge mit verschiedenartigen Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten enthält, allesamt voraussetzungslogisch inkohärent. Dieses Kriterium ist deshalb unsere erste Verteidigung der genuinen Vielzahl von Erfahrungsaspekten: Jeder Versuch, Aspekte insgesamt zu leugnen, oder sie alle auf einen scheinbar einzig wirklichen reduzieren zu wollen, endet unweigerlich in dieser Art von Widersprüchlichkeit. Das letzte der drei Kriterien hat es ebenso mit der Kompatibilität einer Theorie und eines Faktors zu tun, der ausserhalb des expliziten Gehalts der Theorie liegt, die gegen dieses Kriterium verstösst. Doch anstatt die Verträglichkeit zwischen einer Theorie und ihren unausgesprochenen Voraussetzungen zu prüfen, zielt dieses letzte Kriterium auf die Kompatibilität einer Theorie mit den unverzichtbaren Bedingungen ihrer Produktion. Anders gesagt, verlangt dieses Kriterium, dass eine Theorie mit einem Zustand oder Aktivität ihrer Erfinderin, ohne die die Theorie nicht zustande käme, vereinbar sein muss. Um den alten marxistischen Ausdruck zu adaptieren: Eine Theorie muss mit ihren „Produktionsmitteln“ übereinstimmen. Eine Theorie, die dieses Kriterium verletzt, können wir „performativ inkohärent“ nennen. Wir gehen wiederum von einem möglichst einfachen Beispiel aus. Nehmen wir die Situation, in der jemand die Behauptung äussert, niemand könne 17

Dieses Kriterium bringt eine Kritik mit sich, die sich von der üblichen Kritik des eliminativen Materialismus unterscheidet. Letztere wendet sich gegen die Leugnung der Existenz von Überzeugungen und anderen propositionalen Einstellungen. Churchland [A Neuro-Computational Perspective: The Nature of Mind and the Structure of Science, Cambridge, Mass.: MIT-Bradford, 1989, 111–27) hat argumentiert, dass diese Kritik eine ‚Alltagspsychologie‘ annimmt, die auf fragwürdigen Voraussetzungen basiert. Aber anstatt einer Alltagspsychologie zu folgen, wonach Glaubensüberzeugungen nicht-physischer Art sein müssten, zeigt mein Kriterium vielmehr, warum auch Eliminativisten davon ausgehen müssen, dass ihre Behauptungen nicht-physische Eigenschaften haben und von nicht-physischen Gesetzen bestimmt werden, wenn sie denn Bedeutung haben und wahr sein sollen. Und das betrifft auch ihre Annahmen über Alltags­psy­chologie.

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sprechen, oder es gäbe keine Sprache. Da man sprechen muss, um zu behaupten, dass dies unmöglich sei, und in einer bestimmten Sprache sprechen muss, um zu behaupten, es gäbe keine Sprachen, fallen diese beiden Behauptungen unserem Kriterium zum Opfer und können deshalb nicht wörtlich wahr sein. Um die schwächere Variante des Kriteriums zu erläutern, schauen wir uns die Situation an, in der wir aufgefordert werden, die Temperatur des Wassers im Glas mittels eines Thermometers zu messen. Tatsache ist, sobald wir das Thermometer ins Wasser halten, können wir unmöglich behaupten, wir wüssten, wie viel die Temperatur des Wassers betrug, bevor wir dies getan haben. Denn unsere Handlung selbst hat die Temperatur des Wassers verändert. Das eigentliche Vorgehen, das notwendig war um herauszufinden, was wir wissen w ­ ollten, verhindert dieses Wissen (das heisst es erzeugt ein „Unbestimmtheitsverhältnis“). Die Behauptung „Das Thermometer zeigt, dass die Wassertemperatur zwanzig Grad Celsius betrug“ ignoriert, dass die Handlung, mittels der diese Information gewonnen wurde, uns gleichzeitig im Weg steht, den Wahrheitsgehalt der Information feststellen zu können. Ein bedeutungsträchtigeres Beispiel der starken Version dieser Inkohärenz wird uns von Descartes geboten (obwohl dieser das zugrunde liegende, spezifische Kriterium weder als solches identifiziert noch definiert hatte). Im Nachdenken darüber, was und was nicht sinnvoll bezweifelt werden kann, erkannte Descartes, dass das eine, was nicht in Zweifel gezogen werden konnte, seine eigene Existenz war. Er musste existieren, um den Akt des Zweifels überhaupt vollziehen zu können. Er musste auch existieren, um sagen oder denken zu können „Ich existiere nicht.“ Das heisst, seine Existenz und seine Denk- und Sprechakte waren alle inkompatibel mit der Aussage „Ich existiere nicht.“ Er schloss deshalb, dass „Ich existiere nicht“ falsch sein musste, in welchem Fall er die Wahrheit von „Ich existiere“ nicht sinnvoll bezweifeln konnte, wenn immer er darüber nachdachte. Dieses Beispiel ist bedeutsam, weil es hervorhebt, wie dieses Kriterium signifikante Resultate produzieren kann, indem es die Aussagen einer Theorie mit den Bedingungen vergleicht, die nicht nur ausserhalb der Theorie selbst liegen, sondern nicht einmal Überzeugungen (beliefs) sind. Wie die vorangehenden Kriterien, schiebt die Forderung von performativer Kohärenz logische Gesetze und Unterscheidungen nicht einfach beiseite, sondern setzt diese voraus. Doch gibt sie uns einen Test zur Prüfung von Theorien zur Hand, der über die bloss logische Widerspruchslosigkeit hinaus geht. Dieses Kriterium deckt auf, warum eine Theorie, obschon sie nicht gegen logische Gesetze verstösst und nicht einmal unvereinbar mit ihren eigenen Vorannahmen ist, dennoch einen fatalen Mangel aufweist. Es ist wichtig zu sehen, dass die Aussage „Ich existiere nicht“ nicht logisch selbstwidersprüchlich ist; der tatsächliche Wahrheitsgehalt von „Ich existiere“ kommt nicht allein aufgrund

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logischer Regeln zustande. Auch Descartes war klar, dass die erste Aussage in einem mehr-als-logischen Sinn nicht wahr, und die zweite nicht falsch sein konnte. Diesen Sinn haben wir hier identifiziert und benannt. Der Test der performativen Kohärenz wird sich als besonders nützlich erweisen, wenn wir in Kapitel zehn etwas näher auf traditionelle Wirklichkeitstheorien eingehen. Dort soll dieses Kriterium zur Anwendung gebracht werden, indem sowohl gezeigt wird, warum die Frage der inter-aspektuellen Verbindungen unmöglich vermieden werden kann, und warum die Bekleidung irgend eines Aspektes mit dem Status unabhängiger Existenz immer auf eine performative Inkohärenz hinausläuft, zumindest in einer abgeschwächten ­Version davon. Die Verwendung des Kriteriums wird an den Tag bringen, dass jeder Versuch, die Behauptung der Selbst-Existenz (des göttlichen Status) eines abstrahierten Aspektes zu begründen, unweigerlich in Konflikt mit der Aktivität der Abstraktion selbst gerät, die notwendige Bedingung eben dieser Behauptung ist.18 Dies wird einmal mehr den religiösen Charakter all dieser Behaup­tungen 18

Dooyeweerd betrachtet dieses Kriterium als den Schlüssel zu einer vollständigen transzendentalen Kritik der Theoriebildung, und er beschuldigt Kant, es verfehlt zu haben. Er behauptet sogar, dass durch die Anwendung dieses Kriteriums auf Kants eigene Theorien diese disqualifiziert werden. Dooyeweerd schreibt:  „From the outset Kant derived human knowledge from only two origins: sensitivity and logical thought […] following the steps of English empiricism, he starts from the dogmatic supposition that the ‘datum’ in experience is of a purely […] sensory character […] In this […] attitude epistemology simply took for granted that which should be the chief problem of any critique of knowledge, viz. the abstraction of the sensory and logical functions of consciousness from the full systasis […] of the […] aspects of human experience. […] This abstraction is only made in theoretical thought by a process of disjunction and opposition. […] The real datum of human experience precedes every theoretical [abstraction]. The assumption that certain functions of consciousness, theoretically isolated in the [… ] act of cognition are the data was nothing less than the cosmological capital sin.“ (New Critique, vol. 2, 431–32) The primordial question should be: What do we abstract from the real datum of experience? [… ] And only in unbreakable coherence with this primordial question should the second problem be raised: How can the antithesis between the [abstracted aspects] be reconciled by an interaspectual […] synthesis? (Ebd., 434)  (Von Beginn an leitet Kant das menschliche Wissen von zwei Ursprüngen ab: Einfühlungsvermögen und logisches Denken. Dem englischen Empirismus folgend, beginnt er mit der dogmatischen Annahme, dass das Erfahrungsdatum von rein sensorischem Charakter sei. […] Mit dieser Haltung hat die Epistemologie etwas als selbstverständlich vorausgesetzt, was das Hauptproblem jeder Wissenskritik sein sollte, nämlich die Abstraktion der sensorischen und logischen Funktionen des Bewusstseins aus dem Gesamtzusammenhang aller Aspekte der menschlichen Erfahrung. Diese Abstraktion wird nur im theoretischen Denken durch einen Prozess der Disjunktion und Opposition vollzogen. […] Das wahre Erfahrungsdatum geht jedweder theoretischen Abstraktion voraus. Die

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4. Kapitel

unterstreichen, wie auch die Tatsache, dass letztere in der Erfahrung wurzeln, und auf einer Art von Fundament aufbauen, das diesseits des wissenschaftlichen Denkhorizonts liegt. Bevor diese Position verteidigt werden kann, muss sie jedoch noch weiter erläutert werden. Das wird die Aufgabe der beiden nächsten Kapitel sein. Kapitel fünf ist der Gegenüberstellung unserer Sicht und den gewichtigsten Konkurrenzpositionen gewidmet, was das Verhältnis zwischen religiösem Glauben und Theorien angeht. Kapitel sechs wird der Frage nachgehen, was es heisst, dass jede abstrakte Theorie durch einen religiösen Glauben kontrolliert oder reguliert wird. Mit diesen Erläuterungen im Rücken, werden uns in drei weiteren Kapiteln verschiedene Fallbeispiele beschäftigen, wo diese Kontrolle in mathematischen, physikalischen und psychologischen Theorien tatsächlich zu beobachten ist. Annahme, dass gewisse Funktionen des Bewusstseins, im […] Akt der Wahrnehmung theoretisch isoliert, diesem Datum entsprechen, war nicht weniger als die kosmologische Ursünde. (New Critique, vol. 2, 431–32) Zuerst und zunächst sollte die Frage lauten: Was ist es, das wir vom Erfahrungsdatum abstrahieren? […] Das zweite Problem, das sich untrennbar mit dieser ersten Frage verbindet, ist dieses: Wie kann der Gegensatz zwischen den [abstrahierten Aspekten] durch eine interaspektuelle Synthese überwunden werden? (ebd., 434) Diese Art der Verletzung des Kriteriums der performativen Kohärenz trifft nicht nur auf Kant zu, sondern ist, wie Dooyeweerd zeigt, typisch für die westliche Philosophie (siehe auch New Critique, vol. 1, 27162, 297–405; vol. 2, 430 ff., und bes. 493– 575). Wir kommen darauf später zurück, z.B. im 8. Kapitel (speziell in Anm. 2), wo sich auch zeigen wird, dass die Art, wie die Gegebenheit einer Erfahrung charakterisiert wird, entscheidend ist für die verschiedenen Interpretationen der Atomtheorie. Eine vollständigere Darlegung der Kraft von Dooyeweerds Kritik soll im 10. Kapitel präsentiert werden.

Theorien und Religion: Die Alternativen

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5. Kapitel

Theorien und Religion: Die Alternativen In diesem Kapitel werde ich eine kurze Skizze der wichtigsten Positionen präsentieren, die in der Geschichte des westlichen Denkens das Verhältnis von religiösem Glauben und Theorien geprägt haben. Natürlich gibt es verschiedene Varianten innerhalb dieser Denkansätze, die wiederum in mehrfach kombinierter Form auftreten können. Die hier vorgetragenen Sichtweisen geben also bloss die grundlegenden Alternativen, und diese in einfachster Gestalt, wieder. 5.1

Religiöser Irrationalismus

Der Titel, mit dem ich diese erste Alternative versehen habe, sollte nicht so verstanden werden, dass sich jeder Glaube an ein Göttliches nach rationaler Prüfung als minderwertig oder gar sinnlos herausstellen muss. Einige Vertreter dieser Sichtweise sind zu diesem Schluss gelangt, andere nicht. Auf jeden Fall enthält sie nicht notwendig ein Urteil über Rationalität oder Wahrheit des religiösen Glaubens, sondern bringt vielmehr das allgemeine Verhältnis zum Ausdruck, in dem ein solcher Glaube zu einem möglichen rationalen Fundament steht. So gesehen lässt sich die irrationalistische Sicht auf den einfachen Punkt bringen: Vernunft und religiöser Glaube haben nichts miteinander zu tun. Folglich kann keine der beiden Seiten ein Urteil über die andere abgeben. Das bedeutet unter anderem, dass kein religiöser Glaube bewiesen oder widerlegt werden kann. In dieser Sicht gründet der Glaube an ein Göttliches allein im Vertrauen auf die Richtigkeit eines Glaubensinhalts, unabhängig von jeder rationalen Rechtfertigung (damit hebt sie sich von der Auffassung ab, die ich weiter vorne verteidigt habe, dergemäss religiöser Glaube in Erfahrung gründet). Glaube (faith) ist hier ein vernunftblindes, unerklärliches und frei schwebendes Vertrauen, das mit nichts wirklich verbunden ist – mit der möglichen Ausnahme von Ethik und Moral. Dieser Position bin ich gleich am ersten Tag meines Hochschulstudiums begegnet. Ein Dozent für Philosophie fragte mich, warum ich an die Universität gekommen sei, und worin meine primären Interessen bestünden. Als ich antwortete, ich würde Vorlesungen in Religionsphilosophie belegen, zuckte er zusammen und sagte: „Hier in Harvard unterrichten wir Philosophie und Religion. Es liegt an ihnen, ob sie einen Zusammenhang zwischen den beiden sehen wollen.“ Im Vergleich zu anderen Stimmen ist diese Position hier noch mild ausgedrückt. Viele Menschen waren und sind der Auffassung, dass Glaube und Denken einander so spinnefeind sind, dass schon der blosse Versuch, Argu© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_006

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5. Kapitel

mente für den Glauben zu geben, diesen zerstören würde. Søren Kierkegaard, zum Beispiel, entgegnete denen, die ihren Glauben rational begründen wollten: Wäre es nicht doch am besten, beim Glauben stehenzubleiben, und ist es nicht empörend, dass ein jeder weitergehen will?... Wäre es nicht besser, dass man beim Glauben stehen bliebe und dass der, der dort steht, zusähe, dass er nicht falle; denn die Bewegung des Glaubens muss ständig kraft des Absurden gemacht werden.1 Wenn Kierkegaard den Glauben für „absurd“ erklärt, meint er dabei nicht nur, dass dieser nicht rational begründbar ist, sondern auch, dass sich theoretisches Denken und Glaube gegenseitig ausschliessen müssen. Darum ist es gewiss und wahr, dass derjenige, der zuerst erfand, in der Christenheit das Christentum zu verteidigen, de facto ein Judas Nummer zwei ist …2 Und ausführlicher: Da ist ein Mann, der den Glauben annehmen möchte; nun kann die Komödie beginnen. Er möchte Glauben haben, aber er möchte sich auch absichern mittels einer objektiven Untersuchung des Gegenstands. Was geschieht? … [Dieser] wird wahrscheinlich, wahrscheinlicher, vielleicht über die Massen und ganz besonders wahrscheinlich. Jetzt ist er bereit zu glauben, und er meint von sich sagen zu dürfen, dass er nicht wie Schuhmacher und Schneider und andere Einfältige glaube, sondern erst nach langen Erwägungen … doch siehe da, jetzt ist es gerade unmöglich geworden zu glauben. Das fast Wahrscheinliche, das Wahrscheinliche, das über die Massen und ganz besonders Wahrscheinliche, das kann er beinahe und so gut wie wissen, über die Massen und ganz besonders beinahe wissen – aber es glauben, das lässt sich nicht machen; denn das Absurde ist gerade der Gegenstand des Glaubens und das einzige, was sich glauben lässt.3 1 S. Kierkegaard, Fear and Trembling and the Sickness Unto Death (Garden City, N.Y.: Doubleday, 1955), 48. 2 Ebd., 218. 3 S. Kierkegaard, The Concluding Unscientific Postscript, reprinted in Nineteenth-Century Philosophy, ed. P. Gardiner (New York: Free Press, 1964), 306–7. Mehrere Kierkegaard-Forscher haben mich darüber informiert, dass die Position, die in diesen Zitaten umrissen wird, missverständlich ist und dass Kierkegaards Position meiner eigenen durchaus ähnlich ist. Sie ge-

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Ein anderer Denker, der diesen Weg einschlug, war Friedrich Schleiermacher, ein bedeutender deutscher Theologe des neunzehnten Jahrhunderts. Schleiermacher sah den religiösen Glauben getrennt von aller Vernunft, da Religion strikt eine Sache des Gefühls sei. Also erklärte er Religion zur „Summe aller höheren Gefühle“ und zog daraus die Schlussfolgerung: Es folgt, dass Ideen und Prinzipien der Religion fremd sind [ … ]. Wenn Ideen und Prinzipien eine Realität besitzen, dann im Zusammenhang mit unserem Wissen, das nun eine ganz andere Seite des Lebens ausmacht als die Religion.4 Nach Kierkegaard und Schleiermacher schliessen sich Glaube und theoretische Vernunft gegenseitig aus. Doch während für Schleiermacher das theoretische Denken, selbst wenn es wollte, nicht in den Bereich des Glaubens vordringen kann, hält Kierkegaard solche Übergriffe durchaus für möglich – und immer mit denselben fatalen Konsequenzen für den Glauben. Ich habe darauf hingewiesen, dass eine Anzahl Variationen innerhalb der grundsätzlich verschiedenen Alternativen, wie sich religiöser Glaube und theoretische Vernunft zu einander verhalten können, möglich sind. Das trifft nun auch für diese Position zu. Die beiden soeben zitierten Denker sind nicht die einzigen, die diese Sichtweise vertreten haben. Noch sind ihre Versionen die einzigen Variationen dieser Position. Alle deren Befürworter aber heben die Unzulänglichkeit der Vernunft für den Glauben heraus; sie alle betonen, dass Vernunft nichts Gutes beisteuern, im schlimmsten Fall aber vieles zerstören kann. Eine grafische Darstellung soll diese Position verdeutlichen: Religiöser Glaube ist:

Theoretische Vernunft ist:

1. optional 2. von theoretischer Vernunft isoliert

1. religiös neutral und autonom 2. höchste Berufungsinstanz auf ihrem Gebiet

ben aber zu, dass Aussagen wie diejenigen, die ich hier zitiert habe, seine Position so erscheinen lassen, wie ich sie beschreibe, und dass dieses (Miss-)Verständnis für längere Zeit sein intellektuelles Vermächtnis geprägt hat. Aus diesem Grund belasse ich die Zitate als Beispiele für die dargestellte Position, nehme aber zur Kenntnis, dass dies möglicherweise nicht exakt die Position ist, die Kierkegaard selbst beabsichtigte. 4 F. Schleiermacher, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1920).

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5. Kapitel

Bevor die weiteren Alternativen erläutert werden, möchte ich zwei Besonderheiten dieser Sichtweise hervorheben. Die erste, durch die Ziffer 1 auf der linken Seite bezeichnet, ist die: Jede normale Person macht notwendig von ihrer Vernunft Gebrauch; der Glaube hingegen stellt etwas dar, das ausgeübt werden kann oder auch nicht. Der zweite Punkt ist, dass in dieser Sichtweise der Bereich der Vernunft zwar eingeschränkt, sie selbst weder einfach zurückgewiesen noch für überflüssig erklärt wird. Die irrationalistische Sichtweise ist durchaus bereit, die Fähigkeiten der Vernunft zu anerkennen und zu loben, aber eben nur solange es um die rationale Dimension des Lebens geht. In solchen Dingen wird die Vernunft als höchster Massstab betrachtet. Ebenso wird hier zugestanden, dass das vernünftige Denken prinzipiell unbeeinflusst von äusseren Faktoren operiert, und daher autonom oder selbstregulierend ist. Anstatt die Vernunft zu diskreditieren, verficht diese Position, die ich als religiösen Irrationalismus bezeichne, die Existenz einer nicht- oder überrationalen Dimension des Lebens, die „Raum für den Glauben lässt“. Da die Nische des Glaubens so beschaffen ist, dass die theoretische Vernunft nicht in sie vordringen soll oder kann, gibt diese Position alle Hoffnung auf, rationale Unterstützung für den Glauben zu finden. Im Tausch dafür erlangt der Glaube Immunität von aller rationalen Kritik. Wiederum gewährt diese Position theoretischem Denken die Freiheit von religiöser Zensur. Kurzum, die beiden Pole der Beziehung sind derart von einander abgeschottet, dass kein Konflikt zwischen einem Glaubensartikel und einer wissenschaftlichen oder einer philosophischen Theorie möglich ist. Die „Abteilung“ des Daseins, in der theoretische Vernunft das Mass aller Dinge ist, überschneidet sich nicht im Geringsten mit dem Bereich, in dem der Glaube an ein Göttliches unser Vertrauen in Anspruch nimmt. 5.2

Religiöser Rationalismus

Der irrationalistischen Position gegenüber steht die Sichtweise, die ich „religiöser Rationalismus“ nenne. Gemäss dieser Position haben alle Überzeugungen vor den Richterstuhl der Vernunft zu treten, der religiöse Glaube nicht ausgenommen. In den Worten des Philosophen A.N. Whitehead ist „Vernunft … die letzte Berufungsinstanz, universal und doch jedem individuell, der sich alle Autorität beugen muss“.5 Diese Sichtweise lässt keine Erwägung oder Einstel5 A.N. Whitehead, Adventures of Ideas (New York: Mentor Books, 1955), 165. Diese Sicht war im westlichen Denken für lange Zeit vorherrschend und wurde von Denkern geteilt, die ansonsten ziemlich unterschiedliche Ansichten hatten. Beispielsweise zitiert Karl Marx in seiner Doktorarbeit von 1841 David Hume mit Zustimmung: „Es ist gewiss eine Demütigung für die

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lung zu, kein Vertrauen, kein Gefühl, keine Hoffnung, die nicht der Autorität der Vernunft unterstellt wäre oder diese gar anfechten könnte. Insbesondere liegt kein Glaube an etwas Göttliches ausserhalb des Kompetenz- und Urteilsbereichs der Vernunft. Der Rationalismus teilt daher mit dem Irrationalismus den Glauben an die Neutralität der Vernunft. Die beiden unterscheiden sich bloss in der Frage nach dem rechtmässigen Kompetenzbereich der Vernunft. Beide erklären die Vernunft für autonom. Das heisst, die Vernunft unterliegt im Prinzip nichts als dem Einfluss ihrer eigenen Gesetze. Natürlich ist damit nicht gemeint, dass Menschen immer neutral und unvoreingenommen sind, wenn sie Überzeugungen evaluieren und Theorien konstruieren. Doch ganz gleichgültig wie wenig eine Person es zu verhindern vermag, dass äussere Einflüsse ihr Urteil färben, sind die Regeln rationalen Denkens und die Prozeduren, mittels derer wir Theorien konstruieren und bewerten, selber doch neutral. Deren Befolgung führt zu unvoreingenommen Urteilen wenn und wo immer Menschen sich von anderweitigen Einflüssen freihalten können. In einigen älteren Spielarten des Rationalismus war Vernunft nicht nur die neutrale und letztgültige Berufungsinstanz. Sie sollte auch kompetent in allen Belangen sein. Die Verfechter dieser Sicht waren nicht unbedingt der Meinung, für alles eine Erklärung zu besitzen. Vielmehr war die Überzeugung die, dass im Prinzip alle Dinge rational entscheidbar und menschlichem Wissen zugänglich sind. Dahinter stand der Glaube, dass die Ordnung, die der Wirklichkeit zugrunde liegt, von derselben Art ist wie die Ordnung, die menschliches Denken überhaupt möglich macht. Dennoch gab es unter den Rationalisten immer auch solche, die diesem letzten Punkt gegenüber Bedenken zeigten. Einige zweifelten daran, ob die Wirklichkeit vollständig nach logischen oder mathematischen Gesetzmässigkeiten strukturiert sei und deshalb eine umfassende rationale Erklärung zulasse. Sie waren nicht restlos davon überzeugt, dass die menschliche Vernunft, auch nur im Prinzip, alles zu entscheiden in der Lage sei. Heutzutage sind es nur noch wenige, die die Berechtigung eines solchen Zweifels bezweifeln möchten. Doch brauchen religiöse Rationalisten die Vernunft nicht für omni­kompetent zu erklären um ihre Stellung zu wahren. Sie brauchen es bloss für Philosophie, deren souveräne Autorität/Hoheitsgewalt überall anerkannt werden sollte, sich bei jeder Gelegenheit wegen ihrer Schlussfolgerungen entschuldigen und rechtfertigen zu müssen… Es fällt einem dabei ein König ein, der des Hochverrats gegen seine eigenen Untertanen beschuldigt wird.“ Direkt anschliessend fügt Marx seinen eigenen Kommentar an: „Das Bekenntnis des Prometheus: ‚haplô logô, tous pantas echthairô theous‘ ist ihr eigenes Bekenntnis, ihr eigener Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewusstsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen. Es soll keiner neben ihm sein.“ Aus K. Marx und F. Engels, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange, Werke 40 (Berlin: Dietz Verlag, 1968], 261).

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5. Kapitel

unstatthaft zu erklären, an einer Überzeugung festzuhalten, die rational nicht entscheidbar ist. Anstatt eine Nische für rational nicht entscheidbare Überzeugungen einzuräumen, wird in solchen Fällen die Suspension des Glaubens verlangt. Doch besteht diese Sichtweise ohnehin meistens darauf, dass religiöser Glaube unter den Dingen ist, die rational entschieden werden können. Grafisch nimmt sich die Position, dergemäss auch der religiöse Glaube dem Verdikt der theoretischen Vernunft unterstellt sein soll, so aus: Religiöser Glaube ist: 1. eine Theorie oder Schlussfolgerung der Vernunft 2. optional

↑ Theoretische Vernunft ist: 1. neutral in allen Dingen 2. höchste Berufungsinstanz in allen Dingen 3. fähig, alle Dinge zu entscheiden (?) Allein, eine rationalistische Sichtweise zu teilen besagt noch nicht, wie nach dem Urteil eines Denkers das Verdikt der theoretischen Vernunft in Sachen religiöser Glaube ausfallen muss. Einer der grossen Vertreter dieser Position war Plato, der zum Schluss kam, vernünftiges Denken könne sichere Beweise für die Wahrheit seines religiösen Glaubens auffinden. Insofern wir rational sind, wissen wir, dass es zwei Gründe gibt, die uns zum Glauben an die Götter führen … Einen Beweis nahmen wir von der Seele her... Weil diese das ursprunglichste und gottlichste aller Dinge ist … Ein weiterer Beweis ging von dem geordneten Laufe der Gestirne und aller anderen Weltkorper aus, bei welchen ein allmachtiger denkender Geist die schone Einrichtung des Ganzen hergestellt hat6 Auch Bertrand Russell, ein englischer Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts, nahm eine rationalistische Position ein. Allerdings gelangte er zu einer ganz anderen Schlussfolgerung: So weit wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen ist das Universum langsam über verschiedene Stufen zu seinem jetzigen, mehr oder weniger erbärmlichen Zustand auf dieser Erde gekrochen, und wird über noch erbärmlichere Stufen zu seinem endgültigen Tod kriechen. Wenn man dies als Beleg für eine dahinterliegende Absicht nehmen will kann ich 6 Die Gesetze, XII, 966.

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nur sagen, dass mir diese Absicht nicht gefällt. Ich sehe also keinen Grund an irgendeinen Gott zu glauben, egal wie vage und abgeschwächt dieser Grund auch sein mag.7 Nun hat sich unter den Menschen, die zu einer rationalistischen Einstellung tendieren, in den letzten dreihundert Jahren eine deutliche Verschiebung weg von Plato und hin zu Russells Sicht abgezeichnet. So halten es viele Zeitgenossen, die eine rationalistische Sicht vertreten, geradezu für selbstverständlich, dass die Vernunft den religiösen Glauben widerlegt und durch wissenschaftliche und philosophische Theorien ersetzt hat. Bevor wir uns der nächsten Position zuwenden, erscheint es angebracht, die bereits erwähnte Gemeinsamkeit von Irrationalismus und Rationalismus nochmals hervorzuheben. Beide gehen davon aus, dass nicht alle Menschen einen religiösen Glauben haben. Vielmehr ist es eine Frage der persönlichen Entscheidung, ob man an etwas Göttliches glaubt, und wenn, worin dieses bestehen soll. Rationalisten leisten Irrationalisten aber durch ihr Beharren Widerstand, religiöser Glaube müsse denselben Verfahren unterzogen werden, die auch für die Beurteilung von Theorien gelten. Ansonsten ist er nicht zu­ lässig. 5.3

Die radikal biblische Position

Die Tatsache, dass ich diese Position „radikal biblisch“ nenne, soll nicht zur Annahme verleiten, es handle sich um eine irgendwie bizarre oder extreme Sichtweise. Die Bezeichnung deutet bloss darauf hin, dass es um diejenige Perspektive geht, die in den biblischen Schriften selbst zum Ausdruck kommt. Die Wendung „radikal“ ist hier im wörtlichen Sinn von „Wurzel“ zu nehmen und ist synonym mit „strikt biblisch“. Diese Position muss aus zwei Gründen von den anderen unterschieden werden. Erstens weil es um die Sicht geht, die ich verteidigen will. Zweitens müssen wir sie verstehen, um auch die darauf folgende und letzte der besprochenen Positionen zu verstehen, die von den meisten Theisten in Wissenschaft und Philosophie vertreten wurde. Denn diese besteht in einer Kombination der strikt biblischen und der rationalistischen Position. Die rationalistische Einstellung prägte die Kultur der griechisch-römischen Welt massgeblich zu der Zeit, als das aufkommende Christentum den Glauben an eine andere Autorität auf die Bühne der Weltgeschichte brachte. Die bibli­schen Religionen (zu jener Zeit bloss Juden- und Christentum) gingen nicht 7 B. Russell, Why I Am NOT a Christian (New York: Simon & Schuster, 1957), 32–33.

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davon aus, dass die Vernunft über die letztgültige Autorität verfügt, oder dass Theorien uns den einzigen oder auch nur den besten Weg zur Wahrheit weisen. Sie lehrten vielmehr eine Vernunft, deren höchste Funktion es ist, die Menschen zum Verständnis der Offenbarung Gottes zu befähigen, damit sie ihm auf dieser Basis dienen möchten. Dementsprechend verwarfen viele jüdische, christliche und islamische Denker die rationalistische Position. Selbst diejenigen, die so nahe wie möglich an eine rationalistische Sicht anlehnen wollten, kamen nicht umhin, das Verhältnis von Vernunft und dem Wort Gottes als einer anderen, distinkten Quelle von Autorität, zu bestimmen. Wie ich schon sagte, verfechten die meisten jüdischen, christlichen und islamischen Denker der Gegenwart eine Kombination der strikt biblischen und der rationalistischen Haltung. Dadurch dass diese Kombination über lange Zeit eine derartige Vormachtsstellung für sich beanspruchen konnte, haben deren Vertreter die biblische Sichtweise dermassen aus den Augen verloren, dass sie allein schon die Existenz einer solchen bestreiten. Vielmehr wird behauptet, die Verfasser der Bibel hätten nirgendwo Stellung bezogen zu einem so abstrakten Thema wie dem Verhältnis des Glaubens zur Logik der Theoriebildung. Demnach gibt es überhaupt keine biblische Position zu dieser Frage. Weil nun dieser Irrtum so weit verbreitet ist, werde ich einige Zeit für die Erbringung des Nachweises verwenden, dass in den Psalmen, den Prophetenbüchern und dem Neuen Testament tatsächlich eine solche Position zu finden ist. Sie beinhaltet, dass kein Wissen oder Wahrheitsanspruch existiert, der neutral wäre hinsichtlich des Glaubens an Gott. Die biblischen Autoren, die dies behaupten, erläutern nicht im Detail, wie der Glaube an Gott „jede Art“ von Wissen oder „alle“ Wahrheit tangiert. Dennoch sind sie sich darüber im K ­ laren, dass sie den Glauben an andere (vermeintliche) Gottheiten als verfälschenden Einfluss auf alles, was für Wahrheit und Wissen gehalten wird, betrachten. Nach ihrer Meinung, befähigt uns die Kenntnis von Gott im Prinzip dazu, solche Fehlerquellen zu vermeiden. Es gibt eine Anzahl von Texten, in denen die Verfasser der Bibel behaupten, dass das Wissen um Gott konstitutiver Bestandteil von allem Wissen und jeder Weisheit ist. Doch sind die meisten davon in poetischem Kontext zu finden und werden als hyperbolisch eingestuft (Ps 111,10; Spr 1,7; 9,10; 15,33; Jer 8,9). Ich werde diese Texte deshalb für den Moment mit der Anmerkung beiseite lassen, dass es sich dabei ebenso gut um nicht-hyperbolische Texte handeln könnte. Zumindest deuten spätere Entwicklungen dieses Themas in der Bibel auf letztere Möglichkeit hin. Eine dieser späteren Entwicklungen kulminiert in Jesu Bemerkung, dass die, die das Gesetz Gottes verdrehen, „den Schlüssel der Erkenntnis“ wegge­nommen haben (Luk 11,52). Es sei beachtet, dass Jesus nicht etwa behauptet, die Verdrehung des Wortes Gottes versperre den Weg zur Gotteserkenntnis; er

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spricht bloss von „Erkenntnis“. Wer an der Meinung festhält, die Bibel würde nie zu so etwas Philosophischem Stellung nehmen wie Jesus es hier zu tun scheint, wird wohl einwenden, der Ausspruch Jesu sei elliptisch gemeint. Damit enthielte der Aussprach einen abgekürzten Hinweis auf das Wissen von Gott, selbst wenn der letzte Teil des Ausdrucks fehlt. Vergleiche mit diesem Ausspruch Jesu aber 1 Kor 1,5, wo Paulus sagt, das Wissen von Gott durch Christus habe uns reich gemacht mit „jeder Weisheit und Erkenntnis“. Das hört sich nicht elliptisch an, noch sind diese Worte poetisch zu verstehen. Und sie können sich nicht nur auf das Wissen von Gott beziehen. Denn weiter hinten im selben Brief (12,8) spricht Paulus von den mannigfaltigen Gaben, die Gott den Gläubigen zuteilt, und erwähnt dabei spezifisch die Gabe des Wissens. Im dreizehnten Kapitel ist dann davon die Rede, dass diese und andere Gaben, wie die der Prophetie, vergehen werden. Das Wissen von Gott aber wird vollendet sein, in dem wir Gott von Angesicht zu Angesicht kennen, so wie er uns kennt. Daher ist die Gabe des Wissens – ein Wissen, das aus einem Talent resultiert und beeinflusst wird durch das Wissen von Gott – nicht (redundanterweise) identisch mit dem Wissen von Gott. Dann ist auch von Bedeutung, wie die Verfasser der Bibel die Metapher des Lichts mit der Erkenntnis von Wahrheit verbinden. In ihrer Sprache ist „Erleuchtung“ gleichbedeutend mit der Aneignung von Erkenntnis. Psalm 43,3 bestätigt diese Verwendung explizit, wenn er Gott um die Aussendung „seines Lichts und seiner Wahrheit“ bittet. Wenn Ps 36,9 und 10 also sagt, dass wir in seinem Licht das Licht sehen, ist prima facie das gemeint, was auch Jesus sagt, und was in 1 Kor 1,5 seine Bestätigung findet. Nämlich: das Wissen um Gott spielt eine zentrale Rolle im Gewinn jeglicher Erkenntnis. Die Lichtmetapher erstreckt sich bis ins Neue Testament. Zum Beispiel sagt 2 Kor 4,3–6, dass die, die nicht glauben, blind sind für das Licht des Evangeliums. Dieses Licht, so wird weiter betont, ist das Wissen von Gott. Auf diesem Hintergrund ist die Aussage von Eph 5,9 vielleicht die stärkste überhaupt, was das Verhältnis von Wissen um Gott und jedem anderen Wissen betrifft. Da kommt deutlich zum Ausdruck, dass die Auswirkungen des Lichts des Evangeliums sich auf alles erstrecken, was „gut, gerecht und wahr“ ist. Der kumulative Effekt dieser Texte, so meine Schlussfolgerung, besteht in der Anweisung, dass keine Art von Erkenntnis als religiös neutral angesehen werden kann. Dies halte ich für die Pointe der „radikalen“ oder strikt biblischen Sicht, die sich sowohl auf das Wissen, das durch Theorien zu gewinnen ist, wie auf jedes andere Wissen bezieht. In Kapitel vier habe ich den Vorschlag Herman Dooyeweerds umrissen, wie die Verbindungslinien verstanden werden können. Ich habe knapp erläutert, wie unsere Alltagsbegriffe (von Erfahrungsgegenständen wie zum Beispiel einem Salzstreuer) und unsere Begriffe von theoretisch postulierten Gegenständen einen bestimmten religiösen

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5. Kapitel

Glauben voraussetzen und manifestieren. In Kapitel zehn werde ich den skizzierten Denkansatz näher erläutern und begründen, inklusive die Behauptung, dass religiöse Überzeugungen unvermeidlich sind. In noch späteren Kapiteln werde ich zu erklären versuchen, wie der spezifische Glaube an Gott diese Überzeugungen beeinflussen sollte. Diese Position lässt sich grafisch folgendermassen darstellen: Theoretische Vernunft ist: 1. nicht neutral, sondern durch einen religiösen Glauben reguliert 2. nicht die höchste Berufungsinstanz 3. unfähig, alle Dinge zu entscheiden

↑ Religiöser Glaube: 1. lenkt und orientiert die Vernunft in allen Dingen des Lebens An dieser Stelle sollte auch festgehalten werden, dass sich die radikal biblische Position von den beiden vorangehenden in der Frage nach der „Freiwilligkeit“ des Glaubens klar unterscheidet. Anstatt so zu sprechen, als ob die Menschen an ein Göttliches glauben oder nicht glauben können, gehen die Verfasser der Bibel davon aus, dass wir alle irgendeinen solchen Glauben haben. Nach ihrer Meinung besteht das Problem nicht etwa darin, dass die Menschen nichts glauben, sondern dass sie das Falsche an die Stelle von Gott setzen. In dieser Sichtweise ist Religiosität ein ebenso natürlicher Teil des Menschen wie seine Eigenschaften, rational oder fühlend zu sein. Religiosität kann richtig oder falsch ausgeübt werden, aber einfach zurückgelassen oder abgeschafft werden kann sie nicht. An diesem Punkt ist die Frage angebracht, ob es denn notwendig verkehrt ist, den Glauben an Gott rational begründen zu wollen. Ich glaube nun, dass die biblische Sicht die ist: Es ist weder wünschenswert noch möglich, eine theoretische Begründung des Glaubens an Gott zu versuchen um Andersgläubige damit zu überzeugen. Aber ich möchte sofort hinzufügen, dass damit eine kritische Reflexion des eigenen Glaubens keineswegs ausgeschlossen ist; sei es nun, um diesen besser zu verstehen, oder um ihn mit anderen religiösen Glaubensauffassungen zu vergleichen. Es bedeutet auch nicht, dass die rationale Auseinandersetzung mit Nicht-Christen oder den Gläubigen einer nicht theistischen Religion sinnlos ist. Vielmehr kann eine solche Auseinandersetzung dazu beitragen, dass sowohl Andersglaubende wie auch Christen biblische Glaubensinhalte besser verstehen lernen. Die rationale Auseinandersetzung ermöglicht es auch, Antworten auf Kritik an diesen Inhalten zu geben. Die

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Haltung der biblischen Autoren besteht nicht darin, jegliche Reflexion zurückzuweisen, die den Glauben an Gott zum Gegenstand hat. Vielmehr folgt aus ihr, dass wir uns nicht der Erwartung hingeben sollten, rationale Überzeugungsarbeit sei schon genug, um jemanden zum Glauben zu bewegen. Auch räumt sie mit der Vorstellung auf, wir müssten irgendwelche rationalen Gründe haben, damit unser Glaube intellektuell respektabel sei. Doch wiederum soll dieser letzte Punkt nicht als Ausdruck eines Fideismus gelesen werden. Er weist vielmehr auf meine Behauptung zurück, dass jeder Glaube an etwas Göttliches in der Erfahrung gründet und nicht irgendwoher abgeleitet wird. Calvin trifft den Unterschied genau, wenn er sagt: Wer innerlich vom heiligen Geist gelehrt ist, der verharrt fest bei der Schrift, und diese trägt ihre Beglaubigung in sich selbst; daher ist es nicht angebracht, sie einer Beweisführung und Vernunftgründen zu unterwerfen. Die Gewissheit aber, die sie uns gewinnt, die erlangen wir durch das Zeugnis des Geistes.8 Trotzdem die biblische Sichtweise die Forderung nach einer theoretischen Rechtfertigung des Glaubens an Gott zurückweist, ruft sie nicht nach blindem Vertrauen. Der Rekurs auf Erfahrung bedeutet auch nicht, dass irgendwelche seltsamen Erfahrungen gemacht werden müssten. Es ist nicht nötig, dass die Möbel in der Wohnung herumschweben, um von einer religiösen Erfahrung sprechen zu können. Die Erfahrung, auf die ich abhebe, besteht darin, dass einem in den biblischen Schriften die Wahrheit von Gott über Gott evident wird (erinnern wir uns an die Zitate von Calvin und Pascal in Kapitel zwei). Diese Position unterscheidet sich vom Irrationalismus durch die Zurückweisung der Annahme, der Glaube sei ein blindes Vertrauen und völlig von der Vernunft abgeschirmt. Im Gegenteil behauptet sie, dass irgendein Glaube an etwas Göttliches hinter allem und jedem Vernunftgebrauch steht, den die Menschen als Interpreten ihrer eigenen Erfahrung machen. In diesem Sinn hängt die ganze Wahrheit, und zwar über jeden Gegenstand, davon ab, welchen „Gott“ man hat. Die beiden Auffassungen einer religiösen Dimension des theore­tischen Denkens und der Nicht-Notwendigkeit einer Begründung des Glaubens sind nun eng miteinander verbunden. Denn wenn ein religiöser Glaube das Denken leitet und kontrolliert, ist jeder Versuch, den Glauben an Gott zu beweisen oder zu diskreditieren, selbst dann wenn er formale Gültigkeit besitzt, alles andere als religiös neutral. Anders gesagt, jeder Versuch eines Gottesbeweises, der an Menschen gerichtet ist, die etwas Anderes als göttlich 8 Unterricht, I, 7,5.

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5. Kapitel

voraussetzen, ist zum Scheitern verurteilt. Denn unser Glaube an Gott ist eine unhintergehbare Voraussetzung und Grenze dafür, wie wir alles andere interpretieren; ebenso wie ein anderer Glaube bestimmt, wie jemand anders den Rest der Wirklichkeit versteht. Wie Pascal sagt: Denen die glauben, ist jeder Beweis überflüssig, und denen die nicht glauben, ist jeder Beweis unmöglich. In allem was nun folgt, werde ich diese radikal biblische Position verfechten. Ich werde daran festhalten, dass jeder Gebrauch der theoretischen Vernunft durch einen religiösen Glauben reguliert und geleitet wird. Die Vernunft kann deshalb nicht als autonom, und die Theoriebildung nicht als religiös neutral angesehen werden. Wenn der Glaube als Funktion oder „Fakultät“ des menschlichen Geistes in den Blick kommt, ist er von Vernunft nicht verschieden, sondern ein integraler Bestandteil davon. In dieser Sicht beschränken sich rationale, durch Selbstevidenz charakterisierte Intuitionen nicht auf logische und mathematische Axiome, sondern umfassen immer auch den Glauben an ein Göttliches. Daraus ergibt sich, dass die menschliche Vernunft wesentlich auf einen religiösen Glauben hin ausgerichtet ist. Damit sich diese Sicht aber noch deutlicher abheben kann, muss sie einer anderen gegenübergestellt werden, die, wie schon kurz erwähnt wurde, mit Sicherheit die grösste Verbreitung gefunden hat. Diese Position insistiert dar­ auf, dass Glaube und Vernunft als zwei distinkte Fakultäten betrachtet werden. Entsprechend sind es zwei durchaus verschiedene Bereiche, in denen die Autorität der Vernunft und die des Glaubens von ihrem jeweiligem Recht Gebrauch machen. Wie wir gesehen haben, schirmt diese Position Vernunft und Glaube nicht vollständig von einander ab, wie der Irrationalismus das tut, sondern verschränkt die beiden auf eine komplexe Art und Weise. 5.4

Religiöser Scholastizismus

Wie schon bemerkte wurde, ist die radikal biblische Sicht von der Mehrheit jüdischer und christlicher Denker nicht angenommen worden. Lange vor der Entstehung des Christentums gab es in jüdischen Kreisen grosse Meinungsverschiedenheiten, wie sich ihr religiöser Glaube zum Rest des Lebens verhält; insbesondere zur umliegenden, vorherrschend paganen und rationalistisch geprägten Kultur der römisch-griechischen Welt. Einige lehnten diese Kultur als unvereinbar mit ihrer Auffassung davon ab, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Andere gingen davon aus, dass die antike Kultur grösstenteils übernommen werden konnte. Aus dieser Sicht erforderte die Aufrechterhaltung einer genuin jüdischen Identität nichts weiter als die Anbetung des wahren Gottes, sowie das Festhalten an den Ritualen und den ethischen Normen des

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mosaischen Gesetzes gegenüber einem paganem Polytheismus und einer losen Moral. In anderen Worten hielt die zweite dieser beiden Auffassungen die meisten Aspekte des Lebens und der Kultur für religiös neutral. Jüdisch zu sein war auf religiöse und moralische Dinge beschränkt. Diese Sicht wurde von der Mehrzahl der Gelehrten geteilt. Die frühen Christen standen natürlich vor demselben Fragekomplex, und dieselben Meinungsunterschiede traten auch unter ihnen hervor. Einige Gelehrte und Theologen sahen einen unüberwindlichen Graben zwischen der gesamten jüdisch-christlichen Tradition und der antiken Umwelt. Sie hielten die Wirkung ihres Glaubens auf das Leben für allumfassend. Einer von ihnen, Tertullian, gab der biblischen Perspektive die Bezeichnung „Jerusalem“ und umschrieb die Sichtweise der dominanten Kultur mit „Athen“. Er stellte die berühmte Frage: Was hat Jerusalem mit Athen zu tun? Doch die Mehrheit der christlichen Gelehrten bewegte sich auf dem Boden der Annahme, die Unterschiede zwischen den beiden müssten nicht annähernd so radikal ausfallen. Die umliegende Kultur wurde nicht so sehr als fehlgeleitet, denn als ergänzungsbedürftig betrachtet. Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Gesetz etc. galten als das Produkt einer religiös neutralen Vernunft (gilt 1 + 1 = 2 nicht für alle, unabhängig von ihrem jeweiligen Glauben?). So bezogen die meisten eine Haltung, nach der ein Grossteil ihres kulturellen Umfelds vorbehaltlos übernommen werden konnte; wenn nur der Glaube an Gott und die Notwendigkeit, pagane Moral durch biblische Leitlinien zu korrigieren, respektiert wurden. Kurz, die Auffassung setzte sich durch, dass kein radikales Oppositionsverhältnis zwischen biblischer Religion und einer bestimmten Kultur bestehe, da die Dinge des Lebens in weiten Bereichen vorgeblich religiös neutral seien. Dementsprechend kann ein adäquates Verständnis der meisten Aspekte einer Kultur unabhängig davon erzielt werden, welchen religiösen Glauben man hat. Wie oben angedeutet, lasen die meisten Christen die biblischen Texte so, dass allein ihre religiösen Überzeugungen vom Verhältnis zum rechten Gott ab­ hängen. Diese Interpretationslinie dominierte das Denken der meisten Theologen in den ersten Jahrhunderten nach Entstehung und Verbreitung des Christentums. Durch ihre brillante Entfaltung im Werk von Theologen und Philosophen, die Lehrer und Professoren waren, wurde sie später die Position der „Schulmänner“ oder „Scholastiker“ genannt. Noch später wurde sie dann mit der Bezeichnung „Scholastizismus“ belegt. Diese Position erhielt im dreizehnten Jahrhundert durch Thomas von Aquin eine derart überragende, extensive und einflussreiche Ausprägung, dass ein Teil der historischen und philosophischen Forschung den Ausdruck „Scholastizismus“ einzig für die Theorien des Aquinaten, oder für solche, die den seinigen sehr ähnlich sind, reservieren

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möchte. Im Folgenden werde ich den Ausdruck „Scholastizismus“ aber nicht zur Bezeichnung einer bestimmten Gruppe von Theorien oder eines historischen Theoriebildungsstils verwenden. Noch weniger werde ich mich ausschliesslich auf stark aristotelisch geprägte Theorien, wie es die von Thomas waren, beziehen. Es geht mir auch nicht darum zu zeigen, inwiefern die heute vorwiegenden scholastischen Tendenzen auf dessen Ansichten zurückgeführt werden können. Vielmehr habe ich eine Sichtweise im Blick, in der das Verhältnis von religiösem Glauben und Vernunft mit zwei sehr unterschiedlichen Typen von Information korrespondiert: Information, die der Vernunft entspringt, auf der einen Seite, Information, die einer durch den Glauben angenommenen Offenbarung entspringt, auf der anderen Seite, wobei der Glaube als ein von der Vernunft unterschiedenes Erkenntnisorgan aufgefasst wird. Weil diese Sicht Glaube und Denken als zwei legitime Formen von Autorität gelten lässt, macht sie sich für deren Harmonisierung zwecks Vermeidung von Widersprüchen stark. Die Aufgabe, Harmonie zwischen den beiden Polen zu stiften, fällt nach Thomas der Theologie zu. Anders ausgedrückt wird ein Kompromiss angestrebt zwischen dem allumfassenden Anspruch, der im paganen Rationalismus der Vernunft zukommt, und dem ebenso umfassenden biblischen Anspruch, der rechte Glaube sei die unabdingbare Voraussetzung für die Aneignung aller Art von Erkenntnis. Dies geschieht indem der Bereich beider Erkenntnisquellen eingeschränkt wird. Der Schlüssel zum erfolgreichen Kompromiss wurde nun in der biblischen Aussage gesehen, nach der die Schöpfung zwei Dimensionen, „Himmel“ und „Erde“, umfasst. Die Idee war die, dass die beiden Dimensionen auf unterschiedliche Weise erkannt würden; die eine nach Massgabe der Vernunft, die andere durch den Glauben. Die Dimension der „Erde“, auch „Natur“ genannt, wurde unserer Wahrnehmung und Vernunft zugeschlagen. Das daraus resultierende Wissen sollte für alle Menschen dasselbe sein. Hinsichtlich der Natur wurde die Vernunft genau als das ausgegeben, was schon der Rationalismus in ihr sah: die neutrale, höchste Instanz aller Wahrheitsansprüche. Die himmlische Dimension der Realität wurde demnach als „Übernatur“ bezeichnet, und konnte nur durch eine vom Glauben angenommene Offenbarung Gottes erkannt werden. Die offenbarte Wahrheit vermittelte ein rational nicht auszuweisendes Wissen bestehend unter anderem aus Informationen über Gott, das Wesen der menschlichen Seele, Engel, und das Leben nach dem Tod. Solche Wahrheiten stehen nun nicht allen Menschen offen. Sie sind allein denen zugänglich, die von Gott das Geschenk des Glaubens empfangen haben. Ohne den Glauben, der die Offenbarungen Gottes aufnehmen kann, bleibt die Vernunft einigermassen hilflos in Sachen Erkenntnis von Übernatur (ich sage „einigermassen“, da die meisten Scho­lastiker der Ansicht waren, blosse Vernunft könne die Existenz Gottes und die der mensch-

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lichen Seele beweisen, aber nichts darüber hinaus. Sie kann zum Beispiel nicht zeigen, wie Menschen ins rechte Verhältnis zu Gott treten können.) Auf diesem Weg kann jeder allumfassende Wahrheitsanspruch in einem bestimmten Sinn zurückgewiesen, in einem anderen Sinn aber beibehalten werden. Weder Glaube noch Vernunft sind in dem Sinn allumfassend, wie von den Verfassern der Bibel oder vom paganen Rationalismus vertreten wurde, doch ist jede die einzige und höchste Autorität auf ihrem eigenen Gebiet. Es lohnt sich besonders hervorzuheben, dass der Glaube hier nicht in blindem Vertrauen aufgeht, wie der Irrationalismus meint. Vielmehr ist er ein spezielles Erkenntnisorgan, das auf die Annahme von offenbarten Wahrheiten ausgerichtet ist. Er ist deshalb ein Mittel um Gewissheit zu erlangen. Die scholastische Sicht sollte deshalb auf keine Weise mit dem Irrationalismus verwechselt werden. Während beide übereinstimmen, dass Vernunft für die Erkenntnis von Natur zuständig ist, wird diese Meinung hier nicht mit einer irrationalistischen Sicht von Glauben kombiniert. Wenn der Irrationalismus die rationale Dimension des Lebens und den Glauben strikt voneinander abgrenzt, sieht der Scholastizismus die Grenze zwischen Glaube und Vernunft als halbdurchlässige Membrane und nicht als Mauer. Zwischen den beiden gibt es durchaus Interaktion. Vielleicht liegt die beste Art und Weise, wie man sich diese Interaktion denken kann, darin, dass beiden Seiten gegenseitige Pflichten zukommen. Jede hat ihr eigenes Gebiet, und doch beeinflussen sie einander. Zum Beispiel ermöglicht die Vernunft nicht nur neue Naturerkenntnis und beweist die Existenz einer Übernatur, sondern systematisiert die offenbarte Lehre und prüft die Theorien der Vernunft auf ihre Verträglichkeit mit der Offenbarung. Dies zu leisten ist die Aufgabe der Theologie. Falls eine philosophische oder wissenschaftliche Theorie in hoffnungslosem Widerspruch zu offenbarter Wahrheit steht, muss sie denn auch als falsch zurückgewiesen werden. Die Pflicht des Glaubens gegenüber der Vernunft besteht nun darin, ein externes Kriterium bereitzustellen, anhand dessen geprüft werden kann, inwiefern sich letztere in Irrtümer verstrickt hat. Bemerkenswerterweise wird es hier als Vorteil gesehen, dass Vernunfthypothesen an solch unfehlbaren Wahrheiten gemessen werden können. Letztlich ist die Autorität des Glaubens der von blosser Vernunft überlegen. Doch fällt diese Sicht, trotz der behaupteten Überlegenheit des Glaubens, hinter die radikal biblische zurück. Denn im Bereich „natürlicher“ Erkenntnis hält sie die Vernunft für autonom, wogegen die Verfasser der Bibel Glauben an den rechten Gott als notwendige (nicht aber hinreichende) Bedingung für die Erkenntnis von Erde oder Natur und von Himmel oder Übernatur betrachten. Darüber hinaus ist klar, dass hier die meisten Theorien und viele andere Arten von Einsichten als religiös neutral gehandelt werden. Solange sie der göttlichen Offenbarung nicht wider­spre-

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chen, sind sie nicht vom Glauben an Gott oder sonst einem religiösen Glauben beeinflusst. So ist das dominante scholastische Thema die Bestimmung des exakten Verhältnisses von Glaube und Vernunft, Übernatur und Natur. Denn obwohl die grundlegenden Unterscheidungen des scholastischen Programms klar und deutlich erscheinen mögen, haben sie doch in der Anwendung auf konkrete Fälle Anlass zu unaufhörlichen und oft verwirrlichen Debatten gegeben. In einem Diagramm sehen die massgeblichen Distinktionen der scholastischen Sicht folgendermassen aus: Übernatürlicher Bereich oder Gnade Natürlicher Bereich

Glaube akzeptiert Offenbarung als die höchste Autorität was Gott, Seele und verwandte Dinge betrifft 1. Vernunft ist neutrale und höchste Autorität in natürlichen Dingen; 2. Vernunft harmonisiert Glaube und Wissenschaft, resp. Philosophie; 3. Vernunft beweist die Existenz der übernatürlichen Welt und systematisiert die offenbarten Lehren.

Trotz den unzähligen Uneinigkeiten darüber, wie Glaube und Vernunft im konkreten Detail aufeinander zu beziehen sind, bildete sich unter scholastisch beeinflussten Denkern doch ein breiter Konsens hinsichtlich einiger grundsätzlicher Punkte heraus. Erstens, währenddessen alle Menschen von Natur aus rational sind, verfügen nicht alle über die Gabe des Glaubens. In diesem Punkt stimmt die scholastische Position mit dem Irrationalismus und dem Rationalismus überein. Der Glaube kommt zum Menschen als ein Geschenk Gottes; er geht über das hinaus, was der Mensch von Natur aus ist. Thomas von Aquin spricht von der Annahme des Glaubensvermögens als einem Geschenk göttlicher Gnade in folgenden Worten: Niemand erlangt Gnade durch sich selbst, und mag er sich noch so darauf vorbereiten, selbst wenn er alles tut, das in seiner Kraft steht … denn die Gnade übersteigt jede menschliche Anstrengung … wenn es der Wille Gottes ist das Herz zu berühren, wird die Gnade unweigerlich folgen. (Summa Theologica 1a-11ae, q. 112, a. 3)

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Wie wir schon gesehen haben schiebt der hinzukommende Glaube die Vernunft nicht beiseite, sondern ergänzt sie. Dazu nochmals Thomas: Die Gnadengeschenke werden uns hinzugegeben um die Geschenke der Natur zu ergänzen, nicht um sie wegzunehmen. Das natürliche Licht der Vernunft wird durch das Licht des Glaubens nicht ausgelöscht … Die Prinzipien der Vernunft sind die Grundmauern der Philosophie [und der Wissenschaft], die Prinzipien des Glaubens sind die Grundfesten der christlichen Theologie. Die Erkenntnisse der Philosophie … können der Glaubenserkenntnis nicht widersprechen … Die Natur ist das Vorspiel der Gnade. Es ist der Missbrauch der Wissenschaft und der Philosophie, die zu Aussagen kommt, die sich gegen den Glauben richten …9 Die Leitlinien, die der Glaube für den rechten Vernunftgebrauch bereithält, sind also weitgehend negativ. Sie sind gewissermassen äussere Kontrollposten bezüglich dessen, was die Vernunft akzeptieren kann. Sie haben keinen inneren, regulativen Einfluss auf die Vernunft. Würden Glaubenswahrheiten einen solchen Einfluss ausüben, könnte die Vernunft nicht länger religiös neutral und autonom sein. Und wäre die Vernunft nicht neutral, gäbe es keine religiös neutralen Theorien der natürlichen Welt, die auch von Menschen geteilt werden, die keinen Glauben haben. Weil der Scholastizismus aber davon ausgeht, dass gewisse Theorien in allgemeinmenschlichem Besitz sind, hält er auch daran fest, dass die vernünftige Erkenntnis natürlicher Tatsachen religiös neutral ist. Daher die scharfe Trennung zwischen dem, was im Glauben erlernt wird, und dem, was durch den Gebrauch von Vernunft erschlossen werden kann. Im weiteren könnte eine nicht-neutrale Vernunft die Existenz der übernatürlichen Wirklichkeit auch nicht schlüssig beweisen. Gemäss scholastischem Denken ist unsere Vernunft aber durchaus in der Lage, sich einer solchen Wirklichkeit zu vergewissern, indem sie die Existenz Gottes und der mensch­ lichen Seele demonstriert. Auf diese Art verweist sie auf einen Bereich, der allein von Gott offenbart und der menschlichen Erkenntnis zugänglich gemacht werden kann. Hier könnte man nun den Eindruck gewinnen, als würde die Grenze zwischen Glaube und Vernunft etwas verwischt. Dies erklärt sich nach Thomas von Aquin durch die Existenz einer begrenzten Schnittmenge von erkennbaren Wahrheiten. Einige Dinge hat Gott offenbart, obwohl sie aus blossen Vernunftgründen erkannt werden können. Damit ist gewährleistet, dass sie auch von Menschen mit begrenzterem Intellekt nicht übersehen werden. Doch weil 9 Th. v. Aquin, De Trinitate 2.3.

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sie von der blossen Vernunft erkannt werden können sind diese Dinge, strikt genommen, nicht Gegenstand des Glaubens. Thomas sagt: Dass Gott existiert und andere theologische Wahrheiten, die durch die natürliche Vernunft erkannt werden können, sind keine Glaubensartikel sondern Präambeln des Glaubens: Der Glaube setzt die Vernunft voraus wie die Gnade die Natur voraussetzt … (Summa Theologica la, q. 2, a. 2, ad 1) Weil der scholastische Denkansatz sowohl dem Glauben als auch der Vernunft grossen Freiraum einräumt und dennoch von einer Interaktion zwischen ihnen ausgeht, haben dessen Anhänger grosse Mühe einzusehen, warum sie der radikal biblischen Perspektive folgen sollten. Sie halten an der Auffassung fest, dass die Einflussnahme des Glaubens an Gott auf jedes Wissen immer auf übernatürliches Wissen abzielt. Dagegen wird besonders auf mathematisches, logisches und physikalisches Wissen als Beispiel für allgemeinmenschliche Wahrheitserkenntnis verwiesen. Schliesslich kann diese Sichtweise durchaus eingestehen, dass eine Theorie genau dann einen pagan-religiösen Glauben einschliesst, wenn sie in einer Position endet, nach der alle Dinge auf Aspekt X zurückzuführen sind. Doch gemäss dem scholastischem Ansatz kann das pagane Element in diesen ­Theorien auf einfache Art und Weise vermieden werden. Man braucht den ursprünglichen Theorien bloss die folgende, zusätzliche Erkenntnis hinzuzu­fügen: Obwohl der Rest der Schöpfung von X abhängt, hängt X seinerseits von Gott ab. Durch diese Zusatzangabe ist der pagane Charakter dieser Theorien vermeintlich neutralisiert. Den ersten Teil meines Einwandes gegen den Scholastizismus habe ich schon vorgetragen. Er fokussierte darauf, dass die Schrift alle Wahrheit (irgendwie) davon abhängig macht, welchen Gott man hat. Das impliziert mehr als die Zurückweisung der Theorien, die sich in direktem Widerspruch zu offenbarter Wahrheit befinden. Diese Regel ist wohl Bedingung für jeden Theismus; sie reicht aber nicht annähernd aus, um der biblischen Lehre Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn ganz egal wie gewissenhaft sie angewandt wird, sie belässt die grosse Mehrheit aller Theorien (und andere Wissensbestände) völlig unberührt vom Glauben an Gott. Die Mehrheit der Theorien in fast allen Bereichen widersprechen der göttlichen Offenbarung nicht. Somit entpuppen sie sich als religiös neutral in genau dem Sinn, der aus biblischer Sicht ausgeschlossen ist. Doch damit fällt die Regel, dass nur diejenigen Theorien zurückgewiesen müssen, die offenbarter Einsicht direkt widersprechen, hinter die eigenen Anforderungen zurück! Trotz scholastischem Beharren auf der Überlegenheit der Autorität des Glaubens über die der Vernunft, und der

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Behauptung der grösseren Bedeutung übernatürlicher Wahrheiten, ist die scholastische Regel nicht in der Lage, dem biblischen Verhältnis von religiösem Glauben und theoretischer Vernunft gerecht zu werden. Dasselbe Versagen ist auch der Grund für den Einwand gegen die scholastische Strategie, den paganen Charakter von Theorien, die die erschaffene Wirklichkeit mit einem ihrer Aspekte identifizieren oder sie davon abhängig machen, zu neutralisieren. In scholastischer Denkweise ist ein Ansatz nur dann paganer Art, wenn die zusätzliche Einsicht fehlt, dass der erklärungsträchtige Aspekt seinerseits von Gott abhängt. Jene Einsicht stellt gewis­ser­massen die Taufe (oder Beschneidung) dar, durch die zu theistischer Annehmbarkeit gelangt, was sonst ein pagan-religiöses Glaubensstück wäre. Mein Einwand gegen diese Strategie zielt nun auf die Tatsache, dass die wahre Erklärungskraft allein bei jenem X liegt, das den Rest der Schöpfung erklären soll, und nicht bei Gott. Der Gehalt der Theorie bleibt derselbe, egal ob Gottes Existenz mitgedacht wird oder nicht (es sei denn man führe ein Wunder zur „Erklärung“ dessen an, was die Theorie scheinbar nicht erklären kann). Die zusätzliche Behauptung läuft deshalb auf ein Ignorieren (oder Verneinen) der biblischen Sicht hinaus, dass keine Erkenntnis vom Glauben an Gott unberührt bleibt. Ein weiterer Einwand gegen die scholastische Position betrifft deren Negation der biblischen Einsicht, dass Menschen von Natur aus religiöse Wesen sind. Die biblischen Schriften insistieren darauf, dass die Menschen um der Gemeinschaft mit Gott willen erschaffen wurden. Und wie ich schon weiter oben dargelegt habe, richten sich die biblischen Verfasser mit der konstanten Annahme an die Leser, dass sie immer schon an Gott oder an einen Gottesersatz glauben. Aus diesem Grund werden in den Psalmen diejenigen Menschen der Torheit bezichtigt, die alles Göttliche verneinen („Der törichte Mensch sagt in seinem Herzen: ‘Es ist kein Gott’“). Denn während eine Person dies behauptet, hält sie doch schon etwas für göttlich. So kann die radikal biblische Sicht nicht damit übereinstimmen, dass der Glaube ein „donum superadditum“, das heisst eine Kraft ist, die der natürlichen Ausstattung des Menschen hinzugefügt wird, nicht aber von Geburt an Teil davon ist. Das Geschenk der Gnade Gottes besteht nicht im Hinzukommen eines Erkenntnisorgans, das vorher gefehlt hat. Vielmehr zielt Gnade auf die Wiederherstellung und -ausrichtung von etwas, das schon bestand, aber nicht mehr recht funktionierte. In den Worten Calvins, sind wir so erschaffen, dass wir von Natur aus das Begehren haben, „ihm anzuhangen, Vertrauen und Zuversicht – wenn den menschlichen Verstand nicht die eigene Verkehrtheit vom rechten Suchen abbrächte“ (Unterricht, I, 2, 2). Im weiteren bestreitet die radikal biblische Position, dass die beiden Dimensionen von Schöpfung durch je verschiedene Erkenntnisorgane erfasst werden. Gott und Schöpfung werden durch ein und dieselbe Vernunft erkannt,

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die aufgrund ihres innersten Wesens immer schon durch die Glaubenserfahrung von etwas Göttlichem gelenkt wird. Das heisst natürlich nicht, dass kein Unterschied besteht in unserem Gebrauch der Vernunft, wenn diese sich auf Geschaffenes oder auf Gott bezieht. Da Gott nicht Teil der Schöpfung ist, muss er sich offenbaren, damit wir ihn erkennen können. Dann sind da auch die Folgen des Sündenfalls zu bedenken, die auf die menschliche Vernunft einwirken. Diese werden hier als Existenzbedingungen aufgefasst, unter denen es zu Fehlleistungen der Vernunft hinsichtlich dessen kommt, was jemand als göttlich erfährt. Die menschlichen Antennen müssen gewissermassen repariert und neu gerichtet werden, wenn es um die Erfahrung von Selbstevidenz in Sachen Gott und Offenbarung geht. Nur so kann der Mensch göttliche Offenbarung als das erkennen, was sie in Wirklichkeit ist. Dasselbe gilt dann auch für das „Zeugnis“ der Natur von Gott. Psalm 19,1 und Römerbrief 1,20 weisen darauf hin, dass die Natur, wenn richtig betrachtet, ihre kreatürliche Abhängigkeit kundtun würde. Nur kann die durch einen falschen religiösen Glauben irregeleitete Vernunft die Zeichen der Natur nicht richtig deuten. Sie unterdrückt das, was sonst sinnenfällig wäre, und sieht etwas Anderes als Gott für göttlich an (Röm 1,25). Dieser Zustand kann nur durch die Wiederherstellung der Vernunft überwunden werden, so dass Gottes Wort als solches erkannt, und die Natur richtig interpretiert werden kann. Wie Calvin einst feststellte, ist die Schrift die Brille, durch die das Buch der Natur gelesen werden muss. 5.5

Der Konflikt dieser Alternativen

Bereits rund sechsten Jahrhundert hat die scholastische Perspektive das europäische Denken durch und durch geprägt. In der Folge ist sie von praktisch allen führenden jüdischen und christlichen Denkern übernommen worden. Später hat sich auch eine Anzahl bedeutender islamischer Gelehrter dieser Sichtweise angeschlossen.10 Der Unterscheidung eines natürlichen und eines übernatürlichen Erkenntnisbereichs entsprechend, hat man sich das gesamte Leben als zweipolig vorgestellt. Jede Angelegenheit war entweder Sache des 10

Der historischen Genauigkeit halber sollte hinzugefügt werden, dass es unter jüdi­schen und muslimischen Gelehrten immer grösseren Widerstand gegen die scholastische Posi­ tion gab als unter christlichen Gelehrten. Viele christliche Denker die die allgemeine scholastische Position bezüglich Vernunft- und Gött­lich­keits­über­zeugungen übernommen hatten, fühlten sich entsprechend frei, viele Begriffe der griechischen Philosophie in ihr theologisches Denken zu integrieren. So kam es zum Beispiel dazu, dass sie Gottes Natur äquivalent zu Platons Formen verstanden und dass sie die menschliche Seele eher gemäss der griechischen Tradition als gemäss jener der Verfasser der Bibel auslegten. Dieses Thema wird im 10. Kapitel ausführlicher diskutiert werden.

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Glaubens oder der Vernunft, des Sakralen oder des Profanen, der Seele oder des Körpers. Leben und Gesellschaft waren weder stark vereinheitlicht noch ausdifferenziert. Alle Dinge fielen entweder in den Bereich des Übernatürlichen, in dem der Glaube die höchste Autorität war, in dem sich das Schicksal der Seele entschied, und dessen Belange von der Institution der Kirche vertreten wurden. Oder aber es handelte sich um den Bereich natürlicher Angelegenheiten, für den die Vernunft zuständig war, in dem das körperliche Wohlergehen im Vordergrund stand, und der Staat die zentrale Institution war. Unter den zeitgenössischen Denkern und Denkerinnen, die an Gott glauben, ist der Scholastizismus weltweit immer noch die mit Abstand am stärksten verbreitete Position. Seine Anhänger und Anhängerinnen in Religions­wis­sen­ schaft, Philosophie, Naturwissenschaft, Kunst und Literatur sind zahlenmässig den anderen drei Positionen weit überlegen. Dennoch hat das scholastische Denken nicht mehr die totale Vorherr­schaft, die es, grob gesprochen, zwischen 500 und 1500 besass. Noch von grösserer Bedeutung ist, dass dieses Denken nicht länger die leitende Perspektive der westlichen Kultur ist. Schon im sechzehnten Jahrhundert wurde der Verlust seiner führenden Stellung zur Tatsache. Damals forderten zwei Strömungen den Scholastizismus gleichzeitig heraus. Eine davon, die Renaissance, machte sich für die Rückkehr zum paganen Rationalismus stark, indem sie die Neutralität und die Autonomie der Vernunft in allen Dingen behauptete, und damit die limitierende Kraft des Glaubens verneinte. Die andere war die Reformation, die sich gegen die Einschränkung des Glaubens auf übernatürliche Dinge wehrte, und für die intrinsische Ausrichtung der Vernunft auf den Glauben argumentierte. Die Wiederbelebung der rationalistischen Sichtweise wurde durch die graduelle Wiederentdeckung der Errungenschaften der Antike begünstigt. Die an dieser Wiederentdeckung beteiligten Forscher kamen schliesslich zum Glauben an die Überlegenheit der antiken Kultur über ihre eigene. Sie begannen von der Epoche zwischen dem Fall Roms und ihrer eigenen Zeit als einem „mittleren Alter“ zu sprechen, das heisst, von einer Periode, die die letzte grosse Kultur von der Kultur trennte, die heraufzuführen sie erhofften. Sie sahen sich als Verfechter der Vernunft, deren erneute Erhebung zur höchsten Quelle von Autorität Grösse und Glanz der vergangenen Welt wiederbringen sollte (Historiker des neunzehnten Jahrhunderts, die mit dieser Sichtweise übereinstimmten, bezeichneten diese Bewegung als „Renaissance“, das heisst als Wiedergeburt der Freiheit der Vernunft mit dem Ziel der Wiederherstellung der Grösse der westlichen Zivilisation). Die Denker der Renaissance waren auf der Suche nach einer Perspektive, die menschlicher Vernunft keine vorgängigen Grenzen setzte, oder beständig auf einen Bereich hinwies, dessen Bedeutung die natürliche Welt überstieg. Wenn sich ihr Denken durchsetzte, so weissagten sie voller Zuversicht, könne mit dem Bau des Paradieses schon jetzt begonnen werden, anstatt die Hoffnung darauf in ein Jenseits zu verschieben. Ab

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Ende des sechzehnten und über das ganze siebzehnte Jahrhundert hinweg konnte man auf die bedeutenden Errungenschaften der Wissenschaften als Beweis für die Richtigkeit dieser Überzeugung verweisen. Zur selben Zeit, als diese Bewegung der Renaissance an Bedeutung gewann, wurde die scholastische Ordnung auch durch die Reformation herausgefordert. Anders als die Renaissance, kam diese Stossrichtung aus dem Inneren der Kirche. Sie machte sich für die Sichtweise stark, dass jeder theoretischen Vernunft ein religiöser Glaube zugrunde liegt, anstatt dass dieser auf rationale Beweise angewiesen wäre. Obwohl diese Bewegung je nach ihren Anführern und örtlichen Gegebenheiten verschiedene Färbung annehmen konnte, bestand eines ihrer zentralen Anliegen in der Rehabilitierung der radikal biblischen Position. Führende Reformatoren wie Luther und besonders Calvin, und deren Verbündeten, betrachteten das Wort Gottes als eine Macht, die das ganze Leben durchdringt und transformiert. Für sie war es nicht bloss eine äussere Kontrollinstanz der Vernunft, sondern vielmehr deren inneres Führungsorgan. Der Grossteil ihrer Anstrengungen war natürlich auf die Reformulierung der Theologie und die Reorganisation der Kirche gerichtet. Doch stand eine grundlegende Einsicht hinter allen Reformen: Die scholastische Partition von religiösem Glauben und Vernunft wurde weder für tragfähig noch für haltbar empfunden. Im Lauf seines Schaffens kehrte Luther in einigen Punkten zur scholastischen Position zurück. Calvin jedoch führte die anti-scholastische Linie im Denken Luthers weiter: Es ist müssig, dass jemand den Aufbau der Welt erforschen möchte, ausser man … hat gelernt, seinen ganzen Verstand (wie Paulus sagt) unter die Torheit des Kreuzes zu stellen … das unsichtbare Reich Christi erfüllt alle Dinge und seine geistliche Gnade geht durch alle hindurch.11 In seinen Schriften hat Calvin die Sicht entfaltet, dass die menschliche Vernunft niemals neutral sein kann; vielmehr ist sie durch die Wirkung von Sünde höchst beeinträchtigt. Sünde wird als falscher religiöser Glaube verstanden, der alle Anstrengung der Vernunft, die Wirklichkeit richtig zu interpretieren, unterminiert. Nach Calvins Auffassung entstellt ein irregeleiteter Glaube die Vernunft in all ihren Aspekten, nicht nur in Theologie und Ethik. Wenn die Schriften deshalb den wahren Gott offenbaren, geben sie nicht nur das wahre Ziel des Glaubens und der Anbetung zu erkennen; ebenso stellen sie die richtige Perspektive für den Gebrauch von Vernunft in allen Belangen wieder her. 11

J. Calvin, Commentary on the First Book of Moses (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1948), vol. 1, 63.

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Freilich expliziert Calvin nicht im Detail, wie der Glaube an Gott dies bewirkt, sowenig wie die biblischen Verfasser dies taten. Aber die Grundlagen für den Denkansatz Dooyeweerds, der Licht in diese Sache bringt, wurden bereits gelegt. Dooyeweerds Erklärungen werden uns in den nachfolgenden Kapiteln grosse Hilfe leisten. In Kapitel sechs werde ich seine Interpretation unserer These der religiösen Dimension von Vernunft vorstellen. In den drei anschliessenden Kapiteln soll der Einfluss von religiösen Überzeugungen auf wissenschaftliche Theorien geprüft werden, anhand einiger Fallsbeispiele aus der Mathematik (Kap. sieben), Physik (Kap. acht) und Psychologie (Kap. neun). In Kapitel zehn werde ich dann Dooyeweerds Argumente diskutieren, warum der Einfluss religiöser Überzeugungen auf die Theoriebildung unvermeidbar ist, seine Kritik an der üblichen (paganen) Theoriebildung aufnehmen, sowie programmatisch darlegen, wie wissenschaftliche Theoriebildung auf der Basis des Glaubens an Gott aussehen kann. So wird zu zeigen sein, wie die Einsicht, dass alles ausser Gott von Gott abhängt, zu einer distinkten Theorie von Wirklichkeit führt, und somit auch zu einer unterschiedlichen Interpretation sämtlicher Begriffe, inklusive wissenschaftlicher Hypothesen. Als die Renaissance und die Reformation Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in direkten Widerspruch zur scholastischen Ordnung (und zu einander) gerieten, wurde die reformatorische Wiederentdeckung der biblischen Einsicht der religiösen Nicht-Neutralität des gesamten Lebens zum ersten Opfer des Konflikts. Obschon sich manche der doktrinalen Reformen Luthers und Calvins in verschiedenen Zweigen des Protestantismus durchgesetzt haben, befand sich die Lehre der Nicht-Neutralität nicht unter ihnen. Tatsächlich rückten die unmittelbaren Nachfolger der beiden Reformatoren – Philipp Melanchthon und Theodor Beza – von der Idee ab, alles Wissen sei durch religiösen Glauben konditioniert, und kehrten zu einer scholastischen Sichtweise zurück. Derweil protestantische und katholische Theologen um ekklesiologische und sakramentale Themen, sowie um die Frage päpstlicher Autorität stritten, war ihre allgemeine Haltung gegenüber dem Verhältnis von Glaube und Ratio doch auffallend ähnlich. Der Hauptunterschied bestand ­darin, dass katholische Denker dazu tendierten, ihren Glauben mit aristotelisch geprägten Theorien der Natur in Einklang zu bringen (cf. thomistischer Einfluss), während sich protestantische Denker frei fühlten, ihren Glauben mit den Theorien zu vermitteln, die gerade in intellektueller Mode waren. Daraus resultierte eine eindrückliche Parade protestantisch-scholastischer Kom­bi­nationen des christlichen Glaubens mit philosophischen Theorien wie zum Beispiel einem Cartesischen Dualismus, Phänomenalismus, Kantischem Idealismus, Hegelianischem Monismus, Romantizismus, Marxismus, Existen­tialismus, usw. In der Zwischenzeit wurde die radikal biblische Position im protestantischen

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Denken stark marginalisiert und überlebte nur im Werk vereinzelter Denker und in wenig bekannten theologischen Kreisen. Tatsache ist, dass christliches Mainstream-Denken, zusammen mit vielen jüdischen und islamischen Traditionen, das Gefühl für die religiöse Dimension des gesamten Lebens verloren und nicht wieder gewonnen hat. Theorien insbesondere werden für religiös neutral gehandelt, anstatt dass deren Qualifikation durch religiöse Voraussetzungen gesehen wird. So wird der Glaube an Gott einer Theorie bloss angeheftet. Anstatt dass er zur bestimmenden Vor­ aussetzung einer Theorie wird, verkommt er zu einer Art Dekoration, die den sonst durchwegs paganen Charakter der Theorie abschwächen sollte. So glauben die meisten theistischen Denker weiterhin, Theoriebildung vollziehe sich in einem neutralen Bereich. Scheinbar genügt es hinzuzufügen, dass die von einer Theorie postulierten Gegenstände ebenso von Gott erschaffen sind, und das fertige Resultat auf einen augenfälligen formalen Widerspruch zu offenbarten Wahrheiten hin zu prüfen. Dieses Verfahren steht nun in deutlichem Gegensatz zur radikal biblischen Perspektive. Ihr gemäss ist die harmonisierende Vermittlung des Glaubens mit irgendeiner Theorie entweder unmöglich, falls diese den Glauben an Gott nicht schon voraussetzt, oder unnötig, falls sie es tut! Die scholastische Haltung verkennt, dass jede Theorie den Glauben an etwas (vermeintlich) Göttliches voraussetzt. Deshalb glaubt sie sich in der Lage, ein dauerhaftes Friedensabkommen zwischen ihrem religiösen Glauben und jeder Theorie abschliessen zu können, die sich plausibel anhört und diesem Glauben nicht widerspricht. Der radikal biblische Einwand muss dann aber lauten, dass jede vermutete äussere Übereinstimmung einer Theorie mit dem Glauben an Gott so lange auf einer blossen Illusion beruht, als jene Theorie ihre eigentliche Erklärungskraft aus einer anderen religiösen Quelle bezieht. Ich werde diesen letzten Punkt, der die radikal biblische Sichtweise stützt, nochmals als Frage hervorheben. Wenn, wie wir bald sehen werden, jede Theorie durch einen religiösen Glauben bestimmt ist, und deren Begriffe je nach vorausgesetztem Glauben unterschiedlich ausfallen, warum sollte dann der Glaube an Gott die einzige Ausnahme bilden? Warum soll es für den effektiven Gehalt einer Theorie einen Unterschied machen, ob sie Materie, Sinneseindrücke, mathematische Gesetze oder Form/Materie-Substanzen, logische Gesetze, usw. als göttlich voraussetzt, nicht aber, wenn anstatt eines Aspekts der Schöpfung Gott als göttlich angenommen wird? Das ist zunächst alles andere als einleuchtend, entspricht aber ziemlich genau dem herrschenden Paradigma. Wie schon angedeutet, geben die wissenschaftlichen Errungenschaften, die von den Renaissance-Denkern als Bestätigung ihrer Perspektive gelesen

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wurden, vielleicht die stärkste Erklärung ab für die Verkümmerung der radikal biblischen Position. Zur Zeit der Reformation und den darauf folgenden eineinhalb Jahrhunderte wurden einige bemerkenswerte wissenschaftliche Leistungen erbracht, die hinsichtlich ihrer religiösen Dimension als vollständig neutral empfunden wurden. Dazu gehörten: die Wiederentdeckung der Algebra, die Entwicklung der analytischen Geometrie und der Infinitesimalrechnung, die Erfindung des Mikroskops und des Teleskops, die Entdeckung der Gesetze der Bewegung und der Gravitation und die ersten, umfassenden Theorien in den Bereichen der Mechanik, Optik und Astronomie. Dass die meisten dieser Errungenschaften unabhängig von allem religiösen Glauben als gültig und wirksam erscheinen konnten, bekräftigte nicht nur die erneute Preisgabe des radikal biblischen Elements durch die Kräfte der Reformation. Letzten Endes führte die Entwicklung zum Triumph eines wieder erstarkten Rationalismus, zuerst unter dem Titel eines „Humanismus“ und dann als „Aufklärung“. Diese Stossrichtung zog die intellektuelle und kulturelle Führungsposition in der westlichen Welt an sich, und verblieb in dieser Stellung bis auf den heutigen Tag. Gegenwärtig ist sie jedoch durch verschiedene Versionen des Historizismus, Pragmatismus und Relativismus herausgefordert, die den religiösen Glauben meist in irrationalistischen Kategorien deuten. Tatsächlich ist die radikal biblische Sicht während den letzten hundert­ fünfzig Jahren innerhalb der protestantischen Traditionen immer stärker vermie­den worden. Der Hauptgrund dafür liegt wohl in der eigentümlichen Interpretation, den diese Sichtweise durch die grösste, einzelne Gruppierung ihrer Anhänger, den Fundamentalisten, erfahren hatte. In fundamentalistischen Kreisen wurde die Einsicht aufrechterhalten, dass das gesamte Leben, Theorien inbegriffen, unter religiösen Vorzeichen steht. Auch hier wird der Glauben an Gott als positive und intrinsische Orientierungskraft betrachtet, anstatt dass dieser in einem blossen Verbot von ihm widersprechenden Theorien mündet. Doch ist das fundamentalistische Verständnis davon, wie der Glaube seinen Einfluss geltend macht, dermassen unplausibel, dass die ganze biblische Sichtweise dadurch in Verruf gerät. Gibt es überhaupt noch etwas Sagenswertes zugunsten der radikal bibli­ schen Perspektive, nachdem ich behauptet habe, dass scholastische Denker in der Überzahl, Rationalisten auf der Chefetage, irrationalistische Denker in der Position des stärksten Herausforderers, und Fundamentalisten die grösste Vertretergruppe eben dieser biblischen Position sind? Mindestens zweimal in der Geschichte ist letztere an die Oberfläche gekommen, jedoch nur um von ihren potentiellen Anhängern wieder versenkt zu werden. Warum sie also nochmals zu hieven versuchen?

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5. Kapitel

Die schlichte Antwort ist, dass die radikal biblische Position nicht vernünftig interpretiert werden kann, und auch nicht so interpretiert werden muss, wie in fundamentalistischen Kreisen behauptet wird, indem Theorien (oder die zu deren Bekräftigung herangezogene Evidenz) aus der Schrift oder der Theologie abgeleitet werden. In Kürze werde ich eine alternative Sichtweise präsentieren, die mit der Erläuterung der Rolle höherstufiger Abstraktion in der Theoriebildung beginnt. Diese Art von Abstraktion ist dafür verantwortlich, dass eine Theorie letztlich nicht umhin kann, von einem religiösen Glauben kontrolliert zu werden. Bevor das geschieht, muss jedoch noch geklärt werden, was mit der Behauptung gemeint ist, dass Theorien von einem Glauben „kontrolliert“, oder „bestimmt“ sind. So wird es uns im folgenden Kapitel darum zu tun sein, die fundamentalistische Interpretation der unvermeidbaren religiösen Kontrolle zu kritisieren, und sie durch eine biblisch adäquate Auffassung zu ersetzen, wie ein religiöser Glaube das Wesen von Theorie bestimmt.

Die Idee der religiösen Kontrolle

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6. Kapitel

Die Idee der religiösen Kontrolle 6.1

Der Irrtum des Fundamentalismus

Der Ausdruck „fundamentalistisch“ hat eine ganze Reihe von Bedeutungen und wird mit vielen verschiedenen Lehren und Lebenseinstellungen in Beziehung gebracht. Für meine Zwecke ist der Ausdruck nur gerade in dem Sinn relevant, als er eine bestimmte Sichtweise charakterisiert, wie das Verhältnis zwischen einem religiösen Glauben und einer Theorie zu sehen ist. In dieser Hinsicht ist die fundamentalistische Auffassung dieselbe, ob sie nun im Judentum, Christentum oder im Islam auftritt. Doch entgegen der populären Definition ist das Erkennungsmerkmal eines Fundamentalisten in jeder dieser Traditionen nicht die wörtliche Auslegung der Schrift. Das eigentliche Unterscheidungsmerkmal liegt in der Auffassung, die ich die „enzyklopädische Annahme“ nenne. Damit meine ich die Überzeugung, dass die heilige Schrift (oder die aus ihr abgeleitete Theologie) zu praktisch jeder vorstellbaren Sache inspirierte und deshalb unfehlbare Aussagen enthält. Es ist diese Annahme und ihre Konsequenzen, die das fundamentalistische Denken im innersten prägen. Eine Konsequenz dieser Annahme ist das Beharren darauf, dass jede Theoriebildung damit beginnen muss, was die Schrift selbst zu der erforschenden Sache sagt, und jede Theorie um das herum gebaut werden muss, was sich als die Lehre der Schrift herausstellt. Das ist die Art und Weise, wie der Fundamentalismus die religiöse Kontrolle von Theorien sieht. Zentral in diesem Ansatz ist also nicht, ob die Schrift wörtlich ausgelegt wird oder nicht. Der springende Punkt liegt vielmehr im fundamentalistischen Bestreben, eine Interpretation der Schrift zu finden, die zu jeder erdenklichen Sache etwas beiträgt (später in diesem Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, warum dieses fundamentalistische Programm oft zu Interpretationen führt, die gerade nicht wörtlich genug sind)1. Währenddem die meisten Juden, Christen und Muslime wohl erwarten, dass die Schrift irgendeine Art von Orientierung für die Theoriebildung enthält, insistieren die Fundamentalisten darauf, dass diese Orientierung durch das Vorhandensein von spezifischen Aussagen zu nahezu jedem Thema gewährleistet wird. 1 Siehe hierzu die erhellenden Bemerkungen in J. Barr’s Aufsatz „Literality,“ in Faith and Phi­ losophy 6, no. 4 (Oct. 1989): 412–28.

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_007

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Ein anderer Teil der enzyklopädischen Annahme hängt mit der Frage zusammen, was geschieht, wenn selbst die gequälteste Interpretation einer biblischen Passage keine Informationen zu einer bestimmten Sache hervorbringen will. In diesem Fall nimmt die Orientierungsleistung der Schrift die Form der Bestätigung gewisser Theorien an, anstatt selbst die Angaben zu liefern, von denen eine Theorie ausgehen muss. Wo ein Scholastiker festhalten würde, dass eine Theorie in Biologie, Geologie oder Physik, usw. immer dann akzeptabel ist, wenn sie keiner offenbarten Glaubenslehre widerspricht, hält der Fundamentalist an einer stärkeren Kontrolle der Theoriebildung durch den Glauben fest. Eine Theorie muss alles aufführen, was zu einer bestimmten Sache offenbart ist, oder einen Rückverweis auf die Schrift auf der Ebene der bestätigenden Evidenz enthalten, oder beides. Zur Illustration dieser Konsequenzen der enzyklopädischen Annahme werfen wir einen kurzen Blick auf das Werk von Richard Kirwan, der als Vater der britischen Mineralogie gilt. Kirwan entwickelte ein äusserst reges Interesse an der eben entstehenden geologischen Wissenschaft. Sein Werk Geological Essays (1799) stellte ein bedeutender Forschungsbeitrag in diesem Gebiet dar. In seinen Theorien in diesem Aufsatzband geht Kirwan davon aus, dass Noahs Sintflut, wie sie im Buch Genesis beschrieben ist, das bedeutsamste geologische Ereignis der Erdgeschichte sein musste. Weil die Bibel dies nicht sagt, und überhaupt weniger Information über die Flut enthält als die enzyklopädische Annahme ihn erwarten macht, versteigt sich Kirwan in die Spekulation, beim vorfindlichen Bibeltext müsse es sich um eine gekürzte Wiedergabe des Originals handeln, das sehr viel mehr geologische Daten enthalten hätte! Im weiteren geht er davon aus, dass die sechs Tage der Schöpfung im Buch Genesis die grundlegende Richtschnur für jede geologische Theoriebildung sein müsse. Nachdem er genügend Evidenz dafür „gefunden“ hat, dass die Erdgeschichte in sechs Perioden zerfällt, argumentiert Kirwan: Hier haben wir also sieben oder acht geologische Fakten vor uns, die einerseits von Moses dargelegt, andererseits aus den exaktesten und zuverlässigsten geologischen Beobachtungen abgeleitet wurden, und dennoch nicht nur in ihrem Gehalt, sondern in ihrer Reihenfolge übereinstimmen. Wem oder was wir auch immer unsere Überzeugung schenken, die Übereinstimmung mit dem jeweils anderen kann nur dessen Wahrheit bestätigen. Wenn wir aber keinem von beiden Überzeugung schenken, müssen wir deren Übereinstimmung erklären: Wenn wir dies versuchen, stossen wir auf die unendliche Unwahrscheinlichkeit, dass beide Berichte falsch sind; es folgt, dass einer von beiden wahr sein, und deshalb auch der andere zutreffen muss.2 2 Zitiert in C. C. Gillespie, Genesis and Geology (New York: Harper & Brothers, 1959), 53.

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Vielmehr als unser Augenmerk auf die fragwürdige Logik des Arguments zu richten, wollen wir auf die Folgen der enzyklopädischen Annahme achten, die hier ans Licht treten. Offenkundig haben wir es nicht mit der scholastischen Forderung einer blossen Harmonie zwischen natürlichen und übernatürlichen Wahrheiten zu tun. Noch deutlicher ist die Abwesenheit einer totalen Isolation von Glauben und theoretischem Denken, wie sie vom Irrationalismus verlangt wird. Denn jedes in der Schrift auch nur erwähnte Detail kann im Prinzip mit jedem beliebigen Thema zu tun haben. Im vorliegenden Fall besteht der Zusammenhang darin, dass biblische Wahrheiten zu Schlüsseltatsachen für alle möglichen Probleme der geologischen Forschung werden. Gleichzeitig darf man gemäss Kirwan auch erwarten, dass die Geologie und andere Wissenschaften die Schrift bestätigen. Diese Annahme wird nun nicht nur von Fundamentalisten vertreten. Ich führe sie also nicht als spezifisches Merkmal einer fundamentalistischen Sicht ein. Jedoch handelt es sich dabei um einen Irrtum, der in Kombination mit der enzyklopädischen Annahme nur umso grösseren Schaden anrichtet. Dieser Irrtum rührt aus der Verwechslung von Gottes Vorsehung mit einer göttlichen Intervention in die natürliche Ordnung, anstatt dass die göttliche Vorsehung als Grund und Boden eben dieser Ordnung gesehen wird. Der Ausdruck „Vorsehung“ ist die theologische Bezeichnung dafür, dass Gott alle Dinge in ihrer Existenz erhält. In den biblischen Schriften wird diese Auffassung so weit wie möglich gehalten. Es ist durch Gottes Vorsehung, dass die Sonne auf- und untergeht, die Jahreszeiten ändern, der Regen „auf Gerechte und Ungerechte“ fällt, und die Naturgesetze den steten Lauf des Universums gewährleisten (Gen 8,22). Freilich sprechen die biblischen Schriften auch von Situationen, da Gott selbst in der Schöpfung handelt um sich zu offenbaren und/oder Wunder zu wirken. Solche Ereignisse sind also nicht nur Teil von Gottes Vorsehung (Lat. providentia). Sie sind seine eigenen Handlungen in der von ihm erhaltenen Schöpfung. Aber Gottes welterhaltende Vorsehung sollte nicht mit seinen speziellen Handlungen anlässlich der Offenbarung seines Bundes verwechselt werden. In einem bestimmten Sinn greift Gott in den gewöhnlichen Verlauf der Dinge ein, um etwas hervorzubringen, das sonst nicht entstanden wäre (vergleichbar mit menschlichen Handlungen). Doch wirkt Gott seine Ziele in der Welt oft auf providentielle Weise, und seine Vorsehung ist nicht als göttliches Eingreifen in eine natürliche Ordnung, die ohnehin vorhanden ist, zu verstehen. Aus biblischer Sicht gibt es nichts, das „einfach da“ wäre, wenn Gott es nicht erschaffen hätte und in seinem Dasein erhalten würde. Wenn Gott also von Zeit zu Zeit in der Schöpfung gehandelt hat, kommen seine Ziele gemäss der Schrift doch oft zu einer providentiellen Verwirklichung, was nun eben nicht mit Gottes Handlungen oder Wundern verwechselt werden sollte. Fundamentalisten neigen hingegen dazu, jede biblische Feststellung der Verwirklichung eines göttlichen Zieles als

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Feststellung von Ereignissen zu betrachten, die (zumindest teilweise) aus einem Wunder hervorgehen. Diese fundamentalistische Tendenz, Gottes providentielle Erhaltung aller Dinge und seine speziellen Handlungen in der Schöpfung zu vermengen, bringt die Suche nach „Lücken“ in der natürlichen Ordnung (oder in unseren Erklärungen dieser Ordnung) mit sich – Lücken die angeblich allein von Gott gestopft werden können, vergleichbar mit Wundern und dem rettenden Handeln Gottes in der Geschichte, deren unmittelbare Ursache ebenso in Gott liegt. Diese Lücken werden dann als Möglichkeit aufgefasst, wie die Wissenschaft die Wahrheit der Schrift bestätigen kann. Anders gesagt: Weil wissenschaftliche Erklärungen die Lücken nicht füllen können, werden diese als Situationen gehandelt, die vermeintlich allein durch einen speziellen göttlichen Akt erklärt werden können. Auf diesem Weg lässt die fundamentalistische Position Gottes providentielle Zuwendung zur Schöpfung in mehr als deren Erhaltung bestehen. Noch mehr: Diese Position sieht Gott als das letzte Glied einer Vielzahl von natürlichen Ursachereihen, die durch die Wissenschaften erforscht werden. Doch wird dabei übersehen, dass Gott auf diesem Weg selbst Teil einer natürlichen Ursachereihe, und deshalb zu einem Teil der Schöpfung wird! Ich greife diesen letzten Punkt nochmals auf, damit er ganz deutlich wird. Währenddem Sie oder ich zum Fenster hinausschauen, und sagen würde: „Es regnet“, hätte ein biblischer Prophet vielleicht bemerkt: „Der Herr schickt Regen über das Land“. Beide Ausdrucksweisen stellen dieselbe Tatsache fest; im zweiten Fall ist aber der zusätzliche Hinweis enthalten, dass das Zusammenspiel der natürlichen Elemente allein durch Gottes Vorsehung und Wille zustande kommt und Regen hervorbringt. Fundamentalisten fassen die Bemerkung des Propheten nun so auf, dass unter den meteorologischen Bedingungen ein bestimmter Faktor existieren muss, der, wenn wissenschaftlich untersucht, nur dann zur Erklärung des Regens taugt, wenn auch Gott in die Erklärung aufgenommen wird. Und genau das ist falsch. Nichts in den biblischen Texten legt die Auffassung nahe, die Art und Weise wie Gott die Welt erhält müsste dazu führen, dass unsere Erforschung der kausalen Verbindungen in den (erschaffenen) natürlichen Prozessen irgendwelche Lücken ans Licht bringt, die keine natürliche Erklärung zulassen. Die biblische Sicht ist keineswegs, dass der Regen und andere natürliche Vorkommnisse allesamt mira­ kulöse Anteile haben, sondern vielmehr, dass kein Ding, Ereignis oder Gesetz in der Natur überhaupt existieren würde, wären sie nicht von Gott erschaffen und in ihrem Dasein erhalten.3 3 H. Van Till hat dies ausführlich dargelegt in The Fourth Day: What the Bible and the Heavens Are Telling Us about Creation (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1986) und in Portraits of

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Obwohl es zutrifft, dass Gottes Kreativität und Vorsehung der letzte Grund sind, warum es Dinge wie Wind, Wolken, Wasser und die Gesetze, die ihren Lauf gewährleisten, gibt, ist es doch die erschaffene Ordnung, die die erschaffenen Ereignisse nach der Manier der Wissenschaften erklärt. Eine wissenschaftliche Erklärung des Regens schliesst keine Antwort darauf ein, warum Raum, Zeit, Materie/Energie und alle Gesetzmässigkeiten der Schöpfungsordnung überhaupt existieren oder in Kraft sind. Das ist eine metaphysische und letztlich eine religiöse Frage. Obgleich Gott der Schöpfer der kausalen Ordnung ist, die es uns erlaubt, das Phänomen des Regens zu erklären, ist er doch nicht selbst eine Ursache unter anderen – und nicht einmal die erste Ursache. Streng genommen ist Gott nicht die Ursache des Universums, sondern der Schöpfer jeder Art von Kausalität innerhalb des Universums.4 Der vorangegangene Paragraph soll nun nicht leugnen, dass gemäss der Schrift die erschaffene Wirklichkeit auf eine bestimmte Weise Gott offenbart. Aber entgegen der Auffassung der Fundamentalisten (und anderer Strömungen), bezeugt die Schöpfung ihren Urheber nicht dadurch, dass sie von uns verlangen würde, Gott zum unverzichtbaren Bestandteil unserer Erklärungsversuche zu machen. Nach der Schrift offenbart die Schöpfung ihren göttlichen Grund dadurch, dass sie sich selbst als abhängig und darum nicht als selbst-existent zeigt, weder in Teilen noch als Ganze (Röm 1,20; 23). Aus der Sicht der biblischen Darstellung kann das Zeugnis der Schöpfung also nicht die gravierende Irrmeinung rechtfertigen, wonach die göttliche Vorsehung mit den Situationen identifiziert wird, da Gott hinsichtlich der Offenbarung seines Bundes und der Erfüllung seiner Verheissungen in der Geschichte in Beziehung zu den Menschen tritt oder auf deren Verhalten reagiert. Und es ist eine masslose Überrationalisierung, wenn das Zeugnis der Schöpfung entweder als spezifische Information konstruiert wird, die als Prämisse eines Beweises für die Existenz Gottes herhalten muss, oder dann als Inhalt oder Bestätigung für irgendwelche Theorien funktionieren soll. Die Erwartung, dass die Wissenschaften die biblische Offenbarung bestätigen müssten, ist, wie gesagt, umso schlimmer, wenn sie sich mit der enzyklopädischen Annahme vereint. Der Grund dafür ist der krass rationalistische Charakter der resultierenden Kombination. Zu erwarten, dass der religiöse Creation: Biblical and Scientific Perspectives on the World’s Formation (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1990). 4 Die Verwechslung von Gottes Vorsehung mit seinem Handeln in der Schöpfung findet sich bei vielen verschiedenen Denkern. Ein bemerkenswertes Beispiel findet sich in S. Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit, übers. von H. Kober (Leipzig: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2011), 136–41, 174–75. Diese Verwechslung wird auch von Carl Sagan in dessen Vorwort zum Buch übernommen.

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Glaube durch Argumente bewiesen oder durch Theorien bestätigt werden müsste, heisst, den Glauben an Gott selbst als Theorie zu betrachten, oder doch zumindest so, als müsste er wie eine Theorie beurteilt werden. Diese Tendenz kann dort beobachtet werden, wo Fundamentalisten gegen zeitgenössische Theorien ankämpfen, und ihnen einen so genannten „wissenschaftlichen Kreationismus“ entgegen stellen, der angeblich aus der Bibel gewonnen oder durch diese bestätigt wird. Doch die offenbarten Wahrheiten der Schrift sind überhaupt keine Theorien. Sie sind keine Hypothesen, die wir erfinden, um Erklärungslücken zu füllen, und die wir dann als ihren jeweiligen Alternativen überlegen erweisen müssten. Vielmehr nehmen wir sie an, weil wir sie, durch die Gnade Gottes erleuchtet, als die Wahrheit Gottes über Gott erfahren. Aus diesem Grund ist die fundamentalistische Vorstellung, dass Gott die Lücken in unseren Erklärungsmodellen füllen muss, eine ebenso unbiblische Vorstellung was die Verteidigung der Wahrheit des Glaubens betrifft, wie die enzyklopädische Annahme hinsichtlich der Interpretation dieser Glaubenswahrheiten. Die beiden Irrtümer bestärken sich gegenseitig. Sobald die Schrift als Steinbruch von Fakten für alle Wissenschaften betrachtet wird, und sie angeblich Theorien enthält oder bestätigt, die die besseren Erklärungen als rivalisierende Hypothesen bieten, ist es nur ein kurzer und beinahe unwiderstehlicher Schritt, diesen Erfolg als Beweis der Wahrheit der Schrift zu nehmen.5 5 Vgl. zum Beispiel: G. Schroeder Schöpfung und Urknall (München: Goldmann Wilhelm GmbH, 1996). Andere zeitgenössische Autoren gehen sogar so weit, dass sie versuchen, mit wissenschaftlichen Belegen Gottes Existenz zu beweisen. Sie behaupten, dass mehrere Eigenschaften des Universums statistisch so unwahrscheinlich sind, dass es zwingend ist, auf ein intelligentes Design zu schliessen. Aber während Theisten alle aus der Offenbarung wissen, dass die Welt von Gott geplant ist, kann die statistische Unwahrscheinlichkeit irgend einer ihrer Eigenschaften dies nicht erweisen. Der Grund liegt darin, dass – wie klein auch immer die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses sein mag – der Schluss auf ein dahinterstehendes Design nur gezogen werden kann, wenn gewusst wird, dass für das Universum im Ganzen diese Wahrscheinlichkeit kleiner ist, als das Verhältnis von geplanten zu ungeplanten Dingen. Nehmen wir beispielsweise an, dass die Wahrscheinlichkeit davon, dass sich X ohne intelligentes Design entwickelt, bei 1/100’000’000 liegt. Das sagt uns nichts darüber, ob X mit grösserer Wahrscheinlichkeit geplant als ungeplant ist, solange wir nicht wissen, dass es für jedes geplante Ding im Universum weniger als 100’000’000 nicht-geplante Dinge gibt. Wir bräuchten, damit das Argument standhält, also einen unabhängigen Zugang zum Verhältnis von geplanten zu nicht-geplanten Dingen im Universum. Dann könnten wir dieses Verhältnis mit der Wahrscheinlichkeit eines ungeplanten Auftretens von X vergleichen. Aber diese Information ist uns nicht nur unzugänglich, sie ist auch von unserem Wissen abhängig, ob Gott die Welt erschaffen hat! Wenn er es getan hat, dann gibt es eben keine nicht-geplanten Dinge, und wenn er es nicht getan hat, dann sind die einzig intelligent geplanten Dinge im Universum (von denen wir wissen) diejenigen, die entweder von Menschen oder höherentwickelten

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Um solchen Missverständnissen zu entgehen, sollte man im Auge behalten, dass nach der Intention ihrer Verfasser das Ziel der biblischen Texte darin liegt, Gottes Handlungen zur Errichtungen seines Bundes mit den Menschen und dessen Erhaltung zu bezeugen. Wenn die biblischen Verfasser von natürlichen Ereignissen, historischen Ereignissen, politischen Ereignissen, etc. sprechen, tun sie es mit dem Ziel, einen bestimmten Aspekt des göttlichen Bundes zu proklamieren, zu interpretieren oder zu illustrieren. Deshalb haben es die biblischen Schriften zuerst, hauptsächlich und immer mit Religion zu tun.6 Es ist ein kolossaler Irrtum zu meinen, wenn ein Ereignis von religiöser Bedeutung ist, wie etwa die Flut für den göttlichen Bund mit Noah von Belang ist, es deshalb auch schon von ausschlaggebender Bedeutung für die Geologie oder irgendeine Wissenschaft sein müsste. Der religiöse Fokus der Schrift muss deshalb als fundamentale Richtschnur zum Verständnis der Schrift aus ihr selbst heraus aufrechterhalten werden; stets sollten wir versuchen, die Sprache, die Struktur, die Anliegen, die Rahmenbedingungen und Kontexte der biblischen Schriften so zu verstehen, dass wir eine möglichst präzise Sicht ihres tatsächlichen Gehalts gewinnen. Diese Art mit der Schrift umzugehen ist das genaue Gegenteil davon, die Bibel als enzyklopädische Quelle für all das zu betrachten, was uns gerade beschäftigt und interessiert. Zur Verdeutlichung meiner Behauptung, dass die Schrift in ihren eigenen Begriffen verstanden, und deshalb als religiöser Text gelesen werden muss, wollen wir kurz auf den Bericht der Ordnung der Schöpfung und des Ursprungs menschlicher Lebewesen im Buch Genesis eingehen. Viele Fundamentalisten haben diesen Text als Handbuch der astronomischen, biologischen, paläon­ tologischen und geologischen Wissenschaften betrachtet. Sie haben angenommen, dass sich die im Buch Genesis erwähnten „Tage“ der göttlichen Kreativität Tieren hergestellt wurden. Dieses Argument ist daher ein Enthymem, und seine unterdrückte Prämisse lässt jede Schlussfolgerung von der anfänglichen Wahrscheinlichkeit von X auf die Frage nach dem Glauben an Gott als ungültig erscheinen (siehe J. Venn, The Logic of Chance [New York: Chelsea Pub. Co., 1962]). 6 Es ist wichtig festzuhalten, dass die Heilige Schrift selbst eine Stellungnahme zum Ausmass gibt, in dem wir ihre Inspiration als Wahrheitsgarantie annehmen dürfen: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nützlich zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit.“ (2 Tim 3,16). Das scheint vortrefflich zu dem zu passen, was ich den „religiösen Fokus“ der Bibel genannt habe, weil – in ihrem eigenen Kontext gesehen – diese Bemerkung von der Ausrüstung des Pastors mit der wahren biblischen Lehre von Gerechtigkeit spricht, die Gottes Bundesgeschenk ist. Es gibt nicht den leisesten Hinweis darauf, dass die inspirierte Autorität der Heiligen Schrift dazu bestimmt ist, über das, was sie uns bezüglich Gott, dem richtigen Verhältnis zu Gott, und allem anderem, was wahr sein muss, damit diese Dinge wahr sind, vermittelt, hinausgeht.

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auf vierundzwanzig Stunden-Perioden, oder aber auf verschiedene Phasen der Erdgeschichte beziehen. Ähnlich vermuten sie, dass der Bericht der göttlichen Erschaffung verschiedener Lebensformen, die sich „nach ihrer Art“ vermehren, eine Art Grundprinzip der biologischen Forschung präsentieren muss, anstatt die alltäglichen Beobachtungen seines Verfassers oder Verfasser wiederzugeben. Bei genauerem Hinsehen erweist der Text jedoch seine etwas andersartige Intention, die eine fundamentalistische Auffassung ausschliesst. Denn die Sprache und innere Struktur des Textes (die ich als seine „wörtliche“ Bedeutung betrachte), setzen sich deutlich von der enzyklopädischen Annahme ab. Im Schöpfungsbericht des Buches Genesis bringt Gott allererst „die Himmel und die Erde“ aus dem Nichts (ex nihilo) hervor. Danach tritt die himmlische Dimension der Schöpfung sofort in den Hintergrund, und unsere Aufmerksamkeit wird ganz auf die Erde gelenkt (wir würden sagen auf „das Universum“). Es folgt die berühmte Darstellung der nachfolgenden Entwicklung, die die Erde in Übereinstimmung mit Gottes Zielen durchläuft. Diese Entwicklung wird als Gottes Werk geschildert, das sich über die Tage eines Wochenablaufs erstreckt. Die Tage der Schöpfung sind wie folgt: Tag 1, Gott trennt Licht von Dunkelheit; Tag 2, Gott scheidet Meer und Atmosphäre; Tag 3, trennt Land und Meer und erschafft das pflanzliche Leben; Tag 4, Gott erschafft Sonne, Mond und Sterne; Tag 5, Gott erschafft das Leben im Meer und die Vögel; Tag 6, Gott erschafft Tiere und Menschen. Das Schwergewicht dieses Textes liegt deutlich darauf, wie alles von Gott abhängt. Es sind keine konkurrierenden Kräfte auf der selben Ebene wie Gott im Spiel. Es ist vielmehr Gott, der alles ausser ihm ins Dasein ruft, und die gesamte Schöpfung in Übereinstimmung mit seinen Zielen ordnet. Die Emphase des Textes liegt also auf der kreativen Souveränität Gottes: „Und Gott sprach: ‘Es werde … ’“. Praktisch nichts wird erwähnt, das wir gesehen hätten, wären wir in den ersten Entwicklungsstadien des Universums als Beobachter dabei gewesen. Alles was der Text über die Konsequenzen der schöperischen Dekrete Gottes sagt ist: „Und es geschah so“. Vielleicht der zentralste Faktor, um den religiösen Mittelpunkt des Textes erblicken zu können, besteht in der Einsicht, dass es sich hier um alles andere als einen isolierten wissenschaftlichen Essay handelt, sondern um den Prolog, und einen Teil, des göttlichen Bundes mit Moses am Sinai. Aus diesem Grund ist es am natürlichsten, die „Tage“ der göttlichen Erschaffung des Universums im Zusammenhang mit dem Gebot zu sehen, wonach die Menschen sechs Tage arbeiten, am Sabbat aber ruhen sollen. Der Text braucht die literarische Figur einer Arbeitswoche, um von Gottes Verwirklichung seiner Ziele in exemplarischer oder vorbildhafter Weise zu sprechen; das heisst, um die Parallele zum gebotenen Zyklus von Arbeit und Ruhe herzustellen. Die Schöpfungsgeschichte schafft so allererst den grundlegenden literarischen Rahmen für alles

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Weitere und ist nicht als getrenntes Protokoll von Ereignissen zu verstehen, die sich über sechs wörtliche Tage hinziehen.7 Dies wird durch die innere Struktur des Textes bestätigt, sobald wir bemerken, dass die Tage 4, 5 und 6 den Tagen 1, 2, und 3 entsprechen. Tag 1 sieht die Trennung von Licht und Dunkelheit, Tag 4 die Erschaffung von Sonne, Mond und Sternen; Tag 2 sieht die Trennung von Meer und Atmosphäre, während Tag 5 vom beginnenden Leben des Meeres und der Vögel handelt; Tag 3 sieht die Entstehung von Land und Vegetation, während Tag 6 Tiere und Menschen zum Thema hat. Das folgende Diagramm soll diese Entsprechungen verdeutlichen: Tag 1

Tag 2

Tag 3

Licht Dunkelheit

Meer Atmosphäre

Land Pflanzen

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Sonne Mond Sterne

Aquatisches Leben Vögel

Tiere Menschen

Diese Entsprechung ist ein zu hervorstechendes Merkmal des Textes, um als blosse Zufälligkeit abgetan werden zu können. Wenn aber kein Zufall, dann zeigt die Entsprechung etwas, das für das richtige (wörtliche) Verständnis von zentraler Bedeutung ist: Die „Tage“ sind nicht als chronologische Berichterstattung der Art und Weise gemeint, wie die Entstehung des Universums vor sich ging. Vielmehr als Ausdruck des „wie“ sind die „Tage“ Ausdruck des „warum“ der göttlichen Schöpfung. Anders gesagt, sie stellen eine Ordnung der Ziele anstatt eine Ordnung der Zeit dar. Der Unterschied von Licht und Dunkelheit, zum Beispiel, wird als Hintergrundbedingung der Existenz von Sonne, Mond 7 N. H. Ridderbos, Is There a Conflict between Genesis 1 and Natural Science? (Grand Rapids, Mich., Eerdmans, 1957). Siehe auch C. Van der Waal, Search the Scriptures (St. Catherines Ontario, Paideia Press, 1978), vol. 1, 53 ff. und Meredith Kline & Lee Irons, “The Framework View,” in The Genesis Debate, ed. D. Hagopian (Mission Viejo, California, Crux Press, 2001). Ich habe diese Interpretation der Genesiserzählung verteidigt in: “Genesis on the Origin of the Human Race,” in Perspectives on Science and Christian Faith, 43, no. 1 (March 1991): 2–13; und in “Is Theism Compatible with Evolution?” in Intelligent Design, Creationism and Its Critics, ed. Robert Pennock (Cambridge, Mass.: MIT Press, 2001), 513–36.

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und Sterne eingeführt. Und die Differenzierung von Land und Meer, sowie die Erschaffung des pflanzlichen Lebens, sind die vorgesehenen Bedingungen, ohne die tierisches und menschliches Leben nicht entstehen und gedeihen könnte. So gesehen ist es lächerlich darüber zu streiten – wie Fundamentalisten dies leider des öfteren getan haben – ob die sechs Tage vierundzwanzigStunden Perioden oder geologische Zeitalter bezeichnen. Wie Augustinus vor langer Zeit bemerkt hat, muss der Ausdruck „Tag“ im Schöpfungsbericht der Genesis figurativ gemeint sein, denn wie sollte es vor der Erscheinung von Sonne, Mond und Sternen vierundzwanzig-Stunden Perioden geben können? (Dasselbe gilt natürlich auch für die geologischen Zeitalter). Augustinus Kommentar füge ich auch hinzu: Was kann die Rechtfertigung dafür sein, die Tage entweder als vierundzwanzig-Stunden Perioden oder geologische Zeitalter zu verstehen, wenn sie überhaupt nicht als chronologische Darstellung der Geschichte des Universums, sondern als Ausdruck der zielgerichteten Ordnung von Gottes schöpferischen Intentionen gemeint sind? Sowohl die Interpretation des Kurz- wie des Langzeitkreationismus verdanken sich in direkter Linie der enzyklopädischen Annahme, und diese Annahme verfehlt den durch und durch religiösen Charakter des Textes nicht nur, sondern verdeckt ihn geradezu. Das trifft zu, auch wenn Genesis nicht viel über die menschlichen Ursprünge zu sagen hat (Gen 1,27–30). Sogar dort verweilt der Fokus auf der religiösen Natur der Menschen, weil von ihnen gesagt wird, dass sie „nach dem Bilde Gottes“ geschaffen sind. Das heisst, ihre Existenz hängt davon ab, dass sie im richtigen Verhältnis zu Gott stehen, sowie ein Bild eben von dem abhängt, was es reflektiert, und sie verfügen über Eigenschaften und Fähigkeiten, die sie mit Gott teilen. Später, in Gen 2,7, wird uns zusätzliche Information dazu gegeben, aus welchem Material der Mensch gemacht ist, nämlich „aus Erde vom Ackerboden“, ein Ausdruck, der überall mit Sterblichkeit gleichbedeutend ist (Cf. Ps 22,15, 29; 44,25; 103,14; 104,29; Pred 3,20; 12,7; Jes 26,19; Dan 12,2).8 Auffällig ist, dass Gott, wenn die Menschen in Ungehorsam verfallen und ihren besonderen Platz unter seinem Schutz im Garten Eden verlieren, zu ihnen sagt, dass sie von jetzt an um ihr Überleben kämpfen müssen und am Ende diesen Kampf 8 Henry Morris hat das vorbildlich formuliert: „But there was still the problem of the age of the earth. […] If this could be settled anywhere it would have to be in scripture. […] It seemed impossible that God would have left so important a matter […] unsettled in his Word. […] Surely God has the answer in his Word!“ in The History of Modern Creationism, San Diego, Master Books, 1984), 96. (Aber da war immer noch das Problem des Erdalters. Sollte dieses gelöst werden können, dann müsste es in der Schrift geschehen. Es scheint unmöglich, dass Gott eine so wichtige Sache in seinem Wort ungelöst lässt. Sicherlich hat Gott die Antwort in seinem Wort! ).

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verlieren und sterben: „Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück“ (Gen 3,19). Demzufolge sieht Genesis das ewige Leben nicht als für Menschen natürlich an, und – im Gegensatz zu Platon – den Körper nicht als „Gefängnis der Seele.“ Nach Ansicht von Genesis sind wir aus demselben Stoff gemacht, wie alles andere auch, und genau deswegen hängt unser Leben davon ab, dass wir im richtigen Verhältnis zu Gott stehen. Diese Ansicht wird im Neuen Testament dadurch bestätigt, dass immer wieder darauf bestanden wird, dass das Geschenk des Lebens von der Gabe neuer Leiber abhängig ist, die wir bei der Auferstehung geschenkt bekommen; Körper, die nicht verweslich sind (1. Kor 15). Der Fokus bleibt in Gen 2 immer derselbe; er liegt viel mehr auf Adams und Evas Beziehung zu Gott, als dass er sich mit dem Ursprung der Menschen befassen würde. Tatsächlich gibt es starke sprachliche Indizien dafür, dass Gen. 2,7 keine zweite Schöpfungsgeschichte ist, sondern der Anfang einer neuen Geschichte - die Geschichte der Erlösung. Der erste Hinweis findet sich in folgender Formulierung: „Das ist die Geschichte der Entstehung von Himmel und Erde, als sie erschaffen wurden. Zur Zeit, als Gott der HERR, Erde und Himmel machte…“ Diese Formulierung findet sich zehn Mal im Buch Genesis. Jedes Mal ist sie der Anfang einer neuen, daran anschliessenden Geschichte.9 Ohne Zweifel ist das der Grund, weshalb das zweite Kapitel der Hebräischen Bibel mit dieser Formulierung beginnt, die sich in 2,4 der englischen Bibel befindet.10 Der zweite Hinweis ist der Ausdruck, der in 2,7 gebraucht wird und sich als „Lebensatem“ übersetzen lässt. Der hebräische Ausdruck ist nicht das Wort für „Atem“ oder „Geist“ (ruach), aber auch nicht das Wort für „Seele“ (nephesh). Stattdessen wird der Ausdruck neshamah verwendet, ein Begriff, der meistens dann gebraucht wird, wenn Gott einem Menschen seinen Geist verleiht; kurzgefasst bedeutet der Ausdruck „Inspiration“. Aus diesem Grund liest eine bestimmte jüdische Tradition diese Verse seit langem eher als Beschreibung eines Akts der göttlichen Vergebung als einen zweiten Schöpfungsbericht. In seinem grossartigen Buch, The Lonely Man of Faith (Der einsame Mann des Glaubens),11 betrachtet Rabbi Joseph Soloveitchik die Erzählung als einen Akt Gottes, der Adam seinen Geist verleiht und ihn vom Tod erlöst, und er zitiert zur Unterstützung den grossen mittelalterlichen 9

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Diese Sicht der menschlichen Natur ist kein neuer Vorschlag, sondern wurde schon von vielen Kirchenvätern (siehe z.B. Lactantius) und auch von Calvin vertreten, der erklärte, dass einzig die Religion den Menschen über die Tiere stellt (Unterricht, I, iii, 3). Es sollte hinzugefügt werden, dass das bedeutet, dass Religiosität die Voraussetzung dafür ist, mindestens Mensch zu sein. Engel sind ebenfalls religiöse Wesen, aber übermenschlich (Ps. 8,5). Siehe Brevard Childs, Introduction to the Old Testament as Scripture (Fortress Press: Phila­ delphia, 1971), 145–6. Joseph Soloveitchik, The Lonely Man of Faith. New York: Doubleday, 2006, 22.

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Kommentator des Talmuds, Nachmanides (gest.1270). In diesem Fall soll Vers 7 folgendermassen verstanden werden: Gott der Herr, der Adam bereits aus der Erde vom Ackerboden geformt hatte, hauchte diesem jetzt seinen lebensgebenden Atem ein und Adam wurde zu einem vom Tod erlösten Wesen.12 Weil wir in 2,4 mit obengenannter Formulierung eine neue Geschichte beginnen und weil der Begriff für das, was Adam in 2,7 gegeben wird, für Gottes eigenen Geist steht, gibt es keine Ausrede dafür, den Ursprung der Menschen dort zu sehen, wo Gott eine Schlammfigur formt und sie anhaucht. Zusätzlich unterstützt das Neue Testament die Interpretation als Vergebungsgeschichte, wenn Jesus die Begegnung Gottes mit Adam wiederholt, indem er das Geschenk des Heiligen Geistes an seine Jünger weitergibt: „Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!“ (Joh 20,22). Auch weil in Genesis 1 „Adam“ stellvertretend für die ganze Menschheit verwendet wird („im Ebenbilde Gottes hatte er sie geschaffen“), und in Genesis 2 „Adam“ für den Namen eines bestimmten Individuums steht, gibt es keinen Anlass, davon auszugehen, dass der Adam von 2,7 das erste menschliche Wesen ist. Eher, so wie Soloveitchik sagt, ist Adam aus Kapitel 2 der erste Mensch, dem Erlösung zuteil wird. Er ist das religiöse Haupt der menschlichen Rasse, nicht ihr einzige biologischer Vorfahre. Weise beantworten konnte. In diesem Fall war Gottes Bundesschluss mit Adam wortwörtlich der letzte Schritt in der Entwicklung Adams zu einem menschlichen Wesen. An dem Punkt, als Adam die Fähigkeit für ein religiöses Bewusstsein entwickelt hatte, wurde sie von Gott dadurch aktiviert, dass Gott sich Adam offenbarte. Dieser Akt machte Adam zu einem vollständigen menschlichen (das heisst religiösen) Wesen. Welche vorausgehenden Prozesse an der Emergenz des religiösen Bewusstseins auch immer beteiligt gewesen sein mögen, und wie lange sie gedauert haben, ist nicht die Frage der Genesis; noch wünschen deren Verfasser darauf eine Antwort zu haben. Der Fokus des Textes liegt ganz auf der Erscheinung des ersten religiösen Wesens. Der Text berichtet davon, wie es durch die Selbstmitteilung Gottes dazu kam, dass der erste Mensch auf Erden sozusagen von einem Moment zum anderen entstand. Diese göttliche Handlung war nichts Anderes als Gottes Offenbarung seiner 12 Die vorgeschlagene Leseweise nimmt die Schöpfung des Menschen als sterbliche Kreatur als bereits geschehen an, so versteht es zumindest die Septuaginta: „geschaffen“ wird in der Zeitform des Aorist wiedergegeben, um eine Handlung zu vermitteln, die bereits abgeschlossen ist.

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Liebe, Gemeinschaft, und Verheissung des ewigen Lebens. Gemäss dieser Interpretation war das letzte Glied der Kausalketten, die in der Erscheinung von menschlichem Leben mündeten, zwar kein Wunder, aber doch ein spezieller Akt Gottes. Durch die Selbstmitteilung Gottes wird aus dem vor-menschlichen Hominide ein freier, verantwortlicher Mensch. Dieselbe Interpretation gilt auch für den Genesisbericht des Ursprungs der ersten Frau. Auch hier sind Gottes Ziele und das Wesen der Frau in einer „Schaffensgeschichte“ ausgedrückt. Dass die Frau aus Adams Rippe gemacht wurde bedeutet, dass sie mit diesem dieselbe menschliche Natur teilt. Der Text unterstreicht diese Sichtweise, indem Adams Kommentar zustimmend festgehalten wird: Diese ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch (cf. Gen 2,23). Das steht in Zusammenhang mit der Erkenntnis, dass allein die Frau die passende Gefährtin Adams ist. Der Ausdruck „von Adam genommen“ bringt natürlich etwas Neues in den Bericht der Erschaffung der Frau hinein, das im Falle Adams nicht vorhanden war. Es ist die Idee, dass ihr Menschsein irgendwie von dem Adams abhängt. Aber auch dieser Punkt fügt sich bestens in die vorgeschlagene Interpretation ein. Adam hat den offenbarten Willen Gottes, seine Befehle und Verheissungen, direkt empfangen, Eva aber durch die Vermittlung Adams. Die Aktivierung von Evas religiösem Bewusstsein, durch die sie ihr volles Menschsein erlangte, war zum Teil von Adam abhängig.13 14 15 Immerhin: trotz meiner Zurückweisung der enzyklopädischen Annahme, meinem Protest gegen die Vermischung von Vorsehung und Wunder, und ­meiner Abscheu vor einer Genesislektüre, die den Text zur Beantwortung von 13

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Die vorgeschlagene Leseweise nimmt die Schöpfung des Menschen als sterbliche Kreatur als bereits geschehen an, so versteht es zumindest die Septuaginta: „geschaffen“ wird in der Zeitform des Aorist wiedergegeben, um eine Handlung zu vermitteln, die bereits abgeschlossen ist. Für eine ausführlichere Darstellung, siehe meinen Artikel “Reading Genesis” in Science and Faith in Christian Perspective, vol. 68, no. 4, December 2016. Ebenso zugänglich auf der Webseite allofliferedeeemed.com. Man sollte nicht vergessen, dass Paulus, wenn er vom Tod spricht, den menschlichen Tod im Blick hat, und nicht eine vermeintliche Zeit, als auf der Erde kein Tier starb. Das ist was er sagt: „dennoch herrschte der Tod von Adam bis Mose“. Der Tod wurde zu einer Strafe für die Sünde, weil Gottes Angebot der Erlösung ein Entrinnen des Todes im Garten Eden beinhaltete. Gleichermassen sollte Gottes Äusserung, dass der Ackerbau durch Unkraut erschwert, die Arbeit ein Ringen und das Gebären von zusätzlichem Schmerz begleitet wird, als Kommentar gelesen werden, der besagt, wie die Dinge anders hätten aussehen können in Eden, wenn sie gehorcht hätten. Es war nicht die gesamte Erde, die von Unkraut, Schmerzen und Tod frei war; es war Eden.

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wissenschaftlichen Fragen zwingt, stimme ich mit Fundamentalisten darin überein, was die Reichweite der Kontrolle des religiösen Glaubens angeht.16 In dieser Hinsicht bin ich der Überzeugung, dass die irrationalistische und die scholastische Perspektive das volle Gewicht der biblischen Sicht verkennen, die unser gesamtes Wissen irgendwie vom Wissen um Gott beeinflusst sieht. Wenn wir das fundamentalistische Verständnis der religiösen Normierung von Theorien jedoch ablehnen, welche Alternative bleibt uns dann noch für die radikal biblische Perspektive? Meine Antwort auf diese Frage ist im vierten Kapitel schon einmal kurz aufgetaucht: Der Glaube, dass Gott allein göttlich ist, übt seinen tiefsten und umfassendsten Einfluss dadurch aus, dass er unsere Auffassungen reguliert und leitet, worin das Wesen der kreatürlichen Wirklichkeit, einschliesslich des Wesens von hypothetisch postulierten Gegenständen, besteht. Weil er Voraussetzung aller Theoriebildung ist, und nicht bloss Teil des Inhalts einer bestimmten Theorie, oder bekräftigende Teilevidenz einer solchen, kann der Glaube an Gott jede Theorie durchdringen, und dies in wesentlich tief­greifenderem Sinn. Dazu kommt, dass diese Art von Einfluss nicht nur Hypothesen, sondern alle unsere Begriffe betrifft. Auf diesem Weg lässt unsere Inter­pretation dem Zeugnis der Schrift, dass kein Wissen religiös neutral ist, die grösstmögliche Gerechtigkeit widerfahren. Wie manifestiert sich die leitende Orientierungskraft des Glaubens an Gott? In derselben Art und Weise, wie jeder Glaube an etwas Göttliches die Theoriebildung bestimmt, nämlich durch den oben beschriebenen zweistufigen Prozess. Das heisst, die von einer Theorie vorgeschlagenen Gegenstände werden je nach vorausgesetzter Überblickstheorie sehr unterschiedlich verstanden und interpretiert. So gibt es zum Beispiel materialistische, dualistische, phänomenalistische, usw. Versionen der Atomtheorie. Und jede Überblickstheorie unter­scheidet sich von den anderen dadurch, dass sie einen anderen „Gottes­ glauben“ voraussetzt. Mein Argument besteht also darin, dass der Glaube an Gott dieselbe Art von Unterschied zur Folge hat, wie wenn Materie, oder 16

Während ich die fundamentalistische Behauptung kritisiert habe, dass die Heilige Schrift die Bildung von Theorien lenke, indem sie deren Inhalte bereitstellt oder bestätigt, habe ich ebenfalls versucht klarzumachen, dass ich damit nicht suggerieren möchte, dass dies niemals geschieht. So ist es zum Beispiel sicherlich der Fall, dass die Bibel lehrt, dass das Universum nicht selbst-existierend ist, und sie enthält klare Aussagen über die menschliche Natur – was beides von gewissen Theorien verneint wurde. Aber wie ich im 5. Kapitel gesagt habe: Während es einzelne Offenbarungswahrheiten gibt, die Teil einer Theorie sein sollten oder eine Theorie bestätigen können, sind diese insgesamt rar und können nicht als allgemeines Modell für die Beziehung zwischen religiösem Glauben und Theorien herangezogen werden – selbst wenn man sich zur Lehre der Heiligen Schrift bekennt, dass der Glaube an Gott alle Wahrheit und alle Erkenntnis beeinflusst.

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Sinnesdaten, oder sensorische Formen plus logische Kategorien, usw. als göttlich angenommen werden. Der Glaube an Gott, so werde ich zu zeigen versuchen, macht eine distinkte Wirklichkeitstheorie erforderlich, die zu einer selb­ständigen, theistischen Interpretation der Postulate wissenschaftlicher Theorien führt. Theisten sind keine „methodologischen Naturalisten“ wenn sie Wissenschaft treiben. Solch eine Position einzunehmen würde bedeuten, dass etwas Geschaffenes statt Gott göttlich ist, oder dass der Glaube an Gott keinen Unterschied in der Deutung der Wirklichkeit macht. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass die spezifisch christliche Sicht der Wirklichkeit nicht dazu führt, nach Wundern zu suchen, mittels derer die Natur und ihre Prozesse erklärt werden sollen. Vielmehr besteht sie darin, dass das Wesen von Zahlen, oder Atomen, oder Evolution, oder irgendwas, von Anfang an in Übereinstimmung mit dem Glauben an Gott konzipiert wird. 6.2 Voraussetzung Die vielleicht einfachste Art zu erläutern, was eine Voraussetzung ist, und wie sie andere Überzeugungen beeinflussen kann, besteht in der Analyse eines Beispiels. Nehmen wir an, A und B führen ein informelles Gespräch. A ist der Meinung, der Staat unternehme zuwenig zur Bekämpfung der Armut, obwohl A selbst nicht lieber Steuern zahle als sonst jemand. Weil das Land in dem sie wohnten im Vergleich zum Rest der Welt so unglaublich reich sei, fügt A hinzu, könne es nicht sein, dass bestimmte Menschen nicht einmal über die nötigsten Existenzmittel verfügten. Darauf antwortet B, der Staat gebe schon genug aus, und überhaupt führe die ganze Sozialunterstützung zu einer immer grösseren Abhängigkeit. Die Regierung solle die Menschen vielmehr dazu befähigen, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. A hält dagegen, die meisten Menschen fänden es demütigend, die Hilfe des Sozialstaates in Anspruch nehmen zu müssen; sie würden es zehnmal vorziehen, unabhängig zu sein. Und selbst wenn einige Menschen doch lieber von staatlichen Almosen lebten, sollte das die Regierung nicht davon abhalten, das zu tun, was sie zu tun verpflichtet ist, nämlich die Armen mit den unbedingt benötigten Mitteln zu versehen. Hier wendet B ein, dass der Staat kein Recht habe, ein Teil des Einkommens derjenigen Menschen zu beschlagnahmen, die täglich ackern, um das Geld an die weiterzugeben, die nicht arbeiten. Vielmehr sei zu befürchten, dass A’s Sichtweise die totale staatliche Kontrolle der Wirtschaft zur Folge habe, damit für alle in jeder Hinsicht gesorgt sei. A protestiert sofort, es gehe nicht darum, dass der Staat vollständige Kontrolle über die Wirtschaft oder das Leben der Menschen übernehme. A’s Ideen könnten für

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den Preis eines einzigen Flugzeuges verwirklicht werden; worauf B erwidert, dass Geld sei besser ausgegeben, wenn es der öffentlichen Sicherheit statt der Unterstützung von parasitären Elementen der Gesellschaft zugute komme. Nehmen wir an, A’s Temperament sei weder harscher noch weniger harsch, weder eigennütziger noch weniger eigennützig als B’s; und beide zahlten gleichviel Steuern. Warum sind ihre Ansichten dennoch so gegensätzlich? Ein entscheidender Faktor der Unstimmigkeiten zwischen A und B könnte sein, dass sie von verschiedenen 70 bezüglich der Rolle des Staates und der Grenzen seiner Macht ausgehen. Diese Voraussetzungen werden weder von A noch von B thematisiert; dennoch üben sie kontrollierenden Einfluss auf alles von ihnen Gesagte aus. Sowohl A als B gehen davon aus, dass der Staat seinen Bürgern und Bürgerinnen gewisse Dinge schuldet, zum Beispiel Schutz vor feindlichen Invasoren. Und beide nehmen an, dass der Autorität staatlicher Macht gewisse Grenzen gesetzt sind; es gibt Dinge, vor denen der Staat halt machen sollte, zum Beispiel vor der vollständigen Beschlagnahmung jedes Einkommens, um für die Bedürfnisse der Bevölkerung aufzukommen. Doch ihre Annahmen was die Rechte und Pflichten des Staates in wirtschaftlichen Angelegenheiten betrifft, sind deutlich verschieden. A geht von der Voraussetzung aus, der Staat sei verpflichtet, all die Menschen mit den nötigen Subsistenzmitteln zu versorgen, die diese nicht selber erbringen können oder wollen. B glaubt dagegen, dass Armenfürsorge nicht im Kompetenzbereich des Staates liegt. Beide nehmen an, der Streitpunkt ihrer Diskussion seien die tatsächlichen Sozialausgaben des Staates und realisieren deshalb nicht, dass ihre Meinungsverschiedenheiten in inkompatiblen Auffassungen wurzeln, worin die rechtmässige Rolle des Staates in der Gesellschaft bestehe. Dieses Beispiel illustriert die erste Eigenschaft von Voraussetzungen, die ich hervorheben möchte: Voraussetzungen können andere Überzeugungen steuern, selbst wenn sie einem unbewusst sind.17 Der zweite Punkt, den ich hervorheben möchte, betrifft die Art der Kontrolle, die auch unbewusste Voraussetzungen auf unser Denken ausüben. Das 17

Einige Kritiker haben eingewendet, dass es keinen Sinn ergibt, von unbewussten Glaubensüberzeugungen (beliefs) zu sprechen, weil eine Überzeugung zu haben impliziere, deren Inhalt zu kennen. Das, so meine ich, verwechselt den dispositiven mit dem manifesten Sinn von „Überzeugung“. Am Ende des 2. Kapitels habe ich die Position eingenommen, dass eine Überzeugung eine erworbene Disposition ist, die einen Sachverhalt als Tatsache und eine Aussage darüber als wahr anerkennt. Diese Art von Disposition kann existieren, auch wenn sie für ihren Besitzer unbewusst ist – entweder in dem Sinn, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt (noch) nicht gedacht wurde, oder dass sie noch nie bewusst artikuliert wurde.

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Denken von A und B divergiert, weil diese von unterschiedlichen Annahmen ausgehen, worin Wesen und Funktion des Staates besteht. Je mehr sie diskutieren, desto weiter entfernen sie sich voneinander. Ihre jeweiligen Annahmen führen A und B dazu, jeden weiteren, von der anderen Person aufgebrachten Punkt oder Vorschlag als noch deutlich verfehlter zu betrachten. Je mehr die Bemerkungen des anderen A und B auf die Konsequenzen ihres ­eigenen Gesichtspunktes aufmerksam machen, desto mehr verfolgen beide ver­schie­dene Richtungen, die sie immer weiter von der jeweils anderen Perspektive weg führen. Zum Beispiel stimmen beide darüber ein, dass staatliche Sozialhilfe deren Empfänger in immer grössere Abhängigkeit führen kann, und die Eigeninitiative der Empfänger dadurch möglicherweise irreversibel geschwächt wird. Nach A’s Einschätzung liegt dieses Risiko innerhalb erträg­licher Grenzen, da für A eine gewisse Form der Sozialunterstützung zur Kernaufgabe des Staates gehört. Das Risiko müsste schon erheblich grösser sein, damit der Staat dieser Pflicht enthoben wäre. Nach B’s Auffassung ist dasselbe Risiko aber rundweg inakzeptabel, da diese Art von Unterstützung gar nicht in den rechtmässigen Kompetenzbereich der Regierung fällt. Warum auch nur das geringste Risiko einer dauerhaften finanziellen Abhängigkeit vom Staat in Kauf nehmen, wenn doch jegliche Fürsorgeleistung ausserhalb der staatlichen Pflichten und Zuständigkeiten liegt? Obwohl sich A und B vielleicht auf die genauen Zahlen der Risikostatistik einigen könnten, würde das an ihrer eigentlichen Position nichts ändern. Für B ist dieses Risiko Grund genug, A’s Argumente abzulehnen; für A hingegen ist es letztlich nicht stichhaltig, um an seiner oder ihrer Meinung etwas zu ändern. Diese Art von Uneinigkeit ist keine Seltenheit. Wir alle kennen Situationen, in denen sich intelligente Menschen mit denselben Fakten konfrontiert sehen, aber zu sehr unterschiedlichen Interpretationen gelangen. Wo eine Person eine bestimmte Interpretation für plausibel erachtet, gibt es eine andere, die sie als stossend empfindet, und eine, die sie für möglich aber unwahrscheinlich hält, usw. Oft kann die richtige Art von Nachhaken und Diskussion die Voraussetzungen ans Tageslicht bringen, die den eigentlichen Kern der Uneinigkeit ausmachen. Dem Versuch, die Denkvoraussetzungen einer anderen Person zu rekonstruieren, stellen sich zwei Arten von Schwierigkeit entgegen. Eine tritt dann auf, wenn eine Form von Täuschung im Spiel ist. Die andere wird dann drängend, wenn wir die Voraussetzungen von Menschen zu verstehen suchen, die von einer uns fremden Kultur geprägt sind. Denn der Schlüssel zum Verständnis der Menschen liegt in der Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Wo uns das einigermassen gelingt, sind wir oft in der Lage, die unausgesprochenen Annahmen des anderen zu identifizieren. Doch Täuschung und kulturelle

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Gräben machen die Identifikation mit einem anderen Menschen zu einem äusserst schwierigen Unterfangen. Aus diesem Grund ist es oft einfacher, die Prämissen einer abstrakten Theorie aufzuspüren als die Voraussetzungen von Überzeugungen, die nicht Teil einer Theorie sind. Im Kontext der wissenschaftlichen und philosophischen Theoriebildung sind sich die Menschen ihres Tuns oft einigermassen bewusst, und darauf bedacht, so klar wie möglich zu sein. Die Präsentation und Verteidigung von Theorien, von denen man nicht selber überzeugt ist, verspricht meist keinen Gewinn. Die Möglichkeit der Täuschung ist an diesem Ort deshalb nicht von grosser Bedeutung. Kulturelle Differenzen bleiben freilich auch in der Wissenschaft und der Philosophie bestehen, und können vielleicht nur überwunden werden, indem man einen Zugang zur anderen Kultur oder Lebenswelt gewinnt. Wenn wir es mit hoch-abstrakten Theorien zu tun haben, ist immerhin die eine Art von Verstehensschwierigkeit auf ein Minimum reduziert. Diese Eigenschaften von Voraussetzungen sind bedeutsam, da in der hier verteidigten Sicht religiöse Überzeugungen ihre stärkste Kraft entfalten und auf wissenschaftliche und philosophische Theorien einwirken, indem sie als Voraussetzungen funktionieren. Dieser Punkt hebt meine Position von allen anderen Positionen ab, wie das Verhältnis zwischen dem Glauben an etwas Göttliches und der wissenschaftlichen Theoriebildung zu denken ist. Die radikal biblische Sicht erliegt nicht der Versuchung, die Bibel nach Aussagen zu irgendwelchen Themen zu durchforsten, die in die Theorie eingebaut werden, oder diese bestätigen müssten. Aber ebenso wenig versucht sie, den Einfluss des Glaubens an Gott auf die seltenen Gelegenheiten zu beschränken, wo offenbarte Wahrheit und eine wissenschaftliche oder philosophische Hypothesef in Konflikt geraten. All dem halten wir entgegen, dass der umfassendste und stärkste Einfluss des religiösen Glaubens auf Theorien in seiner Funktion als leitende Voraussetzung zum Tragen kommt; als Voraussetzung, die jede Interpretation einer Theorie prägt. Bevor wir näher auf die Art und Weise des theorieleitenden Einflusses von religiösen Überzeugungen eingehen, ist es noch nötig zu klären, was genau eine Voraussetzung ist. Wie ist dieser Begriff zu verstehen?18 18

Viele von Philosophen und Linguisten geführte, wohlbekannte Diskussionen über Voraussetzungen sind hier nicht von Relevanz, da sie die Thematik im Sinne von Wahrheitsbedingungen, und nicht von Überzeugungsbedingungen behandeln. So zum Beispiel B. Russell, “On Denoting,” Mind 15 (1905); P. Strawson, “On Referring,” Mind 59, no. 235 (July 1950), und “Identifying Reference and Truth Values,” Theoria, vol. 20, pt. 2 (1964); G. Lakoff, “Linguistics and Natural Logic,” in Semantics of Natural Language, ed. D. Davidson und G. Harmon (Dordrecht: Riedel, 1972); J. Katz, Semantic Theory (New York: Harper & Row, 1972). Die in diesen Aufsätzen intendierte Bedeutung von „Voraussetzung“ als Wahr­-

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Ein Punkt kann nicht oft genug wiederholt werden: Eine Voraussetzung ist eine Überzeugung. Deshalb sind es, strikt gesprochen, weder Überzeugungen, noch Sätze, die Überzeugungen ausdrücken, die etwas voraussetzen, sondern Menschen. Es sind Menschen, die die Wahrheit einer Überzeugung voraussetzen, wenn sie eine andere Überzeugung äussern. Eine Voraussetzung ist eine Überzeugung-in-Relation zu einer anderen Überzeugung.19 Oder etwas genauer: Eine Voraussetzung ist eine Überzeugung, die jeder Mensch besitzen muss, um eine andere Überzeugung zu haben, von der die erste eben eine Voraussetzung ist. Zu sagen, eine Aussage oder ein Satz habe bestimmte Voraussetzungen, ist eine abgekürzte (und irreführende) Redensart dafür, dass jede Person,

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heitsbedingung ist ein Fachterminus, der nicht mit der alltäglichen Bedeutung übereinstimmt, weswegen andere Denker zeitweise die alltägliche Bedeutung mit einem anderen Begriff bezeichnet haben. Isabel Hungerland, zum Beispiel, hat „contextual implication“ (kontextuelle Implikation) vorgeschlagen in einem Aufsatz mit demselben Titel (Inquiry 4 [1960]: 211- 58). Deirdre Wilson hat die technische Bedeutung „logische Voraussetzung“ genannt und die gewöhnliche Bedeutung „nicht-logische Voraussetzung“ (Presuppositions and Non-Truth Conditional Semantics [New York: Academic Press, 1975], 141 ff.). Es sollte klar sein, dass der Sinn von „Voraussetzung“, den ich verwende, der alltäglichen oder, „nicht-logischen“ Bedeutung entspricht. Eine mehr formale Definition von Voraussetzung in diesem Sinn lautet wie folgt: Von einer Person, die die Überzeugung X hat, kann gesagt werden, dass sie eine andere Überzeugung Y in Relation zu X voraussetzt, wenn Folgendes gegeben ist: 1. X und Y sind nicht identisch; 2. Um von X überzeugt zu sein, muss die Person von Y aus anderen Gründen überzeugt sein als X; und 3. X kann nicht von Y allein abgeleitet werden. Es mag natürlich viele mögliche Voraussetzungen für eine bestimmte Überzeugung geben, und sie müssen wechselseitig nicht konsistent sein. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass das „muss“ in 2. zwar einen logischen Aspekt aufweist, aber nicht restriktiv logisch ist, weil seine Verletzung nicht zu einem formalen Widerspruch führt. Mit Überzeugung festzustellen, dass X, und gleichzeitig (mit Überzeugung) festzustellen, dass ⊘Y, wobei Y eine Voraussetzung von X ist, macht die Menge der Überzeugungen zu dem, was ich „selbstassumptiv inkohärent“ nenne – anstatt selbstwidersprüchlich. Die Beziehung ist epistemischer und nicht bloss logischer Natur. Strawson hat ebenfalls bemerkt, dass mehr als nur logische Regeln involviert sind, wenn eine solche Inkohärenz auftritt, obwohl er darauf in einer Diskussion über Voraussetzungen als Wahrheitsbedingungen anstatt als Glaubensbedingungen hingewiesen hat (siehe P. Strawson, Introduction to Logical Theory (London: Methuen, 1967), 175). Oft wird gesagt, dass sowohl Überzeugungen als auch Handlungen Voraussetzungen haben. Das ist eine elliptische Ausdrucksweise, die, genau genommen, nicht zutrifft. Menschen setzen voraus; ihre Handlungen mögen davon motiviert sein, was sie voraussetzen.

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die von der Wahrheit des Aussage- oder Satzgehalts überzeugt ist, auch von dessen Voraussetzungsgehalt überzeugt sein muss. Ein Beispiel: Jemand klopft an meiner Türe und fragt ob Peter da ist. Ich antworte: „Peter ist in einer halben Stunde zurück.“ Meine Antwort setzt voraus, dass Peter im Moment nicht da ist. Meine Antwort besagt nicht ausdrücklich, dass Peter nicht da ist; und diese Tatsache kann aus dem Gesagten auch nicht logisch abgeleitet werden. Aber sie ist im Gesagten vorausgesetzt. Hätte ich diese Antwort im Wissen gegeben, dass Peter die ganze Zeit da war, könnte man mir zurecht absichtliche Täuschung vorwerfen. Dieses Verständnis von Voraussetzung ist von einigen Kritikern mit dem Argument zurückgewiesen worden, dass es, wenn auf Aussagen (oder Sätze) angewandt, nicht adäquat unterscheiden kann, was in einer Aussage vorausgesetzt ist, und dem, was aus einer Aussage logisch gefolgert werden kann. Es leuchtet zwar ein, so diese Kritiker, dass die Aussage „Peter ist in einer halben Stunde zurück“ die Aussage „Peter ist im Moment nicht da“ voraussetzt. Weit unklarer ist aber, ob sie auch die Aussage „Peter existiert“ voraussetzt. Freilich scheint auch „Peter existiert“ vorausgesetzt zu sein, aber das Problem ist, dass dieselbe Aussage aus „Peter ist in einer halben Stunde zurück“ logisch deduziert werden kann (die richtige logische Form einmal angenommen). Ist es nicht äusserst seltsam, fahren unsere Kritiker fort, dass Aussage A von Aussage B vorausgesetzt ist, gleichzeitig aber auch die logische Folge von B ist? Seltsam ist, dass um etwas vorauszusetzen wir es einerseits schon glauben müssen, andererseits aber erst darauf kommen, nachdem wir eine logische Schlussfolgerung gezogen haben. Das Problem ist also, wie „Peter existiert“ noch vor „Peter ist im Moment nicht da“ geglaubt werden kann, gleichzeitig aber logisch daraus folgen soll. Aus meiner Sicht ist dieses Problem gar keines. Der Fehler, den unsere Kritiker machen, liegt darin, zu ignorieren, dass Menschen und nicht Aussagen oder Sätze, den Akt des Voraussetzens vollziehen. Dasselbe gilt für den Akt des Schlussfolgerns. Sätze entlassen keine logischen Folgerungen aus sich – es sein denn sie werden von Menschen gezogen. Und hier liegt auch der Ausweg aus der Schwierigkeit. In einem normalen Gespräch – von Selbstgesprächen einmal abgesehen – sind mindestens zwei Menschen involviert, eine sprechende Person und ein Hörer oder eine Hörerin. Es ist nichts Seltsames daran, wenn der Sprecher von „Peter ist in einer halben Stunde zurück“ „Peter existiert“ voraussetzen kann, die Adressatin dieselbe Tatsache aber durch eine logische Folgerung erschliessen muss. Da zwei Personen im Spiel sind, liegt nur ein ­vermeintliches Paradox vor. Wir sind nicht zu der absurden Folgerung gezwungen, der Sprecher müsse sein vorgängiges Wissen nachträglich aus dem

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ableiten, was er selbst gesagt hat. Da der Sprecher über dieses Wissen schon verfügt, zieht er überhaupt keine Rückschlüsse. Andererseits kann die Adressatin, die bis dahin vielleicht überhaupt nicht wusste, dass Peter tatsächlich existiert, dieses Wissen aus der Aussage „Peter ist in einer halben Stunde zurück“ ab­leiten. Zusammenfassend können wir folgende Eigenschaften einer Voraussetzung festhalten: Erstens, eine Voraussetzung ist eine Überzeugung, die in einem bestimmten Verhältnis zu einer anderen Überzeugung steht. Das Verhältnis besteht darin, dass die vorausgesetzte Überzeugung eine Informationsbedingung für die andere Überzeugung ist. Deshalb kann niemand einer bestimmten Überzeugung sein und ohne Selbstwiderspruch irgendeine ihrer Voraussetzungen bestreiten, obwohl die Überzeugung nicht aus ihren Voraussetzungen abgeleitet wurde. (Würde es sich um ein logisches Schlussfolgerungsverhältnis handeln, müsste im Fall, dass Peter nicht in einer halben Stunde zurück ist, auch das Gegenteil der Aussage „Peter ist im Moment nicht da“ zutreffen.) Zweitens, die Denkvoraussetzungen einer Person müssen dieser Person selbst nicht bewusst sein, um Einfluss auf ihre bewussten Überzeugungen auszuüben. Ich mag hinsichtlich einer bestimmten Voraussetzung meines Denkens auf Unwissenheit plädieren, oder diese gar bestreiten, trotz der Tatsache, dass meine Überzeugungen unweigerlich auf diese Voraussetzung oder aber auf eine voraussetzungslogische Inkohärenz in meinem Denken hinweisen. Drittens, alltägliche Überzeugungen und Urteile, in denen sie ausgedrückt werden, können so viele verschiedene Voraussetzungen haben, dass es oft schwierig ist zu erkennen, was jemand voraussetzt. Wie gesagt, kann diese Schwierigkeit durch kulturelle Unterschiede oder durch die Möglichkeit, dass uns eine Person über ihre Voraussetzungen zu täuschen versucht, noch gesteigert werden. Wo Täuschung ausgeschlossen werden kann, sind wir jedoch oft in der Lage, die Voraussetzungen anderer Menschen zu identifizieren, wenn wir uns in deren Verhältnisse zu versetzen versuchen. Und die Wahrscheinlichkeit der Täuschung ist im Kontext der Theoriebildung wesentlich geringer als anderswo. Auf einen weiteren Punkt lohnt es hinzuweisen: Es gibt Überzeugungen, die als Voraussetzungen oder Prämissen funktionieren, aber ihrerseits keine weiteren Voraussetzungen haben, da sie auf dem Weg der direkten Erfahrung gewon­nen wurden. Zu diesen gehören (mindestens) die Überzeugungen, die der ­nor­malen Sinneswahrnehmung, der Erinnerung, der Intro­spektion und der r­ atio­na­len Intuition selbstevidenter Dinge entstammen. Ich werde diese Über­zeu­gungen „basale Voraussetzungen“ nennen. In Übereinstimmung mit

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der Position, dass der Glaube an etwas an sich Göttliches zu der Art selbstevidenter Intuition gehört, werde ich im Folgenden davon ausgehen, dass primärreligiöse Überzeugungen zu den „basalen Voraussetzungen“ zählen. Damit steht unsere Position in scharfem Kontrast zu anderen Sichtweisen davon, wie sich religiöser Glaube und Theorie zu einander verhalten. Die erste Position schloss jegliche reale Verbindung zwischen diesen beiden Dingen aus, derweil die anderen das Augenmerk entweder ausschliesslich auf die logische Kompatibilität zwischen spezifischen religiösen Überzeugungen und spezifischen Theorien richteten, oder aber auf der Aufnahme biblischer Wahrheiten in den Aussage- oder Evidenzgehalt einer Theorie insistierten. Obwohl unsere Position nicht bestreitet, dass religiöse Offenbarungswahrheiten gelegentlich als so verstandene „Kontroll­überzeugungen“ funktionieren, besteht sie doch darauf, dass die gewichtigste Einflussnahme primär-religiöser Überzeugungen auf Theorien anderer Art ist.20 Bestimmt sind die Fälle, wo spezifische religiöse Wahrheiten spezifischen Theorien widersprechen, oder umgekehrt ein Teil dieser Theorien sind, leichter zu identifizieren als die voraussetzungsgeleitete Einflussnahme. Doch das gibt uns noch lange keinen Grund zur Annahme, solche Fälle könnten Pate für ein allgemeines Modell des Verhältnisses zwischen religiösem Glauben und Theorien stehen. Dies umso weniger, wenn man bedenkt, dass die in diesen Fällen auftretende Art von Interaktion ziemlich sprunghaft, eher selten, und von sehr begrenzter Reichweite ist. Sie fällt deshalb deutlich hinter den Anspruch zurück, ein adäquates Verständnis der biblischen Aussage zu liefern, der Glaube an den rechten Gott drücke sich in allem Wissen aus. Die drei folgenden Kapitel sind der detaillierten Erläuterung der Frage gewidmet, wie der regulative Einfluss religiöser Voraussetzungen auf mathematische, physikalische und psychologische Theorien aussehen kann. In diesen 20

Nicholas Wolterstorff hat in Reason Within the Bounds of Religion (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1976) diesen Ausdruck geprägt für die Art und Weise, wie bestimmte offenbarte Wahrheiten die Theoriebildung regulieren können. Es ist interessant, dass Wolterstorff in dieser Arbeit von etwas ausgeht, was eher nach einer scholastischen Orientierung aussieht, seine Position dann aber in die Richtung, die ich hier vertrete, modifiziert. So sagt er beispielsweise, dass Theorien mit religiösen Glaubensüberzeugungen nicht nur konsistent sein, sondern sich mit ihnen „vertragen“ müssen (72); die Kontrolle, die von religiösen Glaubensüberzeugungen ausgeübt wird, soll zudem der Theoriebildung „intern“ sein, anstatt lediglich aus externen Kontrollpunkten zu bestehen (77). Wolterstorff analysiert oder definiert allerdings nicht, was er unter „vertragen“ versteht; er unterlässt es auch, eine Erklärung für interne vs. externe Kontrolle zu liefern. Daher lege ich die in den folgenden zwei Kapiteln entwickelte Position als eine Erklärung dieser beiden Begriffe vor.

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Kapiteln werde ich meine Argumente für die Behauptung, dass dieser Einfluss unhintergehbar ist, noch nicht präsentieren (das soll wie gesagt in Kapitel zehn geschehen). Zunächst geht es immer noch darum, die Art und Weise, wie diese regulative Einflussnahme funktioniert, zu verstehen. Einer der wichtigsten Punkte, der aus der Diskussion der nachfolgenden Fallbeispiele herausgeht, besteht in der Einsicht, dass der Glaube an etwas Göttliches, wenn er als Voraussetzung der wissenschaftlichen Theoriebildung auftritt, nicht vorschreibt, welche spezifischen Hypothesen die Theoretikerin zu vertreten rational gehalten ist. Spezifische Hypothesen sind hinsichtlich ihrer religiösen Voraussetzungen unterbestimmt. Vielmehr als spezifische Hypothesen zu fordern, führt der Glaube an die Selbst-Existenz einzelner Aspekte der Wirklichkeit zu einer ontologischen oder epistemischen Hierarchisierung, die ein bestimmtes Spektrum von Theorien den Trägern dieses Glaubens allererst plausibel erscheinen lässt. Auf der anderen Seite schliesst diese Hierarchisierung eine Reihe von möglichen Theorien aus, die all den Theoretikern plausibel erscheinen mögen, die von gegensätzlichen religiösen Voraussetzungen ausgehen. In diesen Kapiteln werde ich den geläufigen Ausdruck „reduktionistisch“ verwenden, um eine philosophische Theorie der Gesamtwirklichkeit zu bezeichnen, die auf einer solchen Hierarchisierung aufbaut. Dementsprechend „reduzieren“ die als Fallbeispiel ausgewählten Theorien die verbleibenden Aspekte auf den oder die Aspekte, die die Hierarchie begründen, da diesem Aspekt oder diesen Aspekten vermeintlich göttlicher Status zukommt. Jeder pagane Glaube an etwas an sich Göttliches verlangt, dass das Wesen aller Dinge auf einen religiös bevorzugten Kernaspekt reduziert wird. Das heisst dann aber auch, dass der wesentliche Gehalt der Postulate einer Theorie auf diesen Aspekt oder diese Aspekte reduziert wird. Ob die vorgeschlagenen Hypothesen nun Quarks, evolutionäre Prozesse oder was auch immer zum Gegenstand haben, es wird immer so viele mögliche Interpretation der Natur dieser Gegenstände geben, wie es Wirklichkeitstheorien gibt. Die als Fallbeispiele ausgewählten Theorien sollten deshalb als Illustration der Art und ­Weise verstanden werden, wie das Wesen der jeweiligen, theoretisch vorgeschla­ genen Gegenstände verschieden interpretiert wird, je nachdem, was als an sich göttlich vorausgesetzt ist. Das wird die nötige Kontrastfolie für eine pointiert biblische Perspektive auf alle Theoriebildung abgeben; einer Perspektive, in der das Wesen aller theoretisch vorgeschlagenen Gegenstände in systematisch nicht-reduktionistischer Weise konzipiert wird. Denn genau das ist verlangt, wenn Theorien auf der Grundlage der Überzeugung, dass Gott allein – und kein Aspekt der Schöpfung – göttlich ist, angenommen oder errichtet werden sollen.

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6. Kapitel

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Teil 3 Fallbeispiele



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Theorien der Mathematik

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7. Kapitel

Theorien der Mathematik 7.1 Einleitung Die westliche Kultur ist tief von der Vorstellung geprägt, dass die Mathematik das erste Gegenbeispiel zur Kernaussage dieses Buches darstellt. Gilt 1 + 1 = 2 nicht für alle, so der Einwand, unabhängig vom jeweiligen religiösen Glauben? Symbolisiert er nicht eine neutrale und universal akzeptierte Überzeugung in genau dem Sinn, wie er in diesem Buch bestritten wird? Dieses Kapitel ist der Widerlegung dieses Einwandes gewidmet. Ganz zu Beginn räume ich natürlich ein, dass diesem Einwand eine anfängliche Plausibilität zukommt, selbst wenn er letztlich irreführend ist. Fast jeder hat die Erfahrung der einleuchtenden Kraft von simpler Arithmetik gemacht. Im Licht dessen, was über Abstraktion gesagt wurde, lässt sich diese Erfahrung durch die Tatsache erklären, dass die Dinge intuitiv eine quantitative Dimension besitzen; die Dimension des “wieviel“ haftet ihnen förmlich an. Diese quantitativen Eigenschaften können abstrahiert werden, was ihre Darstellung durch Zahlzeichen ermöglicht; Verhältnisse zwischen ihnen können erkannt, symbolisiert und formuliert werden. Auf diesem Weg können viele mathematische Einsichten und Techniken gewonnen werden, auch ohne die Konstruktion von Theorien. Auf dieser Ebene gibt es tatsächliche Übereinstimmung. Dennoch werfen die in 1 + 1 = 2 implizierten Begriffe Fragen auf, die nicht allein dadurch beantwortet werden können, dass man Quantitäten abstrahiert und symbolisiert, und die offensichtlichsten Gesetzmässigkeiten zwischen diesen wahrnimmt. Diese Fragen betreffen die Bedeutung der angeführten Formel. Sind diese Fragen einmal explizit aufgeworfen, verlangen sie nach Antworten, die Gegenstands- und/oder perspektivische Theorien nach sich ziehen. Eine der berühmtesten Fragen zielt darauf, was denn die Symbole dieser Formel eigentlich bedeuten sollen. Oder anders gefragt, was ist eine Zahl? In dem Moment, da diese Frage gestellt wird, stossen wir auch schon auf gravierende Uneinigkeit unter den Mathematikern, wie diese Frage anzugehen und zu beantworten ist. Diese Uneinigkeit wird ans Tageslicht gezwungen, weil diese Frage eine tiefergehende Untersuchung des Zahlbegriffs eines jeden Denkers nötig macht. In dieser Hinsicht sind die Übereinstimmungen und Divergenzen im Zahlbegriff ähnlich wie die Übereinstimmungen und Divergenzen im Begriff des Salzstreuers, der in Kapitel vier diskutiert wurde. Wie im Fall des Salzstreuers gibt es zwischen den verschiedenen Zahlbegriffen ausreichende

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_008

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Überschneidungen, um der Formel 1 + 1 = 2 einen unmittelbar einleuchtenden und als einleuchtend anerkannten Charakter zu verleihen. Doch sobald sich Anlass zu einer tiefergehenden Analyse ergibt, zeigt sich, wie schon im Beispiel des Salzstreuers, dass verschiedene Denkerinnen verschiedene Auffassungen davon haben, was das Wesen einer Zahl ist. Einmal mehr zeigt sich, dass in einem umfassenden Zahlbegriff mehr Elemente vorhanden sind als direkt aus der Erfahrung abstrahiert werden können, und dass unter diesen Elementen (mindestens) auch Relationen zwischen quantitativen Eigenschaften und Eigenschaften anderer Art enthalten sind. Wenn diese Relationen formuliert und begründet werden, stellen sie eine bestimmte Auffassung der Natur der Zahlen dar. Natürlich können solche Auffassungen auch einfach vorausgesetzt sein, in welchem Fall sie keine Theorien sind. Sind sie einem aber einmal bewusst geworden, können sie auch das Bedürfnis nach einer Begründung wecken, aus dem heraus Hypothesen über das Wesen von Mathematik geboren werden, in denen sich ein allgemeineres Wirklichkeitsverständnis, und damit auch ein religiöser Ausgangspunkt spiegelt. (Falls diese Auffassungen unmittelbar angenommen sind, bleibt der religiöse Einfluss auf der Ebene eines unsichtbaren Glaubens, dessen religiöser Charakter dadurch umso deutlicher ist). Im Fall der Divergenzen hinsichtlich des Zahlbegriffs ist die Behauptung nun nicht übertrieben, dass die vielen Denker, die mathematische Geschichte geschrie­ ben haben, zu radikal unterschiedlichen Auffassungen des Wesens von Mathematik, der Art und Weise, wie sie zu betreiben ist, und der Probleme, zu deren Lösung man auf sie zurückgreifen sollte, gekommen sind. In Tat und Wahrheit gehören diese Divergenzen mit zu den schärfsten und weitreichendsten in der Theoriebildung der westlichen Kultur. Wofür stehen also die Symbole 1 + 1 = 2? Natürlich können wir beobachten, dass ein Ding und ein anderes Ding zusammen oft zwei Dinge ergeben. Das ist noch keine Theorie; aber es ist auch nicht das, wofür die Symbole 1 + 1 = 2 stehen. Die Formel drückt eine Wahrheit über abstrakte Zahlen aus, nicht über Erfahrungsgegenstände. Hätte es die Formel mit gewöhnlichen Gegenständen zu tun, wäre sie nicht immer wahr. Wie A. Whitehead einst bemerkte, ist ein Funke etwas, und ein Haufen Schiesspulver etwas Anderes; zusammen ergeben sie eine Explosion, die nun nicht gerade zwei Dinge genannt werden kann. Dem fügte Whitehead unmittelbar hinzu: „Auf der Ebene des gesunden Menschenverstands (common sense) leuchtet die Bedeutung direkt ein.“1 Was Whitehead als common sense bezeichnete ist nichts Anderes als die Einsicht, dass 1 + 1 = 2, wofür die Formel auch immer stehen mag, nicht auf Gegenstände der vortheoretischen Erfahrung verweist. Vielmehr hat sie es mit abstrakten 1 A. Whitehead, Science and Philosophy (Paterson, N.J.: Littlefield, Adams & Co., 1964), 103.

Theorien der Mathematik

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Zahlen zu tun. Das ist es, wovon unsere Frage eine Erklärung wünscht. Dieser Unterscheidung zwischen abstrakten Zahlen und gewöhnlichen Gegenständen, auf die wir Zahlen anwenden, kommt grosse Bedeutung zu. Wenn Kinder das erste Mal mit Arithmetik in Berührung kommen, nehmen sie oft an, die Zahlen stünden für Dinge und Ereignisse in ihrer alltäglichen Welt. Dieser Eindruck wird ihnen auch dadurch vermittelt, dass sie ihre arithmetischen Fähigkeiten anhand von Rechenbeispielen entwickeln, die es mit Heuballen, Paaren von Schuhen, Äpfeln, usw. zu tun haben. Aber es wird ihnen ziemlich rasch klar, dass die Zahlen, obwohl sie auf Gegenstände der Erfahrung angewandt werden können, nicht für diese Gegenstände stehen. Wenn das so wäre, könnte man nicht 8 von 5 subtrahieren. Obwohl wir nicht 8 Dinge von einem Haufen nehmen können, in dem bloss 5 sind, können wir doch 8 von 5 subtrahieren, und erhalten -3. Das führt uns zur gestellten Frage zurück. Wenn Zahlsymbole nicht für Erfahrungsgegenstände stehen, wofür dann? Sowohl Mathematiker wie Philosophen haben sehr unterschiedliche Theorien zur Beantwortung dieser Frage vorgeschlagen. 7.2

Zahl-Welt Theorie

Eine berühmte Antwort auf die zuletzt gestellte Frage ist die Hypothese, Zahlsymbole und andere mathematische Zeichen stünden für reale Gegenstände in einer anderen Welt oder Wirklichkeitsdimension. Diese Gegenstände könnten weder beobachtet noch räumlich identifiziert werden. Wir können nicht zum Fenster hinausschauen, und etwas sehen, das die Zahl 2 ist. Wir können bloss Dinge sehen, auf die dieser Zahlbegriff angewendet werden kann. Gemäss dieser Theorie ist die Welt der mathematischen Gegenstände nicht nur real, sondern realer als die Welt der beobachtbaren und in Raum und Zeit identifizierbaren Gegenständen. Dafür werden zwei Gründe genannt. Erstens haben mathematische Gegenstände unabhängige Realität, sie sind ewig, verändern sich nicht und vergehen nicht. Zweitens sind die mathematischen Gesetze, die in dieser Welt gelten, nicht nur unabhängig und unveränderlich, sie sind auch allumfassend. Sie bestimmen, was möglich und was unmöglich ist, und zwar hinsichtlich der Gesamtwirklichkeit, nicht nur in der Welt der Zahlen. In der Antike sind verschiedene Versionen dieser Theorie von Pythagoras und Plato vertreten worden. Auch heute ist diese Art von Theorie unter Mathematikern und Mathematikerinnen verbreitet. Der grosse Mathematiker G.W. Leibniz (Erfinder der Infinitesimalrechnung) vertrat auch eine Version dieser Theorie, für die er eine handliche Begründung offerierte. Als ein Student

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ihn fragte, wie er sicher sein könne, dass 1 + 1 = 2, erwiderte Leibniz, dass diese, wie jede andere mathematische Wahrheit, eine ewige und notwendige Wahrheit ist, die nicht wanken würde selbst wenn die gesamte beobachtbare Welt zerstört wäre und niemand und nichts existierte, der zählt oder das gezählt werden könnte.2 Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine Gegenstandshypothese. Sie schlägt die Existenz eines unendlichen Bereiches mathematischer Gegenstände vor, neben und über den veränderlichen und beobachtbaren Gegenständen unserer alltäglichen Erfahrung. Diese mathematischen Gegenstände umfassen alle natürlichen Zahlen, alle Dezimalverhältnisse, alle Wurzelverhältnisse, alle vollkommenen geometrischen Figuren, etc. Sie alle sind von der Welt der all­ täg­lichen Erfahrung nicht nur unterscheidbare, sondern unabhängig von ihr existierende Gegenstände. Die in diesem Bereich gültigen Gesetze garantieren nicht nur die notwendige Wahrheit mathematischer Formeln, sie umfassen auch die veränderliche Welt der Alltagserfahrung. Das ist Pythagoras, Platos und Leibniz Antwort auf die Frage, wofür Zahlsymbole und andere mathematische Zeichen stehen. Ohne Zweifel setzt diese Gegenstandshypothese wiederum eine perspektivische Theorie voraus. Diese kontrolliert das Verhältnis, das zwischen dem quantitativen Aspekt der Gegenstände unserer Erfahrung und all ihren anderen Aspekten gesehen wird. Wie? Damit die Zahl-Welt Theorie stimmt, muss die quantitative Dimension der Dinge von diesen Dingen, und deren sonstigen Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten, vollständig unabhängig sein. Der quan­ti­tative Aspekt ist das (zumindest teilweise), wovon die Dinge und ihre Eigenschaften abhängen. In dieser Theorie sind es die mathematischen Gegenstände und ihre Gesetze, die die Dinge unserer Erfahrung, mitsamt ihren weiteren Aspekten, allererst möglich machen.3 Aus unserer vortheoretischen Erfahrung gesprochen, ist der quantitative Aspekt nur gerade einer unter vielen Aspekten, die den Dingen anhaften. Doch Plato, Leibniz, und andere Denker übernahmen eine Perspektive, wonach dieser Aspekt nicht nur zu den Perlenketten zählt, sondern (teilweise) auch die Schnur selbst ist. Er ist die basale Bedingung für alles andere. Diese Denker hatten deshalb keine Mühe zu glauben, dass die Mathematik nicht nur der Schlüssel zum Verständnis der quantitativen Eigenschaften und Gesetze der Dinge unserer Erfahrung ist, sondern Spiegel einer Welt von unsichtbaren,

2 Zitiert nach E. Cassirer in The Philosophy of the Enlightenment (Boston: Beacon Press, 1961), 237. 3 Siehe Dooyeweerd, New Critique, vol. 1, 223–61.

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unabhängigen, und unveränderlichen Gegenständen, von denen alle sichtbaren, veränderlichen Gegenstände abhängen. 7.3

Die Theorie von J.S. Mill

In diesem Unterkapitel soll die Zahl-Welt Theorie der Bedeutung mathematischer Sätze mit der Theorie von J.S. Mill kontrastiert werden. Mill schlug eine Theorie vor, nach der Zahlsymbole Sinneseindrücke symbolisierten. Er dachte, es sei etwas zu weit hergeholt, wenn eine Art von Wissen postuliert wird, das über die Beobachtungsbedingungen hinausgeht, denen es entstammt. Alles was wir erfahren, so Mill, sind unsere eigenen Sinneseindrücke; und deshalb sind sie auch das Einzige, wovon wir etwas wissen können. Wir können Zahlen nur dazu verwenden, unsere Sinneseindrücken zu ordnen, die aus unserem Sehen, Schmecken, Tasten, Riechen und Hören resultieren. Mill begründete seine Auffassung des Wesens von Mathematik mit dem Argument, dass der quantitative und alle anderen Aspekte unserer vortheoretischen Erfahrungswirklichkeit mit dem sensorischen Aspekt letztlich identisch seien. Nach Mills Theorie ist das Wesen aller Dinge sensorischer Art, Punktum. Deshalb ist alles, wovon es ein Wissen geben kann, ausschliesslich sensorischer Natur. Die intuitive Überzeugung, neben dem sensorischen gäbe es noch verschiedene andere Aspekte, beruht auf einem Irrtum. Die alltäglichen Erfahrungen, die uns die Dinge so erscheinen lassen, sind nichts als irreführend. Die Dinge unserer Erfahrung, so Mill, sind nichts als Bündel von Sinneswahrnehmungen. Dieser Ausgangspunkt verpflichtete Mill auf die Theorie, dass jedes Wissen, inklusive mathematisches Wissen, auf reine Sinnesdaten zurückgeführt werden kann. Mills Position steht in offensichtlichem Gegensatz zum Glauben an einen Bereich ewiger Zahlen und Gesetze, die nicht wahrgenommen werden können. Nach seiner Auffassung sind 1 + 1 = 2 und andere mathematische Formeln nichts Anderes als verallgemeinerte Aussagen über unsere eigenen Sinneseindrücke. Sie stehen für optische, gustatorische, haptische, olfaktorische, audi­ tive, und emotionale Eindrücke. 1 + 1 = 2 und andere Formeln ist nur eine andere Weise zu sagen, dass wir in unserer Wahrnehmung zwei aufeinander folgende Eindrücke unterscheiden und summieren können.4 Diese Auffassung geht gegen unsere Gewissheit, dessen war sich Mill bewusst, dass 1 + 1 notwendig 2 ergeben muss oder das Resultat immer dasselbe ist. Bestenfalls sind wir zur Aussage berechtigt, das erwartete Resultat sei wahrscheinlich auch in Zukunft dasselbe, und zwar darum, weil es sich in der Vergangenheit oft so her4 Collected Works of John Stuart Mill, ed. J. Robson et al. (Toronto: University of Toronto Press, 1973), Buch 2, Kapitel 5 und 6; und Buch 3, Kapitel. 24.

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7. Kapitel

ausstellte. Aus dieser Sicht ergibt sich auch, dass Zahlsymbole nur dann für etwas stehen können, wenn es Gegenstände gibt, die man zählen kann, und Menschen, die sie zählen. Deshalb haben wir auch keinen Grund zur Annahme, an der Mathematik sei irgendetwas ewiges oder unveränderliches. Hier, wie auch schon in der Zahl-Welt Theorie, lässt sich leicht ausmachen, wie eine allgemeine philosophische Theorie der Wirklichkeit als Voraussetzung für das Millsche Verständnis der Bedeutung von Zahlsymbolen dient. Mills Zahlentheorie ist durch eine Perspektive geleitet, die ausschliesslich sensorische Realitäten zulässt. Scheinbar nicht-sinnliche Arten von Eigenschaften und Gesetzen definieren keine eigenen Aspekte der Erfahrung, sondern lassen sich auf Kombinationen von Sinnesdaten und deren Gesetzen zurückführen. Das trifft auf die Mathematik genauso zu wie auf alles andere. 7.4

Die Theorie von B. Russell

Nochmals eine andere Theorie, wofür Zahlzeichen stehen, ist die von B. Russell. Im Gegensatz zu Mill, konnte Russell den Vorschlag nicht akzeptieren, mathematische Symbole stünden für Sinneseindrücke. Dadurch würde die Notwendigkeit und ausnahmslose Gültigkeit mathematischer Wahrheiten vernichtet. Wie Mill lehnte aber auch Russell die Existenz eines ewigen und unsichtbaren Bereichs mathematischer Entitäten ab. Jedoch war er darauf bedacht zu zeigen, dass die Gültigkeit von 1 + 1 = 2 keinem Zweifel ausgesetzt ist. Ich behaupte nicht, dass Aussagen über vermeintliche Punkte, Elemente einer Klasse (instances) oder Zahlen, oder über irgendwelche anderen Gegenstände [der Mathematik] … falsch sind, sondern nur, dass solche Aussagen in einer Weise interpretiert werden müssen, die deren sprachliche Form als irreführend zu entlarven vermag, und dass, wenn sie richtig analysiert werden, die fraglichen Pseudo-Gegenstände nicht mehr in ihnen erscheinen.5 In dieser Aussage geht Russell über die blosse Zurückweisung der Theorie eines Bereichs unabhängiger mathematischer Gegenstände hinaus. Wie schon Mill, verneint auch er einen unterscheidbaren quantitativen Aspekt unserer Erfahrung, und weist Quantitäten als Pseudo-Gegenstände zurück. Mills Auffassung hielt er jedoch entgegen, dass die Mathematik letztlich nicht in Sinneseindrücken, sondern in Logik aufgehe. Die Mathematik, so Russell, ist 5 B. Russell, Principles of Mathematics (New York: W. W. Norton, 1938), xi.

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bloss eine abgekürzte Weise, Logik zu betreiben.6 Russell vertrat also eine Gegenstandshypothese, wonach Zahlsymbole logische Klassen anstatt ewige Zahlgegenstände oder Sinneseindrücke bezeichnen. Und so setzt auch er eine philosophische Überblickstheorie, wie alle Aspekte zusammenhängen, voraus. Der in der Mathematik erforschte Aspekt fällt nach Russells Theorie letztlich mit dem logischen Aspekt zusammen, so dass die gesamte Mathematik entweder mit der Logik identisch ist, oder von dieser abgeleitet werden kann. Seine Darstellung des fundamentalen Status der Logik bringt deshalb keine Überraschung: Philosophen haben gemeinhin angenommen, dass die Gesetze der Logik, die der Mathematik zugrunde liegen, Denkgesetze seien, Gesetze die den Gebrauch unseres Verstandes regulierten. Durch diese Auffassung wird die wahre Würde des Denkens jedoch stark verkannt: Es kann keine Einsicht in das Herz der Dinge und das unveränderliche Wesen der möglichen und realen Wirklichkeit mehr verschaffen, sondern erschöpft sich in Untersuchungen von etwas mehr oder weniger Menschlichem, das so begrenzt ist wie wir selber … Doch die Mathematik führt uns [wirklich] … von dem, was bloss menschlicher Natur ist, zum Gebiet der absoluten [logischen] Notwendigkeit, der nicht nur die tatsächliche, sondern jede mögliche Welt gehorchen muss …7 Russells Gegenstandstheorie der Bedeutung mathematischer Symbole nimmt also unweigerlich eine philosophische Theorie der Gesamtwirklichkeit in Anspruch, die erklärt, wie alle Aspekte zusammenhängen. In seiner Theorie gewinnt der logische Aspekt – wenigstens was dessen Gesetze angeht – eine Unabhängigkeit von allen anderen Aspekten, die diese gegenüber dem 6 Ebd., 119. 1+1 ist die Zahl einer [logischen] Klasse – w – welche die logische Summe zweier Klassen ist – u und v – welche keinen gemeinsamen Term besitzen und jeweils nur einen Term hat haben. Vor allem ist zu bemerken, dass die logische Addition von Klassen die fundamentale Operation darstellt, während die arithmetische Addition von Zahlen abgeleiteter Natur ist. Formal ausgedrückt lautet Russells Vorschlag: (∃u)(∃v )(∃w)({[u ∈ w) ∧ (v ∈ w)] ∧ (u ≠ w)} ∧ (∀z){(z ∈ w) → [(z = u) ∨ (z = v)]}“) (Russell, Principles of Mathematics, 119) Es fällt schwer, Russells Behauptung zuzustimmen, dass in dieser Formel keine quantitative Bedeutung involviert ist, wenn das Symbol ∈ „ist Element von“ bedeutet – was nichts anderes bedeutet als „ist ein Element von“. Kommt hinzu, dass der existentielle Quantor soviel meint wie „es existiert mindestens ein x derart, dass … “. Folglich setzt die Bedeutung dieser Formel Quantität unvermeidlich voraus und macht von ihr Gebrauch, selbst wenn sich der Bereich der Quantoren in dieser Formel allein über logische Klassen erstreckt. 7 B. Russell. The Study of Mathematics, reprinted in Mysticism and Logic (Garden City, N.Y.: Doubleday Anchor Books), 65.

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logischen Aspekt nicht beanspruchen können. Die Gesetze der Logik gelten für jede mögliche und tatsächliche Wirklichkeit. Einmal mehr sollten wir uns vor Augen führen, dass in unserer vortheoretischen Erfahrung der logische Aspekt nur gerade einer unter vielen ist. Nachdem Russell diesen Aspekt aber einmal vom Rest abstrahiert hat, scheint er auch schon mehr als nur ein Aspekt unserer Erfahrung zu sein. Vielmehr soll er nun in Russells Worten das Herz und das unveränderliche Wesen der Dinge ausmachen. Russells philosophische Perspektive identifiziert das unhintergehbare Wesen der Dinge – zumindest teilweise – mit deren logischen Dimension, so dass die nicht-logischen Aspekte von dieser abhängig erscheinen, aber nicht umgekehrt. 7.5

Die Theorie von J. Dewey

Zuletzt wollen wir noch auf die Theorie von John Dewey eingehen, der sich mit allen skizzierten Theorien überwirft, und eine gänzlich andere Antwort auf unsere Frage gibt. Auf die Frage, wofür mathematische Symbole denn stehen, erwidert Dewey: „Für gar nichts.“ Auf derselben Ebene liegt seine Auffassung, dass 1 + 1 = 2 nicht wahr ist. Oder präziser: Die Formel ist weder wahr noch falsch. Gemäss Dewey sind Menschen im wesentlichen biologische Wesen, die im Überlebenskampf mit ihrer Umwelt stehen. Das ist das natürliche Schicksal aller Lebewesen, doch versuchen die Menschen mit den jeweiligen Umweltbedingungen zu Rande zu kommen, indem sie diese zu ihren Zwecken verändern, anstatt sich ihnen anzupassen. Das gelingt ihnen dadurch, dass sie im Laufe evolutionärer Prozesse eine höhere Intelligenz entwickelt haben, die sie dazu benützen, Werkzeuge zu bauen. Deweys Begriff eines Werkzeugs ist nun viel breiter als wir ihn üblicherweise verwenden. Für Dewey sind alle kulturellen Erzeugnisse Werkzeuge, inklusive Werte und Institutionen. Auch Ideen, Sprachen, Theorien, Begriffe sind darunter zu rechnen. Aus dieser Perspektive sind schon die von den anderen Denkern beantworteten Fragen falsch gestellt. Mathematische Zeichen stehen nicht für etwas, genauso wenig wie ein Hammer oder ein Spaten für irgendetwas steht. Wie jedes andere Werkzeug sind auch mathematische Symbole dazu da, eine Arbeit zu verrichten. Wir fragen mit Recht, wozu ein Hammer taugt. Dieselbe Frage sollten wir auch an den Apparat der Mathematik stellen. Zahlen und Formeln bedeuten nichts, sie erfüllen gewisse Zwecke. Dasselbe gilt für die Frage nach der Wahrheit der Mathematik. Es ist genauso unangebracht nach der Wahrheit eines Hammers zu fragen, wie davon auszugehen, mathematische Werkzeuge könnten wahr oder falsch sein. 1 + 1 = 2 ist weder wahr noch falsch, sagt Dewey, aber die Formel erfüllt bestimmte Zwecke auf zufriedenstellende Weise.

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Eigentlich verweisen wir auf den Erfolg der Mathematik in der Ausführung verschiedener Aufgaben, wenn wir irreführenderweise von der Wahrheit einer Formel sprechen. Dewey bringt den Punkt so zum Ausdruck: Wenn Ideen, Bedeutungen, Konzeptionen, Begriffe, Theorien und Systeme unverzichtbare Werkzeuge in der aktiven Reorganisation der … Umwelt sind … wenn sie in ihrer Funktion Erfolg haben, sind sie zuverlässig, richtig, gut, wahr … Das, was uns wirkliche Orientierung verschafft ist wahr – erwiesene Orientierungsleistung ist genau das, was unter Wahrheit gemeint ist.8 Mit anderen Worten ist dann etwas wahr, wenn es funktioniert. Dewey meint das ziemlich wörtlich. Ob etwas funktioniert ist in diesem Abschnitt nicht nur ein Kriterium oder Test für dessen Wahrheit, sondern macht das aus, was mit „wahr“ überhaupt gemeint ist. Dewey anerkennt, dass die Mathematik ein hochgradig raffiniertes und enorm nützliches Werkzeug ist, das die meisten anderen begrifflichen Werkzeuge an Präzision und Nützlichkeit übertrifft. Aber er behauptet auch, dass d­ie Mathematik diesen Entwicklungsstand durch eine lange Geschichte des Experimentierens und Scheiterns erreicht hat, die von den meisten zeitgenössischen Mathematikern ignoriert wird. Da die Mathematik so gewiss und unerschütterlich erscheint, sagt Dewey, wird ihr oft jener Status zugeschrieben, den ihr auch Plato und Leibniz verliehen haben: Ein in sich abgeschlossener Raum mathematischer Wahrheiten, der gänzlich unabhängig vom Rest der Wirklichkeit ist. Doch diese Auffassung beruht auf einem Irrtum: Eine deduktive Wissenschaft wie die Mathematik stellt die Perfektionierung einer Methode dar. Dass eine Methode denjenigen, die sich mit ihr beschäftigen, als reiner Selbstzweck erscheinen mag, ist nicht erstaunlicher als die Existenz einer Unternehmensbranche, in der es um die Herstellung irgend eines Werkzeuges geht.9 Und weiter: Die Mathematik wird oft als Beispiel eines rein normativen Denkens, das auf [absoluten Regeln] und [ausser-weltlichem] Material aufbaut, ins Spiel gebracht. Die mathematischen Logiker der Gegenwart mögen die Struktur der Mathematik so darstellen, als wäre sie direkt dem Hirn des 8 J. Dewey, Reconstruction in Philosophy (Boston: Beacon Press, 1964), 156. 9 Ebd., 149.

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Zeus entsprungen, dessen Anatomie die der reinen Logik ist. Doch … die [Mathematik hat] eine Geschichte, in der das Material und die Methode einer ständigen Selektion ausgesetzt waren und auf der Basis des [experimentellen] Erfolgs oder Versagens überarbeitet wurden.10 Zusammenfassend gesagt: In Deweys Sicht ist die Mathematik weder wahr noch falsch – im traditionellen Sinn – sondern sie funktioniert einfach. Ihre Zeichen und Formeln bezeichnen nicht irgendwelche unsichtbaren, ewigen Realitäten, Sinneseindrücke, oder logische Klassen, weil sie eben gar nichts bezeichnen. Ihre Bedeutung ist ihr Gebrauch. Sie dienen der Reorganisation unserer Umwelt. Wo sie diesen Dienst erfolgreich erfüllen, nennen wir sie wahr; doch das ist nicht mehr als eine irreführende Weise zu sagen, dass wir erfolgreich sind, wenn wir uns dieser Symbole und Formeln bedienen. Die Anwendung dieser Theorie, die oft als Instrumentalismus bezeichnet wird, auf 1 + 1 = 2, ist ein weiterer Fall einer meta-mathematischen Theorie, die von einem bestimmten Wirklichkeitsverständnis geleitet und kontrolliert wird. Denn Deweys Instrumentalismus enthält eine Antwort auf die Frage, wie alle Aspekte der Erfahrung zusammenhängen. Von Beginn weg ist seine Sicht der Mathematik und jeder begrifflichen Aktivität des Menschen in eine biologische Perspektive eingezeichnet. Nach Dewey sind Menschen wesentlich als lebende Organismen zu betrachten, die im Überlebenskampf stehen. Diese Perspektive führt ihn dazu, eine instrumentalistische Interpretation von ­Wahrheit und deshalb eine instrumentalistische Sicht der Mathematik anzu­ nehmen. So genannte mathematische Wahrheiten sind wie alle anderen „Wahr­heiten“ biologische Überlebenswerkzeuge. Wenn mathematische Wahrheiten aber insgesamt Produkt unserer Erfindung sind, gibt es keinen Grund zur Annahme, sie würden uns ins Herz der Wirklichkeit führen oder uns unzweifelbare Wahrheiten erschliessen. Als menschliche Erfindungen hängen sie letztlich von unserer Evolution ab. Hätte sich das menschliche Hirn anders entwickelt, verfügten wir heute vielleicht über eine Mathematik, die so verschieden wäre, dass sich unser tatsächliches Hirn auch nicht die geringste ­Vorstellung davon machen könnte. Doch würde die unter ganz anderen Bedingungen entstandene Mathematik uns so gewiss erscheinen wie die vom aktuellen menschlichen Hirn hervorgebrachte.11 Auf diesem Weg gewinnt der 10 11

Ebd., 149. Um genau zu sein, hat die biologische Perspektive nicht das letzte Wort in Deweys Wirklichkeitstheorie. Das ist deshalb nicht der Fall, weil er den biotischen Aspekt vom physischen Aspekt abhängig (bzw. in diesem eingeschlossen) sieht. Letztendlich ist es also der physische (oder der physisch-biotische) Aspekt der Schöpfung, den Dewey als das grundlegende Wesen der Wirklichkeit versteht.

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biologische Aspekt basale Bedeutung für alle anderen Aspekte der Wirklichkeit. Die dargestellten Perspektiven sind nicht die einzigen, die in der Geschichte der Mathematik an Gewicht gewonnen haben. Neben der Zahl-Welt Theorie eines Pythagoras, Plato und Leibniz, des Logizismus eines Russell, des Empirismus eines Mill und dem Instrumentalismus eines Dewey, gibt es noch andere, konkurrierende „Denkschulen“, zum Beispiel die Formalisten, wie David Hilbert, oder die Intuitionisten, wie Henri Poincaré, Hermann Weyl und Luitzen Brouwer. 7.6

Welchen Unterschied machen solche Theorien?

Diese unterschiedlichen Theorien über das Wesen der mathematischen Wissenschaften haben zu ernsthaften Unterschieden innerhalb der Mathematik geführt, die in äusserst divergenten Auffassungen ihrer Praxis und Prozeduren münden. Als Beispiel mag die Ablehnung des Gebrauchs von irrationalen Zahlen durch die Pythagoreer dienen. Die Pythagoreer, wie Plato und Leibniz nach ihnen, glaubten, dass Zahlsymbole einen Bereich unteilbarer mathematischer Gegenstände repräsentieren, von denen die sichtbare Welt abhängt. Da diese mathematischen Gegenstände die ursprünglichsten Einheiten oder Bauelemente der Welt ausmachten, wurden sie als unteilbar gedacht. Aufgrund dieser Überzeugung hatten die Pythagoreer einen tiefverwurzelten Horror vor numerischen Brüchen und irrationalen Zahlen. Brüche wurden in Zahlenverhältnisse oder Liniensegmente überführt, und man bestand darauf, dass genuin irrationale Zahlen nicht existierten. Die Entdeckung von Zahlen, die nicht als Ganzzahlenverhältnis aufgefasst werden können – Zahlen mit endlosen Dezimalstellen wie zum Beispiel die Zahl π – wird Hippasus von Metapontum im 5. vorchristlichen Jahrhundert zugeschrieben. Es gibt die Geschichte, dass Hippasus zu der Zeit seiner Entdeckung auf einem Schiff mit Pythagoreern unterwegs war, die über diese Entdeckung dermassen in Rage gerieten, dass sie ihn über Bord warfen.12 Ähnlich wie die Pythagoreer die irrationalen Zahlen ablehnten, lehnte Leibniz die negativen Zahlen ab. Obwohl er sie aufgrund ihrer korrekten Form in Gleichungen zuliess, tat er das mit dem Vorbehalt, dass negative Zahlen als rein imaginäre Quantitäten verstanden werden müssten.13 Aus seiner Sicht 12 13

M. Kline, Mathematical Thought from Ancient to Modern Times (New York: Oxford University Press, 1972), 32. Ebd., 115.

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sind allein positive Zahlen real, negative Zahlen dagegen Fiktion. Er war zu dieser (unplausiblen) Interpretation gezwungen, da er die Mathematik als gedankliches Abbild des realen, unsichtbaren, ewigen Zahlenreichs verstand. Jedes von uns verwendete Zahlsymbol musste für einen dieser hypothetischen Gegenstände, für eine Ansammlung davon, oder für ein Verhältnis zwischen ihnen stehen. Wie konnte eine Zahl dann negativ sein? Wie konnte sie für nichts stehen? Aus dieser Auffassung folgt dann aber auch, dass Negativrechnungen nicht gültig sein können, da sie nichts ausdrücken, was tatsächlich zutrifft! Diese auf unterschiedliche Wirklichkeitsverständnisse zurückgehenden Unterschiede im praktischen Vollzug von Mathematik mögen nun als blosse historische Kuriositäten abgetan werden. Deshalb sollten wir einen weiteren Fall herbeiziehen, der auch in unseren Tagen genügend Konfliktstoff abgibt: Die unterschiedlichen Weisen Mathematik zu praktizieren, die sich aus den verschiedenen Einstellungen zum zeitgenössischen Intuitionismus ergeben. Intuitionisten, wie schon die Zahl-Welt Theoretiker, gehen von einer perspektivischen Überblickstheorie aus, in der die mathematische Dimension der Dinge unabhängig von allen anderen Aspekten ist. Doch wohingegen Pythagoras, Plato und Leibniz die Mathematik mit der Logik zusammenwarfen, ist nach intuitionistischer Auffassung die Mathematik für die Logik grundlegend, und zwar so, dass die Mathematik von logischen Gesetzen teilweise unabhängig ist. Es wird die Sicht vertreten, dass mathematische Intuitionen grundlegender und zuverlässiger sind als die Erkenntnisse in allen anderen Aspekten, einschliesslich logischer Axiome. Wenn in einem mathematischen System logische Paradoxien auftreten, ist das aus intuitionistischer Sicht ein Problem für die Logik, das Mathematiker nicht zu beunruhigen braucht. Morris beschreibt die Position des berühmten Intuitionisten Luitzen Brouwer so: Logik gehört zur Sprache. Sie bietet ein Regelsystem, das die Ableitung von zusätzlichen verbalen Verbindungen ermöglicht, mittels derer wahre Aussagen kommuniziert werden sollen. Doch … die Logik ist kein verlässliches Instrument um Wahrheiten zu entdecken, und kann auch keine wahren Aussagen erschliessen, die nicht auf anderem Weg zugänglich wären. Die bedeutendsten Fortschritte in der Mathematik werden nicht erzielt, indem die logische Form modifiziert, sondern indem die grundlegende Theorie verändert wird. Logik basiert auf Mathematik, und nicht umgekehrt. Logik ist weitaus weniger gewissheitsträchtig als unsere intuitiven Begriffe, und Mathematik ist nicht auf logische Garantien angewiesen. Paradoxe sind ein Defekt in der Logik und nicht in der wahren

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Mathematik. Demnach ist logische Konsistenz ein Phantom. Sie hat keine Pointe.14 Ein anderer intuitionistischer Mathematiker, Hermann Weyl, stellte den Punkt folgendermassen dar: Die klassische Logik wurde von der Logik endlicher Mengen und deren Teilmengen abstrahiert … Als dieser begrenzte Ursprung vergessen war, wurde die Logik irrtümlicherweise für etwas gehalten, das über und vor aller Mathematik steht, und schliesslich ohne jeglichen Grund auf die Mathematik unendlicher Mengen angewendet. Das ist der Fall und die Ursünde der Mengenlehre, wofür ihr durch ihre Antinomien gerechte Bestrafung widerfährt.15 Eine der praktischen Konsequenzen dieser Sichtweise ist die Ablehnung der so genannten „neuen Mathematik“, die in den 1960er Jahre in den Lehrplan der öffentlichen Schulen der Vereinigten Statten eingeführt wurde (und jetzt wieder aus den Schulbüchern entfernt wird). Die neue Mathematik baute auf einer Sicht ähnlich der von Russell auf, und begann mit dem Unterricht von logischen Regeln wie Kommutativ-, Assoziativ-, und Distributivgesetz. Diese wurden dann auf Mengen angewandt, mit denen es die Arithmetik im Kern angeblich zu tun hatte. Im obigen Zitat warnt Weyl, dass die Mengenlehre in logischen Antinomien mündet und deshalb keine taugliche Grundlage der Arithmetik ist. Eine weitere, wichtige Konsequenz der intuitionistischen Sicht ist die Zurückweisung eines jeden Beweises, der vom logischen Gesetz des ausgeschlossenen Dritten ausgeht. (Dies ist das Gesetz, wonach eine Aussage wahr oder falsch sein muss, und nicht nichts von beidem eintreffen kann: Es gibt keine dritte, „mittlere“ Alternative zwischen diesen beiden.) Das heisst, die Beweisform der reductio ad absurdum wird abgelehnt. Ebenso werden vermeintliche Beweise ausgeschlossen, die auf der logischen Regel basieren, dass wenn eine von zwei Optionen wahr sein muss, und eine davon als falsch ausgeschieden werden kann, die verbleibende notwendig wahr ist. Beide Konsequenzen führen zu scharfen Divergenzen hinsichtlich dessen, was Intuitionisten, im Gegensatz zu Mathematikern anderer Prägung, als korrekte Beweise zu betrachten bereit sind. 14 15

M. Kline, Mathematics, The Loss of Certainty (New York: Oxford University Press, 1980), 236. Ebd., 237.

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Trotz ihrer Nähe zur Perspektive der Zahl-Welt Theorie mit ihrer vollständigen Isolierung eines angeblich unabhängigen mathematischen Aspekts, verneinen Intuitionisten die Hypothese, dass Zahlsymbolen reale Gegenstände entsprechen müssten. Sie insistieren vielmehr darauf, dass Mathematik eine rein mentale Angelegenheit sei. Aus diesem Grund kann es in der Mathematik auch nichts geben, das wir nicht vollständig zu begreifen in der Lage sind. In der Folge lehnen viele Intuitionisten den Gebrauch komplexer und irrationaler Zahlen ab, die schon den Pythagoreern zum Stolperstein geworden waren, für Platoniker, Formalisten und Logizisten aber kein Problem darstellen. Aus dem selben Grund verweisen Intuitionisten auch die Vorstellung einer aktuellen Unendlichkeit in den Bereich der Fiktion. Wie Henri Poincaré ­meinte: Aktuelle Unendlichkeit gibt es nicht. Was wir Unendlichkeit nennen ist nur die unbegrenzte Möglichkeit, neue Objekte unabhängig von der Zahl bereits bestehender Objekte herzustellen.16 Diese Ablehnung unendlich grosser Mengen zwingt die intuitionistische Sicht zu einer weiteren Ablehnung. Intuitionisten verweigern einem ganzen Zweig der Mathematik das Existenzrecht, und zwar der von Georg Cantor entwickelten Theorie der transfiniten Zahlen. Trotz der Tatsache, dass viele Mathematiker Cantors Werk als die grösste Errungenschaft der Mathematik der letzten hundert Jahre betrachten, eignet ihm in den Augen der Intuitionisten nicht einmal die zweifelhafte Würde, zu falschen Ergebnissen gekommen zu sein. Für sie ist es schlicht bedeutungslos. Dies sind nur einige Beispiele, wie unterschiedliche philosophische Auffassungen des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Aspekten zu unterschiedlichen Zahlbegriffen, und deshalb zu unterschiedlichen Auffassungen, wie Mathematik zu praktizieren sei, geführt haben. Aufgrund dieser Divergenzen und ihren folgeträchtigen Konsequenzen kommt Kline zum Schluss: Die gegenwärtige Lage der Mathematik ist die, dass es nicht eine, sondern viele Mathematiken gibt. Aus einer Vielzahl von Gründen gelingt es keiner von ihnen die Mitglieder der konkurrierenden Schulen zu befriedigen. Es hat sich herausgestellt, dass die Vorstellung eines universal akzeptierten, unfehlbaren Denkgebäudes – die majestätische Mathematik von 1800 und der Stolz des Menschen – eine einzigartige Illusion ist … Die Mei­ nungsverschiedenheiten hinsichtlich der Grundlagen der 16

ebd., 233.

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„gewissesten“ Wissenschaften überhaupt sind sowohl überraschend als, vorsich­tig ausgedrückt, beunruhigend. Die gegenwärtige Lage der Mathematik ist ein Hohn auf die bisher tief eingewurzelte und breit angesehene Wahrheit und logische Vollkommenheit der Mathematik.17 Selbstverständlich gibt es viele mathematisch tätige Personen, die keinen Gedanken an die hier diskutierten Dinge verschwenden. Viele können ehrlich deklarieren, ihre Arbeit zu verrichten, ohne über die Frage nach der angemessenen Perspektive nachzudenken. Deshalb sollten wir uns einmal mehr vor Augen führen, dass eine Perspektive nicht bewusst sein muss, damit sie ihre Kontrolle ausübt. Von Bedeutung ist allein die Tatsache, dass mathematische Prozeduren und Techniken deren Anwender auf bestimmte philosophische Perspektiven festlegen, die diesen nicht unbedingt bewusst sein müssen. 7.7

Die Bedeutung der Religion in diesen Theorien

Obwohl gezeigt wurde, wie die mathematische Praxis durch philosophische Wirklichkeitsauffassungen bestimmt ist, sollten wir noch einmal die Frage nach deren Verhältnis zu religiösen Glaubensüberzeugungen aufwerfen. An diesem Punkt sollte die entscheidende Rolle des vorausgesetzten religiösen Glaubens einsichtig geworden sein. Denn in jeder dieser Perspektive ist tatsächlich ein solcher Glaube wirksam. Theorien im Gefolge Platos schlagen einen abgetrennten, unabhängigen Bereich mathematischer Entitäten vor. In dieser Sicht resultiert unsere Erkenntnis mathematischer Wahrheiten aus der Abhängigkeit der Erfahrungswelt von der Realität jenes unabhängig existierenden mathematischen Reichs. Das ist der Grund, warum unsere mathematische Einsichten von der Erfahrungswirklichkeit vermeintlich unberührt bleiben, wie Leibniz dachte. Diesen hypothetischen Bereich als unabhängig zu betrachten heisst aber, ihm göttlichen Status zuzuschreiben. Nicht weil er von vorgeblich immerwährenden, unveränderlichen oder logisch notwendigen Dingen bevölkert wäre. Das allein würde zu seiner Göttlichkeit nicht genügen. Selbst als immerwährende könnte eine Realität immerwährend von einer anderen abhängen. So könnten auch mathematische Wahrheiten notwendige Verhältnisse zwischen Quantitäten ausdrücken und in ihrer Existenz doch von etwas Anderem abhängen. Es ist vielmehr die vermeintlich unabhängige Existenz jener postulierten Entitäten und Gesetze vom Rest der Wirklichkeit – die Auffassung, dass mathematische Wahrheiten dieselben sind, egal ob 17

Ibid., 6.

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irgendetwas Anderes existiert oder nicht – die mit dem Verleihen des göttlichen Status identisch ist.18 Eine solche Sicht der Dinge läuft nicht nur auf einen primär-religiösen Glauben hinaus; der involvierte Glaube stimmt auch perfekt mit dem paganen Abhängigkeitsverhältnis überein. Denn obwohl der Bereich mathematischer Gegenstände für unsichtbar, nicht-physisch, ewig und unveränderlich gehalten wird, bildet er in doppelter Hinsicht ein kontinuierliches Ganzes mit dem Rest der Wirklichkeit, der unserer Beobachtung offen steht. Erstens, obwohl der mathematische Bereich vorgeblich mehr als nur ein Aspekt unserer alltäglichen Erfahrungswirklichkeit ist, trifft er doch auf diese Welt zu. Das heisst, die Erfahrungswelt enthält Dinge, die eine quantitative Dimension manifestieren. Zweitens, sowohl der hypothetische Bereich wie auch die beobachtbare Welt unterstehen mathematischen Gesetzen. Die vermeintlich selbst-existenten Gesetze der mathematischen Welt sollen die Erfahrungswirklichkeit überhaupt erst möglich, oder möglich und real, machen. In einer Sicht, die wie Plato von zwei an sich göttlichen Prinzipien ausgeht, machen die Gesetze des hypothetischen Reichs den Kosmos möglich, indem sie die Materie beherrschen (die selber auch göttlich ist). Im Gegensatz dazu, besteht für Pythagoras die Welt ganz aus Zahlen und Zahlenverhältnissen. Aus dieser Sicht machen die Zahlen und ihre Gesetze den Kosmos nicht nur möglich sondern real. Um den paganen Charakter dieser Sichtweise deutlicher zu erkennen, wollen wir einen Kontrast zwischen dem so aufgefassten Verhältnis von Erfahrungswelt und dem Reich mathematischer Gegenstände einerseits, und dem 18

Es ist auffällig, dass viele Intuitionisten zwar die Unabhängigkeit des Mathematischen von anderen Aspekten der Erfahrung postulieren, aber dennoch darauf bestehen, dass die mathematischen Wahrheiten ebenfalls irgendwie vom menschlichen Geist abhängig sind. Das ist etwas verwirrend, weil diese Ansicht zweierlei umfasst - einerseits, dass die mathematischen Wahrheiten etwas Selbst-Existentes widerspiegeln, und andererseits, dass sie abhängig sind. Eine Möglichkeit, diesen Konflikt zu beheben, könnte in Kro­ neckers Feststellung bestehen, dass Gott die natürlichen Zahlen geschaffen hat, während der Rest das Werk des Menschen ist. In seinem Kommentar zu Brouwers Version des Intuitionismus hat Karl Popper noch eine andere Interpretation angeboten, um eine drohende Inkonsistenz zu vermeiden. Popper geht davon aus, dass Brouwers Theorie eine „Dritte Welt“ der Wirklichkeit benötigt, welche (mindestens) mathematische und linguistische Entitäten enthält. So wie Platon betrachtet Popper diese Welt als selbst-existent („ontologisch autonom“). Aber anders als bei Platon besteht sie für Popper aus Möglich­ keiten, die auf das menschliche Denken angewiesen sind, um aktualisiert zu werden. Folglich ist diese Dritte Welt in einer Hinsicht vom menschlichen Denken abhängig, obwohl sie in einem anderen Sinn göttlich ist. Daraus folgt, dass Poppers Position einen paganen Glauben widerspiegelt. Siehe Popper, Objective Knowledge (Oxford: Clarendon Press, 1972), bes. 128–90.

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biblischen Verhältnis von Gott und Schöpfung andererseits, herausarbeiten. In platonischer Sicht konstituieren die Gesetze des mathematischen Bereichs auch die Ordnung der sichtbaren Welt. In Wahrheit ist dieser unsichtbare (göttliche) Bereich der innerste Seinskern der uns erscheinenden Wirklichkeit. Weil das Göttliche mit einem Aspekt der Erfahrungswelt identifiziert wird, handelt es sich um eine pagane Auffassung. Im biblischen Denken bringt Gott alles („aus dem Nichts“) hervor, das im und in Bezug auf das Universum gilt, einschliesslich jeder Art von Regelmässigkeit und Ordnung. Es ist diese ­Ordnung, die wir in Gesetzessätzen auszudrücken versuchen. Es ist Gott zu verdan­ken, dass die Dinge eine quantitative Dimension haben, und dass die Verhält­nisse zwischen ihnen den Gesetzen gehorchen denen sie gehorchen. (Dass Gott als „einer“, oder als „einer in drei“, geglaubt wird ist eine Kon­se­quenz davon, dass Gott aus freien Stücken erschaffene Eigenschaften angenommen hat um sich den Menschen zu offenbaren. Dieser Punkt soll in Kapitel zehn näher diskutiert werden). Nachdem ich den paganen Charakter der Zahl-Welt Theorie herausgearbeitet habe, sollte ich an dieser Stelle aber auch auf die Existenz einer langen Tradition theistischer Denker hinweisen, die diese Theorie so zu adaptieren meinen können, dass sie mit dem Glauben an Gott vereinbar ist. Diese Strategie wurde in Kapitel fünf erklärt, wo ich auf die so genannte „scholastische“ Tradition einging und deren Vorgehensweise diskutierte, wie Theorien, die den einen oder anderen Aspekt der Wirklichkeit herausgreifen und diesen zur Grundlage aller anderen machen wollen, de-paganisiert werden könnten. Ich sagte, dass diese Tradition mit meiner Einschätzung übereinstimmt, der gemäss die Selbst-Existenz mathematischer (oder anderer) Gegenstände nicht mit einer theistischen Perspektive vereinbar ist. Doch wäre das nur dann ein Problem, so das scholastische Denken, wenn es dazu nichts weiter zu sagen gäbe. Vielmehr ist es gemäss diesem Denkansatz aber so, dass der pagane Charakter der Theorie neutralisiert, und die grundlegende Idee beibehalten werden kann. Der mathematische Bereich muss einfach seinerseits von Gott abhängig gedacht werden. Die bekanntesten Ansätze in dieser Richtung machen mathematische Wahrheiten deshalb zu einem Teil Gottes, oder interpretieren sie als Ideen Gottes. Auf diese Weise soll die Notwendigkeit und die Ewigkeit des hypothetischen Bereichs erhalten bleiben, ohne dass ihm ein von Gott unabhängiger, selbst-existenter Status zugestanden wird. In Kapitel fünf legte ich auch dar, warum diese Vorgehensweise sowohl philosophisch wie religiös fragwürdig ist. Wenn Gott einer Theorie auf diese Weise nachgeordnet wird, verändert sich der explanatorische Gehalt der Theorie nicht ein bisschen, und wird faktisch als religiös neutral betrachtet. All das soll hier nicht noch

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7. Kapitel

einmal wiederholt werden. In Kapitel zehn werde ich den Einwand aufnehmen und ihn weiter zuspitzen. Der Glaube an etwas Göttliches spielt nicht nur in der Zahl-Welt Theorie, sondern auch in Russells Denkansatz eine Rolle. Der Hauptunterschied liegt darin, dass für Russell die alles-beherschenden göttlichen Prinzipien logischer und nicht mathematischer Art sind. Nicht nur muss die gesamte – mögliche und aktuelle – Wirklichkeit logischen Gesetzen gehorchen; letztere sind auch das Herz und das unveränderliche Wesen aller Dinge. Noch einmal, diese Position läuft darauf hinaus, dass ein Aspekt unserer Erfahrung abstrahiert und ihm den Vorrang des göttlichen Status beigelegt wird. Russells Theorie setzt also ebenfalls einen pagan-religiösen Glauben voraus. Einige scholastische Denker haben auch die logizistische Zahlentheorie mit dem Glauben an Gott zu versöhnen versucht, und zwar auf ähnliche Weise, wie andere mit der Zahl-Welt Theorie umgegangen sind. Logische Gesetze, Mengen, etc. werden als Teil oder als Ideen Gottes aufgefasst, damit einerseits ihre Notwendigkeit und Ewigkeit bewahrt bleibt, sie andererseits aber doch als von Gott abhängig gedacht werden können. In Kapitel zehn werden wir sehen, warum dieser Auffassung von logischen Gesetzen und Klassen ebenso wenig Erfolg beschert ist, wie wenn sie auf mathematische Gesetze und Entitäten angewandt wird. Die Theorie Mills manifestiert ihren paganen Charakter vielleicht am deutlichsten. Gemäss Mill sind mathematische Wahrheiten und Gesetze allesamt Generalisierungen unserer Sinneseindrücke, und wir haben Sinneseindrücke, weil alle Gegenstände aus rein sensorischen Qualitäten bestehen; sie sind nichts als Bündel von Sinnesdaten. Um zu erklären, warum wir alle dieselben Bündel beobachten, postulierte Mill für jedes von ihnen ein mysteriöses Etwas, das er die „permanente Möglichkeit der Sinneswahrnehmung“ nannte. Auf die Frage, warum diese Möglichkeit besteht und worin ihr Grund zu suchen ist erwiderte Mill, dass wir es niemals wissen werden. Soweit wir wissen, und jemals wissen können, ist sie einfach gegeben. Mills Theorie belässt diese Möglichkeit im Status der Göttlichkeit mangels einer Alternative (wie mit dem Zitat von Mill in Anmerkung 32 im 2. Kapitel erklärt wurde). So setzt auch Mill die Wahrheit eines paganen Glaubens voraus. Dasselbe gilt für Deweys Theorie, obwohl deren Autor viel vager bleibt, was den Status des physisch-biotischen Aspekts anbelangt, den er als basal herausgreift. Soweit ich weiss, sagt Dewey nicht explizit, dass jener Aspekt unabhängigen Status besitzt. Doch in seinem gesamten Werk fasst er alle anderen Aspekte als vom biotisch-physischen abhängig auf, und niemals umgekehrt. Dieser Punkt wird dadurch weiter verkompliziert, dass Dewey die Existenz von etwas durchwegs Unabhängigem mehrmals bestreitet (er nennt es „absolut“).

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Aber er hält auch eisern daran fest, dass es nichts ausserhalb des Universums gibt, von dem dieses abhängen könnte. Deshalb sind wir, auf dem Hintergrund unserer Definition von Göttlichkeit, zu der Aussage berechtigt, dass Dewey in dieser Hinsicht schlicht inkonsistent ist: Es kann nicht sein, dass das Universum alles ist, es selbst aber nicht-göttlichen Status hat. Wenn nur das Universum existiert, dann gibt es in der Tat nichts, von dem es abhängen könnte, und es wäre deshalb „absolut“ selbst-existent. Deshalb ist die Behauptung nicht unfair, Deweys Sicht sei von einem pagan-religiösen Glauben bestimmt, in dessen Wirkungsfeld meta-mathematische Theoriebildung betrieben werde. Die Tatsache der religiösen Bestimmtheit einer Theorie der Gesamtwirklichkeit, die ihrerseits die Theorien der Mathematik beeinflusst, kommt auch im Bereich der Logik zum Tragen. Viele philosophische Denker gehen mit Russells Sicht überein und betrachten die Gesetze der Logik zumindest als Teil einer unhintergehbaren Wirklichkeit. Für sie ist die moderne Logik eine Methode zur Lösung bestimmter Probleme, die auf Sätzen mit unbedingter Geltung und absoluter Neutralität beruht. Aber die Frage, was denn all die Aspekte zusammenhält, kann genauso wenig aus der Logik ausgeschlossen werden wie aus der Mathematik. Deswegen wurden logische Gesetze nicht nur als absolut, sondern als das Produkt sprachlicher Strukturen, oder als Denkregeln, deren Geltung auf der faktischen Evolution des menschlichen Hirns basiert, oder als das Produkt historischer Konditionierung, usw. aufgefasst. Selbst einige der am weitesten formalisierten logischen Symbolsysteme geraten aus diesen und ähnlichen Gründen letztlich noch miteinander in Konflikt.19 In jedem dieser Fälle wird die Logik entweder als selbst-existent oder umgekehrt als Produkt eines anderen Aspektes, der seinerseits als selbst-existent aufgefasst wird, betrachtet. Jede dieser Perspektiven steht also unter religiösem Einfluss. An dieser Stelle dürfte auch klarer geworden sein, warum die grosse Vielfalt des pagan-religiösen Glaubens die bereits erwähnte Ruhelosigkeit erzeugt. Aus der Perspektive des biblischen Glaubens kann die pagane Religiosität nicht anders, als die Schöpfung auf irgendetwas Selbst-Existentes oder Absolutes hin zu durchplündern. Und jede Behauptung, den göttlichen Aspekt oder Aspekte der Schöpfung gefunden zu haben, provoziert die Gegenbehauptung einer Alternative, die genau so plausibel (und deshalb unplausibel) ist wie alle vorausgehenden.

19

So haben beispielsweise W.V.O. Quine und N. Goodman einen formalen Kalkül von Individuen entwickelt, um zu vermeiden, Prädikate so zu behandeln, als würden sie wirklich existierende Universalien repräsentieren. Siehe Kap. 2 von The Structure of Appear­ ance (Indianapolis: Bobbs, Merrill, 1966), 33 ff.

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7. Kapitel

Doch wie sollen wir den Unterschied einer Zahlentheorie herausarbeiten, die den Glauben an Gott voraussetzt, und eben nicht den paganen Glauben an die Göttlichkeit eines Schöpfungsaspekts? Um eine adäquate Antwort auf diese Frage geben zu können, müssen wir zuerst eine Theorie der Gesamtwirklichkeit erarbeiten und verteidigen, die den Glauben an Gott voraussetzt, um danach die Konsequenzen dieser Gesamttheorie der (erschaffenen) Wirklichkeit für unsere Begriffe der Entitäten aufzuzeigen, die in der Mathematik und anderen wissenschaftlichen Theorien vorgeschlagen werden. In den Kapiteln elf, zwölf und dreizehn sollen die Grundlinien einer derartigen Wirklichkeitstheorie dargestellt werden. Für den Moment kann ich nur auf die Skizze in Kapitel vier zurückverweisen. Dort haben wir gesehen, warum der Glaube an einen transzendenten Gott uns zur Überzeugung führen muss, dass kein Aspekt der Schöpfung selbst-existent ist, und dass kein Aspekt irgendeinen anderen generiert, sondern sie alle von Gott allein abhängig sind. Aus diesem Grund, sagte ich, sollten wir alle Erfahrungsaspekte als gleichermassen real betrachten. Wir haben auch gesehen, dass jedes erschaffene Ding zu jeder Zeit unter den Gesetzmässigkeiten aller Aspekte existiert, und Eigenschaften jedes aspektspezifischen Typs hat. Deshalb sollte keine wissenschaftlich postulierte Entität auf einen oder zwei Aspekte begrenzt werden. Nichts hat ein Wesen, das exklusiv oder auch nur „im Kern“ aus zwei seiner Aspekte besteht, wie das pagane Theorien immer vorgeschlagen haben. Das soll später noch weiter ausgeführt werden. An dieser Stelle können wir nur einige eher offensichtliche Punkte herausgreifen, wie ein solches Wirklichkeitsverständnis eine Theorie leitet, die erklären soll, wofür 1 + 1 = 2 steht. Es sollte schon ersichtlich geworden sein, dass in unserer Sicht Zahlzeichen die quantitativen Eigenschaften der Dinge repräsentieren. Wir abstrahieren diesen Aspekt unserer Erfahrung von der uns umgebenden Welt und symbolisieren die diskrete Menge mit dem Zahlzeichen „1“. So können wir weitere Quantitäten durch eine Serie von Zahlzeichen darstellen, in der jedes nach­ folgende Symbol – 2, 3, 4, usw. – für die addierte Differenz zur jeweils vorausgehenden Quantität steht. Durch weitere Abstraktion können wir Verhältnisse und Gesetze entdecken, die zwischen diesen Quantitäten gelten.20 Doch die 20

Für weitere Ausführungen zum nicht-reduktionistischen Einfluss, den der Glaube an Gott auf mathematische Theorien hat, siehe Dooyeweerds New Critique, vol. 2, 55–93. Diese Sichtweise wurde u.a. von folgenden Denkern weiterentwickelt: D. H. T. Vollenhoven. De Wijsbegeerte der Wiskunde van Teistische Standpunt (Amsterdam: Wed G. Van Soest, 1918), De Noodzakelijkheid eener Christelijke Logica (Amsterdam: H. J. Paris, 1932), “Pro­blemen en Richtingen in de Wijsbegeerte der Wiskunde,” Philosophia Reformata 1 (1936), “Hoofdlijnen der Logica,” Philosophia Reformata 13 (1948). D. Strauss. “Number Con­cept and Number Idea,” Philosophia Reformata 35, no. 3 (1970) and 35, no. 4 (1971). A. Tol. “Counting, Number

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resultierenden Abstraktionen wie Zahlen, Mengen, usw., werden niemals als unabhängig existierende Realitäten aufgefasst. Sie sind niemals mehr, oder weniger, als die Eigenschaften, Verhältnisse, Funktionen, etc. des quantitativen Aspekts der Dinge und Ereignisse der gewöhnlichen Erfahrung. Sie sind weder Elemente von Pythagoras, Platos oder Leibniz selbst-existenter Zahlenwelt, noch sind sie einfach Fiktionen unserer Erfindungsgabe, wie Dewey uns glauben machen möchte. Und sie sind auch nicht so aufzufassen, dass sie von einem anderen Aspekt vollständig abhängig wären, wie von Mill, Russell oder Dewey behauptet. Denn wie wir in Kapitel zehn sehen werden, kann keinem Aspekt unserer Erfahrung unabhängige Existenz zugeschrieben werden, ohne dass diese Zuschreibung einer performativen Inkohärenz zum Opfer fällt. Und wenn kein Aspekt unabhängig von allen anderen bestehen kann, kann auch keiner der tragende Grund aller anderen sein. Concept and Numerosity,” in Hearing and Doing: Philosophical Essays Dedicated to Evan Runner, ed. J. Kraay (Toronto: Wedge, 1979). D. Strauss. “Infinity,” in Basic Concepts in Phi­ losophy, ed. Z. Van Straaten (Oxford: Oxford University Press, 1981), “Are the Natural Sciences Free from Philosophical Presuppositions?” Philosophia Refor­mata 46, no. 1 (1981), “Dooyeweerd and Modern Mathematics,” Reformational Forum, no. 2, 1983, 40-55, “The Nature of Mathematics and Its Supposed Arithmetization,” Proceedings of the Ninth National Congress on Mathematics Education, 1988, 10-31 (Mathematical Associa­tion of South Africa), “The Uniqueness of Number and Space and the Relation between Realism and Nominalism,” Journal for Christian Scholarship, 1ste & 2de kwartaal, 1990, 104-25, “A Historical Analysis of the Role of Beliefs in the Three Foundational Crises in Mathe­ matics,” in Facets of Faith and Science, ed. J. van der Meer (Lanham, Md.: University Press of America, 1997), vol. 2, 217-30, – “Primitive Meaning in Mathematics: The Inter­action between Commitment, Theoretical Worldview, and Axiomatic Set Theory,” in ebd., vol. 2, 231-56, “Reductionism in Mathematics,” Journal for Christian Scholarship, Jaargang 37, 1ste & 2de kwartaal, 2001, 71-88, Para­digms in Mathematics, Physics, and Biology (Bloemfontein: Teksor, 2001), “Frege’s Attack on ‘Abstraction’ and His Defense of the ‘Applicability’ of Arithmetic as Part of Logic,” South African Journal of Philosophy 22(1), 2003, 63-80, “Is a Christian Mathematics Possible?” Journal for Christian Scholarship, 3de & 4de kwartaal, 2003, 31-49.

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8. Kapitel

8. Kapitel

Theorien der Physik Neben der Mathematik ist die Physik die Wissenschaft, die angeblich von jedem religiösen Glauben unabhängig ist. Jedoch bereitet es keine Schwierigkeiten zu zeigen, dass in der Physik ebenso wie in der Mathematik Theoriesysteme gegeneinander antreten, deren konfliktträchtigen Unterschiede auf rivalisierende Theorien der Gesamtwirklichkeit zurückgeführt werden können, die ihrerseits unterschiedliche Überzeugungen voraussetzen, was vorgeblich göttlichen Status hat. 8.1

Mögliche Missverständnisse

Bevor ich mich dieser Aufgabe zuwende, sollte ich aber noch auf einige zu vermeidende Missverständnisse in der Bedeutung des Ausdrucks „physisch“ eingehen. Oft bezeichnen wir im alltäglichen Leben etwas als physisch und meinen damit, dass es real und nicht imaginär ist. Das ist nun nicht die Bedeutung, die der Ausdruck in der Physik hat oder wie ich ihn verwenden werde. In diesem Kapitel werden wir uns mit dem physischen Aspekt beschäftigen, den die Dinge und Ereignisse in unserer gewöhnlichen, vorwissenschaftlichen Erfahrung manifestieren. In Übereinstimmung mit unserer früheren Definition eines Aspekts, verwende ich den Ausdruck „physisch“, um die spezifische Art von Eigenschaften und Gesetzen zu bezeichnen, die in der Physik und all ihren Verzweigungen erforscht werden. Zu dieser Art gehören Eigenschaften wie Masse, Gewicht, spezifische Dichte, Ladung, usw. Unter den Gesetzen, die zwischen Eigenschaften dieser Art gelten sind Pascals Gesetz, Boyles Gesetz, die universale Gravitation, die Gesetze der Dynamik, sowie Einsteins berühmte Formel E = mc2 zu finden. Wie im Fall der qualifizierenden Adjektive aller anderen Aspekte ist es nicht möglich, eine genaue Definition von „physisch“ zu geben. In Anlehnung an die oben aufgeführte (provisorische) Aspektenliste, können wir das Physische umschreiben als: die Eigenschaften und Gesetze, die zeitliche, numerische und räumliche Vorbedingungen haben, aber nicht so beschaffen sind, dass sie von einem biotisch qualifizierten Ding nur dann aktiv

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_009

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besessen werden können, wenn dieses lebt, und damit ein Lebewesen von etwas abheben das keines Lebens fähig ist.1 Der Ausdruck „physisch“ kann auch leicht missverstanden werden, wenn er in der Wendung „physischer Gegenstand“ auftritt. Er sollte aber nicht so aufgefasst werden, dass der bezeichnete Gegenstand nur physischer Art wäre. Obwohl es Theorien gibt, die „rein“ physische Gegenstände postu­lieren, gibt es nichts, das wir jemals auf diese Weise erfahren würden. Deshalb meint der Ausdruck im alltäglichen Gebrauch auch nichts rein Physisches. Ein Baum ist bestimmt physisch, doch erfahren wir ihn als etwas, das mit vielen verschiedenen aspektspezifischen Eigenschaften ausgestattet ist, und nicht nur physischen Gesetzen untersteht. Jeder Baum manifestiert Eigenschaften und Konfor­mität mit Gesetzen, die wir als quantitativ, räumlich, biologisch, sensorisch, logisch, ästhetisch, usw. erfahren. Wie jedes andere Ding der vorwissenschaftlichen Erfahrung, erscheint uns ein Baum in seiner vielfältigen Aspektualität. Es trifft wohl zu, dass die physikalische Theoriebildung den physischen Aspekt vom Rest abstrahiert und sich ganz auf diesen konzentriert, so dass die verbleibenden (nicht-physischen) Aspekte aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit an den Rand gedrängt werden. Doch dieses Merkmal des wissenschaftlichen Vorgehens hat nicht zur Folge, dass etwas nur gerade den hervorgehobenen Aspekt besässe. Aus der Sicht unserer direkten Erfahrung ist es schlicht und einfach falsch, dass es Dinge geben soll, die wir als bloss physisch wahrnehmen. Und ebenso irrig ist die Annahme, die Physik hätte es mit rein physischen Tatsachen zu tun. Vielmehr geht die Physik wie so viele andere Wissenschaften auch von den multi-aspektuellen Gegenständen unserer gewöhnlichen Erfahrung aus und macht einen spezifischen Aspekt derselben zu ihrem besonderen Untersuchungsbereich. Die Physik hat es deshalb nicht mit einer limitierten Anzahl rein physischer Gegenstände zu tun, sondern mit dem physischen Aspekt aller Dinge. Ich betone diesen Punkt, weil, wie schon erwähnt wurde, viele prominente Denker der Auffassung sind, dass die Physik nur exklusiv physische Tatbestände untersucht. Wenn wir die Auffassungen dieser Denker durchgehen, müssen wir also im Hinterkopf behalten, dass deren Bestimmung des Gegenstandsbereichs der Physik auf einer Theorie der Gesamtwirklichkeit basiert, die zuerst einmal verteidigt werden muss. Mit diesen Erläuterungen im Rücken wenden wir uns nun einigen wichtigen Theorien der Physik zu, um zu sehen, ob es tatsächlich Unterschiede 1 Diese Umschreibung verdankt sich teilweise James Cornman, Materialism and Sensations (New Haven und London: Yale University Press, 1971), 11–12. Die Unterscheidung zwischen dem Aktiv- und dem Passiv-Sein einer Eigenschaft wird im 11. Kapitel erklärt.

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8. Kapitel

zwischen ihnen gibt, die auf unterschiedliche Auffassungen zurückgehen, was die Wirklichkeit im Innersten zusammenhält; Auffassungen, die ihrerseits unterschiedliche primär-religiöse Glaubensüberzeugungen voraussetzen. Um uns dieser Tatsache zu vergewissern, brauchen wir uns bloss die bekannteste Theorie der Physik vorzunehmen, die Atomtheorie. In einfachen Worten besagt die Atomtheorie, dass die Gegenstände unserer Alltagserfahrung aus Teilchen bestehen (Atome und sub-atomare Partikel), die aufgrund ihrer geringen Ausdehnung von blossem Auge nicht wahrgenommen werden können. Auch hier ist nochmals ein Rückverweis auf bereits Gesagtes angebracht: Die religiöse Kontrolle einer Theorie besteht nicht darin, dass diese Theorie nur von einer Person erfunden werden konnte, die einen bestimmten religiösen Glauben hat. Ich möchte nicht suggerieren, dass man Materialist, Rationalist, oder weiss ich was sein muss, um auf die Theorie „Es gibt Atome“ zu kommen. Wie gesagt, zeigt sich die regulative Kontrolle eines religiösen Glaubens vielmehr darin, wie das Wesen von theoretisch postulierten Gegenständen interpretiert wird. So müssen wir auch im Fall der Atomtheorie wissen, von welcher Art Gegenstand überhaupt die Rede sein soll; wir müssen die Natur des Atoms, etc. bestimmen, um erkennen zu können, wie Atome diejenigen Phänomene erklären können, zu deren Erklärung sie erfunden wurden. Tatsache ist jedoch, dass unter Physikern in der Frage der wesentlichen Beschaffenheit von Atomen und Partikeln keine Einigkeit besteht. Deshalb gibt es auch kein Konsens darüber, wie diese Gegenstände die Daten erklären, die sie erklären sollen. Um diese Differenzen zu illustrieren, wollen wir uns die drei jüngsten Interpretationen der Atomtheorie ansehen, die das zwanzigste Jahrhundert dominierten. 8.2

Die Theorie von E. Mach

Die erste Interpretation der Atomtheorie, die wir diskutieren werden, ist die von Ernst Mach. Viele Leute haben, ohne es zu realisieren, schon von Mach gehört, denn zu seiner Ehre wurde die einfache Schallgeschwindigkeit mit dem Ausdruck „Mach 1“ belegt, die doppelte Schallgeschwindigkeit mit „Mach 2“, etc. Etwas Anderes, das im Zusammenhang mit Mach oft übersehen wird, ist, dass er nicht an die Existenz von Atomen glaubte. Und Mach war nicht der einzige, der dieser Überzeugung war. Zu seinen Lebzeiten gab es viele berühmte Wissenschafter und Philosophen, die sich dieser Meinung anschlossen, so dass Mach zum Gründer einer eigenständigen Bewegung innerhalb der Naturwissenschaften wurde, deren Bedeutung in den ersten zwei Dritteln des zwanzigsten Jahrhunderts fast nicht zu überschätzen ist. Obwohl Mach die vermeintliche Realität von Atomen und anderen Partikeln ablehnte, hielt er an

Theorien der Physik

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der Atomtheorie fest, von deren Erfolg er überzeugt war. Nach Machs Auffassung konnte man die Theorie akzeptieren, wie Dewey Aussagen über Zahlen und mathematische Prozeduren akzeptierte. Bei all diesen Dingen handelte es sich um nützliche Erklärungen unserer Erfahrungen, obwohl die entsprechenden Aussagen nicht wörtlich wahr sind, da sie nicht auf reale Gegenstände verweisen. So konnte Mach Atome und subatomare Teilchen „nützliche Fiktionen“ nennen. Hinter diesem Ansatz, den Mach und seine Nachfolger verfolgten, steckt eine Theorie der Gesamtwirklichkeit, die alle Erfahrungsaspekte im sensorischen Aspekt kollabieren lässt. Auf einer ähnlichen Basis gelangte schon Mill zur Auffassung, dass mathematische Formeln nichts Anderes als Verallgemeinerungen über unsere Sinneseindrücke sind. Mach brachte dieses Wirklichkeitsverständnis in der Physik detailliert zur Anwendung. Auch er lehnte die Existenz von etwas Anderem als Sinnesdaten ab. Um Machs Gründe für diesen Ansatz mit seinen weitreichenden Auswirkungen auf die Physik zu verstehen, lohnt es sich, den erwähnten philosophischen Denkrahmen etwas näher anzusehen. Die philosophische Theorie der Gesamtwirklichkeit, nach der alle Dinge exklusiv sensorischer Natur sind, hat ihre Wurzeln im frühen siebzehnten Jahrhundert. Die Auffassung schaffte sich Raum, dass der menschliche Geist wie ein Auge oder eine Kamera funktioniere. Aus dieser Sicht müssen wir die externe Wirklichkeit, die ausserhalb unseres Bewusstseins ist, von der Kopie der Wirklichkeit unterscheiden, die innerhalb unseres Bewusstseins entsteht. Dies geschieht in perfekter Analogie zur Unterscheidung zwischen der Welt der Dinge ausserhalb des Auges oder der Kamera und den Bildern, die auf der Retina oder einem Film erscheinen. Das Bewusstsein wurde als eine Art Retina oder Film aufgefasst, dem die Sinnesorgane (Sicht, Berührung, Geruch, Gehör und Geschmack) Vorstellungen der extramentalen Wirklichkeit aufprägten. Im achtzehnten Jahrhunderten wiesen Denker wie George Berkeley und David Hume nach, dass wir auf dem Boden dieses Verständnisses des menschlichen Geistes nur gerade zu einem Wissen über die sinnlichen Bilder in unserem Bewusstsein gelangen, so dass wir unmöglich wissen können, ob diese Bilder tatsächlich etwas ausserhalb des Bewusstseins abbilden. Wenn unser Bewusstsein die Kamera, und alles was wir erkennen können Teil des „Films“ ist, ­können wir niemals sicher sein, ob die externe Welt dem Inhalt des Films entspricht, und nicht einmal, ob es überhaupt eine externe Welt gibt! Was auf unserem Film ist könnte auch eine vom Bewusstsein hervorgebrachte, virtuelle reality show sein. Diese bizarre Schlussfolgerung entspricht in etwa der Auffassung, mit der sich Berkeley, Hume, Mill und Mach wiederfanden. Was immer wir auf dem

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8. Kapitel

Boden unserer Erfahrung erkennen können, so ihre Konklusion, ist, dass die Realität aus Sinneseindrücken besteht. Aus der Sicht dieser Denker sollten wir uns, wenn wir einen Baum auf einem Feld sehen, nicht zur Annahme verleiten lassen, wir hätten es mit etwas Physischem zu tun; weder in dem Sinn, dass das Gesehene distinkte, physische Eigenschaften besitzt, noch dass es ausserhalb des Beobachters existiert. Wir sehen tatsächlich nur ein Bündel von sensorischen Eigenschaften, das von unserem Bewusstsein als Sinneseindruck registriert wird. Alles, was wir über einen Baum herausfinden können, ist, dass er eine Ansammlung aller möglichen Sinneseindrücke ist, die wir von ihm haben können. Der Baum (oder jeder andere Gegenstand) ist eine Kombination von Farbfeldern, Berührungseindrücken, Laut-, Geschmacks- und Geruchsimpressionen. Obwohl es natürlich ist zu argumentieren, dass ein wirklicher Baum ausserhalb unserer Bewusstseins existiert, der unsere Baum-Impressionen verursacht, gibt es doch keinen Weg, auf dem wir das jemals herausfinden könnten. Auf dem Boden eines solchen Wirklichkeitsverständnisses – der Theorie, die dem sensorischen Aspekt exklusive Realität zuerkennt – gelangten Mach und viele andere Physiker zur Überzeugung, dass der einzige Gegenstand des Wissens unsere eigenen Sinneseindrücke seien. Tatsächlich schienen ihre Argumente dermassen überzeugend, dass viele andere Denker, die mit der gezogenen Schlussfolgerung nicht glücklich waren, sich zum Eingeständnis gezwungen sahen, dass die Rede von einer realen, externen Wirklichkeit bestenfalls auf einer Theorie (einer informierten Vermutung) basierte! Weiter oben machte ich die Bemerkung, dass es auf dem Boden unserer ­vortheoretischen Erfahrung keinen Grund gibt zur Annahme, dass irgendwelche Gegenstände rein physischer Natur seien. Unsere Erfahrungs­wirklichkeit hat vielmehr multi-aspektuellen Charakter. Es mag deshalb etwas verwunderlich anmuten, dass auf jene Bemerkung eine Diskussion der Theo­rien Berkeleys, Humes, Mills und Machs folgte, die behaupteten, dass alles, was unserer direkten Erfahrung zugänglich ist, exklusiv sensorischer, und nicht physischer Natur sei. Der Grund meines Vorgehens ist einfach: die Bemerkung bezieht sich gleichermassen auf beide Theorien. Jede Theorie fordert die a­ ndere als Gegenstück heraus.2 Denker wie Galileo und Descartes, die der Überzeugung 2 A. Aliotta hat diese Ansicht trefflich auf den Punkt gebracht: „When … [Mach] endeavors to build up a new [picture] of the world on the ruins of the mechanical theory, and substitutes the element of sensation for the material atom, he does but replace mechanical by sensorial mythology. The atom was … an abstraction; what else is the sensorial element?” (The Idealistic Reaction Against Science [London: McCaskill, 1914], 65) (Wenn Mach sich bemüht, ein neues Bild der Welt auf den Ruinen der mechanischen Theorie aufzubauen und das materielle Atom durch den Sinneseindruck ersetzt, dann hat er nur die mechanische durch eine sensorische Mythologie ersetzt. Das Atom […] war eine Abstraktion; was anderes ist das sensorische

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waren, dass externe Gegenstände exklusiv physischer Art seien, hielten an der rein sensorischen Natur unserer Sinneseindrücke fest. Das P ­ roblem war dann aber zu erklären, wie man wissen kann, dass interne Sinneseindrücke getreue Kopien der externen Gegenständen sind. Es ist die Unmög­lich­keit einer solchen Erklärung, die von Berkeley und Hume aufgewiesen wurde. Deshalb gelangten letztere zum Schluss, wie Mill und Mach nach ihnen, dass die Rede von der Existenz externer (rein physischer) Gegenstände auf einer Theorie basieren müsse, die zu bestätigen unmöglich ist. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum Mach die Rede von Gegenständen, die ausserhalb des Beobachters existieren und distinkt physische Eigenschaften besitzen sollen, als unwissenschaftliche Theorie abtat und zu zeigen versuchte, wie die Physik ohne eine solche Theorie auskommen konnte. Wie Mach sagte: Wenn gewöhnliche „Materie“ bloss als ein natürliches, unbewusst kon­ struiertes, mentales Symbol für ein … Komplex von [Sinneseindrücken] ­verstanden werden muss, um wie viel mehr trifft dies das auf die künstlich-hypothetischen Atome und Moleküle der Physik und Chemie zu.3 Was wir uns hinter den Erscheinungen vorstellen, existiert nur in unserem Verstand …4 Für uns Forscher ist der Begriff der „Seele“ ohne Bedeutung und Gegenstand von Gelächter, doch die Materie ist eine Abstraktion exakt derselben Art … wir wissen etwa soviel über die Seele wie über die Materie.5 Element?) Gerade um diesen Punkt, den ich als Kriterium der selbst-performativen Kohärenz bezeichnet habe, dreht sich auch Dooyeweerds Kritik. In Anmerkung 18 im 4. Kapitel habe ich Dooyeweerds Kritik auf Kants Theorie angewendet, während Aliotta diese hier auf den Materialismus und den Phänomenalismus anwendet. Der Punkt ist entscheidend, da sich jede der in diesem Kapitel gegenübergestellten Ansichten von den anderen dadurch unterscheidet, dass sie von unterschiedlichen Auffassungen des Charakters des Erfahrungsdatums ausgehen. Jede dieser Auffassungen ist dogmatisch und verletzt das Kriterium der selbst-performativen Kohärenz. Darüber hinaus ist klar, dass der Dogmatismus in jedem Fall einer religiösen Überzeugung darüber entstammt, was selbstexistent und damit göttlich ist. In Kapitel 10 wird das Kriterium der selbst-performativen Kohärenz im Detail entwickelt werden, um zu zeigen, warum es jede reduktive Charakterisierung der Erfahrungsdaten prinzipiell unvertretbar macht. 3 E. Mach, “The Analysis of Sensations”, in Ernst Mach, J. Blackmore (ed.) (Berkeley: University of California Press, 1972), 322. 4 Ders., Conservation of Energy, in ebd., 86. 5 Ebd.

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8. Kapitel

Wie ich schon bemerkte, akzeptierte Mach sowohl die alltäglichen Ausdrücke „Materie“ und „materiell“ als auch die Atomtheorie, obwohl er beiden eine ähnliche Rolle zuschrieb, wie Dewey den Zahlzeichen in der Mathematik6 Obwohl die Ausdrücke und Symbole der Atom­theorie nichts repräsentieren, tragen sie doch Nutzen im Umgang mit der wahrgenommenen Wirklichkeit, da sie die Vorhersage bestimmter Erfahrungen auf der Basis von schon gemachten Erfahrungen ermöglichen. Wie das angeführte Zitat zeigt, sind nicht nur Atome und subatomare Partikel aus Machs Perspektive von der Realität ausgeschlossen, sondern irgendwelche Gegenstände, die angeblich physische Eigenschaften besitzen. In seinem Werk Erkenntnis und Irrtum dehnte Mach diese Sichtweise auf die Gesetze der Physik aus, die er als unsere eigenen psycho­ logischen Projektionen bezeichnete. Seiner Meinung nach sind sie nichts ­Anderes als „das Produkt eines mentalen Bedürfnisses, uns in der Natur zurechtzufinden“ und (ganz im Sinne Humes) „subjektive Vorschriften an die Erwartungen eines Beobachters“.7 Gleichzeitig wollte Mach sie jedoch nicht aus den Theorien der Physik streichen, da sie uns „innerhalb bestimmter Grenzen“ zu richtigen Erwartungen hinsichtlich zukünftiger Sinneseindrücke verhelfen, und aus diesem Grund nicht verworfen werden sollten. 8.3

Die Theorie von A. Einstein

Nicht alle stimmten mit Mach überein. Einige Physiker, darunter Albert Einstein, hielten daran fest, dass unsere Sinneseindrücke in Wirklichkeit von nicht-wahrnehmbaren, weil exklusiv physischen Gegenständen verursacht werden, die ausserhalb unseres Bewusstseins existieren. Nichtsdestotrotz fühlte sich auch Einstein zur Aussage gezwungen, dass diese Sichtweise nur gerade eine Theorie ist. Indem er sie gegen Mach verteidigte, schrieb Einstein: Unsere psychologische Wahrnehmung umfasst … Sinneseindrücke, Erinnerungen an sie, Bilder und Gefühle. Im Gegensatz zur Psychologie hat es die Physik bloss mit unmittelbaren Sinneswahrnehmungen und den „Erklärungen“ ihrer Verbindung zu tun. Doch selbst der alltägliche Begriff der „wirklichen Aussenwelt“ geht ausschliesslich auf die Sinneswahrnehmung zurück … was wir meinen, wenn wir einem körperlichen Gegenstand „reale Existenz“ zuschreiben … [ist] dass wir dank solcher Begriffe

6 J. Blackmore, Ernst Mach, 174–75. 7 E. Mach, Knowledge and Error (Dordrecht: Reidel, 1976), 354, 358.

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… in der Lage sind, uns im Labyrinth der Sinneswahrnehmung zu orientieren.8 In diesen Sätzen wird deutlich, dass Einsteins Wirklichkeitsverständnis zunächst mit dem Machs übereinstimmt. Wie Mach akzeptiert er die perspektivische Theorie, dass die Gegenstände unserer direkten Erfahrung rein sensorischer Natur seien. Deshalb geht auch er davon aus, dass der entscheidende Test, ob etwas als unmittelbar real erkannt werden kann, darin besteht, ob es sinnlich wahrgenommen werden kann. Alles andere muss auf Hypothesen beruhen. Deshalb räumte er ein, keine Gewissheit darüber haben zu können, ob externe, „körperliche“ Gegenstände wirklich existieren. Doch Einsteins Sicht weicht von Machs Position ab, insofern sie annimmt, dass es nichtwahrnehmbare, physische Gegenstände gibt. Diese Auffassung begründete er mit der Tatsache, dass die Theorie, die solche Gegenstände postuliert, ein derart rationales Verständnis der Sinnesdaten ermöglichte, dass wir berechtigt sind, die Theorie als wahr zu betrachten. Das also war der fundamentale Streitpunkt zwischen ihnen: Einstein glaubte an unsere Berechtigung zur Annahme, dass es (rein) physische Dinge ausserhalb unseres Bewusstseins gibt, die unsere Sinneseindrücke verursachen, wo hingegen Mach diese Annahme für unberechtigt hielt. Einstein begründete diese Uneinigkeit mit Mach dadurch, dass unser Geist nicht nur sinnlich wahrnimmt, sondern, zusätzlich zu Wahrnehmung und Gefühl, auch die Fähigkeit besitzt, logisch und mathematisch zu denken. Darüber hinaus hielt Einstein an der Überzeugung fest, dass logische und mathematische Eigenschaften und Gesetze so real wie sensorische Eigenschaften und ­Gesetze sind, da das rationale Denken von der sinnlichen Wahrnehmung unabhän­gige Begriffe bilden kann. So kann er sagen, dass sämtliche Begriffe, die in unserem Denken entstehen … die freie Erfindung des Denkens sind und nicht aus der Sinneswahrnehmung gewonnen werden können …9 Da Einstein logischen und mathematischen Eigenschaften und Gesetzen unabhängige Realität zuschrieb, hielt er das rationale Denken ebenso wie die Sinneswahrnehmung für einen legitimen Massstab dessen, was als real gelten kann. Am Ende unseres ersten Zitates sagt Einstein, dass die reale Existenz von körperlichen Gegenständen eine berechtigte Annahme ist, da sie zum Verstehen des Labyrinths der Sinneswahrnehmung beiträgt. Weil die Theorie, dass es 8 A. Einstein, Ideas and Opinions (New York: Bonanza Books, 1954), 290-91. 9 Ebd., 22.

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8. Kapitel

physische Gegenstände gibt, rationalen Sinn in die Dinge bringt, sollten physische Dinge und Sinneseindrücke als wirklich akzeptiert werden. Die Annah­me physischer Gegenstände eröffnet, wie alle anderen Gegenstands­hypothesen, einen Zugang zur Realität, insofern sie „ein begriffliches System“ bildet, „das genügend in der Sinneswahrnehmung verankert ist“ und „die grösstmögliche Einheit und Ökonomie …“10 zeigt. Diese Perspektive, in der die logisch-mathematische und die sensorische Ebene zur Richtschnur des Realen erhoben werden, steht in einer langen Denk­tradition, die auf das Werk des Mathematikers und Philosophen des siebzehnten Jahrhunderts, René Descartes, zurückgeht. Descartes schlug vor, dass die Regel für die Philosophie und die Physik darin besteht, dass sämtliche Dinge, die, allgemein gesprochen, als Gegenstand der reinen Mathe­matik begriffen werden können, als äussere Gegenstände anerkannt werden müssen.11 Das Herzstück dieser Theorie besteht in der Annahme, dass die Gesetze der Mathematik und der Logik nicht nur unser Denken, sondern die gesamte Wirklichkeit normieren. Darin gründet die Korrespondenz zwischen Denken und Realität. Diese Annahme wurde oft so formuliert, dass das Rationale (zum Beispiel was logisch und mathematisch kalkulierbar ist), auch real ist. Einstein räumte jedoch ein, dass die Gewissheit, die Natur sei in diesem Sinn rational, nicht bewiesen werden könne. Für ihn ist es „Gegenstand des Glaubens, dass die Natur – wie sie von unseren fünf Sinnen wahrgenommen wird – die Form eines so wohlgefügten Puzzles annimmt.“ Doch fügt er hinzu, dass der Erfolg der Wissenschaft „diesem Glauben eine bestimmte Berechtigung verleiht.“12 Andererseits wurde der Glaube, das Wesen der Natur sei in bestimmter Hinsicht rational von Mach deshalb verneint, weil er von einer exklusiv sensorischen Wirklichkeit ausging. Dieser Punkt führte zu äusserst scharfen Divergenzen zwischen den Physikern, die Mach folgten, und denen, die Einstein folgten. Machs Einstellung verlangt, dass unsere Theorien niemals mehr als unsere eigenen Erfindungen sein können, die der Vorhersage dienen, was geschieht, wenn wir so-und-so tun. Daraus folgt, dass Theorien in einem grundsätzlichen Sinn nie etwas über die Welt aussagen können in der wir leben. Sie werden gebraucht und kultiviert, weil sie zukünftige Erfahrungen voraussagen. Doch bleibt es das grösste der 10 11 12

Ebd., 23. Descartes’ Selections, ed. R. Eaton (New York: Scribners, 1953), 178. A. Einstein, Ideas and Opinions, 295.

Theorien der Physik

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Mysterien, warum einige Theorien mit ihren Voraussagen Erfolg haben, andere aber nicht. Auf diesem Weg verleiht Machs Perspektive dem gesamten Unterfangen der Physik eine neue Bedeutung. Sie verlangt nicht nur nach einer unterschiedlichen Interpretation der Natur der Gegenstände, die in der Physik vorgeschlagen werden, sondern davon, was Physik überhaupt ist. 8.4

Die Theorie von W. Heisenberg

Werner Heisenberg stimmte weder Mach noch Einstein zu. Für ihn sind atomare Partikel zwar nicht einfach Fiktionen, wie Mach dachte, aber ihre Realität ist von der Realität beobachtbarer Gegenstände grundlegend verschieden. Aus seiner Sicht sind atomare Elementarteilchen vielmehr mathematische Möglichkeiten. Er erklärt dies damit, dass solche Teilchen weder sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften haben, noch irgendwelche Form von Sein für sich beanspruchen können: Wenn man eine genaue Erklärung der elementaren Teilchen geben möchte – und hier liegt die Betonung auf „genau“ – ist das einzige, was als Beschreibung festgehalten werden kann, eine Wahrscheinlichkeitsfunktion … nicht einmal … Sein gehört zu dem was beschrieben wird. Es handelt sich um eine Seinsmöglichkeit oder Seinstendenz.13 Das bedeutet nun wiederum nicht, dass die Dinge nur mathematischer Art wären. Die Wirklichkeit hat nach Heisenberg ein doppeltes Gesicht: Da ist einerseits die Energie, „die primäre Substanz dieser Welt“; andererseits gibt es mathematische Gesetze, die die spezifischen Formen der Energie möglich machen. Deshalb lautet seine zuversichtliche Vorhersage: In der modernen Quantentheorie gibt es keinen Zweifel, dass elementare Teilchen letztlich mathematische Formeln sind … die mathematischen Formeln, auf die sich die elementaren Teilchen beziehen, werden sich als Lösungen eines ewigen Bewegungsgesetzes der Materie entpuppen.14 Tatsächlich konzipiert Heisenberg atomare Elementarteilchen in so grundlegend mathematischer Weise, dass es nichts an ihnen gibt, das sich einer mathematischen Erklärung entziehen könnte. So kann er sagen: 13 14

W. Heisenberg, Physics and Philosophy, 70. Ebd., 71–72.

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8. Kapitel

Wenn die moderne Wissenschaft sagt, dass das Proton eine bestimmte Lösung einer fundamentalen Gleichung der Materie ist bedeutet das, dass wir alle möglichen Eigenschaften des Protons mathematisch ableiten können und die Richtigkeit der Lösung in jedem Detail experimentell bestätigt werden kann.15 Diese Sicht einer mathematisch vollständig explizierbaren Gesamtwirklichkeit steht hinter Heisenbergs berühmter Interpretation der so genannten „Unbestimmtheitsrelationen“, die zwischen dem Impetus und der räumlichen Position eines subatomaren Teilchens auftreten. Die Unbestimmtheit tritt auf, weil die Position des Teilchens nur eruiert werden kann, wenn man es auf etwas prallen lässt, das massiv genug ist, um das Teilchen zu stoppen. In diesem Fall wissen wir zwar wo das Teilchen ist, aber wir können nicht mehr herausfinden wie schnell es unterwegs war. Um andererseits den Impetus eines Teilchens bestimmen zu können, müssen wir es mit etwas kollidieren lassen, das nicht massiv genug ist, um es zu stoppen. Wenn wir nun die Masse des Zielobjekts kennen, können wir die Geschwindigkeit des Teilchens mittels der gemessenen Verschiebung dieses Objekts berechnen. Nachdem das Partikel aber mit dem anderen Gegenstand zusammengestossen ist, kann seine Position nicht mehr ausgemacht werden, da seine Geschwindigkeit nach dem Abprall dermassen hoch ist. Aus diesem Grund ist es unmöglich, den Impetus und die Position des Teilchens gleichzeitig zu bestimmen; die Bestimmung der einen Grösse verhindert die Bestimmung der anderen. Nun ist diese Art von Unbestimmtheit nicht so seltsam, wie man vielleicht meinen könnte. In unserer Alltagswirklichkeit gibt es viele Unbestimmtheitsrelationen. Weiter oben habe ich auf die Unbestimmtheit hingewiesen, die auftritt, wenn wir die Wassertemperatur in einem Glas herausfinden wollen, und dazu ein Thermometer hinein halten. Dieser Akt verändert die Wassertemperatur. Der Akt der Informationsbeschaffung selbst steht unserem Ziel im Weg; es entsteht eine Unbestimmtheitsrelation zwischen dem Akt und dem angestrebten Wissen. Doch die Sicht, die Heisenberg von der Natur eines Atoms und anderer Partikel hatte, forderte eine sehr eigentümliche Interpretation der Unbestimmtheit zwischen dem Impetus und der räumlichen Position atomarer Partikel heraus, die als die „Kopenhagen-Interpretation“ bekannt geworden ist. Da er von der Annahme ausging, die Wirklichkeit sei „in jedem Detail“ mathematisch bestimmbar, die gleichzeitige Bestimmung des Impetus und der Position eines Partikels aber unmöglich war, kam Heisenberg zum Schluss, Partikel 15

Ebd., 74–75.

Theorien der Physik

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könnten nicht gleichzeitig Geschwindigkeit und Position haben. Das bedeutet, dass jedes Teilchen, dessen Impetus oder Position wir uns zu berechnen entschliessen, nur gerade diejenige der beiden Eigenschaften hat, die wir zu bestimmen suchen! Wenn die Geschwindigkeit eines Teilchens bekannt ist, hat es eben keine räumliche Position; wenn die Position eines Teilchens bekannt ist, hat es keine Geschwindigkeit. Heisenberg räumt ein, dass diese Schlussfolgerung bizarr anmutet: Dies ist ein äusserst seltsames Resultat, da sich daraus zu ergeben scheint, dass [unsere] Beobachtung eine entscheidende Rolle im Ereignis spielt, und dass die Wirklichkeit davon abhängt, ob wir sie beobachten oder nicht.16 Heisenberg fügt jedoch hinzu, dass wir uns darauf einstellen müssen, unsere gewöhnlichen oder „klassischen“ Begriffe aufzugeben, wenn wir es mit der Welt subatomarer Teilchen zu tun haben.17 Einstein lehnte diese Sicht ab. Für ihn wies die Unbestimmtheit zwischen der Geschwindigkeit und der räumlichen Position eines Teilchens nicht auf irgendwelche Schranken der Wirklichkeit hin, sondern auf unsere limitierten Fähigkeiten, subatomare Ereignisse zu identifizieren und zu berechnen – ebenso wie das Beispiel des Thermometers auf unsere Grenzen in der Bestimmung der aktuellen Wassertemperatur hinweist. Die Differenz zwischen diesen beiden Physikern lag im unterschiedlichen Status, den sie dem mathematischen Aspekt im Verhältnis zu allen anderen Aspekten einräumten. Wir haben schon gesehen, dass Einstein, gegenüber Mach, den mathematischen Aspekt unserer Erfahrung und unseres Denkens für ebenso real hielt wie den sensorischen, so dass der Erfolg mathematischer Erklärungen uns zur Annahme der Existenz der in der Physik postulierten Gegenstände berechtigt. Aber Einsteins Wertschätzung der Mathematik ging nun nicht so weit, ihn davon zu 16 17

Ebd., 52 Siehe ebd., 145. Es sollte berücksichtigt werden, dass es hier nicht darum geht, Einsteins Ansicht über die von Heisenberg zu stellen oder andere Versionen der Kopenhagener Quantenphysik zurückzuweisen; noch weniger geht es darum, eine bestimmte Version der Newtonschen Mechanik zu verteidigen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sowohl Einstein als auch Heisenberg eine reduktionistische Sicht der Wirklichkeit, und folglich der Atomtheorie, vertreten. Obwohl beide zu vielen Schlussfolgerungen in der Physik gelangen, die evidentiell gerechtfertigt sind, beinhalten deren Argumente doch auch Verzerrungen, die auf den reduktionistischen Begründungen dieser Schlussfolgerungen beruhen.

204

8. Kapitel

überzeugen, dass was immer mathematisch nicht explizierbar ist, deswegen auch irreal sein muss. Angesichts des exaltierten Status, den Heisenberg der Mathematik zuschrieb, soll Einstein einmal gesagt haben: Nicht alles, was gezählt werden kann, zählt; und nicht alles, was zählt, kann gezählt werden. 8.5

Welchen Unterschied machen solche Theorien?

Wir sind kurz auf einige Wirklichkeitsverständnisse eingegangen, die zu äusserst unterschiedlichen Interpretationen der Atomtheorie geführt haben. Angesichts des Ausmasses dieser Divergenzen ist es wohl nicht zu viel gesagt, dass wir es mit drei verschiedenen Atomtheorien zu tun haben, die je zu einer anderen Art und Weise führt, wie Physik praktiziert wird. Aus Machs Perspektive ist es zum Beispiel nicht sinnvoll, den Nachweis der Existenz von Atomen und subatomaren Teilchen erbringen zu wollen. Da es sich um Fiktionen handelt, wären irgendwelche Experimente zur Bestätigung ihrer Realität etwa so angebracht, wie den winterlichen Nachthimmel nach St. Nikolaus’ Schlittengefährt absuchen zu wollen. Andererseits haben Physiker, die Machs Perspektive ablehnten, enormen Aufwand betrieben, um die Existenz der von ihnen postulierten theoretischen Gegenständen nachzuweisen. In diesem Zusammenhang ist die Neutrino-Hypothese von Wolfgang Pauli interessant. Paulis Erfindung hatte ebenso zum Ziel, eine Reihe von Beobachtungen zu erklären, wie das Energieerhaltungsgesetz zu bekräftigen. In beiderlei Hinsicht war die Hypothese ein Erfolg, und später konnte sie noch weitere Erklärungslücken füllen. Doch viele Physiker störten sich daran, dass das postulierte Neutrino aufgrund seiner geringen Ausdehnung nicht beobachtet werden konnte. Sie waren von der Möglichkeit beunruhigt, es mit einer blossen Erfindung zu tun zu haben. Gemäss der Theorie waren Neutrinos so klein, dass sie nur selten mit anderen Objekten kollidierten. Ein Wissenschafter äusserte die Vermutung, dass ein einzelnes Neutrino „das Äquivalent von 50 Lichtjahren soliden Bleis“ zu durchqueren hätte, um mit dem Kern eines Atoms zusammenzustossen; und dass ein Schutzwall, der ein Neutrino-Strahl ausdünnen könnte, den Durchmesser von 100’000’000 Sternen haben müsste.18 Aus diesem Grund gingen viele Wissenschafter zunächst davon aus, Neutrinos seien ganz und gar unmöglich zu entdecken.

18

Siehe P. Morrison, “The Neutrino,” Scientific American (Jan. 1956): 61.

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Im Jahr 1956 wurde die scheinbar unmögliche Aufgabe dennoch gelöst.19 Doch kostete der Nachweis ein riesiges Ausmass an Genialität, Ausrüstung, Zeit und Geld. Die immensen Kosten und Anstrengungen verdeutlichen das Motiv der Physiker, die an diesem Projekt beteiligt waren. Das Motiv war der Glaube, dass Theorien Versuche sind, die Wirklichkeit zu erforschen. Anders gesagt, Theorien werden erfunden um herauszufinden was wirklich existiert, und worin es b­ esteht. Mein Punkt ist der, dass ein solcher Glaube eine philosophische Perspektive voraussetzt, die mindestens die logische, mathematische, räumliche, phy­sische und sensorische Dimension unserer Erfahrung als Teil der Wirklichkeit annimmt. Egal, ob sich jene Physiker der Übernahme einer solchen Per­spektive bewusst waren oder nicht, die Wissenschaft kommt ohne diese Art von Perspektive nicht aus. Wissenschaft ist auf ein Wirklichkeits­ verständnis angewiesen, und gedeiht am Besten auf dem Hintergrund eines Verstehenshorizontes, der den vielschichtigen Ebenen unserer Erfahrung Gerechtigkeit widerfahren lässt. Vielleicht ist an dieser Stelle ersichtlich geworden, warum trotz der Tatsache, dass alle diese Denker die Atomtheorie übernommen haben, jeder e­ twas Anderes darunter verstand. So verschieden waren ihre jeweiligen Auffassungen, dass man fairerweise behaupten kann, das zwanzigste Jahrhundert habe drei verschiedene Atomtheorien hervorgebracht, nicht nur kleinere oder grössere Variationen ein und derselben Theorie. Für Mach bedeutete die Atomtheorie die Erfindung eines nützlichen Systems von fiktiven Mikroentitäten. Für Einstein bedeutete sie die Annahme rein physischer Objekte, die niemals Teil unserer Erfahrung werden können. Aus der Sicht Heisenbergs ging es darum, wirklichkeitskonstituierende Mikroentitäten zu postulieren, die, obwohl als Träger von physischer Energie vorgestellt, wesentlich mathematischer Natur waren. Diese weitreichenden Divergenzen bezüglich der Natur von Atomen und Partikeln widerspiegeln die Divergenzen zwischen den jeweiligen Wirklichkeitstheorien dieser Denker, die äusserst unterschiedliche Hierarchisierungen der Aspekte unserer Erfahrung vornahmen. Diese hierarchischen Ordnungen widerspiegeln ihrerseits verschiedene Auffassungen davon, was göttlichen Status inne hat.

19

Siehe R. Gale’s Theory of Science (New York: McGraw Hill, 1979), 278 ff., und A. McDonald, J. Klein, und D. Wark, “Solving the Solar Neutrino Problem,” Scientific American (April 2003): 40–49.

206 8.6

8. Kapitel

Die Bedeutung der Religion in diesen Theorien

Es sollte nun keinerlei Schwierigkeiten mehr bereiten, den tatsächlichen Einfluss primär-religiöser Überzeugungen auf diese Theorien auszumachen. Aber anstatt diesen Punkt als Unterstellung zu präsentieren, die zu rechtfertigen ich mich gezwungen sehe, können wir die erwähnten Denker selbst zu Wort kommen lassen. In einem Kommentar, der dem weiter oben zitierten Kommentar von Mill ähnlich sieht, sagt Mach zum Beispiel: Die Behauptung trifft also zu, dass die Welt bloss aus unseren Sinneseindrücken besteht. In diesem Fall beschränkt sich unser Wissen nur auf Sinneseindrücke.20 In dieser Passage wird dem sensorischen Aspekt derselbe Status verliehen, den wir als definitorisches Merkmal des religiösen Glaubens identifiziert haben. Mehr noch, Mach führt keine weiteren Argumente für die Begründung dieser grundlegenden Auffassung an. Wie im Fall von Mill, betrachte ich diese Passage als Ausdruck von Machs Bekenntnis; sie stellt den religiösen Glauben dar, der Machs Denken leitete und regulierte. Einstein insistierte hingegen darauf, dass der logische und/oder mathe­ matische Aspekt ebenso zentraler Bestandteil der Wirklichkeit ist. Tatsächlich gelangte er zur Überzeugung, dass unsere Sinneseindrücke durch die Interaktion physischer Objekte und unserem Bewusstsein verursacht würden, so dass dem sensorischen Aspekt keine unabhängige Existenz zukommt. Obwohl Einstein mit Mach übereinstimmte, dass die Gegenstände unserer direkten Erfahrung rein sensorischer Art seien, haben sie für ihn doch keinen unabhängigen, göttlichen Status; dieser Status kommt allein der Materie und den Prinzipien des rationalen Denkens zu. Dieser Glaube bringt Licht in Einsteins eigenes Denken. Die Annahme einer Hypothese ist von seiner grundlegenden Überzeugung geleitet, dass alles, was rational ist, auch wirklich ist. Hier ist es die Rationalität und nicht die Sinneswahrnehmung, die zur Richtschnur des Wirklichen erhoben wird. Einsteins Glaube an die Vernunft basiert wiederum auf der Überzeugung, dass die Gesetze der Logik und der Mathematik für die gesamte Wirklichkeit gelten, da sie die regulativen Prinzipien sind, die jegliche Ausformung der Materie überhaupt möglich machen. Diese Prinzipien, zusammen mit der Materie, sind selbst-existent und deshalb göttlicher Art. Soviel lässt sich aus Einsteins eigenen Worten entnehmen: 20 E. Mach, The Analysis of Sensations, 327 n. 14.

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Ich kann an keinen Gott glauben, der seine Geschöpfe belohnt und bestraft, oder einen Willen wie wir hat. Ich bin zufrieden mit … dem Bewusstsein und der Ahnung der wunderbaren Struktur der existierenden Welt … der Vernunft, die sich in der Natur zeigt.21 Schliesslich haben wir gesehen wie Heisenberg mathematischen Begriffen einen besonderen Status zuschreibt, und Ähnliches zu sagen hat wie Descartes, in einem von uns weiter oben angeführten Zitat.22 Gemäss Heisenberg sind alle unsere nicht-mathematischen Begriffe einem generellen Zweifel ausgesetzt, da „wir nicht wissen, wie weit sie uns helfen, uns in der Welt zurechtzufinden“.23 Mathematische Begriffe sind jedoch immun gegen jede Art von Zweifel. Sie reflektieren das Wesen der Wirklichkeit insofern alles Kalkulierbare real, alles Nicht-Kalkulierbare irreal ist. Die Voraussetzung dieser Regel ist die Überzeugung, dass mathematische Gesetze die selbst-existenten Prinzipien sind, die alles andere erst möglich machen. So gewinnt der mathematische Aspekt göttlichen Status. Das heisst, hinter der Theorie Heisenbergs steht einmal mehr eine religiöse Überzeugung. Ich brauche diese Behauptung nicht weiter zu begründen, da sie von Heisenberg selbst aufgestellt wird: Wir können hoffen, dass sich das fundamentale Bewegungsgesetz als ein mathematisch einfaches Gesetz herausstellt … Es fällt schwer, irgend­ welche guten Gründe für diese Hoffnung auf Einfachheit anzu­geben – ausser der Tatsache, dass es bisher immer möglich war, die fundamentalen Gleichungen der Physik als einfache mathematische Formeln wiederzugeben. Diese Tatsache stimmt mit der pythagoräischen Religion überein, und viele Physiker teilen deren Glauben in dieser Hinsicht, obwohl kein überzeugendes Argument, dass sich die Dinge so verhalten müssen, bisher gefunden werden konnte.24 Den postulierten Gegenständen dieser Theorien wird, zusammenfassend gesprochen, eine sehr unterschiedliche Natur zugeschrieben. Diese Zuschreibung geschieht unter der Kontrolle dessen, was der jeweilige Denker als den fundamentalen Aspekt der Gesamtwirklichkeit betrachtet. Diejenigen 21 22

A. Einstein, ebd., 11. Für eine ausführlichere Behandlung der rationalistischen Grundlage von Heisenbergs Interpretation der Unschärferelationen siehe meinen Artikel: “A Critique of Descartes and Heisenberg,” Philosophia Reformata (45e Jaargang 1980- Nr. 2): 157–77. 23 Heisenberg, Physics and Philosophy, 92. Siehe auch 144–46. 24 Ebd. 72–73.

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8. Kapitel

Aspekte, die das fundamentale Wesen der Wirklichkeit ausmachen, erhalten ihre vorgebliche Priorität vor allen anderen Aspekten dadurch, dass sie etwas identifizieren, das selbst-existenten und unbedingten Charakter hat, und alles andere möglich und aktuell macht. Die Theorien divergieren letztlich in Abhängigkeit davon, was ihre jeweiligen Vertreter für göttlich erachten.25 Es sollte zudem deutlich geworden sein, dass die eben besprochenen Theorien allesamt durch die eine oder andere Variante eines pagan-religiösen ­Glaubens reguliert werden. Egal wie brillant und raffiniert die verschiedenen Gegenstandshypothesen erscheinen mögen, und egal wie imposant das Auftreten der durch sie ermöglichten Erklärungen sein mag, aus einer theistischen Perspektive sind diese Hypothesen und Erklärungen jedoch immer schon teilweise falsifiziert. Denn die Natur der postulierten Gegenstände wird immer auf bestimmte Aspekte limitiert, denen vermeintlich göttlicher Status eignet. Wir haben zudem gesehen, wie diese religiösen Differenzen über die verzerrte Darstellung theoretisch postulierter Gegenstände hinausgreifen, und die Auffassungen davon, was Physik überhaupt ist und wie sie praktiziert werden sollte, in sehr unterschiedliche Richtungen drängen. Mit allem Respekt vor dem Einfallsreichtum und der Genialität, die das Gebäude der modernen Atomphysik hervorgebracht haben, kann die derzeit vorherrschende Interpretation der­ selben für Juden, Christen und Muslime nicht akzeptabel sein. Aus theistischer 25

Um mehr darüber zu erfahren, wie der Glaube an Gott zu einer nicht-reduktiven Sicht­ weise von Zahl, Raum und Materie führt, siehe Dooyeweerd, New Critique, bes. vol. 2, 93-106. Diese Position wurde von folgenden Denkern weiterentwickelt, so z.B.: M.D. Stafleu. “Analysis of Time in Modern Physics,” Philosophia Reformata 35 (1970); M.D. Stafleu. “Metric and Measurement in Physics,” Philosophia Reformata 37 (1972); M.D. Stafleu. “The Mathematical and Technical Opening Up of a Field of Science,” Philosophia Reformata 43 (1978); M.D. Stafleu. Time and Again: A Systematic Analysis of the Foundations of Physics (Toronto: Wedge, 1980); M.D. Stafleu. “Theories as Logically Qualified Artifacts,” Philosophia Reformata 46, 47 (1981, 1982); M.D. Stafleu. “The Kind of Motion We Call Heat,” Tydscrif vir ChristelikeWetenscap, 1984; M.D. Stafleu. Theories at Work (Lanham, Md.: University Press of America, 1987); M.D. Stafleu. “Criteria for a Law Sphere,” Philosophia Reformata 53 (1988); M.D. Stafleu. “The Cosmochronological Idea in Natural Science,” in Christian Philosophy at the Close of the Twentieth Century, ed. S. Griffioen und B. Balk (Kampen: Kok, 1995); D. Strauss. “The Significance of Dooyeweerd‘s Philosophy for the Modern Natural Sciences,” in ibid., 127-38; R. Clouser. “A Brief Sketch of Dooyeweerd‘s Philosophy of Science,” in Facets of Faith and Science, ed. J. van der Meer (Lanham, Md.: University Press of America, 1996), vol. 2, 81-99; M.D. Stafleu. “The Idea of Natural Law,” Philosophia Reformata 64 (1999); D. Strauss. “Kant and Modern Physics,” South African Journal of Philosophy 19, no. 1 (2000), 26-40; D. Strauss. Paradigms in Mathematics, Physics, and Biology (Bloemfontein: Teksor, 2001); M.D. Stafleu. “Evolution, History, and the Individual Character of a Person,” Philosophia Reformata 67 (2002).

Theorien der Physik

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Perspektive wäre die Physik besser beraten, wenn sie auf dem Boden einer nicht-reduktiven Theorie der Gesamtwirklichkeit vorangetrieben würde, die sich weigert, einem besonderen Aspekt des erschaffenen Universums göttlichen Status beizumessen.

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9. Kapitel

9. Kapitel

Theorien der Psychologie 9.1 Einleitung In der psychologischen Theoriebildung reichen die theoretischen Unterschiede ebenso tief wie in der Mathematik und Physik. Auch hier gehen die unterschiedlichen Auffassungen, worin die Identität dieser Disziplin überhaupt bestehen soll, auf grundlegend verschiedene Wirklichkeitsverständnisse zurück. Wir haben schon gesehen, wie, allgemein gesprochen, diese Situation zustande kommt. Unterschiedliche Vorstellungen davon, was die Wirklichkeit „im Innersten zusammenhält“ kontrollieren das Verhältnis eines besonderen Aspekts der Erfahrungswirklichkeit zu allen anderen Aspekten. Die resultierende Auffassung dieser Verbindung pflanzt sich dann in jedem wissenschaftlichen Begriff fort, der in der Erforschung dieses Aspekts zum Tragen kommt, und vor allem in den Begriffen, die als Hypothesen erfunden und vorgeschlagen werden. Wir haben auch gesehen, wie die unterschiedlichen Wirklichkeits­ verständnisse durch das reguliert werden, was als an sich göttlich behauptet oder vorausgesetzt wird. Diese Einsichten kommen auch in der Psychologie zum Tragen. Die Psychologie als eigenständige Wissenschaft wurde im neunzehnten Jahrhundert geboren; sie ist untrennbar mit den Namen W. Wundt und H. von Helmholtz verbunden. Es war von Helmholtz, der das Gebiet der Psychologie als erster in der Erforschung des „Psycho-sensorischen“ sah. Andere, darunter C.I. Lewis, haben den Ausdruck „sinnlich“ (sensuous) dafür verwendet. Trotz den sprachlichen Unterschieden ist es klar, dass derjenige Aspekt unserer Erfahrung gemeint war, der durch Wahrnehmung und Gefühl charakterisiert ist. Ich bezeichne diesen Aspekt mit dem Ausdruck „sensorisch“, und beziehe mich damit auf eine übergreifende Art von Eigenschaft und Gesetzmässigkeit, zu denen visuelle, taktile, gustatorische, olfaktorische und auditorische Eigenschaften gehören (wie zum Beispiel rot, weich, salzig, herb und laut), ebenso wie die Gesetzmässigkeiten, durch die diese Eigenschaften verbunden sind (wie zum Beispiel Assoziationsgesetze oder die Inkompatibilität von Rot-Sein und Blau-Sein). Bevor wir uns an die Analyse einiger bekannter Theorien machen, die meine Behauptung der religiösen Kontrolle der psychologischen Theoriebildung weiter illustriert, bleibt zu bemerken, dass die Wirklichkeitsverständnisse, auf deren Boden die Vertreter dieser Theorien operieren, oft nicht so deutlich

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_010

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hervortreten wie im Fall der Mathematik und der Physik. In der Mathematik, zum Beispiel, sind die konkurrierenden Perspektiven oft schon in der Bezeichnung einer Theorie als formalistisch, logizistisch, intuitionistisch, empiristisch, usw. enthalten. In der Psychologie dagegen entsprechen die Namen der bedeutendsten Theorien keineswegs den Wirklichkeitsperspektiven, die diese Theorien regulieren. Auch sind die meistverbreiteten Definitionen dieser Wissenschaft so mehrdeutig, dass keine präzisen Rückschlüsse auf das Verhältnis des erforschten Aspekts zu den anderen Aspekten möglich sind. Die (vor allem während den ersten zwei Dritteln des vergangenen Jahrhunderts) einflussreichsten Definitionen der Psychologie waren: (1) Die Psychologie ist die Wissenschaft des menschlichen Bewusstseins, und (2) die Psychologie ist die Wissenschaft des menschlichen Verhaltens. Die Unterschiede zwischen diesen Definitionen weisen auf einen grundsätzlichen Streit hin, worin der Gegenstandsbereich der Psychologie bestehen soll. Die erste und ältere Definition hebt das Bewusstsein in den Fokus der Untersuchung; die zweite konzentriert sich auf das körperliche Verhalten. Die Ironie ist: Obwohl die neuere Definition die ältere aufgrund der kritisierten Ungenauigkeit und Mangel an Präzision zurückwies, kranken beide Definitionen an derselben begrifflichen Unschärfe. Um zu sehen, warum keine dieser beiden Definitionen in der Lage ist, das Gebiet der Psychologie adäquat von anderen Wissenschaften abzugrenzen, müssen wir uns die vorgängige Diskussion, wie wissenschaftliche Disziplinen unterschieden werden, vor Augen führen. Dort haben wir bemerkt wie eine Wissenschaft entsteht, um einen besonderen Aspekt, der von den zu erklärenden Daten abstrahiert wird, erforschen zu können. Wir haben auch gesehen, wie bestimmte Wissenschaften über verschiedene Aspekte hinweg theoretisieren, und diese Aspekte in den vorgeschlagenen Erklärungsmodellen verbinden. Doch lassen die beiden erwähnten Definitionen der Psychologie jegliche aspektspezifische Abgrenzung vermissen. Die ältere Definition bietet dazu keinen Ansatzpunkt, weil sie die Psychologie auf das menschliche Bewusstsein ausrichtet. Sie sagt nicht, welche Aspekte des mentalen Lebens erforscht und erklärt werden sollen. Das mentale Leben des Menschen umfasst Akte des Denkens, des Glaubens, des Fühlens, des Wünschens und des Willens. Alle diese Akte können die Mathematik, die Kunst, die Ethik, die Politik oder die Ökonomie zum Gegenstand haben. Und nicht nur können diese mentalen Akte jeden beliebigen Erfahrungsaspekt zum Gegenstand haben, sondern – vom Standpunkt der vortheoretischen Erfahrung aus gesehen – besitzen sie selbst auch alle diese Aspekte. Mentale Akte können gezählt werden, und sie können faszinierend, liebend, treulos oder Geld wert sein, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Und selbstver­ständlich haben sie auch räumlichen, physischen, biotischen, sensorischen, logischen, etc. Charakter. Wenn wir also keine Ahnung haben, auf welchen

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9. Kapitel

Aspekt (oder Aspekte) unserer mentalen Akte, oder auf welche intentionalen Gegenstände sich eine Theorie richtet, bleiben wir hoffnungslos im Dunkeln. Dieser misslichen Situation kann nur mit einer adäquaten Umschreibung des jeweiligen Forschungsgebietes abgeholfen werden. Dieselbe Unbestimmtheit haftet unweigerlich auch dem Ausdruck „Wissenschaft des menschlichen Verhaltens“ an. Es bleibt im Dunkeln, welche Aspekte des menschlichen Verhaltens gemeint sind. Menschliches Verhalten manifestiert ausnahmslos alle Aspekte, deren Erforschung die verschiedenen Wissenschaften gewidmet sind. Ein Tanz, zum Beispiel, kann ästhetisch ansprechend, ökonomisch lohnenswert, körperlich anspruchsvoll, biologisch gesund, und sensorisch anstrengend sein. Gleichzeitig kann er Teil einer religiösen Feier sein, viel oder wenig Platz beanspruchen, und die für eine Kultur oder Zeitepoche typischen Merkmale manifestieren. Keine einzige Wissenschaft kann sinnvollerweise für sich beanspruchen, alle Aspekte dieses menschlichen (Tanz)Verhaltens erklären zu wollen. Die Psychologie sollte ihren eigenen „Grund und Boden“ haben; das heisst, ein oder mehrere Aspekte, die als Eintrittstelle für ihre spezifischen Fragestellungen an das menschliche Verhalten dienen können. Einige Psychologen haben die Schwierigkeiten in diesen verbreiteten Definitionen wohl erkannt, aber nur, um sie gleich wieder als unwichtig abzutun. Isaacson, Hutt und Blum gestehen, dass Ausserhalb der Psychologie versuchen viele wissenschaftliche Disziplinen menschliches Verhalten durch die Konstruktion und Überprüfung von Hypothesen zu erklären; und viele der Forschungsinteressen, die zur Bildung von psychologischen Theorien führen, sind exakt dieselben wie in anderen Wissenschaften.1 Ihre Schlussfolgerung ist die folgende: Wenn die Psychologie überhaupt von anderen Wissenschaften abgrenzbar sein sollte, dann ist es durch die stärkere Hervorhebung der Absicht, den Menschen als totale Funktionseinheit zu begreifen.2 Die ersichtliche Schwierigkeit an diesem versuchten Ausweichmanöver ist die, dass keine einzelne Wissenschaft den Menschen an sich zum Gegenstand haben kann. Wenn immer eine Theorie eine biologische Erklärung vorschlägt, 1 2

R. Isaacson, M. Hutt, und H. Blum, Psychology: The Science of Behavior (New York: Harper & Row, 1965), 6. Ebd., 7.

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geht es um Biologie; wenn eine physikalische Erklärung aufgestellt wird, haben wir es mit Physik zu tun, usw. Deshalb müssen wir über die beiden vorherrschenden Definition hinausgehen, und uns fragen, wie einzelne Wissenschafter das Gebiet der Psychologie faktisch eingrenzen, und es mit allen anderen Aspekten der Wirklichkeit verbinden. Nur so können wir zu den Wurzeln der Unterschiede zwischen zwei konkurrierenden Theorien vordringen. Und nur auf diesem Weg können wir die ontologischen und religiösen Voraussetzungen rekonstruieren, die diese Theorien steuern. Unsere weiter oben präsentierte Aufstellung der verschiedenen Aspekte unserer Erfahrungswirklichkeit beinhaltete einen sensorischen Aspekt. Diesem voran gingen der physische und der biotische Aspekt, gefolgt wurde er vom logischen, historischen, linguistischen und sozialen Aspekt. Die Reihenfolge dieser Aspekte wird uns später noch beschäftigen. Für den Moment genügt es zu sagen, dass in der angestrebten Ordnung die jeweils „tieferen“ Aspekte Bedingungen für das Auftreten der „höheren“ Aspekte sind. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass die Konflikte, die zwischen verschiedenen psychologischen Theorien auftreten, oftmals das Verhältnis betrifft, in dem der sensorische Aspekt zu seinen nächsten Nachbarn auf der Liste steht. Merkwürdig ist allerdings, dass Philosophen wie Berkeley, Hume und Mill, gefolgt vom Physiker Mach, die verschiedenen Aspekte auf den sensorischen zu reduzieren suchten, die meisten in der Psychologie tätigen Personen diesen Aspekt hingegen erklären wollten, in dem sie ihn auf einen anderen zurückführten! Jean Piaget hat diese verschiedenen Trends in der psychologischen Theoriebildung erkannt und die resultierenden Theorien danach klassiert, ob sie den sensorischen Aspekt auf den Aspekt der Biologie oder der Physik zu reduzieren versuchen (weiter unten auf unserer Liste), oder ob sie ihn in der Soziologie aufgehen lassen wollen (weiter oben auf der Liste).3 Piaget bezeichnet diese Theorien als „reduktionistisch“ und lehnt beide Formen des Reduktionismus zugunsten einer Sichtweise ab, die er „konstruktivistisch“ nennt. Auf ihrer Suche nach einem spezifischen Standort zwischen dem Orga­ nischen und dem Sozialen hat sich die Psychologie der Erforschung des Verhaltens zugewandt … Verhalten kann jedoch von verschiedenen 3 J. Piaget, Main Trends in Psychology (New York: Harper Torchbook, 1973). An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass, obwohl Dooyeweerd eine extensive Verteidigung der Liste von Aspekten gibt, ich dies nicht alles wiederholen kann und deshalb gesagt habe, dass ich Dooyeweerds Liste nur provisorisch verwende. Piaget scheint, so wie viele andere Denker auch, dieselbe Liste zu akzeptieren oder zumindest etwas, was ihr sehr nahe kommt. Aber, um es nochmals zu wiederholen, weder Piagets Kritik an reduktionistischen Theorien noch meine Darlegung von Dooyeweerds Kritik an diesen hängt davon ab, dass genau diese Liste richtig ist. Die Gründe dafür sind in Anmerkung 4 im 10. Kapitel dargelegt.

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9. Kapitel

Standorten her untersucht werden … Es ist wichtig zu bemerken, dass wenn der reduktionistische Denkansatz zurückgelassen wird, um im ­Verhalten als solchem das spezifisch Psychologische zu bestimmen, ein konstruktivistischer Ansatz gewählt wurde …4 Ich pflichte Piaget bei, dass „reduktionistische“ Theorien zurückgewiesen werden sollten. Meine Gründe für diese Ablehnung gehen jedoch über die begrifflichen Sackgassen hinaus, auf die Piaget hinweist, und zielen gleichermassen auf die pagan-religiösen Voraussetzungen, die diese Theorien inspirieren und am Leben erhalten. Um den Einfluss religiöser Annahmen auf psychologische Theorien zu illustrieren, beginnen wir mit einigen Theorien, in denen die psychische Dimension zum Opfer einer „abwärts“ gerichteten Reduktion auf den physischen und/oder biotischen Aspekt wird. Diese Theorien werden oft als „behavioristisch“ bezeichnet. 9.2

Die Theorien von J.B. Watson, E.M. Thorndike und B.F. Skinner

Der Ausdruck „Behaviorismus“ wurde von J.B. Watson geprägt, der eine Sicht der Psychologie propagierte, die sich allein an das halten sollte, was beobachtet werden kann. Dadurch wollte er mit der Art von Theorie brechen, die, wie etwa bei W. James, von der Definition der Psychologie als Wissenschaft des Bewusstseins ausgingen. Wie Watson selbst sagt: Um zu bemerken, wie unwissenschaftlich der Begriff [des „Bewusstseins“] ist, sollten wir uns kurz William James Definition der Psychologie an­­ schauen. „Psychologie ist die Beschreibung und Erklärung von Be­wusst­seinszuständen als solchen.“ Indem er von einer Definition ausgeht, die das voraussetzt, was er zu beweisen gedenkt, umschifft James die Schwierigkeiten mit einem Argument ad hominem … Alle anderen Introspektionisten sind gleichermassen unlogisch. Mit anderen Worten, sie sagen uns nicht, was das Bewusstsein ist, sondern legen alle möglichen Dinge in es hinein; wenn sie es dann zu analysieren beginnen, finden sie natürlich exakt das, was sie hinein gelegt haben.5 Watson fährt fort mit der Behauptung, dass die Vorgehensweise, mit der zum Beispiel die Medizin und die Chemie Fortschritte erzielen, immer an wiederholbare Laborexperimente gebunden ist. Also nimmt Watson diese Wissen­4 5

Ebd., 36. J. Watson, Behaviorism (New York: W. W. Norton, 1925), 5.

Theorien der Psychologie

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schaften zum Modell, um die Psychologie neu zu begründen. Er setzt sich dafür ein, dass „alle subjektiven Ausdrücke wie Eindruck, Wahrnehmung, Bild, Wunsch, Absicht und jedes vom Subjekt her verstandene Denken und Fühlen“ aus dem Vokabular des Behaviorismus gestrichen würden. Der Behaviorist fragt: Warum machen wir nicht das, was wir beobachten können, zum wahren Gebiet der Psychologie? Wir sollten uns an das Beobachtbare halten und unsere Gesetze darauf beschränken. Was aber können wir beobachten? Nun, wir können das Verhalten beobachten – was der Organismus tut oder sagt. Und lassen Sie mich dies vorneweg sagen: Sagen ist tun – das heisst, Verhalten. Verdeckt zu uns selber zu sprechen (denken) ist eine ebenso objektive Art von Verhalten wie Baseball. Die Regel, oder der Massstab, den der Behaviorist ständig vor sich hinhält ist der: Kann ich dieses Verhaltenselement, das ich vor mir sehe, in den Begriffen von „Reiz und Reaktion“ beschreiben?6 Es versteht sich von selbst, dass der einfache Reflexbogen von „Reiz-Reaktion“ niemals ausreichen konnte, um jedes tierische, geschweige denn jedes menschliche Verhalten zu erklären. Aus diesem Grund versuchte E.M. Thorndike die behavioristische Theorie über die engen Grenzen des Erklärungspotentials von Reflexmustern hinaus zu führen. Thorndike nannte dieses Supplement das „Gesetz der Auswirkung“ (law of effect). Es besagt, dass die Konsequenzen früheren Verhaltens auch das zukünftige Verhalten beeinflussen. Gemäss seiner Theorie sollte das so geschehen, dass wenn eine Reiz-Reaktion Sequenz von bestimmten Befriedigungsmomenten (satisfier) oder Verstärker (reinforcer) begleitet ist, die Sequenz gefestigt wird; die Verbindung von Reiz und Reaktion wird hingegen geschwächt, wenn ihr Auftreten von einem „Frustrator“ (annoyer), das heisst von einem gegenläufigem Stimulus, begleitet wird. Obwohl diese Ausdrücke auf unbeobachtbare, innere Zustände der Lust-, oder Schmerzempfindung hinzudeuten scheinen, liess es Thorndike nicht so weit kommen, dass sich solche Zustände in seine Theorie schleichen konnten. Vielmehr hielt er sich an Watsons Programm, und definierte auch die beiden Ausdrücke in gut behavioristischer Manier: Mit einem befriedigenden Zustand ist ein Zustand gemeint, zu dessen Verhinderung das Tier nichts tut, oft indem es sich so verhält, dass der Zustand bewahrt oder erneuert wird. Mit einem frustrierenden Zustand 6

Ibid., 6.

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9. Kapitel

ist andererseits ein Zustand gemeint, zu dessen Erhaltung das Tier nichts tut, oft indem es etwas tut, das zum Ende des Zustands führt.7 Auf diesem Weg gelang es Thorndike, auch jeden Rückgriff auf „Absichten“ zu vermeiden, da es sich bei diesen ebenso um etwas Subjektives und Nicht-Beobachtbares handelt. B.F. Skinner baute auf dem Werk Thorndikes auf. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, bestand in der Erklärung nicht-reflexartiger Reaktionen. Dazu entwickelte er den Begriff einer „operanten“ Reaktion. Diese Art Reaktion unterscheidet sich von einem einfachen Reflexverhalten. Ein einfacher Reflex kann durch ein Gesetz erklärt werden, das einen nicht-konditionier­ten Reiz mit einer nicht-konditionierten Reaktion verbindet, oder einen konditionierten Reiz mit einer konditionierten Reaktion. (Die gesetzmässige Verknüpfung des zuletzt erwähnten Paars setzt natürlich voraus, dass die frühere Konditionierung des Organismus bekannt ist.) „Operante“ Gesetzmässigkeiten gehen über dieses Erklärungsmuster hinaus, indem sie das Verhalten mit Thorndikes Verstärker-Stimuli in Beziehung setzen. In Skinners eigenen Worten: „Der Operant ist durch die Eigenschaft definiert, von der die Verstärkung des Reizes abhängt.“8 Die Gesetzmässigkeiten, die Skinner formulieren will, sollen also nicht nur Reize und Reaktionen verbinden, sondern auch Reaktionen mit ihren Verstärkern. Operante Gesetze ermöglichen die Vorhersage oder Kontrolle einer bestimmte Reaktion, indem sie die Verbindung zwischen den verstärkenden Stimuli und der Klasse der Reaktionen herstellen, von der die besagte Reaktion ein Element ist. Im operanten haben wir es mit Variablen zu tun, die im Gegensatz zum auslösenden Stimulus kein bestimmtes Verhalten „verursachen“, sondern das Auftreten dieses Verhaltens bloss wahrscheinlicher machen. Dann können wir voranschreiten, indem wir zum Beispiel die kombinierte Wirkung mehrerer solcher Variablen untersuchen.9 All das kann als Versuch gewertet werden, Thorndikes „Gesetz der Auswirkung“ auszubauen, das für Skinner zum Mittelpunkt der gesamten Psychologie wurde. In dieser Sicht besteht die Arbeit der Psychologen und Psychologinnen in der Vorhersage oder Kontrolle einer bestimmten Verhaltensweise, indem die Wahrscheinlichkeit ihres Wiederauftretens im Verhältnis zu möglichen Verstärkern berechnet wird. 7 8 9

E.M. Thorndike, The Elements of Psychology (New York: A. G. Seiler, 1913), 2. B.F. Skinner, Science and Human Behavior (New York: New York Free Press, 1965), 66. Ebd., 62.

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Eine adäquate Formulierung der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt muss drei Faktoren umfassen: 1) Die Situation, auf die die ­Reaktion erfolgt, 2) die Reaktion selbst, und 3) die verstärkenden Konsequenzen. Die Verbindungen dieser drei Elemente bilden den Verstär­ kungs­zusammenhang.10 All diesen Theorien gemeinsam ist die totale Verbannung des mentalen Lebens und der Erfahrung des Menschen, die nicht zu seinem direkt beobachtbaren Verhaltensrepertoire gehören, aus der Psychologie. Darunter fallen Gedanken, Gefühle, Absichten und sogar Wahrnehmungen. Schon diese kurze Darstellung sollte ausreichen um zu bemerken, dass hier etwas Seltsames geschieht. Da wir alle in permanenter Tuchfühlung mit unseren eigenen Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen, Absichten etc. sind, drängt sich die Frage auf, warum diese von der Psychologie eigentlich ignoriert werden sollten? Aufschlussreich ist, was Watson von James’ Definition der Psychologie gesagt hatte: Wenn diese von einem Bewusstsein spricht, nimmt sie scheinbar einfach an, was erst zu beweisen ist. Aber sind die Reize und Reaktionen, die den Platz von Denken und Wahrnehmung einnehmen sollten, nicht selbst Gegenstand der Wahrnehmung und der Interpretation? Warum betrachtet der Behaviorismus Wahrnehmungen und Gedanken dann aber als ­Annahmen? Wie kann er behaupten, dass die Existenz von Gedanken und Wahrnehmungen zuerst einmal bewiesen werden müssen? Solch eine Sichtweise kann nur auf dem Hintergrund des grundlegenden Wirklichkeitsverständnisses dieser Denker erhellt werden. Wir können uns diesem Wirklichkeitsverständnis annähern, indem wir uns zunächst dem Menschenbild dieser Denker zuwenden. Die meisten anderen psychologischen Theorien hatten den Menschen als Einheit von Geist und Körper gesehen. So betrachtet, hat es die Biologie und die Medizin mit dem Körper zu tun, die Psychologie dagegen mit dem Geist. Im Kontrast dazu, weist der Behaviorismus die Dualität von Körper und Geist zurück. Der Mensch ist aus seiner Sicht nur eines: Körper. Deshalb ist es allein der Körper, der erforscht und erklärt werden muss, egal welche Wissenschaft sich dieser Aufgabe annimmt. Aber warum lehnt der Behaviorismus eine unterscheidbare, geistige Dimension des Mensch-Seins ab? Der Grund dafür liegt in seinem materialistischen Weltbild. Dass dem behavioristischen Denken eine materialistische Theorie der Wirklichkeit zugrunde liegt, kann auf verschiedenen Wegen gezeigt werden. 10

B.F. Skinner, Contingencies of Reinforcement — A Theoretical Analysis (Englewood Cliffs, N.J.: Appleton-Century-Crofts, 1969), 7.

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Am deutlichsten tritt diese Tatsache aber dadurch hervor, dass alle innere Erfahrung aus der Erklärung des menschlichen Verhaltens ausgeschlossen wird. Denn selbst wenn man die Sicht ablehnt, wonach der Mensch aus Körper und Seele besteht, ist es nicht notwendig, solche Erfahrungen auszuschliessen. Eine Theorie kann sich der Annahme verweigern, dass der Mensch ein zweiteiliges Wesen sei und zur Hälfte aus einem abtrennbaren Etwas namens Geist bestehe. Gleichzeitig kann sie aber durchaus akzeptieren, dass Menschen innere Erfahrungen machen, die in der Erklärung ihres Verhaltens eine wesentliche Rolle spielen. Geht man jedoch von einer materialistischen Perspektive aus, ist scheinbar nicht nur die Existenz eines nicht-physischen Geistes ausgeschlossen, sondern auch die Existenz von inneren, nicht-physischen Erfahrungen und Erlebnissen. Man kann sich denselben Punkt auch noch von einer anderen Seite her deutlich machen. Wenn wir, von aller Theoriebildung abgesehen, einfach beschrei­ ben, was uns allen direkt widerfährt, müssten wir sagen, dass das menschliche Leben dieselben Aspekte aufweist wie alle anderen Dinge. Menschen nehmen einen bestimmten Raum ein, bewegen sich, essen, fühlen, denken und sprechen, usw. Solche Akte haben räumliche, physische, biotische, sensorische, logische und linguistische Eigenschaften. Menschen sind auch Träger von Werten, die sich zum Beispiel auf Wahrheit, Wirtschaftlichkeit, Schönheit, Gerechtigkeit oder Liebe beziehen können. Aber nichts in unserer Erfahrung ist ein exklusiv physischer Körper, oder ein exklusiv nicht-physischer Geist. Dies sind Gegenstandshypothesen, die zur Erklärung des menschlichen Daseins erfunden werden. Solche Dinge werden unter dem Druck eines Wirklichkeitsverständnisses postuliert, das entweder als Theorie vorgeschlagen oder einfach vorausgesetzt wird. Die Perspektive, die hinter der Geist-Körper Dualität steht, hebt zwei Aspekte des menschlichen Daseins hervor, von denen alle anderen Aspekte abhängig gemacht werden. Üblicherweise sind dies der logische und der physische Aspekt. Aus dieser Sicht ist nahe liegend, dass es rein physische Dinge (Körper) und rein nicht-physische Dinge geben muss (Geist). Die restlichen Aspekte können dann als Produkte der Interaktion von Körper und Geist betrachtet werden. Der Behaviorismus, andererseits, lässt sich von einer Perspektive leiten, in der die gesamte Wirklichkeit auf einen einzigen Aspekt – den physischen – beschränkt wird, oder doch allein von diesem abhängig gemacht wird. Der Behaviorismus geht also davon aus, dass entweder (1) nur physische Körper und ihre Beziehungen existieren, oder dass (2) alle nicht-physischen Faktoren und Bedingungen ausschliesslich von physischen Körpern und ihren Beziehungen erzeugt werden. Deshalb liegt die Quelle der Divergenzen zwischen behavioristischen und anderen Theorieansätzen nicht einfach in der unterschiedlichen

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Antwort auf die Frage nach einem nicht-physischen Bewusstsein. Die Perspektive des Behaviorismus schliesst nicht nur mentale Zustände aus der Erklärung des Verhaltens aus, sondern lehnt jede nicht-physische Dimension der Wirklichkeit und jeden nicht-physischen Gegenstand ab. Sie löst den sensorischen Aspekt zusammen mit allen anderen Aspekten entweder (1) im physischen Aspekt auf, oder (2), macht alle anderen Aspekte vom physischen Aspekt abhängig. In beiden Fällen ist die eigentliche, wissenschaftliche Erklärung immer physikalischer Art. Diese beiden Versionen des Materialismus spiegeln sich in der unterschiedlichen Art und Weise, wie Watson und Skinner den sensorischen Aspekt auf den physischen zurückführen. Watson schlägt den ersten Weg ein. Für ihn ist das Bewusstsein mitsamt seinen Zuständen und Inhalten reine Fiktion: Etwas derartiges gibt es in Wirklichkeit nicht. Der Ausdruck „Bewusstsein“ hat für Watson so viel Realitätsgehalt wie „Seele“ – nämlich keinen. Watson verbannt alle Ausdrücke des mentalen Lebens in dieselbe Ecke wie die abergläubischen Formeln der Medizinmänner.11 Skinner negiert hingegen innere Zustände und Erfahrungen nicht durchwegs. Solche Zustände und Erfahrungen mögen seiner Meinung nach sogar unterscheidbare sensorische und andere nicht-physische Eigenschaften haben. Nur haben sie in der Psychologie nichts verloren, da sie niemals Ursache des Verhalten sind, sondern immer nur von einem beobachtbaren Verhalten verursacht werden.12 In beiden Versionen nimmt der physische Aspekt jedoch selbst-existenten Status ein. Er erklärt und verursacht alles, da alles von ihm abhängt. Er selbst wird in der Theoriebildung jedoch von nichts Anderem abhängig gemacht, und so, in Ermangelung einer Alternative, stillschweigend im Zustand der Selbst-Existenz belassen. Die materialistische Perspektive setzt demnach den religiösen Glauben an die Göttlichkeit der physischen Dimension voraus. 11

12

“As a result of this major assumption that there is such a thing as consciousness and that we can analyze it by introspection … [there is] no way of experimentally attacking and solving psychological problems and standardizing methods” (Watson, Behaviorism, 6.) (Als ein Resultat dieser zentralen Annahme, dass so etwas wie Bewusstsein existiert und dass wir es mittels Introspektion analysieren können, [… gibt es] keinen Weg, psychologische Probleme experimentell anzugehen und zu lösen und keine Möglichkeit, Methoden zu standardisieren.) In welchem Ausmass ist es hilfreich, gesagt zu bekommen ‘Er trinkt, weil er durstig ist’? Wenn durstig zu sein, nichts weiter heisst, als eine Tendenz zum Trinken zu haben, dann ist das bloss redundant. Wenn es heisst, dass er wegen seines durstigen Zustandes trinkt, dann wird ein inneres kausales Ereignis geltend gemacht. Wenn der Zustand rein inferentiell ist – wenn dem keine Dimensionen zugeordnet werden, die direkte Beobachtung möglich machen würden – dann kann er nicht als Erklärung dienen. [Selbst] wenn er … psychische Eigenschaften hat, welche Rolle kann er in einer Verhaltenswissenschaft haben? (Skinner, Science and Human Behavior, 33)

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Dieser Glaube ist paganer Art, da er einen Aspekt der Schöpfung vergöttlicht. Daraus erhellt, warum sich der Glaube an Gott und der Behaviorismus gegenseitig ausschliessen. Wie in den vorausgehenden Fallbeispiel-Kapiteln, geht es mir hier nicht so sehr um die Kritik der präsentierten Theorien, als um den Nachweis, dass sie allesamt durch einen religiösen Glauben kontrolliert sind. Dennoch ist es interessant zu sehen, wie der materialistische Glaube und die daraus resultierende Perspektive diese Denker so in ihrem Griff hälten, dass sie an ihren Positionen trotz allen theoretischen Widersprüchen festhalten. Einer dieser Widersprüche zeigt sich in der Art und Weise, wie nach Skinner das menschliche Verhalten durch Konditionierung bestimmt ist: Dasselbe gilt, wenn ein Mann Bücher schreibt, Dinge erfindet, ein Wirt­ schaftsunternehmen führt. Er hat nichts in Bewegung gebracht. Alles ist die Wirkung vergangener Geschichte auf ihn. Das ist die Wahrheit, an die wir uns gewöhnen müssen.13 Doch wenn das Schreiben von Büchern wie alle anderen menschlichen Tätigkeiten durch unsere frühere Konditionierung bestimmt ist, was müssen wir dann von Skinners eigenen Bücher sagen? Was sind die Konsequenzen für die Theorie des Behaviorismus selbst? Um konsistent zu sein, müsste der Behaviorist zugeben, dass seine Theorien nichts Anderes als das Produkt seiner eigenen Konditionierung sind. Wenn dieses Zugeständnis gemacht ist, bleibt aber weder dem Behavioristen noch irgend jemandem einen Grund, diese Theorie (oder jede andere Behauptung) als wahr zu betrachten. Selbst wenn der Behaviorismus die Wahrheit tatsächlich auf seiner Seite hätte, könnte dies niemand wissen. Denn die Theorie verlangt, dass jede Überzeugung und jedes Wissen nur deswegen angenommen wird, weil wir aufgrund unserer früheren Konditionierung nicht anders können. Aus diesem Grund ist Skinners Aussage selbstreferentiell inkohärent. Und doch meint er: „Es ist die Wahrheit an die wir uns gewöhnen müssen.“ Eine weitere Inkohärenz in der Theorie des Behaviorismus ergibt sich aus dem deklarierten Ausschluss von inneren Bewusstseinszuständen aus der Psychologie. Die Unplausibilität dieses Ansinnens sticht wie gesagt schon dann hervor, wenn wir es mit einer Beschreibung unserer eigenen Erfahrungen konfrontieren. Es gibt aber noch eine andere Schwierigkeit, auf die in diesem Zusammenhang hingewiesen werden kann. Sie folgt aus der unvermeid­ lichen Annahme, dass die Korrelationen von Stimuli oder Verstärkern und 13

„Skinner‘s Utopia: Panacea or Path to Hell?“ Time, Sept. 20, 1971, 52.

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Reaktionen im Blick auf den erforschten Organismus von beständiger Geltung sind. Diese Korrelationen würden keine wissenschaftliche Vorhersage oder Kontrolle ermöglichen, wenn sie nur gerade in dem Moment zutreffen, da sie entdeckt werden. Wenn sie aber als Gesetzmässigkeiten aufgefasst werden, und also beständige Geltung haben sollen, müssen sie auch eine beständige Disposition oder Tendenz im untersuchten Individuum beschreiben. Skinner hat dieses Problem halbwegs anerkannt. Wenn Durstig-Sein nur gerade bedeutet, eine Durstneigung zu verspüren, hätte er das nach eigenen Aussagen noch akzeptieren können. Anstössig wäre aus seiner Sicht nur der Glaube, diese Neigung bestünde in einem inneren Zustand, aufgrund dessen das tatsächliche Trinken erklärt werden könne. Das Problem ist, dass Dispositionen und Neigungen innere Zustände sind, die genauso wenig beobachtet werden können wie alle anderen Dinge, die Watson und er aus der Psychologie verbannt haben wollten. Und dieses Problem lässt sich auch nicht dadurch lösen, dass ein rein physischer Hirnzustand postuliert wird, der mit der Disposition identisch sein soll. Denn, und das gilt ganz allgemein, immer wenn wir in Zweifel sind, ob wir es mit einem oder zwei Dingen zu tun haben, muss eine Begründung erbracht werden, dass in Wirklichkeit nur eines vorliegt. Es muss gezeigt werden, dass die beiden (vermeintlichen) Dinge exakt all dieselben Eigenschaften haben. Damit ein Hirnzustand aber mit einer Disposition identisch sein könnte, müsste er mit dieser alle Eigenschaften teilen, inklusive die Eigenschaften „unbeobachtbar“ und „nichtphysisch“! Ohne nicht-physische (und natürlich auch physische) Eigenschaften könnte der Hirnzustand nicht mit der Erfahrung einer Neigung übereinstimmen, oder deren Beschreibung genügen. Zudem nehmen wir keinen Zustand oder Tätigkeit unseres Hirns jemals als nur physisch wahr. Insofern uns solche Dinge zugänglich sind, manifestieren sie eine Vielzahl von Aspekten: sie sind örtlich lokalisierbar, sie lassen sich zählen und beobachten, usw. (Später werden wir uns im Detail mit reduktionistischen Auffassungen beschäftigen und sehen, dass es uns unmöglich ist, einen Begriff von etwas als nur aus einem einzigen Aspekt bestehend zu bilden.) Doch trotz der Unmöglichkeit, sie auf etwas Nur-Physisches reduzieren zu können, bleibt Skinner nur noch das Eingeständnis, auf Dispositionen und Neigungen nicht verzichten zu können. Und es kommt noch schlimmer für seine Theorie. Denn selbst wenn jemand eine Hypothese aufstellen könnte, die ohne jede explizite Erwähnung solcher Zustände auskommt, hinge das gesamte Erklärungs- und Voraussagepotential des Behaviorismus doch von deren stillschweigenden Annahme ab. Die Behauptung, nicht-physische, innere Zustände hätten in der Psychologie nichts zu suchen, steht deshalb in direktem Konflikt mit der Annahme, dass Menschen solche Zustände haben. Dieser Teil der Theorie fällt also einer voraussetzunglogischen Inkohärenz zum Opfer.

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Schliesslich lassen die Gesetze, die das Verhältnis zwischen Verstärkern und Reiz-Reakti­ons-Mustern erhellen sollen, eine enorme Erklärungslücke offen. Gemäss Skinner bestehen solche Gesetze aus statistischen Korrelationen zwischen Verstärkern und Reaktionen. Doch selbst wenn wir einmal annehmen, dass die unzähligen verschiedenen Variablen, denen ein Verhalten unterliegt, theoretisch identifiziert und hinsichtlich ihres relativen kausalen Gewichts geordnet werden können (was alles andere als selbstverständlich ist), was würden die resultierenden Wahrscheinlichkeiten beweisen? Nehmen wir zum Beispiel an, dass mehr Leute ihre Ferienzeit in den Bergen als am Strand verbringen, in Abhängigkeit von der Strenge des Winter. Was haben wir damit erklärt? Wie Piaget sagt Das ist nichts Anderes als in arithmetischen Begriffen de facto Zustände und beobachtete Gesetzmässigkeiten zu präsentieren. Der Grund für die Wahrscheinlichkeit muss erst noch erklärt werden.14 Aus der Auflistung all dieser Schwierigkeiten geht hervor, wie das Vertrauen in eine materialistische Perspektive Kontrolle über die Anhänger dieser Perspektive ausübt. Es wird deutlich, dass die Attraktivität der behavioristischen Theorie nicht in ihrem Erklärungspotential liegt, da die Theorie augenscheinliche Widersprüche aufweist. Die Attraktivität der Theorie entstammt vielmehr einer bestimmten Vision, wie Wissenschaft aussehen sollte; einer Vision, die wiederum einer bestimmten Theorie der Gesamtwirklichkeit und einem religiösen Glauben entspringt. Es ist die materialistische Sicht einer unhintergehbaren Realität, die darüber entscheidet, welche Hypothesen plausibel erscheinen und welche nicht. Diese Sicht ist deshalb viel mehr als nur eine „Arbeitshypothese“ oder „methodische Annahme“, die jederzeit aufgegeben werden kann, wenn sie als unfruchtbar erkannt wird. Im Gegenteil, sie ist die Quelle von Hoffnung und Prophetie, die noch im Angesicht der unüberwindlichsten Widersprüche unsere Loyalität fordert. Die wahre Erklärung dieser Loyalität liegt darin, dass sie einem religiösen Glauben an den göttlichen Status von Materie/ Energie entspringt. Das ist die treibende Kraft dieser Perspektive, und die tiefste Quelle der Macht, die sie über diejenigen Theoretiker und Theoretikerinnen ausübt, die sich von dieser Perspektive leiten lassen.15 14 J. Piaget, Main Trends in Psychology, 37. 15 Richard Lewontin gesteht diesen Punkt offen ein: „Es ist nicht so, dass die Methoden und Institutionen der Wissenschaft uns irgendwie zwingen, eine materielle Erklärung der […] Welt zu akzeptieren. Eher im Gegenteil sind wir durch unser vorangehendes Festhalten an materiellen Ursachen dazu gezwungen, einen Untersuchungsapparat zu kreieren, der materielle Erklärungen produziert, egal wie unlogisch oder verwirrend sie auf einen

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Freilich werden die Schwächen dieser Perspektive von ihren Vertretern und Vertreterinnen dadurch entschuldigt, dass ihre Sichtweise der Psychologie zu mehr Präzision, Messbarkeit, begriffliche Sparsamkeit und anderen wissenschaftlichen Tugenden verhelfen soll. Doch so wichtig diese Tugenden sind, können sie die Bedeutung der zentralen Anforderung an jede Theorie nicht verdrängen: Die Erklärung der relevanten Daten. In dieser Hinsicht scheint der Behaviorismus den weisen Ratschlag von Aristoteles vergessen zu haben: Die Darlegung wird dann befriedigen, wenn sie jenen Klarheitsgrad erreicht, den der gegebene Stoff gestattet. Der Exaktheitsanspruch darf nämlich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher Weise erhoben werden … der logisch geschulte Hörer wird nur insoweit Genauigkeit auf dem einzelnen Gebiet verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zulässt.16 Wenngleich mentale Zustände nicht beobachtbar sind, bleibt es doch schwer auszumalen, wodurch menschliches Verhalten verstanden oder erklärt werden soll, wenn nicht durch das, was Menschen denken, fühlen, wünschen und – vor allem – glauben. Ist nicht der Behaviorismus der Glaube derer, die ihn vertreten? Ist dieser Glaube nicht der Grund für das spezifische „Verhalten“ dieser Menschen auf dem Gebiet der psychologischen Theoriebildung? Die Moral der Geschichte scheint klar zu sein: Vielmehr als genuine Erklärungen für menschliche Wahrnehmungs- und Gefühlserfahrungen anzubieten, begeht der Behaviorismus theoretischen Harakiri auf der Schwelle zur Psy­chologie. 9.3

Die Theorien von A. Adler und E. Fromm

Die zweite von Piaget erwähnte Strategie der Reduktion versucht den perzeptiven und emotiven Aspekt des Lebens als Produkt von sozialen statt physischen und/oder biologischen Ursachen zu erklären. Das heisst nun nicht, dass die Vertreterinnen einer solchen Perspektive die physischen und biotischen Aspekte des menschlichen Daseins vollständig ignorierten. Es heisst, dass die physische und biotische Dimension des Menschen zwar die Voraussetzungen und die Grenzen seines psychischen Lebens bilden, jedoch ohne bestim­menden

16

Uneingeweihten wirken. Überdies ist dieser Materialismus absolut, da wir dem Göttlichen keinen Fuss in der Türe erlauben können…Sich auf eine omnipotente Gottheit zu berufen, heisst, es zu erlauben, dass in jedem Moment Brüche in den Regelmässigkeiten der Natur oder Wunder passieren können.“ (R. Lewontin, New York Review of Books, Jan. 7, 1997, 31). Aristoteles Nikomachische Ethik, 1094b12–25.

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Einfluss auf sein Denken, Fühlen und Handeln zu nehmen. Eine exzellente Illustration dieses Ansatzes bietet das Werk A. Adlers, der sich mit den früheren Theorien Freuds und der Behavioristen überwarf. Im Gegensatz zu Freud, dessen Theorien ursprünglich einer Perspektive entstammten, in der die Psychologie letztlich auf eine Form von Physik reduziert wurde, insistierte Adler darauf, dass die Psychologie eine Sozialwissenschaft sei.17 Aus seiner Sicht ist das Ziel der Psychologie nicht „das Verständnis kausaler Faktoren, wie in der Physiologie, sondern die richtungsweisenden … [­gesellschaftlichen] Kräfte und Ziele, die alle anderen psychologischen Bewe­gungen anleiten.“18 Obwohl unsere genetische Konstitution bestimmt, welche Art Körper und biotischen Bedürfnisse wir haben, hängt nach Adler selbst noch der Umgang mit biologisch angeborenen Instinkten von unserer sozialen Prägung ab.19 Das soll nicht nur auf sexuelle und ähnliche Instinkte zutreffen20, sondern auch auf die Art und Weise, wie Menschen die Welt wahrnehmen. Wahrnehmung, so Adler, ist nie nur ein sensorisches Kopieren, sondern ein Produkt des gesellschaftlich bestimmten Sammelns und Ordnens von Sinneseindrücken. Deshalb ist es wörtlich wahr, dass Menschen nicht dieselben Dinge sehen. Das wiederum macht es möglich, dass die Psychologie aus der individuellen Wahrnehmung weitreichende Erkenntnisse über das innere Leben eines Menschen gewinnen kann.21 Worin bestehen die sozialen Faktoren, die das menschliche Fühlen, Wahrnehmen und Verhalten lenken? … eigene Vorurteile, „unbewusste“ Annahmen, wie alle menschlichen Äusserungen, existieren in einem gesellschaftlichen Kontext, und bekunden das Streben nach Macht, Bedeutung, und Sicherheit.22 Kurz gesagt, jeder Mensch strebt nach „Überlegenheit“. Darin besteht „das all­­ge­meine Ziel der Menschen“ und „der zentrale Bestimmungsgrund des mensch­lichen Lebens“.23 Weil der Drang nach sozialer Überlegenheit das 17

Alfred Adler, Cooperation between the Sexes: Writings on Women, Love, Marriage, Sexuality and Its Disorders, ed. H. Ansbacher und R. Ansbacher (New York: Doubleday, 1978), 305. 18 Ebd., 307. 19 H. Ansbacher und R. Ansbacher (eds.), Alfred Adlers Individualpsychologie, 5. Auflage (Mün­chen: Ernst Reinhardt Verlag, 2004), 207. The Individual Psychology of Alfred Adler, ed. H. Ansbacher und R. Ansbacher (New York: Basic Books, 1956), 207. 20 Alfred Adler, Cooperation between the Sexes: Writings on Women, Love, Marriage, Sexuality and Its Disorders, 305. 21 H. Ansbacher und R. Ansbacher (eds.), Alfred Adler Individualpsychologie, 5. Auflage (Munchen: Ernst Reinhardt Verlag, 2004), 307.. 22 Adler, Cooperation between the Sexes, 176. 23 Adler, Cooperation between the Sexes, 305.

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„Lebensziel“ jeder Person ist, „kann niemand das Gefühl von realer oder eingebildeter Minderwertigkeit tolerieren“24 In diesem Zusammenhang hat Adler den Begriff des „Minderwertigkeitskomplexes“ geprägt.25 Der soziale Trieb eines Individuums nach Macht und Überlegenheit steht jedoch in direktem Widerstreit mit demselben Trieb eines anderen. Wäre dieser Trieb sich selber überlassen, würde er zum Chaos des permanenten Krieges führen, das jede menschliche Gesellschaft verunmöglicht. „Aus der Perspektive der Realität“ (damit meint Adler die soziale Realität) „ist das Ziel der Überlegenheit geradezu lächerlich“. Das Individuum, insistiert Adler, hinterlässt nur geringe Spuren in der Gesellschaft. Zudem hängt jedes Individuum in seiner Existenz von der Gesellschaft ab, so dass die Grenzen, die dem Streben nach Überlegenheit gesetzt sind, unüberwindlich werden: die Geschlechter sind auf einander angewiesen, Kinder brauchen Eltern, und die Familie hängt wiederum von einer grösseren Gemeinschaft ab. Der Trieb, der zum bestimmenden Faktor der menschlichen Psyche wird, steht so in hoffnungslosem Konflikt mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die das Überleben der einzelnen Person allererst ermöglichen. Diese gesellschaftlichen Bedingungen können nur durch einen beständigen Anpassungsprozess – vor allem durch Arbeitsteilung – erhalten werden, der den Überlebenswillen der Menschen zu Kooperation anstatt zu uneingeschränkter Machtausdehnung nutzt. Sind die Bedingungen unseres Lebens in erster Linie durch kosmische Einflüsse bestimmt, sind sie weiterhin auch durch das soziale und gemeinschaftliche Leben der Menschen geprägt, und durch die Gesetze und Regeln, die spontan aus dem gemeinschaftlichen Leben entstehen.26 Adler nannte die Abhängigkeit des Individuums von der sozialen Gruppe „die Logik des gemeinsamen Lebens“ – wobei „Logik“ sich auf all das bezieht, was „von allgemeinem Nutzen“ und für das Überleben des Individuums unentbehrlich ist. Im weiteren verwendete er diese Ausdrücke dazu, seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass alles was den Menschen zu einem spezifisch menschlichen Lebewesen macht, durch die „Logik des gemeinsamen Lebens“ zu erklären ist. Nicht nur die Sprache, sondern … Denken und Begriffe, Vernunft und Verstand, Logik, Ethik und Ästhetik haben ihren Ursprung im sozialen Leben des Menschen.27 24 Alfred Adler, Cooperation between the Sexes, 281. 25 Alfred Adler, The Practice of Theory of Individual Psychology (London: Routledge & Keegan Paul, 1964), 7-8. 26 Alfred Adler, Understanding Human Nature, 27–28. 27 Ebd., 31.

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In Adlers Theorie ist also jeder Mensch einer permanenten Kollisionssituation ausgesetzt. Einerseits kann ein vereinzeltes Individuum weder überleben noch sich fortpflanzen, und jede spezifisch menschliche Fähigkeit ist allein zwecks Erfüllung von gemeinschaftlichen Bedürfnissen entstanden. Andererseits ist es die Gesellschaft, die zur Quelle der Minderwertigkeitsgefühle des Individuums, und damit zum Hindernis gegen das die einzelne Person ankämpft, wird. Die Kräfteverhältnisse fallen jedoch einseitig aus: Kein Individuum kann es mit der Gesellschaft aufnehmen. Der Konflikt kann nur auf eine Art gelöst ­werden: Unser einziger Ausweg aus diesem Dilemma besteht in der Übernahme der Logik unseres Gruppenlebens … als ob es sich dabei um eine letzte, absolute Wahrheit handelte.28 Die Anforderungen und Bedürfnisse der Gesellschaft stehen über allem anderen, und der einzelne Mensch muss sich ihnen unterwerfen. Die gesellschaft­ lichen Anforderungen werden so zum höchsten Massstab, an dem alle Werte, Verhältnisse, Beziehungen, usw. gemessen werden müssen. Das heisst, sie bilden die Richtschnur für das, was als psychisch normal und abnormal gilt. Was wir Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit nennen, und im menschlichen Charakter als äusserst wertvoll betrachten, ist im wesentlichen nichts Anderes als die Erfüllung der Bedingungen, die der sozialen Bedürftigkeit des Menschen entspringen … wir können einen Charakter nur aus dem Blickwinkel der Gesellschaft als gut oder schlecht beurteilen.29 Die Art und Weise, wie Individuen ihr Streben nach Überlegenheit den sozialen Überlebensbedingungen anpassen, nannte Adler deren „Lebensstil“, der psychisch entweder normal oder abnormal sein kann. In abnormalen Personen „ist Fehlanpassung immer die Inkongruenz zwischen Lebensstil und sozialen Anforderungen statt ein innerer Konflikt“30 so dass „die Heilung immer darin liegt, die sozialen Gefühle zu stärken statt ‘schlechte’ Impulse zu vermeiden versuchen.“31 Allgemein gesprochen, kann ein abnormaler Lebensstil folgendermassen beschrieben werden: 28 29 30 31

Ebd., 26–27. Ebd., 32. Alfred Adler, Superiority and Social Interest, ed. H. Ansbacher and R. Ansbacher (Evan­ ston, Ill.: Northwestern University Press, 1964), 288.. Ebd., 295.

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Arbeitsteilung ist eine absolute Notwendigkeit für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft. Deshalb muss jede Person irgendwann einen bestimmten Platz einnehmen. Wenn jemand dieser Pflicht nicht nachkommt verneint er die Erhaltung des sozialen Lebens und des mensch­ lichen Geschlechts überhaupt.32 Dieser allgemeine Punkt findet seinen Niederschlag im konkreten Beispiel der Sexualität und der Institution der Ehe … geschlechtliche Anziehung … [ist] immer vom Wunsch nach menschlicher Wohlfahrt geprägt … Eine gute Ehe ist das beste Mittel das wir kennen um die zukünftigen Generationen der Menschheit grosszuziehen, und die Ehe sollte immer dieses Ziel vor Augen haben.33 Wenn ein Mann eine Frau umwirbt tut er das in einer psychisch normalen Weise, wenn aus seinem Verhalten ersichtlich ist, dass er „Ja“ sagt zur Zukunft des menschlichen Geschlechts.34 In diesem, wie in jedem anderen Fall, sind es „die immanenten Spielregeln einer Gruppe“, die die absolute Wahrheit für das Individuum darstellen.35 Adlers Gewichtung der Anpassung des Einzelnen an die Bedürfnisse der Gruppe brachte ihn dazu, ein starkes Interesse an der Gesellschaftstheorie von Marx und Engels zu entwickeln. Er bewunderte deren Werk dermassen, dass er sagen konnte: „Karl Marx … hat den Weg zur letzten Erfüllung der gesellschaftlichen Interessen gezeigt.“36 Trotzdem lehnte Adler den historischen Determinismus der Marxschen Theorie ab. Wenn alles durch den Fluss der Geschichte bestimmt wird, so Adlers Erkenntnis, kann es keine Normen geben, kein richtig oder falsch, kein normal oder abnormal. In seinen Worten: „Wenn der Mensch vollständig durch äussere Umstände determiniert wäre, könnten wir nicht von Irrtümern sprechen.“37 Aus diesem Grund drehte er die Idee einer von ökonomischen Faktoren determinierten Geschichte um, und sagte:

32 33 34 35 36 37

Alfred Adler, Cooperation between the Sexes, 3–4. Ebd., 136–37. Ebd., 135. Ebd., 270. Ebd., 256. Ebd., 270.

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In jeder unmittelbaren Gegenwart werden die ökonomischen Bedingungen durch jedes Individuum und jede Gruppe gemäss ihrem vorgängig angenommenen Lebensstil reflektiert und beantwortet.38 Adler erkannte die Notwendigkeit einer Theorie, die der genuinen menschlichen Freiheit, die Wahrheit zu erkennen, Raum bot. Wenn alles Denken, Glauben, Fühlen und Entscheiden determiniert ist (das heisst, den Menschen durch äussere Umstände aufgezwungen ist), dann, so erkannte Adler richtig, ist die Annahme der Theorie des Determinismus durch dieselben Umstände bedingt und ihren Vertretern von aussen aufgezwungen. In diesem Fall kann die Theorie jedoch nicht als wahr behauptet oder erkannt werden, da sie selbst-referentiell inkohärent ist. Die Theorie verlangt ja, dass keine Überzeugung je aufgrund eines Erfahrungsurteils oder einer Verstandeseinsicht zustande kommt, sondern immer aus einem Zwang resultiert, über den das Subjekt keine Macht hat. Adler war sich bewusst, dass der physikalische Determinismus der Behavioristen nicht einfach durch einen sozialen Determinismus ergänzt werden konnte. Denn dann wäre das Dilemma des Determinismus nicht überwunden, sondern nur durch eine komplexere Version davon ersetzt. In diesem Fall hätte er wohl zwei Arten von bestimmenden Faktoren (physische und soziale) anstatt nur eine, doch die Voraussetzung der eigenen Freiheit, sich von der Wahrheit der Theorie selbst überzeugen zu können, würde immer noch einen deutlichen Selbstwiderspruch erzeugen. Doch trotzdem Adler diesen Punkt erkannt zu haben schien, versäumte er es eine Theorie zu entwickeln, die einer genuinen Freiheit in Sachen Wissenserwerb Raum bot. Vielmehr fiel er genau in den doppelseitigen Determinismus, den es scheinbar zu vermeiden galt. Gedanken und Gefühle waren somit durch die frühkindliche Sozialisierung auf eiserne Bahnen gesetzt: Vielleicht werden einige Leser den Eindruck gewinnen … dass wir den freien Willen und die Urteilskraft verneinen. Was den freien Willen betrifft, so trifft diese Anschuldigung zu … In unseren Untersuchungen müssen wir die Geschichte der frühesten Kindheit [des Patienten] herausschälen, da die frühesten Eindrücke die Richtung festlegen … in der er in Zukunft reagieren wird … der Druck, den er in seinen frühesten Tagen ausgesetzt war, wird seine Lebenseinstellung färben und seine Weltanschauung bestimmen … Wir sollten nicht überrascht sein zu erfahren, dass Menschen ihre Lebenseinstellung nach ihrer Kindheit nicht mehr ändern …39 38 39

Alfred Adler, Cooperation between the Sexes, 270. Alfred Adler, Understanding Human Nature, 80–81.

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Ein weiteres Problem, das Adler ungelöst liess, ergab sich aus seiner Auffassung, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft den Massstab psychischer Normalität darstellten. Aus seiner Sicht sind es immer die kollektiven Bedürfnisse einer Gruppe, die nach individueller Konformität verlangen. Damit wird die Frage von vornherein ausgeschlossen, ob nicht die Gruppe oder die gesamte Gesellschaft abnormal sein könnte. Gleichzeitig folgt aus dieser Sicht, dass jede führende Persönlichkeit, die tatsächlich eine gewisse gesellschaftliche Überlegenheitstellung einnimmt, abnormal ist. Das Werk von Erich Fromm bietet weiteres, aufschlussreiches Anschauungsmaterial für einen sozialen Reduktionismus. Fromm war darauf aus, die Lücken und Fehler in der Theorie Adlers auszubügeln. In seinen früheren Werken ordnete sich Fromm ebenso der Sozialpsychologie zu. Wie Adler lehnte er Theorien ab, die den Menschen als durch seine physischen und biotischen ­Aspekte determiniert sahen. Im Gegensatz zu Freud, der die Psychologie als eine „Naturwissenschaft des Menschen“40 betrachtete, zeigte sich für ihn das menschliche Wesen in der „freien, bewussten Tätigkeit“.41 Solch freie und bewusste Tätigkeiten sind nicht durch den „natürlichen“ Hunger- oder Geschlechtstrieb bestimmt, sondern schliessen das menschliche Bedürfnis nach und den Umgang mit Dingen wie Schönheit und Liebe ein.42 Zudem hatte Fromm, wie schon Adler, eine grosse Bewunderung für Marx. Auch er betrachtete die von Marx herausgehobenen Klassen- und Wirtschaftsfaktoren als bestimmende Komponenten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Familie überträgt diese Faktoren auf das Individuum; sie ist gewissermassen „der psychologische Akteur der Gesell­schaft“.43 Da die Familie selbst ein Produkt der herrschenden Wirtschafts- und Klassenbedingungen der Gesellschaft ist, hat uns Marx das Werkzeug zur Kritik und Beurteilung der Form von Gesellschaft und Familie gegeben, die wir anstreben sollten. Eine wirkliche Sozial­psychologie hat es deshalb nicht bloss mit unseren individuellen Anpassungsleistungen an die Bedürfnisse der Gesellschaft zu tun. Sie sagt auch, ob die Gesellschaft so ist wie sie sein sollte.44 Doch Fromms marxistische Revision der Sozialpsychologie erlaubte ihm nur gerade eines der beiden Probleme zu lösen, die er von Adler geerbt hatte. Das problematische Eingeständnis, kein Massstab zur Beurteilung einer Gesellschaftsordnung zu haben, blieb ihm aufgrund des Standpunkts, dass jede nicht sozialistische Gesellschaft defizitär sei, zwar erspart. Doch das Problem 40 41 42 43 44

E. Fromm, The Crisis of Psychoanalysis (New York: Holt, Rinehart, Winston, 1970), 47. Ebd., 48. Ebd., 52. Ebd., 117. Ebd., 119.

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des Determinismus in Marx’ eigener Geschichts- und Gesellschaftstheorie blieb trotz Fromms Ablehnung eines biologistischen Determinismus erhalten. Für Marx sind die jeweils akzeptierten Interpretationen von Liebe oder Gerechtigkeit, oder die Auffassungen von normal und abnormal, vollständig von den sozioökonomischen Konditionierungen ihrer menschlichen Träger abhängig. Wie können wir frei sein im Gebrauch der Normen, anhand derer wir die gesellschaftlichen Verhältnisse beurteilen, wenn unsere Normen nichts als gesellschaftlich determiniert sind? Zunächst versuchte Fromm, einen Weg um den Determinismus der marxistischen Theorie herum zu finden. Die Theorie sollte nicht so interpretiert ­werden, dass die Psyche jedes einzelnen Individuums durch Klassen- und Wirtschaftsinteressen determiniert sei. Vielmehr seien nur die Institutionen einer Gesellschaft ökonomisch strukturiert. Marx dürfe also nicht so interpretiert werden, dass der „Besitztrieb“ das ausschlaggebende Motiv jeder individuellen Handlung sei, sondern nur der gesellschaftlichen Strukturen, innerhalb derer die einzelnen Menschen leben.45 Doch dann weicht Fromm diesem Punkt wieder aus, wenn er sagt, dass Im Wechselspiel interagierender psychischer Triebe und ökonomischer Bedingungen haben letztere den Vorrang.46 Fromm wiederholt zwar, dass ökonomische Faktoren nicht immer überwiegen. Diese seien durch das Individuum nur „weniger kontrollierbar“. Gleich­ zeitig insistiert er aber darauf, dass „die primären und einflussreichsten Faktoren“ in den ökonomischen Bedingungen liegen, so dass die „Aufgabe der Sozialpsychologie darin [besteht] … psychische Einstellungen und Ideologien … zu erklären – insbesondere deren unbewussten Wurzeln – indem sie den Einfluss ökonomischer Faktoren auf den Haushalt der Libido erhellt.“47 An diesem Punkt möchte Fromm das menschliche Verhalten aus Gründen der psycho­logischen Erklärbarkeit „im Wesentlichen durch die Geschichte bestimmt“ wissen, gleichzeitig aber an einer „inneren Eigendynamik“ des mensch­lichen Lebens festhalten, um sich der Wahrheit aus freien Stücken annähern zu können.48 Dieses widersprüchliche Hin und Her zwischen entgegengesetzten Polen kommt zu einem ersten Höhepunkt in Fromms Werk Man for Himself (1947), 45 Ebd., 121–32. 46 Ebd., 121. 47 Ebd., 121. 48 Siehe D. Hausdorff, Erich Fromm (New York: Twayne, 1972), 48.

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wird aber am deutlichsten reflektiert in Die Kunst des Liebens (1956) und Die Seele des Menschen (1964). In diesen beiden letzten Werken sieht Fromm dem grundlegenden Dilemma direkt ins Gesicht. Schon in The Sane Society (1955) erkannte er, dass es auch im Denken von Marx nicht gelöst war. Obwohl Marx vieles richtig gesehen hatte, was die Abhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft anbelangte, war seine Sichtweise dennoch so „ökonomisch sim­pli­zistisch“49 wie unrealistisch. Denn Marx war davon überzeugt, dass der Sozialismus zur Genesung der Gesellschaft nicht nur notwendig, sondern hinreichend war.50 In Die Seele des Menschen wiederholt Fromm diese Kritik in detaillierter Weise. Marx wird dafür getadelt, in seinem gesamten Denken eine grundlegende, menschliche Natur vorauszusetzen, und gleichzeitig an der Selbst-Erschaffung des Menschen in der Geschichte sowie an der Behauptung festzuhalten, der Mensch sei nichts Anderes als „das Ensemble seiner gesellschaftlichen Beziehungen“. An dieser Stelle gelangt Fromm zur Auffassung, es gebe tatsächlich so etwas wie eine menschliche Natur, aber diese Natur bestehe in „einem der menschlichen Existenz inhärenten Widerspruch.“51 Dieser Widerspruch sei genau derselbe, den er bei Marx gesehen und kritisiert habe: Einerseits sei der Mensch ein Tier, ein natürliches Lebewesen, durch Natur und soziale Umwelt determiniert; andererseits sei er seiner selbst bewusst, rational, und frei in seinen Gedanken.52 Durch die freie Betätigung ihrer Rationalität könnten Menschen erkennen, dass die Norm für das Individuum und die Gesellschaft das Gebot der Liebe ist: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Fromm, wie schon Kant vor ihm, erblickt die menschliche Freiheit also in der (praktischen) Vernunft, durch die wir zu moralischer Einsicht gelangen. Und wie Rousseau sieht Fromm das menschliche Wesen zuinnerst von natürlicher Güte geprägt. Es sind die äusseren gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Menschen korrumpieren. All das läuft darauf hinaus, dass beide Seiten des Dilemmas irgendwie wahr sind, dass Menschen frei und unfrei sind, im selben Sinn und zur selben Zeit. Und von der eklatanten Selbstwidersprüchlichkeit dieser „Position“ einmal abgesehen, bedeutet das Festhalten am „Freiheitspol“ des Dilemmas auch die Unmöglichkeit der Psychologie, so wie sie von Fromm konzipiert wurde. Denn wenn menschliche Gedanken und Entscheidungen wirklich frei sind, und aus ihnen Handlungen resultieren, dann sind weder die Entscheidungen noch die 49 50 51 52

Ebd., 90. Ebd., 90. E. Fromm, Die Seele des Menschen (Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1979), 120. Ebd., 117–23.

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9. Kapitel

Handlungen vollständig durch Gesetze erklärbar, geschweige denn Gegenstand der Vorhersage oder Kontrolle. Der Hinweis mag überflüssig sein, dass die versuchte Übernahme von sich gegenseitig ausschliessenden Überzeugungen mehr Probleme schafft als sie zu lösen vermag, wie Fromm meinte. Auf unsere Begriffe angewandt, fordert das logische Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs, dass ein jeder Begriff ein bestimmtes Merkmal entweder ein- oder nicht einschliesst, und seine Merkmale zu keinem Zeitpunkt nicht sowohl einschliessen wie auch nicht einschliessen kann. Jeder (vermeintliche) Begriff, der gegen diese Regel verstösst, ist nicht nur vage und unbestimmt, sondern wörtlich bedeutungslos, und deshalb kein Begriff. Fromm dagegen macht sich für die Sicht stark, dass wir die Gesetze der Logik über Bord werfen und uns seiner Behauptung anschliessen, solche Widersprüche seien illusorisch. In Die Kunst des Liebens53 versucht Fromm diesen Punkt weiter zu entwickeln. Das westliche Denken, sagt er, ist durch die Annahme logischer Axiome dominiert worden, seit diese von Aristo­teles erstmals deutlich formuliert wurden. Aristoteles war es auch, der insbesondere das Gesetz des Widerspruchs zum „ersten und gewissesten aller Prinzipien“ erhoben hatte. Wie gesagt, schliesst dieses Gesetz aus, dass etwas zur selben Zeit und im selben Sinn wahr und nicht wahr sein kann. Das heisst zum Beispiel, dass etwas gleichzeitig vollständig blau und vollständig nicht-blau sein kann, oder dass keine Behauptung gleichzeitig vollständig wahr und vollständig falsch ist. Diesem Axiom möchte Fromm nun die Option einer so genannten „paradoxen Logik“ entgegenhalten, die es möglich machen soll, dass die Dinge dieselbe Qualität gleichzeitig besitzen und nicht besitzen können, und dass eine Aussage zugleich ganz wahr und ganz falsch sein kann. Unterstützung für seine Sicht glaubt Fromm bei alten chinesischen und hinduistischen Denkern zu finden, und in neuerer Zeit bei Hegel, Marx und anderen dialektischen Philosophien. Das scheinbar unlösbare Dilemma von Determinismus und Freiheit lässt sich gemäss Fromm also dadurch überwinden, dass beide als wahr angenommen werden. Freilich können wir nicht erkennen, wie beides zutreffen soll, aber das liegt eben daran, dass „der menschliche Geist die Wirklichkeit in Widersprüchen wahrnimmt“.54 53 54

E. Fromm, The Art of Loving (New York: Harper & Row, 1956), 61 ff. Zur Verteidigung des entscheidenden Wendepunktes in seinem Denken schildert Fromm die Gesetze der westlichen Logik, welche zurückzuweisen sind, nur kurz, und illustriert mehrere Aussagen, die sich angeblich widersprechen, aber nichtsdestotrotz beide wahr sind. Es wäre allerdings noch grosszügig zu sagen, dass Fromms Argumente schwach sind. Zuerst gelingt es ihm, die Gesetze der Logik falsch darzustellen, und dann zeigt sich, dass keines seiner Beispiele zueinander in Widerspruch stehende Überzeugungen enthält. Sie enthalten u.a. die taoistische Redewendung „Schwere ist die Wurzel der Leichtigkeit“

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Die Zurückweisung der Logik zwecks Harmonisierung von sich ausschliessenden Gegensätzen ist aber mehr als ein harmloser oder launischer Wunsch, dass sich widersprechende Aussagen dennoch wahr sein möchten. Wie weiter oben gezeigt wurde, endet dieser Wunsch in nichts weniger als der Auflösung aller unserer Begriffe. Selbst die Zurückweisung des Gesetzes des Widerspruchs macht noch von diesem Gesetz Gebrauch. Ohne es wäre auch der (logische) Begriff der Zurückweisung weder sag- noch denkbar. Und da gemäss Fromm die Zurückweisung des Gesetzes dessen Annahme ausschliessen soll, setzt auch er die Gültigkeit des Axioms voraus. Fromms Vorschlag ist ohne Zweifel voraussetzungslogisch inkohärent. Diese düsteren Folgen für unser Denken werden tatsächlich auch bei Hegel, Marx, und den anderen dialektischen Philosophen nicht vermieden, auf die sich Fromm beruft, um uns zu überzeugen, dass er mit seiner Sicht in guter Gesellschaft ist. Bis auf den letzten Mann nehmen diese Denker das Gesetz des Widerspruchs in Anspruch um ihre Begriffe herauszubilden, ihre Position vorzutragen, und abweichende Sichtweisen zu kritisieren. Danach verneinen sie das Gesetz, das ihnen alle diese Dinge erst möglich gemacht hat, um die Widersprüche im eigenen Denken zu entschuldigen. Das Einzige aber, was diesem Trick den Anschein von Glaubwürdigkeit geben kann, ist die selektive Zurückweisung der Logik. Man akzeptiert gewisse Widersprüche im eigenen Denken und ist dann konsistent, wenn es darum geht, die Inkonsistenz anderer Theorien zu kritisieren. Doch würde die Zurückweisung der Logik an jedem Punkt der Theoriebildung konsequent befolgt, wäre das Resultat nicht mehr als ein sinnloses Durcheinander, wodurch nichts mehr ausgedrückt, behauptet oder verneint würde. Fromms Position ist auch so ein Beispiel dogmatischer Selektivitität. Er präsentiert seine Sicht der Dinge als gäbe es gute Gründe, das Gesetz des Widerspruchs zu verwerfen, um dann seine Auffassung des Göttlichen (er nennt es „letzte Wirklichkeit“) als logische Folge dieser Zurückweisung darzustellen. Die Tatsache wird ignoriert, dass eine logische Schlussfolgerung zu ziehen – sprich einzusehen, dass eine Aussage auf eine andere „logisch folgt“ – bedeutet, dass der „Folgesatz“ nur auf Kosten eines Selbstwiderspruchs abgelehnt werden kann. Nach seiner Ablehnung der Grundlage jedes logischen Denkens, zieht Fromm dennoch den logischen Schluss, die Wirklichkeit müsse eine allumfassende, mystische Einheit sein, in der alle Widersprüche, die vom logischen Denken als real aufgefasst werden, in Eintracht und Harmonie vereint seien. (The Art of Loving, 63). Fromm verwechselt hier, wie in anderen Beispielen, paradoxe Formulierungen oder unübliche Wort- und Eigenschaftskombinationen mit logischen Widersprüchen.

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Im Weiteren folgert er dann, das menschliche Denken könne nicht anders als sich in Widersprüche zu verwickeln, was jegliche Erkenntnis der „letzten Wirklichkeit“ verunmöglicht. Dann wird dem Leser und der Leserin eine Skizze dieser Lehre aus hinduistischer, buddhistischer und taoistischer Sicht angeboten, aus welcher wiederum die logische Schlussfolgerung gezogen wird, dass diese Auffassung des Göttlichen die Zurückweisung der biblischen Vorstellung Gottes als dem erkennbaren, individuellen und persönlichen Schöpfer verlangt. Eine weitere Schlussfolgerung steckt in Fromms Beharren auf der vermeintlichen Tatsache, dass Gegensätzlichkeit eine Kategorie des menschlichen Denkens [ist], und nicht ein Merkmal der Wirklichkeit … Insofern Gott die letzte Wirklich­ keit darstellt, und insofern der Geist des Menschen die Wirklichkeit in Gegensätzen wahrnimmt, kann keine positive Aussage über Gott ge­macht werden.55 Auf diesem Weg kommt zum voraussetzunglogischen Widerspruch in der Theorie Fromms auch noch ein selbst-referentieller Widerspruch hinzu, wenn er die positive Aussage über Gott vertritt, dass keine positive Aussage über Gott möglich sei. Die Frage drängt sich förmlich auf: Was in aller Welt hat Fromm in ein solches theoretisches Desaster hinein getrieben? Es begann mit dem Wunsch nach einer genuinen Sozialpsychologie, und endete mit der Zurückweisung der Logik – was nun nichts weniger als das Ende aller Wissenschaft bedeutet. Die Antwort ist, dass der radikale Kurswechsel in Fromms Denken durch eine religiöse Konversion bedingt war: Von einem pagan-religiösen Glauben, der bestimmte Aspekte der Schöpfung als göttlich betrachtete, wechselte Fromm zu einem pantheistischen Glauben, wonach unsere Erfahrungswirklichkeit eine blosse Illusion innerhalb einer allumfassenden, vollständig unbegreiflichen Gottheit ist. Aus diesem Grund war er bereit, wie einige pantheistische Religionen, jede Differenz und jeden „Gegensatz“ in der menschlichen Erfahrungswirklichkeit als blosse Erscheinung oder Illusion abzutun – logische Gesetze inbegriffen. Fromm hatte den biblischen Gottesgedanken tatsächlich schon von Beginn an verworfen. Für ihn war der Glaube an Gott, den transzendenten Schöpfer, nicht mehr als die Projektion des Wunsches nach einem himmlischen Vater, der für uns Menschen sorgt. Im Gefolge Freuds nannte er dies eine „kindische Illusion“. Dementsprechend theoretisierte er auf der Grundlage eines 55

Fromm, The Art of Loving, 64.

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pagan-religiösen Glaubens.56 Er suchte nach etwas in unserer Erfahrungswirklichkeit, das der selbst-existente Grund der Wirklichkeit ist, von dem alles andere abhängt. Doch der Versuch, auf dieser pagan-religiösen Grundlage eine Psychologie zu entwickeln, führte ihn von einem Widerspruch zum anderen. Gleichzeitig realisierte er immer deutlicher, dass die besten Denker vor ihm in dieselben Widersprüche gerieten und ebenso unfähig waren sie zu lösen. In der Folge kam er zur Überzeugung, dass es nicht blosser Zufall sei, wenn so viele Theoriesysteme, die auf paganer Grundlage errichtet wurden, mit sich selber in Konflikt gerieten. Vielmehr schien sich hier das Schicksal jeder pagan-religiös kontrollierten Theorie zu zeigen. Mit dieser Erkenntnis konfrontiert, wurde Fromms religiöser Glaube erschüttert und nahm eine neue Richtung an. Im Gegensatz zu Marx sah er ein, dass die Zurückweisung aller logischen Gesetze und theoretischen Widersprüche als illusorisch unweigerlich die Preisgabe des Materialismus und des gesamten paganen Denkhintergrundes bedeutete. Wie einige hinduistische, und die meisten buddhistischen und taoistischen Denker, kam er dazu, das logische Denken als in sich widersprüchlich und irreführend zu betrachten, das nur Illusion, aber keine Wirklichkeit produzierte. Die Wahrheit sei, dass für alle Dinge gilt: „Es ist und es ist nicht“.57 Deshalb folgte Fromm nachdrücklich einem pantheistischen Denken, das eine nichtrationale, mystische Erfahrung als Erkenntnisweg zum einen, unbegreiflichen Göttlichen betrachtete. In späteren Werken und Vorlesungen, präsentierte er eine spezifisch buddhistische Version dieser Sichtweise.58 9.4

Die menschliche Natur

Wir haben nun einige Beispiele gesehen, wie psychologische Theorien den psycho-sensori­schen Aspekt je nach ihrem vorausgehenden Wirklichkeitsverständnis verschieden erklären. In dieser Hinsicht geht es psychologischen Theorien nicht anders als Theorien, die es mit einem anderen Aspekt zu tun haben. Doch im Fall der Psychologie wird der oder die Aspekte, die alle anderen von sich abhängig machen ohne von diesen abhängig sein zu wollen, mit dem innersten Wesen des Menschen identifiziert. Wie Solomon Asch bemerkt hat: 56

Das trifft zu, obwohl viele biblische Elemente in Fromms Denken seinem jüdischen Erbe entstammen, im Besonderen seine Idee der Liebe als Norm für Individuum und Gesell­ schaft. Siehe Rabbi Jakob Petchowshis Rezension von The Art of Loving, “Eric Fromm’s Midrash on Love,” Commentary 22 (Dec. 1956): 549. 57 Fromm, The Art of Loving, 62. 58 Zen Buddhism and Psychoanalysis, 1960.

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Jede Disziplin hat ihren eigenen Geist, der in einer bestimmten Betrachtungsweise ihrer Daten besteht. Die Erforschung des Menschen … verlangt ebenso nach einer eigenen Perspektive, die, wie provisorisch auch immer, von der einen oder anderen Annahme ausgehen muss, worin das Menschsein besteht.59 J.A. Brown hat denselben Punkt explizit auf die Psychologie bezogen. Jede psychologische Schule … beginnt zwangsläufig mit der Überzeugung, worin das Wesen des Menschen zu suchen ist. Dieser Glaube ist das implizite Bezugssystem, in das die Fakten und Resultate der Beobachtung eingepasst werden, obwohl uns diese Schulen vom Gegenteil zu überzeugen versuchen.60 Da die Frage nach dem Wesen des Menschen in der biblischen Offenbarung eine Antwort gefunden hat, die zur religiösen Voraussetzung der wissenschaftlichen Theoriebildung werden kann (vgl. Kap 6, Anmerkung 11), sollten wir uns einen Augenblick dem biblischen Zeugnis zuwenden. Selbstverständlich können wir keine ausführliche Theorie der menschlichen Natur von dieser Seite erwarten. Doch können uns die Aussagen der Schrift helfen, eine distinkt biblische Perspektive in unsere Theoriebildung zu bringen. Das biblische Zeugnis erfüllt hier tatsächlich einen doppelten Zweck, da unser Punkt von theistischen Denkern und Denkerinnen oft ignoriert oder heruntergespielt wird, und dem nicht-theistischen Denken meist unbekannt geblieben ist. Die in diesem Zusammenhang zentrale biblische Einsicht ist die, dass das spezifisch Menschliche im menschlichen Selbst wurzelt, das meist „Herz“ genannt wird (manchmal wird auch der Ausdruck „Geist“ oder „Seele“ verwendet). Jedes menschliche Lebewesen wird als wesentliche Einheit aufgefasst, egal wie viele verschiedene Arten von Funktionen ein Individuum in den verschiedenen kreatürlichen Aspekten ausbildet. Der Ausdruck Herz wird deshalb nicht einfach gebraucht, um unsere „Emotionen“ zu bezeichnen. Wir sprechen oft von Menschen, die sich mehr vom Kopf (Intellekt) als vom Herz (Gefühl) bestimmen lassen. Die biblischen Verfasser dagegen sprechen vom Herz als der zentralen Identität oder dem Selbst eines Menschen, aus dem alle Dinge des Lebens fliessen (Spr 4,23). Aus biblischer Sicht ist das Herz also Zentrum des Denkens, Glaubens, Wissens, Wollens und Fühlens, und der Sitz 59 60

S. Asch, Psychology: A Study of a Science, ed. S. Koch (New York: Mc-Graw Hill, 1959), vol. 3, 367. J.A. Brown, Freud and the Post-Freudians (Baltimore: Penguin, 1961), 15.

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unserer Dispositionen, Talente und unseres angeborenen Temperaments. Es ist somit auch der Wurzelgrund des Guten und Schlechten, das eine Person denkt oder tut (vgl. Ex 28,3; Ps 90,12; Mt 12,34–35 und 15,18; 2 Kor 3,14–15). In diesem Zusammenhang ist auch signifikant, dass gemäss biblischem Zeugnis allein Gott das menschliche Herz kennt (1 Sam 16,7; 2 Chron 6,30; 1 Kön 8,39; Jer 17,9–10). Genau das würden wir erwarten, wenn das Herz der unhintergehbare subjektive Pol aller menschlichen Tätigkeit ist, denn in diesem Fall kan es sich nicht selbst zum Objekt werden. Wir sind unfähig es zu analysieren und uns einen Begriff davon zu machen, da es selbst der Akteur der Analyse ist. Das bedeutet nun aber keineswegs, dass wir keine Vorstellung vom Herz (anstatt eines Begriffs) haben könnten. Es bedeutet nur, dass die verschiedenen Vorstellungen, die wir uns davon machen, immer dasjenige reflektieren, was wir für göttlich halten. Hierin also liegt die tiefere Bedeutung der biblischen Lehre, dass Menschen nach dem „Bild Gottes“ geschaffen sind. Diese Lehre betrifft nicht nur das menschliche Wesen, sondern weist auch den Weg zur Selbst-Erkenntnis des Menschen. Mit anderen Worten, wer nicht den Glauben an den biblischen Schöpfer teilt und seine Vorstellung des menschlichen Wesens an diesem ausrichtet, wird seine Auffassung der Natur des Menschen unweigerlich von der Natur des Göttlichen beziehen, das an die Stelle des wahren Gottes gesetzt wird.61 Die Erkenntnis, dass das „Herz“ oder Selbst das Subjekt aller Funktionen des menschlichen Lebens ist, stellt für unsere Zwecke die wichtigste biblische Richtlinie für die Erforschung der Natur des Menschen dar. Bevor wir nun die Bedeutung dieser Erkenntnis für die Theoriebildung ausloten können, muss gesagt werden, dass sich diese Erkenntnis nicht mit der auch unter theistischen Denkern geläufigen Sicht verträgt, wonach der Mensch keine wesentliche Einheit, sondern eine Kombination zweier Realitäten sei – Körper und Seele (dieser Punkt wurde in den Zitaten von W. Herberg in Kapitel drei bereits aufgeworfen). Tatsächliche glauben viele Theisten, diese Dualität von Körper und Seele werde schon in der Schrift gelehrt und bilde die Grundlage für die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod. So wird geglaubt, allein der Körper sei 61

Die klassische Erklärung hierfür findet man in den Eröffnungspassagen von Calvins Institutes of the Christian Religion I, i, 1-2: „ Der Gesamtinhalt der Lebensweisheit, die so zu heissen verdient, umfasst zwei Stücke, nämlich die Erkenntnis Gottes und die Selbst­ erkenntnis. Beide sind derartig miteinander verwachsen, dass man kaum auseinander halten kann, auf welcher Seite der Grund, und auf welcher die Folge ist. […] Anderseits steht fest, dass der Mensch niemals eine reine Selbsterkenntnis gewinnen kann, wenn er nicht zuerst dem Herrn ins Angesicht schaut, um von dort aus den Blick auf sich selbst zurückzulenken.”

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9. Kapitel

sterblich, die Seele aber nicht, so dass der Körper für unser Mensch-Sein nicht essentiell ist. Obwohl wir diesen Punkt schon berührt haben, sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass diese dualistische Sicht in den letzten Jahrzehnten in den biblischen Wissenschaften jeglicher Couleur eine deutliche Abfuhr erhalten hat. Es konnte gezeigt werden, dass diese nach wie vor populäre Sicht mehr mit griechischer Philosophie als mit den biblischen Schriften selbst zu tun hat. Der Körper wird nach biblischem Zeugnis nicht als äussere und letztlich unnötige Hülle für die Seele betrachtet. Und die Verheissung eines ewigen Lebens basiert auch nicht auf der natürlichen Unsterblichkeit der Seele. Vielmehr gründet die biblische Vorstellung des ewigen Lebens in Gott allein in der göttlichen Verheissung, die in der Auferweckung der ganzen Person zum Gericht kulminiert – und die Auferweckung eines neuen Körpers mit einschliesst.62 Diese ganzheitliche Interpretation kann hier nicht ausführlich verteidigt werden, doch werde ich ihre Verlässlichkeit im Folgenden voraussetzen. Die ganzheitliche Sicht weigert sich, den menschlichen Körper mit gewissen Aspekten der Erfahrungswirklichkeit exklusiv zu identifizieren (zum Beispiel mit dem räumlichen, physischen und biotischen) und gewisse andere Aspekte allein mit dem Bewusstsein oder mit der Seele in Verbindung zu bringen (zum Beispiel den logischen und willentlichen). Die platonische Auf­ fassung wird verworfen, die Seele könne ohne den Körper leben, weil sie rationale, ewige Wahrheiten erkennt und darum selbst den Charakter dieser Wahrheiten hat.63 Die Bedeutung dieser Zurückweisung liegt in der Weigerung, das menschliche Wesen mit einem oder zwei Aspekten der Schöpfung zu 62 63

O. Cullman, Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung der Toten? (Berlin: Kreuz-Verlsag, 1962) und J. Cooper, Body, Soul and Life Everlasting (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1989). Augustinus erkannte, dass die biblische Verwendung des Begriffs „Seele“ üblicherweise äquivalent zum „Leben des Körpers“ ist und sich nicht auf eine unabhängige, vernünftige Entität bezieht, wie im Fall von Pythagoras, Platon oder anderen griechischen Philosophen (Retractiones 1, xiii.). Ich finde, dass die Heilige Schrift erstaunlich konsistent (wenngleich nicht ohne Ausnahme) in der Verwendung des Ausdrucks „Herz“ für die zentrale Einheit des Selbst ist, wohingegen der Ausdruck „Geist“ sich auf die Vielfalt (von Funktionen, Talenten, Dispositionen etc.) einer Person bezieht. „Seele“ wird üblicherweise, wie Augus­ tinus anmerkt, für die Person als körperliches, biotisches Lebewesen verwendet. Ich sollte hinzufügen, dass diese Sichtweise nicht jede Dualität im menschlichen Wesen beseitigt, selbst wenn sie den traditionellen Dualismus ausschliesst. Der Grund dafür liegt darin, dass die Unterscheidung zwischen dem Teil des Menschen, der beim Tod zerstört wird, und dem Herz bestehen bleibt, das auch nach dem Tod die Identität der Person ausmacht, die bei der Auferstehung wiederhergestellt wird zur vollen körperlichen Existenz im eschatologischen Reich Gottes.

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identifizieren, innerhalb derer Menschen funktionieren. Denn das zu tun würde bedeuten, eine reduktionistische Sicht der menschlichen Natur einzunehmen, in der die Rolle der ausgewählten Aspekte auf Kosten aller anderen aufgebläht wird. Im Gegensatz dazu ist das biblische Herz mehr als die Summe aller seiner Aspekte. Weil es in allen diesen Aspekten gleichermassen funktioniert, kann das Herz nicht mit einem dieser Aspekte oder einer Kombination davon identifiziert werden, das heisst, sich in diesem Aspekt erschöpfen. Das Herz übersteigt alle seine Aspekte. Es steht in einer direkten Abhängigkeitsbeziehung zum Schöpfer und kann deshalb geöffnet werden für eine persönliche Beziehung mit Gott. (Diese Sicht vermeidet damit jede reduktionis­tische Interpretation der menschlichen Natur.) Gleichzeitig erklärt sie, wie Menschen in ihrem Denken und Handeln frei sein können.64 Denn obwohl Menschen innerhalb der Gesetzmässigkeiten all dieser Aspekte existieren und funktionieren, ist das menschliche Selbst doch nicht das ausschliessliche Produkt dieser Gesetzmässigkeiten oder irgendwelcher kausaler Kräfte in der Schöpfung. Vielmehr ist jedes menschliche Herz eine Schöpfung Gottes. Ich stimme also mit Gordon Allport überein, dass reduktionistische Auf­ fassungen der menschlichen Natur unweigerlich in einseitigen Theorien ­resul­tieren. Wie Allport sagt: „nur einzelne Aspekte unser gesamten Lebens funktionieren wie Computer, biochemische Verbindungen, Ratten im Labyrinth, oder wie das soziale Verhalten von Insekten.“ Die Art und Weise, wie ein Reduktionismus vermieden werden kann, besteht aus seiner Sicht in einem „systematischen Pluralismus“; doch zweifelt er, ob sich ein solcher Pluralismus angesichts so vieler, sich ausschliessender Definitionen der menschlichen Natur je realisieren lässt.65 Allport übersieht jedoch die Tatsache, dass sich diese Definitionen verschiedenen pagan-religiösen Voraussetzungen verdanken. Weil ein Denker oder eine Denkerin das Wesen der gesamten Wirklichkeit bereits mit einem oder mehreren Aspekten der Realität kurzgeschlossen hat, kommt es unweigerlich zur Identifikation der menschlichen Natur mit denselben Aspekten. Aus diesem Grund widerspiegelt eine reduktionistische Auffassung des Menschen ein paganes Wirklichkeitsverständnis, das von allen theistischen Denkern und Denkerinnen abgelehnt werden sollte. Es war diese 64

65

Das heisst auch, dass Glaube (belief  ) mehr als „intellektuelle Zustimmung“ ist. Weil der Glaube im Herzen wurzelt, ist er eine (dispositionale) Verfasstheit der ganzen Person und nicht blosses logisches Räsonieren. Damit zum Beispiel logische Begriffe oder Ideen einen Glauben ausmachen, muss darauf vertraut werden, dass sie mit dem übereinstimmen, worauf sie sich beziehen. Damit ist Glaube durch den fiduziären Aspekt qualifiziert: Ein Glaube ist wahr, wenn er vertrauenswürdig ist, und er ist vertrauenswürdig, wenn er wahr ist. In der Einheit des Herzens kommen alle Aspekte zusammen, um Glauben in vollstem Sinn zu konstituieren. Siehe G. Allport, The Person in Psychology (Boston: Beacon Press, 1968), 13–14.

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9. Kapitel

Einsicht, die Herman Dooyeweerd als einer der ersten dazu geführt hat, die Philosophie aufgrund einer nicht-reduktionistischen Sicht des Menschen zu reformieren. Diese Einsicht, sagt er, war der grosse Wendepunkt in meinem Denken, wodurch neues Licht in das Scheitern aller Versuche, inklusive meines eigenen, kam, eine innere Synthese zwischen dem christlichen Glauben und einem philosophischen Denken, das im Glauben an die Autonomie der menschlichen Vernunft wurzelt, herbeizuführen.66 In der Folge, drückte er die Bedeutung der biblischen Sicht des Herzens so aus: Es gibt viele Fachwissenschaften, die den Menschen zum Gegenstand haben. Doch jede von ihnen betrachtet ihren Gegenstand aus einer bestimmten Perspektive und erfasst damit einen bestimmten Aspekt des Mensch-Seins. Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Geschichte, Soziologie, Ethik, usw. bieten alle wertvolle Erkenntnisse. Aber wenn man diese Wissenschaften fragt: „Was ist der Mensch als Mensch, worin besteht die zentrale Mitte seines Selbst“ dann haben sie keine Antwort … Das Ich erschöpft sich nicht in einem bestimmten Aspekt unserer zeit­ lichen Erfahrung, da es der zentrale Bezugspunkt aller Aspekte ist.67 Die Auffassung der menschlichen Natur als Mikrokosmos machte es Dooyeweerd möglich, diese Konzeption auf den Rest der Schöpfung als Makrokosmos auszudehnen. Sie führte ihn zur Einsicht, dass die verschiedenen Typen nicht-menschlicher Lebewesen und Dinge zwar einen bestimmten Charakter haben, aber insofern Menschen ähnlich sind, dass sie keine unabhängige, intrinsische Natur besitzen, die sie zu dem macht, was sie sind, da Gott sie zu dem macht, was sie sind. Ihr Wesen liegt in ihrer Abhängigkeit von Gott. So einfach diese Überlegungen scheinen mögen, haben sie doch äusserst weitreichende Konsequenzen für die Theoriebildung. Das nächste Kapitel wird sich mit der Frage beschäftigen, warum diese biblischen Einsichten die Konstruktion einer nicht-reduktiven Theorie der Gesamtwirklichkeit erforderlich machen. Die restlichen Kapitel werden dann Dooyeweerds eigenen Vorschlag präsentieren, wie eine solche Wirklichkeitstheorie aussehen könnte. 66 67

Dooyeweerd, New Critique, vol. 1, v. H. Dooyeweerd, In the Twilight of Western Thought (Philadelphia: Presbyterian & Re­formed, 1960), 179–80.

Die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes

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10. Kapitel

Die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes 10.1 Einführung Die vorausgehenden Kapitel waren der Diskussion prominenter Fallbeispiele gewidmet, wie einige der bedeutendsten Theorien in drei verschiedenen Wissenschaften aufgrund ihres unterschiedlichen Wirklichkeits­ verständnisses miteinander in Konflikt geraten können. Wir haben gesehen, wie diese Wirklichkeitsverständnisse ihrerseits von inkompatiblen Auffassungen des an sich Göttlichen geprägt sind. Wie gesagt, sollten diese Fallbeispiel aber nur gerade den Aussagegehalt der Behauptung verdeutlichen, dass Theorien religiös normiert sind. Die Wahrheit dieser Behauptung kann auf diesem Weg nicht belegt werden. Und bisher haben wir noch keine Argumente für die Auffassung gesehen, dass eine solche Kontrolle unvermeidbar ist. Das erste Ziel dieses Kapitels besteht also in der Präsentation von Argumenten, warum die religiöse Kontrolle in jeder wissenschaftlichen und philosophischen Theoriebildung unausweichlich ist. Falls diese Argumente erfolgreich sind, wird auch deutlich werden, warum wissenschaftliche und philosophische Theorien niemals neutral sein können bezüglich des einen oder anderen religiösen Glauben. Das heisst, es wird sich heraus stellen, warum das theoretische Denken nicht autonom ist. Und schliesslich sollen diese Argumente auch zeigen, warum die in den Fallbeispielen beobachtete indirekte Art und Weise der religiösen Kontrolle der biblischen Erkenntnis, dass jedes Wissen und jede Wahrheit vom Glauben an Gott abhängig ist, die grösste Gerechtigkeit widerfahren lässt.1 Die zweite Aufgabe, die sich in diesem Kapitel stellt, ist die Durchsicht der im ersten Teil präsentierten Argumente auf ihr kritisches Potential gegenüber reduktionistischen Theorien. Die Erläuterung der anti-reduktionistischen Kraft dieser Argumente dient wiederum der Plausibilisierung meiner These, dass Christen und andere Theisten gut beraten sind, die Finger von der versuchten Adaptierung reduktionistischer Theorien zu lassen – einer Adaptierung, die sich damit begnügt zu sagen, Gott hätte gerade einmal den Aspekt 1 Im Folgenden liegt der Schwerpunkt nicht auf dem universellen Einfluss von religiösem Glauben auf alle Erkenntnis; er liegt nur auf dem Einfluss auf alle Theorien. Aber die Kritik an der Reduktion als theoretische Erklärungsstrategie hat tatsächlich universelle Anwendung. Denn nicht nur jede Hypothese, sondern jeder Begriff ist, zumindest implizit, entweder reduktionistisch oder nicht.

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_011

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erschaffen, auf den alle anderen Aspekte scheinbar zurückgeführt werden können. Wir haben schon erwähnt, warum eine solche Sicht die eigentliche Erklärungskraft einer Theorie in deren Reduktionismus bestehen lässt. Das hat zur Folge, dass der Glaube an Gott keinen normierenden Einfluss auf den Theoriegehalt selbst ausübt. Die präsentierte Reduktionismuskritik wird jedoch über diesen Einwand hinausgehen. Es soll gezeigt werden, warum schon die Idee der Reduktion als vermeintliche Basis der wissenschaftlichen Erklärung im Kern versagt. Im letzten Teil dieses Kapitels werde ich die wichtigsten Gründe zu erspüren versuchen, warum sich die meisten Theisten der bedingten Übernahme reduktionistischer Theorien verpflichtet fühlen. Es wird also eine religiöse Kritik des Reduktionismus geleistet, die die philosophische Kritik ergänzt. Wir haben schon mehrmals gesehen, warum ein ungefilterter Reduktionismus eine pagan-religiös inspirierte Wirklichkeitstheorie voraussetzt. Aus diesem Grund waren Theisten immer darauf erpicht, diese Voraussetzungen so zu neutralisieren, dass sie mit dem Glauben an Gott kompatibel sind. Die religiöse Kritik wird jedoch zeigen, dass die übliche Strategie, mit der pagane Voraussetzungen neutralisiert werden sollen, ihrerseits pagane Voraussetzungen hat. Dementsprechend gelingt es dieser Strategie nicht, reduktive Theorien zu „taufen“ (oder zu „beschneiden“) und sie theistisch akzeptabel zu machen. Die kumulierte Wirkung dieser beiden Kritiken soll den Weg für ein Theorieprogramm frei räumen, das bewusst durch den Glauben an Gott reguliert ist – ein Programm, das verlangt, dass bestehende Theorien in systematisch nichtreduktiver Weise reinterpretiert, oder neue Theorien konstruiert werden. ­Kapitel elf wird deshalb mit der Darstellung der nicht-reduktionistischen, theistischen Wirklichkeitstheorie von H. Dooyeweerd einsetzen.2 Dieses Wirklichkeitsverständnis wird in Kapitel zwölf entfaltet und als Basis eines Entwurfs einer nicht-reduktiven Gesellschaftstheorie in Anspruch genommen. In Kapitel dreizehn werden die gewonnenen Erkenntnisse aufgenommen und zur Ausarbeitung der Skizze einer politischen Theorie verwendet. Da die spezifischen Entfaltungen der besagten Wirklichkeitstheorie in engem Zusammenhang mit Aussagen des Neuen Testaments stehen, werden die soziologischen

2 Obwohl das, was im Folgenden entwickelt wird, eine nicht-reduktionistische Theorie der Wirklichkeit ist, sollte klar sein, dass meine Behauptung lautet, dass der Glaube an Gott (und andere biblische Lehren) dazu verwendet werden kann, auch eine distinkte Theorie der Erkenntnis zu entwickeln. Und diese Theorien können ihrerseits auf Theorien in allen Wissenschaften angewendet werden. Wie schon weiter oben bemerkt, habe ich einige Folgen dieses Programms für die Erkenntnislehre in Knowing with the Heart ausgeführt.

Die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes

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und politischen Ansätze nicht einfach allgemein theistischer, sondern distinkt christlicher Natur sein.3 10.2

Warum Theorien unweigerlich von einem religiösen Glauben gesteuert sind

Zu Beginn sollten wir uns einige schon verhandelte Punkte nochmals so deutlich wie möglich vor Augen führen. 3 Die Ansicht, dass biblische Offenbarung eine distinkte Perspektive für die Interpretation des ganzes Lebens bereitstellen kann und soll, ist, wenngleich nicht sehr populär, nicht neu. Johannes Calvin erhob sie gegen den herrschenden Scholastizismus des 16. Jahrhunderts (siehe Institutes of the Christian Religion, II, ii, 16–18), und sie wurde wiederbelebt im Werk von Abraham Kuyper (1837–1920). Es war Kuyper, der diese Einsicht direkt auf Theorien anwandte: “Especially the leading thought which we have formed in that realm of life which holds our chiefest interest exercises mighty domain upon the whole content of our consciousness, viz. our religious views. … If, then, we make a mistake … how can it fail to communicate itself disastrously to our entire scientific study?” (Encyclopedia of Sacred Theology [New York: Scribners Sons, 1898], 109–10). Das bezieht sich auf philosophische und auf wissenschaftliche Theorien: “It follows at the same time that the knowledge of the cosmos as a whole … philosophy … is equally bound to founder upon … sin [in the sense of false religious belief]. (Ibid., 113) Das, so hält Kuyper fest, liegt daran, dass solches Wissen als Antwort auf Fragen entsteht, die enthalten müssen: “questions as to the origin and end of the whole … questions as to absolute [nondependent] being” (Ibid., 113). Daher lässt sich der biblische Glaube nicht darauf beschränken, Einsichten in übernatürliche Dinge zu vermitteln: “the Holy Scripture does not only cause us to find justification by faith, but also discloses the foundation of all human life … which must govern all human existence” (Lectures on Calvinism [Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1976], vi. Hierbei handelt es sich um die Stone Lectures, die Kuyper 1898 am Princeton Seminary hielt.) Es ist genau diese Position, die sich auch in seiner am häufigsten zitierten Bemerkung wiederspiegelt: “There is not a square inch of our whole human existence of which Christ does not say: Mine!” (Souvereiniteit in Eigen Kring [Amsterdam: J. H. Kruyt, 1880], 5) Das ist die Tradition, die in der Philosophie von Herman Dooyeweerd (1894–1977) weiter entwickelt wurde, dessen Theorien in den nächsten drei Kapiteln skizziert werden. Arthur Holmes hat Dooyeweerds Ansatz wie folgt zusammengefasst: “Reformed theology (of the Protestant tradition from John Calvin) is dissatisfied with the Thomistic doctrine of nature and grace and stresses instead the sovereignty of God over every operation of human nature and the equally pervasive influence of sin. The problem with natural reason, in this view, is not only man’s finiteness but – just as profoundly – his sin. It is a sin to assert the autonomy of philosophical reason … and this sin perverts philosophical understanding. Dooyeweerd, accordingly, draws a sharp line between Christian philosophy, which stems from the regenerate heart in obedience to the sovereign God, and all of the other philosophies” (“Christian Philosophy,” Encyclopedia Britannica, 1974 edition, vol. 4, 555–56).

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Aspekte sind, wie gesagt, grundlegende Arten von Eigenschaften und Gesetz­­mässigkeiten. Was im folgenden über sie gesagt wird, gilt nun für alle möglichen Aufzählungen solcher Aspekte, die von verschiedenen Denkern verwendet werden, und nicht für meine eigene provisorische Liste davon.4 Die nötigen Beispiele werde ich jedoch von dieser Liste beziehen, und zwar einfach darum, weil ihre Elemente weitgehend akzeptiert sind. Ein anderer, wichtiger Punkt ist, dass traditionelle Wirklichkeitstheorien einen oder zwei Aspekte herausgreifen, und diese zur Natur der gesamten Realität erklären. Das geschieht, indem der bevorzugte Aspekt als der einzig wirkliche aufgefasst wird (die starke Version der Reduktion), oder indem der bevorzugte Aspekt alle anderen Aspekte erzeugen soll (die schwache Version der Reduktion). Beide Ansätze „reduzieren“ die Welt der vortheoretischen Erfahrung auf die Aspekte, die als basal auserkoren werden. Die starke Version ist reduktionistisch, weil sie alle anderen Arten von Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten aus der (vortheoretisch erfahrenen) Wirklichkeit herausstreicht. Die schwache Version ist in dem Sinn reduktionistisch, dass sie den Status aller anderen Aspekte heruntersetzt; das heisst, diese als Produkte des bevorzugten Aspekts oder der bevorzugten Aspekte, und deshalb als weniger real, aufgefasst werden. Schliesslich haben wir auch gesehen, wie beide Versionen des Reduktionismus ihre bevorzugten Aspekte mit dem Status der Göttlichkeit bekleiden. Denn jeder Aspekt, der den grundlegenden Charakter der Wirklichkeit ausmachen soll, ist somit auch schon als unbedingt und nicht-abhängig aufgefasst.5 4 Der Grund, warum die Kritik der Theoriebildung, die vorgestellt werden wird, nicht nur auf meine spezielle Liste von Aspekten anwendbar ist, ist in etwa der folgende: Wenn einmal ein Kandidat für den Status einer basalen Art von Eigenschaften-und-Gesetzen als (logisch) hinreichend von allen anderen Arten distinkt betrachtet wird und demnach in die Liste eines Denkers aufgenommen wird, dann ist diese Art von Eigenschaften-und-Gesetzen auch hinreichend distinkt, um alle Widerstände gegen deren Reduktion hervorzurufen, die sich bezüglich der Liste, mit der ich arbeiten werde, ergeben. Während es also Unstimmigkeit über die richtige Liste geben mag, kann kein Aspekt – wenn die Aspekte auf einer jeden Liste als qualitativ hinreichend unterschiedlich identifiziert wurden – entweder als illusorisch oder als in einem anderen enthalten abgetan werden. Es ist der qualitative Unterschied eines potentiellen Aspektes, der ihn für eine Reduktion untauglich macht. Im weitesten Sinn ist der Grund dafür folgender: (1) Im Falle einer eliminativen Reduktion gilt, dass wenn genügend qualitative Differenzen vorhanden sind, um zwei Aspekte von einander zu unterscheiden, dann kann es nicht wahr sein, dass diese identisch sind; (2) im Falle einer kausalen Reduktion: Wenn es hinreichend qualitative Differenzen gibt, um Aspekte als distinkt anzusehen, dann kann zwischen diesen keine kausale Relation bestehen. 5 Der Sinn von „Reduktion“ lässt sich ausführlicher wie folgt bestimmen: A. Starke Reduktion. i. Bedeutungsersetzung. Das Wesen der Wirklichkeit ist exklusiv dasjenige des Aspekts X, womit alle Entitäten ausschliesslich die Eigenschaften der Art X haben und ausschliesslich

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von Gesetzen der Art X regiert werden. Um dies zu verteidigen, wird argumentiert, dass alle Begriffe, die angeblich nicht-X Bedeutung haben, durch Begriffe der Art X ersetzt werden können, ohne dass ihr Sinn verloren ginge, wohingegen das Umgekehrte nicht gilt (Berkeley, Hume und Ayer wenden diesen Strategie an, um den Phänomenalismus zu verteidigen). ii. Faktische Identität. Das Wesen der Wirklichkeit ist exklusiv dasjenige des Aspekts X, womit alle Entitäten ausschliesslich Eigenschaften der Art X haben und ausschliesslich von Gesetzen der Art X regiert werden. Das wird durch die Argumentation verteidigt, dass, obwohl die Bedeutung von nicht-X Begriffen nicht auf die von X-Begriffen reduziert werden kann, sich diese Begriffe dennoch exklusiv auf X-Entitäten beziehen. Die Auswahl der Art(en) von Begriffen, die extensional und intensional mit dem Wesen der Wirklichkeit korrespondieren, wird mit ihrer grösseren Erklärungskraft begründet. Dieses Argument versucht zu zeigen, dass für irgendwelche Entität die beste Erklärung immer eine ist, deren Grundbegriffe und Grundgesetze von der Art X sind (J.J.C. Smart verteidigt den Materialismus auf diese Art). B. Schwache Reduktion. i. Kausale Abhängigkeit: Das Wesen der Wirklichkeit ist grundsätzlich dasjenige des Aspekts X (oder das der Aspekte X und Y). Die X-haftigkeit der Dinge ermöglicht alle anderen Eigenschaften und Gesetze, die auf diese Dinge zutreffen. Während also andere Aspekte real sind und geeignete Objekte der wissenschaftlichen Untersuchung sein können, gibt es eine unidirektionale kausale Abhängigkeit zwischen nicht-X-Aspekten und dem X-Aspekt. Die nicht-X-Aspekte können ohne den X-Aspekt nicht existieren, wohingegen X sehr wohl ohne andere Aspekte existieren kann (Aristoteles und Descartes verteidigen Theorien, in denen bestimmte Aspekte das Wesen der Substanz ausmachen und alle anderen Aspekte entweder akzidentiell oder sekundär sind). ii. Epiphänomenalismus. Diese Version ist der erstgenannten kausalen Abhängigkeit sehr ähnlich, mit der Ausnahme, dass nicht-X-Aspekte als weniger real angesehen werden. Sie existieren zwar, aber haben weder ihre eigene Gesetze noch sind sie geeignete Objekte für wissenschaftliche Untersuchungen (Huxley und Skinner argumentieren, dass alle Bewusstseinszustände Epiphänomene von körperlichen Prozessen oder Verhalten sind). Diese Strategien können auf verschiedene Weise in ein und derselben Theorie miteinander kombiniert werden. Ein Denker könnte argumentieren, dass beispielsweise einige Aspekte auf der Grundlage der Bedeutungsidentität zu eliminieren sind, während andere aufgrund der faktischen Identität zu eliminieren sind, während andere wiederum kausal abhängig oder epiphänomenal sind. Die hier beschriebenen Ansätze decken nicht jede Bedeutung des Ausdrucks „Reduktion“ ab, die in der Philosophie zu finden sind, sondern bloss diejenigen, die aus philosophischen und religiösen Gründen zurückzuweisen sind. Es sollte auch festgehalten werden, dass einige Philosophen den Begriff der „Supervenienz“ verwenden, um eine Ordnung in der Erscheinung von bestimmten Arten von Eigenschaften zu bezeichnen, ohne eine Reduktion in den oben angeführten Weisen vornehmen zu wollen. Diese Verwendung ist nicht zurückzuweisen und kommt der von Dooyeweerd vorgeschlagenen Position in der Tat sehr nahe als Alternative zur Reduktion in der Wirklichkeitstheorie. Es sollte jedoch festgehalten werden, dass Supervenienz niemals als ein einmaliges Ereignis, sondern als konstantes Muster aufgefasst wird. Als solches lässt sie die Frage unbeantwortet, warum die supervenienten Eigenschaften konstant in der Weise auftreten, in der sie es tun. Jede Antwort darauf müsste entweder reduktionistisch sein, oder sie müsste auf eine nichtreduktionistische Theorie wie die von Dooyeweerd rekurrieren.

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Was veranlasst Menschen dazu, reduktive Theorien zu konstruieren und propagieren? Warum fanden sich so viele Theoretiker gezwungen, über das grundlegende Wesen der Wirklichkeit zu spekulieren? Warum können Theorien diese Frage nicht einfach links liegen lassen und sich auf Erklärungen innerhalb bestimmter Aspekte beschränken? Um die schon verwendete Analogie zu gebrauchen: Warum können Theorien nicht einfach nur die Perlen untersuchen, und die Schnur Schnur sein lassen? Diese Frage kann meiner Meinung nach am besten beantwortet werden, wenn wir zunächst eine weitere Frage stellen. Das heisst, wir müssen die Frage stellen, zu deren Beantwortung reduktive Theorien vorgeschlagen werden. Die Frage ist: Was ermöglicht es den verschiedenen aspektspezifischen Eigenschaften sich so zu verbinden, wie wir sie in unserer Erfahrung verbunden sehen, oder wie wir diesen Sachverhalt in unseren Theorien postulieren? Denn jede dieser Arten manifestiert eine unbezähmbare qualitative Verschiedenheit, die sie von jeder anderen abhebt. Doch in den Gegenständen unserer Wahrnehmung sind verschiedenartige Eigenschaften so vereint, dass sich uns diese Gegenstände nicht als Ansammlungen von Eigenschaften, sondern als Einheiten präsentieren. Jeder Gegenstand ist ein Individuum mit seiner eigenen Identität. Auch in Theorien stellt sich die Frage der Kohäsion der verschiedenen Aspekte. Denn Theorien enthalten Begriffe, die Eigenschaften verschiedener Art kombinieren und diese zu einander in ein Verhältnis zu setzen versuchen. Die Frage stellt sich also, was die starke Verbindung zwischen den Arten allererst ermöglicht. Aus diesem Grund gehören Hypothesen darüber, was die Wirklichkeit im Innersten zusammenhält (die Schnur der Perlenkette) zu den frühesten Theorien, seit es systematische Theoriebildung gibt (soweit wir wissen, scheint diese im alten Griechenland ihren Ursprung gefunden zu haben). Wenn Theorien solche Überblickstheorien der Gesamtwirklichkeit tatsächlich vermeiden, und so jede Zuschreibung von Göttlichkeit unterlassen sollen, müssten sie auch der Frage nach der Verbindung verschiedener Aspekte aus dem Weg gehen. Es geht also letztlich um die Frage, ob dies möglich ist oder nicht. Meine Antwort fällt negativ aus, und ich werde die Begründung für diese Antwort in verschiedenen Schritten darlegen, um sie so nachvollziehbar wie möglich zu machen. Der erste Schritt zur Einsicht der Unvermeidbarkeit einer irgendwie gearteten Auffassung der inter-aspektuellen Kohäsion geht von der Tätigkeit der Abstraktion aus, die unweigerlich in jede Theoriebildung hineinspielt. Dazu sollten wir uns erinnern, was in Kapitel vier über das Wesen der Abstraktion gesagt wurde. Abstraktion meint das Hervorheben und Eingrenzen eines Bereichs, auf den wir unsere Aufmerksamkeit richten können. Wir haben auch gesehen, dass sich wissenschaftliche und philosophische Theoriebildung durch einen hohen Abstraktionsgrad auszeichnet, da nicht nur individuelle

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Eigenschaften, sondern ganze Arten von Eigenschaften von ihren Trägern ­isoliert werden. Die einzelnen Wissenschaften haben sich voneinander unter­ schei­ den gelernt, indem sie verschiedene Arten von Eigenschafte­ n und Ge­ ­ setz­ mässigkeiten zu ihrem eigenen Gegenstandsbereich abstrahierten. Daraus folgt, dass solange hohe Abstraktion in der Theoriebildung unvermeidlich ist, der Frage, wie denn die verschiedenen aspektspezifischen Arten zusammenhängen, kaum ausgewichen werden kann. Wenn wir sie von ihren Gegenständen einmal abstrahiert und von einander deutlich unterschieden haben, sind wir auch gezwungen sie in ein Verhältnis zu setzen, um eben das zu erklären, was wir erklären wollen. Im vortheoretischen Denken hingegen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Arten von Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten nicht, da diese von ihren Trägern weder abstrahiert, noch dermassen scharf von einander abgehoben werden, dass ihre Verbindung zum Problem würde. Da dieser erste Argumentationsschritt darauf hinweist, wie das Problem der inter-aspektuellen Einheit durch die Tätigkeit der Abstraktion und Differenzierung allererst entsteht, ist es wichtig zu sehen, dass die weiter oben gegebene Darstellung der Abstraktion selber keine Theorie ist. Diese Darstellung war keine Hypothese, wie Abstraktion funktioniert, sondern eine Beschreibung, worin die Tätigkeit der Abstraktion besteht – eine Beschreibung, die jeder Leser und jede Leserin auf dem Weg der Selbstreflexion nachvollziehen und bestätigen kann.6 Dieser erste Argumentationsschritt steht und fällt deshalb nicht mit einer Reihe privilegierter Annahmen, die jemand machen muss, um überhaupt als rationale Kreatur gelten zu können. Er setzt auch keine Auffassung der Natur des menschlichen Erkenntnissubjekts voraus. Vorerst geht es allein um die Beschreibung eines Akts, den wir Abstraktion nennen, sowie um die Frage, ob sich der Leser und die Leserin in dem so beschriebenen Akt selber ertappen kann. Unsere Beschreibung muss, um diesen Zweck zu erfüllen, nicht einmal vollständig sein. Sie muss nur gerade zutreffen soweit sie eben reicht. Der zweite Argumentationsschritt bezieht sich auf den unterschiedlichen Erfolg, der uns beschieden ist, wenn wir Aspekte von ihren Trägern abstrahieren, und wenn wir versuchen, diese Aspekte selbst von einander zu abstrahieren. Meine Behauptung ist nun die, dass wir zwar Arten von Eigenschaften und Gesetzeskonformitäten von den Gegenständen unserer vortheoretischen Erfahrung isolieren, diese Arten selbst aber nicht vollständig von einander trennen können. (Aus diesem Grund habe ich im letzten Abschnitt von einer scharfen Abgrenzung der Aspekte und nicht von ihrer gegenseitigen Isolierung 6 Dooyeweerd, New Critique, vol. 1, 34–46.

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gesprochen.) Der Zusammenhalt der Aspekte ist so stark, dass es uns nicht einmal gelingt, einen einzelnen Aspekt für sich zu denken. Und genau dieser Umstand hindert uns daran, eine Theorie strikt innerhalb der Grenzen eines jeden dieser Aspekte beginnen und enden zu lassen. Jeder Versuch dies zu tun, endet unweigerlich damit, dass Eigenschaften des untersuchten Aspekts in ein Verhältnis zu anderen Eigenschaften gesetzt werden. Deshalb ist eine Theorie ständig mit der Frage konfrontiert, welche Art von Verbindung zwischen ihrem und allen anderen Aspekten existiert. Eine Theorie kann diese Frage explizit aufwerfen oder auch nicht, sie beantworten oder nicht. Aber selbst wenn sie weder das eine noch das andere tut, setzt sie eben doch eine stillschweigende Beschreibung dieser Verbindung voraus, und damit eine bestimmte Art von Verbindung. Dieser zweite Argumentationsschritt ist, sowenig wie der erste, nicht selbst eine Hypothese. Er setzt voraus, dass sich unserer Erfahrung Gegenstände, Ereignisse, Zustände, Beziehungen, Personen, usw. präsentieren, und dass diese Erfahrungsdinge von qualitativ verschiedenen Arten von Eigenschaften geprägt sind, die in geordneten Verhältnissen zu einander stehen. Noch einmal, diese Annahmen sind keine Hypothesen; es ist keine Vermutung, dass wir Dinge-mit-geordneten-Eigenschaften wahrnehmen. Auf den Einwand, dass die Realität von Dingen-in-Aspekten ohne Begründung angenommen wird, habe ich eine zweiteilige Antwort. Erstens: In unserer Erfahrung präsentieren sie sich als real, so dass die Annahme ihrer Realität ebenfalls keine Hypothese ist. Vielmehr wäre die Verneinung ihrer erfahrungsmässigen Realität eine Hypothese. Zweitens: Wir müssen nicht einmal die Realität der Aspekte annehmen, damit sich unser Argument gegen diesen Einwand durchzusetzen vermag. Das Argument ist schon dann erfolgreich, wenn wir nur gerade die Erfahrungswirklichkeit von Dingen-in-Aspekten anerkennen. (Selbst bei Annahme ihrer blossen Erfahrungswirklichkeit wird sich jedoch herausstellen, dass die Verneinung der vortheoretischen Erfahrungswirklichkeit als Ganzer inkohärent ist.) Dem ersten Argumentationsschritt ähnlich, versagt sich dieser Punkt jeglichen Anspruch auf eine Reihe von privilegierter Annahmen, die angeblich von keiner rationalen Person verneint werden kann. Da dieser zweite Schritt keine Deduktion ist, macht er überhaupt keine Annahmen. Und da er auch keine induktive Folgerung ist, ist die Schlussfolgerung nicht nur wahrscheinlich. Vielmehr hat das Argument die Form eines Gedankenexperiments, das jede Person auf dem Weg der Selbst-Reflexion nachvollziehen kann. Das bedeutet dann aber, dass sich die Kraft des Arguments nur denen erschliesst, die sich diesem Gedankenexperiment tatsächlich unterziehen.

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Das Experiment besteht im Versuch, einen Aspekt ganz für sich allein zu denken, so wie ich eben behauptet habe, das sei unmöglich.7 Es geht also darum, einen beliebigen Aspekt so zu denken, dass meine Behauptung widerlegt ist, ein solcher Gedanke sei unmöglich zu fassen. Wenn es jemandem dennoch gelingt, fällt mein Argument auf die Nase. Wem es nicht gelingt, wird selbst eingesehen haben, warum die Frage nach der Verbindung der verschiedenen Aspekte nicht vermieden werden kann. Versuchen wir es also. Wir beginnen auf der allgemeinsten Ebene, der Ebene ganzer Aspekte. Als erstes Beispiel nehmen wir den physischen Aspekt, das heisst, physische Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten. Das Experiment verlangt, dass wir uns einen Begriff solcher Eigenschaften unabhängig von allen anderen Aspekten machen. Wir sind aufgefordert, unsere Vorstellung von „physisch“ von jeder quantitativen, räumlichen und kinetischen Konnotation zu befreien. Dann wollen wir den biotischen, den sensorischen, den logischen und den linguistischen Aspekt wegdenken. Bleibt bei irgend jemandem etwas zurück? Bei mir nicht. Wenn all die anderen Aspekte abgezogen sind, hat sich auch meine Vorstellung von „physisch“ in Nichts aufgelöst. Und immer stosse ich auf dasselbe Resultat, egal welchem Aspekt ich mich zuwende. Versuchen wir es zum Beispiel mit dem sensorischen Aspekt. Was bleibt von unserer Vorstellung dieses Aspekts, wenn seine gesamten Verbindungen zum quantitativen, räumlichen, physischen, logischen und linguistischen gekappt sind? Nichts. Logische Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten fallen dem selben Resultat zum Opfer. Das zentrale Axiom jenes Aspekts, das Gesetz des Widerspruchs, besagt zum Beispiel, dass nichts zugleich wahr und falsch im selben Sinn sein kann. Es bezieht sich sowohl auf Sinnunterschiede wie auf verschiedene Zeitpunkte und ist somit unweigerlich an nicht-logische Gesichtspunkte gekoppelt. Das Gesetz kann ohne diese Verbindungen nicht einmal gedacht, geschweige denn formuliert werden. Vielleicht ist die Betrachtung von ganzen Aspekten einigen Lesern und Leserinnen zu abstrakt. So wollen wir das Gedankenexperiment auf der Ebene von spezifischen Eigenschaften wiederholen. Nehmen wir die Eigenschaft des Gewichts im physischen Sinn (nicht im sensorischen Sinn als empfundenes Gewicht, sondern als gegenseitige Anziehung von zwei Körpern). Versuchen wir es nochmals: ziehen wir von unserer Idee dieser Eigenschaft die Verbindung zu ihrer Quantifizierbarkeit, zu ihrer räumlichen Identifizierbarkeit, zu der Möglichkeit der Bewegung, zur logischen Tatsache der Identität mit sich selbst und zu ihrer sprachlichen Benennbarkeit ab. Bleibt irgend etwas übrig? Oder nehmen wir die sensorische Eigenschaft rot. Können wir uns eine 7 Ebd., vol. 2, 539.

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Vorstellung von rot machen, die keine Quantität, weder Ort noch Form, kein Zusammenhang zu den physischen Eigenschaften des Lichts und keine logischer Unterschied zu anderen Farben enthält? Oder die logische Eigenschaft jedes Dings, mit sich selbst identisch zu sein (das ist die Eigenschaft, von sich selber ununterscheidbar zu sein, deren Verneinung in notwendigen Konflikt mit dem Gesetz des Widerspruchs führt). Ich glaube, ein rein logisches Ding erweist sich als ebenso wenig denkmöglich wie etwas rein Physisches oder rein Sensorisches. Vielmehr besteht alles aus einer geordneten Kombination von nicht-logischen Eigenschaften, die zusammen den betreffenden Gegenstand unterscheiden und identifizieren. Damit ist nicht verneint, dass die logischen Gesetze real sind und sowohl für die Gegenstände unserer Erfahrung und unseres Denkens gelten. Verneint wird nur, dass wir logische Gesetze unabhängig von nicht-logischen Eigenschaften und Gesetzen denken können. Wer bei diesem Gedankenexperiment zum selben Resultat kommt wie ich, wird eingesehen haben, warum die Abstraktion von Eigenschaften und Gesetzen deren Zusammenhalt zu einem wahrhaft unvermeidbaren philosophischen Problem macht. Wie gesagt kann sich eine Theorie zu dieser Frage ausschweigen und einfach davon ausgehen, dass alle diese Aspekte zusammenhängen. Nichtsdestotrotz wird auch diese Theorie eine bestimmte Art von Verbindung voraussetzen. Wie wir zu sehen bereits Gelegenheit hatten, gibt es eine Reihe von Theorien, die sich genau über dieser Frage zerstritten haben. Wir haben auch bemerkt, dass die jeweilige Sicht der inter-aspektuellen Kohäsion identisch ist mit dem grundlegenden Wirklichkeitsverständnis einer Theorie. Wenn aber die einzelnen Aspekte unabhängig von ihren gegenseitigen Verbindungen überhaupt nicht denkbar sind, dann hängt ihre Existenz, so weit wir sehen können, von ihrem Zusammenhalt ab. Und wenn dieser Zusammenhalt nicht seinerseits von etwas abhängig ist, dann hat er, mangels einer Alternative, selbst göttlichen Status an sich. Aus diesem Grund ist es einer Theorie unmöglich, keinen religiösen Glauben mit einzuschliessen oder vorauszusetzen. Für den Fall, dass der letzte Gedanke etwas schnell vorbeiging, werde ich ihn nochmals anders darlegen. Was immer die Kohäsion qualitativ verschiedener Arten von Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten möglich und real macht ist das, wovon alle diese Arten abhängen. Denn insofern wir sie überhaupt denken können, treten diese Aspekte niemals unabhängig von einander auf. Aus diesem Grund waren und sind alle Theorien gezwungen, die Natur der Kohäsion dieser Aspekte zum Gegenstand einer Erklärung zu machen. Die „schwach“ reduktionistische Theorievariante versucht das Problem zu lösen, indem sie ihren bevorzugten Aspekt oder Aspekte zur notwendigen und hinreichenden Bedingung aller anderen

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macht. In diesem Fall besteht die Erklärung des inter-aspektuellen Zusammenhangs darin, dass die restlichen Aspekte durch den bevorzugten Aspekt generiert werden. Dagegen versucht eine „stark“ reduktionistische Theorie das Problem aufzulösen statt es zu lösen. Die Existenz von Aspekten ausserhalb derer, die das Wesen der Wirklichkeit als solcher definieren, wird verneint. Doch das Problem des inter-aspektuellen Zusammenhalts stellt sich unweigerlich auch den Vertretern eines starken Reduktionismus. Denn auch sie müssen zugeben, dass die sich unserer Erfahrung präsentierende Wirklichkeit qualitativ verschiedene Eigenschaften aufweist. Wäre dem nicht so, könnten Theoretiker überhaupt keine alternativen Auffassungen der Wirklichkeit bilden – Auffassungen, deren Existenz von starken Reduktionisten sehr wohl zur Kenntnis genommen, aber als inhaltlich falsch zurückgewiesen werden. Vielmehr als unser Problem zu vermeiden, geht der starke Reduktionismus einfach anders mit ihm um. Das Verhältnis der verschiedenen Aspekte wird als ein Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Illusion konstruiert. Zum Beispiel behauptet eine Version des starken Materialismus, dass alle scheinbar nicht-physischen Dinge und Eigenschaften Produkte eines Denkens seien, das als „Volkspsycho­ logie“ (folk-psychology) diskreditiert wird. Aber auch in einer solchen Perspektive wird zugegeben, dass die Menschen ihre Vorstellungen von nicht-physischen Eigenschaften erst einmal aus der vortheoretischen Erfahrung gewinnen. Wollte der starke Materialismus rundweg verneinen, dass überhaupt irgend jemand nicht-physische Eigenschaften wahrzunehmen scheint, würde er sich selbst als derart unplausibel hinstellen, dass er von niemanden mehr ernst genommen werden könnte. Ich fasse zusammen: Es ist das Problem des Zusammenhangs aller (scheinbaren) Aspekte, das unmöglich vermieden werden kann und jede Theorie zwingt, eine bestimmte Art von Kohäsion anzunehmen oder zu spezifizieren. Das Problem kann deshalb nicht vermieden werden, weil wir die verschiedenen Aspekte überhaupt nicht von einander isoliert denken können. Wir werden ihrer allein dadurch explizit gewahr, dass wir sie von den Gegenständen der vortheoretischen Erfahrung abstrahieren und von einander abheben. Es ist diese widerspenstige Tatsache, die das Problem der Kohäsion der verschiedenen Arten von Eigenschaften aufwirft. Diese Frage zu beantworten ist aber gleichviel wie ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis vorzuschlagen (oder vorauszusetzen). Denn was immer als das vorgeschlagen wird, was „die Wirklichkeit im Innersten zusammenhält“, macht auch die nicht-abhängige Realität dessen aus, von dem alles andere abhängt. Ein solcher Vorschlag identifiziert so die Art der Schnur, die die Perlen zusammenhält, indem sie letztere allererst generiert. Das ist der Grund, warum reduktive Wirklichkeitsverständnisse nicht umhin können, dem oder den jeweils bevorzugten Aspekten (Schnur)

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göttlichen Status zu verleihen. Was immer eine Theorie als das identifiziert, wovon alles andere abhängt, ist seinerseits vollständig nicht-abhängig und deshalb an sich göttlich.8 10.3

Eine philosophische Kritik des Reduktionismus als Theoriestrategie

Im Folgenden werde ich die Auffassung begründen, dass die Frage der interaspektuellen Kohäsion legitim und unvermeidlich, der Reduktionismus als Erklärungsstrategie aber weder das eine noch das andere ist. Diese Strategie geht von Anfang an davon aus, dass die Art des Zusammenhalts durch den einen oder anderen Aspekt gegeben sein muss, so dass die eine oder andere Perle auch die Schnur ausmacht. Das heisst nichts Anderes als dass einem gewissen Aspekt oder gewissen Aspekten Göttlichkeit zukommt. Die Strategie setzt dementsprechend einen paganen Glauben voraus. Doch ist, wie ich gleich zu zeigen versuchen werde, eine solche Annahme nicht zu rechtfertigen, wenn sie als Begründung einer Theorie funktionieren soll. Obwohl diese Annahme im Umkreis einer Theorie auftritt, ist und bleibt sie doch eine religiöse Auffassung. Sie kann deshalb nicht einfach als eine weitere theoretische Hypothese ausgegeben werden. Weiter oben habe ich angedeutet, dass die Argumente, aus denen sich die Unvermeidbarkeit von religiösen Leitüberzeugungen ergibt, gleichzeitig eine Kritik am Reduktionismus als Erklärungsstrategie enthalten. Wir wollen diese Argumente also nochmals vom Gesichtspunkt ihres anti-reduktiven Potentials her betrachten. Zuerst möchte ich allerdings einen wichtigen Punkt wiederholen: Meine Argumente sollen nicht zeigen, dass der Glaube an die Göttlichkeit eines bestimmten Aspekts falsch ist, sondern nur klarstellen, warum ein solcher Glaube nicht gerechtfertigt ist. Die Kritik am Reduktionismus wird also nicht auf einen Beweis hinauslaufen, dass Gott existiert, oder dass er allein göttlichen Status hat. Vielmehr soll deutlich werden, warum die vermeinte Göttlichkeit eines bestimmten Aspekts aus der vortheoretischen Erfahrung an 8 Hier sollte an einen Punkt erinnert werden, den ich im 2. Kapitel gemacht habe. Dort habe ich darauf hingewiesen, dass wenn heilige Schriften, Mythen, Theologien etc. alle Dinge auf ein hervorbringendes Prinzip oder auf mehrere hervorbringende Prinzipien zurückführen, sie diesem oder diesen Göttlichkeitsstatus verleihen, unabhängig davon, ob sie es so nennen oder nicht. Dasselbe gilt auch für Theorien: Was immer als Ermöglichungs- und Wirklichkeitsgrund von allem anderen postuliert wird, ist per se göttlich, unabhängig davon, ob die Theoretiker bereit sind, dies anzuerkennen.

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die Theoriebildung herangetragen wird, und deshalb keine Spur weniger religiös bedingt ist als der Glaube an Gott. Der erste Teil der Kritik an der reduktiven Theoriebildung nimmt Bezug auf den ersten Schritt des oben angeführten Arguments. Er nimmt also die Tätigkeit der Abstraktion in den Blick. Unsere Kritik zielt darauf ab, wie einige Denker aus der Tatsache, dass einzelne Aspekte aufgrund ihrer vorgängigen Abstraktion scheinbar unabhängig dastehen, auf die reale Unabhängigkeit eben dieser Aspekte geschlossen haben. Aristoteles, zum Beispiel, hat argumentiert, dass die Fähigkeit des menschlichen Geistes, logische Begriffe zu bilden, vom menschlichen Körper unabhängig sein muss.9 Da das logische Denken in der Lage ist, Begriffe des Körpers und der restlichen Welt zu bilden, muss es gemäss Aristoteles unabhängig vom Körper und vom Rest der Welt sein. Sein Argument ist also ein deutlicher Fall der Abstraktion des logischen Aspekts (des menschlichen Denkens) und dessen Verdinglichung zur realen, separaten und unabhängigen Existenz, obwohl das vorgeblich unabhängige Bestehen dieses Aspekts das Produkt von Aristoteles eigener Tätigkeit der Abstraktion und des Unterscheidens ist! Descartes machte den gleichen Fehler, aber in seinem Fall wog er ungleich schwerer. Denn Descartes ist sich der von ihm gezogenen Schlussfolgerung bewusst, dergemäss aus der gedanklichen Unterscheidbarkeit zweier Dinge die unabhängige Existenz der beiden folgen soll.10 Die Pointe dieses Teils der Kritik ist einfach: Einen beliebigen Aspekt der Erfahrung zu abstrahieren und die resultierende, scheinbare Trennung als Beweis seines unabhängigen Bestehens zu betrachten, fällt unter die Kategorie von Widersprüchlichkeit, die ich weiter oben performative Inkohärenz 9

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Siehe Werner Jaegers Bemerkungen zu Aristoteles Metaphysik (XII, 3, 1070a) und zu dessen Protrepticus in Aristotle (London: Oxford University Press, 1960), 49-52. Die angebliche unabhängige Existenz unseres Geistes, die unserer Fähigkeit geschuldet ist, diesen unabhängig vom Körper zu konzipieren, bildet die Grundlage der Überzeugung, dass der Geist unsterblich und göttlich ist. Und weil Aristoteles anerkennt, dass alles, was unabhängig existieren kann, göttlich ist (Meta. 1064a34), ist es bedeutungsvoll, dass Jaeger den Protrepticus wie folgt zitiert: “Man has nothing divine or blessed except the one thing worthy of trouble, whatever there is in us of Nous (mind) and reason. That alone of what we have seems immortal and divine.” So zum Beispiel: „da ich ja einerseits eine klare und deutliche Vorstellung meiner selbst habe, sofern ich nur ein denkendes, nicht ausgedehntes Wesen bin, und andererseits eine deutliche Vorstellung vom Körper, sofern er nur ein ausgedehntes, nicht denkendes Wesen ist – so ist, sage ich, soviel gewiss, dass ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.“ (R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, VI.9).

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genannt habe. Da die Abstraktion und trennscharfe Unterscheidung des bevorzugten Aspekts ein Produkt der Tätigkeit des Denkers selber ist, hat dieser kein Recht zu glauben, dass der gedanklichen Hervorhebung dieses Aspekts reale Unabhängigkeit entspricht. Erinnern wir uns an das Beispiel des Thermometers, den wir in den Behälter einführen, um die Temperatur des Wassers zu ermitteln. Wenn wir dann behaupten, dass ein Blick auf das Thermometer entscheiden müsse, wie hoch die Temperatur des Wassers vor der Messung war, haben wir die Tatsache ausgeblendet, dass die zur Gewinnung der gewünschten Information erforderliche Tätigkeit die Information selbst verändert hat. Genauso verhält es sich mit der Tätigkeit der Abstraktion. Wir können einen Aspekt von den Dingen isolieren, die diesen manifestieren. Wir können in Gedanken eine trennscharfe Linie zwischen diesem und anderen Aspekten ziehen, um ihn besser analysieren zu können. Aber die Tatsache, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Weise begrenzen können, kann niemals den Schluss rechtfertigen, der abstrahierte Aspekt sei in der Lage, unabhängig von allen anderen zu existieren. Der zweite Schritt dieses Teils unserer Kritik spricht ebenso gegen Aristoteles, noch deutlicher aber gegen Descartes. Denn unser Gedankenexperiment zeigte, dass wir einen Aspekt nie in vollständiger Isolation von den anderen denken können. Wir sollten beachten, dass dies nicht einfach das Gegenteil der Behauptung Descartes ist. Es ist nicht so, dass wir Descartes Behauptung, aus der Möglichkeit der gedanklichen Unterscheidung von Aspekten könne auf deren reale Unabhängigkeit geschlossen werden, einfach umdrehten und nun behaupteten, wenn wir diese Unterscheidung nicht machen könnten, verhalte es sich in Wirklichkeit auch nicht so. Die Pointe ist vielmehr die: Wenn es uns nicht einmal gelingt, die Spur einer Idee eines unabhängig existierenden Aspekts X zu bilden (wobei X für jeden beliebigen Aspekt steht), dann existiert auch keine mögliche Begründung der behaupteten Unabhängigkeit von X. Damit soll nicht verneint werden, dass Menschen im Glauben leben (können), ein Aspekt der Welt besitze göttlichen Status, selbst wenn es ihnen unmöglich ist, die Idee eines vorgeblich unabhängigen Aspekts zu bilden. Menschen gelangen zu einem solchen Glauben aus dem schon mehrmals genannten Grund: Sie erfahren einen bestimmten Aspekt als das Wesen des Göttlichen. In einem bestimmten Sinn ist die pagan-religiöse Erfahrung also mit sich selber uneins. Einerseits erscheint ein Aspekt der vortheoretischen Erfahrungswirklichkeit als göttlich, andererseits zeigt das Experiment, dass wir nicht in der Lage sind, auch nur den Gedanken eines derartigen Aspekts zu bilden. Deshalb läuft die pagan-religiöse Intuition des Göttlichen auf die Erfahrung von etwas hinaus, dass wir nicht als nicht-abhängig denken können, dem aber trotzdem auf eine undenkbare Weise reale Unabhängigkeit zukommt.

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Das ist eine ungemütliche Situation, wenn ein solcher Glaube die Grundlage der Theoriebildung sein soll. Noch viel unerträglicher aber ist diese Situation hinsichtlich der existentiellen religiösen Lage des Denkers. Ihr entspringt die Rastlosigkeit der paganen Glaubensüberzeugungen, auf die ich schon früher hingewiesen habe, denn die Vergöttlichung eines Aspekts erregt die Gegenvergöttlichung eines anderen Aspekts. Augustinus hat diese Situation, in der er sich vor seiner Bekehrung zum christlichen Glauben befand, in die berühmten Worte gefasst: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“ Die Aussichtslosigkeit der Begründung pagan-religiöser Überzeugungen kann auf verschiedenen Wegen einsichtig gemacht werden. Im Folgenden werde ich zwei davon aufzeigen. Einmal hat unser Gedankenexperiment gezeigt, dass dem Ausdruck „unabhängig existierendes X“ (wobei X für einen oder mehrere Aspekte des Kosmos steht) ein ähnliches Schicksal beschieden ist wie dem Ausdruck „viereckiger Kreis“. Wir können die Worte zwar aussprechen, aber keine irgendwie geartete Idee damit verbinden. Wenn das so ist, wie sollten wir dann Argumente anführen, die zeigen, dass „X hat unabhängige Existenz“ tatsächlich wahr ist?11 Der zweite Punkt hat mit der Strategie zu tun, die solche Theorien für gewöhnlich einschlagen, um die Gleichsetzung von abstraktiver Trennung des Denkens mit realer Unabhängigkeit zu vermeiden. Die meisten Philosophen des letzten Jahrhunderts oder so würden wohl mit meiner Kritik an Descartes übereinstimmen. Aber anstatt Abstraktion mit realer Unabhängigkeit zu verwechseln, würden sie die Wahl des favorisierten Aspekts, von dem alle anderen abhängen sollen, mit der vermeintlich grösseren Erklärungskraft ihrer Position begründen. Das heisst, viele Denker würden argumentieren, dass die Erhöhung von Aspekt X zum grundlegenden Wesen der Wirklichkeit, von der alles andere abhängt, dadurch gerechtfertigt ist, dass sie die beste oder einzige Erklärung der Dinge abgibt. Aber auch dieser Versuch ist durch unser Gedankenexperiment unterbunden. Denn insofern die Eigenschaften und die Gesetze von X als Erklärung von irgendetwas gedacht werden können, werden sie immer in Beziehung zu anderen Arten Eigenschaften und Gesetzen, und nicht von diesen isoliert gedacht. Wenn schon die Isolierung des jeweils 11

Ich sage „ähnlich“, weil die beiden Ausdrücke nicht im selben Teil des Bootes sind. Ein Quadrat und ein Kreis sind zwei räumliche Figuren, von denen wir intuitiv wissen, dass deren Kombination nicht möglich ist. Im Gegensatz dazu verweist der Ausdruck „unabhängig existierendes X“, wobei X eine Art von Eigenschaften und Gesetzen darstellt, nicht auf etwas intuitiv Unmögliches, sondern ist einfach bedeutungslos. Während in einem Fall also eine Nullmenge bezeichnet wird, wird im anderen Fall eine leere Menge bezeichnet. Die beiden Ausdrücke befinden sich aber im selben Boot, was die Aussichten für mögliche Begründungen ihres Wirklichkeitsanspruches angeht.

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bevorzugten Aspekts gedanklich nicht vollzogen werden kann, hilft auch die Einführung von „Überbrückungsgesetzen“ zur Vermittlung von Aspekt X und anderen Aspekten nichts. Solche Überbrückungsgesetze erklären gar nichts, da ihr Wesen genau so wenig wie irgend etwas Anderes als ausschliesslich X gedacht werden kann. Aber genau das müsste der Fall sein, wenn denn die Gesetze des Typs X diejenigen wären, von denen alles abhängt und auf die alles zurückgeführt werden könnte. Die Einführung von hypothetischen Überbrückungsgesetzen kann also nicht an der Tatsache rütteln, dass „… ist ausschliesslich X“ undenkbar ist. Soweit wir etwas von X wissen können, ist es doch immer noch so, dass X von seinen Verbindung zu anderen Aspekten abhängt, derweil diese Verbindungen durch Überbrückungsgesetze erklärt werden sollen, die aus­schliesslich vom Typ X sind! So nimmt der ganze Rattenschwanz von Argumenten, der als Evidenz der vermeintlichen Unabhängigkeit von X angeführt wird, unweigerlich Bezug auf X in seinen vielfältigen Beziehungen, und nicht auf einen isolierten Aspekt. Und diese Beziehungen können nicht ausschliesslich unter den Aspekt X fallen. Solange das aber der Fall ist, gibt es keine guten Gründe für das vermeintlich grössere Erklärungspotential eines Aspekts X, von dem alles andere abhängen soll. Im Gegenteil kehrt die Undenkbarkeit eines unabhängig existierenden Aspekts X an jedem Punkt der Theorie zurück und macht sämtliche Evidenz zunichte, aufgrund derer man das überlegene Erklärungspotential eines so verstandenen Aspekts begründen möchte. Zu beachten ist auch, dass diese und die vorausgehenden Kritikpunkte allesamt Anwendungen des Kriteriums sind, das ich in Kapitel vier performative Kohärenz genannt habe. In beiden Fällen steht eine gedankliche Aktivität dem Reduktionismus im Weg; entweder eine Tätigkeit, die wir zur Konstruktion von Theorien vollziehen müssen (Abstraktion), oder eine Tätigkeit, die wir zur Beurteilung einer Theorie vollziehen können (das Gedankenexperiment). Wir können das Resultat dieser Tests in unserer eigenen Selbstreflexion bestätigen, indem wir unserem Denken im Akt der Abstraktion oder im Vollzug des Gedankenexperiments auf die Schliche kommen. Um die Bedeutung der letzten beiden Anwendungen dieses Kriteriums noch stärker hervorzuheben, gehe ich sie beide nochmals durch. Diesmal ist der Begriff des Atoms Gegenstand der Analyse. Wie schon bemerkt, kann es eine Atomtheorie nicht einfach mit der Behauptung „Es gibt Atome“ bewenden lassen. Sie muss spezifizieren, um welche Art von Gegenstand es sich hierbei handelt. Dabei stellt sich unweigerlich die „Verbindungsfrage“. Wohlgemerkt stellt sie sich unabhängig davon, ob das vorgeschlagene Wesen des Atoms verschiedenartige Eigenschaften umfasst oder aus Eigenschaften eines einzigen Aspekts bestehen soll. Denn auch im zweiten Fall muss die Theorie erklären, wie sich die Wesenseigenschaften des Atoms zu Eigenschaften

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anderer Aspekte verhalten, die nicht zu seinem Wesen gehören. Wenn eine Theorie zum Beispiel sagt, Atome seien rein physischer Natur, muss sie auch erklären können, in welchem Verhältnis diese physischen Eigenschaften zum Beispiel zu den sensorischen Eigenschaften der Wahrnehmung stehen. Denn wenn es eine solche Verbindung nicht gibt, oder wenn sie nicht stark genug ist, hat die Beobachtung von physikalischen Experimenten überhaupt keinen Sinn. Ein stark reduktionistischer Materialismus müsste denn auch erwidern, dass es überhaupt keine sensorischen Eigenschaften gibt, derweil ein schwacher Materialismus behaupten müsste, diese Eigenschaften seien vollständig von Kombinationen von Gegenständen erzeugt, die ausschliesslich physischen Art sind. Bemerkenswert ist, dass die erste Antwort den Wert physi­kalischer Experimente, so wie sie tatsächlich erfahren werden, vollständig untergräbt, die zweite Antwort aber die Verbindung zwischen verschiedenartigen Eigenschaften als rein physisch darstellt. Wir haben schon gesehen, warum beide Antworten zum Opfer unseres Gedankenexperiments werden. Wenn es uns nicht gelingt, eine Art von Eigenschaft und Gesetzmässigkeit unabhängig von allen anderen zu denken, ist auch die Behauptung von ausschliesslich physischen Atomen oder von rein physischen Kausalverhältnissen zwischen Atomen und nicht-physischen Eigenschaften ohne jeglichen Gehalt. (Und das gilt auch ohne die weitere Schwie­rigkeit zu berücksichtigen, wie eine rein physische Ursache überhaupt nicht-physische Wirkungen hervorbringen kann!) Das Postulat eines angeblich rein physischen Kausalitätsverhältnisses wirft das zu lösende Problem einfach neu auf. Was hier in Blick auf den Materialismus gesagt wurde, gilt ebenso für jeden anderen „-ismus“. Unser Einwand greift, egal auf welchen Aspekt oder Kombination von Aspekten alle anderen scheinbar reduziert werden. Welcher Aspekt auch immer ausgewählt wird, die Tatsache bleibt bestehen, dass keiner für sich allein gedacht und deshalb auch nicht als so existierend begründet werden kann. Darüber hinaus ist unsere Kritik nicht nur im Fall von Theorien effektiv, die Aspekte von Erfahrungsgegenständen auswählen, um die Verbindung zwischen verschiedenen Aspekten zu erklären. Sie richtet sich ebenso gegen subjektivistische Theorien, wonach das (menschliche) Subjekt die Instanz ist, die alle aspektspezifischen Eigenschaften der Dinge eint, und damit Ordnung in die Erfahrungswirklichkeit bringt. Subjektivistische Theorien enden in derselben Sackgasse, da auch sie genötigt sind zu erklären, welcher Aspekt des menschlichen Bewusstseins oder des Selbst dieses Werk zustande bringen soll. Denn Menschen erfahren und unterscheiden nicht nur verschiedene Aspekte der Wirklichkeit, sie sind auch ein Teil dieser Wirklichkeit. Zum Beispiel hat ein Akt des Denkens selber quantitative, räumliche, physische, biotische, sensorische, logische, usw. Eigenschaften, wie schon in der Diskussion des

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10. Kapitel

Behaviorismus erwähnt wurde. Deshalb ist die Frage unvermeidbar, welche Art von subjektiver Tätigkeit die Verbindung stiftet, ohne die weder individuelle Eigenschaften noch ganze Arten davon gedacht werden können. Auf diese Weise geraten reduktionistische Theorien des Erkenntnissubjekts in dieselbe Sackgasse wie reduktionistische Theorien der Objekte von Erkenntnis. Einmal mehr ist es das Problem der inter-aspektuellen Kohäsion, woraus die Unvermeidbarkeit von religiösen Überzeugungen in der Theoriebildung erwächst. Da wir uns keine Idee eines selbstständig existierenden Aspekts machen können, ist jede theoretische Erklärung dazu gezwungen, etwas anzu· nehmen oder vorzuschlagen, das diese Einheit garantiert. Wenn einer (oder mehrere) dieser Aspekte selbst in diese Rolle gehoben wird, wird er zum grundlegenden Wesen unserer Erfahrungswirklichkeit. Und weil er dadurch auch die Rolle der unbedingten Wirklichkeit übernimmt, von der alles andere abhängt, identifiziert dieser Aspekt das Wesen des an sich Göttlichen. Weil sich aber ein vorgeblich unabhängig existierender Aspekt unserem Denken entzieht und immer nur in unzerstörbaren Banden zu allen anderen auftritt, kann kein Glaube an den göttlichen Status eines Aspekts theoretisch begründet werden. Solch ein Glaube erfüllt nicht nur unsere Definition eines primär-religiösen Glaubens, er spielt auch eine entscheidende Rolle in der Art und Weise, wie Theorien konzipiert und interpretiert werden – wobei der Glaube selbst gerade nicht so begründet werden kann, wie Theorien begründet werden. Falls jemand diesen letzten Punkt immer noch in Abrede zu stellen versucht ist, möchte ich die Frage aufwerfen: Kann man wirklich glauben, dass der Wahrheitsgehalt von Theorien durch die (mythische) Fähigkeit zum reinen, rationalen und neutralen Denken entschieden wird? Wenn das so ist, warum gelingt es dann einem Kantianer nicht, einen Thomisten mit rationalen Argumenten zu überzeugen? Warum lassen sich Materialisten nicht für den hegelschen Idealismus gewinnen? Warum wird im jahrhundertealten Konflikt zwischen Dualisten und Monisten nichts entschieden? All diese Unterschiede betreffen nun nicht nur etwa das jeweilige Wirklichkeitsverständnis. Sie zielen mitten auf das, was es überhaupt bedeutet, rational zu sein! Sind Erkenntnistheorie und Ontologie nicht unter reduktionistischen Vorzeichen konzipiert und interpretiert worden, und somit in den Einflussbereich religiöser Annahmen geraten? Es hat Theorien der Erkenntnis gegeben, wonach Erkenntnis wesentlich logischer, logisch-sensorischer, mathematischer, physisch-biotischer, historisch, linguistischer, ethischer usw. Natur sein soll. Theorien der Erkenntnis unterscheiden sich nicht nur daran, ob sie auf Fundierung oder Kohärenz zielen, ob sie pragmatistisch, externalistisch oder internalistisch geprägt sind. Sie unterscheiden sich ebenso hinsichtlich der Natur der Fundierung oder der Kohärenz unserer Überzeugungen, sowie an der Frage, was es bedeutet, dass eine Überzeugung erfolgreich ist. Gleichermassen entwerfen diese Theorien

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ein Erkenntnissubjekt, bezüglich dessen die Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen in internalistischer, externalistischer, praktischer usw. Weise gesehen wird. Auf diesem Weg sind Erkenntnistheorien immer in ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis eingebunden und umgekehrt. Und beide wurzeln in einem religiösen Vorverständnis von Welt und Selbst.12 Schliesslich liegt mir daran zu betonen, dass die vorangegangene Kritik nicht zum Ziel hatte, sämtliche reduktionistische Auffassungen als notwendig falsch zu erweisen, sondern nur, deren religiösen Charakter hervorzuheben. Immerhin ist das ein signifikantes Ergebnis, das dazu dient, das Spielfeld zwischen theistischen und nicht-theistischen Denkansätzen etwas auszugleichen. Auf diesem Boden ist es nicht länger möglich, dass pagan orientierte Perspektiven den religiösen Charakter reduktionistischer Theorien mit dem Rekurs auf „reine Vernunft“ zu verwischen suchen und solche Theorien als wissenschaftlicher anstatt dogmatisch-ideologischer oder konfessionell gebundener Natur ausgeben. Es herrscht dann vielmehr die Einsicht, dass die gesamte Theoriebildung im Einflussbereich unserer jeweiligen religiösen Glaubensüberzeugungen stattfindet. Der faire Vergleich dieser Überzeugungen wird sich dann auf deren Auswirkungen auf die Theoriebildung beziehen. Denn wenn pagan inspirierte Reduktionismen nicht in der Lage sind, eine kohärente Interpretation der Wirklichkeit zu liefern, wird der Graben zwischen ihnen und nicht-reduktionistischen Theorien, die auf dem Boden des theistischen Denkens gedeihen, umso deutlicher ausfallen. 10.4

Eine religiöse Kritik des Reduktionismus

Die Kritik, die im Folgenden vorgetragen wird, ist insofern religiös, als sie nach dem Gottesbild derjenigen Theisten fragt, die am Reduktionismus als Strategie der Theoriebildung festhalten möchten. Zunächst sollen aber einige bereits diskutierte Punkte nochmals aufgegriffen werden, damit der nötige Hintergrund für unsere Kritik vorhanden ist. Wie gesagt, hat die überwiegende Mehrheit der Theisten keinen Anlass für eine Revision der Theoriebildung gesehen, die sich radikal von jeglichem Reduktionismus distanziert. Vielmehr wurde der ansonsten pagane Charakter reduktionistischer Theorien zu neutralisieren versucht, indem ihnen das Stipulat vorangesetzt wurde, dass selbst noch die Aspekte, auf die der Rest des 12

Knowing with the Heart kritisiert die vorherrschenden reduktionistischen Ansichten zum Thema Selbstevidenz und entwickelt eine nicht-reduktionistische Interpretation davon.

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Kosmos zurückgeführt werden kann, von Gott erschaffen sind. Ich habe verschiedene Gründe angeführt, warum dieses Manöver nicht funktioniert. Der Hauptgrund ist der, dass die eigentliche Erklärungsleistung immer noch in der Reduktion des Gesamtphänomens auf einige wenige Aspekte der Schöpfung liegt. Daran ändert auch die zusätzliche Einführung der Existenz Gottes nichts. (Die einzige Rolle, die der Glaube an Gott in solchen Theorien noch spielen kann ist die eines asylum ignorantiae, wie zum Beispiel bei Descartes, der sich über seine Unfähigkeit, die Wechselwirkung von Geist und Körper zu erklären, hinwegtröstet, indem er sie als ein göttliches Wunder bezeichnet.) Das übliche theistische Verfahren lässt den essentiellen Gehalt einer Theorie mitsamt ihrer Erklärungskraft vom Glauben an Gott unberührt. Es fällt deshalb hinter die biblische Einsicht zurück, dass die Gotteserkenntnis jede Erkenntnis und jedes Wissen beeinflusst. Jetzt, da wir gesehen haben wie religiöse Überzeugungen Theorien normieren können und dies faktisch auch tun, müssen wir weiter fragen: Warum sollte es denn so sein, dass ein paganer Glaube die Theoriebildung von innen her und in allen Bereichen steuern kann, nicht aber der Glaube an Gott? Warum sollten wir nicht glauben, dass der Gottesglaube zumindest ein Spektrum von annehmbaren Hypothesen identifizieren kann, und in dieser Hinsicht paganen Überzeugungen ebenbürtig ist? Was führt uns zu der Annahme, allein pagane Glaubensauffassungen könnten den Boden zur Deutung der Welt abgeben, der Glaube an Gott aber könne einer Theorie nur wie eine Pappnase aufgesetzt werden? Weitere, schon aufgegriffene Argumente, unterstützen die Kritik an dieser äusserlichen Adaptation. Der erste Punkt betrifft die Annahme des schwachen Reduktionismus, einer oder zwei Aspekte der Schöpfung könnten alles andere erzeugen. Diese Überzeugung verleiht den reduzierenden Aspekten dasselbe Verhältnis zu den reduzierten Aspekten wie das zwischen Gott und den reduzierenden Aspekten. Die Übernahme dieser Denkweise verleiht gewissen Aspekten also einen semi-göttlichen Status; das angefügte theistische Stipulat verneint, dass diese Aspekte an sich göttlich sind, siedelt sie jedoch näher beim göttlichen Status der Unbedingtheit an als der Rest der Schöpfung. Ihr Status entspricht also dem eines griechischen Gottes. So gesehen verleiht das traditionelle theistische Denken bestimmten Schöpfungsaspekten den Status von Krypto-Gottheiten, die zwischen Gott und dem Rest der Schöpfung vermitteln. Dagegen sprechen die biblischen Schriften immer von einem Gott, der alles von ihm unterschiedene direkt im Dasein erhält. Aus christlicher Perspektive ist dieser Punkt besonders aufschlussreich, denn das Neue Testament insistiert auf der Einzigkeit Jesu Christi als Mittler zwischen Gott und Schöpfung. Dabei geschieht die Vermittlung des Heils durch die menschliche Natur Christi und die Vermittlung der schöpferischen und erhaltenden Kraft Gottes durch seine

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göttliche Natur. Er allein ist es, die zweite Person der Gottheit, und nicht irgendwelche Aspekte, Eigenschaften oder Gesetzmässigkeiten der Schöpfung, durch den alles geschaffen wurde (Joh 1,3) und durch den alles besteht (Kol 1,17). Wie Gregor Palamas einst festhielt: „Christen können keine vermittelnden Substanzen oder Hypostasen [grundlegende Realitäten] zwischen Schöpfer und Geschöpfen annehmen“13 neben und ausser Christus. Schauen wir denselben Punkt einmal in hypothetischer Fassung an: wenn nicht aufgrund des einen oder anderen paganen Glaubens, wie wären antike Denker auf die Idee gekommen, eine Theorie der Gesamtwirklichkeit zu entwer­fen, die alle Aspekte des Kosmos auf einen oder zwei zu reduzieren versucht? Hätte diese Art der Theoriebildung zuerst in jüdischem statt griechischem Kontext Fuss gefasst, hätte die Idee der Schöpfung das Denken in die entgegengesetzte Richtung gewiesen und weisen müssen. Wenn die Theoriebildung unter dem leitenden Einfluss der biblischen Lehre begonnen hätte, dass alles von Gott im Dasein gehalten wird, wäre sie von der Annahme durchdrungen gewesen, dass Gott allein der ist, von dem alles andere abhängt. Das regulative Prinzip der Theoriebildung wäre dann gewesen, diesen Status von allem anderen fernzuhalten. Anstatt zu sehen, wie nahe eine Wirklichkeitstheorie dem paganen Glauben kommen kann, ohne selbst Ausdruck dieses Glaubens zu sein, hätten sich jüdische Denker von einem religiösen Abscheu vor jeglichem Reduktionismus leiten lassen. Anstatt bestimmte Aspekte dadurch über andere zu erheben, dass sie zu privilegierten Kanälen werden, durch die Gott der Schöpfung seine erhaltende Kraft mitteilt, hätten sie ihre Theorien auf der Basis der Annahme konzipiert, dass alle Aspekte gleichermassen real und von Gott abhängig sind. Diese Kritikpunkte bilden jedoch nur den Auftakt für die Einwände, die ich jetzt präsentieren werde. Sie können aber die folgende Kritik verständlicher machen, denn die üblichen Antworten auf die aufgeworfenen Schwierigkeiten lassen die tiefer liegenden Voraussetzungen einer theistischen Adaptationsstrategie erkennen, die am reduktiven Denken festhält. Meine weitere Kritik 13

J. Meyendorff, A Study of Gregory Palamas (London: Faith Press, 1964), 130. Siehe auch J. Pelikan, Christianity and Classical Culture (New Haven: Yale University Press, 1993), 53, 252, 256-59. In der Tat sind einige theistische Denker so weit gegangen, dass sie ihre ­Theorien an die pagane Tradition angepasst haben, indem sie mehrere Wesen neben Gott anerkennen, die unabhängig von ihm existieren, sofern Gott das einzig unabhängige Wesen ist, das alle anderen nicht-notwendigen Wesen erschaffen hat. (Siehe z.B., N ­ icholas Wolterstorff in On Universals [Chicago: University of Chicago Press, 1970]). Aber unsere Definition von Göttlichkeit zeigt, warum der zentrale Grund der Zurückweisung nicht einfach der ist, dass Entitäten ausserhalb von Gottes Kontrolle existieren; es ist vielmehr der Monotheismus, der auf dem Spiel steht.

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zielt also auf diese tiefer liegenden Voraussetzungen. Sie sind dafür verantwortlich, dass der theoretische Reduktionismus trotz seines paganen Charakters auch unter Theisten attraktiv bleibt. Die Einwände gegen die angeführten Kritikpunkte gehen oft von der Bemerkung aus, die Schrift sei keine technische Abhandlung, von der man erwarten kann, dass sie mit irgendwelchen theoretischen Fragestellungen zu tun hätte. Insbesondere, so sagt man, sind ihr Probleme fremd, die durch die abstraktiv gewonnenen Gegenstände wissenschaftlicher und philosophischer Theorien aufgeworfen werden. Die Vorstellung, dass Gott der Schöpfer aller Dinge ist, bedeutet dementsprechend, dass Gott die Welt der alltäglichen Erfahrungsgegenstände aus dem Nichts erschaffen hat. Jedoch, so fährt der Einwand weiter, verlangt diese Vorstellung nicht, dass Gott auch der Schöpfer von solch „abstrakten Dingen“ wie Gesetzmässigkeiten, Eigenschaften, Arten, Universalien, Propositionen, Mengen, Zahlen, usw. sei. Abstrakte Entitäten könnten durchaus nicht-abhängigen Status haben, oder zwischen Gott und der Schöpfung angesiedelt sein. Mehr noch, die Annahme solch nicht-abhängiger Dinge sei vollständig gerechtfertigt, weil Gottes Eigenschaften einzig so verstanden werden können, dass sie selbst unabhängig, notwendig, und deshalb unerschaffen sind. Wenn Gott unerschaffen und nicht-abhängig ist, müssen es auch seine Wesenseigenschaften sein. Schliesslich, so der Gegeneinwand unserer Kritiker, kann allein dieses Verständnis von Gottes Wesen eine plausible Erklärung bieten, wie wir von Gott sprechen können.14 Menschliche Sprache kann allein deshalb wahrheitsfähige und -getreue Aussagen über Gott machen, weil ein Ausdruck, der im Zusammenhang mit Gott verwendet wird, eine analoge Bedeutung zu seiner Beschreibung von etwas Kreatürlichem hat. Anders gesagt ist die Bedeutung von Ausdrücken, die aus unserer Erfahrung der erschaffenen Welt stammen, dem ähnlich, was auch von Gott ausgesagt werden kann, obwohl keine Bedeutungsgleichheit existiert. Die Bedeutung unserer sprachlichen Ausdrücke ist, so gesehen, nicht exakt dieselbe, da Gott die durch diese Ausdrücke bezeichneten Qualitäten im grösstmöglichen Ausmass besitzt, währenddessen seine Kreaturen dieselben Qualitäten in geringerer, unvollkommener Weise haben. Gottes Gerechtigkeit, Güte und Weisheit sind unendlich perfekt, menschliche Gerechtigkeit, Güte und Weisheit sind es nicht. Diese Sichtweise erklärt also, wie unsere Sprache Gottes Wesen wahrheitsgetreu zum Ausdruck bringen kann, 14

Einige Gegenwartsautoren haben diese Behauptung aufgestellt. Siehe z.B. J. Ross, ”Analogy as a Rule of Meaning for Religious Language,” International Philosophical Quarterly 1, no. 3 (Sept. 1971): 476; und J. Macquarrie, Principles of Christian Systematic Theology (Chicago: University of Chicago Press, 1951), vol. 1, pt. 2, 235 ff.

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obwohl die dazu verwendeten Ausdrücke allesamt in unserer Erfahrung von Geschöpflichem wurzeln. Sie kann sowohl die partiellen Übereinstimmungen, wie auch die Bedeutungsunterschiede erklären, die in unseren Ausdrücken auftreten, je nachdem, ob sie von Gott oder von der Kreatur ausgesagt werden. Zugunsten dieser Analogietheorie religiöser Sprache könnte auch noch gesagt werden, dass sie über Jahrhunderte grosse Verbreitung gefunden hat, und dass selbst noch Karl Barth, der berühmteste Theologe des 20. Jahrhunderts, der diese Theorie zurückgewiesen hatte, zugeben musste, nichts an ihre Stelle setzen zu können.15 Daraus ergibt sich eine ganze Reihe von Repliken auf unsere (vorläufigen) Einwände. Aber sie vermögen nicht über die Ironie hinwegzutäuschen, dass theistische Denker ihre Theorien mit der Wirklichkeit eines transzendenten Schöpfers zu harmonisieren suchen, und dabei an der Existenz von Entitäten und Eigenschaften festhalten, die von Gott unabhängig und deshalb unerschaffen sind. Und sie vermögen auch nicht die noch grössere Ironie zu beseitigen, dass der Grund, warum Theisten an dieser Position festhalten, gerade in ihrem Verständnis des Wesens Gottes zu suchen ist. Natürlich ist die Ironie dieser Theologie noch kein Argument, das man gegen sie anführen könnte. Die Fragen, die jetzt vor uns stehen, zielen darauf ab, ob (1) die eben skizzierte Auffassung von Gottes Wesen in sich widerspruchsfrei ist, und (2) mit der biblischen Offenbarung in Einklang steht. Diese Fragen sind für uns deshalb wichtig, weil diese Sicht von Gottes Wesen die tiefere Voraussetzung für den Versuch ist, an der Strategie des Reduktionismus festzuhalten. Im Verlauf der Analyse dieses Gottesgedankens soll ersichtlich werden, warum er den Reduktionismus in der Theoriebildung so natürlich erscheinen lässt, anstatt diesen zu hinter­fragen. Ebenso deutlich sollte hervortreten, warum ich diesen Gottesgedanken für inakzeptabel halte. Der Grund dieser Zurückweisung liegt vor allem darin, dass die internen Unstimmigkeiten dieser Auffassung nur so aufgelöst werden können, dass ein Konflikt mit dem biblischen Verständnis von Schöpfung resultiert. Weil das ein zentraler Punkt in unserer Kritik ist, sollten wir uns erst einmal Klarheit darüber verschaffen, was die Bedeutung des Ausdrucks „erschaffen“ ist. Wir werden dabei drei Bedeutungsmöglichkeiten unterscheiden. Die geläufigste Weise, diesen Ausdruck zu verwenden, bezieht sich auf die Tatsache, dass etwas einen zeitlichen Anfang hat, vor dem es nicht existierte. Fortan werde ich diese Bedeutung als „erschaffen“ bezeichnen. Eine andere Bedeutung liegt dann vor, wenn etwas durch etwas Anderes erschaffen, das heisst erzeugt wird, und von diesem verschieden ist. Diese Bedeutung ist 15

K. Barth, Church Dogmatics (Edinburgh: T. T. Clark, 1964), vol. 2, pt. 1, 230.

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deshalb wichtig, weil sie die biblisch bezeugte Einsicht aufnimmt, wonach alles ausser Gott von Gott erschaffen ist. Ich werde sie „erschaffen“ nennen. In der Abgrenzung der dritten Bedeutungsmöglichkeit folge ich Thomas von Aquin. „Erschaffen“ ist alles, was in seiner Existenz von Gott abhängt und nicht existieren würde, wenn es nicht von Gott ins Dasein gerufen wäre. Gott erschafft ex nihilo; das heisst, er bringt etwas „aus dem Nichts“ hervor, wobei „Nichts“ keine existierende Realität bezeichnet, sondern dafür steht, dass im Fall der Nicht-Erschaffung von anderem durch Gott allein Gott existieren würde. Doch im Fall der Erschaffung von anderem durch Gott kann Gott die Seinsmacht von weltlich Wirklichem dazu verwenden, andere Dinge und Ereignisse hervorzubringen, die, in diesem dritten Sinn, wiederum vollständig von Gott abhängig sind. Diese dritte Bedeutung legt also nicht fest, ob etwas von Gott ex nihilo oder durch das Wirken von kreatürlichen Dingen erschaffen wird. Sie ist auch indifferent gegenüber der Frage, ob etwas einen zeitlichen Anfang hat oder für alle Zeiten geschaffen wurde. Und sie legt nicht einmal fest, ob das von Gott Hervorgebrachte von Gott verschieden ist oder nicht. Wie Thomas bemerkte, muss die dritte Bedeutung von der ersten unterschieden werden, weil etwas zwar zeitlos existieren, aber in seinem Sein von Gott vollständig abhängig sein kann.16 Es ist dann sowohl nicht erschaffen als erschaffen. Die dritte Bedeutung muss ebenso von der zweiten unterschieden werden, da Gottes Handeln in oder an der Welt, obwohl von ihm abhängig, nichts von Gott Verschiedenes ist. Dieses Wirken kann entweder erschaffen sein oder nicht (es kann einen zeitlichen Anfang oder zeitlose Gültigkeit haben). Auf jeden Fall ist es unerschaffen und dennoch erschaffen.17 Ein letzter Punkt noch: Die Bedeutung erschaffen ist meines Erachtens die grundle­ gendste von allen, weil sie in der ersten und zweiten mit enthalten ist, wo hingegen diese beiden weder Teil von einander noch Teil dieser dritten Bedeutung sind. Erschaffen ist deshalb die wichtigste Bedeutung des Ausdrucks, wenn dieser im Zusammenhang mit Gott verwendet wird; zusammen mit erschaffen reflektiert er die Art und Weise, wie die biblischen Schriften von Gott als dem 16 17

Summa Theologica, q. 46, a. 1. Ich sage, dass Gottes Handlungen entweder erschaffen oder unerschaffen sein können, weil die Bibel von einigen seiner Entscheidungen und Ziele als „vor aller Zeit“ seiend spricht (2 Tim 1,9; Tit 1,2), während andere seiner Handlungen gemäss biblischer Rede zu einem bestimmten Zeitpunkt stattgefunden haben. Im ersten Fall wäre „Handlung“ daher ein anthropomorpher Ausdruck (angenommen, dass Gott die Zeit als Eigenschaft des Universums erschaffen hat). Es sollte auch festgehalten werden, dass die Ansicht, die es zu verteidigen gilt, davon ausgeht, dass Gott eine Entscheidung oder ein Ziel zeitlos setzen und diese dann auch zeitlich reaffirmieren kann. In diesem Fall wäre Gottes Bestätigung dieser Entscheidungen und Ziele erschaffen, unerschaffen und erschaffen.

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Schöpfer sprechen. Im folgenden werde ich als religiös unverzichtbare und unhintergehbare Bedingung jedes theistischen Denkens voraussetzen, dass alles ausser Gott in Existenz und Wesen durch Gott erschaffen (hervorgebracht) ist. Diese dritte Bedeutung von „erschaffen“ ist freilich nicht identisch mit der Art und Weise, wie wir den Ausdruck im Zusammenhang mit uns selbst und anderen Kreaturen verwenden. Wir können nicht ex nihilo erschaffen. Auch ist es nicht üblich, unsere Handlungen als von uns erschaffen zu bezeichnen, obwohl genau das der Fall ist, wenn wir Handlungen vollziehen, die ohne uns nicht existieren würden. Deshalb klingt es auch etwas seltsam zu sagen, dass Gott seine eigenen Handlungen „erschafft“ – Handlungen, die gleichzeitig unerschaffen sind. Vielleicht liegt hier der Grund, weshalb es viele Theologen vorgezogen haben, alle drei Bedeutungen mit einem Ausdruck abzudecken und zu sagen, dass sich alles ausser Gott Gottes Wille verdankt.18 Damit ist gemeint, dass allein das Sein Gottes unbedingt und an sich göttlich ist, und alles andere seiner souveränen Herrschaft untersteht. Dieser letzte Punkt hat nun keinen Eingang in den Gottesgedanken gefunden, der den Antworten auf meine bisherigen Einwände ihre scheinbare Kraft verleiht. Die Art und Weise der versuchten Ausserkraftsetzung unserer Anfragen bietet zugleich dem reduktiven Denken einen geeigneten Hort. Ich sage dies nur mit grossem Widerstreben, da die fragliche Sicht viele herausragende 18

Auch diese Redeweise bedarf der weiteren Klärung, weil die Ansicht von Gott, die ich mit derjenigen von Anselm/Thomas kontrastieren (und bevorzugen) werde, behauptet, dass Gottes unbedingtes Wesen für uns unbegreiflich ist. Daher kann der Ausdruck „Wille“ nicht so verstanden werden, dass das unerkennbare Wesen Gottes wörtlich ein Wille ist – zumindest nicht mehr als irgend etwas anderes, das wir begreifen könnten. Nach dieser Ansicht hat es das schaffende, unerkennbare Wesen Gottes von aller Ewigkeit her so gerichtet (erschaffen), dass er genau die ungeschaffene persönliche, liebende, weise etc. Natur hat, die er selbst offenbart. Der Ausdruck „Wille“ ist deshalb ein anthropomorpher Ausdruck, der dazu dient, die (apophatische) Verneinung zu artikulieren, dass es irgendetwas anderes neben seiner eigenen, bedingungslosen Wirklichkeit gibt, das nicht in seiner Kontrolle ist, und seine bedingungslose Freiheit in Bezug auf die Kreaturen auf genau die Weise zu bestätigen, wie er sich zu erkennen gegeben hat. J. Pelikan legt dar, dass die kappadozischen Väter den Ausdruck „Wille“ im folgenden Sinn verwendeten: “The [creative] ‘wor’ of God, then, was equal to the ‘will’ of God, which was equal to the action of God – all these, of course, understood in a transcendent and apophatic sense, fundamentally different from the sense that each of these terms conveyed when applied to human wills or actions” (Christianity and Classical Culture, 105). Mit dieser Qualifikation kann die Alternative zur AAA-Position als die Position zur Sprache gebracht werden, dass Gott wählt, was er ist und ist, was er wählt. Nur Gottes unbedingtes Wesen ist göttlich per se.

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Vertreter gefunden, die christliche Theologie des lateinischen Westens dominiert, und deutliche Spuren im jüdisch und islamisch geprägten Nachdenken über Gott hinterlassen hat. Wegbereiter dieses Gottesgedankens war kein geringerer als Augustinus von Hippo; später trat Anselm von Canterbury auf den Plan, der das fragliche Denken befestigte, das schliesslich von Thomas von Aquin mit grosser Subtilität ausgebaut wurde (aus Platzgründen nenne ich es fortan das AAA-Denken). Einige der zentralen Merkmale dieses Denkens wurden schon genannt. Jetzt ist es aber an der Zeit, den einzelnen Punkten grössere Aufmerksamkeit zu widmen. Der erste dieser Punkte ist das Verständnis der biblischen Lehre, dass Gott den Menschen in seinem Bild erschaffen hat. Nach diesem Verständnis teilen Gott und menschliche Lebewesen gewisse Eigenschaften und Vermögen. Daran kann ich nun nichts Problematisches finden. Ich führe diesen Punkt nur an, um gleich einen Schritt weitergehen zu können, zur Analyse der tatsächlich problematischen Punkte. Eine zweite, zentrale Prämisse der AAA-Theologie ist die: Was immer Gott wahrheitsgetreu zugeschrieben werden kann, muss so unerschaffen wie er selbst sein. Das bedeutet, dass die biblisch bezeugten Eigenschaften Gottes – in der Theologie „Attribute“ Gottes genannt – nicht auf Gottes freier Entscheidung beruhen, sondern unerschaffen sind. Damit ist nicht nur gesagt, dass es nie eine Zeit gab oder geben wird, in der Gott diese Eigenschaften nicht hatte, oder dass diese Eigenschaften von Gott nicht unterschieden sind – mit beidem könnte ich nicht mehr einverstanden sein. Doch die AAA-Theologie geht weiter und behauptet, dass die Existenz dieser Eigenschaften keineswegs von Gott abhängt und dass Gott keine Kontrolle über diese Eigenschaften, oder die Tatsache hat, dass er selbst sie besitzt. Die traditionelle Formulierung dieser Annahme lautet, dass Gottes Attribute alle notwendig existieren und Gott sie alle notwendig besitzt (wobei „notwendig“ bedeutet, dass es sich unmöglich anders verhalten kann und durch nichts zu ändern ist, auch nicht durch Gott). Diese Annahme halte ich nun für äusserst fragwürdig. Gottes Eigenschaften müssen nicht schon deshalb unerschaffen sein, weil er es ist, und nichts existiert, das sich seiner Kontrolle entzieht. Eine andere Prämisse dieser Auffassung ist, dass Gottes Attribute allesamt Perfektionen sind. Das heisst, Gott besitzt angeblich das grösstmögliche Ausmass der ihm zugeschriebenen Eigenschaften. Anders gesagt, Gott hat diese Eigenschaften in unendlichem Ausmass. Der Besitz der göttlichen Attribute macht Gott so zum grösstmöglichen Wesen. Zu dieser Prämisse gehört auch die Auffassung, dass Gott alle Perfektionen besitzt, wie viele es auch immer sein mögen, und egal ob wir Kenntnis davon haben oder nicht. In diesem Sinn kann Gott „unendlich“ genannt werden; was nicht bedeutet, dass die gesamte

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Wirklichkeit in ihm enthalten ist (das ist die hinduistische/buddhistische Auffassung von Unendlichkeit), sondern dass Gott unendlich vollkommen ist. Unter dem Einfluss von Anselm wird dieser Punkt oft so ausgedrückt, dass Gott das „grösstmögliche“ Wesen ist. Dessen Perfektionen sind also der höchste Grad der Attribute, die A. Plantinga Gottes „gross machende“ Eigenschaften genannt hat.19 Diese Annahme ist aus meiner Sicht nicht weniger fragwürdig. Schliesslich ist da noch die Annahme, dass Gott nichts als Perfektionen besitzt. Das bedeutet, dass Gott nicht nur alle gross machenden Attribute zukommen, sondern nichts Anderes von ihm ausgesagt werden kann. Gott hat alle und nur Perfektionen; deshalb ist er auch das grösstmögliche Wesen. Anders gewendet: Hätte Gott Eigenschaften, die weniger als vollkommen sind, wäre er nicht dasjenige Wesen, über das hinaus nichts Grösseres gedacht werden kann. Es könnte dann etwas geben, das allein aus Perfektionen besteht und dasjenige wäre (nicht Gott), über das hinaus nichts Grösseres gedacht werden kann. Auch diese Annahme finde ich äusserst fragwürdig. Die Grundannahmen dieses Gottesgedankens waren in der westlichen Theologie nun so lange so tief verwurzelt, dass viele theistische Denker, die auf ihrem Boden heranwuchsen, grösste Mühe haben sich vorzustellen, es könnte irgendwelche ernsthaften Einwände gegen diese Annahmen geben oder gar irgendwelche plausiblen Alternativen dazu. Trotzdem, so werde ich argumentieren, gibt es eine Alternative, die nicht nur mehr als plausibel ist, sondern schon vor den Zeiten Augustins vertreten wurde. Vor der Präsentation dieser Alternative, sollten wir aber einmal die oben genannten AAA-Annahmen etwas kritischer unter die Lupe nehmen. Daraufhin werde ich eine Skizze der alternativen Sichtweise zeichnen, um aufzuzeigen, wie die Schwierigkeiten der AAA-Sicht vermieden werden können. Ich werde dann zur Verteidigung dieser Alternative schreiten. Sie besteht in dem Gottesverständnis, das von den kappadozischen Vätern der griechisch-orthodoxen Tradition entwickelt, im Westen des 16. Jahrhunderts von Luther und Calvin wieder entdeckt, und im 20. Jahrhundert von Karl Barth vertreten wurde (ich werde diese kappadozische und reformatorische Position die K/R-Sicht nennen). Im Fortgang unserer Diskussion sollten wir uns vor Augen halten, dass diese Exkursion in die philosophische Theologie darauf angelegt ist zu zeigen, wie und warum das AAA-Gottesverständnis nach einer reduktionistischen Erklärung und Deutung des Kosmos verlangt, das K/R-Gottesverständnis aber jeden Reduktionismus verbietet. Mein Argument lautet also, dass die AAA-Sicht auf einem Irrtum basiert und korrigiert werden muss. Diese Korrektur muss darauf abzielen, jeglichen theologischen Anreiz zu eliminieren, am reduktiven 19

A. Plantinga, God, Freedom and Evil (New York: Harper & Row, 1974), 98.

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Denken als Theoriebildungsstrategie festzuhalten. Das ist die negative Seite der Kritik. Die positive Dimension besteht darin, zu zeigen, dass die K/R-Sicht die Schwierigkeiten der AAA-Sicht nicht nur nicht vermeiden kann, sondern jeden theoretischen Reduktionismus überwindet. Zusammen bilden diese beiden Seiten das Ganze der religiösen Kritik am Reduktionismus. In Kombination mit der bereits vorgetragenen philosophischen Kritik wird die religiöse Kritik das Rückgrat eines neuen, theistischen, nicht-reduktionistischen Theorieprogramms bilden. 10.5

A. Eine Beurteilung des AAA-Gottesgedankens

Schauen wir uns zuerst die Annahmen an, dass Gottes Eigenschaften als unendlich vollkommene Eigenschaften oder Perfektionen zu verstehen sind, das heisst, als das höchste Ausmass einer jeden Eigenschaft, deren Besitz ein Wesen zum „grösstmöglichen“ Wesen machen würde. Mein erster Einwand bezieht sich auf den gewichtigen Bedeutungsunterschied des Ausdrucks „vollkommen“ in der griechischen Philosophie und der Art und Weise wie die biblischen Autoren diesen Ausdruck verwenden. Kein biblischer Schriftsteller hat „vollkommen“ jemals als „höchster Grad einer Eigenschaft“ verwendet. Der hebräische Sinn dieses Ausdrucks ist vielmehr als „vollständig“, „nie versagend“ oder „unerschöpflich“ wiederzugeben. Wenn Jesus also zu seinen Jüngern sagt: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48), fordert er sie nicht dazu auf, Gott zu sein. Er sagt vielmehr, sie sollten ebenso treu an ihrem Ende des göttlichen Bundes festhalten, wie Gott am Bund mit den Menschen festhält. Tatsache ist, dass kein biblischer Autor Gott jemals den „höchst möglichen Grad“ einer Eigenschaft zuschreibt. Gottes Attribute mit dieser griechisch-paganen Idee identisch zu setzen bedeutet, eine platonische Konzeption in die Interpretation der biblischen Schriften hineinzutragen, die jedoch deutlich hebräischen Ursprungs sind. Ohne Zweifel ist die Aussage, dass Gottes Eigenschaften Perfektionen sind, und dass Gott das „grösstmögliche“ Wesen ist, als Kompliment an die Adresse Gottes zu verstehen. Schliesslich hat Plato einen von unserer Welt verschiedenen Bereich vollkommener Formen postuliert, und seine Theorie hat nicht nur das antike Denken dominiert, sondern zeigt seinen gewaltigen Einfluss auch heute. Ist es also nicht nur harmlos, sondern geradezu ein Muss, diese vollkommenen Eigenschaften Gott zuzuschreiben? Denn so kann auch verhindert werden, dass ein unpersönlicher Bereich abstrakter, individueller Entitäten für an sich göttlich (miss)verstanden wird. Dieser Status wird dann allein dem

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wahren Gott zugeschrieben, der alle Perfektionen als Wesensattribute besitzt.20 Sollten Theisten also nicht darauf bedacht sein, Gott als das „höchste“ Wesen herauszuheben? Doch obwohl es zunächst harmlos erscheint, Gottes Eigenschaft als platonische Perfektionen zu rekonstruieren, und seine Bezeichnung als „grösstmögliches“ Wesen durchaus als Kompliment gemeint ist, haben ­diese von der Schrift abweichenden Denkformen tatsächlich verheerende Kon­sequenzen, die im Licht einer Fülle von biblischen Einsichten als völlig inakzeptabel gelten müssen. Diesem Punkt werden wir später noch ausführlicher nachgehen müssen. Für den Moment genügt es, sich die folgende Frage zu stellen: Heisst Gott das „grösstmögliche“ Wesen zu nennen nicht, dass man einen Massstab der Grösse und der Möglichkeit gefunden hat, die beide von Gott unabhängig sind? Ist es nicht erforderlich, dass Gott an diesen Massstäben gemessen wird? Wenn ja, kann Gott immer noch seinen Platz an der Spitze der Skala behaupten; Tatsache ist aber, dass er Kriterien unterworfen wird, die von ihm unabhängig sind. Das ist nicht gerade ein Kompliment, selbst wenn es so gemeint ist. Vielmehr ist es die unintendierte Verneinung seiner Göttlichkeit an sich. Gottes Status als Schöpfer aller Kriterien und Massstäbe, an denen irgendetwas gemessen werden kann, lässt sich damit bestimmt nicht vereinbaren. Wir könnten auch fragen, was uns zur Annahme von etwas wie einer unabhängig existierenden, vollkommenen Gerechtigkeit, Weisheit, moralischer Güte, etc. führen sollte. Warum sollte es nicht so sein, dass überhaupt kein höchster Grad dieser Eigenschaften existiert, so wie es keine höchste natürliche Zahl gibt? Wenn es keine Perfektionen gibt, trägt die Verneinung, dass Gott diese besitzt, nichts zu dessen Minderung bei; er ist nicht weniger Gott, wenn diese Vollkommenheiten nicht existieren. Doch mein stärkster Einwand gegen die Postulierung solcher Perfektionen richtet sich gegen die vorgebliche Notwendigkeit ihrer Existenz bzw. gegen die Tatsache, dass sie unerschaffen sein sollen. Erinnern wir uns, dass zu den Annahmen der AAA-Sicht die Auffassung der notwendigen Existenz jeder dieser Perfektionen gehörte, sowie dass Gott sie notwendig alle besitzt. Die erste Annahme verlangt, dass jede einzelne Perfektion unbedingte, unabhängige Wirklichkeit besitzt; die zweite, dass Gott diese Attribute nicht nicht haben kann. 20

Siehe die Bemerkungen von Vladimir Lossky: “… apologists like Clement and Origin, [were] too anxious to show pagans that all the treasures of Hellenic wisdom were contained and surpassed in the “true philosophy” of the Church. Involuntarily they brought about a kind of synthesis to Christian contemplation, an accent of Platonic intellectualism alien to the spirit of the gospel.” The Vision of God (Crestwood, N.J.: St Vladimir’s Seminary Press, 1983), 65.

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Zusammen führen diese Annahmen dazu, dass Gott von Wirklichkeiten abhängig gemacht wird, die er nicht erschaffen hat und über die er keine Kontrolle hat. Mein Argument gegen die erste Annahme ist kein anderes als dasselbe Gedankenexperiment, das wir schon zur Prüfung reduktiver Theoriebildungsstrategien vollzogen haben. Dort haben wir das Scheitern des Versuchs kon­statiert, uns auch nur die geringste Idee einer vermeintlich von allen anderen unabhängig existierenden Art von Eigenschaft oder Gesetz zu bilden. An dieser Stelle möchte ich das Experiment auf die Idee einer einzelnen Perfektion anwenden. Versuchen wir zum Beispiel an etwas wie vollkommene Gerechtigkeit zu denken, in der perfekten Isolation ihrer vermeintlich unabhängigen, notwendigen Existenz. Entkleiden wir unsere Idee jeglicher Verbindung mit menschlichen Handlungen und Zuständen, insofern diese eine quantitative, räumliche, kinetische, physische, biotische, sensorische, logische, historische, linguistische, soziale, ökonomische, ästhetische, ethische und fiduziäre Dimension haben (oder welche auch immer). Bleibt irgendetwas von Gerechtigkeit übrig? Wenn nicht, warum glauben, dass es so etwas wie eine Eigenschaft „gerecht“ gibt, deren Existenz notwendig und von allem anderen unabhängig ist? Wir müssen uns bewusst sein, dass die hier diskutierte Auffassung eine Theorie ist, wie Gottes Attribute zu verstehen sind. Deshalb spricht das Gedankenexperiment genauso gegen die Annahme unabhängiger Perfektionen wie gegen die Annahme unabhängiger Aspekte; die Hypothese ihrer Unabhängigkeit kann niemals begründet werden, solange die Zuschreibung von Unabhängigkeit jedwelche Idee dieser Perfektionen oder Aspekte zerstört. An dieser Stelle kann man nun nicht einwenden, dass die Annahme notwendig existierender Perfektionen (trotz unserer Unfähigkeit, uns eine Idee davon zu machen) eben deshalb gemacht werden muss, weil Gottes Gerechtigkeit, usw. notwendig vollkommen ist und unbedingten Status haben muss, weil Gott selbst diesen Status hat. Der versuchte Einwand würde auf einem Zirkelschluss beruhen, denn es geht hier ja gerade um die Frage, ob Gottes Eigenschaften als Perfektionen im technischen Sinn der antik-griechischen Philo­sophie gedacht werden sollten, und ob diese Eigenschaften als unerschaffen zu betrachten sind, weil Gott unerschaffen ist. Freilich wird meine bevorstehende Verneinung dieser beiden Punkte nicht bedeuten, dass Gott uns gegenüber nicht vollkommen gerecht ist, im hebräischen Sinn; Gottes nie versagende und vollständige Gerechtigkeit uns gegenüber muss nicht so verstanden werden, dass er den höchst möglichen Grad einer notwendig existierenden, „gross-machenden“ Eigenschaft realisiert. Man kann das auch so verstehen wie die biblischen Verfasser, die Gottes Gerechtigkeit als freie

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Bundesverheissung auffassen, als Aspekt seiner Gnade, und nicht als Zwang, dem Gott sich letztlich nicht entziehen kann. Diese Auffassung steht in keinerlei Widerspruch zur Gewissheit, dass Gott wirklich gerecht ist und es immer sein wird. Ein weiteres Resultat des Gedankenexperiments mit scheinbar unabhängigen Aspekten gilt auch für die Attribute Gottes. Weil es uns unmöglich ist, sie anders als im Verhältnis und Kontrast zu einander zu denken, können sie, soweit wir sie überhaupt erkennen können, auch nur im Verhältnis zu einander existieren. Was würde also die Kohäsion gewährleisten, ohne die kein einzelnes Attribut existieren kann? Im Fall der Attribute Gottes ist die Antwort augenfälliger als im Fall von Schöpfungsaspekten: Was sie miteinander verbindet ist die Tatsache, dass sie allesamt Eigenschaften Gottes sind. Wenn diese Eigenschaften aber von ihrem gegenseiten Verhältnis abhängen, und dieses Verhältnis darin besteht, dass Gott alle diese Attribute besitzt, dann hängen die göttlichen Eigenschaften eindeutig von Gott ab. Vielmehr als notwendig und unabhängig existierend, sollten die Attribute Gottes als von diesem erschaffen aufgefasst werden. Diese Pointe liegt, wie wir noch sehen werden, der K/RSicht zugrunde. Aber geht das nicht alles ein bisschen schnell? Gibt es nicht auch noch eine andere Weise, wie die AAA-Sicht verstanden werden kann? Warum nicht glauben, dass Gottes Attribute notwendig existieren und Gott sie notwendig alle besitzt, ohne dass sie von Gott erschaffen, sondern mit diesem identisch sind? Wenn sie alle zusammen Gott sind, besteht überhaupt kein Problem, wie Gott diese Eigenschaften besitzt; er besitzt sie dann eben nicht, sondern er ist seine Eigenschaften. Wäre damit nicht jeder Widerspruch zur Überzeugung, dass allein Gott göttlich ist und sich alles andere seinem schöpferischen Willen verdankt, aus dem Weg geräumt? Das ist die Position, die von Anselm und von Thomas vertreten wurde. Wenn, so erkannten beide, Gottes Perfektionen von diesem unabhängig gedacht würden und notwendig zu dessen Wesen gehörten, dann wäre Gott von ihnen abhängig. Beide Denker realisierten, dass wenn Gott als das Wesen definiert wird, das alle und nur Perfektionen besitzt (das grösstmögliche Wesen), Gott alle diese Perfektionen haben muss um Gott zu sein. Gott würde dann in zweifacher Hinsicht von etwas von ihm unterschiedenes abhängig gemacht werden: Erstens, weil diese Perfektionen für Gott wesensnotwendig sind, kann Gott nur existieren wenn sie existieren; zweitens, weil Gottes Wesen durch Eigenschaften bestimmt ist, die unabhängig von ihm existieren. In beiderlei Hinsicht wäre die Göttlichkeit Gottes, das heisst seine Unbedingtheit (von Anselm und Thomas als „Aseität“ bezeichnet) negiert.

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Anselm und Thomas waren sich einig, dass die Verneinung der Aseität Gottes unakzeptabel ist. Sie korrigierten ihre Position aber nicht in die Richtung, die ich oben dargestellt und verteidigt habe. Anstatt von der Auffassung der notwendigen Existenz der göttlichen Attribute abzurücken, und diese im ­göttlichen Beschluss selbst zu verankern, hielten sie an der Notwendigkeit der Perfektionen fest. Sie bestritten jedoch, dass zwischen ihnen und Gott ein Unterschied besteht. Da Thomas dieses Thema ausführlicher als Anselm verhandelt, folge ich seiner Diskussion. (Tatsächlich hielt Thomas diese Frage für so entscheidend, dass er sein Hauptwerk mit ihr begann.)21 Seine Lösung des Problems bestand darin, Gott als „einfach“ zu betrachten. Damit meint er, dass Gott mit seinen vollkommenen Wesenseigenschaften identisch ist. In dieser Theorie ist Gott sein Wesen oder seine Natur. Das befreit ihn davon, Gottes Aseität verneinen zu müssen, da die göttlichen Perfektionen nicht länger von Gott unabhängig sind. Immerhin können sie als notwendig bezeichnet werden, da in dieser Theorie Gott nicht von seinem Wesen, sein Wesen nicht von seiner Existenz, oder seine Existenz nicht von seinen Perfektionen unterschieden werden kann. Gott ist dasselbe wie seine Existenz und sein Wesen, das aus perfekter Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, usw. besteht. Doch das ist, vorsichtig ausgedrückt, ein verzweifelter Ausweg. Erstens, wenn Gott mit seinen Perfektionen identisch ist, müssen auch diese Perfektionen auf eine Weise miteinander identisch sind. Das bedeutet, dass Gottes Gerechtigkeit dieselbe Eigenschaft ist wie seine Macht, die dasselbe ist wie seine Barmherzigkeit, die wiederum identisch mit seiner Weisheit ist, die wiederum nicht von seiner Liebe unterschieden werden kann, etc. Doch das zerstört die Bedeutung all dieser Ausdrücke. Wenn sie alle ein und dieselbe Eigenschaft bezeichnen, wissen wir nicht was mit ihnen gemeint sein könnte. Wir können uns schlicht keinen Begriff machen, was Gerechtigkeit bedeutet, wenn diese nicht von Macht oder Barmherzigkeit unterschieden werden kann. Das Resultat ist, dass unsere Sprache uns keine Auskunft über Gott erteilen kann, und Thomas eigene Auffassung des analogischen Charakters der Rede von Gott zerstört ist. Gottes Einfachheit schliesst aus, dass wir in unserer Sprache etwas bezeichnen könnten, das Gottes Wesen auch nur ähnlich ist. Dieses Resultat ist schlimm genug. Die Theorie der Einfachheit Gottes hat aber noch weitere desaströse Konsequenzen. Denn wenn Gott mit seinen Perfektionen identisch ist, dann sind seine Perfektionen nicht nur voneinander nicht zu unterscheiden, sie sind auch von Gott nicht zu unterscheiden. Das macht aus Gott eine einzige, undifferenzierte Eigenschaft! Diese Konsequenz 21

Summa Theologica 1a, q. 3 und 1a, q. 21, a. 1, ad 4; siehe auch Summa Contra Gentiles 1, 38, 45, 73.

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verunmöglicht nicht nur jede Erklärung, wie wir wahrheitsgetreu von Gott sprechen können, sie fordert auch, dass alles was in der Schrift von Gott gesagt wird, falsch ist. Eine Eigenschaft ist keine Person; sie kann überhaupt nichts tun. Eine Eigenschaft kann nichts erschaffen, sie kann weder lieben noch einen Bund schliessen. Meine Schlussfolgerung ist deshalb die, dass diese „Lösung“ der Schwierigkeiten mit einem Gott, der alle und nur Perfektionen besitzen soll, scheitert. Diese Schwierigkeiten können nicht überwunden wurden, indem Gott mit seinen Attributen identifiziert wird. In seinem Buch Hat Gott ein Wesen? analysiert Alvin Plantinga verschiedene Interpretationen der Theorie der göttlichen Einfachheit, die von Thomas von Aquin aufgestellt wurde. Bei jeder einzelnen gelangt Plantinga zum selben Schluss. „Wörtlich genommen“, sagt er, „scheint die thomistische Lehre der göttlichen Einfachheit völlig inakzeptabel zu sein … sie beginnt mit der frommen und richtigen Anerkennung der Souveränität Gottes; sie endet mit der Negation der allerbasalsten Grundlagen des theistischen Denkens.“22 Dennoch geht Plantinga nicht in die Richtung der K/R-Alternative, die nach seiner Interpretation logische und selbst-referentielle Widersprüche enthält. Darauf werden wir in Kürze zurückkommen müssen. Zunächst aber sollten wir prüfen, ob Plantingas eigener Versuch am AAA-Gottesgedanken festzuhalten ohne die Theorie der Einfachheit Gottes zu übernehmen, die Verneinung der göttlichen Aseität vermeiden kann. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Hauptschwierigkeit in der Versöhnung der Aseität Gottes mit der notwendigen Existenz seiner Attribute sowie der notwendigen Wahrheit von mathematischen und logischen Sätzen liegt.23 Weil das bedeutet, dass diese Dinge notwendig existieren oder in Kraft 22 23

A. Plantinga, Does God Have A Nature? (Milwaukee: Marquette University Press, 1980), 53–54. Da ich mich auf die Inkompatibilität von Gottes Aseität und seinen Attributen als notwendigerweise existierende „Vollkommenheiten“ oder Perfektionen konzentriere, werde ich alle längeren Behandlungen, die die andere von mir abgelehnte AAA-Prämisse betreffen, überspringen; nämlich die Prämisse, dass Gott allein Perfektionen zukommen. Aber ich halte auch diese Prämisse für desaströs. Zum einen folgt aus ihr, dass Gott keine wirk­ lichen, kontingenten Beziehungen zur Schöpfung haben kann. Thomas von Aquin schreckte ebenso vor dieser Konsequenz zurück, aber seine „Lösung“ war so schlecht wie seine Theorie der Einfachheit. Er schlug Folgendes vor: “daher haben die Geschöpfe offenbar eine reale Beziehung zu Gott. In Gott aber gibt es keine reale Beziehung zu den Geschöpfen, sondern bloss eine gedachte, insofern die Geschöpfe zu ihm eine Beziehung haben”. (ST, 1a, q. 13, a. 7; q. 6, a. 2) Das ist jedoch nicht einmal plausibel. Wie kann es dann beispielsweise sein, dass wir wirklich von Gott geliebt werden, wenn es nicht wirklich wahr ist, dass Gott uns liebt?

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sind, egal was sonst noch der Fall sein mag, sind sie auch unabhängig von Gott. Darüber hinaus, wie auch schon kurz erwähnt wurde, scheint Gott von diesen Dingen in entscheidender Hinsicht abhängig gemacht zu werden. Nachdem er die thomistische Lehre der göttlichen Einfachheit verworfen hat, versucht Plantinga die Schwierigkeit zu beheben, indem das Abhängigkeitsverhältnis umgedreht wird. Er hält dementsprechend Ausschau nach einer Möglichkeit, wie die Attribute Gottes und die notwendigen Wahrheiten der Mathematik und der Logik trotz ihrer notwendigen Existenz als von Gott abhängig gedacht werden können. So gelangt er zur Auffassung, dass die notwendigen Wahrheiten Ideen in der göttlichen Vernunft seien. In dieser Sicht, sagt Plantinga, ist das Wissen und die Affirmation jeder dieser Wahrheiten Teil des göttlichen Wesens. Aus dieser Perspektive kann die Erforschung des Bereichs abstrakter Objekte als die Erforschung der Natur Gottes gesehen werden … Die Mathematik ist demnach als eines der loci der Theologie zu betrachten … dasselbe gilt für die Logik, im engeren wie im weiteren Sinn aufgefasst … jedes Theorem der Logik – zum Beispiel Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität – ist so geartet, dass dessen Bejahung ein Teil der göttlichen Natur ausmacht.24 Plantinga sieht ein, dass allein damit das Problem nicht gelöst ist. Denn Gottes Affirmation notwendiger Wahrheiten müsste irgendwie bewirken, dass diese von ihm abhängen. Deshalb schliesst er sein Buch mit den folgenden Worten: Zum Schluss möchte ich eine Frage stellen, ohne sie zu beantworten. Nehmen wir irgend eine Proposition, der notwendige Wahrheit zukommt: (68) 7 + 5 = 12 zum Beispiel. (68) ist ersetzbar durch (69) Gott glaubt, dass (68); und (70) Notwendig 7 + 5 = 12 ist ersetzbar durch (71) Es ist Teil der Natur Gottes zu glauben, dass 7 + 5 = 12. Gibt es eine Möglichkeit, dass (71) irgendwie grundlegender als (70) ist? Vielleicht explanatorisch grundlegender? Können wir (70) erklären, indem wir uns auf (71) abstützen? Können wir die Frage „Warum ist (70) 24

Summa Theologica 1a, q. 3 und 1a, q. 21, a. 1, ad 4.

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wahr?“ vielleicht mit der Tatsache beantworten, dass (68) zu glauben Teil von Gottes Natur ist? Können wir die notwendige Existenz der Zahl 7 damit erklären, dass es Teil der Natur Gottes ist, ihre Existenz zu bejahen? Gibt es, exakter gesprochen, eine sinnvolle Bedeutung von „Erklärung“, so dass (71) die Erklärung von (70), (70) aber nicht die Erklärung von (71) ist?... Das sind gute Fragen, denen weiter nachzugehen lohnenswert ist. Wenn wir sie affirmativ beantworten können, ist es uns vielleicht möglich, auf eine gewichtige Abhängigkeit abstrakter Objekte von Gott hinzuweisen, obwohl notwendige Wahrheiten, die diese Gegenstände betreffen, nicht in seiner Kontrolle liegen.25 Hier ist wichtig zu bemerken, dass Plantinga nicht behauptet, die von ihm aufgeworfenen Fragen könnten tatsächlich affirmativ beantwortet werden. Trotz seiner subtilen und nahtlosen Argumentationsweise, drückt sein abschliessender Hinweis nicht mehr als eine Hoffnung aus. Sollte es also gute Gründe zur Annahme geben, dass Plantingas Fragen nicht affirmativ beantwortet werden können, haben wir auch gute Gründe, um die AAA-Sicht zu verlassen und zu prüfen, ob die K/R-Sicht gegen die an ihre Adresse gerichteten Einwände verteidigt werden kann. Zwei Dinge zeigen meiner Meinung nach, dass Plantingas Fragen negativ beantwortet werden müssen, wenn man wie er davon ausgeht, dass Gottes Attribute nicht mit Gott identisch sind, aber dennoch notwendig existieren. Erstens: nicht alle notwendigen Wahrheiten können deshalb wahr sein, weil Gott sie für wahr hält. Sie können auch nicht erklärt oder in der Tatsache verankert werden, dass Gott sie kennt und bejaht. Denn in der AAA-Sicht gibt es eine Vielzahl von Eigenschaften, die Gott schon besitzen müsste, um irgend etwas kennen oder bejahen zu können. Zum Beispiel müsste er Bewusstsein haben, um etwas zu wissen oder zu bejahen. Dann aber könnte die Perfektion des vollkommenen Bewusstseins nicht davon abhängen, dass Gott sie kennt und bejaht, denn er müsste schon ein Bewusstsein haben, um zu wissen oder bejahen, dass er ein Bewusstsein hat. Aus demselben Grund kann Gottes Wissen oder Affirmation seines eigenen Bewusstseins nicht der Grund oder die Erklärung der Existenz dieses Bewusstseins sein. Es besteht deshalb keine Hoffnung, dass diese konkrete Eigenschaft irgendwie von Gott abhängen könnte. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, denn Gott muss diese Perfektion haben, um Gott zu sein. Gottes Aseität ist so aber nicht mehr gewährt; vielmehr hat vollkommenes Bewusstsein göttlichen Status, und nicht Gott selbst. 25

A. Plantinga, Does God Have a Nature? 144.

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Auch ist Bewusstsein nicht das einzige Attribut, das in keiner Weise von Gottes Wissen oder Bejahung abhängt. Die Eigenschaft logischer Selbstidentität müsste auch auf Gott zutreffen, damit Gott ein bewusstes Personzentrum haben oder sein könnte. Damit der Personbegriff überhaupt sinnvoll auf etwas angewandt werden kann, muss dieses Etwas logisch gesehen mit sich selbst identisch sein. So kann die notwendige Existenz auch dieser Eigenschaft in keiner Weise von Gottes Wissen oder Bejahen abhängig gedacht werden, von diesem erklärt, oder in diesem verankert sein. Der Grund dafür ist derselbe, wie im Fall des Bewusstseins: Die Eigenschaft müsste schon auf Gott zutreffen, damit Gott Kenntnis von ihr haben oder sie bejahen könnte. Weil nun Gottes logische Selbstidentität wiederum auf den Gesetzen der Logik beruht, würden auch sie in keiner Weise von Gott abhängen. Wie schon zuvor das vollkommene Bewusstsein, wären auch sie an sich göttlich und nicht Gott. Ditto für Gottes zahlenmässige Einzigkeit. Wenn es notwendig zutrifft, dass es nur ein göttliches Wesen gibt, dann könnte Gott nicht existieren wenn die Zahl 1 nicht existierte. Wenn also Gottes Wissen und Bejahung der notwendigen Existenz der Zahl 1 von Gottes Existenz abhängt, und wenn es zu Gottes Wesen gehört, dass er als einziger an sich göttlich ist, dann hängt die Zahl 1 genauso wenig von Gottes Wissen und Bestätigung ab wie sie von unserer Bestätigung abhängt. Vielmehr läuft es darauf hinaus, dass Gott von der Existenz der Zahlen und der mathematischen Gesetze abhängt, die demnach für göttlich erachtet werden müssen anstatt Gott selbst. Dieselbe Geschichte trifft auch auf andere Eigenschaften zu, aber es dürfte überflüssig sein, hier auf sie einzugehen. Denn wenn es auch nur eine abstrakte Eigenschaft gibt, die (in der AAA-Sicht) unabhängig von Gott existiert und die Gott besitzen müsste, um Gott zu sein, dann hat nicht nur jene Eigenschaft göttlichen Status an sich, sondern Gott selbst wäre von diesem Status ausgeschlossen. Das ist genau die Konsequenz, die Thomas von Aquin befürchtete und wie Plantinga nach ihm zu vermeiden suchte. Doch leider gelingt es beiden nicht, dieser Konsequenz zu entrinnen.26 Doch nehmen wir einmal an, ein Vorschlag ähnlich dem von Plantinga würde funktionieren; nehmen wir an, die Inkompatibilität zwischen der notwendigen Existenz der göttlichen Attribute und der Aseität Gottes liesse sich irgendwie überwinden. Wäre die AAA-Sicht dann eine ausgemachte Sache? Ich glaube kaum. Denn es gibt eine andere, wahrhaft unüberwindliche Schwierigkeit mit diesem Ansatz: Gemäss der AAA-Position existieren Gottes Attri­ bute (Güte, Gerechtigkeit, oder Macht, usw.) so notwendig wie er, sind so unerschaffen wie Gott, und werden von den Menschen zu einem bestimmten 26

Edb., 145-146.

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Grad geteilt. Die Schwierigkeit ist nun die, dass Menschen damit (teilweise) selbst göttlich werden. Denn die von Gott und Mensch geteilten Eigenschaften müssten ebenso unerschaffen sein in unserem Fall wie im Fall von Gott.27 An dieser Stelle hilft es nichts zu sagen, dass die menschlichen Eigenschaften den göttlichen Attributen nur ähnlich seien, da sie im Menschen in begrenztem Ausmass, in Gott aber in unendlicher Perfektion vorhanden sind. Selbst wenn das so wäre, würde es doch nichts ändern, denn damit zwei Dinge ähnlich sein können, muss es eine Hinsicht geben, in der sie ähnlich sind. Diese Hinsicht kann nun nicht selbst wieder ähnlich sein, sondern muss in beiden Dingen die gleiche sein. Wenn Gott zum Beispiel (vollkommen) gut ist und Menschen (unvollkommen) gut sind, muss der Besitz der Eigenschaft der Güte die Hinsicht sein, in der beide gleich sind. Es müsste dieselbe Eigenschaft der Güte sein, die in verschiedenem Mass auftritt, wenn die Verwendungsweise des Ausdrucks „gut“ auch nur analoge Bedeutung haben soll. Somit würden sowohl Gott wie Mensch eine unerschaffene Eigenschaft besitzen, und dasselbe würde für alle Eigenschaften gelten, die Gott und Mensch teilen. Die Konsequenz, dass Menschen teilweise göttlich sind, ist nun klar unvereinbar mit der biblischen Auffassung von Schöpfung. Tatsächlich ist die im Buch Genesis benannte Ursünde nichts Anderes als der Wunsch des Menschen, selbst göttlich zu sein. Die AAA-Sicht läuft deshalb darauf hinaus, dass unerschaffene Eigenschaften Gottes auf seine Kreaturen übertragen werden, die insofern nicht mehr kreatürlich sind, als sie jene Eigenschaften besitzen. Das ist nun nicht nur mein persönlicher Einwand gegen die AAA-Sicht, denn Thomas von Aquin gibt dies selbst zu. Er sagt: „‘Gott ist gut’ … bedeutet, dass unsere Auffassung von kreatürlicher Güte auf Gott in einer höherer Weise zutrifft. Gott ist nicht allein deshalb gut, weil er Güte hervorbringt, sondern Güte geht aus ihm hervor, weil er gut ist.“ (ST I a q.13, a.2). Und weiter: „Gott wird durch die Perfektionen erkannt, die von ihm ausgehen und in den Geschöpfen 27

Thomas von Aquin drückt dies wie folgt aus: “Folglich müssen ihm alle Vollkommenheiten der geschöpfliche Dinge in eminentem Grade zukommen.” (ST q. 14, a. 11) Freilich lernen wir alle diese Attribute aus unserer Erfahrung der erschaffenen Welt und postulieren dann, dass sie in Gott in einem vollkommenen Grad existieren. Wie Karl Barth darlegt, folgt aus dieser Argumentation, dass Gott” besteht „in einer Summe von eminenten Eigenschaften die doch relativ zuerst alle auch Eigenschaften des menschlichen Geistes sind, in deren Aufstellung dieser nur seine eigenen Eigenschaften … verabsolutiert und transzendiert … [Aber auf diese Weise] stosse ich nimmermehr auf ein mir selbst gegenüber absolutes, mir selbst transzendentes, sondern nur immer aufs neue auf mein eigenes Wesen. Und indem ich die Existenz eines Wesens beweise, auf das ich doch nur auf dem Wege meiner Selbsttranszendierung gestossen bin, werde ich immer nur meine eigene Existenzbeweisen“ (Kirchliche Dogmatik, Band III.1, 412–13).

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zu finden sind, in ihm jedoch auf transzendente Weise existieren.“ (ST I a q.13, a.3). Natürlich wären die Menschen in anderer Hinsicht immer noch erschaffen. Zum Beispiel wäre ihre Existenz, sowie ihre räumlichen, physischen, biotischen, sensorischen, usw. Eigenschaften immer noch von Gott erschaffen. Aber Menschen wären nicht vollständig kreatürlich, wie in der Bibel bezeugt ist. Mein Einwand ist deshalb einfach und einleuchtend: Die AAA-Sicht stellt den Menschen in entscheidender Hinsicht als unerschaffen dar. Dazu kommen zwei Folgepunkte. Erstens wären Menschen nicht die einzigen Geschöpfe, die unabhängig existierende (göttliche) Qualitäten hätten. Zweitens sind nicht alle dieser Eigenschaften in Geschöpfen weniger vollkommen als in Gott. Zum ersten: Da Gott zum Beispiel einer ist, müsste die numerische Einheit eine unerschaffene Eigenschaft Gottes sein. Und bestimmt tritt diese Eigenschaft sowohl in Gott wie in seinen Kreaturen auf. Aber würde nicht jedes individuelle Geschöpf diese Eigenschaft notwendig besitzen, und zwar im selben Grad wie Gott? Kann es graduelle Abstufungen des numerischen Eins-Seins geben? Wenn nicht, dann gibt es etwas an Felsen und Schnecken, das ebenso unerschaffen ist wie an Gott und Mensch. Dasselbe gilt auch für andere Attribute. Gibt es irgendein Geschöpf, das logisch nicht mit sich selbst übereinstimmen, oder nicht logisch selbst-identisch sein kann? Bestimmt nicht. Aber genauso bestimmt können Geschöpfe diese Eigenschaft nicht in graduell geringerem Ausmass als Gott besitzen. Welchen Sinn ergibt es, von grösserer oder kleinerer Selbst-Identität oder Selbst-Konsistenz zu sprechen? Wenn es eine notwendige Wahrheit ist, dass nichts auf eine Kreatur im selben Sinn zur selben Zeit zutreffen und nicht zutreffen kann, dann gibt es kein Geschöpf, das jenem Gesetz weniger als Gott entsprechen könnte. (Gottes Gedanken könnten natürlich vollkommen konsistent sein, wohingegen es unsere nicht sind. Aber mein Punkt bezieht sich auf Gottes Sein, nicht auf seine Gedanken.) So verlangt die AAA-Sicht einmal mehr nicht nur, dass Geschöpfe göttliche Eigenschaften haben, sie verlangt auch, dass Geschöpfe diese Eigenschaften im selben Grad wie Gott besitzen. Das verletzt nicht nur eine der Prämissen der AAA-Sicht selbst, sondern bürstet auch das biblische Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer vollständig gegen den Strich, was ich gleich zeigen werde. Die AAA-Sicht Gottes sollte nun deutlich genug geworden sein um erkennen zu können, warum und wie sie die reduktionistische Theoriebildung unterstützt und fördert: Sie tut dies indem sie daran festhält, dass bestimmte Arten von Eigenschaften und Gesetzen des Kosmos notwendig existieren und unerschaffen sind, andere aber nicht. Denn wenn einige Eigenschaften und/oder Gesetze des Kosmos erschaffen sind und andere nicht, was ist dann nahe liegender als Theorien der geschöpflichen Wirklichkeit zu konstruieren, die die

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kontingenten Eigenschaften und Gesetze des Kosmos auf diejenigen zurückführen, die unerschaffen sind? Oder noch zugespitzter, wie könnte dies vermieden werden? Wenn im Gegensatz dazu die Eigenschaften Gottes von Gott selbst gewillt sind – wenn sie in dem Sinn sein Wesen konstituieren, dass sich in ihnen der Charakter ausdrückt, in und durch den Gott sich den Menschen erfahrbar zu machen entschlossen hat – wie die K/R-Sicht besagt, dann können alle diese unakzeptable Konsequenzen vermieden werden. In dieser Sicht gefährden die Attribute Gottes dessen Aseität auf keinerlei Weise, da allein das Sein Gottes an sich göttlich ist. Und die Tatsache, dass Gott einige seiner Eigenschaften mit den Menschen teilt, führt auch nicht dazu, dass Menschen und andere Geschöpfe teilweise unerschaffen wären, da diese Attribute in beiden Fällen vom Schöpferwillen Gottes abhängen. Wenn dieser alternative Gottesgedanke also in sich konsistent ist und mit dem biblischen Zeugnis übereinstimmt, werden wir allen Grund haben, ihn der AAA-Sicht vorzuziehen. Das führt dann auch zur Beseitigung der theologischen Gründe, die zum jahrhundertealten Kompromiss theistischer Denker mit dem paganen Charakter reduktiver Theorien geführt hat. Der Reduktionismus – auch in seiner schwachen Version – könnte dann so grundlegend zurückgewiesen werden wie er es verdient. Ein letzter Punkt noch. Ein oft gehörter Einwand gegen das eben Gesagte lautet, dass die angeblich von Gott erschaffenen notwendigen Wahrheiten aufhörten, notwendig zu sein. Wenn Gott die notwendigen Wahrheiten der Mathematik und der Logik will (erschafft), dann gelten sie eben nicht „egal was ist“, sondern nur dann, wenn Gott es so will und ihre Geltung aufrechterhält. Das bedeutet, gemäss diesem Einwand, dass sie eben nicht notwendig gelten und wir jeder Grundlage für unser Denken verlustig gehen. Da diese Konsequenz nicht richtig sein kann, muss der Vorschlag, die notwendigen Wahrheiten seien von Gott erschaffen, grundsätzlich schief sein. Dieser Einwand gegen die Auffassung der göttlichen Erschaffung notwendi­ ger Wahrheiten kann von verschiedenen Seiten angegangen werden. Hier ­wollen wir nur gerade eine davon beleuchten. (Ich werde später nochmals auf diese Geschichte zurückkommen, um eine ihrer etwas komplizierteren Facetten zu diskutieren). Die Behauptung, die ich hier aufnehmen will, lautet: Wenn notwendige Wahrheiten nicht unverursacht und unvermeidbar sind, dann drücken sie keine notwendigen Relationen aus. Meine Antwort ist nun die, dass dieser Einwand entweder auf einer schwerwiegenden Bedeutungskon­fusion im Ausdruck „notwendig“ beruht, oder aber ein schlichtes non sequitur (Nichtfolgen der gezogenen Konklusion) enthält. Die Art und Weise, in der zum Beispiel ein logisches oder mathematisches Gesetz notwendig sein muss um als verlässliches Prinzip unseres Denkens fungieren zu können,

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besteht darin, dass eine es eine Relation statuiert, die unhintergehbare Gültigkeit besitzt; nichts in der Schöpfung kann etwas an dieser Gültigkeit ändern. Es muss also gelten, dass im Fall des Zutreffens eines Sachverhalts, ein anderer Sachverhalt notwendig zutreffen muss (oder ausgeschlossen ist). Die fragliche Notwendigkeit zeichnet nur gerade die Relation zwischen den Dingen aus, für die das Gesetz gilt. Zum Beispiel wird gesagt: Wenn wir (die Quantität) 1 haben und ein anderes 1 hinzufügen, können wir nicht anders als (die Quantität) 2 zu haben. Doch das ist bei weitem nicht dasselbe wie zu behaupten, dass dieses Gesetz selbst nicht nicht existieren konnte. Warum sollte dieses Gesetz nicht notwendiger Bestandteil der Welt sein, weil Gott Kreaturen mit quantitativen Eigenschaften, die von quantitativen Gesetzen bestimmt sind, aus dem Nichts erschaffen hat? Warum sollte die Existenz von Quantitäten und die zwischen ihnen geltenden Gesetze nicht im Willen Gottes verankert sein können? Wie sollte dies der Verlässlichkeit der Mathematik irgendwie abträglich sein? So weit ich sehen kann, gibt es keinen triftigen Grund zur Annahme, diese Gesetze seien keine echten Gesetze, weil sie von Gott dem Kosmos eingeschrieben wurden. Aus der blossen Tatsache, dass Gesetze notwendige Relationen zwischen Kreaturen ausdrücken, folgt noch lange nicht, dass solche Gesetze unverursacht und unvermeidbar sind. Die Gesetze der Mathematik und der Logik sind wohlverstanden sowohl die Gesetze unserer Gedankenprozesse wie der Dinge, über die wir räsonnieren. Deshalb können wir uns keinerlei Begriff davon machen, was es heisst, dass die zwischen Dingen, Eigenschaften und Sachverhalten tatsächlich geltenden Gesetze nicht auf diese zutreffen sollten. Aber unsere Unfähigkeit, die Dinge anders zu konzipieren, ist nicht im geringsten inkompatibel mit der Auffassung, Gott habe den gesamten Kosmos mit seinen verschiedenen Aspekten ins Dasein gerufen, so dass ohne diese schöpferische Tat keine Dinge, Eigenschaften oder Sachverhalte existieren würden. (Wie angekündigt, werde ich später nochmals auf diesen Punkt zurückkommen, und eine ausführlichere Antwort auf diese Kritik im Zusammenhang mit dem dritten Einwand gegen die K/RSicht folgen lassen.) Wie also soll die K/R-Alternative expliziert werden? Anstatt direkt in die Diskussion der Denker einzusteigen, die diese Alternative entfaltet haben, möchte ich mich zunächst der biblischen Basis zuwenden. Danach werde ich knapp skizzieren, wie dieser alternative Denkansatz von einigen seiner Exponenten dargestellt und verstanden wurde. Zum Schluss werde ich die Ein· wände zu entkräften versuchen, die am häufigsten gegen die K/R-Sicht erhoben werden.

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10.6 B. Pankreationismus Mein fundamentaler Einwand gegen die AAA-Sicht geht vom biblischen Schöpfungsverständnis im umfassenden Sinn aus: Alles in und am Kosmos ist von Gott erschaffen. Deshalb müssen wir erst einmal sehen, ob eine biblische Grundlage für diese Auffassung existiert. Denn vielleicht erfährt die biblische Auffassung, dass Gott „alle Dinge“ erschaffen hat, auch in der AAA-Sicht eine plausible Interpretation. Vielleicht lässt sich diese Auffassung auch so verstehen, dass Gott nur die konkreten Dinge, nicht aber (so genannt) abstrakte Gegenstände erschaffen hat? Es besteht kein Zweifel, dass die biblischen Schriften die göttliche Erschaffung der alltäglichen Erfahrungswelt bezeugen. Sonne, Mond und Sterne, die Erde und alle Formen des Lebens sind explizit von Gott erschaffen und erhalten. Darüber hinaus vertreten die biblischen Verfasser die Auffassung, dass Schöpfung nicht einfach ein Gestalten und Formen von etwas ist, das schon da wäre; es geht vielmehr um eine Erschaffung aus dem Nichts, und nicht nur um kosmische Innendekoration. Was aber ist mit dem Ausdruck „alle Dinge“? Stimmt es, dass es sich dabei bestenfalls um eine vage Umschreibung handelt, die uns in den hier verhandelten Fragen nicht weiterbringen kann? Wird dieser Ausdruck von biblischen Schriftstellern nur für die konkreten Dinge verwendet, die in Genesis explizit erwähnt werden? Wenn ja, könnte die vorherrschende theologische Tradition durchaus recht haben, dass der erschaffene Kosmos in gewisser Hinsicht unerschaffen ist. In diesem Fall wäre die biblische Auffassung von Schöpfung tatsächlich zu vage, um als Grundlage für meinen Einwand gegen das AAA-Gottesverständnis dienen zu können. Wenn, andererseits, die biblische Schöpfungslehre stärker ist – wenn sie also besagt, dass Gott alles ausser sich selbst ins Dasein gerufen hat, so dass nichts Geschöpfliches und dieses in keinerlei Hinsicht unerschaffen ist – dann ist die AAA-Sicht der Attribute Gottes äusserst revisionsbedürftig. Zudem würde eine solche Revision, in Kombination mit dem, was wir als die biblische Lehre der Nicht-Neutralität alles Wissens ausgemacht haben, die Zurückweisung jeder reduktiven Theoriestrategie erfordern. Bevor wir zur Sichtung des biblischen Textmaterials übergehen, möchte ich mein Einverständnis mit der Meinung äussern, dass die biblischen Schriften in gewöhnlicher Sprache abgefasst sind und nicht in philosophisch oder wissenschaftlich geprägten Begriffen. Wir können also nicht einfach davon ausgehen, dass sie die Frage der Existenz von abstrakten Entitäten behandeln. Aber es besteht auch kein Grund zur Annahme, dass allein eine abstrakt-techni­sche Sprache die Auffassung, alles in und am Kosmos sei durch Gott erschaffen, zum Ausdruck bringen könnte. (Tatsächlich habe ich in diesem letzten Satz

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genau das getan.) Es besteht also zumindest die Möglichkeit, dass die Bibel exakt diese Sicht vertritt ohne in technischer Sprache abgefasst worden zu sein. Die Unterscheidung zwischen gewöhnlicher und technischer Sprache ist hier also nicht von Belang. Ebenso wenig von Bedeutung ist, dass wir nicht im voraus erwarten können, in der Bibel würden irgendwelche Aussagen zum Status von Gegenständen gemacht, die auf dem Weg der Abstraktion entdeckt wurden. Wir sollten überhaupt keine vorgefassten Meinungen haben, was Inhalt und Thema der biblischen Schriften sein kann und was nicht. (Zum Beispiel dürfte es für viele Theisten eine Neuigkeit sein, dass jedes Wissen und jede Wahrheit von der Gotteserkenntnis tangiert ist.) Was zählt sind nicht irgendwelche vorgängigen Meinungen, was die Schrift sagen kann und was nicht, sondern eine sorgfältige Untersuchung dessen, was sie tatsächlich sagt. Insbesondere brauchen wir eine Untersuchung, wie der Ausdruck „alle Dinge“ gebraucht wird, einschliesslich der Voraussetzungen, die im Vergleich der verschiedenen Verwendungsweisen zum Ausdruck kommen. Ein weiterer fehlgeleiteter Versuch, die Dinge im voraus lösen zu wollen, besteht im simplizistischen Argument, dass die Aussage, Gott habe alle Dinge erschaffen, sich nur auf konkrete Dinge beziehen könne. Doch das überzeugt nicht – dem Wort „Ding“ kann kein derartiges Gewicht zugemutet werden. Man kann aus ihm nicht schliessen, Gottes Schöpfung umfasse keine abstrakten Entitäten, denn das Wort „Dinge“ kommt weder in den hebräischen noch in den griechischen Ausdrücken vor, die im Deutschen mit „alle Dinge“ übersetzt werden. In beiden biblischen Sprachen kommt nur ein Wort vor, das schlicht „alles“ bedeutet. Die Ausdrücke selber sind also unbestimmt bezüglich unserer Frage; allein eine nähere Untersuchung ihrer Verwendung kann Auskunft geben, worauf sie sich beziehen; ihre lexikalische Bedeutung allein genügt nicht. Zu Beginn unserer Untersuchung des Ausdrucks „alle Dinge“ sollten wir festhalten, dass die hebräische Bibel mancherorts von einem über die kosmischen Gesetze und Grenzen erhabenen Gott spricht (vgl. Ps 119,89–91 mit Ps 148,6). Sie sind Teil von „allen Dingen“, die seine Diener genannt werden. Sie werden auch als Ordnung der Schöpfung bezeichnet, durch die Gott seine Schöpfung regiert (vgl. Jer 31,35–36; 33,25; Hiob 38,33). Die permanente Zuverlässigkeit der Schöpfungsordnung – der Ordnung, die wir als Gesetz(e) bezeichnen – wird darüber hinaus in diesen Texten, und in Genesis 8,22, als von Gott abhängig gesehen. In biblischer Sicht ist Gott somit nicht zuverlässig, weil einige Gesetze der Schöpfung verwendet werden können, diese Vertrauenswürdigkeit zu erweisen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Die Gesetze der Schöpfung sind vertrauenswürdig, weil Gott verspricht, sie aufrechtzuerhalten. Da die

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Ordnungen des Kosmos auf diese Weise explizit zu den geschaffenen Dingen gerechnet werden, ist schon deutlich, dass sich der Ausdruck „alle Dinge“ nicht nur auf konkrete Gegenstände bezieht. Aber auch andere Aussagen, wie Jes 45,7, bestärken diesen letzten Punkt. Da wird Gott als Urheber des Geschichtsverlaufs herausgehoben, als Herr über Friede und Unheil. Also nochmals: die „Dinge“, die von Gott abhängen, sind nicht auf konkrete Gegenstände beschränkt. Im Neuen Testament wird der Kreis „aller Dinge“ noch erweitert. Gott wird als Urheber jeder Art von Macht und Herrschaft (Eph 1,10; 3,9–10), als Schöpfer des Raums (Röm 8,38–39) und der Zeit (2 Tim 1,9; Titus 1,2; Judas 1,25; Offb 10,5–7) dargestellt.28 Und es gibt noch stärkere Aussagen. In Kol 1,15–16 wird gesagt, dass Gott alle Dinge erschaffen hat, in den Himmeln und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare. Und da alles – jede abstrakte Entität eingeschlossen – entweder sichtbar ist oder nicht, folgt aus der wörtlichen Bedeutung dieses Textes, dass nichts in und an der Schöpfung unerschaffen ist. Dieser Text steht auch nicht allein da mit der Forderung, dass sich „alle Dinge“ auf alles ausser Gott selbst bezieht. In Röm 1,18–25 spricht Paulus vom Götzendienst als der Verkehrung der Wahrheit über Gott in eine Lüge, mit dem Resultat, dass „dem Geschöpf Verehrung und Dienst dargebracht [wurde] anstatt dem Schöpfer.“ Hier ist die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf in einem umfassenden Sinn gebraucht; etwas ist entweder Gott oder von Gott erschaffen.

28

Der griechische Text des 2 Timotheus- und des Titusbriefes besagt wörtlich, dass Gottes Plan „vor aller Zeit“ war, und auch 1 Kor 2,7 drückt sich entsprechend aus. Der Judasbrief spricht von Gottes Ehre, Hoheit, Gewalt und Macht als „vor aller Zeit, jetzt und in alle Ewigkeit“. Eine neuere Übersetzung gibt die zitierte Textstelle aus der Offenbarung des Johannes wieder als „es wird kein Aufschub mehr sein“ statt „es wird keine Zeit mehr sein“. Aber gemäss Liddell und Scott (A Greek English Lexicon, 2005) gibt es keinen Präzedenzfall dafür, dass das Verb ἔσται zusammen mit χρνός anstatt mit Καῖρος in der Bedeutung von „Aufschub“ (Eng. delay) auftritt. Kommt hinzu, dass das gemeinsame Thema all dieser Texte Gottes Souveränität über die Zeit betont. Ich habe diese Position ausführlich diskutiert in “Is God Eternal?” in The Rationality of Theism, ed. A. García de la Sienra (Amsterdam: Rodopi, 2000), 273–300. Meine Schlussfolgerung lautet, dass das Zurückweisen von Gottes Un-Zeitlichkeit aufgrund ihrer Inkompatibilität mit der AAA-Ansicht von Gott die K/R-Ansicht in nicht zu rechtfertigender Weise ausser Acht lässt, bei der keine solche Inkompatibilität vorliegt. Des Weiteren, wenn die Worte der Heiligen Schrift, dass Gott „vor“ der Zeit ist und sein Zerstören der Zeit ernst genommen werden, liefern sie einen weiteren Hinweis darauf, dass die AAA-Ansicht im Gegensatz zur K/R-Ansicht unbiblisch ist.

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Vergleichen wir zum Schluss noch die Stellen 1 Kor 15,24–28 und Kol 1,17 miteinander. In letzterer wird Christus (in seiner göttlichen Natur) als der bezeichnet, von dem „alle Dinge“ abhängen; in ersterer wird gesagt, dass in Gottes ultimativem Reich Christus über „alle Dinge“ herrschen wird, ausser über Gott. Es scheint nahe liegend, dass sich der Ausdruck „alle Dinge“ in beiden Fällen auf dasselbe bezieht: Christus herrscht über das, was von ihm abhängt. Wenn das zutrifft, dann ergibt sich die explizite Auffassung, dass hinsichtlich der Schöpfung nichts unerschaffen ist oder von Christus nicht regiert wird, ausser Gott selbst. Auf diesem Weg erweist sich die Extension von „alle Dinge“ als die Gesamtwirklichkeit abzüglich Gott, Sichtbares und Unsichtbares. Zweifellos wird sich der Verfechter oder die Verfechterin der AAA-Position davon nicht überzeugt lassen. Denn die in diesen Texten explizit erwähnten abstrakten Eigenschaften umfassen Gesetze, Raum und Zeit, nicht aber die göttlichen Attribute selbst. Aus diesem Grund wenden wir uns jetzt einer bemerkenswerten Textstelle der Bibel zu, die nicht nur von einer abstrahierten Eigenschaft spricht, sondern diese Eigenschaften zu den göttlichen Attributen zählt und sie dennoch als von Gott erschaffen betrachtet! Die Stelle ist in Sprüche 8,22–31 zu finden, wo eine personifizierte Weisheit dargestellt wird, die von sich selber sagt: Der HERR hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, als erstes seiner Werke von jeher. Von Ewigkeit her war ich eingesetzt, von Anfang an, vor den Uranfängen der Erde. Als es noch keine Fluten gab, wurde ich geboren … als er noch nicht gemacht die Erde … noch die Gesamtheit der Erdschollen des Festlandes. Als er die Himmel feststellte, war ich dabei … da war ich an seiner Seite, als Handwerksmeister, und war seine Wonne Tag für Tag … und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein.29 Weil es nicht angeht, zuviel Gewicht auf eine einzelne Schriftstelle zu legen, behaupte ich nicht, dass dieser Text allein genügt, um meine Sichtweise als die richtige herauszustellen. Wichtig ist nicht diese isolierte Textstelle, sondern die wunderbar nahtlose Art und Weise, wie sie sich in das Gesamtzeugnis der biblischen Texte einfügt, die von der göttlichen Erschaffung aller Dinge 29

Auch die Kappadozier betrachteten diesen Text als hoch bedeutsam. Sie betonten, dass dieser Text im Gegensatz zum pagan-griechischen Denken, das die elementare Teilung der Wirklichkeit zwischen dem Rationalen und dem Nicht-rationalen vornahm, die Trennlinie zwischen dem Schöpfer und der Kreatur verlaufen lässt, womit dann auch das Rationale zur Schöpfung zu zählen ist. Siehe Pelikan, Christianity and Classical Culture, 51–53.

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sprechen. Dazu kommt, dass diese Stelle, poetisch wie sie ist, eine der wenigen ist, die darauf anspielt, wie Gott seine Eigenschaften besitzt. So gesehen ist sie auch als einzelne wichtig genug. Denn auch wenn wir mit der poetischen Freiheit des Textes rechnen, scheint es klar, dass niemand, der ein AAA-Verständnis von Gott hat, Zeilen wie diese niederschreiben könnte (selbst ein stockbetrunkener Anselm hätte nicht deren Verfasser sein können, geschweige denn ein nüchterner). Gesagt wird nicht weniger, als dass die Weisheit ein Teil von Gott und zugleich den Menschen gegenwärtig ist – und deshalb von diesen geteilt wird. Dennoch besteht der Text darauf, dass die Weisheit „als Anfang seines Weges, als erstes seiner Werke von jeher“ von Gott erschaffen ist, was eine deutliche Anspielung auf den Schöpfungsbericht in Genesis darstellt. Derweil der Text also nicht bestreitet, dass Gott die Weisheit mit den Menschen teilt, und dass es niemals eine Zeit gab, in der sie nicht Eigenschaft Gottes war, bestreitet er doch, dass Gottes Weisheit unerschaffen sein muss, weil er selbst es ist. Noch wichtiger ist, dass die vorliegende Textstelle aus dem Buch der Sprüche auch in anderer Hinsicht nicht allein da steht. Es handelt sich nicht um den einzigen Ort, wo in der Bibel Gott eine Eigenschaft zugeschrieben wird, die er erschaffen hat. Das Neue Testament spricht auch von der Menschwerdung Gottes in dieser Weise. Jesus war ganz Mensch, er war aber auch die Inkarnation Gottes. Gott hält seine gesamten Beziehungen zum Kosmos durch ihn aufrecht, inklusive die Relation, durch die der Kosmos in seiner Existenz bewahrt wird (Kol 1,17). Offenkundig trifft dies nicht zu vor der Erschaffung Jesu durch Gott. Anders gesagt, wurde die zweite Person der Trinität zu einer bestimmten Zeit in Jesus Mensch. So gesehen, würde dieses Verhältnis, obwohl es auf Gott zutrifft, nicht existieren, wenn Gott es nicht ins Dasein gerufen hätte. Und weil von diesem Verhältnis explizit gesagt wird, dass es weder die Menschheit Jesu noch die Tatsache aufhob, dass Jesus eine Person war, besteht die naheliegendste Interpretation dieses Verhältnisses darin, dass Gott die gesamte Person Jesu angenommen und zu seinem eigenen Wesen gemacht hatte. In der Inkarnation wird Gott zur göttlichen Seite von Jesus, sowie Jesus zur menschlichen Seite Gottes wird. Viele theologische Denker aus vielen verschie­ denen Traditionen und Lagern haben diese Darstellung der Inkarnationslehre unterschrieben. Zum Beispiel Thomas von Aquin, der sagt, dass in der Inkarnation „Gott Mensch wurde“ und „menschliches Fleisch angenommen hat“ [S.T., iii. Q.1. art. ii] (wobei der Ausdruck „Fleisch“ offenkundig eine Synekdoche für den ganzen Menschen ist). Ebenso Gregor von Nyssa, der bekräftigt, dass nach diesem Dogma der Schöpfer auch der Erlöser ist, der inkarniert wurde „in dem er das gesamte Menschsein in sich aufgenommen hat“ (Eun. 3.3.51).

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Der kumulative Effekt dieser Textzeugnisse unterstützt die strikte Interpretation der Schöpfungslehre – die Sicht, die ich „Pankreationismus“ nenne. Meine Sicht ist also die, dass die Bibel nicht schweigt bezüglich der vermeintlich unerschaffenen Existenz von irgendetwas ausser Gott, seien es Zahlen, Mengen, Eigenschaften, Relationen, Gesetze, Propositionen oder irgendwelche anderen Bewohner von Platos überirdischen Gefilden. Nichts davon kann als unerschaffen betrachtet werden. Die Verfasser der biblischen Schriften wollen schlicht keine Ausnahme zulassen, nicht einmal hinsichtlich der Gott selbst zugeschriebenen Eigenschaften. Tatsächlich hinterlassen die untersuchten Texte nicht nur den deutlichen Eindruck, eine pankreationistische Sicht vermitteln zu wollen, es ist auch schwer vorstellbar, wie sie diese Sicht deutlicher hätten ausdrücken können, selbst wenn sie in technischer Sprache abgefasst worden wären. Auf dem Hintergrund der biblischen Verwendungsweise des Ausdrucks „alle Dinge“ und der Konvergenz von Sprüche 8 und der Inkarnationslehre hinsichtlich der Art und Weise, wie Gott Weisheit besitzt, bzw. sich in Christus inkarniert, schlage ich vor, das Verhältnis zwischen Gott und allen seinen Eigenschaften so zu verstehen. Aus dieser Sicht trifft es also nicht zu, dass Menschen deshalb Ebenbilder Gottes und zur Gotteserkenntnis fähig sind, weil sie teilweise göttlich wären und einige von Gottes unerschaffenen Eigenschaften teilten. Vielmehr sind wir Ebenbilder Gottes und zur Gotteserkenntnis fähig, weil Gott erschaffene Beziehungen und Eigenschaften angenommen hat, die wir erkennen können, da Gott sie zum Bestandteil des Kosmos und des Menschen gemacht hat. Darüber hinaus hat Gott diese Beziehungen und Eigenschaften mit dem Ziel erschaffen und dem Kosmos eingeschrieben, dass sie es dem Menschen ermöglichen, Gott nahe zu kommen. Sie machen das offenbarte Wesen Gottes aus, wodurch sich Gott, wie Basilius der Grosse sagt, „unserem Verstand angepasst hat“. Es ist diese angenommene, offenbarte Natur Gottes, die in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck kommt.30 Diese Sichtweise bejaht also ausdrücklich, dass Gott die Beziehungen zu seinen Geschöpfen unterhält und die Eigenschaften hat, die ihm in der Bibel zugeschrieben werden; sie insistiert jedoch darauf, dass Gott diese nicht besitzen musste, um existieren zu können. Vielmehr sind sie Teil seines Wesens, weil er sie ins Dasein gerufen, und sich aus freien Stücken den ebenso erschaffenen Gesetzen und Normen unterworfen hat; all das, um sich unserer geschöpflichen Begrenztheit anzupassen. Tatsächlich schreibt die Bibel Gott Eigenschaften nahezu jedes aspektspezifischen Typs zu. Zum Beispiel ist er quantitativ einer (Deut 6,4; Jes 44,6), räumlich allgegenwärtig (Ps 139,7–12), physisch allmächtig (Ex 15,6; 1 Chron 29,11–12; Ps 30

Meine Übersetzung folgt hier dem hebräischen Text, nicht der Septuaginta.

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62,12; Heb 1,3). Biotisch gesehen ist er der lebendige Gott und unser Vater (2 Sam 22,47; Jer 4,2; Ps 42,3; Offb 7,2), in sensorischer Hinsicht sieht und hört er uns (Ps 17,6; 33,18; 34,16); logisch gesehen ist er allwissend (Hiob 37,16; Ps 44,22; Jes 46,10; Luk 16,15; 1 Joh 3,20), ökonomisch gesehen ist er der Eigentümer der Welt (Lev 25,23; 1 Chron 29,11; Hiob 41,3), etc. All dies sind Merkmale, die Gott zu seinem Wesen gemacht hat, um sich in seinen verschiedenen Bundesabkommen der gesamten Menschheit mitzuteilen. Die Tatsache, dass Gottes Offenbarung die Form eines Bundes hat, bietet einen zusätzlichen Grund, diese Sicht seines offenbarten Wesens anzunehmen. Denn die Idee des Bundes umfasst einen Eid der Einwilligung, durch den Gott bestimmte Anforderungen und Verheissungen erlassen hat. Dazu gehört das Versprechen, treu, gerecht, liebevoll, barmherzig, usw. zu sein. Doch wäre es absurd, wenn Gott diese Dinge versprechen würde, jedoch gar nicht anders sein könnte, wie das AAA-Gottesverständnis behauptet. Wäre das der Fall, würden wir erwarten, dass die Schrift Gottes Treue, Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit bejaht, nicht weil Gott selbst sich dazu verpflichtet, sondern weil er schlicht nicht in der Lage ist, anders zu sein.31 Derweil Gottes Versprechen, diese Dinge zu sein, aus kappadozisch-reformatorischer Sicht gänzlich nachvollziehbar ist, ist es in der Perspektive des AAA-Gottesgedankens etwa so sinnvoll wie mein gegenüber Freunden abgelegtes Versprechen, mich nicht in ein Dreieck oder in die Farbe Blau zu verwandeln. Im folgenden soll also ein Gottesverständnis dargelegt werden, das sowohl biblischen Rückhalt besitzt und Gottes Aseität respektiert, wie auch dem Gedankenexperiment standhält, das unsere totale Unfähigkeit aufweist, auch nur die geringste Idee einer angeblich unabhängig existierenden Perfektion aus­zubilden.32 Dieses Verständnis harmoniert besser mit der biblischen 31

32

So sollte auch 2 Petr 1,4 verstanden werden, wenn man daran festhält, dass Gläubige die „gött­liche Natur“ teilen. Das wäre die erschaffene Natur, die frei angenommen und besessen wird von dem Einen, der göttlich ist. Das meint nicht, dass die Kreaturen jemals göttlich sein werden in einem pantheistischen Sinn des Teilens von Gottes unerschaffenem Wesen. Das ist allerdings nicht die einzig mögliche Textinterpretation. Es ist plausibel, dass der Text einfach bestätigt, dass die Gläubigen Gottes Partner sind; siehe A. Wolters, “Partners of the Deity”, Calvin Theological Journal 25 (1990): 28–44; sowie das Postskript in Calvin Theological Journal 26 (1991): 418–20 So sagt die Heilige Schrift beispielsweise, dass Gott nicht lügen kann (Tit 1,2, Hebr 6,18). Aber diese Bemerkung taucht in einem explizit bundestheologischen Kontext auf in dem Sinn, dass Gott die Gläubigen nicht belügen kann, weil er versprochen hat, es nicht zu tun. An anderen Orten in der Heiligen Schrift wird jedoch ausdrücklich davon gesprochen, dass Gott die täuscht, die nicht glauben (Ez 14,9; 2 Thess 2,11).

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Schöpfungslehre, mit der menschlichen Gottesebenbildlichkeit, und dem bun­ des­­theologischen Rahmen der Schrift. All das, weil es Gottes Attribute schlicht als Beziehungseigenschaften (und Eigenschaften von Beziehungseigenschaften) versteht, die Gott willentlich angenommen hat, und nicht als unabhängig existierende Perfektionen, die sich der Kontrolle Gottes entziehen. In dieser Sichtweise bringen Gottes Attribute die göttliche Gnade zum Ausdruck, anstatt das Produkt einer Reihe platonischer Notwendigkeiten zu sein, die Gott zwingen, zu sein was er ist und zu tun was er tut. 10.7

Die kappadozische und (neu-)reformierte theologische Tradition

Einigen Lesern und Leserinnen mag es überflüssig scheinen, wenn an dieser Stelle eine kurze Darstellung der theologischen Denker geboten wird, die das oben skizzierte Gottesverständnis vertreten haben. Der Wahrheitsgehalt dieses Verständnisses hängt schliesslich nicht davon ab, wer es vertreten hat. Warum also die Liebesmühe? Aber da diese Sicht wenig bekannt und deshalb oft missverstanden ist, mag es andere Leser und Leserinnen interessieren, dass sie von vielen Männern und Frauen vertreten wurden, deren Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften sie dazu geführt hat, die neuplatonische Sicht der göttlichen Attribute hinter sich zu lassen. Deshalb scheint es mir angebracht, eine knappe Darstellung davon zu geben, wie dieses Gottesverständnis von einigen seiner herausragendsten Verteidiger und Verteidigerinnen vorgetragen wurde. Am Anfang stehen die Kappadozier: Basilius von Cäsarea, Gregor von Nazianz (Basilius Schwager), Gregor von Nyssa (Basilius Bruder) und Basilius Schwester Macrina, die nicht nur wesentlich zum Werk all dieser beigetragen hatte, sondern es schliesslich auch herausgab. Die Kappadozier insistierten darauf, dass Gottes unerschaffenes Sein, unabhängig von seiner Akkommodation an die geschöpflichen Verhältnisse, „der Vernunft schlechterdings unzugänglich sei“ und was immer rational begriffen werden kann, deshalb „zur Schöpfung gehört“.33 Diese Einsicht wird von allen verschieden ausgedrückt, doch geht die bekannteste Formulierung auf 33

Die oben diskutierten Schwierigkeiten sind nicht die einzigen, die gegen die neuplato­ nische Auffassung vorgebracht werden können, dass Gott alle und nur notwendige Perfek­tionen besitzt. James Ross gibt eine brillante Darstellung mehrerer Schwie­­rig­kei­ ten, darunter auch des Verstosses gegen das mengentheoretische Verbot maximaler Mengen und der daraus folgenden Inkohärenz darin, wie Kreaturen an den göttlichen Exemplaren teilhaben. Siehe “God Creator of Kinds and Possibilities: Requiescant universalia ante res,” in Rationality, Religious Belief, and Moral Commitment, ed. R. Audi und W. Wainwright (Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1986), 315–34.

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Basilius zurück: „Wir wissen nicht was Gott ist, sondern allein was er nicht ist, und wie er sich zu seinen Geschöpfen verhält.“ Sie alle verneinten, dass Gottes Sein mit seinen Attributen identifiziert werden könne34 und beharrten darauf, dass „jeder Name, sei er durch die Tradition oder die Schrift überliefert … nicht das bezeichnet, was [Gottes] Natur in sich selbst ist.“ Vielmehr „treffen diese Namen auf Gott zu, weil sie seine Energien bezeichnen, das heisst die Handlungen, die Gott in Beziehung zu den Geschöpfen eingeht“.35 Vom Sein Gottes, sagt Gregor von Nyssa, „wissen wir nichts Anderes als nur dies, dass Gott ist“.36 Das wird dahingehend erläutert, dass, von Gottes manifester Selbstanpassung an die Menschheit abgesehen, das Sein Gottes „bar jeder Qualität ist“. Anders gesagt, im Bereich des Geschöpflichen gibt es keine Eigenschaften, menschlich erkennbare oder nicht, die für das Gottsein Gottes essentiell sind. Zur Bekräftigung dieses Punktes fügten sie hinzu, dass die gewöhnlichen Aussage- oder Prädikationsregeln „auf den Gott des Universums keine Anwendung finden“, so dass negative Aussagen über Gott „die Abwesenheit nicht-inhärenter Eigenschaften anstatt die Existenz inhärenter Eigenschaften“ bezeichnen.37 Mit anderen Worten, wenn Gott eine bestimmte Eigenschaft abgesprochen wird, folgt nicht, dass Gott notwendig das Komplement dieser Eigenschaft besitzt, wie das im Bereich des Geschöpflichen der Fall ist. So ist zum Beispiel Gottes unerschaffenes Sein unzeitlich, da Gott die Zeit erschuf. Doch heisst das nicht, dass Gott wesentlich unzeitlich ist und demzufolge keine zeitlichen Eigenschaften annehmen oder in der Zeit handeln könnte. Vielmehr transzen34 Pelikan, Christianity and Classical Culture, 55. Dooyeweerd hat diesen Punkt ebenfalls festgehalten, in einer Antwort an Cornelius Van Til: „The same applies to … the so-called attributes of God [which] are ascribed to God, such as he has revealed himself to man in holy scripture, i.e., within the horizon of [our] experience and existence … in their senseproper … aspects of our temporal horizon cannot be ascribed to God’s being as its properties, since they are of creaturely character … [instead] they give expression both to God’s presence in the temporal world and to his absolute transcendence; to his presence, since they imply the whole order of the … aspects [of creation]; to his transcendence, since they refer to God’s absoluteness, which transcends every creaturely determination … this implies that they should not be separately called absolute, or be identified with God’s absolute being. [To do so] would make even the central facts of creation, fall into sin, and redemption a consequence of logical necessity … which would leave no room for the sovereign freedom of God’s will. For God’s will, in your view can only carry out the plan of God, not determine it.“ (Jerusalem and Athens, ed. J. Geehan [Presbyterian and Reformed Pub. Co., 1971], 87–89). 35 Ebd., 209, 210. 36 Ebd., 214. 37 Ebd., 40.

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diert oder übersteigt das Sein Gottes jede Eigenschaft und deren Komplement, weshalb Gott frei ist, in jeder möglichen Beziehung zu seinem Gegenüber zu stehen, und diese Beziehungen alle erdenklichen Eigenschaften haben können. Deshalb können offenbarte Zuschreibungen auf Gott zutreffen und dennoch keinen Hinweis auf das göttlich Sein „an sich“ beinhalten, das heisst, unabhängig von Gottes Akkomodation an sein geschöpfliches Gegenüber. Gemäss kappadozischer Lehre, „erkennen wir die Grösse Gottes, die Macht Gottes, die Weisheit Gottes, die Güte Gottes … nicht aber das göttliche Sein selbst“.38 Basilius sagt: „ … in den verschiedenen Manifestationen Gottes gegenüber der Menschheit, adaptiert sich Gott an menschliche Verhältnisse und spricht eine menschliche Sprache“.39 Der grosse Ausleger der kappadozischen Tradition im 14. Jh., Gregor Palamas, sagt in seinem Kommentar dieser Position: „[Gottes] Energien gehören nicht zu seinem Wesen; denn er ist es, der ihnen Existenz verleiht“. Oder: „Gott, unbegreiflich und unsagbar, in seiner überfliessenden Güte uns gegenüber, willigt ein, unserer Vernunft zugänglich zu sein obwohl er alle Dinge übersteigt“ und „in seiner freiwilligen Entäusserung nimmt er eine wahrhaft differenzierte Existenzweise an“.40 Diese Position ist nach kappadozischer Auffassung auch auf die Trinitätslehre anzuwenden. Gottes Sein ist jenseits des Einen und des Vielen und aller Wirklichkeit, in der Zahlen eine Rolle spielen. J. Pelikan schreibt: „Diese drei Namen des Vaters, des Sohns und des Heiligen Geistes waren also nicht Namen des [göttlichen Seins] … sondern Namen der ‘Beziehung’, der Beziehung Gottes zur Menschheit, und der Beziehung der [göttlichen] Personen zu einander“.41 Da diese Beziehung vor allen Zeiten existierte und nichts Anderes als Gott-in-Beziehung ist, ist sie unerschaffen. Doch insofern diese Beziehung Merkmale wie Abzählbarkeit, Personalität, Liebe, etc. aufweist, muss sie als immerwährende, erschaffene Manifestation seiner selbst betrachtet werden, die Gott ins Dasein gerufen hat, um sich uns zu offenbaren.

38 Pelikan, Christianity and Classical Culture, 55. Siehe auch J. Meyendorffs Vergleich dieser ­Position mit derjenigen von Origenes: “Origen’s mistake consisted just in this, that he identified God with [a knowable] essence, and did not know that unchangeableness and movement, unknowability and revelation, supertemporality and action in time, could really co-exist, united in the … mystery of the personal Being of God.” in A Study of St. Gregory Palamas, 223. 39 Pelikan, Christianity and Classical Culture, 88. 40 Meyendorff, A Study of St. Gregory Palamas, 211, 204, 226. 41 Pelikan, Christianity and Classical Culture, 212. Siehe auch S. 231 ff. besonders 235, wo die „Zeugung“ des Sohnes und des Heiligen Geistes so erklärt wird, dass sie ungeschaffen sind, aber dennoch vom göttlichen Wesen hervorgebracht und daher geschaffen.

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Schliesslich subsumierten die Kappadozier auch alle notwendigen Wahrheiten unter „alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge“, die Gott erschaffen hat. Notwendige Wahrheiten, so sagten sie, sind für Kreaturen notwendig, nicht für Gott. Die Zahlen werden von ihnen explizit als Teil der kosmischen Ordnung verstanden, „als Symbole der Quantität von Gegenständen.“42 In diesem Zusammenhang war der Einwand Palamas gegen die thomistische Auffassung, dass Gott den logischen Gesetzen unterstellt wird, wenn diese als Teil des göttlichen Seins verstanden werden. Palamas hält jedoch beharrlich daran fest, dass sich auch logische Gesetze Gott verdanken und deshalb keinen „absoluten Wert“ haben.43 V. Lossky hat diese Sichtweise folgendermassen zusammengefasst: Die verneinenden Namen schliessen alles aus, was der göttlichen Natur fremd ist, ohne sie uns zu enthüllen … So stellen wir, wenn wir sagen, dass Gott gut ist, nur fest, dass es in ihm keinen Raum für das Böse gibt … Andere Namen, die eigentlich einen positiven Sinn haben, beziehen sich auf die göttlichen Werke oder Energien; sie geben uns Gott nicht in seinem unbegreifbaren Wesen zu erkennen, aber in dem, was um ihn ist. So ist es zugleich wahr, dass der, der reinen Herzens ist, Gott sieht, und dass niemand Gott je gesehen hat. Denn [er] wird sichtbar durch seine Energien …44 Vielleicht ist es hilfreich, wenn ich mich an dieser Stelle Losskys Ausdruck bediene, dass sich Gott mit seinen Energien „umgibt“, um eine Verfeinerung der Darstellung des biblischen Abhängigkeitsschemas vorzunehmen, das ich in Kapitel drei vorgestellt habe. Abbildung 5 soll die biblische Idee des 42 Ebd., 101, 102. 43 Meyendorff, A Study of St. Gregory Palamas, 131. Auch Calvin betont diesen Punkt, wenn er sagt, dass Gottes Transzendenz bedeutet, dass Gott nicht den Gesetzen unterworfen ist, die die Schöpfung beherrschen. So zum Beispiel: „Wir erdichten uns keinen Gott, der ausserhalb des Gesetzes stünde; denn Gott ist sich doch selbst ein Gesetz. … Gottes Wille … ist deshalb das Gesetz aller Gesetze!“ (Institutes of the Christian Religion, III, xxiii, 2). Aus diesem Grund sagt er: „Es ist abartig, das Göttliche nach dem Massstab menschlicher Gerechtigkeit zu messen.“ (Institutes of the Christian Religion, I, xxiii, 2). Dooyeweerd hat angemerkt, dass diese Calvin damit „cut off at the root the interference of speculative metaphysics in the affairs of the Christian religion“ by refusing to „elevate human reason to the throne of God“ (New Critique, vol. 1, 93). Dooyeweerd wendet dann Calvins allgemeinen Punkt spezifisch auf Gottes Transzendenz gegenüber logischen Gesetzen an (New Critique, vol. 1, 144). 44 Lossky, Schau Gottes, 85.

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Pankreationismus und Gottes Akkomodation an die Kreatur illustrieren, auf dem Hintergrund des in Sprüche 8 angedeuteten Modells und des Inkarnationsdogmas:

 Abbildung 5

Da ich einigen Raum darauf verwendet habe um den kappadozischen Ansatz zu präsentieren, werde ich weniger Luther und Calvin zitieren. Nur gerade genug um zu zeigen, wie nahe sie den Kappadoziern kommen. Luther sagt: Was sollten wir uns Gedanken darüber machen, was ausserhalb oder vor der Zeit war?... Lasst uns solche Gedanken abstreifen und erkennen, dass Gott in seiner Ruhe vor der Schöpfung ganz unbegreiflich war … Gott offenbart sich auch nicht ausser durch seine Werke und sein Wort, da die Bedeutung dieser Dinge aufgenommen werden kann … Was immer sonst zur Gottheit gehört, wie das Sein ausserhalb der Zeit, kann weder begriffen noch verstanden werden …45 So müssen wir nun Gott in seiner Majestät und Natur unerforscht lassen. Denn da haben wir nichts mit ihm zu schaffen; er will auch nicht, dass wir wollen mit ihm zu schaffen haben. Sofern er aber durchs Wort sich hervorgetan, dadurch er sich uns anbeut.46 Wir kennen keinen anderen Gott als nur den, der sich in seine Verheissungen gehüllt hat … wenn er sich eine Menschenstimme gibt, wenn er sich an unseren Verstand anpasst, dann kann ich mich Gott nähern.47 Ähnlich Calvin:

45 46 47

“Lectures on Genesis,” in Luther’s Works, ed. J. Pelikan (St. Louis: Concordia Publishing House, 1958), vol. 1, 11. M. Luther, Vom unfreien Willen (München: Chr. Raifer Verlag, 1934), 120. P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers (Gütersloh: Gerd Mohn, 1962), 21.

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Wie soll der Menschengeist selbständig dazu kommen, Gottes Grundwesen zu erforschen, wo er doch sein eigenes nicht im mindesten kennt? (Unterricht, I, 13, 21) Tatsächlich ist Calvins Sprache den Kappadoziern noch näher als die Luthers wenn er sagt, dass unsere Erkenntnis des göttlichen Seins negativ ist, nämlich dass Gott unzeitlich und unbedingt ist: Denn nichts ist Gott mehr eigen als die Ewigkeit und die „Autousia“, das Sein aus sich selber … (Unterricht, I, 14, 3) Aus diesem Grund … werden [Gottes] Tugenden aufgezählt, die ihn uns beschreiben – nicht wie er an sich selber ist, sondern wie er sich zu uns stellt … [In der Schrift wird keine Eigenschaft Gottes genannt, die] nicht auch an der Kreatur erschaut werden könnte! So lernen wir unter Anleitung der Erfahrung Gott als denselben kennen, als der er sich uns im Worte offenbart (Unterricht, I, 10, 2). So kann Calvin die in der Schrift bezeugte Karakter Gottes als die „Natur, in der es Gott gefallen hat, sich zu manifestieren“, bezeichnen (Unterricht, III, 2, 6). Damit unterstreicht er Gottes Kontrolle über Gottes eigene Natur und über unsere Erkenntnis davon. An einem anderen Ort fügt er hinzu: „Deshalb wollen wir die Erkenntnis Gottes ihm selber überlassen … [und] ihn so betrachten, wie er sich uns geoffenbart hat, und über ihn an keiner anderen Stelle eine Kunde suchen als in seinem Wort“ (Unterricht, I, 13, 21). Zum Schluss sollten wir noch die folgenden Worte Karl Barths mit der kappadozischen und reformatorischen Sichtweise vergleichen: Indem Gott schafft und also einem Anderen neben und ausser sich Wirklichkeit gibt, beginnt auch die Zeit als die Existenzform dieses Anderen … Wirklich nicht in der Zeit ist nur Gottes ewiges Wesen als solches: Gott in seiner reinen göttlichen Existenzform … Das Geschöpf aber ist nicht ewig, sondern zeitlich … auf jenem Weg aus dem Damals durch das Jetzt in das Dann. Geschöpf sein heisst auf diesem Wege sein. Wie soll nun der Verkehr zwischen Gott und dem Geschöpf, wie soll auch nur die Begründung und der Anfang dieses Verkehrs anders möglich und wirklich werden als damit, dass Gott dem Geschöpf gnädig ist, sich zu ihm herniederlässt, in seine Existenzform eingeht … Wenn Gott dem Geschöpf

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nicht gnädig ist, und d.h. konkret: wenn er sich seiner nicht in der Weise annimmt, dass er sich mit ihm auf eine Ebene begibt, dass er in seine Existenzform eingeht … dann kann seine Erschaffung gar nicht stattfinden. Zu einem Verkehr zwischen Schöpfer und Geschöpf kann es dann gar nicht kommen.48

10.8

Antworten auf Einwände

Was ist es, das diese Alternative zum Gegenstand der beständigen Ablehnung seitens der Vertreter des AAA-Gottesverständnisses gemacht hat? Wie kommt es, dass sie bis heute keine Stimme in der westeuropäischen und nordamerikanischen Religionsphilosophie gefunden hat? Ein Teil der Antwort liegt meines Erachtens in der Tatsache, dass ein Grossteil der philosophischen Tradition nach wie vor im Bann Platons steht. Andererseits schlägt die Tatsache zu Buche, dass die K/R-Sicht in verschiedener Hinsicht missverstanden worden ist. Selbstverständlich kann ich an dieser Stelle unmöglich auf all diese Missverständnisse eingehen, aber ich werde dieses damit Kapitel beschliessen, dass ich einige der meist wiederholten auszuräumen versuche. Das erste Missverständnis geht aus einer Reaktion hervor, die sich bei praktisch allen Menschen, die mit der AAA-Sicht irgendwie vertraut sind, anlässlich der ersten Berührung mit der K/R Sicht einstellt – auch auf einer theologisch wenig reflektierten Ebene. Diese Reaktion macht sich in der Äusserung Luft, dass wenn wir Menschen ausserhalb der Selbstanpassung Gottes an unsere geschöpflichen Verhältnisse keinen Zugang zu Gottes eigenem Sein haben, unsere vermeintliche Gotteserkenntnis etwas Anderes als Gott zum Gegenstand hat, und deshalb gar keine Gotteserkenntnis ist. Oft tritt dieser Einwand mit dem Zusatz auf, dass selbst gemäss kappadozisch-reformatorischem Denken mindestens eine Eigenschaft Gottes, nämlich seine absolute Selbst-Existenz, nicht von Gott angenommen worden sein kann. Wie soll die K/R-Sicht diesem Einwand entgehen können? Der zweite Einwand lautet, dass wir unmöglich behauptet können, wir hätten keinen Begriff von Gottes eigenem Sein ohne uns dabei einen selbst-referentiellen Widerspruch einzu­ handeln. Wenn wir von Gott behaupten, dass sein göttliches Sein jeden mensch­lichen Begriff ausschliesst, so der Einwand, haben wir damit dieses 48

K. Barth. Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 3, Teil 1, Abschn. 41, in ders., Studienausgabe Band 13 (Zürich: Theologischer Verlag, 1993).

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Sein nicht gerade zu begreifen versucht? Der dritte Einwand entzündet sich an der Auffassung, dass Gott auch das erschaffen hat, was notwendig zutrifft. Führt diese Auffassung nicht dazu, dass einander widersprechende Behauptungen und alle möglichen Absurditäten (als wahr) zugelassen werden? Da auf diesem Weg jegliches Denken zerstört wird, kann die K/R-Sicht einfach nicht richtig sein. (Das ist die andere Seite des Einwandes gegen die behauptete Erschaffung notwendiger Wahrheiten, auf die zurückzukommen ich versprochen hatte.) Und wenn, so der letzte Einwand, sich das Sein Gottes unserer Erkenntnis prinzipiell entzieht, kann es keine Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch, und deshalb keine Basis für ein wahrheitsgetreues Reden von Gott geben. Diese Einwände sollen in der Reihenfolge ihrer Aufzählung diskutiert werden. Erster Einwand Dieser Einwand geht davon aus, dass es etwas im göttlichen Wesen geben muss, das erklärt, warum Gott eben den Charakter angenommen hat, den er in seinen Handlungen und in seinem Verhältnis gegenüber uns Menschen tatsächlich zeigt. Die Annahme ist die, dass Gott seinen Geschöpfen darin ähnlich sein muss, dass sein Wollen und Handeln einer vorgängigen Natur entspringt. Auf dem Hintergrund dessen, was wir im Zusammenhang mit der Sichtweise des Pankreationismus festgestellt haben, muss diese Annahme allerdings zurückgewiesen werden.49 Vielmehr ist Gottes eigenes Sein die schöpferische Quelle seines offenbarten Wesens, insofern wir dieses verstehen können. Denn Gott ist der Schöpfer all dessen, was im Kosmos anzutreffen ist, und seine Selbstoffenbarung bedient sich erschaffener Eigenschaften und Relationen. Gott hat sowohl die Zeit wie auch alle zeitlichen Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten ins Dasein gerufen. Gottes Sein ist somit auch der schöpferische Ursprung aller Prinzipien der Rationalität. Daraus folgt, dass es nichts gibt, was Grund dafür sein könnte, dass sich Gott so zu uns verhält wie er es tut 49

So sagt Luther: “Er ist Gott, dess Willen man kein Gesetz, Grund noch Ursach geben kann; den nachdem ihm nichts im Himmel oder Erden gleich ist, nichts auch über ihm ist, kann man ihm keine Regel, Ziel noch Mass setzen, sondern sein Wille ist ein Mass und Regel aller Creaturen. Denn wenn sein Wille ein Mass oder Regel, Gesetz, Grund oder Ursache hätte, so wäre es schon nimmer Gottes Wille. Denn was er will, ist nicht darum recht, dass er es hat sollen oder müssen also wollen …” (Luther, Vom unfreien Willen, 167–68). Und Calvin betont denselben Punkt: “Mit recht bezeichnet es Augustin als eine Beleidigung Gottes, wenn man über seinen Willen hinaus nach einem weiteren Grunde fragt.” (Institutes of the Christian Religion, I, xiv, 1).

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– ausser, dass er es will. Um es noch einmal zu sagen: Die Verneinung dieser Auffassung impliziert, dass bestimmte, in der Schöpfung vorfindliche Arten von Eigenschaften und Gesetzen unerschaffen und deshalb göttlich sind. Der Gegensatz zur biblischen Auffassung des Pankreationismus sticht deutlich ins Auge. Mehr noch: Der Verdacht ist absurd, dass wenn Gott sich dazu bestimmt hat, was er in seiner Selbstoffenbarung uns gegenüber ist, dieses offenbarte Wesen nicht mit Gott übereinstimmen sollte. Das läuft gerade einmal darauf hinaus zu sagen, dass wenn Gott etwas bestimmt hat, es nicht so ist, wie er es bestimmt hat! Darüber hinaus verkennt dieser Einwand folgenden Punkt: Obwohl wir Gottes unakkommodiertes Sein nicht erkennen können, erkennen wir Gottes-Sein-in-Beziehung-zu-uns. Es ist Gott, dessen Energien, Handlungen und Beziehungen zu uns in ihrem Wesen erkannt werden können. Oft tritt dieser erste Einwand in zugespitzter Form auf: Wenn Gottes-Seinin-Beziehung von Gott selbst gewollt ist, haben wir keine Garantie dafür, dass es sich nicht ändert. Im Gegensatz dazu macht die AAA-Sicht das Wesen Gottes an etwas fest, das ausserhalb der Kontrolle Gottes ist, so dass wir eben volle Sicherheit haben können, dass es sich niemals ändern wird. Das aber ist ein tiefer, existentieller und religiöser Irrtum – den Augustinus „eine Beleidigung Gottes“ genannt hat. Was, so fragt man sich, ist denn der letztgültige Grund unseres Vertrauens in Gott? Ist es Gottes eigenes Bundesversprechen, uns ge­ gen­über immer derjenige zu sein, den er zu sein versprochen hat? Oder w ­ urzelt unsere Sicherheit in einem logischen und/oder metaphysischen Kreditwürdigkeitstest, dem sich Gott ob er will oder nicht unterziehen muss? Ist es wirklich so, dass bestimmte unverbrüchliche Gesetze des Kosmos garantieren, dass Gott nicht anders sein kann als er versprochen hat? Oder nehmen wir Gott bei seinem eigenen Wort? In dem Moment, da wir nach Prinzipien Ausschau halten, die Gottes Vertrauenswürdigkeit verbürgen sollen, haben wir diese vermeintlichen Prinzipien nicht nur über Gott gestellt, sondern unser letztes Vertrauen in sie anstatt in Gott gesetzt. (Erinnern wir uns, daran was am Ende des zweiten Kapitels zur Korrelation zwischen dem, was letztlich vertrauens­ würdig ist, und dem, was wir für unhintergehbar wirklich annehmen, gesagt ­wurde.) Was tun mit dem Einwand, dass die unbedingte Existenz Gottes nicht zu den Dingen gehören kann, die Gott erschaffen und selbst angenommen hat? Nun, das hört sich ganz vernünftig an. Aber warum genau sollte dies gegen die K/R-Sicht sprechen? Unbedingte Wirklichkeit ist überhaupt keine Eigenschaft, und kann auch im Kosmos nicht angetroffen werden; noch ist sie etwas, das Menschen mit Gott teilen. Sie trifft auf nichts Anderes zu als auf das Sein Gottes. Wir können uns keinen Begriff von ihr machen. Vielleicht ist es aber gerade

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dieser letzte Punkt, der den Einwand im Innersten antreibt. Da die K/R-Sicht immer insistiert hat, dass Gottes Sein nicht begriffen werden kann, könnte man vielleicht versucht sein zu denken, dass immer wenn wir uns der Idee der unbedingten Wirklichkeit bedienen, in einen unvermeidbaren Selbstwiderspruch geraten. Um diesen Verdacht auszuräumen, muss ich auf den Unterschied zwischen einem Begriff und einer Grenzidee zu sprechen kommen. Wenn wir einen Begriff bilden, kombinieren wir in Gedanken eine Reihe von Eigenschaften desjenigen Gegenstands, von dem wir uns eben einen Begriff bilden. Genau aus diesem Grund kann der Gehalt eines Begriffs aufgedröselt, analysiert und spezifiziert werden. Ein Begriff umfasst selbstverständlich auch die Relation(en), die zwischen seinen einzelnen Merkmalen (Eigenschaften) bestehen, so dass eine Definition eben nichts Anderes als der linguistische Ausdruck des Gehalts eines Begriffes ist. Im Gegensatz dazu ist eine Grenzidee nicht die Kombination bestimmter Eigenschaften ihres intendierten Gegenstands, sondern unser Bewusstsein einer Realität, die erst durch ihre Beziehung zu etwas Anderem Kontur gewinnt. Zum Beispiel ist die Eigenschaft Rot nicht analysierbar, da sie keine konstitutiven Elemente hat. Aus diesem Grund kann sie auch nicht definiert werden.50 Wir erkennen Rot im Kontrast zu anderen Farben, und nicht, weil wir die Merkmale von Rot zu einem Begriff zusammenfügen. In dieser Hinsicht sind die Meta-Eigenschaften (Eigenschaften von Eigenschaften), die die verschiedenen Aspekte charakterisieren (räumlich, physisch, sensorisch, biotisch, etc.) den Farben ganz ähnlich. Sie sind Gegenstand einer Grenzidee und nicht eines Begriffs. Wir erlangen Kenntnis dieser Meta-Eigenschaften, indem wir konkreten Gegenständen mit ihren spezifischen Eigenschaften begegnen, die wiederum durch diese MetaEigenschaften charakterisiert sind. Zum Beispiel erfahren wir eine bestimmte Form als räumlich, eine bestimmte Härte als physisch, oder ein konkreter Akt der Nahrungsaufnahme als biotisch, etc. Wir unterscheiden die jeweiligen Meta-Eigen­schaften indem wir sie einander gegenüberstellen, da wir unfähig sind, uns von ihnen auch nur eine Vorstellung zu bilden, wenn wir sie isoliert betrachten. Es sollte auch berücksichtigt werden, dass Grenzideen mehr oder weniger Gehalt haben können; einige dieser Ideen werden geformt, indem ein Teil des Gehalts oder der Relationen, die in Begriffen vorkommen, abgezogen 50

Der Punkt hier betrifft eine Realdefinition von Rot, so dass man dessen Farbqualität alleine aus der Definition erkennen kann. Daher wird es nicht reichen, bloss eine Umschreibung zu geben, wie „Der Farbton, den wir sehen, wenn unser Augenlicht normal ist und wir Licht von dieser und dieser Wellenlänge ausgesetzt sind“. Wir müssten bereits wissen, wie Rot aussieht, um dessen Wellenlängenparameter festzusetzen. Dasselbe gilt für andere Versuche, wie „die Farbe des Bluts oder eines Rubins“ etc.

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oder ausgeblendet wird. Wenn wir auf diesem Weg zu einer Grenzideen gelangen, verwenden wir oft denselben Ausdruck für den Begriff wie für die Idee. Deshalb ist es wichtig, nicht zwischen den beiden Arten von Wissen hin und her zu pendeln, ohne es zu realisieren.51 Falls sich Zweifel einstellen sollten, ob es solches Ideen-Wissen – im Gegensatz zu begrifflichem Wissen – tatsächlich gibt, kann folgendes Beispiel einer Grenzidee herangezogen werden: Zahlen, die niemals und von niemandem gedacht werden. Da die Reihe natürlicher Zahlen unendlich ist, ist es notwendig wahr, dass einige Zahlen von keinem Menschen je gedacht wurden noch gedacht werden, sprich: in einen Begriff gefasst werden. Aber haben wir diese 51

Wenn wir zum Beispiel den Ausdruck „Ursache“ verwenden, um auszudrücken, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, dann handelt es sich dabei um eine Idee und nicht um einen Begriff. Kein Begriff, den wir von Kausalität haben, korrespondiert mit Gottes Schöpfersein: Er ist weder formal, noch final, noch materiell, noch als Wirkursache zu verstehen; ebenso wenig bezieht er sich auf eine der Kausalbeziehungen, die physisch, biotisch, sensorisch, historisch oder ökonomisch etc. qualifiziert sind, denn Gott ist der Schöpfer aller Arten von Kausalität, die im Universum zu finden sind. Wenn man alle diese und auch alle anderen begrifflichen Bestimmungen abzieht (Zeit und alle Gesetze), dann bleibt nur der Grenzbegriff von etwas, dass etwas anderes in einer nicht weiter spezifizierbaren Art und Weise hervorbringt. Nur im Sinne eines Grenzbegriffes kann der Ausdruck „Ursache“ für die Abhängigkeit aller Dinge, die nicht Gott sind, von Gott ausgesagt werden. Ein anderes Beispiel ist das Wort „könnte“, wenn man es auf Gott anwendet. Wenn wir fragen, ob Gott eine andere Welt hätte schaffen können oder ob er andere Gesetze hätte erschaffen können, dann verwenden wir „hätte können“ als Idee oder Grenzbegriff, nicht als Begriff. Unsere Auffassung des Konjunktivs bezieht sich auf Möglichkeiten, die allesamt von den Gesetzen des Universums begrenzt sind – von Gesetzen also, die Gott erschaffen hat. (Daher schuf Gott nicht, indem er aus vorgängig existierenden Möglichkeiten ausgewählt hat, sondern er erschuf jeden Sinn von Möglichkeit, den wir konzeptualisieren können.) Aller aspekthaften (und anderer) Bestimmungen bereinigt, können wir jedoch die Idee, dass Gott andere Gesetze der Möglichkeit hätte er schaffen können, verwenden; allerdings können wir uns von diesen möglichen anderen Gesetzen nicht die geringste Vorstellung oder Idee bilden, da unser Wissen von denjenigen Gesetzen bestimmt ist, die er eben schuf. Daher ist die Frage, ob Gott andere Gesetze hätte erschaffen können, nicht mit der Frage identisch, ob es logisch möglich ist, dass die Gesetze der Logik anders sein könnten, als sie sind. Eine bejahende Antwort auf diese Frage führt zu einem Widerspruch. Aber das ist nicht die richtige Art und Weise, die Frage zu verstehen. Vielmehr verwendet die Frage den Konjunktiv, um sich auf die Idee der ontologischen Basis jeder Art von Möglichkeit, die sich im Universum finden lässt, zu beziehen. Diese Basis besteht, wie gesagt, im unerkennbaren, hervorbringenden Wesen Gottes. Dasselbe gilt für die Idee, dass Gott selbst Beziehungen und Eigenschaften „annimmt“. Auch hier handelt es sich um einen Grenzbegriff, da die Art und Weise, wie Gott diese Dinge von sich wahr macht, unbestimmbar für uns ist.

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Zahlen nicht gerade dadurch gedacht, dass wir diese Aussage gemacht haben? Keineswegs. Es ist unmöglich, diese Zahlen zu denken, da jede Zahl, von der wir uns einen Begriff machen, damit auch schon von der Menge der Zahlen ausgeschlossen ist, auf die sich unsere Idee bezieht. Hier haben wir es also mit einer Grenzidee und nicht mit einem Begriff zu tun. Die Grenzidee, dass es solche Zahlen gibt, ist uns keineswegs fremd. Aber wir können uns keinen Begriff machen, worin diese Zahlen bestehen. Diese Idee hat nun ersichtlich weniger Gehalt als die Idee einer Farbe oder einer Meta-Eigenschaft (Aspekt), und doch ist sie nicht vollständig leer. Jede ungedachte Zahl ist irgendeine eine Quantität, die in verschiedenen mathematischen Relationen zu anderen Quantitäten steht. (Dies stimmt mit der weiter oben gemachten Aussage überein, dass der Gehalt einer Grenzidee vermittelst der Beziehung dieser Idee zu etwas erkannt wird, von dem wir einen Begriff oder eine Grenzidee haben). Auf diesem Weg können weitere Grenzideen gebildet werden, die noch weniger Gehalt haben als die angeführten Beispiele. Solche Ideen sind aber nur deshalb möglich, weil ihr Gehalt in Beziehung zum Gehalt eines Begriffs oder einer Idee steht, der oder die über mehr Gehalt verfügt. Das Bewusstsein, das wir von der Existenz (von etwas) haben, so meine Behauptung, gehört zu diesen Grenzideen. Die Idee der Existenz ist mit notorischen Schwierigkeiten behaftet. Ich werde deshalb nicht so tun, als könnte ich die durch diese Idee aufgeworfenen, vertrackten Probleme und Diskussionen hier lösen oder auch nur darstellen. Es soll nur gerade versucht werden zu zeigen, warum es sich beim Ausdruck „Existenz“ meiner Meinung nach um Grenzidee handelt. Niemand wird vermutlich bezweifeln wollen, dass wir unser Bewusstsein der Existenz (von etwas) aus der Erfahrung der uns umgebenden Welt beziehen. Der Ausdruck „existieren“ meint wörtlich „hervortreten aus“, sich von etwas abheben. Er verweist auf die Tatsache, dass wir erkennen, dass etwas ist, indem wir es von anderem unterscheiden. Doch kann die Existenz von etwas nicht als dessen Möglichkeit, identifiziert zu werden, definiert werden; wir haben es hier bestenfalls mit einer Umschreibung zu tun. Die Tatsache, dass wir einen Gegenstand unterscheiden können, wird durch die Existenz dieses Gegenstands ermöglicht, und nicht etwa umgekehrt. So gesehen gibt uns auch der wörtliche Sinngehalt des Ausdrucks nicht das, was wir suchen. Der Ausdruck weist vielmehr über seinen Gehalt hinaus auf das dahinter liegende Faktum der Existenz, das diesen Gehalt erst möglich macht. Um die Dinge weiter zu verkomplizieren kommt hinzu, dass die Existenz eines jedes Dings, dem wir in unserer Erfahrungswelt begegnen, so individuell ist wie das Ding selbst. Es handelt sich nicht um eine Eigenschaft neben anderen Eigenschaften; vielmehr muss etwas existieren, damit es überhaupt irgendwelche Eigenschaften

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besitzen kann. Und schon gar nicht haben wir es mit einer allgemeinen Eigenschaft zu tun, die von mehr als einem Gegenstand geteilt wird; zwei oder mehr Gegenstände haben nicht dieselbe Existenz. (Die Unterscheidbarkeit der Dinge, die die wörtliche Bedeutung von „existieren“ ausmacht, kann natürlich geteilt werden, anders als die Tatsache der jeweiligen Existenz dieses oder eines anderen Dings, aus der die Unterscheidbarkeit der Dinge hervorgeht. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass wir uns von der Existenz (von etwas) niemals einen eigentlichen Begriff machen können. Wir haben es vielmehr mit einem unanalysierbaren, undefinierbaren, grundlegenden Merkmal der Schöpfung zu tun, dem wir zwar in unserer Erfahrung begegnen, aber dennoch in keinen Begriff fassen können. Was uns bleibt ist eine Grenzidee. Wenn wir von Gottes Selbst-Existenz sprechen, wenden wir unsere Grenzidee von Existenz auf Gott an. Dabei verliert diese Idee weiter an Gehalt: Es geht um eine Existenz, die in keinerlei Hinsicht von irgendetwas abhängig, ausserhalb der Zeit, und keinem Gesetz unterworfen ist, das die geschöpfliche Existenz bestimmt. Wir haben es mit einer Grenzidee zu tun, der die fast vollständig negativ ist, denn selbst die Eigenschaft „unterscheidbar“ kann nur dann von Gott ausgesagt werden wenn sein Verhältnis zur Schöpfung mitgesetzt wird. Denn unabhängig von dem, was Gott geschaffen hat, gibt es nichts, von dem Gott sich unterscheiden könnte. Worin besteht dann diese Idee? Nur gerade darin: Von Gottes unbedingten Sein hängt alles andere in seinem Dasein ab; Gott ist, egal was war, ist oder sein wird, wohingegen ohne Gott überhaupt nichts wäre. Obwohl wir uns keinen Begriff machen können, was dieses göttliche Sein ist, sind wir doch in der Lage zu denken, dass zu diesem unhintergehbaren, unbedingtem Sein alles andere im Verhältnis der totalen Abhängigkeit steht. Das heisst, wir sind wieder bei der Aussage von St. Basilius angelangt: „Wir wissen nicht, was Gott ist; wir wissen nur, was er nicht ist, und wie er sich zu seinen Geschöpfen verhält.“ Fazit: Wir haben sowohl ein Begriffswissen wie ein Ideenwissen was Gottes geschöpfliche Selbstanpassung an unsere Verhältnisse anbelangt; andererseits haben wir nur gerade die vagste Grenzidee, was das göttliche Sein unabhängig von jeglicher Adaptation betrifft. Wiederum gelangen wir zu dieser Idee nur aufgrund des Verhältnisses, in dem alles andere zu diesem Sein steht. Der Gehalt dieser Idee besteht, um es noch einmal zu sagen, allein darin, dass das göttliche Sein die unbedingte, unhintergehbare Quelle der Existenz von allem anderen ist. In traditioneller Ausdrucksweise: Es ist diejenige Realität, deren Wesen (Essenz) die Existenz ist. Diesen Ausführungen muss noch hinzugefügt werden, dass unser Ideen-Wisssen des göttlichen Seins nicht in einer philosophischen Spekulation, sondern in der Selbstoffenbarung Gottes gründet. Die Grenzidee des trans­zendenten Seins Gottes kommt dadurch zustande, dass im Verlauf der

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Offenbarung seines akkomodierten Wesens Gott ebenso die Erschaffung alles Sichtbaren und Unsichtbaren aus dem Nichts offenbart hat. Das, und nicht eine philosophische Theorie, ist die Grundlage der kappadozisch-reformatorischen Auffassung, dass sich Gottes unakkommodiertes, unerschaffenes Sein sich unseren Begriffen entzieht. Dass wir nicht wissen können, was Gottes Sein ist, sondern nur, dass es ist, verdankt sich allein der Offenbarung des akkomodierten Wesens Gottes durch Gott selbst. Von diesem Wesen können wir uns nun sowohl klar umrissene Begriffe wie Grenzideen bilden. Zweiter Einwand Die Unterscheidung zwischen Begriffen und Grenzideen, die uns in der Frage nach der Selbst-Existenz Gottes weiter half, eröffnet auch einen Weg, den Einwand zu entkräften, das kappadozisch-reformatorische Gottesverständnis sei referentiell selbst-widersprüch­lich. Die Unterscheidung zeigt, warum die Auffassung, dass wir k­ einen Begriff von Gottes transzendentem Sein haben können, nicht widersprüchlicher ist als die Behauptung der notwendigen Existenz von Zahlen, von denen wir uns ebenfalls keinen Begriff machen können. Die Äusserung dieser Behauptung impliziert nicht, dass wir damit schon irgend eine dieser Zahlen gedacht haben müssten – genauso wenig, wie wir Gottes transzendentes Sein denken, wenn wir behaupten, dass es sich unseren Begriffen entzieht. Es trifft nicht zu, dass wir keine Idee von der Existenz einer Realität haben können, ohne dass wir zugleich auch einen nicht-relationalen Begriff ihres Wesens ausbilden. Ausserdem behauptet die K/R-Sicht auch nicht einfach, dass unsere Begriffe nicht auf Gott zutreffen können oder dass sie faktisch nicht zutreffen. Vielmehr hält sie an der kontrafaktischen Behauptung fest, dass diese Begriffe nicht auf Gott zutreffen würden, wenn Gott nicht gewollt hätte, Beziehungen zu seiner Schöpfung zu unterhalten, die über das blosse Erschaffen und Erhalten hinausgehen. Und glücklicherweise trifft es zu, dass sich Gott unserem Dasein angenommen hat, indem er Beziehungen zu uns unterhält, die wir verstehen können. Dritter Einwand Im Folgenden geht es darum den Einwand zu widerlegen, auf den zurückzukommen ich angekündigt hatte, und der meiner Meinung nach am meisten daran schuld ist, dass die K/R-Sicht keine Stimme in der zeitgenössischen Religionsphilosophie des Westens gefunden hat. Der Einwand lautet, dass wenn Gott die notwendigen Wahrheiten (Gesetze) der Logik und der Mathematik erschaffen hat, diese in seiner Verfügbarkeit stehen; wenn das aber so ist, dann kann es Gott auch einrichten, dass seine Geschöpfe und er selbst diese Gesetze durchbrechen können. So soll zum Beispiel möglich sein, dass Gott nach

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kappadozisch-refor­matorischer Auffassung bewirkt, dass 1 + 1 = 8. Gott kann dann auch wissen, dass er nicht existiert, er kann fünfseitige Dreiecke hervorbringen, und allwissend sein ohne irgendetwas zu wissen. Alvin Plantinga hat diese Kritik auf den Punkt gebracht: Zwei Intuitionen stehen miteinander in Konflikt. Da ist einerseits die Intuition, dass gewisse Propositionen unmöglich wahr sein können, andererseits die Intuition, dass wenn Gott wirklich souverän ist, alles möglich ist. Wenn das Problem so unverfroren präsentiert wird – so erscheint es mir zumindest – gibt es überhaupt kein Problem. Offensichtlich ist nicht alles möglich; offensichtlich ist es nicht möglich, dass Gott gleichzeitig allwissend ist und doch nichts weiss … Wir sollten deshalb gerade hinaus sagen, dass … nicht alles möglich ist, auch für ihn nicht.52 Meine erste Reaktion auf das (vermeintliche) Dilemma ist folgende: Wären diese beiden Optionen tatsächlich die einzig möglichen, würde ich es mit Plantinga halten. Doch, so werde ich zu zeigen versuchen, erschöpfen diese Optionen das Spektrum der Möglichkeiten keineswegs. Gewiss treffen hier zwei Intuitionen auf einander. Eine davon ist, dass es notwendige Wahrheiten gibt, wie zum Beispiel das Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs (das Gesetz, das besagt, dass zwei sich widersprechende Auffassungen unmöglich zur gleichen Zeit wahr sein können; mit der Folge, dass der Gehalt bestimmter Auffassungen unmöglich zutreffen kann). Doch die andere Intuition, so meine Behauptung, ist nicht zutreffend dargestellt. Es stimmt nicht, dass wenn Gott souverän ist, alles möglich sein soll. Das folgt gerade nicht aus dem was ich gesagt habe (selbst wenn es auf Descartes Position zutrifft, die Plantinga weiter oben kritisiert hatte). Denn Gott hat gemäss kappadozisch-reformatori­schem Verständnis viele verschiedene Arten von Gesetzen in seine Schöpfung eingebaut. Natürlich war er nicht gezwungen gerade diese Gesetze zu erschaffen, genauso wenig wie er überhaupt etwas erschaffen musste. Aber da er nun einmal erschaffen hat, und die Gesetze, die wir im Kosmos antreffen, erschaffen hat – unter ihnen das Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs – setzen diese Gesetze die Grenzen dessen, was in der Schöpfung wirklich möglich und unmöglich ist. Das heisst, sie bestimmen nicht nur die Grenzen dessen, was Kreaturen sein können, sondern auch die Grenzen dessen, was rationale Kreaturen denken können. So gesehen ist es also nicht möglich, dass in dieser von Gott erschaffenen Welt 1 + 1 = 8, oder dass Dreiecke fünf Seiten haben können. Als Kreaturen 52

A. Plantinga, Does God Have A Nature?, 139–40.

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(oder als erschaffene Eigenschaften von Kreaturen) existieren Zahlen und Dreiecke nur innerhalb der Gesetzesordnung, die Gott der Schöpfung eingeschrieben hat. Deshalb folgen die absurden, vermeintlichen Konsequenzen der Tatsache, dass Gott diese Gesetze erschaffen hat, überhaupt nicht. Wenn der Einwand lautet, dass Gottes Souveränität gegenüber seiner Schöpfung auch die Möglichkeit beinhaltet, diese Gesetze abschaffen zu können, dann ist die Antwort: Natürlich kann er das (im Sinn von „können“, der weiter oben erläutert wurde). Doch wären die Gesetze der Quantität und des Raumes ausser Geltung, dann gäbe es eben auch keine solchen Dinge wie Zahlen und Dreiecke wie wir sie kennen. Das falsche Dilemma ignoriert diesen Punkt. Es geht davon aus, dass die uns bekannten Gegenstände selbst dann existieren könnten, wenn die sie ermöglichenden Gesetze ausser Kraft gesetzt würden, entgegen der Tatsache, dass Gegenstände (unter anderem) deshalb sind was sie sind, weil sie bestimmten Gesetzen unterstehen. Wenn wir also davon ausgehen, dass das Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs zu den Gesetzen gehört, die Gott der Schöpfung eingestiftet hat, kann dieses (und andere Gesetze) nicht verändert oder „gebrochen“ werden, und diese Veränderungen zugleich auf die uns bekannten Dinge angewandt werden.53 53



Ein analoger Punkt wird ebenso in der Behandlung des „Paradoxons“ durch das Standardlogikbuch verfehlt, dass ein inkonsistentes Argument jede Schlussfolgerung nach sich zieht (siehe, z.B. I. Copi & C. Cohen, S. 375–78). Das Paradox liegt vermeintlich dann vor, wenn ein Argument mit inkonsistenten Prämissen auf gültige Art zu jeder Konklusion führt. Das Paradox kommt tatsächlich nur zustande, weil vergessen wurde, dass die Feststellung, ob ein Argument seine Konklusion enthält, in der Prüfung besteht, ob die Konklu­sion wahr wäre, wenn die Prämissen wahr wären. Die Behauptung, dass ein inkon­ sistentes Argument jede Konklusion nach sich zieht, ignoriert den Satzteil in Kursiv. Die Schwierigkeit ergibt sich bloss aus dem Verzicht zu fragen, was sonst noch wahr sein müsste, wenn die Prämissen wahr sind. Aber wenn die inkonsistenten Prämissen wahr wären, wäre das Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs falsch und keine Konklusion würde folgen, weil es nichts Derartiges wie eine Folgerung gäbe. Es ist diese Verschiebung, die die Illusion einer universellen Folgerung hervor bringt; das gewohnte Projekt einer logischen Prüfung wird zum Metaprojekt umgewandelt, das Gesetz der Wider­spruchs­ freiheit auf ein Argument anzuwenden, dessen Prämissen gegen dieses Gesetz ver­­stossen. Dies sollte nicht als Empfehlung missverstanden werden, das Gesetz der Wider­ spruchsfreiheit zurückzuweisen oder zu bezweifeln. Es ist sicherlich richtig, dieses Gesetz aufrechtzuhalten und eine oder mehrere Prämissen eines inkonsistenten Arguments zurückzu­weisen. Aber es ist keine angemessene Vorgehensweise, das übliche Projekt der logischen Prüfung zurückzuweisen, ohne diese Verschiebung zu erkennen.  Die Bedeutung dieser Diskussion liegt darin, dass dieselbe unbemerkte Verschiebung des Verfahrens oft auf die K/R-Ansicht von Gott transponiert wird – und zwar von denjenigen, die die Auffassung kritisieren,, dass Gott das Gesetz der Wider­­spruchs­­frei­heit

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Dieser Teil meiner Antikritik ist nahe verwandt mit der Auffassung, die Augustinus gegenüber Wundern vertrat. Augustinus war der Überzeugung, dass Gott in der Welt handeln kann und tatsächlich handelt, indem er Ereignisse hervorbringt, die wir weder erklären noch reproduzieren können. Aber, so fährt er fort, Gott erschafft nicht irgendwelche Gesetze nur um sie dann wieder zu verletzen. (Erinnern wir uns an die oben zitierten, biblischen Texte, in denen Gott verspricht, die Ordnung und Ordnungen (Gesetze) der Schöpfung aufrechtzuerhalten). Wunder sind demgemäss nicht als Durchbrechung von natürlichen Gesetzmässigkeiten zu verstehen, sondern als Manifestationen göttlicher Macht auf dem Hintergrund der gleichzeitigen Aufrechterhaltung der kosmischen Gesetze durch Gott.54 Doch selbst wenn die notwendigen Wahrheiten der Logik und der Mathematik im Bereich der Schöpfung ihre Geltung haben: Ist die K/R-Sicht nicht gezwungen zu sagen, dass sie für Gott nicht gelten? Ist Gottes transzendentes, unerschaffenes Sein nicht der Ursprung aller Gesetze und deshalb nicht durch sie bestimmt – auch nicht durch das Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs? Folgt daraus nicht, dass Gott existieren und zugleich nicht existieren kann, um seine Nicht-Existenz wissen kann, und allwissend sein kann, ohne irgendetwas zu wissen? Die Antwort ist negativ. Keines dieser Dinge geht aus dem Gesagten hervor. Das transzendente Sein Gottes liegt ausserhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes des zu vermeidenden Widerspruchs und jedes anderen Gesetzes. Dies ist genau der Grund, warum keine widersprüchlichen Konsequenzen aus dieser Aussage folgen. Dass Gottes Sein alle kreatürlichen Gesetze transzendiert ist

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geschaffen hat. Die Kritiker behaupten, dass diese Ansicht auch fordert, dass sich widersprechende Überzeugungen über Gott jeweils wahr sind. Aber Dergleichen tut es nicht. Es gibt keine Beispiele von Widersprüchen, die daraus folgen, dass man versucht zu denken, was der Fall wäre, wenn das Gesetz der Widerspruchsfreiheit nicht existierte. Dann gäbe es aber überhaupt kein logisches Folgerungsverhältnis. Wenn wir diesem Gesetz folgen, können wir keinen Begriff bilden, aus dem ein Beispiel von etwas folgt, das sich diesem Gesetz entzieht. Daher folgt nichts Widersprüchliches über Gott aus der Ansicht, dass sein ungeschaffenes Wesen die logischen Gesetze transzendiert, und jedes vermeintliche Beispiel dafür, was angeblich sonst noch wahr wäre, wenn das Gesetz nicht auf Gott zuträfe – wie das Paradox, dass inkonsistente Prämissen jede Konklusion nach sich ziehen – ist ein Fall davon, das Gesetz der Widerspruchsfreiheit auf sein transzendentes Wesen anzuwenden, um die Behauptung zu kritisieren, dass das Gesetz nicht auf ihn anwendbar ist. Solch eine Kritik kann also nicht zeigen, dass in der K/R-Ansicht ein Fehler enthalten ist, und läuft auf nicht mehr als eine dogmatische Zurückweisung dieser Auffassung hinaus. Diese Position ist gut erklärt durch C.S. Lewis (1948, S.69–70).

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nicht dasselbe wie die Verletzung dieser Gesetze durch Gott. Denn ein Gesetz kann nur durch etwas verletzt werden, auf das es angewandt werden kann. Wohingegen Kreaturen das Gesetz des ausgeschlossenen Widerspruchs nicht durchbrechen können, weil sie ihm unterworfen sind, kann Gottes transzendentes Sein dieses Gesetz nicht durchbrechen, weil es hier keine Anwendung findet. Dazu eine Analogie. Nehmen wir an, es sei ein Gesetz, dass ein Organismus gesundheitlich beeinträchtigt ist, wenn er schlecht ernährt ist, zuwenig Flüssigkeit bekommt und verunreinigter Luft ausgesetzt ist. Verletzt der Felsbrocken in meinem Garten dieses Gesetz? Nein. Das Gesetz findet in diesem Fall schlicht keine Anwendung. Und genau dies ist meine Behauptung was das Verhältnis zwischen dem unakkomodierten göttlichen Sein und den kreatürlichen Gesetzen, die Gott eingesetzt hat, betrifft. Andererseits ist es aber so, dass Gottes akkomodiertes Wesen den erschaffenen Gesetzen wirklich unterworfen ist; das ist Teil seiner Anpassung an die kreatürlichen Verhältnisse. Deshalb ist Gottes angenommenes Wesen, „in dem sich zu manifestieren es ihm gefallen hat“ (einschliesslich seine manifeste Existenz, das heisst seine Unterscheidbarkeit von allem anderen und seine Identität mit sich selbst) durchaus logisch konsistent. Allein sein unbedingtes Sein übersteigt jedes Gesetz, in einer Art und Weise, die sich unserem Denken entzieht: weder stimmt es mit dem Gesetz des ausgeschlossenen Widerspruchs überein noch verletzt es dieses. Falls nun der Einwand versucht wird, nichts könne existieren, das nicht den Gesetzen der Logik folgt, muss sogleich erwidert werden, dass eine solche Sicht nicht schon dadurch begründet ist, dass wir uns keinen Begriff von etwas machen können, das sich diesen Gesetzen entzieht. Wie weiter oben schon dargelegt wurde, bestimmen die Gesetze der Logik (und andere Gesetze) unser Denken in dem Sinn, dass wir uns keinen Begriff und keine Grenzidee davon machen können, was etwas ist, das nicht unter diese Gesetze fällt. Doch daraus folgt noch lange nicht, dass nichts dergleichen existieren kann. Diese Sicht wäre nicht mehr als die dogmatische Behauptung, dass alles, was sich unseren Netzen entzieht, nicht wirklich sein kann – dass nichts diese Gesetze transzendieren kann, wenn wir es nicht können. Die Auffassung, dass nichts existieren kann, das nicht unter die Gesetze der Logik fällt, geht indessen aus dem Glauben hervor, dass diese Gesetze (wenigstens zum Teil) die göttliche Quelle alles Existierenden ausmachen. Doch genau aus diesem Grund sollte diese Auffassung von Theisten verworfen werden. Vierter Einwand Doch was ist mit der Frage, wie sich unsere Sprache auf Gott beziehen kann? Wenn die kappadozisch-reformatorische Sicht die AAA-Auffassung verwirft, dass Kreaturen die unerschaffenen Perfektionen Gottes, wenngleich in

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10. Kapitel

geringerem Ausmass, besitzen, ergibt sich das Problem, wie unsere Sprache überhaupt von Gott sprechen kann. Meine Hoffnung ist, dass die erforderliche Replik auf diesen Einwand schon deutlich geworden ist. Nach kappadozisch-reformatorischem Gottesverständnis hat sich Gott selbst unserer Erfahrung und unserer Sprache angepasst. Die Wortoffenbarung, die Gott inspiriert und verbürgt hat, trifft auf Gott zu, weil er selbst sich unserem Wesen akkomodiert hat. Diese verbale Offenbarung wird nicht dadurch ermöglicht, dass die Sprache der Bibel analogisch oder anthropomorph ist (obwohl sie es gelegentlich ist), sondern durch die Tatsache, dass Gott selbst die Gestalt des Menschen angenommen hat. Die Sprache, in der die Bibel von Gott spricht, ist demnach gewöhnliche Alltagssprache; wir brauchen keine wissenschaftlich-theologisch ausgeklügelte Theorie, um die Möglichkeit ihrer Wahrheit zu belegen. Selbstverständlich ist Gottes Macht, Liebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, usw. grösser als alles, was Menschen sein oder erschöpfend begreifen könnten. Aber es besteht kein Grund zur Annahme, dass Gott jene Eigenschaften in einem unendlichen Ausmass besitzt, das jenseits aller Begreifbarkeit liegt. Was die Bedeutung dieser Eigenschaften betrifft, ­weichen sie nicht von dem ab, was wir für gewöhnlich unter Macht, Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit verstehen. Gott hat diese (erschaffenen) Eigen­schaften angenommen und durch seinen freien Willen zu seinem Wesen gemacht, in dem er sich jetzt und zu allen Zeiten zu offenbaren gedenkt. Das bedeutet, dass diese Ausdrücke dieselben Eigenschaften benennen, ob nun von Gott oder Menschen die Rede ist.55 55

William Alston hat den Bereich der Möglichkeiten, wie religiöse Sprache zu verstehen ist, auf erhellende Weise diskutiert: „But of course there are various ways in which creaturely terms can be used in speaking of God … These ways include: (1) Straight univocity. Ordinary terms are used in the same ordinary senses of God and human beings. (2) Modified univocity. Meanings can be defined or otherwise established such that terms can be used with those meanings of both God and human beings. (3) Special literal meanings. Terms can be given, or otherwise take on, special technical senses in which they apply to God. (4) Analogy. Terms for creatures can be given analogical extensions so as to be applicable to God. (5) Metaphor. Terms that apply literally to creatures can be metaphorically applied to God. (6) Symbol. Ditto for “symbol,” in one or another meaning of that term. The most radical partisans of [God’s] otherness, from Dionysius through Aquinas to Tillich, plump for something in the (4) to (6) range and explicitly reject (1). The possibility of (3) has been almost wholly ignored, and (2) has not fared much better.“ (Divine Nature and Human Language [Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1989], 65) So wie ich Alstons Aufschlüsselung verstehe, entspricht m.E. biblische Rede grösstenteils seinen Punkten (1), (2) und (3), während es andere Verwendungsweisen von Sprache der Typen (4) und (5) gibt – obwohl ich bei allen Typen hinzufügen müsste, dass sie einen Unterschied in der Wichtigkeit der jeweiligen Verwendungsweise von Sprache und keine eigentlichen

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Wie gesagt folgt daraus nicht, dass es keine Unterschiede gibt in der Art und Weise, wie Gott und Mensch ihre jeweiligen Eigenschaften besitzen oder sich zu anderen Dingen verhalten. Ein Unterschied wurde bereits angesprochen: Der Umfang der göttlichen Eigenschaften kann von Menschen zwar erkannt, aber nicht dupliziert werden. Ein weiterer Unterschied ist der, dass Gottes Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, usw. unfehlbar sind, wir aber nicht. Und das ist noch nicht alles. Gott manifestiert sich als einer, der seine Eigenschaften innerhalb bestimmter Grenzen und in Kombinationen besitzt, die seine Geschöpfe nicht nachahmen können. Zur Illustration: Gottes Güte gegenüber den Menschen ist einerseits unfehlbar, andererseits aber durch die Parameter seines Bundes festgelegt; er hat niemals verheissen, so gütig wie möglich gegenüber der grösstmöglichen Anzahl von Menschen zu sein. Hätte er ein solches Versprechen tatsächlich abgegeben, wäre es schon durch die kleinste Enttäuschung im Leben eines einzigen Individuums widerlegt. Obwohl uns Gott also Liebe, Vergebung und ewiges Leben verheissen hat, umfasst diese Verheissung keineswegs das Ausbleiben von Leid und Unrecht in diesem Leben. Deshalb ist es auch ziemlich abwegig und unverschämt zu suggerieren, dass wenn Gott wirklich gut wäre, er jedes ungerechtfertigte Leiden in dieser Welt verhindern müsste. Tatsächlich nimmt die Schrift die umgekehrte Position ein: Gott weiss um alles ungerechte Leiden und lässt es zu; seine Verheissung ist aber, dass alles Leiden einst überwunden und entschädigt wird. Noch einmal: seine Güte ist keine Vollkommenheit im griechischen Sinn, sondern eine Bundesverheissung; diese Eigenschaft wird in den biblischen Zeugnissen nicht so dargestellt, dass Gott hinsichtlich jedes Menschen und jeder möglichen Situation entweder das glücklichste Ergebnis hervorbringt oder aber nicht gut genannt werden kann. Vielmehr staunen die biblischen Verfasser über die von uns durch nichts verdiente Güte Gottes. Es ist aber nicht die Rede von einem prä-existenten, unabhängigen Gütestandard, den Gott erreichen müsste, um wahrhaft gut zu sein. Gottes Güte wird immer als reine Gnade seitens der absoluten, unhintergehbaren Wirklichkeit dargestellt; das heisst einer Wirklichkeit, die keiner „höheren“ Pflicht unterliegt. (Dies ist die Pointe der Geschichte Hiobs, um nur ein Beispiel zu nennen, die von Luther in dem in Anmerkung 50 zitierten Abschnitt so eloquent ausgedrückt wurde.) Diese Sichtweise der religiösen Sprache fügt sich nahtlos in das Gesamtbild des K/R-Gottesverständnisses ein, indem sie äusserste Vorsicht hinsichtlich der Bestimmung des göttlichen Wesens anmahnt und auch nur das geringste Sinnunterschiede bezeichnen. Typ (6) ist m.E. zu vage, um darüber ein Urteil fällen zu können, obwohl ich der Auffassung bin, dass keine biblische Rede von Gott jemals symbolisch im Sinne Tillichs ist.

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Bedürfnis, über Gottes unakkommodiertes Sein zu spekulieren, in uns auszutrocknen versucht. Wir können nicht „hinter“ Gottes manifestes Wesen zurückgehen, um, wie Calvin sagt, „Gottes unverhüllte Natur auszuspionieren“. Calvin verurteilte jeden dieser Versuche als „lüsterne Neugier“. Da Gott der Schöpfer aller kreatürlichen Gesetze ist, können wir keines dieser Gesetze benützen, um ein Bild seines unerschaffenen Seins zu konstruieren, indem wir rationalistische Metaphysik oder Theologie betreiben.56 Und weil wir Gottes immerwährendes Wesen, das er uns gegenüber angenommen hat, nur durch Gottes Selbst-Offenbarung erkennen können, pocht das K/R-Gottesverständnis darauf, dass wir uns so genau wie möglich an eben diese Selbst-Offenbarung halten. Natürlich sind gewisse Schlussfolgerungen unvermeidlich, doch sollten wir den Rat Calvins beherzigen, nur so von Gott zu denken oder zu sprechen, wie uns die Bibel anleitet. Aus dieser Sicht besteht der primäre Unterschied zwischen einem Prädikat, das von Gott ausgesagt wird, und demselben Prädikat, wenn es Menschen beigelegt wird, nicht in dessen Sinngehalt. Der Unterschied liegt vielmehr in der Bedeutung und im Gewicht. Die Tatsache, dass es Gott ist, der transzendente Schöpfer, der uns in Liebe begegnet oder zornig auf uns ist, bewirkt den Hauptunterschied in den Ausdrücken „Liebe“ oder „zornig“. Aus diesem Unterschied ergibt sich die spezifisch religiöse Bedeutung der verschiedenen Ausdrücke, wenn sie in Zusammenhang mit Gott gebraucht werden. Dieser Unterschied kann durchaus analogisch genannt werden, doch würde es sich eben um eine andere Art von Analogie handeln als in der AAA-Konzeption. Aus jener Sicht liegt der Unterschied im unendlichen bzw. endlichen Grad einer Attribution. Im hier vorgeschlagenen Denkansatz handelt es sich vielmehr um eine Analogie, die den Sinngehalt der Ausdrücke beibehält, und die Differenz im Gewicht und den Konsequenzen sieht. So gesehen hebt sich das religiöse Diskursuniversum nicht radikaler von anderen aspektspezifischen Diskursuniversen ab, als diese sich von einander abheben. Ein Beispiel: Der Ausdruck „gut“ hat eine andere Bedeutung wenn er auf ein Kunstwerk bezogen wird als wenn er im Zusammenhang mit einem Gesetz verwendet wird. Diesen Unterschied wahrzunehmen macht uns keine Mühe, da wir es intuitiv mit zwei verschiedenen 56

Für eine eindringliche Kritik der Aussichten eines solchen Projekts, siehe James Ross, “The Crash of Modal Metaphysics,” Review of Metaphysics 43, no. 2 (Dec. 1989). Gottes Transzendenz gegenüber den Gesetzen der Logik ist auch der Grund, warum es gegen seine Göttlichkeit verstösst, den Versuch zu unternehmen, seine Existenz zu beweisen. Wie Dooyeweerd einmal geschrieben hat: Was immer wir beweisen können, ist aus genau diesem Grund nicht Gott. Nichts, was unter Verwendung der logischen Gesetze bewiesen werden kann, ist deren Schöpfer.

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Diskursuniversen zu tun haben, einem ästhetischen und einem justitiären. Und so gibt es eben auch ein fiduziäres Diskursuniversum, innerhalb dessen die sprachlichen Ausdrücke zusätzliche Bedeutung annehmen, wenn sie auf das bezogen werden, was man für unbedingt vertrauenswürdig (göttlich) hält. Um meine Replik auf diesen Einwand zusammenzufassen: Das K/R-Gottesverständnis hat eine kohärente Erklärung, wie die Sprache des Glaubens auf Gott angewandt werden kann. Diese Erklärung besagt, erstens, dass die manifesten Attribute Gottes als von Gott gewollt (erschaffen) zu betrachten sind, so dass Gottes Aseität unangetastet bleibt. Aus dem selben Grund führt diese Sicht auch nicht zur Kompromittierung des kreatürlichen Status von allem ausser Gott, indem Geschöpfe für (teilweise) göttlich erklärt werden, weil sie mit Gott bestimmte Eigenschaften teilen. Und schliesslich ist es auch nicht erforderlich, dass analogische oder andere komplizierte Sprachtheorien aufgestellt werden um die Bedeutungsunterschiede zu erklären, die sprachliche Ausdrücke annehmen, wenn sie zur Bezeichnung von Gottes Eigenschaften verwendet werden. Die Ausdrücke, die in der Bibel benutzt werden um Gott zu charakterisieren, behalten den alltagssprachlichen Sinn, den sie innerhalb eines bestimmten Diskursuniversums haben, und gewinnen allein dadurch an zusätzlichem Gewicht, dass sie das Wesen des Schöpfers des Universums erschliessen. Aus diesem Grund haben diese Ausdrücke eine spezifische Glaubensbedeutung – eine Bedeutung, die nicht unwesentlich ist für unser ewiges Schicksal.57 Hier endet meine religiöse Kritik des Gottesverständnisses, das den Reduktionismus als Strategie der Theoriebildung stützt. Ich glaube, dass dieses Gottesverständnis der eigentliche Grund ist, warum so viele theistische Denker an dieser Strategie festhalten. Doch wie ich zu zeigen versucht habe, ist dieses Gottesverständnis von paganen Vorstellungen durchsetzt, die sich dem philosophischen Denken des antiken Griechenlands verdanken. Im Gegensatz dazu habe ich ein alternatives Gottesverständnis und eine alternative Sichtweise der religiösen Rede von Gott präsentiert, die diese Vorstellungen überwinden und mit der göttlichen Aseität problemlos vereinbar sind.

57

Für eine detaillierte Behandlung dieses Themas und eine umfassendere Antwort auf die Einwände dagegen siehe mein: “Religious Language: A New Look at an Old Problem,” in Rationality in the Calvinian Tradition (Lanham, Md.: University Press of America, 1983), 385–407; und “Divine Accommodation: An Alternative Theory of Religious Language,” in the Tydskrif vir Christelike Wetenscap (Bloemfontein: 2de Kwartaal, 1988): 94–127.

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10. Kapitel

10.9 Schlussfolgerung Die philosophische Kritik des Reduktionismus hat gezeigt: Der Versuch, irgendwelchen aus unserer Erfahrung der Welt abstrahierten Eigenschaften und Gesetzen unbedingte Existenz oder Geltung zuzuschreiben, läuft unweigerlich darauf hinaus, dass die Bedeutung dieser Art von Eigenschaft und Gesetz vor unseren Augen verdunstet. Die religiöse Kritik hat darüber hinaus an den Tag gebracht, warum die Grenzidee eines transzendenten Schöpfers diesem Schicksal entgeht. In unserer Begegnung mit Gott in seinem Wort und seiner be­ständigen Einflussnahme auf unsere Lebensgeschichten, offenbart sich Gott ebenfalls als Subjekt von Attributen, die wir abstraktiv erkennen und unterscheiden können. Doch weil keines dieser Attribute selbst-existenten Status hat, fallen unsere Ideen davon nicht dem durchgeführten Gedankenexperiment zum Opfer, wie die pagane Verabsolutierung eines oder mehrerer Aspekte des Kosmos. Allein Gottes transzendentes Sein hat unbedingte Wirklichkeit; dabei handelt es sich nicht um eine Hypothese, die der theoretischen Rechtfertigung bedürfte, da eine solche Rechtfertigung in diesem Fall unmöglich ist. Die Grenzidee dieses Seins verdampft nicht, wenn immer wir dieses gedanklich umfassen möchten; die begriffliche Leere dieser Idee schützt sie vor einem solchen Ende. Anders ausgedrückt: Wenn immer die Grenzidee von unbedingter Realität mit einem Aspekt unserer Erfahrungswelt zusammengedacht oder identifiziert werden soll, kommt überhaupt nichts dabei raus. Im Gegensatz dazu vermeidet es unser Gottesverständnis, das unbedingte Sein Gottes mit den göttlichen Eigenschaften zu identifizieren. Deshalb hat weder die Grenzidee des unbedingten göttlichen Seins noch die Idee seiner Eigenschaften selbstauslöschenden Charakter. Fazit: Da reduktionistische Theorieansätze prinzipiell unbegründbar sind und unweigerlich in eine Erklärungssackgasse führen, und da ein Gottesverständnis, das sowohl mit Schöpfung wie mit göttlicher Aseität vereinbar ist, nicht den geringsten Anlass für reduktive Theorien bietet, wenden wir uns im folgenden der Erarbeitung einer Theorie der Gesamtwirklichkeit zu, die frei von jedem Reduktionismus ist – einer Wirklichkeitstheorie, die sich von der Voraussetzung geleitet weiss, dass Gott und nur Gott selbst-existent ist.

Die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes

Teil 4 Nicht-reduktionistische Theorien



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10. Kapitel

Eine biblische Theorie der Wirklichkeit

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11. Kapitel

Eine biblische Theorie der Wirklichkeit 11.1

Das Projekt biblisch-theistischer Theorien

Rückblick In Kapitel sechs wurde die radikal biblische Sichtweise von der fundamentalistischen unterschieden. Ich habe dort meine Überzeugung dargelegt, dass der Fundamentalismus in gewisser Hinsicht zu stark ist, da er die Bibel für eine Art Enzyklopädie hält, die offenbarte Wahrheiten zu jedem Thema und Wissensgebiet enthalten soll. In einer solchen Position ist Gottes Wort nun nicht das Licht auf dem Weg, sondern der Weg selbst. Diese „enzyklopädische Annahme“ steht hinter der fundamentalistischen Auffassung, dass die richtige Verbindung des Glaubens an Gott und der wissenschaftlichen Theoriebildung in der Übernahme oder Bestätigung von gebietsspezifischen Hypothesen besteht, die angeblich in der Bibel selbst zu finden sind, oder zumindest von der Theologie aus der Schrift extrapoliert werden können. Im Gegensatz zu diesem Programm habe ich argumentiert, dass die Bibel keine Enzyklopädie ist und sehr wenig enthält, was direkt als Inhalt oder Bestätigung naturwissenschaftlicher Theorien dienen könnte – gleichwohl sie spezifische Einsichten enthält, die in die Theorien der menschlichen Natur, der Gesellschaft und der Ethik einfliessen sollten. Der wichtigste Einfluss des religiösen Glaubens auf Theorien, so meine Argumentation, ist viel weniger direkt, aber dafür umso umfassender. Selbstverständlich gilt: Der eine oder andere religiöse Glaube fungiert immer als regulative Voraussetzung, die die Theoriebildung in den Wissenschaften und der Philosophie auf bestimmte Bahnen lenkt. Dieser Steuerungseffekt ist, wie dargelegt, auf zwei verschiedenen Ebenen zu beobachten: Der religiöse Glaube legt die Parameter einer Theorie der Gesamtwirklichkeit fest, die ihrerseits das theoretische Spektrum aufspannt, innerhalb dessen eine konkrete Bestimmung des Wesens hypothetischer Gegenstände als zulässig oder plausibel empfunden wird. So kann der Glaube an Gott auch da auf Theorien Einfluss nehmen, wo die Bibel keine spezifischen Aussagen enthält, die für ein bestimmtes Wissensgebiet von direkter Relevanz wären. Gleichzeitig argumentierte ich aber auch, dass die fundamentalistische Position zu schwach ist. Denn sie sieht den Einfluss des religiösen Glaubens auf die Theoriebildung als etwas an, das man auch vermeiden kann. Im Gegensatz dazu habe ich zu zeigen versucht, dass keine Theorie jemals frei ist vom Einfluss des einen oder anderen religiösen Glaubens.

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_012

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11. Kapitel

In den dazwischen liegenden Kapiteln haben wir einige exemplarische Beispiele rekonstruiert, wie religiöse Glaubensprämissen ihren Einfluss auf wissenschaftliche Theorien mittels eines bestimmten Wirklichkeitsverständnisses ausüben. In jedem angeführten Fall war die bestimmende religiöse Voraussetzung der Theorie eine Version des nicht-biblischen (paganen) Glaubens; bis zu diesem Punkt habe ich noch keine Beispiele von Theorien präsentiert, die sich dadurch auszeichnen, dass sie durch die biblische Idee von Gott normiert sind. Immerhin hat die Diskussion gezeigt, wie religiöse Überzeugungen ihren kontrollierenden Einfluss ausüben. Sie hat uns auf die Art des Einflusses vorbereitet, den wir zu erwarten haben, wenn wir nicht-biblische Voraussetzungen durch den Glauben an Gott ersetzen. Da, wie gesagt, der Einfluss religiöser Voraussetzungen auf wissenschaftliche Theorien vermittels einer Theorie der Gesamtwirklichkeit verläuft, werden wir in diesem Kapitel auch mit einer solchen beginnen.1 Doch sollte ich hier gleich anfügen, dass die anschliessenden Kapitel keine biblisch fundierten Theorien der Mathematik, Physik und Psychologie enthalten. Das heisst, sie verlaufen nicht parallel zu den Fallbeispiel-Kapiteln. Das hat zwei Gründe. Erstens einmal verfüge ich nicht über die erforderlichen Kompetenzen, um dieses gigantische Projekt durchzuführen. Zweitens kann die nachfolgende Wirklichkeitstheorie nicht in einem einzigen Kapitel entwickelt werden. Damit sie verständlich wird muss sie auf eine ganze Reihe von Fragen und Themen bezogen werden. Und die Fragen und Themen, deren Behandlung meines Erachtens den meisten Lesern und Leserinnen Klarheit über unsere Überblickstheorie verschaffen wird, stammen aus dem politischen und gesellschaftlichen Bereich, und nicht aus der Mathematik, der Physik oder der Psychologie. Dieses Kapitel wird also eine Wirklichkeitstheorie skizzieren, die von der exklusiven Göttlichkeit Gottes ausgeht, und die beiden letzten Kapitel werden diese Skizze dann zunächst auf eine allgemeine Gesellschaftstheorie und weiter auf eine spezifische gesellschaftliche Institution, den Staat, beziehen. Aus diesem Grund sollten die Kapitel in der Reihenfolge gelesen werden, in der sie erscheinen. Ich betone das, weil die Erarbeitung eines neuen Wirklichkeitsverständnisses für die meisten ein eher ungewöhnliches und schwieriges Unterfangen darstellen dürfte. Diese Aussicht mag den einen oder die andere dazu verleiten, dieses Kapitel zu überspringen und direkt die Kapitel über Gesellschaft und Politik in Angriff zu nehmen, deren Titel bekannter und 1 Die Gesetzesrahmentheorie (law framework theory), die hier vorgestellt wird, ist eine Zusammenfassung der Theorie, die erstmals von Herman Dooyeweerd in seinem Werk Wijsbegeerte der Wetsidee (Amsterdam, 1935) formuliert wurde, das später in der New Critique erweitert und in anderen Publikationen weiter ausgearbeitet wurde.

Eine biblische Theorie der Wirklichkeit

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vielleicht spannender tönen. Doch ohne die vorgängige Auseinandersetzung mit dem neuen theistischen Wirklichkeitsverständnis, das die soziologische und politische Theoriebildung der späteren Kapitel anleitet, wird nicht hinreichend klar werden, warum die vorgestellten Theorien eine Frucht des theistischen Denkens sind. Das heisst, ohne ein solches Wirklichkeitsverständnis fehlt das intellektuelle Gerüst, das die Konstruktion distinkt biblischer Theorien erst ermöglich. Es ist gerade das Fehlen eines solchen Gerüsts das erklärt, warum die Anstrengungen so vieler jüdischer, christlicher und muslimischer Denker hinter der Erarbeitung von distinkt biblischen Theorien zurückgeblieben sind und stattdessen im wesentlichen pagane Theorien hervorgebracht haben, denen der Glaube an Gott bloss äusserlich aufgeklebt wurde. Deshalb besteht unser Vorgehen zunächst einmal darin, Wesen und Funktion eines Wirklichkeitsverständnisses neu zu definieren – sowohl die Fragen, die es aufwirft als auch die Antworten, die es darauf gibt. Ein Überspringen der zu skizzierenden Überblickstheorie führt also dazu, dass die Hauptstossrichtung und Notwendigkeit der nachfolgenden Theorien im Dunkeln bleibt. Und, wie gesagt, wird dann auch nicht ersichtlich, warum diese als spezifisch theistisch betrachtet werden können und sollten.2 Bevor wir weiterfahren, müssen noch einige spezielle Schwierigkeiten hervor­gehoben werden, die sich unserem Projekt entgegenstellen; Schwierigkeiten, von denen die pagane Theoriebildung frei ist. Die erste dieser Schwierigkeiten besteht darin, dass sich ein Denker oder eine Denkerin, deren theoretische Aktivität von einem paganen Glauben geleitet ist, der religiösen 2 Die nicht-reduktionistische Theorie der Wirklichkeit, die in diesem Kapitel vorgestellt wird, ist im weitesten Sinn theistisch und setzt daher den Glauben an einen transzendenten Schöpfer voraus, wie er von Juden, Christen und Muslimen geteilt wird. Wie ich schon gesagt habe, zusätzlich zur Tatsache, dass der Gottesglaube zu einer nicht-reduktionistischen Sicht der Wirklichkeit führt, enthält auch die Heilige Schrift spezifische Lehren, die sich auf Theorien auswirken. Und ich habe ebenfalls schon gesagt, dass diese zusätzlichen Lehren sehr oft auf Theorien Einfluss haben, die diejenigen Aspekte betreffen, die höher auf meiner provisorischen Liste stehen. Während ich keine biblischen Lehren finde, die spezifische Information für Theorien in Mathematik, Physik, Biologie, Logik etc. enthalten, ausser dass deren Gegenstände von Gott geschaffen wurde, so gibt es doch spezifische Lehren, die das menschliche Wesen und die sozialen, juristischen und ethischen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen. Wenn ich in den nachfolgenden Kapiteln die nicht-reduktionistische Ontologie auf den sozialen Aspekt und auf die Theorie des Staats anwende, werde ich sie daher mit einigen dieser zusätzlichen Lehren verbinden. Und weil viele von diesen nur (oder hauptsächlich) im Neuen Testament zu finden sind, werden die resultierenden Theorien nicht nur im weitesten Sinne theistisch, sondern spezifisch christlich sein. Ich möchte mir nicht erlauben zu sagen, in welchem Umfang sie auch von Juden oder Muslimen angenommen werden können, aber ich vermute dennoch, dass es signifikante Überschneidungen gibt.

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Natur dieser kontrollierenden Voraussetzungen vollständig unbewusst sein kann, und er oder sie vielleicht nicht einmal eine Ahnung vom tatsächlichen Gehalt dieser Voraussetzungen hat. So können pagan-religiöse Überzeugungen nicht nur unbewusst angenommen werden, sie können auch theoriewirksam werden ohne dass sie explizit gemacht zu werden brauchen. (Dieser Punkt trifft natürlich nicht auf die diskutierten Fallbeispiele zu; deren Autoren waren sich ihrer theorieleitenden Prämissen wohl bewusst, und einige gestanden sich sogar den wahren Charakter dieser Voraussetzungen ein.) Mein Punkt ist der, dass Theorien zwar unter der Leitung eines unbewussten, paganen Glaubens verfasst werden können, die biblisch orientierte Theoriebildung von ihren jüdischen, christlichen und muslimischen Vertretern und Vertreterinnen aber ein Bewusstsein ihres jeweiligen religiösen Ausgangspunktes verlangt. Ein solches Projekt erfordert nicht nur eine bewusste Anstrengung; selbst den aufrichtigsten Versuchen der besten Denker und Denkerinnen ist zudem vielleicht nur ein gemischter Erfolg beschieden. Dafür gibt es nun mindestens drei Gründe. Erstens ist auf die spezielle Art und Weise hinzuweisen, wie der biblische Glaube zu den Menschen kommt, die an Gott glauben. Gemäss biblischem Zeugnis geschieht das durch die Kombination von zwei Faktoren: Berührung mit Gottes Selbstoffenbarung und die Operation der göttlichen Gnade, durch die jemand die Wahrheit dieser Offenbarung erkennt. In der Bibel wird diese spezielle Gnade für notwendig erachtet, da sie die natürliche Neigung der Menschen überwinden muss, etwas Anderes als Gott zu ihrem Gott zu machen (diese Neigung ist der eigentliche Gehalt der christlichen Lehre von der „Ursünde“). Wohingegen ein Mensch ein Teil oder die gesamte Schöpfung unbewusst für göttlich erachten mag, gibt es niemanden, der zum Glauben an einen transzendenten Schöpfer kommt, ohne die geringste Ahnung davon zu haben. Die zweite Schwierigkeit, die sich der biblisch orientierten Theoriebidlung entgegenstellt, ist die residuale Macht, die von dieser sündhaften Neigung ausgeht und die den bewussten Widerstand gegenüber unbiblischen Überzeugungen und Einstellungen auch im Leben der gläubigsten Juden, Christen und Muslims zu einem konstanten Kampf werden lässt. Die grössten Glaubensvorbilder in den biblischen Überlieferungen fochten diese Kämpfe aus – wir, die wir von ferne in ihren Spuren folgen, sind davon auch nicht ausgenommen. Genau wie unsere religiöse Schwachheit nach der bewussten Integration unserer persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen und unserem Glauben ruft, so fordert sie unsere bewusste Anstrengung, die Wirkung dieses Glaubens auf das Projekt der Konstruktion, Evaluation und Reform wissenschaftlicher Theorien Theorien zu beziehen.

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Drittens und letztens wird die Schwierigkeit des Unterfangens, Theorien auf der Basis des Glaubens an Gott zu erfinden oder zu reformieren, durch die Macht einer langen theistischen Tradition noch einmal gesteigert, die den paganen Reduktionismus als Theoriebildungsstrategie zu bewahren sucht. Tatsächlich hat diese Tradition das theistische Denken so lange dominiert, dass es äusserst schwierig ist, aus ihren intellektuellen Bahnen auszubrechen. Das gilt selbst für die expliziten Kritiker dieser Tradition. Wegen diesen angeborenen und historischen Hindernissen, die sich der Konstruktion radikal biblischer Theorien entgegensetzen, können diejenigen, die sich dieser Aufgabe gestellt haben, nicht anders als sich schmerzlich bewusst zu sein, dass das Resultat ihrer Anstrengungen trotz besten Absicht vieles zu wünschen übrig lässt. Dieses und die nächsten beiden Kapitel sollten also nicht so (miss)verstanden werden, dass sie die biblische Perspektive in irgendeinem abschliessenden und unhintergehbaren Sinn reflektieren. Es wird auch nicht behauptet, dass diese Perspektive ohne irgendwelche Verzerrung zum Ausdruck kommt. Und noch weniger trifft es zu, dass in diesen Kapiteln die einzig möglichen Hypothesen präsentiert werden, die auf diesem Hintergrund konstruiert werden können. Vielmehr sollen die nachfolgenden Theorien die Perspektive selbst ins Licht rücken, indem sie sich von ihr anleiten lassen. Dieser letzte Punkt hat gewichtige Konsequenzen. Die erste ist die, dass für jedes theoretische Problem mehrere Hypothesen existieren können, die den Glauben an Gott voraussetzen. Das heisst, eine Theorie kann noch so stark von unserem Glauben bestimmt sein und dennoch ganz einfach falsch liegen. ­Anders gesagt, wenn wir uns der Konstruktion von Erklärungsversuchen zuwenden, können wir uns zwar im Gravitationsfeld des biblisch inspirierten Denkens bewegen, aber uns dennoch irren, was die daraus resultierenden Gegentands- und mikro-perspektivischen Hypothesen anbelangt. Die Gegenseite dieses Punktes ist die, dass man auf der Grundlage eines religiösen Glaubens theoretisieren kann, der den wahren Gott durch etwas Anderes vertauscht hat, und dennoch zu spezifischen Theorievorschläge gelangen, die in gewichtiger Hinsicht zutreffen. Wir sollten immer bereit sein von solchen Theorien zu lernen, obwohl wir sie in biblischer Perspektive neu interpretieren müssen. Es wäre ein grandioser Irrtum, wenn gottesgläubige Menschen eine Theorie in ihrer Gesamtheit verwerfen würden, nur weil diese einen anderen religiösen Glauben voraussetzt. Wir müssen so zum Beispiel nicht die gesamte Atomtheorie ablehnen und uns nach einer Alternative umsehen, nur weil diese Theorie von Materialisten vertreten wurde. Doch obschon eine Hypothese von einem falschen religiösen Glauben ausgehen und dennoch in gewichtiger Hinsicht zutreffen kann, wird ihr falsches Wirklichkeitsverständnis doch zur partiellen

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11. Kapitel

Verzerrung und Falsifizierung ihres wissenschaftlich brauchbaren Gehalts führen. Unsere Position ist also: Sowohl biblisch wie nicht-biblisch geleitete Gegenstandshypothesen können sich als völlig falsch herausstellen, aber keine nicht-biblisch geleitete Hypothese kann jemals ganz wahr sein. Obwohl ein radikal biblischer Theorieansatz nicht verlangt, dass in jeder Wissenschaft gänzlich neue Gegenstandshypothesen aufgestellt würden, ist doch die Reinterpretation und Reformation aller Begriffe gefordert, die das Wesen hypothetischer Gegenstände zu erfassen beanspruchen, und zwar so, dass dabei der biblische oder nicht-reduktive Charakter des zugrunde liegenden Wirklichkeitsverständnisses zum Tragen kommt. Vielleicht ist an dieser Stelle auch eine Warnung angebracht: Die Erarbeitung einer Wirklichkeitstheorie auf biblischem Hintergrund wird uns zu ganz neuen Hypothesen führen. Viele von ihnen werden zunächst seltsam erscheinen, wenn man sie mit traditionellen, theistischen Wirklichkeitsentwürfen vergleicht, trotz ihres gemeinsamen religiösen Ausgangspunkts. Wenn dies geschieht, kann ich nur an meine Glaubensbrüder und –schwestern appellieren, sich von der Tradition zu lösen, die am Reduktionismus als Theoriebildungsstrategie festhalten will. Die Reinigung der Theorien von paganen Elementen ist für theistisch Denker und Denkerinnen ein Muss, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die sich dabei stellen mögen. Die einzige Alternative wäre, die Erforschung von Gottes Schöpfung denen zu überlassen, die nicht glauben, dass sie Gottes Schöpfung ist. Unsere Aufgabe ist es jedoch, Theorien zu entwickeln, die von unserem Glauben an Gott geleitet sind. Es geht nicht darum, unserem Glauben eine intellektuelle Stütze zu geben, und noch weniger darum, unsere Theorien mit der Intention zu entwickeln, dem Glauben „Raum zu machen“. Der Glaube an Gott bedarf der Theorien nicht, um sich intellektuelle Respektabilität zu verdienen. Vielmehr sind es unsere Theorien, die religiös akzeptabel gemacht werden müssen, indem sie durch und durch vom Glauben an Gott geprägt werden. 11.2

Einige grundlegende Prinzipien

Die tiefe Verstrickung zwischen dem schwachen und starken Reduktionismus und religiösen Überzeugungen wurde hinreichend aufgezeigt. Wir haben gesehen, wie beide Versionen die grundlegende Beschaffenheit der Wirklichkeit zu identifizieren versuchen, indem deren Aspekte auf einen oder zwei zusammengestrichen werden. Der zentrale Gedanke hinter dieser Strategie ist, dass Dreh- und Angelpunkt der gesamten Wirklichkeit in dem Aspekt oder in den Aspekten liegen muss, die unabhängig sind, und von denen alle anderen

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Aspekte abhängen sollen. Deshalb wurzelt der Reduktionismus als Erklärungsstrategie des Wesens von Wirklichkeit in einer paganen Grundüberzeugung. Diese Überzeugung schreibt einigen Aspekten der Schöpfung Göttlichkeit zu, was in direktem Gegensatz zum biblischen Gottesverständnis als des einzigen, transzendenten Schöpfers und Erhalters von allem ausser sich selber steht. Jede Theorie, die diesen Status etwas Anderem als Gott zuschreibt ist deshalb unrichtig und Ausdruck der Idolatrie. Es ist dieser Punkt, der meiner Meinung nach zum ersten der Leitprinzipien jeder theistischen Perspektive erhoben werden muss. Es ist das Prinzip des Pankreationismus, das im letzten Kapitel verteidigt wurde: Alles ausser Gott ist dessen Schöpfung, und nichts was in oder hinsichtlich der Schöpfung zutrifft ist selbst-existent. Dieses Prinzip reicht für sich allein genommen noch nicht zur Unterscheidung der biblischen Perspektive aus, da es oft von Denkansätzen übernommen wurde, die trotzdem einen oder einige Aspekte als Quelle aller anderen Aspekte betrachteten. Um das Prinzip des Erschaffen-Seins aller Dinge vor dieser Verzerrung zu schützen ist ein zweites Orientierungsprinzip vonnöten, nämlich das Prinzip der Irreduzibilität: Kein Schöpfungsaspekt kann als der einzig wirkliche oder als Quelle der möglichen oder aktuellen Existenz irgendeines anderen Aspekts betrachtet werden. Dieses Prinzip widerspiegelt die biblische Auffassung, dass die gesamte Schöpfung direkt und gleichermassen von Gott abhängt, so dass alle genuinen Aspekte (egal in welcher Reihenfolge sie stehen) gleichermassen real sind. Zusammen mit dem Prinzip des Pankreationismus dient dieses Prinzip dazu, eine stärker biblisch orientierte Perspektive ins Zentrum unseres Denkens zu rücken. Dabei zeigt sich, dass der Glaube an Gott unsere Theorien durchdringt und leitet, indem er auf die Überwindung jedes Reduktionismus abzielt, anstatt sich mit der häppchenweisen Zurückweisung einzelner problematischer Elemente in einer Theorie zu begnügen. Wenn wir versuchen, jede reduktive Strategie der Theoriebildung hinter uns zu lassen, werden wir nicht nur auf eine andere Antwort auf die Frage stossen, was denn das grundlegende Wesen von Wirklichkeit sei. Nicht weniger wichtig ist, dass sich auf diesem Weg auch die Frage selbst verändert. Natürlich sind wir immer noch an einer Theorie interessiert, die unsere Erfahrung aufnimmt, dass verschiedene Typen von Gegenständen von unterschiedlichem Wesen sind. Aber wir werden nicht nach einem „grundlegenden Wesen“ aller Dinge suchen wie traditionell reduktionistische Theorien. Wir gehen vielmehr davon aus, dass kein Aspekt realer ist als ein anderer oder auf einen anderen zurückgeführt werden kann. So wird die pagane Auffassung von „grundlegend“ oder „basal“ sowohl aus der Frage nach dem, was etwas ist, wie auch aus der Frage, warum etwas ist, ausgemerzt. Im Gegensatz dazu sind wir angehalten,

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nicht-reduktive Theorien zu erfinden oder sie in nicht-reduktiver Weise zu reinterpretieren. Damit ist nicht verneint, dass Gegenstände eines bestimmten Typs in unserer gewöhnlichen Erfahrung ein spezifisches Wesen haben – ein Wesen, das stärker durch gewisse Aspekte als durch andere charakterisiert ist. Aber das Zentrum unserer Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt zu richten, weil sich das Wesen eines bestimmten Gegenstandes offenkundig stärker darin auszudrücken scheint, ist nicht dasselbe wie einer reduktionistischen Theorie der Gesamtwirklichkeit aufzusitzen. Zum Beispiel hat eine Pflanze ebenso physische Eigenschaften wie ein Fels; aber die Pflanze ist belebt und der Fels nicht. Das heisst, das Wesen einer Pflanze zeichnet sich stärker durch seinen biotischen Aspekt als durch jeden anderen aus. Aber deswegen können seine anderen Aspekte nicht auf den biotischen reduziert werden. Tatsache ist bloss, dass die Gesetze jenes Aspekts die führende Kontrolle über die interne Organisation und Entwicklung der Pflanze als Ganzer übernehmen. Aus diesem Grund können wir das Wesen einer Pflanze ja auch als das eines belebten Gegenstandes bestimmen. Die Heraushebung des biotischen Aspekts erschliesst uns also ein „zentrales“ Moment der Pflanze, ohne dass die Pflanze deswegen nur aus biotischen Eigenschaften bestünde oder jene Eigenschaften einige oder alle anderen Aspekte erzeugte. Die weitere Entwicklung eines solchen nicht-reduktiven Denkansatzes im nächsten Abschnitt eröffnet einige faszinierenden Aussichten, die durch die blendende Kraft paganer Voraussetzungen verdeckt wurden. Wenn wir das Wesen der Dinge nicht länger in einem Aspekt suchen müssen, aus dem alle anderen hervorgehen oder der alle anderen verdrängt, braucht es kein einziges, grundlegendes Wesen aller Dinge zu geben. Es mag so viele unterschiedliche „Naturen“ in der erschaffenen Wirklichkeit geben wie wir eben brauchen, um die verschiedenen Typen von Gegenständen zu erklären, denen wir in unserer Erfahrung begegnen. Dann sind wir auch von den bizarren und unplausiblen Irrungen und Wirrungen befreit, in die sich moderne reduktionistische Theorien begeben, wenn sie noch die unterschiedlichsten Dinge auf ein einziges Wesen reduzieren wollen. Solche Holzwege bleiben uns erspart, weil wir vom Zwang befreit sind, dasjenige in den Dingen zu finden, das sowohl ihr Wesen als auch ihre Wirklichkeit ermöglicht. Obwohl das Wissen, dass Gott die Dinge zu dem macht was sie sind, uns noch keine Wirklichkeitstheorie zur Hand gibt, verschont es uns doch davor, den Kosmos nach der selbst-existenten, göttlichen Wirklichkeit zu durchplündern, die alles in ihm möglich und wirklich macht.

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Das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis

Wir haben gesehen, dass die verschiedenen, von den Erfahrungsgegenständen manifestierten und in den Wissenschaften erforschten Aspekte nicht nur Arten von Eigenschaften, sondern auch Gesetzesarten umfassen. Die Eigenschaften eines jeden Aspekts werden als kompossibel (gleichzeitig möglich), sich wechselseitig ausschliessend oder als notwendig verbunden erfahren. Zum Beispiel ist es ein Gesetz des physischen Aspekts, dass alle Natriumsalze gelb werden wenn sie verbrennen, oder ein räumliches Gesetz, dass nichts gleichzeitig rund und quadratisch sein kann. Würde die Schöpfung keine derartigen Gesetzmässigkeiten aufweisen, könnte sie, so wie wir sie kennen, überhaupt nicht existieren. Und ohne Sätze, die solche Gesetzmässigkeiten ausdrücken, gäbe es keine erklärenden Theorien von irgend etwas Erschaffenem. Die Gesetzeshypothesen, die wir aufstellen, sind deshalb unsere Annäherungsversuche an spezifische Verbindungen in der Gesetzesordnung des Kosmos. Diese Hypothesen drücken Verbindungen aus, die unter bestimmten Umständen notwendig sind – nämlich dann, wenn sie keine Ausnahmen zulassen. Wie gesagt hat die Vorstellung des Gesetzes auch in den biblischen Schriften einen prominenten Ort. Auch da steht das Gesetz für die Realität, die den Dingen ihre Ordnung gibt. Die prominenteste Bedeutung des Ausdrucks „Gesetz“ liegt natürlich auf der religiös-moralischen Ebene. In diesem Sinn verstanden spielt das Gesetz eine zentrale Rolle im Bund Gottes mit Israel, der durch Mose gestiftet wurde. Doch spricht die Schrift auch von der Ordnung des umfassenden Kosmos, und zwar in dem Sinn, dass „die Ordnungen“ von Gott grundgelegt und erhalten werden. Zu den Bundesverheissung Gottes gehört, dass er diese Gesetze aufrechterhalten wird. Diese biblischen Ausführungen sind nicht in der präzisen, technischen Sprache der Philosophie oder der Wissenschaften gehalten. Sie sind auch nicht durch das, was ich „hohe Abstraktion“ genannt habe, gekennzeichnet. Aber sie lassen eine Auffassung erkennen, die der Entfaltung einer Theorie der Gesamtwirklichkeit dienen kann. Sie inspirieren unseren Versuch eines theistischen Wirklichkeitsverständnisses, das auf der Idee eines differenzierten Gesetzesrahmens fusst, innerhalb dessen alles was ist existiert und funktioniert. Die biblischen Schriften betrachten diese Gesetze als erschaffen und identifizieren sie nicht mit Gott. Doch heben sie die Ordnung hervor, die Gott der Schöpfung eingeschrieben hat. Damit ist nicht gesagt, dass Gesetze Gegenstände wie Planeten, Bäume oder Ozeane seien, oder dass sie unabhängig von den Dingen und Ereignissen existierten, die ihnen unterstellt sind (wie die platonischen Formen). Vielmehr soll „Gesetz“ unser Ausdruck für die Ordnung sein, die Gott in die Schöpfung gelegt hat. Unsere Theorie beginnt also damit, dass sie an der

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erschaffenen Wirklichkeit eine Gesetzesseite unterscheidet. Da wir uns zudem jeglichen Reduktionismus versagen wollen, verabschieden wir uns auch von der Erwartung, dass der Gesetzesrahmen bloss eine oder zwei Arten von Gesetz umfassen müsste, oder dass eine oder zwei Gesetzesarten alle anderen erzeugten. Vielmehr kann unsere Theorie allen erfahrbaren Arten von Ordnung Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie alle als gleichermassen reale Komponenten eines kosmischen Gesetzesrahmens betrachtet. Verschiedene Arten von Gesetzen müssen unterschieden werden, wenn wir diesen Ansatz weiterverfolgen. Eine davon ist die Art von Gesetz, unter die wir üblicherweise so genannte „Kausalgesetze“ fassen.3 Davon zu unterscheiden sind „Aspektgesetze“ und „Typengesetze“. Da wir schon so gründlich auf Erfahrungsaspekte eingegangen sind, wollen wir hier mit den Gesetzmässigkeiten beginnen, die zwischen Eigenschaften desselben Aspekts gelten, und uns erst dann den Typengesetze zuwenden. Dazu sollten wir zuerst noch einmal die provisorische Auflistung von Erfahrungsaspekten ansehen, damit einige ihrer Elemente erläutert werden können:4 𐆑 fiduziär 𐆑 ethisch 𐆑 justitiär 𐆑 ästhetisch 𐆑 ökonomisch 𐆑 sozial 𐆑 linguistisch 𐆑 historisch 𐆑 logisch 𐆑 sensorisch 𐆑 biotisch 𐆑 physisch 𐆑 kinetisch 3 Gemäss Dooyeweerd entspringen kausale Gesetze dem physischen Aspekt, weil es keine Kausalbeziehungen gibt, die in mathematischen, räumlichen oder kinetischen Eigenschaften wirksam sind. Vom physischen Aspekt aufwärts auf unserer Aspektenliste gibt es allerdings solche Ursache-Wirkungszusammenhänge; daher spricht Dooyeweerd davon, dass Kausalität „fundiert“ ist im physischen Aspekt, aber nicht auf diesen beschränkt bleibt. Höhere Aspekte fügen den Kausalrelationen ihre je eigenen zusätzlichen Elemente hinzu, so dass wir biotische, sensorische, soziale, ökonomische und legale etc. Bedeutungen von Kausalität zusätzlich zur physischen Kausalität erfahren. Siehe New Critique, vol. 2, 41, 110; vol. 3, 34 ff. 4 Trotz der Revidierbarkeit dieser Liste, finde ich Dooyeweerds Argumente für sie überzeugend; siehe New Critique, vol. 2, 79–163.

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𐆑 räumlich 𐆑 quantitativ Ich vermeide Substantive um die Elemente dieser Liste zu bezeichnen, da Substantive leicht das Missverständnis aufkommen lassen, es handle sich dabei um Klassen oder Mengen von Dingen. Die Verwendung von Adjektiven hingegen soll betonen, dass wir es mit Arten von Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten zu tun haben, die die Dinge und Ereignisse in unserer Erfahrung an den Tag legen. So ergeben sich einige ungewöhnliche Ausdrücke und einige spezielle Bedeutungen bekannter Ausdrücke. Deshalb sind ein paar knappe Erläuterungen angebracht. Der Ausdruck „quantitativ“ steht für das „wie viel“ von etwas und sollte nicht als Bezeichnung einer (Theorie der) Zahlenwelt oder eines abstrakten mathematischen Systems aufgefasst werden, das zur Berechnung von Quantitäten errichtet wird. Es gibt Indizien, dass bestimmte Tiere einen quantitativen Sinn haben obwohl sie nicht zählen können,5 und es ist genau diese intuitive Auffassung von „wie viel“ von etwas, auf die ich an dieser Stelle abziele. Es ist diese Erfahrung der Quantität der Dinge, die in der Wissenschaft der Mathematik abstrahiert und zum Forschungsbereich erhoben wird. Innerhalb dieses Gebiets wird dann die Eigenschaft der diskreten Menge abstrahiert, auf der die Reihe der natürlichen Zahlen aufbaut, die wiederum Grundlage der Abstraktion von weiteren abstrakten und komplexen mathematischen Begriffen ist. Entsprechend der verschiedenen Arten der Berechnung von Quantitäten können dann verschiedene Zweige der Mathematik entwickelt werden, die ihre spezifischen Gesetze formulieren. All das geht aus unserer Intuition hervor, dass die Dinge eine quantitative Dimension haben. Der Ausdruck „kinetisch“ bezieht sich auf die Bewegung der Dinge im Raum. Viele Wissenschafter schlagen diese Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten dem physischen Aspekt zu. Galileo, andererseits, scheint dies nicht getan zu haben, und es gibt mindestens zwei zeitgenössische Denker, die starke Argumente vorgelegt haben, warum der kinetische Aspekt ein eigenständiger Aspekt ist.6 Die Bezeichnung „sensorisch“ wird verwendet wie in Kapitel neun dargelegt; das heisst, sie umfasst sowohl die Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten der Perzeption (Tast-, Geschmack-, Seh-, Geruch- und Hörsinn) als auch die Gefühle, die durch die Sinneswahrnehmung evoziert werden. Sie werden in 5 T. Dantzig, Number, 2–3. 6 Siehe Dooyeweerd, New Critique, vol. 1, 93–106; und M.D. Stafleu, Time and Again: A Sys­te­matic Analysis of the Foundations of Physics (Toronto: Wedge, 1980), 80 ff.

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demselben Aspekt zusammengefasst, weil Wahrnehmung und Gefühl zwei Weisen darstellen, in denen die sensitive Natur von Mensch und Tier zum Ausdruck kommt. Der Ausdruck „historisch“ verdient ebenso eine kurze Erläuterung, obwohl er familiär klingt. Viele scheinen darunter all das zu verstehen, was sich in der Vergangenheit abgespielt hat. Das ist hier nicht gemeint. Das ist auch nicht der Sinn, den das Wort in der historischen Forschung hat, da nicht allem Vergangenen historische Bedeutung zukommt. Von der historischen Forschungspraxis her geurteilt, hat scheinbar all das historische Bedeutung, was mit der Entfaltung menschlicher Kultur zu tun hat, und alles andere nicht. So betrachtet hat es Geschichte mit der Überlieferung kulturbildender Macht zu tun. Das Adjektiv „historisch“ wird im Folgenden also praktisch gleichbedeutend mit „kulturell“ verwendet. Da Kulturbildung auf der Fähigkeit basiert, neue Dinge aus bestehendem Material zu konstruieren, ziehen einige Denker den Ausdruck „technologisch“ zur Bezeichnung dieses Aspekts vor. Egal welche Bezeichnung man wählt, wichtig ist allein, dass sie wie soeben erklärt aufgefasst wird. Im Folgenden werde ich deshalb alle Produkte der technischen Erfindungsgabe des Menschen als kulturelle (historische) Artefakte bezeichnen. Der Ausdruck „ethisch“ ist ganz und gar nicht ungewöhnlich, wenn es im Bereich menschlicher Handlungen und Einstellungen ganz allgemein um recht und gut oder falsch und schlecht/böse geht. Trotzdem wird dieser Ausdruck oft so verwendet, dass sehr unterschiedliche Bedeutungen jener Gegensatzpaare darunter fallen: Was recht oder falsch ist nach dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, und was recht oder falsch ist nach dem Gesichtspunkt der Ethik oder Moral. In der oben angeführten Liste werden diese beiden Aspekte unterschieden. Der justitiäre Aspekt hat es mit den Normen zu tun, die bestimmen was faire Einstellungen und Handlungen sind. Der ethische Aspekt hat es, nach unserer Auffassung und Verwendung, mit den Normen zu tun, die auf das abzielen, was liebevoll, nützlich und gut ist. Obwohl verschieden, sind diese Bedeutungen natürlich miteinander verwandt. Allgemein gesprochen können wir gerecht zu jemandem sein ohne ihn oder sie zu lieben; aber wir können diese Person nicht lieben, ohne sie gerecht zu behandeln. Liebe verlangt oft von uns, dass wir mehr geben als jemandem aus strikt legaler Per­spektive zusteht – wie das in Jesus berühmtem Gleichnis des barmherzigen Samariters deutlich zum Ausdruck kommt. Doch müssen wir einen Menschen so gerecht behandeln wie es die Umstände erlauben, damit unser Umgang auch Ausdruck von Liebe sein kann. Unsere Auffassung des ethischen Aspekts könnte also in eine so genannte „Liebesethik“ münden – allerdings in einem viel pointierteren Sinn als dieser Ausdruck üblicherweise verstanden wird. Denn die leitende Vorstellung ist hier nicht nur die, dass Menschen sich im Geist der

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Liebe zu einander verhalten sollten, sondern dass die Liebe das Zentrum der Ethik ist. Aus dieser Perspektive ist Liebe deshalb viel mehr als ein Gefühl. Es handelt sich um ein normatives Handlungsprinzip, das im biblischen Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zusammengefasst ist. Mit anderen Worten, wir sind dazu angehalten, unsere Selbstinteressen gegen die Interessen anderer abzuwägen. Ethische Verpflichtungen entstehen aus dieser Norm in Abhängigkeit der verschiedenartigen Liebesverhältnissen, in denen wir stehen: Liebe zu sich selbst, Liebe zum Lebenspartner, Kinder- oder Elternliebe, Freundesliebe, Liebe zur Nation, Liebe zu den Bedürftigen, etc. Da diese Verpflichtungen aus einer modalen Norm entstehen, umfassen sie die ganze Bandbreite des menschlichen Lebens und beinhalten damit auch Verpflichtungen gegenüber der Natur, der Arbeit, des Landes, der Kunst, der Bildung, etc. Kurz: Der ethische Aspekt ist derjenige Aspekt, dessen Ordnung die Norm und die Verpflichtungen des menschlichen Liebeslebens, im weitesten Sinn verstanden, zum Gegenstand hat. Ich möchte jedoch sofort hinzufügen, dass diese ethische Bedeutung der Liebe nicht derjenigen von „Liebe“ entspricht, die in den biblischen Schriften das rechte menschliche Verhältnis zu Gott ausmacht. Das erhellt daraus, dass das zentrale Gebot, Gott zu lieben, einen unbedingten Charakter hat, der dem Gebot, den Nächsten zu lieben, abgeht. Wohingegen die ethische Liebe zu den Mitmenschen gegen die eigenen Interessen abgewogen werden muss, gilt die Liebe gegenüber Gott bedingungslos: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.“ (Dtn 6,5; Mk 12,28–34). Die religiöse Bedeutung der Gottesliebe besteht deshalb nicht einfach in der ethischen Zuwendung (so wichtig diese ist), sondern in der Totalhingabe des eigenen Daseins in den Dienst Gottes – ein Dienst, der alle anderen übersteigt. Schliesslich steht der Ausdruck „fiduziär“ für die verschiedenen Grade von Vertrauenswürdigkeit oder Zuverlässigkeit, die ein Ding oder eine Person hat. Dieser Aspekt ist besonders im Zusammenhang mit allen möglichen zwischenmenschlichen Interaktionsfeldern von Bedeutung, die ohne das Vorhandensein von Vertrauen ziemlich schnell degenerierten. Doch weil dieser Aspekt alle Schattierungen von Vertrauen und Gewissheit umfasst, hat er auch eine spezielle Verbindung zum religiösen Glauben. Diese Verbindung entsteht dann, wenn jemand etwas für unbedingt vertrauenswürdig erachtet, denn nur etwas, das unbedingte Existenz besitzt, kann auch unbedingt vertrauenswürdig sein. Etwas als unbedingt vertrauenswürdig zu betrachten, bedeutet, es als (zumindest Teil von) etwas Selbst-Existentem und deshalb als göttlich vorauszusetzen.

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Bereits an dieser Stelle tritt hervor, wie die nicht-reduktive Idee einer kos­ mischen Gesetzesordnung uns vom alten Dilemma befreien kann, in das tra­ ditionelle Wirklichkeitsverständnisse oft gefallen sind: Das Dilemma des Objektivismus contra Subjektivismus. Dieses Dilemma kann am besten als Kontroverse zwischen zwei gegensätzlichen Antworten auf die Frage verstanden werden, welcher Quelle die Gesetzmässigkeiten entspringen, die der Schöpfung ihre Ordnung geben. Wo die objektivistische Sichtweise diese Quelle der Ordnung in den Dingen der menschlichen Erfahrung selbst ausmacht, verortet die subjektivistische Position diese Quelle im Bewusstsein oder Geist des erkennenden Subjekts. Natürlich haben die meisten Theorien sowohl objektivistische wie subjektivistische Elemente. Um die beiden Seiten der Kontroverse jedoch so deutlich wie möglich zu machen, werde ich mich auf zwei Denkansätze beziehen, die in ihrem Exklusivitätsanspruch für den einen oder anderen Pol meines Wissens nicht übertroffen wurden. Es sind dies die Theorien von Aristoteles und Kant. Wie wir bereits gesehen haben, lag für Aristoteles die „Seinsursache“ eines Gegenstands in dessen Form oder Substanz. Die Form eines Gegenstands legt zudem die innere Natur fest, die dieser Gegenstand mit allen anderen Gegenständen desselben Typs teilt. Und es ist die typische Natur eines Gegenstandes, die das Verhalten dieses und jedes anderen Gegenstandes, der unter diesen Typ fällt, bestimmt und deren faktisches Verhältnis zu allen anderen Dingen festlegt. Was wir Naturgesetze nennen sind aus dieser Sicht unsere Formulierungen des beobachteten Verhaltens der Dinge, das von ihrem inneren Wesen festgelegt wird. Das heisst: Es gibt keine zu unterscheidende Gesetzesseite der Wirklichkeit. „Gesetz“ ist nur gerade unser Name für die Regelmässigkeiten, die wir in unserer Erfahrung beobachten, und diese Regelmässigkeiten sind wiederum durch die unsichtbare, typenspezifische Form eines Gegenstands festgelegt. Die Quelle aller Regelmässigkeit und Ordnung liegt also in den Gegenständen unserer Erfahrung, obwohl diese Quelle nicht Gegenstand unserer direkten Erfahrung ist. Aus dieser Sicht gelangen Menschen zur Erkennt­nis der Ordnung der Dinge indem sie ihre Begriffe der Natur der verschiedenen Gegenstände anpassen – einer vom menschlichen Geist unab­hängig existierenden Natur. Es gilt, mit anderen Worten, das Denken in Übereinstimmung mit der „objektiven“ Realität zu bringen. Kant, andererseits, vertrat die Sichtweise, dass Geist und Verstand des Erkennt­nissubjekts die Quelle jeglicher Ordnung in der Erfahrung seien. Aus dieser Perspektive ist alles, was unserem Verstand begegnet, eine Masse chaotischer Stimuli, die im Verstand zu intelligiblen Erfahrungen geformt werden. Gemäss Kant geschieht das in unbewusster, spontaner und fixer Manier, über die der Verstand keine Kontrolle ausübt. Wenn wir in unserer Erfahrung also

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Gesetzmässigkeiten beobachten, und diese in die Form von Gesetzesaussagen zu bringen versuchen, handelt es sich bereits um die bewusste Weiterverarbeitung von Ordnungsmustern, die wir den Stimuli unbewusst auferlegt haben. Auf diesem Weg erschaffen wir die Realität, die Gegenstand unserer Erfahrung ist. In und durch unser bewusstes Erkennen versuchen wir also die Gegenstände unserer Erfahrung zu verstehen, wie auch Aristoteles lehrte. Doch, so Kant, ist dies allein deshalb möglich, weil jene Gegenstände von unserem Verstand erst einmal geformt und geordnet wurden. So gesehen ist die objektiv anmutende Ordnung der Wirklichkeit tatsächlich subjektiven Ursprungs. Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass aus theistischer Perspektive sowohl Objektivismus wie Subjektivismus inakzeptabel sind. Beide setzen eine Version des pagan-religiösen Glaubens voraus, indem sie je einem Teil der Wirklichkeit die Rolle des unabhängig existierenden Gesetzesgebers zuschreiben. Aus biblischer Sicht sind weder die Objekte der Erkenntnis noch die erkennenden Subjekte die Quelle der Ordnung unserer Erfahrungswirklichkeit, sondern Gott, der der Welt alleiniger Gesetzesgeber ist. Die biblische Art und Weise, über die Gesetze der Schöpfung nachzudenken, vermeidet das Dilemma von Objektivismus und Subjektivismus und bietet eine Alternative dazu. Da gemäss biblischer Auffassung Gott alle schöpfungsimmanenten Gesetze erschaffen hat, können wir die Ordnung der Dinge weder auf die Erkenntnisobjekte noch auf die Erkenntnissubjekte reduzieren. Vielmehr sind sowohl Objekte wie Subjekte geordnet und verbunden, weil sie innerhalb desselben, in Gott gründenden modalen Gesetzesrahmens funktionieren.7

7 Zwei Kommentare: Erstens, sowohl die objektivistischen als auch die subjektivistischen Vorschläge, was die Natur von Gesetzen betrifft, sind unplausibel. Wie können Gesetze nur unsere Verallgemeinerungen bezüglich der Natur Dingen sein, so wie der Objektivismus behauptet? Wenn es keine Gesetze gäbe, die die Verbindungen zwischen Eigenschaften regulieren, könnten Dinge keine feststehenden Wesenheiten aufweisen. Oder wie können alle Gesetze der Erfahrung aufgesetzt werden, so wie der Subjektivismus behauptet? Wenn nicht schon Gesetze in Geltung wären, die nicht Produkte des Verstandes sind, was könnte die Uniformität erklären, mit der der Verstand seine Gesetze der Natur aufzwingt? Zweitens, während ich einen nicht-reduktionistischen Ansatz bezüglich der Aspekte betont habe, so sollte nicht übersehen werden, dass Theorien auch auf andere Art reduktionistisch sein können. Wir haben eben gesehen, dass beispielsweise versucht wurde, Gesetze auf Dinge zu redu­zieren, während andere versuchen, Dinge auf Gesetze zu reduzieren. Die Gesetzes­ rahmentheorie ist allen diesen Reduktionen gleichermassen entgegengesetzt, indem alle Seiten des geschaffenen Universums als in wechselseitiger Korrelation stehend aufgefasst werden. Und dieselben Argumente, die sie gegen die Aspekt-Reduktion vorlegt, können auch gegen andere Arten von Reduktionen angewendet werden.

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Zurück zur Erläuterung unserer Aspektenliste. Ein bereits erwähnter, wichtiger Punkt besteht darin, dass die einzelnen Aspekte unsere vortheoretische Erfahrung widerspiegeln sollen. Dasselbe gilt auch hinsichtlich ihrer Reihen­folge. Von unten nach oben gelesen soll die vorgeschlagene Reihenfolge die Ordnung des Auftretens der verschiedenen aspektspezifischen Eigenschaften in den Dingen wiedergeben, wie wir diesen in unserer vortheoretischen Er­ fahrung begegnen. Das heisst, in unserer Erfahrung weisen die Dinge eine geord­nete Sequenz in der Ausprägung ihrer Aspekte auf. Anders gesagt, Eigenschaften weiter oben auf der Liste scheinen diejenigen weiter unter vorauszusetzen. Zum Beispiel gibt es Dinge, die physische Eigenschaften haben aber unbelebt sind. Andererseits gibt es keine Lebewesen, die keine physischen Eigenschaften haben. Deshalb scheint der Besitz von physischen Eigenschaften Bedingung für die Ausbildung biotischer Eigenschaften zu sein. Ähnlich kann ein Lebewesen die Fähigkeit des Wahrnehmens und Fühlens haben oder nicht. Aber kein sensorisch begabtes Wesen kann unbelebt sein. Weiter scheint die Sinneswahrnehmung eine Vorbedingung der Fähigkeit zum logisch-be­ griff­lichen Denken zu sein, das wiederum Vorbedingung der Fähigkeit ist, Handlungsabsichten und -pläne zu konzipieren, die die historisch-kulturelle Erzeugung von neuen Gegenständen aus natürlichen Materialien leiten. Diese Fähigkeit ist ihrerseits Bedingung eines der herausragendsten und erstaunlichsten Beispiele kulturerzeugender Macht, nämlich der Erfindung der Sprache. Sprache ist wiederum Bedingung der Ausformung typisch menschlicher Gesellschaftsverhältnisse und Sitten. Und so geht es die Liste aufwärts. Die Reihenfolge der aufgezählten Aspekte verdankt sich also einem durchgehenden Bedingungs-, bzw. Voraussetzungsverhältnis. Damit wird der zeitliche Charakter der dargestellten Sequenz der Aspekte nicht verneint. Vieles deutet darauf hin, dass die modale Abfolge in einem realen chronologischen Entwicklungsprozess ihre Entsprechung findet. Es hat sich zum Beispiel gezeigt, dass einst quantitative, räumliche, kinetische und physische Gegenstände auf der Erde existierten, aber keine Lebewesen; dass es eine Zeit gab, in der Lebewesen existierten, die jedoch nicht fühlen oder wahrnehmen konnten; dass daraufhin eine Zeitperiode folgte, in der es zwar sensorisch begabte, aber keine logisch denkende Wesen gab, usw. Dennoch ist der zeitliche Widerhall der vorgeschlagenen modalen Sequenz nicht mit dem erwähnten Be­ dingungsverhältnis identisch. Selbst wenn man nichts über die graduelle Entfaltung dieser Arten von Eigenschaften in der Zeit wüsste, wäre die voraussetzunglogische Ordnung aus genannten Gründen noch nicht ausser Kraft gesetzt.

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Die Verwechslung der chronologischen und bedingungslogischen Ordnung der Aspekte würde uns davon abhalten, letztere auch in den ersten vier Aspekten auszumachen, da wir eben keine Erfahrungsgegenstände kennen, die nicht in diesen Aspekten funktionieren. Deshalb müssen wir zwischen dem Bedingungsverhältnis und der graduellen Erscheinung der „höherstufigen“ Aspekte in der Zeit folgendermassen differenzieren: Ein Ding muss räumlich sein, damit es Bewegungseigenschaften haben kann, was wiederum Bedingung dafür ist, dass irgendetwas physische Eigenschaften besitzen kann. Ebenso muss eine bestimmte räumliche Ausdehnung oder Grösse gegeben sein, damit räumliche Eigenschaften von quantitativen Eigenschaften bedingt sein können.8 Obwohl die Ordnung der Elemente Aspektenliste ein Bedingungsverhältnis in der Aus­prägung modaler Eigenschaften in konkreten Dingen reflektiert, kann dieses Verhältnis doch nicht herbeigezogen werden, um die schwach-reduktionistische Strategie einer ebensolchen Theorie der Wirklichkeit zu begründen. In jener Strategie ist die von uns beobachtete Ordnung kausaler Natur; einige Aspekte – üblicherweise solche weiter unten auf der Liste – sollen angeblich die Existenz der höherstufigen Aspekte erzeugen. Anders gesagt, greift der schwache Reduktionismus eine oder bestimmte Arten von Eigenschaften und Gesetzen weiter unten auf der Liste heraus, und gibt sie nicht nur als Vorbedingung der nachfolgenden Arten aus, sondern macht sie für die Existenz aller nachfolgenden Arten verantwortlich. Doch selbst wenn „höhere“ modale Eigenschaften nicht unabhängig von tieferstufigeren Eigenschaften auftreten, bedeutet das noch lange nicht, dass die unteren die oberen hervorbringen würden. Bedingung für etwas zu sein ist nicht dasselbe wie dieses zu erzeugen. Zum Beispiel gehört das Vorhandensein von Sauerstoff zu den Existenzbedingungen eines Holzfeuers; Sauerstoff allein entfacht aber noch kein Feuer. Wir sind deshalb also zu der Annahme berechtigt, dass die Verabsolutierung eines auf der Liste weiter unten figurierenden Aspekts zum Grund und Ursache der Existenz der weiter oben figurierenden Aspekte eine pagane Grundeinstellung manifestiert. Die Annahme, dass der eine oder Aspekt alle 8 Die genaue Ordnung der Vor-Bedingung ist offen für Revisionen, ganz so wie die Elemente der Liste selbst. Einige Vertreter der Gesetzesrahmentheorie haben Alternativen vorgeschlagen. Die hier dargelegte Theorie bedürfte einiger Modifikationen, wenn die Liste oder die Reihenfolge ihrer Elemente anders wären, aber das würde den wesentlichen Punkte der Liste nicht berühren. Welche Aspekte auch immer als genuin angenommen werden, sie würden als direkt von Gott abhängig, gleichermassen wirklich und wechselseitig irreduzibel angesehen werden.

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anderen erzeugen müsse, bedeutet von vornherein die Existenz eines transzendenten Schöpfers auszuschliessen, der notwendige und hinreichende Quelle der Existenz aller Aspekte ist – einschliesslich ihres Bedingungsverhältnisses. Nebst diesem religiösen Einwand gibt es jedoch auch schwerwiegende theoretische Gründe, die gegen jeden Versuch sprechen, die sequentielle Ordnung der Aspekte als Stütze für einen schwachen Reduktionismus in Beschlag nehmen zu wollen. Wir haben bereits gesehen, dass die Auffassung, irgendein Aspekt könne alle anderen hervorbringen, unweigerlich scheitert, wenn sie auf die Eigenschaftsseite der Dinge bezogen wird: Es ist performativ inkohährent, eine bestimmte Art von Eigenschaft zu abstrahieren, deren resultierende Isolierung als reale Unabhängigkeit zu betrachten, und sie dann zum essentiellen Wesen der Dinge zu erheben, anstatt sie als einen Aspekt neben anderen zu würdigen. Und es gibt einen weiteren Grund, warum dieser Denkansatz, auf die Gesetzesseite eines Aspekts bezogen, in Schwierigkeiten gerät. Obwohl das Erscheinen modaler Eigenschaften einer zeitlichen Reihenfolge unterliegt, trifft dies auf modale Gesetze nicht zu. Die Erläuterung dieses Punktes dient nun gleichzeitig der weiteren Entfaltung des kosmonomischen Wirklichkeitsverständnisses und soll deshalb etwas ausführlicher ausfallen. Um den Punkt so deutlich wie möglich hervorheben zu können, brauchen wir jedoch einige neue Begriffe, die es uns leichter machen, die Verwechslung der Gesetzesseite eines jeden Aspekts mit dessen Eigenschaftsseite zu vermeiden. Erfahrungsgegenstände (Dinge, Ereignisse, Relationen, Tatsachen, Personen, usw.) existieren oder funktionieren gemäss unserer Sprechweise „in einem Aspekt“ oder „unter den Gesetzen eines Aspekts“. So werden wir ständig daran erinnert, dass die Existenz alles Kreatürlichen gesetzesbestimmt ist, und dass ein irreduzibler Unterschied zwischen den tatsächlichen Gegenständen, die diesen Gesetzen unterstehen, und den normierenden Gesetzen besteht. Zu sagen, dass ein Gegenstand in einem Aspekt „funktioniert“, bedeutet, dass er Eigenschaften jenes modalen Aspekts besitzt, die von den Gesetzen desselben Aspekts geleitet sind. Grundlegend für das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis ist, dass die Eigenschaften und Gesetze eines Aspekts nur in wechselseitiger Korrelation existieren. Die Gesetze eines Aspekts legen fest, welche Eigenschaften innerhalb dieses Aspekts überhaupt möglich sind und gewährleisten deren notwendigen Zusammenhang. Doch sie erzeugen diese Eigenschaften nicht. Umgekehrt ist es auch nicht die intrinsische Natur bestimmter Eigenschaften, die die Gesetzesordnung eines Aspekts festlegte oder andere Eigenschaften derselben Art hervorbrächte. So existiert weder die

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Gesetzes- noch die Eigenschaftsseite eines Aspekts für sich allein oder bringt die andere hervor; beide hängen in ihrer Existenz von Gott ab. Wenn wir unser Augenmerk auf diese Korrelation richten, bemerken wir, dass einem Gegenstand die Eigenschaften eines Aspekts auf zwei Arten zukommen können. Diese zwei Weisen werde ich sprachlich so unterscheiden, dass ein Gegenstand „aktiv“ oder „passiv“ in einem Aspekt funktionieren kann. Diese beiden Funktionen schliessen einander nicht aus. Unsere Sicht ist vielmehr die, dass alle Dinge gleichzeitig in allen Aspekten passiv funktionieren, so dass es nur die aktiven Funktionen gewisser Aspekte sind, die bestimmten Dingen mangeln und die die oben erwähnte Erscheinungsreihenfolge an den Tag legen. Nehmen wir das Beispiel eines Felsens. Gemäss der eingeführten Unterscheidung können wir sagen, dass ein Fels im quantitativen, räumlichen, kinetischen und physischen Aspekt aktive Funktionen hat. Er besitzt diese Arten von Eigenschaften und untersteht der jeweiligen Gesetzmässigkeiten, so dass er andere Dinge – was diese verschiedenen Arten von Eigenschaften betrifft – aktiv beeinflussen kann. In anderen Aspekten, wie dem biotischen, sensorischen, logischen, ökonomischen oder justitiären, funktioniert der Fels jedoch nicht aktiv. Dennoch hat der Fels auch mit diesen Aspekten zu tun, weil er in bestimmter Hinsicht auch nach deren Gesetzen funktioniert. Das ist jedoch nur dann der Fall, wenn der Fels zum Objekt einer Handlung oder eines Verhaltens von etwas wird, das auch in diesen Aspekten aktiv funktioniert. Deshalb können wir die Art und Weise, wie ein bestimmter Gegenstand den Gesetzen eines Aspektes untersteht, ohne jedoch in diesem Aspekt aktiv zu funktionieren, als seine passiven Eigenschaften in jenem Aspekt bezeichnen. Dass der Fels keine aktiven biotischen Funktionen hat bedeutet nichts Anderes, als dass er nicht belebt ist. Er kennt keine metabolischen Prozesse, er nimmt keine Nahrung auf und vermehrt sich auch nicht. Und doch kann er Eigenschaften besitzen, die für das Leben lebendiger Dinge unentbehrlich sind und deshalb passiv biotisch genannt werden können. Wie gesagt sind diese Eigenschaften in dem Sinn passiv, dass sie die Art und Weise bestimmen, wie der Fels zum Objekt gemacht werden kann. Das heisst, diese Eigenschaften können nur in Relation zu etwas Anderem auftauchen, das eine aktive Funktion im relevanten Aspekt hat. Der Fels kann zum Beispiel Teil einer Höhle sein, das von einem Tier bewohnt wird; er kann von einer Seemöwe als ­Objekt benutzt werden, das die aufprallende Muschel öffnet; wenn seine Ausmasse gering genug sind, kann er im Muskelmagen eines Vogels den Prozess der Nahrungszerkleinerung unterstützen. Mit anderen Worten, Lebewesen können sich den Felsen biotisch aneignen oder anverwandeln. In ähnlicher

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Manier können Wasser und andere unbelebte Elemente und Dinge passiv ­biotische Funktionen manifestieren ohne selbst lebendig zu sein. Solche ­Eigenschaften bleiben natürlich so lange potentiell, als sie nicht durch ein biotisch aktives Wesen aktualisiert werden. Dennoch handelt es sich um reale Eigenschaften, die dadurch möglich sind, dass diese Gegenstände biotischen – und anderen – Gesetzmässigkeiten unterstehen. (Hier ist es wichtig, zwischen „aktualisiert“ und „aktiv“ zu unterschieden. Passive Eigenschaften können entweder potentiell oder aktualisiert sein, aktive Eigenschaften sind hingegen immer schon aktualisiert.) Auch im sensorischen Aspekt hat der Fels keine aktiven Funktionen: Er fühlt nicht und nimmt nicht wahr. Doch die Tatsache, dass er von Mensch und Tier, die aktiv sensorische Wesen sind, wahrgenommen werden kann, hängt (untere anderem) davon ab, dass er sensorischen Gesetzmässigkeiten untersteht und passive sensorische Eigenschaften hat. In diesem Zusammenhang sollten wir uns deutlich machen, dass wir physische Eigenschaften nicht direkt wahrnehmen (im engeren sensorischen Sinn von „wahrnehmen“), obwohl solche Eigenschaften durchaus Gegenstand unserer Erfahrung sind (im weiteren Sinn von „erfahren“). Physische Temperatur ist zum Beispiel als molekulare Vibrationsrate definiert; diese entzieht sich unserer sensorischen Wahrnehmung wenn wir etwas Warmes oder Kaltes fühlen. Ein weiteres Beispiel: Physikalisch gesehen weisen Lichtwellen eine unterschiedliche Frequenz auf, was wir wahrnehmen ist jedoch blau oder rot, und nicht ein Frequenzunterschied. Das empfundene Gewicht von etwas ist der wahrgenommene Druck oder Widerstand und nicht die physische Anziehungs- oder Gravitationskraft, usw. Ähnlich bildet der Fels auch keine logischen Begriffe. Unterstünde er jedoch nicht logischen Gesetzen, könnte er auch nicht passives Objekt unseres logischen Denkens sein. Wir könnten ihm auch keinen ökonomischen Wert zuschreiben, fiele er nicht unter das ökonomische Gesetz von Angebot und Nachfrage. Noch einmal, diese passiven Funktionen können nur im Verhältnis zu den aktiven Funktionen anderer Wesen aktualisiert werden. Der Fels hat keinen aktiven ökonomischen Wert unabhängig von seiner Wertschätzung durch ein anderes Wesen. Doch wäre er nicht passives Subjekt der Ordnung des ökonomischen Aspekts, könnte er nicht zum Objekt unserer ökonomischen Wertschätzung werden. Das ökonomische Potential des Felsens gehört zu seinen realen Eigenschaften, die durch sein Eingebundensein in eine schon existierende ökonomische Ordnung allererst ermöglicht wird. Im Gegensatz zum Felsen oder Steinchen hat der Baum aktive Funktionen auch im biotischen Aspekt – zusätzlich zu seinen aktiven Funktionen im quantitativen, räumlichen, kinetischen und physischen Aspekt. Der Baum zeichnet sich durch metabolische Prozesse aus, hat eine Lebensspanne, kann sich vermehren, und stirbt. Seine soziale Funktion ist jedoch passiver Art,

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und wird zum Beispiel dann aktualisiert, wenn er zum Schattenspender für menschliche Handlungen und soziale Angelegenheiten wird. Er kann auch eine passive ästhetische Funktion haben, wenn er so platziert oder geformt ist, dass er zur ästhetischen Harmonie einer Gartenanlage beiträgt. Im Gegensatz zum Baum würden wir von einem Tier sagen, dass es zusätzlich aktiv sensorische Fähigkeiten oder Funktionen hat.9 Auch noch die primitivsten Tiere heben sich durch ihre sensorische Begabung von Pflanzen ab, selbst wenn diese Begabung nur schwach ausgebildet ist. Soweit wir wissen ist der Mensch nun der einzige Bewohner des irdischen Kosmos, der aktive Funktionen in allen Aspekten hat.10 Vielleicht lässt das nachfolgende Diagramm diesen Punkt unserer Theorie deutlicher hervortreten: 9

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Zwei Bemerkungen drängen sich an dieser Stelle auf: (1) Neuere Forschungen legen nahe, dass bestimmte Tiere beschränkte logische oder linguistische aktive Funktionen ­besitzen. Siehe Francine Patterson, “Conversations with a Gorilla,” in National Geographic (October 1978). (2) Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass einzellige Organismen nicht als Pflanzen oder Tiere klassifiziert werden sollten, siehe dazu Uko Zylstras “Dooyeweerd‘s Concept of Classification in Biology,” in Life Is Religion, ed. H. Vander Goot (St. Catherines, Ontario: Paideia Press, 1981), 239-48. Die Tatsache, dass Menschen in allen Aspekten eine aktive Funktion besitzen, ist aller­ dings nicht deren einziger Unterschied zu den anderen Kreaturen. Wie im 9. Kapitel erwähnt, ist die Identität jedes Menschen im Selbst zentriert, das die Heilige Schrift „Herz“ oder „Seele“ nennt, welches die Einheit aller menschlichen Aspekt-Funktionen und Sitz des Bewusstseins ist, und das die meisten Theologen als dasjenige ansehen, das nach dem Tod des Körpers fortbesteht, und die kontinuierliche personale Identität zwischen Tod und Auferstehung ausmacht. Unsere Theorie erklärt diesen Punkt dahingehend, dass das Herz in der biblischen Sichtweise eine „prä-funktionale“ Seite hat, die nicht von ihren zeitlichen Funktionen unter aspektspezifischen Gesetzen erschöpft wird. Das hat zwei wichtige Konsequenzen: (1) Die genuine menschliche Freiheit in Gedanken und Hand­lungen relativ zu jedem Aspekt wird dadurch ermöglicht. Denn obwohl Menschen in ihrem Tun beschränkt sind durch das, was von aspektspezifischen Gesetzen und Kausal­relationen möglich und unmöglich gemacht wird, sind sie dennoch nicht von diesen Gesetzen bestimmt oder von ihnen erschaffen. (2) Der wesentlich religiöse Charakter des menschlichen Herzens ist nicht identisch mit dem fiduziären Aspekt von Vertrauen und Glauben. Vielmehr liegt der religiöse Charakter des Herzens in dessen angeborenen, prä-funktionalen Disposition, sich nach Gott hin zu orientieren bzw. zu jener Gottheit, die an seiner statt steht. Das schliesst das Selbstverständnis und das Verständnis von allem anderen im Lichte jener Herzensorientierung ein. Derart leitet diese Orientierung auch jeden konkreten personalen Akt des Vertrauens. Es sind bloss diese Akte, die vom fiduziären Aspekt qualifiziert sind. Aus diesen (und anderen) Gründen meinen wir, dass Menschen keine qualifizierende Funktion haben – was ich in Kürze erklären werde.

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11. Kapitel

fiduziär ethisch justitiär ästhetisch ökonomisch sozial linguistisch historisch logisch sensorisch biotisch physisch kinetisch räumlich quantitativ   Fels   Baum  Tier

                  Aktive Funktionen Passive Funktionen

Abbildung 6

Die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Eigenschaften erlaubt uns, das jeweilige Wahrheitsmoment des Objektivismus und des Subjektivismus zu bewahren, ohne in das eine oder andere Extrem zu fallen. Mit dem Subjektivismus können wir darin übereinstimmen, dass die passiven Eigenschaften der Dinge nur durch solche Wesen aktualisiert werden können, die eine aktive Funktion im relevanten Aspekt haben. (Obwohl die unbelebten Dinge passive Funktionen im Verhältnis zu Mensch und Tier haben, werde ich aus Gründen der Einfachheit nur davon sprechen, wie sich diese Funktionen im Verhältnis zum Menschen ausnehmen). In unserer Wahrnehmung werden die passiv sensorischen Eigenschaften des Felsen aktualisiert; unabhängig davon, verharren diese Eigenschaften in bloss potentiellem Zustand. Doch weil der Fels den sensorischen Gesetzen auch unabhängig von uns unterstellt ist, können wir dem Objektivismus darin rechtgeben, dass die sensorischen Eigenschaften der Dinge nicht durchwegs von uns abhängen. Trotzdem müssen wir uns an dem Punkt von der objektivistischen Denkweise verabschieden, wo die Potentialität scheinbar nur mit dem Fels zu tun hat. Vielmehr fassen wir diese Potentialitäten als Resultat der Art und Weise auf, wie Fels und Mensch in der distinkten Gesetzesdimension der Schöpfung funktionieren. Aufgrund dieser

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Unterscheidung können wir, wie der Objektivismus, die Auffassung ablehnen, dass „die Schönheit im Auge des Betrachters liegt“, oder dass ökonomischer Wert einfach nur eine menschliche Erfindung sei. Wären ästhetische und ökonomische Normen nicht bereits in der Schöpfung eingebettet, könnten wir überhaupt nichts auf jene Art und Weise erfahren. Denn dann gäbe es gar keine ästhetischen und ökonomischen Potentialitäten, die sich von uns aktualisieren liessen. Gleichzeitig trifft es jedoch auch zu, dass solche Eigenschaften nicht schon aktuell (vollständig) in den Dingen vorliegen, unabhängig von unseren Aktivitäten ihnen gegenüber. Die Unterscheidung von passiven und aktiven Eigenschaften zeigt weiterhin auf, warum wir so genannte „Emergenztheorien“ für unplausibel erachten, wobei „Emergenz“ die Existenz ganzer Aspekte erklären soll.11 Denn obwohl die aktiven Funktionen der Dinge in der oben diskutierten Sequenz „auftauchen“ oder in Erscheinung treten, ist es doch sinnlos zu behaupten, dass gesamte Aspekte mit ihren Gesetzen in einer Erscheinungsreihenfolge stünden. Die geordnete Reihenfolge passiver und aktiver modaler Eigenschaften wird erst durch die Gesetze des betreffenden Aspekts ermöglicht, so dass die modalen Gesetze schon existieren müssten. Kann man zum Beispiel sinnvoll behaupten, dass es zu einer bestimmten Zeit nur gerade physische Dinge gab, und die logischen Gesetze dann zeitgleich mit logischen Eigenschaften in Erscheinung getreten sind? Das würde bedeuten, dass nicht einmal die vermeintliche „Emergenz“ logisch möglich war! Und welchen Sinn ergibt eine solche Behauptung, wenn wir uns einmal bewusst geworden sind, dass sie uns den logischen Begriff einer Welt plausible zu machen versucht, die angeblich bar jeder logischen Eigenschaft und Gesetz ist? Derselbe Punkt gilt gleichermassen für andere nicht-physische Eigenschaften und Gesetze. Wir können uns zum Beispiel weder einen Begriff noch eine Idee davon machen, wie eine „rein physische“ Welt aussehen würde, da diese Welt eben keine sensorischen Eigenschaften hat und deshalb gar nicht „aussehen“ kann. Zudem kann es keine plausible Erklärung dafür geben, wie Lebewesen entstanden sind und sich entwickelt haben, wenn die vorgängige Existenz biotischer Gesetze verneint wird, die das möglich gemacht haben sollen. 11

Das bedeutet in der Tat, dass die Gesetze eines jeden Aspekts von „Anbeginn der Welt“ an existieren. Es sollte angemerkt werden, dass der Typ von Emergenztheorie, der hier zurückgewiesen wird, nicht nur einer ist, der eine einfache Hierarchie zwischen den Aspekten sieht (womit wir übereinstimmen), sondern einer, der die einzelnen Aspekte in einem Sinn aufeinander reduziert, den wir in Anmerkung 5 des letzten Kapitels zurückgewiesen haben. Wenn „Emergenz“ in einem Sinn gemeint ist, der nicht vorbelastet ist in einem oben dargelegten Sinn, dann hat die Gesetzesrahmentheorie keine Einwände dagegen.

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11. Kapitel

Auf diese Weise unterläuft die aktiv/passiv Unterscheidung den wohl stärksten Einwand gegen unsere Auffassung, dass alle Aspekte gleichermassen real sind. Diese Auffassung wurde weiter oben mit dem Kriterium der performativen Kohärenz verteidigt, im Zusammenhang mit unserem Gedankenexperiment. Daraus erhellte, dass wir nicht in der Lage sind, irgendeinen Aspekt unabhängig von anderen auch nur zu denken. Im Gegensatz dazu versuchen die von uns kritisierten Emergenztheorien ein Bild zu zeichnen, in dem die Reihenfolge der aktiven Funktionen so zu verstehen ist, dass die tiefer liegenden Funktionen die höher liegenden verursachen, weil sie von letzteren wirklich unabhängig seien. Doch haben wir jetzt gesehen, warum dies unplausibel ist, und deshalb nicht gegen unsere beiden ersten Leitprinzipien spricht.12 Darüber hinaus befähigt uns dieser Punkt, ein drittes Leitprinzip für unsere Theoriebildung zu formulieren. Denn wenn die gesamte Schöpfung passiv oder aktiv in den kosmonomischen Gesetzeshorizont gestellt ist, können wir das Prinzip der modalen Universalität formulieren. Gemäss diesem Prinzip ist

12

Emergenztheorien des Typs, den ich zurückweise, stützen sich daher auf unseren ge­­ wöhn­lichen, vorwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs „Ursache“ für deren Plausibilität, während sie doch dessen wissenschaftlichen Sinn benötigten. In der alltäglichen Rede sprechen wir oft von einem Ereignis, das ein anderes verursacht, selbst wenn es weder ein notwendiger, noch ein hinreichender Grund für dieses ist – was in der Wissenschaft gesucht wird. Andre Troost (The Christian Ethos [Bloemfontein: Patmos, 1983]) gibt ein gutes Beispiel dafür, wie durch unterschiedliche Aspekte qualifizierte Ereignisse gewöhnlich als Ursachen füreinander gehalten werden, aber keine Ursachen im Sinn der notwendigen und hinreichenden Bedingung sind. Man stelle sich vor, eine Geigenspielerin schneidet sich in den Finger, während sie das Abendessen zubereitet. Im alltäglichen Sinn von „Ursache“ würden wir sagen, dass ihr der (physische) Schnitt (sensorischen) Schmerz bereitet, was die Ursache dafür ist, dass sie einen Fehler macht, der (ästhetisch) das Konzert ruiniert, was wiederum die Ursache dafür ist, dass sie (rechtlich) entlassen wird, was die Ursache dafür ist, dass sie (unethisch) flucht. Aber in keinem Fall ist das vorhergehende Ereignis jeweils notwendig oder hinreichend für das nachfolgende Ereignis. Jede Vorbedingung könnte aufgetreten sein, ohne eines dieser Resultate nach sich zu ziehen; und jedes Resultat könnte auftreten, ohne durch eines der Ereignisse bedingt gewesen zu sein. Manchmal wird an diesem Punkt eingewendet, dass die Gesetzesrahmentheorie nicht wirklich alle Reduktionismen vermeidet, weil sie alle Aspekte als von Gott abhängig ansieht und daher diese auf Gott reduziert. Die Antwort darauf lautet, dass Reduktion nicht identisch mit Abhängigkeit ist, selbst wenn viele Theorien versuchen, eine Reduktion mit dem Argument zu begründen, dass ein Aspekt von einem anderen abhängt. Der Unterschied ist einfach der: Während alle Aspekte von Gott abhängen, sind sie dadurch nicht auf einen Abhängigkeitsstatus von einem anderen Aspekt reduziert. Sie sind alle gleich wirkliche, obwohl abhängige, Bestandteile des Universums.

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jeder Aspekt ein Aspekt alles Geschaffenen, weil die gesamte Schöpfung unter allen Gesetzen jeden Aspekts gleichzeitig existiert und funktioniert. Dieses zusätzliche Prinzip ist komplementär zum Prinzip der modalen Irreduzibilität und unterstreicht zwei bereits erwähnte Punkte: (1) Aspekte sind nicht mit Typen oder Klassen von Gegenständen zu verwechseln, sondern sind Arten von Eigenschaften und Gesetzen, die allen Dingen zukommen; (2) kein Gegenstand unserer Erfahrung wird als von einer einzigen (modalen) Art erfahren. Das ist wichtig, denn bei so vielen Gegenständen, die in den Theorien der modernen Wissenschaft und Philosophie postuliert wurden, handelt es sich um genau diese Art von Fiktion. Gemäss diesen Theorien, soll es angeblich rein physische Objekte geben, rein sensorische Perzeptionen, rein logische Begriffe, etc. Gemessen an unserer Erfahrung sind solche Dinge jedoch allenfalls Hypothesen; in unserer Erfahrung gibt es nichts, das sich nur durch eine oder zwei Arten von Eigenschaften auszeichnen würde. Und unsere Kritik am reduktiven Denken hat uns gute Gründe zur Hand gegeben, warum solche Hypothesen zugunsten unserer Erfahrung verworfen werden sollten. Dieser letzte Satz sollte freilich nicht so verstanden werden, dass unsere gewöhnliche Erfahrung niemals von Theorien korrigiert, erweitert oder partiell widerlegt werden könnte. Die Auffassung, dass wir es in unserer Erfahrung niemals mit etwas zu tun haben, das sich nur durch einen Aspekt auszeichnet, führt, für sich genommen, nicht zu diesem Resultat. Aber hinsichtlich ganzer Aspekte bedeutet dies immerhin, dass unsere Erfahrung nicht nur eine Vielfalt davon aufweist, sondern dass jede Theorie, die diese Vielfalt zu negieren versucht, selbst-referentiell, voraussetzungslogisch oder performativ inkohärent ist. Deshalb insistieren wir auf der einzig plausiblen Sichtweise, nach der alle Dinge und Ereignisse in allen Aspekten funktionieren – vorausgesetzt, dass aktive von passiven Eigenschaften unterschieden werden. Die Moral der Geschichte ist also die: Wenn eine Theorie der Gesamtwirklichkeit das Wesen der Dinge unserer Erfahrung erklären soll (und was anderes sollte eine solche Theorie erklären?), muss sie die Art und Weise in Betracht ziehen, wie diese Dinge in allen Aspekten funktionieren.13 13

Trotz dieser Betonung wäre es inakkurat, dies als eine naiv-realistische Theorie zu be­­ zeichnen. „Naive Erfahrung“ bezieht sich auf die Art von Erfahrung, die wir machen, bevor diese durch hohe Abstraktion auseinanderbricht, und ist deshalb überhaupt keine Hypothese. Das Fazit aus unserer Kritik ist, dass Wirklichkeitstheorien nicht den Grossteil der naiven Erfahrung oder ganze Aspekt dieser Erfahrung leugnen können, ohne in ernsthafte Inkohärenzen zu geraten. Theorien sollen naive Erfahrung erklären, nicht wegerklären. Auf diesem Weg erfüllt die Gesetzesrahmentheorie Wittgensteins geistreiche Bemerkung, dass die Philosophie alles so lassen soll, wie sie es vorfindet – sogar besser, als

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11. Kapitel

An dieser Stelle möchte ich eine bequemere Ausdrucksweise für einen Punkt einführen, der schon weiter oben besprochen wurde. Wir haben kurz erwähnt, dass die Erfahrungswirklichkeit zwar multi-aspektuell ist, verschiedene Gegenstandstypen aber durch bestimmte Aspekte „stärker qualifiziert“ sind. Die Art und Weise, wie ein bestimmter Gegenstandstyp unter den Gesetzen eines spezifischen Aspekts funktioniert, zeichnet also das Wesen dieses Typs stärker aus als es andere Aspekte tun – ohne dass wir uns damit in einen Reduktionismus eingekauft hätten. Das ist es, was fortan mit dem Ausdruck „qualifiziert“ gemeint ist, wenn er auf einen bestimmten Typ von Dingen und einen konkreten Aspekt bezogen wird. Die Art und Weise, wie die Dinge nach den Gesetzen ihres qualifizierenden Aspekts funktionieren, werde ich dementsprechend ihre „qualifizierende Funktion“ nennen. Dieser Punkt kann nun herbeigezogen werden, um den partiellen Wahrheitsgehalt moderner Theorien zu erklären, die die Wirklichkeit irrtümlicherweise für rein physisch, rein sensorisch usw. halten. Zur Illustration dieses Irrtums greifen wir auf das in Kapitel acht besprochene Beispiel Machs und Einsteins zurück, die glaubten, dass die Gegenstände unserer vortheoretischen Erfahrung allesamt und exklusiv sensorischer Art seien. Einstein setzte sich von Machs Auffassung ab, wo er zusätzlich Gegenstände ausserhalb der Erfahrung postulierte, die rein physischer Natur seien. Im Licht unseres Denkansatzes betrachtet geschieht hier folgendes: Die qua­ lifizierenden Funktionen der Dinge werden irrtümlicherweise mit ihrem exklusiven Wesen identifiziert. Zum Beispiel sprechen und denken wir von einem Felsen als einem physischen Gegenstand, oder von Wahrnehmungsakten als sensorischen Akten. Doch unsere vortheoretische Intuition der jeweiligen Natur dieser Dinge weisen diese nicht als exklusiv physisch oder exklusiv sensorisch auf. Unsere Wesensintuition dieser Dinge fokussiert auf den konkreten Aspekt, der die Dinge am deutlichsten qualifiziert, aber nicht erschöpfend bestimmt. Deshalb sagen wir, dass Felsen quantitative, räumliche, kinetische und physische Eigenschaften aktiv besitzen, in allen anderen Aspekten aber bloss passive Eigenschaften haben. Ganz ähnlich ist ein Wahrnehmungsakt niemals rein sensorisch; er kann gezählt und räumlich verortet werden, er kann sich bewegen (mit der Bewegung des Wahrnehmungssubjekts verändert sich seine Perspektive), Energie verbrauchen, im aktiven Sinn, derweil er passiv trainiert und benannt, Geld wert, ungerecht, liebend oder vertrauenswürdig sein kann. Um diesen Punkt etwas weiter zu verfolgen, können wir auf zusätzliche, bereits angeführte Beispiele menschlicher Handlungen oder Verhaltensweisen es seine eigene Theorie tut (L. Wittgenstein, Philosopische Untersuchungen, Teil 1, Abschn. 124 [Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989]).

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zurückgreifen. Menschliche Akte sind allen anderen Ereignissen dieser Welt darin ähnlich, dass sie verschiedene Aspekte haben, und sich aufgrund ihrer modalen Qualifikation unterscheiden können: Kauf- und Verkaufshandlungen sind ökonomisch qualifiziert; Akte der Nahrungsaufnahme haben eine biotische Qualifikation, Akte des Tanzens sind ästhetisch qualifiziert, und Akte des Verklagens und Freisprechens zeichnen sich durch ihren justitiären Charakter aus. Obwohl solche Ereignisse verschiedenen Typs sind und jedes durch einen anderen Aspekte qualifiziert ist, funktionieren sie doch nach den Gesetzen aller Aspekte gleichzeitig und können deshalb vom Standpunkt eines jeden Aspekts erforscht werden. Tatsächlich können sie nicht nur aus dem Blickwinkel ihrer anderen Aspekte erhellt werden, sondern es ist ganz unmöglich, dass diese verbleibenden Aspekte nicht in unsere Begriffe der Erfahrungsgegenstände eingehen (denken wir an das Beispiel des Salzstreuers in Kapitel vier zurück) und damit in die Theorien aller Wissenschaften, egal auf welchem Aspekt der wissenschaftliche Fokus liegt. Eine Konsequenz unseres nicht-reduktiven Denkansatzes ist, dass egal welche Anstrengungen in einer Wissenschaft unternommen werden, um die Eigenschaften auszuschliessen, die nicht zu ihrem eigentlichen Forschungsgebiet gehören, die untersuchten Phänomene immer auch noch andersartige Eigenschaften aufweisen, die nicht ignoriert werden können. Bis zu diesem Punkt war das einzige Argument für diese Sichtweise unser Gedankenexperiment, das zeigte, dass wir uns keine Idee eines isolierten Aspekts oder einer isolierten Eigenschaft machen können. Doch gibt es noch ein zusätzliches Argument zur Bekräftigung derselben Schlussfolgerung, das an dieser Stelle erwähnt werden sollte, obwohl dessen ausführliche Erläuterung den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. Dieses Argument dreht sich um die Art und Weise, wie grundlegende Begriffe in jedem Aspekt mit denen anderer Aspekte hinsichtlich ihrer jeweiligen Bedeutung verwoben sind. Dooyeweerd diskutiert diese Bedeutungsverschränkung der elementaren modalen Begriffe unter dem Titel ihrer „Analogizität“. Der Ausdruck sollte nun nicht so verstanden werden, dass es sich bei dieser Verschränkung der Kategorien um eine blosse Ähnlichkeit handelt. Die gegenseitigen Banden sind viel stärker. Nehmen wir zum Beispiel die Art und Weise, wie grundlegende Begriffe der nicht-räumlichen Aspekte ein Element einschliessen, das wir ursprünglich aus unserer intuitiven Erfahrung des räumlichen Aspekts beziehen. Die ursprüngliche Intuition der grundlegenden Bedeutung dieses Aspekts ist an Ausdehnung als gleichzeitiger Gegebenheit (Kopräsenz) aller Punkt gebunden. Aber die Idee der Ausdehnung ist so stark mit anderen modalen Begriffen verschränkt, dass wir diese nicht unabhängig von der Idee der Ausdehnung bilden können, wie auch diese Idee unabhängig von ihrem Einschluss in

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11. Kapitel

nicht-räumliche Begriffe völlig in der Luft schwebt. Zum Beispiel gibt es den Begriff des physischen Raumes, der sich vom Raum der reinen Geometrie unterscheidet; es gibt den biologischen Begriff des Lebensraumes; und es gibt den Raum der sensorischen Wahrnehmung, der sich vom mathematischen oder physischen Raum unterscheidet. Wir sprechen auch vom logischen Raum als dem Anwendungsbereichs eines Quantors oder der „Extension“ der Bedeutung eines Ausdrucks, und dem rechtlichen Raum als der gesetzlichen Kompetenzgrenze einer juridischen Instanz. Oder betrachten wir unsere intuitive Vorstellung des Lebens, die ihren originären Sitz im biotischen Erfahrungsaspekt hat, aber in einer Vielzahl von andersartigen Begriffen figuriert. Da ist das psychische Gefühlsleben, das kulturelle Leben, das soziale Leben, die der ursprünglich biotischen Intuition je eine distinkte Qualifikation hinzufügen. Dasselbe gilt für das Leben des Gesetzes, das Leben des Glaubens, usw. Was unser sprachliches Leben (!) anbelangt, müsste der angestrebte Verzicht auf biotische Analogien erstmals angeben können, wodurch Ausdrücke wie „eine lebendige Sprache“ oder „eine tote Metapher“ ohne Bedeutungsverlust ersetzt werden könnten; und dasselbe gilt für den Ausdruck „Zusammenleben“ als sozial qualifizierten Begriff. Auf den möglichen Einwand, dass analogische Anwendungen der grundlegenden Meta-Eigenschaft eines bestimmten Aspekts auf Begriffe, die in anderen Aspekten zuhause sind, vermieden werden können, wenn wir unsere Erfindungsgabe nur etwas mehr anstrengen, gibt es eine simple Antwort: jede Umschreibung, die eine analogische Anwendung vermeidet, enthält eine andere. Unsere Behauptung beschränkt sich also nicht darauf, dass eine bestimmte Reihe analogischer Konzepte für eine bestimmte Wissenschaft unabdingbar ist (obwohl vieles dafür spricht), sondern dass dieser oder jene analogische Begriff unvermeidlich ist – da er eben nur durch einen anderen solchen ersetzt werden kann. Es lohnt sich, einige weitere Illustrationen dieses Punktes aufzugreifen, diesmal mit Blick auf den sozialen Aspekt der Erfahrung, da wir uns im nächsten Kapitel auf diesen Aspekt konzentrieren werden. Wenn wir vom gesellschaftlichen „Leben“ sprechen, machen wir von einer biotischen Analogie Gebrauch, so wie von „Elementen“ der Gesellschaft zu sprechen eine numerische Analogie enthält. Die Rede von „universalen“ Überzeugungen oder Trends in einer Gesellschaft bedient sich eines Begriffs, der auf einer räumlichen Analogie fusst, genauso wie der Ausdruck „soziale Dynamik“ oder „Konstanz“ unweigerlich eine kinetische Analogie enthält. Schliesslich bedient sich der Begriff einer sozialen Ursache einer physischen Analogie. Es dürfte wohl niemanden geben, der ernsthaft behaupten wollte, all diese analogischen Begriffe könnten durch nicht-analogische ersetzt werden.

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Es ist meine Auffassung, dass der Einschluss von Ideen eines bestimmten Aspekts in Begriffe, die in einem anderen Aspekt von grundlegender Bedeutung sind, durch dieselbe intermodale Kohäsion ermöglicht wird, auf die schon unser Gedankenexperiment hindeutete. Analogische Begriffe sind deshalb ebenso Resultat und Ausdruck der Art und Weise, wie jeder Aspekt mit jedem anderen durch unzertrennbare Bedeutungsfäden und -netze verbunden ist. Diese unauflöslichen Verbindungen drücken sich in der Art und Weise aus, wie die intuitiven Meta-Eigenschaften eines jeden Aspekts in grundlegenden Begriffen anderer Aspekte auftauchen, und diese zusätzlich qualifizieren.14 Analogische Begriffe machen so die „innere“ Dimension des intermodalen Zusammenhalts aus, dessen „äussere“ Seite von unserem Gedankenexperiment angezeigt wurde und unsere Aufmerksam bis anhin in Beschlag genommen hat. Anders gesagt, wird die äussere Einheit der verschiedenen Aspekte daran sichtbar, dass die verschiedenen modalen Eigenschaften in den Gegenständen unserer Erfahrung immer simultan auftreten, wie auch daran, dass deren irreduzible Realität nicht ohne Selbstwiderspruch negiert werden kann. Dem können wir jetzt hinzufügen, dass sich die innere Verbundenheit der verschiedenen Eigenschaften in den analogischen Elementen zeigt, die in bestimmten zentralen Begriffen eines jeden Aspekts enthalten sind – Elemente, die nicht ersetzt werden können, ohne den Rekurs auf andere analogische Begriffe oder die Zerstörung dieser grundlegenden Begriffe selbst (Und, ja, dieser Punkt basiert auf der Anwendung einer räumlichen Analogie (aussen, innen) auf die intermodale Verbundenheit der Aspekte). Die irreduzible Funktion analogischer Begriffe in den Wissenschaften, gekoppelt mit der Schlussfolgerung, die sich aus unserem Gedankenexperiment ergab, bieten die Grundlage für ein weiteres Leitprinzip des kosmonomischen Wirklichkeitsverständnis. Ich werde es das Prinzip der modalen Unzertrennlichkeit nennen. Das bedeutet: Modale Aspekte können nicht voneinander isoliert werden, da ihre Intelligibilität von ihrer wechselseitigen Verbundenheit abhängt. Obwohl sie von den Dingen und Ereignissen abstrahiert werden können, in denen sie sich manifestieren, können sie nicht voneinander isoliert 14

Dooyeweerd entwickelt diese Idee in aller Ausführlichkeit und zeigt, dass solche Verbindungen nicht als blosse Sprachfiguren abgetan werden können. Siehe New Critique, vol. 2, 55–180, und auch seine Monographie “De analogische grondbegrippen der vakweten­ schap­pen en hun betrekking tot de structuur van de menselijken ervaringshorizon,” in Mededelingen der Koninglijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, afd. Letterkunde, New Series, vol. 17, no. 6 (Amsterdam: Noord-Hollandsche Uitgevers Maatschappij, 1954). (Die unveröffentlichte englische Übersetzung dieses Aufsatzes stammt von Robert ­Knudsen.)

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werden – nicht einmal gedanklich. Und dasselbe gilt für die konkreten Eigenschaften eines jeden Aspekts. Die angeführten Argumente für das Prinzip der Unzertrennlichkeit der Aspekte können ebenso als Rückverweis auf den Dreh- und Angelpunkt unserer Theorie der religiösen Kontrolle von Theorien gelesen werden. Deshalb muss das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis auch erhellen, worin diese Unzertrennlichkeit begründet ist. Dazu möchte ich an dieser Stelle das Bild der Perlenkette noch einmal aufgreifen. Anhand dieses Bildes habe ich zu erklären versucht, worum es in traditionellen Wirklichkeitsverständnissen ging. Und ich möchte noch einmal auf den Punkt hinweisen, dass der kosmonomische Denkansatz nicht nur grundlegend andere Antworten auf traditionelle philosophische Fragen gibt, sondern uns dazu befähigt, die Fragen selbst neu zu stellen. Deshalb müssen wir zunächst einmal erläutern, warum das Bild der Perlenkette, obwohl es die Geschichte des philosophischen Denkens des Westens trefflich wiedergibt, aus unserer Perspektive kritisiert werden muss. Wie mittlerweile mehr als ersichtlich geworden ist, kann aus unserer Perspektive kein Erfahrungsaspekt unabhängig von den anderen oder als Produkt eines anderen gedacht werden. Anstatt einer Perlenkette, die aus abtrennbaren Elementen besteht und durch eine Schnur zusammengehalten werden, lässt sich das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis besser in das Bild eines Halsschmucks fassen, der aus durchgängigen und eng miteinander verwobenen Strängen besteht. Tatsächlich müssten wir das Bild dahingehend ausmalen, dass diese Stränge nicht nur einander umschlingen, sondern dass die Fasern eines jedes Strangs mit jedem anderen Strang verwoben sind. Um das Bild noch etwas weiter zu forcieren: Der Halsschmuck kann nicht nur nicht ohne die einzelnen Stränge existieren, vielmehr können auch die einzelnen Stränge nur durch ihre gegenseitige Verwebung im Halsband existieren, wobei keiner einen anderen hervorbringt. Alle sind gleichermassen von Gott erschaffen, verbunden und erhalten. Die „starke“ intermodale Einheit der Erfahrungsgegenstände, ihre unhintergehbare Identität als individuelle Wirklichkeiten, kann nicht gedacht oder erklärt werden, indem einer der charakteristischen Aspekte herausgehoben wird. Auch logische Identität ist deshalb nicht das, was diese „starke“ Einheit eines Erfahrungsgegenstandes ausmacht. Logische Identität ist nur gerade ein Aspekt dieser Identität – ein Aspekt, der selbst von der vorgängigen Verbundenheit aller Aspekte abhängt. Da dieser Zusammenhalt von Gott gestiftet ist, kann er nicht weiter analysiert, erklärt, oder auf etwas Grundlegenderes zurückgeführt werden. Dies bedeutet, dass der wichtigste Punkt unserer Auffassung der intermodalen Kohäsion der Aspekte in deren transzendenten Ursprung liegt. Dies wiederum schliesst nicht aus, dass die verschiedenen Stränge des Halsschmucks

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auch in unserer Erfahrung etwas Gemeinsames haben. In dieser Perspektive, im Kontrast zu paganen Perspektiven, ist es ganz einfach so, dass das Gemeinsame an allen Strängen nicht das ist, was sie hervorbringt oder sie zu verschiedenen, geeinten und individuellen Realitäten macht. Obwohl unsere Theorie also keinen der Aspekte (oder eine Kombination davon) zur Grundlage der Existenz aller anderen erhebt, schlägt sie doch etwas Geschöpfliches als gemeinsamen Denominator aller Aspekte vor. Dieser Denominator ist, so meinen wir, die Zeit. Nicht nur sind die Dinge, Ereignisse, Tatsachen, relationalen Verhältnisse, Personen, usw. die den erschaffenen Kosmos bevölkern, zeitlicher Natur, die Arten von Eigenschaften und Gesetzen, die auf sie zutreffen sind es ebenso. Eine nicht-reduktive Auffassung von Zeit verlangt, dass die Gesetzesordnung eines jeden Aspekts einen vorher-nachher Charakter hat, so dass jeder Aspekt eine eigene Bedeutung der Zeitordnung manifestiert. So gibt es zum Beispiel ein Vorher und Nachher in der Mathematik hinsichtlich der Reihenfolge von kleineren und grösseren Zahlen, ein Vorher und Nachher von Energieursachen im Verhältnis zu deren Wirkungen, von Wahrnehmungen und Gefühlen in der Psychologie, von Prämissen und Schlussfolgerungen in der Logik, usw. Wenn das Beharren in der Zeit ein grundlegendes Merkmal aller kreatürlichen Existenz ist, dann verhält sich das so aufgrund der unterschiedlichen (modalen) Arten von Ordnung, die zusammen die Ordnung der Zeit ausmachen. Die Gesetzesseite der verschiedenen Aspekte steht also ­hinter den verschiedenen Bedeutungen, in der sich die eine Zeitordnung ausdrückt. Keine von diesen Bedeutungen kann stärker mit der Zeit selbst identifiziert werden als eine andere. Es sollte klar sein, dass die Identifikation eines gemeinsamen Denominators der Schöpfung und der Zeit keine Gefahr der Wiedereinführung einer kreatürlichen Realität als vermeintlich göttlicher oder selbst-existenter Natur darstellt. Die Zeit ist keine Substanz, und es wäre, vorsichtig ausgedrückt, unsinnig, die Zeit als eine Art Akteur zu verstehen; die Zeit verursacht überhaupt nichts. Im Gegensatz zu paganen Theorien insistiert das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis auf einer unauflöslichen Interdependenz zwischen den konkreten Dingen, die die faktische Dimension der Zeit ausmachen, und den Gesetzen der Schöpfung, die die Ordnungsdimension der Zeit konstituieren. Weder Gegenstände, Eigenschaften, Gesetze noch die Zeit existieren unabhängig von einander, doch nichts davon ist die Ursache der Existenz des anderen. Sie alle sind Schöpfungen Gottes, der sie erhält, und dessen (unakkommodiertes) Sein sowohl überzeitlich ist als auch über allen Gesetzen steht. Ich hoffe es ist deutlich geworden, dass die oben aufgestellten Leitprinzipien im Folgenden nicht dazu verwendet werden sollen, irgendwelche Hypothesen für unsere Theorie abzuleiten. Vielmehr sollen sie unsere Theoriebildung

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im Sinne der allgemeinen Kontrolle, die religiöse Überzeugungen auf Theorien ausüben, anleiten. So betrachtet werden wir es als ein untrügliches Warnsignal betrachten, wenn irgendeine von uns aufgestellte Hypothese uns dazu verleitet: (1) die distinkte Identität, Unverwechselbarkeit und Irreduzibilität einer Vielzahl von Erfahrungsaspekten zu negieren, (2) den Umfang eines bestimmten Aspekts des erschaffenen Kosmos einzuschränken, oder (3) die Unterbrechung der Kontinuität und Interdependenz aller Aspekte als vollständig anstatt als bloss partiell und damit als Produkt einer menschlichen Abstraktionsleistung zu betrachten. An dieser Stelle angelangt, wurde ich von meinen Studenten und Studentinnen immer wieder gefragt, ob diese Leitprinzipien nicht auch unabhängig vom Glauben an Gott übernommen werden können. Viele von ihnen haben diese Prinzipien im Vergleich mit der endlosen Parade der Reduktionismen der west­lichen Philosophie äusserst attraktiv gefunden. Aber sie waren ernsthaft besorgt, dass die Annahme dieser Prinzipien den Gottesglauben voraussetzen könnte. Deshalb äusserten sie die Hoffnung, diesen Denkansatz ohne den Glauben an Gott weiterverfolgen zu können, in welchem Fall die unauflösliche Verbindung zwischen religiösen Prämissen und Theorien doch nicht unauflöslich wäre! Meine Antwort auf diese Frage war, dass die Verbindung nicht etwa so zu verstehen ist, dass beide Überzeugungen äquivalent wären oder auf derselben Stufe stünden. Obwohl der Glaube an Gott einen nicht-reduktiven Denkansatz erforderlich macht, gilt das Umgekehrte nicht. Der Grund dafür ist einfach: Es ist logisch möglich, dass sich jemand die Sichtweise zu eigen macht, dass was immer die Verbundenheit der Aspekte garantiert ein unerkennbares X anstatt Gott ist, und jeglichen Reduktionismus auf dieser Grundlage verwirft. Natürlich ist auch diese Sichtweise noch an die Überzeugung einer transzendenten Realität gebunden – es würde sich nur nicht um den Gott handeln, dessen Bundeshandlungen mit den Menschen in der Bibel bezeugt sind. Dem habe ich aber immer auch hinzugefügt, dass obwohl eine solche Auffassung logisch denkbar ist, sie doch keine existentiell „lebendige Option“ darstellt. Der Grund dafür ist nicht in einem weiteren theoretischen Argument zu suchen, sondern in der religiösen Natur menschlicher Lebewesen. Jemand kann wohl versuchen, alle Aspekte als gleichermassen real und wechselseitig irreduzibel zu betrachten, und zwar auf dem Boden der Annahme, dass ihr Seinsgrund sie alle transzendiert und völlig unerkennbar ist. Doch ist es nicht realistisch anzunehmen, dass sich diese Person über lange Zeit mit einem solch unerkannten und unerkennbaren X zufrieden gibt. Die angeborene religiöse Disposition des menschlichen Herzens zeigt sich gerade darin, dass irgend eine vermeintliche Realität, die eine minimale Beschreibung erfüllt, als göttlich erfahren wird. Und wenn sich die Ladung dieser Disposition nicht in

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der Anerkennung einer transzendenten Realität entlädt, dann eben in der Anerkennung einer innerweltlichen Realität. Der zweite Fall hat zur Folge, dass der Rest des Kosmos auf eben diese Realität zurückgeführt wird. 11.4

Die Natur der Dinge

A. Natürliche Dinge An dieser Stelle sollten wir auf die erfahrbaren Unterschiede im Wesen der Dinge zurückkommen. Wir beginnen mit natürlichen Dingen, im Kontrast zu Artefakten, und schauen, ob wir eine unseren Leitprinzipien konforme Darstellung ihres Wesens geben können. Wir haben mehrmals betont, wie unsere vortheoretische Auffassung eines Gegenstandes einen bestimmten Aspekt als diesen Gegenstand „stärker bestimmend“ hervorhebt. Wir haben dies damit erklärt, dass die Dinge jeweils durch einen bestimmten Aspekt „qualifiziert“ sind. Dieser Ansatz kann nun weiter entfaltet werden: Der qualifizierende ­Aspekt eines Gegenstandes ist derjenige Aspekt, dessen Gesetze die interne Orga­­nisation des Gegenstandes als Ganzen normieren. Die Erklärung unserer vortheoretischen Intuitionen greift also auf deren Zusammenhang mit dem jeweiligen Aspekt zurück, dessen Gesetze die Kontrolle über die Selbst­ organisation der Gegenstände innehaben; Gegenstände, die wir „physisch“, „­ lebendig“, „empfindend“, „logisch“, etc. nennen. Solche vortheoretischen Klas­sifika­tionen sind jedoch strikt von der Hypothese zu unterscheiden, dass diese Dinge exklusiv physischer, biotischer oder welcher Natur auch immer seien, oder dass die Eigenschaften und Gesetze jener Aspekte die anderen modalen Eigenschaften und Gesetze verursachten, die von den so klassifizierten Dingen manifestiert werden. Schauen wir uns also etwas genauer an, was damit gemeint ist, dass die Gesetze des qualifizierenden Aspekts eines Gegenstandes die führende Rolle im Aufbau des Gesamtgegenstandes übernehmen. Wenn wir den quantitativen, räumlichen oder physischen Aspekt eines Baumes betrachten, bemerken wir, dass sie nicht dessen modale Charakterisierung ausmachen, die unserer vortheoretischen Intuition der Natur des Baumes am nächsten kommt. Doch wenn wir zum biotischen Aspekt des Baumes kommen, haben wir den Aspekt gefunden, dessen Gesetze die interne Organisation und Entwicklung des Baums als Ganzem anleiten. Es sind die biotischen Gesetze, die die Gesamtorganisation seiner Teile, seiner internen Relationen und seiner Prozesse regulieren, sowie der strukturellen Verbindungen der Eigenschaften all dieser Dinge. Deshalb stimmt es auch mit unserer vortheoretischen Erfahrung der Natur des Baumes überein, wenn wir sagen, dass wir es mit einem Lebewesen zu tun

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haben. Das heisst nichts Anderes, als dass die Natur des Baumes durch den biotischen Aspekt „stärker charakterisiert“ wird als durch seinen räumlichen oder physischen Aspekt. Zudem korrespondiert dieser Teil unserer Ausführungen mit der Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Funktionen der Gegenstände. Jene Unterscheidung anerkannte eine sequentielle Ordnung der Aspekte bezüglich der Erscheinung aktiver Funktionen in den Dingen selbst. Es ist deshalb von Bedeutung, dass in jedem Beispiel, das wir uns ausdenken können, der qualifizierende Aspekt auch der letzte Aspekt in jener Reihenfolge (der höchste auf unserer Liste) ist, in dem der Gegenstand aktiv funktioniert. Der Fels ist durch den physischen Aspekt qualifiziert, der den höchsten Rang in der Reihenfolge einnimmt, innerhalb derer ein Fels aktive Funktionen hat. Die Tatsache, dass er in allen anderen Aspekten bloss passive Eigenschaften besitzt ist teilweise dafür verantwortlich, dass unsere Intuition der Natur des Felsens am stärksten auf dessen physischen Aspekt abzielt. Im Gegensatz dazu ist die qualifizierende Funktion der Pflanze deren biotische Funktion, da es die biotischen Gesetze sind, die die übergeordnete Rolle in der Selbstorganisation und den Prozessen einer Pflanze einnehmen. Hier ist es der biotische Aspekt, der zuoberst in der modalen Reihenfolge figuriert innerhalb derer eine Pflanze aktiv funktioniert. Hier zeigt sich eine markante Übereinstimmung zwischen unserer Intuition der höchsten aktiven Funktion eines Gegenstandes und seiner „qualifizierenden Funktion“, gemäss der Bedeutung, die dieser Ausdruck im kosmonomischen Wirklichkeitsverständnis hat. Es steht nicht genügend Raum zur Verfügung, um diese Korrespondenz auf hunderte von Beispielen anzuwenden. Doch weil das andernorts schon geleistet wurde,15 und weil es keine überzeugenden Gegenbeispiele zu geben scheint, soll diese Übereinstimmung fortan als Teil des Begriffs der qualifizierenden Funktion eines Gegenstandes betrach­tet werden. Die vollständige Definition dieses Begriffs ist deshalb wie folgt: Derjenige Aspekt, dessen Gesetze die übergeordnete interne Struktur und Entwicklung eines Gegenstandes als Ganzem bestimmen, und der zuoberst in der modalen Reihenfolge figuriert, innerhalb dessen der Gegenstand aktiv funktioniert. Diese Formulierung umfasst sowohl unsere vortheoretische Intuition der Natur eines Gegenstandes, die am stärksten durch den „höchsten“ Aspekt charakterisiert wird, in dem dieser Gegenstand aktive Eigenschaften hat, als auch die theoretische Reflexion, mittels derer die Art von Gesetz bestimmt wird, die die über­ge­ordnete Führung und Kontrolle der internen Struktur des Gegenstandes als Ganzem übernimmt. An dieser Stelle ist es wichtig zu sehen, dass die Übereinstimmung zwischen dem Aspekt, den wir intuitiv als wesensentscheidend für einen 15

H. Dooyeweerd, New Critique, vol. 3, 53-153.

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Gegenstand erfahren, und der Art von Gesetzen, die für seinen Gesamtaufbau verantwortlich zeichnen, nicht einfach durch unsere Theorie stipuliert wird. Vielmehr handelt es sich um eine Voraussage dieser Theorie, die durch philosophische und empirische Analyse verschiedenartiger Gegenstände und Ereig­nisse bestärkt oder entkräftet werden kann – solange die Analyse unsere nicht-reduktiven Leitprinzipien respektiert. Der Begriff der qualifizierenden Funktion zielt deshalb auf eine Wesensbestimmung der Dinge, die einerseits nicht-reduktiv ist, andererseits durch empirische Forschung bestätigt werden kann. Unsere bisherigen Erläuterungen des Begriffs der qualifizierenden Funktion und der Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Eigenschaften stellen allerdings nur gerade den Anfang einer nicht-reduktiven Theorie der Dinge dar. Für sich genommen sind sie noch nicht spezifisch genug. Denn indem gesagt wird, dass die qualifizierende Funktion eines Baumes biotisch ist, hat unsere Theorie die Frage noch nicht beantwortet, was den Baum von einer anderen Pflanze unterscheidet. Da der Begriff der qualifizierenden Funktion nicht mehr als eine grobe Annäherung an das Wesen der Dinge darstellt, ­brauchen wir ein feineres Begriffsraster, um den Unterschied zwischen verschiedenen Gegenstandstypen, die dieselbe qualifizierende Funktion haben, bestimmen zu können. Die begriffliche Erweiterung unserer Theorie fällt nicht schwer, wenn wir uns auf die Diskussion der Erscheinungsreihenfolge der aktiven modalen Funktionen zurück beziehen. Die Tatsache, dass unsere Erfahrungsaspekte eine bestimmte Ordnung aufweisen, weist darauf hin, dass es zusätzlich zu den Gesetzen, die innerhalb eines bestimmten Aspekts gelten, auch intermodale Gesetze gibt. Die Gesetze dieser intermodalen Ordnung werde ich im Folgenden „Typengesetze“ nennen. Ihr Geltungsbereich umfasst die verschiedenen Aspekte, da sie die Kombination verschiedener modaler Eigenschaften regulieren, aus der spezifische Typen von Gegenständen und Ereignissen entstehen.16 16

Was ich hier „Typengesetze“ genannt habe, nennt Dooyeweerd „Individualitätsstrukturen“, die er als die Ermöglichungsbedingungen für „das typische Arrangement der [...] Aspekte innerhalb eines strukturellen Ganzen“ bezeichnet (siehe New Critique, vol. 3, 78–153). Ich habe diesen Ausdruck geändert, weil „Individualitätsstruktur“ leicht dahingehend missverstanden werden kann, dass damit die faktische Organisation von bestimmten Individuen bezeichnet werden soll – wobei doch die Gesetze, die die Organisation von Eigenschaften innerhalb eines Typs von Individuum ermöglichen, den wir in der Welt entdecken, gemeint sind. (Wie schon früher angemerkt, hat Dooyeweerd diese Idee vielleicht von Calvin übernommen, der vom „Gesetz der Schöpfung“ spricht, das die „bestimmte Natur jeder Klasse von Entitäten“ bestimmt (siehe Institutiones II, ii, 16). Es

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Der Begriff des Typengesetzes kann nun den Begriff der qualifizierenden Funktion eines Gegenstandes ergänzen, und so zu einer adäquateren Beschreibung der Natur desjenigen Typs beitragen, unter den ein bestimmter Gegenstand fällt. Die biotische Qualifikation eines Baumes kann so mit der distinkten Organisationsstruktur seiner Teile und Funktionen gekoppelt werden, die ihn zu einem Apfelbaum anstatt zu einem Steinpilz oder zu einem Gänseblümchen machen. (Natürlich können die von den jeweiligen Typengesetzen festgelegten Strukturen und Entwicklungsmöglichkeiten nicht im voraus erkannt werden; deren Entdeckung hängt vielmehr von empirischen Analysen der jeweiligen Phänomene ab). In diesem Sinn schlägt das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis ein überaus komplexes Netzwerk von Gesetzen vor. Neben den alltäglichen Ursache-Wirkungs Verhältnissen, umfasst dieses Netzwerk sowohl modale Gesetze, die die notwendigen Relationen zwischen ­Eigen­schaften innerhalb der verschiedenen Aspekte festlegen, als auch Typengesetze, die die strukturellen Kombinationen von Eigenschaften verschie­dener Aspekte normieren, durch die Myriaden spezifischer Typen von Gegenständen und Ereignissen im Kosmos möglich werden. Die ineinander greifende Regulierung durch die beiden letztgenannten Arten von Gesetzen sind diejenigen Elemente unserer Theorie, die eine adäquate Beschreibung und Erklärung der Natur der Dinge ermöglichen. Das heisst, unser Verständnis der qualifizierenden Funktion eines Gegenstands in Kombination mit der Analyse seines Strukturtyps gibt uns die Erklärung unserer vortheoretischen Intuition seiner Natur. (Die weiterführende Erörterung der Bedeutung von Typengesetzen wie der restlichen Begrifflichkeit unserer Theorie wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen). Die bisherige Skizze des kosmonomischen Wirklichkeitsverständnis ermöglicht uns nun, einen weiteren wichtigen Punkt anzudenken, der zwar im Gesagten angelegt ist, aber noch nicht explizit gemacht wurde. Es ist ein Punkt, an dem sich die Wege zwischen unserer Theorie und den verbreiteten sollte auch angemerkt werden, dass Typengesetze die Eigenschaften einer Entität in starrer Weise verbinden, was deren Eigenschaften innerhalb der niedrigeren Aspekte auf der Liste betrifft (rigide Gesetze können von Kreaturen nicht verletzt werden). So gibt es keine Variation in der Art, wie mathematische, kinetische oder physische Eigenschaften in Entitäten desselben Typus verbunden sind. Aber Eigenschaften von Aspekten, die eine normative Ordnung aufweisen (d.i. eine Ordnung, die nicht starr ist, sondern von den Kreaturen verletzt werden kann), sind auf nicht-rigide Art in den Entitäten dieses Typs verbunden. Daher gibt es deformierte Gänseblümchen oder Schweine, so wie es deformierte Kulturen, Sätze, Familien, Staaten, Statuen, Kunst etc. gibt, die nichtsdestotrotz Gänseblümchen, Schweine, Kulturen, Sätze etc. sind. Dieser Punkt wird ausführlicher in den nächsten Kapiteln erklärt.

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reduktionistischen Theorien – einschliesslich derer, die von den meisten theistischen Denkern adaptiert werden – einmal mehr trennen. Obwohl ich hier nur kurz auf ihn eingehen kann, sollte eine knappe Darstellung genügend Licht auf die einzigartigen Ausrichtung unserer Theorie werfen; darauf, wie und warum die biblischen Grundlagen unserer Theoriebildung diese entlang bestimmten Richtungen vorantreiben und andere Wege vermeiden kann. Die spezifische Eigenheit unserer Theorie, auf die ich abzielen möchte, besteht darin, dass die Natur der Dinge beschrieben und erklärt werden kann, ohne auf die Vorstellung zurückgreifen zu müssen, dass die Dinge eine „Substanz“ haben. Die Überwindung dieser Vorstellung schöpft ihre ursprüngliche Kraft aus dem biblischen Zeugnis, dass nichts in der Schöpfung unabhängig existiert, und dann aus dem Nachweis, dass die „Unabhängigkeitserklärung“ eines bestimmten Aspekts nicht mit Argumenten untermauert werden kann. Das führt uns zu der Einsicht, dass nichts in den Geschöpfen existiert, das sie zu dem macht was sie sind. Gott allein ist es, der die Dinge zu dem macht, was sie sind. Das grundlegendste Charakteristikum aller erschaffenen Realität besteht darin, in jeder Hinsicht von Gott abhängig zu sein. Folgerichtig schliesst unsere Theorie der Natur der erschaffenen Dinge und Ereignisse jeglichen Substanzbegriff aus. Vielmehr bestimmt sie jedes Ding als individuelle Gesamtstruktur von Eigenschaften, die durch ein Typengesetz zustande kommt und durch diejenigen modalen Gesetze zentral qualifiziert ist, die die innere Organisation oder „Architektur“ des Gegenstandes steuern.17 Da kein Aspekt eines erschaffenen Gegenstandes dessen Substanz ausmacht – dasjenige, wovon alle seine anderen Aspekte abhängen – ist es nach unserer Auffassung grundfalsch, einen Gegenstand oder ein Ereignis als etwas zu denken, das über eine individuelle, gesetzes- oder normgesteuerte Einheit all seiner Eigenschaften hinausgeht. Hier stossen wir auf eine weitere Konsequenz unserer Zurückweisung des reduktionistischen Programms, das eine oder zwei modale Arten von Eigenschaften zum Wesen der Dinge erhebt, und den Rest als etwas zurücklässt, das den Dingen bloss „anhaftet“ (oder überhaupt nicht existiert). Deshalb weisen wir auch die Vorstellung zurück, dass die vermeintliche Substanz eines 17

Von einer Entität als individueller Gesamtstruktur aller seiner Eigenschaften zu reden, heisst nicht die Tatsache auf die leichte Schulter zu nehmen, dass Entitäten aus Teilen aufgebaut sind. Vielmehr reflektiert diese Redeweise die Lektion, die uns die moderne Philosophie gelehrt hat, dass nämlich die kontinuierliche Analyse von Teilen in der ­Analyse von Eigenschaften endet. Wir unterscheiden uns von der Art und Weise, wie die ­Lektion in Theorien, die im paganen Denken wurzeln, angewendet wird, darin, dass diese darauf bestehen, dass der eine Aspekt oder dass zwei Eigenschaftsarten alle anderen Eigen­schaftsarten ermöglichen (oder letztere darauf zurückgeführt werden können), während wir behaupten, dass kein Aspekt dies leistet.

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Gegenstandes diesen „wesentlich“ konstituiert und all seine anderen Eigenschaften erzeugt. Vielmehr sagen wir, dass ein konkretes Ding die individuelle Kombination von Eigenschaften verschiedener modaler Arten ist, und durch bestimmte im Kosmos geltenden Gesetze zu dem Typ spezifiziert wird, den es realisiert.18 B. Artefakte Bis anhin habe ich die eingeführten Begriffe des kosmonomischen Wirklichkeitsverständnisses nur auf natürliche Dinge angewendet. Wir haben mit ihnen begonnen, weil die Natur von Artefakten komplizierter ist, als dass sie durch die qualifizierende Funktion ihres natürlichen Materials hinreichend erfasst wäre. Dieser Mangel kann auch nicht dadurch behoben werden, dass die Typengesetze der materialen Bestandteile hinzugefügt wird. Denn die 18

Die religiöse Grundlage für diesen Punkt wurde weiter oben bereits dargelegt, siehe bes. das Zitat von Gregor Palamas (Anmerkung 13 im 10. Kapitel). Weitere Konsequenzen ­dieser Sicht beinhalten Folgendes: Es sind die Typengesetze, in Verbindung mit den Aspekt-Gesetzen, die festlegen, welche Dinge real möglich sind. Aspektspezifische Möglich­keiten allein für sich können dies nicht leisten – nicht einmal die logische Mög­ lichkeit, wie oftmals angenommen wurde. Die blosse Abwesenheit von logischen Wider­ sprüchen in einem Begriff zeigt nicht, dass er mit einer möglichen Entität oder einem möglichen Sachverhalt korrespondiert. So kann beispielsweise der Begriff eines quadratischen Kreises entfaltet werden als der einer geschlossene Figur mit vier gleichlangen Seiten und vier gleichgrossen Innenwinkeln, deren Umfang an jedem Punkt gleichweit vom Zentrum entfernt ist. Darin findet sich kein streng logischer Widerspruch; die Inkohärenz liegt vielmehr in der räumlichen Inkompatibilität, die behauptet wird, die nicht durch Logik allein entdeckt werden kann. Daher ist ein quadratischer Kreis nicht logisch, sondern räumlich unmöglich. Man kann auch an Leibniz’ Schlussfolgerung denken, dass es keine wirkliche Beschränkung von Geschwindigkeit gibt, weil es keine logische Beschränkung gibt, die einer ständigen Geschwindigkeitszunahme entgegensteht. Aber diese fehlende logische Beschränkung hebt nicht das Bestehen einer wirklichen physischen Grenze auf, wie die Relativitätstheorie gezeigt hat. Daher ist die Tatsache, dass es uns möglich ist, den Begriff eines sprechenden Steins ohne Selbstwiderspruch zu bilden, nicht gleichbedeutend mit der realen Möglichkeit einer solchen Entität; die Begriffsbildung mag möglich sein, aber die konzipierte Entität noch lange nicht. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass die Tatsache, dass kein Typengesetz eine solche Entität ermöglicht, nicht gleichbedeutend ist mit deren Unmöglichkeit im üblichen Sinn, nämlich dass solch eine Entität gegen irgendein Gesetz verstossen würde. Ein sprechender Stein ist nicht auf die selbe Art unmöglich wie die gleichzeitige Behauptung von A und nicht-A oder ein quadratischer Kreis. Aus diesem Grund ist „nicht möglich“ in Bezug auf Typengesetze nicht äquivalent mit „unmöglich“. (James Ross verteidigt diese Ansicht auf ähnliche Weise im weiter oben zitierten Aufsatz: “God, Creator of Kinds and Possibilities.”)

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strukturelle Anordnung der Eigenschaften der natürlichen Gegenstände, die als materiale Bestandteile dienen, wird uns nie Aufschluss darüber geben können, was das Neue am Artefakt ist – darüber also, was aus dem natürlichen Material geworden ist. Unabhängig davon, ob es sich um ein menschliches oder tierisches Artefakt handelt, müssen wir unsere Darstellung der Natur eines Gegenstandes über dessen qualifizierende Funktion hinaus erweitern, so dass erklärt werden kann, was die Gesamtnatur des Artefakts von seinen materialen Bestandteilen abhebt. Ein Beispiel: Der Fels oder die Erde, die den Unterschlupf oder die Höhle des Tieres umgibt, würde, für sich selbst betrachtet, nicht mehr als physische Qualifikation besitzen. Doch sobald die natürliche Umwelt den biotischen oder sensorischen Bedürfnissen des Tieres angepasst oder transformiert wurde, gewinnt sie eine zusätzliche Qualifikation, obwohl sie im biotischen und sensorischen Aspekt nur passiv funktioniert. Wenn wir nicht bemerken, dass eine solche Anpassung oder Transformation stattgefunden hat, nehmen wir die Erde oder den Felsen nicht als die Höhle eines Tieres wahr; es entgeht uns, was daraus geworden ist. Unser Begriff der qualifizierenden Funktion eines Gegenstandes muss erweitert werden, so dass er auch die qualifizierende Funktion des Anpassungs- oder Transformationsprozesses, dem der Gegenstand unterliegt, in sich aufnimmt. So wird es notwendig sein, dass unsere Theorie die modale Qualifikation eines tierischen Artefakts auf mindestens zwei Aspekte verteilt. Wir werden den Aspekt, in dem das natürliche Material des Artefakts seine höchste aktive Funktionen besitzt, die Basisfunktion des Artefakts nennen, und den Aspekt, dessen Gesetze den Transformationsprozess anleiten, die Leitfunktion des Gegenstandes. Wenn der Biber aus Lehm, Zweigen und anderen Materialen ein Haus baut, ist die qualifizierende Funktion dieser Materialen in ihrem natürlichen Zustand bloss physischer oder biotischer Art. Als dessen Erzeugnis hat die Behausung des Bibers jedoch eine sensorische Funktion dazu gewonnen, weil das Verhalten des Bibers durch sensorische Instinkte und Bedürfnisse geleitet ist (Schutz, Wärme, Nest für die Jungen, usw.). Deshalb werden wir sagen, dass das Biberhaus durch eine physische oder biotische Basisfunktion ausgezeichnet ist, und der Prozess seiner Herstellung durch sensorische Empfindungen und Bedürfnisse angeleitet wird. Das Biberhaus hat also eine sensorische „Leitfunktion“. Der Unterschied zwischen Artefakten und natürlichen Gegenständen besteht in der Tatsache, dass Artefakte zusätzlich durch eine aktualisierte passive Funktion qualifiziert sind (ihre Leitfunktion), und nicht durch eine „höchste“ aktive Funktion wie natürliche Dinge.

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Auch im Fall menschlicher Artefakte werden vorfindliche natürliche Materialien zu etwas Neuem transformiert, dessen Natur nicht ohne Ergänzung der qualifizierenden Funktion dieser Materialien verstanden werden kann. Auch hier müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf den Aspekt lenken, dessen Gesetze die Art von Transformationsprozess anleiten, dem die Materialien unterzogen wurden. Steine in ihrem natürlichem Umfeld haben zum Beispiel nicht mehr als eine physische qualifizierende Funktion; durch menschliche Anstren­ gung können sie jedoch zu einem Haus werden. Wenn die neue Anordnung der Steine nicht als Produkt einer menschlichen Kulturleistung wahrgenommen wird, können sie auch nicht als Bestandteile eines Hauses erfahren werden. Doch anders als die Produktionsweise der meisten Tiere, ist die formative Kompetenz des Menschen über natürliche Materialien nicht einfach durch sensorische Instinkte bestimmt. Menschen verarbeiten vorfindliche Materialien gemäss einem frei konzipierten logischen Plan. (Es wurde schon darauf hingewiesen, dass möglicherweise auch einige Tiere über Begriffe verfügen, und deshalb scheinbar einfache Artefakte planen können). Dementsprechend werden wir unsere Begriffe der Basis- und der Leitfunktion verschieben müssen. Im Fall von geplanten Artefakten wird derjenige Aspekt, dessen Gesetze die Kontrolle über den Herstellungsprozess übernehmen, die Basisfunktion dieser Gegenstände ausmachen, derweil derjenige Aspekt, dessen Gesetze die Art von Plan normieren, nach dem etwas transformiert wird, die Leitfunktion bestimmt. Zusammenfassend: Im Fall von tierischen Erzeugnissen haben wir den Ausdruck „Basisfunktion“ zur Bezeichnung des höchsten Aspektes verwendet, in dem das natürliche Material eine aktive Funktion hat. Doch weil menschliche Produktionskraft die Natur eines Artefakts zusätzlich qualifiziert, müssen wir unsere Terminologie anders anwenden. Menschliche Produkte zeichnen sich nicht nur durch die Art des Transformationsprozess aus, aus dem sie hervorgehen, sondern ebenso durch die Art des Plan, der diesen Prozess steuert. Von diesen beiden sollte allein die modale Qualifikation des Plans als „Leitfunk­ tion“ des Artefakts bezeichnet werden. Dementsprechend nennen wir den ­Aspekt, der den Herstellungsprozess qualifiziert, die „Basisfunktion“ des erzeugten Gegenstandes – “basal“ deshalb, weil dieser Prozess unabdingbares Mittel zur Realisierung des Plans ist. Wie können wir nun ermitteln, welcher Aspekt die Basisfunktion eines bestimmten menschlichen Produkts qualifiziert? Die Antwort auf diese, wie auf so viele andere Fragen, die man hinsichtlich der modalen Qualifikation der Dinge stellen kann, lässt sich nicht aus unserer Theorie ableiten, sondern geht allein aus der Untersuchung des jeweiligen Erfahrungsgegenstandes hervor. Darum können wir hier auch nicht einfach annehmen, alle „künstlichen“

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Gegenstände hätten dieselbe Basisfunktion. In Übereinstimmung mit unseren früheren Erläuterungen der Bedeutung der verschiedenen modalen Grundbegriffe, können wir dennoch vermuten, dass der Herstellungsprozess der meisten menschlichen Artefakte ein „kultureller“ oder „technischer“ Prozess ist (im nächsten Kapitel werden wir einige Ausnahmen diskutieren). Im Fall unseres Beispiels eines Hauses ist deutlich, dass die Verarbeitung der vorliegenden Materialien immer an die Realisierung eines technischen Plans gebunden ist. Ausserdem ist schwer zu sehen, wie die Konstruktion eines Hauses jenseits aller stilistischen Faktoren geschehen könnte, die aus dem Repertoire einer bestimmten Zeit und Kultur herangezogen werden und/oder zu diesem Repertoire beitragen. Was also ist die Leitfunktion eines Hauses? Ein plausibler Vorschlag lautet, dass sie biotischer Art ist. Ohne Zweifel erfüllt ein Haus bestimmte biotische Bedürfnisse des Menschen. Häuser würden anders gebaut, wenn unsere Körper ganz anders wären als sie es sind. Doch ein Haus bietet mehr als blossen biotischen Schutz; darin unterscheidet es sich von einem Unterstand oder einer einfachen Hütte. Vielmehr bietet es auch Raum für soziale Interaktion und widerspiegelt das soziale Bedürfnis nach Privatsphäre. Die Grösse, Form und Anordnung der Zimmer weist oft auf den unterschiedlichen sozialen Status ihrer Bewohner oder Benutzer hin. Wäre seine Konstruktion nicht von solchen sozialen Erwägungen geleitet, würde ein Gebäude eben nicht als Haus bezeichnet werden. Aus diesen Gründen können wir sagen, dass die Basisfunktion eines Hauses historisch-kultureller, seine Leitfunktion aber sozialer Art ist. Die Leitfunktion menschlicher Artefakte ist natürlich von Fall zu Fall verschieden, und kann nur durch eingehende Analysen des jeweiligen Gegenstandes bestimmt werden. Die Basis- und Leitfunktionen sind in solchen Analysen jedoch immer als Korrelate aufzufassen, da keine der beiden verstanden werden kann ohne die andere. Beide zusammen fliessen sie in die Analysen ein, durch die wir ein besseres Verständnis der Natur eines bestimmten Artefakts gewinnen können. Aus Platzgründen ist es mir nicht möglich, an dieser Stelle eine grosse Anzahl von Beispielen anzuführen, um die Angemessenheit dieser dreiteiligen Unterscheidung im Fall von Artefakten zu demonstrieren.19 Dennoch möchte 19

Dooyeweerd hat diese Theorie benutzt, um eine Analyse der Stationen in der Entwicklung des Holzes eines Baumes zu geben, von dessen biotischen Qualifikation als natürliches Ding hin zur Formung des Stammes zu Brettern und schliesslich der Verarbeitung der Bretter zu Teilen eines Endprodukts wie z.B. eines Sessels (New Critique, vol. 3, 129– 32). Ich kenne wenige andere Philosophen, die auch nur den Versuch eines solchen Projektes angestrengt haben, und keiner davon mit Erfolg. Dooyeweerd gibt ebenfalls eine

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ich noch einige erwähnen. Schauen wir uns ein Buch an: Es hat eine historische Basisfunktion und eine linguistische Leitfunktion. Die im Buch abgedruckten Gedichte haben hingegen eine historische Basisfunktion und eine ästhetische Leitfunktion. Ebenso verhält es sich mit einem Gemälde, einer Skulptur oder einem Musikstück. Ein Warenhaus mit seinen Anlieferungsplattformen und Lagerhallen bringt eine spezifische Absicht zum Ausdruck, die die Konstruktion des Gebäudes geleitet hat. Die Schalterhallen und Tresorräume einer Bank manifestieren eine andere Absicht. Doch obwohl es sich um verschiedene Typen von Artefakten handelt, sind beide von einer ökonomischen Intention geprägt. Beide Gebäude haben eine gemeinsame ökonomische Leitfunktion. Im Gegensatz dazu haben Kirche, Synagoge und Moschee eine Struktur, die die fiduziäre Leitfunktion des Glaubensvollzugs zum Ausdruck bringen. Dies sind ein paar Beispiele, wie der komplizierteren Natur von Artefakten durch eine Kombination unseres erweiterten Begriffs der qualifizierenden Funktion eines Gegenstandes und dessen Typengesetz Rechnung getragen werden kann. Meines Erachtens zeigen diese Beispiele, warum die Natur menschlicher Artefakte nicht nur in Begriffen ihrer Basis- und Leitfunktion beschrieben werden kann. Eine adäquate Beschreibung muss auch ­berücksichtigen, wie die auf die verschiedenen Aspekte verteilten modalen Funktionen eines bestimmten Artefakts durch typenspezifische Gesetze gebündelt werden. Erst dann ist der Typ von Gegenstand erfasst, mit dem wir es zu tun haben. Weiter oben habe ich darauf hingewiesen, dass nach unserer Theorie einer der Unterschiede zwischen Artefakten und natürlichen Gegenständen darin besteht, dass die Leitfunktion von Artefakten passiv statt aktiv sind. Es gibt aber noch einen weiteren Unterschied, der die Leitfunktion betrifft: Die ausführliche Analyse des Wesens eines Buches und kontrastiert diese mit dem gescheiterten Versuch des Aristoteles (ibid., 3, 150–53). Dooyeweerds Werke sind ursprünglich auf Niederländisch verfasst und werden von Edwin Mellen Press, Lewiston, N.Y., Queenston, Ontario, und Lampeter, UK ins Englische übersetzt. Derzeit sind erhältlich: A New Critique of Theoretical Thought (3 vols.), In the Twilight of Western Thought, Roots of Western Culture, Roots of Western Culture: Pagan, Secular, and Christian Options (Lewiston: Edwin Mellen Press Ltd., 2003); Christian Philosophy and the Meaning of History (Edwin Mellen Press, 1997); Essays in Legal, Social, and Political Philosophy (Lewiston: Edwin Mellen Press, 1996); Encyclopedia of the Science of Law (3 vols.) (Lewiston: Edwin Mellen Press, 2002); und vol. 1 von Reformation and Scholasticism in Philosophy (3 vols.). Die ver­ bleibenden Bände der letztgenannten Arbeit sowie andere kürzere Aufsätze und Monographien werden in Bälde erscheinen. Inzwischen sind die Gesammelte Werke von Dooyeweerd durch Paideia Press, Grand Rapids veröffetlich worden - Herausgeber: D F M Strauss.

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Leitfunk­tion eines Artefaktes muss sich nicht unbedingt höher auf der Aspektenliste befinden als die Basisfunktion, die den Transformationsprozess qua­ lifiziert. Ein Werkzeug, zum Beispiel, zeichnet sich nicht nur durch eine historische (technische) Basisfunktion aus; seine Leitfunktion ist es ebenso, da seine Bestimmung in der Herstellung weiterer Artefakte liegt. Und eine Zahnprothese, obwohl ihre Basisfunktion historisch ist, hat offenkundig eine biotische Leitfunktion. Auch eine Schule ist historisch basiert, hat aber eine logische Leitfunktion. Obgleich Artefakte sehr verschieden sind, kann unsere Theorie diesen Unterschieden volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die hier eingeführte Begrifflichkeit des kosmononomische Wirklichkeitsverständnisses soll im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit einer Theorie menschlicher Gemeinschaftsformen weiter ausgeführt und illustriert werden. Im letzten Kapitel, schliesslich, soll auf dem Boden unseres Wirklichkeitsverständnisses und der darauf aufbauenden, allgemeinen Gesellschaftstheorie eine Theorie einer spezifischen Gemeinschaftsform, des Staates, entworfen werden. Ich bin mir bewusst, dass Gemeinschaften üblicherweise nicht als Artefakte bezeichnet werden wie Bilder oder Häuser. Dennoch ist es angebracht, sie als solche zu betrachten, da auch sie Konkretionen menschlicher Erfindungsgabe und bildender Macht sind. Sie sind so real wie andere Artefakte, obwohl sie im Unterschied zu nicht-menschlichen Erzeugnissen in allen Erfahrungsaspekten aktive Funktion haben. Zudem besitzen auch sie eine spezifische Natur, die sich hinsichtlich ihrer Basis- und Leitfunktion analysieren lässt, und ein Typengesetz, das ihre spezifische Struktur ermöglicht. Unsere Theorie wird sie deshalb als Artefakte behandeln; das heisst, ihr konkretes Wesen durch Klärung der Basis- und Leitfunktion, und der typenspezifischen Verbindungen zwischen diesen, zu erhellen versuchen. Die Vorgehensweise wird die sein, dass wir zunächst klären müssen, welche Sicht der Gesamtgesellschaft unsere Theorie zusammenhängender aber wechselseitig irreduzibler Aspekte zeichnet. Das wird uns ein gesellschaftliches Prinzip an die Hand geben, um in einer allgemeinen Weise die angemessenen Rollen und Verhältnisse, die die verschiedenen Arten von menschlichen Gemeinschaften in der Gesellschaft zu einander einnehmen sollten, bestimmen zu können. In Kapitel dreizehn werden wir dann die spezifische innere Natur des Staates, gemäss seinem Typengesetz, etwas genauer anschauen. Auf diesem Weg gelangen wir zu zentralen Einsichten in die Rolle des Staates in der Gesamtgesellschaft, was uns wiederum ermöglicht, genauere Vorstellungen seiner Pflichten und Grenzen zu gewinnen – Pflichten und Grenzen, die nicht von aussen, durch andersartige Institutionen, an den Staat herangetragen werden, sondern in dessen Wesen selbst verankert sind.

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11. Kapitel

Da die folgenden Kapitel über Gesellschaft und Staat umfassenden Gebrauch der eingeführten Terminologie machen werden, und diese Terminologie den meisten Lesern und Leserinnen fremd sein dürfte, ist es angebracht, dieses Kapitel mit einem kurzen Glossar der neuen Begriffe zu beschliessen. Es folgt also eine knappe Übersicht über die bisher eingeführten Begriffe der kosmonomischen Perspektive: 1. Modaler Aspekt: Eine grundlegende Art von Eigenschaft oder Gesetz. 2. Aktive Funktion: Die Art und Weise wie ein Gegenstand (Ereignis, Sachverhalt, Person, usw.) durch die Gesetze eines Aspektes reguliert ist, dergestalt dass die Eigenschaften des Gegenstandes in diesem Aspekt unabhängig von der Aktualisierung durch andere Dinge auftreten. In jedem Aspekt, mit Ausnahme des quantitativen, räumlichen und kine­ tischen, zeigen sich die aktiven Funktionen eines Gegenstandes in den Wirkungen, die er auf andere Dinge ausübt. 3. Passive Funktion: Die Art und Weise wie ein Gegenstand durch die Gesetze eines Aspektes reguliert ist, dergestalt dass die Eigenschaften des Gegenstandes in diesem Aspekt bloss potentieller Art sind, wenn sie nicht durch etwas Anderes aktualisiert werden, das eine aktive Funktion im selben Aspekt hat. 4. Qualifizierende Funktion: Derjenige Aspekt eines Gegenstandes, dessen Gesetze die interne Organisation oder „Architektur“ und/oder Entwicklung des Gegenstandes als Ganzem steuern. In natürlichen Dingen ist dies auch der höchste Aspekt, in dem der Gegenstand aktiv funktio­ niert. 5. Basisfunktion: Derjenige Aspekt, dessen Gesetze entweder das natürlicher Material der (meisten) tierischen Artefakte, oder den Transformationsprozess qualifizieren, durch den (bestimmte tierische und) alle menschlichen Artefakte entstehen. 6. Leitfunktion: Derjenige Aspekt, dessen Gesetze (oder Normen) den Plan und die Bestimmung ausmachen, der den Herstellungsprozess eines Artefaktes angeleitet hat. Es sollte hinzugefügt werden, dass der im Begriff der Leitfunktion enthaltene Begriff des Zwecks nicht irgendeinen beliebigen Einfall meint, wie ein bestimmtes Artefakt, wenn es einmal entstanden ist, auch noch verwendet werden könnte. Natürlich kann eine Teetasse auch als Aschenbecher, oder ein Stuhl als Stehleiter verwendet werden. Der Begriff der Leitfunktion umfasst jedoch vielmehr die modale Qualifizierung des Plans, aufgrund dessen das Artefakt realisiert wurde, der in der Struktur des Gegenstandes verkörpert ist,

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und der das spezifische Typengesetz des Gegenstands reflektiert. Die Art der Bestimmung, die hier gemeint ist, kann demnach als „strukturelle Bestimmung“ bezeichnet werden. Sie ist unabhängig von späteren, subjektiven Verwendungszwecken, und kann nicht ohne Veränderung des Gegenstands selbst verändert werden. 7. Typengesetz: Gesetze, die aspektübergreifend bestimmen, welche verschiedenen modalen Eigenschaften in einem Individuum auftreten können, und so die individuellen Gegenstandstypen festlegen, die möglich sind.

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12. Kapitel

12. Kapitel

Eine nicht-reduktive Theorie der Gesellschaft 12.1 Einführung Dieses Kapitel beginnt mit der Definition einiger weiterer grundlegender Begriffe, damit diese zur Erarbeitung einer kosmonomischen Gesellschaftstheorie verwendet werden können. Bevor dies geschieht, muss jedoch explizit darauf hingewiesen werden, dass unser Denkansatz von der Anerkennung eines spezifisch sozialen Aspekts unserer Erfahrungswirklichkeit ausgeht. Dies entspricht nicht unbedingt der Art und Weise, wie andere Gesellschaftstheorien konzipiert werden. Viele Theorien beschränken sich auf spezifische Organisationen oder Probleme, anstatt ihren Forschungsgegenstand im Kontext eines eigenständigen Aspekts der menschlichen Erfahrung zu bestimmen – ein Aspekt, der sozialen Status bis hin zu Anstandsnormen und Respekt gegenüber älteren Menschen umfasst. In diesem Zusammenhang sollten wir uns an den weiter oben diskutierten Punkt erinnern, dass die Wirklichkeit der modalen Aspekte weder aus einer Definition noch aus einer Theorie hervorgeht, sondern zunächst einmal Gegenstand unserer intuitiven, direkten Erfahrung ist. Wie bei allen anderen Aspekten würde keine Definition des sozialen Aspekts das Gemeinte jemandem vermitteln können, der nicht schon ein Bewusstsein davon hat. Es ist auf dem Hintergrund dieser Bedeutung von „sozial“, auf dem die in diesem Kapitel erläuterten gesellschaftlichen Beziehungen zu sehen sind. Diese intuitive Bedeutung von „sozial“ betrifft die verschiedenen Interaktionsformen, die zwischen Menschen auftreten. Unser Ansatz geht von dem aus, was die spezifischen Organisationsformen menschlicher Interaktion überhaupt erst möglich macht. In diesem Zusammenhang werde ich insbesondere auf das Phänomen der Autorität zu sprechen kommen, als einem der zentralen Faktoren gesellschaftlichen Zusammenlebens. Um die vielfältigen Formen verstehen zu können, in denen sich dieses Zusammenleben organisiert, wird es wichtig sein, verschiedene aspekt- und typenspezifische Arten von Autorität zu untersuchen, die in diesen Organisationen zum Ausdruck kommen. Obwohl sich der Ausdruck „sozial“ auf irgendetwas beziehen könnte, das zwischen zwei oder mehr Personen geschieht, werde ich mich hier auf die gesellschaftliche Relation der Autorität konzentrieren, wie sie für Gemeinschaften und gesellschaftliche Organisationen typisch ist. Unsere Frage ist, was das

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_013

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kosmonomische Wirklichkeitsverständnis zur Interpretation dieser verschiedenen Autoritätsformen beitragen kann. Der erste Begriff, der einer Klärung bedarf, ist der Begriff der Gesellschaft. Ich verwende diesen Begriff für einzelne Menschen und/oder Gruppen von Menschen in einem der drei folgenden, fundamentalen Verhältnisse: Individuum zu Gruppe, Gruppe zu Gruppe, und Individuum zu Individuum. Gemäss dem vorangegangenen Abschnitt werde ich den Ausdruck „Gruppe“ für eine relativ stabile Verbindung von Menschen verwenden, deren Glieder eine erkennbare Einheit bilden. Nicht berücksichtigt sind also zufällige Menschenansammlungen, wie die an einer Bushaltestelle. Weil der Ausdruck „Gruppe“ aber so vage ist, werde ich zur Bezeichnung einer andauernden sozialen Einheit im Folgenden den Ausdruck „Gemeinschaft“ benutzen.1 Zudem soll, auch dies in Übereinstimmung mit dem vorherigen Abschnitt, die Diskussion auf die ersten beiden Relationen beschränkt werden, die die gesellschaftliche Organisationsformen betreffen. Dies wird den Boden für unsere Diskussion der Natur des Staates im nächsten Kapitel bereiten. Menschliche Gemeinschaften lassen sich entsprechend unserer Terminologie in zwei grundlegende Arten aufteilen, die ich „Institutionen“ und „Organisationen“ nennen werde. Allein die beständigsten sozialen Gemeinschaften werden im Folgenden Institutionen genannt; das sind Gemeinschaften, die alle drei aufgezählten Merkmale aufweisen: (1) Deren Mitglieder sind durch intensive Banden verbunden; (2) Mitgliedschaft zielt darauf ab, ein Leben lang zu währen; (3) Mitgliedschaft ist (zumindest partiell) unabhängig vom Willen des Mitglieds. Die Gemeinschaften, die diese Merkmale aufweisen, sind: Ehe, Familie, Staat, und Religionsgemeinschaften wie Tempel, Moschee oder ­Kirche.2 Mitgliedschaft in einer Institution kann auf zwei verschiedene Weisen vom Willen des Mitglieds unabhängig sein. Erstens sind die meisten Menschen in 1 Dies bezieht sich, ich wiederhole, auf organisierte Gemeinschaften – Gemeinschaften mit einer offiziellen Führung –, und nicht auf unorganisierte oder solche, die lediglich einen charismatischen Anführer haben. Meine Verwendung des Begriffs „Gemeinschaft“ (community) ist nicht derselbe wie derjenige, der in der Rede von der „Gemeinschaft der Schwarzen“ oder der „Schwulengemeinschaft“ etc. auftritt. Fortan verwende ich den Begriff ausschliesslich, um eine Gemeinschaft mit anerkannter Führungsstruktur zu charakterisieren, so, dass jede Art und jeder Typus von Gemeinschaft als Artefakt gilt, das das gesellschaftliche Verhältnis von Autorität in Übereinstimmung mit seinen Basis- und Leitfunktionen organisiert. 2 In diesem Kontext wird „religiös“ im Sinn von „sekundären“ religiösen Überzeugungen und Praktiken verwendet (siehe die Erklärungen im 2. Kapitel). Das strukturelle Ziel dieser Gemeinschaften liegt darin, deren Mitglieder dabei zu unterstützen, eine angemessene Beziehung zu dem herzustellen, was als das Göttliche geglaubt wird.

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eine Familie, in einen Staat und in eine religiöse Institution hineingeboren. Zweitens geht der Wechsel der Mitgliedschaft nicht so leicht vonstatten, zum Beispiel dadurch, dass man einseitig deklariert, nicht mehr dazugehören zu wollen. Um seine Staatszugehörigkeit oder Religionszugehörigkeit zu wechseln, muss man von der neuen Institution aufgenommen werden, und um eine Ehe legal aufzulösen, muss die Scheidung staatlich anerkannt werden. Und ungeachtet davon, wie stark die familialen Banden gegenseitiger Zuwendung beschädigt oder geschwächt sein mögen, bleibt man für gewöhnlich biologisches Familienmitglied solange die Familie existiert. Im Gegensatz dazu sind soziale „Organisationen“ derart beschaffen, dass ihre Mitglieder weniger stark und beständig untereinander vergemeinschaftet sind. Organisationen verfügen zwar auch darüber, wer Mitglied werden kann und wer nicht, doch ist Mitgliedschaft hier nicht auf ein ganzes Leben angelegt, und die Mitglieder können einfacher ein- und austreten. Beispiele von Organisationen sind Unternehmen, Spitäler, Gewerkschaften, politische Parteien und Schulen. Im letzten Kapitel haben wir gesehen, warum Artefakte essentiell durch zwei Aspekte ausgezeichnet sind: Ihre „Basisfunktion“ ist derjenige Aspekt, der die Art des Prozesses anleitet, durch den sie entstehen, und ihre „Leitfunktion“ ist derjenige Aspekt, der die Art des Plans ausmacht, der ihre Herstellung anleitet. Was erstere betrifft, so habe ich argumentiert, ist der Formationsprozess, aus dem die meisten Artefakte hervorgehen, historisch qualifiziert. (Zur Erinnerung: Der Ausdruck „historisch“ ist in unserem Gebrauch mit „kulturell“ äquivalent, und bezieht sich auf die freie Anwendung einer technischen Kompetenz des Menschen, aus natürlichem Material neue Dinge herzustellen). Wir haben dann bemerkt, dass auch Gemeinschaften unter den Dingen sind, die von Menschen gebildet werden, und dass die meisten dieser Gemeinschaften eine historische/kulturelle Basisfunktion haben. Doch gibt es gewichtige Unterschiede zwischen Artefakten, die Dinge sind, und Artefakten, die soziale Gemeinschaften sind. Zum Beispiel sind die Leitfunktionen der ersteren durch Aspekte qualifiziert, in denen diese Dinge bloss passiv funktionieren. Stühle und Häuser haben eine soziale Leitfunktion, aber sie stehen nicht aktiv in sozialen Beziehungen, sondern weisen bloss potentielle oder passive soziale Funktionen in jenem Aspekt auf. Die Leitfunktion dieser Artefakte muss im sozialen Leben der Menschen aktualisiert werden. Menschliche Gemeinschaften haben im Vergleich dazu in allen Aspekten ­aktive Funktion, und eine Leitfunktion in einem spezifischen Aspekt. Ein ­Unternehmen führt zum Beispiel ökonomische Tätigkeiten aus, sowie eine Musikformation oder Tanzgruppe ästhetisch qualifizierte Handlungen vollzieht, oder eine Kirche aktiv Riten vollzieht, die eine fiduziäre Leitfunktion besitzen. Meine oben gemachte Aussage, dass allein Menschen aktive Funk-

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tio­nen in allen Aspekten haben, sollte jetzt so verstanden werden, dass nicht nur einzelne Individuen, sondern auch menschliche Gemeinschaften eingeschlossen sind. Obwohl sie einzelnen Individuen darin ähnlich sind, dass sie aktive Funktionen in allen Aspekten ausbilden, unterscheiden sich menschliche Gemeinschaften dadurch, dass sich deren Natur durch das Verhältnis von Basisfunktion und Leitfunktion explizieren lässt. Wir haben schon gesehen warum Menschen keine qualifizierende Funktion haben, und weitere Gründe für diese Auffassung werden in Kürze folgen. Für den Moment soll das bereits erwähnte Argument genügen, dass das menschliche Herz zwar innerhalb der Grenzen der modalen Gesetze existiert und funktioniert, aber nicht von diesen determiniert ist, sondern genuine Freiheit besitzt. Diese Freiheit, so sagte ich, ist deshalb möglich, weil das menschliche Herz mehr als seine modalen Funktionen ist; dieses „mehr“ reflektiert die Tatsache, dass der Mensch als Ebenbild Gottes erschaffen wurden. Die menschliche Natur ist deshalb weder durch einen bestimmten kreatürlichen Aspekt qualifiziert noch durch alle zusammen. Die menschliche Natur ist im Innersten religiös: Menschen sind zur Gemeinschaft mit Gott erschaffen, ihre Beziehung zu Gott ist ihr grundlegendstes Wesensmerkmal, und sie finden ihr letztes Schicksal in Gott, ausserhalb des gegenwärtigen Kosmos. Obwohl menschliche Gemeinschaften wie einzelne Menschen aktive Funktion in allen Aspekten besitzen, zeichnet sich ihre Natur nun nicht durch die drei eben erwähnten Relationen aus. Vielmehr kann ihre Natur, wie die Natur anderer Artefakte, aufgrund des Verhältnisses von Basis- und Leitfunktion, zusammen mit dem jeweiligen Typengesetz, verstanden werden. Wir werden also auch von menschlichen Gemeinschaften sagen, dass ihre Basisfunktion in dem Aspekt besteht, der ihre Gründung leitet, ihre Leitfunktion aber in dem Aspekt, der die Art des Plans oder der Intention qualifiziert, aufgrund derer sich die Gemeinschaft formiert. An dieser Stelle wird man sich vielleicht fragen, was mit der Äusserung gemeint war, die „meisten“ menschlichen Gemeinschaften hätten eine historische Basisfunktion. Was sonst könnte den Prozess ihrer Formation anleiten? Nun, das „meist“ sollte eben Raum für zwei gesellschaftliche Institutionen offen lassen, die nicht einfach das Produkt des freien menschlichen Planens und Bildens sind, sondern in der biotischen, sexuellen Dimension der menschlichen Natur gründen. Es sind dies die Ehe und die Familie. Die spezifischen Formen, die Ehe und Familie annehmen können, unterliegen natürlich der menschlichen Gestaltung und sind von Kultur zu Kultur verschieden. Doch ist es die grundlegende Differenz der Geschlechter und ihre gegenseitige Anziehung, die den Prozess qualifizieren, wodurch Ehen und Familien gegründet werden. Dieser Prozess ist nicht selbst das Produkt menschlicher Planung oder Erfindung.

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Vielleicht tritt die zentrale Bedeutung des biotischen Aspekts für diese beiden Gemeinschaftstypen am stärksten durch die Tatsache hervor, dass sie als einzige zu existieren aufhören, wenn ihre ursprünglichen Mitglieder sterben. Eine Ehe hört auf zu existieren, wenn einer der Partner stirbt; die Kernfamilie hört auf zu existieren, wenn die Eltern oder die Kinder sterben (Geschwisterverhältnisse können natürlich auch nach dem Tod der Eltern fortbestehen, nicht aber die Familie). Dieser Umstand reicht aus, um diese Gemeinschaften von anderen Gemeinschaften wie Kirchen, Schulen, Wirt­schaftsunternehmen, Staaten, etc., zu unterscheiden, die eben auch dann fortbestehen können, wenn alle ursprünglichen Mitglieder weggezogen oder gestorben sind. Unsere Theorie wird deshalb Ehen und Familien als „natürliche Institutionen“ auffassen, um deren biotische Basisfunktion herauszustreichen.3 Gleichzeitig muss aber auch festgehalten werden, dass jede Auffassung von Ehe und Familie als exklusiv biotische Realitäten reduktionistisch wäre. Währenddem die biotische Dimension der Schöpfung die Basis für die Entstehung dieser Gemeinschaften bildet, ist die Leitfunktion und das Strukturprinzip von Ehe und Familie in der ethischen Liebesnorm begründet. An diesem Punkt greift unsere Theorie nicht nur auf die eingeführten Leitprinzipien zurück, sondern kombiniert diese mit den biblischen Aussagen über die Ehe, in denen der Charakter der Liebesgemeinschaft von Mann und Frau hervorgehoben wird (Gen 1,28; Gen 2,18,24; Mk 10,5–9; Eph 5,25–33). Kommt hinzu, dass das Buch Genesis diese Sicht durch die Darstellung der sexuellen Beziehung zwischen Adam und Eva als unabdingbarem Element ihrer Liebesgemeinschaft und beidseitigem Gut vor ihrem Fall in die Sünde noch verstärkt. Schliesslich kommt dies auch umgangssprachlich zum Ausdruck, wenn wir sagen, dass sich Menschen nicht nur „paaren“, sondern „Liebe machen“. Alle diejenigen, die wie Aristoteles behaupten, alleiniges Ziel der menschlichen Sexualität sei die Fortpflanzung des Menschengeschlechts, machen sich eines gravierenden Irrtums schuldig. 3 Die bis hierher gegebene Darstellung von sozialen Gemeinschaften ist so nahe an Dooyeweerd angelehnt geblieben, wie nur immer möglich. Es sollte allerdings angemerkt werden, dass einige Denker, die dessen Ansatz weiterentwickeln wollten, es für notwendig angesehen haben, alternative Unterscheidungen und Begriffe einzuführen, um dessen nicht-reduktionistischen Charakter beizubehalten. Siehe z.B. M.D. Stafleu, “On Aesthetically Qualified Characters and Their Mutual Interlacements,” Philosophia Reformata 68 (2003): 137–47. Stafleu und andere haben auch die Position verteidigt, dass es einen distinkt politischen Aspekt gibt. Diese und andere Variationen der Gesetzesrahmentheorie liegen jenseits der Absicht dieses Buches, die darin besteht, die Möglichkeit der Entwicklung nicht-reduktionistischer Theorien einführend zu beleuchten.

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Natürlich erfüllen Ehe und Familie auch diesen Zweck. Dies ändert aber nichts an dem, was wir die „strukturelle Bestimmung“ eines Artefakts genannt haben, die durch dessen Leitfunktion bestimmt wird. Wie schon erwähnt, muss die strukturelle Bestimmung von allen subjektiven Zwecken unterschieden werden, denen ein Artefakt auch noch dienen kann. Obwohl eine Heirat auch durch den erhofften sozialen oder finanziellen Aufstieg motiviert sein kann, bleibt die strukturelle Bestimmung der Ehe davon unangetastet. Diese ist durch die Leitfunktion der Ehe garantiert, und manifestiert sich in einem bestimmten Geist, der gewisse Ehen auszeichnet: die Gestaltung und Förderung einer Art von Liebe, die das stärkste und intimste Band zwischen Menschen überhaupt ausmacht.4 Zusätzlich zur jeweiligen Basis- und Leitfunktion sind alle Gemeinschaften durch ein Typengesetz strukturiert, und jeder Typ kann sich in einer Anzahl von Variationen ausdrücken. Zum Beispiel gibt es verschiedene Staats- und ­Unternehmensformen, sowie verschiedene Kunstgemeinschaften. Auch verschiedene Familienformen sind möglich. Oft hängen Variationen in der Erscheinungsform der Familie mit der Art und Weise zusammen, wie diese Gemeinschaft ihren Lebensunterhalt bestreitet. Es genügt, sich die Unterschiede im Verhältnis der Glieder einer Bauernfamilie, einer Arbeiterfamilie, einer königlichen Familie, und einer Familie, die ihr eigenes Unternehmen führt, vor Augen zu führen. Unsere Theorie kann zudem nicht nur die Möglichkeit von deformierten natürlichen Dingen, sondern auch die Möglichkeit von deformierten Gemeinschaften erklären. Staaten, die absolute Diktaturen sind, oder polyandre Familien können als Beispiele dienen. Doch weder die Variationen noch die Deformationen konkreter Gemeinschaften vermögen etwas an den Strukturprinzipien zu ändern, die diese Gemeinschaften erst möglich machen, da diese Prinzipien in der Gesetzesdimension der Schöpfung begründet sind. Obwohl faktische Gemeinschaften deformiert sein können, bleiben die

4 Die Idee der strukturellen Bestimmung einer Institution nötigt uns nicht zu sagen, dass diese Bestimmung immer und auf jeder Stufe der historischen Entwicklung oder in jedem kulturellen Kontext voll realisiert wird. So hält Dooyeweerd fest: „When we say that a marriage, a state, a church, etc., have a constant nature, determined by their structural principles, we do not mean that all of these societal [organizations] have been realized in every phase of human development of mankind. We mean only that the inner nature of these types of societal relationships cannot be dependent on variable historical conditions of human society. This is to say, as soon as they are realized in a factual human society, they appear to be bound to their structural principles without which we could not have any social experience of them … this does not detract anything from the great variability of the … forms in which they are realized.“ (New Critique, vol. 3, 170–71).

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qualifizierenden Funktionen und Typengesetze, die diese Gemeinschaften strukturieren, dem Wandel entzogen. Dieser Zugang zu Gesellschaftstheorie und Soziologie stösst im heutigen intellektuellen Klima auf breite Ablehnung. Viele möchten sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse als blosse menschliche Erfindungen, und deshalb als unendlich variabel, anstatt als Aktualisierungen von Potentialitäten betrachten, die im Kosmos angelegt sind. Die Berücksichtigung der modalen und ­intermodalen Schöpfungsgesetze ist jedoch einer der grössten Interpreta­ tionsvorteile, die unsere Theorie zu bieten hat. Sie erlaubt uns, unsere Aufmerksamkeit auf die fixen Prinzipien zu richten, die den verschiedenen Typen von menschlichen Gemeinschaftsformen zugrunde liegen. Die Beschäftigung mit Variationen und Deformationen ist nur die eine Seite der Münze. Die andere ist die Analyse der modalen Qualifikation verschiedener Gemeinschaftsformen (deren Basis- und Leitfunktion), und deren spezifischen Typengesetze. Letztere werden dadurch erhellt, dass die basalsten Interaktionsmuster der Glieder einer Gemeinschaft analysiert werden, die in jedem Aspekt auftreten müssen, damit eine bestimmte Art von Gemeinschaft überhaupt existieren kann. Durch die Zusammenfassung dieser Interaktionsmuster in einer allgemeinen Aussage nähern wir uns dem Typengesetz, das die spezifische Gemein­ schaft möglich macht. Doch ohne kosmonomisches Wirklichkeitsverständnis, das die Gesellschaftstheorie anleitet, scheint es sinnlos, die modale Natur irgendeines Gemeinschaftstyps erkennen zu wollen. Wie könnte man entscheiden wollen, welche Gemeinschaftsformen normal und welche anormal sind? In den Worten von H. Dooyeweerd: Wenn wir die Rückseite eines Gobelinteppichs betrachten, können wir kein Muster in all dem Fadengewirr entdecken. Ebenso wenig gelingt es uns, die Strukturmuster der verschiedenen Gemeinschaftsverhältnisse zu entdecken, wenn wir uns nur auf die … [aktuellen Formen und die Art und Weise] konzentrieren, wie sie ineinander verknüpft sind.5 Doch, so könnte man hier einwenden, können wir denn keine Soziologie ohne philosophische Theorie betreiben? Wenn nicht, geht die Gesellschaftswissenschaft dann nicht einfach in einer Sozialphilosophie auf? Und wenn doch, was ist dann der Unterschied zwischen den beiden? Wir haben bereits gesehen warum keine Theorie, die einem bestimmten Aspekt der Erfahrungswirklichkeit gewidmet ist, umhin kommt, von bestimmten philosophischen Annahmen auszugehen. Jede Theorie setzt bestimmte Dinge hinsichtlich der Natur der Wirklichkeit und der Erkenntnis voraus, ob 5 New Critique, vol. III, 176. S. 176.

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diese artikuliert werden oder nicht. Deshalb ist die Beschäftigung mit der Art und Weise, wie unsere Sicht der Wirklichkeit die soziologische Theoriebildung anleitet, nichts Anderes als die Bewusstmachung der Konsequenzen des kosmonomischen Wirklichkeitsverständnisses auf die Gesellschaftswissenschaft. Dieser Ansatz verlangt nicht, dass jeder Soziologe und jede Soziologin zuerst Philosophie betreibt, genau so wenig, wie er das von irgendeiner anderen Wissenschaft verlangt. Währenddem die Philosophie explizit die Frage aufwirft, wie die verschiedenen modalen Aspekte zusammenhängen, gehen die Wissenschaften (einschliesslich Soziologie) meist von einer bestimmten Idee davon aus, ohne diese jedoch explizit zu machen. Aber ganz egal ob diese Voraussetzungen bewusst gemacht werden oder latent bleiben, variiert jegliche Theorie aufgrund ihres zugrunde liegenden Verständnisses des intermodalen Zusammenhanges aller Erfahrungsaspekte. Wenn wir unser kosmono­misches Wirklichkeitsverständnis in diesem Kapitel nun nicht explizit aufgreifen würden, hätten wir dessen Sinn und Funktion gerade verfehlt. Denn es geht hier nicht bloss darum, die Auswirkungen dieser Theorie auf die Soziologie aufzuzeigen. Vielmehr soll auch die Theorie selbst weiter entfaltet werden. Wenn wir unser eigenes Wirklichkeitsverständnis auf menschliche Gemeinschaftsformen beziehen, sind wir nicht auf die Anwendung der Begriffe der qualifizierenden Funktion und des Typengesetzes beschränkt – so erklärungsmächtig diese auch sind. Es stehen uns auch modale Normen zur Verfügung, die uns erlauben, zwischen normalen und anormalen menschlichen Gemeinschaften zu unterscheiden. Das ist freilich eine äusserst kontroverse Angelegenheit. Viele Gesellschaftstheorien gehen davon aus oder behaupten, dass keine soziologische Erklärung wissenschaftlich sein kann, die auf irgendwelche Normen Bezug nimmt. Deshalb müssen wir uns erst einmal der Frage ­zuwenden ob es der Soziologie gelingt, eine Theorie der verschiedenen Gemeinschaftsformen zu entwickeln, in der Wesen und Verhältnis dieser Formen nur gerade so beschrieben werden, wie sie sich präsentieren (die sozialen Fakten), das heisst, ohne den geringsten Bezug darauf zu nehmen, wie diese Gemeinschaften sein sollten (soziale Normen). Bevor wir eine Antwort auf diese Frage geben können, müssen wir uns jedoch über die Bedeutung des Ausdrucks „Norm“ Klarheit verschaffen. 12.2

Fakt versus Norm

Im letzten Kapitel sind wir auf die Reihenfolge der verschiedenen Aspekte zu sprechen gekommen, und darauf, dass die Dinge aktive Funktionen in ihnen ausüben. Aktive Funktionen in den unteren Aspekten sind Vorbedingung für

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12. Kapitel

das Auftreten von aktiven Funktionen in den höheren Aspekten. Ein weiterer Unterschied zwischen unteren und oberen Aspekten, der hier zu erwähnen ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass die Gesetze der unteren Aspekte „starr“ sind; das heisst, wir können sie nicht umgehen selbst wenn wir wollten. Es besteht keine Möglichkeit, dass wir die Gesetzesordnung des numerischen, räumlichen, kinetischen und physischen Aspekts „brechen“ könnten. Doch vom biotischen Aspekt aufwärts auf der Liste ändert sich der Charakter dieser Ordnung; je höher wir steigen, desto mehr kann die Ordnung des jeweiligen Aspektes missachtet werden. Zunächst legt diese einfach nur fest, was notwendig, möglich und unmöglich ist. Die modale Ordnung oberhalb des physischen Aspekts ist jedoch zunehmend durch Normen geprägt, die das Verhalten der Pflanzen, Tiere und Menschen auf die Maximierung der verschiedenen modal bestimmten Ziele und Zwecke ausrichten. Zum Beispiel regulieren die Gesetze des biotischen Aspekts das Verhältnis bestimmter biotischer Eigenschaften. Doch gibt es auch Normen der biotischen Gesundheit, die weitere biotische Eigenschaften auf einander bezieht. Ein Lebewesen kann eine solche Normen verletzen und leben. Doch seine Gesundheit würde profitieren, wenn sein Verhalten der Norm folgte. Oder nehmen wir die Gesetze der Logik. In einem bestimmen Sinn können die Gesetze der Logik nicht überschritten werden. Denn jedes und alles in der Schöpfung existiert in Übereinstimmung mit dem logischen Axiom, dass nichts auf dieses oder jenes zutreffen kann, das zugleich und im selben Sinn wahr und falsch ist. Doch können wir diesem Axiom in unserem Denken zuwider handeln, indem wir logische Fehlschlüsse ziehen, oder indem wir zu Überzeugungen gelangen, die einander ausschliessen. Mit anderen Worten, die logische Schöpfungsordnung hat den Charakter eines unverbrüchlichen Gesetzes für alle Dinge mit Ausnahme unseres Denkens, für das sie die grundlegende Norm darstellt. Wir können diese Ordnung übertreten. Aber wenn wir die logische Gewissheit anstreben, keine ungültigen Schlussfolgerung gezogen zu haben oder inkompatiblen Überzeugungen auf den Leim gekrochen zu sein, sollten wir sie nicht übertreten. Im Fall der nachfolgenden Aspekte erstreckt sich unsere Fähigkeit, die jeweilige modale Ordnung zu missachten, über das Denken hinaus auf unser gesamtes Verhalten. Wir können ökonomische, künstlerische, justitiäre, ethische und andere Normen sowohl in unseren praktischen Tätigkeiten als auch in unserem Denken oder Wissen missachten. Doch die Folgen davon verhindern die Zunahme unseres Wohlstands, die Produktion von guter Kunst, die Herstellung von Gerechtigkeit oder den Vollzug einer guten Tat, usw. – es sei denn, diese Folgen werden durch die Einwirkung anderer Faktoren wieder ausser Kraft gesetzt. Unsere Fähigkeit diese Normen zu übertreten ändert jedoch nichts an deren Bedeutung als Teile der Schöpfungsordnung. Vielmehr

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sind es oftmals gerade die Folgen der Übertretung einer solchen Norm, die deren Realität und verbindliche Geltung zum Ausdruck bringen. Zusammenfassend gesprochen: Diese Elemente der Schöpfungsordnung werden „Normen“ genannt, weil sie den ihnen eigentümlichen Charakter aufweisen, von Menschen übertreten werden zu können, sowie den Massstab für das, was sein sollte, bilden. Nach der Erläuterung des Wesens von Normen möchte ich einige Missverständnisse auszuräumen versuchen, die sich in diesem Zusammenhang oft einstellen. Erstens ist es wichtig, Normalität im Sinn der Übereinstimmung mit einer modalen Norm nicht mit dem statistischen Durchschnitt oder mit dem Gewohnten zu verwechseln. Der Ausdruck „normal“, so wie er hier verwendet wird, bezieht sich auf dasjenige, was sich gemäss einer modalen Norm verhält, egal wie oft diese Norm überschritten worden ist. Zweitens ist die regulative Funktion und Kraft dieser aspektspezifischen Normen weder davon abhängig, ob wir uns genaue Vorstellungen von ihnen machen können, noch davon, ob wir uns bewusst anstrengen, ihnen Folge zu leisten. Menschen lassen sich in ihrem Denken und Handeln oft von Normen leiten, die sie nicht bewusst artikuliert haben. Das ergibt sich schon daraus, dass wir oft zwischen Aktivitäten unterscheiden können, die einer Norm entsprechen, und anderen, die davon abweichen, selbst wenn wir uns nicht in der Lage sehen, die entsprechende Norm präzis zu formulieren. Das offenkundigste Beispiel ist wohl die Tatsache, dass auch Menschen, die sich das Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs niemals bewusst vor Augen geführt haben, versuchen, sich nicht zu widersprechen. Und obwohl wir nicht fähig sein mögen, viele künstlerische Normen anzugeben, oder diese scharf zu fassen, geben wir doch Urteile ab wie „Dieses Kunstwerk ist jenem eindeutig überlegen“. Wir sollten auch daran denken, dass bis vor relativ kurzer Zeit keine psychischen oder ökonomischen Normen formuliert wurden. Die Tatsache, dass für einen bestimmten Aspekt noch keine Normen formuliert wurden, bedeutet also nicht, dass dies nicht möglich ist. Auf sprachlichem Gebiet haben wir keine Mühe, eine bestimmte Aneinanderreihung von Worten als Unsinn denn als Satz zu identifizieren, oder zu erkennen, dass eine bestimmte Ausdrucksweise klarer ist als eine andere, ganz egal ob wir in der Lage sind, normative linguistische Regeln für Klarheit im Ausdruck zu formulieren. Diese Beispiele machen deutlich, dass wir immer bestimmte aspektspezifische Normen voraussetzen, selbst wenn diese vage, unartikuliert oder sogar unbewusst bleiben mögen. Schliesslich ist eine Norm keine absolute Vollkommenheit wie die pagane Idee der Form im griechischen Denken. Man sollte sich Normen nicht als unveränderliche und perfekte Modelle oder Urbilder von Gerechtigkeit, Klarheit, Schönheit, Tugend, oder irgendetwas Anderem vorstellen. Wenn sie das ­wären,

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12. Kapitel

müssten alle Dinge eine perfekte Kopie davon sein um ihnen zu entsprechen, und alles was ihnen entspricht, würde exakt gleich aussehen. Vielmehr ist eine Norm jener Teil einer aspektspezifischen Ordnung, die als Regel zur Erhaltung des Wertes dient, die durch jenen Aspekt qualifiziert wird. Aus diesem Grund können viele Handlungen, Gedanken und Artefakte der Norm eines Aspekts gleichermassen entsprechen und doch sehr verschieden sein. Zum Beispiel können die Aufführungen einer Symphonie sehr verschieden, und dennoch von gleichem ästhetischen Rang sein; verschiedene Äusserungen können gleichermassen moralisch barmherzig, verschiedene Urteile und Handlungen gleichermassen gerecht sein.6 Diese Erläuterungen zum Thema Normen führen uns an eine Reihe von soziologischen Problemen heran. Insbesondere drängt sich die Frage auf, ob ­Normen subjektiv oder objektiv sind, oder ob sie aus der soziologischen Theoriebildung verbannt werden können oder sollen. Die subjektivistische Auf­ fassung ist die, dass Normen nicht Bestandteil der Wirklichkeit sind; im wesentlichen bestehen sie aus subjektiven Gefühlen und Präferenzen, die Individuum und Gesellschaft als (arbiträre) Verhaltensrichtschnur betrachten. Aus dieser Perspektive wird der Einschluss von Normen in eine Gesellschaftstheorie als unwissenschaftlich zurückgewiesen. Das Hauptargument für diese Sichtweise ist, dass es tiefgreifende Meinungsunterschiede gibt, worin diese Normen bestehen sollen, und keine klare Vorgehensweise auszumachen ist, wie solche Divergenzen beglichen werden könnten. Die subjektivistische Schlussfolgerung ist deshalb die, dass Normen überhaupt nicht real sein können, und die Soziologie sich an blosse Beschreibungen der sozialen Tatsachen zu halten hat („was ist“), jede normative Kritik aber vermeiden muss („was sein sollte“). Diejenigen, die eine solche Sichtweise vertreten, sind sich allerdings nicht darüber einig, worin die „reinen“ soziologischen Fakten bestehen sollen, wenn sie scheinbar von allen normativen Urteile befreit worden sind. In der klassischen objektivistischen Sichtweise eines Aristoteles sind Normen in der Realität verankert. Ihre Grundlage ist dieselbe wir für die Gesetze der „natürlichen“ Aspekte: Sowohl Gesetzes- wie Normaussagen sind unsere Formulierungen des Wesens der Dinge, wie es durch deren Form festgelegt ist. Obwohl nicht alle objektivistischen Theorien von Normen auf aristotelische 6 Dies ist eine Erweiterung des Punktes, den ich im 10. Kapitel gemacht habe bezüglich des Unterschieds zwischen der biblischen Idee von Vollkommenheit und der Idee von Vollkommenheit, die aus der klassisch-griechischen Philosophie stammt. Dort war unser Grund, die traditionelle Lehre von Gottes Vollkommenheit zurückzuweisen, der, dass diese Idee eindeutig der paganen Tradition der Griechen und nicht der biblischen Tradition entstammt.

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Formen zurück greifen, laufen sie jedoch alle darauf hinaus, dass Normen in gewisser Weise direkt aus dem Buch der Natur „abgelesen“ werden können. Dann werden üblicherweise Argumente für die jeweilige Auffassung des ­Gehalts konkreter Normen vorgetragen und die Position begründet, dass es letztlich nicht möglich ist, alle normativen Urteile aus der soziologischen Theo­riebildung auszuschliessen. Wie schon zuvor in der Diskussion unseres kosmonomischen Wirklichkeitsverständnisses schlagen wir auch im Folgenden eine eigenständige Denkrichtung ein, die sich nicht auf Subjektivismus oder Objektivismus festlegen lässt. Da wir davon ausgehen, dass alle Dinge der Schöpfung unter allen aspektspezifischen Gesetzen gleichermassen funktionieren, auch unter den normativen, weisen wir die Auffassung zurück, logische, sprachliche ökonomische, künstlerische, justitiäre, ethische, etc. Normen seien nichts Anderes als subjektive Präferenzen. Obwohl wir uns über die korrekte Formulierung von Normen einzelner Aspekte streiten, kann niemand die grundlegende Überzeugung vermeiden, dass menschliche Handlungen und Gemeinschaften ihrem Wesen nach normgeleitet sind. Zum Beispiel ist der Gebrauch von Normen der Klarheit im sprachlichen Ausdruck oder die Berücksichtigung der ökonomischen Normen von Angebot und Nachfrage im wirtschaftlichen Verkehr ganz unverzichtbar. Ebenso verhält es sich mit der ethischen Liebesnorm („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“) hinsichtlich des ethisch richtigen Tuns, oder mit der Norm der Gerechtigkeit („Menschen sollten das bekommen, was sie verdient haben“) hinsichtlich der Fairness im zwischenmenschlichen Umgang. Bei diesen Normen handelt es sich um Prinzipien, die die Leitfunktionen der verschiedenen Arten von menschlichen Aktivitäten und Gemeinschaften qualifizieren – und sie damit überhaupt erst möglich machen – selbst wenn die Akteure oder Glieder der jeweiligen Handlungen oder Gemeinschaften diese Normen negieren oder ihnen zuwiderhandeln. Diese Tatsache wird implizit selbst von Theorien anerkannt, die sie explizit negieren möchten. Zum Beispiel kommt der Zweck eines Wirtschaftsunternehmens nicht umhin, von ökonomischen Normen geleitet zu sein, selbst wenn die subjektiven Absichten des Besitzers oder der Besitzerin nicht ökonomische Prosperität, sondern Ruhm oder die Verdrängung eines persönlichen Gegners ist. Ähnlich ist die Bestimmung der Institution der Ehe selbst dann durch die Norm der Liebe gegeben, wenn einer der Partner nur aus Gründen der finanziellen Besserstellung geheiratet hat. Wenn sich die Ehepartner nicht lieben, können wir auch nicht von einer Ehe im wahren Sinn des Wortes sprechen; umgangssprachlich sagen wir dann, dass diese Personen bloss „dem Namen nach“ eine Ehe führen. Wiederum mögen sich Familienmitglieder faktisch verachten, anstatt dass ihr gegenseitiges Verhältnis von der ethischen Liebesnorm

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geprägt ist. In diesem Fall möchte jedoch niemand von einer normalen Familie sprechen. Schliesslich ist die in der Leitfunktion einer Synagoge oder Kirche begründete Bestimmung durch fiduziäre Glaubens- und Vertrauensnormen gegeben, selbst wenn einige der Mitglieder allein aus Gründen des gesellschaftlichen Prestiges an diesen Institutionen partizipieren. Daraus erhellt, warum aus unserer Perspektive jede menschliche Handlung und jedes menschliche Artefakt einen normgeleiteten Zweck hat, der in der Leitfunktion der Handlung oder des Artefakts begründet, und damit seinem Wesen eingezeichnet ist. Könnten diese normgeleiteten Strukturprinzipien vollständig aus unserem Bewusstsein entfernt werden, würden wir die Aktivitäten und Gemeinschaften, die durch sie charakterisiert sind, nicht länger als menschliche Aktivitäten und Gemeinschaften identifizieren können. Sie würden weitgehend unintelligibel werden. Was bleibt uns zum Beispiel noch vom Wesen eines Wirtschaftsunternehmens übrig, wenn die Rolle ökonomischer Normen ausgeblendet wird? Was bleibt von unserer Auffassung von Familie und Ehe, wenn jeder Bezug zur Norm der Liebe getilgt ist? Was bleibt von unserem Verständnis von Tempel, Synagoge, Kirche oder Moschee, wenn wir die Normen und Ziele des religiösen Glaubens ignorieren? Schon der Begriff einer jeder dieser Gemeinschaftstypen wäre dann seiner wesentlichsten Merkmale beraubt! Eine interessante Folge des Begriffs des Strukturprinzips, das in der Leitfunktion von Gemeinschaften eingebettet ist, besteht darin, dass er die Berücksichtigung von kriminellen Aktivitäten und Gemeinschaften durch unsere Theorie ermöglicht; etwas, das viele andere Theorien nicht leisten können. Zum Beispiel ist auch ein Verbrechersyndikat durch ökonomische Normen strukturiert, die dessen ökonomischen Zweck regulieren, obwohl die Aktivitäten eines solchen Unternehmens gegen die gesetzlich interpretierten Normen der Gerechtigkeit verstossen. Tatsächlich können wir keine Organisation je als kriminell beschreiben, wenn unser Urteil nicht auf Gerechtigkeitsnormen zurückgreift. Wenn wir die Kriminalitätsrate aufgrund ungenügender Wohnqualität, Armut, und weiterer solcher Faktoren erklären wollen, müssen wir zudem auf soziale und ökonomische Normen zurückgreifen. Wenn diese Faktoren und Bedingungen nicht als Verletzungen solcher Normen begriffen werden können, bleibt nicht viel von ihnen übrig. Die Beurteilung der Wohnqualität als „ungenügend“ oder die Bezeichnung eines ökonomischen Zustands als „Armut“ bedeutet, eine normative Aussage zu machen. Dasselbe gilt auch für andere Institutionen und Organisationen. Ein Staat mag illegal handeln und dennoch ist sein Strukturprinzip von der Norm der Gerechtigkeit angeleitet und in diesem Sinn legaler Art. Die Verbrechen einer Regierung oder einzelner Regierungsvertreter erscheinen uns umso ver­ab­ scheuungswürdiger, weil sie gerade die Bestimmung, die durch das Struktur-

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prinzip des Staates qualifiziert ist, verletzen. Dasselbe gilt für politische Parteien, deren Strukturprinzip darin besteht, Vertrauen in die Programme und Menschen zu generieren, die ihrer Auffassung nach den Staat lenken sollten. Aus diesem Grund sagen wir, dass Parteien eine fiduziäre Leitfunktion haben. Dennoch kann eine Partei das Vertrauen derer missbrauchen, die sich ihrer verbunden fühlen. Sie kann sogar den Staat dazu bringen, sein eigenes Strukturprinzip der Gerechtigkeit zu vergewaltigen (es genügt, sich das Beispiel der Nazi Partei Deutschlands vor Augen zu führen). Doch deswegen verschwinden die Normen nicht und können nicht ignoriert werden. Es wird oft gesagt, dass selbst kriminelle Organisationen ihre ethischen Regeln haben, die von ihren Mitglieder respektiert werden. Es gibt sie, die „Ehre unter Dieben“. Und selbst die konsequenteste anarchistische Organisation würde sich rasch auflösen, wenn nicht die Mitglieder durch Normen der Fairness oder des Vertrauens miteinander verbunden wären. Wir gehen also mit dem Teil der objektivistischen Auffassung überein, dass Normen real sind und nicht ignoriert werden können, selbst wenn wir es versuchten. In anderer Hinsicht können wir der klassischen objektivistischen Position jedoch nicht zustimmen. Zum Beispiel ist es nicht so, dass Normen blosse Extrapolationen der Natur(en) der Dinge sind, so dass jene Naturen die verschiedenen Normen möglich machen. Unsere Theorie berücksichtigt vielmehr eine distinkte Gesetzesseite der Schöpfung, deren Normen unabhängig davon existieren, ob es bestimmte Typen von Gegenständen gibt oder nicht. Einige Kritiker haben Gewicht und Ausmass dieses Punkts so gering geschätzt, dass sie unsere Auffassung als eine Version der objektivistischen Position betrachtet haben. Doch die Auffassung, dass Gegenstände und Gesetze in wechselseitiger Korrelation existieren ist von grosser Bedeutung. Denn wenn Normen bloss unsere Zusammenfassung der in sich selbst abgeschlossenen Naturen der Gegenstände sind, wäre es nicht möglich, dass irgend ein Gegenstand jene Normen übertreten könnte ohne seine eigen Natur zu verletzen und damit zu etwas Anderem zu werden.7 Im Gegensatz zum Objektivismus kann unsere Theorie die Tatsache erklären, dass individuelle Handlungen und 7 Die bekanntesten objektivistischen Theorien, so wie diejenigen von Platon und Aristoteles, versuchen, die Schwierigkeit dadurch in den Griff zu bekommen, dass sie einen strikt dualistischen Ansatz für alle Wesen postulieren, die Normen verletzen können. Dieser Dualismus soll die Möglichkeit erklären, dass eine Entität fähig ist, entgegen einer Norm zu handeln, indem die normative Ordnung nur einer Seite der Dualität intrinsisch ist und von der anderen Seite missachtet wird. Das Problem mit dieser Argumentation liegt darin, dass sich die beiden Seiten der Dualität gegenseitig ausschliessen, so dass es nicht möglich ist zu erklären, wie sie sich vereinigen könnten, von der individuellen Einheit der Entität gar nicht zu reden (siehe Dooyeweerd 1957, S.10–18).

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Gemeinschaften ihre Identität behalten können, selbst wenn sie gegen Normen verstossen. All dies verstärkt die Auffassung, dass Normen eine eigenständige Dimension der Schöpfung einnehmen und nicht identisch sind mit den Dingen, Handlungen und Gemeinschaften, die sie regulieren. Das ist auch der Grund dafür, dass wir Bestimmung und Zweck einer Handlung oder einer Gemeinschaft, die durch deren Leitfunktion normiert ist, deren „objektiven“ Zweck nennen. Die normativen Bestimmungen, die in den Leitfunktionen menschlicher Handlungen und Artefakte eingebettet sind, resultieren genau so wenig aus den Objekten unserer Erfahrung wie sie aus uns, den Subjekten der Erfahrung resultieren. Deshalb habe ich deren Leitfunktionen auch „Strukturprinzipien“ genannt. Dieser Ausdruck verweist auf den kosmischen Normenhintergrund, dessen Typengesetze die strukturelle Ordnung jedes geschaffenen Gegenstandes festlegen. Im weiteren distanzieren wir uns auch von der traditionellen Auffassung des Objektivismus, dass die menschliche Vernunft in autonomer und neutraler Weise die verschiedenen Normen aus dem Wesen der Dinge einfach ablesen könnte. Es ist genau dieser Punkt, der angesichts der tief greifenden Divergenzen zwischen den verschiedenen Auffassungen von Normen so unplausibel erscheint und von Subjektivisten als Gegenargument ins Feld geführt wird. Denn wenn Normen durch die Anstrengung einer unvoreingenommenen, „reinen“ Vernunft vom Wesen der Erfahrungsgegenstände wirklich „abgelesen“ werden könnten, dann müssten diese Normen von allen Menschen gleich aufgefasst werden. Im Gegensatz dazu weisen wir die Auffassung zurück, Normen und normative Strukturprinzipien könnten in voraussetzungsloser Weise interpretiert werden. Vielmehr behaupten wir, dass die vortheoretische Erfahrung aller Menschen zwar auf eine normative Realität hinweist, diese intuitiv erfassten Normen auf dem Hintergrund unterschiedlicher religiöser Überzeugungen aber unterschiedlich verstanden (und missverstanden) werden. Eine pagane Auffassung des Göttlichen verlangt nach einer reduktiven Auffassung der Wirklichkeit, in der die Normen des für göttlich gehaltenen Aspekts (oder Aspekte) überbewertet werden, und die Realität der mit der reduktiven Sicht am wenigsten kompatiblen Normen entweder unterbewertet oder ganz ausgeblendet wird. Deshalb ist aus unserer Sicht auch die Interpretation von Normen (und in einem bestimmten Ausmass sogar deren Erfahrung) durch eine philosophische Perspektive reguliert, die wiederum durch den einen oder ­anderen religiösen Glauben kontrolliert ist. Auf diesem Weg kann die kosmonomische Wirklichkeitstheorie das erklären, was der subjektivistischen Position so viel Mühe macht, nämlich die weit verbreitete Anerkennung gewisser Normen quer durch verschiedene Kulturen und über Jahrtausende hinweg (es genügt, an die vielen ethischen und justitiären Einsichten zu denken, die in

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jeder hoch entwickelten Kultur aufgetaucht sind). Gleichzeitig kann unsere Theorie aber auch erklären, warum in der Interpretation von Normen derart scharfe Unterschiede auftreten, was wiederum der objektivistischen Auffassung so viel Kopfzerbrechen beschert. Da gegenwärtig der Subjektivismus en vogue ist, werde ich einen weiteren kritischen Punkt zum Thema anführen, und zwar in Form einer Frage. Warum sollten wir glauben, dass allein die Existenz von Meinungsverschiedenheiten in der Frage nach Werten und Normen ausreicht um zu zeigen, letztere seien nichts als subjektive Präferenzen und Vorurteile? Warum wird diese Schlussfolgerung im Fall von Normen, aber zum Beispiel nicht im Fall von Farben, gezogen? Verschiedene Menschen können denselben Gegenstand betrachten, unter denselben Lichtverhältnissen und zur selben Zeit, und dennoch darüber streiten, ob das Gesehene mehr grün als blau ist. Aber ist damit schon bewiesen, dass Farben nur unsere subjektiven Neigungen anstatt (passive) sensorische Qualitäten der Dinge sind? Bestimmt nicht. Warum dann diese Schlussfol­gerung im Fall von Normen? Fazit: Aus unserer Sicht bedeutet die versuchte Eliminierung von Normen zugunsten „reiner“ Fakten das Aus jeder Gesellschaftstheorie, und ist in Wahrheit unmöglich zu erreichen. Was „sein sollte“ ist schon immer Teil dessen, was „ist“. Normen wie Naturgesetze haben eine eigenständige Existenz, die von Subjekt und Objekt unterschieden werden muss; ihr Ursprung ist allein in Gott. Allein Gott ist der Gesetzesgeber des Kosmos. Aus diesem Grund ist die Schöpfung auch dann normativ reguliert, wenn Menschen von ihrer Freiheit Gebrauch machen um diese Normen zu verletzen. Aus demselben Grund sägt jede Theorie, die menschliche Handlungen und Gemeinschaften durch die versuchte Eliminierung von Normen auf die „blossen“ Fakten reduzieren möchte, an ihrem eigenen Ast. Die Ausblendung ihrer normativen Strukturprinzipien und Leitfunktionen heisst soviel wie ihren menschlichen und sozialen Charakter auszublenden. Damit aber werden diese Dinge verdunkelt und letztlich unverständlich. 12.3

Individualismus versus Kollektivismus

Ein weiteres Problemfeld, das die Gesellschaftstheorie dominiert, geht von der Frage aus, ob wir von einem individualistischen oder kollektivistischen Verständnis von Gesellschaft ausgehen sollten. Tatsächlich haben sich die allermeisten Denker und Denkerinnen über eine derart lange Zeit von der einen oder andere Seite dieser Alternative angezogen gefühlt, dass die Auffassung, es gebe nur die beiden Auffassungen, oder irgendeine Kombination davon, zu einem unausgesprochenen Gemeinplatz geworden ist.

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Wie der Name sagt, heben individualistische Positionen die Einzelperson als fundamentale soziale Einheit hervor. Der Grund dafür wird oft darin gesehen, dass menschliche Individuen vermeintlich auch ohne Gemeinschaften existieren können, Gemeinschaften jedoch immer von Menschen geformt sind und aus solchen bestehen. Der Individualist Thomas Hobbes, zum Beispiel, ging von der Annahme aus, das menschliche Leben sei ursprünglich vollständig „solitär“ gewesen; die Herausbildung menschlicher Gemeinschaften entspreche hingegen einer späteren Entwicklung. Das Motiv zur Formation solcher Gemeinschaften ging gemäss Hobbes daraus hervor, dass das solitäre Leben kümmerlich, garstig, roh und kurz (poor, nasty, brutish, and short) war. Hobbes war immerhin davon überzeugt, dass menschliche Gemeinschaften, wenn sie denn einmal da sind, eine Realität bilden, die zu verstehen nicht ohne Bedeutung ist. Andere individualistische Denker gehen jedoch so weit, allen sozialen Körperschaften die Wirklichkeit abzusprechen. Aus dieser Sicht gibt es nur einzelne Individuen und deren Vereinbarungen, bestimmte Beziehungen aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz dazu gehen kollektivistische Denker von der einen oder anderen Gemeinschaftsform als der grundlegenden sozialen Realität aus, die einzelne Menschen hervorbringt und erhält. Einzelpersonen werden wörtlich als Teile eines grösseren sozialen Ganzen gesehen, ohne die der Einzelne nicht existieren könne. Aristoteles, zum Beispiel, sagt: Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher als die Familie und als der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muss als der Teil … Denn wenn sich der Einzelne in seiner Isolierung nicht selber genügt, so muss er sich zum Staat ebenso verhalten, wie andere Teile zu dem Ganzen, dem sie angehören.8 Hier sind also zwei Sichtweisen, die scheinbar je ein gutes Argument für sich geltend machen können. Kollektivisten fragen, wie es Individuen geben könne, wenn keine Eltern und erweiterte Familien existierten, die um das Wohlergehen von Mutter und Kind besorgt sind. Individualisten fragen, was eine Gruppe sein soll, die nicht aus Individuen besteht. Nun könnte man diese Darstellung als quasi-humoristischen Verweis auf die Frage auffassen, was denn zuerst sei, das Huhn oder das Ei – wenn nur die Debatte nicht dermassen schwerwiegende Folgen für die Gesellschaftstheorie und -praxis hätte. Dies ist insbesondere dort zu sehen, wo es um das Verständnis von Gerechtigkeit in verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen geht, wie im nächsten Kapitel diskutiert werden soll. 8 Politik, Buch 1, Kap. 2.

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Bevor wir uns dem Dilemma von Individualismus versus Kollektivismus zuwenden, müssen wir aber noch die Frage beantworten, ob Gemeinschaften überhaupt als Teil der Wirklichkeit zu betrachten sind. Obwohl wir von einer gesellschaftlichen Institution üblicherweise nicht als einem „Ding“ sprechen, bedeutet das nicht, sie sei nicht real. Auch Personen bezeichnen wir gemeinhin nicht als Dinge, was wiederum nicht heisst, dass keine Personen existieren. Zudem sind soziale Gemeinschaften zweifellos von einander unterscheidbar, sowie Dinge und Menschen es sind. Die Auffassung, soziale Entitäten seien nicht Teil der Wirklichkeit, die eben aus blossen Individuen und deren Beziehungen bestünde, ist sogar selbstwidersprüchlich. Wenn inter-individuelle Beziehungen real sind, wie kann man dann bestreiten, dass Ehen, Familien, Wirtschaftsunternehmen, Kirchen, Schulen, Gewerkschaften, politische Parteien, usw. dies nicht ebenso sind? Wenn die Beziehungen zwischen Individuen Teil der Wirklichkeit sind, gilt das ebenso für die durch diese Beziehungen konstituierten Gemeinschaften. Die Überzeugung, dass es sich bei menschlichen Gemeinschaften um etwas handelt, das die einzelnen Glieder übersteigt, wird zudem durch folgende Beobachtung unterstützt: Jede Gemeinschaft und Institution mit Ausnahme der Ehe bewahrt ihre Existenz trotz wechselnden Einzelgliedern. Dann haben wir auch gesehen, dass Gemeinschaften in allen Erfahrungsaspekten funktionieren und unterschiedliche Leitfunktionen be­ sitzen – Leitfunktionen, die das Wesen der jeweiligen Gemeinschaftsform bestimmen. In all diesen Hinsichten befinden sich soziale Entitäten auf der gleichen Ebene wie andere menschliche Artefakte, und müssen deshalb als ebenso real betrachtet werden. Von dieser extremen Variante abgesehen, besteht das Herzstück jeder individualistischen Theorie in der Annahme, dass Individuen grundlegend realer sind als die Gemeinschaften, die sie bilden. Die Bedeutung von „grundlegend“ ist hier dieselbe, wie in der Diskussion reduktionistischer Wirklichkeitstheorien. Sie zielt darauf ab, dass Individuen scheinbar ohne Gemeinschaften, Gemeinschaften aber nicht ohne Individuen existieren können. Dies ist jedoch eine äusserst unplausible Sichtweise. Wie Aristoteles bemerkte, ist einem solitären Individuum ein rascher Tod beschert. Vielleicht kann man sich diesen Punkt am besten vor Augen führen wenn man bedenkt, über welch lange Zeit Kinder äusserst hilflos sind und ständige Fürsorge und Aufmerksamkeit benötigen. Dazu kommt, dass auch die Mutter während und nach der Geburt Schutz und Nahrung braucht. Ohne ein minimales soziales Arrangement könnten weder Mutter noch Kind überleben. Vielleicht sind wir versucht zu sagen, ein isolierter menschlicher Erwachsener könne auch in der Wildnis überleben. Doch das ist nur möglich, weil dieser Mensch in einer Gesellschaft aufgewachsen ist, die ihm das nötige Wissen und die erforderlichen Fähigkeiten beigebracht hat.

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Schliesslich gibt es keine Hinweise, dass Menschen jemals in vollständiger Isolation gelebt hätten, wie Hobbes meinte, oder auch nur unabhängig von einer Gemeinschaft, die frei von allen Autoritätsverhältnissen war, wie ein anderer berühmter Individualist namens John Locke glaubte. Soweit wir wissen, haben Menschen immer in Familien, Stämmen, Clans, oder Dörfern gelebt, und waren durch sozial anerkannte Autoritätsverhältnisse, Regeln und Traditionen geprägt. Auf der anderen Seite hält die kollektivistische Auffassung jede Person für abhängig von, und darum wörtlich als Teil einer übergeordneten, allumfassenden sozialen Einheit. Dies steht jedoch im Widerspruch zur Natur menschlicher Gemeinschaften. Eine Gemeinschaft ist in keiner Weise selbsttragend im Verhältnis zu den einzelnen Individuen, da sie ohne diese genauso wenig existieren könnte, wie die einzelnen Individuen ohne sie. Unser erster Einwand gegen die kollektivistische Sichtweise wendet sich also gegen deren zentrale Prämisse, so wie unser erster Einwand gegen den Individualismus dessen grundlegende Annahme in Zweifel zog. Aus unserer Sicht sind beide Auffassungen falsch, weil Individuen und soziale Gemeinschaften in wechselseitiger Korrelation existieren. Das eine kann nicht ohne das andere sein. Keines ist grundlegender als das andere, weil keines der Ursprung des anderen ist, sondern beide ihre gleichursprüngliche Realität aus Gott beziehen. Dazu kommt, dass aus biblisch-theistischer Perspektive die Auffassung des einzelnen Menschen als blosser Teil irgend einer sozialen Einheit etwas Abstossendes hat. Menschen sind nicht blosse Zahnräder in der Maschinerie des Staates, oder Zellen im Organismus der menschlichen Familie. Das entscheidendste Merkmal einer menschlichen Person ist, aus biblischer Sicht, die Fähigkeit zur Gemeinschaft mit Gott. Gemäss dem Buch Genesis war das der Grund der Erschaffung des Menschen, und macht es möglich, dass wir Menschen am spirituellen Reich Gottes partizipieren, das jede von Menschen geformte Gemeinschaft übersteigt. Dies ist uns Menschen so eigentümlich, dass selbst wenn wir den wahren Gott zurückweisen, nicht anders können, als etwas Anderes an seine Stelle zu setzen. Das macht aus uns Glieder eines entsprechenden Reiches des Un- oder Irrglaubens, das ebenfalls jede menschlich geformte soziale Körperschaft transzendiert. Aus diesem Grund müssen wir darauf insistieren, dass Menschen zwar in Gemeinschaften leben und funktionieren, aber keine soziale Einheit existiert, von der Menschen nichts als Teile sind. All das bestärkt unsere Überzeugung, dass die Kombination eines nicht-­ reduktiven Programms der Theoriebildung mit den erwähnten biblischen Lehren zu folgender Einsicht führt: Obwohl wir Menschen in allen Aspekten der Schöpfung aktive Funktionen haben, ist die menschliche Natur mehr als die Summe all dieser Funktionen. Wie schon im neunten, elften und anfangs

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dieses Kapitels bemerkt wurde, ist die menschliche Natur mehr als alle diese Funktionen zusammen, weil sie im „Herz“ oder Selbst wurzelt, das ein einzigartiges Verhältnis zum Schöpfer hat, der alle Schöpfung übersteigt. Deshalb haben Menschen im Gegensatz zu allen anderen Wesen keine einzige qualifizierende Funktion. Sogar ihre Funktion im fiduziären Aspekt, die ihren tiefsten Glauben und Vertrauen ausdrückt, ist nicht dasselbe wie die Beziehung ihres Herzens zu Gott. Vielmehr ist es die Ausrichtung des Herzens auf Gott (oder auf das, was es an seiner Stelle als göttlich annimmt), die alle unsere Vertrauens- und Glaubensakte in eine bestimmte Richtung lenkt. Derart „orientiert“, erstreckt sich die Beziehung und Ausrichtung des Herzens auf Gott über die geschöpfliche Realität hinaus auf den unerschaffenen Schöpfer. Wie schon gesagt wurde, ist es diese Relation, die uns Menschen im tiefsten Sinn als religiöse Wesen auszeichnet. Gleichzeitig ist diese Sicht vollständig in Übereinstimmung mit der Tatsache, dass Menschen – einzeln und kollektiv – sowohl Handlungen vollziehen und in Gemeinschaften leben, die sehr wohl eine qualifizierende Funktion haben. Wir sind andererseits auch darauf gekommen, warum Gemeinschaften nicht in die Art direkter Beziehung zu Gott treten können, wie sie jedem einzelnen Mensch offen steht. Menschliche Gemeinschaften sind wohl durch Normen, Ideen, Traditionen, usw. strukturiert, die Gott oder einem Gottesersatz dienen. Doch selbst religiöse Institutionen können nicht den ewigen Charakter haben wie Personen. Es gibt also einen zentralen Unterschied zwischen der Natur einer jeden menschlichen Gemeinschaft und dem menschlichen Wesen, der es uns verbietet, Personen nur gerade als Teile eines übergeordneten sozialen Ganzen zu betrachten. Aus denselben Gründen müssen wir auch die weitreichenden Folgen jeder dieser traditionellen Theorien zurückweisen. Zum Beispiel betrachten individualistische Theorien alle menschlichen Gemeinschaften als Resultat der ­frei­willigen Vereinigung freier Individuen, die zwecks Förderung eines gemeinsamen Interesses oder Werts einen Vertrag miteinander abschliessen. Deshalb greifen diese Theorien oftmals auf einen „Gesellschaftsvertrag“ zurück, um Würde und Wohlfahrt des Individuums zu stützen. Die Wohlfahrt der weiteren Gesellschaft hat hingegen sekundären Charakter. Kollektivistische Theorien insistieren andererseits darauf, dass Individuen immer von sozialen Körperschaften abhängen, sowohl in biotischer wie auch in kultureller Hinsicht. Aus dieser Sicht sind menschliche Gemeinschaften nicht einfach das Produkt der freien Erfindung von Menschen, die einst ohne solche Körperschaften auskamen und auch weiter ohne sie auskämen, wenn sie es wünschten. Diese Auffassung führt oft dazu, dass Würde und Wohl der allumfassenden Gemeinschaft nicht nur für wichtiger als das Wohl jedes einzelnen Individuums betrachtet werden, sondern auch für wichtiger als alle Untergemeinschaften. Auf diesem

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Weg hat die Antwort jeder Theorie auf die Frage, ob das Individuum die Gemeinschaft generiert oder die Gemeinschaft das Individuum gewichtige Folgen für unsere gesellschaftlichen Prioritäten. Im Fall des Konflikts zwischen dem Gut des sozialen Ganzen und dem Gut des Individuums gibt eine Theorie dem Individuum den Vorzug, die andere aber der Gemeinschaft. Im Unterschied zu unserem Denkansatz, kann keine der beiden Theorien ein prinzipielles Gleichgewicht zwischen Individuum und Gesellschaft annehmen und begründen, da jede von einer reduktiven Bevorzugung des einen auf Kosten des anderen ausging. Diese Kontroverse um die gesellschaftliche Priorität von Individuum oder Kollektiv hat keinesfalls nur indirekte Auswirkungen auf die Einstellung derer, die sich auf der einen oder anderen Seite befinden. Es ist nicht nur so, dass ein Richter, der von einer individualistischen Theorie ausgeht, tendenziell eher die Rechte des Individuums stark macht, währenddessen sein kollektivistischer Kollege eher die Wohlfahrt der Gemeinschaft in den Vordergrund stellt. Diese Konsequenzen, für sich allein genommen, wären schon signifikant genug, da sie bedeutsame Unterschiede in der Rechtsprechung mit sich führen. Die eigentliche Bedeutung dieser Denkansätze geht jedoch tiefer, denn beide verleihen der Idee der Gerechtigkeit, die nicht nur Gerichtsurteilen, sondern dem gesamten Gesetzesbildungsprozess zugrunde liegt, eine bestimmte Ausrichtung und einen eigentümlichen Gehalt. Um das Ausmass dieser Unterschiede besser erfassen zu können, sollten wir uns daran erinnern, dass die kollektivistischen Theorien von Aristoteles und Marx die Gerechtigkeit als Harmonie unter den Gliedern einer Gemeinschaft zwecks Erhaltung der Gesellschaft als Ganzer definierten. In ihrer Sicht bedeutet das: Jede Gemeinschaft, die nicht mit dem Staat identisch ist, muss durch den Staat und zugunsten des Staates vollständig reguliert werden. Aristoteles und Marx vertraten diese Auffassung, da sie alle anderen Gemeinschaften als Teile des Staates betrachteten, der das übergeordnete, allumfassende soziale Ganze bildete. Gerechtigkeit meint tendenziell also das, was die Interessen des Staates aus der Perspektive des Staates fördert. Diese Sicht kennt keine prinzipiellen Grenzen hinsichtlich dessen, was der Staat verlangen oder verbieten kann. Menschenrechte werden konsequenterweise als die Freiheiten betrachtet, die zu gewähren im Interesse des Staates ist. Im Kontrast dazu, ging Locke in seiner berühmten individualistischen Theorie davon aus, dass Gerechtigkeit im Kern den Schutz von Leben und Besitz des einzelnen Individuums meint. Individuen werden als mit „natürlichen“ moralischen und legalen Rechten ausgestattet gesehen, die nicht vom Staat verliehen sind und zu deren Schutz der Staat überhaupt geformt wurde. Gemäss Locke besteht die einzige Möglichkeit, irgendwelche natürlichen Rechte auf rechtmässige Art und Weise zu

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verlieren im freiwilligen Entscheid der einzelnen Individuen, diese an den Staat abzutreten. Gegenüber der kollektivistischen Sicht ist Lockes Auffassung ohne Zweifel eine grosse Errungenschaft (sie enthält auch noch andere Elemente, die von biblischen Einsichten inspiriert sind, und mit denen ich keine Probleme habe.) Doch Lockes Individualismus bringt diesen dazu, die Idee der Gerechtigkeit auf Leben und Privatbesitz des Individuums zu beschränken. Seine Theorie hat keinen Raum für staatliche Bemühungen um öffentliche Gerechtigkeit, wo es nicht um private Besitzverhältnisse geht. So gesehen, wird der staatliche Regierungsapparat in Lockes Theorie eher zu einer privaten Versicherungsanstalt denn zum staatlichen Leitorgan. Die Folgen dieser beiden traditionellen Positionen sollen an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, da sie im folgenden Kapitel einer weitergehenden Kritik unterzogen werden. Hier soll die Bemerkung genügen, dass jede der traditionellen Sichtweisen die umfassende Bedeutung von Gerechtigkeit verfehlt, weil diese zuerst als die Erhaltung der Individuen oder die Erhaltung des sozialen Ganzen definiert wird. Unser kosmonomisches Wirklichkeitsverständnis schützt uns jedoch vor der falschen Alternative zwischen Individualismus und Kollektivismus. Es kann zur Einsicht verhelfen, dass in der Administration der öffentlichen Gerechtigkeit weder das Individuum noch die Gesellschaft als Ganze eine bevorzugte Stellung einnimmt, da die Normen der Gerechtigkeit, die an der Quelle der Menschenrechte sind, ihren Ursprung nicht in der einzelnen Person oder im gesellschaftlichen Kollektiv haben. Anstatt unseren Fokus auf die eine oder andere Seite zu verengen, gibt uns das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis ein Weitwinkelobjektiv zur Hand, das uns das gesamte Spektrum des Lebens zu würdigen erlaubt. In anderen Worten befähigt es uns, die Norm der Gerechtigkeit gleichermassen auf Individuen wie auf soziale Körperschaften zu beziehen. 12.4

Von Teilen und Ganzen

Oben sind wir kurz auf die Begründung der kollektivistischen Sicht durch Aristoteles zu sprechen gekommen, dergemäss das Ganze grundlegender (sein Ausdruck war „früher“) ist als jedes seiner Teile. Er diskutierte diese Auffassung mit Blick auf die Beziehung zwischen Individuum und Staat – eine Auffassung, die aus einer theistischer Perspektive auf den Menschen eindeutig zurückgewiesen werden muss. Doch bleibt immer noch die Frage, ob nicht gewisse menschliche Gemeinschaften Teile anderer Gemeinschaften sind. Diese Frage ist darum wichtig, weil alle Gesellschaftstheorien davon ausgehen, dass ein Teil vom Ganzen abhängt, und darum jede Gemeinschaft, die Teil einer

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12. Kapitel

anderen ist, dieser untergeordnet ist. Jeder Teilgemeinschaft kommt deshalb weniger Autorität zu als der übergeordneten (Teil)Gemeinschaft. Die Gemeinschaft, die alle anderen Gemeinschaften in sich schliesst, besitzt demnach höchste Autorität und Regulierungskompetenz über ihre Teile. Die Frage ist: Gibt es eine höchste gesellschaftliche Autorität? Wenn ja, welcher Art ist sie? Diese Fragen müssen von jeder Gesellschaftstheorie beantwortet werden, egal ob sie innerhalb einer kollektivistischen, individualistischen oder kosmonomischen Perspektive aufgestellt wird. Ich streiche die Wichtigkeit dieser Fragen für jede Art von Gesellschaftstheorie heraus, weil sie tendenziell eher mit kollektivistischen Theorien in Zusammenhang gebracht werden. Diese Theorien haben sich immer deutlich darüber ausgesprochen, welche spezifische Institution als übergeordnete Gemeinschaft betrachtet wird und jede andere Gemeinschaft und deren einzelnen Glieder als untergeordnete Teile ihrer selbst umfassen soll. Es ist der allumfassende Charakter der jeweils bevorzugten Institution, die deren Anspruch auf höchste Autorität im gesellschaftlichen Zusammenleben begründen soll. Individualistische Theorien sind dagegen für ihren Widerstand bekannt, den sie jedem umfassenden Führungs- oder Autoritätsanspruch entgegenbringen. Da sie die einzelnen Menschen als Schöpfer der verschiedenen Gemeinschaften und Körperschaften betrachten, halten individualistische Denker für gewöhnlich an der Existenz von Freiheitsrechten fest, die den einzelnen Menschen in gewisser Hinsicht von der Autorität jeder Gemeinschaft befreit.9 Doch die Befreiung des Individuums von gewissen Autoritätsverhältnissen verhindert noch nicht, dass zumindest einige Gemeinschaften als Teile einer anderen gesehen werden. So haben viele individualistische Gesellschaftstheorien den einzelnen Menschen in gewisser Hinsicht zwar von der Autorität bestimmter Institutionen zu beschützen versucht, am Ende aber doch der Sichtweise nachgegeben, die alle anderen Gemeinschaft unter die eine, allumfassende Gemeinschaft subsumiert, deren totaler Autoritätsanspruch nicht bestritten wird. Das macht unsere Fragen tatsächlich unvermeidlich, egal aus welcher gesellschaftstheoretischen Perspektive sie beantwortet werden sollen: Wie können wir entscheiden, ob eine Gemeinschaft Teil einer anderen ist oder nicht? Wie können wir wissen, wann wir es mit einem echten Teil-Ganzes Verhältnis zu tun haben und wann nicht? 9 Ich sage „für gewöhnlich“, weil die Theorie von Thomas Hobbes eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt. Hobbes beginnt mit einer individualistischen Position, argumentiert dann aber, dass der beste Staat, den Menschen schaffen können, derjenige ist, der der herrschenden Autorität keine Einschränkungen auferlegt, sodass die Bürger keine Rechte ausser dem Recht der Selbsterhaltung besitzen.

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In Übereinstimmung mit unserer kosmonomischen Wirklichkeitstheorie können wir nun auf die qualifizierende Funktion eines jeden Dings, sowie auf das kreatürliche Geflecht von modalen und typischen Gesetzen zurückgreifen, um diese Fragen zu klären. Es scheint tatsächlich so, dass diese Theorie die Bedingungen ermitteln kann, unter denen ein echtes Teil-Ganzes Verhältnis vorliegt. Sie gibt uns einige wichtige Unterscheidungen an die Hand, aufgrund derer sich viele der oftmals für solche gehaltenen gesellschaftlichen Beziehungen überhaupt nicht als echte Teil-Ganzes Beziehung entpuppen. Im Folgenden gehe ich von der aristotelischen Auffassung aus, dass ein Teil nicht unabhängig von dem Ganzen existieren können, von dem es ein Teil ist. Die Art der Unabhängigkeit, die Aristoteles den Teilen eines Ganzen abspricht, umfasst zwei Elemente: Teile müssen an der internen Organisation und Funktionsweise des Ganzen partizipieren, und sie können nicht unabhängig vom Ganzen zu existieren beginnen oder funktionieren. Offensichtlich reicht jedoch keine dieser beiden Bedingungen, für sich allein genommen, aus, um von einer echten Teil-Ganzes Beziehung sprechen zu können. Die Tatsache, dass X nicht unabhängig von Y existieren oder funktionieren kann, macht aus X noch keinen Teil von Y, da es auch Beziehungen zwischen zwei Ganzen gibt, in denen eines oder beide der Elemente nicht ohne das andere existieren können. Ein Baum, zum Beispiel, ist ein individuelles Ganzes, das seine eigentlichen Teile besitzt, doch kann er nicht zu existieren beginnen oder funktionieren ohne Erde oder Nährboden. Der Baum ist jedoch nicht Teil der Erde. Ähnlich geht aus der Tatsache, dass X in der inneren Organisation von Y funktioniert nicht notwendig hervor, dass X Teil von Y ist. Ein kleines Steinchen im Muskelmagen des Vogels kann dem Tier erlauben die eingenommene Nahrung zu zerkleinern, und ist dennoch nicht ein Teil des Vogels. Obwohl keine dieser beiden Bedingungen ein echtes Teil-Ganzes Verhältnis ausmachen kann, herrscht traditionellerweise doch die Auffassung vor, dass beide Bedingungen zusammen hinreichen, um ein solches zu identifizieren. Dieser Auffassung kann ich nicht zustimmen. Wir haben gesehen, dass Menschen einerseits nicht ohne die eine oder andere Gemeinschaftsform existieren können, und andererseits an der inneren Organisation dieser Gemeinschaften partizipieren. Dennoch können sie nicht als blosse Teile irgendeiner Gemeinschaft betrachtet werden. Menschliche Personen sind deshalb ein gewichtiges Gegenbeispiel zur üblichen Sichtweise. Diesen beiden traditionellen Kriterien muss ein drittes hinzugefügt werden: Ein Gegenstand muss dieselbe qualifizierende Funktion haben wie das übergeordnete Ganze, wenn er denn wirklich ein Teil dieses Ganzen sein soll. Das neue Kriterium, um echte Teil-Ganzes Verhältnisse von bloss scheinbaren unterscheiden zu können, ist deshalb wie folgt: Etwas muss (1) in der inneren Organisation eines Ganzen

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funktionieren, (2) ausserstande sein, ohne das Ganze zu existieren oder zu funktionieren, und (3) dieselbe qualifizierende Funktion wie das Ganze zu besitzen, um tatsächlich ein Teil dieses Ganzen zu sein. Diese Darstellung zeigt, dass wir in unserem alltäglichen Sprachgebrauch ein Ding oft allein schon deshalb als Teil eines anderen bezeichnen, weil es das erste Kriterium erfüllt, das heisst, eine Rolle in der internen Organisation des vermeintlichen Ganzen spielt. Zum Beispiel sagen wir von einem Stein, der die Ecke des Grundstücks ziert, er sei Teil des Gartens. Doch schon die überkommene Theorie des Verhältnisses von Teilen und Ganzen müsste diese Sicht, wörtlich genommen, zurückweisen, da der Stein auch unabhängig vom Garten existieren kann. Unser neuer Begriff stimmt mit diesem Urteil überein, fügt ihm aber den zusätzlichen Grund hinzu, dass der Stein physisch, der Garten jedoch ästhetisch qualifiziert ist. Natürlich stimmt es, das der Stein im Garten liegt. Doch gehört er zum Garten als ein Ganzes innerhalb eines grösseren Ganzen, und nicht als ein Teil dieses grösseren Ganzen. Dasselbe gilt auch für die Pflanzen des Gartens, die strikt genommen ebenso wenig dessen Teile sind; die Pflanzen sind biotisch qualifizierte natürliche Gegenstände, der Garten aber ein ästhetisch qualifiziertes Artefakt. Das führt uns zu einer weiteren Unterscheidung: Wenn immer ein Gegenstand innerhalb eines grösseren Ganzen funktioniert, aber eines der drei Kriterien nicht erfüllt, das ihn zu einem Teil jenes Ganzen machen würde, können wir ihn ein Teilganzes (sub-whole) nennen, anstatt ein Teil des anderen. Die grösseren Ganzen, die Teilganze enthalten, können wir dagegen „enkaptische“ Ganze nennen, die ihre Teilganzen in sich einschliessen oder „enkapsulieren“. Diese Ausdrücke sollen die Vorstellung eines Ganzen vermitteln, das in einem grösseren Behälter-Ganzen (Kapsel) enthalten ist, ohne jedoch Teil dieses Behälters zu sein. Die Beziehung der Teilganzen zu ihren enkaptischen Ganzen kann demnach ebenso mit dem Ausdruck „enkaptisch“ versehen werden.10 Dieser Teil unserer Theorie zeitigt Resultate, die über das hinausgehen, was auf dem Boden der traditionellen Teil-Ganzes Theorien möglich ist. Um diesen Punkt zu illustrieren, können wir auf ein (nicht soziales) Artefakt zurückgreifen, wie zum Beispiel die Marmorskulptur einer menschlichen Figur. Ein wichtiger Teil unserer Erklärung der Natur der Skulptur beruft sich auf deren Basisfunktion (die historische Qualifikation des Herstellungsprozesses) und 10 Dooyeweerd nennt auch die Ganzes-Ganzes-Relationen „enkaptische Relationen“ (New Critique, vol. 3, 627–784). Ich finde es verwirrend, denselben Begriff für Ganzes-GanzesRelationen zu verwenden, in dem keines ein Teilganzes des jeweils anderen ist, und für Relationen, in denen eines ein Teilganzes des anderen ist. Daher verwende ich den Ausdruck „Ganz-Ganz“ für den ersten Sachverhalt und übernehme „enkaptisch“ für den zweiten.

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auf deren Leitfunktion (die ästhetische Qualifikation des künstlerischen Planes, der den Herstellungsprozess anleitet). Die Frage, wie das Verhältnis des Marmors zum Kunstwerk als Ganzem zu sehen ist, kann nicht beantwortet werden, indem man auf das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem hinweist. Selbst in der traditionellen Perspektive kann der Marmor nicht Teil der Skulptur sein, da er auch ohne sie existieren kann. Nach unserer Kriterienliste hat der Marmor zudem auch eine andere (physische) modale Qualifikation als das Werk als Ganzes. Auch ist es nicht sinnvoll zu sagen, der Marmor spiele ein Rolle innerhalb der Gesamtorganisation der Skulptur. Der Begriff einer enkaptischen Beziehung kann diese Schwierigkeiten vermeiden. Wir können sagen, dass der Marmor als natürlicher Werkstoff der Skulptur nicht Teil des Kunstwerkes, sondern ein Teilganzes ist, das in einem enkaptischen Ganzen enthalten ist. Das erlaubt uns, das eigentlich Neue zu erklären, das durch die Bear­beitung des Marmors entsteht, ohne sagen zu müssen, dass der Marmor entweder Teil der Skulptur ist (wenn deren Teile doch aus Kopf, Arme, Beine, Torso, usw. bestehen) oder dass überhaupt kein neues Ganzes entstanden ist und es sich im Wesentlichen um ein blosses Stück Marmor handelt (wie Aristoteles in Metaphysik, Buch Z, 1043a gezwungen war zu behaupten). Dann weist das Verhältnis zwischen dem enkapsulierten Marmor und der realisierten Skulptur ein weiteres Merkmal auf, das typisch ist für das Verhältnis zwischen Teilganzen und enkaptischen Ganzen: Was immer wir auch über die Natur der Teilganzen in Erfahrung bringen können reicht nicht aus, um das Wesen des enkaptischen Ganzen zu bestimmen. Beide sind unterschiedlicher Natur, da sie verschiedene qualifizierende Funktionen besitzen. In diesem Beispiel heisst das: Kein Ausmass an physikalischem Wissen, das jemals über Marmor gewonnen werden kann, trägt irgend etwas zur Information über die Skulptur als Kunstwerk bei. Die Unterscheidung zwischen Teilen und Ganzen sowie enkaptischen Beziehungen hat sowohl auf natürliche wie auf gefertigte Gegenstände Anwendung. Ein paar Beispiele mögen zur weiteren Klärung der Unterschiede zwischen diesen Beziehungen beitragen. Betrachten wir die Beziehung zwischen den Atomen in einer Pflanze zur Pflanze als Ganzer. Die Atome partizipieren mit Sicherheit an der inneren Organisation der Pflanze. Doch weil die Atome jedes chemischen Elements lange existierten bevor das Leben auf der Erde begann, und weil die Atome nicht zerstört werden wenn die Pflanze stirbt, besteht kein Zweifel darüber, ob Atome unabhängig von Pflanzen existieren können. Zudem haben Atome nur eine physische qualifizierende Funktion, derweil die qualifizierende Funktion der Pflanze biotischer Art ist und den physischen Aspekt übersteigt. Die Atome sind deshalb nicht Teile der Pflanze, sondern stehen zu ihr als Teilganze zu einem enkaptischen Ganzen.

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Im Gegensatz dazu stehen die Zellen der Pflanzen zu dieser in einem genuinen Teil-Ganzes Verhältnis. Die Zellen funktionieren in der inneren Organisation der Pflanze, sie können nicht zu existieren beginnen oder (lange) ausserhalb der Pflanze funktionieren, und sie haben dieselbe (biotische) qualifizierende Funktion. Die Beziehung zwischen Atomen und einem Molekül ist wiederum eindeutig enkaptischer Art. Zum Beispiel können Wasserstoff- und Sauerstoffatome nicht Teile des H2O-Moleküls sein, obwohl sie in dessen inneren Organisation funktionieren und dieselbe physische qualifizierende Funktion haben. Dennoch können sie unabhängig von ihrer Kombination im Molekül existieren und funktionieren. Deshalb haben wir es mit einem weiteren Beispiel einer enkaptischen Relation zu tun. Das heisst, auch hier können die Eigenschaften des Ganzen nicht von den Eigenschaften seiner Teilganzen abgeleitet werden. In jedem mir erdenklichen Beispiel bewahren die Teilganzen, die in einem enkaptischen Ganzen zusammengeschlossen sind, ihre eigene Identität, da ihre qualifizierende Funktion auch abgesehen von ihren Verbindungen im Ganzen dieselbe bleibt. Wenn diese Teilganzen nun in einem enkaptischen Ganzen vereint sind, werden ihre ursprünglichen qualifizierenden Funktionen durch die qualifizierende Funktion des Ganzen ausser Kraft gesetzt. Anders gesagt existieren und funktionieren die Teilganzen jetzt in einem Ganzen, dessen Eigenschaften und qualifizierende Funktion keinem der Teilganzen für sich genommen zukommen, von jedem der Teilganzen aber unterstützt wird. Aus diesem und anderen Gründen, können Teilganze nicht als die Ursachen des enkaptischen Ganzen betrachtet werden, innerhalb dessen sie vereint sind. Sie sind notwendige Bedingungen für dieses Ganze, aber sie sind nicht hinreichende Bedingungen. Der zusätzliche Faktor, der aus unserer Sicht zur Erklärung enkaptischer Ganzer notwendig ist, besteht darin, dass solche Ganze durch eine zweite Art von Typengesetz möglich gemacht werden. Zusätzlich zur Postulierung von Typengesetzen, die quer zu den modalen Aspekten und Gesetzesebenen verlaufen und bestimmen, welche Kombinationen von Eigenschaften verschiedener modaler Art in einem individuellen Gegenstand und seinen Teilen auftreten können, postulieren wir die Existenz von Typengesetzen, die statuieren wie es möglich ist, dass Ganze aus Teilganzen bestehen, die die selbe oder eine andere Qualifikation haben. Dieser Beitrag zu unserem Verständnis von Teil-Ganzes Verhältnissen im Unterschied zu Teilganzes-Ganzes Verhältnissen lässt sich auch auf soziale Beziehungen und Gemeinschaften anwenden. Eine Gemeinschaft ist dann und nur dann Teil einer anderen, wenn sie ohne die andere nicht zu existieren oder zu funktionieren vermag, sie an der inneren Organisation der anderen partizipiert, und dieselbe Leitfunktion wie die andere hat. Ansonsten ist sie nicht Teil

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der anderen (unabhängig davon, wie stark eine Gemeinschaft unter dem Einfluss – oder sogar der totalen Kontrolle – einer anderen steht). Eine Gemeinschaft ist demnach Teilganzes einer anderen, und wird von dieser enkapsuliert, wenn (1) sie an der internen Organisation der anderen partizipiert und (2) nicht über bestimmte Eigenschaften des grösseren Ganzen verfügt, obwohl sie (3) ausserhalb des grösseren Ganzen existieren kann. Wenn diese Definitionen auf die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften angewendet werden, ergeben sich gewichtige Konsequenzen. Unsere Kriterien zeigen dann, dass einige wenige Gemeinschaften tatsächlich Teile einer anderen sind, die wichtigsten gesellschaftlichen Institution und Organisationen aber nicht als Teile von einander betrachtet werden können. Ein Wirtschaftsunternehmen kann zum Beispiel separat organisierte Gruppen oder subsidiäre Tochtergesellschaften in sich vereinen, die wirkliche Teile seiner selbst sind. Ein Staat kann in Provinzen, Grafschaften, Departements, Bundesländer, Kantone, Bezirke, Distrikte und Gemeinden aufgeteilt sein. Nationale Armeen und Gerichtshöfe sind auch Teile des Staates. Aber ein Wirtschaftsunternehmen kann niemals Teil des Staates sein. Die beiden haben nicht dieselbe Leitfunktion; Natur und strukturelle Bestimmung sind deshalb verschieden. Auch ihr jeweiliges inneres Organisationsprinzip (Typengesetz) ist verschieden, so dass es sich um irreduzibel distinkte Typen sozialer Entitäten handelt. Dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen Familie und Staat. Die Familie hat eine eigenständige (ethische) Leitfunktion und ist durch ein anderes Typengesetz strukturiert als der Staat. Sie kann auch da existieren und funktionieren, wo es keinen Staat gibt. Auch wenn sie auf staatlich organisiertem Territorium existiert, kann eine Familie nie ein Teil des Staates sein. Als Beweis dafür mag die Tatsache gelten, dass jedes der Familienmitglieder zugleich Bürger oder Bürgerin eines anderen Staates sein kann. Das wäre unmöglich, wenn die Familie Teil eines Staates wäre. Ganz ähnlich kann eine Kirche oder Synagoge niemals Teil eines Staates oder eines Unternehmens oder einer Familie sein; genauso wenig wie das Umgekehrte möglich ist. Alle diese Institutionen stehen in einem Ganzes-Ganzes Verhältnis zu einander, und nicht in einem TeilGanzes Verhältnis. Nicht nur sind die bedeutendsten Typen von Institutionen und Organisationen der Gesellschaft nicht Teil einer bestimmten Institution, sie können auch nicht als enkapsulierte Teilganze einer übergeordneten Gemeinschaft betrachtet würden. Was sollte dieses enkaptische Ganze sein? Der meist bevorzugte Kandidat ist der Staat, doch wäre dieser allumfassenden müsste die Leit­ funktion eines jeden der enkapsulierten Teilganzen durch die justitiäre Leitfunktion des Staates ausser Kraft gesetzt werden. Das würde bedeuten, dass enkapsulierte Gemeinschaften die verschiedenen Funktionen verlieren, die

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mit ihrer jeweiligen strukturellen Bestimmung einhergehen. Diese Gemeinschaften wären dann alle auf den Zweck der Gesetzgebung und der Durchsetzung öffentlicher Gerechtigkeit ausgerichtet. Es gäbe keine Gemeinschaften mehr, die dem Erwirtschaften des Lebensunterhaltes, der Erziehung und Bildung der nachfolgenden Generation, der Produktion von Kunst, oder des Ausdrucks eines religiösen Glaubens gewidmet wäre. Dieser Punkt ist simpel aber entscheidend: Entweder gibt es verschiedene Gemeinschaften oder es gibt sie nicht. Keine soziale Einheit kann ihre strukturelle Bestimmung erfüllen und zugleich als Teilganzes in einem allumfassenden Ganzen funktionieren. Aus diesem Grund ist in unserer Sicht die Idee eines Staatsunternehmens, einer Staatskirche, oder einer Staatsschule ebenso selbstwidersprüchlich wie die einer Staatsfamilie. In dem Ausmass als eine Organisation oder Institution eine Kirche, eine Schule oder ein Wirtschaftsunternehmen ist, ist sie gerade nicht Staat (oder umgekehrt). Natürlich kann sich ein Staat dazu entscheiden, eine andere Gemeinschaft wie eine Schule zu unterstützen, wie auch eine Kirche, eine Gewerkschaft, eine Stiftung, ein Unternehmen oder eine Familie eine Schule unterstützen kann. Doch in jedem Fall sollte diese Unterstützung in der Anerkennung der eigenständigen Natur der Schule gewährleistet werden, so dass deren internen Kompetenz- und Autoritätsverhältnisse nicht in denjenigen der unterstützenden Gemeinschaft aufgehen sollten. 12.5 Sphärensouveränität Die bisher gewonnenen Resultate unserer kosmonomischen Wirklichkeitstheorie drängen uns zur Zurückweisung jeder Auffassung der Gesellschaft als ein hierarchisches Ganzes. Innerhalb bestimmter Gemeinschaften kommt es notwendig zur Ausbildung von Hierarchieverhältnissen; doch verwerfen wir jeden Gedanken einer „globalen“ Hierarchie, die die gesamte Gesellschaft umfasst.11 11

Einige thomistische Denker bezeichnen das, was ich eine „hierarchische“ Sicht der Ge­­ sellschaft nenne, als Position der „Subsidiarität“. Siehe z.B. Yves R. Simon, Philosophische Grundlagen der Demokratie, übers. Lotte Piening (Meisenheim am Glan: Anton Hain KG, 1956), und A General Theory of Authority (Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1962). Wie sich in Kürze herausstellen wird, weist unsere Theorie die hierarchische Sicht als Gesamttheorie der Gesellschaft zurück, obwohl sie Hierarchie in ein und derselben Ge­meinschaft und zwischen auxiliaren Gemeinschaften anerkennt, die ausdrücklich dazu gebildet wurden, einander zu unterstützen – z.B. eine Organisation, die gegründet wurde, um Gelder für eine Schule oder ein Orchester zu sammeln. Die Gesetzes­rah­men­ theorie erkennt an, dass Subsidiarität ein wertvolles Prinzip für die interne Organisation spezifischer Institutionen ist. So gesehen, kann Subsidiarität mit der Idee der Sphären­

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Hier macht es keinen Unterschied, ob die vermeintliche Hierarchie viele Ebenen enthält oder nur gerade aus dem Unterschied zwischen der allumfassenden, höchsten Institution und den scheinbar untergeordneten Gemeinschaften bestehen soll. Einsicht in die eigenständige Natur menschlicher Gemeinschaftsformen zeigt, wie selten eine Gemeinschaft Teil oder Teilganzes einer anderen sein kann. Das führt uns zu einer strukturell pluralistischen Sicht der Gesellschaft. Dieser Pluralismus widerspiegelt innerhalb des sozialen Aspekts dieselbe irreduzible Mannigfaltigkeit, die gemäss unserer Wirklichkeitstheorie auch zwischen den verschiedenen Aspekten auftritt: So wie kein Aspekt realer oder die Ursache eines anderen ist, so gibt es auch verschiedene, nicht auf einander zurückführbare „Sphären“ des gesellschaftlichen Lebens. Keine dieser Sphären ist realer als eine andere oder bringt sie erst hervor. Deshalb betrachten wir auch die Autoritätsformen durch, die verschiedene Gemeinschafts­ formen strukturiert sind, als irreduzibel und komplementär, und nicht als Pro­dukte einer allumfassenden Quelle. Aus dieser Sicht gibt es deshalb keine Institution, die rechtmässigen Anspruch auf höchste Autorität über das menschliche Leben als solches erheben könnte. Vielmehr verfügt jede Gemeinschaftsform nicht nur über ihren eigenen strukturellen Zweck, der sich aus ihrer Leitfunktion ergibt, und über ihre eigene interne Organisation, die sich aus dem jeweiligen Typengesetz ergibt, sondern prägt auch ihre spezifische Form von Autorität aus. Das heisst, jede Gemeinschaftsform kann Souveränität in ihrer eigenen gesellschaftlichen Sphäre beanspruchen. Diese Sou­veränität garantiert die Freiheit jeder Gemeinschaft vor Eingriffen durch andere Gemeinschaftsformen, soweit ihre internen Angelegenheiten betroffen sind. Sie ermöglicht es einer Gemeinschaft auch, ihre eigenen Operationsregeln im Blick auf die bestmögliche Erfüllung ihres strukturellen Zwecks herauszubilden. Das ist das Prinzip, das von Abraham Kuyper an der Schwelle zum letzten Jahrhundert entfaltet und als Prinzip der „Sphärensouveränität“ bezeichnet wurde.12

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souveränität hinsichtlich der Gesamtgesellschaft kombiniert werden, um eine starke, theistisch basierte Theorie der Gesellschaft zu schaffen. Aber weil die Idee der Subsidiarität wohlbekannt ist, während die Sphärensouveränität dies nicht ist, werde ich mich darauf konzentrieren zu diskutieren, was aus der zweiten folgt. Siehe A. Kuyper, Calvinism. Stone Lectures given at Princeton (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1976). In diesem Zusammenhang ist es wichtig anzumerken, dass die ­Erklärung des Wesens von sozialen Gemeinschaften mit Blick auf deren qualifizierenden Aspekte in der Theorie der Sphärensouveränität nicht zugleich besagt, dass mit der Bildung einer Gemeinschaft diese exklusive Rechte über den Aspekt hätte, der die Leitfunktion dieser Gemeinschaft ausmacht. Unternehmen haben nicht das ausschliessliche Sagen in ökonomischen Dingen, so wenig wie es nur der Staat ist, der mit Gerechtigkeit oder Schulen mit

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Für den christlich-theistischen Charakter dieses Prinzips bezeichnend ist die Tatsache, dass dessen Ausformulierung durch Kuyper nicht aus einer Wirklichkeitstheorie, sondern aus der heiligen Schrift hervorging. Kuyper bemerkte, dass das Neue Testament nicht nur den Ursprung aller irdischen Autorität in Gott bezeugt, sondern dass verschiedene irdische Autoritätssysteme anstatt nur gerade ein solches anerkannt werden. Die Schriften der hebräischen Bibel haben diese Sicht schon dadurch vorgezeichnet, dass die Propheten Israels die Autorität ihres Königs als limitiert und nicht als total auffassten. Aus dem Neuen Testament geht diese Sichtweise noch stärker hervor, wenn Eltern als Autoritäten innerhalb der Familie, Regierungsbeamte als Autoritäten innerhalb des Staates, und Kleriker als Autoritäten innerhalb der Kirche bezeichnet werden. Die Ausarbeitung dieses Denkansatzes durch Kuyper diente der Fortschreibung einer Tradition, die zentrale Impulse durch Calvin erhalten hatte. Dieser hatte schon lange zuvor über die verschiedenen Stände und Berufungen nachgedacht, und die limitierte Autorität und Kompetenz erblickt, die ihnen zukommt. Zum Schluss ist noch wichtig zu bemerken, dass der Herr jedem einzelnen von uns befiehlt, bei allem Tun und Lassen auf seinen Beruf zu achten … Er hat also … die verschiedenen Lebensgestalten (vitae generae) eingesetzt und jeder ihre besonderen Pflichten zugeordnet. … dann wird sich keiner von seiner eigenen Vermessenheit dazu treiben lassen, mehr zu unternehmen, als es sein Beruf [oder: Berufung] mit sich bringt; dann wird er eben wissen, dass es uns verwehrt ist, unsere Grenzen [der Autorität] zu überspringen … damit er nicht den Platz verlässt, an den ihn Gott gestellt hat … Ist er obrigkeitliche Person, so wird er dann williger sein Amtswerk ausüben, ist er Familienvater, so wird er seine Pflicht fleissig tun … Denn wenn wir nur unserem Beruf gehorchen, so wird kein Werk so unansehnlich und gering sein, dass es nicht vor Gott leuchtet und für sehr köstlich gehalten wird! (Unterricht, III, 10, 6) Das gesellschaftliche Prinzip der Sphärensouveränität ist deshalb weiterer Ausdruck der Normierung unserer Theorie nicht nur durch eine nicht-reduktive Wirklichkeitstheorie, sondern durch spezifische biblische Erkenntnisse, die ihren deutlichsten Ausdruck im Neuen Testament finden. Hier sollte jedoch betont werden, dass dieses Prinzip nicht nur negativer Art ist. Es bedeutet nicht nur, dass jede eigenständige Gemeinschaft äussere Erziehung zu tun haben. An den sozialen Sphären nehmen immer alle Menschen und alle Gemeinschaften teil.

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Autoritäts- und Kompetenzgrenzen hat, die einen „Grenzwall“ (wall of separation) zwischen ihren Autoritätssphären aufrichten. Da die negativen Grenzen selbst durch die innere Natur jeder Gemeinschaftsform bestimmt sind, hat das Prinzip auch das positive Ziel, jeder eigenständigen Gemeinschaftsform zur Realisierung ihres ureigenen strukturellen Zwecks zu verhelfen. Auch ist das Prinzip der Sphärensouveränität nicht bloss ein praktischer Ratschlag, der besagt: „Wenn der distinkte Charakter oder die eigenständige Bestimmungen der verschiedenen Gemeinschaftstypen nicht berücksichtigt wird, wird jede Gesellschaft von Zank und Unfriede zwischen diesen heimgesucht“. Es geht auch nicht darum, einem Gemeinschaftstyp die entsprechende Nische zuzuordnen, in der er von jeglicher Intervention durch andere abgeschirmt wäre, weil zum Beispiel Kunst und Wirtschaft oft aufblühten wenn genau das der Fall war. Vielmehr ist die Sphärenbegrenzung jeder Form von Autorität in der Natur des jeweiligen Gemeinschaftstypus angelegt, so dass die Überschreitung dieser Kompetenzgrenzen immer auch destruktive Folgen für die Gemeinschaft hat, die sie vollzieht, und nicht nur für die, deren Souveränität verletzt wird. Die Idee der Sphärensouveränität soll nun als Leitschnur in der Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie dienen, wie sich all die verschiedenen Gemeinschaftstypen der Gesellschaft zu einander verhalten sollten. In jedem Schritt soll diese Theorie die Überzeugung reflektieren, dass die Sphären des gesellschaftlichen Lebens einerseits nicht auf einander zurückgeführt werden können, andererseits aber auch nicht von einander getrennt werden können. Die verschiedenen Gemeinschaftstypen, die diesen Sphären entsprechen, ­werden ihrerseits als irreduzibel und unzertrennlich betrachtet, da sie aus verschiedenen menschlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Bestrebungen hervorgehen, die durch verschiedene Aspekte qualifiziert sind. Zum Beispiel streben wir alle nach physischer Sicherheit, nach der Erfüllung biotischer Bedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft, und sind durch das sensorische Bestreben geleitet, die Welt um uns herum wahrzunehmen und zu erkunden, unter Vermeidung von Schmerzen und dem Ziel des Lustgewinns. Oft werden die Wissenschaften, die sich mit diesen Aspekten beschäftigen, die weiter unten auf unserer Liste figurierten, „Naturwissenschaften“ genannt. Diejenigen Wissensdisziplinen, die sich mit den weiter oben figurierenden Aspekten beschäftigen, wie zum Beispiel Soziologie oder Ökonomie, tragen dagegen den Namen „Sozialwissenschaften“. Doch ist es wichtig zu erkennen, dass die verschiedenen, modal qualifizierten Bedürfnisse und Bestrebungen, die Gegenstand der Sozial- und Kulturwissenschaften sind, ebenso „natürlich“ sind. Das heisst: Obwohl die Art und Weise, wie wir auf diese Bedürfnisse und Bestrebungen reagieren unserer formativen Kontrolle unterliegt, widerspiegeln die

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Bedürfnisse und Bestrebungen selbst die von Gott erschaffene menschliche Natur und lassen sich nicht auf unsere eigenen Erfindungen reduzieren. Dank der Schöpfungsordnung haben zum Beispiel alle Menschen unweigerlich ein natürliches Interesse an sozialen Angelegenheiten (im engeren Sinn von „sozial“), das sich in so verschiedenen Dingen wie der Entwicklung von Kleidungstypen, sozialen Schichtungen, Anstandsnormen, etc. manifestiert. Wir haben auch ökonomische Bedürfnisse, die um den Erwerb des eigenen Lebensunterhalts kreisen, und bringen unsere ästhetischen Bedürfnisse oder Fähigkeiten in der Erzeugung oder Rezeption von Kunst sowie im Sport zum Ausdruck. Gleichermassen sind alle Menschen an Gerechtigkeit und Liebe, der Erziehung ihrer Kinder, und der Ausübung ihres Glaubens interessiert. Unsere Behauptung ist die, dass diese Dinge insofern „natürlich“ sind, als kein Volk sie vollständig unterdrücken kann. Vielmehr sind sie derart wichtig und im menschlichen Dasein verankert, dass Menschen unweigerlich Gemeinschaften bilden, um sie zu sichern und zu fördern.13 Gleichzeitig sollte jedoch ersichtlich geworden sein, dass die Sphären gesellschaftlicher Souveränität, von denen hier die Rede ist, nicht verschiedene Gruppen von Menschen umfassen. Es gibt kein Mensch, dessen Bedürfnisse und Bestrebungen nicht durch jede dieser Sphären geprägt wäre, egal ob er einer Gemeinschaft angehört, die der Förderung der jeweiligen Interessen gewidmet ist oder nicht. Und dieselben Menschen, die Angehörige einer solchen Gemeinschaft sind (zum Beispiel Staatsangehörige), sind zugleich oft auch Mitglieder anderer Gemeinschaften, zum Beispiel Angestellte in einem Unternehmen, Mitglieder einer Synagoge, Kirche oder Moschee, oder einer politischen Partei, Studierende an einer Schule etc. Um die Darstellung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Boden des Prinzips der Sphärensouveränität noch deutlicher zu machen, sollten wir zum Thema Autorität zurückkehren, und unser Prinzip enger damit verbinden. Diese Fokussierung erlaubt uns zu sehen, wie das Prinzip der Sphärensouveränität die Frage beantwortet: Aufgrund welcher Autorität erlässt eine 13

Dooyeweerd weist darauf hin, dass die mangelnde Ausbildung differenzierter Gemeinschaften, die mit den distinkten sozialen Belangen des Lebens korrespondieren, das Kenn­zeichen primitiver Gesellschaften ist. In ihnen gibt es üblicherweise eine einzige Gemeinschaft, etwa eine erweiterte Familie oder eine Stammesgemeinschaft, die die ­Verwalterin von sozialen Interessen ist. Dooyeweerd erklärt, wie solch ein Mangel an ­Aus­differenzierung in der Geschichte überwunden wurde, und zwar dadurch, was er „Öffnungs­prozess“ nennt, und er stellt dar, wie dieser Prozess durch den religiösen Glauben angeleitet wird (siehe New Critique, vol. 2, 68–72, 192 ff., und bes. 298–330).

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Person (oder eine Gruppe von Personen) Gesetze, die anderen vorschreiben, was sie tun und was sie nicht tun können, und woher rührt diese Autorität? Diese Frage hat vielerlei Antworten gefunden. Eine der einflussreichsten davon ist die aristotelische Theorie, dass Wesen und Ursprung von Autorität in Vernunft und Tugend begründet ist. Die Menschen, die am intelligentesten sind und die ethischen Tugenden verkörpern, sollten aus diesem Grund über andere herrschen. Eine weitere, sehr einflussreiche Antwort wurde von K. Marx gegeben, dem gemäss die Kompetenz zu regieren in ökonomischen Besitzverhältnissen gründet. Das bedeutet, dass die Menschen, die über Besitz verfügen und die zum Erwerb des Lebensunterhalts nötigen Produktionsmittel kontrollieren, nicht nur unweigerlich herrschen werden, sondern den Staat beherrschen sollen – den Staat, der alle anderen Gemeinschaften als Teile beherrschen soll (bis die kommunistische Gesellschaft Realität geworden ist). Nochmals eine andere Sicht ist die der Monarchie, derzufolge Autorität biotisch vererbt wird. Aus dieser Sicht kann eine Person allen anderen rechtmässig vorschreiben was sie zu tun haben, weil diese Person am nächsten verwandt ist mit der letzten Person, die Träger von Autorität war. Nochmals eine andere Antwort besteht darin, dass militärische Gewalt und Autorität ein und dasselbe sind, so dass gilt: Macht gleich Recht. Wiederum andere folgen dem Denken Rousseaus, indem sie die Quelle der Autorität im Willen des Volkes verankern, so dass entweder der Mehrheit oder dem“ allgemeinen Willen“ das Recht zu herrschen zukommen soll. In jeder dieser Theorien wird das Wesen von Autorität mit einer bestimmten menschlichen Funktion identifiziert, sei es nun das vernünftige Denken, die moralische Urteilskraft, die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, die Fortpflanzung, die Ausübung von militärischer Gewalt, oder der Willenskraft. Jede dieser Theorien enthält eine Antwort auf die Frage, worin das Wesen von Autorität besteht, und jede identifiziert dieses Wesens mit einem besonderen Aspekt des Menschseins oder mit dem menschlichen Willen. Die Vorstellung ist also die, dass Autorität im Grunde etwas Rationales, Moralisches, Ökonomisches, Biologisches, oder eben Willenssache ist. Damit ist aber auch die Frage nach der Quelle von Autorität entschieden. In allen Fällen sind es die Menschen, die in einer besonderen Funktion des menschlichen Lebens herausragende Qualitäten besitzen, die an der Quelle aller Autorität sind und diese Autorität über das ganze menschliche Leben ausüben sollen. Nehmen wir zum Beispiel an, die Quelle aller rechtmässigen Autorität liege im Willen der Mehrheit. In diesem Fall wird es in einer Gesellschaft zwar immer noch verschiedene Formen von Autorität geben, wie zum Beispiel die Autorität der Eltern in der Familie, oder die der Lehrerschaft in der Schule, oder die des Besitzers

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eines Unternehmens. Doch letztlich beziehen diese ihre rechtmässige Geltung allein von Gnaden der Mehrheit. Sie müssen als subsidiäre Autoritätsformen betrachtet werden, die von der alles umfassenden Autorität abgeleitet sind. In den Theorien der Vergangenheit wurde diejenige soziale Körperschaft, die als Trägerin der Art von Autorität betrachtet wurde, die allen anderen Autoritätsformen zugrunde lag, auch als die Gemeinschaft angesehen, der alle anderen als Teile untergeordnet sind. In der Geschichte der westlichen Kultur war meist der Staat die bevorzugte Institution, der diesen grundlegenden Status inne haben sollte – in der Theorie wie in der Praxis. Das ist auch heute noch der Fall. Doch egal welche Gemeinschaft diesen Status von einer Theorie zugewiesen bekommt, die dahinter liegende Auffassung von Autorität kann nicht anders als reduktionistisch bezeichnet werden. Die daraus folgende Sicht der Gesellschaft ist unweigerlich hierarchisch und im wörtlichen Sinn totalitär. Denn eine Gemeinschaft, die für die Quelle jeglicher Autorität und Kompetenz gehalten wird, hat unweigerlich alle anderen Gemeinschaften unter sich und herrscht über sie in all ihren Aspekten. Sie wird deshalb als höchste Autoritätsinstanz über das gesamte Leben betrachtet. Auch individualistische Theorien können diese totalitären Folgen nicht vermeiden, sobald sie das Wesen von Autorität in einer bestimmten menschlichen Funktion und damit in einer bestimmten Institution verankern. Denn wenn die Autorität oder Kompetenz aller anderen Gemeinschaften aus einer bestimmten Institution abgeleitet ist, die als höchste Instanz gilt, können die verbleibenden Gemeinschaften nur gerade als deren Teile oder Teilganze existieren und funktionieren. Wie wir schon gesehen haben, versuchen individualistische Theorien den Totalitarismus zu vermeiden, indem sie den einzelnen Menschen in gewisser Hinsicht von der Autorität der höchsten Institution dispensieren. Doch wenn wir einmal so weit sind, eine bestimmte Institution als Verkörperung der grundlegenden Art von Autorität zu betrachten, von der alle anderen Arten abhängig sein sollen, sind solche Ausnahmen nicht nur theoretisch schwer zu bestimmen, sondern auch praktisch unrealisierbar. Der locus classicus der Auffassung, dass der Staat die Gemeinschaft mit der höchsten, allumfassenden Autorität ist, befindet sich in Aristoteles Politik: Da jeder Staat uns als eine Gemeinschaft entgegentritt und jede Gemeinschaft als eine menschliche Einrichtung, die ein bestimmtes Gut ver­folgt – denn um dessentwillen, was ihnen ein Gut zu sein scheint, tun alle alles – , so erhellt, dass zwar alle Gemeinschaften nach irgendeinem Gute streben, vorzugsweise aber und nach dem allervornehmsten Gute diejenige, die die vornehmste von allen ist und alle anderen in sich schliesst.

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Das ist aber der so genannte Staat und die staatliche Gemeinschaft. (Politik, Buch 1, Kap. 1)

   abbildung 7

Abbildung 7 illustriert die hierarchische, und deshalb totalitäre, im oben zitierten Abschnitt dargestellte Sicht der Gesellschaft, wenn sie auf die moderne Gesellschaft angewendet wird. Es wurde schon angedeutet, wie die Auffassung, dass alle Autorität von Gott kommt, jede totalitäre Theorie der Gesellschaft vermeidet. Wir haben auch gese­hen, dass in den biblischen Schriften explizit die Mannigfaltigkeit von Auto­ritätsverhältnissen unterstützt wird, wie dasjenige zwischen Eltern und Kindern in der Familie, zwischen Besitzer und Angestellten eines Unternehmens, zwischen Herrscher und Volk im Staat, und zwischen Amtsträgern und Laien in einer religiösen Institution. Daraus haben wir die Konsequenz gezogen, dass keine Art von Autorität, die einzige Art von Autorität ist, Quelle und Ursache aller anderen oder über alle anderen erhaben. Doch folgt daraus noch eine weitere bedeutende Einsicht: Es kann niemals richtig sein, einer rechtmässigen Autorität zu trotzen oder sie herauszufordern, da sie ihren Ursprung in Gott und nicht im Menschen hat. Kein Individuum und keine Gruppe, auch nicht der Wille der Mehrheit, ist Schöpfer oder Quelle von Autorität. Menschen erzeugen keine Autorität sondern tragen sie. Obwohl also die Wahl der Mehrheit die beste Art und Weise sein mag, die Personen zu bestimmen, deren Handeln staatliche Autorität zukommt, erzeugt sie nicht die Art der Autorität, die von den Gewählten ausgeübt werden soll. In der christlich-theistischen

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Sicht können sich die konkreten Träger von Autorität als ihres Amtes unwürdig herausstellen, so dass sie wenn möglich ersetzt werden müssen. (Staatliche Autoritätsträger können ihres Amtes enthoben werden, oder der Staat sieht sich gezwungen, Kinder von ihren gewalttätigen Eltern zu trennen). Doch die Autorität selbst kann niemals rechtmässig missachtet werden. Hier können wir auf einige weitere Resultate eingehen, die sich aus dieser pluralistischen Auffassung gesellschaftlicher Autoritäts- und Gemeinschaftsformen ergeben. Die Inhaber eines Geschäfts üben aufgrund ihres Status als Besitzer rechtmässige Autorität über dieses aus. Doch das ist der Fall, weil ein Unternehmen eine ökonomisch qualifizierte Organisation ist und deshalb von ökonomisch qualifizierten Autoritätsverhältnissen geprägt ist. Im Gegensatz dazu gründet die Autorität der Eltern innerhalb einer Familie nicht darin, dass sie das Haus besitzen, in der die Familie vielleicht wohnt, oder auch nur darin, dass sie die Kinder ökonomisch unterstützen. Sie geht vielmehr aus der ethisch qualifizierten Beziehung hervor, die zwischen Eltern und Kindern aufgrund der von Gott erschaffenen menschlichen Natur existiert. Das heisst, die Autorität von Eltern ist durch die Liebe qualifiziert. Deshalb ist die Autorität auch dort normativ intakt, wo die Familie nicht von den Eltern ökonomisch getragen wird, sondern von staatlichen Fürsorgegeldern lebt. Eine Schule ist hingegen eine logisch qualifizierte Organisation. Schulische Bildung hat den Zweck, unsere Begriffe von Selbst und Welt zu erweitern, bereichern, korrigieren, etc. Deshalb gründet Autorität in der Schule auf Wissenskompetenz; sie kommt denen zu, die Expertise im Umgang mit dem begrifflichen Stoff desjenigen Faches haben, das sie vermitteln. Auch der Staat besitzt eine spezifische Form von Autorität, eine Autorität, die durch Gerechtigkeit qualifiziert ist – oder genauer, durch öffentliche Gerechtigkeit.14 Die Kompetenz, Gerechtigkeit durchzusetzen, muss sich selbstverständlich auf die gesamte Öffentlichkeit innerhalb 14

Obwohl der Staat durch seine justitiäre Leitfunktion qualifiziert ist, ist er weiter dadurch limitiert, dass seine strukturelle Bestimmung darin liegt, öffentliche Gerechtigkeit auszuüben, anstatt jede Art von Gerechtigkeit. Seine Vollstreckungspflicht dehnt sich daher nicht auf solche Angelegenheiten aus, wie z.B. das Widerrufen elterlicher Vorstellungen von Zu-Bett-Gehzeiten oder kirchlicher Regeln bezüglich dessen, wer an den Sakramenten teilhaben darf, selbst wenn manche dieser Vorstellungen oder Regeln ungerecht sind. Das wird noch klarer werden, wenn das Typengesetz des Staates im nächsten Kapitel weiter expliziert wird. Es sollte auch angemerkt werden, dass hier die traditionelle Annahme akzeptiert wird, dass öffentliche Gerechtigkeit die Verantwortung der Regierung zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit beinhaltet. Deshalb fallen nicht nur die nationale Verteidigung und die Bekämpfung von Verbrechen, sondern auch die Inspektion von Flugzeugen, Brücken, Nahrungsmitteln, medizinischen Produkten und die Polizeiüberwachung des Strassensystems unter diese Definition.

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des staatlichen Territoriums erstrecken. Dennoch ist staatliche Autorität auf einen bestimmten Aspekt der Öffentlichkeit limitiert. Es ist wohl nicht überflüssig an dieser Stelle nochmals den Punkt hervorzuheben, dass gerade weil Gerechtigkeit ein Aspekt des Daseins aller Individuen und menschlichen Gemeinschaften ist, diese vom Staat nicht als Teile seiner selbst subsumiert werden müssen, damit das Mandat des Staats erfüllt wird. Deshalb kann die Autorität des Staates nicht über alle anderen Arten von Autorität erhoben ­werden unter dem Vorwand, dass totale Kontrolle über Individuum und Gemeinschaft notwendige Bedingung für die Durchsetzung von öffentlicher Gerechtigkeit sei. Kommt hinzu, dass die schrecklichen Folgen der Errichtung eines totalitären Staates nicht einfach vermieden werden, indem der Staat zur Demokratie wird. Wenn einmal der Glaube vorherrscht, der Staat sei Träger einer unbegrenzten Autorität, die alle anderen Arten von Autorität ausser Kraft setzt, kommt es nicht darauf an, ob diese Autorität an einer Person, einer herrschenden Gruppe, oder am allgemeinen Willen der gesamten Bevölkerung festgemacht wird. Dieser letzte Punkt verdient eine weitergehende Erklärung. Allzu oft wird unter Demokratie eine Regierungsform bezeichnet, die den Schutz unserer Freiheiten und Rechte gewährleisten kann. Doch hier trügt der Schein. Allein die Tatsache, dass jede und jeder ein Stimmrecht hat bewirkt noch nicht, dass auch nur ein einziges Recht oder eine einzige Freiheit beschützt wird. Wenn die Autorität der staatlichen Regierung nicht als im Prinzip begrenzt aufgefasst wird, kann Demokratie nur eine Tyrannei der Mehrheit garantieren, die schlimmer als jeder einzelne Diktator ist. (Sogar mit modernsten Überwachungsmethoden ist es schwierig für einen Diktator, das Tun und Treiben aller zu überblicken, doch von der Mehrheit sind wir ständig umgeben!) Allein die Idee eines begrenzten Staates kann menschliche Rechte und Freiheiten gewährleisten: Ein Staat, der sich auf das beschränkt, was rechtmässiger Gegenstand seiner Gesetzgebung ist, und sich damit auf seine legalen Kompetenzgrenzen besinnt. Und genau hier kann unser christlich-theistischer Denkansatz grosse Orientierungshilfe bieten. Erstens befreit er uns von jeglichem Reduktionismus, was unsere Auffassung der menschlichen Natur und der Gesellschaft anbelangt. Er macht es möglich, das wahre Wesen des Staates als gesellschaftlicher Institution zu ergründen, und seine wesensmässigen Grenzen zu bestimmen. Aus dieser Sicht ist ein Staat nicht dadurch limitiert, was man ihm gerade noch verzeihen oder durchgehen lassen mag. Auch das Prinzip der Religionsfreiheit reicht nicht aus. Vielmehr ist der Staat durch seine eigene Leitfunktion begrenzt, die in der kosmonomischen Ordnung der Schöpfung verankert ist. Aus diesem Grund ist es nicht übertrieben zu sagen,

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dass Rechte und Freiheiten besser definiert und beschützt werden können, wo die Idee der Sphärensouveränität Fuss gefasst hat und der Staat durch einen Monarchen regiert wird, als in einer Demokratie, deren Regierung ohne die Überzeugung handelt, dass ihre Autorität auf eine bestimmte gesellschaftliche Sphäre begrenzt ist.15 Manchmal stösst man auf die Auffassung, der Totalitarismus könne vermieden und die staatliche Autorität begrenzt werden, wenn nur die Maxime befolgt wird, dass sich der Staat nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Gemeinschaften einmischen darf. Auf diesem Weg glaubt man, etwas derart Kompliziertes wie eine Theorie irreduzibler gesellschaftlicher Kompetenzsphären umgehen zu können. Gemäss diesem Leitspruch kann der Staat alle äusseren Beziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften regulieren, solange er nicht in die internen Angelegenheiten der einzelnen Gemeinschaften eingreift. Doch dieser Vorschlag ist nicht nur falsch, sondern schlicht grotesk. Die inneren Angelegenheiten einer Gemeinschaft können niemals aus dem Kompetenzbereich des Staates herausfallen, wenn es um öffentliche Gerechtigkeit geht. Es ist nicht wahr, dass die Verbrechen, die in einer Familie oder in einer Kirche begangen werden, nicht staatlich geahndet werden sollten. Wenn immer die Handlungen eines Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen gegen die Ordnung der öffentlichen Gerechtigkeit verstossen, fällt es in den Kompetenzbereich des Staates, die jeweiligen Akteure zur Rechenschaft zu ziehen. Und umgekehrt steht es dem Staat nicht zu, jeden Aspekt des äusseren, öffentlichen Lebens zu regulieren. Deshalb taugt die Unterscheidung zwischen innen und aussen weder zur Bestimmung des rechtmässigen Autoritätsbereiches des Staates noch zur Vermeidung einer totalitären Staatsauffassung. Allein die Berücksichtigung der modalen Unterschiede zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären vermag dies zu leisten. An diesem Punkt können wir die Erläuterung unserer kosmonomische Theorie einen Schritt vorantreiben. Diese Theorie lehrt uns nicht nur, zwischen den Arten von Autorität zu unterscheiden, die von den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären zugehörigen Gemeinschaftsformen ausgeübt werden, sondern auch zwischen einzelnen Gemeinschaftstypen. Auch Gemeinschaften, die dieselbe modale Qualifikation haben und in derselben gesellschaftlichen Sphäre funktionieren, können Unterschiede bezüglich Struktur und Ausübung derselben modal qualifizierten Art von Autorität aufweisen. Die Leitfunktion von Ehe und Familie ist durch den ethischen Aspekt der Liebe 15

Dooyeweerd bietet eine extensive Kritik verschiedener Gesellschaftstheorien, um diesen Punkt zu etablieren (siehe New Critique, vol. 3, 198–261).

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gekennzeichnet, doch trifft das nicht nur auf diese beiden Gemeinschaftsformen zu. Ein Waisenhaus oder Altersheim ist ebenso durch diese Norm qualifiziert. Doch die Art von Autorität, durch die diese beiden Organisationen strukturiert sind, entspricht nicht den Autoritätsverhältnissen, die eine Familie oder eine Ehe prägen sollten. Denn obwohl sie dieselbe Leitfunktion haben, handelt es sich um Gemeinschaftstypen mit unterschiedlichem Strukturprinzip. Die Bestimmung der Autoritäts- und Kompetenzverhältnisse durch Anwendung des Prinzips der Sphärensouveränität beginnt mit der Zuordnung einer Gemeinschaft zu einer Leistungssphäre entsprechend der jeweiligen Leitfunktion. Doch Variationen von Autoritätsformen innerhalb ein und derselben Sphäre müssen ebenso respektiert werden. Wo das Prinzip der Sphärensouveränität den unrechtmässigen Eingriff einer sozialen Körperschaft in die inneren Angelegenheiten einer anderen ausschliesst, die einer unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphäre angehört, begründet der Begriff des Typengesetzes dieselbe gegenseitige Nicht-Interferenz im Fall von Gemeinschaften verschiedenen Typs innerhalb derselben Sphäre. Spätestens jetzt sollte ersichtlich geworden sein, warum die Auffassung, dass allein Gott höchste Autorität besitzt, und jede Autorität von Gott kommt, nicht mit einer Form von Theokratie verwechselt werden kann. Diese Auffassung bedeutet nicht, dass Gott selbst den Staat, die Wirtschaftsunternehmen, die Schulen, oder die Familien regieren sollte. Gott ist die Quelle aller Autorität im gesellschaftlichen Leben, insofern er die menschliche Natur und die Welt erschaffen hat. Einerseits heisst dies, dass den Menschen ein derart natür­ liches Bedürfnis nach Autorität zu eigen ist, dass die Entmachtung der etablier­ ten Autoritäten unweigerlich andere an deren Stelle treten lässt. Anderer­seits bedeutet dies auch, dass die Arten von Autoritäten, denen die Menschen ­bedürfen und die sie anerkennen, den verschiedenen Lebensbereichen entsprechen sollten. Genau so, wie wir die Auffassung zurückweisen, dass die Abhängigkeit der Schöpfung von Gott durch irgend einen oder zwei ihrer Aspekte vermittelt ist, lehnen wir auch die Vorstellung ab, Gottes Autorität fliesse in die Schöpfung durch den Trichter einer oder zweier Institutionen (Kirche oder Staat). Vielmehr ist jede Art von Autorität, die in einer der sozialen Sphären auftritt, direkt von Gott abhängig, und keine stammt von einer anderen. In der hier dargelegten Sichtweise steht keine einzige gesellschaftliche Institution oder Autorität über allen anderen. Die Zuweisung dieses Status an eine gesellschaftliche Institution oder Autorität ist gleichviel wie die Usurpation dieses Status durch etwas Anderes als Gott. Weiter oben habe ich im Zusammenhang mit der Diskussion des begrenzten Staates, der verschiedene Arten von Autorität anerkennt, einige Sätze

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Calvins zitiert. Es ist deshalb angebracht, unsere Schuldigkeit auch bezüglich der zuletzt gezogenen Schlussfolgerungen auszusprechen. Die Gedanken des letzten Abschnittes waren diesem Denker des sechzehnten Jahrhunderts nicht fremd, insbesondere was das Verhältnis zwischen Staat und Kirche betrifft. Calvins eigenen Tagen waren schon jahrhundertealte Debatten (und Kämpfe) vorausgegangen, ob die höchste Autorität in der Gesellschaft der Kirche oder dem Staat zukäme. Calvin bezog weder die eine noch die andere Position. Vielmehr war er der Auffassung, dass obwohl einige Dinge des Lebens unter die Jurisdiktion des Staates fallen, und andere in der Obhut der Kirche stehen, der grösste Teil des Lebens weder von der einen noch der anderen Institution reguliert werden sollte.16 In den zweihundert Jahren, die auf Calvin folgten, war die Idee eigenständiger und begrenzter Autoritätssphären und Institutionen eine der motivierenden Überzeugungen hinter den grossen Veränderungen in der europäischen und nordamerikanischen Auffassung von Regierung und Politik. Sie war auch an der Basis der Doktrin, dass sowohl Individuen wie Gemeinschaften Rechte gegenüber dem Staat haben, als Gegenstück zur Auffassung der begrenzten Autorität der Regierung. So wurde diese Idee zur Begründung der Forderung der englischen Puritaner nach Presse- und Religionsfreiheit.17 Aus dieser Tradition bezog Thomas Jefferson die Vorstellung eines „Grenzwalls zwischen Kirche und Staat“ (a wall of separation between church and state) – eine Formulierung, die nun allerdings äusserst irreführend ist. Ich sage irreführend, weil keine zwei Gemeinschaften vollständig von einander abgeschottet werden können, auch wenn Macht und Autorität dieser beiden auf die eigene Sphäre begrenzt bleibt. Tatsächlich war der calvinistische Hintergrund vieler Überzeugungen, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ihren Niederschlag gefunden haben, so ersichtlich, dass der König von England, ­Georg III, bei deren ersten Lektüre ausgerufen haben soll: „Die calvinistischen Kirchen in den Kolonien sind ausser sich geraten!“. Die vom Prinzip der Sphärensouveränität geleitete Sicht der Gesellschaft kann nicht in einer Grafik dargestellt werden, die auf zwei Dimensionen beschränkt ist. Deshalb werde ich zwei verschiedene Darstellungen präsentieren. Die erste (Abbildung 8) stellt die Funktionen eines Individuums in mehreren normativen Aspekten dar, die den gesellschaftlichen Sphären entsprechen, welche die Leitfunktion der daneben stehenden Institutionen ausmachen.

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Siehe dazu Calvins Bemerkungen in seinen Institutes of the Christian Religion, III, ix, 6. Das klassische Plädoyer für Rede- und Pressefreiheit formulierte der puritanische Calvinist John Milton in „Areopagitica“ (1644).

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 Abbildung 8

In dieser Darstellung steht das Zentrum des Kreises für einen einzelnen Menschen. Die gesellschaftliche Existenz einer jeden Person umfasst alle Aspekte, die von den verschiedenen Segmenten des Kreises dargestellt werden, und zwar unabhängig davon, ob jemand aktiv an den entsprechenden Institutionen und Gemeinschaften partizipiert oder nicht. Ausserhalb jedes Segments, sind einige der Gemeinschaftsformen genannt, die durch jenen Aspekt qualifiziert sind; Gemeinschaften, die von Menschen gebildet werden, um die entsprechenden, modal qualifizierten Ziele, Bestrebungen und Bedürfnisse zu gestalten, zu fördern, und zu beschützen. Die zweite Darstellung (Abbildung 9) zeigt einige menschliche Gemeinschaftstypen innerhalb des Aspektenschemas, von ihrer Basis- zu ihrer Leitfunktion, gemäss ihrem eigenen Typengesetz. Wie aus dieser Skizze hervorgeht, will unsere Gesellschaftstheorie alle Gemeinschaftstypen berücksichtigen. Wie die kosmonomische Theorie der Gesamtwirklichkeit die Natur eines jeden Dings – Atome, Skulpturen, Gemeinschaften – in den Blick zu nehmen versucht, soll auch die Anwendung dieser Theorie auf eine Theorie der Gesellschaft keine mögliche Gemeinschaftsform ausblenden. In dieser Hinsicht schneidet sie ersichtlich besser ab als jene Theorien, die nur das Verhältnis des Einzelnen zum Staat ins Blickfeld nehmen, wie zum Beispiel die Theorien Lockes und der amerikanischen Gründerväter. Selbst viele moderne Theorien leisten nicht viel mehr in dieser Hinsicht, sondern nehmen sich vielleicht höchstens noch den Verhältnissen zwischen Familie, Regierung, Kirche und Wirtschaftsunternehmen an. In der Folge kommt es oft zu einer verzerrten Darstellung der Natur von Organisationen wie Schulen, Künstler­ver­-

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einigungen, Gewerkschaften, politischen Parteien, und karitativen Einrichtungen, indem diese entweder als Teile des Staates oder aber als Wirtschaftsunternehmen eingestuft werden. Solche Missverständnisse können nicht anders als das eigentliche Wesen dieser Organisationen und deren effektives Funktionieren zu beeinträchtigen. fiduziär ethisch L justitiär ästhetisch ökonomisch L sozial linguistisch historisch             F logisch sensorisch biotisch F

L L

    F

   F

Familie / Wirtschaftsunternehmen / Staat / Kirche oder Synagoge     Abbildung 9

Im nächsten Kapitel soll in Umrissen eine Theorie des Staates gezeichnet werden, die von unserem kosmonomischen Wirklichkeitsverständnis und der Idee der Sphärensouveränität durchdrungen ist. Dann soll auch der Begriff des Typengesetzes eine weitere Vertiefung erfahren. Das macht es uns wiederum möglich, ein genaueres Bild der Pflichten und Grenzen des Staates zu gewinnen, das mit seiner Natur in Übereinstimmung steht. Doch ist da noch eine Frage, die den Staat betrifft, und im Zusammenhang mit dem Prinzip der Sphärensouveränität derart häufig aufgeworfen wird, dass wir sie vielleicht besser an dieser Stelle klären. Die Frage ist die, ob nicht die gegenseitige NichtInterferenz verschiedener Gemeinschaften zuweilen mittels Zwang durchgesetzt werden muss, und wenn ja, dies im Auftrag des Staates liegt. Hinter der Frage steht häufig die Absicht zu suggerieren, dass die Verpflichtung des Staates, sich selbst zu beschränken, sowohl ironisch wie impraktikabel ist. Trotz der empfundenen Ironie muss die Antwort auf beide Fragen mit einem „Ja“ ausfallen. Das trifft deshalb zu, weil die Idee der Sphärensouveränität als Leitprinzip im Umgang mit Fragen der Gerechtigkeit auch in der Gesetz­ gebungspraxis zum Ausdruck kommen muss, damit die Früchte dieser Idee tatsäch­lich geerntet werden können. Aus unserer Sicht liegt es also in der

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Pflicht des Staates, die Eigenständigkeit und Sphärenintegrität aller möglichen Gemeinschaften zu garantieren, da dies Teil der Durchsetzung von öffentlicher Gerechtigkeit ist. Das heisst nun nicht, der Staat erschaffe die Grenzen zwischen den Sphären und Gemeinschaften. Was folgt ist nur, dass der staatliche Auftrag die Berücksichtigung und Durchsetzung solcher Grenzen umfasst, und zwar zugunsten aller Gemeinschaften und deren einzelnen Gliedern. Bezüglich der angeblichen Ironie in dieser Auffassung kann ich nur sagen, dass in jeder Nation, die eine begrenzte Regierungsgewalt und ein ernsthaftes Eintreten für Menschenrechte kennt, dies gerade aufgrund der Selbstbeschränkung des Staates geschehen ist. Auf welchem anderen Weg hätte sich dieses Bild sonst ergeben sollen? Obwohl die Intention der Frage vermutlich in der Verbreitung eines gewissen Skeptizismus gegenüber der Auffassung besteht, dass diejenigen, die an der Macht sind, jemals übereinkämen, ihrer eigenen Autorität gesetzesmässige Schranken zu ziehen, wirft sie ein interessantes Licht auf die Art und Weise, wie unsere Auffassungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Gesetzgebung beeinflussen. Wo die Menschen überzeugt sind, dass die Gesellschaft eine Hierarchie ist und eine höchste Person oder Insti­ tution existiert, werden die Gesetze so ausfallen, dass diese Sicht weiter zementiert wird. Doch wo die Menschen glauben, dass sowohl Personen wie Gemeinschaften Rechte und Pflichte gegeneinander besitzen, und deshalb keine höchste gesellschaftliche Autorität existiert, wird die Gesetzgebungspraxis diese Idee in der Gesellschaft verankern. Zur Skepsis neigenden Lesern und Leserinnen möchte ich das bedeutende Beispiel George Washingtons vor Augen führen, dem der Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika zweimal die Machtfülle eines Notstand-Diktators zuzusprechen bereit war, der jedoch das Angebot zweimal und aus eigener Initiative ausschlug. Nach dem Tod Washingtons nannte ihn sein Gegenspieler Georg III den grössten Mann auf Erden, da er über absolute Macht verfügte, aber bereitwillig auf sie verzichtet hatte. All das soll uns daran erinnern, dass keine Regierungsform von sich aus irgendwelche Rechte und Freiheiten garantieren kann, und dass die Art des Staates, die ein Volk sein eigen nennt, wesentlich von den Überzeugungen der Menschen – einschliesslich die der politischen Machtträger – abhängt. Wenn der Sinn für Gerechtigkeit und die Auffassung der Natur verschiedener sozialer Gemeinschaften in einem Volk vom Prinzip der Sphärensouveränität anstatt von einer Auffassung des Staates als totaler Gemeinschaft geleitet ist, dann werden sich auch die Früchte eines begrenzten Staates und der Menschenrechte einstellen. Doch selbst dann kann keine Regierungsform garantieren, dass die staatlichen Kompetenzgrenzen niemals verletzt werden.

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12. Kapitel

Trotz zahlreicher gesellschaftlicher und justitiärer Vorteiler, die das Prin­­zip der Sphärensouveränität möglich macht, verfallen wir nun nicht dem ­Glauben, dass die Implementierung dieses Prinzips in der Praxis utopische Träume wahr machen könnte. Selbst wenn sein Rückhalt in den Anschau­­­ungen der Menschen stark, und seine Durchsetzung rigoros wäre, könnte das Prin­zip doch niemals garantieren, dass im Zuge seiner Anwendung und Durch­set­zung keine Fehler gemacht würden, genauso wenig wie das Prinzip menschliche Sünde, Kriminalität, Armut oder Krieg auf magische Weise zum Ver­schwin­­den bringen kann. Unsere Überzeugung ist bloss die, dass die Prinzipien der kosmonomischen Theorie den Schlüssel zum Verständnis der ursprüng­lichen Freiheiten, Rechte und Pflichten der verschiedenen Gemeinschaften bieten. Auch glauben wir, dass die sachgerechte Bestimmung dieser interkommunalen Grenzen, Rechte und Freiheiten als Grundlage dafür dienen sollte, wie die Rechte und Freiheiten von Individuen gegenüber den verschiedenartigen Gemeinschaftstypen und gegenüber anderen Individuen zu ver­ stehen sind.

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13. Kapitel

Eine nicht-reduktive Theorie des Staates 13.1 Einführung Die im letzten Kapitel präsentierte kosmonomische Theorie der Gesellschaft kann an dieser Stelle direkt auf das Gebiet der politischen Theorie bezogen werden, sprich: auf die Theorie der Institution des Staates. In unserer Diskussion dieser Institution werden wir vor allem auf die staatliche Regierung zu sprechen kommen, aber nicht nur auf sie. Eine Regierung ist die leitende Autorität im Staat, so wie die Eltern die leitende Autorität in der Familie sind, oder die Geschäftsführung die leitende Autorität in einen Wirtschaftsunternehmen ist. So wie die Familie aber aus mehr als nur Eltern besteht, und das Unternehmen aus mehr als nur der Geschäftsführung, ist auch der Staat mehr als seine Regierung. Der Staat als Gesamtinstitution umfasst Volk und Regierung und kann als organisierte politische Gemeinschaft von Bürgern unter einer Regierung definiert werden. So über „den Staat“ zu sprechen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass einige Staaten in untergeordnete Einheiten aufgeteilt sind, die zum Teil – verwirrlich genug – ebenso als Staaten bezeichnet werden. Die gerade aufgeführte Definition sollte jedoch keinen Anlass zu Missverständnissen geben, da sie die gesamte politische Gemeinschaft im Auge hat und nicht nur deren Teile. In meinem Gebrauch des Ausdrucks „Staat“ sind also nicht nur die Subdivisionen einer politischen Einheit wie zum Beispiel die einzelnen Staaten, die zusammen die Vereinigten Staaten von Amerika ausmachen, gemeint. So gesehen ist die Nation der Vereinigten Staaten ein einziges politisches Staatswesen. Trotz der beständig wachsenden Bedeutung, die Staat und Regierung in den modernen Gesellschaften haben, gibt es viele Menschen, die in ihrem religiösen Glauben an Gott keine Orientierungshilfe finden was ihr Dasein als Staatsbürger betrifft. Man sieht natürlich, dass der Glaube dazu anleitet, Ehrlichkeit von den Behörden zu verlangen und das Gesetz einzuhalten. Doch sind diese Punkte mehr ethischer als politischer Natur. Zudem sind sie so elementar, dass sie keine Hilfestellung bieten, wenn es um eine Fülle komplexer Themen geht, über die man sich als gläubiger Mensch eine Meinung bilden muss, wenn man politisch verantwortungsvoll handeln will. Deshalb wollen wir erklären, wie die kosmonomische Theorie eine engere Verbindung zwischen dem Glauben an Gott und einigen spezifisch politischen Fragekomplexen herstellen kann. Das soll geschehen, indem aufgezeigt wird, wie die Prinzipien, die aus unserer

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_014

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13. Kapitel

Theorie hervorgehen, auf das Wesen des Staates und einige ausgewählte Themen bezogen werden können, und so ihre politischen Konsequenzen deutlich werden. Freilich bedeutet das nicht, dass ich in einem einzigen, kurzen Kapitel eine vollständige politische Theorie entwerfen könnte. Wie in den beiden vorangehenden Kapiteln kann ich auch hier nur gerade eine Skizze davon zeichnen, wie eine solche Theorie aussehen mag. Auch sollte gesagt werden, dass im Folgenden nicht einmal diese Skizze im Vordergrund steht, sondern die Erläuterung und Klärung der Begriffe und Prinzipien unserer kosmonomischen Theorie in Anwendung auf den spezifischen Gegenstand. Deshalb werde ich immer wieder auf Punkte zurück kommen, die schon in früheren Kapiteln diskutiert wurden, um hervorzuheben, was das kosmonomische Wirklichkeitsverständnis zur Frage nach Wesen und Auftrag des Staates zu sagen hat. Dooyeweerd hat einst die Beobachtung zu Papier gebracht: „Vielleicht gibt es keine andere … Gemeinschaft, deren Wesen zu einer derart chaotischen Meinungsvielfalt in der modernen Sozialphilosophie und Sozialwissenschaften geführt hat wie der Staat“.1 Er fuhr dann mit der Äusserung fort, dass nicht nur in modernen Theorien, sondern auch im Denken der Antike, die Frage nach dem Wesen des Staates immer um das Verhältnis von „Macht“ und „Recht“ gekreist ist. Anders gesagt war es immer schon ein zentrales Thema des politischen Denkens und Handelns, worin das rechte Verhältnis zwischen der Ausübung von staatlicher Gewalt und der staatlichen Pflicht, eine Ordnung der öffentlichen Gerechtigkeit zu etablieren, besteht. In Aufnahme der beiden Elemente dieser zentralen Frage soll im Folgenden dargestellt werden, was die kosmonomische Theorie einerseits zum Verständnis der Macht des Staates, andererseits zur Klärung der Frage nach der Gerechtigkeit im Staat beizutragen hat. 13.2

Was ist der Staat?

Unsere Theorie greift die Frage nach dem Wesen des Staates aus verschiedenen Gesichtspunkten auf. Zuerst gibt sie uns ein Gesamtbild der Gesellschaft – das Prinzip der Sphärensouveränität – die uns von der falschen Alternative befreit, die traditionellerweise das politische Denken geprägt hat: (1) Der Staat steht an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie und kann deshalb totale Kontrolle über alle anderen Gemeinschaften und Individuen ausüben, oder (2) der Staat hat totale Kontrolle über alle anderen Gemeinschaften, aber nicht über das einzelne Individuum. Dann leitet uns unsere Theorie an, nach der 1 H. Dooyeweerd, New Critique, vol. 3, 380.

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Basis- und der Leitfunktion einer Gemeinschaft Ausschau zu halten, die zusammen die modale Charakterisierung ihres Wesens ausmachen. Drittens soll die Analyse des Verhältnisses zwischen der Basis- und der Leitfunktion des Staates zur Entdeckung und näherungsweisen Bestimmung des Typengesetzes führen, das die strukturelle Bestimmung jedes Staates bildet. Auf diesem Weg kann die Analyse des Typengesetzes des Staates zu einer weiteren Vertiefung unseres Verständnisses seiner Natur Hand bieten. Die grundlegende Bedeutung des Begriffs des Typengesetzes liegt wie gesehen darin, dass nichts in dieser Welt – einschliesslich den Staat – unendlich variabel oder nur willkürlich ist. Dieser Begriff ist die von unserer Theorie angebotene Erklärung, warum es uns Menschen nicht möglich ist, etwas auf jede erdenkliche Art und Weise zu verändern und es doch als denselben Typ von Gegenstand zu betrachten. Da unsere Theorie jedem Gegenstandstyp in der Schöpfung ein Gesetz zuordnet, betrachten wir die allgemeine, interne Organisation eines Gegenstands von einem bestimmten Typ als etwas, das diesen Typ permanent auszeichnet. Typengesetze sind wie gesagt intermodaler Art, das heisst, sie verbinden die Basis- und die Leitfunktion eines jeden Dings des jeweiligen Typs, wie auch alle anderen Eigenschaften, die den einzelnen Gegenständen zukommen. Unsere Interpretationen der typischen Verbindung zwischen Basis- und Leitfunktion eines Gegenstandes, die durch diese kreatürlichen Gesetze gewährleistet ist, führen uns zu einem besseren Verständnis der inneren Komponenten sowie zur Bestimmung der wesentlichen Funktionen dieses und aller Gegenstände desselben Typs. An dieser Stelle sollten wir uns daran erinnern, dass die Analyse eines Typengesetzes uns zwar helfen kann, die für alle Gegenstände eines bestimmten Typs wesentlichen Komponenten zu identifizieren, nicht aber garantieren kann, dass diese Komponenten immer exakt auf dieselbe Weise miteinander verbunden sind wie vom Typengesetz vorgesehen. Denn Typengesetze sind (teilweise) normativer Art. Deshalb können konkrete Dinge mehr oder weniger mit ihrem Typengesetz übereinstimmen, und so bessere oder schlechtere Exemplare ihres Typs sein. Das gilt für natürliche Dinge, die sich durch normative Aspekte auszeichnen, wie Pflanzen und Tiere, ebenso wie für Artefakte. Tatsächlich kann ein Ding starke Deformationen aufweisen bevor es den Punkt erreicht, da die Abweichung von seinem Typengesetz so gross ist, dass es nicht länger als Gegenstand jenes Typs gelten kann. Ein Typengesetz spezifiziert also nicht nur die Funktionsweise, die ein Gegenstand dieses Typs unweigerlich exemplifiziert (seine essentiellen Eigenschaften und Teile), sondern auch wie er sein sollte (die richtige Verbindung seiner wesentlichen Komponenten). Zum Beispiel muss eine Ehe einen Mann und eine Frau verbinden oder sie wäre keine Ehe, und eine Familie Eltern und Kinder. Doch die Beziehungen zwischen den Ehepartnern oder den Familienmitgliedern können von sehr gut

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13. Kapitel

bis sehr schlecht variieren. In diesem Zusammenhang wurde schon darauf hingewiesen, dass Typengesetze eine Ordnung für Geschöpfe darstellen, die teilweise notwendig und teilweise normativ ist; was sie „vorschreiben“ kann zum Teil nicht anders als befolgt werden, lässt zum Teil aber auch Abweichungen zu. Typengesetze spezifizieren eine intermodale Ordnung, die einerseits die Grenzen des Möglichen für einen Gegenstandstypus umfasst, andererseits aber auch den Massstab dafür ist, wie etwas sein sollte. Die Analyse des Typengesetzes des Staates verhilft uns so zu einem besseren Verständnis der unabdingbaren Komponenten eines jedes Staates und der Art und Weise, wie deren Zusammenspiel aussehen sollte. Diese beiden Dinge dürfen nicht verwechselt werden. Das bedeutet: Nicht alle vom Typengesetz spezifizierten Beziehungen, die einen wohlfunktionierenden Staat ausmachen, sollten als Beschreibung aller aktuellen Staaten in Vergangenheit und Gegenwart betrachtet werden, da jeder konkrete Staat diese Beziehung in unterschiedlichem Mass aufweisen kann.2 So führt unsere Argumentation, dass das Typengesetz des Staates nach einer Organisation verlangt, die militärische Gewalt ausüben kann, niemals zur Rechtfertigung von Missbrauch dieser Gewalt durch irgend einen Staat. Im Gegenteil ist die justitiäre Leitfunktion, die durch das Typengesetz mit der militärischen Gewalt verbunden ist, die unverbrüchliche Norm, anhand derer der faktische Gebrauch von militärischer Gewalt durch einen bestimmten Staat beurteilt werden kann. A Die Staatsmacht Gemäss der kosmonomischen Gesellschaftstheorie zeichnet sich das Wesen des Staates durch die Korrelation einer historischen Basis- und einer 2 Der historische Prozess, in dem Staaten aufgetreten sind und verschiedene Formen angenommen haben, ist eine andere Seite ihrer Variation. Diese Seite kann durch Dooyeweerds Analyse des historischen „Öffnungsprozesses“ sozialer Gemeinschaften erklärt werden, auf die ich bereits in Anmerkung 11 im 12. Kapitel hingewiesen habe (zusätzlich zu den dort gegebenen Verweisen, siehe auch New Critique, vol. 2, 181–92, 335–65). Diese Erklärung bietet auch Raum für die Tatsache, dass Staaten manchmal nicht mehr sind als Organisationen, die ein Territorium verteidigen, während die Gesetze auf Gerichtsentscheide zurückgehen, anstatt vom Staat gesetzt zu werden – so wie im Fall des Common Law der Angelsachsen. Die Erklärung des Wesens des Staates, die ich in Kürze entwickeln werde, nimmt einen voll entwickelten oder „eröffneten“ Staat an, der Ordnung und öffentliche Gerechtigkeit zu etablieren versucht. Dass darin das Wesen des voll entwickelten Staates liegt, hat bereits Aristoteles erkannt, als er anmerkte: “Justice is the bond of men in states, for the administration of justice, which is the determination of what is just, is the principle of order in political society” (Politics, 1253a37–39) Die Gerechtigkeit aber stammt erst vom Staate her, denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft; das Recht aber ist die Entscheidung darüber, was gerecht ist. (Aristoteles, Politik, nach der Übersetzung von F. Susemihl auf der Grundlage der Bearbeitung von N. Tsouyopoulos neu herausgegeben von U. Wolf, Hamburg 2914).

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justitiären Leitfunktion aus. Das heisst, der Staat ist einerseits ein Werk menschlicher Kulturleistung, und somit von historischen Normen geleitet, andererseits ist die Aktivität des Staates in der Gesellschaft durch die Normen der Gerechtig­keit qualifiziert. Die justitiäre Leitfunktion des Staates ist das, was ich weiter oben als dessen strukturelle Bestimmung bezeichnet habe. Diese Bestimmung besteht in der Förderung und Realisierung der öffentlichen Gerechtigkeit in der gesamten Gesellschaft, die auf dem staatlich verwalteten Territorium residiert. Historisch fundierte Gemeinschaftsformen sind nicht nur Produkte kultureller Formationsprozesse, sondern bilden je nach spezifischem Typ die kulturell-historische Kraft in der Gesellschaft aus, die ihrer Leitfunktion entspricht. Zum Beispiel kann ein Unternehmen eine ökonomische Macht d­ arstellen, eine Schule die Macht von Begriffen und Ideen ausüben, eine Kunst­ organisation kann ästhetischen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen und Kirchen und politische Parteien die Überzeugungen in einer Gesellschaft lenken. Dasselbe trifft auf den Staat zu. Auch er übt die Art von Einfluss oder Macht aus, die seiner Leitfunktion entspricht. Im Fall des Staates ist das die Macht der Gesetzgebung: Der Staat trägt die Macht, Gesetze durchzusetzen, die der Erfüllung seines strukturellen Zwecks, das heisst, der Durchsetzung und Pflege der öffentlichen Gerechtigkeit dienen. Deshalb besteht unsere erste Annäherung an das Typengesetz, das die strukturelle Bestimmung von Staaten ausmacht, in einer Differenzierung der inneren Organisation des Staates in zwei unverzichtbare Organe: Organe, die sich der Durchsetzung von Gerechtigkeit annehmen (Militär und Polizei), und Organe, die festlegen, was gerecht ist (Gesetzgebung und Gericht). Zudem zeigt dieses Typengesetz etwas Wichtiges auf, wie das Verhältnis dieser beiden Subdivisionen in einem Staat aussehen sollte. Die Organe der Macht entsprechen der staatlichen Basisfunktion, die Organe der Setzung und Interpretation von Recht seiner Leitfunktion. In einem wohlgeformten Staat sollten diese beiden Teile deshalb nicht identisch sein (wie das in einer Militärdiktatur der Fall ist). Auch sollte das militärische Organ nicht die Bestimmung und Interpretation des Rechts kontrollieren oder leiten. Vielmehr sollten die Organe der Gerechtigkeit die Organe der Durchsetzungsmacht kontrollieren und führen. Daraus folgt natürlich nicht, dass der Staat die einzige soziale Körperschaft oder Beziehung ist, in der Gerechtigkeit eine Rolle spielt oder Gesetze und Regeln erlassen kann. Alle menschlichen Interaktionen und Gemeinschaften müssen Gerechtigkeit verkörpern – zum Beispiel in einer Schule, in einem Unternehmen, in der Ehe und in der Familie. Eine der wichtigsten Facetten des Begriffs der Souveränität im Ausdruck „Sphärensouveränität“ ist das Recht

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13. Kapitel

aller verschiedenen Gemeinschaftsformen auf gesetzliche Regelung ihrer inneren Organisation. Doch allein die Regierung – das führende Organ im Staat – hat das Recht und die Pflicht, Gesetze zu erlassen und durchzusetzen, die die gesamte Öffentlichkeit betreffen. Und nur der Staat kann, im Unterschied zu anderen Formen von kultureller Machtausübung, rechtmässigen Gebrauch von der Macht der Gewalt machen, um seine Gesetze zu sichern. Dieses Recht geht aus der Leitfunktion des Staates hervor, in deren Dienst die staatliche Macht die „sanktionierte“ Ausübung von Gewalt einschliesst. Eine Familie, zum Beispiel, kann nach Gerechtigkeit streben, indem sie Regeln erlässt und durchsetzt und dabei auf die Macht von Zustimmung und Ablehnung zurückgreift, oder Strafen erlässt, die im Zusammenhang mit innerfamiliären Privilegien stehen. Unternehmen, Schulen, Vereine und Clubs können ihre eigenen Verhaltenscodes ausbilden. Und das Kirchenrecht hat bekanntlich einen hohen Grad der Ausformung gefunden. Diese verschiedenen Gemeinschaftsformen können Sanktionen aussprechen, die bis hin zu Ausschluss und Ächtung derjenigen Glieder gehen, deren Verhalten das Wohl der Gemeinschaft gefährdet. Doch allein der Staat kann Gesetze erlassen, durch die öffentliche Gerechtigkeit etabliert wird, und diese mittels physischer Sanktionen wie Besitz- und Freiheitsentzug oder sogar Todesstrafe schützen.3 3 Zwei Kommentare: Der erste lautet, dass dieser Kontrast in der Art der Bestrafung hinsichtlich der Behandlung von Erwachsenen gezogen wurde. Eltern sind oft genötigt, Gewalt anzuwenden, um junge Kinder zurückzuhalten, so z.B. wenn ein Kleinkind in ein Laufgitter gesteckt wird oder wenn ein Kind bestraft wird. Gleichzeitig hat der Staat natürlich eine Pflicht, die Kinder vor dem Missbrauch der elterlichen Gewalt zu schützen, vor allem, wenn es um das Leben oder die Gesundheit des Kindes geht. Der zweite Kommentar bezieht sich auf die Erwähnung der Todesstrafe. Die biblische Todesstrafe für vorsätzlichen Mord wird nicht nur in der Thora und im Neuen Testament klar ausgesprochen (siehe Gen 9:6 und Röm 13:4). Sie basiert auf der Gottesebenbildlichkeit des Opfers und kann somit nicht abgetan werden als relativ zur Auffassung einer bestimmten Zeit oder den Umständen ihrer Entstehung. Daher halte ich die weit verbreitete Abschaffung der Todesstrafe in Europa für eine Konsequenz der humanistischen, nicht der biblischen Tradition des Gerechtigkeitsdenkens. Mehr noch, das Argument, dass, wenn es falsch ist, einen anderen Menschen zu töten, die Todesstrafe ebenfalls falsch ist, ist absurd. Es gibt keine Handlung, die als Bestrafung von Verbrechen vollzogen wird, die nicht selbst ein Verbrechen ist, wäre sie nicht eine legale Bestrafung. Es wäre nichts anderes als Diebstahl, wenn die Geldstrafe nicht dazu diente, ein Delikt zu sühnen; und eine andere Person einzusperren wäre Kidnapping und ungesetzliches Festhalten, wenn nicht eine rechtmässige Autorität diese Handlungen als Bestrafung für ein Verbrechen bestimmt hätte. Dasselbe gilt für Exekutionen. Ich denke aber sehr wohl, dass die Todesstrafe nur für vorsätzlichen Mord ausgesprochen werden soll, wenn die Beweislage überwältigend ist und wenn ein Berufungsgericht den Fall noch einmal verhandelt hat. Zusätzlich plädiere ich für eine zweite Prüfung des Falles durch eine unabhängige Behörde.

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Aus diesem Grund sind wir überzeugt, dass die richtige Bestimmung des Typengesetzes des Staates, im Unterschied zum Typengesetz anderer Gemein­schaftsformen, die Einsicht verbürgt, dass der Staat allein dann zur aktuellen Entfaltung seines Wesens gelangt, wenn er das Gewaltmonopol auf seinem Territorium innehat. In dem Ausmass, da ihm diese Vollmacht fehlt, ist auch seine Fähigkeit der Durchsetzung seines eigenen Leitprinzips in Frage gestellt. In einem solchen Fall wird die rivalisierende Gemeinschaft faktisch zur rivalisierenden Regierung innerhalb derselben politischen Einheit. Das kann zum Beispiel in Zeiten des Bürgerkrieges geschehen, oder wenn eine rivalisierende politische Bewegung nach den Waffen greift um die bestehende Regierung zu entmachten, oder sogar dann, wenn eine Organisation das Recht auf Durchsetzung seiner Ziele durch Anwendung von Gewalt usurpiert (organisiertes Verbrechen). Eine Gesellschaft kann grossartige Kunst hervorbringen oder eine starke Wirtschaft besitzen ohne über eine starke Polizei oder militärische Macht zu verfügen. Sie kann aber keinen starken Staat haben, solange sie nicht in der Lage ist, ihre Gesetze durchzusetzen oder ihr Territorium zu verteidigen. Weil der Staat teilweise durch den Besitz des Rechts zur Gewaltausübung charakterisiert ist, haben einige Denker in der theistischen Tradition – besonders Augustinus4 – die Auffassung vertreten, die Rolle des Staates in der Gesellschaft sei allein „von Sünde wegen“ zu erklären. Weil sie den Staat im wesentlichen als Mittel zur Bekämpfung und Einschränkung von Kriminalität sehen, hat ihrer Meinung nach eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht unter der Macht der Sünde sind, keinen Raum für einen Staat. Es handelt sich also um eine „Zusatzinstitution“, die keine Rolle zu spielen hat im Leben des Menschen, wie es ursprünglich von Gott geplant war. Diese Auffassung hat zwei bedeutende Nebenwirkungen. Auf der einen Seite hat sie eine sehr beschränkte Sicht des Kernauftrags des Staates zur Folge, auf der anderen hat sie bewirkt, dass viele Menschen das Geschäft von Politik und Staat in nicht sehr grosser Ehre halten. Diese Geringschätzung hat einige Denker hin und wieder dazu gebracht, nach theologischen Gründen Ausschau zu halten, warum sich gottesfürchtige Menschen aus der Politik fernhalten sollten. Die kosmonomische Theorie betrachtet diese Sichtweise von Staat und Politik als zu eng. Wie wir weiter unten noch genauer sehen werden, umfasst Förderung und Pflege 4 Augustinus Vom Gottesstaat, Buch. 19, 12–17. Dooyeweerd hat selbst diese Position einge­ nommen, in The Christian Idea of the State (Nutley, N.J.: Craig Press, 1968), 40. Dort hat er im Speziellen die Position des Augustinus gegen die von Thomas von Aquins eingenommen. Thomas vertrat die Auffassung (der ich mich anschliesse), dass allein die Angewiesenheit des Staates auf militärische Gewalt aus der Sünde resultiert. (Ich stimme allerdings mit Dooyeweerd in der Zurückweisung von Thomas’ Gründen für diese Sichtweise überein.)

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der öffentlichen Gerechtigkeit viel mehr als die Einschränkung von Gewalt und Verbrechen und würde selbst dann einem menschlichen Bedürfnis entsprechen wenn es keine Macht der Sünde gäbe. In seiner positiven Ausrichtung ist der Staat dazu da, Friede und Harmonie zwischen den Völkern und Gemeinschaften voranzubringen. James Skillen vertritt dieselbe Auffassung in seinem Vergleich von Staat und Familie: Biblisch gesprochen, ist das Leben der Familie von Gott für einen positiven, lebens- und liebesstiftenden Zweck erschaffen worden. Ein Teil unserer Identität als Ebenbilder Gottes besteht darin, dass wir Söhne und Töchter, und oft Väter und Mütter sind. Die Familie ist keine technische Errungenschaft, die es der Gesellschaft erlaubt, ungezogenen Kindern den Hintern zu versohlen. Strafe und negative Disziplin sind keinesfalls der Grund für die Existenz der Familie. Selbstverständlich verneinen wir nicht, dass in unserer Welt, in der Sünde eine Realität ist, die Erziehung der Kinder ein strafendes Element beinhalten muss um zu gesunden Familienverhältnissen zu führen. Doch jede Form von Sanktion und Retribution sind in den tieferen, weiteren, und ursprünglicheren Sinn von Familie eingebettet. Das Leben in politischen Gemeinschaften ist zweifellos etwas Anderes als das Leben in der Familie. Es liegt mir ferne, das erste als vergrösserte Form des zweiten darzustellen. Vielmehr besteht folgende Analogie: Der Zweck der Regierung, Grund und Bestimmung des politischen Lebens sind nicht in erster Linie in der Bestrafung von Übeltätern durch Polizeioffiziere, Staatsanwälte und das Militär zu suchen. Vielmehr liegt die zentrale Bedeutung des politischen Lebens in der positiven Wirklichkeit einer öffentlichen Gemeinschaft – die gesunde Interaktion einer Vielzahl von Menschen vermittelt durch eine öffentliche legale Ordnung, in der Handel, Familienleben, Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft, Kunst, Bildung und viele andere Dinge zur selben Zeit auf einem Territorium in harmonischer und gerechter Weise möglich ist.5 Das hilft uns zu erkennen, warum das menschliche Bedürfnis nach einer öffentlichen Ordnung und Gerechtigkeit selbst dann existieren würde, wenn die Macht der Sünde kein Faktor wäre, und die Menschen in Liebe und Harmonie 5 “The Bible, Politics, and Democracy,” Vortrag gehalten an einer Konferenz des Centre for Religion and Society des Rockford Institute, Rockford Institute, Wheaton, Ill., Nov. 1985, 6.

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miteinander lebten. Zum Beispiele könnten immer noch ehrliche Meinungsverschiedenheiten auftauchen, deren Ausgleich nach überparteiischen Or­ ganen der Gerechtigkeit ruft. Ohne Zweifel ist dies der Grund, warum die christ­lich-theistische Sicht der letzten Bestimmung des Volkes Gottes darin besteht, Bewohner seines Reichs zu werden, das von seinem Messias regiert werden wird. So wird nach dem Buch Jesaja selbst in jenem Reich, in dem „man nichts Böses mehr [tut] und kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg [begeht]“ (Jes 11,9) das Bedürfnis nach einem Herrscher sein, der „in Treue … das Recht hinaus [bringt]“ und der „das Recht auf Erden aufrichte[n wird]“ (Jes 42,3,4). Deshalb denke ich, dass die enge Sicht ein Resultat der übermässigen Fokussierung auf die Verantwortung des Staates im Bereich des Strafgesetzes und der Landesverteidigung zulasten seiner Pflichten im zivilgesetzlichen und völkerrechtlichen Bereich ist. Natürlich stimme ich mit der Auffassung überein, dass der Charakter der Staatsmacht durch die Macht der Sünde über uns Menschen radikal verändert wird. Ohne Sünde müssten die Menschen nicht gezwungen werden, Gesetze und Gerichtsentscheide zu befolgen, wie es in dieser Welt der Fall ist. In diesem Zusammenhang ist die Voraussage des Buches Jesaja von Bedeutung, dergemäss die Menschen im letztgültigen Reich Gottes „ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern [umschmieden werden]“, und „nicht mehr Nation gegen Nation das Schwert erheben [wird]“. (Jes 2,4). Doch würde immer noch das Bedürfnis existieren, die Prinzipien der Gerechtigkeit auf die wechselvollen Geschäfte des menschlichen Lebens an­zuwenden.6 Was den zweiten Nebeneffekt anbelangt, kann nun nicht der geringste Zweifel bestehen, ob der Glaube an Gott die Ausübung von politischer Ver­ antwortung ausschliesst. Wie sollte es aus christlich-theistischer Sicht angemessen sein, die Sorge um öffentliche Gerechtigkeit und die Führung der Staatsgeschäfte denen zu überlassen, die den christlichen Glauben nicht teilen? Das wäre genauso falsch wie die Wissenschaften und die Philosophie den Menschen zu überlassen, die etwas Anderes als Gott zu ihrem Gott gemacht haben. Wenn unser Glaube an Gott das gesamte Leben ausrichtet, wie die Schrift deklariert und verlangt, dann muss er auch unser politisches Denken 6 Wir übersehen oft die Tatsache, dass die Ausübung von Gewalt nicht gewalttätig oder gewaltandrohend sein muss. Die Errichtung einer Zollschranke oder die zeitweise Aufstellung einer Strassensperre ist auch eine Form von Gewalt. Das Anbringen eines Vorhängeschlosses an konfisziertes Eigentum oder das Erlassen von Steuern ebenso. Siehe N.K. Smith, “The Moral Sanction of Force,” The Credibility of Divine Existence (New York: St. Martin’s Press, 1967), 214 ff.

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und Handeln leiten. Wir behaupten, dass diese Ausrichtung am stärksten durch die Entwicklung einer theistischen, nicht-reduktiven Theorie der Wirklichkeit und Gesellschaft vermittelt wird, die viel spezifischere politische Orien­tierung geben kann als nur gerade die Opposition von Tyrannei, die Unterstützung der Religionsfreiheit, und die Forderung, dass Staatsbeamte und Politiker ehrlich sein sollten. Die Ausarbeitung eines solchen Denkansatzes verhilft uns zudem zu einer gesellschaftlichen Gesamttheorie (Sphärensouveränität) und zu einer spezifischen Auffassung der Natur des Staates, die dessen Pflichten bestimmt und seiner Machtsphäre Grenzen zieht, indem sie auf dessen Strukturprinzip abhebt. B Öffentliche Gerechtigkeit Aus der Sicht des kosmonomischen Wirklichkeitsverständnisses gibt es einen spezifischen Aspekt der Erfahrungswirklichkeit, der den justitiären Eigenschaften von Personen, Handlungen, Institutionen und Regeln entspricht. Es gibt auch eine Norm, die die Gesetzesdimension des justitiären Aspekts umfasst. Wie die Gesetze und Normen der anderen Aspekte ist die Norm der Gerechtigkeit nicht einfach eine menschliche Erfindung, sondern Teil der Ordnung, die Gott der Schöpfung verliehen hat. Diese Norm besteht für alle Menschen und Zeiten, obwohl ihre effektive Geltung nach der Durchsetzung verschiedener legaler Statuten und Prozeduren verlangt, die je nach Umständen variieren. Dieser justitiäre Aspekt unserer Erfahrung wird zunächst auf derselben intuitiven Basis erkannt wie alle anderen Aspekte auch: Wir begegnen ihm ganz einfach als Teil der Bedeutung, die das Leben für uns hat. Die Intuition seiner Norm ist das, was wir gewöhnlich als unseren „Gerechtigkeitssinn“ bezeichnen. Diese Intuition ist eine allgemein-menschliche Fähigkeit. Die justitiäre Norm kann als die Idee umschrieben werden, dass der oder die Andere das bekommt, was ihm oder ihr zusteht. Das tönt nun überaus simpel. Doch diese Norm hat verschiedene Facetten, wie zum Beispiel, dass unsere Behandlung anderer Menschen massvoll sein sollte, die Proportionalität verschiedener Ansprüche berücksichtigt werden will, und die Austeilung dessen, was anderen zusteht, vom Gedanken der Gleichheit geprägt sein muss. Die Norm umfasst also nicht nur die retributive Gerechtigkeit (die sowohl Belohnung wie Strafe einschliesst), sondern verlangt auch nach distributiver und proportionaler Gerechtigkeit. Wie auch im Fall der Erfahrung anderer Aspekte, ist die intuitive Einsicht justitiärer Gegebenheiten nicht auf Menschen mit theistischem Glauben beschränkt. Viele Einsichten in das Wesen von Gerechtigkeit wurden durch Personen gemacht, deren Glauben von anderen „Gottheiten“ geprägt war. Deshalb

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müssen wir auch hier nicht nach einem vollständig neuen Verständnis von Gerechtigkeit suchen. Wir brauchen nicht all das zu ignorieren, was zum Beispiel in der antiken Welt davon erkannt wurde, im römischen Recht verkörpert war, oder in der angelsächsischen Tradition des Gewohnheitsrechts überliefert wurde. Dennoch, wie im Fall aller anderen Aspekte, steht die Interpretation unserer intuitiven Einsichten in justitiäre Sachverhalte unweigerlich unter dem Einfluss eines religiösen Glaubens. So wie in den anderen Aspekten des Lebens, tritt auch in Fragen der Gerechtigkeit der Einfluss des religiösen Glaubens am deutlichsten in den Theorien hervor, die wir zu ihrer Beantwortung aufstellen oder übernehmen. Die Interpretation des Wesens von Gerechtigkeit steht unter dem Druck einer Theorie der Gesamtwirklichkeit, des menschlichen Wesens, der Natur der Gesellschaft und der Natur des Staates. Und wo diese Theorien einen pagan-religiösen Glauben voraussetzen, verzerrt der nachfolgende Reduktionismus den intuitiven Sinn für Gerechtigkeit zugunsten desjenigen Aspekts oder Aspekte, die für göttlich erachtet werden. Das Resultat ist, dass einige justitiäre Sachverhalte aufgeblasen und andere gering geschätzt oder ganz ausgeblendet werden. Schauen wir uns ein Beispiel an. Das Zivilgesetz der Vereinigten Staaten geht wie selbstverständlich davon aus, dass eine Person, die eine andere Person schädigt, für den Schaden aufkommen muss. Gerechtigkeit scheint zu fordern, dass wenn ich deiner Person, deinem Besitz, deinem Ansehen, usw. schade, deinen Verlust irgendwie kompensieren muss. Ist es deshalb nicht umso erstaunlicher, dass die Gerechtigkeitsforderung, die in zivilrechtlichen Fällen offenkundig gilt, in strafrechtlichen Fällen nicht zum Tragen kommen sollte? Warum sollte es sein, dass ich den Schaden, den ich jemandem unabsichtlich zufüge, von Gesetz wegen durch Rückerstattung der Kosten der medizinischen Behandlung und des Einkommensausfalls der geschädigten Partei begleichen muss, jedoch nicht für denselben Schaden aufkommen muss, den ich dieser Person vorsätzlich zufüge, um sie auszurauben? Hinter diesem blinden Fleck steht eine falsche Auffassung des Staates – eine Auffassung, gegen die ich im letzten Kapitel angegangen bin. Diese setzt den Ursprung der Autorität der Regierung im Staat an (in diesem Fall im Willen der Mehrheit) anstatt in der von Gott gestifteten Schöpfungsordnung. Wo die Autorität des Gesetzes aus dem Staat selbst hervorgehen soll, ist es nahe liegender, kriminelle Akte als Verstösse gegen den Staat denn als Verstösse gegen die Opfer dieser Akte zu sehen. So betrachtet das US-amerikanische Strafgesetz den Staat als das eigentliche Opfer krimineller Handlungen! Deshalb ist der Staat tatsächlicher Nutzniesser der eingezogenen Bussgelder und des konfiszierten Besitzes, und wird als die Partei betrachtet, der durch das Verhängen einer Gefängnisstrafe Genüge geleistet wird. (Daher der Ausdruck, der entlas-

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sene Häftling hätte „seine Schuldigkeit gegenüber der Gesellschaft“ abbezahlt, wobei „Gesellschaft“ hier synonym für „Staat“ steht.) Diese Auffassung hat zur Folge, dass die real geschädigte Partei, das Opfer, für erlittene Schäden keine Kompensation erhält, was eine ersichtliche Ungerechtigkeit ist.7 Dieses Versagen ist umso erstaunlicher angesichts der Tatsache, dass in diesem Punkt das mosaische Gesetz bereits vor 3000 besser abschnitt, wie auch viele heutige europäische Gesetzgebungen. Aus der Sicht der kosmonomischen Theorie ist der Staat jedoch Träger, und nicht Quelle, der ihm aufgetragenen Kompetenz oder Autorität, Gerechtigkeit zu schaffen. Der Wille der Mehrheit bestimmt, wer die Autoritätsträger sind, doch die Autorität selbst ist in der kosmonomischen Ordnung der Schöpfung begründet und darum letztendlich in Gott. Der Staat wird als diejenige Institution betrachtet, deren Mandat die Sorge über die öffentliche Gerechtigkeit unter allen Bürgern ist. Das Strafgesetz muss deshalb zum Wohl dieser eingesetzt, und nicht in den Dienst der Wiederherstellung seiner eigenen, verletzten Majestät genommen werden. Wir sehen die Funktion des Strafgesetzes demnach aus einer umfassenderen Perspektive als dessen faktische Gestaltung in den USA voraussetzt. Aus unserer Sicht befasst es sich nicht nur mit der Ergreifung, Bestrafung und – wenn möglich – Rehabilitierung von Verbrechern, sondern auch mit der Wiederherstellung der Gerechtigkeit im Blick auf die geschädigte Partei, das Opfer. Dies ist nur ein Beispiel von vielen legalen und politischen Einsichten, die unsere Theorie bietet. Aufgrund ihrer christlich-theistischen Bestimmung des Wesens von Autorität, ihrer Ausdifferenzierung verschiedener sozialer Sphären, und ihrer Analyse eigenständiger Gemeinschaftstypen kann die kosmo­nomische Theorie zu einer präziseren Ausrichtung unseres Gerechtigkeitssinnes beitragen, so dass dieser nicht auf ein bestimmtes Segment des justitiären Spektrums verengt wird und andere übersieht. Vielleicht kann dieser Vorteil am besten durch den Vergleich zwischen der kosmonomischen Theorie und den beiden einflussreichsten Auffassungen von Gerechtigkeit, Indivi­dualismus und Kollektivismus, deutlich gemacht werden. Wir haben bereits gesehen, warum diese beiden Theorien aus theistischer Perspektive nicht akzep­tabel sind. Jede geht von der Annahme aus, dass die Quelle von Autorität in menschlichen Gemeinschaften innerhalb der Schöpfung zu verorten ist: im natürlichen Recht auf Selbstbestimmung, dessen Träger entweder Individuen oder allumfassende Gemeinschaften sind.

7 Damit soll nicht gesagt sein, dass der Staat nie die geschädigte Partei sein kann. In Fällen wie Verrat, Diebstahl von Staatseigentum oder Steuerflucht ist er es sicherlich.

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Auf dem Hintergrund der im letzten Kapitel bereits aufgebrachten Diskussion dieser beiden nicht-theistischen Theorien, werde ich sie mit den Konsequenzen der kosmonomischen Theorie für die Institution des Staates konfrontieren. Im Verlauf der Diskussion werde ich meine Beispiele weiterhin vor allem aus dem politischen Kontext der USA beziehen. Ich beginne mit einem kurzen Überblick des Kollektivismus und einigen Beispielen seines Einflusses. Dann werde ich etwas mehr Raum für die Unterscheidung zwischen der kosmonomischen Theorie und dem Individualismus verwenden, da dieser in der Meinung vieler Leute scheinbar die einzige Möglichkeit darstellt, den Totalitarismus zu verhindern, und er in der politischen Landschaft der USA zudem weitaus verbreiteter ist. Ein weiterer Grund der ausführlicheren Behandlung des Individualismus besteht darin, dass viele Theisten, einschliesslich vieler christlicher Denker, diesen Ansatz schon allein deshalb für theistisch oder gar christlich adäquat halten, weil er den Totalitarismus zu vermeiden sucht. Aus kollektivistischer Sicht müssen politische Rechte aus der Gesamtgesellschaft abgeleitet werden anstatt entweder aus dem Individuum oder aus den Normen der Schöpfung. Da die kollektivistische Theorie das Wohl der Gesamtgesellschaft als höchstes Gut betrachtet, tendiert ihre Auffassung von Gerechtigkeit zur Einschränkung der Rechte des Individuums und der nicht-politischen Gemeinschaften. Selbst diejenigen Sozialisten, die einzuräumen bereit sind, dass Rechte nicht allein vom Staat erschaffen, sondern in der Gesellschaft als Ganzer begründet sind, sehen sich am Ende gezwungen, Gesellschaft und Staat zu identifizieren. Auf welche Theorie sie auch immer zurückgreifen mögen, Kollektivisten können der Konsequenz nicht entkommen, dass Rechte Geschenke des Staates an Individuen und Gemeinschaften sind, die er nach Belieben austeilen, und deshalb auch wieder zurücknehmen oder ändern kann. Das bedeutet, dass der Staat in legaler Hinsicht prinzipiell allkompetent ist. Die Idee der Gerechtigkeit umfasst demzufolge genau das, was der Staat beschliesst. Das ebnet den Weg für eine totalitäre Auffassung des Staates, der die modalen Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Sphären nivelliert und die Sphärensouveränität jeder anderen menschlichen Gemeinschaftsform verletzt. Die Verteidigung dieser Auffassung greift dann unweigerlich auf die Sicht zurück, dass jede Gemeinschaft Teil des Staates ist. Das aber führt zur vollständigen Verdunkelung des spezifischen Typengesetzes und der strukturellen Bestimmung der verschiedenen sozialen Einheiten. Wir haben bereits gesehen, wie die kosmonomische Theorie, obwohl sie die Verpflichtung des Staates gegenüber der gesamten Gesellschaft hoch hält, die Staatsmacht auf die Förderung der öffentlichen Gerechtigkeit beschränkt (einschliesslich öffentlicher Sicherheit). Zudem sieht sie diese Beschränkung nicht

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in einer scheinbaren äusseren Grenze verankert, die durch den Einfluss anderer Institutionen wie Kirche und Wirtschaftsunternehmen gesetzt und durch deren konkurrierende Macht in Kraft gehalten wird, sondern im Wesen des Staates selbst. Es ist die innere Struktur des Staates selbst, die seine rechtmässigen Grenzen festlegt. Und es ist das Verständnis dieses Wesens durch die eigenen Staatsbürger, aus denen die Überzeugungen hervorgehen, die dann in der staatlichen Verfassung ihren Niederschlag finden sollen. Wir haben auch bemerkt, dass die politische Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika zum Teil stark von der christlich-theistischen Überzeugung geprägt war, die ich Sphärensouveränität genannt habe, jedoch auch starke Wurzeln im Individualismus eines Denkers wie John Locke besitzt. Doch trotz der anti-kollektivistischen Richtung dieser Einflüsse sind kollektivistische Tendenzen weiterhin am Werk, deren Einfluss in der US-amerikanischen Politik und Gesetzgebung durchaus spürbar ist. Nehmen wir zum Beispiel die scheinbar unbedeutende Frage, was ein Führerausweis ist. Es gibt viele gute Gründe für den Staat, die Registrierung der Verkehrteilnehmer durchzusetzen. Einer davon ist, dass der Führerausweise eine Form von Besteuerung ist, die zur Finanzierung eines öffentlichen Strassennetzes und anderen Staatsausgaben dient, die im Zusammenhang mit öffentlicher Sicherheit stehen. Ein anderer Grund zielt auf den Schutz der Verkehrsteilnehmer vor rücksichtslosen oder angetrunkenen Fahrer, die durch den Entzug des Führerausweises aus dem Verkehr gezogen werden sollen. Doch nach und nach haben solche Führerausweise in den Augen vieler den Charakter einer staatlichen Erlaubnis angenommen, die jemand zur Lenkung eines Fahrzeugs berechtigt. An diesem Punkt tritt eine kollektivistische Auffassung des Staates an die Stelle des Vakuums, das vom Individualismus hinterlassen wird. Denn weil der Individualismus der Staatsmacht bloss die angeborenen Rechte des Individuums entgegen zu setzen weiss, und es nicht sehr plausibel klingt, dass wir alle mit einem angeborenen, natürlichen Recht auf Fahrzeuglenkung zur Welt kommen, lautet die Schlussfolgerung, dass niemand ein Recht auf Autofahren hat. In diesem Fall gibt es nichts, dass die staatliche Macht begrenzen könnte, und man kommt zu Schluss, die einzige Alternative bestehe in der Auffassung, dass die Lenkung eines Fahrzeugs auf einer staatlich gewährten Konzession beruht.8 Im Gegensatz dazu zeigt die Sphärensouveränität, warum viele Aktivitäten

8 Die Lernunterlagen, die der Staat Pennsylvania für die Fahrschüler herausgab und die ich in meiner Highschool-Zeit zur Absolvierung meiner Fahrberechtigungsprüfung benutzte, stellten expressis verbis diese Behauptung auf.

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weder als eigentliche Rechte noch als staatliche gewährte Konzessionen, sondern als Freiheiten betrachtet werden müssen.9 Dasselbe gilt für die Schliessung von Ehen. Aus der Sicht der kosmonomischen Theorie übt der Staat eine rechtmässige regulative Kontrolle über Schliessung und Vollzug der Ehe aus, insofern die öffentliche Gesundheit betroffen ist. Doch davon abgesehen, sollte eine Heiratsbewilligung niemals als eine Berechtigung zur Ehe durch den allmächtigen Staat betrachtet werden; vielmehr handelt es sich um eine staatliche Registrierung der Ehe, so dass diese ihren Ort in der öffentlichen legalen Ordnung hat. Eine Ehe, so unsere Behauptung, ist in erster Linie eine ethische Institution, die, durch die Norm der Liebe qualifiziert, das Verhältnis der Partner anleitet. Als solche, entsteht eine Ehe durch das gegenseitige Versprechen der exklusiven Liebe zwischen Mann und Frau; sie wird ebenso wenig durch den Staat erzeugt wie durch eine Kirche oder Synagoge. So vermag eine religiöse Institution die Ehe zu segnen, der Staat die Ehe rechtlich anzuerkennen, und eine Zeremonie die Schliessung der Ehe zu deklarieren. Aber nur die Ehepartner können eine Ehe schliessen. Doch die Gesetze der meisten US-amerikanischen Bundesstaaten nehmen eine gegensätzliche Haltung dazu ein. Ehe- und Scheidungsrecht gehen oftmals davon aus, dass beides ein staatlich gewährtes Privileg ist. Ein weiterer, subtilerer Hinweis auf einen residualen Kollektivismus (und seines latenten Totalitarismus) im öffentlichen Bewusstsein der USA, geht aus einem mittlerweile verbreiteten Sprachgebrauch von Politikern und NewsKom­mentatoren hervor. Die sprachlichen Wendungen, auf die ich mich ­be­ziehe, tauchen oft im Zusammenhang mit einem Skandal in der Regierungs­ administration auf und zielen etwa auf die Aussage ab, es wäre besser, wenn der Skandal schnellstmöglich in Vergessenheit geriete, damit die Aufmerksamkeit des Präsidenten nicht weiter beeinträchtigt würde. Die Art und Weise, wie diese Aussage formuliert wird ist jedoch wahrlich erschreckend. Man könnte auch sagen, der Skandal solle so rasch wie möglich beigelegt werden, damit der Präsident zu seiner Aufgabe zurückkehren kann, „das Land zu regieren“. Auch 9 Die Unterscheidung zwischen einem per se Recht und einem Freiheitsrecht ist, dass ein per se Recht die Zuwendungen und Leistungen betrifft, die die Bürger direkt vom Staat erhalten, wie etwa den Schutz vor Invasion und Verbrechen. Ein sekundäres Recht wiederum ist das Recht der Bürger, in Freiheit in bestimmter Weise zu handeln, ganz unabhängig davon, ob sie wünschen, von diesem Recht Gebrauch zu machen oder nicht. Wir haben daher ein per se Recht, vor Verbrechen geschützt zu werden, aber wir haben nicht ein per se Recht zu heiraten oder ein Geschäft zu betreiben, weil niemand unsere Rechte verletzt, wenn er/sie uns nicht heiraten oder wenn er/sie nicht mit uns geschäftlich verkehren will. Was wir haben ist das Recht frei zu sein, zu heiraten oder ein Geschäft zu betreiben. So ist das Autofahren kein per se Recht, aber im Sinn der Sphärensouveränität ist es ein Recht im Sinn des sekundären Freiheitsrechts.

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wenn solche Wendungen nicht wörtlich genommen werden sollen – das heisst, nicht als Berufsbeschreibung des Präsidentenamtes gemeint sind – besteht die reale Gefahr, dass dieser Sprachgebrauch einige äusserst wichtige und zerbrechliche politische Prinzipien zu verschleiern hilft. Unter diesen ist zum Beispiel die Einsicht, dass der Staat nur eine der vielen sozialen Einheiten in der Gesellschaft ist, dass die Regierung nur ein Teil des Staates ist (obwohl der herrschende Teil), und dass der Präsident nur einem Zweig der Bundesregierung vorsteht. Diejenigen, die solche Wendungen brauchen würden dies vermutlich nicht bestreiten. Doch die Tatsache, dass solche Wendungen trotzdem gebraucht werden, erzeugt und verfestigt die gefährliche Einstellung, dass wenn kein individuelles Recht plausiblen Anspruch auf Beschränkung der Kompetenz des Staates erheben kann, kollektivistische Vorstellungen in Kraft treten sollten. Deshalb kann auch eine simple Wendung wie die oben angeführte der Überzeugung Nahrung geben, das „Land“ werde in toto durch die staatliche Regierung geführt, wenn denn kein individuelles Recht existiert, das diesen Führungsanspruch eingrenzt. Diese Redensart trägt auch dazu bei, die Gleichsetzung von Nation und Regierung im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Die Geschichte lehrt uns die desaströsen Folgen dieser Identifikation. Viele europäische Länder haben ihre Bevölkerung über Jahrhunderte ermuntert, Staat und Nation als ein und dasselbe zu betrachten. Je nach Erfolg führten diese Tendenzen zum Versagen grosser Teile der Bevölkerung, ihre Regierung als eine Institution neben vielen anderen in der Gesellschaft sehen zu können. In der Folge wurde der Stolz und die Macht des Staates mit der Ehre und Glorie der Nation verwechselt. So sahen sich die politischen Machteliten dieser Länder in der Lage, ihre Rivalitäten als nationale Ehrensache und darum als gute Gründe für einen Krieg auszugeben. Die Verschmelzung von Staatsstolz und nationaler Ehre wurde so zur stärksten Einzelursache der europäischen Kriege während hunderten von Jahren.10 Wenden wir uns nun der individualistischen Auffassung zu, dass der Staat aus einem Vertrag souveräner Individuen bestehe. Eine einflussreiche For­ mulierung dieser Auffassung ist die der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die weltweite Wirkung gezeitigt hat. Jefferson behauptet in dieser Erklärung die selbstevidente Wahrheit der Überzeugung, dass „alle Menschen 10 Vgl. die Bemerkungen von Otto von Bismarck zur Rechtfertigung seines Redigierens der Emser Depesche, die den Deutsch-Französischen Krieg anstachelte. (Bismarck, The Man and the Statesman: Being the Reminiscences of Otto, Prince of Bismarck, übers. A. J. Butler [New York: Harper & Row, 1899], vol. 2, 97–101).

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gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden“, und dass „zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind“. Die amerikanischen Kolonisten jener Zeit nahmen diese Formulierungen zur Begründung der Absetzung Georgs III von England als ihrem rechtmässigen König, da dieser ihre unveräusserlichen Recht verletzt habe.11 Die Überzeugung, dass menschliche Personen Rechte gegenüber dem Staat haben, ist zum Teil durch christlich-theistische Ideen inspiriert worden, die die Kolonisten von der Reformation via den Englischen Puritanismus bezogen hatten.12 Dennoch ist die Begründung des beschränkten Staates auf der Basis individueller Rechte, die der menschlichen Natur vorgeblich inhärent sind, eine Verzerrung der christlichen Lehre. Sie übersieht den entscheidenden Punkt, dass das Recht auf rechtliche Gleichbehandlung, die vom Staat allen Bürgern gewährt werden muss, aus der Norm der Gerechtigkeit hervorgeht, die den gesamten Kosmos durchwaltet. Die Formulierung der Unabhängigkeitserklärung ignorierte die Gesetzesdimension des justitiären Aspekts der Schöpfung und versuchte statt dessen, die Grenzen des Staats in der subjektiven Natur einer jeden Person zu verankern.13 Unser Einwand gegen diese Sicht der 11

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Es ist faszinierend zu bemerken, wie der Individualismus der Unabhängigkeitserklärung den Weg für einen Kollektivismus des Mehrheitswillens in der amerikanischen Verfassung bahnt. Obgleich die Erklärung von unveräusserlichen Rechten spricht, so sind die Rechte, die in der Verfassung aufgelistet sind, Zusätze bzw. Änderungen (amendments), die auf Votum des Kongresses oder der Bundesstaaten widerrufen werden können. Daher gibt es kein einziges garantiert unveräusserliches Recht in der amerikanischen Verfassung. Jefferson schlug ursprünglich folgenden Wortlaut vor: „Wir halten diese Wahrheiten für heilig und unbestreitbar.“ Franklin dachte, dass dies zu religiös klang und plädierte für die rationalistische Phrase: „Wir halten diese Wahrheiten für selbstevident.“ Nichtsdestotrotz wurde unter Puritanern eine starke Verbindung zwischen Selbstevidenz und religiöser Wahrheit hergestellt, die (vor Locke) die biblische Lehre mit der Idee einer begrenzten Regierung verbunden hatten. Es war eine Kombination von Lockes Theorie und einem älteren puritanischen Erbe, wofür die Kolonisten plädierten. Siehe Staughton Lynd, Intellectual Origins of American Radicalism (New York: Pantheon, 1968), 20, 24–31. Es sollte ebenfalls angemerkt werden, dass der Ausdruck „Rechte“ zwar nicht in der Heiligen Schrift auftritt, aber die Idee sehr wohl vorhanden ist. Weil ein Recht eine Zuwendung oder eine Immunität ist, die einer Person nicht ohne Ungerechtigkeit (im Fall eines legalen Rechts) oder Mangel an Liebe (im Fall eines ethischen oder moralischen Rechts) abgesprochen werden kann, sind die mosaischen Gesetze und die Geschichte des guten Samariters klare Lehren, dass alle Menschen Rechte aufgrund ihrer Gottesebenbildlichkeit haben. Jefferson erwähnt die „Gesetze der Natur und den Gott der Natur“ im Eröffnungsparagraphen. Er stellt aber keine spezielle Verbindung dieser Anspielung zu seiner Aussage über

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Dinge kritisiert deshalb, dass Rechte eine individuelle statt universale, weil normative, Grundlage haben sollen. Im Gegensatz dazu halten wir uns daran, dass die individuellen Rechte einer Person nur eine Seite der Gerechtigkeit ausmachen, und die andere Seite darin besteht, dass andere Menschen dieser Person gegenüber Verpflichtungen haben. Eine dritte Seite besteht darin, dass sowohl Rechte als Pflichten den Menschen aufgrund der justitiären Norm zukommen, die Gott der Schöpfung einverleibt hat. Wie sonst könnte der Besitz solcher individueller Rechte begründet werden? Wie könnten wir uns jemals vergewissern, dass Menschen Rechte besitzen, oder dass alle Menschen die selben Rechte besitzen, wenn es keine Norm der Gerechtigkeit gäbe, die den gesamten Kosmos regiert? Die einzig tragfähige Basis der Idee der Menschen­ rechte ist die, dass sie aus einer universalen Norm hervorgeht.14 Aus der Universalität dieser Norm folgt auch, dass nicht nur Individuen, sondern auch Gemeinschaften darunter fallen; nicht nur Individuen haben Rechte und Pflichten, so unsere Auffassung, sondern auch Ehegemeinschaften, Familien, Schulen, Unternehmen, Kirchen, Spitäler, Gewerkschaften, etc. Ein weitere, unschöne Kehrseite der Auffassung, dass Menschenrechte irgendwie in der Natur individueller Personen verankert sind, wird in einer Reihe von Autoren ersichtlich, die argumentieren, der Besitz von Rechten sei an

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die individuellen Rechte her. Vielmehr verbindet er sie nur mit dem „separaten, aber gleichen Rang“ (separate but equal station), wozu die Vereinigten Staaten unter anderen Nationen berechtigt seien. Viele nachfolgende Diskussionen über Rechte sind seiner Spur gefolgt, und haben es unterlassen, Rechte mit Normen zu verbinden. Es wurde mir hin und wieder vorgeschlagen, dass wir keine Theorie benötigten, um den Glauben an die Rechte zu begründen, weil Rechte nichts anderes als pragmatische Konstrukte seien. Alles, was wir tun müssten, heisst es, ist darin übereinzustimmen, dass Menschen Rechte haben, und dieselben Begrenzungen der staatlichen Gewalt würden daraus resultieren. Jedoch scheint mir nichts weiter von der Wahrheit entfernt zu sein als diese Position. Tatsächlich hebt sich die pragmatische Auffassung von Rechten in pragmatischer Hinsicht selbst auf. Wenn die Übereinstimmung herrscht, dass es in Wirklichkeit nichts dergleichen gibt und dass wir nur so tun, als ob es Rechte gibt, dann ergeben sich zwei Schlussfolgerungen: Einerseits wird niemand durch irgendeine Rechtsäusserung in seinem Verhalten eingeschränkt sein, andererseits wird jeder die Rechte deklarieren wollen, die seinem eigenen Interesse dienen. Das praktische politische Ergebnis wäre das reine Chaos. Zudem resultiert die pragmatische Sicht der Rechte unmittelbar in einer kollektivistischen Sicht des Staates und liefert keine prinzipielle Einschränkung der staatlichen Gewalt, wenn Rechte als Erfindung der politischen Machthaber angesehen werden, und somit nur solche sind, die den Bürgern eines Staates aus blossen Nützlichkeits­ erwägungen zugesprochen würden. Folglich zerstört die pragmatische Sicht von Rechten die wichtigsten praktischen Konsequenzen, die der Glaube an real existierende Rechte hervorgebracht hat.

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ein gewisses Verständnis dieser Rechte durch das potentielle Rechtssubjekt gebunden. Zudem müsse die Person das, was diese Rechte gewährleisten, auch wünschen. Andernfalls, so die Behauptung, sei es völlig sinnlos, jemandem den aktuellen Besitz eines Rechtes zuzusprechen.15 Andere haben wiederum darauf hingewiesen, dass die Verankerung von Rechten im Individuum unweigerlich mit sich zieht, dass sich dessen Rechte zusammen mit der biologischen Basis der relevanten Fähigkeiten des Individuums entwickeln müssen.16 Diese Auffassung ist dann plausibel, wenn Rechte mit bestimmten Fähigkeiten oder Vermögen der menschliche Person, wie die natürliche Gabe des Sehens und Hörens, identifiziert werden. Denn bestimmt hat niemand das Vermögen zu sehen, der nicht sehen kann, oder das Vermögen des Hörens, der nicht Hören kann. Doch das Resultat dieser Interpretation von Menschenrechten ist, dass Kinder, schwer entwicklungsgeschädigte oder zurückgebliebene Menschen, Senile, und Personen im Koma überhaupt keine Rechte haben. Im Extremfall würde das bedeuten, dass man diese Menschen töten könnte ohne Mord zu begehen. Selbst ein normaler Erwachsener, der aus einer archaischen Kultur in einen modernen Staat versetzt wird, wäre unfähig, viele der in den meisten modernen Gesellschaften anerkannten Rechte zu verstehen und sein eigen nennen zu wollen. Aus der Sicht dieser Theorie hat er also keinen Anspruch auf diese Rechte.17 In all diesen Fällen verhindert die individualistische Interpretation der Natur von Rechten die Anerkennung der wahren Universalität der Gerechtigkeit. 15

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So zum Beispiel, M. Warren, “On the Moral and Legal Status of Abortion,” Monist 57, no. 1 (Jan. 1973): 55; und M. Tooley, “Abortion and Infanticide,” Philosophy and Public Affairs 2 (1971). T. Hayes, “A Biological View,” Commonwealth 85 (March 1967): 677–78 In diesem Zusammenhang ist interessant zu sehen, dass andere Autoren wiederum ver­ suchen, diese Konsequenzen zu vermeiden, indem sie die Rechte eher in der Fähigkeit von Lebewesen zu fühlen anstatt zu denken fundieren und daraus schliessen, dass Tiere auch Rechte haben. Nach gesetzesrahmentheoretischer Sicht der Rechte sind beide Theorien aber zu limitiert, da sie an die subjektiven Bedingungen der in Frage stehenden Wesen geknüpft sind. Nach unserer Meinung haben nicht nur Tiere Rechte, sondern die gesamte unbeseelte Schöpfung – zumindest indirekt. Das liegt daran, dass Menschen justitiäre (und ethische) Verpflichtungen nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern gegenüber Gott und damit gegenüber seiner gesamten Schöpfung haben. Wir haben beispielsweise den Auftrag, uns um die Schöpfung zu kümmern und sie zu vervollkommnen, weil diese uns durch Gott anvertraut wurde. Auf dieser Grundlage können wir erklären, warum z.B. Luft- oder Wasserverschmutzung falsch sind, selbst wenn wir keinem jetzt lebenden Menschen Schaden zufügen. Andere Theorien haben Mühe zu erklären, warum zukünftige Generationen Rechte haben könnten, wenn sie noch nicht einmal existieren.

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Was alles noch schlimmer macht ist die Tatsache, dass diese hypothetischen Konsequenzen eine signifikante Ähnlichkeit mit realen Ereignissen der Geschich­te der Vereinigten Staaten von Amerika aufweisen. Die Väter der Kon­ sti­tution vermieden es bewusst, den indianischen Einheimischen und Afro­ amerikanern irgendwelche politische Rechte zuzugestehen, und versagten auch dem weiblichen Bevölkerungsanteil die vollen Rechte. Sie debattierten allen Ernstes, ob zum Beispiel gewisse Rassenunterschiede ausreichten, um diese Bevölkerungsgruppen von den Menschen auszuschliessen, die „von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt“ worden sind. Die Frage, ob Geschlechts- oder Rassenunterschiede ausreichen, um jemandem politische Rechte abzusprechen, ist jedoch nur dann sinnvoll und angebracht, wenn man justitiäre Rechte in der subjektiven Beschaffenheit von Individuen zu verankern versucht. Im Gegensatz dazu betrachtet es die kosmonomische Theorie als unverrückbare Tatsache, dass alle Menschen Rechte und Pflichten besitzen, da diese nicht aus den persönlichen Fähigkeiten, der Rasse, oder des Geschlechts des Einzelnen hervorgehen. Diese Rechte und Pflichten sind vielmehr durch eine Schöpfungsnorm verbürgt, die sich auf jeden Menschen als Mensch bezieht. Dann gibt es noch weitere Schwierigkeiten mit der individualistischen Auffassung von Rechten. Eine davon besteht darin, dass Rechte überhaupt nicht delimitiert werden können, wenn sie nicht als Resultat aspektspezifischer Normen anerkannt werden. Es gibt keine Grenze, was sich Menschen wünschen mögen, aber nicht jeder Wunsch verbürgt schon ein Recht auf das Gewünschte. Zudem führt das Versagen, den Ursprung von Rechten in Normen anzuerkennen, zur Missachtung der Tatsache, dass es verschiedene, aspektspezifische Arten von Rechte gibt. Dieser letzte Punkt wird noch durch die Beobachtung verstärkt, wie gewisse Debatten um Rechte dadurch an Klarheit und Eindeutigkeit verlieren, dass keine modalen Distinktionen berücksichtigt werden. Zum Beispiel sollten wir uns des Unterschieds zwischen moralischen Rechten, die aus der ethischen Norm der Liebe hervorgehen, und justitiären Rechten, die der Norm der Fairness entspringen, bewusst sein. Es ist die zweite Art von Recht, die der Staatsmacht Grenzen setzt, und damit politisch-zivile Rechte hervorbringt. Da diese beiden Arten von Recht vielerlei Unterschiede aufweisen ist es wichtig, sie nicht miteinander zu verwechseln. Wenn die modalen Arten von Normen, Pflichten und Rechte nicht auseinander gehalten werden ist die Folge eine grossartige Konfusion, die bestimmte Denker dazu geführt hat, aus einer bestimmten Art von Pflicht eine andere Art von Recht abzuleiten. Beispiel dieser Verwirrung ist jede Argumentation, die aus einer moralischen Pflicht ein politisches Recht hervorzaubern möchte. Unsere Theorie anerkennt, dass eine normative ethische Verpflichtung zur Nächstenliebe Hand in Hand mit dem Recht des

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Nächsten einher geht, von uns mit Wohlwollen behandelt zu werden. Und sie anerkennt die Tatsache, dass die normative Verpflichtung zum gerechten Handeln Hand in Hand mit dem korrespondierenden Recht der Anderen einher geht, gerecht behandelt zu werden. Daraus kann jedoch nicht folgen, dass aus der ethischen Verpflichtung einer Person oder einer Gemeinschaft gegenüber einer anderen, ein entsprechendes politisches Recht der anderen Person oder Gemeinschaft hervorgeht, das gesetzlich durchgesetzt werden sollte. Zum Beispiel macht der theistische Glaube klar, dass wir ethische Verpflichtungen gegenüber den Armen haben. Doch das gibt keinem armen Menschen ein gesetzliches Recht auf meine Almosen. So sollte schon aus unserer kurzen Skizze der Natur des Staates hervorgehen, dass die Durchsetzung von ethischen Verpflichtungen der Liebe ausserhalb des gesetzesbildenden Kompetenzbereichs des Staates liegt. Der Staat ist durch Normen der Gerechtigkeit und nicht durch Ethik qualifiziert. Die Durchsetzung von öffentlicher Gerechtigkeit macht die strukturelle Bestimmung des Staates aus, nicht die Durchsetzung von persönlicher, nicht-öffentlicher Moral. Das bedeutet wiederum nicht, der Staat bräuchte kein Interesse an der öffentlichen Moral zu haben. Wenn Eltern die totale Verstossung ihrer Kindern von zuhause zu praktizieren beginnen, oder dreiviertel der Bevölkerung jeden Abend so viel Alkohol konsumiert, dass sie nicht mehr arbeitsfähig ist, müsste der Staat eingreifen, um die nachfolgende, schwerwiegende Störung der öffentlichen Ordnung zu beheben. Obwohl es also nicht im Auftrag des Staates liegt, über alle Dimensionen der Moral zu wachen, hat er doch ein legitimes Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Ordnung, wenn diese durch eine signifikante Verschiebung der gesellschaftlichen Moral bedroht ist. Umgekehrt folgt nicht, dass der Staat jede menschliche Angelegenheit, in der es um die Herstellung von Gerechtigkeit geht, regeln muss, obwohl Ziel und Grenze des Staates in der Durchsetzung von Gerechtigkeit besteht. Der Bereich des Staates ist die öffentliche Gerechtigkeit. Die unzähligen kleinen Verstösse gegen die Norm der Gerechtigkeit, die zwischen einzelnen Menschen oder innerhalb von Gemeinschaften auftreten, können und sollen nicht vom öffentlichen Gesetzgeber ausgeglichen werden. Das Verhalten eines Vaters oder einer Mutter, das eines der Kinder bevorzugt, verstösst zum Beispiel nicht nur gegen die Liebe, sondern ist auch ungerecht gegenüber dem unterprivilegierten Kind. Niemand möchte jedoch behaupten (solange eine Kind nicht vernachlässigt wird), dass der Staat befugt oder berufen ist einzuspringen. Die Pflichten des Staates umfassen vielmehr nur diejenigen Dinge, die prinzipiell die gesamte politische Ordnung der Gesellschaft betreffen.18 18

Es ist eine Quelle grosser Verwirrung, dass die meisten politischen und rechtlichen Diskussionen in der sogenannten „Ethik“ an der adäquaten Unterscheidung zwischen dem

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Dieser letzte Punkt wurde im Zusammenhang mit der Klärung einer der Grenzen des Staates erhoben. Gleichzeitig verweist er jedoch auf eine weitere Schwäche der individualistischen Gesellschafts- und Staatstheorie, die weiter oben angedeutet wurde. Denn eine ihrer Konsequenzen besteht darin, dass nur einzelne Menschen Rechte haben, und damit keine Vorkehrungen zum Schutz der öffentlichen Gerechtigkeit und öffentlicher Rechte getroffen werden. Was soll geschehen, wenn die Pflichten des Staates und die Grenzen seiner Macht allein durch die Rechte des Einzelnen gegeben sind, und ein Unrecht begangen wird, das nicht gegen die Rechte eines Individuums verstösst? Nehmen wir zum Beispiel an, dass im Verlauf der Herstellung eines bestimmten Produkts eine Fabrik auf ihrem Grund und Boden ein Gewässer oder die Atmosphäre verschmutzt, deren Besitzer kein Individuum ist. Für sich genommen, bietet die individualistische Theorie keine Basis für eine legale Remedur solcher Fälle; wenn nur gerade einzelne Personen Rechte haben, können auch nur einzelne Personen diese Rechte gerichtlich einklagen. (Tatsächlich gab es im frühen neunzehnten Jahrhundert Fälle, in denen US-amerikanische Gerichts­höfe ihr Urteil exakt auf dieser Basis fällten.) Aber was ist mit dem legalen Status eines Unternehmens, der für den Abschluss eines gesetzlich verbindlichen Kontrakts mit einem anderen Unternehmen, oder für dessen Verklagung vor Gericht erforderlich ist? Dieses Problem wurde in den Vereinigten Staaten und in einigen europäischen Ländern so gelöst, dass Wirtschaftsunternehmen vor Gericht der Status einer „Rechtsperson“ zuerkannt wird. Die individualistische Theorie ist mit anderen Worten nur dann überzeugend, wenn eine Fiktion vor Gericht zur Realität deklariert wird, da ohne diese Fiktion kein einziges Unternehmen irgendwelchen legalen Status hätte!19

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ethischen und dem justitiären Aspekt scheitern. Oft werden Probleme der Gerechtigkeit, die keinen öffentlichen Charakter haben und daher nicht unter die Ange­legenheiten ­fallen, über die der Staat Gesetze erlassen sollte, oder selbst Fragen der öffent­lichen Ge­rechtigkeit, die erst noch staatlich geregelt werden müssen, „ethisch“ oder „moralisch“ genannt, obwohl sie noch immer unter die Normen der Gerechtigkeit fallen anstatt unter die der Liebe. Selbst wenn man es mit der fiktiven Annahme, dass Korporationen Personen sind, ermöglicht, diesen rechtliche Stellung vor dem Gesetz einzuräumen, hat man damit immer noch keine rechtliche Stellung von Nicht-Korporationen geschaffen. Die Unzulänglichkeit dieser Ansicht wird v.a. seit der Arbeit von Hohfeld anerkannt. Dass Gerichte unter der An­nahme, nur Individuen hätten Rechte keinen adäquaten Rechtsschutz garan­tie­ ren, zeigt sich anhand von Fällen wie Gruppenklagen und anderen involvierten NichtHohfeld-Parteien. Siehe R. Cover, O. Fiss, und J. Resnik, Procedure (New York: Westbury, 1988).

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Deshalb unsere Frage: Warum sollten wir glauben, dass nur Individuen gesetzliche Rechte besitzen können? Warum zögern wir anzuerkennen, dass auch Gemeinschaften dem Recht unterstellt sind, also wörtlich Rechtssubjekte sind, und damit Rechte und Pflichten haben, die vom Staat beschützt werden sollten? Gewiss, wenn eine Theorie eine deklariert unzutreffende Annahme als wahr ausgeben muss, um ihre Sicht des Gesetzes praktikabel zu machen, kann die Schlussfolgerung nur die sein, dass nicht nur Individuen Rechte haben. Im Gegensatz zum Individualismus hat die kosmonomische Theorie jedoch keine Probleme zu erklären, wie Familien, Schulen, Gewerkschaften, Clubs, Unternehmen, und die gesamte Gesellschaft Rechte besitzen können, obwohl sie keine Individuen sind, die von Gott „gleich erschaffen“ worden sind. Das ist, wie gesagt, nur möglich, weil die Quelle aller Rechte in den Normen der Schöpfungsordnung zu finden ist. Obwohl wir die Intention des In­ dividualismus, dem Staat Grenzen zu setzen, anerkennen, widersetzen wir uns der Beschränkung von Rechten auf Individuen, wodurch die öffentlichen Pflichten des Staates ausgeklammert werden. Zudem sollten wir uns auch an einen Punkt erinnern, der weiter oben angesprochen wurde, und die Folgen des Individualismus für das Verhältnis des Staates zu anderen Gemeinschaften betrifft. Denn der Individualismus bietet keine Möglichkeiten, die Macht des Staates gegenüber anderen Gemein­ schaften zu begrenzen als durch die Fiktion, dass auch sie, wie Wirtschaftsunternehmen, Einzelpersonen sind, deren „inneren Angelegenheiten“ der staatlichen Kontrolle entzogen sind (analog dazu, wie das Privatleben eines Menschen der staatlichen Intervention entzogen ist). Es war in diesem Geist, in dem Jefferson von einem „Grenzwall zwischen Kirche und Staat“ sprach, und dieselbe Idee liegt der „Laissez-faire“ Doktrin zugrunde, wonach sich der Staat nicht in die Belange der Wirtschaft einmischen dürfe. Eines ist jedoch klar: Keine zwei Gemeinschaften in der Gesellschaft können vollständig voneinander abgeriegelt werden. Und wie gesehen kann es auch nicht zutreffen, dass die inneren Angelegenheiten einer Familie, eines Unternehmens, oder einer Kirche, dem Staat die nötigen und richtigen Grenzen setzen. Denn was unter „innerer Angelegenheit“ zu verstehen ist bleibt in der individualistischen Auffassung viel zu vage. Der Ausdruck kann nicht einfach das bedeuten, was sich im Verlauf der täglichen Aktivitäten jeder dieser Gemeinschaften ereignen mag. Daraus würde sonst folgen, dass der Staat nicht befugt ist zu intervenieren, um die Misshandlung eines Ehepartners zu unterbinden, oder ein Wirtschaftsimperium daran zu hindern, eine Privatarmee zu unterhalten, oder eine Kirche davon abzuhalten, sich über feuerpolizeiliche Bestimmungen hinwegzusetzen. Was zu den eigentlichen inneren Angelegenheiten gehört, und damit der Aufsicht des Staate entzogen sein muss, ergibt

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sich aus der Leitfunktion und der strukturellen Bestimmung einer jeden Gemeinschaftsform. Deshalb muss die richtige Grenze der Macht des Staates durch die Kontrastierung seines eigenen Wesens mit dem Wesen anderer Gemeinschaftstypen bestimmt werden, und ergibt sich nicht einfach aus den äusseren Grenzen zwischen einer Gemeinschaft und einer anderen. Im Gegensatz zur individualistischen Vertragstheorie geht unsere Sicht nicht von einem potentiell totalitären Staat aus, um dann nach irgendwelchen äusseren Grenzen seiner Macht zu suchen. Wie schon gesagt, findet die kosmonomische Theorie die wahre Grenze der staatlichen Macht in dem, was der Staat ist, und nicht nur in dem, was er nicht ist. Deshalb ist nach unserer Auffassung der Staat verpflichtet, seine Autorität im Leben einer jeden Person oder Gemeinschaft durchzusetzen, soweit die öffentliche Gerechtigkeit betroffen ist. So können wir uns auch nicht mit der Rede von einem angeblichen „Grenzwall“ zufrieden geben. Diese bietet keine angemessene Erklärung der unterschiedlichen sozialen Sphären wie Staat und religiöse Institutionen. Unsere Behauptung lautet deshalb: Nicht der Individualismus, sondern das Prinzip der Sphärensouveränität bietet die richtige Basis für die Überzeugung, dass zum Beispiel die Durchsetzung oder das Verbot eines religiösen Glaubens oder die Kontrolle der Lehre und Anbetungspraxis einer religiösen Institution ausserhalb der Kompetenzgrenzen staatlicher Macht liegen. Zudem ist dieses Prinzip das einzige, das erklären kann, wie und warum die Idee einer eigenständigen Sphäre religiöser Institutionen die staatliche Macht auch gegenüber anderen nicht-staatlichen Gemeinschaften begrenzt. Zum Beispiel enthält dieses Prinzip auch den Schlüssel zur richtigen Bestimmung der Grenze zwischen Staat und ökonomischer Sphäre. Es zeigt, warum die Übernahme oder Kontrolle privater Unternehmen, oder die Verbandelung mit einem ganzen Wirtschaftssektor zuungunsten eines anderen ausserhalb der Befugnis des Staates liegt. Ganz ähnlich ist der Staat berufen, die Familiengemeinschaft zu schützen. Auch der Familie kommt Souveränität in ihrer eigenen Sphäre zu, wodurch sie vor jeder willkürlichen Interferenz des Staates wie zum Beispiel polizeiliche Invasion oder Hausdurchsuchung ohne gerichtlich anerkannten Hausdurchsuchungsbefehl geschützt ist. Dasselbe gilt für alle anderen nichtstaatlichen Gemeinschaftstypen. Weiter oben ist erläutert worden, warum das Prinzip der Sphärensouveränität sowohl allgemein theistischer, wie auch spezifisch christlicher Natur ist. Deshalb möchte ich jetzt so deutlich wie möglich werden, was die eben erwähnten Folgen dieses Prinzips für die staatliche Bevorzugung einer bestimmten Religion anbelangt. Die christliche Sicht des Staates verlangt, dass das Christentum nicht vom Staat bevorzugt wird. Zudem bedeuten die Sphärenbegrenzungen von Staat und Religionsgemeinschaften, dass der Staat wesensmässig eine

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justitiäre, Religionsgemeinschaften aber eine fiduziäre Leitfunktion haben, so dass der Begriff einer Staatskirche in sich widersprüchlich ist. Aber nicht nur das: Umgekehrt verbieten die Sphärenbegrenzungen auch die Kontrolle der politischen Gesetzgebung des Staates durch eine Religionsgemeinschaft – wie auch die Verletzung der Sphärenintegrität einer jeder anderen Gemeinschaftsform. Der Punkt soll hier wiederholt werden: Die kosmonomische Theorie bietet keine theistische oder christliche Sicht der Gesellschaft und des Staates, in der Juden, Christen und Muslime eine irgendwie bevorzugte Position zukäme. Sie ist kein Versuch eines Programms, aufgrund dessen jüdische, christliche und muslimische Interessenvertreter ihre Regierungen unter Druck zu setzen versucht sein könnten, um spezielle Rechte für ihre Gemeinschaften zu erlangen. Vielmehr ist diese Theorie theistisch und christlich in dem Sinn, dass sie die anti-reduktionistischen Folgen des Glaubens an Gott in eine fruchtbare Beziehung zu Fragen der Gerechtigkeit und zur Auffassung des Staats setzt. Als solche verlangt unsere Theorie, dass keine Regierung jemals der Forderung nach speziellen Privilegien durch eine bestimmte Gemeinschaft nachgibt und damit der Gerechtigkeit zuwider handelt. Aus unserer Sicht ist die staatliche Regierung vielmehr verpflichtet, sich auf das Ziel der Hervorbringung einer maximal gerechten Gesellschaft zu konzentrieren. Dies kommt allen Menschen zugute, ob sie nun an Gott glauben oder nicht. Keine dieser Konsequenzen kann jedoch bedeuten, dass der Staat vom Einfluss eines jeglichen religiösen Glaubens abgeschirmt wäre. Das ist, wie wir gesehen haben, ganz und gar unmöglich. Jede Auffassung von Gerechtigkeit und Staat setzt den Glauben an etwas Göttliches voraus, so dass der Staat immer auf der Basis von theistischen oder nicht-theistischen Annahmen, oder einer Kombination davon, konzipiert und geführt wird. Aus diesem Grund ist es von grundlegender Bedeutung, dass sich die Menschen, die an Gott glauben, nicht davon abhalten lassen, die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen ihres Glaubens ins politische Leben und die Führung und Gesetzgebung des Staates hineinzutragen. Darum ist es auch wichtig, dass solche Menschen ein tieferes Verständnis gewinnen, wie ihr Glaube eine eigenständige Gerechtigkeits- und Staatstheorie inspirieren kann. Ohne eine solche Theorie sind diejenigen, die den Glauben an Gott teilen, versucht, das Verhältnis dieses Glaubens zur Politik im ungerechten Programm zu sehen, eine Mehrheit zu werden, um ihre Moral per Gesetz durchzusetzen und denen aufzuzwingen, die von anderen religiösen Annahmen ausgehen.20 20

J. Skillen formuliert diesen Teil der Theorie ausgezeichnet in seinem Artikel „Going Beyond Liberalism to Christian Social Philosophy“ in Christian Scholar’s Review 19, no. 3 (March 1990). Skillen betont, dass das Beharren der Gesetzesrahmentheorie auf der

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Ich möchte diesen Abschnitt mit der Erörterung eines Punktes beschliessen, der auch schon kurz angesprochen wurde, und ihn weiter illustrieren. Es ging darum, dass das Prinzip der Sphärensouveränität die staatliche Macht nicht nur hinsichtlich der Religionsgemeinschaften, sondern gegenüber allen Gemeinschaftstypen in einer Gesellschaft begrenzt. Die Grenzen, die dieses Prinzip zu erkennen hilft, sind nicht bloss negativer Art. Es legt nicht nur die Parameter für die Immunität fest, die andere Gemeinschaft gegenüber dem Staat geniessen sollten, sondern gibt uns auch ein deutlicheres Bild der Bedingungen, unter denen der Staat verpflichtet ist zu intervenieren und von seiner Macht Gebrauch zu machen. Eine dieser Pflichten ist die Durchsetzung der Sphärensouveränität selbst. Unsere Theorie verlangt vom Staat, dass er die allseitige Anerkennung der Sphärensouveränität- und begrenzung der verschiedenen Gemeinschaften durchsetzt und sie selber auch respektiert. So verbietet unsere Theorie, dass sich der Staat zum Eigentümer einzelner Wirtschaftsunternehmen macht oder die ganze Wirtschaft zu kontrollieren versucht, obwohl er zum Beispiel rechtmässig Gesetze im Bereich der Kinderarbeit erlassen kann oder muss, und damit die Sphärenbegrenzung des ökonomischen Sektors wieder herstellt. In den Vereinigten Staaten war es vor der relevanten Gesetzgebung gang und gäbe, dass Wirtschaftsunternehmen in die Sphäre der Familie eindrangen und diese zunichte zu machen drohten. Die Unvoreingenommenheit der Regierung gegenüber allen kein Zugeständnis an den Relativismus ist. Es ist vielmehr eine Frage der Gerechtigkeit, deren...: “biblical basis is this: God is longsuffering and patient until the final judgment. … [This is] a testimony not to God’s relativistic nonchalance about sin but rather his mercy and grace. If God is patient… then we, too, must be the same. … If government restrains itself from forcing all citizens to confess one faith, or forcing all parents to send their children to a single school system, or forcing all friendships to meet the same sexual behavior patterns, it does not thereby act as a relativist. … Government fulfills its duties before God when it seeks to advance public justice which includes full protection of the confessional rights of those non-political, non-governmental institutions and relationships which must be free to obey or disobey God’s laws in their own realms.” (biblische Basis diejenige ist: Gott ist bis zum endgültigen Urteil langmütig und geduldig. ... [Das ist] kein Zeugnis von Gottes relativistischer Nonchalance gegenüber Sündern, sondern eher seiner Barmherzigkeit und Gnade. Wenn Gott geduldig ist, ... dann sollen wir es auch sein. ... Wenn die Regierung es unterlässt, alle Bürger dazu zu zwingen, einen Glauben zu bekennen, oder alle Eltern zwingt, ihre Kinder dem gleichen Schulsystem anzuvertrauen, oder alle Freundschaften zwingt, die gleichen sexuellen Verhalten zu erfüllen, dann agiert sie nicht relativistisch. ... Die Regierung erfüllt ihre Pflicht vor Gott, wenn sie danach strebt, die öffentliche Gerechtigkeit weiterzubringen, was den vollumfänglichen Schutz konfessioneller Rechte nicht-politischer, nicht-staatlicher Institutionen und Beziehungen einschliesst, welche frei sein müssen, die Gesetze Gottes in ihrer eigenen Sphäre zu befolgen oder nicht zu befolgen.)

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geforderten Arbeitszeiten trennten die Kinder von den Eltern während sechzig oder mehr Stunden in der Woche. Diese Entwicklung machte die Erziehung unmöglich und verhinderte, dass Eltern und Kinder gemeinsam Gottesdienst feiern konnten. Das Prinzip der Sphärensouveränität schützt auch nicht nur minderjährige Kinder vor Ausbeutung. Noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts konnten einige Wirtschaftsunternehmen in den USA so weit gehen, die Wohnungen ihrer erwachsenen Angestellten zu inspizieren und ihnen Einrichtungsvorschriften zu machen, ihnen zu diktieren, was sie zu essen hätten, wie sie sich anzuziehen hätten, welche Bücher sie lesen, und welche Musik sie hören durften. Das Prinzip der Sphärensouveränität zeigt, weshalb es genauso ungerecht ist, wenn Wirtschaftsunternehmen in die Familiensphäre eindringen, wie wenn der Übergriff von staatlicher Seite kommt. Ganz ähnlich sind auch die Gesetze gegen Kartellbildung rechtmässiger Bestandteil der Durchsetzung von öffentlicher Gerechtigkeit, wenn sie denn vom Prinzip der Sphärensouveränität geleitet werden. Die individualistische Theorie verlangt nur, dass der Staat für die Aufrechterhaltung des freien Wettbewerbs zuständig ist. Dagegen setzen wir eine Auffassung des Staates, zu dessen Pflichten auch die Verhinderung jeglichen Übergriffs auf nicht-ökonomische Gesellschaftssphären durch die ökonomische Macht von Wirtschaftsunternehmen gehört. Vor allem zwischen 1865 und 1900 war dies in den USA eine sehr reale Gefahr; die grossen Unternehmen (die „trusts“ hiessen) wurden nicht nur zu Monopolen, die den freien Wettbewerb und Handel unterliefen, sondern hätten durch die Konzertierung ihrer Anstrengungen auch den Staat kontrollieren, und somit eine wirtschaftsdominierte Gesellschaftsordnung heraufbringen können.21 13.3

Was der Staat nicht ist

Neben den individualistischen und kollektivistischen Gesellschaftstheorien, die den Auftrag des Staates falsch bestimmen, weil sie von einer eingeschränk· ten Sicht von Gerechtigkeit ausgehen, existieren weitere Theorien des Staates, die im Vergleich mit unser theistisch-christlichen Sicht ebenso kritikwürdig sind. In der Hoffnung, dass unsere Sicht dadurch noch deutlicher hervortritt, werde ich kurz auf einige dieser Theorien eingehen. Die erste dieser Theorien entspringt der überkommenen Idee, dass nur eine rassisch oder ethnisch homogene Gemeinschaft eine politische Einheit sein 21

Siehe den Kommentar von B. Goudzwaard in Capitalism and Progress (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1979), 110–13.

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könne, die stark genug ist um einen Staat zu bilden. Diese Idee war nicht nur lange über ihre Widerlegung durch aktuelle Gegenbeispiele hinaus sehr populär, sondern wird auch heute zuweilen noch vertreten.22 Wir brauchen uns aber nur das Beispiel Englands im sechzehnten Jahrhundert vor Augen zu führen, wo sich ein starker Staat aus ethnisch heterogenen Gruppen, bestehend aus Kelten, Sachsen und Normannen herausbildete, um zu sehen, dass es sich bei dieser Idee um eine falsche Forderung handelt. Zudem umfassen einige der stärksten Staaten der Gegenwart ethnisch sehr verschiedene Bevölkerungsgruppen. Bestimmt ergeben sich zusätzliche Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen, wenn eine politische Einheit grosse rassische und ethnische Gräben überbrücken soll. Doch „ein Volk“ oder „ein Blut“ sind keine notwendigen Bedingungen für die Existenz einer solchen Einheit. Unsere Auffassung ist, dass das wahre Wesen einer politischen Einheit in einer gemeinsamen, öffentlich-legalen Ordnung besteht. Rassische oder ethnische Einheit ist nicht nur keine notwendige Bedingung für die Einheit des Staates, sondern sollte auch nicht als solche betrachtet werden. Dasselbe gilt auch für die Sicht, dass eine gemeinsame Sprache Bedingung für politische Einheit und einen starken Staat sei. Bestimmt kann die sprachliche Verschiedenheit der Bevölkerungsgruppen in einem Staat zu einem Faktor der politischen Desintegration werden. Dies war ein grosses Problem in den Niederlanden, das in der Trennung von Belgien und Holland resultierte. In jüngerer Zeit wurde dieses Problem mit zu einem Faktor, der die politische Einheit Kanadas zu gefährden drohte. Aber nochmals: Eine gemeinsame Sprache kann keine notwendige Bedingung politischer Einheit sein, wenn es starke Staaten gibt, die ohne eine solche Auskommen. Die Tatsache, dass solche Staaten existieren, stützt unsere Antwort auf die Frage, worin politische Einheit bestehen und gesehen werden sollte. Obwohl politische Einheit leichter herzustellen sein mag, wo die Bevölkerung eine gemeinsame Sprache spricht, hängt diese Einheit doch nicht davon ab. Die Schweiz ist vielleicht das bemerkenswerteste Beispiel dafür. Eine weitere Theorie will, dass der Staat eine gemeinsame religiöse Grundlage durchsetzen muss, um seine politische Einheit zu gewährleisten. In Israel ist diese Frage zurzeit Gegenstand einer politischen Kontroverse, und dieselbe Idee wird von einigen Ländern verfochten, die sich als „islamische Staaten“ bezeichnen. Die nationale Trennung Pakistans von Indien im letzten Jahrhundert geht in starkem Ausmass auf religiöse Differenzen zurück. Wir haben 22

Im November 1986 kommentierte der japanische Premierminister, Yasuhiro Nakasone, öffentlich, dass die Vereinigten Staaten einen nationalen Zerfall erlitten, weil Rassenvermischung in der Bevölkerung erlaubt wird.

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schon gesehen, warum die kosmonomische Theorie mit seinem Prinzip der Sphärensouveränität dieser Auffassung widersteht. Und noch einmal können wir auf die Tatsache hinweisen, dass viele Staaten dieser Erde keine Spuren von Desintegration aufweisen, und dennoch Religionsfreiheit gewähren. Das bestärkt die Überzeugung, dass die Einheit des religiösen Glaubens kein Muss ist. In diesem wie in den vorigen Fällen führt ein Missverständnis der Institution des Staates (seinem Typengesetz) zur Ansicht, die staatliche Einheit müsse in einer anderen Sphäre als die der öffentlichen Gerechtigkeit begründet sein. Trotzdem muss festgehalten werden, dass die desintegrierenden Kräfte ethnischer, linguistischer und religiöser Animositäten von all denen leicht unterschätzt werden, die ihnen nie ausgesetzt waren. In Nordamerika, zum Beispiel, ist eine weit verbreitete Naivität zu beobachten, speziell was das Thema der Religionsfreiheit anbelangt. In vielen Gebieten sind die religiösen Unterschiede äusserst limitiert und viele Menschen nehmen fälschlicherweise an, dass alle Religionen der oder den Religionen sehr ähnlich sein müssen, die sie aus eigener Anschauung kennen. Wenn sich starke ethnische, linguistische oder religiöse Unterschiede abzeichnen wo es früher keine gab, kann dies, auch für den stärksten Staat, zu einer grossen Herausforderung werden. Darum ist es wichtig, wie unsere Theorie dartut, dass jede Regierung die bestehenden Unterschiede auf ihrem Gebiet mit äusserster Sensibilität und Ausgewogenheit behandelt. Kultur-, Sitten-, Sprach-, Rassen-, Religions- und andere Unterschiede müssen anerkannt und respektiert werden, wie dies die Norm der Gerechtigkeit verlangt. Die ungleiche Behandlung oder gar Unterdrückung solcher Unterschiede kann niemals mit dem Verweis auf politische Zweckmässigkeit begründet werden, da diese Unterschiede die Existenzgrundlagen des Staates überhaupt nicht berühren. Daraus folgt wiederum nicht, dass sich der Staat aus allen religiösen Dingen heraushalten müsste oder auch nur könnte. Fairness im Umgang mit den verschiedenen Glaubensgemeinschaften ist nicht dasselbe wie die gleichmässige Unterdrückung des öffentlichen Lebens aller religiösen Traditionen. Das Gegenteil ist der Fall. Fairness bedeutet, dass die freie Entfaltungsmöglichkeit jeder dieser Traditionen gewährleistet ist, ohne dass die eine oder andere staatlich bevorzugt würde. Deshalb spricht zum Beispiel solange nichts gegen den Religionsunterricht an staatlich finanzierten Schulen als die Schüler und Schülerinnen nicht zur Annahme der einen oder anderen Überzeugung gedrängt werden.23 23

Darüber hinaus bleibt zu sagen, dass selbst wenn eine Schule einen bestimmten religiösen, politischen oder ethischen Standpunkt vertritt, sie dennoch die gleiche finanzielle Unterstützung durch die Steuergelder erhalten sollte, die die Regierung für die von ihr

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13. Kapitel

Eine weitere Position, die aus theistisch-christlicher Perspektive abgelehnt werden muss, ist die des Machtstaates. Diese Position ist nichts Anderes als die unverhohlene Bejahung der Überzeugung, die zu fördern wir der kollektivistischen Theorie vorgeworfen haben, und gegenüber der die individualistische Theorie keinen ausreichenden Schutz bietet. Hier sind dem Staat keinerlei Kompetenzgrenzen in keiner gesellschaftlichen Sphäre gesetzt, so dass die Machtfülle des Staates prinzipiell unbegrenzt ist. Zuweilen wurde diese Position ganz offen verkündigt, wie im Fall von Machiavelli, Hobbes und Hegel. Oft wird sie jedoch so vertreten, dass der Rechtsstaat dem äusseren Anschein nach erhalten bleibt, wie das im Fall der faschistischen und nationalsozialistischen Rhetorik der 1930er Jahre geschah. Jedenfalls widersetzt sich das Prinzip der Sphärensouveränität dieser Auffassung. Die eigentlichen Kompetenzen des Staates beschränken sich auf die Sphäre der öffentlichen Gerechtigkeit. Der Machtstaat bricht auch mit dem, was wir das Typengesetz des Staates genannt haben, dem gemäss die staatlichen Machtorgane im Dienst der legislativen und judikativen Organe stehen. Es ist die Durchsetzung von Gerechtigkeit, die den Einsatz von staatlicher Gewalt legitimiert, und nicht der Besitz der Macht, die jegliche staatlichen Ambitionen rechtfertigt. Aus einer christlich-theistischen Perspektive ist kein Staat legitimer Machtträger, in dem sich die Macht nicht vor dem Recht beugt. Ganz egal wie tief seine Gesetze verankert sein verlangte Ausbildung erhebt. Die Gründe dafür sind: (1) Es gibt keine religiös neutrale Erziehung, weil jede Theorie oder Interpretation den einen oder anderen „Gottesglauben“ voraussetzt. (2) Die Sphärensouveränität fordert, dass Regierungen keine religiöse Sichtweise über eine andere stellen. Die gegenwärtige Bildungspolitik in den Vereinigten Staaten macht allerdings genau das. Diese fördert eine Schule so lange, wie die Lehrpersonen keine Ahnung der religiösen Voraussetzungen haben, die im Lehrstoff stecken, und lehnt eine Förderung ab, wenn sich die Lehrpersonen der religiösen Vorannahmen bewusst sind und den Stoff von diesem einheitlichen Standpunkt aus unterrichten. Aus der Perspektive der Sphärensouveränität verlangt die Gerechtigkeit, dass alle Schulen gleichermassen gefördert werden sollten – oder gar keine. Wie J.S. Mill argumentierte, liegt es in der Pflicht des Staates, allgemeine Bildung zu fordern, aber nicht diese zu vermitteln. Sollte die Regierung, so fügt Mill an, diese Politik ergreifen, dann könnte sie „es den Eltern überlassen, den Kindern eine Erziehung zu verschaffen, wo und wie es Ihnen gefällt, und sie könnte sich damit begnügen [diese zu unterstützen] ... Dass die ganze Erziehung oder ein grosser Teil von ihr in den Händen des Staates liegen sollte, missbillige ich so sehr wie irgend jemand sonst. ... Eine all­gemeine Staatserziehung ist nichts als eine Erfindung, um die Menschen so zu modeln, dass einer dem anderen haargenau gleicht; und ... die Schablone ... [entspricht jeweils] dem Geschmack der in der Regierung vorherrschenden Macht, ... sie errichtet in dem Masse, wie sie wirksam und erfolgreich ist, einen Despotismus über den Geist, der einer natürlichen Tendenz nach zu einem solchen über den Körper führt. (Über Freiheit [Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt, 1969], 127–28.)

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mögen und seine Autorität akzeptiert ist, ein solcher Staat ist nicht mehr als eine Bande von bewaffneten Kriminellen – wie Augustinus vor langer Zeit bemerkte. Die letzte Sicht des Staates, die mit unserer Theorie kontrastiert werden soll, ist die des Wohlfahrtsstaates. Hier wird der Staat in erster Linie als väterlicher Versorger gesehen. Der Staat soll die Bedürfnisse der Bürger und Bürgerinnen decken. Es herrscht die Überzeugung, dass der Staat ebenso verpflichtet ist für Arbeit, Nahrung, Kleidung, Wohnung und Gesundheit zu sorgen, wie Schutz vor Verbrechen und Übergriff zu bieten. Nun kann es sehr wohl sein, dass Armut in einer Gesellschaft Anzeichen von wirklicher Ungerechtigkeit ist, vor allem wenn die Gesellschaft insgesamt durch Wohlstand geprägt ist. In einem solchen Fall ist die Regierung freilich aufgerufen, die zur Armut gewisser Bevölkerungsgruppen führende Ungerechtigkeit aus der Welt zu räumen. Doch die fragliche Ungerechtigkeit müsste öffentlicher Art sein, da wir schon gesehen haben, dass der Staat nicht jede und alle Ungerechtigkeit korrigieren soll. Wenn es möglich ist, dass der Staat öffentlich-wirtschaftliche Ungerechtigkeiten ausgleichen kann, ohne seine Kompetenzen zu überschreiten, ist er selbstverständlich angehalten dies zu tun. Doch wenn er diese Grenzen im Namen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit verletzt, ist der erste Schritt zum totalitären Staat Realität geworden. In diesem Fall wurde ein grösseres Monster geschaffen, um ein kleineres zu bekämpfen. Deshalb muss der Staat wirtschaftlicher Ungerechtigkeit mit eben solchem Respekt vor der Eigenständigkeit anderer Institutionen begegnen wie in allen seinen politischen Programmen gefordert ist. Er muss anerkennen, dass er in seiner Funktion als Staat nicht auch noch Produzent von Wohlstand oder Krankenpflege oder Bildung ist. Die Güter und Dienstleistungen, die gerecht verteilt werden müssen, werden von Landwirtschaftsbetrieben und anderen Unternehmen, von Familien, von Schulen, von Spitälern, von Pflege­ heimen, von Waisenhäusern, etc. erbracht. Jedes politische Programm, das den Staat selbst zum Produzenten der Güter und Dienstleistungen machen soll, die von seinen Bürgern benötigt werden, würde sowohl seine eigene Leitfunktion, wie auch die Leitfunktionen der entmündigten Gemeinschaften unterlaufen. Es gibt viele Möglichkeiten, wie ein Staat zur gerechteren Verteilung der zur Befriedigung von Grundbedürfnissen benötigten Mittel beitragen kann, ohne die Integrität anderer Gemeinschaften zu verletzen. Durch die Erhebung von Steuern kann der Staat den Bürgern helfen, die Kosten dieser Bedürfnisse auf ein ganzes Leben zu verteilen. Das ist die sachlich angemes­sene Art und Weise, wie die Finanzierung des Bildungssektor mittels Steuergeldern gesehen werden sollte. Anstatt dass die gesamten Ausbildungskosten den Familien

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aufgebürdet werden, solange die Kinder in der Schule sind, verteilt das Steuersystem diese Kosten auf ein ganzes Leben, so dass die Kinder aller Familien eine schulische Ausbildung geniessen können. Ähnlich folgt aus unserer Auffassung der Natur des Staates nichts, das gegen die Verteilung der zunehmenden medizinischen Kosten durch die Erhebung von Steuern sprechen würde. Aber nichts in dem Gesagten kann die Annahme rechtfertigen, der Staat selbst sei der umfassende Versorger oder Garant von irgendwelchen Gütern und Dienstleistungen – ausserhalb der öffentlichen Gerechtigkeit. Wiederum folgt daraus nicht, dass der Aufbau eines staatlichen Sicherheitsnetzes zur Deckung der grundlegenden Bedürfnisse einer kleinen Schicht von Mittellosen unrechtmässig wäre – selbst wenn deren Überlebenskosten auf die öffentliche Hand überwälzt werden. Doch selbst in diesem Fall sollte der Staat nicht Versorger dieser Bedürfnisse sein. Anders gesagt, folgt aus der öffentlichen Unterstützung der Mittellosen nicht, dass sich der Staat diejenigen Gemeinschaften einverleiben sollte, deren Sinn und Zweck die organisierte Fürsorge ist. Und noch weniger folgt aus dieser rechtmässigen staatlichen Unterstützungsfunktion, dass jeder und jede ein Recht hätte, sich vom Staat versorgen zu lassen, egal ob er oder sie in der Lage ist, das eigene Auskommen zu bestreiten. 13.4 Postskriptum Diese Skizze der Natur des Staates war kurz und erhebt kaum den Anspruch, eine vollumfängliche politische Theorie zu bieten (die ein weiteres Buch füllen würde). Mein Ziel war etwas bescheidener: die Klärung der Begriffe der kosmonomischen Theorie durch deren Anwendung auf die Konzeption des ­Staates. Meine Hoffnung war auch, einige bedeutsame Konsequenzen herauszuarbeiten, die diese Begriffe für unser Verständnis des Wesens des Staates und verwandten Dingen haben können. In den vergangenen Jahren haben andere Exponenten und Exponentninnen der kosmonomischen Theorie diese Fragen weiter vorangetrieben, so dass ein wachsender Bestand an Literatur existiert, die den Dingen aus dieser Perspektive näher auf den Grund geht. Diesen Autoren und Autorinnen ist es gelungen, eine stattliche Reihe spezifischer Erkenntnisse zu präsentieren, durch die unsere Theorie zur Klärung oder Korrektur vieler gewichtiger Diskussionspunkte beitragen kann. Allein innerhalb der US-amerikani­schen politischen Landschaft konnten nicht wenige Ungerechtigkeiten herausgestellt werden, zum Beispiel in den Bereichen Verhältnis von Staat und Bildung, Wahlgesetze zur Ermittlung der Kongressabgeordneten, Armuts­bekämpfung und Fürsorgepolitik, ökonomische Gerechtigkeit, Menschenrechte, Umweltschutz, und viele andere mehr. Auf dem

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Boden dieses Denkansatzes konnten auch weitere Gründe zur Stützung bestehender, guter und gerechter Elemente der politischen und rechtlichen Landschaft der Vereinigten Staaten gewonnen werden und Vorschläge zu deren Vertiefung und Verbesserung gemacht werden.24 Eine andere Stossrichtung 24

Für weiterführende Literatur über soziale oder politische Theorie im Allgemeinen, siehe: P. Marshall und R. Vander Vennen, eds., Social Science in Christian Perspective (Lanham, Md.: University Press of America, 1988); B. Wearne, The Theory and Scholarship of Talcott Parsons to 1951 – A Critical Commentary (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), “Elias and Parsons: Two Transformations of the Problem-Historical Method,” in Talcott Parsons Today: His Theory and Legacy in Contemporary Sociology, ed. J. Trevino (Lanham, Md.: Rowman & Littlefield, 2001), und “Deism and the Absence of Christian Sociology,” Philosophia Reformata 68 (2003); D. Koyzis, Political Visions and Illusions (Downers Grove, Ill.: InterVarsity Press, 2003); und D. Strauss, Reintegrating Social Theory 2006. (Frankfurt am Main: Peter Lang). Für weiterführende Literatur zur Frage, was die angemesse Rolle der staatlichen Regierung in der Erziehung ist, siehe: R. McCarthy et al., Society State, and Schools (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1981); R. McCarthy, J. Skillen und W. Harper, Disestablishment a Second Time: Genuine Pluralism for America’s Schools (Grand Rapids, Mich.: Christian University Press und Eerdmans, 1982); C. Glenn, The Myth of the Common School (University of Massachusetts Press, 1987); J. Skillen, ed., The School Choice Controversy (Grand Rapids, Mich.: Baker Books, 1993); C. Glenn und J. de Groof, Finding the Right Balance: Freedom, Autonomy, and Accountability in Education (Utrecht: Lemma, 2002); und S. Vryhof, Between Memory and Vision: The Case for FaithBased Schooling (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 2004). Zur Frage, wie Wahlen durchzuführen sind, siehe: Justice for Representation, eine Stellungnahme des Center for Public Justice, Washington, D.C., von J. Skillen, dem ehemaligen Forschungsdirektor des Zentrums. Das ­Zentrum widmet sich der Aufklärung über die Verbindung von biblischem Glauben und politischen Fragstellungen unter der Anwendung der Geset­zes­rahmen­ theorie. Kontakt: E-Mail: [email protected], Website: www.cpjustice.org. Für weitere Arbeiten über Menschenrechte, siehe: J. Van Der Vyver, Seven Lectures on Human Rights (Capetown: Juta, 1976); M. Stackhouse, Creeds, Society, and Human Rights: A Study in Three Cultures (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1984); P. Marshall, “Dooye­ weerd’s Theory of Empirical Rights,” in The Legacy of Herman Dooyeweerd, ed. C. T. McIntire (Lanham, Md.: University Press of America, 1985); J. Witte, “The Development of Dooyeweerd’s Theory of Rights,” in Political Theory and Christian Vision, ed. J. Chaplin und P. Marshall (Lanham, Md.: University Press of America, 1994); und “Universal Rights and the Role of the State,” in Sovereignty at the Crossroads, ed. L. Lugo (Lanham, Md.: Rowman & Littlefield, 1996). Zu den Themen Staat, Armut und Wohlfahrt, siehe: P. Marshall, Thine is the Kingdom (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1984), bes. 90-113. Zur Frage der ökonomischen Gerechtigkeit generell, siehe: B. Goudzwaard, Capitalism and Progress, trans. und ed. J. Zylstra (Toronto und Grand Rapids, Mich.: Wedgewood und Eerdmans, 1979); A. Storkey, Transforming Economics: A Christian Way to Employment (London: SPCK, 1986); B. Goudzwaard und H. de Lange, Weder Armut noch Ü berfluss: Plädoyer für eine neue Ö konomie (München: Kaiser Taschenbücher, 1990); D. Strauss, “Capitalism and

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13. Kapitel

unseres Denkansatzes, deren Ergebnisse ebenso gut dokumentiert sind, betrifft die nicht-politischen Gemeinschaften, und kann allen interessierten Lesern und Leserinnen empfohlen werden. Trotz der Kürze der letzten Kapitel hege ich die Hoffnung, das Gesagte möge zeigen, wie ein pointiert nicht-reduktionistisches Theorieprogramm aussehen könnte, und welche Vorteile in Aussicht stehen, wenn wir den theoretischen Reduktionismus überwinden und durch eine Strategie ersetzen, die sich von der Annahme geleitet weiss, dass alles und jedes Element des Kosmos direkt von Gott abhängt. Economic Theory in Social Philosophic Perspective,” in Journal for Christian Scholarship, 1ste & 2de Kwartaal, 1997: 85-106; und D. Donaldson und S. Carlson-Thies, A Revolution of Compassion (Grand Rapids, Mich.: Baker, 2003). Zu Umweltfragen, siehe: W. GrandbergMichaelson (ed.), Tending the Garden, (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1987). Zu Ehe und Familie, siehe: J. Olthuis, I Pledge You My Troth (New York: Harper & Row, 1975) und Keep­ ing Our Troth (San Francisco: Harper & Row, 1986).

Nachwort: Glaubenstektonik

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14. Kapitel

Nachwort: Glaubenstektonik In der Einführung habe ich die Behauptung zu Papier gebracht, dass der religiöse Glaube im menschlichen Leben eine ähnliche Rolle spielt wie die tektonischen Platten in der Geologie der Erde. Die dazwischen liegenden Kapitel haben Gründe aufgezeigt, warum diese Behauptung auf Theorien zutrifft, vermittels derer wir die Welt und unser Dasein interpretieren. Wir haben gesehen, warum letztlich jede Theorie von einer bestimmten Auffassung des Göttlichen angetrieben und reguliert wird, die Macht über die Herzen der Verfechter und Verfechterinnen dieser Theorien gewonnen hat. In diesem Sinn ist Theoriebildung genau so Ausdruck von Religion wie Verehrung und Anbetung, obwohl diese Manifestation ganz anderer Art ist. Wir haben auch einige wichtige Folgen dieser Entdeckung für all die betrachtet, die, wie ich selbst, an Gott glauben. Diese Konsequenzen wurden mit dem Ziel diskutiert, dass sie uns helfen mögen, Theorien zu erfinden und/oder zu reinterpretieren, die von unserem Glauben innerlich durchdrungen sind. Dieser Ansatz wurde dem traditionellen Versuch entgegengehalten, den Glauben mit Theorien zu vermitteln, die auf paganer Grundlage stehen. Wir haben gesehen, warum die äusserliche Harmonisierung solcher Theorien mit unserem Glauben nur die tieferen Unterschiede verdeckt. An dieser Stelle wird manchmal der Einwand laut, dass es noch eine weitere Folge dieses Ansatzes gibt, die, vielleicht absichtlich, unterdrückt wurde. Er lautet, dass die Übernahme einer solchen Position nur gerade dazu dient, die Menschen zu spalten und gegen einander aufzubringen. Denn dieser Ansatz bedeutet doch, dass Theorien das Produkt religiöser Glaubensgemeinschaften sind, die ihre Erklärungen von Welt und Mensch in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Glauben ausarbeiten. Zudem geht diese Position über die einfache Schilderung der Tatsache hinaus, dass eine solche religiöse Kontrolle einst stattgefunden hat. Sie argumentiert, dass diese Art von Kontrolle unvermeidbar ist, da die Rolle des religiösen Glaubens wesentlicher Bestandteil des theoretischen Denkens sei. Sie bejaht, dass das theoretische Denken immer durch einen religiösen Glauben geleitet ist und deshalb kein religiös neutrales Vermögen und keine Prozedur existiert, anhand derer die religiösen Glaubensüberzeugungen selbst getestet und geprüft werden könnten. Läuft diese Posi­tion also nicht darauf hinaus, dass die verschiedenen „-ismen“ in Philosophie und Wissenschaft noch weiter von einander isoliert werden, und damit die Intoleranz zwischen den jeweiligen Lagern vergrössert wird? Wird die

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Zuordnung von Theorien zu Glaubensgemeinschaften nicht deren Vertreter und Vertreterinnen zu gegenseitigem Widerstand und Opposition anfeuern, und schliesslich zu einem totalen Abbruch von Kommunikation führen? Wird es nicht mehr Wurfgeschosse statt mehr Dialog geben? Die Antwort auf solche Fragen lautet, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Erstens trägt die Darstellung der Wurzelursachen von theoretischem Dissens genau so wenig zur Förderung von Intoleranz oder mangelndem Kommunikationswillen derer bei, die unterschiedliche Theorien vertreten, wie sie die Unterschiede selbst produziert. Intoleranz und mangelnde Bereitschaft mit seinen Gegnern zu kommunizieren sind Folgen der Sünde, die in der menschlichen Natur vergraben liegt. Diese Dinge entspringen nicht der Analyse der Glaubensunterschiede. Intoleranz und ihre Folgen sind Übel, die sich mit theoretischem Dissens in Philosophie und Wissenschaft genau so verbinden können wie mit alltäglichen Differenzen. Der zweite Teil unserer Antwort ist noch gewichtiger. Er besteht darin, dass die Bewusstmachung und Erforschung der religiösen Wurzeln einer theoretischen Perspektive den Weg zu einer offeneren und besseren Verständigung ebnet als sonst möglich wäre. Meine Gründe für diese Behauptung sind: Erstens, wenn die religiöse Orientierung oder Kontrolle unseres Denkens ein Faktum ist, scheitert jeder Kommunikationsversuch, der kein Bewusstsein davon hat, an den unerkannten Folgen eben dieser Orientierung. Zweitens ist es schwierig zu verhindern, dass wenn die Kontrahenten und Kontrahentinnen in einem theoretischen Disput das Denken selbst als neutral und autonom betrachten, die jeweils andere Seite insofern als irrational erscheinen muss, als sie von der eigenen Auffassung abweicht. Und insofern Rationalität als wesentliches Moment des Menschseins betrachtet wird, ist es nicht nur schwierig zu verhindern, dass die andere Position, sondern auch der andere Mensch als minderwertig oder gar untermenschlich gelten muss. Die Anerkennung der Tatsache, dass alle Menschen in ihrem Denken von religiösen Grundannahmen geleitet sind, kann den verschiedenen Denkern und Denkerinnen jedoch zu einer grösseren Würdigung ihrer jeweiligen Theorieunterschiede als Ausdruck ihrer alternativen Glaubensperspektiven verhelfen. Es ist so möglich zu verstehen, warum die andere Person aufgrund ihres unterschiedlichen religiösen Ausgangspunkts ihre Theorien genau so entwickelt, wie sie es eben tut. Auf dieser Grundlage ist es möglich, eventuelle Anknüpfungspunkte und Übereinstimmungen zu erforschen als auch grössere Einsicht in die Natur der genuin unvereinbaren Differenzen zu gewinnen. All das kann stattfinden ohne der Versuchung zu erliegen, den anderen Menschen als subrational oder subhuman zu betrachten.

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Nachwort: Glaubenstektonik

Tatsächlich können dieselben Vorteile auch da hervortreten, wo es nicht um theoretische Differenzen geht. Der Fokus dieses Buches war ausschliesslich auf Theorien gerichtet. Doch müssen wir auch einen korrespondierenden Einfluss des religiösen Glaubens auf das praktische Leben zur Kenntnis nehmen – auf persönliche Werte, Einstellungen, soziale Praktiken und Lebenswandel. Wir können es uns genau so wenig erlauben, diese Seite des Lebens als religiös neutral zu betrachten. Aus biblischer Perspektive dienen wir auch in dieser Hinsicht entweder Gott oder einem Gottesersatz. Auch hier müssen wir die alternativen Werte und Lebensentwürfen anderer Menschen als Produkt ihrer unterschiedlichen Glaubensbasis betrachten und diesen Differenzen denselben Respekt entgegenbringen, die unser Ansatz hinsichtlich theoretischer Differenzen ermöglicht. Natürlich hat der hier geforderte gegenseitige Respekt nicht zur Folge, dass Verbrechen nicht geahndet werden sollten. Doch unabhängig davon sind wir dazu angehalten, auch den Menschen mit Liebe, Nachsicht und Toleranz zu begegnen, deren Lebensentwürfe sich von biblisch inspirierten Auffassungen unterscheiden. Sowohl im alltäglichen Leben wie in der Theoriebildung müssen wir viel mehr darum bemüht sein, all das zu erkennen und zu überwinden, was in unserem eigenen Leben und Denken nicht mit dem Geist des Evangeliums verträglich ist, als die Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften zu attackieren. Erst dann werden wir in der Lage sein, die Konsequenzen unseres Glaubens an Gott auf das gesamte Spektrum des Daseins so darzustellen, dass sie uns und anderen Menschen zum Segen werden. Das ist eine schmerzvolle Aufgabe. Andere Menschen zu verurteilen ist immer einfacher als das eigene Haus zu kehren. Aber egal wie schwierig dies sein mag, die einzige Alternative dazu ist noch viel unattraktiver: der Kompromiss der Wahrheit mit dem Irrtum. Dieser Kompromiss hat zur Folge, dass wir die Orientierung für unser Denken und Leben verlieren.



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Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis

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R egister Register

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Register AAA (Augustinus, Anselm, Thomas von Aquin) Theologie 265-80, 282n28 Abhängigkeit (sekundäre Überzeugungen)  21, 67-68 siehe auch kausale Abhängigkeit Abhängigkeitsverhältnisse 34-36, 47-48, 59-60, 274 biblische 69-70, 777 pagane 61, 77, 186 pantheistische 65, 67, 77 „das Absolute“ 19n9, 26 siehe auch Nicht-Abhängigkeit abstrakte Entitäten siehe Entitäten Abstraktion 85-88, 190-191, 197, 337n13 Adam und Eva 155-57, 362 siehe auch Liebe Adler, Alfred 223-29 Afroamerikaner 422 Ahura Mazda (Ohrmazd) 26 aktive / passive siehe Definitionen; Funktionen Albright, W.E. 28n18 Aliotta, A. 196-97n2 Allah 69 siehe auch Gott; das Göttliche Allport, Gordon 239 Alston, William 56n38, 306n55 amerikanische Ureinwohner 24 die amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 398, 418 Animosität, ethnische / religiöse / sprach­ liche 431 Anselm, Heiliger 266-67, 271-72 Aquin, siehe Thomas von Aquin Aristoteles Argument für Ersten Beweger 13-14 Definition des Göttlichen 13-14, 27, 28n17, 252n9 Formen Theorie 368-69 Geist als göttlich 253n9 Geist-Körper Dualität 253, 371n7 Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs 232-233 und katholische Denker 141 als Kollektivist 373-78 und Objektivismus 326-27, 369 über Präzision 223

als religiöser Dualist 28n17 über Sexualität 362 Teilganzen Beziehungen 383 Wesen von Autorität 391-92 Armut 433-35 The Art of Loving (Fromm) 232-235 Artefakten 324, 345, 350-56, 360-61, 368, 372, 375, 405 Asch, Solomon 235 Aseität siehe auch Gott; Logik; Nicht-Abhängigkeit Aspekte der Erfahrung / Dinge und Eigenschaften 89-93, 104-10, 244-51, 328-30 in Epistemologie / Ontologie 94 ethischer Aspekt 315n2, 322, 324-25, 396, 424n18 fiduziärer Aspekt 89, 239n64, 325, 333n10, 377 in Gesetzesrahmentheorie 330-331, 343, 366 Glossar von neuem Begriffe 356 als grundlegende Arten von Eigenschaften und Gesetzmässigkeiten 88-90, 176, 244, 247, 250, 278, 296, 323, 329, 331, 337, 343, historischer Aspekt 213 innerhalb sozialer Gemeinschaften 360 inter-aspektuelle Zusammenhang 24647, 250-51, 258 und interne Organisation 320, 345, 356 justitiärer Aspekt 324, 331, 412, 419, 424n18 kinetischer Aspekt 323, 331-32, 356, 366 körperlicher Aspekt 238 Liste/Ordnung von 92, 95, 213, 244, 329 logischer Aspekt 112n16, 163n18, 177-78, 206, 213, 218, 249, 253, 331 in der Mathematik 184, 203, 206-07 ökonomischer Aspekt 89, 92, 332, 339 physischer Aspekt 180n11, 192-93, 213-14, 219, 223, 229, 249, 321-23, 331-32, 345-46 Prinzipien von 318, 337, 342 in Psychologie 213-14 qualitativer Aspekt 244n4 quantitativer Aspekt 174-76, 191, 332, 345

© koninklijke brill nv, leiden, 2021 | doi 10.1163/9789004300965_017

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räumlicher Aspekt 89, 249, 339, 345-46 und Reduktion 244 Selbstexistenz von 116, 208 sensorischer Aspekt 89, 322 sozialer Aspekt 90n5, 213, 315n2, 340, 358, 387 Sphärensouveränität 387 Zeit als gemeinsamer Denominator 343 siehe auch Funktionen; Eigenschaften; sensorischer Aspekt; Sphärensouveränität; Typengesetze Atheismus / Atheisten 1, 5, 29n20, 39-40, 63, 75 Atomtheorie 96, 118n9, 158, 194-95, 198, 203n17, 204-05, 256, 317 Attribute Gottes 266-81 Auferweckung, Verheißung der 31, 155, 238 Augustinus 154, 238n63, 255, 266, 296, 304, 409n4, 433 Autorität in Aristoteles 391-92 in der Bibel 133, 151n6, 388 in Calvin 398 in christlich-theistischer Sicht 393-94, 414 in Gemeinschaften 380, 386-87 in Gemeinschaften und gesellschaftlichen Organisationen 42n27, 358-59 in öffentlicher Gerechtigkeit 394 in Marx 122-23n5 in Rousseau 391 in Staatsmacht 160, 413, 426, 433 totalitäre 392, 396 siehe auch Gesetzesrahmentheorie; Sphärensouveränität babylonische Mythen 23 Barth, Karl 263, 267, 277n27, 293, 294n48 Basilius von Cäsarea (der Grosse) 286, 288-90, 300 Bedeutungsersetzung 244n5 Begriffe siehe Definitionen; Dooyeweerd, Herman; Gesetzesrahmentheorie Begriffe, Glossar von neuem 356 Begriffswissen 86, 103, 107-09, 111, 127, 141, 178-79, 248-49 Behaviorismus 214-223 Belgien 430

Register Berkeley, George 195-97, 213, 245 Besteuerung 416 Bewertungsmethoden, für Theorien 99 Beza, T. 141 die Bibel und Autorität 133, 151n6, 388 im Fundamentalismus 313 der Geist 155-56 Geschlecht (Sexualität) 362 Gesetzesrahmentheorie 282, 286, 321, 327 das Herz 29n20, 137, 236-37, 239-40, 325 Liebe 306, 325 und die menschliche Natur 73, 157, 158n16, 236, 260, 313 und militärische Gewalt 411 nicht-reduktive Theorie der Gesellschaft  388 Pankreationismus 281, 286, 291-92, 296, 319 „religiöser“ Fokus von 151, 154, 156 Schöpfung 17, 70, 138, 146, 149, 151-52, 154-55, 277, 281-82 Selbst 236 das Wissen von Gott 127 siehe auch Gott; Gott als Schöpfer biblische Abhängigkeitsverhältnisse 69-70, 75, 77, 291 Bildung 325, 386-87, 394 blindes Vertrauen siehe Vertrauen Boyles Gesetz 192 Brahman-Atman, Definition 20 als nicht-abhängige Realität 31, 36, 67 und religiöser Glaube 15, 26, 39-40 als Schöpfer 46-47 Brouwer, Luitzen 181-82, 185n18 Brown, J.A. 236 Buddhismus Abhängigkeitsverhältnisse 65 und direkte Erfahrung 72 und Endlichkeit 19n9 und das Göttliche 20, 35 und das Nichts 15, 26 pantheistisch 60 als Religion 11, 12n1, 36 siehe auch Nirwana; Theravada Buddhismus

Register Bund siehe Gott Calvin, Johannes Ablehnung der Scholastik 140, 243n3 über die Beschränkung der Autorität  398 Einfluss auf amerikanische Kolonien  398 über Gottes Transzendenz 290n43 und Gottes unbedingte Realität 30 über die Grundlage des Glaubens an Gott 53-54 über das Reden von Gott 138, 140 im Vergleich zu Kappadozier 267, 292-93 Cantor, Georg 184 Cäsarea, Basilius von siehe Basilius von Cäsarea Center for Public Justice 435n24 Chaos 23 Christentum Erlösung 28-29, 72-73, 155-56 Fundamentalismus 145, 313 Gottes Bund und Inkarnation 285-86 und die Ordnung der Werte 18 und Rationalismus 143 Schicksal, endgültiges im 47n30 Schöpfungslehre 17, 281, 286, 288 Sicht der Gesellschaft 427-28 Sphärensouveränität im 426 Realität, unhintergehbare im 19n9, 69 siehe auch christliche Scholastik; Schicksal, endgültiges christliche Scholastik 131-32, 146 Contingencies of Reinforcement (Skinner)  217n10 Darwin, Charles 50n32, 81 Definitionen / Erklärungen von Begriffen aktive / passive 336 Begriffe 246 Entitäten 190 Funktionen 391 Gemeinschaften 385 Gesellschaften 326 Gesetzen314n1 Glauben 30, 32, 48 das Göttliche 23-25 Inkohärenzen in Theorien 114

455 kapsulierende Ganzheiten 382 Philosophie 92-93 Psychologie 211 Qualifikation 142, 351 Realität 16-17 Rechten, moralische / legale 378 religiöse Überzeugungen / Göttlichkeits­ überzeugungen 4, 11, 38 Schöpfung 261 Sphärensouveränität 387 der Staat 355 struktureller Zweck 356, 363 Typengesetze 347-48 Theorien / Hypothesen 81-85 Vertrauen 44-45 Voraussetzungen 142, 158-60 Zeit 93 siehe auch der Staat; Theorien der Psychologie Demokratie 395-96 Derrida, Jacques 49n32 Descartes, René 55n36, 116-17, 196, 200, 207, 244n5, 253-54, 260, 302 Determinismus 227-28, 230, 232 Dewey, John 178-81, 188-89, 191, 195, 198 Dharmakaya 20, 26, 67 Does God Have a Nature? (Plantinga)  272n22, 273n25, 301n52 Dooyeweerd, Herman, analoge Begriffe 341 über die Attributes Gottes 289n34 über die biblischen Sicht des Herzen  240 Definition von Inkohärenzen in Theorien  85n2 und Gesetzesrahmentheorie 314n1 „individualitätsstrukturen” 347n16 über Kant 84, 118n18, 197n2 über kausale Gesetze 322n3 über die menschliche Natur 239-40 über die Natur der sozialen Formen 364 und “Öffnungsprozess” von Gemeinschaften 390n13, 406n2 über den Staat 404 über den strukturellen Zweck von Institutionen 363n4 über Sünde und natürliche Vernunft  409n4

456 Dooyeweerd, Herman (Fort.) transzendentale Kritik an Theorien 84n2 siehe auch Gesetzesrahmentheorie Dualismus 26, 64, 141, 238n63, 371n7 siehe auch Geist-Körper Dualität Ehe 227, 359-63, 369-70, 375, 396-97, 405, 407, 417 siehe auch Liebe Eigenschaften in der AAA-Theologie 266, 276 abstrahieren von 86-88 aktive und passive 193n1, 331-32, 338 in Bezug auf Aspekte 110, 193, 246, 257 in der Gesetzrahmentheorie 322, 329 von Gott geschaffen 261-63 von Gott und von Geschöpfen266 in der K/R Theologie 279 siehe auch Aspekte der Erfahrung / Dinge Einfachheit, Lehre der 272-74 Einstein, Albert 87, 192, 198-201, 203-207, 338 Eliade, Mircea 24n13, 30 Emergenztheorie siehe Theorien / Hypothesen Endlichkeit, menschliche 19n9 Engels, Friedrich 123n5, 227 Enkapsulierungsverhältnisse siehe Teilganzes-Beziehungen Entitäten abstrakte 262, 268, 281-82 direkte Erfahrung von 347n16 Erschaffung von 282 Formen als, 51n33 in Gesetzesrahmentheorie 347-48n16 im Materialismus 356 mathematischer 176, 185, 186n18, 188 in paganer Sicht der Göttlichkeit 349n17 und qualifizierende Aspekte 244n5 siehe auch Definitionen; Atomtheorie; Entität Hypothesen / Theorien Epikureer 14, 51n33 Epiphänomenalismus 245n5 Epistemologie / Erkenntnistheorie 55-57, 94-95, 102-03, 117n18, 258-59 siehe auch Ontologie Erfahrung Aspekte der 88-92

Register

direkt, als Grundlage von Glauben 40, 54-58, 119, 129 mystisch 67-68, 70, 72, 235 naive 337n13 religiösen 31-32, 47n30, 71-72, 129 Erlösung 28-29, 72-73, 155-56, 157n15 Ethik 38, 88, 94, 119, 140, 211, 313, 325, 423 ethischer Aspekt siehe Aspekte der Erfahrung / Dinge; Liebe Evolution, biologische 50n32 ewiges Leben 31, 70-71, 73, 155, 157, 238, 307 siehe auch Schicksal, endgültiges die Familie 225, 229, 359-63, 385, 393-94, 403, 405, 410 Fanatismus, religiöser 56n38 fiduziärer Aspekt siehe Aspekt der Erfahrung / Dinge Formen, Theorie der siehe Theorien / Hypothesen Form-Materie Glaube 64-65 Franklin, Benjamin 419n12 Frau, Schöpfung der, 157 Freiheit und Determinismus 228, 232 des Geistes 73 und menschliche Natur 333n10 und Normen 373 in Rationalität 122 und Rechte 378, 380, 395-96, 401-02, 417 der Religion 395, 398, 412, 431 und Sphärensouveränität im Staat 387, 396 von Vernunft 139, 231 siehe auch Rechte; Wahrheit Freudsche Theorie 83, 96, 224 Fromm, Eric 223-235 siehe auch Liebe Fundamentalismus 145-160, 313 Funktionen aktive / passive 331-34, 346, 351-52, 355-56, 360-61, 365-66, 376 von Gemeinschaften 361-65, 369, 372 Glossar von neuem Begriffe 356 grundlegende 237, 336 Leit-, 42-43, 351-56, 359-64, 369-73, 375, 383-85, 387, 394n14, 395-99, 405-08, 426-27, 433

Register

qualifizierende 333n10, 338, 346-47, 350-52, 361, 377, 381-84 in Teilganzes Beziehungen 383-84 siehe auch Definitionen

der Geist 65, 155, 186n18, 199 siehe auch das Herz; die Seele Geist-Körper Dualität 217-18, 237-38, 260, 432n23 siehe auch Plato gemeinsame Sprache 430 Gemeinschaften als Artefakte 355 Autorität in 358-59, 376, 380, 386-87 deformierte 363 individualistisches / kollektivistisches Dilemma 373-79 „Öffnungsprozess“ von 390n13, 406n2 politische 403 spirituellen Reich Gottes 376 struktureller Zweck von 372, 387, 389, 434 Teilganzes Beziehungen 379-86 und Typengesetze 363 siehe auch Definitionen; Funktionen; Gesellschaften; Kollektivismus; Individualismus Georg III (König von England) 398, 401, 419 Geschlecht 14, 225, 227, 229, 361-62, 422 siehe auch Sexualität Gesellschaften Bedeutung von 314 christlich-theistische Ansicht 411-12, 427, 429 Gesetzesrahmentheorie in 386n11 hierarchische Ansicht 386, 392-93 Individualismus vs. Kollektivismus 37379 Normen gegen Fakten 365-73 Sphärensouveränität in 386-402 strukturell pluralistischen 387 Teilganzes Beziehungen 379-86 Typengesetz von 364, 397-99 Vielzahl von Autoritäten in 358 siehe auch Autorität; Gesetzesrahmentheorie; Sphärensouveränität Gesetze / Prinzipien siehe Aspekte der Erfahrung / Dinge; Gesetzesrahmentheorie; Gesetz des zu vermeidenden

457 Widerspruchs; Logik; öffentliche Gerechtigkeit; Typengesetz Gesetzesrahmentheorie analoge Begriffe 340 Arten von Recht 422 Aspekte der Erfahrung / Dinge, 336n12, 337n13 Bedeutung von „Gesetz“ 63 Befürworter der 314n1 biblische Grundlage von 321-22, 327 Dilemma 326 in Dooyeweerd 314n1 Glossar von neuem Begriffe, 356 und Individualismus 421, 425 und individualistisches / kollektivistisches 429 und öffentliche Gerechtigkeit 386, 400-01, 406n2, 408, 412, 428n20 und politische Fragen 435n24 Prinzipien der 92, 232 Qualifikation in 340, 384 Realität, unhintergehbare in 189 und Rechte 421, 432 auf den sozialen Aspekt angewendet 358 Subsidiarität 386n11 zeitliche Reihenfolge in 329n8 Zusammenfassung der Begriffe 321 siehe auch Aspekte der Erfahrung / Dinge; Definitionen; öffentliche Gerechtigkeit; Sphärensouveränität; der Staat; Typengesetze Gesetz der Auswirkung (law of effect, Thorndike) 215-16 Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs 113n16, 232, 302-04, 367 Gesetzesseite der Wirklichkeit 326 Geschäfte, und der Staat 403, 409 Glaube siehe religiöse Überzeugungen / Göttlichkeitsüberzeugungen Glaube, primäre und sekundäre 21, 24, 30-33, 38, 41-43, 46, 48, 50-52, 67, 70, 82, 186, 194, 258 Glauben und blindes Vertrauen 53-54, 56-57, 129, 133 und bewusster Kampf 316

458 Glauben (Fort.) Beziehung zur Vernunft 158n16, 121, 124, 128, 240 existentieller Charakter von 255 an Höchstes Wesen 15 durch Offenbarung 132-134 und Pflichten der Theisten 242 und politische Fragen 403 in der rationalen Natur der Wirklichkeit 103n11, 364 und religiöser Glaube 15, 30, 33, 119, 128-30, 250, 313 Sprache qualifiziert durch 309 Tillich’s Definition 15 siehe auch Definitionen; religiöse Überzeugungen / Göttlichkeitsüberzeugungen; Offenbarung / offenbarte Wahrheit; Vertrauen Glossar siehe Begriffe, Glossar von neuem Glückseligkeit, wahre 68 Gnade, Gottes 18, 134, 137, 150, 288, 307, 316 Gott in der AAA-Theologie 265-81 in Abhängigkeitsverhältnissen 70, 329n8, 331, 336n12, 397 Aseität 271-79, 287, 309-10 Attribute 266-76, 279, 281, 288, 309 Bemühungen um Existenzbeweis von 277n27 die Beziehung des Herzens zu 30n22, 291, 377 Bund 70, 72, 147, 149, 151-52, 268, 273, 307, 321 dienen 35, 70-73 direkte Abhängigkeit von 239 erkennen 290, 296 und Erlösung 28, 72, 157n15 im Fundamentalismus 148 Gnade von 18, 137, 150, 271, 288, 307, 316 und Inkarnation 285-86 in K/R Theologie 279, 304 Liebe zu den Menschen 325 und menschliche Natur 29, 71, 390, 394 die Natur von 138 im Pankreationismus 286, 292 Perfektionen 266-69, 271-73, 275, 277, 305 rechte Beziehung zu 42-43, 47n30, 50-51

Register

und reduktionistische Theorien 320 als Retter 28, 148 in der Scholastik 139 Selbst-Existenz 294, 300-301, 306 Realität, als unhintergehbare 15-17, 27 Transzendenz 289n34, 291n43, 308n56, 310, 319, 330 verschieden von seinem Universum 1617, 69 Vorsehung von 147-49 Wille von 265, 291n43, 295n49 Zeitlichkeit / Unzeitlichkeit 283n28, 289, 293 siehe auch Gnade, Gottes; Liebe Gott als Schöpfer „aller Dingen“ 23,69, 147, 281-82 aller Werte 18 Bedeutungen von „Schöpfung“ 149, 152-53 Bericht der Genesis 152 im Judentum, Islam und Christentum 60 der Kausalität 149, 298n51 Schöpfung ex nihilo 152, 264-65 Tage der Schöpfung 146, 152-53 siehe auch die Bibel; das Herz Gott kennen 276 siehe auch Erfahrung Gottheiten biblischer Typus 68-74 Gemeinsamkeiten zwischen primären 64-65 Götter 12-14, 18, 22-23 paganer Typ 60-64 pantheistischer Typ 64-68 sekundäre 24, 34 in Weltreligionen 20, 62 siehe auch das Göttliche; Göttlichkeit Gottheitsglauben 34, 39, 126, 412 das Göttliche in Aristoteles 27-28, 51n33 Bewusstsein für 156, 275 in nicht-theistischen Glauben, 30 im Pantheismus 66-68 im Polytheismus 33 als Prinzipien der Vernunft 53, 68, 123, 274 Selbstevidenz des 138,

Register

als Zentral in religiöser Traditionen 77, 321 siehe auch Definitionen; spezifische Religionen; Nicht-Abhängigkeit; religiöse Überzeugungen / Göttlichkeitsüberzeugungen; Selbstexistenz (keine Abhängigkeit) göttlichen Erschaffung (Tätigkeit der Erschaffung) 152-54, 157, 279, 281, 284-85, 301, 376 gottlichkeit siehe auch Nicht-Abhängigkeit; religiöse / göttliche Überzeugungen Gregor von Nazianz 288 Gregor von Nyssa 285, 288 Grenzidee 297-300, 305, 310 siehe auch Begriffswissen Grenzwall (wall of separation) 389, 425-26 griechische Kultur, antike 83, 270 siehe auch Aristoteles; Plato grundlegende Funktionen siehe Funktionen Hardy, Alister 54-55n35 Hebräische Religion 69, 73-74 Hegel, G.W.F. 141, 232-33, 258, 432 Heisenberg, Werner 63n2, 201-04, 207 Herberg, Will 30, 69, 73, 237 das Herz 44, 134, 177-78, 188, 236-39, 255, 333n10, 361, 377 siehe auch die Seele Hesiod 23, 26, 62 Hinduismus 11-12, 14-15, 19n9, 31, 35-36, 39, 60, 62, 65, 67, 70, 72 Hippasus 181 historischer Aspekt siehe Aspekte der Erfahrung / Dinge Hobbes, Thomas 374, 376, 380n9, 432 Höchstes Wesen, Glaube an 13 siehe auch Glauben Homer 23, 26 Humanismus 5, 143 Hume, David 122n5, 195-98, 213, 244n5 Hypothesen siehe Theorien / Hypothesen; Theorien / Hypothesen, die von Göttlichkeitsüberzeugungen geleitet sind Ideen in Gottes Gedanken 278 Identität, tatsächliche 249 Idolen 29

459 Illusion (im Buddhismus und Hinduismus)  36 Individualismus 373-79, 411, 415-16, 425-26 individualistisches / kollektivistisches Dilemma 373-79 Inkarnation 68, 285, 292 Inkohärenzen in Theorien siehe Kohärenz / Inkohärenz in Theorien Institutionen / Organisationen, Arten von Autorität in 392, 397 Bedeutung von 359 und Gesetzesrahmentheorie 386n11 die Natur von 345 natürliche 362 und die Norm der Gerechtigkeit 370 und qualifizierende Autorität 349, 356, 394 getrennt vom Staat 385 strukturelle Zweck von 387 Teilganzes-Beziehungen 385 siehe auch Ehe; die Familie inter-aspektuelle Zusammenhang 107, 117, 246-47, 250-51, 258 Instrumentalismus 180-81 Intuitionisten 181-84, 186n18 siehe auch mathematische Theorien Irrationalismus, religiöser 118-122 Irreduzibilität, Prinzip der 319, 337, 344 Islam 11-12, 17, 19n9, 20, 60, 62, 69-70, 145 Israel 321, 430 Jahwe siehe Gott James, William 30, 45n28, 47n30, 193n1, 214, 217 Jainismus 26 Jefferson, Thomas 398, 418, 419n12-13, 425 Jesaja 28n18, 411 Judentum 11-12, 19n9, 20, 60, 145 Jüdische Scholastik 29, 126, 130, 138, 261, 315 justitiärer Aspekt siehe Aspekt der Erfahrung / Dinge Kami-Glaube 23, 26, 62 Kanada 430 Kant 84-85n2, 117-18n18, 141, 197n2, 208n25, 231, 258, 326-27 Kappadozische / Reformatorische (K/R) Theologie 267, 288-93

460 kausale Abhängigkeit 244n5 Kierkegaard, Søren 120-21 kinetischer Aspekt siehe Aspekt der Erfahrungen / Dinge Kirwan, Richard 146-47 Kline, M. 153n7, 181n12, 183n14, 184 Knowing with the Heart (Clouser) 54n36, 95n8, 242n2, 259n12 Kohärenz / Inkohärenz in Theorien in der Abstraktion 256 im Behaviorismus 220 Beurteilungskriterien 85n2, 336 in Dooyeweerds Kritiken 85n2, 196n2 Kollektivismus 380 in K/R Theologie 309 in der Scholastik 114 in der westlichen Philosophie 118n18 siehe auch Marxismus konstruktivistische Übersichtstheorien 213 der Körper 155, 237-38 körperlicher Aspekt siehe Aspekt der Erfahrungen / Dinge K/R Theologie siehe Kappadozische / Reformatorische (K/R) Theologie das Kriterium der selbst-performativen Kohärenz 196n2 Küng, Hans 19n9, 30, 37n26 Kuyper, Abraham 243n3, 387-88 Leben nach dem Tod siehe Schicksal, endgültige, ewiges Leben die Leere 26, 37n26, 67, 310 siehe auch Nirwana Leibniz, G.W. 173-74, 179, 181-82, 185, 191, 350n18 Leiden, ungerechtfertiges 307 Leitfunktionen siehe Funktionen Lewis, C.I. 210 Lewis, C.S. 30, 304n54 Lewontin, Richard 222-23n15 Licht als Wahrheit 127 Liebe, und Adam und Eva 362 in der Ehe 369, 417 im ethische Aspekt 324-25, 362, 396, 422, 424n18 in Fromm 231 und Gerechtigkeit 390, 424n18

Register

von Gott 71-72, 156-57, 272, 306-07 Gottes, zum Menschen 308 im Marxismus 230 nächste aller menschlichen Bindungen73, 231, 325, 369, 422-23 in den heiligen Schriften 72-73, 325 Locke, John 45n28, 55n36, 376, 378-79, 399, 416, 419n12 Logik und Abstraktion 253 in der Beurteilung von Theorien 110, 112 in der enzyklopädischen Annahme 147 und Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs 67, 111, 116, 350n18 in den Gesetzen der Aspekte 330-31, 34345 und Gottes Aseität 274, 276 und Gottes transzendentes Wesen 307n56 als Illusion 235 intuitionistische Sicht 130, 181-84 in logischen Argumenten 97, 111, 147 in der Physik 193, 199-200, 206 in der Psychologie 225-26, 232-234 in der Mathematik 176-86, 188-90, 199-200, 205-06, 279-80, 301, 304 und qualifizierende Funktionen 394, 400 Realität, als unhintergehbare107, 189 und Voraussetzungen 163n18 siehe auch Aspekte der Erfahrung / Dinge Lossky, Wladimir 268n20, 291 Luther, Martin 16n6, 30, 44, 140-41, 267, 292-93, 295, 307 Mach, Ernst 49n32, 194-198, 200-201 203, 205-06, 213 Machiavelli 432 Macht 222, 224-5, 276, 283, 316-17, 324, 328, 355, 391, 398, 401, 407-11siehe auch der Staat Macrina 288 Mana-Glaube 24, 26, 62 Marx, Karl über die Art der Autorität 391 als Atheist 63 über das Bewusstsein des Menschen 231 Geschichtstheorie 229-30

Register

als Kollektivist 378 Überzeugungen die seine Theorien leiten 63-64, 227, 230, 378 Marxismus 63, 82, 102, 115, 141, 229-30 siehe auch Liebe; Wirtschaft im Marxismus Materialismus 39-40, 49-53, 62-64, 103n11, 105-06, 111, 114-15, 158, 194, 197n2, 217-20, 223n15, 235, 245n5, 251, 257-58, 317 mathematische Theorien, Aspekte in, 171-192 Dewey 178-81 und Göttlichkeitsüberzeugungen 185, 188-90 Intuitionisten 181-86 Mill 175-76 und pagane Göttlichkeitsüberzeugungen 186-90 perspektivische Theorien 171, 174, 182 Rolle der Religion in 185, 188 Realität, unhintergehbare in 178, 189 Russell 176-78 Unendlichkeit 184 Wichtigkeit von Unterschieden 181 die Zahl-Welt-Theorie 173-76, 181-84, 187-88 Maya 36, 66 medizinische Behandlung 81, 413 Melanchthon, Philipp 141 menschlichen Natur, Ansichten der in der AAA-Theologie 278 in Adler 223 im Behaviorismus 217-18 in biblischen Traditionen 73, 236 nach dem Bild Gottes geschaffen 73, 237, 361 in Dooyeweerd 240 ganzheitlich 238 in der Genesisgeschichte 154-55 im griechischen dualistischen Paganismus 65 in pantheistischen Traditionen 73 reduktionistisch 239, 395 in der reformierten Theologie 419 als religiöse 55, 361 in der Schrift 155, 158n16, 260 siehe auch Sünde; das Herz metaphysische Überzeugungen 58, 149 methodologische Naturalisten 159

461 das Militär, in Typengesetz 406-07 Mill, J.S. 49n32, 175-76, 432n23 Minderwertigkeitskomplex 225 Monotheismus 24, 261n13 Moral 3-4, 13-15, 60, 73, 95, 119, 131, 223, 231, 269, 324, 337, 378, 391, 422-24, 427 Morris, Henry 154n8 Moses 28n18, 146 Mysterien-Religionen, griechische 39 Mythos 26, 83 Nagarjuna 37n26 Nazi-Staaten 371 das Neue Testament 18, 28n18, 127, 156, 260, 285, 388 Neutrinos 204-05 Neville, Robert 30, 36n25, 37n26 Nicht-Abhängigkeit und Abhängigkeitsverhältnisse 77 Gottes Aseität 28, 271 in K/R Theologie 271 als Merkmal der Göttlichkeit 30, 32, 252 in pagan religiösen Erfahrungen 63 per se Göttlichkeitsüberzeugungen 252 und reduktionistische Theorien 250 und die religiöse Natur des Menschen 23 Synonyme für 26 in Wissenschaft und Philosophie 262 siehe auch Gesetzesrahmentheorie; religiöse Überzeugungen / Göttlichkeitsüberzeugungen; Selbstevidenz; Selbstexistenz (Nicht-Abhängigkeit) Nicht-Neutralität, Lehre der 141, 281 nicht-reduktionistische Theorien siehe Dooyeweerd, Herman; Gesetzesrahmentheorie; theistische Theorien; Sphäreouveränität; der Staat Nicht-Sein / Nichts 15, 17, 22, 26, 30, 36, 67, 69, 75-77, 187, 249, 262, 264, 280-81, 301 siehe auch Nirwana die Niederlande 354n19, 430 Nirwana 19n9, 36, 37n26, 67-68, 72 siehe auch Buddhismus; Theravada Buddhismus Normen 365-73, 422-25 notwendige Wahrheiten 55n36, 174, 274-75, 278-79, 291, 295, 301-02, 304 siehe auch Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs,

462 Numen 23, 26, 62 Objektivismus 326-27, 334-35, 369, 371-72 Offenbarung / offenbarte Wahrheit Attribute Gottes 273n23 in biblischen Traditionen 70, 149-50, 158n16, 236, 243n3, 263 in Calvin 293 und Erlösung 73 und die Familie 410 im Fundamentalismus 146 und Glaube 132-34, 158, 162, 166 von Gott zur Menschheit 28, 71, 126, 135, 138, 156-57, 187 und menschliche Natur 138, 158n16 von der Natur Gottes 71-73, 138, 290 radikal biblische Theorie von 142 rationalistische Position 133 scholastische Position 132 und Sünde 138 Zweck der Schöpfung 71, 147 öffentliche Gerechtigkeit, und der Staat 394-96, 401-08, 423-24, 426, und die Todesstrafe 408 und Vielfalt, 412 siehe auch justitiärer Aspekt; der Staat öffentliche Moral 423 öffentliche Ordnung 410 Okeanos 23, 26 ökonomischer Aspekt siehe Aspekte der Erfahrung / Dinge Ontologie 37n26, 94, 103, 106n12, 167, 186n18, 213, 258, 298n51, 315n2 „operanten“ Verhalten216 Orenda-Glaube 24, 26 Organisationen siehe Institutionen / Organisationen pagane Göttlichkeitsüberzeugungen Abhängigkeitsverhältnisse 61, 67, 75, 77, 186 im alten Griechenland 62, 368n6 unvereinbar mit biblischer Lehre 261 in mathematischen Theorien 186-90 in öffentlicher Gerechtigkeit 412-13 in physikalischen Theorien 208 in psychologischen Theorien 234-35

Register

Normen in 372 und Reduktionismus 242, 252, 259, 261-62, 279, 317, 413 von Theisten aufgenommen 262, 318 Versuche zu rechtfertigen 252 siehe auch reduktionistische Theorien; religiöse Überzeugungen / Göttlichkeitsüberzeugungen Pakistan 430 Palamas, Gregor 261, 290-91, 350n18 Pankreationismus 281-88, 292, 295-96, 319 pantheistische Abhängigkeitsverhältnisse siehe Abhängigkeitsverhältnisse Pascal, Blaise 55n36, 129-30 Pascals Gesetz 192 Pauli, Wolfgang 204 Pelikan, J. 261n13, 265n18, 284n19, 289n34, 290, 292n45 per se Göttlichkeitsüberzeugungen siehe Nicht-Abhängigkeit perspektivische Theorien siehe Theorien / Hypothesen Philosophen, vorsokratische 27 Philosophie siehe Definitionen; Theorien / Hypothesen, geleitet von Göttlichkeitsüberzeugungen physischer Aspekt siehe Aspekt der Erfahrung / Dinge Physik-Theorien Atomtheorie 194-95, 198, 203n17, 204-07 Einstein 198-201, 203 Heisenberg 201-07 Mach 194-201, 205-06 Missverständnisse über 193 Realität, unhintergehbare in 202 reduktionistische Theorien in 232n17 Rolle der Religion in 206-07 Wichtigkeit von Unterschieden 193 siehe auch Aspekte der Erfahrung / Dinge Piaget, Jean 93, 213-14, 222-23 Plantinga, Alvin 56n38, 267, 273-76, 302 Plato in der AAA-Theologie 294 „Formen“ in 27, 138n10, 321 und die Göttlichkeit der Zahlen 27, 186 Glauben 124-25, 185 und das Reich der Vollkommenheiten  268

Register und Seele-Körper Dualität 155, 238 über Vernunft und religiösen 124 Poincaré, Henri 181, 184 Polanyi, Michael 108n13, 111n15 politische Geschichte der USA, Individualismus in 422 politische Theorie 5, 315, 404 siehe auch die Staat der Polizei, in Typengesetz 394n14, 407 Popper, Karl 84n1, 186n18 Positivismus 49n32 Prioritätszuweisungen 104-07, 109, 208, 378 Protestantismus 141, 143, 243n3 Psychologie-Theorien Adler 223-235 Behaviorismus 215-17, 222-24, 228 Definitionen 211 Freud 81-83, 96 Fromm 223-235 Inkohärenzen in Theorien 220-21 James, William 214, 217 Logik in 225-26, 232-35 und Marxismus 227, 229-33, 235 Normalität 226-27, 229 und pantheistische Überzeugungen 23435 Piaget 213-14, 222-23 Realität, unhintergehbare in 222 reduktionistische Theorien in 213-14, 221 in der Schrift 236-38 Skinner 214-23 Thorndike 214-23 Unangemessenheit der Definitionen 211 Watson 214-23 siehe auch Aspekte der Erfahrung / Dinge Puritanismus 398n17419 Pythagoreer 11, 27, 40, 62, 64, 181, 184 Qualifikation siehe Definitionen qualitativer Aspekt / Funktionen siehe Aspekte der Erfahrung / Dinge quantitativer Aspekt siehe Aspekte der Erfahrung / Dinge radikal biblischer Theorien 125-37, 140-44, 158, 162, 313, 317-18 siehe auch Gesetzesrahmentheorie

463 rationales Denken siehe Vernunft, Prinzipien der Realität, unabhängige; Nicht-Abhängigkeit; Realität, unhintergehbare räumlicher Aspekt siehe Aspekte der Erfahrung / Dinge Reaktionsverhalten, Realität, sekundäre / derivative 16-17 Realität, Theorie der 58, 98n10, 121 Realität, unhintergehbare in der christlich-theistischen Ansicht  388 in der Gesetzesrahmentheorie 321-22 das Göttliche25, 46, 64-66, 187, 233 implizit in allen Theorien 52 und inter-aspektuelle Zusammenhang 107, 117 in K/R Theologie 296-97 als kontinuierlich / diskontinuierlich 61, 66, 69, 186 als Logik 178, 189, 206 im Materialismus 49, 222 in Theorien der Mathematik 173, 180 menschliches Bedürfnis zu suchen 55-56 und metaphysische Überzeugungen 58 als mystische Einheit 67-68, 233 in den Naturwissenschaften 52 als nicht-reduktionistisch 242n2, 315n2, 388 als Nirwana 37n26, 67 radikal biblischer Theorie von 318 und sekundäre Überzeugungen 51-52 in Theorien der Physik 199-201 in Theorien der Psychologie 222 als Zahlen 39, 63, 191 siehe auch Definitionen; Gott; Nicht- Abhängigkeit; Selbstexistenz (Nicht- Abhängigkeit) Rechte aspektuelle Unterschieden 322-23 und Demokratie 395 und Freiheiten 380, 395-96, 401-02 in Gesetzesrahmentheorie, 421n17 in individualistischen Theorien der Gesellschaft 378-79395 im Kollektivismus 415, 420n14 Moral 378, 419n12, 422 und Normen 420n13, 422 und öffentliche Gerechtigkeit 408, 424

464 Rechte (Fort.) per se / sekundäre 417n9 pragmatische Sicht 420n14 Quelle von 423n18, 425 relativ zum Staat 359, 408n3 und Schrift 419n12 und Sphärensouveränität 387n12, 396 von Tieren 421n17 der unbeseelte Schöpfung, 421n17 unveräusserliche 419, 422 siehe auch Gesetzesrahmentheorie; öffentliche Gerechtigkeit; Verfassung der Vereinigten Staaten Reduktion als Strategie in der AAA-Theologie 281 als hoffnungslos, 255 philosophische Kritik an der 252-259, 268 Preisgabe der, 259-60 reduktionistische Theorien 318 religiöse Kritik der 259-68, 309, 317 Zusammenfassung des Kurzschlusses von 251 reduktionistische Theorien und Aspekte 223-24 Bedeutung 239 und biblische Lehre 261-63 in der Epistemologie 106n12 und inter-aspektuelle Zusammenhang  251 in der öffentlichen Gerechtigkeit 427 und pagane Verpflichtung 319 in der Psychologie 213-14, 221-23, 229, 239 Rechtfertigungsversuche der 252-54 als religiös 259 stark / schwach 244-46, 251, 257, 318 von Theisten aufgenommen 259-61 und (unvereinbar mit) biblische Lehre  315, 419 Zusammenfassung des Kurzschlusses von 251 siehe Theorien / Hypothesen, die von Göttlichkeitsüberzeugung geleitet sind; Reduktion als Strategie die Reformation 139-41, 143, 318, 419 siehe auch Kappadozische / Reformatorische (K/R) Theologie Reinkarnation 31

Register Reiz-Reaktion Verhalten 215-16, 222 religiöses Bewusstsein 156 siehe auch das Herz religiöse Erfahrung 19n36, 31-32, 54n36, 70-72, 129, 254 religiösen Fanatismus 1, 56n38 religiöser Rationalismus 123 religiöse Sprache 263, 306n55, 307 religiöse Überzeugungen / Göttlichkeitsüberzeugungen in Aristoteles 13-14, 55n36 und Aspekte 344 Basis für 11, 154, 51, 343-44 biblische Art von 128-29 in direkter Erfahrung 53, 165, 206 im Fundamentalismus 6, 21, 56n38, 144-60 und Glaube 11, 48, 128, 166 die „göttliche Natur“ 287n31 als Grundvoraussetzungen 53, 166 und inter-aspektuelle Zusammenhang  258 Irrtümer über 2, 38, 150 Konflikt der Alternativen 137-144, und Materie / Energie 63, 149, 222 Materialismus 49, 53, 63-64 in der Mathematik 185-191 Nicht-Abhängigkeit in allen 30-31, 39, 48, 63-64 pagan 61-65, 106n12, 109, 136-37, 188-89, 234-35, 255 pantheistisch 65-66, 234-35 in der Physik 192-206 und Prinzipien der Vernunft 121-30, 138n10 in der Psychologie 141, 166 die radikal biblische Theorie 124-129, 162 und Reduktionismus 260, 318-19 und Regulierung von Hypothesen / Theorien 95n8, 104, 118, 128-30 religiöser Irrationalismus 118-21 religiöser Rationalismus 121-24 religiöse Scholastik 129-137 unbewusste 1, 109n13, 60n17 Unterschiede basierend auf 3-4, 132, 141, 193-94 und Vertrauen 43-44, 47, 119, 122 verbreitete Ideen über 12, 75

465

Register

Verbreitung von 55 vergleich mit tektonischen Platten 437 in den Weltreligionen 20, 47-48 siehe auch Definitionen; Glaube; Gott; Nicht-Abhängigkeit; pagane Göttlichkeitsüberzeugungen; Theorien / Hypothesen, geleitet von Göttlichkeitsüberzeugungen die Renaissance 139-42 Rorty, Richard 49n32 Rousseau, Jean-Jacques 231, 391 Russell, Bertrand 124-25, 162n18, 176-78, 181-83, 188-89, 191 Ryle, Gilbert 93 Schicksal, endgültiges 361 siehe auch Christentum; ewiges Leben; Tod, Leben nach de Schintoismus 13, 23, 26 Schleiermacher, Friedrich 18-19n8, 121 Scholastiker 131-32, 146 Schöpfung siehe Definitionen; Frau, Schöpfung der; Gott als Schöpfer; Offenbarung / offenbarte Wahrheit Schöpfungstage (Tätigkeit der Erschaffung), 152-54 Schroeder, Gerald 150n5 Schweiz, die 430 die Seele 124, 132-35, 138-39, 155, 197, 218-19, 236-38, 33n10 siehe auch das Herz; der Geist Seele-Körper Dualität 237-38 siehe Geist-Körper Dualität; Plato Sein-selbst 15-16, 22 sekundäre Überzeugungen 21-22, 51 Selbstevidenz glaubensorientiert 130, 138 in Grundvoraussetzungen 55n36 und puritanische religiöse Wahrheit 419n12 in der Schrift 55n36 und Sünde 138 des Göttlichen 130, 138 Selbst-Existenz (Nicht-Abhängigkeit) von einzelnen Aspekten 167 von Gott allein 29-30, 117, 149, 187, 190 von logischen Wahrheiten 189 der Materie 40, 63, 206



und mathematische Gesetze 27, 40, 62-63, 186-87 Synonyme für 26 des Universums 35, 64, 189 sensorischer Aspekt in der Gesetzesrahmentheorie 249, 332in der Philosophie 195 in der Physik 195-96, 206 in der Psychologie 210-13, 219, 235 Sex, Zweck von 362 Sexualität 227, 362 siehe auch Geschlecht Skillen, James 410, 427n20, 435n24 Skinner, B. F. 216-23, 245n5 Smith, N.K. 30, 411n6 Smith, Wilfried Cantwell 19n10, 47n30 Soheit 36, 67 siehe auch Nirwana soziale Gemeinschaften siehe Gemeinschaften; Gesellschaften sozialer Aspekt siehe Aspekte der Erfahrung / Dinge Sozialphilosophie 364, 404 Soziologie 4, 90n5, 213, 240, 364-65, 368, 389 Sphärensouveränität geleitet von der Schrift 388 in der Gesellschaft 396, 402, 404, 412 Gewährleistung der Integrität von 389 und religiöse Überzeugungen / Institutionen 426, 431 und religiöse Vielfalt 428 und Unterstützung von Schulen 432n23 siehe auch Definitionen; der Staat Sprache siehe gemeinsame Sprache; religiöse Sprache der Staat und Armut433-34 und Besteuerung 416 und Bildung 394, 432n23, 433 in Calvin 388, 398-99 Definition 404-05 Demokratie 395-96 und ethnische / sprachliche / religiöse Vielfalt 430-32 Macht von 404, 407-12, 416, 418, 424-26, 428, 432 und medizinische Versorgung 394n14, 415 die Natur von 374 und politische Theorie 404, 435n2 und Rechte 378, 395-96, 398

466 Sprache siehe gemeinsame Sprache (Fort.) und Sphärensouveränität 412, 428-29, 432 strukturelle Zweck 378 Theorien der Gerechtigkeit 394 und die Todesstrafe 408 und totalitäre Kontrolle 395-96, 415, 426, 433 Trennung von Kirche und 397-98, 416-17 Typengesetz von 355, 385, 394n14, 405-06-7, 409, 431-32 Übersicht 404-429 im Unterschied zur Nation , 418 im Vergleich mit der Familie 385 Verwaltung der öffentlichen Gerechtigkeit 414-15, 423-26, 431-32, 434 Wohlfahrt 433 siehe auch Autorität; Gesetzesrahmentheorie; öffentliche Gerechtigkeit; Rechte; Sphärensouveränität; Typengesetz Stafleu, M.D. 208n25, 323n6, 362n3 strukturelle Zwecke, von Artefakten 363 bestimmt durch das Typengesetz 357, 387 von Ehe 363 von Gemeinschaften 387, 389 von Institutionen / Organisationen 394 von politischen Parteien 371, 400, 407 und Sphärensouveränität 387, 398 des Staates 407 siehe auch Definitionen Subjektivismus 326-27, 334, 369, 373 Sünde, als Bedingung der menschlichen Natur 71, 138 und Bedürfnis nach Staat 409-11 und falscher Göttlichkeitsglaube 138, 140 und Intoleranz 438 und natürlicher Vernunft 71 als unmoralische Handlungen 73 siehe auch Ursünde Tag des Jüngsten Gerichts 428n20 siehe auch Schicksal, endgültiges Taoismus 11-12, 20, 26, 60, 64, 67, 113-14, 232n54, 234-35 Teilganzes Beziehungen (sub-whole) 379-87

Register Tertullian 131 Theorien der Gerechtigkeit 427 Theisten, und Reduktionismus 242, 259, 262 Verpflichtungen von 242, 423 theologische Traditionen, Kritiken von 242 Theorien / Hypothesen alltäglich und abstrakt 83, 163n18 Beurteilung von 110-18 Bewertungsliste für 85 Emergenztheorie 335-36 Entitäten 108n13, 109n14 Entstehung 37n26, 362 Experiment, Rolle in 99-101 Formentheorie 28n17, 365 Mythen, im Vergleich zu 83 perspektivische 102-03, 109-12, 171, 174, 182, 199, 317 Prozess der Bildung von 158n16 religiöse Neutralität unmöglich in 4, 123, 130 religiöse Traditionen im Vergleich zu 50-52, Totalitarismus 392-93 Typen von 85, 94-95 des Wissens 62-63, 81, 83, 85-87, 90-95 siehe auch spezifische Theorien; Kohärenz / Inkohärenz in Theorien; ; Epistemologie; Nicht-Neutralität, Lehre der; ontologische Theorien / Hypothesen, die von Göttlichkeitsüberzeugung geleitet sind, im Fundamentalismus 145-59, 313 und inter-aspektuelle Zusammenhang 246-47, 250-51, 258 Meinungsverschiedenheiten basierend auf 130, 160, 184, 368 Nicht-Neutralität, Lehre der 4, 141, 281 pagane 190, 315, 343 perspektivische 102, 109, 171, 174, 199 Prinzipien von 252n8, 261, 342 Prioritätszuweisungen in 109 radikal biblische 124-29, 162, 317-18 reduktionistische 167, 213-14 241-42, 250-51, 258-59, 278, 310, 319-20 transzendentale Kritik an 84n2 Unvermeidbarkeit von 246, 258 Wirklichkeit, Wesen von 102-03, 319

Register

in Wissenschaft und Philosophie 4, 83, 87, 101, 108n13, 125, 337 siehe auch spezifische Theorien; Gesetzesrahmentheorie; radikal biblische Theorien; religiöse Überzeugungen / Göttlichkeitsüberzeugungen Theorien, Prinzipien der theistischen Irreduzibilität der Aspekte 337 Pankreation 319 Universalität der Aspekte 336 Untrennbarkeit der Aspekte, 341 Theorien der Vernunft 133 siehe auch Vernunft, Prinzipien der Theravada Buddhismus 12n1, 36-37, 39-40 siehe auch Buddhismus, Nirwana Thomas von Aquin, Aristoteles, Einfluss auf 132 über die Beziehung Gottes zur Geschöpfen 273n23 über der Inkarnation 285 Lehre der Einfachheit Gottes 272-73Theologie des 132 über Vernunft und Glauben 135 über die Vollkommenheiten Gottes 272n23, 276n27 Thorndike, E.M. 214-23 Tierrrechten 421n17siehe Rechte Tillich, Paul 15-17, 30, 54n35, 306-07n55 Tod, Leben nach dem 4, 132, 237 siehe auch Schicksal, endgültiges; ewiges Leben Todesstrafe 408 totalitäre Gesellschaften 392-93, 395-96, 415, 426, 433 Transzendenz siehe Gott transzendentale Kritik 84-85n2, 117n18 Tremmel, William 19n9 die Trinitätslehre 290 Typengesetz 322, 347-50, 357, 364-65, 384-85, 397, 399-400, 405-09 siehe auch Definitionen; Gemeinschaften; Gesellschaften; Gesetzesrahmentheorie; der Staat; struktureller Zwecke unabhängig siehe Nicht-Abhängigkeit; Realität, unhintergehbare das Unendliche 16-17 Unendlichkeit 16n5-6, 19n9, 184, 267

467 unhintergehbare Realität siehe Realität, unhintergehbare Unternehmen und der Staat 42-43, 362-63, 375, 385, 386 Arten von Autorität in 393-94, 403 Bedeutung von 360 und Gesetzesrahmentheorie 362n3 getrennt vom Staat 385, 425-26 Natur von 399 natürlich 362 und die Norm der Gerechtigkeit 370 struktureller Zweck von 369 Teilganzes-Beziehungen 385 der theistischen Theorien Universalität, Prinzip der modalen 336-37 Unzeitlichkeit siehe Zeitlichkeit Ursünde 118n8, 183, 277, 316 Verbundenheit, inter-aspektuelle 252 siehe auch Aspekte der Erfahrung / Dinge Vernunft, Prinzipien der Beziehung zum Glauben 119, 121-25, 128-40, 206 die göttlichen Status haben 53, 68, 129, 138 und Rationalität 122-23 im religiösen Irrationalismus 118-121 im religiösen Rationalismus 121-24 in der religiösen Scholastik 131-38 siehe auch Logik; Nicht-Abhängigkeit; Rationalismus, religiöse Verpflichtungen der Theisten siehe Theisten Vertrauen Bedeutung von 43 bedingungsloses 282, 296 blindes 53-54, 56-57, 129, 133 und falscher religiöser Glaube 30n22 und der fiduziäre Aspekt 325, 333n10, 370, 377 von Organisationen 370-71 siehe auch Definitionen Vollkommenheiten 185, 269, 273n23, 277n27, 307, 367-68 siehe auch AAA-Theologie von Helmholtz, Hermann, 210 Voraussetzungen 130-32, 142, 155n9, 159-67, 176, 213-14,261-63, 313-16, 320, 365 siehe auch Definitionen

468 Wach, Joachim 19n9, 30 wahlen 435n24 Wahrheit annahmen 115 in Dewey 178-81 Freiheit zu anerkennen 228, fundamentalistische ahnnamen 150 und Glauben an Gott 112, 124, 126-27, 129, 132-33, 136 als Licht 127 notwendige 55n36, 174, 176, 183, 273-75, 278-79, 291, 295, 301-04 in den Weltreligionen 67 zuverlässige Quellen von 55n36 siehe auch Realität, unhintergehbare; Offenbarung / offenbarte Wahrheit; Selbstevidenz Wakan-Glaube 24, 26 Washington, George 401 Watson, J. B. 214-223 Weisheit 126-27, 262, 269, 272, 284-86, 290, 307 Wert, am höchsten 18 Weyl, Hermann 181, 183 Whitehead, A. N. 1, 37n27, 74, 122, 172 Wirtschaft Fromm über 229-30 und Gerechtigkeit 433 im Marxismus 63, 229-30

Register im Sphärensouveränität 389, und der Staat 400, 403, 425-26 Wirklichtkeit siehe Realität, unhintergehbare wirtschaftlicher Aspekt siehe spezifische Aspekt der Erfahrung / Dinge Wissenschaft, im Fundamentalismus 14647, 151 Wissenstheorie 45n29, 95, 117n18, 126-27, 132, 136, 141, 158, 166, 175, 275-76, 282, 298 Wolterstorff, Nicholas 56n38, 166n20, 261n13, Wunder 55n36, 137, 147-48, 159, 223n15, 260, 304 Wundt, Wilhelm 210 Yin-Yang Lehre 64 Zahl-Welt Theorie 188, 190, 194, 323 Zahlen 27, 62-63, 159, 161, 172-76, 181-86, 343 siehe auch mathematische Theorien; Zahl-Welt Theorie; Plato; Pythagoreer Zeit 249, 264n17, 266, 283-85, 289-90, 292-93, 295 siehe auch Definitionen Zeitlichkeit / Unzeitlichkeit 31, 192, 240, 263-64, 283, 289, 293, 295, 328, 330, 343 Ziff, Paul 53-54 Zoroastrianismus 13, 26