Film-Bildung im Zeichen des Fremden: Ein bildungstheoretischer Beitrag zur Filmpädagogik [1. Aufl.] 9783839418208

Filme sind nicht nur Medien des Geschichten-Erzählens, der Unterhaltung oder der Information. Sie können ihre Rezipiente

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Film-Bildung im Zeichen des Fremden: Ein bildungstheoretischer Beitrag zur Filmpädagogik [1. Aufl.]
 9783839418208

Table of contents :
Inhalt
1 Einleitung
2 Filmpädagogik
2.1 Geschichte
2.1.1 Die Kinoreformbewegung
2.1.2 Die Schulfilmbewegung
2.1.3 Die Filmerziehung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts
2.1.4 Die Sichtweise der kritischen Theorie
2.2 Gegenwart
2.2.1 Vorbemerkung zum Thema Kompetenzorientierung
2.2.2 Kompetenzorientierung
2.2.3 Funktionalisierung
2.2.4 Vermittlungsorientierung
2.2.5 Das Verständnis von Bildung
2.2.6 Das Verständnis vom Film
3 Fremderfahrung
3.1 Das Konzept der Fremderfahrung als theoretische Brücke zwischen „Bildung“ und „Film“
3.2 Das Fremde
3.3 Der Begriff der Erfahrung
3.3.1 Starke und schwache Erfahrung
3.4 Die Erfahrung des Fremden
3.5 Bewältigung der Erfahrung des Fremden
3.6 Pathos und Response – Antworten auf den Anspruch des Fremden
3.6.1 Der Anspruch des Fremden
3.6.2 Antworten auf den Anspruch des Fremden
4 Bildung
4.1 Dimension 1: Das Bildungssubjekt
4.1.1 Differenz
4.1.2 Heteronomie
4.1.3 Alterität
4.1.4 Sprachlichkeit
4.2 Dimension 2: Bildung und Gesellschaft
4.3 Dimension 3: Bildung und Normativität
4.4 Dimension 4: Die Prozessstruktur von Bildung
4.5 Dimension 5: Zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung
5 Erster Brückenschlag: Fremderfahrung als Bildungsmoment
5.1 Dimension 1: Das Bildungssubjekt
5.1.1 Differenz
5.1.2 Heteronomie
5.1.3 Alterität
5.1.4 Sprachlichkeit
5.2 Dimension 2: Bildung und Gesellschaft
5.2.1 Gesellschaftliche Situation
5.2.2 Kritische Betrachtung gesellschaftlicher Vorgaben
5.2.3 Frage nach innovativen Bearbeitungsmöglichkeiten und der Bestimmung von Bildung
5.3 Dimension 3: Bildung und Normativität
5.3.1 Kritik
5.3.2 Minimalethik
5.4 Dimension 4: Die Prozessstruktur von Bildung
5.5 Dimension 5: Zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung
5.6 Bilanz: Die Erfahrung des Fremden als bildungstheoretisch paradigmatische Situation
6 Film
6.1 Vorbemerkungen zu Deleuzes Kino-Büchern und zu meiner Vorgehensweise
6.1.1 Status der Theorie – Philosophie oder Filmtheorie?
6.1.2 Warum Deleuze?
6.1.3 Meine Vorgehensweise
6.2 Philosophische Grundlagen
6.2.1 Status des Films
6.2.2 Film als Medium der Bewegung
6.2.3 Film als radikal immanent
6.2.4 Film als zeitlich verfasst
6.3 Filmtheoretische Dimension
6.3.1 Bewegungsbilder und Zeitbilder
6.3.2 Das Bewegungsbild und seine drei Spielarten: der sensomotorische Zusammenhang
6.3.3 Zwei Formen des Aktionsbildes
6.3.4 Krise des Aktionsbildes und Bruch des sensomotorischen Zusammenhanges
6.3.5 Jenseits des Bewegungsbildes: Zeitbilder, mentale Bilder, optische und akustische Bilder
7 Zweiter Brückenschlag – Film als Medium der Fremderfahrung
7.1 Filme sorgen für eine „Verfremdung vertrauter Erfahrung“
7.2 Filme präsentieren Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit
7.2.1 Perzeptive Dimension
7.2.2 Zeitliche Dimension
7.3 Filme verwickeln Zuschauer in Fremdbezüge und lösen Transformationsprozesse aus
8 Filmbeispiele
8.1 Fremdbezug und Selbstentzug als Momente der Subjektkonstitution – das Filmbeispiel „Caché“
8.1.1 Der Film „Caché“
8.1.2 Zur Analyse
8.1.3 Verwicklung in Fremdbezüge
8.1.4 Verfremdung vertrauter Erfahrung
8.2 Die Fremdheit der eigenen Ordnung als Chance für gesellschaftliche Transformationsprozesse – das Filmbeispiel „L’esquive“
8.2.1 Der Film „L’esquive“
8.2.2 Zur Analyse
8.2.3 Demarkierungen
8.2.4 Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit
8.3 Antworten auf den Anspruch des Fremden als normative Haltung – das Filmbeispiel „Der Sohn“
8.3.1 Der Film „Der Sohn“
8.3.2 Zur Analyse
8.3.3 Verfremdung vertrauter Erfahrung
8.3.4 Halbsubjektive Bilder
8.4 Der unplanbare Einbruch des Fremden als Motor des unabschließbaren Bildungsprozesses – das Filmbeispiel „Gespenster“
8.4.1 Der Film „Gespenster“
8.4.2 Zur Analyse
8.4.3 Illustrative Ebene
8.4.4 Konfrontative Ebene
9 Pädagogische Überlegungen
9.1 Gegenstände: Die „richtigen“ Filme auswählen
9.2 Zugänge: Bildende Begegnungen mit Filmen ermöglichen
10 Schluss: Film-Bildung im Zeichen des Fremden
Literatur
Filme

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Hanne Walberg Film-Bildung im Zeichen des Fremden

Theorie Bilden | Band 26

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag der erziehungswissenschaftlichen Fachbereiche der Universität Hamburg.

Hanne Walberg

Film-Bildung im Zeichen des Fremden Ein bildungstheoretischer Beitrag zur Filmpädagogik

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 02 – Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes-Gutenberg Universität Mainz im Jahr 2010 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Hanne Walberg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1820-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1 Einleitung | 9 2 Filmpädagogik | 13 

2.1 Geschichte | 15 2.1.1 Die Kinoreformbewegung | 17 2.1.2 Die Schulfilmbewegung | 30 2.1.3 Die Filmerziehung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts | 40 2.1.4 Die Sichtweise der kritischen Theorie | 49 2.2 Gegenwart | 56 2.2.1 Vorbemerkung zum Thema Kompetenzorientierung | 59 2.2.2 Kompetenzorientierung | 60 2.2.3 Funktionalisierung | 62 2.2.4 Vermittlungsorientierung | 64 2.2.5 Das Verständnis von Bildung | 65 2.2.6 Das Verständnis vom Film | 69



3 Fremderfahrung | 75

3.1 Das Konzept der Fremderfahrung als theoretische Brücke zwischen „Bildung“ und „Film“ | 76 3.2 Das Fremde | 77 3.3 Der Begriff der Erfahrung | 80 3.3.1 Starke und schwache Erfahrung | 82 3.4 Die Erfahrung des Fremden | 85 3.5 Bewältigung der Erfahrung des Fremden | 86 3.6 Pathos und Response – Antworten auf den Anspruch des Fremden | 88 3.6.1 Der Anspruch des Fremden | 88 3.6.2 Antworten auf den Anspruch des Fremden | 89



4 Bildung | 93 

4.1 Dimension 1: Das Bildungssubjekt | 94 4.1.1 Differenz | 95

4.1.2 Heteronomie | 96 4.1.3 Alterität | 97 4.1.4 Sprachlichkeit | 97 4.2 Dimension 2: Bildung und Gesellschaft | 99 4.3 Dimension 3: Bildung und Normativität | 101 4.4 Dimension 4: Die Prozessstruktur von Bildung | 103 4.5 Dimension 5: Zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung | 105

 5 Erster Brückenschlag: Fremderfahrung als Bildungsmoment | 109

5.1 Dimension 1: Das Bildungssubjekt | 110 5.1.1 Differenz | 111 5.1.2 Heteronomie | 112 5.1.3 Alterität | 113 5.1.4 Sprachlichkeit | 114 5.2 Dimension 2: Bildung und Gesellschaft | 116 5.2.1 Gesellschaftliche Situation | 117 5.2.2 Kritische Betrachtung gesellschaftlicher Vorgaben | 120 5.2.3 Frage nach innovativen Bearbeitungsmöglichkeiten und der Bestimmung von Bildung | 122 5.3 Dimension 3: Bildung und Normativität | 124 5.3.1 Kritik | 126 5.3.2 Minimalethik | 128 5.4 Dimension 4: Die Prozessstruktur von Bildung | 132 5.5 Dimension 5: Zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung | 139 5.6 Bilanz: Die Erfahrung des Fremden als bildungstheoretisch paradigmatische Situation | 140

 6 Film | 143

6.1 Vorbemerkungen zu Deleuzes Kino-Büchern und zu meiner Vorgehensweise | 145 6.1.1 Status der Theorie – Philosophie oder Filmtheorie? | 145 6.1.2 Warum Deleuze? | 147 6.1.3 Meine Vorgehensweise | 148 6.2 Philosophische Grundlagen | 149

6.2.1 Status des Films | 149 6.2.2 Film als Medium der Bewegung | 151 6.2.3 Film als radikal immanent | 153 6.2.4 Film als zeitlich verfasst | 158 6.3 Filmtheoretische Dimension | 164 6.3.1 Bewegungsbilder und Zeitbilder | 164 6.3.2 Das Bewegungsbild und seine drei Spielarten: der sensomotorische Zusammenhang | 167 6.3.3 Zwei Formen des Aktionsbildes | 170 6.3.4 Krise des Aktionsbildes und Bruch des sensomotorischen Zusammenhanges | 172 6.3.5 Jenseits des Bewegungsbildes: Zeitbilder, mentale Bilder, optische und akustische Bilder | 173

 7 Zweiter Brückenschlag – Film als Medium der Fremderfahrung | 177

7.1 Filme sorgen für eine „Verfremdung vertrauter Erfahrung“ | 178 7.2 Filme präsentieren Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit | 183 7.2.1 Perzeptive Dimension | 185 7.2.2 Zeitliche Dimension | 188 7.3 Filme verwickeln Zuschauer in Fremdbezüge und lösen Transformationsprozesse aus | 190



8 Filmbeispiele | 195 

8.1 Fremdbezug und Selbstentzug als Momente der Subjektkonstitution – das Filmbeispiel „Caché“ | 198 8.1.1 Der Film „Caché“ | 198 8.1.2 Zur Analyse | 200 8.1.3 Verwicklung in Fremdbezüge | 200 8.1.4 Verfremdung vertrauter Erfahrung | 205 8.2 Die Fremdheit der eigenen Ordnung als Chance für gesellschaftliche Transformationsprozesse – das Filmbeispiel „L’esquive“ | 209 8.2.1 Der Film „L’esquive“ | 210 8.2.2 Zur Analyse | 211 8.2.3 Demarkierungen | 212 8.2.4 Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit | 215





8.3 Antworten auf den Anspruch des Fremden als normative Haltung – das Filmbeispiel „Der Sohn“ | 224 8.3.1 Der Film „Der Sohn“ | 224 8.3.2 Zur Analyse | 225 8.3.3 Verfremdung vertrauter Erfahrung | 226 8.3.4 Halbsubjektive Bilder | 228 8.4 Der unplanbare Einbruch des Fremden als Motor des unabschließbaren Bildungsprozesses – das Filmbeispiel „Gespenster“ | 233 8.4.1 Der Film „Gespenster“ | 234 8.4.2 Zur Analyse | 236 8.4.3 Illustrative Ebene | 237 8.4.4 Konfrontative Ebene | 245



9 Pädagogische Überlegungen | 247 

9.1 Gegenstände: Die „richtigen“ Filme auswählen | 248 9.2 Zugänge: Bildende Begegnungen mit Filmen ermöglichen | 256 10 Schluss: Film-Bildung im Zeichen des Fremden | 263  Literatur | 267  Filme | 281

1 Einleitung

„The cinema provokes us to see, to feel, to sense, and finally to think differently“ (FLAXMAN 2000, S. 3, HERV.I.O.).

Filme sind nicht nur Medien des Geschichten-Erzählens, der Unterhaltung oder der Information. Sie können „provozieren“, uns mit ihren Bildern überrumpeln, uns ratlos machen, uns verzweifeln lassen, uns verwirren oder tief verunsichern. Filme können in die Art und Weise eingreifen, auf die wir uns zu uns selbst und zu der Welt in ein Verhältnis setzen. In meiner Arbeit möchte ich eine filmpädagogische Perspektive entwickeln, im Rahmen derer die von Flaxman beschriebene „Provokation“ in den Blick gerückt wird. Mich interessiert das Potenzial des Films, seine ZuschauerInnen herauszufordern, in Wahrnehmungssituationen zu verwickeln, in denen sie sich nicht auskennen, und dabei weit reichende Fremderfahrungen auszulösen. Diese Qualität der Filmerfahrung wird in der Filmpädagogik derzeit kaum thematisiert. In filmpädagogischer Perspektive werden Filme eher als Texte gedacht, die es zu entschlüsseln und zu verstehen gilt; als Träger von Informationen und kognitiven Auseinandersetzungsangeboten. Werden die von Flaxman angesprochenen Erfahrungsqualitäten dennoch aufgegriffen, dann häufig verbunden mit der Sorge, Heranwachsende könnten von Filmen manipuliert, zu aggressivem Verhalten angestiftet oder zu klischeehaften Weltsichten verführt werden. Eine Gegenmaßnahme wird in der Vermittlung von Filmkompetenz gesehen, also im Aufbau von filmbezogenem Wissen und Können, wie dem Wissen um Filmsprache und Filmgeschichte und der Fähigkeit, Filme zu analysieren und ihre Machart zu durchschauen.

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Wie ich zeigen möchte, muss das erwähnte Anderssehen oder Andersdenken nicht unbedingt Anlass zur Sorge sein, sondern es kann auch Bildungschancen bergen. Denn Bildung wird in der aktuellen bildungstheoretischen Diskussion als ein transformatorischer Prozess betrachtet, im Rahmen dessen sich vorhandene Welt- und Selbstverhältnisse grundlegend ändern – also als ein Geschehen, das Gemeinsamkeiten mit der von Flaxman beschriebenen Filmerfahrung hat. Diese produktiven Berührungspunkte zwischen Film und Bildung geraten zurzeit nicht in den Fokus, weil in der Filmpädagogik an die theoretischen Diskussionen, wie sie in der Filmtheorie und in der allgemeinen Erziehungswissenschaft geführt werden, kaum angeknüpft wird. Ein Grund dafür liegt in der Entstehungsgeschichte der Filmpädagogik, deren Ausgangspunkt ein film- und kulturkritischer Impuls ist und nicht ein wissenschaftsbezogenes Anliegen. In Kapitel 2 werde ich die historische Entwicklung der Filmpädagogik nachzeichnen und dabei zeigen, dass sich die Filmpädagogik völlig eigenständig „neben“ den Referenzdisziplinen Filmwissenschaft und Erziehungswissenschaft entwickelt hat, so dass ein blinder Fleck entstanden ist, der in der Ausblendung potenziell relevanter Bezugstheorien liegt. An dieser „Lücke“ setze ich mit meinem eigenen Beitrag an, indem ich aktuelle Überlegungen aus Film- und Bildungstheorie aufgreife und zeige, wie der Begriff der Film-Bildung unter Bezugnahme auf diese Theoriebestände ausgearbeitet und begründet werden kann. Den Anschluss zwischen der filmtheoretischen und der bildungstheoretischen Diskussion stelle ich über den Begriff der Fremderfahrung her, den ich in Kapitel 3 einführe. Ich beziehe mich dabei auf Bernhard Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden, nach der das Fremde etwas ist, das sich vorhandenen Zugriffsmöglichkeiten entzieht und das in dieser Unzugänglichkeit vertraute Muster der Erfahrungsverarbeitung scheitern lassen kann. Die so gedachte Erfahrung des Fremden ist für das Sich-Ereignen von Bildung konstitutiv, wie ich den Kapiteln 4 und 5 zeigen werde. Eine solche bildungselevante Fremderfahrung kann auch von Filmen ausgelöst werden, wie in dem Flaxman-Zitat bereits anklingt. Gregory Flaxman bezieht sich dabei auf die Filmphilosophie von Gilles Deleuze, die ich in Kapitel 6 vorstellen werde. Im Unterschied zu den verbreiteten erzähltheoretisch ausgerichteten Betrachtungsweisen des Films sieht Deleuze den Film als einen Modus des Denkens und Wahrnehmens, der uns bestimmte Wahrnehmungsmöglichkeiten erst eröffnet. Das Fremderfahrungs-

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potenzial, das im Anschluss an diese Perspektive im Medium Film gesehen werden kann, skizziere ich in Kapitel 7. In Kapitel 8 konkretisiere ich dann diese besondere Qualität des Mediums Film anhand vier verschiedener Filmbeispiele. Abschließend stelle ich Überlegungen dazu an, wie in pädagogisch-konzeptioneller Perspektive an das von mir Erarbeitete angeknüpft werden kann (Kapitel 9). Das Ziel meiner Arbeit ist es, einen Beitrag zur filmpädagogischen Theoriebildung zu leisten, der den Horizont filmpädagogischen Denkens und Arbeitens erweitert und Ausgangspunkt für weiterführende theoretische und praktische Überlegungen sein kann. Dazu greife ich auf theoretische Bausteine zurück, die in den Referenzdisziplinen Filmtheorie und Bildungstheorie bereits erarbeitet wurden und führe diese im Rahmen zweier Brückenschläge zu einer Vorstellung der Film-Bildung im Zeichen des Fremden zusammen. Es handelt sich dabei nicht um ein geschlossenes theoretisches Konzept, sondern um Fundstellen und Anknüpfungsvorschläge, die für die Weiterentwicklung filmpädagogischen Denkens aus meiner Sicht anregend sein können.

2 Filmpädagogik

Ausgangspunkt meiner Arbeit ist – wie einleitend erwähnt – die Beobachtung, dass bildungstheoretische und filmtheoretische Diskussionsbestände in der Filmpädagogik kaum aufgegriffen werden. Für die Einordnung dieser Beobachtung ist es hilfreich, auf die Geschichte der Filmpädagogik zurückzublicken. Denn dabei wird deutlich, dass die filmpädagogische Tradition sich fast völlig unabhängig von der pädagogischen Tradition entwickelt hat. Filmpädagogik wurde in ihrer Entstehungszeit stets aus einer Sorge um die Heranwachsenden heraus betrieben, die sich auf mögliche negative Einflüsse des Mediums Film bezog. Es ging darum, konkrete Handlungsoptionen zu entwickeln, die dem Schutz der Jugend vor dem Film dienen sollten, und nicht darum, pädagogische Konzepte und Traditionen weiterzuentwickeln. Die Filmpädagogik ist also letztlich aus einem kulturkritischen Impuls heraus entstanden und nicht aus einem erziehungswissenschaftlichen Anliegen1. Spuren dieser Entwicklungsgeschichte sind auch in der aktuellen filmpädagogischen Diskussion noch erkennbar, in der die systematische Anknüpfung an Theorien aus den Referenzdisziplinen nach wie vor ein Desiderat ist (vgl. Kapitel 2.2). Insofern versuche ich mit meinen eigenen Überlegungen an einem grundsätzlichen blinden Fleck der Filmpädagogik anzusetzen, indem ich zeige, wie vorhandene bildungstheoretische und

1

Vor dem Hintergrund der Einschätzungen, dass filmpädagogische Aktivitäten als „Anfänge der Medienpädagogik“ (Kommer 1979, S. 13) und Filmpädagogen als „Wegbereiter der Medienpädagogik“ (Hüther 2002a und 2002b) gesehen werden können, gilt diese Feststellung auch für die Medienpädagogik insgesamt.

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filmtheoretische Diskussionen aufgegriffen und für die Entwicklung neuer filmpädagogischer Perspektiven genutzt werden können. Bei meinem Blick auf die Entstehungsgeschichte der Filmpädagogik und auf die Ausrichtung der gegenwärtigen Diskussion werden sich wie gerade angedeutet drei Diagnosen ergeben, die hier noch einmal genannt und im folgenden erläutert und belegt werden sollen: Erstens ist die Ausrichtung der Filmpädagogik durchgängig eine konzeptionelle. Filmpädagogische Überlegungen werden meistens in der Absicht angestellt, Handlungsoptionen zu entwickeln und umzusetzen. Daraus ergibt sich zweitens die Situation, dass filmpädagogische Überlegungen und Aktivitäten nicht (immer) unter Rückgriff auf ein tragfähiges theoretisches Fundament stattfinden bzw. stattgefunden haben. Das kann sich auf verschiedene Weise äußern: Entweder fehlt ein theoretischer Bezug völlig und vorhandene Überlegungen werden ausschließlich entlang eines breit geteilten Alltagsverständnisses entwickelt und begründet – Ratgeber ist dann häufig der „gesunde Menschenverstand“. Oder es wird auf Theorien zurückgegriffen, die jeweils hinter den erreichten Stand der Diskussion zurückfallen, also auch im Licht des jeweiligen historischen Kontextes nicht mehr zeitgemäß sind. Ausgangspunkt filmpädagogischer Vorschläge ist gegenwärtig z.B. meistens die Vorstellung eines starken Subjekts, die in der bildungstheoretischen Diskussion bereits seit vielen Jahren problematisiert wird (vgl. Kapitel 4.1). Daran anschließend kann zusammenfassend eine dritte Diagnose formuliert werden, aus der sich auch der Rahmen für diese Arbeit ergibt: Betrachtet man als Referenzdisziplinen die Film- und Medienwissenschaft einerseits und die Erziehungswissenschaft andererseits, so lässt sich feststellen, dass eine theoretische Anbindung an die aktuellen Diskussionen in diesen Bereichen fast völlig fehlt. Für die theoretisch fundierte Weiterentwicklung der Filmpädagogik kann die systematische Rezeption erziehungswissenschaftlicher und filmwissenschaftlicher Referenztheorien m.E. Anschlussmöglichkeiten bieten, die bisher außer acht geblieben sind. Ziel dieses Kapitels ist nicht die umfassende Darstellung historischer Theorien, sondern die systematische Analyse filmpädagogischer Desiderate, bei denen ich einsetzen und einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Diskussion leisten möchte. Bei der Analyse der Geschichte der Filmpädagogik werde ich mich auf zwei Frage-Richtungen konzentrieren, die mit der

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dritten Diagnose verbunden sind und an die ich mit meinen eigenen Überlegungen anknüpfen kann. •



Die erste Fragerichtung bezieht sich auf den pädagogischen Gehalt filmpädagogischer Überlegungen: Welche Ziele von Filmpädagogik werden formuliert? Welche Vorstellungen vom pädagogischen Prozess und welche weiteren pädagogischen Annahmen liegen diesen Zielvorstellungen zugrunde? Und wie werden dabei pädagogische Konzepte und Begriffe – vor allem der Begriff der Bildung – gedacht? Wie gelingt der Anschluss an die vorhandene erziehungswissenschaftliche – vor allem bildungstheoretische – Diskussion? Die zweite Fragerichtung zielt auf die filmbezogene Dimension filmpädagogischer Überlegungen: Welche Vorstellung vom Film liegt den filmpädagogischen Überlegungen jeweils zugrunde? Wie gelingt der Anschluss an die vorhandene filmtheoretische Diskussion?

2.1 G ESCHICHTE In meinem Rückblick auf die Geschichte der Filmpädagogik werde ich vier Phasen der pädagogischen Diskussion um den Film näher betrachten: Die Kinoreformbewegung von Anfang des 20. Jahrhunderts bis etwa 1920, die Schulfilmbewegung von 1919 bis 1933, die Filmerziehung der 1950er und 1960er Jahre und die Sichtweise der kritischen Theorie in den 1970er Jahren. In Kapitel 2.2 wird es schließlich um die filmpädagogische Diskussion von den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart gehen. Der Entscheidung für die Untersuchung dieser Phasen liegt die Einschätzung zugrunde, dass es sich dabei jeweils um Entwicklungen handelt, die die filmpädagogische Auseinandersetzung nachhaltig geprägt haben und deren Ausrichtung auch in späteren Diskussionen wieder aufgegriffen wurde. Gleichzeitig wurden in jeder der Phasen auch neue Perspektiven eingeführt, deren Wirkung sich teilweise bis in die Gegenwart verfolgen lässt. In vorhandenen Überblicktexten werden diese „Epochen“ der filmpädagogischen Diskussion ebenfalls genannt, allerdings gibt es Unterschiede in Bezug auf die zeitliche Eingrenzung der einzelnen Bewegungen sowie die Berücksichtigung einzelner Stationen. So spricht Hausmanninger (1993)

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nicht von der Schulfilmbewegung, sondern fasst diese mit der Kinoreformbewegung zusammen. Allerdings geht es ihm auch nicht primär um pädagogische Fragen, in deren Licht die Schulfilmbewegung m.E. interessant ist, weil sie im Vergleich zur Kinoreform von einer starken didaktischtechnologischen Ausrichtung geprägt ist. Weitere Unterschiede gibt es z.B. in der Ausführlichkeit der Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie. Hausmanninger beschäftigt sich sehr ausführlich mit den filmbezogenen Positionen dieser Schule. In film- und medienpädagogischen Überblickstexten fällt die Beschäftigung mit der kritischen Theorie gelegentlich knapper aus: Ralf Vollbrecht widmet ihr in seiner Übersicht über Entwicklungslinien der medienpädagogischen Debatte nur gut zwei Seiten (Vollbrecht 2001, S. 46-48), und in der zwölfteiligen Reihe „Wegbereiter der Medienpädagogik“ der Zeitschrift Medien + Erziehung, in der wichtige Kinoreformer, Schulfilmer und Filmerzieher ausführlich vorgestellt werden, kommt kein Vertreter der kritischen Theorie vor. Allerdings hat sich die kritische Theorie auch nicht in einem filmpädagogischen Diskussionszusammenhang entwickelt, sondern in einem sozialwissenschaftlichen – auch wenn FilmpädagogInnen in den 70er und 80er Jahren gerne Anleihen bei der kritischen Theorie gemacht haben. Aus diesem Grund habe ich die kritische Theorie auch in meine Betrachtung aufgenommen. Ich werde mich aber nur knapp mit ihr beschäftigen, weil es sich wie gesagt nicht um eine genuin filmpädagogische Diskussion handelt. Bei der Darstellung der einzelnen Bewegungen geht es mir nicht um die erschöpfende Beschreibung aller entwickelten Argumentationslinien oder um die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Strömungen innerhalb der jeweiligen Bewegungen. Vielmehr möchte ich in systematischer Perspektive zeigen, dass sich in der filmpädagogischen Reflexion Defizite nachweisen lassen, die immer noch nicht behoben sind und die dazu führen, dass pädagogische Potenziale der Auseinandersetzung mit Filmen übersehen werden. Wichtige Anregungen für den Aufbau und für die inhaltliche Akzentuierung dieses Kapitels entnehme ich der bereits erwähnten Arbeit „Kritik der medienethischen Vernunft“ von Thomas Hausmanninger (1993). Allerdings geht es Hausmanninger um ethische Implikationen der Diskussion um den Film, während ich nach pädagogischen und filmtheoretischen Implikationen frage.

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2.1.1 Die Kinoreformbewegung Die Kinoreformbewegung entstand ungefähr zehn Jahre nach der ersten öffentlichen Filmvorführung, und ihre Mitglieder und Initiatoren waren nicht ausschließlich Pädagogen, sondern Angehörige verschiedener Berufsgruppen, die die Befürchtung verband, die Jugend könnte durch schädliche Filmeinflüsse verdorben werden. Zu den Protagonisten der Bewegung gehörten ein Lehrer und ein Schuldirektor (Adolf Sellmann und Hermann Lemke), ein Pastor, ein Kinokritiker und ein Kunsthistoriker (Walther Conradt, C.H. Dannmeyer und Konrad Lange), sowie ein Jugendschutzbeauftragter der Polizei (Karl Brunner). Den Mitgliedern der Bewegung ging es nicht so sehr darum, erziehungswissenschaftliche Theorien aufzugreifen und weiterzuentwickeln, sondern eher darum, angesichts der zunehmenden Beliebtheit und Verbreitung des Films Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die dem Schutz der Jugend vor diesem – von den Kinoreformern als Bedrohung empfundenen – Medium dienen sollten. Die Kinoreformer lassen sich insofern auch als frühe „Bewahrpädagogen“ bezeichnen, deren Anliegen es war, die Gefahren, die sie mit dem neuen Medium verbunden sahen, von Heranwachsenden fernzuhalten. Entsprechend versuchten die Kinoreformer, durch die Gründung handlungsorientierter Initiativen Einfluss auf die gesellschaftliche und politische Diskussion zu nehmen. Ein frühes Zeugnis dieser Aktivität ist die Gründung der „Hamburger Kommission für Lebende Photographien“ (vgl. Hüther 2002a), deren Ziel es war, die Kinosituation gutachterlich zu bewerten. Der 1907 erschienene Bericht der Kommission (Dannmeyer 1907) kommt zu dem Ergebnis, die zunehmende Verbreitung von Film und Kino sei bedenklich und in ihrer gegenwärtigen Form ein Zeichen des gesellschaftlichen Verfalls. Auch wenn Dannmeyer darauf hinweist, dass das Kino bei angemessener Gestaltung „ein ausgezeichnetes Mittel der Belehrung und Unterhaltung“ sein kann (Dannmeyer 1907, S. 37), so überwiegt im vorhandenen Angebot nach seiner Einschätzung „das Häßliche, Verbildende und sittlich Gefährdende“ (Dannmeyer 1907, S. 29), sodass er das Kinowesen als eine „bedauernswerte Erscheinung des Großstadtlebens“ (ebd.) sieht und die Schulen auffordert, „[d]em Besuch von Vorführungen dieser Art [...] erziehlich entgegenzuwirken.“ (Dannmeyer 1907, S. 39) Dieses von Dannmeyer verantwortete Gutachten ist gleichzeitig ein erstes medienpädagogisches Schriftstück, in dem ausgehend von der Analyse einer „Medienrealität“ pädagogische Handlungsop-

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tionen entwickelt werden (vgl. Hüther 2002a, S. 250), wenn auch ohne systematischen Rückgriff auf erziehungswissenschaftliche Theorie2. Ihm sollten weitere Veröffentlichungen und Aktivitäten folgen, die sich teilweise sogar bis auf die Ebene der Gesetzgebung auswirkten. Ein Beispiel ist der „Kinematographische Kongreß“, der 1908 in Berlin stattfand und zu einem Abkommen zwischen der Hamburger Oberschulbehörde und dem „Lokalverband Hamburger Kinematographeninteressen“ führte, das schulbehördliche Auflagen für die dem Verband angeschlossenen Kinos ermöglichte (vgl. Hausmanninger 1993, S. 85). Auch die Reform des Reichslichtspielgesetzes von 1920, die staatliche Medienschutzregelungen ermöglichte, wurde von den Kinoreformern vorbereitet. Es wird deutlich, dass die Aktivitäten der Kinoreformbewegung vor allem darauf ausgerichtet waren, Heranwachsende vor ungünstigen Filmeinflüssen zu bewahren. Die Argumentation, die diesem Interesse zugrunde lag, soll nun etwas näher betrachtet werden. Die Vorbehalte der Kinoreformer ergaben sich sowohl aus den Filminhalten, als auch aus den formalen Gestaltungsmitteln. Außerdem wurde der Kontext der Filmvorführungen (dunkle und schlecht belüftete Kinoräume, in denen die Zuschauer dicht gedrängt zusammensaßen) äußerst skeptisch betrachtet. Doch zunächst zu den Inhalten: Bei den Filmen, die zur Zeit der Kinoreform gezeigt wurden, handelte es sich um kurze Stummfilme, in denen es teilweise nur darum ging, die neuen technischen Möglichkeiten auszunutzen, das heißt, es wurden Bewegungen gezeigt (einfahrende Schiffe und Lokomotiven, umherlaufende Menschen) oder Slapstickszenen mit kleinen Missgeschicken, Stolperern usw. Später wurden dann zunehmend kurze Geschichten mit eigener Dramaturgie erzählt, die den Kinoreformern besondere Sorgen machten, ging es dabei doch um moralisch heikle Themen wie Liebe oder Kriminalität und Gewalt. Mit diesen verschiedenen Genres – dem „Aufklärungsfilm“, dem „Verbrecherfilm“ und dem „Sensationsfilm“ – beschäftigt sich z.B. Lange (1920). Er ist der Auffassung, dass in allen Bereichen vor allem

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Wie oben erwähnt, ist dies ein fast durchgängiges Merkmal filmpädagogischer Schriften. Und auch in anderen und aktuellen medienpädagogischen Texten ist der Verzicht auf einen systematischen Theoriebezug nichts Ungewöhnliches. In Bezug auf den heutigen Stand in der Disziplin der Medienpädagogik insgesamt zeigt dies z.B. Langer (2002).

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Schaulust und Neugier befriedigt werden, und diese Ansprache niedrigster Triebe die Zuschauer selber zur Sünde verleitet (Lange 1920, S. 15ff). Auch wenn ein Aufklärungsfilm eigentlich die Funktion hat, Informationen zu vermitteln (was zur Zeit der Kinoreform vor allem hieß, Verbote und Warnungen zu transportieren), scheint Lange diese Begründung in Bezug auf vorhandene Aufklärungsfilme nicht glaubwürdig. Seiner Auffassung nach suchen die Filmfabrikanten unter dem Vorwand, aufklären zu wollen, lediglich mit ihrer „krassen und verführerischen Schilderung“ (ebd., S. 31) Zuschauer zu gewinnen. Dazu merkt Lange an: „Ein Aufklärungsfilm ist bekanntlich ein Film, dessen Unanständigkeiten unter dem Vorwand der Abschreckung und Warnung verzapft werden“ (Lange 1920, S. 30). Lange fordert daher ein Verbot aller Aufklärungsfilme: „Ich glaube danach nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, daß jedes sexuelle Drama anstößig ist und verboten werden muß“ (ebd., S. 38). Als besonders kritikwürdig betrachtet Lange die Abweichung der im Film dargestellten Moralvorstellungen, von den gesellschaftlich vorherrschenden – also z.B. von dem Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs (ebd. S. 35) oder von dem Verbot homosexueller Handlungen (ebd., S. 37). Auch der Verbrecherfilm birgt in den Augen der Kinoreformer Gefahren für den Zuschauer: Sie befürchten, die häufige Darstellung von Verbrechen könnte bei den Rezipienten den Eindruck erwecken, ein Verbrechen sei etwas ganz Normales (Lange 1920, S. 40). Kriminalität und Gewalt würden außerdem durch die positive Darstellung von Verbrechern gefördert. Denn diese erwiesen sich in vielen Filmen als trickreich und geschickt, während Polizisten häufig eher als Tölpel dargestellt würden. Gerade Heranwachsende, die „keine gute Kinderstube gehabt“ (Lange 1920, S. 40) hätten, seien Lange zufolge empfänglich für die Einflüsse des Films. Ihnen fehlten die Hemmungen, das Gesehene auch in die Tat umzusetzen. Lange sieht also die Gefahr der verzerrten Einschätzung der Realität, sowie die damit verbundene Gefahr der Herabsetzung von Hemmschwellen und der Nachahmung und fordert daher auch ein Verbot des Verbrecherfilms. In ähnlicher Weise kritisieren die Kinoreformer „Sensationsfilme“, in denen Ungewöhnliches und Überraschendes gezeigt werden. Wieder argumentiert Lange (1920) mit der Wirklichkeitsillusion des Films, die dazu führe, das Gezeigte als das Normale und Übliche zu verstehen. Die Gefahr sieht er darin, dass der Alltag im Vergleich zur Filmwelt als langweilig und unerfüllt wahrgenommen wird. Der Film könne sich so verzerrend auf das

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Weltbild Heranwachsender auswirken. Ein Kind, das häufig Sensationsfilme sieht, „verlangt fortwährend Aufregung und Abenteuer zu erleben und hat keinen Sinn mehr für die gleichmäßige und ruhige Pflichterfüllung, auf der doch das wahre Glück des Menschen beruht“ (Lange 1920, S. 45). Sehr ähnlich äußert sich auch Sellmann (1912): „Werden sie [die Kinobesucher, H.W.] aus der Kino-Traumwelt mit der schwülen Salonluft zurückversetzt in ihre nüchterne Werkstätte und in ihren Fabriksaal, so muß Unzufriedenheit und Mißgunst ihre Seele erfüllen.“ (Sellmann 1912, S. 27) Die Befürchtung, Filme könnten das Weltbild der Zuschauer verändern, wird von vielen Vertretern der Kinoreformbewegung geäußert. Ihnen scheint der gesellschaftliche Frieden z.B. durch die polarisierende Darstellung verschiedener Gesellschaftsschichten gefährdet. So beklagt Hellwig (1920) Filmszenen aus dem Alltag, bei denen vor allem Kaufleute, Beamte, Akademiker oder Gelehrte als verschwenderisch, vergnügungssüchtig, maßlos und faul gezeigt werden. Solche Szenen führen nach Hellwig zu einer Geringschätzung der Angehörigen höherer Gesellschaftsschichten durch die Arbeiter (ebd., S. 8). Der Kritik an den verschiedenen Filmgenres liegt also letztlich jeweils die Befürchtung zugrunde, die Beschäftigung mit dem filmischen Angebot könnte zu einer Veränderung der Welt- und Selbstsicht der Zuschauer führen – ein Vorgang, der in bildungstheoretischer Perspektive durchaus wünschenswert sein kann, wie noch auszuführen sein wird (vgl. Kapitel 4). Gerade „Krisen“ vorhandener Kategorien des Selbst- und Weltverhältnisses können Anlässe für Bildung sein, die aber filmpädagogisch bisher überhaupt noch nicht in den Blick genommen wurden – auch nicht in der filmpädagogischen Diskussion der Gegenwart. In bildungstheoretischer Perspektive muss allerdings betont werden, dass eine solche Veränderung nicht (filmisch, pädagogisch oder sonst wie) „transportiert“, „gemacht“ oder bewirkt werden kann, sondern das Ergebnis eines Auseinandersetzungsprozesses ist, dem (film-)pädagogisch allenfalls der Weg bereitet werden kann. Solche Überlegungen konnten die Kinoreformer nicht entwickeln, weil sie von weit reichenden Wirkungsannahmen ausgingen und dem Film eine größere Macht über den Rezeptionsprozess zusprachen als seinem Rezipienten. Genau diese Einschätzung diente ihnen aber nicht nur zur Begründung restriktiver Maßnahmen, sondern wurde gleichzeitig auch zum Ausgangspunkt pädagogischer Überlegungen, wie ich unten noch erläutern werde.

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Zuvor soll die Einschätzung formaler Merkmale des Films durch die Kinoreformer betrachtet werden. Dabei stehen vor allem Defizitvorwürfe im Vordergrund. So betonen die Kinoreformer immer wieder, dass ein Film nur mit sehr eingeschränkten Ausdrucksmitteln gestaltet werden kann. Die vorhandenen Filme sind sehr kurz, können also nur einen begrenzten Inhalt haben, Bildschärfe und Raumeindruck sind mäßig, und vor allem sind die Filmbilder stumm. Die Möglichkeiten des filmischen Ausdrucks werden von den Kinoreformern immer wieder denen des verbalen Ausdrucks gegenüber gestellt und dabei als mangelhaft bewertet. Im Vergleich zur verbalen Sprache bleibe die Filmsprache oberflächlich und undifferenziert. Diesen Vorwurf führt Sellmann z.B. in Bezug auf Kino-Humor und Kino-Drama aus: Der Humor, der im Kino vermittelt wird, ist nach Sellmann kein „echter“ Humor, denn dieser ist auf die Sprache angewiesen. „Echter Humor ergreift die Tiefe des Gemüts, wird getragen durch Ideen, ist verbunden mit Mitgefühl und Herzenswärme. Echter Humor ist voller Gedanken, voller Gefühle!“ (Sellmann 1912, S. 14). Der Kinohumor dagegen ist eher ein „Hampelmann-Humor“ (Sellmann 1912, S. 14), der zunächst zwar harmlos scheint, auf die Dauer aber „oberflächlich, gedankenarm, gefühlsroh“ (Sellmann 1912, S. 14) macht. Auch das Kinodrama verdient den Namen Drama nach Sellmann eigentlich nicht, da es oberflächlich und willkürlich zusammengesetzt ist und lediglich von seinen sensationellen Effekten getragen wird. „Auch die Einteilung der Akte ist ganz willkürlich, denn ein geschlossener Gedankengang ist in dem Drama unmöglich, weil ja das Wort des Dichters Träger des Gedankens ist und das Wort des Dichters fehlt“ (Sellmann 1912, S. 16). Das Argument vom Wort als Träger des Gedanken und von der Überlegenheit des Wortes in Bezug auf den Ausdruck anspruchsvoller Gedanken ist ein zentraler Angriffspunkt der Kinoreformer. Auch in der heutigen Film- und Fernsehdebatte finden sich noch Anklänge an diese Überlegung, wenn z.B. Hertha Sturm die „innere Verbalisierung“ als Voraussetzung für den ertragreichen Umgang mit Filmen beschreibt (Sturm 2000). Aufgrund dieser begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten kann der Film nach Auffassung der Kinoreformer nur einfache und leicht verdauliche Unterhaltung bieten, die keine besondere „Verstandestätigkeit“ (Sellmann 1912, S. 8) erfordert. „Ich folge mit meinen Augen den Bewegungen, dem Mienenspiel und den Gesten. Die wenigen Gedanken, die dadurch veran-

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schaulicht werden sollen und werden können, habe ich bald erfaßt.“ (Sellmann 1912, S. 8/9) Anders als z.B. im Theater gehe es im Kino nicht darum, einen einheitlichen Grundgedanken oder eine einheitliche Stimmung zu vermitteln. Das Angebot gleiche eher einem „Potpourri“. Und: Die Sprache des Kinos sei universell: „So können die Films, die etwa in Düsseldorf dargeboten werden, zumeist mit demselben Verständnis in Konstantinopel und in Indien oder sonstwo betrachtet werden.“ (Sellmann 1912, S. 10) In dieser Universalität sei die Sprache der Mienen und Gesten gleichzeitig einfach und voraussetzungslos. An dieser Stelle setzt noch eine andere Überlegung ein, die eben bereits anklang: Film ermöglicht lediglich die Veranschaulichung einfacher Sachverhalte, und seine Sprache ist universal verständlich. Die Kinoreformer vertraten die Auffassung, dass es sich bei einem Film lediglich um die Abbildung von bereits Vorhandenem handelt, und dass ein Film daher auch nicht als Kunst betrachtet werden kann – ebenso wenig wie die Fotografie (vgl. Lange 1920, S. 57), bei der es sich lediglich um einen technischen Vorgang handele. In Bezug auf die Wahl von Motiv, Perspektive oder Beleuchtung gebe es zwar gewisse Gestaltungsspielräume und damit eine entfernte Verwandtschaft zum Kunstwerk, primär sei die Fotografie aber „eine mechanische Reproduktion der Natur“ (Lange 1920, S. 58), die „keine höhere geistige Kraft“ (Lange 1920, S. 58) erfordere. Ein Merkmal des Kinos ist nun die Bewegung der Bilder. Durch die Produktion bewegter Bilder ermöglicht das Kino eine starke „Annäherung an die Natur“ (Lange 1920, S. 60) – es wird dabei aber gerade nicht zur Kunst, denn gute Kunst zeichnet sich nach Lange nicht durch eine besonders naturgetreue Darstellung aus, sondern durch die individuelle Sichtweise und Ausdrucksform des Künstlers, die bei Fotografie und Kino nach Lange kaum zum Tragen kommt. Einerseits kritisieren die Kinoreformer also die Einfachheit und Begrenztheit des filmischen Ausdrucks, andererseits sehen sie aber auch keine künstlerischen Potenziale in einer Verbesserung der technischen Möglichkeiten. Im Gegenteil: Der Ehrgeiz der Kinomacher, eine möglichst perfekte Täuschung zu produzieren, indem sie Vorgefundenes möglichst „naturgetreu“ abbilden, mache gerade deutlich, dass das Kino keine Kunst sei. Denn Kunst zeichne sich dadurch aus, dass sie eine „bewußte Selbsttäuschung“ (Lange 1920, S. 60) ermögliche. Der Betrachter erlebe zum Beispiel beim Ansehen einer Bronzefigur im Museum (deren Kunst-Charakter für Lange

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außer Frage steht) eine Bewegungsillusion, sei sich aber des Illusionscharakters dieser Wahrnehmung ständig bewusst. „Diese Bewußtheit bedeutet eine dauernde Distanz von der Natur, eine Distanz, deren Reiz gerade darin besteht, daß sie in einem Gegensatz zu der mit der Natur übereinstimmenden Bewegungsvorstellung steht“ (Lange 1920, S. 60). Beim unbewegten Kunstwerk ist der Betrachter also herausgefordert, sich eine Bewegung vorzustellen, er muß seine Phantasie einsetzen, und darin besteht nach Lange auch der künstlerische Genuss. Diese Art der Phantasietätigkeit sei beim Kino nicht erforderlich, da die Bewegung direkt abgebildet werde. Nicht nur dem Zuschauer bleibe auf diese Weise eine ästhetische Erfahrung vorenthalten, auch der Regisseur müsse zur Erzeugung eines Films nicht künstlerisch tätig werden: „So wie beim Zuschauer die ästhetische Phantasietätigkeit ausgeschaltet ist, weil er sich nicht Unbewegtes in Bewegtes zu übersetzen braucht, so ist beim Kinooperateur die künstlerische Schöpfertätigkeit ausgeschaltet, weil er nicht gezwungen ist, aus einem ganzen Bewegungsverlaufe einen bestimmten Moment als den prägnantesten auszuwählen. Er gibt eben die ganze Naturerscheinung wieder, mit allem Zufälligen, was ihr anhaftet. Das heißt, er spart dabei die auswählende, ordnende und sichtende Tätigkeit, die für die Kunst charakteristisch ist.“ (Lange 1920, S. 63)

Die Einschätzung, Film sei keine Kunst, wird mit der angeblich geringen Herausforderung der Zuschauer bei der Filmrezeption untermauert. Denn richtige Kunst zeichnet sich nach Auffassung der Kinoreformer dadurch aus, dass sie eine gründliche Auseinandersetzung erfordert. „Die Kinoreformer dagegen behaupten, daß das Kinodrama keine Kunst sei, ja daß es geradezu einen kunstwidrigen Charakter habe.“ (Lange 1920, S. 56) Die Argumentation wird hier noch um einen dritten Schritt erweitert, demzufolge sich die regelmäßige Filmrezeption negativ auf die Wahrnehmungs- und Auseinandersetzungsfähigkeit der Rezipienten auswirken und damit zukünftige Kunsterfahrungen verhindern kann. Zur Veränderung der Wahrnehmung heißt es bei Sellmann (1912): „Jemand, der ständig im Kino Vorführungen mit angesehen hat, hat keine Ruhe mehr, in aller Geduld geistig gehaltvolle literarische Werke durchzulesen. Er hat nur noch Sinn für Knalleffekte, aber keinen Sinn mehr für psychologische Probleme.“ (Sellmann 1912, S. 21) Dass häufiges Fernsehen zu einer Unruhe und Ungeduld bei gleichzeitiger geistiger Trägheit, Passivität und Konsumhaltung führt,

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ist eine Sorge, die überdauert hat, und die aktuell z.B. von Manfred Spitzer formuliert wird (Spitzer 2006). Auch die Befürchtung, das Kino könne die Leselust der Zuschauer beeinträchtigen, ist noch aktuell ebenso wie der Versuch, das Buch (als angeblich höherwertiges Medium) gegen das Kino auszuspielen. Die Kinoreformer begründen ihre Vorbehalte gegen den Film also auch mit formalen Bedenken gegenüber den undifferenzierten Ausdrucksmöglichkeiten der (ihrer Auffassung nach) künstlerisch eher uninteressanten Abbildungsfunktion des Films sowie mit einer damit verbundenen Gefährdung der Wahrnehmungs- und Auseinandersetzungskultur Heranwachsender. Aus diesen inhaltlichen und formalen Einschätzungen ergibt sich das pädagogische Konzept der Kinoreformer, das sich vor allem durch den Impuls auszeichnet, gefährdende Filme von Heranwachsenden fernzuhalten. Ein Anliegen der Kinoreformer war deswegen die Einführung verbindlicher Jugendmedienschutzbestimmungen. Allerdings blieb es nicht bei dieser skeptischen Betrachtung des Vorhandenen und bei der Formulierung von Vorbehalten. Obwohl die Kinoreformer das Kino nicht als Kunst gelten ließen und jegliche Form fiktionaler Filmgeschichten – vor allem des Kinodramas – ablehnten, setzten sie sich auch für eine „Verbesserung“ der Filmlandschaft ein und entwickelten Kriterien für Auswahl und Produktion pädagogisch angemessener Filmangebote. Dazu Konrad Lange: „Ich bin noch immer Freund des Kinos und Feind des Kinodramas. Das möchte ich gleich hier mit aller Entschiedenheit betonen. Gehört es doch zu den beliebtesten Kampfmitteln der Kinoindustrie, daß sie die Kinoreformer als Feinde dieser schönen technischen Erfindung brandmarkt. Wären wir es, so würden wir wahrlich unsere Zeit nicht an seine Veredelung wenden. Nein, wir mißbilligen nur seinen jetzigen Betrieb, bei dem der ‚Schundfilm‘, d.h. das kitschige und sensationelle Drama überwiegt. Demgegenüber wollen wir ein reineres und besseres, mehr der Kultur dienendes Lichtspiel schaffen. Mit einem Worte: Wir sind Gegner des jetzigen und Freunde des zukünftigen Kinos.“ (Lange 1920, S. 5/6)

Dabei war es den Kinoreformern besonders wichtig, das Vorhaben der Kinoreform nicht der Privatindustrie zu überlassen, sondern Schule, Kirche und Staat zur Gründung eigener Kinos anzuregen (Sellmann 1912, S.30).

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Die Grenzen, in denen Filme als akzeptabel betrachtet wurden, waren recht eng. So stellt Sellmann klar, dass nur authentische Gegenstände befürwortet werden können. Ein gutes und potenziell bildendes Kinoangebot zeichnet sich nach seiner Einschätzung dadurch aus, dass es „echt“, „lebenswahr und wirklichkeitsgetreu“ (Sellmann 1912, S. 32) ist, also nicht von Tricks, Effekten oder erfundenen Geschichten lebt (Sellmann 1912, S. 32). Da im Kino vor allem Bewegung abgebildet werden kann, eignen sich nach Sellmann Motive wie Brandung des Meeres, Vorüberfahrt eines Schiffes oder sportliche Übungen für die Filmproduktion (Sellmann 1912, S. 33). Der Kinofilm kann dann dazu dienen, „natürliche“ Vorgänge abzubilden und damit der genaueren wissenschaftlichen Analyse zugänglich zu machen. Für Schüler und Studierende kann er außerdem abstrakte und komplexe Vorgänge und naturwissenschaftliche Gesetze veranschaulichen (Sellmann 1912, S. 37). Bezogen auf den Schulunterricht sieht Sellmann die Bedeutung des Films vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Bereich: Der Film kann dazu dienen, naturwissenschaftliche Prozesse zu veranschaulichen, oder Bilder zu vermitteln, die nicht jedem zugänglich sind (z.B. Landschaftsaufnahmen aus fremden Ländern). Auch im Bereich der Fächer Völkerkunde und Erdkunde kann der Film daher Bedeutung haben (Sellmann 1912, S. 43). Insgesamt fordert Sellmann die Beschränkung auf Lehr- und Anschauungsfilme und lehnt alle Gegenstände ab, die eine „künstliche Mache“ (Sellmann 1912, S. 44) erfordern. Der Film wird ausschließlich instrumentell betrachtet – z.B. als Träger von Informationen – und in dieser Perspektive für das Erreichen von Zielen eingeplant, die völlig unabhängig von filmpädagogischen Überlegungen formuliert wurden. Zusammenfassend nennt Sellmann folgende Vorteile des Kinos für den Schulunterricht: Der Unterricht könne durch den Film anschaulicher, anziehender, schneller und effektiver gestaltet werden (Sellmann 1912, S.46). Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung scheinbar neutraler Informationen über technische Abläufe oder naturwissenschaftliche Phänomene, sondern auch um die Sicherung gesellschaftlicher Werte und Normen. So erwähnt Sellmann, dass Schülern im Rahmen eines Kinobesuchs die Schönheit Deutschlands und die Verdienste des Kaisers vermittelt werden könnten (Sellmann 1912, S. 39ff), oder dass vom Einsatz „guter“ Filme nicht nur Schulen, sondern auch Kirche, Staat und Heeresverwaltung profitieren könnten, indem sie mit Hilfe der Filme für ihre Sache werben (Sellmann 1912, S. 46f). Hier scheinen wieder die Wirkungsannahmen auf, von

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denen weiter oben schon die Rede war. Provokant formuliert: Dass Heranwachsende durch Filme manipuliert werden können, stand für die Kinoreformer außer Frage, und vor diesem Hintergrund wollten sie wenigstens dafür sorgen, dass die Manipulation in ihrem Sinne ausfiel. Fazit: Als explizites Ziel von Filmpädagogik wird das Bewahren der Jugend vor den schädlichen Einflüssen von „Schundfilmen“ genannt. Mit diesem Ziel begründen die Kinoreformer ihre Bemühungen um gesetzliche Regelungen zum Jugendmedienschutz. Die weitreichendere – und nur implizit ausgedrückte – Triebkraft kinoreformerischer Aktivitäten ist allerdings das Bestreben zur Sicherung gesellschaftlicher Verhältnisse; das politische Interesse, Vorhandenes zu bewahren und gegen Angriffe und Kritik zu schützen. Es geht den Kinoreformern vor allem darum, Gefahren für das politische und gesellschaftliche System und auch für vorhandene Kulturgüter abzuwenden. Der häufig geforderte „Schutz der Jugend“ ist insofern eher ein Schutz gesellschaftlicher Verhältnisse vor Veränderung. Vor diesem Hintergrund argumentieren die Kinoreformer für den „guten Film“, das heißt für den Film, der ein Bekenntnis zur gesellschaftlichen Situation enthält und formal nicht so faszinierend ist, dass er vorhandenen Kulturgütern Konkurrenz machen könnte. Dieser Argumentation liegt die Annahme zugrunde, dass Filme dem Aufbau und der Stabilisierung erwünschter Sichtweisen und Handlungsoptionen dienen können. Die Kinoreformer vertreten ein mimetisches Wirkungskonzept, demzufolge die Filmwirkung in der Auslösung von Nachahmungshandlungen liegt. Die damit verbundene Vorstellung vom Rezipienten ist eine mechanische. Es wird angenommen, Heranwachsende seien den Wirkungen eines Films ausgeliefert, sie seien in Bezug auf den Rezeptionsprozess unselbständig und manipulierbar und nicht in der Lage, sich auf angemessene Weise für oder gegen bestimmte Gegenstände zu entscheiden und sich eigenständig mit diesen auseinanderzusetzen. Egal, welche inhaltliche Ausrichtung die Filme haben, der Zuschauer wird als unmündig und der Wirkung des Films ausgeliefert betrachtet. Eine Position, die zur Zeit der Kinoreform durchaus nicht alternativlos war. Denn sie entsprach nicht der (seit der Aufklärung verbreiteten) neuzeitlichen Vorstellung eines autonomen Subjekts, das eigenständig handeln kann und von seinem Verstand auch Gebrauch machen soll. Hausmanninger (1993) stellt fest, dass die Kinoreformer in dieser Hinsicht eine kontramoderne Position vertraten.

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Da Heranwachsende als dem Film gegenüber nicht entscheidungsfähig gedacht werden, kommt den Filmpädagogen die Aufgabe zu, geeignete Filme auszuwählen. Diese werden dann für einen pädagogischen Prozess instrumentalisiert, dessen Ergebnis von vornherein feststeht. Der Pädagoge wird als derjenige gedacht, der die Funktion und die Kompetenz hat, den Heranwachsenden zu einem inhaltlich klar bestimmten Ziel zu führen. Auch mit dieser Vorstellung blieben die Kinoreformer hinter differenzierteren pädagogischen Überlegungen zurück, die es zu ihrer Zeit bereits gab. So hatte Kant in seinen Vorlesungen über Pädagogik schon mehr als hundert Jahre zuvor die inhaltliche Bestimmung von Erziehung im Interesse zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten bewusst offen gelassen (Kant 1803). Zusätzlich hatte er auf das grundsätzliche Spannungsverhältnis von Freiheit und (pädagogischem) Zwang hingewiesen und sich mit der Frage beschäftigt, wie es möglich ist, „die Freiheit bei dem Zwange“ (Kant 1803, S. 711) zu kultivieren. Dabei erachtete er pädagogische Lenkung und pädagogischen Zwang nur im Dienste künftiger Freiheit als legitim. Indem er es vermied, eine erwünschte Nutzung solcher Freiheit inhaltlich festzulegen, entging er der Reduktion der pädagogischen Perspektive auf einen immer schon vorhandenen Horizont, die mit der kinoreformerischen Position verbunden ist. Es wird deutlich, dass der Ausgangspunkt konzeptioneller kinoreformerischer Bemühungen nicht in dem Anschluss an die erziehungswissenschaftliche Diskussion liegt. Es werden keine klaren und theoretisch begründeten pädagogischen Ziele formuliert, aus denen Vorschläge für den Filmeinsatz abgeleitet würden. Die Argumentation für den guten Film ist vielmehr eine Reaktion auf die technische Entwicklung, die als Bedrohung für die gesellschaftliche Situation empfunden wird. Sie ist pädagogisch deshalb heikel, weil eine als ungünstig eingeschätzte Art der Manipulation durch eine als günstig eingeschätzte ersetzt werden soll, ohne dass der Manipulationsprozess an sich problematisiert würde. Die pädagogisch fragwürdige Vorstellung eines unmündigen Rezipienten, dessen Unmündigkeit für das Erreichen pädagogischer Ziele genutzt wird, wird nicht reflektiert – ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Filmpädagogen sich selber offenbar von den Wirkungen eines Films nicht gefährdet sahen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass pädagogische Konzepte wie das der Erziehung nicht theoriegestützt aufgegriffen werden, obwohl es dazu bereits zur Zeit der Kinoreform differenzierte Überlegungen gab. Auch

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mit dem Bildungsbegriff (für den das gleiche gilt) arbeiten die Kinoreformer nicht. Das mag daran liegen, dass die von den Kinoreformern vertretenen Manipulationsvorstellungen mit vorhandenen Bildungsidealen von selbstständiger, freier und vielseitiger Bildung (z.B. Humboldt 1792) unverträglich waren. Die Möglichkeit einer so gedachten Bildung im Zusammenhang mit Filmen wird von den Kinoreformern jedenfalls nicht in Betracht gezogen. Nun zu meiner zweiten Fragerichtung, nämlich der nach der Vorstellung des Mediums Film, die den filmpädagogischen Überlegungen der Kinoreformer zugrunde liegt. Wie erwähnt nehmen die Kinoreformer eine Einteilung in gute und schlechte Filme vor. Als gute Filme werden nur solche anerkannt, deren Inhalte als „lebenswahr und wirklichkeitsgetreu“ (Sellmann 1912, S. 32) eingeschätzt werden. Das sind erstens Filme, die keine fiktionalen Geschichten enthalten und zweitens Filme, deren Inhalte gesellschaftlichen Wertvorstellungen entsprechen. Diese Kriterien ergeben sich daraus, dass Film nicht als eigenständige Ausdrucksform betrachtet wird, sondern als universal verständliche Abbildung. Deshalb ist der Einsatz von Filmen nach Auffassung der Kinoreformer dann angemessen, wenn es darum geht, etwas zu veranschaulichen, das der direkten Anschauung normalerweise entzogen ist (z.B. Aussehen und Bewegung eines Tieres aus einem fernen Land) oder Informationen zu vermitteln – die allerdings als dem Film vorgängig und auch auf andere Weise vermittelbar gedacht werden. Film wird so zu einem Vermittlungsinstrument, das der Pädagoge zum „Transport“ von Gegenständen einsetzt, die ihm bereits vorher und filmunabhängig bekannt sind. Film ist dabei aber kein „Fenster zur Welt“, sondern die mit Mängeln behaftete Reproduktion einer bekannten und benennbaren Wirklichkeit, die hinter dieser Wirklichkeit stets zurückbleiben muss. Auch diese Position war zur Zeit der Kinoreform nicht die einzig mögliche. Schon 1916 bestritt Hugo Münsterberg die Abbildfunktion des Films, indem er die Entstehung des Films als Leistung des Zuschauers im Prozess der Rezeption betrachtete und eine Analogie zwischen Film und geistigen Vorgängen herstellte. Er sah den Film dabei als Kunst, deren einzigartige Artikulationsweise diesen produktiven Rezeptionsprozess erst ermöglicht, und die eigener ästhetischer Bewertungskriterien bedarf: „it is an art of a particular type, which must be understood through its own conditions and for which its own esthetic rules must be traced“ (Münsterberg 2008 [1916] S. 99).

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Der Film wird von den Kinoreformern als Abbildung und als der abgebildeten Wirklichkeit gegenüber defizitär betrachtet – z.B. weil im Film keine Sprache transportiert werden kann. Aber auch auf einer grundlegenderen Ebene, weil ein Film nach Auffassung der Kinoreformer nie die direkte Begegnung mit einem Gegenstand ermöglichen kann, sondern immer nur eine vermittelte. Diese naive Form der Kulturkritik, deren Grundlage die Gegenüberstellung von unmittelbarer Wirklichkeit und der vermittelten/ medialen Darstellung ist, lässt sich in der Medienpädagogik bis heute nachweisen (vgl. Schorb 1995, S. 19) und ist auch im Alltagsverständnis durchaus verbreitet, wenn es z.B. heißt, es sei am besten, wenn Kinder „echte“ Erfahrung im Wald oder auf dem Spielplatz machen würden, anstelle medialer Erfahrungen aus „zweiter Hand“. Der mediale Charakter des Films wird von den Kinoreformern auf seine angebliche Abbildungsfunktion reduziert (und damit stark vereinfacht) und einem Konzept von anspruchsvoller (weil auseinandersetzungsintensiver) Kunst gegenüber gestellt (vgl. oben). Betrachtet man diese Vorstellung genauer, birgt auch eine solche „echte“ Kunst wenig Überraschungen, weil die „bewusste Selbsttäuschung“, die Lange als Kriterium für das Kunsterlebnis einführt, eine Erfahrung ist, die als vorhersehbar und reproduzierbar gedacht wird, und die innerhalb eines gemeinsamen Horizonts kultureller Werte stattfindet. Ein solcher Kunstbegriff schließt Neuerung und Inspiration aus und war auch zur Zeit der Kinoreformer nicht unumstritten. Hausmanninger (1993) merkt dazu an: „Der reformerische Kunstbegriff richtet sich so gegen eines der zentralen Wesensmomente von Kunst überhaupt, nämlich die avantgardistische Überschreitung oder Sprengung eingewohnter Grenzen und versucht gegen den neuzeitlich-autonomen Charakter der Kunst als primär individueller Expression die Verpflichtung auf kollektiv-heteronom bestimmte Reproduktivität zu setzen.“ (Hausmanninger 1993, S. 199)

Dieses Bestreben nach einer Verpflichtung auf kollektive Werte scheint in der Argumentation der Kinoreformer für den guten Film und für die Reform des Lichtspielwesens immer wieder auf. Es liegt auf der Hand, dass dabei der Bezug auf Fremdes, der sich als bildungstheoretisch paradigmatisches Moment erweisen wird (vgl. Kapitel 5), gar nicht erst gedacht wird.

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Trotzdem hatten die Kinoreformer eine wichtige Funktion: Sie „entdeckten“ den Film als bedeutsames Medium für die pädagogische Auseinandersetzung und bereiteten damit den Weg für weitere filmpädagogische Überlegungen. Mit der Forderung, die Reform des Kinos nicht der Privatindustrie zu überlassen, legten sie außerdem den Grundstein für staatliche Filmförderprogramme und damit für die Möglichkeit eines marktunabhängigen Filmschaffens. Aber die Kinoreformer haben eben auch vorgemacht, wie ein kulturkritischer Impetus zum Ausgangspunkt weit reichender (und gesellschaftlich als plausibel empfundener) „pädagogischer“ Überlegungen werden kann, obwohl eine Anbindung an die pädagogische Theorie völlig fehlt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass solche alltagsnahen Vorstellungen außerordentlich stabil sind, auch wenn sie durch pädagogische Forschung und Theorie nicht unbedingt gestützt werden. Auch heute wird nach Gewalttaten oder Amokläufen an Schulen häufig ein Verbot von bestimmten Filmen, Internetseiten oder „Ballerspielen“ gefordert, oder es wird mit der quantitativen Anzahl an Morden oder Leichen gegen bestimmte Filme oder Computerspiele argumentiert (wie es Walther Conradt schon 1910 getan hat). Und zwar ungeachtet empirischer Untersuchungen, die längst gezeigt haben, dass eine monokausale Wirkung medialer Gewaltdarstellungen auf die Gewaltbereitschaft Heranwachsender nicht nachgewiesen werden kann, und ungeachtet pädagogisch-theoretischer Überlegungen, die nahe legen, im Sinne der Gewaltprävention eher die häusliche und schulische Sozialisationssituation in den Blick zu nehmen und den Rezeptionsprozess konstruktiv zu begleiten, statt Verbote auszusprechen (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005). 2.1.2 Die Schulfilmbewegung Als Zeitspanne, in der die Schulfilmbewegung aktiv war und ihre „Initialund Pionierfunktion für zukünftige Entwicklungen“ (Hüther 2002b, S. 321) entfaltete, nennt Hüther (2002b) die Jahre 1919 bis 1933/ 1943. Auch Meyer (1978) sieht die Wende zur Schulfilmbewegung in den Jahren 1918/ 1919. Nach seiner Einschätzung wurde sie dadurch ausgelöst, dass staatliche Stellen zunehmend Interesse an Lehrfilmen zeigten. Meyer führt dies u.a. auf die im ersten Weltkrieg vorausgegangene „Entdeckung“ des Films als Propagandamedium zurück. Als Auftakt der Schulfilmbewegung wird

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häufig die Einrichtung der „Bildstelle beim Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht“ in Berlin im Frühjahr 1919 genannt (z.B. Ruprecht 1959), mit der der staatliche Zugriff auf Unterrichtsfilme institutionell etabliert wurde. In der Bildstelle wurden Filme für den Einsatz im Unterricht amtlich zertifiziert, und auch die Errichtung eines Schulfilmarchivs wurde von der Bildstelle vorbereitet (vgl. Meyer 1978). Der Leiter dieser Einrichtung, Felix Lampe, war einer der Protagonisten der Schulfilmbewegung und setzte sich für die Produktion von Lehrfilmen ein, die von der Berliner Bildstelle anschließend begutachtet und mit dem so genannten „Lampe-Schein“ für den Einsatz im Schulunterricht zertifiziert wurden (vgl. Hüther 2002b). Mit der Einrichtung der Berliner Bildstelle wurde erstmals von staatlicher Seite befürwortend und fördernd in die Entwicklung des Unterrichtsfilms eingegriffen – und darin lag die neue Qualität der Schulfilmbewegung. Im Gegensatz dazu hatten amtliche Verfügungen und Erlasse zur Zeit der Kinoreform ausschließlich die mit dem Kinobesuch für Schüler verbundenen Gefahren zum Thema (vgl. Ruprecht 1959, S. 67). Die Schulfilmbewegung wird in manchen Überblickstexten nicht explizit berücksichtigt (z.B. Hausmanninger 1993 und Kommer 1979) oder als zweite Phase der Kinoreformbewegung betrachtet (Ruprecht 1959) – ging es doch um die gezielte unterrichtliche Nutzung von Filmen, die (in Bezug auf Sachfilme) von den Kinoreformern bereits vorbereitet wurde. Ich nenne diese Bewegung hier gesondert, weil ihre Vertreter m.E. eine zusätzliche Perspektive in die Diskussion einbrachten, die in der Medienpädagogik bis heute Bedeutung hat: Nämlich die Frage nach didaktischen Konzepten für den systematischen Einsatz des Films als Lernmittel3 (vgl. Hüther 2002b). Hüther (2002b) weist darauf hin, dass die Kinoreformer mit ihrer Frage nach dem Lehrfilm zwar als Wegbereiter der Schulfilmbewegung gelten können, aber ihren Aktivitäten eine völlig andere Motivation und eine andere theoretische Ausrichtung zugrunde lag, als denen der Schulfilmbewegung: „Motor für die Aktivitäten der Kinoreformer war der Jugendmedienschutz, die Schulfilmer hingegen wurden von bildungsinnovativen Ambi-

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Die Auseinandersetzung mit dem Film als didaktischem Mittel ist in der Filmpädagogik nach wie vor sehr gegenwärtig (vgl. z.B. Ganguly 2007). Und auch in der Medienpädagogik insgesamt wird die Frage nach Medien als Lernmitteln oder „Lernwerkzeugen“ häufig gestellt – derzeit besonders in Bezug auf den Computer.

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tionen geleitet.“ (Hüther 2002b, S. 321)4 Die Schulfilmbewegung war vor allem eine didaktische Bewegung. Zwei Fragen standen für ihre Vertreter im Vordergrund: Die Frage nach einer didaktisch günstigen Gestaltung von Filmen – und damit der Bezug auf Produktion und Auswahl von Filmen – sowie die Frage nach der didaktisch sinnvollen Nutzung von Filmen, also der Bezug auf deren Einsatz. Im Rahmen der Schulfilmbewegung wurden diese Fragen sowohl auf pädagogisch-konzeptioneller Ebene, als auch auf organisatorisch-institutioneller Ebene bearbeitet, wobei die Effekte der Bewegung auf der zweiten Ebene deutlicher zu erkennen sind. Doch zunächst zur ersten Ebene: Ein zentrales Anliegen der Vertreter der Schulfilmbewegung war die Schaffung eines neuen Genres, nämlich des reinen Unterrichtsfilms, der möglichst eng an curricularen Vorgaben orientiert ist und deutlich von allen anderen Filmarten abgegrenzt werden kann (vgl. Terveen 1959, S. 13). Solche Unterrichtsfilme sollten ausschließlich der Stoffvermittlung dienen und zum Zweck des schulischen Einsatzes produziert werden. Die Merkmale von Unterrichtsfilmen beschreibt Terveen so: „Wesentlich war dem so geschaffenen Anschauungsmittel die rein sachliche Stoffvermittlung in wohlbemessenen, zeitlich genau auf die Schulstunde abgestimmten Dosen.“ (Terveen 1959, S. 13) Schon dieses Anliegen lässt deutlich den Impuls zur instrumentellen Nutzung des Films erkennen; zu seiner Indienstnahme für den Transport curricularer Inhalte. Diesem Interesse entsprechend verlagerte sich die pädagogische Auseinandersetzung mit dem Film im Zuge der Schulfilmbewegung auf didaktische Fragen. Das Vorgehen der Schulfilmer war von einer bildungstechnologischen Vorstellung geprägt: Wissen kann und soll vermittelt werden. Dabei sind effektive „Werkzeuge“ wie der Film willkommen, solange sie in planbarer und kontrollierbarer Weise dieser Sache dienen.

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Ich stimme Hüther darin zu, dass mit der Schulfilmbewegung zusätzliche Orientierungen in die Filmpädagogik eingebracht wurden, deren Wirkung heute noch sichtbar ist. Allerdings halte ich die theoretische Basis, auf der dies passiert ist (im Verhältnis zur Kinoreformbewegung) nicht für qualitativ neu, wie ich noch ausführen werde. Die Rezipienten wurden weiterhin als manipulierbar und der Film als wirkungsmächtig betrachtet – mit dem Unterschied, dass die Schulfilmer versuchten, den Film auf Basis dieser Einschätzung als effektives Werkzeug zum Erreichen ihrer Ziele einzusetzen.

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Den inhaltlichen Höhepunkt der Bewegung bildete die dritte internationale Lehrfilmkonferenz, die im Mai 1931 in Wien stattfand. Auf dieser Konferenz gab es einen ausführlichen Austausch über pädagogische und filmtheoretische Positionen, und in vielen Bereichen wurde ein gemeinsames Verständnis erarbeitet und verbindlich festgelegt. Den Ertrag der Konferenz kommentiert Ruprecht folgendermaßen: „Die meisten, mit dem Lehrfilm zusammenhängenden Begriffe, wurden neu überarbeitet und verbindlich festgelegt. Wesentliche Aussagen über psychologische, pädagogische sowie didaktisch-methodische Fragen wurden gemacht und in Richtlinien niedergelegt.“ (Ruprecht 1959, S. 96)

Der wichtigste Ertrag der Konferenz war die Festlegung von 16 Thesen zu didaktischen Anforderungen, denen ein Unterrichtsfilm entsprechen sollte (abgedruckt bei Terveen 1959, S. 171/ 172). Inhaltlich ging es vor allem darum, das Erreichen optimaler Lernergebnisse möglichst sicherzustellen, wie an folgenden Auszügen exemplarisch zu sehen ist: • • • • •



„Die Darstellung muß eine typische allgemeine Wahrheit (Anschauung, Erkenntnis) wissenschaftlich einwandfrei vermitteln.“ „Der Bildinhalt darf nicht überladen sein, sondern muß sich auf eine Lehrstoffeinheit (Sachgebiet) beschränken.“ „Der Bildinhalt, bzw. -vorgang soll keine Abzweigung vom Lehrgebiet enthalten.“ „Bei Stoffen, die sich an die freischaffende oder nachschaffende Phantasie wenden, darf eine Beeinträchtigung derselben nicht stattfinden.“ „Titel. – Am Beginn des Films soll nur der Haupttitel (rein sachlich) und allenfalls der Name des Bearbeiters erscheinen. Aufnahmetechniker, Regisseure, Darsteller und dgl. sind wegzulassen. Am Schlusse des Films kann allenfalls die Herkunftmarke erscheinen. (...).“ „Der Anschauungsfilm muß in knappster Form der Unterrichtseinheit entsprechen.“ (zit. nach Terveen 1959, S. 171/ 172)

Der Impuls, den Film so gewinnbringend wie möglich einzusetzen, und ihn dabei diesem didaktischen Anliegen rigoros unterzuordnen, wird sehr deutlich. Außerdem lassen die Thesen auf die Einschätzung schließen, die Wirkung eines Films sei vorhersagbar und damit für pädagogische Zusammen-

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hänge kalkulierbar – es sei z.B. möglich, Filme einzusetzen, die sich an die Phantasie richten, ohne diese zu „beeinträchtigen“. Der Film wird wie ein Werkzeug betrachtet, dessen Effekt sich problemlos kontrollieren lässt: Die Phantasietätigkeit kann mit Hilfe des Films „angeschaltet“ werden, ohne dass ihre Richtung oder ihr Inhalt von dieser Aktivierung berührt würden. Die Rezipienten werden dabei zu Objekten dieser Maßnahme. Zusätzlich sind filmtheoretische Annahmen zu erkennen, die bereits den Überlegungen der Kinoreformer zugrunde lagen. Z.B. die Annahme, der Film könne eine ihm vorgängige Wirklichkeit abbilden und „wissenschaftlich einwandfrei vermitteln“, und der Film diene dem Transport vorher bekannter und klar begrenzter und benennbarer Inhalte. Auch die Geringschätzung der künstlerischen Tätigkeit des Regisseurs (der nach Auffassung der Schulfilmer vorhandene Tatsachen nur abzubilden hatte) wird an der Forderung deutlich, auf die Nennung seines Namens zu verzichten. Neben diesen impliziten Stellungnahmen gab es auf der Wiener Konferenz auch einen der wenigen expliziten Versuche, filmtheoretische Überlegungen zu entwickeln. So wurde folgende Einteilung der Filmarten vorgenommen: •



I Bildungsfilme o Lehrfilme:  Forschungsfilme  Unterrichtsfilme  Anschauungsfilme  Erziehungsfilme o Künstlerische Filme o Sonstige Bildungsfilme II Filme ohne besonderen Bildungswert (Aus der Dokumentation der Wiener Lehrfilmkonferenz, zit. nach Terveen 1959, S. 170)

Dabei wurde ein Bildungsfilm übergeordnet als Film betrachtet, der geeignet ist, „eine wesentliche Bereicherung des Vorstellungslebens, der Erkenntnis, des Wissens oder des Gemütslebens zu bewirken“ (ebd., S. 171) und ein Lehrfilm als „Laufbildfolge, die einen einheitlichen Lehrinhalt in pädagogischer Form bietet“ (ebd.). Zu der für die Schulfilmbewegung zentralen Kategorie des Unterrichtsfilms hieß es: „Eine für den schulmäßigen Wis-

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sens- und Bildungserwerb geeignete Laufbildfolge, die einen deutlich begrenzten, dem Lehrplan entsprechenden Lehrinhalt bietet und nach didaktischen Gesichtspunkten aufgebaut ist.“ (ebd.) Die Bemühung um filmtheoretische Begriffe lässt zwar auf ein Bewusstsein über die Bedeutung des jeweiligen Filmverständnisses für die Entwicklung filmpädagogischer Konzepte schließen, es fällt aber auf, dass diese Auseinandersetzung ausschließlich vor dem Hintergrund pädagogischer Absichten unternommen wird und keinen Bezug zur filmtheoretischen Diskussion der Zeit aufweist. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die Filmkategorien 2, 3 und II im Rahmen der Konferenz nicht näher bestimmt wurden. Die Wiener Konferenz war von dem Wunsch getragen, eine einheitliche Linie der Filmpädagogik zu entwickeln und auch verbindlich festzulegen. Dieser Wunsch war zentral für die gesamte Schulfilmbewegung und bezog sich nicht nur auf die Definition von Begriffen oder die Beschreibung didaktischer Vorgehensweisen, sondern auch auf inhaltliche und normative Orientierungen und zwar – ähnlich wie bei den Kinoreformern – mit dem Ziel, gesellschaftliche Werte zu vermitteln und zu sichern. So schreibt der Schweizer Filmpädagoge Gottlieb Imhof in der Zeitschrift „Bildwart“: „Was vor allem not tut, ist eine strenge, sachliche Kritik, und wenn wir in diesem kritischen Sinne die verschiedenen Schulstufen und Schulfächer durchgehen, so werden wir wohl mit der Zeit zu einem Standardlehrfilmplan kommen, der (...) einen bestimmten Stock von Lehrfilmen umfaßt, der in Auswahl und Aufbau der Ausdruck eines gemeinsamen europäischen Kulturgutes darstellt; das eben darum, weil es der Ausdruck der Volksseele ist, das gegenseitige Verständnis der Völker Europas erleichtern wird.“ (Der Bildwart, Heft 8, August 1927, zit. nach Terveen 1959, S. 151)

Was hier außerdem anklingt, ist das Interesse an einem verbindlichen Filmkanon für den pädagogischen Einsatz, das auch in jüngster Zeit wieder geäußert wird (im Jahr 2005 wurde ein Vorschlag für einen solchen Filmkanon daraufhin von Alfred Holighaus herausgegeben – vgl. Holighaus 2005). Die Umsetzung einer einheitlichen Linie der Filmpädagogik wurde auch im institutionellen Bereich angestrebt, und damit komme ich zu der oben bereits erwähnten zweiten Ebene, auf der die Schulfilmbewegung

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nachhaltige Effekte hatte, nämlich der Ebene organisatorischer und institutioneller Entwicklungen. In diese Richtung weist bereits die Einrichtung der Berliner Bildstelle, mit der die Schulfilmbewegung ihren Ausgang nahm. Bei der Arbeit der Bildstelle ging es um die Begutachtung, die Produktion und den Verleih von Unterrichtsfilmen. Ziel war die Einrichtung eines bundesweiten Bildstellenwesens, die 1924 durch den Zusammenschluss des „Bildspielbunds“ und des „Bilderbühnenbunds deutscher Städte zum „Bildspielbund deutscher Städte“ erheblichen Auftrieb gewann. Die so entstandene große Schulfilmvereinigung verfügte über ein umfassendes Filmarchiv, aus dem interessierte Bildungseinrichtungen gegen Gebühr Filme entleihen konnten (vgl. Ruprecht 1959, S. 83). Vor allem hatte der „Bildspielbund deutscher Städte“ etliche Landesverbände, die eng mit den jeweiligen Landesbildstellen zusammenarbeiteten. Auf diese Weise entstand das Landesbildstellenwesen, das bis heute Bestand hat. Neben der Einrichtung von Institutionen, die Filme zertifizieren und zum Verleih bereitstellen konnten, war ein weiterer Schwerpunkt die Bearbeitung von technischen Fragen, z.B. die Bereitstellung von Projektoren, die Fortbildung von Lehrern für die Handhabung der Technik, sowie die Reduktion von Risiken in Anbetracht der leicht entflammbaren 35mm Filme. Diese Fragen können als weitere Auseinandersetzungsschwerpunkte der Bewegung angesehen werden und rückten zeitweise stärker in den Fokus als erziehungswissenschaftliche Fragen. Auch Ruprecht, der die Verdienste der Schulfilmbewegung als weit reichend einschätzt, stellt fest: „Die Bedeutung, die in jenen Tagen den technischen Fragen eingeräumt wurde, darf als übertrieben angesehen werden.“ (Ruprecht 1959, S. 86) Doch gerade die Beschäftigung mit diesen Problemen führte zu nachhaltigen Ergebnissen wie der allmählichen Verbreitung des 16mm Formats und der Produktion sicherer und einfach zu bedienender Vorführgeräte. Fazit: Zu meiner ersten Leitfrage lässt sich sagen, dass das vorrangige Ziel von Filmpädagogik in der effizienten Stoffvermittlung gesehen wurde. Filmpädagogische Überlegungen waren zur Zeit der Schulfilmbewegung vor allem filmdidaktische Überlegungen, die auf die optimale Nutzung des Films im Unterricht zielten. Dieser Ausrichtung lag die Annahme zugrunde, das Medium Film biete zusätzliche Möglichkeiten zum Transport von Informationen, die nicht ungenutzt bleiben sollten. Solche Potenziale sahen die Schulfilmer nicht nur in der Darstellung von Dingen, die der direkten Anschauung im Unterricht anderenfalls nicht zugänglich gewesen wären

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(Landschaften, Tiere, Verkehrsmittel, Naturereignisse...), sondern vor allem in der großen Faszination, die das neue Medium auf die Kinder ausübte, und die nach Einschätzung der Schulfilmer zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit im Filmunterricht führte. Ausgangspunkt didaktischer Überlegungen waren also wiederum weit reichende Wirkungsannahmen, die von den Schulfilmern – wesentlich technikoptimistischer als bei den Kinoreformern – zum Ausgangspunkt für die Entwicklung pädagogischer Konzepte gemacht wurden. Die Grundannahmen zur Filmwirkung und zur Beeinflussbarkeit der Rezipienten waren denen der Kinoreformer ähnlich, aber die Schulfilmer hatten keine Bedenken, die angenommenen Filmwirkungen für ihre Zwecke einzusetzen. Die Rezipienten wurden dabei als Objekte filmpädagogischer Maßnahmen gedacht. Schorb macht darauf aufmerksam, dass dies Prämissen waren, die es ermöglichten, „die Schulfilmpädagogik nahtlos in der Pädagogik des NS-Staates aufgehen zu lassen“ (Schorb 1995, S. 25), bei der es ausschließlich darum ging, „flächendeckend gleiche erwünschte Inhalte zu oktroyieren“ (Schorb 1995, S. 28)5. Das Ziel der effektiven Informationsvermittlung im Schulunterricht stand bei den meisten filmpädagogischen Überlegungen im Vordergrund. Konzepte wie das der Erziehung oder das der Bildung wurden (gemessen am Profil der Gesamtbewegung) nur am Rande thematisiert. Insofern betrieben auch die Vertreter der Schulfilmbewegung keine Theorieentwicklung von der Pädagogik aus. Es fand kaum eine Erarbeitung pädagogischer Zielvorstellungen und Konzepte statt, deren Grundlage die Anknüpfung an erziehungswissenschaftliche Theorie gewesen wäre. Und dies wäre zur Zeit der Weimarer Republik durchaus nicht abwegig gewesen, denn gerade in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg gab es einen Aufschwung pädagogischer Theoriebildung. Neben reformpädagogische Überlegungen traten Konzepte aus den Bereichen der Kunsterziehungsbewegung und der Jugendbewegung (vgl. Ruprecht 1959, S. 63). Zentral war der Lebensbegriff und besonders in den Arbeitsschulen wurde die Auffassung vertreten, dass die Ermöglichung eines „bildenden Lebens“ im Dienste der Persönlichkeitsbildung stehe (vgl. ebd.). Zentrale Forderungen waren die nach Selbsttätigkeit und Erlebnismöglichkeiten. In diesem Zusammenhang wurde Dil-

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Und es kann ergänzt werden, dass die Schulfilmer mit der Einrichtung eines staatlichen Bildstellenwesens dazu auch auf institutioneller Ebene den Weg bereitet haben.

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theys – bereits vor der Wende zum 20. Jahrhundert entwickelte – Vorstellung vom Bildungsprozess als Dreischritt aus Erleben, Ausdruck und Verstehen aufgegriffen. Sie diente als Grundstein für die Entwicklung einer „Erlebnisdidaktik“ (vgl. Ruprecht 1959, S. 66). Auch wenn Ruprecht (1959) anmerkt, dass Diltheys Schüler Nohl, Litt und Spranger, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erheblich an pädagogischem Einfluss gewannen, den Schulfilm befürworteten, so muss doch festgestellt werden, dass die erwähnten pädagogischen Konzepte kaum systematisch für die Entwicklung einer Pädagogik des Films aufgegriffen wurden, obwohl die Möglichkeiten dazu auf der Hand gelegen hätten. Es gab zwar Ausnahmen, diese haben aber keine so große Bedeutung erlangt, dass sie sich auf die grundlegende Ausrichtung der Schulfilmbewegung ausgewirkt hätten. Ein Beispiel ist die Arbeit Hanns Belstlers, der sich bemühte, die Qualität des Films und seiner Rezeption vor dem Hintergrund der damaligen pädagogischen Diskussion näher zu bestimmen. So betont er den Erlebnischarakter der Filmrezeption (vgl. Ruprecht 1959, S. 105 ff) und fordert die „innigste und persönlichste Inbeziehungsetzung des kindlichen Ichs mit dem Stoff“ (Ruprecht 1959, S. 106). Allerdings ebenfalls in instrumenteller Absicht: Er erhofft sich vom Filmeinsatz die Möglichkeit, schöpferische Ausdrucksmöglichkeiten beim Kind freizusetzen, wobei die Kriterien, nach denen ein solcher Ausdruck als gelungen oder misslungen betrachtet wurde von vornherein feststanden – es ging um die möglichst kompetente Nutzung vorhandener Kulturtechniken bei gleichzeitig möglichst vollständiger und treffender Wiedergabe von Filminhalten (vgl. Belstlers Belege für den Erfolg seiner Arbeit, nach Ruprecht 1959, S. 107). Trotzdem liegt die Besonderheit und die Qualität von Belstlers Beitrag darin, dass er die Aktivität seiner Schüler in den Blick nimmt und sie nicht als passiv dem Film ausgesetzt betrachtet, und dass er versucht, ein umfassenderes Konzept der Film-Bildung als „Kräfte-Bildung“ zu entwickeln. Ähnlich äußert sich Franz Brunner, der eng mit Belstler zusammenarbeitete: „Der Film (...) muß unter größtmöglicher Selbsttätigkeit der Kinder vom Lehrer zum Mittelpunkt wirklichen Lebens und Erlebens gestaltet werden.“ (Brunner 1922/ 23, zit. nach Terveen 1959, S. 108). Schorb weist allerdings darauf hin, dass solche pädagogisch interessanten Bemühungen, den Rezipienten als handlungsfähig und die Rezeption als aktiv zu betrachten, „regional und temporär“ blieben (Schorb 1995, S. 25), also nicht ausreichen,

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meine Annahme der unzureichenden erziehungswissenschaftlichen Fundierung und Differenzierung filmpädagogischer Überlegungen zu entkräften. Zusätzlich kann festgehalten werden, dass die Schulfilmbewegung in Bezug auf ihre Gesamtausrichtung keine originär pädagogische Bewegung war, sondern eher eine technologische, die sich vor allem auf organisatorische und strukturelle Fragen wie die nach der Einrichtung von Distributionswegen bezog. Ein Schwerpunkt der Bewegung lag in der Einrichtung eines Verleihwesens und in der Bearbeitung der damit verbundenen technischen und organisatorischen Fragen. Auch in Bezug auf meine zweite Leitfrage komme ich zu dem Fazit, dass eine systematische Anbindung an die filmtheoretische Diskussion der damaligen Zeit nicht vorgenommen wurde. Wie zur Zeit der Kinoreform lagen den filmpädagogischen Bemühungen weit reichende Wirkungsannahmen in Bezug auf den Film zugrunde. Als zentrale Eigenschaft des Films wurde weiterhin die Abbildungsfunktion gesehen, die den Transport von Inhalten ermöglichte. Allerdings gab es erste Ansätze zur Erweiterung dieses Verständnisses, z.B. durch die Einführung der Kategorie „Forschungsfilm“ – „[e]ine[r] zur Gewinnung neuer Erkenntnisse durch wissenschaftliche Auswertung bestimmte[n] Laufbildfolge.“ (Aus der Dokumentation der Wiener Lehrfilmkonferenz, zit. nach Terveen 1959, S. 171) Der Maßstab für die Einschätzung der spezifischen Qualität des Films war allerdings immer die angenommene Nützlichkeit für das eigene didaktische Vorhaben und nicht die jeweils „filmische“ Besonderheit. So spielten bei der Kategorisierung der Filmarten weder Ästhetik noch Filmsprache oder Erzählweise eine Rolle (es wird z.B. explizit darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein einer Spielhandlung für die Unterscheidung von Lehrfilm und Unterhaltungsfilm nicht bedeutsam ist (vgl. ebd.)), und die Filmtypologie wurde ausschließlich „von der Pädagogik aus“ entwickelt. Letzteres ist zwar eine Erweiterung im Vergleich zum kinoreformerischen Filmverständnis (zumal auch die grundsätzliche Möglichkeit der Produktion von „Kunstfilmen“ zugestanden wurde), kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle filmtheoretischen Überlegungen ausschließlich in didaktischer Absicht angestellt wurden und nicht beim Medium Film als Film ihren Ausgang nahmen.

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2.1.3 Die Filmerziehung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts In den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts etablierte sich die filmpädagogische Blickrichtung der Filmerziehung. Zu den ProtagonistInnen dieser Bewegung zählten die Münchener Psychologen Martin und Margarete Keilhacker. Sie gaben der pädagogischen Diskussion um den Film neue Impulse, indem sie das Filmerleben der Heranwachsenden in den Blick nahmen und sich erstmals auch dafür interessierten, was die Kinder und Jugendlichen mit den Filmen machen (und nicht nur die Filme mit den Kindern und Jugendlichen). Sie betrachteten die Heranwachsenden den Filmen gegenüber als aktiv und sahen den Prozess der Filmrezeption als Wechselwirkung zwischen Film und Zuschauer (Keilhacker/ Keilhacker 1953, S. 13f). Sie differenzierten damit die bis dahin vorherrschenden Wirkungsannahmen und bereiteten einer „subjektorientierten Filmpädagogik“ den Weg, wie sie heute verbreitet ist (und z.B. von Maurer (2006a) ausgearbeitet wird). Martin und Margarete Keilhacker legten den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Durchführung empirischer Untersuchungen zum Filmerleben Heranwachsender. Sie nahmen während zahlreicher Filmvorführungen Beobachtungen von Kindern und Jugendlichen vor, die sie ausdruckspsychologisch auswerteten (vgl. Keilhacker/ Keilhacker 1953). Ergebnis ist die Beschreibung unterschiedlicher Grade der Beteiligung am Filmgeschehen, an die die Autoren mit pädagogischen Überlegungen anknüpfen. Sie sehen in dieser Beteiligung Chancen und auch Risiken. Beides ergibt sich daraus, dass Filme bei Heranwachsenden sehr beliebt sind, und nach Auffassung von Keilhacker/ Keilhacker (1953) vor allem dann mit einem starken Effekt der Filmrezeption zu rechnen ist, wenn die Filminhalte etwas mit Fragen, Problemen und Entwicklungssituation der RezipientInnen zu tun haben. Vor diesem Hintergrund machen die AutorInnen ihre filmpädagogischen Absichten konkreter deutlich: Sie denken den Film als möglichen Verbündeten, der dann eingesetzt werden sollte, wenn er die Absichten des Filmpädagogen „verdoppelt“: „Neben der Vermittlung von Wissen liegt der eigentlich erzieherische Wert des Films in erster Linie im positiven Vorbild, weiterhin in der Möglichkeit, die er dem Zuschauer bietet, im Mitleben mit den dargestellten Ereignissen die eigenen seeli-

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schen Kräfte einzusetzen, dadurch zu entfalten und zu vervollkommnen“ (Keilhacker/ Keilhacker 1953, S.83).

Inhaltlich vertreten die Autoren dabei eine sehr konservative Auffassung. Und auch die für die filmpädagogische Diskussion neue und auf den ersten Blick innovative Berücksichtigung der Persönlichkeit des Rezipienten ändert nichts daran, dass die grundsätzliche Haltung der Keilhackers deutlich moralisierende und normensetzende Anklänge hat. Im Film sollten nach Keilhacker/ Keilhacker (1953) Werte und Vorbilder vermittelt werden, die der Filmpädagoge für erstrebenswert hält. Das Neue und Unbekannte oder eine ergebnisoffene Auseinandersetzung mit einem uneindeutigen filmischen Angebot sind dabei nicht willkommen: „Es ist vielleicht für den blasierten Erwachsenen notwendig, immer etwas Neues, noch nie Dagewesenes zu bringen, für den Jugendlichen jedenfalls spricht das Bekannte oft eine mindestens ebenso eindrucksvolle Sprache wie das Fremde, auch das Exaltierte und Ungewöhnliche, das der Film häufig seinen Zuschauern schuldig zu sein glaubt.“ (Keilhacker/ Keilhacker 1953, S.86, Herv.i.O.)

Diese Haltung versuchen die AutorInnen mit ihren Forschungsergebnissen zu stützen, denn im Rahmen ihrer ausdruckspsychologischen Untersuchungen machten sie die Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche das Bekannte dem Unbekannten häufig vorziehen. So heißt es zur Auswertung des empirischen Materials: „Als äußeres Zeichen dieser Einstellung war es uns sehr aufschlußreich, daß in verschiedenen Filmen, in denen erst Tiere aus fremden Erdteilen gezeigt worden waren, die dann anschließend auftretenden Hirsche und Rehe, die einheimischen Freunde, ganz besonders bejubelt wurden“. (Keilhacker/ Keilhacker 1953, S. 86)

Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass diese Argumentation nicht besonders konsequent ist, weil die AutorInnen ihre erzieherischen Vorstellungen sonst auch nicht über den Zuspruch der Zielgruppe legitimieren. Sie entwickeln vielmehr ein steuerungsorientiertes Konzept von Filmpädagogik, das sie nötigenfalls auch gegen den Jubel der Heranwachsenden befürworten. Die konstatierte Wechselseitigkeit des Rezeptionsprozesses ist lediglich Ausgangspunkt eines pädagogisch Prozesses, der auf den zweiten

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Blick eher einseitig erscheint, und im Rahmen dessen der Filmpädagoge den Heranwachsenden seine bereits vorher festgelegten Absichten unterschiebt. Hausmanninger spricht deshalb auch von einer „pseudoautonome[n] Befähigungsethik“ (Hausmanninger 1993, S. 340), deren Ziel nur scheinbar die Förderung von Eigenständigkeit ist. Haltungen, die in diesem Prozess vermittelt werden sollen, sind z.B. „Härte gegen sich selbst statt gegen den Feind“ (Keilhacker/ Keilhacker 1953, S. 85), „faire Haltung im Wettkampf“ (ebd.) oder „männlicher Mut und Einsatz für eine gute Sache“ (ebd.). Solche „guten Sachen“ sind der Erhalt gesellschaftlicher Werte und Normen und gesellschaftlicher Institutionen wie der Ehe. Und diese werden zum inhaltlichen Kriterium für die Beurteilung von Filmen: „Sicherlich kann kein Film bereits völlig zerstörte menschliche Bindungen wieder herstellen. Aber es ist ein entscheidender Unterschied, ob der Film es darauf absieht, seine Zuschauer durch die Schilderung eines zerrütteten Ehe- und Familienlebens zu unterhalten, und zwar in den verschiedensten möglichen Arten und Abarten und mit einer selbstverständlichen Hinnahme dieser Tatsachen, oder ob vor den Augen des jungen Menschen die ganze schützende Kraft der Familie ausgebreitet und erhellt, der Sinn für ihre Werte wach gehalten, die Achtung vor ihren Gesetzen gestärkt wird“. (Keilhacker/ Keilhacker 1953, S. 87)

Uneindeutige Darstellungen – z.B. solche, in denen Kinder als Retter der Welt auftreten und die Erwachsenen sich ungeschickt oder unklug verhalten – lehnen Keilhacker/ Keilhacker (1953) ab, da solche Wertverschiebungen nach Auffassung der AutorInnen gerade in der Vorpubertät für Verwirrung sorgen können (Keilhacker/ Keilhacker 1953, S.91). Mehrdeutigkeit, Kontingenz oder Unsicherheit werden grundsätzlich als riskant bewertet – eine Einstellung, die Hausmanninger als „kontramodern“ (Hausmanninger 1993, S. 295) betrachtet. Insgesamt gibt es bei den Keilhackers kein spezifisch „filmisches“ Moment der Filmpädagogik. Der Film wird primär über seine Inhalte bestimmt, und in einem instrumentellen Interesse zum Erreichen filmunabhängiger Ziele eingesetzt. Und auch pädagogische Begriffe werden nicht theoriegeleitet eingeführt – überraschenderweise nicht einmal der Begriff der Erziehung, der immerhin als „Überschrift“ dieser Phase der Filmpädagogik dient.

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Das stellt Erich Wasem ebenfalls fest: „Woran es in der Fachliteratur u.a. noch fehlt, (...) [ist] eine besondere Unterrichtsund Erziehungslehre in bezug auf das Spielfilmerleben und die Zusammenfassung von Musteranalysen und praktischen Beispielen einer Spielfilmpädagogik in Klasse und Jugendgruppe“ (Wasem 1957, S.14).

Und auch Ludwig Kerstiens beklagt das Fehlen „eine[r] eigentliche[n] Filmpädagogik, eine[r] Lehre von der Filmerziehung“ (Kerstiens 1961, S.3). Wie Kerstiens bilanziert, geht es in vorhandenen Veröffentlichungen eher um filmpsychologische Überlegungen (z.B. Stückrath/ Schottmayer 1955) oder um praktische Anregungen für die erzieherische Arbeit, die aber einer systematischen Betrachtung in Hinblick auf die Frage nach Erziehung entbehren. Einen Versuch zur theoretischen Fundierung filmerzieherischer Bemühungen unternimmt Kerstiens (1961). Er ist der Auffassung, dass Praxis und Theorie der Filmerziehung vor dem Hintergrund allgemeiner erzieherischer Überlegungen entwickelt werden sollten (Kerstiens 1961, S.4). Daher setzt er sich zunächst mit dem Begriff der Erziehung auseinander und bietet folgende Definition an: „Erziehung ist die Hilfe, die dem Menschen geleistet wird, damit er in Zukunft in selbstverantworteten Akten der Welt und den Mitmenschen bestmöglich gerecht wird und sich darin verwirklicht“ (Kerstiens 1961, S.10). Kerstiens weist darauf hin, dass Umwelteinflüsse ebenfalls eine prägende Wirkung auf die Heranwachsenden haben und der Einfluss bewusster Erziehungsakte begrenzt ist. Er unterscheidet daher intentionale und funktionale Erziehung und formuliert den Gedanken, dass der Bereich der Filmerziehung sich dem intentionalen Zugriff entziehe, da Filme als Teil der Umwelt unkontrollierbare Miterzieher seien (Kerstiens 1961, S.10). Als pädagogische Handlungsoption sieht Kerstiens die Möglichkeit, Teile der Umwelt so zu manipulieren, dass sie den Zögling in der gewünschten Weise beeinflussen: „Wenn in dieser Situation Hilfe geleistet werden soll, um es dem Menschen zu ermöglichen, sich in der rechten Wesens-Antwort zu erfüllen, dann muß in erster Linie dafür gesorgt werden, daß die Umwelt in rechter Weise geordnet wird, so daß ihr Einfluß den Menschen nicht überfordert“ (Kerstiens 1961, S.11/12).

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Da diese Art der Einflussnahme Grenzen hat, muss der Zögling gleichzeitig gegen die Umwelt gestärkt werden: „Da die Verführungen nicht ausgeschaltet werden können, muß man dem Menschen helfen, die rechten Maßstäbe im Bewußtsein fest zu verankern, den Willen auch gegen andere Antriebe zu festigen und so auch gegen Gefahren gefeit zu werden“ (Kerstiens 1961, S.13). „Wer dem, was ihm begegnet, hilflos ausgeliefert ist, wer von einem Film mitgerissen wird, ohne ihn urteilend einordnen zu können, ist in diesem Bereich noch nicht selbständig“ (Kerstiens 1961, S.14).

Aus seinen Überlegungen zum Erziehungsbegriff leitet Kerstiens zwei Ziele von Filmerziehung ab: Erstens soll der Heranwachsende dabei unterstützt und begleitet werden, sich konstruktiv mit geeigneten Filmen auseinanderzusetzen. Zweitens soll er vor Gefahren beschützt, bzw. gegen Gefahren gestärkt werden, die der Film mit sich bringt. Der Erzieher scheint dabei in Kerstiens Vorstellung stets einen Wissensvorsprung zu haben und beurteilen zu können, was dem Heranwachsenden gut tut: „Der Jugendliche wird von dem ferngehalten, was er nicht verarbeiten kann, was ihn zu sehr belastet; er wird dorthin geführt, wo er neue Erfahrungen sammeln und seine Fähigkeiten entfalten kann. Im Gespräch, der Belehrung, der Auswertung der Filme, in Gebot und Verbot wird dem Jugendlichen das bewußt gemacht, was er aus den Filmen gewinnen kann oder was er braucht, um sich zu bewähren.“ (Kerstiens 1961, S.16)

Die neuen Erfahrungen, die der Erzieher ermöglichen soll, sind also stets nur für den Zögling neu. Der Erzieher kennt das Feld möglicher Erfahrungen und wählt aus diesem Ausschnitte aus, die er dem Zögling zugänglich macht6. Der Film wird in dieser Sichtweise zum Werkzeug, dessen sich der Erzieher zur Umsetzung seiner Absichten bemächtigen kann. Jede Eigendynamik oder Interpretationsoffenheit wird dem Film abgesprochen.

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Am Schluss dieser Arbeit werde ich eine umgekehrte Vorgehensweise vorschlagen (vgl. Kapitel 9), bei der es darum geht, Filme auszuwählen, die sich dem erkennenden Zugriff tendenziell entziehen, und sich gemeinsam mit den Heranwachsenden auf eine Zugangsweise einzulassen, die sich pädagogisch nicht kontrollieren lässt und deren Ergebnis für alle Beteiligten offen ist.

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Als weiteres Erziehungsziel nennt Kerstiens den wertenden Umgang mit dem Film: „An der Vielfalt der Filmhandlungen, die noch differenzierter sind als das, was uns im täglichen Leben begegnet, an diesem Übungsobjekt die Welt des Menschen wertend kennenzulernen, das scheint mir die Mitte aller Filmerziehung, da es hier um das Wesen unseres Menschseins geht.“ (Kerstiens 1961, S.35)

Neben der pädagogischen Forderung, die mit einem Distanzierungsimpuls verbunden ist (ein „wertendes Kennen lernen“ kann kein offenes SichEinlassen sein), wird hier auch Kerstiens’ Filmverständnis deutlich: Er betrachtet den Film in einer instrumentellen Perspektive als „Übungsobjekt“ und nicht als eigenständige Kunstform. Es muss Ludwig Kerstiens allerdings zugute gehalten werden, dass er als einer der wenigen Vertreter der Filmerziehungsbewegung den Versuch unternommen hat, Anschlüsse zu vorhandenen Theoriebeständen herzustellen. So geht er auch auf die Frage nach Bildungsprozessen im Zusammenhang mit Filmen ein (Kerstiens 1961, S.46/47). Dabei hält er Klafkis Theorie der kategorialen Bildung für hilfreich. Er deutet an, dass am Film grundsätzliche Einsichten und Fähigkeiten gewonnen werden können, die auch in anderen Lebensbereichen nützlich sind. „Indem der Mensch grundlegende Vorstellungen gewinnt und Verhaltensformen erlebt, wird ihm die Möglichkeit gegeben, die Welt tiefer zu verstehen und ihr handelnd besser gerecht zu werden.“ (Kerstiens 1961, S.46) Allerdings wird hier weder Klafkis Theorie genauer eingeführt, noch deren mögliche Verknüpfung mit dem Filmerlebnis näher betrachtet. „Es bedürfte einer eigenen Untersuchung psychologischer und didaktischer Art, festzustellen, wieweit der Film im Sinne der kategorialen Bildung wirksam sein kann.“ (Kerstiens 1961, S. 46) Dieses Zitat verrät, dass Kerstiens eher von einer Wirkung des Films, als von einem aktiven Verarbeitungsprozess beim Rezipienten ausgeht. Trotzdem spricht er verschiedene Bereiche an, die er in Bezug auf ihr Potenzial für kategoriale Bildung überprüft. Die Darstellung erfolgt dabei allerdings vor allem mit Blick auf die Grenzen der Bildung am Film. Zur Kategorie des Sehens weist Kerstiens beispielsweise darauf hin, dass der Film wirkliches Hinsehen verhindern könne, da die schnelle Bildfolge den Zuschauer überfordere und die Beschäftigung mit einzelnen Bildern erschwere (Kerstiens 1961, S. 47/ 48). Pädagogisch empfehlenswert sei daher die grund-

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sätzliche Übung des Sehens: „Besonders aber muß vor allen Filmbesuchen und außerhalb des Filmes der Jugendliche immer wieder angehalten werden, die unscheinbaren Dinge zu entdecken und sich ihnen betrachtend hinzugeben.“ (Kerstiens 1961, S. 48, Herv.i.O.) Hier wird deutlich, dass es nicht so sehr um Bildung mit dem Film geht, sondern eher um Bildung gegen den Film oder trotz des Films. Insgesamt werden die Gefahren, die der Film mit sich bringt, als hoch eingeschätzt. Eine Filmerziehung, im Rahmen derer die Heranwachsenden ein kritisches und distanziertes Verhältnis dem Film gegenüber entwickeln, wird als notwendig erachtet und auch dann befürwortet, wenn dadurch das Filmerleben beeinträchtigt oder verhindert wird. „Man mag eine solche distanzierte Zuschauerhaltung vielleicht als Zersetzung des unmittelbaren Filmerlebnisses ansehen, sie bleibt doch ein Ziel unserer Filmerziehung. Es ist nämlich wichtiger, richtig werten zu lernen und die Welt unter gültigen Maßstäben zu sehen als einen Film ‚unmittelbar‘ zu erleben“ (Kerstiens 1961, S.73).

In diesem Zusammenhang findet auch eine grundsätzliche Abwertung des filmischen Erlebens gegenüber dem „echten“ Erleben statt. Film wird nicht als andere Wirklichkeit gesehen, sondern bestenfalls als Impuls zur direkten Begegnung mit der „eigentlichen“ Wirklichkeit (Kerstiens 1961, S. 25): So könnte ein Heimatfilm Kerstiens zufolge z.B. als Anregung zum Wandern verstanden werden (ebd.). Da es stets darum geht, das „echte“ Erleben gegen die Einflüsse des Films zu kultivieren, wird die Aufgabe der Filmpädagogik in einer „Dammverstärkung“ gegenüber dem Film gesehen. Als methodischen Zugang schlägt Tröger dafür Filmgespräche vor, die mit dem Ziel der „Desillusionierung“ (Tröger 1963, S. 162) geführt werden. Kerstiens führt das folgendermaßen aus: „Sie [die Jugendlichen, H.W.] müssen sich bewußt sein, daß die Bewohner der Südseeinseln nicht nur Feste feiern, sie müssen daran denken, daß die Landschaft stets so dargestellt wird, wie sie für die Filmhandlung paßt; sie sollen wissen, daß der Sprung vom Wolkenkratzer höchstens einen Meter in die Tiefe geht.“7 (Kerstiens

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Diese Art der Aufdeckung filmischer Tricks ist in pädagogischen Materialien nach wie vor beliebt. In einem von der Stiftung Lesen herausgegebenen Ar-

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1961, S.26) Zusammenfassend klingt das so: „Zunächst einmal gilt es, den Film als gemachtes Bildwerk zu enthüllen.“ (Kerstiens 1961, S.40)

Fazit: Mit Blick auf meine erste Fragerichtung lässt sich bilanzieren, dass – ähnlich wie bei den Kinoreformern – ein film- bzw. kulturkritischer Impuls Ausgangspunkt für die pädagogischen Überlegungen der Filmerzieher ist. Es geht darum, die Heranwachsenden gegen das eher suspekte Medium Film zu stärken, wie Wasem prägnant zusammenfasst: „[S]o richtet sich eine weitere Hauptfrage darauf, was wir tun können, damit der Jugendliche dem Phänomen Film Herr werden kann und nicht von ihm beherrscht wird“ (Wasem 1957, S. 92). Auffällig ist außerdem, dass es etliche, teilweise auch sehr umfangreiche Schriften zur Filmerziehung gibt, in denen ausführliche pädagogische Überlegungen angestellt werden, dass es aber keinen Filmerzieher gibt, der erziehungswissenschaftliche Diskussionsbestände systematisch aufgreift. Die Ausarbeitung eines pädagogisch-theoretischen Fundaments der Filmerziehung wird zwar immer wieder als Desiderat formuliert, aber keiner der Autoren betrachtet seine eigenen Schriften als richtigen Ort für solche Überlegungen. Beispielhaft dafür ist ein Satz von Erich Wasem, der es als erstrebenswert erachtet, die Filmpädagogik als Bestandteil einer allgemeinen Pädagogik zu begründen: „Die Filmpädagogik ist ein Bestandteil der allgemeinen Pädagogik, deren Grundsätze hier nicht erörtert werden können.“ (Wasem 1957, S. 98) Eine systematische Anknüpfung an die erziehungswissenschaftliche Diskussion findet nicht statt. Gleichzeitig wird ein eher einseitiges und steuerungsorientiertes Verständnis von Pädagogik eingeführt, das zur Zeit der Filmerzieher durchaus nicht alternativlos gewesen wäre: Im Zusammenhang mit reformpädagogischen Überlegungen waren bereits etliche Vorschläge für eine Pädagogik „vom Kinde aus“ gemacht worden, es gab Versuche, diese Blickrichtung bei Gründung von Schulen und Kindergärten aufzugreifen – z.B. von Maria Montessori, von Rudolf Steiner oder von Alexander S. Neill (für einen Überblick vgl. Scheuerl

beitsheft zu dem Film „Sams in Gefahr“ wird beispielsweise anhand verschiedener Fotos von den Dreharbeiten gezeigt, wie das Dach, auf dem Herr Taschenbier in einer Szene scheinbar wagemutig und gefährdet balanciert, sich gar nicht auf dem zugehörigen Haus befindet, sondern als gefahrlos besteigbare Attrappe auf einer Wiese steht (Stiftung Lesen 2003, S. 10).

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1997), und der Philosoph Martin Buber hatte eine dialogorientierte Einstellung zum Anderen als Voraussetzung für einen gelingenden pädagogischen Umgang benannt (Buber 1947). Inhaltlicher Impetus filmpädagogischer Bemühungen der Filmerzieher ist eine konservative Haltung, die auf die Bestätigung vorhandener Werte und der vorhandenen gesellschaftlichen Situation zielt. Markant ist zudem der durchgängige Versuch, filmunspezifische Elemente in der Absicht hervorzuheben, dass filmspezifische Effekte nicht zur Geltung kommen. Dem Film wird also konsequent mit einer Pädagogik begegnet, die sich „gegen ihn wendet“ (Hausmanninger 1993, S. 367). Damit komme ich zu meiner zweiten Fragerichtung; der Frage nach der Vorstellung vom Film, die den filmpädagogischen Überlegungen jeweils zugrunde liegt. Der Film wird von den Filmerziehern nicht als eigenständige Ausdrucksform gesehen und gewürdigt, sondern er wird vor allem in Bezug auf seine inhaltlichen Gehalte betrachtet. Alles „Filmische“, wie z.B. der plastische bildliche Ausdruck, wird eher als Bedrohung empfunden, die durch eine Übersetzung ins „Unfilmische“ aufgehoben werden muss und kann. Vor diesem Hintergrund wird es auch nicht als erforderlich erachtet, eigene Maßstäbe der Filmbetrachtung zu entwickeln: „Der Film ist ein Objekt in meiner Erlebniswelt; er begegnet mir darin wie alles andere und ist ebenso den Maßstäben unterworfen.“ (Kerstiens 1961, S.72) Für die Filmerzieher liegen diese Maßstäbe in gesellschaftlichen Werten, die es zu erhalten gilt: „Was in unserem Kulturkreis allgemein als gut oder schlecht erachtet wird, darf im Film nicht verkehrt sein.“ (Wasem 1957, S.73) Aber auch wenn der Film diesen Maßstäben entspricht, bleibt er immer das schlechtere Angebot, dessen Faszination sich ausschließlich aus Defiziten im Alltag der Heranwachsenden ergibt. Der Film wird als Ersatzbefriedigung gedacht, die vor allem diejenigen reizt, deren Leben unerfüllt ist – eine Einschätzung, die bereits von den Kinoreformern geäußert wurde. „Seinen ganzen Reiz hat dieses Bild dadurch, daß die Welt schöner, spannender, reicher und weicher erscheint als im Gleichmaß der täglichen Pflichten und Sorgen. [...] Das eigene Leben erscheint in diesem Horizont schal.“ (Kerstiens 1961, S.39) Und unter Bezug auf diese Einschätzung wird jede Notwendigkeit, sich mit dem Film als Film zu beschäftigen, bestritten:

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„Schließlich aber läßt der Reiz sich mindern, indem man dem Kinde auf andere, erzieherisch vielleicht bessere Weise gibt, was das Kino verspricht. Wer in seinem Leben bereits etwas erlebt, den reizt das Kinoerlebnis weniger [...].Wer höhere und wertvollere Möglichkeiten und Aufgaben vor sich sieht, wird von dem Reiz der Filmwelt kaum noch berührt. Wir müssen bei dieser Art der Filmerziehung beinahe auf alles andere mehr achten als auf den Film.“ (Kerstiens 1961, S.65)

Es wird eine deutliche Hierarchisierung vorgenommen, der zufolge der Film nicht als eigenständiges Erlebnisangebot gelten kann, sondern im günstigen Fall höchstens die Funktion hat, Neugier und Wertschätzung für die „eigentliche“ Wirklichkeit zu wecken. Insofern wird der Film als „Dienstleister“ für die „eigentliche“ Wirklichkeit aufgefasst – wie erwähnt auch dann, wenn es um die Vermittlung erwünschter Werte geht. Diese erstens defizitorientierte und zweitens inhaltliche Bestimmung des Films wird ohne Rückgriff auf vorhandene filmtheoretische Positionen vorgenommen – eine Vorgehensweise, die sich bis zur gegenwärtigen Diskussion fast lückenlos nachweisen lässt. Es hätte aber schon zur Zeit der Filmerzieher verschiedene Möglichkeiten für den Bezug auf Filmtheorie gegeben, da im Zuge filmhistorischer Entwicklungen – wie des italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague – in Europa rege über den Film diskutiert wurde. Auch theoretisch gab es bereits zahlreiche Veröffentlichungen, in denen über die Besonderheit des Mediums Film nachgedacht und seine rein inhaltliche Bestimmung verworfen wurde. Ein prominenter Vertreter dieser Denkrichtung ist André Bazin (2004, französische Erstveröffentlichung 1958). Aber auch Siegfried Kracauer kann in diesem Zusammenhang genannt werden, weil er sich als Vertreter einer realistischen Filmtheorie für die besonderen Ausdrucksmöglichkeiten interessierte, die mit dem Film verbunden waren (Kracauer 1964). Der rein inhaltsbezogene, distanzierende und instrumentelle Zugriff auf den Film war also zur Zeit der Filmerzieher nicht die einzig denkbare Position und hätte nicht „common sense“ sein müssen. 2.1.4 Die Sichtweise der kritischen Theorie Bei der Kritischen Theorie handelt es sich im Unterschied zu den drei vorher betrachteten filmpädagogischen „Phasen“ nicht um eine genuin filmpä-

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dagogische Diskussion, sondern um eine sozialwissenschaftliche (vgl. Kapitel 2.1). Dennoch wurde in film- und medienpädagogischer Perspektive in den 1970er und 1980er Jahren sehr häufig an die Überlegungen der Kritischen Theorie angeknüpft, und Spuren dieser Diskussionslinie sind auch in der heutigen Film- und Medienpädagogik zu erkennen. Deshalb widme ich der Kritischen Theorie in meinem Rückblick auf die Geschichte der Filmpädagogik einen eigenen Abschnitt, der aber knapper ausfällt, als die bisherigen Betrachtungen. Die Entwicklung der Kritischen Theorie wurde durch die EssaySammlung „Dialektik der Aufklärung“ angestoßen, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno von 1944 bis 1947 verfassten (Horkheimer/ Adorno 1984). Die Autoren beschäftigen sich kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und stellen eine zunehmende Ökonomisierung aller Bereiche der Gesellschaft fest: „Die Industrie ist an den Menschen bloß als an ihren Kunden und Angestellten interessiert und hat in der Tat die Menschheit als ganze wie jedes ihrer Elemente auf diese erschöpfende Formel gebracht.“ (Horkheimer/ Adorno 1984, S. 169) Horkheimer und Adorno kritisieren diese Entwicklung, die nach ihrer Einschätzung zu einem Verschwinden „aufklärerischer Vernunft“ führt, da sie einer Nutzen-Orientierung (von Horkheimer/ Adorno auch als „instrumentelle Vernunft“ bezeichnet) Vorschub leistet, die sich ungebremst ausbreitet. Der Berührungspunkt zur Medien- und zur Filmpädagogik liegt darin, dass Adorno und Horkheimer ihre gesellschaftskritischen Überlegungen auch auf den Bereich der Medien beziehen. Sie prägten in diesem Zusammenhang den Begriff der „Kulturindustrie“ (Horkheimer/ Adorno 1984, S. 141ff). Horkheimer/ Adorno vertreten die Auffassung, dass die Medien als Teil des kapitalistischen Systems unerkannt für dessen Stabilisierung sorgen, indem sie kapitalistische Werte versteckt transportieren und den Rezipienten dabei gleichzeitig zum unmündigen Konsumenten solcher Botschaften machen. Möglich wird das nach Horkheimer/ Adorno, weil es sich bei den Massenmedien um einseitige Kommunikationskanäle handelt, die von denjenigen genutzt werden, die über Geld und Produktionsmittel verfügen und alle anderen dabei in die Rolle der handlungsunfähigen Empfänger drängen können. Horkheimer/ Adorno zufolge wird dieser Effekt auf subtile Weise stabilisiert, indem mit den Medienangeboten Bedürfnisse geweckt werden, die die Rezipienten als ihre eigenen wahrnehmen – die

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nach Auffassung der Autoren aber erst von der „Kulturindustrie“ hervorgerufen werden und bereits das Ergebnis ideologischer Verblendung sind. „In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt. Verschwiegen wird dabei aber, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist.“ (Horkheimer/ Adorno 1984, S. 141)

Horkheimer und Adorno hielten es für nötig, über diese Zusammenhänge aufzuklären und deren kritische Reflexion sowie die Emanzipation von den kapitalistischen Machthabern und deren Ideologien anzustreben. Diese Überlegungen wurden in der Film- und Medienpädagogik8 in den 1970er und 1980er Jahren aufgegriffen, und darin lag ein klarer Bruch mit der medienpädagogischen Tradition. Erstmals wurde eine konservativnormensetzende Pädagogik von einer kritisch-emanzipatorischen Pädagogik abgelöst (vgl. Vollbrecht 2001, S. 46). Es gab eine Orientierung „hin zu einer Erziehungswissenschaft, die sich bewusst in den Dienst von Aufklärung, Emanzipation und Gesellschaftsveränderung stellte“ (Ganguin/ Sander 2008, S. 61). Ausgangspunkt medienpädagogischer Überlegungen war der Wunsch, Heranwachsende zu einem eigenständigen und kritischen Umgang mit den Medien zu ermutigen. Und anders als zuvor wurde dabei eine Veränderung der gesellschaftlichen Situation angestrebt oder zumindest zugelassen: „Durch das Aufdecken der ‚Machart‘ – jetzt aber in kritisch-gesellschaftlicher Absicht – sollten die Schüler von der Unterwerfung unter geglaubte Werte wie Aufstieg, Erfolg, etc. emanzipiert werden, indem Ungerechtigkeiten zwischen sozialen Schichten, Rassen und ganzen Erdteilen aufgedeckt wurden.“ (Baacke, Schäfer, Vollbrecht 1994, S. 164)

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Ich spreche hier jeweils von Film- und Medienpädagogik, weil der Film als Medium nicht so sehr im Vordergrund stand, wie in den zuvor betrachteten Phasen. Verdächtig erschien den kritisch-emanzipatorischen MedienpädagogInnen vor allem das Massenmedium Fernsehen, während der Kinofilm „seltsam unterbelichtet blieb“, wie Baacke, Schäfer und Vollbrecht (1994, S. 164) schreiben.

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Konkrete Vorschläge für eine so ausgerichtete medienpädagogische Arbeit wurden zuerst in Bezug auf den Kunstunterricht gemacht. Der vielfach aufgelegte Sammelband „Visuelle Kommunikation“ von Hermann K. Ehmer (1971) enthält dazu zentrale und häufig zitierte Impulse. Ehmer macht bereits in der Einleitung deutlich, dass es in einem Zeitalter zunehmender Verbreitung der Massenmedien und ihrer potenziellen Einflussnahme auf die Heranwachsenden nicht mehr ausreiche, in der Kunstpädagogik ausschließlich kunstbezogen zu denken, sondern dass es erforderlich sei, kunstpädagogische Überlegungen auf den gesamten Bereich der visuellen Kommunikation auszudehnen (vgl. Ehmer 1971, S. 8). Die Aufgabe der PädagogInnen sieht Ehmer in diesem Zusammenhang in der Anregung der SchülerInnen zu Reflexion und Kritik manipulativer Potenziale der Kulturindustrie: „Zentrale Aufgabe eines sich so verstehenden Unterrichts hätte die Vermittlung der Einsicht zu sein, daß heute herrscht, wer über das Bewußtsein der Massen verfügt. Die Einsicht in die Bedingungen der Abhängigkeit unseres Bewußtseins von der Bewußtseinsindustrie und damit von denjenigen, die über diese Produktionsmittel verfügen, wäre die erste Voraussetzung für Emanzipation.“ (Ehmer 1971, S. 8)

Dazu gibt es in dem erwähnten Sammelband verschiedene pädagogischkonzeptionelle Überlegungen. Bezogen auf das Medium Film äußert sich z.B. Wolfram Schütte (1971). Er hält eine avantgardistisch-cineastische Filmarbeit für sinnvoll, im Rahmen derer die SchülerInnen sich mit Filmen auseinandersetzen, die nicht affirmativ sind, sondern in denen inhaltlich und ästhetisch mit Stereotypen gebrochen wird. Um einen Zugang zu solchen Positiv-Beispielen zu eröffnen, schlägt Schütte die Vermittlung moderner Montagetheorien vor, die es den Heranwachsenden ermöglichen soll, gelungene Filme differenziert wahrzunehmen und zu würdigen. Schütte sieht es als notwendig an, „an Werken, in denen bewußte ästhetische Struktur herausgebildet wird, die Sinne zu schärfen und die eingreifenden Erkenntnismittel zu erarbeiten“ (Schütte 1971, S. 293). Diese Art der Filmpädagogik ist später sehr häufig als abgehoben oder elitär kritisiert worden. Z.B. von Baacke/ Schäfer/ Vollbrecht (1994): „Es ist klar, daß hier im Grunde eine cineastisch-orientierte Medienpädagogik propagiert wird, die dann auch allenfalls in den Oberklassen des Gymnasiums oder der Gesamtschulen oder an den Universitäten ihr Publikum fin-

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det.“ (Ebd., S. 166) Dieser Vorwurf ist zwar nachvollziehbar, er muss aber m.E. nicht grundsätzlich mit dem Einsatz von Filmen verbunden werden, die sich vorhandenen Sehgewohnheiten oder Ordnungsvorstellungen widersetzen. Problematisch an Schüttes Vorgehen scheint mir eher, dass er nicht nach pädagogischen Perspektiven und den damit verbundenen Vermittlungsmöglichkeiten fragt, sondern seine Überlegungen ausschließlich aus einer ideologiekritischen Haltung heraus ableitet. Wie in früheren Phasen der filmpädagogischen Geschichte fehlt auch an dieser Stelle ein pädagogisches Fundament, anhand dessen die konkrete pädagogische Arbeit theoretisch begründet und konzeptionell vorbereitet werden kann. Es muss Schütte allerdings zugute gehalten werden, dass er im Unterschied zu früheren FilmpädagogInnen explizit auf vorhandene Filmtheorien eingeht und seine Überlegungen zu dieser Seite hin theoretisch absichert. Als Bezugsautoren nennt er Eisenstein, Pudowkin und Wertow, und sein filmtheoretisch inspirierter Blick erlaubt ihm eine differenzierte und überzeugende Analyse seines Beispielfilms (der „Chronik“ von Straub). Solche filmtheoretischen Bezüge sind in der gegenwärtigen Filmpädagogik möglicherweise deswegen wieder verloren gegangen (vgl. Kapitel 2.2), weil sie so stark mit dem Verdacht der „Schülerunfreundlichkeit“ verbunden sind. Wie zu zeigen sein wird, muss aber auch ein Blick, der von einer anspruchsvollen Filmtheorie angeregt ist, nicht praxisfern oder schülerfeindlich sein (vgl. Kapitel 9). Ein weiterer, von der Kritischen Theorie inspirierter, filmpädagogischer Ansatz ist die „realistische Filmarbeit“. Ziel dieses Zugangs ist es, an die tatsächlichen Alltagserfahrungen der Heranwachsenden anzuknüpfen und zu verhindern, dass diese von ideologischen Film- und Fernsehbildern überlagert werden. Vorschläge dazu macht z.B. Joachim Paech im Zusammenhang mit dem Projekt „Schülerfernsehen“ – einem Mitte der 1970er Jahre initiierten Kooperationsprojekt zwischen Schulen und dem westdeutschen Schulfernsehen, an dessen Konzeption Paech als wissenschaftlicher Mitarbeiter beteiligt war (vgl. Paech 1977). Er beschreibt zwei Schritte der realistischen Filmarbeit, einen analytischen und einen produktiven. Der analytische Schritt besteht in der reflektierenden Auseinandersetzung mit Produktionsweisen und Inhalten des Fernsehens. Nach Paech ist es wahrscheinlich, dass diese Auseinandersetzung zu dem Ergebnis führt, dass die Interessen der SchülerInnen in den Angeboten des Fernsehens nicht berücksichtigt werden, da dies ausschließlich entlang kommerzieller

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Überlegungen produziert wird. „[E]ine solche Programmanalyse verstärkt das Bewußtsein des Widerspruchs zwischen veröffentlichten und ihren [denjenigen der SchülerInnen] Interessen und den Wunsch, widersprechen zu wollen“ (Paech, 1977, S. 2). Dieser Wunsch zum Widerspruch soll dann in dem zweiten (produktiven) Schritt umgesetzt werden, indem die SchülerInnen im Sinne einer „Gegenöffentlichkeit“ (Paech 1977, S. 9) eigene Sendungen produzieren9. Ziel dabei ist es, die Heranwachsenden zur Artikulation ihrer eigenen Lebenswirklichkeit, ihrer Interessen und ihrer Bedürfnisse anzuregen, und zwar gegen die ideologischen Bilder der kommerziellen Medien. In seinem Projekt „Schülerfernsehen“ sieht Paech dabei nur einen Baustein für das umfassendere politische Vorhaben der Artikulation einer „Gegenöffentlichkeit“ (vgl. Paech 1977, S. 10). Die realistische Filmarbeit, wie Paech sie befürwortet, ist ebenfalls mit der Begründung kritisiert worden, sie lasse die Interessen der RezipientInnen aus dem Blick geraten – denn Heranwachsende wollten sich den Medien nicht ausschließlich in kritisch-politischer Absicht zuwenden. Die Konzepte der kritisch-emanzipatorischen Filmpädagogik werden inzwischen insgesamt als gescheitert betrachtet, „weil die Mehrzahl der Jugendlichen sich einer gesellschaftskritisch engagierten, pädagogisch-überwachten Aufklärung durch Film – welcher Art auch immer – verweigert hat“ (Baacke/ Schäfer/ Vollbrecht 1994, S. 167). Dennoch wirkt diese Phase der Film- und Medienpädagogik, wie eingangs erwähnt, in der Gegenwart fort: So ist die Forderung nach einem kritischen Blick auf mediale Angebote heute eine medienpädagogische Selbstverständlichkeit und Bestandteil aller gängigen Medienkompetenz-Konzepte. In Abgrenzung von der deutlichen politisch-theoretischen Orientierung der kritisch-emanzipatorischen Medien- und Filmpädagogik ist in der heutigen Filmpädagogik außerdem eine starke Tendenz zur „Pädagogisierung“ entstanden, die sich unter anderem in dem Wunsch niederschlägt, Heranwachsende „abzuholen“ und ihre Film- und Medienvorlieben ernst zu nehmen und zu respektieren.

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Insofern ist die realistische Filmarbeit auch eine Vorläuferin der aktiven Filmund Medienarbeit, wie sie heute verbreitet ist (für einen Überblick vgl. Schell 2003).

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Fazit: Es kann bilanziert werden, dass medien- und filmpädagogische Überlegungen, die in Anlehnung an die Kritische Theorie formuliert werden, nicht aus einer pädagogischen Argumentation heraus entwickelt, sondern aus einer politisch-gesellschaftsbezogenen Perspektive abgeleitet werden. Das konstatieren auch Ganguin und Sander (2008): „Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass in der besagten Zeit eine kritische Sozialwissenschaft, zu der sich auch die kritisch-emanzipative Medienpädagogik zählte, in ihrer Praxis weniger auf klassische pädagogische Arbeit, sondern auf politisch orientierte Gesellschaftsveränderung setzte.“ (Ganguin/ Sander 2008, S. 61/ 62)

Darin liegt eine Gemeinsamkeit zu der Diskussion in früheren Phasen der filmpädagogischen Geschichte – auch deren Antrieb besteht in einem kulturkritischen Blick, auch wenn dieser nicht aufklärerisch, sondern konservativ ausgerichtet ist (vgl. Kapitel 2.1.1 und 2.1.3). Pädagogische Begriffe wie Erziehung oder Bildung geraten nicht in den Fokus, vielmehr werden Ideologieverdacht und der unterstellte Verblendungszusammenhang zum Ausgangspunkt für die Begründung pädagogischen Handelns. Das hat allerdings den Nachteil, dass keine konstruktive pädagogische Perspektive entwickelt, sondern Filmpädagogik stets gegen die vorhandene gesellschaftliche Situation betrieben wird. Auch Hausmanninger ist der Auffassung, ein kritischer Blick werde in diesem Zusammenhang so sehr totalisiert, dass die Frage nach einer wünschenswerten Subjektposition nur noch „im Modus der Negation ausgesagt“ (Hausmanninger 1993, S. 398) werden könne. Er sieht die Kritische Theorie deshalb auch als eine „Ethik der Negation“ (Hausmanninger 1993, S. 398). Der kritisch-emanzipatorischen Filmpädagogik fehlen „eine Praxis und Handlungsorientierung, die über eine abstrakte gesellschaftstheoretische Analyse hinaus[gehen]“ (Ganguin/ Sander 2008, S. 62). Im Unterschied zu früheren Phasen der Filmpädagogik werden filmtheoretische Überlegungen zwar durchaus aufgegriffen, aber sie werden nicht in eine umfassende pädagogische Perspektive integriert. Das hat der kritisch-emanzipatorischen Film- und Medienpädagogik, wie erwähnt, den Vorwurf eingetragen, ihre Ausrichtung sei abstrakt und intellektuell und nicht angemessen auf verschiedene Zielgruppen eingestellt. Die starke Abgrenzung von „cineastischen“ oder „elitären“ Konzepten, die sich daraufhin verbreitet hat (und die auch in der Gegenwart üblich ist), führt in der Film-

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pädagogik m.E. derzeit dazu, dass innovative Denkmöglichkeiten, die sich aus dem Bezug auf die film- und bildungstheoretische Diskussion ergeben könnten, nicht ausgeschöpft werden. Es scheint mir deshalb wichtig, noch einmal zu betonen, dass das Scheitern der kritisch-emanzipatorischen Filmund Medienpädagogik seinen Grund nicht in einem „Zuviel“ an abstrakter oder komplexer Theorie hatte, sondern eher in einem Fehlen konkreter erziehungswissenschaftlicher Bezüge, die eine Entwicklung pädagogischer Vermittlungsperspektiven erst ermöglicht hätten. Wie bereits mehrfach erwähnt, handelt es sich dabei um ein systematisches Problem, das alle Phasen der filmpädagogischen Geschichte und Gegenwart betrifft.

2.2 G EGENWART Nachdem es in den 1980er in der Medienpädagogik eher um das Medium Fernsehen und in den 1990er Jahren vor allem um das neue Medium Computer und seine zahlreichen Einsatzmöglichkeiten ging, gerät die pädagogische Diskussion um den Film seit Kurzem wieder verstärkt in den Blick. Eine Art Initialzündung dafür war der Kongress „Kino macht Schule“, der im März 2003 in Berlin stattfand. Veranstaltet wurde dieser Kongress von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Filmförderungsanstalt, und besucht wurde er von VertreterInnen aus Filmbranche, Politik, Schule und Wissenschaft. Ziel war es, den Austausch über Förderungsmöglichkeiten von Filmkompetenz in der Schule anzuregen, sowie Vorschläge für die Integration von Filmpädagogik in deutsche Lehrpläne zu erarbeiten. Der Kongress hatte verschiedene konkrete Ergebnisse: So wurde eine gemeinsame „Filmkompetenzerklärung“ formuliert, die politische und pädagogische Forderungen enthält – z.B. diejenige nach der curricularen Einbindung der Themen Film, Filmsprache und Filmgeschichte in die Lehrpläne deutscher Schulen und Universitäten (Bundeszentrale für politische Bildung 2003, S. 5). Außerdem wurde im Anschluss an den Kongress ein Filmkanon zusammengestellt, anhand dessen der Erwerb von Filmkompetenz gefördert werden soll (Holighaus 2005). Ein weiteres Ergebnis ist die Gründung der bundesweit tätigen Filmkompetenzagentur „Vision Kino“ (www.visionkino.de) – einer über die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Filmförderungsanstalt finanzierten Serviceeinrichtung, deren Aufgabe z.B. in der Koordination und Vernetzung vorhan-

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dener Projekte besteht. Filmpädagogisch Tätige erhalten hier zudem Informationen, Beratung und praktische Arbeitshilfen. Ein Antrieb für die Initiierung des Kongresses und auch für die Gründung von Vision Kino bestand in der Diagnose, dass sich die kulturelle Situation gegenwärtig von einer Schrift- hin zu einer Bildkultur wandelt, und dass die heranwachsende Generation „einen Großteil ihrer sozialen und ästhetischen Orientierungen sowie Vorstellungen von der Welt aus dem Film und anderen modernen Medien“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2003, Einführung in die Veranstaltungsdokumentation) gewinnt. Der Ausbau filmpädagogischer Aktivitäten wurde und wird in diesem Zusammenhang als wichtige Aufgabe bewertet, zumal viele Heranwachsende nach Einschätzung der Veranstalter nicht „kompetent“ mit Filmen umgehen können. Vision Kino zufolge „zeigen sich beim Umgang mit Film immer wieder ‚Leseschwächen‘“ (Vision Kino o.J., S. 6)10. Ausgangspunkt der erneuten Konjunktur filmpädagogischer Überlegungen ist also die Annahme einer als gesellschaftlich bedeutsam eingeschätzten Qualifizierungsnotwendigkeit: „Filmkompetenz und die Fähigkeit, die Codes bewegter Bilder zu entschlüsseln, ist eine gesellschaftliche Herausforderung.“ (Vision Kino o.J., S. 6). Unter anderem deshalb, weil Filmkompetenz es uns erlaube zu erkennen, „was er [der Film, H.W.] mit uns macht“ (Vision Kino o.J., S. 6), und weil sie es uns ermögliche, Film als Bestandteil „unserer kulturellen Geschichte und Gegenwart“ (Vision Kino o.J., S. 6) differenziert wahrzunehmen. Denn im Unterschied zu der Perspektive in früheren Phasen der filmpädagogischen Geschichte wird der Film inzwischen als schützenswertes Kulturgut betrachtet, das es zu erhalten gilt. In der Filmkompetenzerklärung heißt es: „Es geht um die Anerkennung der kulturellen Bedeutung des

10 Der Rückgriff auf eher informell wirkende Quellen – wie Broschüren ohne Jahresangabe oder nur teilweise mit Seitenzahlen versehene Materialsammlungen – ist symptomatisch für die aktuelle Situation: Im Zusammenhang mit Initiativen wie „Kino macht Schule“ oder „Vision Kino“ entstehen derzeit zahlreiche pädagogische Informationsblätter und Handreichungen; diese sind aber nicht immer an wissenschaftliche Diskussionsbestände angeschlossen. Damit ist ein Problem vorgezeichnet, das ich im Folgenden ausführen werde: Die theoretische Fundierung der filmpädagogischen Diskussion hält mit ihrer rasanten konzeptionellvermittlungsbezogenen Ausbreitung nicht Schritt.

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Films, um seine Anerkennung als junge, bedeutende Kunstform mit eigenen Mitteln“ (Bundszentrale für politische Bildung 2003, S. 4). Auch von Vision Kino werden die Aufgaben der Sensibilisierung für den Film als Kulturgut und der Bewahrung historischer Filmbestände formuliert (Vision Kino o.J., S. 6). Es wird deutlich, dass sich hier ein organisatorisches Entstehungsmuster aus der Geschichte der Filmpädagogik wiederholt. Ausgangspunkt der aktuellen Debatte ist nicht die Weiterentwicklung theoretischer Überlegungen oder die Anknüpfung an ein in erziehungswissenschaftlicher oder filmtheoretischer Argumentation begründetes Anliegen, sondern ein kulturpolitischer Handlungsimpuls. Dieser entsteht zwar nicht mehr primär aus der Sorge heraus, der Film könnte die Heranwachsenden grundsätzlich destabilisieren, aber doch aus der Einschätzung heraus, dass es im Bereich des Umgangs mit dem Film Defizite gibt, die es auszugleichen gilt: „Die Initiative Kino macht Schule kommt einem Versäumnis nach“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2003, S. 4). Dazu kommt der Wunsch, das inzwischen schon ältere Medium Film gegen seine Verdrängung durch neue Medien zu schützen: „Langfristig soll das Wissen über und um den Film gestärkt und damit zugleich das nationale Filmerbe gewahrt werden.“ (Vision Kino o.J., S. 6). In dieser Forderung spiegelt sich die Blickrichtung der AkteurInnen von Vision Kino, die eher VertreterInnen der Film- und Kulturbranche sind, als VertreterInnen der Wissenschaft: So wurden die Gründungsbestrebungen zu Vision Kino von AkteurInnen aus Politik, Filmwirtschaft und Kinokultur vorangetrieben (vgl. Vision Kino o.J., S. 8), und die Gesellschafterversammlung von Vision Kino setzt sich zusammen aus Mitgliedern der Stiftung Deutsche Kinemathek, der Filmförderungsanstalt und dem Interessenverbund Kino macht Schule GbR (vgl. Vision Kino o.J., S. 9). Insgesamt wurden im Nachgang des Kongresses „Kino macht Schule“ vor allem die Bedeutung von Filmkompetenz sowie die Notwendigkeit ihrer institutionellen Förderung betont. Die (diesbezügliche) filmpädagogische Diskussion wurde belebt und seither auch im Rahmen dreier Folgekongresse fortgeführt. Im Zuge dessen sind in der Filmpädagogik einige grundlegende Blickrichtungen in den Vordergrund gerückt, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen, nämlich eine Kompetenzorientierung, die Tendenz zur Funktionalisierung des Films und eine Vermittlungsorientierung.

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2.2.1 Vorbemerkung zum Thema Kompetenzorientierung Bevor ich auf diese Orientierungen näher eingehe, möchte ich noch einige Anmerkungen zu dem häufig formulieren Ziel des Kompetenzerwerbs machen. Mit „Kompetenzen“ werden in der Filmpädagogik die Kenntnisse und Fähigkeiten bezeichnet, die es ermöglichen sollen, den Film sicher zu handhaben, ihn also in den Griff zu bekommen. Im Unterschied dazu verstehe ich unter „Bildung“ solche Prozesse, die zunächst einmal dazu führen, dass wir uns nicht mehr auskennen, und die in einem produktiven Antworten auf das Scheitern eines „Handhabungsversuchs“ bestehen (dieses Bildungsverständnis werde ich in den Kapiteln 4 und 5 ausführlicher ausarbeiten). Ich möchte Kompetenz und Bildung hier nicht gegeneinander ausspielen, denn der Erwerb von Kompetenzen ist für unsere Orientierungs- und Handlungsfähigkeit unverzichtbar. Mit Rorty (1981) lässt sich sogar sagen, dass der „bildende Diskurs“ auf den „normalen Diskurs“ angewiesen ist. Bildung gibt es nach seiner Auffassung nicht ohne „Erkenntnis“, zu der wir uns bildend in ein Verhältnis setzen können. Bezogen auf den Umgang mit Filmen lässt sich vermuten, dass eine produktive Verunsicherung oder das potenziell bildungsrelevante Anderssehen und Andersdenken, von dem Flaxman spricht (vgl. Einleitung), sich nur ereignen, wenn sie vor dem Hintergrund der prinzipiellen Möglichkeit des Verstehens (also auf Basis bereits vorhandener Kompetenzen) überhaupt wahrgenommen werden können. Bernhard Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang von zwei verschiedenen Arten des Staunens: „Es gibt ein Staunen, das auf neugieriger Unwissenheit beruht, aber auch ein Staunen dessen, der sich sehr gut in einer Sache auskennt und immer wieder spürt, wie ihm das Vertraute entgleitet und dem Verstehen einen Widerstand entgegensetzt.“ (Waldenfels 2001, S. 52) Dieses zweite Staunen ist dem erwähnten Anderssehen und Andersdenken verbunden und gleichzeitig auf das Vorhandensein von Kompetenzen angewiesen. Kompetenzvorstellungen scheinen mir dann problematisch, wenn sie andere Möglichkeiten der Auseinandersetzung und der Filmbegegnung – wie die zweite Art des Staunens – aus dem Blick geraten lassen, weil sie tendenziell darauf abzielen, jede Art des Staunens aufzuheben. Und eine solche Tendenz lässt sich in der Filmpädagogik gegenwärtig an verschiedenen Stellen erkennen. Es ist nicht meine Absicht, die Bedeutung des Kom-

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petenzerwerbs grundsätzlich infrage zu stellen oder zu verwerfen. Mein Anliegen ist es vielmehr, die bildungstheoretisch relevanten Dimensionen der Filmbegegnung, die im Rahmen einer zunehmenden Kompetenzorientierung weitgehend ausgeschlossen werden, der Reflexion (wieder) zugänglich zu machen. 2.2.2 Kompetenzorientierung Mit der Gründung von Vision Kino, einem Netzwerk, das auch als „Filmkompetenzagentur“ bezeichnet wird, ist von prominenter und einflussreicher Seite aus eine (zumindest teilweise) Kompetenzorientierung bereits vorgegeben. Diese steht in den Materialien und Angeboten von Vision Kino sowie in vielen aktuellen filmpädagogischen Initiativen klar im Vordergrund. Und auch in filmpädagogischen Einführungstexten ist sie oft zu erkennen. In diesen werden häufig zwei grundlegende filmpädagogische Auseinandersetzungsbereiche betrachtet: ein gegenstandsbezogener Bereich und ein personenbezogener Bereich. Horst Niesyto (2006b) unterscheidet beispielsweise einerseits eher „filmbezogene“ Konzepte, die mit filmwissenschaftlichem Hintergrund entwickelt wurden, und in denen es um die „Vermittlung theoretischer, historischer, ästhetischer und analytischer Kenntnisse zum Medium (Kino-)Film“ (Niesyto 2006b, S. 8) geht (gegenstandsbezogener Bereich). Und andererseits „pädagogische“ Konzepte, in denen Filme „als wichtiges symbolisches Reservoir für Orientierung, Sinnund Identitätsbildung betrachtet“ (Niesyto 2006b, S. 9) werden (personenbezogener Bereich). Ähnlich wie Niesyto stellt auch Maurer (2006a) zwei „Hauptdimensionen“ (Maurer 2006a, S. 24) von Filmbildung dar, nämlich eine auf den Film bezogene „audiovisuelle Bildung“ und eine auf die Person des Zuschauers bezogene „Persönlichkeitsbildung“ (Maurer 2006a , S. 24). In dem ersten, gegenstandsbezogenen, Bereich ist die Kompetenzorientierung in vielen filmpädagogischen Texten eindeutig zu erkennen: Es geht darum, filmbezogenes Wissen und Können zu erwerben, das sich kanonisieren und nachprüfen lässt. Dazu gehört z.B. der Erwerb filmhistorischer, filmtheoretischer und filmanalytischer Kenntnisse. Es soll eine „allgemeine Wahrnehmungsbildung in Bezug auf filmgestalterische Details wie Lichtgestaltung und Farbgebung, Einstellungen und Perspektiven, Montagefor-

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men und die Tonebene sowie sonstige audio-visuelle Besonderheiten“ (Maurer 2006a, S. 24)“ angestrebt werden. Diese Art der „allgemeinen Wahrnehmungsbildung“ hat nach Maurer die Funktion, Wahrnehmungskategorien zu vermitteln, die das Verstehen und das Einordnen des Gesehenen ermöglichen. Es geht darum, „dramaturgische und narrative Muster zu durchschauen und wieder zu erkennen“, sowie manipulative Absichten zu entlarven (Maurer 2006a, S. 25). Ziel ist es, Wissen und Können zu erwerben, das es dem Zuschauer erlaubt, den Film „in den Griff“ zu bekommen, Wissen und Können, über das der Zuschauer souverän verfügt – Maurer spricht auch von der „Aneignung von audiovisueller Bildung“ (ebd., S. 25) – und das grundsätzlich auf jeden Film angewendet werden kann. Ähnlich denkt Suchardt, wenn er eine „audiovisuelle Alphabetisierung“ fordert (Suchardt 2006, S. 58), im Rahmen derer Werkzeuge vermittelt werden sollen, die es den Schülern ermöglichen, einen Film einzuordnen und „für sich zu erschließen“ (ebd., S. 60). Grundlage dieser Forderung ist die Vorstellung, der Film könnte mit einem passenden Schlüssel „aufgeschlossen“ werden. Die filmpädagogische Aufgabe wird dabei in der Weitergabe eines solchen Schlüssels gesehen. Auf die filmbezogenen Implikationen dieser Vorstellung komme ich noch zu sprechen. Doch zunächst zu dem personenbezogenen Bereich der Filmpädagogik. Denn auch in diesem Bereich gibt es eine Kompetenzorientierung, obwohl sie nicht so augenfällig ist, wie die im gegenstandsbezogenen Bereich. Es scheint in dem personenbezogenen Bereich zunächst nicht um direkt vermittelbare und nachprüfbare Fertigkeiten zu gehen, sondern eher um die Bereitschaft zur Reflexion und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit, also um eine bestimmte Haltung, die nicht unbedingt Gegenstand von direkter Kompetenzvermittlung ist, sondern der in einem entsprechenden pädagogischen Rahmen eher indirekt der Weg bereitet werden kann. Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass auch diese Art der Auseinandersetzung häufig sehr kompetenzorientiert gedacht wird. So sagt Niesyto, Heranwachsende sollten dazu angeregt und befähigt werden, sich anhand von Filmen mit der eigenen Person auseinanderzusetzen – also mit eigenen Stärken und Schwächen, mit eigenen Rollen in verschiedenen Gruppen, mit der Frage nach der eigenen Identität. Filme versteht er in diesem Zusammenhang als „symbolisches Reservoir für Orientierung, Sinn- und Identitätsbildung“ (Niesyto 2006b, S. 9, Herv. H.W.). Auch für Maurer, sind Filme ein Vorrat, aus dem „auf der Suche nach pas-

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senden Identitätsbausteinen“ (Maurer 2006a, S. 28) geschöpft werden kann. Es geht hier klar um einen Prozess der Aneignung; um gezieltes Auswählen aus einem Reservoir, nicht um eine suchende und riskante Annäherung an einen potentiell widerständigen Erfahrungsbereich und nicht um den offenen und stets gefährdeten Prozess der Subjektkonstitution. Es klingt die Vorstellung eines starken und autonomen Subjekts an, das souverän über verschiedene Erfahrungsbereiche verfügt und das als immer schon vorhandene Instanz bei dem Erwerb personenbezogener Kompetenzen pädagogisch begleitet werden kann. Der Film gerät in diesem Zusammenhang zu einem Material, anhand dessen die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit stattfindet. Damit ist die zweite grundlegende Blickrichtung in der aktuellen filmpädagogischen Diskussion benannt – die Funktionalisierung des Films für verschiedene pädagogische Zwecke. 2.2.3 Funktionalisierung Der Film wird dabei nicht nur als Stoff für die Persönlichkeitsbildung gedacht und eingesetzt, sondern auch als Gegenstand, anhand dessen allgemeingültige filmbezogene Kompetenzen erworben werden können. Die Funktionalisierung betrifft also auch den gegenstandsbezogenen Auseinandersetzungsbereich. Selbst diejenigen Autoren, die sich explizit gegen eine Funktionalisierung aussprechen, führen diese durch die Hintertür häufig wieder ein. So sagt Suchardt (in einem filmpädagogischen Aufsatz, aber auf die Medien im Allgemeinen bezogen): „Medien sind mehr als didaktische ‚Verzweckung‘.“ (Suchardt 2006, S. 68) Und im nächsten Satz: „Medien haben ein ungeheures Potential, dessen sich Lehrer/innen und Schüler/innen (...) bedienen können.“ (ebd., Herv. H.W.) In diesem Satz klingt außerdem wieder die Vorstellung des autonomen Subjekts an, das die Medien souverän für seine Zwecke nutzen kann und soll. Zusätzlich zu der gegenstandsbezogenen und personenbezogenen Funktionalisierung wird der Film auf einer inhaltlichen Ebene als Mittel zum Zweck gedacht, z.B. von Manfred Rüsel, indem er den Einsatz von Filmen als Instrument der Gewaltprävention empfiehlt: Mit Hilfe des Films „alaska.de“ lässt sich nach Rüsel (2006) z.B. deutlich machen, dass „Waffen, die man eigentlich ‚nur zur Verteidigung‘ bei sich führt, häufig zu Tatwaffen werden“ (ebd., S. 51). Und der Film „Der Taschendieb“ kann nach Rüsel

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dazu führen, dass Kinder die Notwendigkeit erkennen, so früh wie möglich aus Erpressungssituationen auszusteigen, „da er die gefährliche Spirale eines Erpressungsverlaufes mustergültig vorführt“ (Rüsel 2006, S. 50). Der Film dient hier dem Transport pädagogisch erwünschter Botschaften – ein Zugriff, der schon von der Filmerziehern der 1950er und 1960er Jahre vorgeschlagen und praktiziert wurde (vgl. Kapitel 2.1.3). Die inhaltliche Ebene wird aber nicht nur im Zusammenhang mit pädagogisch erwünschten Botschaften zum Anknüpfungspunkt, sondern auch im Zusammenhang mit Prozessen des Wissenserwerbs – z.B. über Länder, Tiere oder gesellschaftliche Phänomene. Hier gibt es eine Parallele zu der Vorstellung des „Unterrichtsfilms“, die von den Vertretern der Schulfilmbewegung in den Vordergrund gestellt wurde (vgl. Kapitel 2.1.2). Von Alain Bergala wird diese Art des Umgangs mit dem Film als „Inhaltismus“ (Bergala 2006, S. 35) kritisiert, der nach seiner Einschätzung dazu führt, dass interessantere und bedeutsamere Möglichkeiten der Filmbegegnung aus dem Blick geraten. Denn das eigentliche Potenzial des Films liegt nach Bergala darin, dass „Gefühl und Denken durch eine Form, einen Rhythmus angeregt werden, die nur dank dem Kino existieren“ (Bergala 2006, S. 42). Diese Besonderheit des Films (die ich in den Kapiteln 6 und 7 mit Deleuze näher betrachten und als bildungsrelevant begründen werde), wird in der filmpädagogischen Diskussion derzeit wenig beachtet. Stattdessen ist der von Bergala kritisierte „Inhaltismus“ sehr verbreitet und wird – vor allem unterrichtspraktischen Erwägungen folgend – als Vorgehensweise häufig empfohlen. Viele FilmpädagogInnen schlagen vor, Filme als Instrumente zur Vermittlung von Inhalten einzusetzen, weil sie hoffen, dass das positive Image, das Filme bei vielen SchülerInnen haben, zu einer offeneren Einstellung gegenüber den Lerninhalten führen könnte. Diese Perspektive wird auch von Vision Kino aktualisiert: „In der emotionalen Erfahrung, die ein Film im Kino entfalten kann, liegt das Potential, Lerninhalte eindringlicher als ein Vortrag oder Lektüre zu transportieren.“ (Vision Kino o.J., S. 7) Der Film gewinnt dabei keinen eigenen Stand; er wird zu einem Material, mit Hilfe dessen Inhalte „transportiert“ werden, die grundsätzlich auch auf andere Weise vermittelt werden könnten. Oder er wird zu einem „Lehrstoff“ (wie es auf der Internetseite zu dem Projekt „Lernort Kino“ heißt: http://www.lernort-kino.de), anhand dessen filmspezifische Kenntnisse erworben werden können. Der Film bleibt dabei ein Gegenstand, dessen Ein-

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satz der Regie der Lehrerin oder des Lehrers unterliegt – ohne dass der gezeigte Film als Film für sich sprechen dürfte. Eine solche Didaktisierung der Filmbegegnung führt dazu, dass die Filmerfahrung ihres Eigensinns beraubt wird. Das Bildungspotential des Films kann durch diese Vorgehensweise verschüttet werden, „weil ihr die Distanz zur Kunst, zum Anderen, zum Fremden11 bereits immanent ist“ (Seelinger 2003, S. 102). 2.2.4 Vermittlungsorientierung Kompetenzorientierung und funktionalisierender Umgang mit dem Film führen in der aktuellen filmpädagogischen Diskussion zu einer ausgeprägten Vermittlungsorientierung. Filmpädagogik wird derzeit vor allem didaktisch-konzeptionell gedacht. Es geht darum, Filmpädagogik zu machen und möglichst viele Heranwachsende und MultiplikatorInnen zu erreichen. Diese Ausrichtung spiegelt sich auch im Aufgabenprofil von Vision Kino und wird daher von Vision Kino zusätzlich verstärkt. Denn Vision Kino ist ein Service- und Praxisnetzwerk, das vor allem Arbeitsmaterialien, didaktische Tipps und Filmempfehlungen bietet. Theorieentwicklung oder Systematisierung vorhandener filmpädagogischer Vorgehensweisen und Blickrichtungen gehören nicht zum Tätigkeitsbereich und geraten in der Filmpädagogik derzeit in den Hintergrund12. Die deutliche Vermittlungsorientierung der Filmpädagogik lässt sich zudem an der fast unüberschaubaren Fülle didaktischer Materialien erkennen, die aktuell zugänglich sind. Es gibt Filmhefte von Stiftung Lesen, von der Bundeszentrale für politische Bildung oder vom Institut für Kino- und Filmkultur. Außerdem didaktisch aufbereitete DVDs zum Thema Filmsprache und Filmästhetik (z.B. Steinmetz 2005 oder Barg/ Niesyto/ Schmolling 2006) oder zu einzelnen, für den Unterricht geeigneten Spielfilmen (z.B. zu den Filmen „Der rote Kakadu“ und „Krabat“ von Vision Kino). Zusätzlich

11 (Dessen Bildungspotential ich in Kapitel 5 näher untersuchen werde.) 12 An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass es mir nicht darum geht, die Ausrichtung von (wichtigen!) Netzwerken wie Vision Kino grundsätzlich zu in Frage zu stellen. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass die starke Präsenz dieser Ausrichtung gegenwärtig zu einer Verengung des filmpädagogischen Blicks führt, deren Überwindung aus meiner Sicht zusätzliche und anregende Perspektiven eröffnen kann.

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sind zahlreiche Ratgeber und Praxishandbücher erhältlich (z.B. Wegener/ Wiedemann 2009). Die didaktisch-konzeptionelle Ausrichtung der Filmpädagogik schlägt sich außerdem der großen Zahl praktischer Initiativen und Projekte nieder, in denen es um die konkrete Umsetzung von Filmpädagogik geht. Beispiele sind Schulfilmwochen, Kinder- und Jugendfilmfeste oder Lehrerfortbildungen. Auffällig ist auch der starke Curriculumsbezug vieler Überlegungen. Es geht um die Frage, wie Film im Unterricht eingesetzt werden kann (z.B. Willig 2006), wie ein grundlegendes filmbezogenes Curriculum aussehen kann, das den Vorgaben aktueller Bildungspläne entspricht (z.B. Maurer 2010), oder wie Filmpädagogik in der universitären Lehre umgesetzt werden kann (Niesyto 2006c). Aber auch in nicht explizit curriculumsbezogenen Texten wird sehr häufig umsetzungsbezogen gedacht. Viele Texte beginnen mit Überlegungen zu verschiedenen Zielgruppen und deren Erreichbarkeit oder mit Anmerkungen zu dem organisatorischen und methodischen Rahmen der geplanten Arbeit. Diese Blickrichtung ist für die konkrete pädagogische Arbeit zwar berechtigt und sogar unverzichtbar. Aber die Vermittlungsorientierung, die in vielen Texten und vor allem in vorhandenen Materialien wie den erwähnten Filmheften im Vordergrund steht, birgt das Risiko, dass sich ein didaktischer Blick in der Filmpädagogik – zumindest tendenziell – verselbständigt und die Anbindung der Arbeit an einen theoretischen Grund weiter erschwert wird. Damit dürften auch filmspezifische Potenziale, wie Bergala (2006) sie beschreibt, weiter aus dem Blick geraten. Insgesamt lässt sich ein Missverhältnis feststellen zwischen dem filmpädagogischen Materialangebot und didaktisch-methodischen Überlegungen einerseits und dem Stand der filmpädagogischen Theorieentwicklung andererseits. Diese Situation kann hier allerdings nur exemplarisch betrachtet werden. Eine Systematisierung des vorhandenen Materials sowie eine kritische Reflexion seiner theoretischen und pädagogischen Implikationen stehen noch aus. 2.2.5 Das Verständnis von Bildung Zu meiner ersten Leitfrage nach dem Verständnis pädagogischer Begriffe und Konzepte kann in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass der Umgang mit Begriffen insgesamt sehr unklar ist, und dass viele Begriffe

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nicht unter Rückgriff auf die aktuelle Theorie entwickelt werden. Beispielsweise wird sehr häufig von Film-Bildung gesprochen, es werden mit diesem Begriff dann aber oft Prozesse des Kompetenzerwerbs oder des Lernens beschrieben, ohne dass auf die Besonderheiten des Bildungsbegriffs eingegangen würde. Claudia Wegener spricht z.B. zunächst von den vielfältigen Absichten, die mit Film-Bildung verbunden seien (Wegener 2009, S. 23), analogisiert dann aber Film-Bildung mit Baackes Begriff der Medienkompetenz. Entsprechend den vier Dimensionen von Medienkompetenz, die Baacke einführt (nämlich Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung – vgl. Baacke 1996), unterscheidet Wegener Filmkritik, Filmwissen, Filmrezeption und Filmgestaltung als Aspekte von Film-Bildung (ebd.). Horst Niesyto führt einen eigenen Begriff der Film-Bildung ein, indem er die integrierte Förderung der RezipientInnen im gegenstandsbezogenen und im personenbezogenen Bereich der Filmpädagogik (vgl. oben) als Bildung bezeichnet: „‚Bildung‘ akzentuiert in dieser Perspektive nicht nur die Förderung filmästhetischer und filmanalytischer Kenntnisse, sondern vermittelt diese (filmbezogene) Kompetenzbildung eng mit subjekt- und handlungsbezogenen Aspekten, vor allem der Reflexion eigener Wertorientierungen und gesellschaftlicher Deutungsmuster sowie dem Erstellen von filmischen Eigenproduktionen für das Öffentlichmachen eigener Themen und Erfahrungen.“ (Niesyto 2006b, S. 9/ 10)

Allerdings ist auch dieses Verständnis einer integrierten Förderung der Heranwachsenden im gegenstandsbezogenen und im personenbezogenen Bereich m.E. von dem Begriff der Medienkompetenz abgedeckt. Subjekt- und handlungsbezogene Aspekte sind z.B. in der von Baacke eingeführten Dimension der „Mediennutzung“ berücksichtigt, die Reflexion eigener Werte erwähnt Baacke unter dem Stichwort „Medienkritik“ und das Öffentlichmachen eigener Themen lässt sich dem von Baacke angeführten Bereich der „Mediengestaltung“ zuordnen (vgl. Baacke 1996, S. 119ff)13. Daher bleibt unklar, worin die besondere Dimension von Bildung liegt.

13 Und auch in anderen Medienkompetenz-Verständnissen ist dieser personenbezogene Bereich berücksichtigt. Z.B. bei Stefan Aufenanger, der explizit auf eine affektive, auf eine soziale, auf eine handlungsbezogene und eine moralische

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Und auch bei Björn Maurer bleiben genuin bildungstheoretische Fragen wie diejenige nach der grundlegenden transformatorischen Qualität von Bildung oder diejenige nach der Konstitution des Subjekts im Prozess der Bildung (vgl. dazu Kapitel 4) unberücksichtigt: Maurer verfasst einen umfangreichen Aufsatz mit dem Titel „Filmbildung in der Sekundarstufe I“ (Maurer 2006b), in dem er eine mediendidaktische und eine medienerzieherische Dimension von Filmpädagogik unterscheidet. Bei ersterer gehe es darum, anhand der Filminhalte etwas über verschiedene Themen zu lernen, bei letzterer gehe es um den Erwerb einer umfassenden Wahrnehmungskompetenz. Maurer schlägt in seinem Aufsatz etliche Methoden und Übungen vor, die vor allem den Erwerb einer solchen Wahrnehmungskompetenz ermöglichen können, und er geht dabei auch auf die Vorgaben der aktuellen Lehrpläne ein, die den Kompetenzerwerb innerhalb fächerübergreifender „Kompetenzbereiche“ vorsehen. Maurers Überlegungen sind in sich sehr schlüssig und sehr anregend. Dennoch bleibt die Frage nach der Besonderheit von Bildung im Zusammenhang mit seinen Überlegungen offen, obwohl er im abschließenden Ausblick davon spricht, dass „schulische Filmbildung“ aktuellen Herausforderungen gerecht werden müsse, und dass es vor diesem Hintergrund gelte, „neue Wege für ästhetische Bildungsprozesse mit Film zu entdecken“ (Maurer 2006b, S. 206). Ich kritisiere hier ausdrücklich nicht Maurers Überlegungen zur schulischen Filmpädagogik und seine konkreten didaktischen Vorschläge. Aber sein Umgang mit dem Begriff der Film-Bildung scheint mir symptomatisch für die aktuelle Situation zu sein: Film-Bildung wird mit ganz verschiedenen (vor allem methodischen) Überlegungen zum Lernen und zum Kompetenzerwerb in Verbindung gebracht, und die Besonderheit des Bildungsbegriffs wird ausgeblendet. Das führt dazu, dass der – zumindest in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion – mit diesem Begriff verbundene Auseinandersetzungsbereich in der Filmpädagogik aus dem Blick gerät. Also der Bereich, in dem es gerade nicht darum geht, unter Rückgriff auf vorhandene Handlungs- und Verarbeitungsmuster zusätzliche Fähigkeiten und Sicherheiten zu gewinnen, sondern Unsicherheiten zuzulassen, auszuhalten

Dimension von Medienkompetenz hinweist. Diese Dimensionen umfassen alle von Niesyto genannten personenbezogenen Aspekte (vgl. Aufenanger 1997, S. 19f).

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und vorhandene Verarbeitungsmuster zur Disposition zu stellen (für eine ausführlichere Betrachtung des Bildungsbegriffs vgl. Kapitel 4). Stattdessen wird immer wieder die Vorstellung aufgerufen, Heranwachsende müssten gestärkt und in ihrer Souveränität gefördert werden – ein Subjektverständnis, das in der allgemeinen Erziehungswissenschaft als problematisch eingeschätzt wird (vgl. Koller 2001). Diese Vorstellung ist häufig mit dem Gedanken verbunden, die Jugendlichen sollten kritischen „Stand“ gegenüber dem Film gewinnen. Sie sollten den Film verstehen und durchschauen, damit er keine „Macht“ über sie gewinnt. Nicht selten schwingt dabei ein ideologiekritischer Unterton mit – und darin liegt ein Berührungspunkt zu der Orientierung der kritisch-emanzipatorischen Medienpädagogik. „Die profunde Kenntnis über filmische Ausdrucksmöglichkeiten ist unverzichtbar, um Kinder [sic] und Jugendliche [sic] die Konstrukthaftigkeit medialer Darstellungen aufzeigen und sie für einen bewussten Umgang mit filmischen Angeboten sensibilisieren zu können.“ (Niesyto 2006c, S. 117) Oder: „Die ganze Entwicklung der Kunstform Film gehört heute zu den Grundlagen der Medienkompetenz, denn junge Menschen müssen heute kritisch mit den neuen Medien und insbesondere mit dem Medium Film umgehen können.“ (Fritsch/ Fritsch 2006, S. 157) Ziel ist es in diesem Zusammenhang, den Heranwachsenden zu einer analytischen Distanz zu verhelfen, die sie davor schützt, auf den Film „hereinzufallen“. Der Film wird als „Konstrukt“ gesehen, das sich mit Hilfe entsprechender Kompetenzen – die wie gesagt häufig mit dem Begriff der Film-Bildung verknüpft werden – „entlarven“ lässt. Ganz ähnlich äußerten sich schon die Filmerzieher14: „Zunächst einmal gilt es, den Film als gemachtes Bildwerk zu enthüllen.“ (Kerstiens 1961, S.40) (vgl. Kap 2.1.3). Hinter dieser Annahme steht die Vorstellung, Film und Zuschauer ließen sich vollkommen getrennt voneinander denken – der Film sei ein dem Zuschauer äußerliches „Konstrukt“, das sich mit dem entsprechenden ana-

14 Darin liegt ein weiteres Problem der aktuellen Situation: Theoretische Bezüge fehlen häufig ganz, und wenn doch Bezug auf vorhandene Theorien genommen wird, wird dabei oft der bereits erreichte Forschungs- und Diskussionsstand unterschritten. So fordert Dieter Wiedemann, „zurück zu den Wurzeln“ (Wiedemann 2003) der Filmpädagogik zu kommen. Und er macht „Anmerkungen zur Wiederbelebung der Filmerziehung“ (Wiedemann 2003), ohne die Überlegungen der Filmerzieher dabei einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

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lytischen Werkzeug in seiner „Gemachtheit“ erkennen und auf Distanz halten lasse, und der Zuschauer sei ein immer schon gegebenes Subjekt, das nur mit entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet werden müsse, um sich gegen den Film behaupten zu können. 2.2.6 Das Verständnis vom Film Das Filmverständnis, das den erwähnten pädagogischen Perspektiven zugrunde liegt, ist fast immer ein semiotisches. Der Film wird als Code oder als „Text“ gedacht, den es zu entschlüsseln und zu verstehen gilt. So wird in der Filmkompetenzerklärung, die im Anschluss an den Kongress „Kino macht Schule“ verabschiedet wurde, das Ziel formuliert, „zu lehren und zu lernen, die Codes bewegter Bilder zu dechiffrieren“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2003, S. 5). Der Rezeptionsprozess wird in diesem Zusammenhang mit der Metapher des Lesens beschrieben. Z.B. auch von den Verantwortlichen von Vision Kino, die aktuelle „Leseschwächen“ diagnostizieren und das filmpädagogische Ziel eines „ästhetisch gebildeten ‚Lesers‘“ (Vision Kino o.J., S. 6) ausgeben. Vision Kino macht damit eine Vorgabe, die selten problematisiert wird. Die sprachorientierten Metaphern des Lesens, der Alphabetisierung oder des Dechiffrierens werden in vielen Texten und Materialien übernommen – häufig ohne dass noch einmal explizit auf semiotische Referenztheorien eingegangen würde. Mit einem semiotischen Filmverständnis lassen sich zwar analytische Zugänge zu Filmsprache und Filminhalt begründen, es bringt aber auch Grenzen mit sich. Denn die dechiffrierende Analyse ist gleichzeitig ein Distanzierungsinstrument, das den Zuschauer ständig auf einer kognitiven Ebene hält oder ihn auf eine solche bringt. Der Blick wird entweder „durch den Film hindurch“ auf die (entschlüsselbaren und wiedererkennbaren) Inhalte gelenkt oder er richtet sich auf die Filmsprache, und zwar mit dem Ziel, in dieser bereits Bekanntes wieder zu erkennen und einzuordnen. Die Ebene der potentiell widerständigen Filmbegegnung – eine zentrale Dimension der Kunst- und Filmerfahrung, die für die Anregung von Bildungsprozessen eine wichtige Funktion haben kann – wird damit entschärft. Bergala fordert daher: „Auch in der Bildung muss die Kunst eine Begegnung bleiben, die all unseren kulturellen Gewohnheiten in den Rücken fällt.“ (Bergala 2006, S. 72)

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Da es sich bei der entschlüsselnden Analyse um einen Prozess der Einordnung handelt, ist eher zu erwarten, dass die Filmerfahrung in diesem Zusammenhang „normalisiert“ wird, als dass sie „unseren kulturellen Gewohnheiten in den Rücken fällt“. Denn das „Lesen“ oder „Entschlüsseln“ von Filmen ist selbst ein Moment der Aktivierung und Festigung kultureller Gewohnheiten. Und mit solchen Gewohnheiten werden dann wiederum die Entscheidungen für filmpädagogische Vorgehensweisen begründet, so dass ein „Bestätigungs-Zirkel“ entsteht. Dirk und Eva Fritsch beziehen sich in ihrer filmpädagogischen Arbeit beispielsweise auf die neoformalistische Filmtheorie David Bordwells, begründen diese Entscheidung allerdings nicht inhaltlich, sondern mit einer bereits vorhandenen Analyse-Gewohnheit: „Weil wir von den literarischen Zugängen in Lernarrangements schon mit den strukturalen Analysemodellen vertraut sind, empfiehlt sich in besonderem Maße das neoformalistische Filmanalysemodell.“ (Fritsch/ Fritsch 2006, S. 162) Eine kritische Prüfung der Möglichkeiten und Grenzen semiotischer und formalistischer Film-Vorstellungen wird auf diese Weise verhindert. Das gilt ebenso für alternative Bezugstheorien, denn auch diese werden – sofern sie überhaupt ins Gespräch gebracht werden – oft nicht differenziert betrachtet. So sagt Claudia Wegener, es gehe bei der Filmarbeit darum, „Filmsprache zu analysieren, Filmkunst mittels ausgewählter Filme als Gegenkultur verfügbar zu machen und darüber hinaus einen filmischen Beitrag zur Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen zu leisten“ (Wegener 2009, S. 23). Als theoretischen Hintergrund gibt sie Versatzstücke aus verschiedenen filmpädagogischen Schriften an, die sich in ihrer jeweiligen Blickrichtung stark unterscheiden oder sogar unverträglich sind. Wegener bezieht sich z.B. mehrfach auf Alain Bergala und stellt ihrem Text auch ein Bergala-Zitat voran; Bergala ist aber – zumindest wenn es um die Frage nach Bildung geht – sehr skeptisch gegenüber einem analysierenden und alphabetisierenden Zugang zum Film (vgl. Bergala 2006, S. 26). Und auch von der Idee, sich Filme „verfügbar“ zu machen, grenzt Bergala sich klar ab: „Nicht die Kunst muss den jungen Betrachtern – noch dazu risikolos – ausgesetzt werden, sondern sie müssen der Kunst ausgesetzt und können von ihr erschüttert werden.“ (Bergala 2006, S. 73) Wegener benutzt zwar Teile von Bergalas Vokabular und spricht auch vom „Kino als Kunst“ (so der Titel des bereits zitierten Bergala-Essays,

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vgl. Bergala 2006) und von der Absicht, den Film als Produkt eines kreativen Schaffensprozesses zugänglich zu machen (Wegener 2009, S. 26), aber sie blendet dabei das theoretische Fundament aus, von dem aus Bergala seine Überlegungen entwickelt. Letztlich ist ihr Text ein Plädoyer für den Einsatz des Films zu pädagogischen „Zwecken“ – und der Absicht von Alain Bergala, dem es darum geht, dem Film als Alterität (Bergala 2006, S. 9) zur Geltung zu verhelfen, diametral entgegengesetzt. Das Fehlen filmtheoretisch begründeter Orientierungen führt zusätzlich zu der Schwierigkeit, überzeugende Auswahl- und Bewertungskriterien für Filme zu formulieren. Häufig wird daher auf eine nicht näher begründete Alltagsvorstellung vom hochwertigen Film zurückgegriffen. Dirk und Eva Fritsch schlagen etwa vor, bei der Filmlehre an der Universität „qualitätsvolle[ ] Filme“ (Fritsch/ Fritsch 2006, S. 157) einzusetzen und behandeln diese Kategorisierung nicht als erläuterungsbedürftig. Und auch Dieter Wiedemann spricht von „guten und wertvollen“ oder „weniger gelungenen“ (Wiedemann 2003, o.S.) Filmen, ohne diese Einordnung zu begründen. Der kaum vorhandene Bezug auf filmtheoretische Argumente hat den zusätzlichen Effekt, dass die Filmauswahl fast ausschließlich entlang inhaltlicher Kriterien stattfindet. Dabei gibt es zwei grundlegende Positionen: einmal die Forderung nach Filmen, die die SchülerInnen nicht von sich aus ansehen und in denen es um Themen und Sichtweisen geht, mit denen die Heranwachsenden sich in ihrem Alltag nicht unbedingt beschäftigen. Und zweitens die Forderung, an vorhandene Sehgewohnheiten anzuknüpfen, damit die SchülerInnen nicht durch eine „abgehobene“ Filmauswahl abgeschreckt oder abgehängt werden. Horst Schäfer vertritt die erste Position: Er hält es für sinnvoll, Kindern und Jugendlichen „andere Angebote“ (Schäfer 2006, S 102) zu machen, als diejenigen, die die Heranwachsenden ohnehin in Kino und Fernsehen anschauen. Er formuliert das Ziel, „Jugendliche an authentische Filme heran zu führen“ (ebd.). Mit „authentischen“ Filmen meint er solche, in denen alltägliche Lebenswelten realistisch dargestellt werden, und die nicht ausschließlich entlang aktueller „Trends des Showbusiness“ (ebd.) produziert werden. Allerdings ist auch diese Empfehlung nicht mit filmtheoretischen Argumenten begründet. Ein Vertreter der zweiten Position ist Björn Maurer. Seiner Einschätzung nach sollte „im Interesse der Schülerinnen und Schüler […] der

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Schwerpunkt […] vom pädagogisch/ literarisch wertvollen Film hin zum populären und jugendkulturell ausgerichteten Film verlagert werden“ (Maurer 2006b, S. 174). Das befürwortet auch Dieter Wiedemann und sagt dabei klar, dass er das Interesse der Jugendlichen vor allem im Spaß- und Lustgewinn sieht: „Da Film und Kino wesentliche Elemente der Freizeitgestaltung sind, muss auch Filmerziehung einen Spaß- und Unterhaltungsfaktor haben. Was auch bedeutet: Filmerziehung muss sich primär auf jene Filme (in Kino, Fernsehen und auf anderen Speichermedien) orientieren, die im Zentrum des Bedürfnisspektrums von Kindern und Jugendlichen stehen.“ (Wiedemann 2003, o.S.)

In den Kapiteln 5 und 7 werde ich darlegen, dass es aus film- und bildungstheoretischer Sicht auch gute Gründe gibt, diese unmittelbare Bedürfnisorientierung in der filmpädagogischen Arbeit zugunsten der Eröffnung von Bildungsmöglichkeiten zu durchkreuzen. Fazit: Insgesamt lässt sich auch für die Filmpädagogik der Gegenwart festhalten, dass eine Anbindung an die theoretischen Diskussionen in den Referenzdisziplinen Filmtheorie und Erziehungswissenschaft/ Bildungstheorie kaum gegeben ist. Die drei aktuellen Tendenzen – nämlich die Orientierung an Kompetenzvorstellungen, die Funktionalisierung des Films und die Konzentration auf Vermittlungswege (vgl. oben) – führen dazu, dass dieses Desiderat weiter aus dem Blick gerät. Wie in den anderen Abschnitten zur Geschichte der Filmpädagogik auch, habe ich versucht, grundsätzliche und dominante Blickrichtungen zu benennen, die den aktuellen Tenor der Filmpädagogik ausmachen. Dabei konnte ich nicht alle vorhandenen Überlegungen und Entwicklungen umfassend einbeziehen, deshalb sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass es auch Ausnahmen von dem genannten Tenor gibt. Z.B. den Sammelband „Filme sehen Kino verstehen“ von Bettina Henzler und Winfried Pauleit (2009), in dem zumindest filmtheoretische Aspekte der Filmpädagogik explizit betrachtet werden. Solche Ausnahmen wirken sich derzeit aber nicht auf die vorherrschende Ausrichtung der Filmpädagogik insgesamt aus. Bettina Henzler sieht einen Grund für dieses Problem darin, dass die Filmpädagogik als Teildisziplin der Medienpädagogik gedacht und behandelt wird (Henzler 2007, S. 149) und dass in der Medienpädagogik insgesamt eine instrumentelle Perspektive auf die Medien verbreitet ist, die die

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Auseinandersetzung mit den Besonderheiten einzelner Medien verhindert. Sie plädiert vor diesem Hintergrund „für die Entwicklung einer eigenständigen Theorie und Methodik der Filmvermittlung“, die „an die Erkenntnisse der Filmwissenschaft und der Filmkritik anknüpft und die die ästhetische Erfahrung, das sinnliche Filmerlebnis zum Ausgangspunkt nimmt“ (Henzler 2007, S. 156). Wie ich oben deutlich gemacht habe, teile ich Henzlers Diagnose von einem instrumentellen und filmunspezifischen Umgang mit dem Medium Film. Mir scheint es aber gerade deswegen wünschenswert, die Filmpädagogik innerhalb der Medienpädagogik weiterzuentwickeln. Denn auch für die Disziplin der Medienpädagogik ist es nicht sinnvoll, sich mit einer instrumentalisierenden und medienunspezifischen Theorieentwicklung zufrieden zu geben. Gerade in einer Zeit der zunehmenden Bezugnahme auf mediale Artikulationsmöglichkeiten scheint es mir wichtig, die Disziplin der Medienpädagogik überzeugend aufzustellen und ihre Unterstützungs-, Anregungs- und Auseinandersetzungspotenziale auch auszuschöpfen. Und diese liegen nicht nur in medienbezogenen Besonderheiten, sondern auch in den jeweiligen pädagogischen Rahmen, innerhalb derer solche Besonderheiten erfahrbar werden. Diese Rahmen bedürften allerdings ebenfalls einer engeren Rückkopplung mit vorhandenen (pädagogischen) Theoriebeständen. An dieser Stelle setzen die weiteren Überlegungen ein, die ich in dieser Arbeit entwickle. Ich hoffe filmspezifische und pädagogische Überlegungen zusammenführen und damit einen Beitrag zu der Bearbeitung der gerade benannten Aufgaben leisten zu können.

3 Fremderfahrung

Bei der Erfahrung des Fremden handelt es sich um einen Erfahrungsbereich, der in der Filmpädagogik gegenwärtig kaum berücksichtigt wird, weil filmpädagogische Bemühungen eher darauf abzielen, den RezipientInnen zu Orientierung und Sicherheit im Umgang mit dem Film zu verhelfen. Ich greife diesen Erfahrungsbereich hier aber nicht nur auf, weil die filmpädagogische Arbeit dadurch um eine Blickrichtung erweitert werden könnte oder weil die Erfahrung des Fremden nach meiner Einschätzung ein großes Potenzial für die Anregung von Bildungsprozessen birgt. Sondern ich gehe deshalb besonders ausführlich auf die Dimension der Fremderfahrung ein, weil sie sowohl die bildungstheoretische als auch die filmtheoretische Diskussion berührt. Wie zu zeigen sein wird, lässt sich über die Erfahrung des Fremden eine theoretische Brücke zwischen Bildung und Film schlagen, weil Bildung auf die Erfahrung des Fremden angewiesen ist (vgl. Kapitel 5), und weil Filme diese Erfahrung ermöglichen können (vgl. Kapitel 7). Im Rahmen eines solchen Brückenschlags wird es möglich, die bislang ausgeblendeten Diskussionen in Bildungstheorie und Filmtheorie nicht nur (zumindest auszugsweise) aufzugreifen, sondern sie auch zu einem theoretisch begründeten Begriff der Film-Bildung zusammenzuführen.

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3.1 D AS K ONZEPT

DER F REMDERFAHRUNG ALS THEORETISCHE B RÜCKE ZWISCHEN „BILDUNG “ UND „F ILM “

Grundlage der folgenden Darstellung ist die von Bernhard Waldenfels in zahlreichen Publikationen entwickelte Phänomenologie des Fremden. Waldenfels’ Konzept der Fremderfahrung scheint mir als Ausgangspunkt für meinen theoretischen Brückenschlag geeignet, weil Waldenfels sowohl den Begriff des Fremden als auch den der Erfahrung differenziert entfaltet, und weil seine Überlegungen zahlreiche Anschlussstellen zur aktuellen sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung bieten, die er teilweise auch selber aufzeigt und ausführt – z.B. in den „deutsch-französischen Gedankengängen“ (Waldenfels 2005). Für mein Vorhaben sind wie erwähnt die Anschlussmöglichkeiten an Bildungstheorie und Filmtheorie besonders relevant, die später ausgeführt werden (vgl. Kapitel 5 und 7). Im Bereich der Bildungstheorie gibt es bereits einige Versuche, Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden aufzugreifen (z.B. Schäfer 2009 oder Koller/ Marotzki/ Sanders 2007), und für den Bereich der Filmtheorie deutet Waldenfels selber Anschlussmöglichkeiten an, indem er seine Überlegungen in die Nähe zu Deleuzes filmphilosophischer Vorstellung der „radikalen Empirie“ rückt, die ich weiter unten detaillierter vorstellen werde (vgl. Kapitel 6). Beide Möglichkeiten möchte ich vor dem Hintergrund der in Kapitel 2.2 beschriebenen Situation der Filmpädagogik ausarbeiten und damit eine neue Perspektive in die filmpädagogische Diskussion einführen. Die Radikalität von Waldenfels’ Begriff der Fremderfahrung erleichtert außerdem die Abgrenzung von gängigen, aber potenziell problematischen Versuchen, das Fremde „in den Griff zu bekommen“, die häufig eher dazu führen, dass das Fremde im Prozess des Verstehens oder der Aneignung verschwindet (dazu im nächsten Abschnitt genauer). Gleichzeitig bietet Waldenfels Anhaltspunkte für die Entwicklung einer produktiven Haltung im Umgang mit dem Fremden als Fremden, auf die ich im letzten Teil der Arbeit noch eingehen werde. Die durchgängige Frage seiner Texte zur Phänomenologie des Fremden lautet: „Wie können wir auf Fremdes eingehen, ohne schon durch die Art des Umgangs seine Wirkungen, seine Herausforderungen und seine Ansprüche zu neutralisieren oder zu verleugnen?“ (Waldenfels 2006, S. 9) Waldenfels’ Versuch, das Fremde „in den Blick

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und zur Sprache zu bringen“ (Waldenfels 1997, S. 11) soll nun nachgezeichnet werden.

3.2 D AS F REMDE Im Alltagsverständnis – und auch in vielen pädagogischen Texten und Konzepten – ist die Vorstellung verbreitet, das Fremde könnte verstanden, integriert oder angeeignet und auf diese Weise ausgeräumt werden. Nach Waldenfels ist diese Vorstellung eine Illusion, da das Fremde stets gleichzeitig mit dem Eigenen entsteht. Das Fremde ist das, was sich einer Ordnung entzieht, es begleitet also jede Ordnung und ist mit ihr untrennbar verbunden, wie ein Schatten oder eine Rückseite. Deshalb sagt Waldenfels: „So viele Ordnungen, so viele Fremdheiten.“ (Waldenfels 1997, S. 33) Jede Ordnung macht etwas unzugänglich, indem sie anderes zugänglich macht. Ein Beispiel dafür ist die Sprache: Der Erwerb einer Sprache eröffnet uns erst den Zugang zu bestimmten Bereichen von Sinn. Gleichzeitig sind in der Sprache Sinnvorstellungen präformiert – im Fall der deutschen Sprache z.B. die Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit. Dadurch entstehen gleichzeitig mit dem Zugang zu einer Sprache Fremdheitsbereiche: Fremd ist in dem genannten Beispiel der/ die/ das geschlechtlich Unbestimmte. Dem Fremden lässt sich also nicht entgehen. Vielmehr ist anzunehmen, dass in einer Zeit der Pluralisierung vorhandener Ordnungen auch eine Pluralisierung von Fremdheiten stattfindet. Wie am Beispiel der Sprache deutlich wird, kann das Fremde nicht innerhalb eines übergeordneten Ordnungsgefüges gedacht werden, das Eigenes und Fremdes umfasst. Vielmehr gibt es verschiedene Ordnungen, innerhalb derer jeweils bestimmte Zugänge zum Eigenen und zum Fremden möglich (und andere ausgeschlossen) sind. Fremdheit lässt sich deshalb nicht ihrem Wesen nach bestimmen. Fragen wie „Was ist das Fremde?“ oder „Welche Eigenschaften hat das Fremde und woran kann ich es erkennen?“ sind nach Waldenfels falsch gestellt, weil in ihnen vorausgesetzt wird, dass sich das Fremde innerhalb der eigenen Ordnung erkennen und bestimmen lässt. Mit genau diesem Impuls wird das Fremde aber gerade verfehlt, weil die Bestimmung des Fremden – also seine Rückführung auf ein Bekanntes/ Eigenes – bereits eine Strategie der Abwehr ist.

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Da sich das Fremde nicht positiv bestimmen lässt, versucht Waldenfels, seine Gegebenheitsweise in paradoxalen Beschreibungen zu fassen. Dabei knüpft er an Husserls Auffassung an, der zufolge das Fremde sich ausschließlich über die Art seiner Zugänglichkeit bestimmen lässt. Die Zugänglichkeit des Fremden ist nach Husserl „die bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ (zit. nach Waldenfels 1997, S. 25). Nach dieser paradoxen Bestimmung ist der Ort des Fremden in der Erfahrung ein „Nicht-Ort“ (Waldenfels 1997, S. 26). „Das Fremde ist nicht einfach anderswo, es ist das Anderswo“ (Waldenfels 1997, S. 26, Herv.i.O.). Dabei handelt es sich nach Waldenfels nicht um eine negative Bestimmung: „Vielmehr haben wir es mit einer Art leibhaftiger Abwesenheit zu tun“ (Waldenfels 1997, S. 26). Das Fremde ist also nicht einfach nur unzugänglich und fern, sondern es ist gerade in dieser Unzugänglichkeit anwesend. Das Fremde ist in seiner Unzugänglichkeit als Fremdes erfahrbar und zwar gerade, weil es sich nicht erkennen, bestimmen oder verstehen lässt. Dazu noch einmal Waldenfels: „Fremderfahrung besagt nicht, daß es etwas gibt, das unzugänglich ist, im Gegensatz zu anderem, das zugänglich ist, vielmehr legt Husserls paradoxe Kennzeichnung die Annahme nahe, daß etwas da ist, indem es nicht da ist und sich uns entzieht“ (Waldenfels 1997, S. 29, Herv.i.O.). Diese Besonderheit der Fremderfahrung macht Waldenfels am Beispiel der Begegnung mit einer fremden Sprache deutlich (Waldenfels 1997, S. 9): Wer einen anderen Menschen in einer fremden Sprache sprechen hört, wird dessen Äußerungen nicht verstehen und im gleichen Moment bemerken, dass er sie nicht versteht. Die fremde Sprache zeigt sich dem Hörer, indem sie sich ihm entzieht; die Begegnung mit einer vertrauten Sprache hätte wahrscheinlich kein vergleichbares Aufmerken ausgelöst. Ähnlich geht es vielen ZuschauerInnen mit Filmen, die ihnen in Bezug auf Inhalt oder Form fremd sind. Im Gegensatz zu einem vertrauten Film, der sich reibungslos handhaben lässt – wir können ihn „greifen“, verstehen oder weiterempfehlen, ohne dass er sich entzieht – löst ein „fremder“ Film das beschriebene Aufmerken aus: Ich bemerke, dass die gewohnten Zugänge nicht funktionieren. Die Zugänglichkeit des Films liegt gerade in dieser Unzugänglichkeit: Er entzieht sich meinem Zugriffsversuch, ist also innerhalb meiner Ordnung für mich nicht zugänglich und in dieser Gegebenheitsweise trotzdem gegenwärtig. Waldenfels’ Vorgehensweise ist eine „topographische“, da er versucht, das Fremde von „Orten“ aus zu denken. Damit grenzt er sich von einem

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zeitlichen Geschichts- und Entwicklungsverständnis des Fremden ab, nach dem fremd lediglich das ist, „was nicht mehr oder noch nicht zugänglich ist“ (Waldenfels 1997, S. 12, Herv.i.O.). Zusätzlich ermöglicht die topographische Perspektive die Betrachtung des komplizierten Zusammenhangs zwischen Eigenem und Fremdem. Das Fremde befindet sich nach Waldenfels nämlich nicht einfach außerhalb des eigenen Bereichs, sondern es ist durch eine „Schwelle“ (Waldenfels 1997, S. 21) vom Eigenen getrennt, wie Schlafen von Wachen, Alter von Jugend oder Leben von Tod. Wir können die Schwelle nicht beliebig in beide Richtungen überqueren, und es gibt keinen neutralen dritten Standpunkt, von dem aus beide Seiten der Schwelle betrachtet werden könnten – so spreche ich als Lebendige über Leben und Tod, als junger Mensch über Jugend und Alter oder wach über Wachen und Schlafen. Es gibt also immer einen gewissen Vorrangbereich, von dem aus mir das Fremde begegnet. Das heißt aber nicht, dass die Schwelle zwischen mir und einem äußeren Fremden verliefe – vielmehr beginnt Fremdheit in uns selbst, die Schwelle verläuft also auch im Eigenen. Mit Waldenfels’ Worten: „Kurz gesagt: Es gibt keine Welt, in der wir je völlig zu Hause sind, und es gibt kein Subjekt, das je Herr im eigenen Hause wäre.“ (Waldenfels 1997, S. 11) Als Beispiel für eine solche Fremdheit im Eigenen nennt Waldenfels die eigene Geburt, auf die unsere Erfahrung zwar zurückweist, die wir aber nie als Ereignis oder Gegenwart erlebt und für die wir uns nicht entschieden haben. Die Erfahrung des Fremden im Eigenen kann besonders beunruhigend oder schockierend sein, da sie sich der positiv besetzten Alltagsvorstellung von Selbstsicherheit, Autonomie und Souveränität stark widersetzt. Deshalb führen auch häufig gerade solche Filme zu Verunsicherung oder zu Widerständen und Ablehnung, die den Zuschauer mit dem Fremden im Eigenen in Berührung bringen; ihn also der Erfahrung des „Selbstentzugs“ konsequent aussetzen. Fast alle Filme des österreichischen Regisseurs Michael Haneke haben diese Qualität. In Kapitel 8.1 werde ich deshalb Hanekes Film „Caché“ hinsichtlich seines Subjektbezugs untersuchen. Waldenfels’ Vorstellung des Fremden im Eigenen weist bereits eine Nähe zu der gegenwärtigen bildungstheoretischen Diskussion um das Subjekt auf, im Rahmen derer das Subjekt als „dezentriert“ und in komplexe Fremdbezüge verwoben gedacht wird (z.B. Koller 2001 oder Lüders 2007). Daran anknüpfend werde ich in Kapitel 5.1 die Überlegung entwickeln, dass die Erfahrung des Fremden (im Eigenen) ein unverzichtbares Moment

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im Prozess der Subjektkonstitution und damit auch im Prozess der Bildung ist.

3.3 D ER B EGRIFF

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Erfahrung versteht Waldenfels als einen Prozess, im Rahmen dessen sich Sinn bildet und „Dinge Struktur und Gestalt annehmen“ (Waldenfels 1997, S. 19). Erfahrungen finden innerhalb bestimmter Ordnungen statt, die bewirken, dass uns etwas „so und nicht anders“ (Waldenfels 1997, S. 20) erscheint. Dieser Prozess verläuft allerdings nicht bruchlos, eindeutig oder einheitlich. Erfahrung ist „nicht aus einem Guß“ (Waldenfels 2002, S. 9), sie ist brüchig und weist Sprünge und Risse auf. Einer dieser Risse, der meistens nicht als solcher wahrgenommen wird, besteht bereits darin, dass „etwas als etwas“ erscheint (Waldenfels 1997, S. 19). Indem „etwas als etwas“ erscheint – z.B. als Liebesfilm, als Doktorarbeit oder als Universitätsgebäude – entsteht Bedeutung. Eine „Wirklichkeit“ wird mit einem Sinn verbunden und bleibt gleichzeitig von ihm getrennt. „Das Als fungiert als Scharnier zwischen dem, was ist, und dem, als was es ist, indem es zugleich eine Kluft zwischen beidem aufreißt“ (Waldenfels 2002, S. 29). Diese gleichzeitige Verbindung und Scheidung zwischen Gegenstand und Bedeutung bezeichnet Waldenfels als „signifikative Differenz“ (Waldenfels 2002, S. 28), als eine Bruchlinie, an der die Erfahrung verschoben ist – denn Erfahrung kann nie am „reinen Gegenstand“ gemacht werden. Diese signifikative Differenz ist für Waldenfels ein konstitutives Moment von Erfahrung: „Nichts ist gegeben, ohne als solches gegeben zu sein, und niemand läßt sich darauf ein, ohne sich als jemand zu verhalten.“ (Waldenfels 2006, S. 35, Herv.i.O.). Gegenstand und Bedeutung werden also in der Erfahrung miteinander verbunden, fallen aber nie zusammen: „Dass etwas als etwas erscheint, bedeutet eben nicht, dass es etwas ist. Es wird zu etwas, indem es einen Sinn empfängt und damit sagbar, traktierbar, wiederholbar wird.“ (Waldenfels 2006, S. 38, Herv.i.O.) Das wird uns meistens erst dann bewusst, wenn dieser Prozess gestört wird – wie es bei einer Fremderfahrung der Fall ist – wenn es nicht gelingt, einen Gegenstand mit einer Bedeutung zu verknüpfen, wenn er nicht „sagbar“, „traktierbar“ oder „wiederholbar“ wird. Wie ich weiter unten begründen werde (vgl. Kapitel 9.1), lässt sich daraus ein Kriterium für eine me-

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dienpädagogisch fundierte Filmauswahl und Filmkritik ableiten: „Gute Filme“ können sich dadurch auszeichnen, dass sie die signifikative Differenz erfahrbar machen, indem sie eindeutige Sinnzuschreibungen erschweren. Sie lösen den Impuls zur Signifikation immer wieder aus, lassen ihn aber nicht zur Ruhe kommen. Auch Waldenfels weist auf diese Qualität von Kunst hin: „Das Fremde zeigt ( ) eine Nichtassimilierbarkeit, wie sie uns besonders eindringlich im Bereich von Kunst (...) begegnet.“ (Waldenfels 1997, S. 51, Herv.i.O.) Im Rahmen einer Erfahrung entstehen also Bedeutungszuschreibungen. Diese sind allerdings nicht beliebig und nicht unabhängig vom Gegenstand der Erfahrung. Waldenfels betont, dass in jedem Prozess der Repräsentation noch ein Moment der Präsentation enthalten ist: „Wir dürfen aber annehmen, daß es ein präsentatives Moment in jeglicher Repräsentation gibt, etwas, das nicht etwas, aber deswegen noch nicht nichts ist. [...] Etwas ist anders als es selbst, indem es als dieses oder jenes auftritt; aber es ist nicht etwas anderes als es selbst, etwa bloßes Bild oder Zeichen.“ (Waldenfels 2002, S. 30, Herv.i.O.)

Damit entgeht er einer Verkürzung, die er den VertreterInnen poststrukturalistischer, kognitivistischer und semiotischer Theorien vorwirft, nämlich der einseitigen Auflösung der signifikativen Differenz, indem das Ding selbst als Zeichen verstanden wird. Wie zu zeigen sein wird, entwickelt Deleuze im Rahmen seiner Filmphilosophie eine ähnliche Denkfigur, indem er den Film als radikal empirisch fasst und innerhalb dieses Verständnisses gleichzeitig die Unterscheidung von Präsentation und Repräsentation aufrecht erhält1. Mit Deleuze lässt sich ein Film daher auch als Medium der (potenziellen) Fremderfahrung beschreiben (vgl. Kapitel 7). Waldenfels betont die Bedeutung der „Sachen selbst“ im Prozess der Erfahrung. Damit weist er die Vorstellung eines starken und autonomen

1

Deleuze geht zwar davon aus, dass es filmische Repräsentationsmuster gibt, die vorhandene Wahrnehmungsgewohnheiten bedienen; er nimmt aber gleichzeitig an, dass diese Muster mit den Mitteln des Films unterbrochen werden können, sodass die präsentative (also die „empirische“ oder materielle) Qualität des Gezeigten in den Vordergrund tritt und vertraute Wahrnehmungsmuster herausgefordert werden (Kapitel 6).

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Subjekts zurück, das über eine Erfahrung verfügt. Zwar gibt es keine Erfahrung ohne jemanden, der sie macht, aber die Erfahrung ist eben auch keine rein subjektive Konstruktion. Einer solchen „Dequalifizierung der Erfahrung“ (Waldenfels 2002, S. 102) stellt Waldenfels die Vorstellung einer „welthafte[n]“ Empfindsamkeit (Waldenfels 2002, S. 102) gegenüber, einer Erfahrung, die eine „qualitative Färbung“ zeigt und in der „verschiedene Richtungen vorgezeichnet“ sind (Waldenfels 2002, S. 102). Einer Erfahrung also, im Rahmen derer sich etwas zeigt, das nicht der Regie des Subjekts unterliegt und das nicht mit einer beliebigen Bedeutung versehen werden kann. 3.3.1 Starke und schwache Erfahrung Die Qualität und die Wucht einer solchen Erfahrung kann stark variieren: So kann die Art, auf die das „Als“ der Erfahrung erfahren wird, mehr oder weniger festgelegt sein. Waldenfels spricht von einer starken und einer schwachen Variante der Erfahrung (Waldenfels 2002, S. 30). Im Rahmen schwacher Erfahrungen werden Erfahrungsbereiche wahrgenommen, die sich auf vorhandene Annahmen beziehen und diese entweder bestätigen oder entkräften. Positiv lässt sich dieser Prozess als Normalisierung oder Habitualisierung bezeichnen (Waldenfels 2002, S. 31). Erfahrung ist dann ein Prozess, im Rahmen dessen Wirklichkeit aufgebaut wird. Eine extreme Form der schwachen Erfahrung liegt vor, „wenn das Als eingefroren wird in Klischees oder Schablonen, die wie fertige Bildstocks oder Bildvorlagen verwendet werden, und wenn es sich in Stereotypen, also in feststehende Typen verwandelt“ (Waldenfels 2002, S. 31). Eine solche Technologisierung der Erfahrung findet statt, wenn die Differenz zwischen dem, was sich zeigt, und der Art, wie es sich zeigt, verschwindet, wenn die Dinge immer die gleichen, feststehenden Strukturen und Gestalten annehmen. Die Produktion von Sinn besteht dann ausschließlich im Aufrufen und Fortschreiben vorhandener Annahmen. „Die Welt verwandelt sich in ein ‚Weltbild‘ [...]. Daraus gibt es kein Entrinnen, wenn das, was ist, mit seinem Vor- und Hergestelltsein zusammenfällt, wenn das was sich zeigt, sich mit seinem Sinn deckt.“ (Waldenfels 2002, S. 31) Folgt man Waldenfels’ Vorstellung einer nicht-beliebigen, welthaften Wahrnehmung, haben an solchen Normalisierungsprozessen sowohl die jeweiligen Gegenstände als auch die jeweiligen Zugangsweisen einen An-

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teil. Oder anders ausgedrückt: Die Erfahrung findet in einem Zwischenbereich zwischen Gegenstand und Zugangsweise statt. Bezogen auf den Gegenstand „Film“ könnte das heißen, dass Normalisierung sowohl auf der Ebene der Produktion, als auch auf der Ebene der Rezeption nahe gelegt werden kann. Auf der Ebene der Produktion z.B. indem der Regisseur sich vor allem bekannter Darstellungsweisen bedient und sowohl inhaltlich, als auch formal gängige Sinnvorstellungen reproduziert. Auf der Ebene der Rezeption z.B. indem die ZuschauerInnen versuchen, sich die Gegenstände anzueignen, sie möglichst bruchlos in vorhandene Deutungsmuster einzufügen. Wie ich gezeigt habe, legt die gegenwärtige Ausrichtung filmpädagogischer Bemühungen eine solche Normalisierung der Erfahrung nahe (vgl. Kapitel 2.2). Beispielsweise, indem bei der Filmauswahl an die Sehgewohnheiten der Heranwachsenden angeknüpft wird, die sich meistens im Bereich von „Normalvorstellungen“ bewegen. Oder indem die RezipientInnen dazu angeregt werden, eine möglichst stabile Beziehung zwischen der Art, auf die sich etwas zeigt, und dem, was sich zeigt, herzustellen und auf diese Weise das „Als“ der Erfahrung festzustellen. Bezogen auf den Bereich der Wissenschaften weist Waldenfels mit Foucault auf die potenziell problematische Verknüpfung von Wissen und Können hin, die als „Disziplinierungsprozess“ dem Abbau von Fremdheiten und einer Normalisierung der Wissenschaften Vorschub leisten könne (vgl. Waldenfels 1998, S. 59). Dieser Gedanke scheint mir auch im Zusammenhang mit meinen eigenen Überlegungen interessant, da die in der Filmpädagogik verbreitete Kompetenzorientierung ebenfalls auf eine Verknüpfung von Wissen und Können hinausläuft (vgl. Kapitel 2.2), die dazu führen könnte, dass das Wissen um die Filmsprache und die Fähigkeit zur Filmanalyse so routiniert an Filme herangetragen werden, dass der Film nicht mehr überraschen kann. Die Filmerfahrung kann so zu einer schwachen Erfahrung werden. Das Adjektiv „schwach“ ist hier allerdings nicht wertend, sondern analytisch gemeint. Normalisierung ist ein grundsätzlicher und unverzichtbarer Bestandteil von Verarbeitungsprozessen, hat aber für Bildungsprozesse eine andere Funktion als „starke“ Erfahrungen. Auf die bildungstheoretische Bedeutung sowohl schwacher, als auch starker Erfahrungen komme ich noch zu sprechen (Kapitel 5.4). Starke Erfahrungen beschreibt Waldenfels so: „Die starke Variante besagt, daß wir Erfahrungen machen und durchmachen, die uns und unsere

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Welt verändern“ (Waldenfels 2002, S. 30). Das ‚Als‘ ist nicht festgelegt, sondern freigesetzt, und sorgt für Störungen und Brüche der Erfahrungen. Waldenfels betont, dass es sich dabei nicht einfach um die Konkurrenz verschiedener Deutungsmuster handelt, sondern um Störungen, die mitten in den Strom der Erfahrungen einbrechen: „In all diesen Fällen taucht etwas auf, das uns zufällt, zustößt, bevor es als etwas aufgefaßt, verstanden oder abgewehrt wird. Die Störerfahrung ist nicht zu verwechseln mit der nachträglichen Deutung als Störung und entsprechenden Abwehrmaßnahmen, mit denen wir unsere Fassung zurückgewinnen.“ (Waldenfels 2002, S. 33)

Die Interpretation als „Störung“ ist also eine Strategie der nachträglichen Einordnung, der die starke Erfahrung immer schon vorausgegangen ist – die Erfahrung, etwas nicht verstehen, benennen oder handhaben zu können. Der Prozess, in dem etwas als etwas erscheint, wird bei einer starken Erfahrung unterbrochen: „[D]ieses etwas, das nicht als etwas erscheint, entzieht sich den geläufigen Sinnerwartungen und Regelungen, es übersteigt deren Fassungskraft bis hin zu dem Punkt, wo für uns eine Welt zusammenbricht“ (Waldenfels 2002, S. 33, Herv.i.O.). Auch Filme können starke Erfahrungen auslösen, die sich z.B. darin äußern, dass die ZuschauerInnen schockiert oder verstört sind, das Gefühl haben, etwas nicht aushalten oder nicht anschauen zu können. Der von Waldenfels beschriebene Bruch im Prozess der Verarbeitung und Einordnung von Erfahrungen kann auch körperliche Reaktionen wie Schweißausbrüche, Tränen, Schwindel oder Ohnmacht hervorrufen. Eine starke Erfahrung entzieht sich dem (ein-) ordnenden Zugriff und hat darin immer ein verunsicherndes, irritierendes oder schockierendes Moment. Allerdings weist Waldenfels darauf hin, dass starke Erfahrungen meistens ambivalent sind und auch Neugier, Erregung oder Lust auslösen (Waldenfels 2002, S. 62). Dies ist gleichzeitig die Voraussetzung für die Möglichkeit eines produktiven Umgangs mit solchen Erfahrungen (Waldenfels 2002, S. 196) und auch für die Möglichkeit von Bildung, weil starke Erfahrungen uns eine kreative Antwort abverlangen und diese gleichzeitig ermöglichen (vgl. dazu Kapitel 3.6 und 5.4).

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3.4 D IE E RFAHRUNG DES F REMDEN Die Erfahrung des Fremden ist eine starke Form der Erfahrung, das heißt, der oben beschriebene Prozess der Signifikation wird bei einer Fremderfahrung unterbrochen. Waldenfels entwickelt ein radikales Verständnis dieser Erfahrung. In der Konfrontation mit dem Fremden wird seiner Auffassung nach auch Vertrautes fremd, so dass sich die Fremderfahrung nicht als bloße Spezifizierung vertrauter Erfahrungsbereiche denken lässt: „Die Konfrontation mit dem Fremden löst stets einen Rückschlag aus. Erfahrung, Sprache, Land, Leib, Vernunft und Ich, die als fremd auftreten können, hören auf, schlicht das zu sein, was sie bislang waren. Erfahrung des Fremden, die mehr bedeutet als einen Erfahrungszuwachs, schlägt um in ein Fremdwerden der Erfahrung und ein Sich-Fremdwerden dessen, der die Erfahrung macht.“ (Waldenfels 1997, S. 9/ 10)

Die Erfahrung des Fremden lässt sich also nicht als „Erfahrungszuwachs“ im Bereich des Fremden fassen, sondern muss als Transformationsprozess gedacht werden. Darin hat das Konzept bereits eine Nähe zum Bildungsbegriff der aktuellen bildungstheoretischen Diskussion, in der Bildung häufig als Transformationsprozess beschrieben wird (vgl. z.B. Marotzki 1990, Koller 1999, Peukert 2000 oder Koller/ Marotzki/ Sanders 2007). Noch einmal Waldenfels: „Eine Erfahrung, die so etwas zuläßt wie die Erfahrung des Fremden, muß auf gewisse Weise sich selbst fremd werden, so daß man Erfahrungen macht und nicht nur solche sammelt. Dies bedeutet, wie schon vielfach gezeigt wurde, eine Korrektur an dem neuzeitlichen Begriff von Erfahrung, der durch die Zentrierung auf das Subjekt eigentümlich abgestumpft ist.“ (Waldenfels 1998, S. 64, Herv.i.O.)

Die erziehungswissenschaftliche Anschlussfähigkeit und Relevanz dieser Feststellung lässt sich daran erkennen, dass das Fragwürdig-Werden des neuzeitlichen Subjektbegriffs gegenwärtig ein zentraler Aspekt bildungstheoretischer Überlegungen ist (vgl. Koller 2001 und zusammenfassend Lüders 2007). Die film- und medienpädagogische Diskussion bleibt zuweilen hinter diesem Stand zurück – z.B. wenn Autonomie, Souveränität oder Emanzipation des Subjekts unterhinterfragt als Ziele film- und medienpä-

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dagogischer Aktivitäten genannt werden (vgl. Kapitel 2.2). Es wird zu zeigen sein, dass gerade die Grenzen einer solchen Autonomievorstellung bildungstheoretisch interessant sind. Das von Waldenfels formulierte Subjektverständnis erlaubt und erfordert außerdem eine differenziertere Betrachtung der Rolle der Medien bzw. des Films in solchen Bildungs- und Erfahrungsprozessen. Diese werde ich in den Kapiteln 7 und 8.1 unter Rückgriff auf die Filmphilosophie Gilles Deleuzes näher untersuchen.

3.5 B EWÄLTIGUNG DER E RFAHRUNG DES F REMDEN Eine Fremderfahrung führt also dazu, dass das Subjekt sich selbst fremd wird. Diese Erfahrung kann sehr beunruhigend sein und das Bedürfnis nach Bewältigung hervorrufen. Es gibt verschiedene Strategien, die sich zu der Bewältigung des Fremden eingeschliffen haben, ohne dass sie uns als Bewältigungsstrategien erscheinen. Eine ist die Gleichsetzung des Fremden mit dem Feindlichen, die zu einer klaren Ausgrenzung und Bekämpfung des Fremden führt. George W. Bushs Rede von der „Achse des Bösen“ ist ein prägnantes Beispiel dafür. Der ehemalige amerikanische Präsident gab die einfache Devise aus: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ – ein anderer Umgang mit dem Fremden als seine Bekämpfung wird bei einer derartigen „Standortbestimmung“ von vornherein ausgeschlossen. Eine subtilere Strategie ist die Aneignung des Fremden – ein Verarbeitungsprozess, im Rahmen dessen Fremdes auf Eigenes zurückgeführt wird, mit dem (häufig unbewussten) Ziel, die Beunruhigung, die vom Fremden ausgeht, aufzuheben. Fremdes wird „bestimmt“, „verstanden“, „anerkannt“ oder „integriert“ und auf diese Weise gleichzeitig getilgt. Diese Strategie ist z.B. Bestandteil vieler Konzepte im Bereich der „interkulturellen Pädagogik“2. Die potenziell problematische Dimension solcher Handlungsvorschläge wird leicht übersehen, weil die Zielvorstellungen von „Anerkennung“ oder „Integration“ mit einer sehr stabilen positiven Konnotation verbunden sind.

2

Vgl. dazu kritisch Ha/ Schmitz (2006), die zeigen, dass das pädagogische Konzept der „Integration“ immer auch ein Moment des Übergriffs und der Zurichtung enthält, oder Balzer (2007), die deutlich macht, dass „Anerkennung“ immer auch eine Dimension der Festlegung nach Maßgabe des Eigenen hat.

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Aber sie basieren auf der Logik einer Vergleichbarkeit von Eigenem und Fremdem, die es nach Waldenfels nicht geben kann, da das Fremde durch seine Unzugänglichkeit bestimmt und damit jedem Vergleich „entrückt“ ist (Waldenfels 1997, S. 50). Das Fremde kann daher nicht als unbekanntes Etwas gedacht werden, das es zu bestimmen, zu verstehen oder zu erfassen gilt. Vor diesem Hintergrund fragt Waldenfels, wie das Fremde überhaupt „als Fremdes“ (Waldenfels 1997, S. 50) auftreten und seiner Aneignung widerstehen kann; bzw. wie wir auf Fremdes eingehen können, ohne die Fremdheit des Fremden schon durch die Art des eigenen Zugriffs aufzuheben. Waldenfels’ Vorschlag ist es, das Fremde als das „Worauf“ einer Antwort zu denken. Er hält eine Veränderung der Perspektive für notwendig, die darin besteht, dass wir das Fremde nicht als Ziel unseres Sagens und Tuns betrachten, sondern als dessen Ausgangspunkt (Waldenfels 1997, S. 51). Damit rückt der Anspruch des Fremden in den Vordergrund, der uns trifft und beunruhigt noch bevor wir nach dem Fremden fragen, es aufsuchen oder einlassen – ein Geschehen also, an dem wir nicht intentional beteiligt sind. Den Begriff des Anspruchs verwendet Waldenfels in einem doppelten Sinn: Als Bezeichnung dafür, dass das Fremde uns anspricht und als Ausdruck dafür, dass wir auf das Fremde zu antworten haben, dass es gilt, dem Fremden gerecht zu werden. Diese normative Komponente von Waldenfels’ Denken werde ich im Rahmen meines bildungstheoretischen Brückenschlags wieder aufgreifen (vgl. Kapitel 5.3). Wie in den Kapiteln 2.2 und 3.3.1 bereits anklang, hat ein Perspektivwechsel wie Waldenfels ihn vorschlägt, und der aus einer „Bewältigungsorientierung“ herausführen kann, in der Filmpädagogik bisher nicht stattgefunden. Filme werden nicht als mögliches „Worauf“ einer Antwort gedacht, sondern als Gegenstand von Verarbeitungsprozessen, den es möglichst in den Griff zu bekommen gilt. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich zeigen, welche Chancen eine Veränderung dieser Blickrichtung für eine bildungstheoretisch inspirierte Filmpädagogik m.E. bieten kann.

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3.6 P ATHOS UND R ESPONSE – ANTWORTEN DEN ANSPRUCH DES F REMDEN

AUF

Die Erfahrung des Fremden beginnt also damit, dass das Fremde uns anspricht; ihr Ausgangspunkt ist das unplanbare Getroffen-Werden von etwas Fremdem. Waldenfels geht davon aus, dass das Fremde von sich aus zutage tritt, sich zeigt und sich unterscheidet. Er denkt die Erfahrung des Fremden als ein Ereignis, über das das Subjekt nicht verfügt. Die Grundlage dieser Erfahrung, also das erwähnte „Worauf“ der Antwort, bezeichnet Waldenfels als „Pathos“ (Waldenfels 2006, S. 42) und meint damit das Geschehen, von dem die Erfahrung des Fremden ausgeht. Also solche Ereignisse, die uns „widerfahren, zustoßen, zufallen, uns überkommen, überraschen, überfallen“ (ebd.). Dabei unterscheidet Waldenfels zwei Dimensionen der Fremderfahrung, nämlich den pathischen Grund der Erfahrung, der sich als Anspruch des Fremden bemerkbar macht, und die Antwort auf diesen Anspruch. 3.6.1 Der Anspruch des Fremden Das Fremde ist als „Gegenstand“ der Erfahrung nicht direkt zugänglich; es entzieht sich einer positiven Bestimmung und wird nur über den „Anspruch“ erfahrbar, der uns im Rahmen einer Fremderfahrung trifft; z.B. in einem Aufschrecken oder Staunen, in einem Gefühl des Angezogenseins oder der Neugier, in vorsichtiger oder energischer Abwehr. Das Fremde fällt aus der Reihe, es drängt sich auf, es stößt uns zu, ereilt, trifft, überfällt oder verletzt uns, es erregt Aufmerksamkeit, Lust oder auch Unsicherheit, Schrecken und Befremden. Ein solches Ereignis beschreibt Robert Musil zu Beginn seines Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ein Ereignis, das wir – wie Waldenfels es ausdrückt – „als Verkehrsunfall zu beschreiben gewohnt sind“ (Waldenfels 2006, S. 39). Doch diese Zuordnung, dieser Sinn entsteht erst in der Antwort, die wir auf das Angesprochen-Sein durch ein Ereignis geben. Das Ereignis beginnt bei Musil mit dem Getroffen-Sein zweier Passanten. Musil beschreibt es als etwas Außerordentliches: „Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, ei-

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ne quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte [...] Die Blicke der Hinzukommenden richteten sich (...) in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. [...] Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube“ (Musil 2007, S. 10/ 11).

Auf die „Antwort“ der beiden Passanten komme ich gleich noch zu sprechen. Der Anspruch des Fremden zeichnet sich durch seine Unausweichlichkeit aus. Wir können uns dem Angesprochen-Werden nicht entziehen und noch eine Nicht-Antwort ist eine Form der Antwort. Die Unausweichlichlichkeit des fremden Anspruchs führt zu einer „Antwortlichkeit“ oder auch „Responsivität“. 3.6.2 Antworten auf den Anspruch des Fremden Das Antworten auf den Anspruch des Fremden entspricht nicht dem alltäglichen Antworten auf eine Frage. Es wird damit kein Mangel behoben, keine Lücke gefüllt, kein vorhandener Sinn aufgerufen oder reproduziert. Auch wird der Anspruch des Fremden in der Antwort nicht aufgehoben oder geklärt. Vielmehr geht der Anspruch stets über das hinaus, was wir zur Antwort geben – er stört vorhandene Ordnungen und Verstehensgewohnheiten und provoziert dadurch die Entstehung von neuem Sinn: „Berücksichtigen wir die Möglichkeit, daß im Antworten nicht bloß ein existierender Sinn wiedergegeben, weitergegeben oder vervollständigt wird, sondern daß im Gegenteil Sinn im Antworten selbst entsteht, so stoßen wir auf das Paradox einer kreativen Antwort, in der wir geben, was wir nicht haben.“ (Waldenfels 1997, S. 53, Herv.i.O.)

Wie ich noch ausführen werde, lässt sich ein Bildungsprozess auch als ein Geschehen beschreiben, im Rahmen dessen eine kreative Antwort auf eine subsumptionsresistente Erfahrung gegeben wird (Kapitel 5.4). Die Antwort besteht dann in einer Veränderung vorhandener Muster der Erfahrungsverarbeitung, die aufgrund des Getroffen-Seins durch die Erfahrung des Fremden möglich und erforderlich wird. Kokemohr weist allerdings darauf hin, dass eine solche kreative Antwort eher der Ausnahmefall ist und dass die

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Aufrechterhaltung vorhandener Selbst- und Weltverhältnisse empirisch näher liegt (Kokemohr 2004, S. 1). Diese Möglichkeit sieht auch Waldenfels. Seiner Beschreibung nach gibt es verschiedene Arten des Antwortens: Es gibt das eben beschriebene kreative Antworten, im Rahmen dessen neuer Sinn entsteht, ein „Antworten auf ungeahnte Ansprüche, das eine bestehende Ordnung durchbricht und die Bedingungen des Verstehens und der Verständigung mit verändert“ (Waldenfels 2006, S. 67). Und es gibt ein Antworten, im Rahmen dessen vorhandener Sinn festgeschrieben, Fremdes auf Bekanntes reduziert und Außerordentliches auf vorhandene Ordnungen zurückgeführt wird. Als Beispiel für die zweite Art des Antwortens nennt Waldenfels nun die Reaktion, die das erwähnte Paar in Musils Roman angesichts des schweren Verkehrsunfalls zeigt: Der Passant erklärt seiner Begleiterin, was ein zu langer Bremsweg ist und warum der Unfallwagen nicht rechtzeitig zum Stehen kam. Über die Empfindung, die sich bei der Begleiterin daraufhin einstellt schreibt Musil: „[E]s genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging“. Weiter heißt es: „Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, daß sich ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe.“ (Musil 2007, S. 11, Herv. H.W.)

Wie meine Analyse gezeigt hat (vgl. Kapitel 2.2), wird eine solche sinnfestschreibende, einordnende Art des Antwortens auch in vielen filmpädagogischen Konzepten angestrebt. Es geht dann genau darum, Filme als „gesetzliche“ und „ordnungsgemäße“ Phänomene wahrnehmbar zu machen. Die „allgemeine Wahrnehmungsbildung“, die Maurer (2006a, S. 24) fordert, hat z.B. das Ziel, den Blick der Zuschauer auf filmische Gesetzmäßigkeiten zu lenken. Wie ich annehme mit dem Effekt, dass der Film seine Rezipienten nicht mehr „unmittelbar angeht“. Denn das ist in filmpädagogischen Settings gar nicht unbedingt erwünscht: Als erfolgreiche Unterrichtsstunde wird tendenziell nicht diejenige eingeschätzt, an deren Ende die Schüler das Klassenzimmer sprachlos oder verwirrt verlassen, sondern die, nach der man sich mit dem Eindruck trennt, „gesetzliche“ und „ordnungsgemäße“ Phänomene (wieder)erkannt zu haben (so und so funktioniert dieser Trick, diese oder jene Einstellung, Musik oder Beleuchtung hat diesen oder jenen

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Effekt, es ist nicht überraschend, dass wir bei dieser oder jener Darstellung erschauern, usw.). Das Entstehen einer kreativen Antwort dürfte durch eine solche Art des Zugriffs mindestens erschwert werden. Wie bereits erwähnt sieht Waldenfels eine Perspektive für das kreative Antworten in der Änderung der eigenen Einstellung zum Fremden (Waldenfels 1997, S. 50). Anstatt zu fragen, was das Fremde ist, sollte von der Beunruhigung durch das Fremde ausgegangen werden. Das Fremde ist etwas, worauf wir zu antworten haben; es ist nicht Ziel des eigenen Sagens und Tuns, sondern dessen Ausgangspunkt (vgl. Kapitel 3.5). Sieht man in dem von Waldenfels beschriebenen Antwortgeschehen einen (potenziellen) Bildungsprozess (wie ich es oben andeute und in Kapitel 5.4 ausführe), so lässt sich der Anspruch des Fremden vor diesem Hintergrund als unverzichtbarer Ausgangspunkt von Bildungsprozessen betrachten (dazu genauer in Kapitel 5.4). Bernhard Waldenfels ist kein Erziehungswissenschaftler, und er betrachtet starke und schwache Erfahrungen oder sinnfestschreibendes und kreatives Antworten vor allem in analytischer Perspektive. Für einen pädagogischen Gedankengang, wie ich ihn hier entwickeln möchte, ist natürlich auch die Frage interessant, ob PädagogInnen der Erfindung kreativer Antworten irgendwie den Weg bereiten können. Mit seinem Konzept der welthaltigen Erfahrung – die es weder ohne denjenigen gibt, der die Erfahrung macht, noch ohne den Gegenstand, an dem die Erfahrung gemacht wird, die also immer in einem „Zwischen“ von Gegenstand und Zugang stattfindet – bietet Waldenfels mindestens zwei Anknüpfungspunkte für pädagogische Anschlussüberlegungen (wie ich in Kapitel 3.3.1 bereits kurz angedeutet habe und im weiteren Verlauf der Arbeit genauer ausführen werde – vgl. Kapitel 5.4 und 9). Nämlich erstens den Bereich der Ermöglichung oder Förderung bestimmter „Zugänge“ und zweitens der Bereich der Auswahl oder Präsentation bestimmter „Gegenstände“. Allerdings lassen sich diese Bereiche nicht losgelöst voneinander betrachten – auch wenn dieser Versuch in der aktuellen filmpädagogischen Diskussion immer wieder gemacht wird (vgl. Kapitel 2.2)3. In Kapitel 9 werde ich darstellen, welche pädago-

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Denn mit der Formulierung ausschließlich zugangs- oder personenbezogener Ziele (wie bestimmter Verstehenskompetenzen) wird die fragwürdige Vorstellung eines vorgängigen und souveränen Subjekts aufgerufen. Und mit der losgelösten Betrachtung des Films als (Unterrichts-)Gegenstand wird dessen präsen-

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gischen Möglichkeiten ich für die Förderung kreativer Antworten „zwischen“ Gegenstand und Zugang sehe. Aber zunächst möchte ich die aktuelle Diskussion um den Begriff der Bildung darstellen, die Ausgangspunkt meines bildungstheoretischen Brückenschlags und damit auch meiner pädagogischen Anschlussüberlegungen sein wird.

tative Ebene unterschritten, die stets über mögliche Entschlüsselungsversuche hinausgeht.

4 Bildung

In Kapitel 2.2 wurde deutlich, dass „Bildung“ in der Filmpädagogik tendenziell als Wissens- oder Kompetenzerwerb gedacht wird, und dass die bildungstheoretische Diskussion, wie sie in der allgemeinen Erziehungswissenschaft geführt wird, in der Medienpädagogik und vor allem in der Filmpädagogik kaum ankommt. Wie erwähnt ist es mein Anliegen, eine Anschlussmöglichkeit zwischen der aktuellen Diskussion im Bereich der Bildungstheorie und der Filmpädagogik zu erarbeiten. Dafür soll nun der Diskussionsstand in der Bildungstheorie betrachtet werden. Dieser ist sehr heterogen, und die grundlegenden Positionen reichen von der Einschätzung, dass der Bildungsbegriff unentbehrlich ist (Tenorth 2000), aber einer Reformulierung bedarf (Koller 2002), über die Frage, ob das Konzept der Bildung überhaupt (noch) brauchbar ist (Masschelein/ Ricken 2003), bis zu der Einschätzung, dass der Bildungsbegriff kein wissenschaftlicher Terminus ist und durch andere Begriffe ersetzt werden sollte (Lenzen 2000). Mir geht es hier nicht um eine erschöpfende Darstellung solcher Positionen, sondern um eine übergeordnete Betrachtung aktueller bildungstheoretischer Herausforderungen und Probleme, mit denen die genannten Theoretiker auf je unterschiedliche Weise umgehen. Mein Anliegen ist nicht die umfassende Wiedergabe einzelner Konzepte, sondern die Auffächerung von grundsätzlichen Fragen und Problemen, die mir als Grundlage für den bildungstheoretischen Brückenschlag dient, den ich in Kapitel 5 vornehme, und mit dem ich meine weiterführenden Überlegungen zur Film-Bildung vorbereite. Aus der in Kapitel 2 vorgenommen Betrachtung ergibt sich m.E. der Bedarf, einen Zusammenhang zwischen Bildungstheorie und Filmpädagogik auf systematische Weise herzustellen. Ein solches Vorgehen scheint mir

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für mein Vorhaben sinnvoller und auch für spätere Überlegungen anschlussfähiger, als die Entwicklung eines konkreten bildungstheoretischen Modells, das in seiner Ausrichtung begründungsbedürftig und angreifbar wäre – was wiederum dazu führen könnte, dass die Frage nach dem (fehlenden) übergeordneten Zusammenhang aus dem Blick geriete. In meiner Darstellung orientiere ich mich an dem Vorgehen von Jenny Lüders (2007), der es ebenfalls um die systematische Rekonstruktion struktureller Aspekte von Bildung und die damit verbundene Gewinnung von Anschlussmöglichkeiten für weiterführende bildungstheoretische Überlegungen geht. Lüders unterscheidet fünf Dimensionen des Bildungsbegriffs, entlang derer systematische Probleme von ‚Bildung‘ gegenwärtig verhandelt werden. Die Dimensionen sind: „Das Bildungssubjekt“, „Bildung und Gesellschaft“, „Bildung und Normativität“, „Die Prozessstruktur von Bildung“, sowie „Das Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung“ (vgl. ebd., S. 25/ 26). Zentrale Gehalte der bildungstheoretischen Debatte werden im Folgenden anhand dieser von Lüders benannten Dimensionen umrissen. Die zahlreichen Referenztheorien, die der Rekonstruktion von Lüders zugrunde liegen und die von der Autorin ausführlich und differenziert betrachtet werden, werden hier nicht alle im einzelnen eingeführt. Mir geht es darum, die Heuristik von Lüders vorzustellen und für mein Vorhaben aufzugreifen. In der Beschreibung der Dimensionen folge ich Lüders’ Darstellung und ergänze diese teilweise unter Rückgriff auf zusätzliche Texte. Im Anschluss an diese Darstellung werde ich dann zeigen, dass sich der Bezug auf das Fremde als konstitutives Moment aller von Lüders genannten Dimensionen von Bildung erweist (Kapitel 5). Die Erfahrung des Fremden liegt insofern quer zu Lüders’ Systematik und kann – wie ich ausführen werde – als bildungstheoretisch paradigmatische Situation beschrieben werden.

4.1 D IMENSION 1: D AS B ILDUNGSSUBJEKT Lüders bestimmt die Frage nach dem Bildungssubjekt als erste Dimension von Bildung, da es ihrer Analyse zufolge ein zentrales Ziel bildungstheoretischer Bemühungen ist, zu klären, welche Rolle dem Subjekt im Prozess seiner eigenen Bildung zukommt (Lüders 2007, S. 26). Eine Herausforde-

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rung für solche bildungstheoretischen Überlegungen besteht darin, dass das Konzept des Subjekts äußerst umstritten ist. Weitgehende Einigkeit herrscht lediglich darüber, dass die klassische Vorstellung eines autonomen und in sich kohärenten Subjekts, das frei und unabhängig handelt, theoretisch nicht mehr haltbar ist (vgl. zur Kritik der klassischen Subjektvorstellung z.B. Koller 2001). Im Gegensatz dazu wird das Subjekt heute eher als heteronom, fragmentiert und dezentriert beschrieben. Ausgangspunkt bildungstheoretischer Überlegungen muss daher die Formulierung einer theoretisch tragfähigen Subjektvorstellung sein. Anhaltspunkte für ein solches Vorhaben sieht Lüders in den Diskussionen um Differenz, Heteronomie, Alterität und Sprachlichkeit (Lüders 2007, S. 29). 4.1.1 Differenz Lange Zeit galt die Entstehung von „Identität“ als Bildungsziel. Der Entwurf einer zusammenhängenden, in sich stimmigen und wiedererkennbaren Vorstellung von sich selbst wurde als (Bildungs-)Aufgabe des Subjekts betrachtet. Vor dem Hintergrund aktueller theoretischer Verschiebungen sowie gesellschaftlich-kultureller Entwicklungen wird die Möglichkeit einer derartigen Identität in Frage gestellt: So vertritt z.B. Heinrichs (2000) die These, dass das Konzept einer stabilen Identität „sowohl empirisch hinfällig als auch theoretisch angreifbar ist“ (Heinrichs 2000, S. 484). Unter den Bedingungen der Postmoderne sei Identität gar nicht realisierbar – und auch nicht wünschenswert, denn Identität sei nur durch Ausschlüsse möglich, die das Ergebnis potenziell problematischer Unterwerfungs- und Anpassungsprozesse seien (ebd., S. 485f). Vor diesem Hintergrund rückt Heinrichs den Begriff der Differenz in den Blick – das Subjekt sei fragmentiert und in sich heterogen, Differenzen gebe es nicht nur zwischen Menschen, sondern auch im Subjekt selber. Ähnlich äußert sich auch Hall (1999), der zwar am Begriff der Identität festhält, die besondere Herausforderung und Notwendigkeit aber darin sieht, Identität und Differenz zusammenzudenken. Dafür sei ein Differenzbegriff erforderlich, mit dessen Hilfe Differenz als endlose Konstruktion von Bedeutung gedacht werden könne, durch die Identität gleichzeitig entstehe und durchkreuzt werde (vgl. Hall 1999, S. 94/ 95). Hall entgeht mit diesem Konzept einer verbreiteten gedanklichen Verkürzung; nämlich dem bloßen Austausch einer vereinfachenden Identitätsvorstellung mit einer

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ebenso vereinfachenden und verabsolutierenden Differenzvorstellung, die aber keine strukturell neuen Denkmöglichkeiten eröffnet, weil sie identitätslogisch bleibt. Vor einer solchen Verkürzung warnt auch Heinrichs: Ein identitätslogisch gedachter Differenzbegriff berge die Gefahr, „nur noch das Andere des eigenen Denkens zu konstruieren und die Andersheit des anderen Denkens zu tilgen“ (Heinrichs 2000, S. 492)1. Aus der Diskussion um (innersubjektive) Differenz ergeben sich Anhaltspunkte dazu, dass das Subjekt als in sich verschieden und als diskontinuierlich gedacht werden muss. Der Bildungstheorie kommt vor diesem Hintergrund die Aufgabe zu, solche Subjektivitätskonzepte weiter auszuarbeiten und zur Grundlage bildungstheoretischer Überlegungen zu machen. Es gibt dazu bereits verschiedene Ansätze wie den Roland Reichenbach (1997), der Bildung als ein „Ethos der Differenz“ bestimmt (ebd., S. 121). 4.1.2 Heteronomie Eine weitere Vorstellung, die im Zuge der Kritik am modernen Subjektbegriff fragwürdig geworden ist, ist die der Autonomie. Den modernen Bildungszielen der Mündigkeit, Selbstbestimmung und Emanzipation liegt die Annahme eines autonomen Subjekts zugrunde, das unabhängig und kritisch denken und handeln kann (so z.B. Lüders 2007 mit Meyer-Drawe). Ähnlich wie die Vorstellung einer geschlossenen Identität wird auch die der Autonomie vor dem Hintergrund theoretischer und gesellschaftlicher Entwicklungen kritisiert. Das Subjekt ist in gesellschaftliche Strukturen eingebunden, über die es nicht verfügt und es bedient sich einer Sprache, in der bestimmte Bedeutungen präformiert sind. Insofern kann es nicht unabhängig und autonom sprechen, sondern wird gleichzeitig auch immer „von der Sprache gesprochen“ (vgl. dazu z.B. Hall 1999). Allerdings weist Lüders darauf hin, dass es riskant ist, das Konzept der Autonomie einfach durch das der Heteronomie zu ersetzen. Es ginge damit die pädagogisch sehr relevante Möglichkeit zu Kritik und sozialer Verantwortung verloren. Ähnlich wie bei den Polen Identität und Differenz gilt es auch hier, näher zu bestimmen, wie Selbst- und Fremdbestimmung ineinander greifen und möglichst differenzierte Überlegungen zu einer solchen „bedingten Selbstbe-

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Weiterführende Überlegungen zu einem differenztheoretisch gedachten Differenzbegriff finden sich bei Friedrichs (2008).

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stimmung“ (Meyer-Drawe nach Lüders 2007, S. 31) und ihrer Bildungsrelevanz zu erarbeiten. Das heißt, das Spannungsverhältnis zwischen Selbstund Fremdbestimmung als konstitutives Merkmal von Subjektivität anzuerkennen und Perspektiven in begrenzten (aber vorhandenen) Handlungsspielräumen zu sehen, anstatt der Illusion einer Überwindung der Fremdbestimmung nachzuhängen. 4.1.3 Alterität Grenzen der Autonomie ergeben sich nicht nur aus gesellschaftlichen Bedingungen, über die das Subjekt nicht verfügt, sondern auch aus dem Bezug auf Andere. Dieser Bezug kann nicht von einem souveränen Subjekt aus gedacht werden, das Andere vom gesicherten eigenen Standort aus wahrnimmt, erkennt oder versteht. Vielmehr wird gegenwärtig der Gedanke entwickelt, das Subjekt sei diesem Bezug gar nicht vorgängig (vgl. z.B. Wimmer 1988), sondern nur als antwortendes zu denken2, das vom unkontrollierbaren Anderen angesprochen und in Frage gestellt wird. Wimmer leitet daraus die Notwendigkeit ab, „Bildung“ in Bezug auf ein Anderes zu denken, das sich der Kontrolle des Subjekts entzieht: „Bildung hat nur statt durch Veränderung, d.h. in einer Beziehung zum Außen, Andern, Unbekannten, Fremden, und zwar auch dann, wenn Bildung als Selbstbildung verstanden wird.“ (Wimmer 1996, S. 134) Dieser Bezug auf ein unverfügbares Anderes unterliegt nicht der „Regie“ des Subjekts – Bildung kann vor diesem Hintergrund nicht als Leistung gesehen werden, die das Subjekt unabhängig und selbstbezüglich hervorbringt. 4.1.4 Sprachlichkeit Ein zentraler Bezugspunkt bildungstheoretischer Überlegungen ist die Sprachlichkeit von Bildung. Grundlage vieler aktueller Texte ist die Annahme, Bildung werde in Sprache vollzogen (z.B. Koller 1999) – das heißt, Welt- und Selbstverhältnisse der Subjekte werden in Sprache hergestellt und auch verändert. Es gibt nach dieser Vorstellung kein Subjekt außerhalb 2

Dies ist wie erwähnt auch ein zentraler Gedanke von Bernhard Waldenfels (vgl. Kapitel 3.6), den ich bei der Entwicklung eigener meines bildungstheoretischen Brückenschlags aufgreifen werde (Kapitel 5.1).

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von Sprache, also kein Subjekt, das immer schon gegeben wäre und sich der Sprache nur zum nachträglichen Selbstausdruck bediente. „Vielmehr sind die Subjekte Effekte solch sprachlicher Prozeduren, insofern diese alle Denk- und Artikulationsmöglichkeiten überhaupt erst hervorbringen. Jede Selbstverortung des Subjekts ist demzufolge grundsätzlich sprachlich, bzw. semiotisch.“ (Lüders 2007, S. 35)

Auch bei der Auseinandersetzung mit Bildungsmöglichkeiten rückt daher der Bereich der Sprache in den Vordergrund. Potenziale für Kreativität und Veränderung werden im „Sprachspiel“ (z.B. Fromme 1997 und Meder 2004) oder in der „Erfindung neuer Diskursarten“ (Koller 1999) gesehen. Lüders sieht hierin den Grund für die zunehmende „Ästhetikorientierung“ erziehungswissenschaftlicher Überlegungen – „[d]enn wo finden sich eher Prozesse der (semiotischen) Neuerfindung bzw. des Vordenkens als in Literatur, bildender und darstellender Kunst oder Musik?“ (Lüders 2007, S. 36) Die von Lüders angedeutete Erweiterung des Sprachbezugs in Richtung einer „Ästhetikorientierung“ scheint mir sehr wichtig, denn das Subjekt ist auch in weitere mediale Bezüge verwoben, derer es sich nicht souverän bedienen kann3. Auch der Film lässt sich als Medium im Wortsinnn, also als eine Form der „Dazwischenkunft“ sehen, die bestimmte „Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Denk- und Handlungsformen“ (Zahn 2009, S. 110) erst eröffnet. Diesen Gedanken werde ich in den Kapiteln 6 und 7 mit Bezug auf Deleuze ausführen. An dieser Stelle sei bereits erwähnt, dass die ausschließliche Bedeutung, die der Sprache in der bildungstheoretischen Diskussion gelegentlich eingeräumt wird, sich dabei relativieren wird. Denn Filmerfahrungen sind auch als „materielle“ Erfahrungen beschreibbar, die sich gerade nicht in semiotischen Prozessen auflösen lassen, sondern sich dem sprachlichen Zugriff entziehen und auf diese Weise Signifikationsprozesse immer wieder in Bewegung halten.

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Dieser Sachverhalt, wird in der medienpädagogischen Diskussion kaum gesehen. Grund ist Ausblendung der sprachlich- medialen Verfasstheit des Subjekts, aus der sich auch die (problematische) Zielvorstellung ergibt, das sprachkompetente Subjekt solle lernen, „sich so souverän anderer Medien zu bedienen, wie es die Sprache beherrscht“ (Zahn 2009, S. 109) (vgl. auch Kapitel 2.2).

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Sollen bildungstheoretische Überlegungen nicht hinter den erreichten Forschungsstand zurückfallen, ist es notwendig, die oben angedeuteten Diskussionsbereiche in die Auseinandersetzung einzubeziehen. Dabei ist ein Umdenken erforderlich, da der Ausgangspunkt klassischer Bildungskonzepte genau jenes Subjektverständnis ist, das heute – wie eben dargestellt – problematisiert wird. „Während ausgehend von der modernen Subjektkonzeption Fremdbestimmung, Identitätskrisen und inkohärente Momente der ‚Bildungsgeschichte‘ als im Bildungsprozess zu überwindende Hindernisse gefasst werden konnten, müssen diese ‚Hindernisse‘ nun als konstitutive Bedingung von ‚Subjektivität‘ verstanden werden.“ (Lüders 2007, S. 36)

So weit ich sehe, hat ein solches Umdenken in der medienpädagogischen Auseinandersetzung um den Begriff der Film-Bildung bisher nicht stattgefunden. Vielmehr werden hier der Aufbau einer zusammenhängenden und in sich „stimmigen“ Identität sowie die Emanzipation aus „fremdbestimmten“ Lebenszusammenhängen häufig als pädagogische Ziele genannt (vgl. Kapitel 2.2). Mein Anliegen ist es daher zu zeigen, welche Bildungschancen in einem grenzbewussten und kreativen Umgang mit gebrochener Subjektivität liegen können.

4.2 D IMENSION 2: B ILDUNG UND G ESELLSCHAFT Nach Lüders ist die Konzeption von Bildung von der jeweiligen kulturhistorischen Epoche abhängig. Ein zeitgemäßer Bildungsbegriff hat daher einen unhintergehbaren Bezug zu der gesellschaftlichen Situation (Lüders 2007, S. 37). Dieser wird in vielen bildungstheoretischen Texten auch explizit thematisiert. So setzt sich z.B. Peukert in zahlreichen Aufsätzen mit der gegenwärtigen Verfasstheit unserer Gesellschaft auseinander (Peukert 2000, Peukert 1998, Peukert 1992) und seine Diagnose deckt sich mit der vieler anderer Theoretiker. Peukert beschreibt die gesellschaftliche Situation als von Steigerungstendenzen geprägt. Diese macht Peukert (2000) sowohl in Bezug auf das Bevölkerungswachstum und den Ressourcenverbrauch aus, als auch in Bezug auf die Komplexität und Globalität politischer Zusammenhänge und die Spezialisierung des Wissens. Dies führt da-

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zu, dass der Einzelne die gesellschaftliche Situation kaum noch überblicken und schon gar nicht (alleine) verändern kann. In dieser Situation entsteht eine Dynamik, die Peukert mit der des so genannten Gefangenendilemmas vergleicht: Einzelne Personen profitieren durch Handlungsweisen, die langfristig zu kollektiver Selbstschädigung führen (Peukert 1998, S. 20/ 21). Dabei entstehen gesellschaftliche Spaltungen bis hin zur Exklusion bestimmter Bevölkerungsteile, die keinen Zugang zu Arbeit, medizinischer Versorgung, ausreichender Nahrung usw. haben. Zusätzlich sieht Peukert einen Prozess der Ökonomisierung, im Zuge dessen sich eine flächendeckende Orientierung an marktwirtschaftlichen Prinzipien abzeichnet – auch im Bereich des Bildungswesens (vgl. Peukert 2000, S. 508). Mit Lohmann weist Lüders darauf hin, dass sich daraus eine Diskrepanz zwischen dem theoretischen Nachdenken über Bildung und dem „dominanten Alltagsdiskurs“ ergibt, der entlang der Kriterien „Bedarfsorientierung, Output und Effizienz“ geführt wird (Lüders 2007, S. 39). Reichenbach nimmt sogar an, die in diesem Zusammenhang etablierte Kompetenzorientierung habe einem Transformationsprozess der Erziehungs- und Bildungssysteme Vorschub geleistet, der zu dem Effekt der „Isolierung des Individuums von Fragen der Macht und Kontrolle“ geführt habe (Reichenbach 2008, S. 46). Also zu einer Individualisierung und Psychologisierung von Problemen, die einer strukturellen und sozialpolitischen Betrachtung bedürften (wie Schulversagen, beruflicher Misserfolg oder gesellschaftliche Desintegration). Reichenbach macht darauf aufmerksam, dass gerade der Kompetenzbegriff eine hohe Attraktivität hat, weil er mit verschiedenen positiv konnotierten Prozessen in Verbindung gebracht wird, z.B. mit der aktiven und eigenständigen Konstruktion von Wissen, mit dem selbstregulierten Aufbau von Fähigkeiten, mit einer „Demokratisierung“ von Sozialisation – jede/r kann gewünschte Kompetenzen in Eigenregie aufbauen. Allerdings betrachtet Reichenbach solche Prozesse als pseudodemokratisch, weil sie seiner Einschätzung nach vor allem dazu führen, dass pädagogische und nichtpädagogische „Führungsstrategien“ (Reichenbach 2008, S. 45) subtiler werden4. Im Rahmen bildungstheoretischer Überlegungen gilt es daher auch, diesen dominanten Alltagsdiskurs der kritischen Reflexion zugäng-

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Auch in der Medienpädagogik würde sich m.E. eine kritische Betrachtung des beliebten Kompetenzbegriffs vor dem Hintergrund solcher Einwände lohnen.

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lich zu machen und darüber nachzudenken, welche Funktion Bildungsprozessen vor diesem Hintergrund zukommt5. Peukert beschreibt außerdem eine Verunsicherung, die damit verbunden ist, dass die Theorieentwicklung zu einer Veränderung der Art des Nachdenkens über uns selber führt. Mit der poststrukturalistischen Denkweise ist eine Abgrenzung von der Vorstellung der eindeutigen Bestimmbarkeit menschlichen Handelns und menschlichen Bewusstseins verbunden. Daraus ergibt sich die Vorstellung der eigenen „Ungreifbarkeit“ (Peukert 2000 S. 515), die zu einem Abstraktionsschub gegenüber der Alltagserfahrung führt. Auch mit der häufig formulierten Postmoderne-Diagnose ist eine solche Verunsicherung verbunden: Die Pluralisierung vorhandener Orientierungsmuster bei gleichzeitiger Kontigenzsteigerung führt zu einer gesellschaftlichen Freisetzung des Einzelnen, die der von Peukert beschrieben Dynamik Vorschub leistet. In Bezug auf die Dimension Bildung und Gesellschaft formuliert Lüders zwei Aufgaben: Die Analyse der gesellschaftlichen Situation und der damit verbundenen Problemlagen, sowie die Neubestimmung von Bildung vor diesem Hintergrund (Lüders 2007, S. 42). Dabei sei es wichtig, sowohl innovative Bearbeitungsmöglichkeiten für die diagnostizierten Herausforderungen zu entwickeln, als auch die gesellschaftlichen Vorgaben selbst kritisch zu hinterfragen (ebd.). Beide Vorschläge werde ich in meinem bildungstheoretischen Brückenschlag aufgreifen (Kapitel 5.2).

4.3 D IMENSION 3: B ILDUNG UND N ORMATIVITÄT Die aktuelle bildungstheoretische Diskussion ist von der Einschätzung getragen, dass Bildung etwas Erwünschtes und Erstrebenswertes ist – „Bildung soll sein“, so fasst Lüders diese Orientierung zusammen (Lüders 2007, S. 43). Gleichzeitig gilt es zu klären, worin Bildung genau bestehen kann, was es also ist, das sein soll. Diese Auseinandersetzung mit den Zie-

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Damit könnte möglicherweise auch die von Waldenfels problematisierte Tendenz zur Normalisierung der Wissenschaften gebremst werden, die – so seine Befürchtung – über eine zunehmende Verknüpfung von Wissen und Können dazu führt, dass alles außerhalb der Kompetenzorientierung Liegende der Wahrnehmungs- und Thematisierungsmöglichkeit entzogen wird (vgl. Kapitel 3.3.1).

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len und der normativen Grundlage von Bildung betrachtet Lüders als unumgänglich, da sie die Basis für Sinnhaftigkeit und Orientierungsfunktion der Kategorie „Bildung“ sei. Allerdings ist die Beschäftigung mit der normativen Ebene von Bildung nicht unproblematisch, da der Anspruch, allgemein gültige und anerkannte Maßstäbe für Bildung zu formulieren, vor dem Hintergrund postmoderner Theorieentwicklung zurückgewiesen werden muss. Sehr deutlich macht dies z.B. Lyotard in seiner Diagnose vom „Ende der großen Erzählungen“ (Lyotard 1986): Er vertritt die Auffassung, dass es keine allgemeingültige Metadiskursart geben kann, die es erlauben würde, auf einer übergeordneten Ebene über die Legitimität von Orientierungen zu entscheiden. Lüders entnimmt der aktuellen Diskussion zwei ihrer Einschätzung nach angemessene Strategien im Umgang mit diesem Problem: Erstens die Umwendung von Normativität in Kritik und zweitens die Formulierung einer „Minimalethik“. Für die erste Option stehen z.B. Benner und Ruhloff. Benner unterscheidet zwischen einer affirmativen und einer kritischen Orientierung der Bildungstheorie (vgl. z.B. Benner 2000). Eine affirmative Orientierung besteht darin, dass vorhandene Erwartungen und Ansprüche an die pädagogische Praxis als gegeben akzeptiert werden und sich die Anstrengung darauf richtet, diesen Vorgaben möglichst gerecht zu werden. Ein kritischer Zugang besteht dagegen darin, solche Vorgaben und Geltungsansprüche kritisch zu reflektieren und zur Disposition zu stellen. Das heißt, mit Benners Worten, „daß bildungstheoretische Reflexionen kritisch in dem Sinne sein müssen, daß sie weder eine vorfindliche Verfaßtheit der Heranwachsenden noch vorgegebene Normen, Ansprüche, Erwartungen und Anforderungen an die pädagogische Praxis ungeprüft und vorbehaltlos anerkennen“ (Benner 2000, S. 106). Damit ist allerdings die Schwierigkeit verbunden, dass sich aus der kritischen Reflexion noch keine neuen Orientierungen ergeben. Benner und Ruhloff lösen dieses Problem, indem sie von einer produktiven und hervorbringenden Dimension von Kritik ausgehen, die nicht in der erneuten Setzung unhinterfragbarer Vorgaben besteht, sondern in der jeweils neuen Hervorbringung von kontingenten Entwürfen. Lüders fasst diesen Zweischritt von Kritik und Produktion folgendermaßen zusammen: „Der Ist-Zustand wird kritisiert, ohne auf eine vorgegebene Norm zu rekurrieren, gleichzeitig beginnt mit der Kritik aber eine produktive Suchbewegung, die neue

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Möglichkeiten entwirft. So wird die normative Dimension zu einer relationalen, produktiven Kritik.“ (Lüders 2007, S. 47/ 48)

Als Vertreter der zweiten Option nennt Lüders Koller und Schäfer. Beide nehmen als Grundlage von Bildung die Aufgabe der Gerechtigkeit an, die nicht mehr hinterfragt werden kann. So formuliert Koller unter Bezug auf Lyotard die Aufgabe, die unhintergehbare Heterogenität der Diskursarten anzuerkennen und dem daraus resultierenden Widerstreit gerecht zu werden (Koller 2000, S. 307). Aus dieser „minimalethischen“ Aufgabe leitet Koller allerdings keine positiv bestimmbaren normativen Vorgaben ab. Vielmehr geht er, ähnlich wie Benner und Ruhloff, davon aus, dass sich aus der Anerkennung des Widerstreits die Herausforderung zu einer innovativen, hervorbringenden Praxis ergibt – zur Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für das, was in den vorhandenen Diskursarten nicht gesagt werden kann. Ähnlich geht Schäfer vor, indem er einen Bezug zwischen Bildung und Fremdheit annimmt (Schäfer 2001). Ausgangspunkt von Bildung sei die Begegnung mit dem Fremden, das sich dem Zugriff des Eigenen entziehe. Die (utopische) Aufgabe von Bildung bestehe darin, diesem Fremden als Fremden gerecht zu werden (Schäfer 2009)6. Die Herausforderung in Bezug auf die Dimension Bildung und Normativität liegt also darin, eine kritische Reflexion zu ermöglichen, ohne die Kritik selber zur unanfechtbaren Metadiskursart zu machen, sowie Möglichkeiten einer innovativen, hervorbringenden Praxis zu eröffnen, ohne dabei normative Festschreibungen vorzunehmen.

4.4 D IMENSION 4: D IE P ROZESSSTRUKTUR VON B ILDUNG Die Dimensionen eins bis drei enthalten aktuelle Überlegungen zu verschiedenen theoretischen Bezügen von Bildung – wie dem Bezug auf ein „Bildungssubjekt“, dem Bezug auf die gesellschaftliche Situation oder dem

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Schäfer interessiert sich in dem genannten Aufsatz vor allem für die forschungsbezogenen Herausforderungen, die sich aus dieser Aufgabe ergeben. Ich selber unternehme in meinem Brückenschlag den Versuch, die grundlagentheoretische Dimension bildender Fremdheit weiter auszuarbeiten (Kapitel 5).

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Bezug auf normative Vorstellungen. Offen geblieben ist bisher die Frage, wie Bildung als Prozess zu denken ist, also wie Bildung sich vollzieht und welche Struktur dieser Prozess hat, denn „‚Bildung‘, so der Konsens bildungstheoretischer Entwürfe, ist ein Prozess der Veränderung, ein Geschehen also, das eine enge Verbindung zu Zeitlichkeit und Andersheit aufweist.“ (Lüders 2007, S. 51, Herv.i.O.) Ein Rahmen, innerhalb dessen eine solche Strukturvorstellung entwickelt werden kann, ergibt sich aus dem in den Dimensionen eins bis drei dargestellten Stand der Theorieentwicklung. So kann Bildung entsprechend der oben wiedergegebenen Überlegungen zu Subjekt, Gesellschaft und Normativität z.B. nicht als souveräner Erwerb einer ökonomisch nützlichen oder normativ bestimmbaren Habe gedacht werden. Vielmehr muss es sich bei Bildung um ein offenes Geschehen handeln, das das Subjekt nicht beliebig und autonom planen und herstellen kann und dessen Ergebnis sich nicht vorher festlegen lässt: „‚Bildung‘ folgt keiner vorhersehbaren Kausalstruktur der Abfolge, und ihre ‚Resultate‘ stehen niemals vorher fest. Nicht das ‚Erreichen von Etwas‘, sondern die Dynamik distanzierender Kritik und offener Neuentwürfe wird zum Orientierungspunkt.“ (Lüders 2007, S. 54) Diese Tendenz, den Prozess der Bildung als offen, nicht-teleologisch und gleichzeitig produktiv zu beschreiben, findet sich in verschiedenen bildungstheoretischen Entwürfen. So betrachtet Koller Bildung als Prozess der Erfindung neuer Diskursarten, der durch die Erfahrung des Widerstreits ausgelöst werden kann (Koller 1999, Koller 2000). Und Marotzki versteht unter Bildung einen höherstufigen Lernprozess, im Rahmen dessen sich die Art der Erfahrungsverarbeitung ändert: „Solche Lernprozesse, die sich auf die Veränderung von Interpunktionsprinzipien von Erfahrung und damit auf die Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung beziehen, möchte ich Bildungsprozesse nennen.“ (Marotzki 1990, S. 41) Den Ausgangspunkt für solche Prozesse sieht Marotzki in der aktuellen gesellschaftlichen Situation, die durch Pluralisierung, Komplexitäts- und Kontingenzsteigerung gekennzeichnet sei und nicht-affirmatives Lernen erforderlich mache (ebd., S. 4749). Für Kokemohr besteht ein Bildungsprozess in der grundlegenden Veränderung vorhandener Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses, die durch die Verarbeitung einer subsumptionsresistenten Fremderfahrung herausge-

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fordert werden kann (Kokemohr 2004, S. 2)7. Gemeinsam ist diesen Zugängen, dass ein Moment des Scheiterns als Ausgangspunkt von Bildung gedacht wird – ein Scheitern an der Unzugänglichkeit des Fremden oder ein Scheitern an neuen Problemlagen, die unter Rückgriff auf vorhandene Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses nicht bearbeitet werden können. Dieses Merkmal scheint mir konstitutiv für das Verständnis von Bildung als einem Veränderungsgeschehen, das nicht im Erreichen eines Resultats zur Ruhe kommen kann. Es gibt keine „Habe“, die dieses konstitutive Scheitern verhindern könnte. Zur weiteren Differenzierung der Bildungsprozessstruktur weist Kokemohr darauf hin, dass das Verhältnis von „Instanzen“ und „Prozess“ in der eben umrissenen Vorstellung kritischer Klärung bedarf. Er schlägt vor, das Subjekt nicht als Instanz, sondern als Moment des Bildungsprozesses zu denken (Kokemohr 2004 S. 2). Ich komme auf diesen Gedanken noch zurück (Kapitel 5.4). Nach Einschätzung von Lüders liegt ein innovatives Potenzial für die Produktion neuer Bedeutungen in der Sprache (Lüders 2007, S. 55). Allerdings scheint es mir wünschenswert, das gegenwärtige stark sprachorientierte Bildungsdenken auf die Frage nach anderen Formen der medialen Verfasstheit von Bildung hin zu öffnen. Ein innovatives Potenzial wie Lüders es der Sprache zuweist, sieht z.B. Deleuze im Bereich des Films, den er als „Werkzeug der neuen Wirklichkeit“ (Deleuze 1997a, S. 24) betrachtet.

4.5 D IMENSION 5: Z UM V ERHÄLTNIS VON B ILDUNGSTHEORIE UND EMPIRISCHER B ILDUNGSFORSCHUNG Lüders formuliert die Einschätzung, dass die Diskussionen in den Bereichen Bildungsforschung und Bildungstheorie gegenwärtig nicht systematisch ineinander greifen. Gerade seitens der Bildungstheorie werde die Bildungsforschung nicht als unverzichtbar angesehen.

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Kokemohr nimmt hier bereits eine weit reichende Bedeutung der Fremderfahrung für den Prozess der Bildung an – ein Gedanke, den ich in Kapitel 5 aufgreifen und ausführen werde.

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Die bildungstheoretische Kritik richtet sich vor allem auf eine bestimmte Art des empirischen Zugriffs, nämlich auf den quantitativ-analytisch Zugang, bei dem es darum geht, Hypothesen zu prüfen oder Häufigkeiten beobachtbarer Phänomene zu messen. Diese Art der Bildungsforschung biete keine Anknüpfungspunkte für die bildungstheoretische Reflexion – z.B. weil es nicht möglich sei, unter Rückgriff auf so gewonnene Forschungsergebnisse eine normative Position zu entwickeln (die aber unverzichtbar ist, wie oben gezeigt). Weiterer Kritikpunkt: Der Bildungsbegriff wie er in der Bildungstheorie diskutiert wird, sei überhaupt nicht anschlussfähig für empirische Bildungsforschung. Er sei semantisch unbestimmt, werde als „Platzhalter für das Unsagbare“ (Tenorth 1997, S. 977) genutzt und biete deshalb keine Orientierung für die Bildungsforschung. Lüders macht allerdings darauf aufmerksam, dass sich diese Vorbehalte vornehmlich auf eine quantitative Herangehensweise in der Bildungsforschung beziehen, die darauf abzielt, Effizienzmessungen vorzunehmen oder klar benennbare Bildungsstandards zu formulieren (Lüders 2007, S. 60). Vor diesem Hintergrund sieht sie eine Aufgabe darin, empirische Zugänge zu entwickeln, die den in den Dimensionen eins bis vier rekonstruierten Schwerpunkten der aktuellen Diskussion um Bildung angemessen sind: „Dabei ist der Empiriebegriff insofern zu differenzieren, als dass tendenziell offene und unvorhersehbare Prozesse methodisch angemessen nur im Rahmen eines qualitativen, rekonstruktiven und interpretativen Vorgehens erfasst werden können. [...] D.h. es muss versucht werden, der Prozessualität des Bildungsgeschehens gerecht zu werden, indem man die Offenheit, Diskontinuität und Nicht-Identifizierbarkeit in die Entwicklung einer Methode der Bildungsforschung einbezieht.“ (Lüders 2007, S. 61)

Lüders macht deutlich, dass dabei auch der Prozess der Bildungsforschung selber zu einem Bildungsprozess werden kann (Lüders 2007, S. 64) – nämlich dann, wenn das Scheitern der eigenen, an den Gegenstand herangetragenen Verarbeitungsmuster zu einer Fremderfahrung führt. In diesem Zusammenhang scheinen mir Filme doppelt interessant: Sie können als Medien der Fremderfahrung ein solches – potenziell bildendes – Scheitern eigener Zugriffsversuche auslösen (wie ich Kapitel 7 zeigen werde). Und sie können gleichzeitig als „empirisches Material“ die Erforschung von Bil-

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dung ermöglichen. Mein Vorhaben ist zwar kein empirisches, aber einige Anmerkungen zu dieser Möglichkeit werde ich in Kapitel 5.5 machen.

5 Erster Brückenschlag: Fremderfahrung als Bildungsmoment

Wie oben bereits kurz angedeutet, lässt sich die Erfahrung des Fremden nach meiner Annahme als konstitutives Moment von Bildung denken. Daher gehe ich davon aus, dass die zentrale Bedeutung der Fremderfahrung in Bezug auf jede von Jenny Lüders benannte Dimension von Bildung rekonstruiert werden kann. Indirekt erwähnt Lüders dies selber: Sie weist darauf hin, dass sowohl Koller als auch Schäfer die fremdkulturelle Erfahrung zum Schwerpunkt ihrer bildungstheoretischen Überlegungen machen. Lüders macht darauf aufmerksam, dass beide Autoren annehmen, in diesem Blick könnte sich „Paradigmatisches“ auch für innerkulturelle Bildungserfahrungen zeigen (Lüders 2007, S. 65). Genau diesen Gedanken möchte ich ausführen, ohne das Konzept der Fremderfahrung auf den Bereich der fremdkulturellen Erfahrung einzuschränken. Denn Waldenfels macht deutlich, dass Fremdheit immer auch im Eigenen liegt – schon deswegen lässt sich Bildung gar nicht ohne einen Bezug zur Fremderfahrung denken, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Unter Rückgriff auf Lüders’ Heuristik und Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden unternehme ich den Versuch, einen systematischen Bezug zwischen Bildung und Fremderfahrung herzustellen. Ich hoffe, dabei das für Bildungsprozesse paradigmatische Moment der Fremderfahrung näher bestimmen zu können.

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5.1 D IMENSION 1: D AS B ILDUNGSSUBJEKT Wie in Kapitel 4.1 dargestellt, kann das Subjekt nicht mehr unproblematisch als souveräne Instanz des eigenen Bildungsprozesses gedacht werden. Vielmehr ist es erforderlich, das klassische Subjektverständnis vor dem Hintergrund der oben erwähnten Diskussionen um Differenz, Heteronomie, Alterität und Sprachlichkeit zu reformulieren. Mit dieser Notwendigkeit beschäftigt sich auch Waldenfels, indem er die Subjektproblematik in Hinblick auf die Erfahrung des Fremden erörtert. Seiner Auffassung nach entsteht das Subjekt erst im Bezug auf Fremdes, ist diesem Bezug also nicht vorgängig: „Die Eigenheit, ohne die niemand er selbst wäre, verdankt sich dem Eingehen auf Fremdes, das sich uns entzieht. Eben dies bezeichne ich als Antworten, als Response. Die Instanz, die in der Moderne den Titel ‚Subjekt‘ trägt, tritt vorweg als Patient und Respondent auf, also in der Weise, dass ich beteiligt bin, aber nicht als Initiator, sondern als jemand, der buchstäblich bestimmten Erfahrungen unterworfen ist [...].“ (Waldenfels 2006, S. 45)

Die klassische Subjektvorstellung lässt sich vor dem Hintergrund einer so gedachten Fremderfahrung nicht aufrechterhalten. Unser Sagen und Tun nimmt seinen Ausgang im Angesprochen-Sein durch das Fremde – einem Ereignis über das wir nicht verfügen und für das wir uns nicht entscheiden. Dieses Widerfahrnis ist der Antwort vorgängig, kann also im Antworten nie eingeholt werden. Wenn wir neugierig werden, erschrecken, aufhorchen oder aufmerken, so geschieht dies stets nachträglich. Pathos und Response sind durch eine Kluft voneinander getrennt, die dazu führt, dass das Subjekt auch in der Antwort nie über das Ereignis verfügen kann, das der Antwort vorausgeht und sie überhaupt ermöglicht. Das Subjekt kann deshalb nicht als souveräne Instanz gedacht werden, bei der ein Verarbeitungsprozess – wie z.B. der Prozess der Bildung – seinen Ausgang nimmt. Ein solches Subjektkonzept führt auch zu einer anderen Vorstellung von Erfahrung: Erfahrungen werden nicht gesucht, angeeignet oder gesammelt, sondern sie werden gemacht, durchgemacht oder erlitten. Nicht das vorgängige und „antwortbereit[e]“ (Waldenfels 2002, S. 188) Subjekt erwartet und verarbeitet die Erfahrung des Fremden, sondern das Subjekt entsteht im Prozess dieser Erfahrung, ohne sich selbst dabei völlig transpa-

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rent oder verfügbar zu werden. Der unplanbare Einbruch des Fremden verhilft einem Selbst also „zu sich selbst, aber nie völlig zu sich selbst“ (Waldenfels 2002, S. 188). 5.1.1 Differenz Nach dieser Vorstellung kann das Subjekt niemals ganz mit sich selbst identisch sein, das heißt, das klassische Konzept von Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Subjekts lässt sich vor dem Hintergrund der von Waldenfels entwickelten Überlegungen nicht aufrechterhalten. „Wenn ich nur bin, wer ich bin, indem ich vom Anderen affiziert und in Anspruch genommen bin, so bin ich außer meiner selbst, mir selbst fremd.“ (Waldenfels 2002, S. 205). Die so beschriebene Subjektivität ist keine „rein eigene“. Sie lässt sich nicht losgelöst vom Fremdbezug denken, sondern entsteht erst in der Erfahrung des Fremden. Es gibt Fremdes also auch im Eigenen, die Grenze eigen/ fremd verläuft nicht zwischen einem sich selbst identischen Subjekt und einem äußeren Fremden, sondern auch im Subjekt gibt es Eigenes und Fremdes, das durch eine „Schwelle“ voneinander getrennt bleibt (vgl. Kapitel 3.2). Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem im eigenen Selbst beschreibt Waldenfels mit Hilfe der Metapher der Verflechtung. Eigenes und Fremdes sind ineinander gewirkt, bleiben aber different. Waldenfels vermeidet dabei die oben problematisierte identitätslogische Vorstellung von Differenz (vgl. Kapitel 4.1), die darin bestünde, eine Differenz zwischen zwei Identitäten anzunehmen, also einfach die Vorstellung einer klar bestimmbaren Identität, gegen die einer klar bestimmbaren Differenz einzutauschen, wodurch aber noch keine strukturell anderen Denkmöglichkeiten des Subjektkonzepts eröffnet würden. Die von Waldenfels beschriebene Differenz ist keine wesenhafte, die zwischen den definierbaren Entitäten „Eigenes“ und „Fremdes“ endgültig festgestellt werden könnte, sondern sie wird von Waldenfels als endloser Prozess gedacht, in dem Eigenes und Fremdes gleichzeitig entstehen und sich verändern. Die Verschränkung von Eigenem und Fremdem ist dafür konstitutiv: „Wer das Geflecht entflechten wollte, würde das Muster zerstören.“ (Waldenfels 1998, S. 65) Es handelt sich bei einem solchen „Geflecht“ weder um den ergänzenden Zusatz des Fremden zum bereits vorhandenen Eigenen, noch um eine Vermischung, die keine Unterscheidung mehr erlaubte, sondern um eine unauflösbare Differenz bei

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gleichzeitiger Verbindung, ohne die es weder das Eigene noch das Fremde geben würde. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, das Muster bleibt stets in Bewegung und lässt sich nicht auf voneinander losgelöste Elemente reduzieren. Und: Das Subjekt verfügt nicht frei über die Entstehung und die Bewegung dieses Musters. 5.1.2 Heteronomie Aus den vorangegangen Überlegungen ergibt sich bereits die Annahme, dass das Subjekt nicht autonom – also unabhängig und aus sich selbst heraus – handeln kann, da es erst im Wechselspiel von Pathos und Response entsteht. Es ist immer schon in einen Fremdbezug eingelassen und kann nicht frei über sich verfügen: „Als Selbst, das aus Widerfahrnissen hervorgeht, das sich in der Fremdaffektion selbst affiziert und nicht etwa ihr zuvor, bin ich mir anfänglich selbst entzogen.“ (Waldenfels 2002, S. 206) Der Selbstbesitz ist stets mit einem Selbstentzug verbunden, da der Selbstbesitz in der Erfahrung des Fremden erst möglich wird, das Subjekt darin aber nur als antwortendes gedacht werden kann, dessen Autonomie durch diesen Bezug gleichzeitig begrenzt wird: „Es gibt keinen Sprecher und Täter, der sich als reiner Autor seiner Reden und Taten aufspielen könnte, es gibt kein Reden oder Tun, das nicht auch Antworten wäre.“ (Waldenfels 1998, S. 67) Das Subjekt entsteht in einer „Sphäre des Zwischen“ (Waldenfels 1998, S. 75), im Wechselspiel von Anspruch und Antwort, über das es nicht selbst bestimmen kann. Trotz dieser deutlichen Hinweise auf Grenzen der Autonomie betrachtet Waldenfels das Subjekt nicht als völlig heteronom. „Alles das, was Reden und Tun ermöglicht, indem es sie einschränkt, und sie einschränkt, indem es sie ermöglicht, entzieht sich der Alternative einer Selbst- oder Fremdgesetzgebung.“ (Waldenfels 1998, S. 78) In dem immer wieder beschriebenen „Selbstentzug im Fremdbezug“ nimmt Waldenfels so etwas wie einen „privilegierten Selbstbezug“ an (vgl. dazu Waldenfels 1998, S. 76/ 77 und Waldenfels 2006, S. 27), also einen „Vorrangbereich“, von dem aus das Fremde mir begegnet (vgl. Kapitel 3.2). Die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem ist asymmetrisch. Sie vollzieht sich in einem SichUnterscheiden, bei dem derjenige, der sich unterscheidet, auf einer Seite der Schwelle steht, die Eigenes und Fremdes voneinander trennt, und die er nicht beliebig in beide Richtungen überqueren kann (vgl. Kapitel 3.2). Es

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ist keine neutrale Unterscheidung, die von einem unbeteiligten Dritten getroffen werden könnte, dem beide Seiten der Schwelle gleichermaßen zugänglich wären. Das Selbst erlebt, „was niemand an seiner Stelle erleben kann“ (Waldenfels 2001, S. 17). Ohne diese Asymmetrie, ohne diesen Selbstbezug, der im Sich des Unterscheidens liegt, würde es kein Selbst geben (vgl. Waldenfels 2006, S. 26/ 27): „[W]er sich auf diese Weise unterscheidet, wird erst in der Unterscheidung zum dem, der er ist, beziehungsweise zu der, die sie ist“. (Waldenfels 2006, S. 27) Es gibt also ein Selbst, aber keines, das lediglich einer Selbstgesetzgebung unterliegen würde. Waldenfels verwirft insofern die Vorstellung eines Subjekts nicht grundsätzlich, hält aber „Funktionswandel“, „Umdeutung“ und „Umwertung“ (Waldenfels 1998, S. 72) des klassischen Konzepts für erforderlich. Er nimmt zwar an, „daß das Subjekt seine Genesis hat, daß es sich als Selbst, aber nicht schlechterdings aus sich selbst konstituiert“ (Waldenfels 2001, S. 56, Herv.i.O.), dass es also nicht autonom ist. Trotz dieser begrenzten Autonomie, oder der „bedingten Selbstbestimmung“, von der Meyer-Drawe spricht (vgl. Kapitel 4.1), sieht Waldenfels die Möglichkeit der Erfindung „kreativer Antworten“, in denen das Subjekt „gibt, was es nicht hat“ (vgl. Kapitel 3.6) und auf diese Weise gestaltend in das Wechselspiel von Anspruch und Antwort eingreift. Die bildungstheoretisch relevante Vorstellung bedingter Gestaltungsspielräume wird also auch von Waldenfels aufrechterhalten und damit die Möglichkeit, das Subjekt weiterhin als bedeutungsvolle Größe im Bildungsprozess zu betrachten. 5.1.3 Alterität Das Subjekt ist auf die Beziehung zum Anderen angewiesen, wie oben bereits deutlich wurde. Ohne die Dimension der Alterität lässt sich das Subjekt gar nicht denken. „Der Andere und das Andere, das mir selber anhaftet, sind zugleich das, was ein Ich-Sagen ermöglicht und beschränkt.“ (Waldenfels 1998, S. 78) Die Beziehung zum Anderen behält stets den Charakter eines Ereignisses, über das das Subjekt nicht verfügt. Nach Waldenfels ist das Subjekt nur als antwortendes zu denken, das auf ein AngesprochenSein durch Anderes antwortet, diesem Widerfahrnis aber nicht vorgängig ist. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist besonders interessant, dass Waldenfels ein weites Verständnis dieses Bezugs formuliert: Das, was uns affi-

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ziert muss kein personaler Anderer sein. Im Gegenteil: In der Verkürzung der Alterität auf die Vorstellung eines personalen Anderen sieht Waldenfels die Gefahr, die Kluft zwischen Selbst und Anderem zu über- und die Brüche im Eigenen zu unterschätzen. Diesen Vorwurf macht er z.B. Levinas: „In dieser kurzschlüssigen Vereinigung von Pathos und Angesicht, von Affektion und Appell werden die Spalte, die das erleidende vom aufgeforderten und antwortenden Selbst, also von sich selbst trennt, zusammengezogen zu einem großen Spalt zwischen dem Selbst und dem Anderen, und die Fremdheit schmilzt zusammen zu einer großen Fremdheit.“ (Waldenfels 2002, S. 206)

Nach Waldenfels greift der Bezug von Anspruch und Antwort über den zwischenmenschlichen Bereich hinaus (Waldenfels 1998, S. 77), wodurch die besondere Qualität des Ausgeliefert-Seins an ein namenloses Widerfahrnis entsteht. Nicht nur in Hinblick auf soziale Bezüge verwirft Waldenfels damit die Vorstellung eines souveränen und sich selbst verfügbaren Subjekts, sondern in Hinblick auf den gesamten Bereich unserer Welt- und Selbstverhältnisse. Ein pathisches Getroffen-Sein kann auch von einem anderen als dem sozialen Erfahrungsbereich ausgehen (z.B. von einem Film, wie in Kapitel 7 zu zeigen sein wird). Daraus ergibt sich die Forderung, Dinge nicht zum „Material“ eines souveränen Verarbeitungsprozesses zu degradieren (Waldenfels 1998, S. 77) – anders als in filmpädagogischen Settings gelegentlich üblich (vgl. Kapitel 2.2). Denn der Nutzer verfügt nicht über den Film; der Film als Anderes kann den Zuschauer vielmehr auf eine Weise in Anspruch nehmen, die es erforderlich macht, Eigenes zur Disposition zu stellen. 5.1.4 Sprachlichkeit Auch wenn das Antworten auf den Anspruch des Fremden, die Verständigung oder die Sinnproduktion auf der Ebene der Sprache stattfinden, hinter die wir nicht zurücktreten können, geht Waldenfels mit Husserl von der Möglichkeit „vorprädikative[r] Prozesse der Erfahrung“ (Waldenfels 2006, S. 47) aus, die diskursiv nicht eingeholt werden können. Solche Erfahrungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich unseren sprachlichen Verarbeitungsmöglichkeiten entziehen. Sie sind (noch) nicht Bestandteil einer (sprachlichen) Ordnung, sondern Ausgangspunkt der Bedeutungsproduk-

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tion, die erst nachträglich einsetzt (vgl. dazu Waldenfels’ Konzept der Diastase, um das es in Kapitel 5.4 geht). Nur die Berücksichtigung dieser Ebene erlaubt es nach Waldenfels, die Wucht der Fremderfahrung angemessen zu erfassen. Er nimmt daher auch an, dass die – in poststrukturalistischen Theorien verbreitete – Ausblendung dieser Ebene „vielfach der Beruhigung eines herkömmlichen Denkens [dient], das Fremdes nur in den Grenzen reiner Diskurse gelten läßt“ (Waldenfels 2001, S. 8, Herv.i.O.). Das vorprädikative Getroffen-Sein ist immer schon eingetreten, wenn das Subjekt seiner gewahr wird. Waldenfels nennt das auch „Selbstvorgängigkeit des Sehens und Redens“ (Waldenfels 2001, S. 93). Vorhandene Sinn- und Bedeutungsmuster können von solchen Erfahrungen erschüttert und durchbrochen werden. Sie zeigen sich als „nie völlig zu verwertender Überschuß“ (Waldenfels 2006, S. 51), „als etwas, das als sinn- und ziellos zu bezeichnen ist, sofern es Sinnesnetze zerreißt, das Regelwerk unterbricht und auf diese Weise das Ereignis dekontextualisiert“ (ebd.). Die starke Sprachorientierung der bildungstheoretischen Diskussion lässt sich an dieser Stelle mit Waldenfels relativieren. Denn Waldenfels geht davon aus, dass sich das Subjekt nicht ausschließlich in Sprache konstituiert, sondern dass dieses Geschehen einen „welthaltigen“ Grund hat, der sich sprachlich nicht einholen lässt und gerade dadurch zu einer wesentlichen Triebkraft im Prozess der Subjektkonstitution wird. Deleuze radikalisiert diesen Gedanken noch, indem er das Subjekt selber als Teil des materiellen Universums denkt; als „Bild unter Bildern“ und nicht als herausgehobenen Träger eines übergeordneten Bewussteins (vgl. Kapitel 6.2.3). Auch wenn ich Deleuze in diesem radikal empirischen Subjektverständnis nicht folgen werde, werde ich in den Kapiteln 7 und 8 fragen, wie der Film mit Bezug auf Waldenfels und Deleuze die Möglichkeit „vorprädikativer Erfahrungen“ eröffnen und auf diese Weise einen nichtsprachlichen Beitrag zum Prozess der Subjektkonstitution leisten kann. Zusammenfassend lässt sich mit Waldenfels sagen, dass das Subjekt auf die Erfahrung des Fremden angewiesen ist und gar nicht ohne Bezug auf das Fremde gedacht werden kann. Schon hinsichtlich der Dimension, die häufig als „Instanz“ des Bildungsprozesses betrachtet wird, kann also eine konstitutive Bedeutung des Fremden angenommen werden, die zu einer Verschiebung der in Kapitel 2.2 dargestellten (Film-)Bildungsvorstellungen führen muss.

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Das Subjekt verfügt nicht souverän über seine Erfahrungen, und es kann nicht völlig autonom auf bestimmte Erfahrungsbereiche zugreifen, um nach eigener Maßgabe etwas mit ihnen zu machen. Das Bildungsziel, sicher über einen Gegenstand (wie einen Film) verfügen zu können, ist vor diesem Hintergrund nicht plausibel. Auch die Vorstellung, es gehe darum, den Bereich des Eigenen bruchlos zu erweitern (und dabei zum Beispiel eine in sich kohärente Identität zu entwickeln) ist dem gerade erarbeiteten Subjektverständnis nicht angemessen. Es ist ein Umdenken erforderlich, im Rahmen dessen Verunsicherungen, Brüche in der Erfahrung und Selbstundurchsichtigkeiten als Bedingungen von Subjektivität anerkannt und nicht als zu überwindendes Problem behandelt werden. Das Subjekt bleibt trotzdem eine zentrale Größe im Prozess der Bildung, es ist aber nicht der Ausgangspunkt dieses Prozesses. Genauso wie nach Waldenfels das Subjekt anderswo beginnt als bei sich selbst, beginnt auch der Bildungsprozess nicht beim Subjekt, sondern anderswo. Das Subjekt kann sich nicht zu seiner Welt in ein Verhältnis setzen, ohne von ihr in Anspruch genommen zu sein. Daher gilt es, Bildung nicht als unabhängige Initiative des Subjekts zu denken, sondern als „Antwortbereitschaft“ oder „Antwortfähigkeit“ in einem Geschehen, das stets einen Ereignischarakter behält. „Antwortfähigkeit“ ist aber nicht im Sinne des Vorbereitetseins auf eine Einordnungsleistung zu verstehen, sondern im Sinne der Bereitschaft, sich auf einen riskanten und ergebnisoffenen Erfahrungsprozess einzulassen, der von anderswoher angestoßen werden kann – auch von außerhalb des sozialen Feldes. Innerhalb der Grenzen, die mit einem solchen Subjektverständnis verbunden sind, gilt es, die bedingten Spielräume zur Erfindung kreativer Antworten immer wieder neu auszuloten. Ein weiterer Rahmen, der dabei berücksichtigt werden muss, ist der der jeweiligen gesellschaftlichen Situation.

5.2 D IMENSION 2: B ILDUNG UND G ESELLSCHAFT In Kapitel 4.2 wurde deutlich, dass die Konzeption von Bildung einen unhintergehbaren Bezug zur jeweiligen gesellschaftlichen Situation hat. Für die Entwicklung angemessener bildungstheoretischer Überlegungen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die aktuelle gesellschaftliche Situation und

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die mit ihr verbundenen Problemlagen zu analysieren. Mit Waldenfels sollen dabei gesellschaftliche Vorgaben, die scheinbar zwangsläufig mit der diagnostizierten Situation verbunden sind und im Alltagsverständnis als unumgänglich und plausibel empfunden werden, kritisch reflektiert werden. Anschließend soll nach innovativen Bearbeitungsmöglichkeiten für gesellschaftliche Herausforderungen und nach der Bestimmung von Bildung vor diesem Hintergrund gefragt werden. 5.2.1 Gesellschaftliche Situation Waldenfels zeichnet eine gesellschaftliche Entwicklung nach, die er als Übergang von einer kosmischen Gesamtordnung zu rechtsförmigen Grundordnungen beschreibt (vgl. dazu Waldenfels 1987 und Waldenfels 2001): Vor Beginn der Neuzeit diente der griechische Kosmos als klassisches Ordnungskonzept. Im Kosmos hat alles Seiende klar benennbare Grenzen, lässt sich von Anderem unterscheiden und zu anderem in eine Beziehung setzen. Innerhalb dieses Beziehungsgefüges gibt es nur relative Andersheiten, weil der Kosmos als eine „Ordnung ohne Außen“ (Waldenfels 2001, S. 13) gedacht wird, innerhalb derer es nur „Binnengrenzen“ gibt (ebd.). Die oberste Grenze im Kosmos ist das All – eine Grenze, die nicht überschritten werden kann, da das All „nicht selbst wieder einem anderen ein- oder untergeordnet ist“ (Waldenfels 2001, S. 12). Der griechische Kosmos steht für die Vorstellung eines in sich geschlossenen Ganzen ohne Außen. Mit Beginn der Neuzeit rückt die Frage nach den Grenzen von Ordnungen zunehmend in den Blick. Zu der Infragestellung der umfassenden KosmosVorstellung tragen nach Waldenfels zwei Entdeckungen maßgeblich bei: Die des Selbst und die der radikalen Kontingenz (Waldenfels 2001, S. 16): Mit dem Selbst öffnet sich ein Spalt in dieser Ordnung, da das Selbst „erlebt, was niemand an seiner Stelle erleben kann“ (Waldenfels 2001, S. 17). Es kann von dem Ganzen aus nie völlig erfasst werden, und es bewegt sich auch nicht automatisch auf ein Allgemeines oder Ganzes zu, in dem es aufgeht. Außerdem ist das Selbst, das „ich“ sagt, immer schon von dem Fremden in Anspruch genommen (vgl. Kapitel 5.1), so dass mit dem Fremden im Eigenen das Fremde immer schon in die Ordnung eingerückt ist. Das Motiv der Kontingenz besagt, dass jede Ordnung sich nicht nur verändern, sondern eine andere Ordnung werden kann; dass also der Fremdheits-

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vorbehalt „sich nicht in den offenen Spielräumen einer Ordnung erschöpft, sondern deren Bestand selbst antastet“ (Waldenfels 2001, S. 16). Ähnlich wie die oben angeführten Bildungstheoretiker betont auch Waldenfels hier den Aspekt der Kontingenz, des „Andersseinkönnens jeglicher Ordnung“ (Waldenfels 1998, S. 16). Er betrachtet dieses Merkmal als Signatur der Moderne – wobei er darauf hinweist, dass auch „klassische“ Ordnungen nicht so einheitlich und bruchlos waren, wie es uns häufig scheint: „Eine neue Form der Ordnung, die wir als modern bezeichnen können, bricht sich Bahn, wenn der Verdacht aufkommt, die so unverbrüchlich und allumfassend scheinende Ordnung sei nur eine unter möglichen anderen.“ (Waldenfels 1998, S. 18, Herv.i.O.) Die Moderne lässt sich insofern als Infragestellung kosmischer Ganzheitsvisionen betrachten (vgl. Waldenfels 2001, S. 16). Bekannte Postmoderne-Diagnosen wie die von der Pluralität der Erfahrungsmöglichkeiten oder dem Ende der großen Erzählungen und der allgemeingültigen Orientierungen betrachtet Waldenfels nicht nur auf der Ebene einzelner Ordnungen, sondern als grundsätzliches Merkmal von Ordnungen überhaupt. Die Vorstellung eines „reinen“, transparenten, überschaubaren und verfügbaren Eigenen ist nicht nur in Bezug auf das Subjekt eine Illusion, sondern auch in Bezug auf die jeweilige Ordnung. Denn Fremdheit entsteht nach Waldenfels gleichzeitig mit der Ordnung: „soviele Ordnungen, soviele Fremdheiten“ (Waldenfels 1997, S. 33). Die Gesellschaftsdiagnose von Spaltung, Pluralität und Kontingenz kann daher mit Waldenfels zugespitzt werden: Solche Merkmale sind zwar auch Effekte einer kulturhistorischen Entwicklung, aber zudem unabhängig von dieser konstitutiv für die Entstehung von Ordnungen. Ordnungen ohne Fremdheiten sind nach Waldenfels nicht denkbar. „Jede Ordnung hat ihren blinden Fleck in Gestalt eines Ungeordneten, das mehr darstellt als ein bloßes Defizit. Das gilt für moralische sowohl wie für kognitive und ästhetische Ordnungen.“ (Waldenfels 2001, S. 24, Herv.H.W.) Die Fremdheit, die jede Ordnung begleitet, bezeichnet Waldenfels als extraordinäre Fremdheit, womit gemeint ist, „daß die Ordnung selbst ein Außen hat, das keiner bloßen Ent-äußerung, keiner Ent-fremdung entstammt, sondern der Ordnung anhaftet wie ein Schatten, der wandert, aber nicht verschwindet“ (Waldenfels 2001, S. 65). Dieses Außen, das sich der Ordnung entzieht und nicht an ihren Maßstäben gemessen oder nach ihren Maßstäben geordnet werden kann, betrachtet Waldenfels als radikale Fremdheit, die gleichzeitig mit der Ordnung ent-

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steht: „Hier meldet sich jene schon erwähnte radikale Form der Fremdheit, die als Außer-ordentliches jede Ordnung, auch jede kulturelle Ordnung sprengt.“ (Waldenfels 2001, S. 117, Herv.i.O.) Eine Herausforderung besteht darin, dieser außer-ordentlichen Fremdheit gerecht zu werden – also auf sie zu antworten ohne sie im Eigenen zum Verschwinden zu bringen. Das beginnt damit, ihre Ansprüche überhaupt „einzublenden“, denn eine Ordnung, „die sich diesen Ansprüchen versagt, verfällt der bloßen Reproduktion“ (Waldenfels 2001, S. 117). Gelingt dies nicht, sieht Waldenfels die Gefahr einer Verflachung von Erfahrungsbereichen, die mit dem Wegfall innovativer Möglichkeiten verbunden wäre. „Ohne Herausforderungen, die vom Fremden ausgehen, nähern wir uns einer Normalgesellschaft, die den von Nietzsche beschworenen ‚Normalmenschen‘ hervorbringt. Demgegenüber ist Fremdes, das sich den vertrauten Ordnungen entzieht, geeignet, uns wieder und wieder aus dem institutionellen Schlummer zu wecken.“ (Waldenfels 2001, S. 158)

Dieses aus dem Schlummer geweckt oder gerissen werden kann durchaus schmerzhaft und erschreckend sein und wird nicht selten als Bedrohung erlebt. Das kann zu problematischen Reaktionen wie Ausgrenzung, Bekämpfung oder Vernichtung des Fremden führen. Der amerikanische „war on terror“, wie er von George W. Bush ausgerufen wurde, ist ein Beispiel für ein „Denken des Innen“ (Waldenfels 2006, S. 18), bei dem der Maßstab der eigenen Ordnung als einzig möglicher universalisiert und mit Gewalt durchgesetzt wird. Neben diesen weit reichenden und drastischen Formen, den Einbruch des Fremden in die eigene Ordnung abzuwehren, gibt es auch zahlreiche alltägliche und unspektakulärere Strategien. Für den kulturellen Bereich nennt Waldenfels „Ordnungsagenturen“ (Waldenfels 1998, S. 259) wie Mode- und Trendmacher, die das Fremdartige funktionalisieren, indem sie es mit wiedererkennbaren Bedeutungen versehen und auf diese Weise konsumierbar machen. In diesen Zusammenhang passen auch manche filmpädagogische Angebote, die als standardisierte Zugänge zum Kulturprodukt Film „der Bedeutung gleichsam die Gebrauchsanweisung mit[geben]“ (Waldenfels 1998, S. 259), also jeden potenziellen Bedeutungsüberschuss von vornherein bändigen und in die Ordnung einholen.

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5.2.2 Kritische Betrachtung gesellschaftlicher Vorgaben Es mangelt nicht an Vorschlägen, wie mit dem der eigenen Ordnung Fremden umzugehen sei, doch die Schwierigkeiten, die sich aus der originären Unzugänglichkeit des Fremden ergeben (vgl. Kapitel 3.2), werden dabei meistens unterschätzt (vgl. Wimmer/ Schäfer 2006). Das Fremde wird nicht von seiner Unzugänglichkeit her gedacht, also von dem Moment des SichEntziehens, sondern es wird benannt, interpretiert und auf diese Weise bewertbar und behandelbar gemacht. Die dabei getroffenen Aussagen sind Konstruktionen, die dem Zweck dienen, das Fremde mit den Mitteln des Eigenen zu identifizieren – mit dem Effekt, dass es als Fremdes verschwindet. Ein Beispiel ist die bildungspolitische Forderung nach „interkultureller Kompetenz“, deren Grundlage die Annahme ist, es gebe benennbare und vermittelbare Wissens- und Könnensbestände, die eine kollisionsfreie Begegnung mit der jeweils fremden Kultur ermöglichen. Sowohl die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Begegnung, als auch die Verfasstheit der fremden Kultur werden dabei ausschließlich im Horizont des Eigenen betrachtet. Ähnliches konstatieren Wimmer/ Schäfer (2006) für das Konzept der Toleranz, das zwar das Versprechen enthalte, „ein Miteinander im Dissens sei möglich“, sich aber häufig als eine Praxis der Duldung erweise, „die den Anderen geringer schätzt und allein nach Maßgabe des Tolerierenden gewährt wird“ (ebd., S. 19). Entsprechend kritisch schätzen die Autoren diese Vorstellung ein: „[E]ine solche Auffassung schreibt jedoch nur die ego- und eurozentristische Logik fort, die sogar noch in den das Fremde abwertenden Formen der Toleranz ein selbstgratifikatorisches Bewusstsein aufrecht erhält, gut zu sein“ (ebd., S. 19). Auch die bekannten Konzepte der Anerkennung, Förderung und Integration von MigrantInnen sind in dieser Hinsicht problematisch. Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, dass diese sozialpolitischen und pädagogischen Ziele über alle Parteigrenzen hinweg als erstrebenswert und alternativlos empfunden werden: „Integration soll sein!“ – diese Losung ist schwer problematisierbar, weil sie unserem Denken vom Eigenen aus so sehr entspricht. Sie ist mit der Vorstellung verbunden, Gutes und Wichtiges zu tun und die Aufgaben, die sich aus gesellschaftlicher Heterogenität ergeben, ernst zu nehmen. Wie Wimmer und Schäfer (2006) zeigen, wird der Anspruch des Fremden dabei systematisch verkannt.

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Wünschenswert ist daher ein „Ebenenwechsel“ in der Betrachtung der eigenen Ordnung. Statt einer Selbstvergewisserung vom Eigenen aus zu folgen, müssten Verunsicherungen zugelassen und vorhandene Lösungsvorschläge unter den Vorbehalt des Andersseinkönnens der jeweiligen Ordnung gestellt werden. Damit wäre der Verzicht auf den gegenwärtig verbreiteten Versuch verbunden, dem Fremden einen bestimmbaren Platz innerhalb der eigenen Ordnung zuzuweisen – bei dem das Fremde verfehlt wird, das nicht innerhalb der Ordnung thematisiert werden kann, sondern die Ordnung selbst betrifft, also ihre Veränderung und Verschiebung erforderlich macht (vgl. Waldenfels 2001, S. 129). Waldenfels hält in diesem Zusammenhang eine grenzbewusste Haltung für erforderlich, ein „Denken des Außen“, das nicht bloß auf die Verbesserung und Veränderung vorhandener gesellschaftlicher Regeln innerhalb einer Ordnung zielt, sondern auf die Beachtung des „Ungeregelten und nicht zu Regelnden“ (Waldenfels 2001, S. 155). Als besonders problematisch erscheinen in diesem Licht die verbreiteten und allgemein anerkannten Forderungen nach „ordnungsspezifischen“ Qualifikationen wie dem Erwerb arbeitsmarktgerechter Kompetenzen, da sich diese ausschließlich auf einer „innerordentlichen“ Ebene bewegen (vgl. Kapitel 4.2, sowie für eine kritische Betrachtung des Kompetenzbegriffs Pongratz/ Reichenbach/ Wimmer 2007). Die wiederholte und nachdrückliche Betonung solcher ordnungsspezifischer Erfordernisse erschwert die kritische Reflexion der zugrunde liegenden Maßstäbe und deren Wahrnehmung als andersmöglich. Da gerade im pädagogischen Bereich der Erwerb von „Schlüsselkompetenzen“ häufig als notwendig, alternativlos oder nicht hinterfragbar dargestellt wird, werden PädagogInnen unbemerkt zu Vollzugshelfern der von Waldenfels problematisierten Schließung von Ordnungen. Für den Bereich der „interkulturellen Pädagogik“ wird dies gelegentlich thematisiert (vgl. z.B. Schäfer/ Wimmer 2006 und Ha/ Schmitz 2006). Aber auch in anderen Teilbereichen der Pädagogik gibt es deutliche Impulse zur Eingemeindung jedes Außerordentlichen, wie ich anhand des Arbeitsbereichs der Filmpädagogik gezeigt habe (vgl. Kap. 2.2), in dem das diesbezügliche Problembewusstsein deutlich schwächer ausgeprägt ist.

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5.2.3 Frage nach innovativen Bearbeitungsmöglichkeiten und der Bestimmung von Bildung Es geht also darum, Begegnungen, Auseinandersetzungen oder Zusammenstöße mit dem Außerordentlichen zu ermöglichen, die nicht auf dessen Eingemeindung zielen: „Es käme darauf an, neue Ordnungsformen zu entwickeln, in denen auf mannigfache Weise das Ungleichartige durchscheint“ (Waldenfels 1998, S. 260). Erstrebenswert ist es, scheinbare Selbstverständlichkeiten als kontingent wahrnehmbar zu machen, also die Wirkungsweise gleichmachender „Ordnungsagenturen“ (Waldenfels 1998, S. 259) zu thematisieren: „Auf die Eindeutigkeit einer terminologisch gefestigten Ordnung, die den Sinn der Rede verfügbar macht, aber auch stillegt, antwortet ein Vieldeutigmachen“ (Waldenfels 1987, S. 191, Herv.i.O.). In Kapitel 9 werde ich untersuchen, welchen Beitrag die Filmpädagogik zu einem solchen Vieldeutigmachen gefestigter Seh-Ordnungen leisten kann. Hier sei bereits der Hinweis gegeben, dass Waldenfels der Kunst selber in diesem Zusammenhang ein besonderes Potenzial beimisst, da sie mit „künstlichen“ Mitteln dazu beitragen könne, die Künstlichkeit vorhandener Ordnungen sicht- und erfahrbar zu machen (Waldenfels 1998, S. 259/ 260). Auch für den Bereich des Politischen deutet Waldenfels eine mögliche Strategie an: „Warum sollte eine Politik nicht zweigleisig verfahren? Dies hieße, den Umständen gemäß Kompromisse schließen, das Mögliche tun und das Unmögliche nicht außer acht lassen.“ (Waldenfels 2001, S. 155, Herv.i.O.) Wobei mit dem „Unmöglichen“ hier nicht das grundsätzlich Wünschenswerte und Wünschbare, aber schwer zu Realisierende gemeint ist, „sondern Fremdes, das den persönlichen, den kollektiven oder den operationalen Möglichkeitsspielraum sprengt und mit dieser Sprengkraft dem Leben seine Spannkraft verleiht“ (Waldenfels 2001, S. 155). Dieser Gedanke scheint mir auch für den Bereich des Pädagogischen anschlussfähig, in dem nicht selten das „Unmögliche“ mit Verweis auf die Grenzen des Machbaren ausgeblendet wird. Ein Beispiel ist der Impuls vieler PädagogInnen, jede (theoretische) Auseinandersetzung, die an Grenzen vorhandener Ordnungen führt, mit dem Hinweis abzulehnen, dass diese Art der Auseinandersetzung in „der Praxis“ nicht nutzbar oder nicht nachgefragt sei. Auch der von Lüders mit Lohmann kritisierte Alltagsdiskurs um klar definierbare Bildungsstandards, einen evaluierbaren Output und eine Orientierung an Nachfrage und Bedarf (vgl. Kapitel 4.2) ist ein Paradebei-

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spiel für die ausschließliche Umsetzung des Möglichen bei restloser Ausblendung des „Unmöglichen“1. Diese Orientierung lässt sich mit Waldenfels als Weg zu einer Verflachung und Schließung der Ordnung problematisieren, die die Reflexion zugrunde liegender Maßstäbe erschwert und langfristig zum Verschwinden innovativer Möglichkeiten führt. Gerade in Bezug auf pädagogische Prozesse scheint mir Waldenfels’ Doppelstrategie daher interessant, denn sie ermöglicht einen konstruktiven Umgang mit jeweils aktuell wahrgenommenen Problemlagen bei gleichzeitiger Beachtung des Andersseinkönnens der eigenen Antwort auf den Anspruch des außerordentlichen Fremden. Bildung könnte vor diesem Hintergrund in einem Denken des „Unmöglichen“ bestehen, das sich nicht vorschnell und ausschließlich auf das Mögliche, das Sagbare oder das Machbare innerhalb vorhandener Ordnungen richtet. Bildung müsste sich vielmehr durch ein „Andersdenken und Andershandeln an den Grenzen der Ordnung“ (Waldenfels 2001, S. 151) auszeichnen, also gerade nicht (nur) auf assimilative Prozesse innerhalb von Ordnungen zielen. Eine so gedachte Bildung könnte dazu beitragen, gesellschaftliche Ordnungsprozesse als ein „Denken des Außen“ zu begleiten und deren Kontingenz sichtbar zu halten/ zu machen und damit überhaupt erst wieder in Kraft zu setzen. Aus diesem Bereich des Außen ergäben sich Ansprüche, die kreative Antworten ermöglichten und innovative Prozesse wie Verschiebungen und Transformationen der Ordnungen in Gang hielten. In Bezug auf die Dimension „Bildung und Gesellschaft“ betrachte ich Bildung daher als Fähigkeit, die eigene Ordnung als anders möglich zu denken und gesellschaftlichen und individuellen Transformationsprozessen auf diese Weise den Weg zu bereiten. Dafür hat das außerordentliche Fremde eine konstitutive Bedeutung, da es als Überschuss gesellschaftliche Transformationsprozesse erst ermöglicht. Um die Frage, in welchem normativen Rahmen solche Prozesse als erstrebenswert beurteilt werden können, wird es im folgenden Abschnitt gehen.

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Eine solche Blickrichtung liegt den meisten Kompetenz-Konzepten zugrunde. Das heißt nicht, dass Kompetenzförderung und -forderung grundsätzlich abzulehnen ist, m.E. bedarf sie aber dringend der Begleitung durch ein kritisches bildungstheoretisches Denken, das den Rahmen, in dem sich solche Konzepte entwickelt und umgesetzt werden der reflektierenden Prüfung zugänglich hält.

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5.3 D IMENSION 3: B ILDUNG UND N ORMATIVITÄT Aus dem bisher Erarbeiteten ergeben sich Schwierigkeiten: Die gesellschaftliche Situation und deren Veränderung sowie individuelles Denken und Handeln erfordern Maßstäbe, die eine Orientierung bieten und dem Handeln Sinn verleihen. Solche Maßstäbe können nicht aus einer übergreifenden Gesamtordnung abgeleitet werden (vgl. Kapitel 4.3 und 5.2), und auch ein souveränes oder autonomes Subjekt kommt als ordnende Instanz nicht infrage (vgl. Kapitel 4.1 und 5.1). In Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden finden sich in diesem Zusammenhang sowohl Hinweise zu Möglichkeiten und Grenzen von Kritik, als auch Überlegungen zu der Entwicklung einer „Minimalethik“. Diese beiden von Lüders betrachteten Ebenen von Normativität sollen daher mit Waldenfels in Hinblick auf die Erfahrung des Fremden weiter ausgearbeitet werden. Der im vorigen Abschnitt beschriebene „Übergang von einer kosmischen Gesamtordnung zu einer rechtsförmigen Grundordnung“ (Waldenfels 2001, S. 124) bringt für den Bereich der Normativität besondere Herausforderungen mit sich: Mit dem griechischen Kosmos ist die Vorstellung einer vertikalen Hierarchie verbunden, „die sich danach bemißt, wieweit Einzelnes das vernünftige Ganze widerspiegelt. [...] Der jeweilige Anteil an der Vernunft, mit der sich das Gesetz des Ganzen erschließt, entscheidet über die Stellung in der Hierarchie der Einzelwesen.“ (Waldenfels 2001, S. 12). Jeder Einzelne versucht daher, sich diesem „Guten“ anzunähern. „Das höchste Sein ist zugleich das Gute, nach dem alles auf seine Weise strebt, und dieses Gute ist zugleich das Eigene“ (Waldenfels 2001, S. 13). Wie Waldenfels wiederholt gezeigt hat, sind solche Ganzheitsvisionen im Zuge der Moderne zwielichtig geworden (z.B. Waldenfels 1987 und Waldenfels 2001) und durch die Vorstellung begrenzter und kontingenter Ordnungen ersetzt worden. Vor diesem Hintergrund ist es allerdings kaum noch möglich, den umfassenden Vernunftanspruch, der im griechischen Kosmos als universale normative Orientierung galt, weiterhin aufrechtzuerhalten. Denn auch normative Ordnungen sind kontingent, und zwar auch dann, wenn sie in Bezug auf ihre Inhalte universale Gültigkeit beanspruchen. Die universale Gültigkeit lässt sich also vor dem Hintergrund begrenzter Ordnungen nicht ohne weiteres begründen.

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Ein gegenwärtig verbreiteter Ausweg liegt in dem Versuch, den „kosmischen“ Vernunftanspruch, der als der Ordnung immanent gedacht wurde, zu reduzieren und auf einen verhandelbaren Geltungsanspruch zu beschränken, der jeweils im Vollzug kommunikativer Handlungen geprüft wird. Auch ein solcher Geltungsanspruch kann universal gedacht werden, wie es z.B. Habermas im Rahmen seiner Diskursethik tut, als „Anspruch auf schlechthinnige Gültigkeit, (...) auf theoretische Wahrheit, moralische Richtigkeit oder persönliche Wahrhaftigkeit, der (...) in jedem öffentlich geäußerten Satz vom Sprecher erhoben und vom Hörer unterstellt wird“ (Waldenfels 2001, S. 27, Herv.i.O.). Auf diese Weise wird die Universalisierungsmöglichkeit gerettet – als Universalisierung im Vollzug – ohne dass dabei das problematische Konzept einer übergreifenden Ordnung aktualisiert werden muss. Waldenfels macht allerdings darauf aufmerksam, dass diese Strategie zwei weit reichende Probleme birgt. Erstens fehlt dem Modell der verhandelbaren Geltungsansprüche das teleologische Moment, also die Triebkraft, die innovative Aktivitäten hervorruft und die im klassischen Kosmos aus dem Streben nach dem Ganzen, dem Guten und der Vernunft gespeist wurde. „Bleibt die Frage nach Wahrheit und Gerechtigkeit auf die Prüfung von Geltungsansprüchen beschränkt, so entfällt das, was dem Sprechen und Tun seine Bewegkraft verleiht, bzw. seine Erfindungskraft hervorruft.“ (Waldenfels 2001, S. 28, Herv.i.O.) Waldenfels bezeichnet dieses Modell daher auch als „forensisches Modell“ (ebd.), im Rahmen dessen lediglich Handlungen in Bezug auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft, aber keine Taten hervorgebracht werden (vgl. ebd.). Zweitens sind für eine solche forensische Vernunft nur Konflikte sichtbar und prüfbar, die innerhalb vorhandener diskursiver Rahmen entstehen und verhandelt werden können. D.h., es ist nicht möglich, „jene Konflikte zu formulieren, geschweige denn auszuräumen, die unterhalb der Schwelle universaler Geltungsansprüche auftreten“ (Waldenfels 2001, S. 30). Denn: „Konflikte, die sich bei der Realisierung von Sinn in der Erfahrung einstellen, führen zu Formen des Widerstreits“ (Waldenfels 2001, S. 30/ 31, Herv.i.O.), also zu Streitfällen, die gerade nicht innerhalb einer Diskursart (wie z.B. der „forensischen“ oder gerichtlichen) gelöst werden können (vgl. dazu Lyotard 1987), sondern die Erfindung neuer Diskursarten erforderlich machen. Also auf jene hervorbringende Kraft angewiesen sind, die nach Waldenfels im forensischen Modell verloren geht.

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Die Geltungsvernunft, die nur zur Prüfung von Geltungsansprüchen eingesetzt wird, ist also nicht geeignet, positive Maßstäbe hervorzubringen, sondern sie lässt stattdessen ein normatives Vakuum entstehen. Waldenfels sieht die gesellschaftliche Tendenz, dieses Vakuum unbemerkt mit vorhandenen Sitten und Traditionen zu füllen. Dabei kommt es zu einer Habitualisierung (vgl. Waldenfels 1987, S. 79), die den Effekt hat, dass vorhandene normative Bestände und eigene Befangenheiten nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Die Folge ist die Ausbreitung fragwürdiger Orientierungen – z.B. der eines unkritischen „Normalismus“: „Der bloße Rückzug der Vernunft führt zu bestimmten Formen des Normalismus, das heißt einer Normalität, die selbst zur Norm wird.“ (Waldenfels 2001, S. 34) Und zwar ohne „daß deren Maßstäbe von anderswoher in Frage gestellt werden“ (Waldenfels 2001, S. 35)2. Die Frage ist nun, wie ein normativer Rahmen trotzdem zu denken ist, wenn weder eine kosmische Vernunft noch eine prüfende Geltungsvernunft geeignet sind, diesen zu begründen. Auch Waldenfels setzt sich in diesem Zusammenhang mit dem Instrument der Kritik auseinander. 5.3.1 Kritik Zunächst einmal eröffnet Kritik die Möglichkeit, vorhandene Maßstäbe zu prüfen und Orientierungen wie die des Normalismus als andersmöglich zu denken. Kritik ist daher geeignet, Prozesse der Normalisierung reflektierend zu begleiten und deren Kontingenz sichtbar zu machen. Sie dient der Reflexion normativer Selektionsmechanismen, die Bestandteil der Produk-

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Waldenfels äußert in die Befürchtung, „Kultur“ könnte dabei zu einem „Feigenblatt“ werden, dass dazu dient, solche „Blößen“ einer forensischen Vernunft zu bedecken (Waldenfels 2001, S. 125). Es scheint mir aussichtsreich, in diesem Zusammenhang auch filmkritische Überlegungen anzustellen. Kritisch müssten dann z.B. solche Filme betrachtet werden, in denen Normalisierungsprozesse affirmativ wiederholt werden, und die den Prozess der Normalisierung dabei gleichzeitig unsichtbar machen (vgl. dazu Walberg 2010). Ein klassisches Genre-Beispiel dafür ist der Liebesfilm, in dem am Ende immer „die Richtigen“ ein Paar werden. Auf diese Weise wird die Vorstellung aufgerufen, es gebe eine endgültig richtige Normalität, in der alle Zweifel zur Ruhe kommen, und die es lediglich zu erkennen und festzuhalten gelte.

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tion und Stabilisierung von Ordnungen sind. Und sein müssen – denn mit der Entstehung einer Ordnung entsteht stets ein Außerordentliches: Jede Ordnung macht etwas unzugänglich, indem sie anderes zugänglich macht (vgl. Kapitel 3.2). Dass ein solcher Prozess stattfindet ist unumgänglich, aber die Art, wie er stattfindet, ist nicht alternativlos und kann im Rahmen einer kritischen Prüfung zur Disposition gestellt werden. Die kritische Betrachtung des Differenzierungsgeschehens, das der Entstehung, Sicherung oder Veränderung jeder Ordnung zugrunde liegt, lässt die Zwielichtigkeit solcher Prozesse hervortreten. Es öffnet sich ein „Spalt“ (Waldenfels 1987, S. 75) in dem scheinbar geschlossenen Ordnungsgefüge, der Ordnungsprozesse und deren Kontingenz erst sichtbar macht. Auf diese Weise lassen sich normative Traditionen und Bestände reflektieren, die unbemerkt in die Ordnung eingerückt sind – scheinbar als Ergebnis unschuldiger Geltungsprüfungen, die aber stets in bestimmte Kontexte und Machtgefüge verwickelt sind. Als Beispiel kann wieder die deutsche Migrationsdebatte dienen, im Rahmen derer es als selbstverständlich gilt, dass mit „Integration“ die Einfügung der Zugewanderten in unsere Ordnung gemeint ist, und dass diese Option in der deutschen Selbstwahrnehmung als großzügiges Angebot betrachtet wird (vgl. Ha/ Schmitz 2006). Interessant ist vor diesem Hintergrund Waldenfels’ Hinweis darauf, dass die Geltung bestimmter Maßstäbe immer mit Macht verknüpft ist und dass dieser Zusammenhang „nicht eng genug angesetzt werden“ kann (Waldenfels 1987, S. 111). Eine kritische Haltung ist geeignet, solche Zusammenhänge wahrzunehmen und auf deren Kontingenz aufmerksam zu machen. Eine rein affirmative Orientierung, die dem von Waldenfels problematisierten Normalismus Tür und Tor öffnet, lässt sich auf diese Weise durchkreuzen. Neben diesen Möglichkeiten betrachtet Waldenfels allerdings auch Grenzen der Kritik: Soll Kritik der Vorstellung begrenzter Ordnungen angemessen sein, so kann sie – genau wie die Ordnungen auf die sie sich bezieht – nicht mit einem universalen Geltungsanspruch verbunden sein, sondern muss „der Vielfalt vorhandener Maßstäbe und der Divergenz von Entwicklungstendenzen Rechnung“ tragen (Waldenfels 2001, S. 127). Waldenfels spricht in diesem Sinne von einer „pluralen“, „vieldimensionalen“ und „dosierte[n]“ Kritik (ebd.). Zusätzlich wird die Reichweite jeder Kritik von dem Anspruch des Fremden begrenzt, der sich der Ordnung entzieht und innerhalb der Ordnung nicht eingeholt werden kann; von dem Fremden, „das in der Abwei-

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chung als solches auftritt und dabei die Maßstäbe verrückt“ (Waldenfels 2001, S. 129), also auch der Kritik ihren Maßstab entzieht. Diese Grenze der Kritik benennt Waldenfels explizit: „Kritik greift grundsätzlich zu kurz, wenn es um etwas geht, das da ist, indem es abweicht, indem es sich entzieht, indem es schweigt“ (Waldenfels 2001, S. 130). Das eigene in Frage gestellt sein durch Fremdes entzieht sich der Kritik, und zwar indem es die Voraussetzungen infrage stellt, unter denen Kritik geübt werden kann. Waldenfels verwirft daher eine starke Vorstellung von Kritik, da sie die Erfahrung des Fremden verfehlt, indem „sie schon zuviel voraussetzt“ (Waldenfels 2001, S. 130). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Waldenfels der Kritik das Potenzial zuspricht, gültige Maßstäbe zu reflektieren und zu befragen, aber dass er auch davor warnt, zuviel von der Kritik zu erwarten, da sie selber Bestandteil einer Ordnung ist, die durch den Anspruch des Fremden infrage gestellt werden kann. Kritik kann zwar in den Prozess der Normalisierung eingreifen, kann dessen Voraussetzungen aber nie einholen. Kritik ist keine unanfechtbare Metadiskursart, die hinter die Grenzen von Eigenem und Fremdem zurücktreten könnte – denn sie bewegt sich diesseits der von Waldenfels beschriebenen „Schwelle“ zwischen Eigenem und Fremdem und kann nicht vom Standpunkt eines neutralen Dritten aus geübt werden. Der Anspruch des Fremden wird von der Kritik, die auf eigene Begriffe, Maßstäbe und Vorstellungen angewiesen ist, verfehlt. Genau dieser Sachverhalt dient Waldenfels als Ausgangspunkt für die Entwicklung weiterer normativer Überlegungen, die damit an der Stelle einsetzen, an der Waldenfels die Grenzen der Kritik sieht. 5.3.2 Minimalethik Im Anspruch des Fremden sieht Waldenfels eine nicht mehr hintergehbare Aufforderung, die er als ethische Aufgabe betrachtet. Die Erfahrung des Fremden ruft das Subjekt in eine Verantwortung – ein Ruf, dem es sich nicht entziehen kann, denn der Anspruch des Fremden ist unausweichlich. Das Subjekt kann nicht nicht antworten (vgl. Kapitel 3.5), auch ein Wegsehen oder ein Weghören, ein Schweigen oder ein Zurückweisen wäre eine

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Antwort, die das Subjekt zu verantworten hätte3. Da nach Waldenfels das Fremde nur von diesem An-Spruch, her gedacht werden kann (vgl. Kapitel 3.6), entwickelt er eine „responsive Ethik“, also eine Ethik, „die aus dem Antworten erwächst und somit die Ebene der Gebote und Verbote unterschreitet“ (Waldenfels 2006, S. 10). Das Antworten auf fremde Ansprüche erschöpft sich nicht im Gehalt der Antwort, es wird dabei kein Auftrag erfüllt, keine Wissenslücke geschlossen und kein Informationsmangel behoben. Die Bedeutung der Responsivität sieht Waldenfels vielmehr im Ereignis des Antwortens, das auf das Ereignis des Angesprochen-Seins bezogen ist: „Ein solches Antworten gibt nicht, was es schon hat, sondern was es im Antworten erfindet.“ (Waldenfels 2006, S. 60) Waldenfels’ „Minimalethik“ besteht gerade nicht darin, dass er verbindliche Vorgaben formuliert oder „das Fremde“ als positivierbare Größe behandelt. Er erhebt das Fremde nicht zur „moralischen“ oder zur „religiösen“ Instanz (2006, S. 9/ 10), denn das Fremde entzieht sich jeder Ordnung, also auch einer moralischen. Es entzieht sich dem Wollen oder dem Zeigen, denn: „Wer zeigt, wenn sich etwas zeigt, was wir weder vermuten noch erwarten?“ (Waldenfels 2001, S. 50) Mit der Formulierung normativer Vorgaben würde das Fremde bereits in den Horizont des Eigenen eingerückt, indem vorweg festgelegt würde, was sein kann und was sein soll. Dem für Waldenfels so zentralen Moment des unkalkulierbaren Angesprochen-Seins durch das Fremde würde dadurch der Stachel genommen. Die normative Dimension dieser „responsiven Ethik“ liegt in der Forderung, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden, das heißt seine Zugänglichkeit in seiner spezifischen Unzugänglichkeit zu sehen, anstatt ihm über „identifizierendes Denken“ (Adorno 1975) Gewalt anzutun. Diese Forderung ist utopisch, denn Eigenes und Fremdes bleiben durch eine Schwelle getrennt, und das Fremde lässt sich vom Eigenen aus nie als Fremdes erreichen. Gleichzeitig gibt es keine andere Möglichkeit, als vom Eigenen aus zu antworten, weil die Schwelle nicht beliebig in beide Richtungen überquert werden kann, und weil es keinen neutralen dritten Standpunkt gibt, von dem aus eine Verständigung angestrebt werden könnte (vgl. Kapitel 3.2). Uns stehen keine anderen Begriffe, Denk- oder Handlungs-

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Diese Denkfigur liegt auch unseren juristischen Vorstellungen zugrunde, nach denen auch ein Unterlassen verantwortet werden muss und bestraft werden kann.

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weisen zur Verfügung, als die eigenen. Aber gerade deswegen ist die utopische Forderung, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden, geeignet, innovative Antwortversuche immer wieder hervorzurufen und auf diese Weise Auseinandersetzungsprozesse in Gang zu halten – die aber nie in einem endgültigen Ergebnis zur Ruhe kommen können. Hier liegt die innovative und produktive Ebene dieser Ethik, die Triebkraft, die Waldenfels bei der ausschließlichen Orientierung an „forensischen“ Geltungsansprüchen gefährdet sieht. Das Potenzial für die Entstehung von etwas Neuem wird im Antwortgeschehen selber hervorgebracht, ohne dass dies positiv bestimmt werden könnte. „Berücksichtigen wir die Möglichkeit, daß im Antworten nicht bloß ein bereits existierender Sinn wiedergegeben, weitergegeben oder vervollständigt wird, sondern daß im Gegenteil Sinn im Antworten selbst entsteht, so stoßen wir auf das Paradox einer kreativen Antwort, in der wir geben, was wir nicht haben.“ (Waldenfels 1997, S. 53, Herv.i.O./ vgl. Kapitel 3.6)

Ein solches Antworten kann nach Waldenfels weit reichende Transformationsprozesse ermöglichen, indem es „eine bestehende Ordnung durchbricht und die Bedingungen des Verstehens und der Verständigung mit verändert“ (Waldenfels 2006, S. 67). Das produktive Moment sieht Waldenfels im Wechselspiel von Anspruch und Antwort, also darin, „daß Neuartiges in unsere bestehende Erfahrungsordnung einbricht und zu radikalen Umbestimmungen und Neubestimmungen nötigt, so daß die Regeln und Rahmenbedingungen unserer Erfahrung und unserer Wechselverständigung modifiziert werden. Wir stoßen hier auf ein Maßgeben, das nicht an anderem Maß nimmt.“ (Waldenfels 1987, S. 145, Herv.i.O.)

Im vorangegangenen Abschnitt habe ich Bildung als ein Denken des „Unmöglichen“ beschrieben, das aus rein assimilativen Verarbeitungsprozessen innerhalb der vorhandenen Ordnung herausführt (vgl. Kapitel 5.2). Der Bezug auf Waldenfels’ responsive Ethik erlaubt es mir nun, näher zu bestimmen, wann solche Prozesse in normativer Perspektive als erstrebenswert eingeschätzt werden können. Nach Waldenfels nämlich dann, wenn ihr Antrieb in dem Versuch liegt, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden, und wenn sie eine innovative bzw. hervorbringende Qualität haben, sich al-

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so nicht in der Wahrnehmung von Fremdheitsbereichen erschöpfen. Die von Waldenfels beschriebene Erfindung kreativer Antworten auf den Anspruch des unverfügbaren Fremden ist vor diesem Hintergrund ein normativ wünschenswerter Prozess, der gleichzeitig auch als Bildungsprozess gesehen werden kann, da das Denken des „Unmöglichen“ dabei auf eine produktive Weise realisiert wird. Die auffällige Nähe des letzten WaldenfelsZitats (s. voriger Absatz) zu aktuellen bildungstheoretischen Überlegungen (z.B. von Koller, Peukert oder Marotzki – vgl. Kapitel 4) passt daher in diesem Zusammenhang gut. In Anbetracht des oben Gesagten kann differenziert werden, dass der Prozess der Erfindung kreativer Antworten/ der Bildung in einem Zweischritt aus Kritik und Erfindung besteht. In einem ersten Schritt geht es darum, die Möglichkeiten der Kritik auszuschöpfen – denn ein anderer prüfender Zugriff auf Welt und Selbst steht uns nicht zur Verfügung – und uns gleichzeitig ihrer Grenzen bewusst zu bleiben – denn Kritik ist keine unanfechtbare Metadiskursart. Kritik sollte also mit einem Grenzbewusstsein in Bezug auf die eigenen Zugriffsmöglichkeiten auf Selbst und Welt verbunden sein. Oder, wie Alfred Schäfer es ausdrückt, eigene Welt- und Selbstverhältnisse müssen unter einen „Fremdheitsvorbehalt“ (Schäfer 2001, S. 6) gestellt werden. Denn der unplanbare Einbruch des Fremden begrenzt die Möglichkeiten von Kritik (s.o.). Ein solcher Einbruch sollte nicht ein einen vorgefertigten normativen Rahmen gezwungen werden, der selber nicht mehr zur Disposition steht, sondern (im Sinne einer responsiven Ethik, s.o.) als Aufforderung genommen werden, eine kreative Antwort zu erfinden. An dieser Grenze der Kritik setzt als zweiter Schritt die Erfindung ein. Bildung kann als utopischer Versuch gedacht werden, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden; als innovatives und nicht abschließbares Antwortgeschehen in Anbetracht des unverfügbaren Fremden. Der fremde Anspruch ist in diesem Verständnis die Triebkraft, die einen Bildungsprozess in Gang hält, der nie abgeschlossen werden kann. Das Fremde wird als Fremdes nie erreicht, es ist aber die Kraft, die das Eigene infrage stellt und damit in Bewegung bringt, also Transformationsprozesse hervorruft. Bildung ist demnach kein Besitz, Bildung lässt sich nicht vermitteln, aufbewahren und als unvergänglicher Bestand sichern, sondern Bildung kann nur als Bewegung gedacht werden. Denn mit jeder Antwort wird wieder etwas ausgeschlossen, das sich als Anspruch melden kann. Jede Verschiebung der Ordnung produziert ein Außerordentliches, das sich der eigenen Ordnung

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entzieht und diese wiederum beunruhigen kann. Im Sinne einer grenzbewussten Bestimmung von Bildung gilt es zu beachten, dass auch solche innovativen Bildungsprozesse nie hinter den Prozess der Produktion von Eigenem und Fremdem zurücktreten können, sondern stets Teil dieses Prozesses bleiben. Wie dieser Prozess sich strukturell beschreiben lässt – darum geht es im nächsten Abschnitt.

5.4 D IMENSION 4: D IE P ROZESSSTRUKTUR VON B ILDUNG Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich, dass Bildung nicht als Besitz oder Bestand gedacht werden kann, sondern als Prozess betrachtet werden muss. Diese Sichtweise ist in der Bildungstheorie durchaus verbreitet, und wie oben erwähnt ist die Frage nach der Prozessstruktur von Bildung eine Dimension der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff (vgl. Kapitel 4.4). Ich möchte hier mit Waldenfels anknüpfen und Bildung als einen besonderen Prozess, nämlich als einen Prozess der Erfahrung beschreiben. Dabei wird sich die Gelegenheit ergeben, verschiedene Aspekte des bisher Gesagten zu einer komplexeren Strukturvorstellung von Bildung zusammenzuführen. Doch zunächst soll Waldenfels’ Konzept der (Fremd-)Erfahrung als „gebrochener Erfahrung“ rekonstruiert werden. Die beiden Leitmotive in Waldenfels’ Vorstellung von Erfahrung sind Pathos und Diastase. Zuerst zum Begriff des Pathos (vgl. Kapitel 3.6): Ein zentrales Moment im Prozess der Erfahrung ist das unvorhersehbare und unplanbare Getroffen-Werden von etwas. Waldenfels benutzt dafür den Begriff des Pathos und meint damit Ereignisse, „die nicht als abrufbares Etwas auftreten, als warteten sie bloß auf unser Stichwort oder unseren Tastenbefehl, [sondern] die uns vielmehr widerfahren, zustoßen, uns überkommen, überraschen, überfallen“ (Waldenfels 2006, S. 42). Die Dimension des Pathos verweist auf etwas, das sich dem steuernden Zugriff entzieht, das auch „entgegen unseren Wünschen eintreten kann und überdies in Situationen vorkommt, wo wir nicht mehr Herr der Lage sind“ (Waldenfels 2002, S. 15). Trotzdem handelt es sich beim Pathos nicht um einen fundamentalistisch gedachten Erfahrungs-Grund, zu dem wir uns nachträglich und reagierend in ein Verhältnis setzen, sondern vielmehr um ein „Gesche-

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hen, in das wir wohl oder übel und auf immer verwickelt sind“ (Waldenfels 2002, S. 9, Herv.H.W.). Dieses Geschehen zeichnet sich dadurch aus, dass pathische Einbrüche unausweichlich sind und sich einem verstehenden oder strukturierenden Zugriff entziehen. Jede Bewertung, Einordnung oder Interpretation als etwas, also als Schmerz, als Schreck, als Überraschung usw., geschieht nachträglich. Damit ist die zweite Dimension angesprochen: Die zeitliche Verschiebung, die Waldenfels Diastase nennt. Mit Diastase ist die Verschiebung einer Erfahrung sich selbst gegenüber gemeint, „in Form einer Vorgängigkeit dessen, was uns affiziert, und einer Nachträglichkeit dessen, was wir darauf antworten“ (Waldenfels 2002, S. 10, Herv.i.O.). Das heißt, dass das Getroffen-Sein von etwas der Antwort auf dieses Widerfahrnis stets vorausgeht. Allerdings nicht in dem Sinn, dass Pathos und Antwort als zwei getrennte und linear aufeinander folgende Ereignisse gedacht werden könnten – es handelt sich dabei vielmehr um „eine einzige gegenüber sich selbst verschobene Erfahrung“ (Waldenfels 2006, S. 50). Um eine Erfahrung, in der Pathos und Response miteinander verbunden sind, aber gleichzeitig durch einen „Spalt“ getrennt bleiben, der darin besteht, dass das Pathos als Einbruch gedacht werden muss, den ich nicht erwarten oder planen und auf den ich mich nicht vorbereiten kann. Ein solches Ereignis ermöglicht erst die Entstehung einer kreativen Antwort, die stets nachträglich gegeben wird. Vorgängiges Getroffensein und nachträgliche Antwort bleiben dabei Momente einer einzigen verschobenen Erfahrung und zwar insofern, als das Pathos erst in der Antwort zum Pathos wird, ohne das Pathos aber keine Antwort zu geben gewesen wäre. Das Pathos ist also weder eine Eigenschaft von Dingen in der Welt, die sich losgelöst von einem Subjekt denken ließe, noch eine Erfindung des Subjekts, die sich losgelöst von einem „welthaltigen“ Widerfahrnis denken ließe. Waldenfels betrachtet das Pathos nicht als „etwas, das wir meinen, verstehen, beurteilen, abwehren oder begrüßen“, sondern als den „Zeit-Ort von dem aus wir all dies tun, indem wir darauf antworten“ (Waldenfels 2006, S. 50, Herv.i.O.). Dieser Zeit-Ort wird erst zu einem solchen, indem wir von ihm aus antworten. So gibt es keine Widerfahrnisse, ohne jemanden, der sie hat, wie Waldenfels an den Beispielen Schmerz und Lust deutlich macht, die sich nur im Zusammenhang mit einem Betroffenen denken lassen. Gleichzeitig ist ein Widerfahrnis wie Schmerz auch keine „Leistung“ des Getroffenen, sondern ein „Worauf des Antwortens, indem jemand sich redend und handelnd darauf be-

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zieht, es abwehrt, begrüßt und zur Sprache bringt“ (Waldenfels 2006, S. 44/ 45, Herv.i.O.). Waldenfels’ Konzept enthält damit eine Abgrenzung in zwei Richtungen: Erfahrung wird weder fundamentalistisch noch konstruktivistisch gedacht – sie ergibt sich weder zwingend aus Erfahrungsgegenständen, noch kann sie vom Subjekt frei gestaltet werden. Sie entsteht in einem „Zwischen“ zwischen Gegenstand und Zugang, ist aber nicht beliebig. Zusammenfassend lässt sich Erfahrung mit Waldenfels als ein Geschehen beschreiben, über das das Subjekt nicht verfügt. Als Prozess, der „anderswo“ beginnt aber trotzdem nicht beliebig oder völlig fremdbestimmt ist, als ein umfassendes Geschehen, dem weder Subjekt noch Gegenstand vorgängig sind. Der Erfahrungsprozess beginnt demnach nicht mit Instanzen oder Elementen (wie Subjekt und Gegenstand oder Eigenes und Fremdes), sondern mit Differenzen (vgl. Waldenfels 2001, S. 70 und Kapitel 5.1). Eigenes und Fremdes entstehen erst, indem sich etwas im Prozess der Erfahrung unterscheidet. Der so gedachte Erfahrungsprozess weist Bruchlinien und Risse auf, die sich aus der Diastase ergeben: Erfahrung kann nie völlig kohärent oder geschlossen sein, weil das Pathos, das den Erfahrungsprozess anstößt, sich dem direkten Zugriff entzieht. Jedes Erfahrungsgeschehen ist sich selbst gegenüber verschoben und kann nicht als Prozess der Versöhnung oder Harmonisierung gedacht werden. Bezogen auf den Umgang mit solchen Bruchlinien führt Waldenfels die Unterscheidung von schwachen und starken Erfahrungen ein (vgl. Kapitel 3.3.1), die mir für die Entwicklung eines bildungstheoretischen Anschlusses relevant erscheint: Schwache Erfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass der Verarbeitungsprozess ausschließlich innerhalb vorhandener Selbstund Weltverhältnisse stattfindet. Eine schwache Erfahrung kann als Konstitutionsprozess gedacht werden (Waldenfels 2002, S. 31), im Rahmen dessen Bedeutungen – unter Rückgriff auf vorhandene Verarbeitungsmuster – aufgebaut werden. Bruchstellen werden dabei verdeckt, weil Antworten nicht „erfunden“, sondern aus einer Menge bereits feststehender „Antwortvorlagen“ ausgewählt werden, die jeden Überschuss des Pathos unsichtbar machen. Im Gegensatz dazu ist eine starke Erfahrung dadurch gekennzeichnet, dass sie solche Konstitutionsprozesse unterbricht, indem sie sich jeder Sinnvorlage entzieht – wie es z.B. bei der Erfahrung des Fremden der Fall ist (sie zeigt sich, indem sie sich entzieht – vgl. Kapitel 3.2), die Waldenfels grundsätzlich als starke Erfahrung ansieht. Sie führt zu einem

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Scheitern vorhandener Deutungsmuster und erfordert einen produktiven, hervorbringenden Verarbeitungsprozess. Während schwache Erfahrungen also einen sinnreproduzierenden Charakter haben, zeichnen sich starke Erfahrungen durch die Produktion von Sinn und Bedeutungen aus. Mit Bezug auf den vorigen Abschnitt lassen sich schwache Erfahrungen auch als Normalisierung und starke Erfahrungen als Erfindung betrachten. Aber wie kann nun Erfahrung als Bildung gedacht werden? Kokemohr führt folgendes Kriterium ein: „Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumptionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt.“ (Kokemohr 2004, S. 2) Mit Waldenfels gesprochen handelt es sich demnach bei einer bildenden (Fremd-)Erfahrung um eine starke Erfahrung, also nicht um einen Normalisierungsprozess, bei dem die Verarbeitung innerhalb vorhandener Figuren des Selbst- und Weltverhältnisses stattfindet, sondern um einen Transformationsprozess, im Rahmen dessen sich die Art der Informationsverarbeitung selber ändert. Im Anschluss an Kokemohrs Entwurf schlage ich deshalb vor, Waldenfels’ Bestimmung starker Erfahrung auf Bildungsprozesse zu übertragen und Bildung als starken Erfahrungsprozess zu beschreiben. Damit ist eine Erweiterung von Kokemohrs Verständnis verbunden, denn die Erfahrung des Fremden wie Waldenfels sie fasst, ist nicht nur Ausgangspunkt eines weiteren Verarbeitungsprozesses (wie z.B. eines Bildungsprozesses), sondern ein komplexes Geschehen, das sich insgesamt als Bildungsprozess verstehen lässt. Kokemohr trennt im Gegensatz dazu zwischen der Erfahrung des Fremden einerseits und dem transformatorischen Bildungsgeschehen – das sich an diese Erfahrung erst anschließt – andererseits: „Ich erprobe die Annahme, dass die Bezugnahme auf Fremdes eine bildungstheoretisch paradigmatische Situation in dem Sinn ist, dass ein Bildungsprozess durch die Erfahrung von Fremdem herausgefordert werden kann, das, in das mir vertraute Welt- und Selbstverhältnis einbrechend, einer Deutung in dessen Grundfiguren widersteht. Deshalb verstehe ich Bildungsprozesse als durch Fremdes herausgeforderte Veränderung von Grundfiguren meines Welt- und Selbstverhältnisses.“ (Kokemohr 2004, S. 1)

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Waldenfels’ Strukturvorstellung bezieht sich dagegen nicht auf getrennt gedachte Ereignisse wie den Auslöser eines Transformationsprozesses einerseits und den Transformationsprozess selber andererseits, sondern auf das gesamte Geschehen, in dem Pathos und Response entstehen und aufeinander bezogen werden. Ein Geschehen, das Waldenfels als eine einzige, sich selbst gegenüber verschobene Erfahrung sieht (s.o.). Vor diesem Hintergrund können nun Merkmale der Prozessstruktur von Bildung zusammengeführt werden: Im Rahmen eines Erfahrungsprozesses – der im Fall einer starken Erfahrung als Bildungsprozess betrachtet werden soll – entstehen Eigenes und Fremdes erst durch Differenzierung (vgl. Kapitel 5.1). Mit Waldenfels kann daher ein Beitrag zu der von Kokemohr geforderten Klärung des Verhältnisses von Instanzen und Prozess im Bildungsgeschehen (vgl. Kapitel 4.4) geleistet werden: „Bildungssubjekt“ und „Erfahrungsgegenstand“ treffen nicht als vorgängige Instanzen aufeinander, sondern entstehen im Prozess der Bildung. Waldenfels’ Vorstellung der gebrochenen Erfahrung hängt eng mit seiner Subjektvorstellung zusammen, bzw. sein Subjektkonzept (vgl. Kapitel 5.1) führt zu der eben beschriebenen Vorstellung von Erfahrung – denn nach Waldenfels gibt es kein autonomes und sich selbst verfügbares Subjekt, das einen Erfahrungsprozess planen, herbeiführen oder steuern könnte. Der Erfahrungs- bzw. Bildungsprozess ist vielmehr auch ein Prozess der Subjektkonstitution. Und nicht nur das Subjekt wird in diesem Prozess hervorgebracht, sondern auch der „Gegenstand“ der Erfahrung – im Zuge einer Fremderfahrung entstehen Eigenes und Fremdes, indem das Eigene sich vom Fremden unterscheidet (s.o.). Die Bedeutung, mit der der Gegenstand versehen wird, ist allerdings nicht beliebig, wie Waldenfels wiederholt mit Hinweis auf eine „welthafte“ Empfindsamkeit (Waldenfels 2002, S. 102) betont, die eine „qualitative Färbung“ zeigt und in der „verschiedene Richtungen vorgezeichnet“ sind (Waldenfels 2002, S. 102). Eine kreative Antwort, wie sie im Rahmen einer starken Erfahrung/ eines Bildungsprozesses auf ein pathisches Getroffen-Sein gegeben wird, führt also zu der Produktion von Sinn, wobei dieser Sinn weder festgelegt noch beliebig ist: Eine Pflanze kann als Unkraut oder als Heilkraut betrachtet werden, aber nicht als Fortbewegungsmittel; ein Haus kann als sichere Unterkunft oder als Gefängnis empfunden werden, aber nicht als Mahlzeit; ein Lehrer kann als Unterstützung oder Bedrohung behandelt werden, aber nicht als Raum, usw.. Zusätzlich werden bestimmte Sinnzuschreibungen durch sprachlich verfasste Bedeu-

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tungszusammenhänge nahe gelegt, in denen wir uns immer schon bewegen (vgl. Kapitel 5.1). So werden z.B. MigrantInnen tendenziell als gesellschaftlich zu bewältigendes Problem betrachtet und nicht als gleichberechtigte GesprächspartnerInnen. Ein solcher „bevorzugter Sinn“ (Waldenfels 2006 S. 37) muss aber mit dem „Koeffizienten der Kontingenz“ (Waldenfels 2006, S. 36) versehen werden. Er kann zwar nicht einfach übersprungen, aber doch unterwandert und verschoben werden (Waldenfels 2006, S. 38). Wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, gilt dies auch „für diskursiv verankerte Geltungsansprüche, kraft deren Sinnbildungen normativ gefiltert werden“ (ebd.). Bildungstheoretisch interessant sind besonders die Bruchlinien der Erfahrung, weil an ihnen Transformationsprozesse einsetzen können. Nach Waldenfels geschieht dies zumindest im Rahmen starker Erfahrungen – die mit dem für Bildungsprozesse konstitutiven Moment des Scheiterns eigener Welt- und Selbstzugänge verbunden sind, um das es in Kapitel 4.4 bereits ging. Solche Bruchlinien werden durch pädagogische Zugriffe nicht selten verdeckt, wie ich am Beispiel der Filmpädagogik gezeigt habe. Erforderlich ist daher ein bildungstheoretisches und pädagogisches Umdenken das es ermöglicht, Brüche und Risse im Erfahrungsprozess nicht als Hindernis oder Gefahr für Bildungsprozesse zu betrachten, sondern als potenzielle Bildungschance. Am Beispiel starker Erfahrung/ Fremderfahrung wird deutlich, dass Erfahrung stets ihren Ereignischarakter behält und dem Subjekt nicht verfügbar ist. Die Erfahrung des Fremden lässt sich nicht machen. Waldenfels denkt sie als ein Stiftungsereignis, das sich dem planenden Zugriff entzieht. „Die Fremderfahrung, die sich in solchen Ereignissen bekundet, läßt sich weder durch geeignete Maßnahmen herbeiführen, noch wie ein sicheres Erbe aufbewahren. Sie läßt sich weder durch Begründung sichern, noch argumentativ erzwingen, sie läßt sich sowenig lernen wie das Philosophieren.“ (Waldenfels 2001, S. 130)

Eine bildende Fremderfahrung lässt also nicht einfach herstellen. Und Waldenfels geht noch weiter: Betrachtet man die Erfahrung des Fremden konsequent als Stiftungsereignis, so kann man sie nicht einmal wollen: „Fremderfahrung beginnt weder mit dem guten noch mit dem bösen Willen, eben weil es [sic] jene Sinnerwartungen und Regelvorbehalte, von denen der Wille sich nährt, durchbricht. Pathos ist nicht bloß das Unwillentli-

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che, sondern das nicht Wollbare.“ (Waldenfels 2006, S. 54/ 55) Bildung lässt sich nicht machen, aber gibt es günstige Bedingungen? Wovon hängt es ab, ob eine Erfahrung stark oder schwach ausfällt? Ob also ein Normalisierungsprozess oder ein Bildungsprozess stattfindet? In diesem Zusammenhang ist Schäfers Hinweis darauf hilfreich, dass bildungstheoretisches Denken nur ein „Möglichkeitsdenken“ sein kann, im Rahmen dessen es darum geht, „Möglichkeitsbedingungen“ für Bildungsprozesse zu benennen (Schäfer 2001, S. 3), ohne dass das Sich-Ereignen von Bildung dadurch garantiert werden könnte. Auch Waldenfels nennt solche „Möglichkeitsbedingungen“, unter denen sich das Überschreiten vorhandener (Erfahrungs-)Ordnungen ereignen kann und die Erfindung produktiver Antworten wahrscheinlicher wird: Dafür „muß sich unsere vertraute Erfahrung verfremden; wir müssen, was wir kennen mit anderen Augen sehen und in Situationen geraten, wo wir uns nicht mehr auskennen“ (Waldenfels 1987, S. 179). Für pädagogische Überlegungen lassen sich hier zwei Fragen anschließen: Einmal die Frage nach der „Verfremdung vertrauter Erfahrung“, die sich auf die jeweilige Zugangsweise zu einem Erfahrungsbereich bezieht und Überlegungen dazu nahe legt, ob und wie dem „Bildungssubjekt“ bestimmte Zugangsweisen zu einem Erfahrungsbereich eröffnet werden können. Also ob PädagogInnen dazu beitragen können, dass wir „mit anderen Augen sehen“, was wir kennen. Und zweitens die Frage nach „Situationen, wo wir uns nicht mehr auskennen“, also nach Erfahrungsbereichen und Erfahrungsgegenständen, die uns bisher noch nicht begegnet sind. Dieser zweite Bereich legt Überlegungen dazu nahe, ob und wie PädagogInnen bestimmte Erfahrungsgegenstände auswählen und „anbieten“ können. Oder, mit Bergala gesprochen, ob und wie Heranwachsende dabei Erfahrungsbereichen (wie z.B. einem Film) „ausgesetzt“ (Bergala 2006, S. 73) werden können und sollen, um ihnen auf diese Weise eine bildende Fremderfahrung zu ermöglichen. Beide Fragen werde ich am Schluss der Arbeit wieder aufgreifen (Kapitel 9). Im Sinne einer Angabe von Möglichkeitsbedingungen für das Sich-Ereignen von Bildung wird es dabei um die Frage gehen, wie PädagogInnen dazu beitragen können, dass die bildungstheoretisch bedeutsamen Bruchlinien der Erfahrung wahrnehmbar bleiben oder es erst wieder werden.

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5.5 D IMENSION 5: Z UM V ERHÄLTNIS VON B ILDUNGSTHEORIE UND EMPIRISCHER B ILDUNGSFORSCHUNG Da mein Vorhaben kein empirisches ist, werde ich mich der Frage nach geeigneten empirischen Zugängen zu Bildungsprozessen nicht so ausführlich widmen, wie den vorangegangenen Dimensionen von Bildung, an die ich mit meinen Film-Bildungs-Überlegungen direkt anknüpfen möchte (Kapitel 7 und 8). Trotzdem soll erwähnt werden, dass mir auch im Bereich der Bildungsforschung ein Bezug zur Erfahrung des Fremden nahe zu liegen scheint. Denn der Bildungsprozess ist ein offener und produktiver Prozess, im Rahmen dessen „kreative Antworten“ entstehen, die in vorhandenen Forschungszugängen unter Umständen nicht aufgehen oder sich ihnen sogar widersetzen. Wie gesagt, weist Lüders auch darauf hin, dass der Forschungsprozess in diesem Zusammenhang selber zu einem Bildungsprozess werden kann (vgl. Kapitel 4.5). Das (vorläufige) Scheitern des eigenen Forschungszugriffs birgt aber nicht nur eine Bildungschance für den Forscher, sondern kann auch ein forschungspraktischer Hinweis darauf sein, dass dem Forscher an dieser Stelle ein Bildungsprozess begegnet, der innerhalb vorhandener Deutungsrahmen (noch) nicht zugänglich ist. Vor diesem Hintergrund sollte der Forscher sein eventuelles eigenes „Scheitern“ aufmerksam reflektieren. Der Forschungsprozess würde dabei – im Sinne Waldenfels’ – von einem primär fragenden Geschehen zu einem eher antwortenden Geschehen. Und auch Momente des „Scheiterns“ der Beforschten sollten als Spuren möglicher Bildungsprozesse ernst genommen werden. Bezogen auf das Medium Film – das als Medium der Fremderfahrung und damit auch als Medium der Bildung gedacht werden kann, wie ich Kapitel 7 zeigen werde – hieße das z.B. Irritationen, Unsicherheiten, Abgrenzungsversuche und Rezeptionswiderstände als Hinweise auf ein potenziell bildungsrelevantes Angesprochen-Sein der Zuschauer zu untersuchen. Renate Luca dokumentiert die Entstehung solcher Rezeptionswiderstände anhand der amerikanischen Fernsehserie Cagney und Lacey (vgl. Luca 1996). Und sie weist ausdrücklich darauf hin, dass Rezeptionswiderstände nicht negativ bewertet werden sollten, weil sie sich aus dem pädagogisch und psychologisch wichtigen Impuls zur „Selbsterhaltung“ ergeben (Luca 1998, S. 51). Im

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Anschluss daran könnte in bildungforscherischer Perspektive gefragt werden, warum der Selbsterhaltungsimpuls an bestimmten Stellen „anspringt“, und ob die empfundene „Gefährdung“, die ihn auslöst, Hinweis auf eine (potenzielle) Fremderfahrung, also auf eine „Möglichkeitsbedingung“ von Bildung oder sogar auf einen sich anbahnenden Bildungsprozess ist4. Damit würde Bildungsforschung der Forderung gerecht, Bildung nicht als standardisierbare Größe zu behandeln, und trotzdem einen Zugang zu dem „Platzhalter des Unsagbaren“ (vgl. Kapitel 4.5) zu bieten, der es erlaubt, den Möglichkeitsbedingungen und Strukturmerkmalen von Bildung nachzuspüren. Ein weiterer (filmbezogener) Zugang liegt in der Betrachtung des Films als „quasi empirisches“ Material, das aufgrund seiner besonderen Artikulationsform Aspekte von Bildung zugänglich machen kann, die sich dem sprachlichen Ausdruck entziehen. Entsprechende Versuche unternehmen z.B. Manuel Zahn (2009) und Olaf Sanders (2007).

5.6 B ILANZ : D IE E RFAHRUNG

DES F REMDEN ALS BILDUNGSTHEORETISCH PARADIGMATISCHE S ITUATION

Die Erfahrung des Fremden lässt sich mit Waldenfels als konstitutives Moment für alle von Lüders benannten Dimensionen von Bildung fassen: Das Subjekt als „Instanz“ des Bildungsprozesses entsteht erst in der Bezugnahme auf Fremdes, es bewegt sich dabei innerhalb einer Ordnung, die durch das ihr Fremde in Frage gestellt werden kann, dem es gerecht zu werden gilt. Und der Prozess der Bildung ist ein offener, unabschließbarer Prozess, der mit dem Anspruch des Fremden beginnt, über den das Subjekt nicht verfügt.

4

Und in filmpädagogisch- konzeptioneller Perspektive könnte an dieser Stelle weitergefragt werden, wie der Rahmen filmpädagogischer Arbeit gestaltet werden müsste, damit bei den TeilnehmerInnen die Bereitschaft entsteht, Rezeptionswiderstände auszuhalten, und die „Selbsterhaltung“ in einem geschützten Raum zugunsten möglicher Transformationsprozesse auszusetzen. Auf diese Frage komme ich noch zurück (Kapitel 9.2).

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Waldenfels weist darauf hin, dass mit seinem Erfahrungskonzept verbreitete philosophische Vorstellungen infrage gestellt werden: „Das Pathos untergräbt die Position eines Subjekts, das in Autonomie, Selbstsetzung und Eigenhandlung seine Freiheit sucht. Die Diastase bildet den Kontrapunkt zu einem Vernunftdenken, das einzig in der Synthesis, der Komposition, seine ordnende Kraft entfaltet.“ (Waldenfels 2002, S. 10)

Abschließend kann nun ergänzt werden, dass auch gängige Bildungsvorstellungen – im Rahmen derer Bildung als Wissens- und Kompetenzerwerb oder als Aufbau einer kohärenten Identität gedacht wird – vor dem Hintergrund des gerade ausgearbeiteten Zusammenhangs zwischen Bildung und Fremderfahrung fragwürdig werden. Bildung ist kein planbarer Prozess, den das Subjekt souverän steuert, und der in eine harmonische „Vielfalt in der Einheit“ (Koller 2001) mündet. Und die Erfahrung des Fremden ist kein zusätzlicher Aspekt im Prozess der Bildung, sondern eine bildungstheoretisch paradigmatische Situation. Bildung lässt sich gar nicht ohne den Bezug auf Fremdes denken, weil Bildung dann zu einem „Denken des Innen“ abflachen würde, dem jedes innovative Potenzial verloren ginge. Damit ist ein erster Brückenschlag vorgenommen, nämlich der zwischen Bildung und Fremderfahrung. Über diese „Brücke“ der Fremderfahrung möchte ich meine Überlegungen zur Film-Bildung nun weiter ausarbeiten, denn ich nehme an, dass der Film ein Medium der Fremderfahrung und damit auch ein Medium der Bildung sein kann.

6 Film

„Schließlich war der Film zu Ende, das Licht im Saal ging an, die Türen auf die dämmerige Straße wurden geöffnet, draußen strömte der Regen, der Verkehrslärm drang herein, die Leute spannten ihre Schirme auf und traten ins Freie. Für mich aber war es wie ein Schock: Ich begriff nicht, wie ich, der ich doch bis vor Sekunden noch in Afrika zwischen den Tieren in der Sonne gewesen war, jetzt wieder so schnell hier sein konnte.“ (Haneke 2008, S. 136)

Michael Haneke beschreibt hier eine Kinoerfahrung aus seiner Kindheit, die viele ZuschauerInnen auch im Erwachsenenalter in ähnlicher Weise machen. Nach dem Kinobesuch brauchen sie erst einmal einen Moment, um wieder „zu sich“ zu kommen und sich auf ihre Umgebung einzustellen. Denn der Film ist nicht nur eine Information, die wir distanziert zur Kenntnis nehmen, sondern eine Erfahrungssituation, die „etwas mit uns macht“. Filme können „unter die Haut gehen“, sie können schockieren, fesseln, faszinieren oder erschüttern, sie können weit reichende somatische Reaktionen auslösen, und sie können unsere Welt- und Selbstbezüge zum Schwanken bringen. Im Zusammenhang mit meiner Arbeit sind diese Film-Qualitäten interessant, weil sie die Haltung des unbeteiligten und abständigen Beobachters erschweren und die Bestätigung von Souveränitätsphantasien des Zuschauers verhindern. Ich beschäftige mich daher besonders mit dem Potenzial des Films, uns direkt anzugehen und infrage stellen; ein Potenzial, das sich z.B. in folgender – von Thomas Assheuer an Michael Haneke gerichteter – Bemerkung spiegelt: „Am Ende ihrer Filme ist man heilfroh, daß man selbst noch am Leben ist.“ (Assheuer 2008, S. 101)

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Diese besondere Qualität des Films, die darin liegt, dass er den Zuschauer in (Fremd-) Bezüge verwickeln kann, innerhalb derer er sich nicht mehr auskennt, wird in aktuellen filmpädagogischen Überlegungen noch zu wenig in den Blick genommen. Wie erwähnt wird der Film in pädagogischen Zusammenhängen häufig eher als Text oder als Code gedacht, den es zu entschlüsseln gilt (vgl. Kapitel 2.2). Durchgängig ist dabei außerdem die Vorstellung, der Film sei ein dem Zuschauer äußerer Gegenstand, dessen der Zuschauer sich bedienen könnte, ohne dass sein (als immer schon gegebenes gedachtes) Subjekt-Sein davon angetastet würde. In bildungs- und subjekttheoretischer Perspektive habe ich diese Denkfigur bereits problematisiert (vgl. Kapitel 4.1 und 5.1), aber sie lässt sich auch mit Bezug auf filmtheoretische Überlegungen kritisch betrachten. Allerdings ist es dazu notwendig, jenseits der verbreiteten semiotischen und formalistischen Filmtheorien – die derzeit meistens Grundlage filmpädagogischer Konzepte sind – nach Anschlussmöglichkeiten zu suchen. Es gibt verschiedene moderne Filmtheorien, in denen Film und Zuschauer als auf je unterschiedliche Weise miteinander verflochten gedacht werden. Besonders in aktuellen Theorien wird zunehmend die Annahme ausgeführt, dass „der Film dem Zuschauer mehr und mehr auf den Leib rückt“, womit die Notwendigkeit verbunden ist, „mit den Filmen, statt lediglich über sie nachzudenken“ (Elsaesser/ Hagener 2007, Klappentext) Ein Theoretiker, der das Denken mit den Filmen auf sehr konsequente Weise vorführt, ist Gilles Deleuze. Er betrachtet Filme als eine „Praxis der Bilder“ (Deleuze 1997b, S. 358), in die der Zuschauer immer schon verwickelt ist, und im Rahmen derer er als Instanz der Wahrnehmung erst entsteht. Bilder sind Deleuze zufolge konstitutiv für unsere Wahrnehmung und können diese gleichzeitig verschieben und verfremden – und zwar nicht als unverbindliches Wahrnehmungsangebot, sondern als Medium im Wortsinnn; als Form der „Dazwischenkunft“ (Zahn 2009, S. 110), die bestimmte Welt- und Selbstverhältnisse jeweils erst ermöglicht. Die Begegnung mit Filmen, wie Deleuze sie denkt, weist viele Berührungspunkte zu Waldenfels’ Vorstellung der Fremderfahrung auf, wie ich im Folgenden darstellen werde. Sie ermöglicht z.B. die Entstehung „neuer Verknüpfungen“, die Gemeinsamkeiten mit Waldenfels’ Erfindung „kreativer Antworten“ hat. Daher unternehme ich in den Kapiteln 6 und 7 den Versuch, den Film mit Deleuze als ein Medium der Fremderfahrung zu fassen. Allerdings gibt für die Verknüpfung von Waldenfels’ und Deleuzes

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Denken auch Grenzen: Deleuze ist kein Phänomenologe, sondern er versucht die Trennung von Subjekt und Objekt, die für die Phänomenologie grundlegend ist, zu überwinden. Die Phänomenologische Vorstellung, der zufolge jedes Bewusstsein ein Bewusstsein von etwas ist, wandelt er in die Vorstellung, dass jedes Bewusstsein etwas ist (vgl. Deleuze 1997a, S. 90). Er denkt Gegenstand und Bewusstsein nicht als getrennte Bereiche, sondern er geht von einer grundlegenden und materiellen Ebene alles Seienden aus, auf der Wahrnehmung erst durch (materielle) Begegnungen und Zusammenstöße entsteht. Diesen Gedanken erläutere ich in Kapitel 6.2.3 genauer. Trotz dieses Unterschieds im Denken von Waldenfels und Deleuze gibt es hier gleichzeitig eine Berührung. Denn mit seiner Vorstellung eines materiellen Bewusstseins radikalisiert Deleuze den von Waldenfels beschriebenen Gedanken einer welthaltigen Erfahrung. Sein Film-Denken entfaltet Deleuze in den beiden Kino-Büchern „Das Bewegungs-Bild“ und „Das Zeit-Bild“, auf die ich in meinen Vorbemerkungen zum Film-Kapitel zuerst eingehen möchte.

6.1 V ORBEMERKUNGEN ZU D ELEUZES K INO B ÜCHERN UND ZU MEINER V ORGEHENSWEISE 6.1.1 Status der Theorie – Philosophie oder Filmtheorie? Deleuzes Kino-Bücher werden zwar seit mehreren Jahren in der philosophischen, der filmtheoretischen und der erziehungswissenschaftlichen Diskussion ausführlich aufgegriffen1, sie haben aber einen Sonderstatus, weil sie sich keinem dieser Diskussionsbereiche klar zuordnen lassen. Die Wahl des Referenzautors Gilles Deleuze führt in Bezug auf meine Herangehensweise zu einigen Schwierigkeiten, denn Deleuzes Theorie ist nicht ohne Weiteres anschlussfähig für filmpädagogische Überlegungen. Ein Problem besteht z.B. darin, dass Deleuze viele der in klassischen Theorien als selbstverständlich vorausgesetzten Instanzen infrage stellt. Etwa die grund-

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Z.B. wenn es um die Frage geht, wie der Film zu denken ist (Fahle/ Engell 1997), welche filmtheoretischen Positionen zeitgemäß sind (Elsaesser/ Hagener 2007) oder wie sich Film-Bildung vor diesem Hintergrund konzipieren lässt (Sanders 2006, Sanders 2007, Sanders 2008, Zahn 2008).

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legenden Instanzen „Subjekt“ (oder auch Zuschauer, Rezipient) und „Objekt“ (also Film oder Gegenstand der Auseinandersetzung). Das macht es sehr schwierig, Bezüge zwischen klassischen Theorien und Deleuzes Überlegungen herzustellen. Bevor ich meine Vorgehensweise erläutere, zunächst einige Anmerkungen zum Status der Kino-Bücher: Grundsätzlich ist Deleuzes Zugang ein philosophischer und kein filmtheoretischer. Seine beiden Kino-Bücher enthalten komplexe Reflexionen zu grundlegenden Fragen nach Bewegung und Zeit, Gedächtnis und Bewusstsein oder Wahrnehmung und Wirklichkeit, die Deleuzes Gesamtwerk prägen und die auch vor dem Hintergrund dieses Werks betrachtet werden müssen, weil sie sich sonst nicht angemessen verstehen lassen. Gleichzeitig entwickelt Deleuze innerhalb dieses philosophischen Rahmens konkrete filmtheoretische Überlegungen, sodass sein Werk durchaus auch als „Meilenstein der Filmtheorie“ (Elsaesser/ Hagener 2007, S. 198) betrachtet wird. Allerdings ist die filmtheoretische Rezeption gelegentlich mit einer gewissen Ratlosigkeit verbunden, was die Frage nach Anschlussmöglichkeiten an vorhandene Theoriebestände oder die Frage nach den Einsatzmöglichkeiten für konkrete Analysevorhaben angeht. Dieses Problem benennt z.B. Robert Stam in seiner Einführung „Film Theory: An Introduction“ (Stam 2000). Zwar betrachtet er Deleuzes Kinodenken als Bestandteil des Kanons moderner Filmtheorien und widmet ihm einen eigenen Abschnitt in seiner Einführung, er beschließt den Abschnitt aber damit, dass er deutliche Zweifel an der Anwendbarkeit oder der konkreten Umsetzbarkeit dieser Gedanken anmeldet. Inzwischen gibt es allerdings auch viele Beispiele dafür, dass es möglich ist, Deleuzes Filmdenken mit Filmbeispielen und anderen Filmtheorien in ein Verhältnis zu setzen und auf diese Weise neue Denk- und Reflexionsmöglichkeiten zu eröffnen. So führt die holländische Philosophin und Filmtheoretikerin Patricia Pisters sehr facettenreich vor, wie die Arbeit mit Deleuzes „Instrumenten“ aussehen kann. Zu den Kinobüchern sagt sie: „The books are full of concepts that can be employed as practical tools in the analysis of all kinds of media expressions.“ (Pisters 2003, S. 9) Allerdings wird in dieser Äußerung auch deutlich, dass Pisters zwischen dem philosophischen Hintergrund und den „praktischen Werkzeugen“ in Deleuzes Büchern unterscheidet. Die konkrete Arbeit mit Deleuzes filmtheoretischen Konzepten hat also unter Umständen den Preis, seinem philosophischen Gedankengebäude nicht in vollem Umfang gerecht werden zu können.

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6.1.2 Warum Deleuze? An dieser Stelle liegt die Frage auf der Hand, warum es überhaupt sinnvoll ist, Bezug auf eine so schwierige Theorie mit einem so komplexen Hintergrund zu nehmen, deren Anschlussfähigkeit an vorhandene Konzepte nur unter bestimmten Vorbehalten möglich scheint. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass viele filmtheoretische Arbeiten vorliegen, die ohne Schwierigkeiten zu den bisher erarbeiteten Positionen in ein Verhältnis gesetzt werden könnten2, bekommt diese Frage zusätzliches Gewicht. Mir scheint der Rückgriff auf Deleuze deshalb viel versprechend, weil sein Denken eine radikale Alternative zu klassischen (z.B. sprachtheoretisch oder formalistisch orientierten) filmtheoretischen Ansätzen bietet. Aufgrund dieser Radikalität birgt es die Möglichkeit, Unterschiede zwischen den verschiedenen Zugängen deutlich zu machen und dabei zu zeigen, welche Denkmöglichkeiten diese Zugänge jeweils eröffnen oder ausschließen. Denn Deleuzes Überlegungen sind „not only far afield of the reigning tenor of anglophone film theory; in some pages, they are also explicitly hostile to it“ (Rodowick 2003, S. x). In filmpädagogischen Texten wird häufig an den „reigning tenor“ angeknüpft, ohne dass dessen Implikationen zum Gegenstand der bewussten oder kritischen Reflexion würden. So besteht eine verbreitete Grundannahme darin, dass Filme Medien der Repräsentation sind, in denen bereits Gedachtes oder Wahrgenommenes in einer anderen „Sprache“ wiedergegeben wird, die es für den Rezipienten möglichst souverän zu entschlüsseln gilt. Diese Vorstellung wird häufig relativ ungeprüft zum Ausgangspunkt für filmpädagogische Überlegungen (vgl. Kapitel 2.2). Da Deleuze hier eine diametral entgegengesetzte Position bezieht, eignen sich seine Kinobücher sehr gut, um „blinde Flecken“ vorhandener Orientierungen deutlich und damit der grundsätzlichen Problematisierung zugänglich zu machen: „Deleuze challenges comtemporary film theory to confront its blind spots and dead ends, as well as to question its resistances to other philosophical perspectives on image, meaning and spectatorship“ (Rodowick 2003, S. xi).

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Z.B. die zahlreichen Arbeiten zur Filmphänomenologie. Für einen Überblick vgl. Robnik (2003).

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Es geht mir dabei nicht darum, vorhandene Paradigmen grundsätzlich zurückzuweisen oder verschiedene Zugänge gegeneinander auszuspielen, sondern lediglich darum zu zeigen, dass im „reigning tenor“ bestimmte Denkmöglichkeiten verdeckt werden, mit deren Hilfe zusätzliche Perspektiven für die Filmpädagogik entwickelt werden könnten. Solche Denkmöglichkeiten bestehen z.B. darin, dass Deleuze den Film als Modus der Produktion von Wirklichkeit betrachtet, der starke „deterritorializing forces“ (Pisters 2003, S. 10) mit sich bringen kann; der also die Kraft hat, den Zuschauer in Bezug auf sein Welt- und Selbstverhältnis grundlegend zu verunsichern und damit Auseinandersetzungs- und Verarbeitungsprozesse anstoßen kann, die weit über ein entschlüsselndes Verstehen hinausgehen. Neben der Darstellung einer alternativen und wenig verbreiteten Auffassung vom Film, geht es mir vor allem darum, solche Denkmöglichkeiten zu entwickeln, und zwar, indem ich den Film als Medium der Fremderfahrung und damit auch als Medium der Bildung thematisiere. Besonders für dieses zweite Vorhaben wird sich der Rückgriff auf Deleuze als ertragreich erweisen, da Deleuze dem Film das Potenzial zuschreibt, Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit auf besonders unausweichliche Weise gegenwärtig werden zu lassen – und damit einen Brückenschlag zu Waldenfels’ Vorstellung der Fremderfahrung ermöglicht. 6.1.3 Meine Vorgehensweise Welche Vorgehensweise ist den Schwierigkeiten und den Potenzialen von Deleuzes Theorie nun angemessen? Die erwähnte Arbeit von Patricia Pisters (2003) ist m.E. ein gutes Beispiel dafür, dass es möglich ist, mit einzelnen Aspekten von Deleuzes Kino-Theorie zu arbeiten, ohne stets sein philosophisches Gesamtwerk zu thematisieren. Ich werde im Folgenden ähnlich vorgehen, also verschiedene Ausschnitte aus Deleuzes Gedanken-Gebäude aufgreifen und mit dem bisher Erarbeiteten in Beziehung setzen. Das kann durchaus als anti-deleuzianisch kritisiert werden, da ich dabei auch auf Konzepte zurückgreife, die Deleuze verwirft. So halte ich an der Instanz eines Subjekts der Erfahrung und der Bildung fest, die Deleuze infrage stellt und ich denke den Prozess der Bildung nicht als radikal immanent, wie es mit Bezug auf Deleuze nahe liegen würde (Näheres dazu in den jeweiligen Textabschnitten zu diesen Fragen). Der Bezug auf Deleuzes filmtheoretische Überlegungen bleibt aber m.E.

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trotzdem plausibel, denn viele seiner Denkfiguren weisen zumindest Berührungspunkte mit denen auf, die ich im ersten Teil dieser Arbeit vorgestellt habe, und sie behalten ihre Kraft und ihre innovative Dimension auch in Verbindung mit diesen weniger radikalen Referenztheorien, wie zu zeigen sein wird. Auch ohne lückenlosen Anschluss an Deleuzes philosophische Denkweise werden sich also mit Deleuze zusätzliche Denk- und Reflexionsmöglichkeiten für die Filmpädagogik ergeben. Um eine möglichst große Transparenz zu gewährleisten, werde ich jeweils deutlich machen, an welchen Stellen ich Deleuzes Zugang verlasse und Brückenschläge zu den Theorien aus dem ersten Teil der Arbeit vornehme. Ein solches Vorgehen scheint mir erforderlich, damit Deleuzes Gedanken an das bisher Erarbeitete anschlussfähig bleiben. Trotzdem verwende ich seine Überlegungen nicht „gegen Deleuze“ als rein instrumentelle Versatzstücke, sondern frage am Schluss der Arbeit auch noch einmal, wie bildungstheoretische und filmpädagogische Überlegungen „von Deleuze aus“ weiterentwickelt werden können. Denn wie Rodowick betont, liegt eine Stärke von Deleuzes Arbeit gerade in der Möglichkeit, vorhandene Theorien in Bezug auf ihre „Resistenzen“ gegenüber „other philosophical perspectives on image, meaning and spectatorship“ zu prüfen. Zunächst soll Deleuzes Filmdenken in zwei Schritten rekonstruiert werden: In einem ersten Schritt werde ich die philosophischen Grundlagen dieses Denkens kurz einführen (Kapitel 6.2), und in einem zweiten Schritt die eher filmtheoretischen Konzepte vorstellen, die Deleuze vor diesem Hintergrund entwickelt (Kapitel 6.3).

6.2 P HILOSOPHISCHE G RUNDLAGEN 6.2.1 Status des Films Der erwähnte weit reichende Unterschied zum Tenor klassischer Filmtheorien wird schon in der grundlegenden Vorstellung vom Film deutlich, die Deleuzes Kinodenken prägt. Denn Deleuze betrachtet den Film als „System vorsprachlicher Bilder und Zeichen“ (Deleuze 1997b, S. 336), also als Voraussetzung und Bedingung jeder Aussage, als das „vor jeder Bedeutsamkeit [...] liegende erste Bezeichenbare“ (Deleuze 1997b, S. 33). Der Film ist für

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Deleuze kein Medium der Repräsentation, in dem eine bereits vorhandene Wahrnehmung oder Aussage lediglich wiedergegeben wird und auch kein Medium des Geschichtenerzählens, das auf vorhandene Aussagesysteme bezogen bleibt. Und obwohl Deleuze den Begriff des Zeichens verwendet, ist der Film für ihn auch kein Medium semiotischer Codes, die es zu entschlüsseln, also in eine andere Sprache zu übersetzen gilt, sondern ein Modus der Produktion von etwas Neuem. Deleuze betrachtet die filmischen Zeichen als sinnliches Material, das die Grundlage der Entstehung von Bedeutungen und Geschichten ist. Ausgangspunkt ist die Vorstellung einer „Zeichen-Materie“ (Deleuze 1997b, S. 46), die unmittelbare perzeptive Qualitäten hat – z.B. sensorische, kinetische oder affektive (vgl. ebd.) – und auf verschiedenste Weise „moduliert“ (ebd.) werden kann. Dabei entsteht die Möglichkeit zur sinnlichen Begegnung mit einer Wirklichkeit, die sich dem begrifflichen Weltzugang entzieht; mit einer Wirklichkeit, die zum Denken zwingt, weil sie vorhandene Denkmöglichkeiten übersteigt. Auf diese Weise kommen Deleuze zufolge mit dem Film bestimmte Denk- und Wahrnehmungsmöglichkeiten erst in die Welt, d.h. der Film fungiert als „Werkzeug der neuen Wirklichkeit“ (Deleuze 1997a, S. 24). Daher wird in den meisten Deleuze-Kommentaren auch die Realitätsdimension seines Kinodenkens betont. So unterstreicht z.B. Jäger: „Das Kino macht die Möglichkeiten des Sehens sichtbar und damit denkbar.“ (Jäger 1997, S. 220) Und Engell/ Fahle betonen: „Das Denken des Films ist also zugleich ein Denken der Welt.“ (Engell/ Fahle 2003, S. 225) In Deleuzes eigenen Worten heißt es: „[M]it dem Film wird die Welt ihr eigenes Bild“ (Deleuze 1997a, S. 85). Der Film ist also kein Kommunikationsmittel zur Weitergabe von Botschaften, sondern ein Medium der direkten Begegnung mit einer potenziell widerständigen „Zeichen-Materie“. Die Besonderheit solcher Begegnungen besteht darin, dass sie verwirrend, verunsichernd oder auch schockierend sein können und sich dem verstehenden Zugriff widersetzen. Ein solches Verständnis ermöglicht die Betrachtung des Films als Medium der direkten Fremderfahrung – eine Qualität, deren Unmittelbarkeit und deren Wucht in zeichen- oder erzähltheoretischen Ansätzen nicht erfasst werden kann. Deleuze nimmt drei grundlegende Bestimmungen vor, anhand derer er seine philosophische Vorstellung vom Film ausführt. Er denkt den Film als Medium der Bewegung, als radikal immanent und als zeitlich verfasst.

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6.2.2 Film als Medium der Bewegung Als konstitutives Merkmal des Films betrachtet Deleuze die Bewegung. Das ist weniger selbstverständlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn Deleuze versteht unter Bewegung nicht lediglich die Veränderung der Position von Gegenständen oder Personen in einem Raum, die dann im Film wiedergegeben oder rekonstruiert würde. Sondern er betrachtet Bewegung in einer philosophischen Perspektive als grundsätzliche Veränderlichkeit, die mit dem Film als „Werkzeug der neuen Wirklichkeit“ (Deleuze 1997a, S. 24) entsteht. Seine Bewegungsvorstellung entfaltet Deleuze in mehreren Kommentaren zu den Arbeiten Henri Bergsons (vgl. dazu Deleuze 1997a, S.13ff). Dieser beschäftigte sich schon vor der Entstehung des Films mit dem Konzept der Bewegung und nahm dabei – so Deleuzes Einschätzung – ein zentrales Moment des Films vorweg. Allerdings hat Bergson selber den Film wenige Jahre nach dessen offizieller Einführung weit reichend kritisiert und als Medium einer „illusorischen“, „falschen“ Bewegung verworfen. Vor diesem Hintergrund unternimmt Deleuze den Versuch, Bergsons Bewegungskonzept mit dem Medium Film in Verbindung zu bringen. Bergson betrachtet Bewegung als einen andauernden und offenen Prozess der Veränderung, dessen zentrale Merkmale sein ununterbrochener Fluss und seine „Unteilbarkeit“ sind. Bewegung lässt sich nach Bergson nicht anhand einzelner Stationen erfassen – auch wenn das im modernen Denken durchaus üblich ist: So werden Satelliten-Umlaufbahnen anhand einzelner Positionen berechnet, Reisegeschwindigkeiten aus der Fahrtzeit zwischen zwei genau bestimmbaren Orten geschlossen oder Wachstumsprozesse aus dem Unterschied zwischen einem Ausgangs- und einem Abschlusswert rekonstruiert. Ein solches Bewegungsdenken hat nach Bergson mindestens zwei Fehler: Es bezieht sich auf „Momentaufnahmen“ aus dem sich ständig in Bewegung und Veränderung befindlichen Strom der Realität, also auf Ausschnitte, aus denen dann eine abstrakte Vorstellung von Entwicklung abgeleitet wird. Und ihm liegt die Vorstellung eines vorgängigen „Ganzen“ – einer Ordnung, eines Sinnzusammenhanges, eines Weltund Selbstverhältnisses – zugrunde, das in der Bewegung nur noch „zusammengesetzt“ wird: Z.B. einer Satelliten-Umlaufbahn, die eingehalten wird oder eines Weltbildes, das sich aus bestimmten Sozialisationserfahrungen ergibt. Eine „wirkliche“ Bewegung, die ein andauernder, offener

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Prozess und Motor der Entstehung von etwas Neuem ist, kann dabei nicht erfasst werden. Denn „wirkliche“ Bewegung entsteht nur – so auch Deleuze – „wenn das Ganze weder gegeben ist, noch gegeben werden kann“ (Deleuze 1997a, S. 21). Vor diesem Hintergrund kritisiert Bergson den Film dafür, dass er aus dem Strom der Realität ebenfalls nur Momentbilder aufnimmt und diese nachträglich zu einer Bewegung zusammensetzt. Ein „Fehler“, mit dem nach Bergson auch das Denken, die Sprache oder die natürliche Wahrnehmung behaftet sind, denn auch diese Operationen sind darauf angewiesen „Schnitte“ zu machen, also den Strom der Realität in vereinfachenden Auszügen oder Begriffen zu betrachten und zu verarbeiten. Darin liegt nach Bergson der grundlegende Unterschied zwischen Realität und Wahrnehmung – die Realität weist stets Überschüsse auf, die in der Wahrnehmung nicht aufgehen. Bergson denkt die Realität also anders als den Film, nämlich als universelle und materielle Veränderlichkeit, als einen „Materiestrom“, der nicht aus begrifflich erfassbaren Einzelelementen zusammengesetzt ist. Im Gegensatz dazu interessiert sich Deleuze gerade für die Realitätsdimension des Films. Er knüpft an Bergsons Arbeiten zur Bewegung an und macht dessen Vorstellung von Welt als beweglichem Materiestrom zum Ausgangspunkt seiner eigenen Vorstellung vom Film: „Das Bewegungsbild und der Materiestrom sind genau dasselbe.“ (Deleuze 1997a, S. 87) Insofern denkt Deleuze den Film mit Bergson, wenn auch gegen dessen Filmkritik. Er sieht das Kinobild als Bewegungsbild, als Bewegungssynthese, die im Moment der Projektion entsteht und in sich kohärent und ununterbrochen ist (Deleuze 1997a, S. 15), also die von Bergson formulierten Merkmale „wirklicher Bewegung“ aufweist. Der Film bietet daher nach Deleuze, genau wie die Realität, Erfahrungsüberschüsse, die nicht in der Wahrnehmung aufgehen und birgt das Potenzial, vorhandene Wahrnehmungsmuster immer wieder herauszufordern, indem er die Wahrnehmung – im Wortsinn – in Bewegung bringt. Worin dieses Potenzial im Einzelnen besteht, dazu näher in Kapitel 7. Deleuze denkt das Bild mit Bergson als Materie und distanziert sich auf diese Weise von der klassischen Vorstellung der westlichen Philosophie, in der Körper/ Materie und Geist/ Gehirn als Gegensätze konzipiert werden. Das Bild hat in der klassischen Vorstellung die Funktion, Materie zu repräsentieren, während der Geist solche Repräsentationen mit Bedeutung ver-

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sieht. Wie gerade gezeigt, vermeidet Deleuze diese Vorstellung, indem er das Bild nicht als Repräsentation von Materie, sondern als Materie selbst denkt. Das hat Konsequenzen für seine Auffassung vom Subjekt und vom Prozess der Wahrnehmung. Denn es gibt in Deleuzes Theorie kein transzendentales Subjekt, das mit Hilfe seiner Wahrnehmung auf vorhandene Repräsentationen zugreift. Vielmehr ist das Subjekt „an immanent one that is itself an image among other images an that is slowly constructed by its different perceptions and experiences“ (Pisters 2003, S. 46). Dieses immanente Denken soll nun etwas genauer betrachtet werden. 6.2.3 Film als radikal immanent Immanenz ist der Gegenbegriff zu Transzendenz und wird häufig mit den Stichworten Zugehörigkeit oder Enthaltensein erläutert. Damit ist gemeint, dass alle Möglichkeiten, Widerständigkeiten oder Gefahren innerhalb der Grenzen eines Bezugssystems vorhanden sind und auch innerhalb dieser Grenzen betrachtet werden müssen. Im immanenten Denken wird keine übergeordnete Reflexionsebene in Anspruch genommen, von der aus die Prozesse, die auf der Ebene der Immanenz stattfinden, betrachtet, verstanden oder bewertet werden könnten. Es gibt keinen externen Standpunkt, von dem aus die Ebene der Immanenz „überblickt“ werden könnte, sondern es sind ausschließlich „diesseitige“ Bezüge möglich, ohne Rückgriff auf „jenseitige“ Deutungskategorien. Deleuzes gesamtes philosophisches Denken ist vom Konzept der Immanenz getragen, von der Vorstellung eines Universums, in dem alle Zeiten und Ordnungsmöglichkeiten koexistieren – auch solche, die einander scheinbar ausschließen. Deleuze beschreibt das so: „In der einen Welt kennen sich zwei Personen, in der anderen kennen sie sich nicht; in einer weiteren ist es der eine, der den anderen kennt; und in einer weiteren, davon verschiedenen ist es der andere, der den einen kennt. Oder zwei Personen betrügen sich, der eine betrügt nur den anderen, keiner betrügt, der eine und der andere sind ein und dieselbe Person, die sich unter zwei verschiedenen Namen betrügt: im Gegensatz zu dem, was Leibniz glaubte, gehören all diese Welten zum selben Universum und bilden die Modifikationen derselben Geschichte.“ (Deleuze 1997b, S. 175, Herv.H.W.)

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Dieses selbe und immanente Universum, zu dem auch der Film gehört, denkt Deleuze materiell, als „Materiestrom“ (Deleuze 1997a, S. 87), in dem alle Elemente und alle Möglichkeiten enthalten sind; alles, was wir als Körper, Eigenschaften, Handlungen, Bewegungen oder Veränderungen wahrnehmen. Das materielle und immanente Universum ist für Deleuze auch ein Universum der Bilder, denn: „Das Bewegungsbild und der Materiestrom sind genau dasselbe.“ (Deleuze 1997a, S. 87/ vgl. oben) Das heißt, der Film ist nicht ein einzelner Bestandteil der immanenten Welt, sondern das Universum ist ein Film, ein „Meta-Film“ (Deleuze 1997a, S. 88). Für die oben erwähnte philosophische Ebene von Deleuzes Kinodenken hat diese Vorstellung sehr weit reichende Konsequenzen, denn nach Deleuze kommen mit dem Film bestimmte Denkmöglichkeiten überhaupt erst in die Welt. Der Film ist vor diesem Hintergrund Modus des Denkens und des Wahrnehmens, sowie Modus der Produktion von etwas Neuem. Wie angekündigt, werde ich dieser philosophischen Ebene von Deleuzes Denken hier nicht ausführlich folgen, sondern mich auf die Frage nach Anschlussstellen für meine Überlegungen zum Film als Medium der Fremderfahrung konzentrieren. Zunächst scheint sich dabei eine Schwierigkeit zu ergeben: Wenn es auf der Ebene der Immanenz ausschließlich Materie und Bewegung gibt, wie lassen sich dann überhaupt noch verschiedene Instanzen unterscheiden? Wenn es keine übergeordnete Reflexionsebene gibt, von der aus der „Materiestrom“ betrachtet werden kann, wenn es keinen Standort außerhalb des immanenten Universums gibt, wie sollen dann „Subjekte“ Erfahrungen machen oder sich auf Auseinandersetzungsprozesse einlassen? Und wenn es niemanden gibt, der sieht, wenn alles „Film“ ist, wie können Filme dann Gegenstand von Begegnungen oder Fremderfahrungen sein? Diesem Problem begegnet Deleuze, indem er ein zweifaches Bezugssystem der Bilder einführt (Deleuze 1997a, S. 92). Darin gibt es einen grundlegenden Bereich aller Bilder und aller Möglichkeiten, der dem gerade beschriebenen universalen Materiestrom entspricht und in dem alle Bilder wechselseitig aufeinander einwirken. Zusätzlich gibt es innerhalb dieses Bereichs noch ein weiteres System, „in dem alle Bilder prinzipiell in Bezug auf ein einziges Bild variieren, das die Einwirkung der anderen Bilder auf seiner einen Seite empfängt, während es auf seiner anderen darauf reagiert“ (Deleuze 1997a, S. 92). Ein solches besonderes Bild wird im Alltagsverständnis als Mensch, Subjekt oder Individuum bezeichnet. Deleuze verwendet mit Bergson auch

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die Begriffe Lebensbild oder Indeterminationszentrum. Mit diesem „doppelten Referenzbereich[ ] der Bilder“ (Deleuze 1997a, S. 92) wird die Ebene der Immanenz nicht verlassen, es wird lediglich ein Kriterium eingeführt, mit dessen Hilfe Begegnungen und Wechselwirken zwischen verschiedenen Bildern – also auch zwischen „Lebensbildern“/ Menschen und Filmbildern – betrachtet werden können. Deleuze schafft die Instanz des Subjekts nicht völlig ab, sondern er denkt das Subjekt als ein privilegiertes Bild, „an dem sich andere Bilder brechen“ (Engell/ Fahle 2003, S. 230). Es gibt kein klassisches, transzendentales Subjekt, das sich unter Rückgriff auf übergeordnete Ideen und Werte mit verschiedenen Gegenständen beschäftigt, aber es gibt ein immanentes Subjekt als einen Ort, an dem Begegnungen oder Brechungen stattfinden. Durch die Aufhebung der klassischen Subjektvorstellung wird auch die klassische Objektvorstellung fragwürdig. Wenn es keine vorgängigen Subjekte gibt, die die Welt aus einer übergeordneten Perspektive betrachten und deuten, dann gibt es auch keine vorgängigen Objekte, die passiv darauf „warten“, von den Subjekten wahrgenommen und mit Sinn versehen zu werden. Vielmehr entstehen Subjekte und Objekte durch Begegnungen und ein wechselseitiges Aufeinander-Einwirken auf der Ebene der Immanenz. Dabei geht die Regie nicht von den Subjekten aus. Mit Bergson betont Deleuze, dass man nichts verstanden habe, „wenn man nicht zunächst von der Gesamtheit der Bilder ausgeht“ (Deleuze 1997a, S. 92). An dieser Stelle gibt es eine direkte Berührung zwischen Deleuzes Überlegungen zu den Begegnungen auf der Ebene der Immanenz und Waldenfels’ Konzept der Fremderfahrung: Denn auch Waldenfels nimmt an, dass der Blick nicht von einem vorgängigen Subjekt auf eine vorgängige Sache gerichtet wird – wie ein Scheinwerfer, mit dessen Hilfe etwas Vorhandenes beleuchtet wird. Sondern nach Waldenfels beginnt eine Erfahrung damit, „daß uns etwas auffällt, einfällt, zufällt, zustößt. Blick-oder Gedankeneinfälle, die mir kommen, sind keine Akte, die ich vollziehe: Es fällt mir ein, es fällt mir auf, es springt ins Auge.“ (Waldenfels 1999, S. 126, Herv.i.O.) Ausgangspunkt ist eine „Sache des Sehens“ (Waldenfels 1999, S. 123), die Waldenfels – genau wie Deleuze – als materiell oder „welthaltig“ denkt. „Sehend antworten wir auf das, was unseren Blick anrührt, bevor wir sehen, was es ist.“ (Waldenfels 1999, S. 146) Ganz ähnlich äußert sich Deleuze, wenn er, genau wie Waldenfels, die Metapher vom Auge als Scheinwerfer zurückweist und durch ein anderes

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Bild ersetzt: „Es sind die Dinge, die von sich aus leuchten, ohne daß irgendetwas sie beleuchten würde“ (Deleuze 1997a, S. 90). Deleuze lässt keinen Zweifel daran, dass die Richtung der Verarbeitung von den Dingen ausgeht und bezieht damit eine Gegenposition zum Denken der traditionellen Philosophie. Die Wahrnehmung beginnt Deleuze zufolge mit der Welt, mit einer Welt, in der alle „Bilder“ wechselseitig aufeinander einwirken, und nicht mit einem vorgängigen Subjekt, das Gegenstände auswählt und „beleuchtet“ und damit erst sichtbar macht. Dazu formuliert Deleuze eine weitere, filmbezogene Metapher: „Das Auge ist nicht die Kamera, es ist die Leinwand.“ (Deleuze 1993, S. 82) Da die Begegnungen auf der Ebene der Immanenz materiell sind, ist auch die Wahrnehmung materiell oder „welthaltig“: „Das Ding und die Wahrnehmung des Dings sind ein und dasselbe, ein und dasselbe Bild, aber jeweils zu dem einen oder dem anderen der beiden Referenzsysteme in Bezug gesetzt.“ (Deleuze 1997a, S. 93) Dabei hat die Sache gegenüber der Wahrnehmung der Sache stets „Überschüsse“, die in der Wahrnehmung nicht aufgehen. „Das Ding ist das Bild, wie es an sich ist, wie es sich auf alle anderen Bilder bezieht (...). Die Wahrnehmung des Dings ist das gleiche Bild, aber bezogen auf ein bestimmtes anderes Bild, von dem es begrenzt wird“ (Deleuze 1997a, S. 93, Herv.H.W.). Wie in Kapitel 7 zu zeigen sein wird, lassen sich aus diesem Konzept weit reichende Fremderfahrungspotenziale ableiten. Denn „Wahrnehmungsprinzipien“ werden in Deleuzes immanentem Denken nicht aus übergeordneten und vorgängigen Deutungsmustern gewonnen und an die Welt oder den Film herangetragen, sondern sie gehören „zur Sache“ selbst (Deleuze 1997b, 194). Mit der „Transformation“ und dem „Werden“ (Deleuze 1997b, S. 194), die auf der Ebene der Immanenz ständig stattfinden, wird eine Veränderung der Wahrnehmung gewissermaßen „erzwungen“. Ein weiterer Anknüpfungspunkt für die Frage nach Fremderfahrungspotenzialen liegt darin, dass Deleuze den Prozess der Wahrnehmung als einen Prozess der Reduktion betrachtet. In seinem doppelten Referenzsystem der Bilder denkt er sowohl die Dinge als auch Wahrnehmungen als „Erfassungen“ (Deleuze 1997a, S. 94). „[A]llerdings sind die Dinge totale und objektive Erfassungen, während die Wahrnehmungen partielle und parteiische, subjektive Erfassungen sind“ (Deleuze 1997a, S. 94). Im Prozess der Wahrnehmung wird also immer nur ein Teil der Sache erfasst. Da die Sa-

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che gegenüber der Wahrnehmung stets Überschüsse behält, kann die Wahrnehmung in einer erneuten Begegnung geöffnet oder verändert werden. In diesem Zusammenhang sieht Deleuze ein besonderes Potenzial des Films, denn der Film kann „den Weg zurück[ ]verfolgen, den die natürliche Wahrnehmung geht“ (Deleuze 1997a, S. 86), das heißt, „[a]nstatt von einem nichtzentrierten Zustand der Dinge zur zentrierten Wahrnehmung zu kommen“, kann der Film „in Richtung auf den nichtzentrierten Zustand der Dinge zurückgehen“ (Deleuze 1997a, S. 86) und damit die Wahrnehmung herausfordern. „Wenn der Film die menschliche Wahrnehmung auf eine andere Wahrnehmung hin überschreitet, dann in Richtung auf das Herkunftselement jeder möglichen Wahrnehmung, den veränderlichen Punkt, der die Wahrnehmung selbst verändert, das Differential der Wahrnehmung selbst.“ (Deleuze 1997a, S. 118, Herv.i.O.)

Aufgrund dieser Qualität hat der Film in Deleuzes immanentem Universum einen Sonderstatus. Er lässt sich in das doppelte Referenzsystem der Bilder nicht ohne Weiteres einordnen, da er weder „objektiv“ ist, wie die Dinge, noch „subjektiv“ wie die Wahrnehmungen: Der Film ist selber Bestandteil des immanenten Universums und kann daher keine objektiven oder totalen Perspektiven zeigen, weil dafür die von Deleuze ausgeschlossene übergeordnete oder transzendentale Perspektive erforderlich wäre. Gleichzeitig sind Filme auch keine subjektiven Erfassungen, die im gleichen Maß „reduziert“ wären wie personale Wahrnehmungen. Denn in Filmen wird die subjektive Perspektive der gezeigten Personen um die Perspektive der Kamera erweitert. Die Kamera zeigt Figuren, die in einer bestimmten Weise handeln und die die Welt und sich selbst in einer bestimmten Weise sehen. Im Film entsteht anhand dieser Perspektiven eine zusätzliche Blickrichtung, denn wir sehen eine Person, die die Welt in einer bestimmten Weise sieht. Dadurch, dass diese Wahrnehmung im Film noch einmal gegeben wird, wird sie als reduzierte und kontingente Wahrnehmung zugänglich; „die Kamera gibt nicht einfach die Sicht der Person und ihrer Welt, sie erzwingt eine andere Sicht, in der die erste sich wandelt und reflektiert“ (Deleuze 1997a, S. 107). Im Filmbild wird die gezeigte subjektive Perspektive durch den „Blick“ der Kamera erweitert. Deleuze bezeichnet Filmbilder daher auch als „halbsubjektive Bilder“ (Deleuze 1997a, S. 104). Sie vermitteln keine übergeordneten, transzendentalen Deutungsmuster, sondern sor-

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gen für Verschiebungen und Transformationen auf der Ebene der Immanenz. In Bezug auf meine Frage nach der besonderen Fremderfahrungsqualität von Filmen ist das Konzept der halbsubjektiven Bilder interessant, weil es Deleuze zufolge für diesen Status „kein Äquivalent in der natürlichen Wahrnehmung gibt“ (Deleuze 1997a, S. 105). Die „Verdopplung“ der Wahrnehmung, die sich aus der Halbsubjektivität der Filmbilder ergibt, lässt die Wahrnehmung doppelbödig werden und erschwert den vereindeutigenden, zuordnenden und festlegenden Zugriff. Wie im folgenden Abschnitt zu sehen sein wird, wird diese Doppelbödigkeit durch die zeitliche Verfasstheit des Films verschärft. Zuvor kann festgehalten werden, dass vor dem Hintergrund von Deleuzes immanentem Denken zwei verbreitete filmpädagogische Vorstellungen fragwürdig werden. Nämlich die eines vorgängigen und autonomen Subjekts, das sich unter Rückgriff auf einen transzendentalen Bereich von Sinn und Bedeutung dem Film verstehend zuwendet. Und die eines Films, der als „Wiedergabeinstrument“ und Kommunikationsmittel Repräsentationen von Dingen und Vorstellungen liefert. 6.2.4 Film als zeitlich verfasst Die „Zeitlichkeit“ von Filmen ist eine zentrale Dimension in Deleuzes Kinodenken, aus der sich weitere potenzielle Erfahrungsüberschüsse ergeben. Das lässt sich anhand der Begriffe „Aktuelles“ und „Virtuelles“ deutlich machen, mit denen Deleuze die zeitliche Verfasstheit von Filmen beschreibt. Er verwendet die Begriffe dabei allerdings anders, als sie im Alltagsverständnis gebraucht werden. Im Gegensatz zum Alltagsverständnis ist das Aktuelle nicht (nur) das, was gerade „auf der Tagesordnung steht“, also das, was im Moment Thema ist und besonderer Aufmerksamkeit bedarf, sondern es ist das grundsätzlich Zugängliche, das Sichtbare und das Thematisierbare; das Aktuelle ist das Gegenwärtige, das Gültige. Kurz: der Bereich dessen, was wir innerhalb der jeweiligen Selbst- und Weltverhältnisse wahrnehmen und denken können. Auch der Begriff des Virtuellen hat bei Deleuze eine besondere Bedeutung. Es handelt sich nicht um etwas außerhalb unserer materiellen Umwelt als „zusätzliche Wirklichkeit“ Gegebenes (wie es in der Rede von „virtuellen Spielwelten“, „virtuellen Lernplattformen“ oder „virtuellen Gemeinschaftsräumen“ anklingt), sondern um ein Potenzial, das gerade nicht

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realisiert ist. Das Virtuelle ist das, was über das Gegebene hinausweist, der Bereich der Möglichkeiten, die sich unseren aktuellen Selbst- und Weltverhältnissen entziehen. Diese beiden Bereiche gibt es auch im Film. Jedes Bild hat sowohl eine aktuelle als auch eine virtuelle Seite. Die aktuelle Seite ist der Teil des Films, der gegenwärtig und zugänglich ist; das aktuelle Bild ist das sichtbare Bild, das sich innerhalb vorhandener Welt- und Selbstverhältnisse wahrnehmen lässt. Aber jedes aktuelle Bild hat auch eine virtuelle Seite, die es mit dem Bereich der nicht realisierten Möglichkeiten verbindet. Diese virtuelle Dimension entzieht sich zwar dem direkten Zugriff, sie sorgt aber dafür, dass die aktuellen Bilder als andersmöglich wahrnehmbar werden und führt damit zu einer gewissen Doppelbödigkeit des aktuellen Bildes. Das Virtuelle wird als die Dimension der Kontingenz und der Öffnung gedacht und hat für Deleuze eine ähnliche Funktion wie das „Außen“ für Waldenfels – es hindert das Aktuelle (bei Waldenfels das Eigene) an seiner „Schließung“. Im Unterschied zu Waldenfels denkt Deleuze die Dimension der Kontingenz allerdings nicht räumlich („Außen“), sondern zeitlich. Etwas vereinfacht lässt sich sagen, dass Deleuze Waldenfels’ Denken des Außen verzeitlicht. Dabei fasst Deleuze das Aktuelle als das Gegenwärtige und das Virtuelle als das Vergangene, allerdings nicht in einem linearchronologischen Verständnis, demzufolge das Vergangene das ist, was gestern war, was vorbei ist und nicht wiederkommt, sondern in einem achronologischen Verständnis, das von der Vorstellung der Koexistenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geprägt ist: „Wenn das gegenwärtige Bild nicht gleichzeitig schon Vergangenheit wäre, dann würde die Gegenwart niemals vergehen. Die Vergangenheit folgt nicht auf die Gegenwart, die sie nicht mehr ist, sie koexistiert mit der Gegenwart, die sie gewesen ist. Die Gegenwart ist das aktuelle Bild und seine zeitgleiche Vergangenheit ist das virtuelle Bild“ (Deleuze 1997b, S. 109, Herv.i.O.).

Das virtuelle Bild verfügt über eine „Vergangenheit überhaupt“ (Deleuze 1997b, S. 109). Also über die „unerschöpflichen Möglichkeite[n] (Deleuze 1997b, S. 34), die mit dem Vorübergehen einer Gegenwart ausgeschlossen werden, aber gleichzeitig als ihre „Rückseite“ mit ihr verbunden bleiben. Mit Bergson benutzt Deleuze dafür auch den unter Umständen etwas irreführenden Begriff der „reinen Erinnerung“ – irreführend insofern, als De-

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leuze Aktuelles und Virtuelles nicht an ein Subjekt oder ein Bewusstsein knüpft, das sich erinnert. Damit ist „reine Erinnerung“ nichts, das einem Individuum exklusiv gehört; kein „privater Rückblick“. Deleuze sagt vielmehr: „Das virtuelle Bild (reine Erinnerung) ist weder ein psychischer Zustand noch ein Bewußtsein: es besteht außerhalb des Bewußtseins und in der Zeit. Es wird uns kaum Schwierigkeiten bereiten, die virtuelle Insistenz der reinen Erinnerungen in der Zeit einzuräumen, sowenig wie die aktuelle Existenz der nicht-wahrgenommenen Gegenstände im Raum.“ (Deleuze 1997b, S. 110)

Das Virtuelle ist ein Potenzial, das die Entstehung von etwas Neuem in der Gegenwart ermöglicht, und zwar dadurch, dass es sie stets für ihre gleichzeitige Vergangenheit offen hält und sie dabei in einem anderen Licht erscheinen lässt – nämlich im Licht der unendlichen Möglichkeiten, die nicht durch „Aktualisierung“ zu einer (vorübergehenden) Gegenwart geworden sind. Der zentrale Motor der Veränderung und der „Verfremdung“ des Gegenwärtigen liegt für Deleuze also auf der Ebene der Zeit. Er denkt die Zeit aber nicht linear, womit eine Vereinfachung vermeidet, die Waldenfels in Bezug auf zeitlich verfasste Fremdheitsvorstellungen kritisiert, und derzufolge fremd lediglich das ist, „was nicht mehr oder noch nicht zugänglich ist“ (Waldenfels 1997, S. 12, Herv.i.O. und Kapitel 3.2). Vielmehr existieren Aktuelles und Virtuelles bzw. Gegenwärtiges und Vergangenes gleichzeitig und sind untrennbar miteinander verbunden, allerdings ohne dabei endgültig oder festgelegt zu sein. Das Virtuelle kann aktuell werden, indem es sich mit dem Aktuellen verbindet und das Aktuelle kann virtuell werden, indem es nicht „weiterverknüpft“, also nicht aufgegriffen und fortgesetzt wird. Aktuelles und Virtuelles gehen dabei nie ineinander auf, sie bleiben unterschiedlich und unterscheidbar, was aber nicht heißt, dass sie sich jeweils einer Seite dieser Relation eindeutig zuordnen ließen (also der Virtualität oder der Aktualität). Denn „in der Tat gibt es kein Virtuelles, das nicht durch den Bezug auf das Aktuelle aktuell würde, während dieses innerhalb derselben Beziehung virtuell wird: wir haben es hier mit vollständig umkehrbaren Vorder- und Rückseiten zu tun“ (Deleuze 1997b, S. 97). An diesem Gedanken lassen sich nun einige Berührungspunkte und auch Differenzen im Denken von Waldenfels und Deleuze zeigen: Interessanterweise

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benutzt Deleuze hier die gleiche Metapher (Vorder- und Rückseite), die Waldenfels zur Beschreibung des Verhältnisses von Eigenem und Fremden verwendet. Und nicht nur die Metapher ist gleich, sondern auch die grundlegende Denkfigur: Eigenes und Fremdes entstehen Waldenfels zufolge, indem sie sich voneinander unterscheiden – die Entstehung des Eigenen führt gleichzeitig zur Entstehung des Fremden. Ganz ähnlich äußert sich Deleuze zur Entstehung von Aktuellem und Virtuellem: Im Kristall3 erkenne man eine Trennung, „da er ein fortwährendes Sich-Unterscheiden, ein sich bildender Unterschied ist“ (Deleuze 1997b, S. 112, Herv.i.O.). Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Annahme, dass Eigenes und Fremdes bzw. Virtuelles und Aktuelles nicht ineinander aufgehen, sondern stets verschieden bleiben, dass aber das eine vom anderen beunruhigt/ heimgesucht werden kann. An dieser Stelle lässt sich auch der zentrale Unterschied im Denken von Waldenfels und Deleuze deutlich machen. Die Beunruhigung geht nach Waldenfels stets vom Fremden aus (wobei es Fremdheitsbereiche durchaus auch im Eigenen gibt), und zwar indem das Fremde sich dem Eigenen entzieht. Waldenfels denkt den Prozess der Fremderfahrung vom Eigenen aus, wobei das Eigene durch eine „Schwelle“ vom Fremden geschieden ist, die nicht beliebig in beide Richtungen überquert werden kann. Im Gegensatz dazu spricht Deleuze von „vollständig umkehrbaren Vorder- und Rückseiten“ (Deleuze 1997b, S. 97) ohne den privilegierten Selbstbezug, der dem Denken Waldenfels’ zugrunde liegt (vgl. Kapitel 3.2). Das liegt daran, dass Deleuzes Denkweise radikal immanent ist, und er auf die Vorstellung eines ordnenden oder Erfahrungen machenden Subjekts verzichtet. In seiner Theorie gibt es keinen Ort oder keine Instanz, von dem oder von der aus entschieden werden könnte, ob etwas eigen oder fremd, aktuell oder virtuell, real oder imaginär usw. ist. Daher interessiert sich Deleuze auch nicht für die Möglichkeit der Zuordnung dieser verschiedenen Bereiche. Er fragt nicht nach der Zugehörigkeit zu einer Seite, sondern nach den Denkmöglichkeiten, die sich aus der Offenheit und unendlichen „Verknüpfbarkeit“ von Bildern ergeben. Ich werde Deleuze insofern folgen, als ich die von ihm beschriebenen Denk- und Wahrnehmungsmöglichkeiten aufgreifen und die Kontingenz und „Verknüpfbarkeit“ von Bildern als Fremderfahrungspotenzial deuten werde. Allerdings werde ich dabei an dem Konzept

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Dem „Ur-Sprung“ (Kino 2, S. 112) der Zeit, der Grenze, an der die Zeit sich in Vergangenheit und Zukunft teilt.

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eines Subjekts der Erfahrung oder der Bildung festhalten, wie ich es in Kapitel 4.1 eingeführt habe. Mit Waldenfels werde ich ein solches Subjekt aber nicht als souverän, autonom oder sich selbst transparent denken, sondern als in komplexe Fremdbezüge verwoben, über die es nicht frei verfügen kann (vgl. Kapitel 5.1). Ein Teil dieser komplexen Fremdbezüge kann der Bezug zum Film sein, denn der Film konfrontiert den Zuschauer (auch) aufgrund seiner zeitlichen Verfasstheit mit Realitätsüberschüssen, die in der Alltagswahrnehmung tendenziell ausgeblendet werden. Dazu gehört der Bereich des Virtuellen, der „Vergangenheit überhaupt“, der als Bereich der unendlichen, aber nicht realisierten Möglichkeiten mit der Gegenwart verknüpft ist. Das Virtuelle ist im Alltag schwer wahrzunehmen, da wir uns in der Gegenwart einrichten, ohne uns des ständig ablaufenden Prozesses der „Produktion von Zeit“ bewusst zu werden. Die Gegenwart entsteht, indem sie aktualisiert, also von der Vergangenheit geschieden wird. Dabei entsteht gleichzeitig ein Ausgeschlossenes (das Virtuelle), das nicht Bestandteil aktueller Deutungsmuster und Handlungsstrukturen ist und deshalb aus dem Blick gerät. Der Film präsentiert genau dieses Ausgeschlossene, indem er Aktuelles und Virtuelles immer wieder gleichzeitig ins Spiel bringt. Denn: „Der Film artikuliert temporale Schnittstellen, in denen verschiedene Welten gleichzeitig vorkommen, noch bevor die Zeit in die Übersichtlichkeit des sukzessiven Verlaufs geordnet wird.“ (Fahle 2002, S. 105) Damit sorgt er für eine nachhaltige Befremdung der Wahrnehmung, die keinen „Halt“ in aktuellen Deutungsmustern findet, weil diese durch die ununterbrochene Präsenz des Virtuellen immer wieder durchkreuzt werden. Diese Begegnung mit „temporalen Schnittstellen“ ist nicht bei jedem Film gleichermaßen wahrscheinlich. Ein besonderes Potenzial sieht Deleuze hier in „Kristallbildern“. Das sind solche Bilder, in denen Aktuelles und Virtuelles gleichzeitig gegeben sind, in denen Gegenwart und Vergangenheit koexistieren. Wie oben dargestellt, hat zwar grundsätzlich jedes aktuelle Bild eine virtuelle Seite und umgekehrt, so dass eine gewisse Koexistenz von Aktuellem und Virtuellem immer gegeben ist; das Besondere am Kristallbild ist aber, dass diese beiden Bereiche um einen „Punkt der Ununterscheidbarkeit“ (Deleuze 1997b, S. 112) kreisen. Das heißt, Aktuelles und Virtuelles sind in einer so gleichberechtigten Weise präsent, dass sich nicht entscheiden lässt, welches Bild zu einer aktuellen und vorübergehenden Gegenwart werden wird, und welches als gleichzeitige und achronologische

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Vergangenheit bewahrt werden wird. Mit anderen Worten: Es lässt sich nicht entscheiden, welches Bild zum Bereich des Gültigen und Gegenwärtigen gehört und welches zur Vergangenheit als Menge der unerschöpflichen Möglichkeiten. Das Kristallbild ist ein Kristallisationspunkt, an dem sich Aktuelles und Virtuelles zeigen, aber trotzdem verschieden bleiben. Es ist kein „organisches“ Bild, keine geschlossene Einheit, sondern ein Bild, das nicht zur Ruhe kommt – ein „Kreislauf auf der Stelle“ (Deleuze 1997b, S. 110). Dieser Kreislauf auf der Stelle funktioniert wie ein Kippbild, in dem Aktuelles und Virtuelles ständig ineinander übergehen, ohne dass eines dieser Bilder als „gültig“ stehen bleibt. Dadurch hält das Kristallbild in gewisser Weise den Fortgang der Zeit an und macht ihn gleichzeitig auf besonders unausweichliche Weise zugänglich. Im Kristallbild sind alle Möglichkeiten offen, und ihre Gleichzeitigkeit zwingt den Zuschauer dazu, sich zu dem Bild in ein Verhältnis zu setzen, das über die Fortsetzung aktueller Verarbeitungsmuster hinausgeht. Das Kristallbild weist dabei einen zentralen Unterschied zu den Gegenständen der alltäglichen Wahrnehmung auf: Unser alltägliches Wahrnehmen, Denken und Handeln geschieht in Bezug auf das Aktuelle – das geht auch nicht anders, weil das Aktuelle dasjenige ist, das als gegenwärtig und gültig überhaupt wahrgenommen werden kann. Die Dimension des Virtuellen als dessen, was sich entzieht, wird dabei leicht ausgeblendet – zumal etwaige Spannungen, Brüche oder Konflikte meistens entlang vorhandener Deutungsmuster bearbeitet werden, was eine Öffnung für das Virtuelle unwahrscheinlicher macht. In dem Moment, in dem eine Möglichkeit realisiert ist, treten die nicht realisierten Möglichkeiten in den Hintergrund. Die Erfahrung, dass sich etwas dem eigenen Zugriff entzieht, wird damit nicht Gegenstand der Konfrontation, sondern eher Gegenstand einer Überbrückung und Umgehung. Genau an dieser Stelle liegt die besondere Qualität Kristallbilds – im Kristallbild wird etwas präsentiert, das im Alltag vorbei ist, bevor es wahrgenommen wird – das Kristallbild hält den Prozess an, in dem im Alltag ständig Übergänge passieren, die Widerständigkeiten auflösen. Es lässt den Kristallisationspunkt andauern und setzt den Zuschauer diesem Spannungszustand aus, indem es den Weg in die vereindeutigende Aktualisierung abschneidet. Aktuelle Wahrnehmungen werden auf diese Weise „virtualisiert“, also auf das Virtuelle, dem Aktuellen fremde hin geöffnet.

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Das Konzept des Kristallbildes ist zugleich ein Beispiel für die filmtheoretischen Klassifikationsmöglichkeiten, die Deleuze neben seinen grundlegenden philosophischen Überlegungen zum Film entwickelt. Einige weitere Konzepte des eher filmtheoretischen Bereichs von Deleuzes Kinodenken sind Gegenstand des folgenden Abschnitts.

6.3 F ILMTHEORETISCHE D IMENSION 6.3.1 Bewegungsbilder und Zeitbilder Wie oben ausgeführt haben für Deleuze alle Filmbilder grundlegende Bezüge zu Bewegung und Zeit. Trotzdem unterscheidet Deleuze noch einmal zwischen „Bewegungsbildern“ und „Zeitbildern“, in denen diese Bezüge auf je unterschiedliche Weise gegeben sind. Mit Bewegungsbildern sind solche Bilder gemeint, in denen vor allem die klassische – von Deleuze und Bergson kritisch betrachtete – Bewegungsvorstellung umgesetzt ist: Die Bewegung wird aus einzelnen Versatzstücken zu einem Ganzen (zu einer Handlung, zu einer Geschichte) montiert. Die Bewegung, der der Zuschauer folgt, steht im Vordergrund, und die Zeit ist der Bewegung „untergeordnet“; sie wird aus der Montage „erschlossen“ (Deleuze 1997a, S. 49). Das heißt, die Dimension der Zeit wird nicht direkt präsentiert, sondern in der Montage zusammengesetzt. Es entsteht dabei eine in sich geschlossene Geschichte mit einer eindeutigen Zeitstruktur – so wird der Zuschauer z.B. durch Rückblenden über die Vergangenheit informiert, oder er kann aus bestimmten Schnitten darauf schließen, dass eine Zeitspanne übersprungen wurde. Wenn in einem Western nach der Aufforderung zum Duell ein Schnitt folgt und anschließend beide Protagonisten am Schauplatz des Duells zu sehen sind, ist das eine indirekte Darstellung der Zeit. Mit Hilfe filmischer Mittel wird der Zuschauer darüber informiert, dass Zeit verstreicht oder verstrichen ist. Zeit wird also indirekt dargestellt, das Verstreichen der Zeit ergibt sich aus der Handlung, aus der Bewegung der Figuren. Dafür gibt es etliche Beispiele im Amerikanischen Actionkino: Eine Bombe muss rechtzeitig entschärft werden, eine entlastende Information noch vor einem Gerichtstermin überbracht oder eine Stadt vor dem Einsetzen einer Naturkatastrophe evakuiert werden. Es wird nicht das Verstreichen der Zeit gezeigt, sondern einzelne Bewegungen

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– z.B. die Eröffnung des Gerichtsverfahrens oder Vorboten der Naturkatastrophe – die zu einer bestimmten Anordnung der Zeit führen. Eine solche Bewegung, „die sich die Zeit unterordnet“ (Deleuze 1997b, S. 46), bezeichnet Deleuze auch als „normale Bewegung“, weil sie innerhalb vorhandener Deutungsmuster stattfindet und die Wahrnehmung tendenziell „normalisiert“ (Deleuze 1997b, S. 59), also auf vertraute Muster zurückführt.4 Insofern hat das Bewegungsbild eine besondere Nähe zur Dimension des Aktuellen. Als Zeitbilder beschreibt Deleuze Bilder, in denen das Andauern der Zeit zugänglich und erfahrbar wird. Sie sind nicht primär auf Handlung und Bewegung ausgerichtet, sondern auf Zeit. Es werden z.B. Gegenstände gezeigt, die nicht in einen Handlungszusammenhang eingebunden sind, sondern einfach nur zu sehen sind (Vase, Bett, Fahrrad, ....). Da es sich aber nicht um Fotos oder um Stilleben handelt, sondern um Filmbilder die „andauern“, wird der Zeitfluss erfahrbar (vgl. Deleuze 1997b, S. 31). Anders als beim Bewegungsbild ist in diesem Fall die Bewegung der Zeit untergeordnet (vgl. Deleuze 1997b, S. 37). Dadurch wird die Bewegung aber nicht eingeschränkt, sondern sie wird gerade freigesetzt. Denn sie findet nicht mehr im Dienst einer „normalen“ Repräsentation statt, hat also nicht die Funktion, eine vorgegebene Geschichte zu produzieren. Im Zeitbild kann daher eine „abweichende“ oder „anormale“ (Deleuze 1997b, S. 55) Bewegung entstehen, die nicht auf die Aufrechterhaltung vorgegebener Handlungszusammenhänge zielt, sondern sich gerade entwickelt, wenn solche Zusammenhänge fehlen. Beispiele sind die Filme des italienischen Neorealismus (z.B. „Der Leopard“ von Visconti), in denen Milieus gezeigt werden, deren Bewohner scheinbar ziellos umherirren und deren Handlungen nicht zu Veränderungen der Situation oder zur Lösung von Problemen führen. „Man könnte sagen, die Handlung halte sich freischwebend in der Situation, statt sie zu vollenden oder abzuschließen.“ (Deleuze 1997b, S. 15). In dieser Situation ist die Entstehung neuer Bedeutungen möglich, da die „abweichende Bewegung“ vorhandene Deutungsmuster überschreitet. Insofern haben Zeitbilder im Unterschied zu Bewegungsbildern einen besonderen Bezug zur Dimension des Virtuellen.

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Zum normalisierenden Potenzial des Films und dessen potenziell problematischer Dimension vgl. Walberg (2010)

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Ein Beispiel für einen Zeitbild-Film ist „Der Morast“ von Lucrecia Martel (Argentinien 2001). In dem Film wird keine Geschichte erzählt, sondern eher ein Zustand gezeigt, der andauert. Auf einem Landsitz im Nordwesten Argentiniens verbringen zwei bürgerliche Familien ihren Sommer. Es herrscht eine schwüle Hitze, man sitzt am Pool, in dem das Wasser langsam zu faulen beginnt, trinkt Cognac oder liegt schwitzend auf dem Bett. Der Film zeigt eine drückende Lethargie. Es gibt keine gezielten Handlungen, keine Absichten, keine Lösungen. Die Ereignisse ergeben sich aus dem Andauern einer Situation, nicht umgekehrt – so als der Protagonistin zu Beginn des Films ihr Cognac-Glas aus der Hand rutscht und sie sich an den Scherben schwer verletzt. Das scheint die anwesenden Personen aber nicht besonders zu interessieren und ändert auch nichts an der Trägheit, mit der alle Figuren die Tage verstreichen lassen. Dabei sind die Protagonisten nicht frei von Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten. Es gibt nur keine einfache Handlung, in der sich die Anspannung in Bezug auf das eigene Leben auflösen könnte. Die Regisseurin macht das sehr deutlich, indem sie ihren Figuren jeden Handlungsweg abschneidet, wodurch die verrinnende Zeit auch für den Zuschauer erdrückend spürbar wird. In dieser Situation ändern sich die Rollen von Filmfigur und Filmzuschauer: Der Zuschauer übernimmt nicht durch Identifikation die Handlungsperspektive der Filmfigur, sondern die Filmfigur wird selber zum Zuschauer, „sie reagiert nicht, sie registriert“ (Engell/ Fahle 2003, S. 233). Die Position des Zuschauers ist ebenso unsicher, wie die der Figur, da sich der Zuschauer nicht mehr an „normalen“ Bewegungen orientieren kann, sondern selber herausgefordert ist, auf „abweichende“ Bewegungen Bezug zu nehmen, ohne auf vorhandene Bedeutungen zurückgreifen zu können: „Objektivität und Subjektivität sind nicht schon durch eine Handlungsbeziehung vorgegeben, sondern müssen erst entstehen“ (Engell/ Fahle 2003, S. 233). Der Zuschauer wird in diesen Entstehungszusammenhang verwickelt und entwirft seine eigene Subjektivität in Bezug auf die komplexen Deutungsmöglichkeiten, die besonders Zeitbilder bieten. Entsprechend meiner Überlegungen zu der bildungstheoretischen Dimension des Bildungssubjekts (vgl. Kapitel 5.1), muss der Zuschauer als in (filmische) Fremdbezüge verwoben betrachtet werden – und darin liegt eine Bildungschance. Diesen Gedanken werde ich in Kapitel 8.1 anhand eines weiteren Filmbeispiels ausführen.

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Die Unterscheidung zwischen Bewegungsbildern und Zeitbildern ist eine konkrete Klassifikationsmöglichkeit für verschiedene Arten von Filmen, die Deleuze mit einer filmhistorischen Einordnung verbindet. So lässt sich mit Deleuze sagen, dass das klassische Kino bis zu Beginn des zweiten Weltkriegs tendenziell von Bewegungsbildern geprägt ist, während das Nachkriegskino tendenziell ein Zeitbild-Kino ist. Das heißt nicht, dass es nach der Einführung des modernen Kinos keine klassischen Filme mehr geben würde – im Gegenteil, das große Hollywoodkino ist nach wie vor am verbreitetsten und kommerziell am erfolgreichsten. Aber, so sagt zumindest Deleuze, „die Seele des Films ist nicht mehr dort“ (Deleuze 1997a, S. 276). Deleuze sieht in den modernen Zeitbild-Filmen ein größeres Potenzial für die Eröffnung neuer Denk- und Auseinandersetzungsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund sind solche Filme auch im Zusammenhang mit meiner Arbeit besonders interessant. Auch wenn im folgenden die Betrachtung von Zeitbildern im Vordergrund stehen wird, soll noch ein letztes Konzept eingeführt werden, das Deleuze in seinen Überlegungen zum Bewegungsbild entwickelt, nämlich das Konzept des sensomotorischen Zusammenhangs. Anhand dieses Konzepts erklärt Deleuze gleichzeitig, wie es zu Übergängen zwischen Bewegungsbildern und Zeitbildern kommt. Außerdem wird deutlich werden, dass die Vorstellung des sensomotorischen Zusammenhangs Anschlussmöglichkeiten für die Frage nach Fremderfahrungspotenzialen des Films bietet. 6.3.2 Das Bewegungsbild und seine drei Spielarten: der sensomotorische Zusammenhang Ausgangspunkt für dieses Konzept ist eine weitere Klassifikation, die Deleuze auf der Ebene der Bewegungsbilder vornimmt: Er unterscheidet zwischen Wahrnehmungsbildern, Affektbildern und Aktionsbildern (Deleuze 1997a, S. 84ff). Diese drei Bildsorten müssen im Zusammenhang mit dem „doppelten Referenzbereich der Bilder“ gesehen werden, um den es weiter oben ging (vgl. Kapitel 6.2.3). Denn sie entstehen dann, wenn sich das „Subjekt“ zur „Welt“ in ein Verhältnis setzt. Wahrnehmungsbilder, Affektbilder und Aktionsbilder sind zunächst keine Kategorien der Filmanalyse, sondern beziehen sich auf das Subjekt – als Spielarten seines Selbst- und Weltverhältnisses.

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Das Wahrnehmungsbild (oder die Wahrnehmung) ist eine Isolierung; die Erfassung eines Ausschnitts der Welt und zwar „unter Abzug dessen, was uns in bezug auf unsere Bedürfnisse nicht interessiert“ (Deleuze 1997a, S. 93). Die Wahrnehmung findet bereits im Lichte einer möglichen Aktion statt, dass heißt im Prozess der Wahrnehmung wird die Welt als „Umgebung“ organisiert (Deleuze 1997a, S. 94), auf die wir reagieren können. Und diese Reaktion, die in der Auswahl und Ausführung einer Bewegung besteht, nennt Deleuze Aktion oder Aktionsbild (Deleuze 1997a, S.95). Allerdings besteht unser Selbst- und Weltverhältnis nicht nur in einer selektiven Wahrnehmung und der Auswahl passender Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit dem Wahrgenommenen. Denn wir erfassen nicht nur das, was uns interessiert, sondern stets auch noch etwas, das nicht in den Kategorien der Wahrnehmung aufgeht und sich auch nicht in eine Aktion umsetzen lässt – das bezeichnet Deleuze als Affekt oder Affektbild. Als ein „Dazwischen“ (...) zwischen einer in gewisser Hinsicht verwirrenden Wahrnehmung und einer verzögerten Handlung“ (Deleuze 1997a, S. 96); als Spannungszustand, der sich nicht unmittelbar in eine Handlung hinein auflöst. Den Zusammenhang zwischen diesen drei Bildsorten (bzw. diesen drei Momenten des Welt- und Selbstverhältnisses) nennt Deleuze auch sensomotorischen Zusammenhang oder sensomotorisches Schema. Denn auf eine sensorische Wahrnehmung folgt eine motorische Handlung. Etwas vereinfacht lässt sich auch von einer Wahrnehmungs-Aktions-Verknüpfung sprechen. Der Affekt stellt dabei die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Handlung her. Denn er bezieht sich auf die Empfindung, die durch eine Wahrnehmung ausgelöst wird und die sich auf die Auswahl einer Handlungsoption auswirkt. Nach Deleuze ist der Affekt auch die Art „in der sich das Subjekt selbst wahrnimmt – oder vielleicht sich ‚von innen‘ empfindet oder spürt“ (Deleuze 1997a, S. 96). Wenn der Affekt in einer schockierenden oder verwirrenden Empfindung besteht, kann das durchaus zu einer Unterbrechung von Handlungszusammenhängen führen. Damit wird allerdings das sensomotorische Schema nicht überschritten – denn eine Unterbrechung ändert noch nichts daran, dass die Wahrnehmung an vorhandene Handlungsordnungen und mögliche Handlungsperspektiven gebunden bleibt. Der sensomotorische Zusammenhang oder das sensomotorische Schema ist Deleuze zufolge das grundlegende Muster unseres Welt- und

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Selbstzugriffs, das zu der Entstehung und Bestätigung vorhandener Ordnungen führt. Der filmtheoretische Bezug liegt darin, dass Deleuze diese drei Bildsorten auch im Film ausmacht. So zieht er eine Parallele zwischen dem Vorgang der Kadrierung (als Isolierung) und dem Vorgang der Wahrnehmung (Deleuze 1997a, S. 91). Allerdings sind Wahrnehmungsbilder im Film auf besondere Weise gegeben. Es handelt sich nicht einfach um gerahmte und reduzierte Erfassungen, denn das kinematographische Wahrnehmungsbild ist nicht in gleichem Maße subjektiv wie die alltägliche Wahrnehmung. Es ist vielmehr „halbsubjektiv“ (vgl. Kapitel 6.2.3), weil es der subjektiven Wahrnehmung der Figuren folgt, diese aber zugleich überschreitet (vgl. Deleuze 1997a, S. 104 ff). „Eine Person agiert auf der Leinwand und ihr wird unterstellt, die Welt in einer bestimmten Weise zu sehen. Die Kamera sieht sie und ihre Welt zugleich von einem anderen Standpunkt, der den Blickpunkt der Person denkt, reflektiert und transformiert.“ (Deleuze 1997a, S. 106/ 107). Insofern hat das filmische Wahrnehmungsbild einen ähnlichen Ausgangspunkt wie die alltägliche Wahrnehmung, birgt aber gleichzeitig das Potenzial, diese zu überschreiten. Darum wird es in Kapitel 7 noch ausführlicher gehen. Als Affektbilder betrachtet Deleuze expressive Bilder, die sich nicht unmittelbar weiterverknüpfen lassen, die nicht an einen konkreten Kontext gebunden sind, sondern den Handlungszusammenhang unterbrechen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die in den Filmbildern gezeigten Gegenstände „sich der Zuordnung entziehen und gewissermaßen ‚individuiert‘ werden, sich von den gewohnten Wahrnehmungs- und Bedeutungszusammenhängen lösen“ (Engell/ Fahle 2003, S. 232). Deleuze beschäftigt sich in diesem Zusammenhang z.B. mit den ausdrucklosen Gesichtern in Filmen von Robert Bresson. Die Dimension des Affekts ist für meine Überlegungen interessant, da sie vorhandene Wahrnehmungs- und Handlungsordnungen stören kann und das „Einfallstor“ für Fremderfahrungen ist. Deleuze weist dem Affekt und auch dem filmischen Affektbild, durchaus auch diese Funktion zu, allerdings hat das Affektbild selber noch nicht die Qualität der Begegnung mit etwas, das sich zeigt, indem es sich entzieht. Es ist vielmehr ein Spannungszustand, der dazu führen kann, dass sich das Verhältnis von Wahrnehmung und Handlung verschiebt, der aber meistens in eine (modifizierte) Handlungssituation mündet. Daher interessiert sich Deleuze besonders für

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Filme, die nicht an Handlungssituationen gebunden bleiben, sondern in denen das „Zwischen“ zwischen Wahrnehmung und Aktion mit Bildern ausgefüllt wird, die keine Fortsetzung in eine Aktion hinein nahe legen, sondern „uns in individueller Weise zur Wahrnehmung zurückführ[en]“ (Deleuze 1997b, S. 68). Wie zu zeigen sein wird, handelt es sich dabei um Bilder, in denen Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit präsent werden kann. Und um Bilder, die nach Deleuze jenseits des sensomotorischen Zusammenhangs entstehen Mit Aktionsbildern bezeichnet Deleuze Handlungsabläufe, die durch „Aktionen“ verbunden sind und meistens eine klassische Erzählform aufweisen. Dazu gehört die Darstellung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen wie z.B. einer Provokation, die zu einem Streit führt oder einem Streit, der zu einer Veränderung einer Beziehungssituation führt (z.B. Trennung, Versöhnung oder Feindschaft). Im Aktionsbild wird dabei stets sichtbares Verhalten gezeigt. „Das Aktionsbild inspiriert ein Kino des Verhaltens, denn das Verhalten ist eine Handlung, die von einer Situation zu einer anderen führt; es antwortet auf eine Situation, die es zu modifizieren oder gänzlich zu erneuern versucht.“ (Deleuze 1997a, S. 211) Im klassischen Bewegungsbildkino ist das Aktionsbild die zentrale Form. 6.3.3 Zwei Formen des Aktionsbildes Das Aktionsbild, als klassische Form des Handlungskinos, tritt auf verschiedene Weisen in Erscheinung: Als „große Form“ und als „kleine Form“. Damit sind Schemen oder Anordnungen gemeint, die sich in vielen Bewegungsbild-Filmen wiedererkennen lassen. In der großen Form folgt das Aktionsbild dem Schema Situation – Aktion – modifizierte Situation (SAS’). Es wird von einem „Umgreifenden“, einem Rahmen ausgegangen, „aus dem sich das Verhalten der Menschen ‚natürlich‘ herleitet“ (Deleuze 1997a, S. 222). Bei der großen Form geschieht dies in „organischer“ und notwendiger Weise: Die Handlung wird durch die Situation hervorgerufen, nahe gelegt oder sogar festgelegt. „Man wird feststellen, daß aufgrund des stark strukturierten Charakters der organischen Repräsentation der Platz des negativen oder positiven Helden längst vorbereitet ist, bevor er ihn einnimmt und bevor wir überhaupt wissen, wer ihn einnehmen wird: so die fortschreitende Entlarvung des Mörders.“ (Deleuze 1997a, S. 208)

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Nicht selten geht es in der großen Form des Aktionsbildes um die Infragestellung einer Ordnung und ihre Wiederherstellung durch den Helden. Ein klassisches Genrebeispiel dafür ist der Western. Diese Form zeichnet sich dadurch aus, in ihr „große Erzählungen“ (Lyotard) wiederholt und aufrechterhalten werden – „Erzählungen“ wie die vom Sieg der Freiheit und der Zivilisation oder wie die von der Emanzipation und Autonomie des Einzelnen, die eine enge Verbindung zum „amerikanischen Traum“ aufweist, der das Thema vieler monumentaler Hollywoodfilme ist. Innerhalb dieses Rahmens machen Filme Prozesse des „Wiedererkennens“ wahrscheinlich, da der Rahmen, in dem alles seinen Platz hat, die Begegnung mit Kontingenzen erschwert. Außerdem kommen die gezeigten Wahrnehmungs-Aktions-Verknüpfungen unserer sensomotorisch organisierten Wahrnehmung sehr entgegen, wodurch vorhandene Wahrnehmungsmuster zusätzlich bestätigt werden. Besondere Potenziale zur Überschreitung vorhandener Deutungsmuster sieht Deleuze in einem Kino, das „jeder natürlichen Wahrnehmung widerspricht“ (Deleuze 1997b, S. 259), und ein solches Kino gibt es für ihn vor allem außerhalb sensomotorischer Zusammenhänge. Darauf werde ich weiter unten noch zurückkommen (Kapitel 6.3.5). Der Unterschied dieser „großen Form“ des Handlungskinos zur „kleinen Form“ liegt darin, dass in der kleinen Form nicht die übergeordnete Situation eine Handlung erforderlich macht, sondern dass aus einer Handlung erst eine Situation entsteht, die dann zu veränderten Handlungen führen kann. Deleuze verwendet dafür die Formel ASA’ (Aktion – Situation – modifizierte Aktion). Genrebeispiele sind Komödien oder Detektiv-Filme. So wird in vielen Komödien durch eine ungeschickte Aktion (wie eine Panne oder einen Versprecher) eine Situation enthüllt – z.B. die Situation, dass der Protagonist eine Affäre mit der Frau seines Kollegen hat. Situationen werden über Aktionen geschaffen und auch wieder verändert. Diese kleine Form erscheint zwar weniger monumental und beginnt häufig rätselhafter und unklarer als die große Form, aber sie ist nicht unbedingt weniger festgelegt. Auch hier gibt es klare Handlungsbezüge, die den Verlauf der Geschichte tragen. In Bezug auf meine Frage nach Fremderfahrungspotenzialen von Filmen wird deutlich, dass diese im Bereich des Bewegungsbild-Kinos – insbesondere in den beschriebenen Formen des Aktionsbildes – nicht sehr ausgeprägt sein dürften. Umso unausweichlicher sind solche Potenziale al-

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lerdings in Zeitbild-Filmen, in denen sensomotorische Schemata außer Kraft gesetzt sind – was zu einer Herausforderung unserer Wahrnehmungsmuster führt. Das Aufkommen des Zeitbildes bringt Deleuze mit einer „Krise des Aktionsbildes“ in Verbindung, die er mit Bezug auf die gesellschaftliche Situation begründet. 6.3.4 Krise des Aktionsbildes und Bruch des sensomotorischen Zusammenhanges In der aktuellen gesellschaftlichen Situation, die von Prozessen der Pluralisierung und Individualisierung gekennzeichnet ist, ist die Darstellung allgemeingültiger Handlungszusammenhänge Deleuze zufolge nicht mehr glaubwürdig. Die klassischen Formen des Aktionsbildes erscheinen vor diesem Hintergrund stereotyp und klischeehaft. Zusätzlich tragen soziale, wirtschaftliche und künstlerische Entwicklungen dazu bei, dass das Aktionsbild in eine Krise gerät: z.B. das Scheitern des „amerikanischen Traums“, das selbstbewusstere Auftreten gesellschaftlicher Minoritäten oder die Entstehung neuer künstlerischer Ausdrucksformen (vgl. Deleuze 1997a, S. 276). Diese Entwicklungen führen nach Deleuze dazu, dass die Formeln SAS’ und ASA’ nicht mehr überzeugen, also in Bezug auf die Präsentation von Welt und Selbst keine angemessene Orientierung mehr bieten: „Es ist kaum noch glaubhaft, daß eine globale Situation eine Aktion, die Veränderung bewirkt, auslösen könnte [SAS’], und ebensowenig ist es noch vorstellbar, daß eine Aktion eine Situation veranlassen könnte, sich, und sei es nur teilweise, zu enthüllen [ASA’].“ (Deleuze 1997a, S. 276)

Sensomotorische Verknüpfungen werden zunehmend fragwürdig und instabil. Klassische Zusammenhänge werden im modernen Kino unterbrochen: Die Wahrnehmung führt nicht mehr zu einer motorischen Handlung, die Aktion ist nicht mehr an eine bestimmte Situation gebunden, und der Affekt gehört nicht mehr zu einer bestimmten Person (Deleuze 1997a, S. 287). Mit dem Zerbrechen solcher Zusammenhänge wird das Bewegungsbild mit seinen drei Spielarten infrage gestellt (Deleuze 1997a, S. 274/ 275). Zunächst bezogen auf das filmische Bild, denn unsere Wahrnehmung

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geschieht noch innerhalb sensomotorischer Muster, was zu einem – potenziell produktiven – Spannungsverhältnis zwischen Film und Wahrnehmung führen kann. Ich komme darauf noch zurück (Kapitel 7). Die Krise des Aktionsbildes ist die Bedingung dafür, dass neue Arten von Bildern entstehen können. Und zwar solche Bilder, die „die Wahrnehmung daran hindern, sich in eine Aktion fortzusetzen“ (Deleuze 1997b, S. 11), die also vorhandene Verarbeitungsweisen stören und auf diese Weise Fremderfahrungen auslösen können. Die Krise des Aktionsbildes ist allerdings lediglich die „negative Bedingung“ (Deleuze 1997a, S. 288) für die Entstehung neuer Bilder. Deleuze bleibt aber nicht bei einer Analyse der Grenzen des Aktionsbildes, sondern er entwickelt eine positive Vorstellung anderer Bilder, als „neue Substanz“ (Deleuze 1997a, S. 288), die eine besondere Art der Filmbegegnung ermöglicht. 6.3.5 Jenseits des Bewegungsbildes: Zeitbilder, mentale Bilder, optische und akustische Bilder Die Unterbrechung von Handlungszusammenhängen führt dazu, dass dasjenige zu sehen ist, das „nicht mehr von einer Antwort oder Handlung abhängt“ (Deleuze 1997b, S. 13). An die Stelle der klassischen Handlungszusammenhänge treten rein „optische und akustische Bilder“ (Deleuze 1997b, S. 13), also Bilder, die etwas zu sehen und zu hören geben, ohne es an einen klar bestimmten Kontext zu binden, der ihm Sinn verleiht. Diese optischen und akustischen Bilder, die Deleuze auch Opto- und Sonozeichen nennt (Deleuze 1997b, S. 37), sind Wahrnehmungssituationen, die zur Wahrnehmung zurückführen, statt eine Handlungskette aufrecht zu erhalten. Sie führen nicht zum Wiedererkennen und Einordnen eines Gegenstands, sondern sie fordern dazu heraus, den Gegenstand erneut und anders wahrzunehmen. Als Beispiel kann der Film „Der Sohn“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne dienen5. Der Protagonist Olivier arbeitet als Ausbilder in einem Lehrzentrum für straffällig gewordene Jugendliche. Eines Tages bewirbt

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In Kapitel 8.3 werde ich diesen Film ausführlicher analysieren und zusätzlich zu den folgenden kurzen Überlegungen zeigen, dass er den Anspruch des Fremden auf filmische Weise erfahrbar machen kann.

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sich Francis um eine Lehrstelle – der Junge, der wenige Jahre zuvor Oliviers Sohn ermordet hat. Der Film besteht aus ganz verschiedenen optischen und akustischen Bildern: Es ist zu sehen, wie Olivier den neuen Lehrling beobachtet und wie er heimlich dessen Wohnung aufsucht. Und es ist zu hören, wie im Ausbildungszentrum ständig Lärm herrscht, während es in Oliviers Wohnung sehr still ist. Der Zuschauer wartet während des gesamten Films darauf, dass das Wahrgenommene zu einer Handlung führt, dass Olivier z.B. in Francis’ Wohnung ertappt wird, dass er Francis zur Rede stellt, dass er Rache übt oder dass der Lärm im Ausbildungszentrum durch einen hitzigen Streit übertönt wird. Aber der Film führt immer wieder in Wahrnehmungssituationen zurück, die sich nicht in eine Handlung hinein auflösen. Auch dann nicht, als Olivier sich am Ende des Films als Vater des Opfers zu erkennen gibt und es zu einem Gerangel mit Francis kommt. Beide Protagonisten ringen in einem einsamen Waldstück miteinander, aber es entwickelt sich keine Handlung, die diese Wahrnehmung fortsetzen würde; die sich also z.B. als Rache, Versöhnung oder Klärung verstehen ließe, mit der die Situation abgeschlossen würde. Vielmehr entsteht eine neue Wahrnehmungssituation: Francis und Olivier sind in verschmutzter Kleidung erschöpft am Boden sitzend zu sehen und ihr keuchender Atem ist zu hören. Der Zuschauer ist herausgefordert, sich zu dieser Wahrnehmung in ein Verhältnis zu setzen und sie mit einer Bedeutung zu versehen. Er wird dabei immer wieder auf seine Wahrnehmung zurückverwiesen, weil der sensomotorische Zugriff keinen Halt findet6. Deleuze drückt das so aus: „Die rein optische und akustische Situation (Beschreibung) ist ein aktuelles Bild, das sich jedoch nicht in Bewegung fortsetzt, sondern mit einem virtuellen Bild verkettet und mit ihm einen Kreislauf bildet.“ (Deleuze 1997b, S. 68) Optische und akustische Bilder sind „Beschreibungen“, die außerhalb sensomotorischer Schemata stattfinden und die auf das „Unerschöpfliche“ (Deleuze 1997b, S. 66) möglicher anderer Beschreibungen verweisen. Deleuze spricht auch von „ausdrucksstarken und direkten Enthüllungen“ (Deleuze 1997b, S. 39), die etwas Unerträgliches, Unfassbares zeigen. Dabei geht es nicht unbedingt um einen besonders schockierenden oder brutalen Bildinhalt (wie auch an dem gerade erwähnten Filmbeispiel deutlich wurde), sondern eher darum, dass

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Vgl. zu diesem Filmbeispiel auch die sehr anregende Interpretation von Sönke Ahrens (2010)

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die Bilder vorhandene Sehgewohnheiten durchkreuzen, sich nicht einordnen lassen und den Zuschauer dadurch in einen Auseinandersetzungsprozess verwickeln, der nicht durch einen beruhigenden und Orientierung bietenden sensomotorischen Zusammenhang gerahmt ist – während im Gegensatz dazu „die sensomotorischen Situationen, wie gewalttätig sie auch sein mögen, sich an eine pragmatische visuelle Funktion richten, die nahezu alles ‚toleriert‘ oder ‚erträgt‘, solange es im Rahmen eines AktionsReaktions-Systems geschieht“ (Deleuze 1997b, S. 33)7. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen, da hier deutlich wird, dass Fremderfahrungspotenziale nicht nur von Filminhalten, sondern auch von der Art und Weise der filmischen Präsentation abhängen, und dass sie besonders in solchen Zugriffen realisiert werden können, die sich außerhalb sensomotorischer Verknüpfungen bewegen. Mit der Einführung optischer und akustischer Situationen öffnet sich das Bild für die Produktion neuer Bedeutungen. Es gewinnt eine konfrontative Dimension, die direkte Begegnungen ermöglicht und dem Zuschauer die Herstellung von Verknüpfungen abverlangt. Deleuze spricht auch von einem „mentalen Bild“, da der Ort der Produktion solcher Verknüpfungen das Gehirn ist. Mit „mental“ ist dabei allerdings nicht kognitiv-distanziert gemeint, denn Deleuze denkt den Film immer materiell – als Substanz, die unmittelbare perzeptive Qualitäten aufweist. Und so verhält es sich auch mit dem mentalen Bild: Es ist ein Bild, „das sich Relationen zum Gegenstand nimmt“ (Deleuze 1997a, S. 266), und dabei zu direkten Begegnungen und Zusammenstößen führt. Es hat nicht weniger Substanz als ein klassisches Wahrnehmungs- oder Aktionsbild, aber es führt zur Herstellung neuer Bezüge, die außerhalb klassischer Handlungsketten liegen. „[E]s ist ein Bild, das Gegenstände, die eine Eigenexistenz außerhalb des Denkens haben, als Gedankenobjekte behandelt, so wie ja auch die Wahrnehmungs-

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Michael Haneke kritisiert vor diesem Hintergrund die Gewaltdarstellungen in klassischen Aktionsbildfilmen, die es nach seiner Einschätzung erst möglich machen, Gewalt zu konsumieren und dabei die (zerstörerische) Dimension von Gewalt, die uns unmittelbar angeht, auszublenden (Haneke in Assheuer 2008, S. 80/ 81). In pädagogisch-filmkritischer Perspektive müsste es also nicht unbedingt darum gehen, Gewaltdarstellungen grundsätzlich zu verurteilen; sondern eher darum, die Auseinandersetzung mit solchen Gewaltdarstellungen zu ermöglichen, die die verstörende Dimension von Gewalt erst zugänglich machen.

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gegenstände durchaus eine Eigenexistenz außerhalb der Wahrnehmung haben“ (Deleuze 1997a, S. 266). Das mentale Bild führt zu der Entstehung von „Demarkierungen“ (Deleuze 1997a, S. 272) – der Herauslösung von Bildern aus vertrauten und gewohnten Zusammenhängen. Demarkierungen bewirken, dass ein Bild aus dem vertrauten Zusammenhang „herausspringt und unter Bedingungen auftaucht, die es seiner Reihe entziehen oder mit ihr in Widerspruch geraten lassen“ (Kino1, S. 272). Und solche Sprünge oder Brüche in der vertrauten Reihe befördern eine weitere Lockerung sensomotorischer Schemata. Dabei muss es sich nicht um spektakuläre Einbrüche des Außerordentlichen handeln. Einen besonders weit reichenden Effekt haben Deleuze zufolge gerade Verschiebungen und Risse im Alltäglichen: „Es ist also sehr wichtig, daß es sich um ganz gewöhnliche Elemente handelt, damit sich zunächst eines aus der Reihe lösen kann.“ (Deleuze 1997a, S. 272) Es gibt dazu etliche Filmbeispiele: Z.B. den Film „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock, in dem zunächst alltägliche Situationen und ein alltägliches Verhältnis von Mensch und Natur gezeigt werden, bis die Vögel aus diesem Zusammenhang herausgerissen werden, was zu einer schockierenden Herausforderung der Wahrnehmung führt. Auch viele Filme von Michael Haneke beginnen auf ähnliche Weise, z.B. die Filme „Funny Games“ oder „Wolfzeit“, in denen zunächst ein gewöhnlicher Familienurlaub gezeigt wird, oder der Film „Caché“, in dem Videoaufzeichnungen mit vollkommen harmlosen Alltagsszenen diesen Alltag restlos aus der Reihe springen lassen. Es klingt hier schon an, wie sich Bezüge zwischen Deleuzes filmtheoretischen Gedanken und der Frage nach Fremderfahrungsqualitäten von Filmen herstellen lassen. Diese Überlegungen sollen im folgenden Abschnitt ausgeführt und vertieft werden.

7 Zweiter Brückenschlag – Film als Medium der Fremderfahrung

In Kapitel 5 habe ich gezeigt, dass die Erfahrung des Fremden eine bildungstheoretisch paradigmatische Situation ist. Und ich habe die Annahme formuliert, dass der Film ein Medium der Fremderfahrung und damit auch ein Medium der Bildung sein kann. Waldenfels zufolge ereignen sich Fremderfahrungen dann, wenn sich etwas zeigt, indem es sich gewohnten Deutungsmustern entzieht (vgl. Kapitel 3.2). Das geschieht besonders dann, wenn die präsentative Ebene eines Gegenstandes in den Vordergrund tritt, ohne dass dieser Gegenstand dabei positiv beschreibbar und erfahrbar würde. Die Erfahrung des Fremden ist kein einfacher Erfahrungszuwachs, sondern ein grundlegender Transformationsprozess, der Urteilssysteme und -instanzen erschüttert. Mit Deleuze soll nun gezeigt werden, inwiefern Filme genau solche Erfahrungsqualitäten bergen, wie Waldenfels sie als grundlegend für die Erfahrung des Fremden beschreibt. Ich halte dabei an der Perspektive eines Subjekts fest, das sich zu der Welt und zu sich selbst in ein Verhältnis setzen kann, versuche aber mit Deleuze zu zeigen, wie offen und störbar dieser Prozess ist, und welche weit reichenden Potenziale der Film gerade dann birgt, wenn es darum geht, Begegnungen mit den Bruchlinien der Erfahrung zu ermöglichen. Beispielhaft werde ich drei zentrale Qualitäten vorstellen, deren Potenziale in Kapitel 8 anhand von Filmbeispielen konkretisiert werden. Die erste Qualität besteht darin, dass der Film als „Paradigma der Wahrnehmung“ (Sanders 2006, S. 265/ 266) Wahrnehmungen verändern und verfremden kann. Zweitens bietet der Film die Möglichkeit, Unzugängliches in seiner

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Unzugänglichkeit zu präsentieren – er bringt das Fremde als Fremdes auf besonders unausweichliche Weise in die Welt. Und im dritten Abschnitt dieses Brückenschlags geht es darum, dass der Film nicht nur ein unverbindliches Wahrnehmungsangebot ist, sondern dass er den Zuschauer befremden kann, indem er ihn in Fremdbezüge verwickelt.

7.1 F ILME

SORGEN FÜR EINE „V ERFREMDUNG VERTRAUTER E RFAHRUNG “

Die Erfahrung des Fremden kann sich dann ereignen, wenn vorhandene Verarbeitungsmuster herausgefordert werden – „wir müssen, was wir kennen mit anderen Augen sehen“ (Waldenfels 1987, S. 179/ vgl. Kapitel 5.4); sie ist also mit einer „Verfremdung vertrauter Erfahrung“ verbunden (vgl. Kapitel 5.4). Waldenfels betont immer wieder, dass es dabei nicht um spektakuläre oder exotische Erfahrungsbereiche gehen muss, sondern dass gerade die Verfremdung des Vertrauten und Alltäglichen besonders beunruhigend und befremdend – und damit vor dem Hintergrund des bisher Erarbeiteten auch besonders bildungsrelevant – sein kann. Und genau dazu kann der Film einen Beitrag leisten: Eine sehr grundlegende Möglichkeit zur Fremderfahrung ergibt sich daraus, dass Deleuze den Film als ein Medium der Bewegung betrachtet. Der Film funktioniert anders als das menschliche Denken, das auf das „Stillstellen“ von Bildern und auf die Betrachtung von Ausschnitten angewiesen ist. Die „Wirklichkeit“ (nach Bergson der kontinuierliche und bewegliche Materiestrom) wird durch unseren Zugriff fragmentiert (vgl. dazu auch Sanders 2007, S. 212). In unserem Denken werden Überschüsse, Kontingenzen und Widerständigkeiten der Weltbegegnung tendenziell ausgeblendet. Das heißt, wir nehmen „die Sache oder das Bild nie vollständig wahr; wir nehmen immer weniger wahr, nämlich nur das, was wir – aus wirtschaftlichen Interessen, ideologischen Glaubenshaltungen und psychologischen Bedürfnissen – wahrzunehmen bereit sind. Wir nehmen also normalerweise nur Klischees wahr.“ (Deleuze 1997b, S. 35)

Durch die Auseinandersetzung mit stillgestellten Ausschnitten aus der „Wirklichkeit“ werden Fremdheiten gebändigt. Im Film werden solche Po-

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tenziale dagegen freigesetzt, und zwar weil sich mit dem Film nach Deleuze die Möglichkeit einer unmittelbaren Bewegungserfahrung eröffnet. Der Film funktioniert in einem anderen Modus als unser Denken – nämlich als in Bewegung und Veränderung begriffenes visuelles Material, das stets mehr Möglichkeiten zur Wahrnehmung und Erfahrung bietet, als wir im Denken realisieren können. In dieser Vorstellung liegt auch die häufig betonte Realitätsdimension von Deleuzes Filmphilosophie – denn im Gegensatz zum Denken, das die Wirklichkeit (den Materiestrom) fragmentiert, sind Bewegungsbilder und Materiestrom für Deleuze „genau dasselbe“ (Deleuze 1997a, S. 87, vgl. Kapitel 6.2.2). Der Film bietet demnach den gleichen „Überschuss“ an Erfahrungspotenzialen wie die Wirklichkeit. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass es nicht besonders sinnvoll oder aussichtsreich scheint, sich mit den speziellen Fremderfahrungspotenzialen des Films zu beschäftigen, wenn doch Film und Materiestrom/ Wirklichkeit nach Deleuze „genau dasselbe“ sind. Denn die oben beschriebene Einschränkung des Denkens und Wahrnehmens auf „Klischees“ müsste dann in Bezug auf den Film ebenso gelten wie in Bezug auf die Wirklichkeit. Aber: Der Film funktioniert zwar im gleichen „Realitätsmodus“ wie die Wirklichkeit, unterbricht aber aufgrund seiner besonderen Kompositionsweise und aufgrund seiner besonderen Artikulationsform gewohnte Wahrnehmungsmuster und konfrontiert den Zuschauer dabei mit „Realitätsüberschüssen“, die in vorhandenen Deutungsmustern nicht aufgehen und in der Alltagswahrnehmung ausgeblendet werden. Aber worin genau besteht das Besondere der filmischen Artikulation? Wie trägt der Film dazu bei, vertraute Erfahrung zu verfremden? Wie in Kapitel 6.2.3 erwähnt, kann der Film die Wahrnehmung herausfordern, indem er ihre Richtung umkehrt. Der alltägliche Prozess der Wahrnehmung ist ein Prozess der Reduktion und ein Prozess der Zentrierung (vgl. Kapitel 6.2.3). Die Dinge werden von einer bestimmten Perspektive aus erfasst und diese Perspektive wird zum Zentrum der Wahrnehmung. So wird ein Zuschauer, der die Beziehung einer Filmfigur als konfliktreich und gefährdet wahrnimmt, vor dem Hintergrund der ihm vertrauten und gewohnten Deutungsmuster mit bestimmten Handlungsstrategien dieser Figur rechnen – wie z.B. der Initiative zu einem Krisengespräch, der Konsultation eines Beraters oder der Entscheidung zur Trennung. Sein eigenes Welt- und Selbstverhältnis wird dabei zum Zentrum der Wahrnehmung. In vielen Filmen

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werden konventionalisierte „Zentrierungen“ reproduziert, die an gängigen Ordnungsvorstellungen orientiert sind. Allerdings bietet der Film auch die Möglichkeit, „die nichtzentrierte Ebene der reinen Bewegungs-Bilder wieder zu erzeugen“ (Deleuze 1997a, S. 99), und in dieser doppelten Möglichkeit liegt die gerade erwähnte Besonderheit seiner Artikulationsweise. Ein Beispiel dafür ist der Film „Das Kind“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Zu Beginn des Films kommt die Protagonistin nach der Entbindung mit ihrem Baby nach Hause. Sie trifft den Vater des Kindes nicht wie erwartet an, findet ihn aber wenig später in einer benachbarten Straße, in der er sich gerade dem Abschluss kleinkrimineller Straßendeals widmet. Sie zeigt ihm das Kind, das er kaum beachtet, und als sie ihn drängt, das Baby in den Arm zu nehmen, schickt er sie weg. Die meisten Zuschauer werden hier annehmen, das Ende einer Beziehung gesehen zu haben. Aber wenig später treffen sich die jungen Eltern wieder, scherzen miteinander und erwähnen die beschriebene Begegnung mit keinem Wort. Die Wahrnehmung wird hier wieder in eine unzentrierte Situation hinein geöffnet. Und sie wird verfremdet, weil der eigene Zugriffsversuch scheitert und die vorgenommene Zentrierung keine Orientierung bietet, sondern vom Film unterlaufen wird. In der späteren, heiteren Begegnung der beiden Filmfiguren scheinen wieder alle Möglichkeiten offen – bis auf die zunächst aufgerufene klassische Beziehungsvorstellung, deren Basis Werte wie Vertrauen, Gemeinsamkeit, Innigkeit oder Romantik sind. Der Film zwingt den Zuschauer hier, genau hinzuschauen. Dabei hat der Film selber eine pädagogische Qualität, weil er mit einem klassischen, gerahmten Wahrnehmungsbild beginnt, anhand dessen er den Zuschauer „abholt“, sich dann aber in eine unzentrierte Wahrnehmungssituation hinein öffnet und die Wahrnehmung des Zuschauers auf diese Weise verfremdet. Der Film macht es dem Zuschauer schwer, sich auf die gesicherte eigene Wahrnehmung zurückzuziehen, weil er zunächst an genau diese Wahrnehmung anknüpft, sie aber dann überschreitet. Den Prozess der Bewegung in Richtung unzentrierter Wahrnehmungen bezeichnet André Bazin – dessen Werk eine starken Einfluss auf Deleuze hatte – auch als „leidenschaftslose“ Präsentation, die nicht von einer Handlungsabsicht bestimmt oder von einem sensomotorischen Zusammenhang gerahmt ist:

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„Der Reflex auf dem nassen Trottoir, die Geste eines Kindes – ich hätte sie im Gewebe der Welt um mich herum nicht zu entdecken vermocht; nur die Leidenschaftslosigkeit des Objektivs, das den Gegenstand von Gewohnheiten, Vorurteilen, dem ganzen spirituellen Dunst befreit, in den ihn meine Wahrnehmung hüllte, ließ ihn wieder jungfräulich werden, so daß ich ihm meine Aufmerksamkeit und meine Liebe schenkte.“ (Bazin 2004, S. 39)

In Bazins Beispiel wird ein alltäglicher Gegenstand filmisch noch einmal gegeben – und zwar ohne dass er mit „Gewohnheiten“, „Vorurteilen“ oder sensomotorischen Wahrnehmungsmustern gekoppelt ist. Er wird mit dem Film der Welt noch einmal hinzugefügt und dabei den Signifikationsprozessen des Alltags entrissen. Denn die filmische Präsentation erlaubt es, einen Gegenstand losgelöst vom signifikativen Netz des Zuschauers zu zeigen und dabei die „signifikative Differenz“ (vgl. Kapitel 3.3) wieder erfahrbar zu machen, die im Alltag leicht durch (notwendige) Normalisierungsprozesse verdeckt wird. Der Film bietet aber nicht nur die Möglichkeit, die Richtung der Wahrnehmung umzukehren, denn er bewegt sich nicht ausschließlich in Richtung unzentrierter Zusammenhänge. Ein weiteres Potenzial zur Verfremdung vertrauter Erfahrung liegt darin, dass das Filmbild eigene Zentrierungen enthält und damit einen Sonderstatus zwischen subjektiver Wahrnehmung und universeller Beweglichkeit einnimmt. Deleuze beschreibt diese Qualität mit dem Begriff des „halbsubjektiven Bildes“ (Deleuze 1997a, S. 104, vgl. oben) und meint damit, dass die Kamera nicht nur die Sichtweise einer oder mehrerer einzelner Personen zeigt, sondern dass sie den Personen folgt, sich dabei aber auch zwischen ihnen bewegt, und verschiedene – auch „objektive“, also nicht an einzelne Personen gebundene – Blickwinkel präsentiert. Deleuze spricht auch von einem „anonyme[n] Blickwinkel einer nicht-identifizierten Person unter den Personen“ (Deleuze 1997b, S. 105). Es handelt sich dabei um einen spezifisch kinematographischen Blickwinkel, in dem das „kinematographische Cogito“ (Deleuze 1997b, S. 107) zu erkennen ist, das Deleuze auch als „Kamerabewußtsein“ (Deleuze 1997b, S. 107) bezeichnet. Für eine solche Perspektive gibt es „kein Äquivalent in der natürlichen Wahrnehmung“ (Deleuze 1997a, S. 105), und gerade deshalb ist sie so geeignet, vertraute Erfahrung herauszufordern – vielleicht sogar geeigneter,

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als die „Realität“1. Wie erwähnt weist auch Waldenfels auf das besondere Fremderfahrungspotenzial der Kunst hin, allerdings ohne es medientheoretisch näher zu bestimmen (vgl. Kapitel 3.3). Der Film verfremdet die Perspektive des Eigenen, von der aus wir uns zu der Welt und zu uns Selbst in ein Verhältnis setzen. Die Perspektive, die diesseits der von Waldenfels beschriebenen „Schwelle“ liegt, die uns vom Fremden trennt. Mit den halbsubjektiven Bildern bewegt sich der Film ständig in beide Richtungen über diese Schwelle. Da er immer wieder an die eigene Wahrnehmung des Zuschauers anknüpft und diese dann erneut überschreitet, macht er die „Schwelle“ für den Zuschauer erfahrbar. „Wir werden von einem Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmungsbild und einem es transformierenden Kamerabewußtsein erfaßt“ (Deleuze 1997b, S. 107). Die eigene Perspektive wird als andersmöglich wahrnehmbar und das Sich-Einrichten in gewohnten Selbst- und Weltsichten wird erschwert. Deleuze formuliert noch radikaler: Er nimmt an, dass die halbsubjektive Perspektive der Kamera eine andere Sicht „erzwingt“ (Deleuze 1997a, S. 107). Und zwar weil sich das Filmbild nie mit der Perspektive der gezeigten Person deckt, sondern ihr stets noch eine weitere Perspektive hinzufügt: „Die Kamera sieht sie [die Person] und ihre Welt zugleich von einem anderen Standpunkt, der den Blickpunkt der Person denkt, reflektiert und transformiert.“ (Deleuze 1997a, S. 106/ 107). Und dabei befreit der Film „das Subjekt aus seiner Verankerung ebenso wie von der Horizontgebundenheit seiner Sicht der Welt, indem er die Bedingungen der natürlichen Wahrnehmung durch ein implizites Wissen und eine zweite Intentionalität ersetzt“ (Deleuze 1997a, S. 85). Natürlich führt das nicht bei jedem Film zu einer Verfremdung der Erfahrung. Es gibt auch Filme, die mit einem klassischen Wahrnehmungsbild beginnen, und dieses dann innerhalb eines sensomotorischen Zusammenhangs (diesseits der Schwelle) weiterverknüpfen. Dabei kann das „Kamera-

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Die Tatsache, dass es hier um eine filmspezifische Erfahrungsqualität geht, verdient m.E. besondere Beachtung. Denn sowohl im Alltagsverständnis als auch in Teilen der pädagogischen und medienpädagogischen Diskussion wird das Medium Film im Vergleich zur Realität tendenziell als „ärmere“ Erfahrungsmöglichkeit gedacht. Nicht selten werden mediale Erfahrungen dabei als „Erfahrungen aus zweiter Hand“ bewertet, die nie so intensiv oder so bedeutsam sein können, wie „wirkliche“ Erfahrungen.

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bewusstsein“ sehr eng mit der Perspektive der gezeigten Person verbunden sein, und so die Wahrnehmung des Zuschauers gerade nicht verfremden, sondern in ihrer jeweiligen „Horizontgebundenheit“ bestätigen und verfestigen. Grundsätzlich ist eine Herausforderung der Wahrnehmung dann wahrscheinlich, wenn ihre Fortsetzung in eine Handlung hinein verhindert wird – wie in dem erwähnten Filmbeispiel, in dem keine Handlung stattfindet, die sich auf die Ebene der vermeintlich ungeklärten Beziehung bezieht. Zusätzliche Erfahrungsmöglichkeiten ergeben sich Deleuze zufolge besonders dann, wenn gewohnte Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmuster „blockiert sind oder zerbrechen“ (Deleuze 1997b, S. 35) – und genau darin liegt ein Potenzial des Films: er kann aufgrund seiner spezifischen Ausdrucksform vorhandene Wahrnehmungsmuster blockieren, zerbrechen oder verfremden. Aber Filme können nicht nur die Erfahrung verfremden, indem sie vertraute Zugangsweisen „zerbrechen“, sondern sie haben das Potenzial, an dieser Bruchstelle etwas zu zeigen, das sich dem Wiedererkennen entzieht; „den Klischees ein wirkliches Bild [zu] entreißen“ (Deleuze 1997b, S. 36), also die Begegnung mit etwas Realem zu ermöglichen, das „seiner Transformation in ein Klischee widersteht“ (Francois/ Thomas 1999, S. 233). Um dieses Potenzial zur Konfrontation mit etwas, das sich zeigt, indem es sich entzieht, geht es im folgenden Abschnitt.

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PRÄSENTIEREN U NZUGÄNGLICHES IN SEINER U NZUGÄNGLICHKEIT

Fremdes ist nicht direkt zugänglich, sondern in seiner Unzugänglichkeit als Fremdes erfahrbar. Fremderfahrungen entstehen, wenn die präsentative Ebene eines Gegenstands in den Vordergrund tritt und die signifikative Differenz erfahrbar macht; wenn etwas nicht mehr „als etwas“ erscheint und sich gewohnten Deutungsmustern entzieht (vgl. Kapitel 3.3). Vor diesem Hintergrund lassen sich unter Rückgriff auf Deleuzes Filmverständnis weitere Potenziale des Films als Medium der Fremderfahrung beschreiben. Deleuze denkt den Film nicht als Instrument der Repräsentation (vgl. Kapitel 6.2.1), also nicht als Medium der Darstellung von etwas Vorhandenem, das an anderer Stelle genauso oder sogar noch direkter erlebt werden

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könnte. Und er denkt den Film auch nicht als ein Ausgesagtes, als Wiedergabe eines bereits gedachten Gedanken. Sondern er denkt den Film als Modus der Produktion einer Wirklichkeit, die auf diese Weise nirgendwo sonst gegeben ist. Als Medium der Präsentation eines Fremden, Verwirrenden oder Ungedachten. Der Film macht dabei nicht Unzugängliches einfach zugänglich, sondern er präsentiert es auf besonders unausweichliche Weise in seiner Unzugänglichkeit. Und bietet damit eine subsumptionsresistente Erfahrungsmöglichkeit, die zu einer Antwort herausfordert. Die Möglichkeit der Präsenz eines Unzugänglichen beschreibt Deleuze bereits in Bezug auf das klassische Bewegungsbild, und er verschärft sie in seinen Überlegungen zum Zeitbild. Im Bewegungsbild-Kino hat vor allem das Affektbild eine präsentative Qualität. Denn das Affektbild ist ein „Zwischen“ zwischen Wahrnehmung und Aktion, das auch als „gesteigerte Wahrnehmung“ betrachtet werden kann. Die „Wirkung“ der Bilder geht über die Wahrnehmung hinaus, mündet aber nicht in eine Reaktion. Es entsteht ein Spannungszustand, der Waldenfels’ Beschreibung des „Angesprochen-Seins“ oder „GetroffenSeins“ ähnelt. Allerdings spricht Waldenfels von einem Pathos, das sich nie direkt erreichen und festhalten lässt, sondern das Teil einer „sich selbst verschobenen Erfahrung“ (der Diastase) ist und erst in der nachträglichen Antwort zum Pathos wird (vgl. Kapitel 5.4). Im Unterschied dazu konzipiert Deleuze das Affektbild als einen Erregungszustand, der sich durch seine besondere Gegenwärtigkeit auszeichnet. „Der Affekt ist das, was das Intervall in Beschlag nimmt, ohne es zu füllen oder gar auszufüllen. Er taucht plötzlich in einem Indeterminationszentrum auf, das heißt in einem Subjekt, zwischen einer in gewisser Hinsicht verwirrenden Wahrnehmung und einer verzögerten Handlung.“ (Deleuze 1997a, S. 96) Den von Deleuze erwähnten Moment des Gewahrwerdens einer „verwirrenden Wahrnehmung“ würde Waldenfels wahrscheinlich schon als Antwort betrachten und nicht mehr als Teil des Angesprochen-Seins. Insofern führt Deleuze hier eine Ebene ein, die Waldenfels mit dem Konzept der Diastase „überspringt“. Im klassischen Bewegungsbild wird dieser Spannungszustand allerdings nicht selten dadurch aufgelöst, dass die Situation mit einer Handlung

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abgeschlossen wird2. Verschärft wird ein solcher Spannungszustand dagegen, wenn der sensomotorische Zusammenhang reißt, und der Zuschauer sich nicht an Handlungszusammenhängen orientieren kann, sondern einer intensiven Wahrnehmungserfordernis ausgesetzt ist. „Der sensomotorische Bruch macht aus dem Menschen einen sehenden, der sich von etwas Unerträglichen in der Welt getroffen und der sich etwas Undenkbarem im Denken konfrontiert fühlt.“ (Deleuze 1997b, S. 221) Das Herauslösen des Gezeigten aus alltäglichen sensomotorischen Deutungszusammenhängen – das weiter oben unter dem Begriff der „Demarkierung“ eingeführt wurde (vgl. Kapitel 6.3.5) – führt dabei zu „schockartige[n] Zusammenstöße[n]“ (Deleuze 1997a, S. 274). 7.2.1 Perzeptive Dimension Doch auf welche Weise ist das Unzugängliche im Film in seiner Unzugänglichkeit präsent? Im Kino ist „Präsenz“ etwas anderes als im Alltag oder im Theater. Sie zeichnet sich nicht durch eine klassische Anwesenheit von Körpern aus, sondern es gibt eine „spezifisch kinematographische Modalität von Präsenz“ (Deleuze 1997b, S. 259). Das Kino bringt nicht einen leiblichen Körper oder eine dingliche Welt hervor, sondern es zeigt Bilder von Körpern und Welten, die gegenwärtig und gleichzeitig unzugänglich sind. „[E]s verwirrt das Sichtbare und hält die Welt in der Schwebe, was jeder natürlichen Wahrnehmung widerspricht. Was es so hervorruft, ist ein Werden eines ‚unbekannten Körpers‘, den wir hinter unserem Kopf haben, vergleichbar dem Ungedachten im Denken: es ist dies die Geburt des Sichtbaren, das sich noch dem Blick entzieht“ (Deleuze 1997b, S. 259).

Die „Geburt des Sichtbaren“, die Entstehung von etwas Neuem, bringt auch Waldenfels mit der Kunst in Verbindung. Auch er betont die expressive

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Für viele Zuschauer liegt darin der besondere Genuss des „Nervenkitzel-Kinos“, das sich durch Verwirrspiele, Überraschungen oder Schockeffekte auszeichnet, die aber spätestens am Ende des Films als Puzzleteile eines Gesamtbildes verstanden und eingeordnet werden können. Michael Haneke nennt das den „beliebte[n] Geisterbahneffekt, der nicht weh tut“ (Haneke in Assheuer 2008, S. 80).

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Dimension von Bildern: „Darstellung bedeutet dann nicht mehr Darstellung von etwas, das außerhalb des Bildes gegeben ist, sie bedeutet vielmehr, daß etwas entsteht, indem es sich verbildlicht.“ (Waldenfels 1999, S. 120, Herv. H.W.) Die Entstehung durch Verbildlichung ist eine zentrale Vorstellung in Deleuzes Kinodenken. Er nimmt an, dass die Gegenstände in einem Filmbild nicht auf eine äußere Wirklichkeit verweisen, sondern zum Material der Produktion von Bedeutungen werden, „zu den Buchstaben des Filmischen“ (Engell/ Fahle 2003, S. 234). Und anhand dieser „Buchstaben“ zeigt sich etwas, das sich vorhandenen Zugängen entzieht; etwas Fremdes, das als Fremdes zugänglich wird. Deleuze beschäftigt sich unter anderem anhand des „politischen Films“ mit diesem Potenzial. Dabei denkt er aber nicht an „Mobilisierungsfilme“, in denen es darum geht, bestimmten Gruppen eine Stimme zu geben, und in ihrem Namen politische Aktivitäten zu fordern. Denn solche Filme sind eher am Modell der „großen Erzählungen“ und des klassischen Aktionsfilms orientiert, das nach Deleuze nicht mehr überzeugt, weil es in ihm darum geht, eine umfassende Lösung für ein allgemeingültiges Problem zu finden. Die gegenwärtige Situation ist Deleuze zufolge eher durch eine Partikularisierung gekennzeichnet, durch ein „fehlende[s] Volk“ (Deleuze 1997b, S. 280). Anhand der schon mehrfach erwähnten Spielfilme von Jean-Pierre und Luc Dardenne lässt sich dieser Gedanke verdeutlichen. Als „politisches“ Kino zeigen sie das, was Deleuze als das „fehlende Volk“ (Deleuze 1997b, S. 280) bezeichnet, nämlich die Unmöglichkeit, gesellschaftliche Gruppen und Minoritäten in vorhandenen Begriffen und Sinnhorizonten als homogene Einheiten zu denken. Für Mitglieder von Minoritäten gibt es (noch) keine Möglichkeit des Ausdrucks. Denn einerseits gehören sie zu einer bestimmten „Gruppe“ (die z.B. als „Unterschicht“, „sozial benachteiligt“ oder „bildungsfern“ klassifiziert wird), und andererseits stehen im politischen Kino gerade die Legitimität und die Unumstößlichkeit dieser Klassifikation in Frage. Es gibt also keinen „positiven Ort“, von dem aus gesprochen werden könnte. Und das spiegelt sich in der Ortlosigkeit der Dardenne-Figuren. Sie unternehmen ständig Streifzüge im urbanen Raum und halten sich dort auf, wo niemand einen festen Platz hat; auf Campingplätzen („Rosetta“), in einem mobilen Waffelverkaufswagen („Rosetta“), auf der Straße („Das Kind“) oder in der Ruine eines verlassenen Wohnhauses („Das Versprechen“). Nach Deleuze ist es im politischen Kino erforderlich, neue Darstel-

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lungsformen zu erfinden, die gerade nicht mit dem Anspruch auf umfassende Repräsentation verbunden sind, sondern das zeigen, was in solchen Repräsentationen nicht aufgeht. Ziel ist dabei nicht, vormals Ausgeschlossenes umfassend einzuschließen, sondern das zu zeigen, was sich vorhandenen Artikulationsmöglichkeiten entzieht. In Bezug auf das politische Kino kann das nach Deleuze ein „gegenwärtiges Erleben“ (Deleuze 1997b, S. 286) sein, das sich gerade auf die Unmöglichkeit bezieht, in dieser Gesellschaft zu leben. Wie z.B. das Erleben der Dardenne-Figuren, das sehr präsent und gegenwärtig ist, und sich gleichzeitig durch eine grundlegende Heimatlosigkeit, durch ein Freigesetzt-Sein auszeichnet. Deleuze entwickelt dabei allerdings nicht die Vorstellung einer positiven Repräsentation, die Grundlage einer gesellschaftlichen Umwälzung sein könnte; denn eine solche Repräsentation bliebe an vorhandene Ausdrucksmöglichkeiten gebunden und müsste diese bestätigen3. Es geht nicht um die Produktion, „besserer“ oder „richtigerer“ Bilder, die als „gültig“ festgehalten werden könnten, sondern um ein andauerndes Werden. Um die Entstehung und Erfindung neuer Ausdrucksmöglichkeiten. Mit Deleuzes Worten um ein „Fabulieren“, das sich als „fremde Sprache in einer herrschenden Sprache“ (Deleuze 1997b, S. 287) zeigt, indem es sich entzieht. Deleuze beschreibt hier ein Kino, das „in der Lage ist, uns die Welt und den Körper von dem aus, was ihre Abwesenheit bezeichnet, zurückzugeben.“ (Deleuze 1997b, S. 260) Also vom Fremden aus und als Fremdes. In den genannten Filmen ist das z.B. die Abwesenheit von Zugehörigkeiten (in dem Film „Das Kind“ wird aus Geldnot zwischenzeitlich sogar der Nachwuchs verkauft) und Handlungsmöglichkeiten (die ihren Ausdruck z.B. in den Ohnmachten der Frauen in „Rosetta“ und „Das Kind“ findet). Präsenz entsteht hier im Sinne einer „anwesenden Abwesenheit“, die direkt erfahrbar ist. Z.B. über die körperliche Anstrengung und Erschöpfung der Figuren, die optisch und akustisch vermittelt wird, aber auch über die andauernde Spannung, die sich daraus ergibt, dass die Bedürfnisse der Figuren mit den gesellschaftlichen Möglichkeiten kollidieren.

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Dazu gibt es sehr viele Filmbeispiele – wie die Geschichten vom „kleinen Mann“, der sein Schicksal beherzt in die Hand nimmt, und etwas aus sich macht, z.B. „Ganz oder gar nicht“ und zahlreiche Filme von Ken Loach. Diese weisen häufig die Form des klassischen Aktionsbildes (SAS’) auf.

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Der Film präsentiert etwas Unzugängliches, das sich einer symbolischen Betrachtungsweise entzieht, einen „dritten Sinn“ (Barthes 1990, S. 48), der nicht in vorhandenen Analysekategorien aufgeht. Diese präsentative Dimension hat eine konfrontative Qualität, weil die Bilder sichtbar und gegenwärtig sind und als „perzeptives Gegenüber“ funktionieren, das einen Zusammenstoß ermöglicht. Der Film bringt sinnlich etwas in die Welt, das sich dem denkenden, verbalisierenden oder einordnenden Zugriff entzieht. Diese konfrontative Qualität wird durch die zeitliche Verfasstheit des Films verschärft. 7.2.2 Zeitliche Dimension Der Riss des sensomotorischen Bandes führt nicht nur über eine perzeptive Ebene zu der Begegnung mit etwas Unzugänglichem, sondern auch über eine zeitliche: „Das aktuelle Bild, abgeschnitten von seiner motorischen Fortsetzung, tritt in Beziehung mit einem virtuellen Bild“ (Deleuze 1993, S. 78). Und dabei wird z.B. im Kristallbild die Dimension des Virtuellen auf besonders unausweichliche Weise präsent. Auch hier bietet die besondere Artikulationsform des Films spezifische Fremderfahrungspotenziale. Denn das Kristallbild lässt den „Kristallisationspunkt“ (vgl. Kapitel 6.2.4) andauern, einen Punkt, dessen wir normalerweise erst nachträglich, von der aktuellen Gegenwart aus, gewahr werden. Etwas zugespitzt lässt sich sagen, dass Deleuze mit dieser Vorstellung den von Waldenfels beschriebenen Moment der Diastase „dehnt“. Waldenfels denkt die Erfahrung des Fremden als vorgängiges Getroffen-Sein, dessen wir erst nachträglich gewahr werden. Über die zeitliche Dimension des Films wird der Moment des Getroffen-Seins aber in ein andauerndes Ausgesetzt-Sein hinein „gestreckt“ – was der natürlichen Wahrnehmung wiederum widerspricht. Deleuze beschreibt dies explizit als Eigenschaft des ZeitBildes: „sein Paradox besteht darin, ein Intervall einzuführen, das im Augenblick selbst andauert“ (Deleuze 1997b, S. 204). Gerade diese Abweichung von der natürlichen Wahrnehmung führt zu erweiterten Fremderfahrungsmöglichkeiten. Denn in der Alltagswahrnehmung wird das vorgängige Getroffen-Sein, von dem Waldenfels spricht, häufig sehr schnell mit Hilfe vertrauter Deutungsmuster entschärft. Deshalb betont Waldenfels auch, dass die nachträgliche Rationalisierung eines Ereignisses als starke Erfahrung keinesfalls mit der Erfahrung selber verwechselt werden darf (Wal-

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denfels 2002, S. 33). Und auch Deleuze weist darauf hin, dass potenzielle Bruchstellen im Erleben sich der Wahrnehmung tendenziell entziehen: „die Verzweigungspunkte sind meistens für die Wahrnehmung derart unzugänglich, daß sie sich erst im Nachhinein einem attentiven Gedächtnis enthüllen können. Es handelt sich um eine Geschichte, die nur in der Vergangenheit erzählt werden kann.“ (Deleuze 1997b, S. 72)

Im Gegensatz dazu wird im Film eine Form der Gegenwärtigkeit produziert, die andauert und den Rückzug auf das Eigene erschwert. Daher wird das Gefühl, etwas kaum auszuhalten, an Filmen gelegentlich besonders intensiv erlebt – nicht selten verbunden mit heftigen vegetativen Reaktionen wie Schwitzen, Schwindel, Tränen oder Ohnmacht. In dem Film „Caché“4 von Michael Haneke wird auf eindringliche Weise Gegenwärtigkeit produziert, indem immer wieder Videosequenzen mit Szenen aus dem Alltag des Protagonisten gezeigt werden. Für den Zuschauer ist nicht zu jeder Zeit eindeutig, ob er gerade eine aktuelle Gegenwart oder eine Videoaufzeichnung sieht. Aktuelles und Virtuelles überlagern sich, denn die Videosequenzen aus der Vergangenheit dauern in der filmischen Gegenwart an und lassen die Ordnung, innerhalb derer der Alltag des Protagonisten abläuft, brüchig werden. Anhand der virtuellen Bilder aus der Vergangenheit wird erfahrbar, dass die Gegenwart von der Vergangenheit heimgesucht und verändert werden kann. Dass jede (auch scheinbar völlig unspektakuläre) Alltagssituation potenzielle Bruchstellen aufweist, an denen das Leben einen völlig anderen Lauf nehmen könnte, dass also jede Gegenwart kontingent ist. Und dieser Erfahrung wird der Zuschauer genauso ausgesetzt wie der Protagonist, der auf bestimmte „Verzweigungspunkte“ seiner Vergangenheit zurückkommt, was zu einer grundlegenden Veränderung seiner Gegenwart führt. Diese Erfahrung bekommt ihr Gewicht aber nicht nur, weil sie, wie gerade ausgeführt, eine perzeptive und eine zeitliche Dimension hat, sondern auch, weil der Film den Zuschauer in einen Auseinandersetzungsprozess verwickelt. Der Zuschauer ist ebenso aufgefordert, neue Verknüpfungen zu produzieren, wie der Protagonist. Und um diese Herausforderung geht es im folgenden Abschnitt.

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Ich verzichte hier auf eine ausführlichere Betrachtung des Films, weil dieser in Kapitel 8.1 Gegenstand einer genaueren Analyse sein wird.

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7.3 F ILME VERWICKELN Z USCHAUER IN F REMDBEZÜGE UND LÖSEN T RANSFORMATIONSPROZESSE AUS Die Erfahrung des Fremden ist ein Prozess, im Rahmen dessen das Eigene entsteht, der aber nicht der Regie des Subjekts unterliegt. Das Fremde spricht uns an, es trifft uns unwillkürlich, und es zeichnet sich durch seine Nichtassimilierbarkeit aus. Deshalb erfordert die Erfahrung des Fremden eine kreative Antwort, im Rahmen derer neuer Sinn entsteht (vgl. Kapitel 3.6). In gewisser Weise beschäftigt sich auch Deleuze mit der Erfordernis, eine “kreative Antwort“ auf eine verwirrende oder schockierende Erfahrung zu geben, denn er denkt das Kino nicht als „Repräsentationsapparat“, sondern als Anordnung, „in which the brain is the screen and in which ‚subjects‘ are formed by acting and reacting to various images on a plane of immanence“ (Pisters 2003, S. 27). Filme sind keine Darstellungsinstrumente, sondern Medien der Herstellung, Verknüpfung (und Unterbrechung) von Beziehungen. Filmrezeption ist ein Prozess des Sich-in-ein-VerhältnisSetzens, wobei Deleuze diesen Prozess nicht als Leistung des vorgängigen Subjekts denkt, sondern als Dimension der Subjektkonstitution. Diese Vorstellung ergibt sich aus seinem immanenten Filmdenken, in dem klassische Gegensätze wie „Körper und Geist“ oder „Wahrnehmung und Bild“ oder „Subjekt und Objekt“ aufgehoben sind (vgl. Kapitel 6.2.2 und 6.2.3). Das Subjekt wird von Deleuze, genau wie die Bilder, auf der Ebene der Immanenz verortet – als ein (besonderes) Bild unter Bildern. Das Subjekt kann in dieser Vorstellung nicht auf einen transzendentalen Bereich von Sinn und Bedeutung zurückgreifen, der ihm Sicherheit und Orientierung bietet, sondern der Prozess der Subjektkonstitution ist ein Prozess der Herstellung kontingenter und fragiler Verknüpfungen. Die Erfordernis, solche Verknüpfungen herzustellen, wird mit dem Bruch des sensomotorischen Zusammenhangs verschärft: „Da Empfindungen und Wahrnehmungen also gleichsam von ihrem motorischen Wiedererkennen und Weiterführen abgeschnitten sind, müssen neue Bilderordnungen und -verkettungen gesucht werden.“ (Fahle 2002, S. 100) Die Beziehungen des Menschen zu sich und zur Welt werden infrage gestellt, weil vorhandene Wahrnehmungsmuster am Film „abrutschen“. Es entsteht eine

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grundlegende Verunsicherung, die uns dazu zwingt, uns zu uns selbst und der Welt in ein anderes Verhältnis zu setzen. Der Film kann dafür einen Möglichkeitsraum eröffnen. Denn durch die oben beschriebene Freisetzung der Instanzen wird der Zuschauer immer wieder über seine Perspektive verunsichert. Es gibt nicht eine alternativlose Gegenwart, sondern eine Gleichzeitigkeit verschiedener Möglichkeiten (wie sie z.B. im Kristallbild besonders deutlich wird). Und es gibt nicht nur eine Handlungsperspektive, die z.B. vom Protagonisten repräsentiert und vom Zuschauer nachvollzogen wird, sondern es gibt verschiedene Wahrnehmungsmöglichkeiten, die einen Verarbeitungsprozess erforderlich machen, der über das Wiedererkennen und Einordnen hinausgeht. Diese Koexistenz der Möglichkeiten, die vor allem in modernen Zeitbild-Filmen gegeben ist, verhindert ein Sich-Einrichten im Eigenen. Die potenzielle Fremdheit des Eigenen wird auf diese Weise erfahrbar. Aber eine Fremderfahrungsmöglichkeit liegt nicht nur in einer derartigen Verunsicherung des Eigenen, sondern auch in einer Verwicklung in Fremdes. Im Anschluss an Deleuzes Überlegungen lässt sich die Annahme formulieren, dass der Film zum „Erleben fremden Erlebens“ zwingt. Und zwar nicht, indem er es uns erlaubt, uns einer zwar noch nicht real gemachten, aber potenziell anschlussfähigen Erfahrung hinzugeben und diese imaginär mitzuerleben5. Sondern indem er uns in Erlebensweisen verwickelt, die sich unseren Welt- und Selbstverhältnissen entziehen oder widersetzen. In diesem Sinne hat das Kino einen Bezug auf ein Denken, „dessen Eigenheit darin besteht, noch nicht zu sein“ (Deleuze 1997b, S. 220). In Deleuzes immanentem Filmdenken geht es dabei nicht um unverbindliche Wahrnehmungsangebote, sondern um grundlegende Verunsicherungen, die – wie oben ausgeführt – eine sehr gegenwärtige und konfrontative Qualität haben können. Der Grund dafür liegt darin, dass es ohne eine transzendente Perspektive keinen Blick geben kann, der von außen auf einen Gegenstand gerichtet wird. In einer immanent gedachten Situation gehören der Blick und der Gegenstand nicht getrennten Sphären an, und können auch nicht unabhängig voneinander variieren – indem z.B. anhand übergeordneter Maßstäbe unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand erprobt werden. Vielmehr ist der Gegenstand mit einem Blickwinkel

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Wie es häufig bei Märchen und klassischen Heldengeschichten möglich ist – wie z.B. „Pretty Woman“ oder „Independence Day“.

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verknüpft, der ebenso wie der Gegenstand direkten Transformationen unterliegt: „Es gibt einen Gesichtspunkt, der so sehr zur Sache gehört, daß sie sich unablässig in einem Werden transformiert, das mit dem Gesichtspunkt identisch ist.“ (Deleuze 1997b, S. 194). Der Gesichtspunkt und das Werden der Sache sind identisch. Diese Qualität ermöglicht bzw. erzwingt im Kino ein „Erleben fremden Erlebens“. Deleuze situiert den Zuschauer und das filmische Geschehen so konsequent auf einer immanenten Ebene, dass es keine äußere Position gibt, auf die der Zuschauer ausweichen könnte. Mit dem Werden der Geschichte erlebt er eine sich beständig verändernde Perspektive auf das Geschehen. In Bezug auf die Subjektposition des Zuschauers spricht Pisters (2003) in diesem Zusammenhang auch von Effekten des „rezoning “ (ebd., S. 56)6. Dieser Gedanke lässt sich wieder mit Hinweis auf die Filme von Luc und Jean-Pierre Dardenne konkretisieren. Denn deren Filme sind konsequent immanent konzipiert (vgl. dazu Ahrens 2010). Sie beziehen sich nicht auf äußere Welten, aus denen Gefahren drohen oder Glücksversprechen locken, und sie bieten keine übergeordnete Betrachtungsebene, von der aus das Geschehen umfassend verstanden oder bewertet werden könnte. Der Zuschauer weiß in den Filmen nie mehr als die jeweils gezeigte Figur. In dem Film „Rosetta“ folgt die Kamera der Protagonistin stets von hinten und blickt ihr gelegentlich über die Schulter. Wie oben erwähnt, kann der Zu-

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An dieser Stelle gibt es eine deutliche Grenze für die Verknüpfung von Waldenfels’ und Deleuzes Denken. Denn Deleuze denkt kein Subjekt, das sich intentional zu einem Erfahrungsbereich in ein Verhältnis setzen könnte, während Waldenfels davon ausgeht, dass es ein Subjekt gibt, welches mit einem intentionalen Bewusstsein ausgestattet ist. Das Waldenfelssche Subjekt kann daher nicht in einen immanenten Transformationsprozess verwickelt sein, wie Deleuze ihn hier beschreibt. Aber das Subjekt, wie Waldenfels es denkt, kann von einem immanent konzipierten Film (vgl. das Beispiel im folgenden Absatz) herausgefordert werden, der sicher geglaubte Selbstbezüge brüchig werden lässt, indem er die Orientierung an einer übergeordneten Perspektive verhindert und dabei Fremdbezüge erzwingt. Hier wird deutlich, dass Deleuzes Konzepte – wie einführend erwähnt (vgl. Kapitel 6.1.3) auch in Verbindung mit weniger radikalen Referenztheorien anregend bleiben. Aus diesem Grund scheint mir der Rückgriff auf Deleuze berechtigt und aufschlussreich, auch wenn ich seinem Denken nicht in vollem Umfang folge.

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schauer an diese gerahmten Wahrnehmungsbilder anknüpfen. Er folgt Rosetta auf ihren Streifzügen durch die Stadt, bei ihrer Suche nach Arbeit, und bei der Kontaktaufnahme mit einem Kollegen. Rosettas Entscheidungen und Handlungen widersetzen sich häufig gängigen Ordnungs- und Wertvorstellungen: So verrät sie z.B. ihren einzigen Freund, um an einen Job zu kommen, und sie unternimmt in dem Moment einen Selbstmordversuch, in dem ihr Leben einigermaßen geordnet scheint. Der Zuschauer ist sich verändernden Wahrnehmungserfordernissen ausgesetzt – er wird in Rosettas Perspektive verwickelt, die sich häufig auf überraschende und verwirrende Weise verändert. Er wird zum „Erleben fremden Erlebens“ gezwungen, weil es keine Perspektive gibt, von der aus ein konsistenter Wahrnehmungs-Aktions-Zusammenhang hergestellt werden könnte. Der Zuschauer ist herausgefordert, neue Verknüpfungen herzustellen und sich mit dem „Undenkbaren im Denken“ (Deleuze 1997b, S. 219) zu beschäftigen. Mit dem gegenwärtigen, aber „unmöglichen“ Erleben der Figuren (vgl. Kapitel 7.2.1). Dieser Prozess hat eine schöpferische Dimension, denn er ermöglicht die Entstehung neuer Bedeutungen und neuer Weltund Selbstverhältnisse. Deleuze schreibt dem Kino in diesem Zusammenhang das Potenzial zu, „[u]ns den Glauben an die Welt zurückzugeben“ (Deleuze 1997b, S. 224). Allerdings nicht in dem Sinne eines Glaubens an eine bessere Welt, sondern im Sinne eines Verhältnisses zum „Unmöglichen“. Damit ist eine Haltung gemeint, die dem Virtuellen im Aktuellen oder dem Fremden im Eigenen verbunden bleibt. Es wird deutlich, dass die von Waldenfels beschriebene Erfordernis, auf eine Fremderfahrung kreativ zu antworten, Gemeinsamkeiten mit der von Deleuze formulierten Aufgabe hat, anhand einer Filmerfahrung neue Verknüpfungen zu produzieren. In beiden Fällen ist es notwendig, etwas zu „geben, was wir nicht haben“ (Waldenfels 1997, S. 53). In einem solchen transformatorischen „Output“ wird häufig der eigentliche Ertrag von Bildungsprozessen gesehen. In Kapitel 5.4 habe ich bereits darauf hingewiesen, dass der Prozess der Fremderfahrung (den ich unter bestimmten Voraussetzungen als Bildungsprozess betrachte – vgl. ebd.) ein nicht abschließbares Geschehen ist. Er ist vielmehr ein Zusammenspiel aus Pathos und Response, das nicht in einer endgültigen Antwort zu Ruhe kommt, die als Ergebnis eines gelungenen Auseinandersetzungsprozesses festgehalten werden könnte.

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Deleuze äußert sich ähnlich, und darin liegt auch die normative Dimension seines Filmdenkens: Es gibt für Deleuze kein „Richtiges“ oder „Gültiges“, in dem es sich einzurichten gilt, sondern die Notwendigkeit unablässiger Transformation. Verdächtig sind Deleuze vor diesem Hintergrund feststehende und endgültige Formen, in denen Ausgeschlossenes auch ausgeschlossen bleibt. Gelungene Ausdruckformen sind für ihn solche, die sich durch ein ständiges „Werden“ auszeichnen, die die Schöpfung neuer Möglichkeiten zulassen, die sich wandeln und verändern können. In diesem Zusammenhang soll noch einmal an Deleuzes erste Bestimmung des Films als Medium der Bewegung erinnert werden, also als Medium, dessen Artikulationsform bereits einem Werden verbunden ist, das nicht in stillgestellten Momentaufnahmen erfasst werden kann. Hier wird auch noch einmal deutlich, dass Deleuze nicht in jedem Film das gleiche schöpferische Potenzial sieht. Klassische Aktionsfilme (in denen gesellschaftliche Probleme z.B. von einem souveränen Helden aus der Welt geschafft werden) dürften eine Auseinandersetzung mit dem Fremden im Eigenen oder die Produktion neuer Verknüpfungen eher verhindern, weil sie die Perspektive des Eigenen aufrufen und bestätigen. In Kapitel 9.1 werde ich aus den bisher vorgestellten Gedanken Kriterien für die Auswahl von solchen Filmen ableiten, die m.E. besonders geeignet sind, Fremderfahrungen zu ermöglichen.

8 Filmbeispiele

Grundsätzliche Fremderfahrungsqualitäten des Films sind im vorigen Kapitel – zumindest exemplarisch – deutlich geworden. Bis zu dieser Stelle meiner Arbeit sind damit zwei Überlegungen eingeführt und begründet: Nämlich erstens die Überlegung, dass die Erfahrung des Fremden eine bildungstheoretisch bedeutsame Situation ist (vgl. Kapitel 5) und zweitens die Überlegung, dass der Film ein Medium der Fremderfahrung sein kann (vgl. Kapitel 7). Über die „Brücke“ der Fremderfahrung zeichnet sich also bereits eine Berührung zwischen Bildung und Film ab: Bildung ist auf Fremderfahrungen angewiesen, und Film kann Fremderfahrungen ermöglichen. Der Gedanke einer Film-Bildung im Zeichen des Fremden soll vor diesem Hintergrund nun anhand von vier Filmbeispielen konkretisiert werden. Ich werde dazu für jede der in Kapitel 4 eingeführten Dimensionen von Bildung zeigen, wie ein Film die jeweils konstitutive Fremderfahrung bieten und auf diese Weise eine „Möglichkeitsbedingung“ für Bildung eröffnen kann (vgl. Kapitel 5.4). Es wird sich dabei erweisen, dass Filme Erfahrungspotenziale mit sich bringen können, die auf diese Weise nirgendwo sonst gegeben sind, und dass sie Bildungsmöglichkeiten entstehen lassen, die weit über den Erwerb von Wissen und Können hinausgehen, um den es in aktuellen filmpädagogischen Konzepten häufig geht (vgl. Kapitel 2.2). Zu den ersten vier der in Kapitel 4 eingeführten Bildungsdimensionen habe ich Beispielfilme ausgewählt, in denen die für diese Dimensionen bedeutsamen Erfahrungsbereiche m.E. jeweils besonders im Vordergrund stehen:

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Für Dimension 1 – das Bildungssubjekt – ist es der bereits erwähnte Film „Caché“ von Michael Haneke, für Dimension 2 – Bildung und Gesellschaft – ist es der Film „L’esquive“ von Abdellatif Kechiche, für Dimension 3 – Bildung und Normativität – habe ich den ebenfalls bereits kurz angesprochenen Film „Der Sohn“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne ausgewählt, und Dimension 4 – die Prozessstruktur von Bildung – werde ich anhand des Films „Gespenster“ von Christian Petzold betrachten.

Zu Dimension 5 werde ich kein Filmbeispiel analysieren, weil ich in dieser Arbeit keine bildungsforscherische Perspektive einnehme. In Kapitel 10 werde ich aber noch einen kurzen Ausblick zu den Möglichkeiten geben, die ich in dieser Hinsicht sehe. Bei der Auswahl meiner Filmbeispiele habe ich mich bewusst für solche Filme entschieden, die formal und inhaltlich zumindest Berührungspunkte zu Sehgewohnheiten und Alltagsthemen Heranwachsender aufweisen. Denn wie schon mehrfach erwähnt, können Fremderfahrungen nicht nur durch spektakuläre Einbrüche des Außerordentlichen ausgelöst werden, sondern auch bzw. gerade durch die Verschiebungen und Brüche im Alltäglichen. Deleuze betont diese Qualität, indem er „Demarkierungen“ als Abweichungen vom Alltäglichen fasst, die aber mit dem Bezug auf das Alltägliche beginnen (vgl. Kapitel 6.3.5). Die verbreitete Beschäftigung mit dem spektakulären und fernen Außerordentlichen (wie Kriegen, Katastrophen oder existenziellen Grenzsituationen) führt m.E. nicht selten dazu, dass gerade dieses Fremde im Eigenen, das vorhandene Welt- und Selbstverhältnisse unmittelbar betrifft, übersehen oder ausgeblendet wird. Ein weiteres Auswahlkriterium war die unproblematische Zugänglichkeit der Filme – alle Filme sind auf DVD erhältlich und können bei Interesse und Bedarf im Buchhandel bestellt oder in Videotheken entliehen werden. Da sich das Fremde nicht positiv identifizieren oder beschreiben lässt (vgl. Kapitel 3), werde ich potenzielle Fremdheitsbereiche der einzelnen Filme nicht inhaltlich benennen, sondern ich werde versuchen, unter Rückgriff auf das in Kapitel 7 Erarbeitete grundsätzliche Fremderfahrungsmöglichkeiten aufzuspüren, die sich aus den jeweils besonderen Artikulationsformen der verschiedenen Filme ergeben. Ob diese grundlegenden Qualitä-

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ten tatsächlich zu Fremderfahrungen führen, muss an dieser Stelle offen bleiben, da ich keine empirische Untersuchung von Rezeptionsprozessen vornehme, sondern Fremderfahrungspotenziale zunächst analytisch bestimme1. Neben der Bestimmung dieser filmischen Potenziale stelle ich Vermutungen darüber an, inwiefern die Besonderheiten des filmischen Ausdrucks vor dem Hintergrund verbreiteter Alltagsperspektiven und Wahrnehmungsgewohnheiten zu Fremderfahrungen führen könnten. Wenn ich dabei von „dem Zuschauer“ spreche, meine ich damit nicht einen autonomen und immer schon „fertigen“ Rezipienten, der auf den Film als ihm äußeren Gegenstand souverän zugreifen könnte. Sondern ich meine ein Subjekt im oben ausgeführten Sinn (vgl. Kapitel 5.1), das in komplexe Fremdbezüge verwoben ist, und dessen Welt- und Selbstzugang innerhalb dieser Bezüge – zu denen auch der Film gehört – jeweils erst möglich wird. Bevor ich mit den einzelnen Analysen beginne, stelle ich in Kapitel 8 jeweils Inhalte und Handlung der Beispielfilme kurz vor. Ich greife also selber zunächst auf einen narrationslogischen Zugang zu den Filmen zurück, wie ich ihn in dieser Arbeit mehrfach problematisiert habe (vgl. z.B. Kapitel 2.2). Für die weitere Analyse untersuche ich anschließend die filmischen Verfahrensweisen, die ich im vorigen Kapitel mit Deleuze erarbeitet habe. Ich hoffe dabei gleichzeitig zeigen zu können, dass ein solcher, von einer modernen Filmtheorie inspirierter Blick Anderes zugänglich macht als die klassische inhaltliche Rekonstruktion.

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In einem nächsten Schritt – der in einer eigenen Arbeit bedürfte – wäre zu klären, auf welche Weise Fremderfahrungen empirisch zugänglich gemacht werden können. Wie erwähnt, scheinen mir Widerstände und Brüche im Rezeptionsprozess dabei als „Spuren“ möglicher Fremderfahrungen interessant (vgl. Kapitel 5.5). Aber auch ohne den empirischen Nachweis tatsächlicher Fremderfahrungen ist mein theoretisch-analytisches Vorgehen m.E. berechtigt und anschlussfähig. Z.B. weil es grundlegende Fremderfahrungspotenziale des Films thematisierbar macht, und weil es so die Formulierung theoretisch begründeter Kriterien für die Filmauswahl ermöglicht, die derzeit noch als Desiderat betrachtet werden muss (vgl. Kapitel 2.2).

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8.1 F REMDBEZUG UND S ELBSTENTZUG DER S UBJEKTKONSTITUTION – DAS F ILMBEISPIEL „C ACHÉ “

ALS

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Wie in Kapitel 4.1 dargestellt, wird die klassische Vorstellung vom souveränen und autonomen Subjekt in der aktuellen bildungstheoretischen Diskussion problematisiert, und es wird die Notwendigkeit formuliert, das Subjekt als in sich different, als heteronom und als in komplexe Fremdbezüge verwoben zu betrachten (vgl. Kapitel 4.1 und 5.1). Diese Forderung macht ein bildungstheoretisches Umdenken nötig, im Rahmen dessen Zweifel und Unsicherheiten in Bezug auf die eigene Identität oder Brüche und Krisen in der eigenen Lebensgeschichte nicht mehr als Hindernisse auf dem Weg zu einer in sich geschlossenen Identität betrachtet werden, sondern als konstitutive Bedingungen des Subjekt-Seins. Und zwar eines Subjekt-Seins, das sich durch die Möglichkeit zu einer „bedingten Selbstbestimmung“ auszeichnet – das also sowohl Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsfreiräume mit sich bringt als auch an bestimmte Grenzen der Autonomie und Souveränität gebunden bleibt: So ist es nicht möglich, sich zu der Welt in ein Verhältnis zu setzen, ohne bereits von ihr in Anspruch genommen zu sein (vgl. Kapitel 4.1 und 5.1). Das Subjekt entsteht in einem Wechselspiel aus (Fremd-) Anspruch und Antwort; es ist auf Fremdbezüge angewiesen, ohne über sie verfügen zu können. Die Erfahrung des Fremden ist also die Voraussetzung für den (bedingten) „Selbstbesitz“ (vgl. Kapitel 4.1). Bezogen auf Dimension eins meiner bildungstheoretischen Überlegungen (vgl. Kapitel 5.1) soll nun anhand des Filmbeispiels „Caché“ gezeigt werden, wie dieser Film den Zuschauer in ein Wechselspiel aus Fremderfahrung und bedingter Selbstvergewisserung verwickeln und damit ein bedeutsames Moment im Prozess der Subjektkonstitution sein kann. Bevor ich diesen Gedanken konkretisiere, soll der Film zunächst kurz vorgestellt werden. 8.1.1 Der Film „Caché“ Die Hauptfigur des Films ist Georges Laurent, erfolgreicher Moderator einer TV-Literatursendung und Familienvater. Seine Frau Anne ist in einem Verlag tätig, und ihr gemeinsamer Sohn Pierrot geht noch zur Schule. Die Familie gehört einem bürgerlich-intellektuellen Milieu an – sie wohnt in

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Paris in einem schönen und modern eingerichteten Haus mit sehr vielen Büchern, trifft sich regelmäßig mit ebenfalls erfolgreichen Freunden und pflegt einen kultivierten Umgang miteinander. Der Film beginnt damit, dass Georges Videoaufnahmen von einem anonymen Absender erhält. Auf den Aufnahmen sind zunächst unspektakuläre Alltagsszenen zu sehen – z.B. das nachmittägliche Geschehen in Georges’ Wohnstraße und vor seinem Haus. Einige der Videokassetten sind in Zeichnungen eingewickelt, die wie Kinderzeichnungen aussehen, aber einen sehr brutalen Inhalt haben. Eine Zeichnung zeigt z.B. eine Figur, aus deren Mund Blut fließt. Später erhält Georges einen Film, auf dem sein Elternhaus zu sehen ist, und einen, der den Weg zu einem Appartement in einem trostlosen Vorstadt-Wohngebiet zeigt. Als er nach Tagen der Recherche das Appartement aufsucht, stellt sich heraus, dass es sich bei dem Mieter um Majid handelt – einen Mann, der einmal beinahe Georges’ Adoptivbruder geworden wäre. Majids algerische Eltern hatten jahrelang für Georges’ Eltern gearbeitet. Als Majids Eltern dann bei einem Massaker ums Leben gekommen waren, hatten sich Georges’ Eltern für Majid verantwortlich gefühlt und Majid bei sich aufnehmen wollen, aber Georges hatte die Adoption durch einen Verrat an Majid verhindert. Und zwar, indem er Majid überredet hatte, einen Hahn zu töten, um seinen Eltern anschließend zu erzählen, Majid hätte den Hahn aus eigenem Antrieb getötet, um Georges zu erschrecken. Nun verdächtigt Georges Majid, der Absender der Videos zu sein, und sich auf diese Weise an ihm rächen zu wollen. Majid bestreitet das ruhig und bestimmt, während Georges ihn aggressiv verdächtigt und bedroht. Wenig später erhält Georges’ Vorsitzender eine Filmaufnahme dieses Gesprächs. Georges gerät zunehmend unter Druck, und sein Misstrauen und seine Wut gegenüber Majid werden heftiger. Als dann noch sein Sohn Pierrot verschwindet, erwirkt Georges eine Festnahme von Majid und dessen Sohn. Die beiden werden aber schnell aus der Untersuchungshaft entlassen, und es stellt sich heraus, dass Pierrot lediglich bei einem Freund gewesen war. Auf Wunsch von Majid sucht Georges danach noch einmal dessen Wohnung auf. Und nachdem er Majid ungeduldig und ungehalten nach dessen Anliegen gefragt hat, antwortet dieser „Ich wollte, dass Du dabei bist“ und nimmt sich vor Georges’ Augen das Leben, indem er sich die Kehle durchschneidet.

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Georges bleibt schockiert und fassungslos zurück. Unfähig zu handeln verharrt er noch einige Momente in Majids Appartement, streift anschließend durch die Stadt und besucht die Spätvorstellung eines Kinos. Schließlich fährt er nach Hause und berichtet Anne, was geschehen ist. Die Verbindung zu Majid und seiner Geschichte ist damit nicht beendet. Wenig später bittet Majids Sohn Georges in dessen Firmenräumen um ein Gespräch, aber Georges weist ihn zurück. Die Frage nach dem Absender der Videos wird nicht geklärt und der Film endet mit einer Situation, deren Bedeutung offen bleibt: In der letzten Szene sind Majids Sohn und Pierrot dabei zu sehen, wie sie sich vor Pierrots Schulgebäude unterhalten. 8.1.2 Zur Analyse In Kapitel 7 habe ich exemplarisch drei Bereiche beschrieben, in denen Filme Fremderfahrungspotenziale bieten können. Hinsichtlich der nun folgenden Betrachtung zur Dimension des Bildungssubjekts scheint mir der Bereich der Verwicklung des Zuschauers in Fremderfahrungsbezüge (vgl. Kapitel 7.3) besonders zentral, weil die Bezugnahme auf Fremdes ein grundlegendes Moment im Prozess der Subjektkonstitution ist, und weil eine solche Bezugnahme in dem Film „Caché“ auf besonders unausweichliche Weise eingefädelt wird. Zunächst wird es also um diesen Bereich filmischer Fremderfahrungsmöglichkeiten gehen. Anschließend soll auch noch der Bereich der Verfremdung vertrauter Wahrnehmung (vgl. Kapitel 7.1) betrachtet werden, weil sich anhand dessen verdeutlichen lässt, wie der Film den Zuschauer mit dem Fremden im Eigenen in Kontakt bringen und auf diese Weise die bildungstheoretisch bedeutsame „Kluft im Eigenen“ (vgl. Kapitel 5.1) erfahrbar machen kann. 8.1.3 Verwicklung in Fremdbezüge Der Film „Caché“ beginnt mit einer Videosequenz, in der das Haus des Protagonisten zu sehen ist. Für den Zuschauer wird erst nach einiger Zeit klar, dass er hier nicht nur einen Film sieht, sondern dass er einen Film sieht, der von den beiden Hauptfiguren des Films ebenfalls gerade gesehen wird. Nach einigen Momenten wird anhand ihrer Unterhaltung aus dem Off ersichtlich, dass sie sich die Aufnahmen vor ihrem heimischen Fernseher ansehen. Dem Zuschauer wird auf diese Weise seine vermeintlich sichere

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und ungefährdete Position genommen. Er kann sich mit dem Film nicht wie ein Außenstehender mit einem unverbindlichen Seh-Angebot beschäftigen, sondern er wird bereits in der ersten Einstellung in die gezeigte Situation involviert. Ihm wird ein Platz innerhalb des Geschehens zugewiesen: Er sitzt sozusagen mit Georges und Anne in deren Wohnzimmer und sieht den Filmausschnitt. Und er wird dieser Situation erst gewahr, nachdem sie bereits einige Momente angedauert hat – also zu spät, um sich dagegen zu entscheiden. Wie im Theorieteil dargestellt, erzwingt die Konzeption des Films hier eine bestimmte Perspektive, der sich der Zuschauer kaum entziehen kann, nämlich eine immanente Perspektive, die den Wechsel auf eine übergeordnete Betrachtungsebene zumindest erschwert. Der Zuschauer wird in das Geschehen involviert und der Möglichkeit einer unbeteiligten Sehhaltung beraubt. Gleich zu Beginn des Films wird damit die potenzielle Erwartung des Zuschauers durchkreuzt, in der Rolle des Beobachters angesprochen zu werden, der auf einer übergeordneten Ebene in den Film eingeführt und damit in seiner souveränen Rolle bestätigt wird. Es gibt keine Position des sicheren Eigenen, von der aus sich das Geschehen distanziert konsumieren ließe. Die Beteiligung des Zuschauers wird dadurch fortgesetzt, dass er sehr stark in Georges Eigenheitssphäre einbezogen wird. Er sieht an verschiedenen Stellen des Films das, was auch Georges sieht – wie z.B. die gerade erwähnten Filmausschnitte, die dieser anonym zugesandt bekommt. Diese Bilder werden als reine Wahrnehmungsbilder präsentiert, die den Zuschauer der gleichen Wahrnehmungserfordernis aussetzen, wie Georges sie erlebt. Einer Wahrnehmungssituation, die nicht durch einen Wissensvorsprung aufgelöst werden kann, der es erlauben würde, die Bilder in einen sensomotorischen Zusammenhang einzuordnen. Zur Einbeziehung in Georges’ Eigenheitssphäre gehören auch immer wieder aufflackernde und teilweise verstörende Einzelbilder; Bilder von einem Jungen, der sich mit blutendem Mund hinter einer Hauswand versteckt, oder von demselben Jungen, der mit der Axt einen Hahn tötet. Bilder, die den Zuschauer erschrecken und verwirren, da sie sehr unvermittelt und vollkommen losgelöst von allen Handlungsbezügen gezeigt werden, und erst im Nachhinein als Georges Erinnerungs- und Traumbilder erscheinen. Diese Bilder lösen den Wunsch nach Bewältigung aus, dem sie sich aber verweigern, weil sie nicht innerhalb von Wahrnehmungs-Aktions-Mustern funktionieren. Sie haben eher den Charakter einer „Ansprache“, die von etwas Unzugängli-

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chem ausgeht, das eine Antwort ermöglicht und erfordert – ein Ereignis, für das wir uns nicht entscheiden, sondern dessen wir erst nachträglich gewahr werden (vgl. Kapitel 5.1). Situationen, in denen die Verwicklung in Fremdbezüge immer schon stattgefunden hat, führt Michael Haneke in dem Film „Caché“ immer wieder herbei. Besonders dramatisch wird das in der Szene erfahrbar, in der Majid sich das Leben nimmt. Seine an Georges adressierte Bemerkung „Ich wollte, dass Du dabei bist“ trifft auch den Zuschauer, der völlig unvorbereitet in die Rolle des Zeugen gerät und mit den schockierenden Selbstmordbildern überrumpelt wird, ohne sich von einer Außenposition aus gegen sie wappnen zu können. Er ist genauso hilflos und fassungslos wie Georges, der kaum weiß, wie ihm geschieht. Der Zuschauer kann sich der Verwicklung in das Geschehen hier schwer entziehen, denn es gibt keine andere Betrachtungsebene, auf die er ausweichen könnte. Haneke lässt die Kameraeinstellung nach dem Selbstmord noch einige Momente unverändert, was dazu führt, dass der Zuschauer in Majids Appartement „festgehalten“ wird. Der Moment der Fremderfahrung gewinnt dabei eine Dauer, die ihn besonders eindringlich werden lässt (vgl. Kapitel 7.2.2). Eine weitere Strategie der Verstrickung ist die Präsentation von Kristallbildern, die nicht einfach nur zur Kenntnis genommen oder eingeordnet werden können, sondern dem Zuschauer eine „Antwort“ abverlangen, die über die Fortsetzung aktueller Wahrnehmungen hinausgeht (vgl. Kapitel 6.2.4). Die Kinderzeichnungen, in die die anonym versendeten Videos eingewickelt sind, lassen sich als Kristallbilder sehen, denn in ihnen ist Aktuelles und Virtuelles gleichermaßen präsent. Sie haben einerseits eine aktuelle Seite, die sie als Drohung, als Belästigung der Familie oder schlechten Scherz erscheinen lässt. Also eine Seite, auf die die Figuren so reagieren können, dass die Bilder zu einer vorübergehenden Gegenwart werden – z.B. durch Einschalten der Polizei, durch Anzeigen des Täters oder durch Nicht-Beachten (so versucht Georges zunächst, die Sendungen als bedeutungslos abzutun und nicht als relevanten Bestandteil seines Alltags zu behandeln). Die Bilder haben aber andererseits auch eine virtuelle Seite; sie verweisen auf die Vergangenheit, in der sie nicht zur Ruhe kommen und sich abschließen lassen, sondern in der sie mit der Menge unerschöpflicher Möglichkeiten verbunden sind, die eine einfache Fortsetzung der Gegenwart verhindert. Diese virtuelle Seite ist so präsent, dass sie den Prozess des

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Übergangs anhält und die oben beschriebenen Bewältigungsstrategien scheitern lässt. Die Bilder gehen nicht vorüber, sondern scheinen sich zu vervielfachen – sie kommen bei Georges’ Vorgesetztem, bei Pierrot und bei Anne an, und sie überlagern sich mit Georges’ Erinnerungs- und Traumbildern. In diesen doppelseitigen Kristallbildern zeigt sich die Vergangenheit, indem sie sich entzieht; indem sie sich plötzlich nicht mehr mit aktuellen Erklärungsmustern – wie dem Hinweis auf Georges’ junges Alter zum Zeitpunkt des Verrats an Majid – zum Schweigen bringen lässt. Georges’ Verrat und seine Schuld gegenüber Majid werden zwar dadurch relativiert, dass er zur Tatzeit noch ein kleines Kind war, aber gleichzeitig erfordern die Zeichnungen eine Reaktion, die Georges in der Gegenwart verantworten muss. Weil aber diese Gegenwart so eng mit der Vergangenheit verknüpft ist, wird es für ihn unmöglich, die Bilder nur als aktuelles Problem zu behandeln, das pragmatisch gelöst werden kann. Die gegenwärtige Verantwortung gewinnt vor dem Hintergrund der alten Schuld zusätzliches Gewicht und führt zu einer neuen Gegenwärtigkeit der alten Geschichte. Denn auch wenn Georges damals noch ein Kind war, und sein Verrat mit dieser Erklärung erledigt schien, ist er nun in einer Situation, in der es keine gültige Rechtfertigung mehr für das Vorgehen gibt, mit dem er versucht, dem Angesprochen-Sein zu entgehen, das die Kinderzeichnungen in ihm auslösen. An diesen Bildern wird sehr deutlich erfahrbar, wie eine vermeintlich gesicherte, aktuelle Gegenwart von ihrer virtuellen Seite „heimgesucht“ und verfremdet werden kann. Diese Erfahrung wiederholt sich auf schockierende Weise, als sich das gemalte Bild der Figur mit dem durchgeschnittenem Hals in der Selbstmordszene noch einmal verdoppelt und damit wiederum als Kristallbild fungiert – als aktuelles Bild einer Gegenwart, auf die Georges sich nun beziehen muss, und als virtuelles Bild einer Vergangenheit, in der es andere Handlungsmöglichkeiten gegeben hätte, und in der Georges eine Schuld auf sich geladen hat, die sich nun ebenfalls wiederholt. Aufgrund dieses Doppelcharakters gelingt es Georges nicht, das Bild des toten Majid als aktuelles Bild zu behandeln und abzuschütteln. Er weiß, dass Majid mit seiner Tat auf eine „Verzweigungsstelle“ in der gemeinsamen Vergangenheit zurückgekommen ist, und versucht gleichzeitig, diese Vergangenheit zum Schweigen zu bringen, indem er die Inszenierung des Selbstmords als Zei-

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chen von Majids „krankem Humor“ kommentiert, und sie damit ausschließlich Majids aktueller Gegenwart zuordnet. Nicht nur für Georges ergibt sich hier die Erfahrung eines „Selbstentzugs“, also die Erfahrung, dass es nicht gelingt, in aktuellen Bezügen Halt zu finden, weil die eigene Wahrnehmung innerhalb unzugänglicher Fremdbezüge virtualisiert wird. Sondern auch der Zuschauer wird in diese Situation verwickelt. Und zwar weil er – wie oben bereits erwähnt – ständig in Georges’ Perspektive einbezogen wird: Ihm werden die gleichen Filme und die gleichen Kinderzeichnungen präsentiert wie Georges, er teilt das Geheimnis des ersten Besuchs bei Majid mit Georges, und er wird mit den immer wieder aufflackernden Erinnerungsfragmenten konfrontiert, gegen die er sich kaum wehren kann – ebenso wenig wie Georges, den diese Bilder z.B. im Schlaf heimsuchen. Die Bilder lösen das Bedürfnis nach Einordnung aus und aktivieren sensomotorische Deutungsmuster, die aber scheitern, weil die verschiedenen Wahrnehmungsbilder nicht in kohärente Handlungszusammenhänge münden. Der Zuschauer stellt unter Umständen fest, dass er genau wie Georges versucht, am Aktuellen festzuhalten, um die Geschichte für sich ordnen und abschließen zu können. Das kann zu einer starken Verunsicherung führen, weil Kristallbilder sich gerade nicht mit ausschließlichem Bezug auf das Aktuelle auflösen lassen. Diese Verunsicherung ist auch deshalb weit reichend, weil der Zuschauer an einem schockierenden Geschehen „beteiligt“ ist, das seine schockierende Dimension erst durch Georges’ kompromisslosen Versuch gewinnt, am Aktuellen festzuhalten und sich des Virtuellen/ Fremden möglichst zu entledigen. Ein Versuch, bei dem sich der Zuschauer unter Umständen selber gerade ertappt, und der ihn in seinem Angesprochen-Sein auf unsicherem Boden zurücklässt. Dieser Aspekt der Verwicklung wird dadurch verstärkt, dass es am Ende des Films keine Lösung des „Falls“ gibt. Die aktuelle Seite der Bilder lässt sich auch am Schluss nicht zu einer geschlossenen Geschichte zusammensetzen. Im Gegenteil: In der letzten Szene berühren sich Aktuelles und Virtuelles noch einmal auf verwirrende Weise, indem zu sehen ist, wie Majids Sohn Pierrot vor dessen Schule anspricht und sich eine zeitlang mit ihm unterhält. Es wird beispielhaft deutlich, dass die Verbindung mit der Vergangenheit – mit dem Virtuellen als Menge der unerschöpflichen Möglichkeiten, das die Gegenwart kontingent und potenziell fremd werden lässt – nicht einfach unterbrochen werden kann.

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Der Film bietet dem Zuschauer wie gezeigt zahlreiche „Einstiege“ in eine Situation voller Fremdbezüge, aber keinen einfachen „Ausstieg“ aus dieser Situation. Der Zuschauer bleibt mit der Aufgabe zurück, eine Antwort zu geben, die nicht im ausschließlichen Bezug auf das Aktuelle liegen kann. 8.1.4 Verfremdung vertrauter Erfahrung In dieser Situation des Involviert-Seins in Fremdbezüge wird der Zuschauer gleichzeitig sehr stark auf sich selbst verwiesen. Z.B. indem er immer wieder mit Wahrnehmungsbildern konfrontiert wird, die sich nicht vor dem Hintergrund konventionalisierter Deutungsmuster einordnen lassen, sondern den Betrachter auf die eigene Wahrnehmung zurückwerfen. Die eigene Wahrnehmung funktioniert dabei nicht als vertraute Orientierungshilfe, sondern als zusätzliches Moment der Verfremdung. So wird gleich zu Beginn des Films der übliche Wahrnehmungsweg umgedreht – die erste Einstellung führt nicht zu einer Begrenzung der Wahrnehmung sondern zu ihrer Öffnung. Der Zuschauer wird nicht mit einem orientierenden Überblick versorgt, sondern einer unübersichtlichen Wahrnehmungssituation ausgesetzt. Der oben beschriebene Überraschungseffekt am Anfang des Films macht die Unsicherheit und Begrenztheit der eigenen Perspektive erfahrbar. Der Zuschauer wird immer wieder auf die eigene Perspektive verwiesen und erlebt gleichzeitig, dass diese nicht unbedingt zu einer „Selbstvergewisserung“ führt. Dieses Erlebnis wiederholt sich während des Films mehrmals, weil Michael Haneke systematisch alle Wege zur Selbstvergewisserung vom Eigenen aus abschneidet. Z.B. anhand der Figur des Georges, die die „vertraute Wahrnehmung“ immer wieder aufruft, denn Georges fragt nach Erklärungen und Verstehensmöglichkeiten und versucht, sensomotorische Zusammenhänge herzustellen. Es ist wahrscheinlich, dass der Zuschauer „das Eigene“ in dieser Perspektive wiedererkennt, weil die Anordnung des Films das Bedürfnis nach Ordnung auslöst und damit sensomotorische Deutungsmuster aktiviert. In dieser Situation des potenziellen Sich-Wiedererkennens erweist sich Georges’ Perspektive gleichzeitig als sehr gefährdet. Und Georges versucht durchgängig, diese gefährdete Perspektive gegen den Einbruch des Fremden zu sichern. Seine Strategie besteht in dem Versuch, klar zwischen Eigenem und Fremdem zu trennen, und dabei das Fremde als das Feindli-

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che zu bewerten, vor dem das Eigene geschützt werden muss. Ein Bewältigungsversuch, den Waldenfels als unangemessenen „Egozentrismus“ bezeichnet (Waldenfels 1997, S. 49). Georges nimmt an, dass es einen äußeren Täter gibt, der nur identifiziert werden muss, um das Problem lösen zu können, und er mutmaßt, dass Majid dieser Täter ist. Im Film geht die entstehende Unruhe aber gar nicht von einem äußeren Verantwortlichen aus, sondern von einer Beunruhigung durch das Fremde im Eigenen. Georges kann sich plötzlich nicht mehr auf die Vertrautheit des Eigenen verlassen, ebenso wenig wie der Zuschauer. Und so ist es auch Georges, der in der Begegnung mit Majid unsicher und aggressiv auftritt, während Majid – der vermeintliche „Feind“ – vollkommen ruhig und sicher wirkt. Und es ist Georges, der seine Frau schroff zurückweist und so die vertraute Familiensituation verändert. Ebenso, wie er seine Rolle als souveräner und professioneller Moderator gefährdet, indem er in Anwesenheit seiner Kollegen die von Majids Sohn höflich vorgetragene Bitte um ein Gespräch grob ablehnt. Georges stellt sich dieser Situation des Angesprochen-Seins von etwas Fremdem nicht und er versucht nicht, eine kreative Antwort zu geben, sondern er antwortet auf sinnfestschreibende Weise – in der Absicht, das Eigene gegen den Einbruch des Fremden zu verteidigen. Dafür belügt er auch seine Familie, und spielt rücksichtslos seine sozial stärkere Position aus, indem er Majid seinem Chef gegenüber als nicht zurechnungsfähig darstellt und bei der Polizei schließlich Majids (kurzzeitige) Festnahme erwirkt. Die zentrale Äußerung von Majid im ersten Gespräch mit Georges lautet passend dazu: „Man tut alles, um nichts zu verlieren.“ Für Georges geht es darum, sein aktuelles Leben nicht zu verlieren und es gegen den Einbruch des Fremden abzusichern. Dabei wiederholt sich seine Schuld gegenüber Majid, und zwar im Rahmen eines strukturanalogen Handlungsmusters. Sowohl in seiner Kindheit als auch in der gezeigten Gegenwart macht Georges eine Fremdheitserfahrung, die in ihm die Befürchtung auslöst, etwas Eigenes zu verlieren. In der Kindheit z.B. die gewohnte Familiensituation, die eigene Rolle in der Familie oder die ungeteilte Zuwendung der Eltern. Und in der Gegenwart ebenfalls die vertraute Familiensituation, seine Rolle als souveräner Familienvater oder seinen Ruf als seriöser Moderator einer TV-Literatursendung. Beide Male identifiziert er dabei Majid als den Verantwortlichen, den er aus seiner Eigenheitssphäre ausschließen möchte.

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Allerdings wird im Film auf sehr zugespitzte Weise vorgeführt, dass die Strategie nicht Erfolg versprechend ist. Majid „entfernt“ sich selber aus Georges’ Leben, indem er sich umbringt, und lässt dabei eine Situation entstehen, in der der „Stachel des Fremden“ noch unausweichlicher zu spüren ist. Der Anspruch des Fremden zeigt sich hier im Wortsinn, indem er sich entzieht, denn Majid steht nun nicht mehr als Person zur Verfügung, auf die sich ein (wenn auch erfolgloser) Bewältigungsversuch richten könnte. In dieser Situation bleibt eine schockierende Fremderfahrung, auf die es zu antworten gilt. Und diese Erfordernis trifft auch den Zuschauer, denn spätestens mit Majids Tod reißt der sensomotorische Zusammenhang und es wird deutlich, dass das beunruhigende Bild des toten Majid nicht in eine klärende Handlung münden wird, sondern dass der Zuschauer von diesem Bild aus neue Verknüpfungen herstellen muss. Z.B. zu dem eigenen Versuch, sich aus der Geschichte herauszuhalten und eine Position der Selbstvergewisserung einzunehmen, von der aus die Rolle des souveränen Beobachters bestätigt wird. Und wie erwähnt sorgt Haneke dafür, dass der Zuschauer sich immer wieder bei dem Versuch ertappt, mit Hilfe dieser „egozentrischen“ Strategie Sicherheit zu gewinnen – und dafür, dass dieser Versuch scheitert. Denn der Anspruch des Fremden ruft das Subjekt in eine Verantwortung, und dieser Ruf trifft auch den Zuschauer. Hanekes Film kann insofern auch als Forderung interpretiert werden, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden; sich der Verantwortung zu stellen, die die Erfahrung des Fremden uns abverlangt. Und er bietet gleichzeitig die Möglichkeit, sich einer solchen Erfahrung probeweise auszusetzen. Er geht dabei weit über die illustrative Darstellung normativer Forderungen hinaus und funktioniert als reale Auseinandersetzungsmöglichkeit, die dem Zuschauer aufgrund ihrer Anordnung genau die Position vorbehält, in der er die geforderte Haltung erproben und erleben kann. Ein Film, in dem auf ähnliche Weise eine bestimmte normative Haltung erfahrbar wird, ist der Film „Der Sohn“, um den es in Kapitel 8.3 gehen wird. Doch zunächst eine kurze Bilanz zum Filmbeispiel „Caché“: Im bildungstheoretischen Teil habe ich deutlich gemacht, dass die Erfahrung des Fremden die Voraussetzung für einen „bedingten Selbstbesitz“ ist (vgl. Kapitel 5.1), und im filmtheoretischen Teil habe ich die Annahme formuliert, dass Filme solche Fremderfahrungen auslösen können (vgl. Kapitel 7). Aber wie genau kann ein Film wie „Caché“ dem Subjekt „zu sich selbst,

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aber nie völlig zu sich selbst“ (Waldenfels 2002, S. 188, vgl. Kapitel 5.1) verhelfen? In dem Film „Caché“ führt die Verwicklung in Fremdbezüge dazu, dass der Zuschauer sich in seinem eigenen Erleben erfährt und auf dieses Erleben Bezug nehmen kann. Er empfindet möglicherweise Spannung, Unsicherheit, Sympathie, Abneigung, Klärungsbedarf, o.ä. und erfährt sich in diesem Empfinden als Subjekt – der Film verhilft ihm insofern zu sich selbst. Gleichzeitig geht es um ein Erleben, über das der Zuschauer nicht selbst bestimmen, das er also nicht beliebig steuern und kontrollieren kann – der Fremdbezug (hier im Film „Caché“) verhilft ihm daher nie völlig zu sich selbst. Diese Beschreibung trifft allerdings noch auf die meisten Alltagserfahrungen zu. Denn auch alltägliches Erleben von Freude, Trauer oder Schmerz lässt sich nicht beliebig steuern. Der Unterschied zu alltäglichen Erfahrungsbereichen liegt darin, dass der Zuschauer in dem Film „Caché“ in eine Situation verwickelt wird, aus der er nicht so leicht aussteigen kann und in der eine Selbstvergewisserung vom Eigenen aus systematisch verhindert wird. Die im Alltag üblichen Bewältigungsstrategien – die Waldenfels mit bestimmten Formen der Zentrierung, wie z.B. dem Egozentrismus in Verbindung bringt (Waldenfels 1997, S. 49f) – werden von Michael Haneke außer Kraft gesetzt, weil er den Zuschauer über die Verfremdung vertrauter Erfahrung mit dem Fremden im Eigenen in Kontakt bringt, dem er sich kaum entziehen kann. Der Film aktiviert den Impuls zur Selbstvergewisserung, indem der Zuschauer ständig über die eigene Perspektive verunsichert wird. Gleichzeitig bietet er der vertrauten Wahrnehmung keinen Halt, weil sensomotorische Deutungsversuche scheitern und vermeintlich eindeutige Wahrnehmungsbilder sich in unzugängliche Abgründe hinein öffnen. Der Selbstbezug wird im Film „Caché“ gleichzeitig als Selbstentzug erfahrbar. Der Film erzwingt den Versuch einer „Selbstvergewisserung“, der unter Umständen gerade dazu führt, dass der Zuschauer Selbstgewissheit verliert, dass er dem Fremden im Eigenen begegnet, also einen Selbstentzug erfährt. Gleichzeitig ermöglicht es ein solcher Prozess erst, auf den Anspruch des Fremden einzugehen und ihm im Rahmen kreativer Antworten gerecht zu werden. Er ermöglicht es dem Zuschauer also, sich als Subjekt „aufzustellen“ und Position zu beziehen. Diese Ermöglichung ist aber kein unverbindliches Angebot, sondern eine Notwendigkeit, die vom Zuschauer durchaus als belastend empfunden werden kann. Denn im Prozess der Selbstpositionierung/

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der Selbstkonstitution erfährt er nicht nur kreative Antwortmöglichkeiten, sondern auch die Grenzen der eigenen Souveränität. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die Rezeption von Filmen wie „Caché“ dazu beitragen kann, dass das Subjekt sich in seiner „bedingten Selbstbestimmung“ erfährt, und dass es durch diese Erfahrung angeregt wird, seine Spielräume zur Produktion neuer Bedeutungen und zur Erfindung kreativer Antworten zu erproben. Dabei wird es im günstigen Fall durch die Filmerfahrung immer wieder an die Grenzen der eigenen Souveränität und der eigenen Autonomie erinnert. An seine „Antwortlichkeit“ und seine Verantwortung, vor deren Hintergrund der Versuch aussichtslos erscheint, das Eigene ausschließlich vom Eigenen aus gestalten und sichern zu wollen. In Bezug auf meine bildungstheoretischen Überlegungen (vgl. Kapitel 5) ist das wünschenswert, da ein ausschließlicher Selbstbezug Bildungsprozesse eher verhindern als befördern wird.

8.2 D IE F REMDHEIT DER EIGENEN O RDNUNG ALS C HANCE FÜR GESELLSCHAFTLICHE T RANSFORMATIONSPROZESSE – DAS F ILMBEISPIEL „L’ ESQUIVE “ Wie gerade angesprochen, ist die Instanz möglicher Bildungsprozesse ein Subjekt, das in der Bezugnahme auf Fremdes erst entsteht – und Gegenstand einer solchen Bezugnahme können z.B. Filme wie „Caché“ sein (vgl. voriger Abschnitt). Aber nicht nur der Prozess der Subjektkonstitution ist auf einen Kontext angewiesen, sondern auch der Prozess der Bildung, der stets einen Bezug zu der aktuellen gesellschaftlichen Situation hat, wie ich in Kapitel 5.2 deutlich gemacht habe. Mit Waldenfels habe ich dabei auf die Herausforderung hingewiesen, die gesellschaftliche Ordnung vor dem Hintergrund ihres Andersseinkönnens zu betrachten und eine Haltung zu entwickeln, die es erlaubt, sich dem der jeweiligen gesellschaftlichen Situation Unzugänglichen und Fremden zu stellen. Bildung habe ich dabei als einen Prozess gedacht, im Rahmen dessen das der jeweiligen Ordnung Unzugängliche in seiner Unzugänglichkeit eingeblendet und eine Schließung der Ordnung auf diese Weise verhindert wird (vgl. Kapitel 5.2). Bezogen auf Dimension zwei meiner bildungstheoretischen Überlegungen soll nun gezeigt werden, wie in dem Film „L’esquive“ das Unzugängli-

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che in seiner Unzugänglichkeit präsent ist und dadurch eine Begegnung mit dem der gegenwärtigen Ordnung Fremden möglich wird. Doch zunächst kurz zu dem Film: 8.2.1 Der Film „L’esquive“ In dem Film geht es um eine Gruppe Jugendlicher, die in einem Pariser Vorstadt-Wohngebiet aufwächst. Es werden verschiedene Szenen aus dem Alltag der Jugendlichen gezeigt. Dabei stehen zwei Themen besonders im Vordergrund: erstens die sozialen Beziehungen, die die Heranwachsenden untereinander pflegen, sowie deren Veränderung und zweitens die Auseinandersetzung mit dem Theaterstück „Das Spiel von Liebe und Zufall“ von Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux, das im Rahmen einer Schulvorstellung aufgeführt werden soll. Im Mittelpunkt des Beziehungsthemas stehen Krimo und Lydia. Krimo wurde gerade von seiner Freundin Magali verlassen und interessiert sich für Lydia. Als Lydia seine Kontaktangebote mit Hinweis auf die Proben für die bevorstehende Theateraufführung ablehnt, bittet Krimo seinen Freund Rachid heimlich, ihm die zweite Hauptrolle des Theaterstücks zu überlassen – die Rolle des Arlequin, der um die Gunst der von Lydia gespielten Lisette wirbt. Als Krimo Lydia bei einer Probe fragt, ob sie mit ihm gehen möchte, kann sie sich nicht entscheiden und erbittet Bedenkzeit. Krimo hat große Schwierigkeiten mit Sprache und Umfang des zu lernenden Textes und zieht sich aus dem Kreis seiner Freunde zurück. Das ärgert besonders seinen besten Freund Fatih, der Theaterspielen „schwul“ findet und sich mit Krimo lieber Pornofilme ansehen würde. Aber Fatih merkt auch, wie sehr sich Krimo von der unklaren Beziehungssituation belastet fühlt. Er nötigt Lydias Freundin Frida, Lydia zu einem Klärungsgespräch zu bewegen, indem er Frida das Handy klaut und ankündigt, es erst nach dem Gespräch zurückzugeben. Das Gespräch findet schließlich außerhalb des Wohngebiets in einem gestohlenen Auto statt und wird von einer Polizeikontrolle gewaltsam beendet, nachdem Lydia noch einmal betont hat, dass sie sich gegenwärtig nicht für oder gegen eine Beziehung mit Krimo entscheiden kann. Ebenso wie das Beziehungsthema ist auch das Theaterthema in fast jeder Situation präsent. Die Jugendlichen geben der Beschäftigung mit dem Theaterstück in ihrem Alltag viel Raum: Sie treffen sich in ihrer Freizeit

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zum Proben, sie sprechen darüber, wie man sich einer Rolle am besten nähern kann, sie haben ihre Texte stets dabei, und Lydia lässt sich eigens für die Aufführung ein teures Kleid nähen, das sie auch im Alltag ständig trägt. In dem Theaterstück geht es um die Stabilität von Schichtzugehörigkeiten und um die Unmöglichkeit, die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1982) zu vertuschen – in Anbetracht der Lebenssituation in einem Banlieu ein Thema, das den Alltag der Jugendlichen unmittelbar berührt. Es wird aber sehr deutlich, dass diese sich gar nicht auf eine klassische, intellektuelltransferorientierte Weise mit dem Inhalt des Theaterstücks auseinandersetzen, sondern dass sie das Stück eher für ihre eigenen Zwecke nutzen: z.B. als Vehikel für die Kontaktaufnahme (wie Krimo), als Möglichkeit zur Aushandlung eigener Kompetenzen (wie Lydia, die mehrfach moniert, Frida spiele ihre Rolle nicht angemessen) oder als Möglichkeit zur Artikulation eigener Bedürfnisse und zur Abgrenzung (wie Frida, die betont, dass sie lieber ohne Publikum proben möchte, und die sich immer wieder zurückzieht, um ihren Text alleine zu sprechen). Ungewöhnlich ist auch die Rolle der Lehrerin im Zusammenhang mit dem Theaterthema: Sie versucht unermüdlich, die Schüler zur Reflexion anzuregen und den Inhalt des Stückes für sie zu „übersetzen“. Und die Jugendlichen begeistern und engagieren sich auch für das Theaterstück – allerdings nicht aufgrund des pädagogischen Vermittlungsversuchs. Die Absichten der Lehrerin und die Absichten der SchülerInnen bleiben bis zum Schluss völlig losgelöst voneinander. So endet der Film mit der erfolgreichen Schulaufführung, die sich die Lehrerin stolz ansieht, während derer es aber für die SchülerInnen wieder um andere Themen geht – z.B. darum, dass Magali mit einem neuen Freund im Publikum sitzt. 8.2.2 Zur Analyse In Bezug auf die verschiedenen Fremderfahrungsqualitäten, die ich in Kapitel 7 erarbeitet habe, scheint mir in dem Film „L’esquive“ besonders der Bereich der Präsentation von etwas Unzugänglichem in seiner Unzugänglichkeit (vgl. Kapitel 7.2) im Vordergrund zu stehen. Daher soll im Folgenden gezeigt werden, wie der Film „L’esquive“ als politisches Kino im Deleuze’schen Sinn das „fehlende Volk“ (vgl. Kapitel 7.2.1) präsentiert.

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8.2.3 Demarkierungen Der Begegnung mit etwas Unzugänglichem wird dadurch der Weg bereitet, dass der Film etliche „Demarkierungen“ (vgl. Kapitel 6.3.5) enthält, die bewirken, dass das Gezeigte aus alltäglichen Deutungszusammenhängen herausspringt. Solche vertrauten Deutungszusammenhänge werden zu Beginn des Films zunächst aufgerufen – z.B. als Fatih und seine Freunde darüber sprechen, auf welche Weise sie sich am besten an einer Gruppe Jugendlicher rächen können, von der sie zuvor tätlich angegriffen worden waren. Es wird die Vorstellung nahe gelegt, die Jugendlichen lebten in einem brutalen Ghetto, in dem ausschließlich das Recht des Stärkeren gilt. Eine Vorstellung, die in klassischen Banlieu-Darstellungen häufig vermittelt wird: Es geht dabei z.B. um die raue und gnadenlose Lebenssituation „auf der Straße“, um abgebrühte und leichtsinnige Jugendliche, die das Gefühl haben, nichts mehr verlieren zu können, oder um ausweglose Abwärtsspiralen, in denen das Schicksal vorgezeichnet scheint. Letztere sind oft auch Gegenstand politischer Reportagen oder kriminologischer Berichterstattung, in der beschrieben wird, wie ein problematisches Sozialisationsumfeld mit überforderten Eltern, suchtgefährdeten Freunden oder ratlosen Lehrern zu schulischem Misserfolg, Resignation und einer kriminellen Karriere führt2. Ausgehend von solchen verbreiteten und bekannten Repräsentationsmustern werden in vielen Filmen „Rettungsgeschichten“ erzählt, die eine Bewegung von der beschriebenen Situation hin zu einer gesellschaftlich als weniger problematisch beurteilten Situation zeigen (SAS’). Die Aktion, die von dem ersten Zustand zum zweiten führt, geht dabei meistens von einem Vermittler aus – zum Beispiel von einem Pädagogen. Filmbeispiele sind „Mad hot ballroom“ oder „Dangerous Minds“. Die Banlieu-Bewohner werden dabei nicht als Handelnde gezeigt, sondern als zu Behandelnde, die unterstützt, gefordert, integriert, bestraft oder anderweitig „bearbeitet“ werden müssen. Die Darstellung ist an den Kategorien der eigenen Ordnung orientiert, und die Banlieu-Bewohner werden vor diesem Hintergrund als „durch

2

Sehr häufig werden dabei Migrationsgeschichten mit der Beschreibung solcher Problemspiralen verknüpft, und es entstehen relativ stabile Bilder über das „Leben im Brennpunkt“. Anregende Analysen zu diesem Prozess finden sich bei Jäger/ Jäger (2007).

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die Maschen gefallen“, als förderbedürftig, als nicht anpassungswillig oder schließlich als re-integriert gezeigt. Solche verbreiteten Deutungsmuster werden in dem Film „L’esquive“ immer wieder aktiviert, laufen dann aber ins Leere. So sieht es zu Beginn des Films so aus, als gehe es den Jugendlichen nur darum, sich bei der geplanten Schlägerei zu behaupten. Dieser Wahrnehmungs-Aktions-Zusammenhang wird dann aber unterbrochen, indem die Schlägerei weder gezeigt noch weiter thematisiert wird. Stattdessen folgt die Kamera Krimo, und es wird deutlich, dass es in dessen Alltag nicht nur um das Überleben im Ghetto geht, sondern dass er sich mit ganz verschiedenen Fragen und Sorgen beschäftigt – z.B. mit der Zurückweisung von Magali, mit seinem Interesse an Lydia oder mit dem Befinden seiner Mutter. Krimos Beziehung zu seiner Mutter wird insgesamt als sehr liebevoll dargestellt und entspricht nicht dem Stereotyp der häuslichen Situation in einem Banlieu. Obwohl auch an dieser Stelle zunächst gängige Bilder verwendet werden: Krimos Vater ist im Gefängnis, Krimo lebt mit seiner Mutter in einer engen und vollgestellten Wohnung, es gibt jeden Tag das gleiche einfache Nudelgericht zu essen. Aber der Umgang miteinander ist aufmerksam und warmherzig, es wird nicht gebrüllt, beschuldigt oder gedroht, sondern Krimo und seine Mutter achten aufeinander. Krimo rät seiner Mutter nach einem langen Tag, sich doch ins Bett zu legen, und sie überreicht Krimo eine sorgfältig verstaute Zeichnung, die sein Vater im Gefängnis für ihn angefertigt hat. Diese Zeichnung hängt Krimo ebenso sorgsam in seinem Zimmer an die Wand neben eine Sammlung ähnlicher Zeichnungen, die er offenbar schon von seinem Vater erhalten hat. An vielen Stellen wird außerdem das Klischee aufgenommen, Jugendliche in einem Banlieu würden nur „herumhängen“ und sich für nichts ernsthaft interessieren. Tatsächlich werden die Jugendlichen häufig dabei gezeigt, wie sie durch das Viertel streifen, zusammen herumsitzen ohne sich gezielt mit irgendetwas zu beschäftigen, und sich andauernd wegen unwichtiger Kleinigkeiten zanken. Aber gleichzeitig interessieren sie sich sehr ernsthaft für verschiedene Dinge – z.B. für das Theaterstück. So hat Frida ihr Marivaux-Buch immer dabei und verbringt viel Zeit damit, ihre Rolle (auch alleine) zu proben. Auch die Darstellung der Lehrerin ist ein Gegenbild zu den pädagogischen Ursache-Wirkungsvorstellungen, die mit ihr aktiviert werden. Es wird eine engagierte und sendungsbewusste Lehrerin gezeigt. Eine kompe-

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tente Expertin, die selber schon als Schauspielerin tätig war, und die den SchülerInnen nun Kompetenzen vermitteln und sie dabei gleichzeitig zur Reflexion anregen möchte. Damit wird das bekannte Muster der „Rettungsgeschichte“ aufgerufen: Eine idealistische Retterin möchte ihren Schützlingen Auswege aus einer problematischen Situation eröffnen. Ähnlich funktionieren Filme wie „Rhythm is it“, „Sein und Haben“ oder „Club der toten Dichter“. Gegen solche sensomotorischen Wahrnehmungsgewohnheiten werden Ursache und Wirkung in dem Film „L’esquive“ aber gerade nicht verknüpft, sondern entkoppelt. Die Lehrerin tut alles, um die Schüler für ihr Projekt zu begeistern – und die Schüler begeistern sich auch, aber eben nicht auf Initiative der Lehrerin hin. Sie greifen die gesellschaftsbezogenen Reflexionsangebote der Lehrerin nicht auf, sondern tragen ihre eigenen Themen und Anliegen an das Theaterstück heran. Auch der Erwerb von Kompetenzen scheint völlig losgelöst von der Arbeit der Lehrerin stattzufinden. Einige Schüler spielen sehr überzeugend, andere nicht. Und gerade Krimo, dem die Lehrerin besonders viele Anweisungen und Ratschläge gibt, kommt mit seiner Rolle nicht zurecht. Die Lehrerin fungiert nicht als überlegene Mentorin, die die Jugendlichen auf einen Weg führt, den sie selber bereits kennt. Sie verhilft keinem der Jugendlichen zu einer gelungeneren „Integration“. Und trotzdem sind die Jugendlichen nicht verloren, desinteressiert oder perspektivlos. Die Demarkierung liegt darin, dass vertraute Komponenten nicht auf vertraute Weise zusammenwirken. Die engagierte Lehrerin erreicht nicht, dass die SchülerInnen auf ihre Linie einschwenken und dabei einen unproblematischeren Platz in der vorhandenen gesellschaftlichen Situation finden. Und gleichzeitig führt die potenziell problematische Lebenssituation der Jugendlichen auch nicht dazu, dass diese aufgeben, die Hoffnung verlieren oder „abrutschen“. Sie bewegen sich vielmehr aktiv und gestaltend in ihrer eigenen Lebenswelt, einer Welt, die in den Kategorien der vorhandenen Ordnung nicht ohne weiteres zugänglich wird. In dem Film „L’esquive“ werden die „Betroffenen“ als Handelnde mit eigenen Motiven, Bedürfnissen und Interessen gezeigt und nicht als zu Behandelnde. Das Geschehen wird nicht aus der Sicht der Lehrerin, der Eltern, der Polizei oder anderer „Zuständiger“ gezeigt, sondern konsequent aus der Perspektive der Jugendlichen. Und es wird dabei gerade in seiner Unzugänglichkeit zugänglich.

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8.2.4 Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit Die beschriebenen Demarkierungen können zu einem Scheitern sensomotorischer Wahrnehmungsgewohnheiten führen; zu einem Stutzen und Aufmerken, zu einer „gesteigerten Wahrnehmung“. In dieser Situation wird in dem Film „L’esquive“ Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit präsentiert, und zwar als gegenwärtiges Erleben, das sich der vorhandenen Ordnung entzieht. Diese Qualität wird mit dem Titel des Films bereits angedeutet, denn der Begriff „L’esquive“ steht für eine Ausweichbewegung beim Fechten. Also für die Bewegung einer anwesenden Person, die da ist, indem sie ausweicht. Beim Fechten werden die Ungreifbarkeit und die Präsenz des Gegners gerade in dem Moment erfahrbar, in dem er sich mit einer geschickten Bewegung entzieht. Der Gegner wird verfehlt und bleibt gleichzeitig gegenwärtig. Als Beispiele für die Präsentation gegenwärtigen Erlebens, das sich zeigt, indem es sich der vorhandenen Ordnung entzieht, werde ich zwei Filmszenen näher betrachten: zuerst eine Szene, in der Krimo vor seiner Schulklasse die Rolle des Arlequin probt, und danach die Szene, in der die Aussprache zwischen Krimo und Lydia durch eine Polizeikontrolle beendet wird. 8.2.4.1 Krimo auf der Bühne Nachdem Krimo die Rolle des Arlequin übernommen hat, gibt es zwei Szenen, in denen er während des Unterrichts unter Anleitung der Lehrerin probt. Vor der ersten Probe verhält sich die Lehrerin freundlich und aufmunternd. Sie sagt zu Krimo, er solle sich entspannen, es gebe keinen Grund sich zu sorgen, schließlich sei es das erste Mal. Krimo spricht während seines Auftritts undeutlich und ausdruckslos, und es wird klar, dass seine Darstellung nicht den Vorstellungen der Lehrerin entspricht. Sie versucht, Krimo das Empfinden seiner Figur mit folgender Erläuterung zu vermitteln: „Ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber er ist fröhlich, er ist lebendig, er ist verliebt, sie ist wunderschön. Also, da ist viel mehr Glück, alles klar? Mehr, mehr Lust am Leben, vielmehr Glück, klar? Weniger Traurigkeit.“ (0.52.30 – 0.52.43)3 Für den Zuschauer wird die Einschätzung der 3

Die Zeitangaben beziehen sich auf die deutsche Fernsehfassung des Films, die unter dem Titel „Nicht ja nicht nein“ am 03.09.2007 auf Arte ausgestrahlt wur-

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Lehrerin dadurch plausibel, dass ihm die Rollen-Interpretation von Krimos Vorgänger Rachid noch sehr gegenwärtig ist, der den Arlequin souverän und heiter gespielt hatte. Nach dieser Probe trifft sich Krimo zur weiteren Arbeit an seiner Rolle mit Lydia. Er fragt sie dabei, ob sie mit ihm gehen möchte, und sie antwortet, dass sie es nicht weiß und dass sie sich auch nicht spontan entscheiden kann. Krimo kann Lydias Unentschlossenheit nicht nachvollziehen, und die ungeklärte und für ihn nicht kurzfristig klärbare Situation macht ihn hilflos. Sein aktuelles Empfinden unterscheidet sich damit stark von der spielerischen Leichtigkeit, mit der die Figur des Arlequin um die von Lydia gespielte Lisette wirbt4. In der nächsten Probe während des Unterrichts tritt Krimo erneut sehr verhalten und unsicher auf. Er spricht leise und ohne Ausdruck. Die Lehrerin äußert sich nun fordernder und ungeduldiger, ihre Regieanweisungen werden lauter, während Krimo zunehmend verstummt. Sie fordert ihn auf, lebendiger und offensiver zu sein: „Schlüpf’ aus deiner Haut! Geh’ aus dir ’raus! Klar? Amüsier’ dich und empfinde Freude daran!“ (1.09.46 – 1.09.51) Krimos aktuelles Empfinden hat keinen Platz in dieser Situation, in der es darum geht, schnell und flexibel die Rolle zu wechseln. Also „aus seiner Haut zu schlüpfen“ und dabei unter Ausblendung des gegenwärtigen Erlebens auf Anweisungen oder Anforderungen zu reagieren. Die Lehrerin tritt als Autorität auf, die den Text verstanden hat, und die ihre Schüler zu der Umsetzung genau dieses Verstehens führen will. Sie macht ihre eigene Perspektive dabei auf sehr ausschließliche Weise zum Maßstab ihrer Inter-

de. Bei den folgenden Filmbeispielen (Kapitel 8.3 und 8.4) beziehen sich die Zeitangaben auf die deutschen DVD-Fassungen (in allen Fällen handelt es sich um die Echtzeitzählung). 4

Darin liegt gleichzeitig eine weitere Demarkierung: Denn in dem MarivauxStück „erkennen“ sich „die Richtigen“ – trotz einer eigentlich unmöglichen Konstellation (die bürgerlichen Protagonisten sind jeweils zunächst als Diener verkleidet und wähnen die gegenseitige Anziehung als eine gesellschaftlich sittenwidrige Situation) (Marivaux 1992 [1730]). Diese Art der Geschichte – die ich in Kapitel 5.3 als affirmative Wiederholung von Normalitätsvorstellungen betrachtet habe – wird in dem Film „L’esquive“ gleichzeitig aufgerufen und gebrochen, da Lydia nicht erkennen kann, ob Krimo der Richtige ist, und da sie bis zum Schluss weder „ja“ noch „nein“ zu der Beziehung mit ihm sagen kann.

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ventionen. Die Aufforderung „schlüpf’ aus Deiner Haut“ steht beispielhaft für ihre Blickrichtung: Sie will ihren Schülern einen Zugang zu der „richtigen“ Darstellung des Stückes verschaffen – auch mit dem Hintergedanken, dass die Schüler dadurch in die Lage versetzt werden, ihre aktuelle (gesellschaftlich-soziale) Situation kritisch zu reflektieren und eventuell zu verändern. Das Erleben der Schüler, also z.B. Krimos Situation „in seiner Haut“, kommt in dieser Perspektive entweder gar nicht in den Blick oder nur als störender Zustand, den es möglichst zu überwinden gilt. Da es für Krimo keinen Raum gibt, „innerhalb seiner Haut“ zu agieren, er aber auch nicht „aus seiner Haut schlüpfen“ kann, verstummt er und bleibt hilflos auf der Bühne stehen. In dieser Hilflosigkeit wird sein „gegenwärtiges Erleben“ (Deleuze 1997b, S. 286, vgl. Kapitel 7.2.1) als „unmögliches Erleben“ sehr präsent. Und zwar in seiner Kollision mit der von der Lehrerin repräsentierten Ordnung. Dieser perzeptiv unmittelbar wahrnehmbare Zusammenstoß wird dadurch herbeigeführt, dass dem Zuschauer zunächst die Perspektive der Lehrerin vermittelt wird. Sie erläutert das Stück auf eine plausible Weise und gibt den Schülern engagiert Hinweise zur Gestaltung der Rollen. Die Gültigkeit dieser Perspektive wird dadurch gestützt, dass Rachid und Lydia die Anweisungen der Lehrerin scheinbar mühelos umgesetzt haben, und dass Krimos verhaltenes Spiel auch bei seinen Mitschülern befremdetes Kichern und Spott auslöst. Gleichzeitig wird Krimos Erleben auch aus dessen eigener Perspektive gezeigt, und seine Bedürfnisse und sein Empfinden werden spürbar. Der Zuschauer sieht, was Krimo investiert, um seinem Erleben einen Raum zu verschaffen: Er schenkt Rachid heimlich seine „Schätze“ (z.B. Turnschuhe und einen CD-Spieler), um den Arlequin spielen zu dürfen, er investiert Zeit und Mühe, um seinen Text zu lernen und weist dafür auch Kontaktangebote seines Freundes Fatih zurück. Und er stellt sich auf die Bühne und setzt sich einer Situation aus, in der sein Umgang mit diesem Erleben zur Disposition gestellt ist. Krimo erscheint daher auch als jemand, der sich in einer verletzlichen und gefährdeten Position befindet. Aber sein Erleben wird in der von der Lehrerin vertretenen Ordnung von Anleitung und Umsetzung, von Ursache und Wirkung nicht zugänglich. Es entzieht sich einer pädagogischen Vermittlungslogik. Da die Lehrerin sich in ihrem Handeln auf eine solche Logik beruft, kann sie nicht verstehen, dass Krimo nicht „aus seiner Haut schlüpfen“ kann und verdächtigt

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ihn sogar, sich absichtlich keine Mühe zu geben. Die Unzugänglichkeit von Krimos Position spiegelt sich auch in der „Sprachlosigkeit“ der Lehrerin. Sie findet keine Worte, mit denen sie eine Brücke zwischen ihrer Vermittlungsabsicht und Krimos Erleben schlagen könnte: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll; du wirkst traurig.“ (0.52.28 – 0.52.30) „Amüsier’ dich! Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Amüsier’ dich!“ (1.08.27 – 1.08.32) „Geh’ es irgendwie anders an! Geh’ ’raus aus dir, damit du auch an die Sprache anders ’ran gehen kannst!“ (1.08.50 – 1.08.56) Es ist wahrscheinlich, dass der Zuschauer an dieser Stelle der Perspektive der Lehrerin folgt, weil sie mit ihrem Vorgehen auf eine vertraute pädagogische Wirkungsvorstellung zurückgreift, deren völliges Versagen sich vorhandenen Wahrnehmungsgewohnheiten widersetzt. Das Scheitern der Lehrerin führt möglicherweise auch beim Zuschauer zunächst zu einem Unverständnis für Krimo und zu dem gleichen aggressiven Impuls, Krimo „wachzurütteln“, dem auch die Lehrerin zuerst folgt. Vor diesem Hintergrund kann es dann zu einer konfrontativen Begegnung mit Krimos Erleben kommen. Denn dieses ist sehr gegenwärtig und lässt sich nicht mit der Begründung „überspringen“, Krimo gebe sich keine Mühe. Es entsteht ein Spannungszustand, der für den Zuschauer möglicherweise dadurch verstärkt wird, dass er – seiner vertrauten Alltagswahrnehmung folgend – mit einem Erfolg des Vorgehens der Lehrerin gerechnet hat. Diese Perspektive rutscht nun an Krimos aktuellem Erleben ab. Seine offensichtliche Hilflosigkeit und seine Traurigkeit – die dadurch perzeptiv zugänglich werden, dass er noch einige Momente wortlos auf der Bühne stehen bleibt, während sein Gesicht in Nahaufnahme zu sehen ist – können vor diesem Hintergrund zu einem Erschrecken führen. Zu einem Erschrecken über die destruktive Dimension der eigenen Perspektive. Denn es wird deutlich, wie sehr Krimos Erleben durch den Maßstab der eigenen Ordnung in den Bereich des Unmöglichen gedrängt wird. 8.2.4.2 Polizeikontrolle Am Schluss des Films findet das von Fatih eingefädelte Treffen zwischen Lydia und Krimo statt. Fatih bringt Krimo dafür mit einem gestohlenen Auto an einen Treffpunkt, an dem Lydia und zwei Freundinnen warten. Krimo und Lydia setzen sich in das Auto, während Fatih und Lydias Freundinnen am Wegesrand abwarten. Krimo raucht einen Joint; er wirkt befangen und ärgert sich über Fatihs Einmischung. Trotzdem wünscht er sich eine Ant-

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wort von Lydia. Die ist ebenfalls wütend über Fatihs Versuch, eine Antwort zu erzwingen, und wiederholt, dass sie sich nicht für oder gegen eine Beziehung mit Krimo entscheiden kann. In diesem Moment hält ein Polizeiwagen hinter ihrem Auto. Die Beamten fordern die Fahrzeugpapiere und weisen Lydia und Krimo an auszusteigen. Fatih kommt dazu und versucht, die Situation zu erklären. Er sagt, Lydia und Krimo hätten nur ein wenig „quatschen“ wollen – über etwas Privates. Sie seien dazu in das Auto eingestiegen, das zufällig offen am Straßenrand gestanden habe. Die Polizisten glauben Fatih nicht, sie unterbrechen ihn grob und fordern alle Jugendlichen auf, ihre Taschen auszuleeren und die Hände auf die Motorhaube des Autos zu legen. Mit Ausnahme von Krimos Joint ergibt die Durchsuchung keine verdächtigen Funde, aber trotzdem gehen die Beamten sehr brutal vor. Während die Jugendlichen sich zunächst ruhig und höflich verhalten, äußern die Polizisten sich rüde und respektlos und setzen auch körperliche Gewalt ein. Sie zwingen die Jugendlichen, reglos zu verharren, indem sie ihnen die Arme auf den Rücken drehen und die Köpfe auf die Motorhaube drücken. Da bis zu dieser Szene die Perspektiven aller Jugendlichen sehr detailliert gezeigt wurden, ist für den Zuschauer deutlich spürbar, dass das brutale Vorgehen der Polizei den Absichten der Jugendlichen in keiner Weise gerecht wird. Es handelt sich bei den Jugendlichen nicht um eine eingeschworene Bande, die in krimineller Absicht Autos stiehlt oder Drogen verkauft, sondern um einzelne Personen, die auf ganz verschiedene Weise und mit ganz verschiedenen Anliegen in die gezeigte Situation hineingeraten sind. Sie alle verfolgen ihre Anliegen mit großer Ernsthaftigkeit und lassen sich auch von Schwierigkeiten nicht entmutigen: Fatih möchte Krimo unbedingt zu einer geklärten Beziehung verhelfen, auch wenn Krimo sich über diese Einmischung zunächst ärgert. Lydia kämpft eisern für den Freiraum, sich (noch) nicht festlegen zu müssen, auch wenn sowohl ihre Freundinnen als auch Krimo dafür kein Verständnis haben. Und Lydias Freundinnen wollen Lydia in der von Fatih erzwungenen Situation beistehen, obwohl sie ihre Unentschlossenheit selber nicht nachvollziehen können. Dieses komplizierte Erleben, das die ProtagonistInnen nicht einmal einander erklären können (Lydia kann Krimo z.B. nicht verständlich machen, warum sie nicht ja und nicht nein sagen kann), hat in der von der Polizei präsentierten Ordnung keinen Raum. Die Beamten finden eine Gruppe Banlieu-Bewohner mit einem geklauten Auto und mit Drogen vor, die erklärt,

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sie hätte etwas zu „bequatschen“ gehabt. Aus Sicht der Polizisten ist diese Erklärung fadenscheinig und weckt eher Misstrauen als Verständnis. An dieser Stelle wird für den Zuschauer sehr eindringlich wahrnehmbar, wie das Erleben der Jugendlichen mit der vorhandenen Ordnung kollidiert. Sie fahren zwar mit einem geklauten Auto und rauchen Haschisch, aber es geht ihnen um die Beschäftigung mit etwas ganz Anderem. Die Polizei konzentriert sich auf ein (illegales) Handeln, das für die Jugendlichen in der gezeigten Situation ein eher unwichtiges Mittel zum Zweck war. Ihre Verzweiflung und ihre Empörung sind deutlich zu hören und zu sehen – Lydia kreischt vor Schmerzen und Wut, Frida weint und Fatih spricht mit gepresster, verwaschener Stimme, weil sein Kopf von einem Polizisten auf das Autodach gedrückt wird. Die Kamera bleibt bei den Jugendlichen, während die Polizisten nur hinter diesen zu sehen sind. Das Empfinden der Jugendlichen ist sehr präsent und gleichzeitig hat es in der gezeigten Situation keinen Raum. Es gibt keine Möglichkeit, die Perspektive der Jugendlichen innerhalb der von der Polizei aufgerufenen Deutungsmuster zu erklären. Der Zusammenstoß zwischen dem Erleben der Jugendlichen und der von der Polizei repräsentierten Ordnung gewinnt bei der Durchsuchung von Frida eine zusätzliche Wucht. Eine Polizistin fragt Frida zunächst rüde, ob sie ihre Taschen wirklich komplett ausgeleert habe. Währenddessen durchsucht sie Fridas Jacke und findet einen Tampon. Sie fährt Frida an: „Was ist das? Wenn man dir sagt, leer’ deine Taschen aus, leerst du deine Taschen aus, ok?“ (1.42.02 – 1.2.07). Anschließend findet sie das Marivaux-Buch und ist empört darüber, dass Frida diesen weiteren Inhalt ihrer Jackentasche verheimlicht hat. Sie kann nicht verstehen, warum Frida das Buch nicht auspacken wollte und vermutet, dass darin etwas Verdächtiges versteckt ist. Beim Durchblättern findet sie nichts und schlägt Frida wütend mit dem Buch: „Was ist das? Was ist das? Was ist da drin? Was ist das? Du solltest deine Taschen ausleeren! Verstehst du das nicht? Was ist – verstehst du mich oder nicht? Krieg’ ich ’ne Antwort?“ (1.42.08 – 1.42.20) Frida kann auf die Frage nicht antworten; es gibt für sie keine Möglichkeit, sich innerhalb des von der Polizei aufgerufenen Verstehensrahmens zu erklären. Es wird deutlich, dass ihr Handeln von der Polizistin als Unterschlagung eines potenziell verdächtigen Gegenstandes völlig missverstanden wird. Die Polizistin ist nicht in der Lage, andere Deutungsmöglichkeiten auch nur zu prüfen. Sie kommt nicht auf die Idee, dass Frida das Buch tatsächlich um des Buches willen dabei hat, sondern vermutet, dass sie das

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Buch benutzt, um darin etwas zu verstecken. Die Polizistin ist nicht in der Lage zu sehen, dass Frida andere Gegenstände als verfänglich betrachtet als die Polizei. Und dass es aus Fridas Sicht gute Gründe dafür geben kann, den Tampon und das Buch nicht auszupacken, ohne dass dieser „Ungehorsam“ ein Indiz für kriminelle Absichten sein muss. Frida präsentiert an dieser Stelle ein „unmögliches Erleben“: Sie will sich der Polizei gar nicht grundsätzlich widersetzen und folgt trotzdem nicht den Anweisungen der Polizistin. Möglicherweise weil sie ahnt, dass ihre Perspektive in dem von der Polizei vorgegebenen Deutungszusammenhang nicht vermittelbar ist, und weil sie ihr Erleben – für das sie sich im Alltag äußerst mühsam immer wieder Raum erkämpft – nicht einem erneuten Ausschluss preisgeben möchte. Während Frida dabei zusieht, wie die Kontrolle fortgesetzt wird, laufen Tränen über ihr Gesicht. In der letzten Einstellung dieser Sequenz sind die auf dem Autodach liegenden Habseligkeiten der Jugendlichen zu sehen. Das zerlesene Marivaux-Buch von Frida liegt dabei im Vordergrund. Die „Unmöglichkeit“ von Fridas Position wird an dieser Stelle noch einmal perzeptiv zugänglich. Ihr Kummer und ihre Verletzlichkeit sind in ihrem stummen Weinen sehr gegenwärtig, haben aber in der Kontrollsituation keinen Ort. Für den Zuschauer wird die Abwesenheit von Zugehörigkeiten erfahrbar. Er kann Fridas Verletztheit wahrscheinlich nachempfinden, weil er während des gesamten Films verfolgt hat, wie Frida darum ringt, in Ruhe gelassen zu werden (sie möchte am liebsten alleine proben, sie möchte nicht in Lydias Beziehungsprobleme verwickelt werden und sie nimmt an dem Treffen überhaupt nur teil, weil Fatih sie dazu genötigt hat). Die Härte des Polizeieingriffs wirkt vor diesem Hintergrund ungerecht und übergriffig. Gleichzeitig spürt der Zuschauer, dass es für Frida und die anderen Jugendlichen in der Kontrollszene keinerlei Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten gibt. Es geht der Polizei nur um die Frage, ob Frida etwas Gesetzeswidriges getan hat – eine Frage, die sich für Frida gar nicht stellt. Aber sie hat keine Chance, in ihrem Erleben wahrgenommen zu werden, einem Erleben, das keinen Platz in der von der Polizei aktualisierten Ordnung hat. Ihr Buch ist ein Symbol dafür: Es liegt deutlich sichtbar und gegenwärtig auf dem Autodach, aber es wird nicht als ihrem Erleben zugehörig behandelt, sondern als potenziell verdächtiger Gegenstand, dessen Bewertung nun Sache der Polizei ist. Es wird Fridas Zuständigkeit einfach entzogen und ausschließlich im Licht polizeilich relevanter Kategorien be-

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trachtet. Und in diesem Licht wirkt es bedeutungslos und nicht zu dem „Fall“ zugehörig – ebenso wie Fridas Empfinden. Der Eigensinn der Jugendlichen hat als „unmögliches Erleben“ in der vorhandenen Ordnung keinen Ort. Und trotzdem wird es in dem Film „L’esquive“ für den Zuschauer als Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit erfahrbar. Denn der Zuschauer nimmt die Wirklichkeit der Heranwachsenden auf einer perzeptiven Ebene sehr deutlich wahr und stellt gleichzeitig fest, dass sie in der aktuellen Ordnung – die in dem Film immer wieder aufgerufen wird (vgl. die obigen Ausführungen zu den filmischen Demarkierungen in „L’esquive“) – nicht zugänglich wird. Auch dem Zuschauer fällt keine Erklärung ein, die dem Erleben der Jugendlichen entsprechen und gleichzeitig aus der Perspektive der Polizisten überzeugen würde. In dem Film wird eine Wirklichkeit produziert, die auf diese Weise nirgendwo sonst gegeben ist: Es wird ein Verweilen bei dem „unmöglichen Erleben“ der Jugendlichen erzwungen, das in einer alltäglichen Situation wahrscheinlich mit Hilfe sensomotorischer Deutungsmuster „übersprungen“ worden wäre. Die Alltagswahrnehmung, die tendenziell entlang der vorhandenen Ordnung verläuft, erleichtert es, Ausgeblendetes auch ausgeblendet zu lassen, weil wir darin geübt sind, Ankerpunkte für vertraute Verstehensmöglichkeiten zu suchen und zu finden. In diesem Fall könnten das die unbestreitbaren Tatsachen sein, dass die Jugendlichen mit einem gestohlenen Auto gefahren sind und Haschisch geraucht haben. In einer alltäglichen Wahrnehmungssituation würden diese Hinweise wahrscheinlich dazu genutzt, das Verhalten der Jugendlichen vor dem Hintergrund der vorhandenen Ordnung zu sehen und zu bewerten – z.B. als klassischen Fall von Delinquenz, auf den mit klar vorgegebenen Antwortoptionen reagiert werden kann. Es würde gar nicht die Frage aufkommen, welche Perspektiven mit einer solchen Sichtweise ausgeschlossen werden. Die Spannung, in der das Erleben der Jugendlichen zu der vorhandenen Ordnung steht, würde damit aufgelöst bzw. der Wahrnehmungsmöglichkeit entzogen. In dem Film „L’esquive“ entsteht dagegen die Möglichkeit zu einer Begegnung mit Figuren, die immer wieder auf ihr eigenes Erleben zurückkommen, das sich den Kategorien der vorhanden Ordnung entzieht. In Kapitel 5.2 habe ich Bildung als Fähigkeit beschrieben, die eigene Ordnung als andersmöglich zu denken, und auf diese Weise gesellschaftlichen und individuellen Transformationsprozessen den Weg zu bereiten. Filme wie „L’esquive“ können dazu einen Beitrag leisten, indem sie die

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Einblendung des der Ordnung Fremden erzwingen und damit die Selbstvergewisserung vom Eigenen aus auf konstruktive Weise stören. In dem Film „L’esquive“ wird erfahrbar, dass die eigene Ordnung eine „Rückseite“ hat, und dass auch gut gemeinte Integrationsversuche Ausschlüsse erzeugen können – so z.B. der Versuch der Lehrerin, Krimo in den Kreis der kompetenten Theaterspieler zu integrieren. Scheinbar alternativlose Selbstverständlichkeiten wie die Forderung nach Integration und pädagogischer Förderung werden als doppelbödig wahrnehmbar. Sie können einerseits die Stabilisierung der vorhandenen Ordnung und ihrer Mitglieder ermöglichen, andererseits aber auch zu einer systematischen Verkennung des Fremden führen und damit eine sehr destruktive Dimension haben. Das heißt nicht, dass vorhandene Ordnungen oder – um bei dem gerade genutzten Beispiel zu bleiben – gängige Konzepte zur Integration und zum Kompetenzerwerb grundsätzlich zerstörerisch sind. Aber es heißt, dass das Sich-Einrichten in der vertrauten Perspektive bei gleichzeitiger Ausblendung der grundlegenden Fremdheit der eigenen Ordnung problematische Folgen haben kann – z.B. die, dass diejenigen, deren Erleben in vorhandenen Kategorien nicht zugänglich wird, keine Chance haben, „gesehen“ zu werden. Die Lösung kann nicht darin bestehen, vormals Ausgeschlossenes umfassend einzuschließen, denn auch damit würde die Rückseite dieses Prozesses übersehen. Vielmehr muss es darum gehen, das „Ungeregelte[ ] und nicht zu Regelnde[ ]“ (Waldenfels 2001, S. 155) in seiner Unzugänglichkeit wahrzunehmen, also das Fremde von dem Moment des SichEntziehens aus im Blick zu behalten. Es geht darum, eine grenzbewusste Haltung zu entwickeln, die es ermöglicht, Verunsicherungen zuzulassen und der Kontingenz der eigenen Ordnung gewahr zu bleiben. Eine solche Perspektive wird durch den Film „L’esquive“ sehr nahe gelegt, da er den Zuschauer bei seiner vertrauten Wahrnehmung „abholt“, und von dort aus erfahrbar macht, dass diese zu weit reichenden Ausschlüssen führen kann. Daher können Filme wie „L’esquive“ dazu anregen, die eigene Ordnung als andersmöglich wahrzunehmen und auf diese Weise das SichEreignen transformatorischer Bildungsprozesse wahrscheinlicher machen.

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8.3 ANTWORTEN

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AUF DEN ANSPRUCH DES ALS NORMATIVE H ALTUNG – DAS F ILMBEISPIEL „D ER S OHN “

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Im vorigen Abschnitt ging es um die Forderung, die eigene Ordnung als kontingent wahrzunehmen und für Transformationsprozesse offen zu halten. In Kapitel 5.3 habe ich deutlich gemacht, dass der Anspruch des Fremden dabei als normative Orientierung gedacht werden kann. Vor diesem Hintergrund sind besonders solche Transformationsprozesse wünschenswert, deren Ausgangspunkt der Versuch ist, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden. Also eine „kreative[ ] Antwort“ zu erfinden, „in der wir geben, was wir nicht haben“ (Waldenfels 1997, S. 53, vgl. Kapitel 3.6). In einer solchen Antwort können die Bedingungen des Verstehens und der Verständigung selbst verändert werden (vgl. Waldenfels 2006, S. 67); es handelt sich um ein „Maßgeben, das nicht an anderem Maß nimmt“ (Waldenfels 1987, S. 145 und Kapitel 5.3). Es geht um ein innovatives Antwortgeschehen, das nicht in einem endgültigen Resultat zur Ruhe kommen kann, sondern als unabschließbarer Prozess betrachtet werden muss, der durch das unkalkulierbare Angesprochen-Sein von etwas Fremdem immer wieder herausgefordert wird. In dem Film „Der Sohn“ wird der Anspruch des Fremden immer wieder erfahrbar, und gleichzeitig wird ein Antworten vom Eigenen aus erschwert. Daher bietet der Film nach meiner Einschätzung die Möglichkeit, die von Waldenfels beschriebene normative Haltung zu erproben, bei der es darum geht, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden. 8.3.1 Der Film „Der Sohn“ Die Hauptfigur des Films ist der Schreiner Olivier, der als Ausbilder in einem Lehrzentrum für straffällig gewordene Jugendliche arbeitet. Oliviers Sohn wurde fünf Jahre zuvor von einem Jugendlichen getötet, der zunächst nur das Radio aus Oliviers geparktem Auto stehlen wollte, dabei aber von Oliviers Sohn überrascht wurde, der auf der Rückbank wartete, und den der Täter zunächst übersehen hatte. Olivier lebt alleine in einer sehr einfachen Wohnung, er ernährt sich von Fertiggerichten oder Imbiss-Kost und er hat ständig Rückenschmerzen.

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Seine Ex-Frau Magali, die Mutter des getöteten Sohnes, lebt getrennt von Olivier mit einem neuen Mann zusammen, von dem sie ein Kind erwartet. Der Film beginnt damit, dass sich ein neuer Lehrling in dem Ausbildungszentrum bewirbt, von dem Olivier sich – auf eine für den Zuschauer zunächst unerklärliche Weise – angezogen fühlt. Später stellt sich heraus, dass es sich bei dem Lehrling um den Mörder von Oliviers Sohn handelt (was allerdings erst nur Olivier weiß, der den Namen in den Bewerbungsunterlagen wiedererkannt hat). Olivier sorgt dafür, dass Francis, der Täter, in seine Abteilung aufgenommen wird und sucht immer wieder die Begegnung mit ihm: Er bringt Francis nach Feierabend noch einige Dinge bei, die die anderen Lehrlinge bereits können, er nimmt ihn auf dem Heimweg in seinem Auto mit, und er lädt ihn zu einem gemeinsamen Besuch des nahe gelegenen Sägewerks ein. Auf der Fahrt zum Sägewerk befragt er Francis zu seiner Tat und zu seinem Gefängnisaufenthalt, aber der antwortet eher ausweichend und knapp. Erst im Sägewerk gibt Olivier sich als Vater des Opfers zu erkennen, woraufhin Francis die Flucht ergreift, weil er fürchtet, Olivier wolle sich rächen. Olivier verfolgt Francis und es kommt zu einem kurzen Gerangel, als er ihn in einem nahe gelegenen Waldstück einholt. Aber Olivier lässt schnell wieder von Francis ab und fährt damit fort, seinen Anhänger mit Holz zu beladen. Der Film endet damit, dass Francis dazukommt und nach einem langen und wortlosen Blickwechsel mit Olivier beim Beladen des Anhängers hilft. 8.3.2 Zur Analyse Die Notwendigkeit, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden, wird in dem Film „Der Sohn“ vor allem über eine Verfremdung vertrauter Erfahrung (vgl. Kapitel 7.1) erlebbar. Denn der Film führt über das wiederholte Abreißen sensomotorischer Zusammenhänge zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit, die aber – wie ich gleich ausführen werde – aufgrund des „halbsubjektiven“ (vgl. Kapitel 6.2.3) Charakters der Filmbilder keinen Halt in einer der gezeigten Perspektiven findet.

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8.3.3 Verfremdung vertrauter Erfahrung Anders als „Caché“ beginnt der Film „Der Sohn“ nicht mit offenen Wahrnehmungsbildern, sondern mit gerahmten Bildern, die sich dann in Richtung einer unzentrierten Wahrnehmung öffnen. Die Kamera folgt zunächst Olivier und zeigt ihn dabei von schräg hinten oder „blickt“ ihm über die Schulter. Der Zuschauer sieht das, was auch Olivier sieht – z.B. die Vertragsunterzeichnung zu Beginn des Films, die Olivier von einem Nebenraum aus beobachtet. Aber die Bilder sind nicht nur dadurch gerahmt, dass dem Zuschauer Oliviers Perspektive angeboten wird, sondern auch dadurch, dass mit dieser Perspektive eine sensomotorische Wahrnehmung aktiviert wird: Es werden klassische Aktionsbilder gezeigt, von denen der Zuschauer erwartet, dass sie ihn irgendwo hin „führen“. Da der Zuschauer zunächst weniger Informationen hat als Olivier, entsteht ein sensomotorischer Klärungsimpuls. Es ist unklar, warum Olivier durch das Lehrzentrum schleicht, als hätte er etwas zu verbergen, warum er sich auf eine so „heimliche“ Weise für den neuen Lehrling interessiert und warum er alarmiert reagiert, als seine Ex-Frau Magali ihm erzählt, dass sie schwanger ist. Mit diesen Bildern wird die Erwartung geweckt, dass Oliviers rätselhafte Aktionen nach dem Schema ASA’ zu der Enthüllung einer klar verstehbaren Situation führen werden (vgl. Kapitel 6.3.3). Und tatsächlich wird eine scheinbar klare Situation enthüllt, als der Zuschauer über ein Gespräch zwischen Olivier und Magali erfährt, dass es sich bei dem neuen Lehrling um den Mörder des gemeinsamen Sohnes handelt. Doch gleichzeitig wird an dieser Stelle die Wahrnehmung in eine unzentrierte Situation hinein geöffnet, denn die vermeintliche Klärung führt gar nicht zu mehr Klarheit. Die enthüllte Situation bringt keine notwendigen Aktionen hervor, und die zunächst aktivierte sensomotorische Wahrnehmung wird nicht weiter bedient. Oliviers Verhalten hat nicht den Charakter gezielter Handlungen, sondern eher den eines ziellosen Ausprobierens. Olivier setzt sich der Begegnung mit Francis und dessen Situation immer wieder aus, ohne sagen zu können, warum und in welcher Absicht. Z.B. als er Francis’ Wohnungsschlüssel stiehlt und heimlich dessen Wohnung aufsucht. Dabei handelt es sich weder um eine Aktion, die sich notwendig aus der vorhandenen Situation ergibt, noch um eine Aktion, die zu einer Veränderung dieser Situation führen wird. Olivier geht in der Wohnung umher, sieht sich um, setzt sich für einige Momente an den Tisch, sieht aus dem Fenster und legt sich für

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kurze Zeit auf das Bett. Für den Zuschauer führt das möglicherweise zu einer Verfremdung vertrauter Erfahrung, weil sensomotorische Verstehensgewohnheiten keinen Halt finden. Olivier will Francis nicht hereinlegen; er will ihm keine Falle stellen oder sich unbemerkt verfängliche Informationen beschaffen. Er bewegt sich nicht gezielt handelnd in Francis’ Wohnung, sondern eher wahrnehmend. Und auch dem Zuschauer wird dabei abverlangt, genau hinzuschauen, da die Situation vor dem Hintergrund vertrauter Handlungsoptionen nicht zugänglich wird: Olivier übt weder Rache, noch signalisiert er Verständnis oder Vergebung. Die Wahrnehmung von „Klischees“ (vgl. Kapitel 7.1) wird hier verhindert oder zumindest erschwert. Die Bilder werden, losgelöst von alltäglichen Signifikationsprozessen, in ihren Überschüssen zugänglich. Francis erscheint in diesem Moment nicht als Täter, sondern als Mensch, der sich seinem Leben buchstäblich auf eine sehr einfache und anspruchslose Weise „eingerichtet“ hat. Die Banalität seiner Lebens- und Wohnsituation, die Einfachheit und Austauschbarkeit seiner Möbel stehen im Kontrast zu der Unfassbarkeit und Singularität, die seine Tat für Olivier hat. Es wird deutlich, dass es keinen eindeutigen oder spektakulären Hinweis gibt, der die Tat verstehbar machen könnte, und dass es keine einfache oder notwendige Aktion gibt, mit der sich Oliviers Erschütterung abschließen oder auflösen ließe. Das unkalkulierbare Angesprochen-Sein von etwas Unzugänglichem, das Oliver empfindet, wird in seiner Unzugänglichkeit auch für den Zuschauer erfahrbar, weil die Wahrnehmungserfordernis nicht durch die Fortsetzung der Situation in eine Handlung hinein aufgelöst wird. Der Zuschauer macht unter Umständen die Erfahrung, dass es in einer verunsichernden und verwirrenden Situation kein vertrautes Antwortmuster gibt, das er nur noch aufrufen müsste, sondern dass es nötig wird, anders und neu auf diese Situation zu antworten. Diese Erfordernis trifft den Zuschauer im Verlauf des Films immer wieder. Oft auf eine konfrontative Weise, weil der Zuschauer wiederholt bei der sensomotorischen Erwartung „abgeholt“ wird, es werde sich eine Handlungsmöglichkeit eröffnen, die zu einer neuen und klaren Situation führt. Dies geschieht z.B. indem das filmische Repräsentationsmuster der Kriminalgeschichte an vielen Stellen zitiert, dann aber wieder abgebrochen wird, sodass ein andauernder Spannungszustand entsteht und die beschriebene Verfremdung der Wahrnehmung ständig wiederholt wird. Olivier hantiert in Francis’ Nähe z.B. immer wieder mit gefährlichen Werkzeugen, die

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er dann aber doch nur für unverfängliche Zwecke nutzt. Die jeweilige Situation und die Kameraeinstellung wecken aber zunächst die Erwartung, er würde Francis im nächsten Moment etwas antun. Beispielsweise bleibt er gleich zu Beginn des Films mit Francis alleine in der Werkstatt und zieht hinter Francis’ Rücken ein Messer aus einer Schublade, das er dann aber doch nur benutzt, um einen Gurt zurechtzuschneiden. Oder am Ende des Films, als Olivier mit einem langen Strick hinter Francis steht, mit dem er aber nur Holz auf seinem Anhänger verschnürt. Die scheinbaren Aktionsbilder öffnen sich immer wieder in reine Wahrnehmungssituationen hinein. Der aktivierten Aufmerksamkeit wird auf diese Weise plötzlich die Richtung entzogen, sodass die Überschüsse und Fremdheiten der gezeigten Situationen hervortreten können, die sonst von der „gerichteten Wahrnehmung“ übersprungen werden. Auf diese Weise wird die Notwendigkeit erfahrbar, eine kreative Antwort zu erfinden. 8.3.4 Halbsubjektive Bilder Ein Teil der Verfremdung vertrauter Erfahrung liegt also darin, dass die gezeigten Bilder nicht in einer Handlungsperspektive aufgehen. Zusätzlich werden die Wahrnehmungsbilder, die an dieser Grenze entstehen, dadurch vielschichtig, dass sie als „halbsubjektive Bilder“ nicht nur Oliviers Sichtweise zeigen, sondern eine eigene Blickrichtung bieten (vgl. Kapitel 6.2.3). Wir sehen nicht nur, wie Olivier die Dinge sieht, sondern auch, wie er dabei von der Kamera „gesehen“ wird. Dieses zwischengeschaltete „Kamerabewußtsein“ (Deleuze 1997a, S. 107) verhindert ein Sich-Einrichten in Oliviers Perspektive. Für Olivier geht es darum, sich mit dem Mörder seines Sohnes und mit dem Hintergrund der Tat auseinanderzusetzen. Das Bedürfnis nach irgendeiner Art von Klärung ist für ihn Grundlage der Begegnung mit Francis – auch wenn es keine einfache Aktion gibt, die zu einer solchen Klärung führen könnte. Aber die Kamera bewegt sich zwischen Olivier und Francis, und es wird deutlich, dass Francis’ Blickwinkel ein ganz anderer ist. Francis weiß bis kurz vor Ende des Films nicht, dass Olivier der Vater seines Opfers ist, und er versucht, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu blicken. Für ihn geht es darum, im „normalen Leben“ anzukommen und ein möglichst freundliches Lehrling-Meister-Verhältnis aufzubauen. In diesem Zusammenhang spricht er Olivier auf eine sehr aktive und direkte Weise

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an: Er fragt Olivier bei einer Rast, ob dieser Lust habe, gemeinsam eine Partie Kicker zu spielen, er erkundigt sich, ob er Olivier bei seinem Vornamen nennen dürfe wie die anderen Lehrlinge, und er bittet ihn, sein Vormund zu werden, weil er anstelle seines offiziellen Wiedereingliederungshelfers gerne einen Betreuer „von draußen“ hätte. Für den Zuschauer entsteht eine Spannungssituation, weil die Perspektiven von Olivier und Francis kollidieren, diese Kollision aber nicht in eine Richtung aufgelöst wird. Beide Blickwinkel werden gleichzeitig präsentiert und dabei in ihrer Unvereinbarkeit zugänglich. So lässt Olivier Francis immer wieder auflaufen, wenn dieser Kontaktangebote macht oder annimmt: Er lehnt die angebotenen Pommes Frittes ab, als er Francis abends in einem Imbiss trifft, er steigt danach plötzlich und ohne Begründung aus dem gerade begonnenen Small Talk aus, er wünscht bei der Rast auf dem Weg zum Sägewerk eine getrennte Bezahlung des Gebäcks, obwohl er Francis zuvor gefragt hatte, ob dieser etwas essen möchte. Gleichzeitig geht auch Francis nicht auf Oliviers Verstehensbedürfnis und dessen Fragen ein. Er antwortet zunächst ausweichend auf die Frage, warum er im Gefängnis war, er kann nicht erklären, warum er den Mord begangen hat, und anstatt sich auf ein Gespräch einzulassen, schläft er im Auto auf dem Weg zum Sägewerk ein. Und auch in den Momenten, in denen Francis sich zu seiner Tat äußert, wird klar, dass seine Antworten die Situation für Olivier nicht zugänglicher machen. Francis erwähnt eher beiläufig, er sei im Gefängnis der „Champion“ gewesen, weil er einen Menschen umgebracht habe. Eine Bemerkung, die aus Oliviers Sicht kaum auszuhalten ist, aber deutlich macht, dass Francis sich auf einen völlig anderen Deutungsrahmen bezieht als Olivier. Francis beruft sich auf die Spielregeln und auf die normativen Maßstäbe, die im Gefängnis galten und an denen er sich fünf Jahre lang orientiert hat, und er beantwortet Oliviers Fragen innerhalb dieses Rahmens, z.B. als er auf die Frage, ob er seine Tat bereue, angibt „natürlich“ (1.19.52) und auf Oliviers Nachfrage hin erläutert: „Fünf Jahre eingesperrt, das bereut jeder!“ (1.19.56) Oder als er am Ende des Films die befürchtete Rache abwenden will und zu bedenken gibt: „Ich war fünf Jahre eingesperrt, ich habe bezahlt!“ (1.31.13) Olivier und Francis teilen sich innerhalb widerstreitender Rahmen mit, und es gibt für beide keine Möglichkeit, einander vor dem Hintergrund des jeweils eigenen gerecht zu werden – Francis wird Olivier nicht gerecht, indem er die Tat als erledigt betrachtet und versucht, die Rolle eines ganz

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normalen Lehrlings einzunehmen. Und Olivier wird Francis nicht gerecht, indem er sich ihm ausschließlich mit seinem Verarbeitungsbedürfnis zuwendet und nur dieses zur Basis der Beziehung macht. Die Perspektive des einen scheitert jeweils an der Perspektive des anderen. Francis’ Erklärung „Ich habe bezahlt“ hilft Olivier nicht weiter, weil er verstehen will. Oliviers Erklärung „Ich will nur reden“ (1.31.07) hilft Francis nicht weiter, weil es aus seiner Sicht nichts mehr zu erläutern gibt. Sind wir im Alltag in solche Zusammenstöße verwickelt, so führt die subjektive Zentrierung der Wahrnehmung tendenziell dazu, dass die Situation aus der eigenen Perspektive betrachtet und bearbeitet wird. Dabei wird der Rahmen der „gegnerischen“ Perspektive ausgeblendet und auf diese Weise wird der Anspruch des Fremden übersprungen, der sich der Klärung vom Eigenen aus entzieht. In dem Film „Der Sohn“ bleibt dieser Anspruch dagegen präsent, weil die halbsubjektiven Filmbilder beide Perspektiven gegenwärtig halten und in ihrer Unvereinbarkeit erfahrbar machen. Es entsteht ein Spannungsgefühl, weil der Zuschauer sich weder auf eine der Perspektiven zurückziehen noch auf eine übergeordnete Betrachtungsebene ausweichen kann. Denn auch der Film „Der Sohn“ zeichnet sich durch eine immanente Anordnung aus: Die Kamera bewegt sich zwischen den Personen und nicht auf einer Meta-Ebene, und der Zuschauer weiß nicht mehr als die gezeigten Personen. Das entstehende Spannungsgefühl gewinnt dadurch eine Dauer, dass der Zusammenstoß der Perspektiven nicht in eine Handlung hinein aufgelöst wird. In dieser Situation wird die Notwendigkeit erfahrbar, eine kreative Antwort zu geben; einen neuen Rahmen zu erfinden, innerhalb dessen eine Verständigung möglich wird. Und in dem Film geschieht schließlich genau das: In der letzten Szene kommt Francis nach der Rangelei im Wald zurück zum Sägewerk, wo Olivier seinen Anhänger mit Holz belädt. Beide halten inne und wechseln einen langen Blick. Olivier verzichtet darauf, erneut eine Erklärung einzufordern, und Francis stellt sich dem Kontakt, obwohl er nun weiß, dass die Beziehung zu Olivier nicht die „normale“ Basis hat, die er sich gewünscht hatte. Es entsteht eine andere Art der Begegnung als die von Olivier und Francis zunächst gesuchte (deren Basis Verstehen bzw. Normalität gewesen wäre), aber auch eine andere als die von Francis befürchtete (die in einer Rache Oliviers bestanden hätte). Die Bedingungen des Verstehens und der Verständigung verändern sich in dieser Situation.

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Es findet ein „Maßgeben [statt], das nicht an anderem Maß nimmt“ (Waldenfels 1987, S. 145). Olivier und Francis fahren gemeinsam damit fort, den Anhänger zu beladen, und geben auf diese Weise etwas, „was [sie] nicht haben“ (Waldenfels 1997, S. 53): Sie lassen sich auf einen Umgang miteinander ein, für den es keine erprobten oder vertrauten Handlungsmöglichkeiten gibt, und der nicht auf einen bekannten Weg oder an ein bereits bekanntes Ziel führen wird. Sie sorgen dafür, dass „Sinn im Antworten selbst entsteht“ (ebd.). Allerdings wird diese Art des Antwortens in dem Film „Der Sohn“ nicht als konsumierbares Muster präsentiert; nicht als gelungenes Resultat eines Auseinandersetzungsprozesses, das es nur noch zu verinnerlichen gilt, sondern als „Ereignis“ (vgl. Kapitel 5.3), das seinen Ausgang bei einem unkalkulierbaren Angesprochen-Sein nimmt. Und dieses Ereignis trifft auch den Zuschauer, der damit abermals in seiner potenziellen Erwartung einer sensomotorischen Verstehensmöglichkeit angesprochen wird und möglicherweise damit rechnet, dass die gezeigte Situation nun endlich zu der Möglichkeit einer veränderten Handlung führen wird (ASA’) – die aber erneut ausbleibt. Auch in der Schlussszene findet keine „klärende“ Aktion statt, sondern der Film bricht in einer schwebenden Wahrnehmungssituation einfach ab. Der Zuschauer wird einer Wahrnehmungserfordernis ausgesetzt, die sich von alltäglichen Wahrnehmungssituationen stark unterscheidet: Sensomotorische Deutungsversuche finden keinen Halt, denn es gibt kein vertrautes Repräsentationsmuster (wie Rachegeschichte, Enthüllungsdrama oder Kriminalgeschichte), das den Bildern Sinn verleiht, und die gezeigten Wahrnehmungsbilder führen nicht zu notwendigen Aktionen. Außerdem wird eine Zentrierung der Wahrnehmung verhindert, da es nicht die Möglichkeit gibt, sich an der Blickrichtung einer der Figuren „festzuhalten“. Vermutlich ist Oliviers Perspektive tendenziell diejenige, auf die der Zuschauer „einsteigt“, denn sie scheint zunächst an einen sensomotorischen Zusammenhang gebunden, der allerdings immer wieder abbricht (vgl. oben). Aber anders als die Figur des Georges in dem Film „Caché“ bietet Olivier dem Zuschauer nicht unbedingt die Möglichkeit, das Eigene und Vertraute in seiner Perspektive wiederzuerkennen. Denn Olivier beharrt nicht so kompromisslos auf der Orientierung am Eigenen wie Georges, sondern er folgt dem Angesprochen-Sein von einer Fremderfahrung, weiß aber selber nicht so genau, was er in diesem Zusammenhang von Francis

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erwartet. Er stößt mit seinem Verstehensbedürfnis und mit seinen Verständigungsmöglichkeiten an eine Grenze, an die er den Zuschauer „mitnimmt“. Für den Zuschauer wird erfahrbar, wie die Blickwinkel von Olivier und Francis kollidieren, und er ist gezwungen, bei dieser Kollision zu verweilen, die, wie oben beschrieben, durch die halbsubjektiven Filmbilder sehr gegenwärtig wird. Das Besondere der filmischen Präsentation liegt darin, dass der Zuschauer hier einer Erfahrungsmöglichkeit ausgesetzt wird, für die es „kein Äquivalent in der natürlichen Wahrnehmung gibt“ (Deleuze 1997a, S. 105, vgl. Kapitel 6.2.3), denn in der „natürlichen Wahrnehmung“ erleichtern subjektive Zentrierungen ein Festhalten an der Perspektive des Eigenen. Der Film ermöglicht dagegen ein „Erleben fremden Erlebens“ (vgl. Kapitel 7.3), indem er seine Zuschauer in Erlebnisweisen verwickelt, die sich vorhandenen Welt- und Selbstverhältnissen entziehen. Der Film „Der Sohn“ kann eine normative Erfahrung im oben beschriebenen (vgl. Kapitel 5.3) Sinn ermöglichen, indem er einen „Fremdheitsvorbehalt“ (Schäfer 2001, S. 6) erzwingt, weil die halbsubjektiven Filmbilder sich nicht auf das Eigene hin zentrieren lassen. Dem Zuschauer wird eine Position angeboten, in der er die normative Haltung einer „responsiven Ethik“ (vgl. Waldenfels 2006, S. 10) erproben kann, denn er wird in ein Geflecht aus widerstreitenden Perspektiven verwickelt, die die Erfindung einer neuen Art der Begegnung erfordern. Und diese Antworterfordernis liegt nicht nur bei den gezeigten Figuren, sondern auch beim Zuschauer, der in dem Moment abrupt aus dem Film entlassen wird, in dem die Protagonisten bei dem Beginn einer neuen Art von Kontakt angekommen scheinen. Der Film verhindert auf diese Weise das Einordnen des Gezeigten im Sinne einer „Musterlösung“ und verabschiedet den Zuschauer mit der Notwendigkeit, sich zu den widerstreitenden Perspektiven auf eine produktive Weise ins Verhältnis zu setzen, die über die Übernahme einer Vorgabe hinausgeht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Film „Der Sohn“ den Zuschauer einer „normativen Erfahrung“ aussetzen kann. Er produziert ein Angesprochen-Sein von etwas Unzugänglichem, das als ständiges Spannungsgefühl gegenwärtig ist, und schneidet alle Wege in vertraute Antworten hinein ab. Er macht aber nicht nur die Notwendigkeit erfahrbar, auf eine Fremderfahrung kreativ zu antworten, sondern auch die Möglichkeit dazu. Und zwar, indem er den Zuschauer in ein „Erleben fremden Erlebens“ verwickelt, das einerseits in der Gleichzeitigkeit der gezeigten Perspektiven

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besteht und andererseits in dem offenen Versuch der Protagonisten, die Bedingungen des Verstehens und der Verständigung zu verändern.

8.4 D ER

UNPLANBARE E INBRUCH DES F REMDEN ALS M OTOR DES UNABSCHLIESSBAREN B ILDUNGSPROZESSES – DAS F ILMBEISPIEL „G ESPENSTER “

In den vorangegangenen Abschnitten wurde deutlich, dass Filme im Bereich der ersten drei Dimensionen von Bildung (vgl. zu den Dimensionen von Bildung Kapitel 4) Medien einer produktiven Fremderfahrung sein können: Sie können es dem Subjekt ermöglichen, sich in seiner bedingten Selbstbestimmung zu erfahren und sich dabei als Subjekt zu konstituieren (z.B. „Caché“), sie können die „Rückseite“ der gesellschaftlichen Ordnung ins Spiel bringen, und auf diese Weise gesellschaftlichen Transformationsprozessen den Weg bereiten (z.B. „L’esquive“), und sie können die Notwendigkeit erfahrbar machen, dem Fremden als Fremden gerecht zu werden und auf diese Weise eine normative Haltung ermöglichen, die dem Anspruch des Fremden verbunden ist (z.B. „Der Sohn“). In meinen bildungstheoretischen Überlegungen in Kapitel 5.4 habe ich gezeigt, dass diese einzelnen Erfahrungsbereiche als Aspekte einer komplexeren Vorstellung der Prozessstruktur von Bildung gedacht werden können, von Bildung im Sinne eines unabschließbaren Veränderungsgeschehens, dessen Antrieb der Versuch ist, sich antwortend zu dem GetroffenSein von einer Fremderfahrung in ein Verhältnis zu setzen, und im Rahmen dessen das Subjekt der Bildung erst entsteht. Der Film „Gespenster“ bietet dem Zuschauer die Möglichkeit, dieser Vorstellung von Bildung auf zwei verschiedenen Ebenen zu begegnen: Erstens auf einer illustrativen Ebene, die sich dadurch auszeichnet, dass sie auf filmische Weise zeigt, wie bildende Fremderfahrungen aussehen können. Die illustrative Ebene erweitert damit den Zugang zu der Prozessstruktur von Bildung um eine sinnliche Dimension, die sich dem begrifflichen Zugang entzieht. Und zweitens auf einer konfrontativen Ebene, die darin besteht, dass der Zuschauer selber von dem filmischen Geschehen getroffen wird und möglicherweise in eine Situation gerät, in der er sich „nicht mehr auskennt“ (vgl. Kapitel 5.4). Der Prozess der starken Erfahrung kann dann

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in der Begegnung mit dem Film in verdichteter und exemplarischer Weise erfahrbar werden5. Während es bei meinen ersten drei Filmbeispielen ausschließlich um deren konfrontative Qualitäten ging, werde ich bei dem Film „Gespenster“ mit der Betrachtung der illustrativen Ebene beginnen. Und zwar, weil der Film m.E. auf sehr prägnante Weise zeigt, wie der Prozess der starken Erfahrung (als den ich den Prozess der Bildung in Kapitel 5.4 gefasst habe) verlaufen kann. Anders als die einzelnen Aspekte, die ich in den vorangegangenen Abschnitten betrachtet habe, „trifft“ dieses Geschehen den Zuschauer aber nicht als Ganzes – denn die Fremderfahrung ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass es sich bei ihr um ein Geschehen handelt, in das wir verwickelt sind, ohne es von einer übergeordneten Ebene aus betrachten zu können. Die (nachträgliche) Betrachtung eines solchen Geschehens führt dagegen tendenziell dazu, dass die Ebene der Verwicklung verlassen wird. Aber sie bietet die Möglichkeit, dem komplexen Geschehen im Nachhinein ein „Bild“ zu geben und es dabei auf eine neue Weise zugänglich zu machen. Bei der Betrachtung eines gesamten Geschehens in seiner Prozessstruktur liegt die Analyse der illustrativen Ebene m.E. daher näher, als die der konfrontativen. Allerdings gibt es in dem Film „Gespenster“, wie erwähnt, auch konfrontative Momente, auf die ich später noch eingehen werde. Doch zunächst zu dem Film. 8.4.1 Der Film „Gespenster“ Es geht in dem Film „Gespenster“ um zwei Geschichten, die sich immer wieder berühren. Die Protagonistin der ersten Geschichte ist die Jugendliche Nina, die in einem Heim lebt und mit anderen Jugendlichen bei einer

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Vgl. zu der Unterscheidung illustrativer und konfrontativer Erfahrungsbereiche im Film Walberg 2007. Eine Ähnliche Abstufung findet sich auch bei Deleuze, wenn er von der unterschiedlichen Qualität eines „Schock[s] im Denken“ (Kino 2, S. 205) spricht, den Filme auslösen können. Er verbindet seine Abstufung dabei mit der Unterscheidung klassischer und moderner Filme: Klassische Filme haben demzufolge eher die Qualität, das Denken „sichtbar“ zu machen (von mir hier als „illustrative“ Ebene bezeichnet), während moderne Filme etwas in die Welt bringen können, „was sich im Denken nicht denken lässt“ (Kino 2, S. 220) (von mir „konfrontative“ Ebene genannt).

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Firma arbeitet, die Grünanlagen säubert. Ninas Geschichte wird nur angedeutet: Nina ist offenbar schon häufiger mit Regeln im Heim in Konflikt geraten und ihre Betreuerin sagt, wenn Nina sich nicht bessere, könne sie ihr nicht mehr helfen und Nina müsse dann „zurück nach Oranienburg“. Mehr erfährt der Zuschauer nicht über Ninas Lebenssituation. Als Nina zu Beginn des Films Müll von einer Wiese sammelt, sieht sie, wie hinter einem Gebüsch ein anderes Mädchen von zwei Männern geschlagen wird. Es handelt sich um Toni, die wenig später etwas aus dem Bauwagen der Reinigungsfirma klaut. Nina hilft Toni, sich zu verstecken, und bietet ihr eines ihrer beiden T-Shirts an, da Tonis Bluse zerrissen ist. Es bahnt sich eine Beziehung zwischen Nina und Toni an, in der Toni immer wieder die Handlungsinitiative ergreift: Sie holt Nina aus dem Heim ab (obwohl Nina keinen Ausgang hat), sie klaut mit Nina Kleidung in einem Kaufhaus, und sie überredet Nina, gemeinsam an einem Casting teilzunehmen, bei dem Freundinnen die Geschichte ihrer Freundschaft vortragen sollen. Bei dem Casting erfindet Nina eine Kennenlern-Geschichte, in der die Verbindung zwischen Nina und Toni als schicksalhaft, sexuell konnotiert und als ungleich erscheint: Nina habe schon vor dem ersten Zusammentreffen mehrfach von Toni geträumt. In diesem Traum habe sie stets mit angesehen, wie Toni von zwei Männern vergewaltigt worden sei. Toni habe sie dabei die ganze Zeit über angeblickt, aber Nina habe ihr nicht helfen können. Schließlich sei Nina Toni in einer neuen Schulklasse begegnet, in der Toni die „Königin“ gewesen sei. Die Gelegenheit, Toni anzusprechen, habe sich für Nina erst ergeben, als Toni eines Tages einen Handschuh vergessen und Nina ihr diesen zurückgebracht habe. Der Casting-Leiter Oliver ist von der Geschichte angesprochen und lädt Nina und Toni zu einer Party ein. Dort schläft Toni mit Nina und verlässt danach – von Nina zunächst unbemerkt – mit Oliver das Haus. In der zweiten Geschichte geht es um das französische Ehepaar Pierre und Francoise, deren kleine Tochter Marie viele Jahre zuvor in Berlin entführt wurde. Francoise begibt sich seitdem immer wieder nach Berlin, um Marie zu suchen. Sie spricht dort Mädchen an, die Ähnlichkeiten mit den Phantombildern haben, auf denen die Polizei Maries mögliches Aussehen als Jugendliche antizipiert hat. Außerdem fragt Francoise die Mädchen nach einer Narbe am Knöchel und nach einem herzförmigen Leberfleck auf dem Rücken. Manche Mädchen fühlen sich davon offenbar belästigt, und Francoise scheint die Grenzen einer „normalen Suche“ zu überschreiten.

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Das wird allerdings nur angedeutet – z.B. als Pierre seine Frau zu Beginn des Films aus dem geschlossenen Bereich eines Krankenhauses abholt. Francoise humpelt, weil ihr Absatz abgebrochen ist, und sie bittet Pierre, ein Mädchen mit Geld zu entschädigen, weil sie annimmt, das Mädchen würde sofort Angst bekommen, wenn es Francoise sähe. Die beiden Geschichten berühren sich, als Francoise Nina auf der Straße sieht und glaubt, ihre Tochter Marie in ihr zu erkennen. Und tatsächlich hat Nina die passende Narbe und den Leberfleck. Allerdings ist Nina zunächst skeptisch und wird von Toni in ihrer Skepsis bestärkt. Das erste Aufeinandertreffen endet damit, dass Toni Francoises Brieftasche stiehlt und mit Nina davonläuft. Aber die Begegnung mit Francoise beschäftigt Nina weiter und sie sucht später noch einmal den Platz auf, an dem Francoise sie angesprochen hatte. Dort trifft sie Francoise erneut. Beide fahren zu Francoises Hotel, um gemeinsam zu frühstücken. Unterwegs erzählt Francoise die Geschichte der Entführung und Erinnerungen aus den ersten Lebensjahren ihrer Tochter. Das Frühstück wird dann nach kurzer Zeit von Pierre unterbrochen, der seiner Frau sagt, sie müssten nun sofort aufbrechen. Francoise fragt ihn, ob sie nicht noch einen kleinen Augenblick bleiben könne, aber Pierre verneint. Er erklärt Nina, Francoise sei sehr krank und Marie sei tot. Der Film endet damit, dass Nina Francoises Brieftasche aus dem Mülleimer heraussucht, in den Toni sie nach dem Diebstahl und nach der Entnahme des Geldes geworfen hatte. Nina findet die Phantombilder und sieht sie eine Weile lang an. Dann wirft sie Brieftasche und Bilder erneut weg und geht davon. 8.4.2 Zur Analyse Wie erwähnt betrachte ich im Folgenden vor allem die illustrative Ebene des Films, die einen perzeptiven Zugang zu den strukturellen Besonderheiten des Bildungsprozesses eröffnet, ohne den Zuschauer einem solchen Prozess direkt auszusetzen. Ich untersuche vor allem, wie die Motive „Pathos“ und „Diastase“ ins Bild gesetzt werden und wie der Prozess der starken Erfahrung, im Zuge dessen das Subjekt erst entsteht, in seiner Unabschließbarkeit gezeigt wird.

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8.4.3 Illustrative Ebene Zu Beginn des Abschnitts „Prozessstruktur von Bildung“ (vgl. Kapitel 5.4) habe ich deutlich gemacht, dass der Prozess der Bildung mit dem Einbruch eines unplanbaren Ereignisses beginnt – ein Leitmotiv, das ich mit Waldenfels als „Pathos“ bezeichnet habe. Solch ein Ereignis wird allerdings erst zu einem Ereignis, indem wir uns nachträglich antwortend zu ihm in ein Verhältnis setzen. Deshalb habe ich das Motiv der Diastase (also der „Nachträglichkeit“ einer sich selbst gegenüber verschobenen Erfahrung) als zweites Leitmotiv der Prozessstruktur von Bildung eingeführt (vgl. Kapitel 5.4). Beide Motive werden auf der illustrativen Ebene des Films „Gespenster“ zugänglich. In dem Film werden alle Personen von Ereignissen getroffen, mit denen sie nicht rechnen und die sich nicht normalisieren lassen: Francoise und Pierre verlieren ihr Kind durch eine Entführung. Und sie verlieren in gewisser Weise auch einander, weil sie sich nach Maries Verschwinden zunehmend auf unterschiedliche Deutungsrahmen beziehen – Francoise denkt ausschließlich daran, Marie wieder zu finden und die gemeinsame Geschichte fortzusetzen, während Pierre versucht, eine Zukunftsperspektive ohne Marie zu entwickeln. Nina erlebt zufällig mit, wie Toni überfallen wird, und knüpft an dieses Ereignis an, indem sie den Kontakt zu Toni sucht. Toni ist unerwartet mit Ninas Kontaktangeboten und Kontaktbedürfnissen konfrontiert, die über das von ihr selbst angestrebte unverbindliche Einander-Aushelfen hinausgehen. Nina wird außerdem von Francoises Bericht getroffen – und damit von der Möglichkeit, als Kind entführt worden zu sein, und ihre eigene Geschichte nun noch einmal neu und anders erzählen zu können. Diese Einbrüche bekommen in dem Film Bilder – sie werden als kleine Verschiebungen wahrnehmbar, die etwas im Alltag aus der Reihe springen lassen, das sich (noch) nicht in Worte fassen lässt. Im Film werden pathische Ereignisse sinnlich zugänglich, bevor sie von den Getroffenen in eine verbalisierbare Form gebracht werden. Sie erscheinen als Bruchlinien, die den Prozess der Normalisierung stören, und an denen sich die Erfahrung des Fremden ereignen kann. Francoises Gang mit dem abgebrochenen Absatz zu Beginn des Films ist ein Beispiel dafür: Der Zuschauer weiß noch gar nicht, was passiert ist, aber er nimmt sinnlich wahr, dass etwas „aus dem Tritt“ geraten ist. Und

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zwar nicht nur optisch, sondern auch akustisch: Schon bevor zu sehen ist, dass Francoise ganz leicht humpelt, sind ihre Schritte mit dem je unterschiedlichen Geräusch des heilen und des kaputten Schuhs zu hören, und es wird hörbar, dass etwas nicht stimmt, dass der gewohnte und alltägliche Takt gestört ist. Später im Film wird deutlich, dass diese Verschiebung in Francoises „Rhythmus“ die Verständigungsmöglichkeiten zwischen Francoise und Pierre brüchig werden lässt. Z.B. als Francoise ihrem Mann am Hoteltelefon erzählt, sie habe Marie gefunden. Pierre scheint zu erschrecken; er geht überhaupt nicht auf das ein, was Francoise inhaltlich sagt, sondern er fragt sie immer wieder, wo sie sich gerade aufhalte. Pierre scheitert mit seinem Versuch, sich vor dem Hintergrund seines eigenen Deutungsrahmens (dem zufolge Marie tot ist, und es nun gilt, diese Situation zu akzeptieren) mit seiner Frau zu verständigen. Der Bruch in ihrem Kontakt wird ins Bild gesetzt, indem Francoise einfach den Hörer neben das Telefon legt, so dass Pierre (von der Hotelrezeption aus) in den leeren Raum hineinspricht, während Francoise ihn von einer Galerie im ersten Stockwerk aus beobachtet. Auch während der Casting-Szene wird eine Bruchlinie der Erfahrung wahrnehmbar. Zunächst bemüht Toni sich, eine interessante und ungewöhnliche Kennenlern-Geschichte zu erzählen, die von der Jury aber eher gelangweilt zur Kenntnis genommen wird. Oliver fragt an einigen Stellen nach, an denen ihm die Geschichte offenbar unrealistisch und ausgedacht erscheint. Schließlich fordert er Nina auf, die tatsächliche Geschichte zu erzählen. Nina schweigt und Toni flüstert ihr die Bitte zu, mitzuspielen („Nina! Bitte! Irgendwas. Ist doch egal.“ 0.48.44 – 0.48.55). Nina schweigt zunächst weiter und eine Mitarbeiterin von Oliver will das Vorsprechen bereits beenden. Aber schließlich ergreift Nina das Wort, und Oliver bedeutet seiner Mitarbeiterin mit einer Handbewegung abzuwarten. Nina erzählt langsam und ohne aufzublicken ihre Geschichte, man hört ihren Atem und ihr Schlucken, ansonsten herrscht völlige Stille. In diesem Moment ist der übliche Ablauf plötzlich unterbrochen. Es entsteht eine Situation, in der die Anwesenden reglos verharren und alle Routinen ausgesetzt scheinen. Eine Spannung wird spürbar, weil Nina an vorhandenen Maßstäben vorbei agiert, indem sie sich sehr viel Zeit nimmt, sich überhaupt nicht für die Reaktionen der Jury interessiert und nicht versucht, den Anwesenden eine besonders beeindruckende Anekdote zu „verkaufen“, sondern eher zu sich selber zu sprechen scheint. Die standardisierte Anordnung des Vorspre-

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chens gerät in Bewegung, die Unverbindlichkeit und der spielerische Charakter der Situation sind plötzlich verschwunden. Nina erzählt eine zwar erfundene, aber für sie selber sehr bedeutsame Geschichte; anders als von Toni empfohlen, die in ihrer Aufmunterung gesagt hatte, Nina solle „irgendwas“ erzählen, es sei doch „egal“. Aber Ninas Geschichte ist nicht „egal“, sondern Nina gibt in ihr Persönliches preis, indem sie deutlich macht, wie stark sie sich von Toni angezogen fühlt. Gleichzeitig spielt Nina in ihrer eigenen Geschichte eine sehr glanzlose Rolle: Sie kann Tonis Vergewaltigung nicht verhindern, und sie ist in der beschriebenen Beziehung die klar Unterlegene, die nur aufgrund eines Zufalls (Toni vergisst ein Kleidungsstück, das Nina ihr zurückbringt) die Chance erhält, mit Toni in Kontakt zu treten. Diese Art der Selbstdarstellung widerspricht den Regeln einer Casting-Situation und lässt sich für die Anwesenden nicht auf gewohnte Weise handhaben. Die Jury verharrt zunächst kommentarlos, und Toni hört auf, ausgedachte Anekdoten beizusteuern. Obwohl sie – auch in Ninas Geschichte – diejenige ist, die in der gemeinsamen Beziehung die Regie führt, scheitert sie hier mit ihrem Versuch, eine heitere, unkomplizierte und zugleich unverbindliche Situation entstehen zu lassen. In diesem filmischen „Innehalten“ – das in der Unterbrechung aller Bewegungen und der „akustischen Kulisse“ perzeptiv zugänglich ist – wird gegenwärtig, dass für Nina der gewohnte Fluss der Erfahrung stockt. Dass sie an eine Bruchstelle gerät, an der sich die Situation für sie nicht nach „normalen“ Regeln fortsetzen lässt. Wie an ihrem vorausgegangen und beharrlichen Schweigen deutlich wird, kann Nina nicht einfach „mitspielen“, auch wenn das für sie viel weniger riskant wäre. Nina gibt eine Antwort auf ihr Angesprochen-Sein von der Begegnung mit Toni – einer starken Erfahrung, die in einer standardisierten und austauschbaren Casting-Situation keinen Raum hat. An dieser Stelle wird auch das oben genannte Motiv der Diastase zugänglich: Es ist für Nina nicht nur etwas aus der Reihe gesprungen, es gibt nicht nur einen pathischen Einbruch in ihren Erfahrungsfluss, sondern dieser Einbruch wird gleichzeitig zu einem „Ort“, von dem aus sie eine Antwort erfindet. Und damit macht sie das Pathos wiederum erst zum Pathos, indem sie „sich redend und handelnd darauf bezieht“ (Waldenfels 2006, S. 44) Es wird in Ninas Erzählung zu einem außergewöhnlichen Ereignis, das den Rahmen der Erzählung sprengt.

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Und ein weiteres Merkmal der Prozessstruktur starker Erfahrungen lässt sich an dieser Stelle betrachten: Solche Erfahrungen sind Waldenfels zufolge weder fundamentalistisch noch konstruktivistisch zu denken (vgl. Kapitel 5.4) – auch das wird in dem Film „Gespenster“ auf der illustrativen Ebene gezeigt. Die Personen konstruieren ihre Geschichten nicht frei, sondern antworten auf Widerfahrnisse, von denen sie getroffen werden. Diese Widerfahrnisse sind der Motor des Erfahrungsprozesses, aber sie führen nicht zu notwendigen Handlungsoptionen, sondern lassen Spielraum für den kreativen Umgang mit ihnen, der von den gezeigten Figuren auch je unterschiedlich genutzt wird. So findet sich Pierre mit dem Verlust seiner Tochter ab und versucht, neue Perspektiven ohne Marie zu entwickeln – z.B. den Umbau des Kinderzimmers in ein Gästezimmer – während Francoise hartnäckig nach einer Chance sucht, die verlorene Tochter wieder zu finden und die gemeinsame Geschichte fortzusetzen. Die Erfahrung entsteht „zwischen“ Gegenstand und Zugang. Das heißt, jede Person entwickelt ihre eigene Erfahrung. Diese hat ihren Ausgangspunkt aber außerhalb der jeweiligen Personen in einer widerständigen Begegnung mit der Welt. Der Prozess der starken Erfahrung wird als Geschehen gezeigt, das „anderswo beginnt“ (vgl. Kapitel 5.4), aber nicht beliebig ist. In diesem Geschehen, das „anderswo beginnt“, entstehen die beteiligten Subjekte erst durch „Differenzierung“ (vgl. Kapitel 5.1), indem sie sich zu den beschriebenen Ereignissen in ein Verhältnis setzen. Sie beginnen ebenfalls nicht bei sich selber, sondern konstituieren sich in ihrem Eingehen auf das Fremde. Auch dafür gibt es in dem Film „Gespenster“ plastische Bilder, und die Stärke der filmischen Präsentation besteht darin, dass die sich konstituierenden Subjekte perzeptiv als „schwebend“ und in Entstehung begriffen zugänglich werden – anders als in der sprachlichen Beschreibung, in der die Rede vom Subjekt meistens mit der Vorstellung einer bereits vorhandenen Instanz verbunden ist. In sprachlichen Bezügen ist das Subjekt nicht nur semantisch präformiert, sondern auch grammatisch. Ihm ist immer schon eine „Leerstelle“ vorbehalten, in die es nur noch eingesetzt werden muss: Subjekt, Objekt, Prädikat – diese Komponenten muss jeder vollständige Satz enthalten. Auch in manchen Filmen gibt es eine solche „Leerstelle“, z.B. in Krimis, in denen der Kommissar einen für ihn freigehaltenen Platz einnimmt, von aus er alle Versatzstücke zu der Lösung eines Falls zusammensetzt. Aber nicht in allen Filmen ist die Instanz des Subjekts auf diese Weise vorgesehen und gesichert. In dem Film „Gespenster“ wird

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wahrnehmbar, dass das Subjekt stets im Entstehen begriffen ist und nicht schon fertig auf seinen Einsatz wartet. Die Figur der Nina wird in offenen Wahrnehmungsbildern eingeführt: Nina sammelt Müll auf einer großen Wiese, das Rauschen des Windes in den umstehenden Bäumen ist zu hören, der weite Rasen und der Himmel sind zu sehen, aber es gibt keine Anhaltspunkte dazu, wer Nina ist und welche Geschichte oder welche Ziele sie haben könnte. Sie erscheint als frei schwebendes „Gespenst“, nicht als souveräne Instanz einer gezielten Handlung. Nina wird ohne die vertrauten Markierungen eingeführt, die dem Zuschauer in klassischen Aktionsbildfilmen von Anfang an eine eindeutige Orientierung über die gezeigte Figur bieten. Und der Regisseur Christian Petzold begründet diesen Verzicht auch explizit mit der Absicht, seine Figuren nicht von Anfang an zu „greifbar“ werden zu lassen: „Wenn ein Film damit anfängt, dass zwei Mädchen von der Schule kommen, ihre Schultaschen wegwerfen und ein Eis essen gehen, dann haben die sofort eine soziale Definition. Aber die Mädchen, die Sabine Timoteo und Julia Hummer spielen, sind anders, die sind unbehaust, die haben keinen Raum, der sie definiert, keine soziale Definition.“ (Christian Petzold in dem Booklet zu der DVD-Fassung des Films von good movies und Piffl Medien).

Hier wird ein Gedanke ins Bild gesetzt, den ich in den Kapiteln 4.1 und 5.1 eingeführt habe: Das Subjekt hat nicht automatisch einen „Stand“, einen „Ort“ oder eine „soziale Definition“, sondern es entsteht erst in einem Prozess des Sich-in-ein-Verhältnis-Setzens zu seiner sozialen und dinglichen Umwelt. Ein solcher Prozess der Differenzierung beginnt in dem Film „Gespenster“ mit für den Zuschauer direkt wahrnehmbaren Differenzen: Nina ist offenbar keine Schülerin, sie ist keine „normale“ Jugendliche, die sich mit Freunden im Park trifft, und sie auch ist keine „normale“ Arbeitnehmerin, die einen festen Platz in einem Team hat und als ernstzunehmende Mitarbeiterin behandelt wird. Erst in den verschiedenen Bezügen, in die Nina verwickelt ist, wird sie nach und nach für den Zuschauer fassbarer: Als Jugendliche mit dem Bedürfnis nach einer innigen Beziehung, die nicht beliebig oder austauschbar ist, als Person, die für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse etwas riskiert, und gleichzeitig sehr unbeirrt „bei sich“ bleibt (sie versucht nicht, Toni nach der Party wieder zu finden oder Pierre und Francoise zum Bleiben zu bewe-

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gen), oder als „Unbestechliche“, die es aushält, Erwartungen zu enttäuschen (sie beugt sich nicht den Regeln der Casting-Situation, und sie nimmt kein Geld von Pierre an). Nina wird also nach und nach immer greifbarer, und doch erscheint sie während des gesamten Films als zerbrechlich und gefährdet. Während der Casting-Szene trifft diese Wahrnehmung den Zuschauer unter Umständen auch auf eine konfrontative Weise, denn vor dem Hintergrund seiner SehErfahrung mit ähnlichen Film- und Fernsehszenen rechnet er möglicherweise damit, dass Nina von der Jury eine vernichtende Rückmeldung erhält – eine Erwartung, die für den Zuschauer zu der Entstehung eines Spannungszustandes führen kann. Aber nicht nur während des Vorsprechens wirkt Nina gefährdet, sondern z.B. auch, als Toni sie aus dem Heim abholt. Nina entscheidet sich, Toni zu folgen, und gewinnt damit einen Stand als handlungsfähige Freundin. Gleichzeitig widersetzt sie sich dabei den Anweisungen der Heimleiterin und riskiert ihren festen Platz in dieser Institution. Ähnlich verhält es sich mit dem Kontakt zu Francoise. Plötzlich scheint die Möglichkeit einer ganz neuen Zukunft auf, die aber damit verbunden wäre, dass es für ihre gegenwärtige Subjektivität keine Fortsetzungsmöglichkeiten mehr gäbe. Dass z.B. ihre Fähigkeiten, sich durchzuschlagen, alleine zu sein oder Ungerechtigkeiten und Widerstände auszuhalten, vielleicht nicht mehr wichtig oder sogar störend wären. Der Prozess der Subjektkonstitution wird als Prozess gezeigt, der anderswo beginnt, der stets fragil ist, und der nicht in einem gesicherten „SoSein“ zur Ruhe kommen kann. Filmisch wird diese Unabschließbarkeit unterstrichen, indem der Film schließlich wieder mit offenen Wahrnehmungsbildern endet: Nina wirft die Phantombilder zurück in den Mülleimer und geht einen Weg entlang, von dem der Zuschauer nicht weiß, wohin er führen wird. Der Zuschauer erlebt in dem Film „Gespenster“ mehrere Situationen der Subjektivierung, in denen die Protagonistinnen sich antwortend zu den Fremdbezügen, in die sie verwoben sind, in ein Verhältnis setzen. Nina wird dabei in verschiedenen Handlungszusammenhängen als Subjekt zugänglich. Und zugleich bleibt auch ihre „bedingte Selbstbestimmung“ gegenwärtig, die dazu führt, dass sie über die genannten Zusammenhänge nicht verfügt, und dass es keinen sicheren Subjektstatus gibt, in dem sie durch nichts mehr gefährdet werden könnte. Auch nach verschiedenen Episoden der Subjektivierung kann dieser Prozess immer wieder in eine offene

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und dem Subjekt unzugängliche Situation hinein kippen, auf die es erneut zu antworten gilt. Ebenso wie der Prozess der Subjektkonstitution lässt sich auch der gesamte Prozess der starken Erfahrung (im Rahmen dessen das Subjekt entsteht) nicht abschließen. Er kommt nicht in einem endgültigen Resultat zur Ruhe, und auch dieses Strukturmerkmal wird filmisch vermittelt. Z.B. in den verschiedenen Kristallbildern, die der Film enthält, und die zeigen, dass jeder Aktualisierungsprozess eine virtuelle Seite hat, die ihn kontingent hält. In diesen Kristallbildern spiegelt sich zugleich Ninas Situation, denn Nina ist ständig mit dem Versuch beschäftigt, „Gegenwärtigkeit“ herzustellen. Aber ihre eigenen Aktualisierungsversuche werden immer wieder virtualisiert, und sie kommt nicht in einer stabilen Gegenwart an. Ihre Situation wird für Nina und ihr Umfeld nicht greifbar, und sie bleibt am Ende des Films ein „Gespenst“. Sehr eindringliche Kristallbilder enthält die bereits mehrfach erwähnte Casting-Szene. Nina erzählt in ihr die virtuelle Geschichte einer Vergangenheit, die nie Gegenwart gewesen ist. Dabei verwendet sie viele aktuelle Versatzstücke, denen der Zuschauer bereits begegnet ist: Sie erwähnt, dass Toni von zwei Männern überfallen wird, sie beschreibt, wie ein zufälliges Ereignis zum Ausgangspunkt der Beziehung zu Toni wird, und sie greift auf eine Darstellung aus ihrem Tagebuch zurück, die Toni – und mit ihr der Zuschauer – schon vor dem Casting in Auszügen gelesen/ gehört hatte. Die von Nina heraufbeschworene Geschichte der Freundschaft rückt in eine so deutliche Nähe zu ihrer aktuellen Gegenwart, dass sich nicht entscheiden lässt, welche „Seite“ der entstandenen Situation fortgesetzt werden wird: die virtuelle Seite, auf der durch eine zufällige Begegnung eine innige Freundschaft entsteht, oder die aktuelle Seite, auf der Nina und Toni einander nur flüchtig kennen und Nina als gerade verfügbarer Ersatz unverbindlich für das Vorsprechen einspringt, ohne dass die beiden eine engere Verbindung zueinander hätten. Die Casting-Szene hält den Fortgang der Zeit an, weil aktuelle Situation und virtuelle Geschichte sich überlagern und keine der beiden Seiten mehr unkompliziert fortsetzbar ist. Nach Ninas Geschichte kann Toni z.B. kaum noch als unwichtige Zufallsbekannte auftreten, da Nina die virtuelle Seite der aktuellen Beziehung so unausweichlich ins Spiel bringt und damit die einfache Fortsetzung der aktuellen Geschichte abschneidet. Die Filmbilder illustrieren an dieser Stelle die Gleichzeitigkeit von Aktuellem und Virtuel-

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lem, die das Aktuelle kontingent werden lässt. Es gibt kein Aktuelles, das endgültig abgeschlossen und gesichert ist. Das Aktuelle kann jederzeit von der Rückseite des Virtuellen heimgesucht werden, die es in einem anderen Licht erscheinen lässt, ohne dass die Beteiligten diesen Prozess souverän in der Hand hätten. So stellt sich Toni das Vorsprechen als eine unkomplizierte und bedeutungslose Alltagsepisode vor, aber plötzlich lässt Ninas Geschichte den vermeintlich sicheren Boden ihrer aktuellen Gegenwart schwanken. Sie muss sich zu Ninas bedeutungsschwerer Erzählung in ein Verhältnis setzen, kann dabei aber nicht mehr an die unkomplizierte Gegenwart anknüpfen, die im Vorfeld des Vorsprechens gültig war. Die Gleichzeitigkeit von Aktuellem und Virtuellem wird auch anhand der Polizeibilder am Schluss des Films gegenwärtig, die zeigen, wie die entführte Marie in den Jahren nach ihrer Entführung jeweils ausgesehen haben könnte. Es handelt sich um virtuelle Bilder, die nicht ein lebendiges Kind zeigen, sondern für eine virtuelle Möglichkeit stehen. Denn niemand weiß, ob Marie noch lebt, und wenn ja, wie sie aussieht und was aus ihr geworden ist. Als Nina die Fotos in den Händen hält, überlagert sich dieses virtuelle Bild unmittelbar mit einem aktuellen: nämlich mit dem Bild von Nina, die in einem Park steht und sich das Mädchen auf den Fotos anschaut, das ihr sehr ähnlich sieht. Es lässt sich in diesem Moment nicht entscheiden, ob die virtuelle Dimension des Bildes im Rahmen eines Aktualisierungsprozesses zu einer gültigen Gegenwart werden wird, also ob Nina ihre Situation als wiedergefundenes Entführungsopfer fortsetzen wird, während ihre Gegenwart als Heimkind nicht weiter aktualisiert, sondern als „achronologische Vergangenheit bewahrt werden wird“ (vgl. Kapitel 6.2.4). Nina und das Mädchen auf dem Foto blicken einander gewissermaßen an, und dabei schieben sich diese beiden Bilder übereinander. Es ist unklar, ob das Mädchen auf dem Foto das gültige Bild ist, oder das Mädchen, das dieses Foto ansieht. Auch hier wird deutlich, dass jedes aktuelle Bild eine Rückseite hat und dass es nie endgültig zur Ruhe kommen kann, dass also der Prozess der Erfahrung durch die Rückseite des je Aktuellen und des je Eigenen an seinem Abschluss gehindert wird, auch wenn uns diese Rückseite in der Alltagswahrnehmung nicht jederzeit gegenwärtig ist. Auf der illustrativen Ebene – so lässt sich zusammenfassend sagen – macht der Film die Prozessstruktur von Bildung auf filmische Weise zugänglich. Er zeigt den Prozess der starken Erfahrung in seiner Ereignis-

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haftigkeit und seiner Unabschließbarkeit. Diese Qualitäten werden auf besonders unmittelbare Weise präsent – z.B. weil die beschriebenen Kristallbilder Aktuelles und Virtuelles zugleich enthalten und dabei Wahrnehmungsmöglichkeiten bieten, die über die Auseinandersetzung mit einer sprachlichen Beschreibung hinausgehen. Auch in den Momenten, in denen der Film den Zuschauer nicht konfrontativ einer Fremderfahrung aussetzt, bietet er also einen Zugang zu der Verfasstheit von Bildung, der zu einer Erweiterung vorhandener Wahrnehmungsmuster führen kann. 8.4.4 Konfrontative Ebene Gleichzeitig hat der Film „Gespenster“ auch eine konfrontative Ebene, z.B. in der beschriebenen Schlusssequenz, die damit beginnt, dass Nina im Park die Polizeifotos ansieht. Der Zuschauer hat keinen Wissensvorsprung und kann ebenso wenig wie Nina voraussehen, wie es weitergehen wird. Es gibt verschiedene Indizien, die dafür bzw. dagegen sprechen, dass Nina Francoises Tochter ist: Sie hat die passende Narbe am Knöchel und den charakteristischen Leberfleck auf dem Rücken, und sie sieht dem Mädchen auf den Polizeifotos ähnlich. Aber gleichzeitig betont Pierre sehr deutlich, seine Frau sei krank und Marie sei tot. Und die Art, auf die Francoise sich der Beendigung des Frühstücks durch Pierres Intervention schnell und ohne große Widerrede beugt, spricht dafür, dass diese Form des Kontaktabbruchs zu fremden Mädchen/ vermeintlichen Töchtern bereits einen ritualisierten Charakter hat. Diese Hinweise werden nicht im Kriminalgeschichten-Stil aufgelöst, sondern der Film endet mit einem schwebenden Wahrnehmungsbild: Nina geht einen Weg entlang, nachdem sie sich von den Fotos und der damit verbundenen Aktualisierungsoption getrennt hat. Dieses letzte Bild ist von einer zwingenden Fortsetzung abgeschnitten, und macht die offene und unverfügbare Dimension des Erfahrungsprozesses für den Zuschauer direkt erfahrbar. Er ist einer ungewissen Perspektive ebenso ausgesetzt wie die Protagonistin. Insofern kann auch der Film „Gespenster“ – ebenso wie die drei vorangegangenen Beispielfilme – den Zuschauer in Fremdbezüge verwickeln und für eine Verfremdung vertrauter Erfahrung sorgen. Er kann den Zuschauer unerwartet in Situationen führen, in denen er sich nicht mehr auskennt (vgl. Waldenfels 1987, S. 179 und Kapitel 5.4) und ihn auf diese Weise auch konfrontativ dem zentralen Moment der Prozessstruktur von Bildung aus-

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setzen – nämlich dem unplanbaren und unverfügbaren Einbruch von etwas Fremdem, der diesen Prozess immer wieder anstößt und an seinem Abschluss hindert. In meinen Filmanalysen wurde deutlich, dass Filme die für Bildungsprozesse konstitutiven Fremderfahrungen in Bezug auf alle in Kapitel 4 eingeführten Bildungsdimensionen ermöglichen können. Meine Annahme, dass Filme Medien der Fremderfahrung und damit auch Medien der Bildung sein können, wird dadurch gestützt. Da sich Bildung im oben entwickelten Verständnis (vgl. Kapitel 5) nicht „machen“ oder vermitteln lässt, soll nun gefragt werden, wie FilmpädagogInnen der bildenden Begegnung mit Filmen trotzdem den Weg bereiten können.

9 Pädagogische Überlegungen

Wie kann das Sich-Ereignen von filmischen Fremderfahrungen filmpädagogisch befördert werden? Aus dem bisher Erarbeiteten ergeben sich zwei Denk- bzw. Fragerichtungen für filmpädagogische Anschlussüberlegungen, die hier – wie in Kapitel 5.4 angekündigt – aufgenommen werden sollen: Das ist erstens die Frage nach bestimmten Erfahrungsgegenständen (Filmen), die Prozesse der Film-Bildung ermöglichen können (vgl. Kapitel 3.6 und 5.4), und zweitens die Frage nach verschiedenen Zugangsweisen (Haltungen, Rezeptionsweisen), die Film-Bildungsprozesse wahrscheinlicher machen können. Waldenfels betont allerdings immer wieder, dass die Erfahrung zwischen Gegenstand und Zugang entsteht (vgl. Kapitel 3.3.1 und 5.4), und auch ich habe darauf hingewiesen, dass Film und Zuschauer nicht völlig losgelöst voneinander gedacht werden können (vgl. Kapitel 6). Es ist weder davon auszugehen, dass ein Film von sich aus eine jederzeit reproduzierbare Wirkung hervorruft, noch ist anzunehmen, dass dem Film mit einer frei gewählten Haltung begegnet werden oder dass eine mit pädagogischer Unterstützung eingeübte Haltung an jeden beliebigen Film herangetragen werden kann. Die Unterscheidung der beiden Denkrichtungen kann also nur eine analytische sein. Ich werde dieser analytischen Unterscheidung aber dennoch folgen und meine pädagogischen Überlegungen getrennt nach Gegenstand und Zugangsweise anstellen. Dabei hoffe ich, pädagogische Zugangsmöglichkeiten zu dem Zwischenbereich der Filmerfahrung von beiden Seiten aus einkreisen zu können.

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9.1 G EGENSTÄNDE : D IE „ RICHTIGEN “ F ILME AUSWÄHLEN Filme können bestimmten Erfahrungen den Weg bereiten – auch wenn es sich dabei nicht um kausale Filmwirkungen handelt. Deleuze spricht in diesem Zusammenhang von einer „Pädagogik des Bildes“ (Deleuze 1997a, S. 28) und betrachtet den Film, bzw. das Bild selbst als „Pädagogen“. Und zwar weil seinem immanenten Filmverständnis zufolge Gesichtspunkte so sehr zu der Sache (also zu der filmischen Präsentation) gehören, dass sie mit der Sache variieren und nicht (nur) mit dem Zugriff des Zuschauers (vgl. Kapitel 7.3). Deleuzes „Pädagogik des Bildes“ bezieht sich auf den Einsatz filmischer Mittel – wie z.B. die weiter oben beschriebenen “Demarkierungen” (vgl. Kapitel 6.3.5), die vor dem Hintergrund von „Markierungen“ stattfinden. Mit der „Markierung“ als Darstellung einer „natürlichen Beziehung“ oder als Anordnung der Bilder, die dem „gewohnheitsmäßigen Übergang“ folgt (Deleuze 1997a, S. 324), wird der Zuschauer „an die Hand genommen“ oder „abgeholt“. Mit der „Demarkierung“ wird das Bild aus vertrauten Zusammenhängen herausgerissen, sodass diese Zusammenhänge als andersmöglich erfahrbar werden. Die Funktionsweise von Demarkierungen habe in der Analyse zu dem Film „L’esquive“ deutlich gemacht (vgl. Kapitel 8.2.3). Und auch an anderen Stellen habe ich gezeigt, wie der Film den Zuschauer mit filmischen Mitteln bei vertrauten Wahrnehmungsmustern „abholen“ und eine Überschreitung dieser Muster ermöglichen kann (vgl. z.B. meine Analyse zu dem Film „Der Sohn“ in Kapitel 8.3). Eine erste pädagogische Strategie kann also darin bestehen, die „richtigen“ Filme überhaupt auszuwählen und sie Heranwachsenden zu zeigen – und zwar vor allem in der Absicht, die Filme selber etwas zeigen zu lassen. Filme, die in der filmpädagogischen Absicht ausgewählt werden, Fremderfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen und Bildungsprozessen auf diese Weise den Weg zu bereiten, sollten sich vor dem Hintergrund des bisher Erarbeiteten vor allem durch solche Erfahrungsqualitäten auszeichnen, wie ich sie in Kapitel 7 mit Deleuze beschrieben haben. Es müsste sich also um Filme handeln, die zu einer Verfremdung vertrauter Erfahrungen führen können, die Unzugängliches in seiner Unzugänglichkeit präsentieren oder die den Zuschauer in Fremdbezüge verwickeln können (vgl. Kapitel 7). Wie erwähnt ist das nicht unbedingt bei besonders drastischen oder schock-

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ierenden Filmen der Fall. Deleuze lehnt „überreizte Aggression“, „rohe Gewalt“ oder klassische „Schreckensszenen“ (Deleuze 1997b, S.32) in diesem Zusammenhang ab. Er interessiert sich eher für Darstellungen, bei denen es sich „um ganz gewöhnliche Elemente handelt“ (Deleuze 1997a, S. 272), die im Verlauf des Filmes „aus der Reihe springen“. Ist der Zuschauer erst in die vermeintlich vertraute und gewöhnliche Anordnung der Elemente verwickelt, ist es unwahrscheinlich, dass ihn die Überschreitung dieser Anordnung unbeeindruckt lässt. Der Film selbst kann dabei Abgrenzung und Rückzug erschweren, indem er beim Eigenen einsetzt, den Zuschauer also bei seinen Wahrnehmungsgewohnheiten „abholt“. Dadurch gewinnt die „Pädagogik des Bildes“ ihre Kraft. Bei der konkreten Filmauswahl ist es daher sinnvoll, auf Filme zurückzugreifen, die Alltägliches zeigen oder mit alltäglichen Wahrnehmungssituationen einsetzen, wie dies z.B. bei dem Film L’esquive der Fall ist, der damit beginnt, dass die jugendlichen ProtagonistInnen sich über einen gerade erlebten Streit unterhalten. Für die ZuschauerInnen ist es leichter, in die Begegnung mit Filmen „einzuwilligen“ (Bergala 2006, S. 55), wenn sie in ihnen Bezüge zu ihrem „Eigenheitsbereich“ erkennen. Diese können in den thematisierten Sorgen und Problemen (wie Beziehungsproblemen oder schulischen Schwierigkeiten) der ProtagonistInnen liegen, in ihren jeweiligen Persönlichkeitsmerkmalen und Konfliktbewältigungsstrategien oder auch im gezeigten sozialen Milieu. Im Zusammenhang mit den hier entwickelten Überlegungen ist diese Art der „Authentizität“ als Kriterium für die Filmauswahl allerdings nicht ausreichend. Wichtig ist, dass die Filme gleichzeitig dazu anregen, eigene Wahrnehmungsmuster zu überschreiten. Etwa, indem sie die zunächst aufgerufenen Zusammenhänge unterbrechen, also z.B. nicht mit einer erwartbaren und klärenden Aktion enden (ASA’) oder in eine eindeutige Situation münden (SAS’). Vielmehr sollten die Filme erfahrbar machen, dass die Vorstellung solcher überschaubarer Situationen, die sich mit eindeutigen Aktionen herstellen und verändern lassen, eine Illusion ist. Ein Negativ-Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Film „Dangerous Minds“, in dem suggeriert wird, einige einfache Interventionen einer engagierten Lehrerin könnten die prekäre Situation ihrer Schüler grundlegend verändern. Ähnlich funktioniert der Film „Rhythm is it“, in dem Simon Rattle die Entstehung einer neuen Situation über scheinbar einfache Aktionen buchstäblich dirigiert. Ein Gegenbeispiel ist der oben analysierte Film „L’esquive“, in dem deut-

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lich wird, dass es keine einfachen und jederzeit verlässlichenWahrnehmungs-Aktions-Zusammenhänge gibt – ohne dass dabei gleichzeitig alle Handlungsmöglichkeiten verloren gingen. Günstig sind außerdem Filme, die nicht den Eindruck vermitteln, es gebe unanfechtbare und endgültige Erklärungen oder Lösungen, mit deren Hilfe eine gegenwärtige Situation „ein für alle Mal“ gesichert werden kann. Es sind Filme die erfahrbar machen, dass jedes Aktuelle eine virtuelle Seite hat, von der es heimgesucht werden kann. Das bezieht sich auch auf den Bereich der Subjektposition des Zuschauers, also auf die erste Dimension von Bildung. Potenzielle „Selbstundurchsichtigkeiten“ werden in vielen Filmen aufgehoben, indem dem Zuschauer eine souveräne BeobachterPosition angeboten wird, von der aus er das Geschehen verfolgen und einordnen kann. Verwirrt oder sich selbst fremd sind dann immer nur die anderen, die Film-Figuren, die der Zuschauer von einer gesicherten Warte aus betrachtet, was zu einer zusätzlichen Festigung seiner Souveränitätsillusion führen kann. Ein Beispiel dafür ist der Film „The Woodsman“, in dem es um einen pädophilen Sexualstraftäter geht, der nach seinem Gefängnisaufenthalt große Angst vor einem Rückfall hat und sich selber nicht mehr versteht. Dem Zuschauer wird dagegen über einige kurze Schlaglichter zu der Kindheit des Protagonisten eine vermeintlich verlässliche Erklärung für dessen Verhalten vermittelt. Damit wird auf filmische Weise dafür gesorgt, dass das Geschehen den Zuschauer nicht mehr unmittelbar angeht. Nicht er selber ist in einer undurchsichtigen Situation, sondern eine Figur, über die er distanziert nachdenken kann, und die vermeintlich nichts mit ihm gemeinsam hat. Ganz anders funktionieren die Filme von Michael Haneke (vgl. Kapitel 8.1), die den Zuschauer in das Geschehen verwickeln und ihn dabei mit dem Fremden im Eigenen in Kontakt bringen. Ein drastisches Beispiel dafür ist der Film „Funny Games“, in dem sich die Protagonisten direkt an das Publikum wenden und den Zuschauern die Rolle der Mittäter in einem schockierenden und gewalttätigen „Spiel“ unterschieben. Die Zuschauer werden als diejenigen angesprochen, die das Geschehen vorantreiben und sie werden auf diese Weise mit ihrer potenziell voyeuristischen und für sie selbst vielleicht nicht völlig durchsichtigen Motivation konfrontiert, diesen Film trotz (oder wegen?) seiner Grausamkeit zu sehen. Produktiv können auch Filme sein, die nicht mit einem klaren Schlusspunkt enden, der als vorgegebene Lösung die Produktion eigener Verknüpfungen verhindert und der gelegentlich zusätzlich mit der Einblendung

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„The End“ als endgültig markiert wird. Das heißt nicht, dass die Filme keinen „Schluss“ haben dürfen oder dass das Gezeigte nicht irgendwo ankommen darf, aber es ist ungünstig, wenn das Ende bruchlos in vorhandenen Ordnungen aufgeht, und deren virtuelle Seite dabei der Wahrnehmung entzieht. Das geschieht z.B. in dem Film „Das Wunder von Bern“, in dem die Vater-Sohn-Beziehung durch den beiderseitigen guten Willen gerettet wird und alle Brüche in der Figur des Vaters vergessen scheinen, oder in dem Film „Das Leben der Anderen“, in dem der Stasi-Spitzel Gerd Wiesler durch die Komposition „Die Sonate vom guten Menschen“ so sehr berührt wird, dass er unter Inkaufnahme weit reichender persönlicher Nachteile die Seite wechselt und gleichzeitig überhaupt nicht als ambivalente Figur erscheint. Es wird der Eindruck vermittelt, es gebe eine eindeutige Unterscheidung zwischen „guten Menschen“ und „bösen Menschen“, an denen uns entweder nichts fremd ist oder alles. In dem Film „Das Leben der Anderen“ wird diese Zuordnung auch noch einmal explizit vorgenommen, indem der Künstler Georg Dreymann, nachdem er die Sonate zum ersten Mal auf dem Klavier gespielt hat, sagt, dass jemand, der von dieser Musik berührt wird, kein schlechter Mensch sein könne. Gegenwärtig stehen bei der pädagogischen Filmauswahl häufig die filmischen Inhalte im Vordergrund, und auch vorhandene Materialien beziehen sich schwerpunktmäßig auf die inhaltliche Ebene. In dem Filmheft zu dem Film „Das Wunder von Bern“ ist beispielsweise eine Chronik der fünfziger Jahre ebenso zu finden wie Informationen über Kriegsheimkehrer, über Fußball und Fankulturen (Stiftung Lesen 2003). In dem Filmheft zu dem Film „Das Leben der Anderen“ geht es um die Geschichte der DDR, um die Funktion der Staatssicherheit und um die Situation von Künstlern in der DDR (Bundeszentrale für politische Bildung 2006). Mit Deleuze lässt sich die Anregung formulieren, bei der Filmauswahl stärker auf das „Wie“ der filmischen Präsentation zu achten. Deleuze macht das an seiner Vorstellung des konstruktiven – und wie ich gezeigt habe potenziell bildungsrelevanten – Schocks im Denken deutlich, den Filme auslösen können. Dabei geht es nicht um eine schockierende Darstellung auf der Ebene des Repräsentierten, sondern um eine schockierende Begegnung, die vorhandene Welt- und Selbstverhältnisse herausfordert. „Im schlechten Kino vermischte sich der Schock mit der figurativen Gewalt des Dargestellten, anstatt jene andere Gewalt eines Bewegungs-Bildes zu erreichen, das

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seine Vibration in einer beweglichen Sequenz entwickelt, die in uns eindringt.“ (Deleuze 1997b, S. 206) Oder, an anderer Stelle: „Wenn Gewalt nicht mehr die des Bildes und seiner Vibrationen, sondern die des Repräsentierten ist, fällt man in eine blutige Arbitrarität, und wenn die Größe nicht mehr die der Komposition ist, sondern reines und einfaches Anschwellen des Repräsentierten, gibt es keine geistige Stimulation und kein Entstehen des Denkens mehr.“ (Deleuze 1997b, S. 215)1

Ein Schock im Denken kann z.B. dann entstehen, wenn Filme uns mit dem Fremden im Eigenen in Berührung bringen, so wie es in dem Film „Caché“ geschieht, in dem deutlich wird, dass ein Mensch, der unter Druck gerät, unter Umständen so handelt, wie er es in einer unverfänglichen Situation ablehnen würde. Die Erfahrung, dass niemand davor geschützt ist, von dieser Dimension des Fremden im Eigenen heimgesucht zu werden, kann vorhandene Welt- und Selbstverhältnisse auf schockierende und gleichzeitig produktive Weise infrage stellen. In Filmen wie „Das Leben der Anderen“ werden solche Ambivalenzen dagegen aufgehoben. Schockierend ist hier nur das Verhalten der Stasi-Mitarbeiter, die als kaltherzig und opportunistisch gezeigt werden und von denen sich die ZuschauerInnen leicht abgrenzen können. Die Figur des Gerd Wiesler (des „guten“ Stasi-Mannes, der versucht, den Künstler Georg Dreymann zu schützen) weist ebenfalls keine Brüche auf: Wiesler ist fasziniert von Dreymann und nimmt weit reichende Nachteile in Kauf, indem er ihn deckt. Er wird als gefestigte Persönlichkeit gezeigt, deren Widersprüche und Unstimmigkeiten (wie z.B. die Lust an der Ausübung von Macht oder die Angst vor offenen Konflikten, die ihn

1

Der schon vielfach erwähnte Regisseur Michael Haneke vertritt eine ähnliche Position, die er anhand unterschiedlicher Weisen der Gewaltdarstellung in den Filmen „Natural Born Killers“ „Funny Games“ erläutert: „Natural Born Killers gibt vor, die Gewalt in den Medien zu kritisieren, und beschreibt ebendiese Gewalt gleichzeitig so attraktiv, daß der Zuschauer dieser Attraktivität erliegt und keine Möglichkeit hat, seine eigene Position in dem Spiel wahrzunehmen und zu reflektieren.“ (Haneke in Assheuer 2008, S. 81) Anders als der Film „Funny Games“, der „durch die dauernden Illusionsbrüche, durch seinen selbstreflexiven Duktus dem Zuschauer seine Manipulierbarkeit und seine potenzielle Mittäterschaft vor Augen führt.“ (ebd.)

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möglicherweise erst zur Stasi geführt haben) nicht weiter thematisiert werden. Diese Überlegungen sind gleichzeitig Argumente für eine pädagogisch begründete Filmkritik, die mit bildungstheoretischen Überlegungen einsetzt und aus kulturkritischen und bewahrpädagogischen Perspektiven der Filmkritik herausführen kann. Die bildungstheoretische Perspektive erlaubt hier eine differenziertere Betrachtung, im Rahmen derer z.B. „Unterhaltung“ nicht grundsätzlich diskreditiert werden muss, sondern die Kritik sich eher auf filmische Verfahrensweisen richtet, die einer Schließung vorhandener Ordnungen Vorschub leisten. Und das kann durchaus auch bei „anspruchsvollen“ oder „authentischen“ Filmen“ wie „Das Leben der Anderen“, „Rhythm is it“, „Das Wunder von Bern“ o.ä. der Fall sein. Anders als z.B. Sebastian Schädler (2008) vertrete ich deshalb die Auffassung, dass Filme sich sehr wohl klassifizieren lassen, auch wenn ich gezeigt habe, dass klassische Kategorien – wie z.B. „gut“ und „schlecht“ oder „pädagogisch wertvoll“ und „pädagogisch wertlos“ oder „anspruchsvoll“ und „anspruchslos“ – problematisiert werden müssen. Schädler versucht in seinen filmpädagogischen Überlegungen zur Dekonstruktion von Geschlechterklischees dagegen, eine Bewertung von Filmen ganz zu vermeiden (Schädler 2008, S. III 40) und kritisiert pädagogische Plädoyers für „andere“ Bilder. Mit Derrida nimmt er an „Gutes“ und „Schlechtes“, „Konventionelles“ und „Neues“ oder „Regel“ und Regelverletzung“ seien gleichursprünglich, und es gelte im Rahmen einer dekonstruktiven Praxis die Wahrnehmung solcher Oppositionen in Richtung einer Wahrnehmung der Gleichursprünglichkeit zu überwinden (vgl. Schädler 2008, S. III 82). Er handelt sich m.E. damit die Schwierigkeit ein, dass er die normative Ebene von Film-Bildung umgehen muss, weil ihm die Möglichkeit verloren geht, Kritik zu üben. Zwar sagt Schädler, eine „ästhetisch-moralische Positionierung des Lehrenden“ (Schädler 2008, S. III 96) sei notwendig, sie hat aber nach seiner Einschätzung keine Entsprechung auf der Ebene der Bilder. Mir scheint damit die Positionierung des Lehrenden tendenziell beliebig zu werden. Schädler schlägt vor, besonders mit „vermeintlich klischeehaften“ (Schädler 2008, S, IV 3) Bildern zu arbeiten, diese neu anzuordnen und zu montieren, und dabei das Potenzial „innerer Spannungen“ (Schädler 2008, S. III 88) der Bilder zu nutzen, um vorhandene „Ordnungen zu erschüttern“ (Schädler 2008, P 6). Zumindest indirekt führt er dabei einen normativen

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Blick wieder ein, demzufolge vorhandene Bilder in ihrer aktuellen Anordnung dazu beitragen können, Ordnungen zu stabilisieren. Eine Stärke von Schädlers Überlegungen liegt darin, dass er in didaktischer Perspektive vorschlagen kann, mit den Bildern zu arbeiten, statt gegen sie (Schädler 2008, S. III 65), denn seine Absicht ist es gerade nicht, „falsche“ durch „richtige“ Bilder zu ersetzen (vgl. ebd.). Auch wenn ich selber diesen Abschnitt mit den Worten „Die ‚richtigen‘ Filme auswählen“ überschrieben habe, geht es mir ebenfalls nicht darum, einer pädagogischen Arbeit gegen die „falschen“ Filme das Wort zu reden. Also z.B. einer ideologiekritischen Analyse, im Rahmen derer den Heranwachsenden gezeigt werden soll, auf welche manipulativen Tricks sie ständig hereinfallen. Mir geht es bei der Auswahl der „richtigen“ Filme eher darum, Heranwachsenden auch Filme anzubieten, denen sie sonst vielleicht nicht begegnen würden. Alain Bergala (2006) sieht die Schule in diesem Zusammenhang in der Pflicht, Heranwachsende mit Filmen in Kontakt zu bringen, die sie sich selber nicht aussuchen würden, oder die in ihrem jeweiligen Umfeld gar nicht zugänglich sind. Er denkt dabei an das Kino als Kunst, als potenziell Fremdes, das seinen RezipientInnen einen Widerstand entgegensetzt. „Wenn also die Begegnung mit dem Kino als Kunst nicht in der Schule stattfindet, so droht sie für sehr viele Kinder nirgendwo stattzufinden.“ (Bergala 2006, S. 31) Dabei betont auch Bergala die pädagogische Dimension der Bilder selbst: „Der Film arbeitet in aller Stille, seine Schockwelle breitet sich langsam aus.“ (Bergala 2006, S. 50) Bergala nimmt an, dass die regelmäßige Filmbegegnung Voraussetzung für Prozesse der Film-Bildung ist. Er geht davon aus, dass erst die häufige Rezeption der „richtigen“ Filme eine umfassende „Geschmacksbildung“ (vgl. Bergala 2006, S. 37ff) ermöglicht, welche es den Heranwachsenden dann wiederum erlaubt, in die Begegnung mit widerständigen Filmen „einzuwilligen“ (Bergala 2006, S. 55) und sich von ihnen treffen zu lassen. Und auch Urteils- und Analysefähigkeit sind für Bergala Ergebnis einer Geschmacksbildung. Er dreht damit die filmpädagogisch verbreitete Denkfigur um, derzufolge erst Kategorien der Analyse und Kritik vermittelt werden müssen, damit die RezipientInnen überhaupt einen Filmgeschmack entwickeln können. Voraussetzung von Bildung ist in dieser Perspektive eine eher sozialisatorische Funktion der Filme. Das scheint mir ein interessanter Anknüpfungspunkt zu sein: Bildung lässt sich zwar nicht „machen“, vermitteln

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oder didaktisieren, aber ihr kann über eine Gestaltung des Sozialisationsumfeldes unter Umständen der Weg bereitet werden. Der Prozess der Sozialisation läuft zwar informell ab und ist kein Bereich der direkten pädagogischen Intervention. Er kann aber trotzdem Möglichkeitsbedingungen für Bildung eröffnen (oder verschütten)2. Und diese liegen für Bergala in der Bereitstellung der „richtigen“ Filme3. Film-PädagogInnen kommt also vor allem die Aufgabe zu, geeignete Filme überhaupt auszuwählen und zu zeigen. Vor diesem Hintergrund müssten gängige Empfehlungen überdacht werden, in denen es vor allem darum geht, Heranwachsende „abzuholen“ oder an kindliche Medien- und Lebenswelten direkt anzuknüpfen. Dazu noch einmal Bergala: „Nicht die Kunst muss den jungen Betrachtern – noch dazu risikolos – ausgesetzt werden, sondern sie müssen der Kunst ausgesetzt und können von ihr erschüttert werden.“ (Bergala 2006, S. 73).

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Die Chancen, die sich daraus ergeben, könnten noch breiter genutzt werden – auch wenn es um Fragen von Chancengleichheit und umfassender „Bildungsbeteiligung“ geht. Denn m.E. ist es oft einfacher, „Umfelder“ zu gestalten, als Menschen zu erreichen, die klassische Lernangebote aus verschiedenen Gründen nicht nutzen können oder wollen.

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Ich greife damit eine Denkfigur auf, die in der Geschichte der Filmpädagogik bereits mehrfach formuliert worden ist – z.B. von den Kinoreformern, denen es ebenfalls darum ging, die „richtigen“ Filme bereitzustellen (vgl. Kapitel 2.1.1), oder von den Filmerziehern, die sich bereits in den 50er und 60er Jahren mit der Gestaltung von Sozialisationsumfeldern beschäftigt haben (vgl. Kapitel 2.1.3). Allerdings wende ich diesen Gedanken gegen die damals verbreiteten Abschottungs- und Allmachtsphantasien der Pädagogik, die darauf abzielten, Sozialisationseindrücke zu begrenzen, und den Sozialisationsprozess im Sinne inhaltlich festgelegter Orientierungen zu steuern. Mir geht es gerade darum, an der Grenze pädagogischer Handlungsmöglichkeiten Auseinandersetzungsoptionen zu eröffnen, die sich dem planenden Zugriff entziehen. Also darum, besonders diejenigen Erfahrungsbereiche in den Blick zu nehmen, die noch nicht benannt und beschrieben werden können, und die über pädagogische Angebote nicht in gleicher Weise in die Welt gebracht werden können. Ich versuche also – anders als die genannten historischen FilmpädagogInnen – mit dem Vorschlag zur Gestaltung von Sozialisationsumfeldern den Bereich aufzuwerten, der sich der pädagogischen Kontrolle widersetzt.

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Eine analoge Forderung stellt Deleuze für die Filmproduktion: Statt Filme zu produzieren, die an vorhandene Ordnungen gebunden bleiben, indem sie sich z.B. in Form von Kritik und Parodie auf diese Ordnungen beziehen ohne sie zu überschreiten, gehe es darum, einen „schöpferischen Entwurf“ (Deleuze 1997a, S. 282) zu wagen, also „ein wirklich neues Bild entstehen zu lassen“ (Deleuze 1997a, S. 282). Zum Schluss dieses Abschnitts lassen sich meine pädagogischen Überlegungen daher noch um die filmpolitische Forderung ergänzen, die oben entwickelten Kriterien auch in Filmförderungs-Entscheidungen einzubeziehen. Denn die „Pädagogik des Bildes“ braucht Förderer, wenn sie nicht von einer Politik des Marktes erstickt werden soll. Lässt man die Filme allerdings nur für sich alleine sprechen, kann es trotzdem leicht zu einer Bestätigung vorhandener Welt- und Selbstverhältnisse kommen – denn Filme haben keine kausale Wirkung, und die Aufrechterhaltung von Welt- und Selbstverhältnissen liegt (wie mit Kokemohr erwähnt, vgl. Kapitel 3.6) empirisch näher, als deren Transformation. Das betont auch Reichenbach: „Entwicklungen und Veränderungen (Akkomodationen) gegenüber ist das Subjekt eher als träge zu bezeichnen. (...) Bildungsprozesse sind ‚unfreiwillige‘ Transformationen, Leistungen, die das Individuum vollbringt, wenn es nicht anders geht“ (Reichenbach 1997, S. 135). Für einen Transformationsprozess ist also eine besondere Art des Zusammentreffens von Zuschauer und Film erforderlich. Im folgenden Abschnitt soll daher gefragt werden, ob und wie PädagogInnen die Art des Zusammentreffens beeinflussen können; also ob und wie dem „immanenten Lehrer“ (Pauleit 2004, S. 18) des Films ein realer Pädagoge zur Seite gestellt werden kann, ohne dabei den immanenten Pädagogen zu überstimmen oder zum Schweigen zu bringen.

9.2 Z UGÄNGE : B ILDENDE B EGEGNUNGEN MIT F ILMEN ERMÖGLICHEN Es kann demnach nicht nur um die Frage gehen, welche Filme besondere Fremderfahrungspotenziale bergen, sondern es muss auch gefragt werden, welche Zugangsweisen es überhaupt ermöglichen, sich an der Bruchstelle der Erfahrung auf die Erfordernis zur Erfindung kreativer Antworten einzu-

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lassen, anstatt jede Filmbegegnung zur Aktualisierung und Bestätigung vorhandener Welt- und Selbstverhältnisse zu nutzen. In diesem Zusammenhang lohnt sich wieder die Auseinandersetzung mit Waldenfels’ Denken. Waldenfels beschäftigt sich zwar nicht explizit mit vermittlungsbezogenen Fragen wie pädagogischen Interventionsmöglichkeiten, aber in Band drei seiner Studien zur Phänomenologie des Fremden (Waldenfels 1999) fragt er nach den Besonderheiten des „Anderssehens“. Es geht ihm dabei vor allem um Bilder und nicht um Filme, und für meine Arbeit gilt es zu beachten, dass das Sehen nicht die einzige Dimension der Filmbegegnung ist. Aber trotzdem sollen Waldenfels’ Ausführungen hier exemplarisch aufgegriffen und als Grundlage für filmpädagogische Überlegungen genutzt werden, weil aus ihnen grundsätzliche Anknüpfungspunkte für die Frage nach dem Bereich der Zugänge zu einer „Sache des Sehens“ (Waldenfels 1999, S. 123) gewonnen werden können. In Anlehnung an Max Imdahl unterscheidet Waldenfels wiedererkennendes und sehendes Sehen. Das wiedererkennende Sehen bezieht sich auf den Inhalt des Bildes, also auf das, was gezeigt wird. Und es richtet sich auf Gegenstände, die dem Betrachter bereits vor der Betrachtung bekannt waren: „Man sieht und erlebt im Bild also, was man schon kennt.“ (Waldenfels 1999, S. 103) Diese Art des Sehens ist nach Waldenfels heteronom, „weil die Gesetze des Sichtbaren nicht dem Bild selbst entstammen“ (Waldenfels 1999, S. 103). Beim wiedererkennenden Sehen kommt das Sehen im Gesehenen zur Ruhe. Es bezieht sich auf ein „Reich des Sichtbaren“ (Waldenfels 1999, S. 138), das vom Prozess des Sehens unangetastet bleibt und im Sehen nicht überschritten wird. Das sehende Sehen richtet sich dagegen auf die formale Ebene, also auf das Wie der Darstellung und kann nach Waldenfels als autonomes Sehen betrachtet werden, „weil die Gesetze des Sichtbaren dem Bild selbst entstammen“ (Waldenfels 1999, S. 103). Das sehende Sehen beginnt häufig mit einer „ästhetischen Ernüchterung“ (Waldenfels 1999, S. 103), weil die formale Darstellung den Weg des Wiedererkennens blockiert. Die extreme Form des sehenden Sehens kann darin bestehen, dass der Betrachter nicht mehr „durch das Bild hindurch“ auf den (möglicherweise wiedererkennbaren) Inhalt blickt, sondern dass sich sein Blick auf der Ebene der Darstellungsweise „verfängt“ oder, mit Waldenfels’ Worten, „in der Dichte des Bildes hängenbleib[t]“ (Waldenfels 1999, S. 107). Das sehende Sehen birgt einen Überschuss, es überschreitet das wiedererkennbare „Reich des Sicht-

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baren“ und macht damit „sichtbar, was nicht schon sichtbar ist“ (Waldenfels 1999, S. 138). Das sehende Sehen ist selber eine Form der Fremderfahrung, und in Kapitel 8.1 habe ich anhand des Films „Caché“ bereits beispielhaft beschrieben, wie der Blick sich in der filmischen Artikulationsweise „verfangen“ kann, die verhindert, dass das Geschehen als ein Drama über Schuld und Verantwortung „wiedererkannt“ wird, in dem der Blick sich einrichten und zur Ruhe kommen könnte. Dem Beitrag der Filme zu einem sehenden Sehen habe ich mich außerdem im vorigen Abschnitt ausführlich gewidmet. Aber wie kann dem sehenden Sehen als Zugang zu einem Film der Weg bereitet werden? Bernhard Waldenfels beschäftigt sich nicht ausdrücklich mit dieser vermittlungsbezogenen Frage, aber er sagt klar, wie ein sehendes Sehen verhindert wird: Nach seiner Einschätzung kann es kein sehendes Sehen geben, „solange die Sehordnung in einer vorgegebenen Ordnung der Dinge gründet“ (Waldenfels 1999, S. 108, Herv.i.O.). Wenn der Ausgangspunkt jedes Sehens eine bereits vorhandene Ordnung ist, „gewinnt das Bild keinen eigenen Stand“ (Waldenfels 1999, S. 109), sondern vorgängige Ordnungen werden anhand des Bildes bestätigt, wiedererkannt oder vermittelt, ohne dass im Bild eine neue Ordnung entstehen könnte. Letzteres ist nach Waldenfels nur dann möglich, „wenn die Ordnung des Sehens nicht materialiter und formaliter vor dem Sehen und Bilden gegeben ist, sondern mit dem Sehen und Bilden zugleich entspringt“ (Waldenfels 1999, S. 110, Herv.i.O.)4. Vor dem Hintergrund meiner Bestandsaufnahme in Kapitel 2.2 muss bilanziert werden, dass filmpädagogische Konzepte häufig auf ein wiedererkennendes Sehen zielen, und Bildungsprozesse damit unter Umständen sogar verhindern. Denn viele filmpädagogische Bemühungen richten sich

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Mit „Bilden“ meint Waldenfels hier das Bilden der bildenden Kunst, also z.B. die Produktion von Bildern. Gleichzeitig weist der von Waldenfels beschriebene Prozess der Entstehung neuer Sehordnungen und Wahrnehmungsweisen auch eine Nähe zu der von mir skizzierten Bildungsvorstellung auf. Denn auch die Produktion von Bildern kann eine Form der kreativen Antwort auf eine Fremderfahrung sein. Insofern passt der Begriff des Bildens hier in seinem Doppelsinn – auch wenn ich mich nicht auf die produktive sondern auf die rezeptive Dimension der Auseinandersetzung mit Filmen konzentriere.

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darauf, den Blick der Heranwachsenden durch das Bild hindurch auf die Inhalte zu lenken, ohne dass er sich in der „Dichte des Bildes“ verfangen kann, den Blick also quasi durch die „Dichte des Bildes“ hindurch zu manövrieren. Die Heranwachsenden werden gegen „ästhetische Ernüchterungen“ gewappnet, indem sie darin bestärkt werden, sich von der vorhandenen Sehordnung aus zu orientieren. Es geht eher darum, den Blick der RezipientInnen in einer vorgegebenen Ordnung zu verankern, als ihn für das der Ordnung Fremde zu öffnen. Im Rahmen einer bildungstheoretisch interessierten Filmpädagogik müsste genau der gegenteilige Versuch unternommen werden. Es müsste davon Abstand genommen werden, das Sehen unabhängig von einer „Sache des Sehens“ zu schulen, also den RezipientInnen Kompetenzen zu vermitteln, die sich auf vorhandene Sehordnungen beziehen und auf Filme einfach „angewendet“ werden sollen. Vielmehr müsste der „Sache des Sehens“ wieder zur Geltung verholfen werden, damit erfahrbar wird, dass „das Sehen-als niemals die Möglichkeiten des Sichtbaren erschöpft“ (Waldenfels 1999, S. 162/ 163). Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang auch von „Blickstörungen“ (Waldenfels 1999, S. 163), die sich aus dem Überschuss ausgeschlossener Sichtweisen ergeben. Solche Blickstörungen sollten nicht als unerwünschte Unterbrechung des Rezeptionsprozesses betrachtet werden, sondern eher als Chance für ein bildendes Anderssehen, im Rahmen dessen neue Sehmöglichkeiten entstehen. FilmpädagogInnen hätten vor diesem Hintergrund die Aufgabe, „Blickstörungen“ zuzulassen und zu ermöglichen. Dazu ist es zunächst erforderlich, eine entsprechende Lernsituation, bzw. Lernathmosphäre zu schaffen. Die verbreitete Zielvorgabe, der zufolge der Lernweg vom Unsicheren zum Sicheren führen soll, müsste ausgesetzt werden. Den Heranwachsenden müsste vermittelt werden, dass es kein „falsches“ oder „richtiges“ Filmsehen gibt, und dass es nicht darum geht, sich auf eine zutreffende und gültige Sichtweise zu einigen. In einer solchen Situation könnte dann von den Filmerfahrungen der RezipientInnen ausgegangen werden. Die RezipientInnen könnten ermutigt werden, alle Eindrücke zuzulassen, also auch Unsicherheiten, Ärger oder Ablehnung, und an diese Eindrücke könnte angeknüpft werden. Dafür ist es unverzichtbar, einen geschützten und vertrauensvollen Rahmen zu bieten, in dem die TeilnehmerInnen sich sicher fühlen. Nur in einer solchen Situation wird es gelingen, sie dazu zu ermutigen, Rezeptionswiderstände auszuhalten und

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„Selbsterhaltungs-Impulse“ (vgl. Kap 5.5) zugunsten möglicher Transformationsprozesse auszusetzen. Anknüpfungspunkt für den filmpädagogischen Prozess wäre dann die Filmerfahrung der Heranwachsenden, in der sich möglicherweise Spuren filmischer „Blickstörungen“ zeigen, die Ausgangspunkt für ein sehendes Sehen sein können. Die Richtung der Auseinandersetzung würde auf diese Weise umgedreht: Es würde nicht eine „Sehordnung“ vermittelt und an den Film herangetragen, sondern der Film würde als „Sache des Sehens“ ernst genommen, die auf den Prozess der Entstehung von Sehordnungen zurückwirken kann. Der Filmpädagoge kann dazu beitragen, dass Überschüsse des Sichtbaren wahrnehmbar werden, indem er zusätzliche Sichtweisen ins Spiel bringt, z.B. in Form unterschiedlicher Filmkritiken und Kommentare, die auch von den TeilnehmerInnen selber verfasst werden können. Möglichen „Blickstörungen“ oder „Bruchlinien der Erfahrung“ könnte außerdem zur Geltung verholfen werden, indem der Filmpädagoge sein eigenes Filmerleben thematisiert; indem er sagt, an welcher Stelle er selber sich von dem Film verunsichert, herausgefordert, provoziert oder angesprochen fühlt. An der jeweiligen Sichtweise des Pädagogen kann für die Heranwachsenden deutlich werden, dass der eigene Zugang nicht der einzig mögliche ist. Da die Äußerungen des Pädagogen aber leicht als „richtig“ eingeschätzt werden – was ein Verweilen bei eigenen Eindrücken und Unklarheiten erschweren kann – ist es wichtig, dass der Filmpädagoge nicht „das letzte Wort“ anstrebt. Er sollte vielmehr selber versuchen, sich mit dem „immanenten Pädagogen“ des Films (vgl. Kapitel 9.1) zu beschäftigen, und diesen – auch als möglichen Konkurrenten – ernst zu nehmen. Winfried Pauleit spricht in diesem Zusammenhang von einem „mehrstimmige[n] Unterricht“ (Pauleit 2004, S. 18): „Mehrstimmigkeit hieße, dem immanenten Lehrer des Kinos das Sprechen zuweilen zu überlassen und später als zweite Stimme den Part des Lehrers zu übernehmen.“ (Ebd.) Dabei verliert der Lehrer seine Vorrangposition und auch die Bewertungshoheit. „In dieser Form der Mehrstimmigkeit liegt die Basis für ein allgemeines Lehrkonzept, welches auch die ungehörte und die unerhörte Stimme der Schüler einbezieht.“ (Ebd.) Es geht also darum, dem Film Raum zu lassen, für sich selbst zu sprechen, ohne dabei jede Vermittlungsverantwortung abzugeben. Im Gegenteil, der Filmpädagoge übernimmt auf diese Weise die Verantwortung für

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einen besonders riskanten Prozess: „Er gibt seine durch die Institution definierte und begrenzte Rolle als Lehrer für den Augenblick auf und tritt von einer anderen, ungeschützteren Stelle seiner selbst her in Beziehung und ins Gespräch mit seinen Schülern.“ (Bergala 2006, S. 52) Diese Vermittlungsposition beschreibt Alain Bergala mit der Metapher des „Passeur[s]“ (ebd.). Im Wortsinn ist damit ein Schmuggler oder ein Fährmann gemeint, der Waren oder Menschen über Grenzen bringt. Die Besonderheit dieser Tätigkeit liegt darin, dass der Passeur sich selber den gleichen Risiken aussetzt, wie seine Zielgruppe, dass er sich auf einen offenen und unsicheren Weg einlässt ohne zu wissen, in welchem Zustand er ankommen wird. „[D]er Passeur ist jemand, der sich selbst einsetzt, wenn er Menschen im Boot oder zu Fuß über den Berg – oder über die Grenze – geleitet, er setzt sich denselben Gefahren aus wie diejenigen, für die er vorübergehend verantwortlich ist.“ (Bergala 2006, S. 39/ 40, Fußnote 8, Herv. H.W.) Interessanterweise bezieht sich Bergalas Metapher auf ein Zwischen, wie Waldenfels es so oft beschreibt: Ein Zwischen zwischen Gegenstand und Zugang, das nicht nur von einer Seite aus gedacht werden kann. Und die Tätigkeit des Passeurs liegt in einer Bewegung, wie sie für Deleuze besonders zentral ist, in einer Bewegung des Werdens, das weder als „Hier“ noch als „Dort“ festgehalten werden kann. Für die bildende Begegnung mit Filmen wie ich sie hier skizziert habe, ist daher der schulische Pflichtunterricht – für den curricular festgelegte Standards gelten, und in dem überprüfbares Wissen vermittelt werden muss – nicht ideal geeignet. Das räumt auch Bergala ein: „Die Schule zwingt zum Lernen – mit dem Ziel, die Schüler auf ihre künftige Integration in die Gesellschaft vorzubereiten, und das muss sie auch tun. Es gehört nicht zu ihren vordringlichsten Anliegen, eine entscheidende individuelle Begegnung mit einem Werk zu ermöglichen. Eine derartige Begegnung lässt sich eher initiieren als lehren, und die Schule wird sie weder vorprogrammieren noch garantieren können.“ (Bergala 2006, S. 51)

Trotzdem sieht Bergala eine wichtige Funktion der Schule darin, Heranwachsenden die Begegnung mit bestimmten Filmen überhaupt zu ermöglichen (vgl. Kapitel 9.1). Das kann z.B. in freiwilligen Arbeitsgruppen, frei wählbaren Kursen oder offenen Nachmittagsangeboten in Ganztagsschulen passieren. Im Bereich der außerschulischen Bildungsarbeit gibt es zusätz-

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lich etliche Möglichkeiten für bildungstheoretisch orientierte filmpädagogische Angebote, z.B. in Jugendtreffs und Stadtteilläden – etwa im Rahmen von Projekten oder Filmfestivals. Hier hat der Filmpädagoge mehr Raum dafür, als Passeur in einen Bereich der Kunst einzuführen, „der ihn persönlich berührt und den er sich gerade deshalb ausgesucht hat“ (Bergala 2006, S. 52). Für ein sehendes Sehen im oben beschriebenen Sinn, das Ausgangspunkt und Merkmal einer bildenden Begegnung mit Filmen sein kann, sieht Waldenfels derzeit grundsätzlich günstige Bedingungen. Denn die gesellschaftliche Situation, die durch das Verschwinden der großen Ordnungen gekennzeichnet ist, wirkt auch auf die Möglichkeiten des Sehens und Darstellens zurück. So wird ein sehendes Sehen wahrscheinlicher, wenn das Sehen nicht von einer übergreifenden (Seh-)Ordnung vorstrukturiert ist, auf die es tendenziell immer wieder zurückkommt. Dazu Waldenfels: „Diese Möglichkeit [des sehenden Sehens, H.W.] gewinnt erst ihre volle Kraft, seit die großen Ordnungen des Sichtbaren, diese umfassenden Weltanschauungen und Weltbilder, im Zerfall begriffen sind und bewegliche, begrenzte Ordnungen ihren Platz einnehmen.“ (Waldenfels 1999, S. 121)

Diese Chance gilt es nun zu nutzen – besonders im Sinne meiner Überlegungen zu den Verhältnissen von Bildung und Gesellschaft (vgl. Kapitel 5.2) und Bildung und Normativität (vgl. Kapitel 5.3). Denn ein sehendes Sehen birgt die Möglichkeit, das der eigenen (Seh-) Ordnung Fremde zugänglich zu machen und ihm gleichzeitig als Fremden gerecht zu werden.

10 Schluss: Film-Bildung im Zeichen des Fremden

In der vorliegenden Arbeit habe ich film- und bildungstheoretische sowie pädagogisch-konzeptionelle Überlegungen zu der Vorstellung einer FilmBildung im Zeichen des Fremden zusammengeführt. Es ist deutlich geworden, dass Filme vorhandene Wahrnehmungs-Gewohnheiten stören und auf diese Weise bildungstheoretisch bedeutsame Fremderfahrungen auslösen können. Diese Qualität der Filmerfahrung wurde in der Filmpädagogik bisher kaum in den Blick genommen, da filmpädagogische Überlegungen vor allem im Kontext von Kompetenz- und Vermittlungsorientierungen angestellt werden, ohne dass dabei Bezug auf film- und bildungstheoretische Diskussionen genommen wird. Ich habe die besondere Artikulationsform des Mediums Film in den Blick gerückt und dabei gezeigt, dass Filme (Fremd-)Erfahrungsmöglichkeiten bieten, die weit über die – in filmpädagogischer Auseinandersetzung häufig fokussierte – narrative Dimension hinausgehen. Außerdem habe ich die transformatorische Qualität von Bildung betont und dabei deutlich gemacht, dass ein transformatorisch gedachter Bildungsprozess sich stark von Prozessen des Kompetenzerwerbs oder des Lernens unterscheidet. In bildungsinteressierten Settings kann es sogar hinderlich sein, kompetenzorientiert zu denken. Denn der Impuls, das eigene Wissen und Können zu erweitern, ist häufig mit einer Stabilisierung vorhandener Verarbeitungsmuster verbunden und erschwert deren bildungsrelevante Veränderung. Ein kompetenzorientierter Maßstab kann außerdem dazu führen, dass die bildungsorientierte Arbeit als unergiebig erscheint, weil Rezeptionswiderstände, Unsicherheiten oder das Scheitern von Zugriffsversuchen

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als Störungen auf dem Weg zum Erwerb filmbezogener Fertigkeiten gesehen werden und nicht als Chance für die produktive Veränderung eigener Welt- und Selbstverhältnisse. Einen Ertrag meiner Arbeit sehe ich vor diesem Hintergrund in der Erweiterung des filmpädagogischen Horizonts in Richtung transformatorischer Bildungsmöglichkeiten, die ich auf Basis einer gründlichen Auseinandersetzung mit theoretischen Überlegungen in den genannten Referenzdisziplinen vorgenommen habe. Ein weiterer Ertrag besteht darin, dass ich auf diese Weise gezeigt habe, wie anregend es sein kann, aktuelle theoretische Diskussionen aufzugreifen und diese in filmpädagogischer Perspektive weiterzuentwickeln. Daraus ergibt sich auch eine Anknüpfungsmöglichkeit für die Disziplin der Medienpädagogik insgesamt, in der häufig sehr unspezifisch mit Begriffen umgegangen wird und besonders die theoretische Reflexion des Medienbegriffs ein Desiderat ist. Offen geblieben ist die Frage nach bildungsforscherischen Zugängen zu dem Thema Film-Bildung. Interessant schiene mir hier z.B. eine Untersuchung der Filmrezeption in Hinblick auf Spuren filmischer Fremderfahrungen. Dazu könnten z.B. Rezeptionswiderstände ein Hinweis sein (vgl. Kapitel 5.5), aber auch vegetative Reaktionen wie Schwindel, Schweißausbrüche oder Ohnmachten – die gar nicht selten vorkommen, wie ich aus meiner langjährigen Tätigkeit in einem Hamburger Programmkino erinnere. Oder Legenden und Anekdoten von Regisseuren, die für ihre Filme beschimpft, bedroht oder angezeigt werden. Luis Buñuel berichtet in seinen Memoiren „Mein letzter Seufzer“ sogar von zwei Fehlgeburten, die Zuschauerinnen während der Vorführungen seines Films „Ein andalusischer Hund“ erlitten haben sollen (Buñuel 1994). Ein weiterer Forschungszugang könnte sich auf die Filme selbst beziehen – als quasi empirisches Material, aus dem sich mehr über die Verfasstheit von Bildungsprozessen und die Art unseres Denkens und Wahrnehmens erfahren ließe. Denn aufgrund ihrer besonderen medialen Qualität könnten Filme Aufschluss über „Bildungsgeschichten“ geben, der auf diese Weise sonst nirgendwo gegeben oder zugänglich ist. Es gibt verschiedene AutorInnen, die bereits in diese Richtung denken Z.B. Sanders (2007) oder Schmidt/ Trede-Schicker/ Wulftange (2007): „In aktuellen Filmen scheint sich ein Wissen über die Subjektbildung abgelagert zu haben, das auf diese Art und Weise in ‚Wissenschaft‘ nicht gefunden werden kann.

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Insofern können Filme als Theorieform verstanden werden, die ‚etwas‘ der Subjektbildung in der modernen Gesellschaft explizieren. [...] Sie sind selbst eine ästhetische Form der Bildungstheorie.“ (ebd., S. 221, Herv.i.O.)

Ähnlich äußert sich auch Manuel Zahn: Der Film zeige die Dinge, „bevor sie Gegenstände für eine subjektiv zentrierte Wahrnehmung werden. Er wird damit zu einem bildungstheoretischen Forschungsinstrument, das uns einen genaueren Einblick in die Konstruktionsprozesse von Welt und Selbst des Subjekts ermöglichen kann. Mit dem Film können wir erhöhte Aufmerksamkeit und feinere Wahrnehmung für das entwickeln, was in der identifizierenden Alltagswahrnehmung ausgeschlossen wird, was aber umso größere Bildungsmacht auf das Subjekt ausübt.“ (Zahn 2009, S. 119)

Daran anschließend könnte gefragt werden, wie Bildung vom Film aus oder – im Zusammenhang mit den bereits eingeführten Überlegungen – von Deleuze aus gedacht werden kann. Eine solche Blickrichtung würde es unter Umständen erforderlich machen, den Prozess der Bildung anders zu fassen, und als Ausgangspunkt nicht „stillgestellte“ Vorstellungen wie die von vorhandenen Welt- und Selbstverhältnissen zu sehen, sondern eine universelle Beweglichkeit, die nicht an einem „Anfang“ beginnt und in einem Resultat zur Ruhe kommt. Solche Überlegungen würden auf den Bereich der bildungstheoretischen Diskussion zurückwirken. Diesen Schritt bin ich in meiner Arbeit nicht gegangen. Ich habe weder in die bildungs- noch in die filmtheoretische Diskussion eingegriffen, sondern ich habe in filmpädagogischem Interesse Brückenschläge zu vorhandenen Theoriebeständen vorgenommen. Dabei habe ich einen Beitrag zur filmpädagogischen Theoriebildung geleistet, der den filmpädagogischen Blick erweitern und Anregungen für die filmpädagogische Arbeit bieten kann. In dem einleitenden Zitat von Gregory Flaxman heißt es: „The cinema provokes us to see, to feel, to sense, and finally to think differently“ (Flaxman 2000, S. 3, Herv.i.O.) Einer Film-Bildung im Zeichen des Fremden könnte der Weg bereitet werden, wenn diese „Provokation“ im filmpädogischen Denken und Handeln stärker zur Geltung gebracht würde.

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Filme

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282 | F ILM-B ILDUNG

IM

Z EICHEN

DES

F REMDEN

WOLFZEIT (F/ D/ A 2003, R: Michael Haneke) THE WOODSMAN (USA 2004, R: Nicole Kassell) DAS WUNDER VON BERN (D 2003, R: Sönke Wortmann)

Theorie Bilden Stefan Dierbach Jung – rechts – unpolitisch? Die Ausblendung des Politischen im Diskurs über Rechte Gewalt 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1468-8

Peter Faulstich Aufklärung, Wissenschaft und lebensentfaltende Bildung Geschichte und Gegenwart einer großen Hoffnung der Moderne Juni 2011, 196 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1816-7

Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft 2008, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-878-0

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Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Figurationen von Adoleszenz Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II 2009, 216 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1025-3

Ingrid Lohmann, Sinah Mielich, Florian Muhl, Karl-Josef Pazzini, Laura Rieger, Eva Wilhelm (Hg.) Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart Mai 2011, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1751-1

Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hg.) Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses 2010, 364 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1490-9

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Theorie Bilden Sönke Ahrens Experiment und Exploration Bildung als experimentelle Form der Welterschließung 2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1654-5

Stephanie Maxim Wissen und Geschlecht Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik 2009, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1030-7

Frank Elster Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit

Torsten Meyer, Andrea Sabisch (Hg.) Kunst Pädagogik Forschung Aktuelle Zugänge und Perspektiven

2007, 362 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-791-2

2009, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1058-1

Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze

Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten

2008, 306 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-846-9

2010, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1176-2

Kathrin Hahn Alter, Migration und Soziale Arbeit Zur Bedeutung von Ethnizität in Beratungsgesprächen der Altenhilfe

Florian von Rosenberg Bildung und Habitustransformation Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen

August 2011, 352 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1680-4

Juni 2011, 352 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1619-4

Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium

2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-588-8

2008, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-798-1

Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs

Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole?

2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-599-4

2007, 314 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-688-5

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