Der älteste Bericht über den Tod Jesu: Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien [Reprint 2012 ed.] 3110141981, 9783110141986

Die Reihe Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (BZNW) ist eine der ältesten undrenommierteste

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Der älteste Bericht über den Tod Jesu: Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien [Reprint 2012 ed.]
 3110141981, 9783110141986

Table of contents :
Vorwort
Abkürzungen
Einleitung
I. Teil. Quellenkritik: Gewinnung des ältesten Passionsberichtes
1. Forschungsbericht und methodische Klärung (I)
1.1. Untersuchungen zur Markuspassion
1.2. Untersuchungen zur Johannes-, Markus- und Lukaspassion
1.3. Folgerungen
1.4. Methodische Klärung (I)
2. Prämissen
3. Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern
3.1. Die Forschungslage
3.2. Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern
3.3. Ergebnis
4. Das Problem einer besonderen lukanischen Passionsquelle
4.1. Einleitung
4.2. Klärung der Beweislast und der Fragestellung
4.3. Das Verhältnis des Markusstoffes im lukanischen Passionsbericht zu Mk
4.4. Das Sondergut in der lukanischen Passionsdarstellung
4.5. Warum redigiert Lukas das Markusevangelium in seiner Passionsdarstellung überdurchschnittlich stark?
4.6. Das Sonderproblem des Verhältnisses zwischen lukanischem und johanneischem Passionsbericht
4.7. Ergebnis
5. Methodische Klärung (II)
6. Ermittlung der ältesten Passionstraditionen
6.1. Der Markus und Johannes gemeinsame Stoff
6.2. »Sondergut« der beiden Evangelisten
7. Der älteste erreichbare Passionsbericht (PB)
7.1. Einleitung
7.2. Bestimmung des Beginns des ältesten Passionsberichtes
7.3. Bestimmung des Endes des ältesten Passionsberichtes
7.4. Sonderprobleme
7.5. Bestimmung des Umfangs des ältesten Passionsberichtes
7.6. Einzelanalyse der neun Szenen des ältesten Passionsberichtes
7.7. Formale Analyse des ältesten Passionsberichtes
7.8. Die zentralen inhaltlichen Charakteristika des ältesten Passionsberichtes
7.9. Näherbestimmungen zur Genese des ältesten Passionsberichtes
II. Teil. Historische Analyse
1. Einleitung
1.1. Die Forschungslage
1.2. Das methodische Problem einer historischen Analyse des ältesten Passionsberichtes
2. Historische Analyse der neun Szenen des ältesten Passionsberichtes unter Berücksichtigung der einschlägigen Sondertraditionen von PBMk und PBJoh
2.1. Der »Todesbeschluß«
2.2. Der Einzug nach Jerusalem
2.3. Das letzte Mahl samt Ankündigung der Auslieferung und der Petrusverleugnung
2.4. Die Gefangennahme
2.5. Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung
2.6. Das Verhör vor Pilatus
2.7. Die Verspottung
2.8. Die Kreuzigung
2.9. Das Begräbnis
2.10. Zur Tendenz der unhistorischen Angaben des ältesten Passionsberichtes
3. Historische Analyse einiger sekundärer Passionstraditionen
3.0. Vorbemerkung
3.1. Markus 14,12-16.27a.32-42
3.2. Johannes 19,31-37
3.3. Lukas 23,6-16
3.4. Matthäus 27,3-10.19.24-25.62-66
3.5. Ein Sonderproblem: Die »Tempelreinigung«
4. Historische Analyse der ältesten potentiell relevanten Erwähnungen des Todes Jesu außerhalb der evangelischen Passionsberichte
4.1. Paulus: 1 Thess 2,14-16
4.2. Die Leidens- und Auferstehungsvoraussagen des Markusevangeliums (Mk 8,31; 9,31; 10,33f.)
4.3. Ein Sonderproblem: Mk 3,6
4.4. Die Aussagen über den Tod Jesu in den Reden der Apostelgeschichte (Apg 2,23.36; 3,15; 4,10.27f.; 5,30; 7,52; 10,39; 13,27-29)
4.5. Josephus: Das 'Testimonium Flavianum' AJ XVIII 3,3 (63-64)
4.6. Tacitus: Annalen XV 44
4.7. Mögliche Erwähnungen des Todes Jesu im babylonischen Talmud: bSanh 43a. 67a
4.8. Ertrag
5. Schluß: Die wichtigsten historischen Ergebnisse. Bleibende Probleme einer Rekonstruktion der Umstände des Todes Jesu
Epilog – Die behauptete Schuld der Juden am Tod Jesu und die Folgen
Zitierte Literatur
Stellenregister (in Auswahl)

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Wolfgang Reinbold Der älteste Bericht über den Tod Jesu

w DE

G

Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche

Herausgegeben von Erich Gräßer

Band 69

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

Wolfgang Reinbold

Der älteste Bericht über den Tod Jesu Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1994

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Reinbold, Wolfgang: Der älteste Bericht über den Tod Jesu : literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien / Wolfgang Reinbold. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche ; Bd. 69) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-11-014198-1 NE: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche / Beihefte

ISSN 0171-6441 © Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Die Beurteilung der literarischen und historischen Probleme der neutestamentlichen Passionsüberlieferung ist mehr denn je kontrovers, die Literatur ist kaum zu überschauen. In dieser Situation wünsche ich der Untersuchung, daß sie nicht nur von den Spezialisten zur Kenntnis genommen wird, sondern daß sie insbesondere denjenigen dienen möge, die sich in einem eng begrenzten Zeitraum einen Überblick über die Problemlage verschaffen müssen. Möge sie sich insbesondere den Studentinnen und Studenten, die nach meiner Erfahrung oft schwer einen Zugang zu dem höchst komplexen Thema finden, als hilfreich erweisen! Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner im Januar 1992 abgeschlossenen und im Wintersemester 1992/93 von der theologischen Fakultät der Universität Göttingen angenommenen Dissertation. Die seitdem erschienene Literatur habe ich eingearbeitet, soweit es mir nötig erschien. Nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte ich die soeben in der vorliegenden Reihe erschienene Arbeit von Johannes Schreiber, Die Markuspassion, BZNW 68, Berlin/New York 1993, auf die an dieser Stelle verwiesen sei. Zu danken habe ich zunächst den beiden Gutachtern: der Erstgutachter Herr Prof. Dr. Dr. Hartmut Stegemann hat die Arbeit angeregt und das Projekt seines Assistenten von Anfang bis Ende in großartiger Weise betreut. Herr Prof. Dr. Gerd Lüdemann hat das Zweitgutachten übernommen und sich vor allem in der letzten Phase vor der Drucklegung in vielerlei Hinsicht eingesetzt. Zu danken habe ich sodann denjenigen, die eine frühe Fassung der Arbeit gelesen und kommentiert haben: den Freunden Wolfgang L. Ritter und Reinhard von Bendemann sowie meiner Frau Karoline Läger. Die beiden Letztgenannten haben die Entstehung der Untersuchung darüber hinaus in manch anderer Hinsicht gefordert. Dank gebührt weiterhin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, die den Beginn der Dissertation durch ein D. Erich Vellmer-Stipendium förderte und am Ende einen namhaften finanziellen Zuschuß gewährte.

VI

Vorwort

Ein besonderer Dank gebührt sodann Herrn Prof. Dr. Erich Gräßer, der die Untersuchung in die Beihefte zur ZNW aufgenommen hat. Dank gebührt schließlich dem de Gruyter-Verlag - insbesondere Herrn Dr. von Bassi und Frau Monika Wendland — für die gute Kooperation und eine rasche und reibungslose Drucklegung. Göttingen, im August 1993 W. R.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

V

Abkürzungen

XII

Einleitung

1

I. Teil. Quellenkritik: Gewinnung des ältesten Passionsberichtes

1. Forschungsbericht und methodische Klärung (I) 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

Untersuchungen zur Markuspassion Untersuchungen zur Johannes-, Markus- und Lukaspassion Folgerungen Methodische Klärung (I)

7 8 14 19 20

2. Prämissen

22

3. Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern

27

3.1. 3.2. 3.2.0. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4.

Die Forschungsläge Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern Vorbemerkung: Das Problem der Beweislast Die Komposition des Johannesevangeliums und die Synoptiker Der Wortlaut des Johannesevangeliums und die Synoptiker Die Gattung des Johannesevangeliums und das Markusevangelium Setzt das Johannesevangelium eine Synoptikerlektüre der Adressaten voraus?

27 30 30 32 34 38

3.2.5.

Zwischenergebnis

40

39

Vili

Inhaltsverzeichnis

3.2.6. Die wichtigsten komplexen Erklärungsmodelle 3.2.6.1. Eigenständige »Grundschrift« und spätere Auffüllung mit Synoptikermaterial 3.2.6.2. Geringfügige sekundäre Angleichungen des Johannesevangeliums an die »synoptische Tradition« 3.2.6.3. Geringfügige Beeinflussung der Tradition des Johannesevangeliums durch die Synoptiker 3.2.6.4. Wiedergabe des Synoptiker aus dem Gedächtnis 3.2.6.5. Fazit 3.3. Ergebnis

45 46 48 48

4. Das Problem einer besonderen lukanischen Passionsquelle

49

4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.4.1. 4.4.2. 4.5. 4.6. 4.6.1. 4.6.2.

4.7.

41 41 44

Einleitung 49 Klärung der Beweislast und der Fragestellung 50 Das Verhältnis des Markusstoffes im lukanischen Passionsbericht zu Mk 52 Das Sondergut in der lukanischen Passionsdarstellung 54 Scheidung von S Lk und lukanischer Komposition 54 Welche Passagen des S Lk sind auf den Kontext der erzählenden Passionstradition angewiesen? 64 Warum redigiert Lukas das Markusevangelium in seiner Passionsdarstellung überdurchschnittlich stark? 65 Das Sonderproblem des Verhältnisses zwischen lukanischem und johanneischem Passionsbericht 67 Die wichtigsten Übereinstimmungen zwischen Johannes und Lukas.. 67 Zur Genese dieser Übereinstimmungen 68 Exkurs: Der irrige Konsens über eine besondere Nähe des johanneischen Passionsberichtes zum lukanischen 70 Ergebnis

71

5. Methodische Klärung (Π)

.73

6. Ermittlung der ältesten Passionstraditionen 6.1. Der Markus und Johannes gemeinsame Stoff 6.2. »Sondergut« der beiden Evangelisten

.79 79 80

Inhaltsverzeichnis

7. Der älteste erreichbare Passionsbericht (PB) 7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.4.1. 7.4.2. 7.5. 7.6. 7.6.0. 7.6.1. 7.6.2. 7.6.3.

7.8.1. 7.8.2.

Einleitung Bestimmung des Beginns des ältesten Passionsberichtes Bestimmung des Endes des ältesten Passionsberichtes Sonderprobleme Die Salbung in Bethanien Mk 14,3-9 par Joh 12,1-11 Die »Tempelreinigung« Mk 11,15-17 par Joh 2,13-17 Bestimmung des Umfangs des ältesten Passionsberichtes Einzelanalyse der neun Szenen des ältesten Passionsberichtes Vorbemerkung Der »Todesbeschluß« Der Einzug nach Jerusalem Das letzte Mahl samt der Ankündigung der Auslieferung und der Petrusverleugnung Die Gefangennahme Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung Das Verhör vor Pilatus Die Verspottung Die Kreuzigung Das Begräbnis Formale Analyse des ältesten Passionsberichtes Die Kohärenz des PB PB als schriftliche Quelle Die Form des PB Zum Problem einer Näherbestimmung der Gattung des PB Zum Sitz im Leben des PB Die zentralen inhaltlichen Charakteristika des ältesten Passionsberichtes Der Tod Jesu als Justizirrtum - Die Apologie Jesus als "Leidender Gerechter' — Die Bindung an das

7.8.3. 7.9. 7.9.1. 7.9.2.

Alte Testament Der gekreuzigte Messias — Zur Christologie des PB Näherbestimmungen zur Genese des ältesten Passionsberichtes Zur Intention und den Adressaten des PB Zu Ort und Zeit der Abfassung des PB

7.6.4. 7.6.5. 7.6.6. 7.6.7. 7.6.8. 7.6.9. 7.7. 7.7.1. 7.7.2. 7.7.3. 7.7.4. 7.7.5. 7.8.

IX

92 92 93 97 106 106 112 119 119 119 121 127 133 138 146 156 164 166 174 178 178 180 186 189 194 197 197 199 203 205 205 207

χ

Inhaltsverzeichnis

Π. Teil. Historische Analyse

1. Einleitung

219

1.1. 1.2.

219

Die Forschungslage Das methodische Problem einer historischen Analyse des ältesten Passionsberichtes

2. Historische Analyse der neun Szenen des ältesten Passionsberichtes unter Berücksichtigung der einschlägigen Sondertraditionen von PBMk und PBJoh 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.9. 2.10.

Der »Todesbeschluß« Der Einzug nach Jerusalem Das letzte Mahl samt Ankündigung der Auslieferung und der Petrusverleugnung Die Gefangennahme Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung Exkurs: Das Jerusalemer Synhedrium Das Verhör vor Pilatus Exkurs: Pontius Pilatus Die Verspottung Die Kreuzigung Das Begräbnis Zur Tendenz der unhistorischen Angaben des ältesten Passionsberichtes

222

227 227 230 232 234 241 249 258 259 268 270 277 280

3. Historische Analyse einiger sekundärer Passionstraditionen

282

3.0. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.

282 283 285 285 287 288

Vorbemerkung Markus 14,12-16.27a.32-42 Johannes 19,31-37 Lukas 23,6-16 Matthäus 27,3-10.19.24-25.62-66 Ein Sonderproblem: Die »Tempelreinigung«

Inhaltsverzeichnis

4. Historische Analyse der ältesten potentiell relevanten Erwähnungen des Todes Jesu außerhalb der evangelischen Passionsberichte 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8.

Paulus: 1 Thess 2,14-16 Die Leidens- und Auferstehungsvoraussagen des Markusevangeliums (Mk 8,31; 9,31; 10,33f.) Ein Sonderproblem: Mk 3,6 Die Aussagen Uber den Tod Jesu in den Reden der Apostelgeschichte (Apg 2,23.36; 3,15; 4,10.27f.; 5,30; 7,52; 10,39; 13,27-29).. Josephus: Das 'Testimonium Flavianum' AJ XVIII 3,3 (63-64) Tacitus: Annalen XV 44 Mögliche Erwähnungen des Todes Jesu im babylonischen Talmud: bSanh 43a. 67a Ertrag

XI

291 291 293 295 297 297 301 302 304

5. Schluß: Die wichtigsten historischen Ergebnisse. Bleibende Probleme einer Rekonstruktion der Umstände des Todes Jesu.... 306 Epilog — Die behauptete Schuld der Juden am Tod Jesu und die Folgen

318

Zitierte Literatur

326

Stellenregister (in Auswahl)

353

Abkürzungen Für Reihen, Zeitschriften usw. s.: S. SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/New York 21992 (TRE). Für antike Texte s.: ThWNT X,l, 53-85; EWNT I, XII-XXI. Für die rabbinische Literatur s.: STRACK/STEMBERGER, 330-332. Allgemeine Abkürzungen entsprechen — sofern nicht von selbst verständlich EWNT I, XXIX-XXX. Kapitel- und Anmerkungsangaben ohne nähere Kennzeichnung beziehen sich immer auf die vorliegende Arbeit. Die Literatur wird zitiert nach Kurztitel bzw. Erscheinungsjahr, die im Literaturverzeichnis fettgedruckt sind. Zur abgekürzt zitierten Literatur s. das Literaturverzeichnis. Darüber hinaus bedeutet: AJ BJ PB PßMk pßloh

PBLk QLk QMt SLk

Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae Flavius Josephus, Bellum Judaicum ältester erreichbarer Passionsbericht markinische Passionsquelle johanneische Passionsquelle lukanische Passionsquelle lukanische Logienquelle matthäische Logienquelle lukanisches Sondergut

Einleitung Das wesentliche Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist die kritische historische Analyse aller potentiell relevanten

Traditionen Uber

die

näheren

Umstände des Todes Jesu. Eine solche Analyse ist in der gegenwärtigen Forschungssituation vornehmlich

aus drei

Gründen

dringend

geboten:

(1) Die

Quellenfrage muß einmal wieder umfassend diskutiert w e r d e n , und zwar (2) ohne Rücksicht auf historische Vorurteile. Schließlich müssen (3) die Quellen einmal w i e d e r wirklich kritisch diskutiert werden. ad

(1). Eine

zentrale

Bedeutung f ü r j e d w e d e

historische

Untersuchung

kommt der Frage nach den zur Verfügung s t e h e n d e n Quellen zu. In u n s e r e m Zusammenhang ist dieses Problem bekanntlich außergewöhnlich komplex: Die Passionsberichte der kanonischen Evangelien, die allein detailliertere Schilderungen des Verlaufs der letzten

Tage Jesu enthalten, haben

eine

äußerst

komplizierte Entstehungsgeschichte, die vor aller historischen Analyse erhellt werden muß. Die n e u e r e n einschlägigen Arbeiten leiden darunter, daß

sie

sich diesem Problem nicht in hinreichendem Maße stellen. E s geht nicht an, die Quellenfrage auf ein paar Seiten abzuhandeln oder sie gar beinahe völlig zu ignorieren. 1 Vielmehr fordert die Sache eine u m f a s s e n d e Diskussion des Problems. Das quantitative Übergewicht

des quellenkritischen

Teils in der

vorliegenden Untersuchung sollte daher nicht verwundern. ad (2). Bei der Eruierung der Quellen, d.h. vornehmlich: bei der Eruierung der den kanonischen Passionsberichten zugrundeliegenden Traditionen gilt es, einer alten, aber leider nach wie vor weithin unbeachteten

methodischen

Forderung einmal wirklich gerecht zu werden: Die quellenkritische Argumentation muß von historischen Erwägungen strikt getrennt w e r d e n . Die -

gängi-

ge — Vermischung beider Arbeitsschritte bringt die E x e g e s e keinen

Schritt

weiter, da die Ergebnisse in diesem Fall lediglich die Vor-Urteile der Ausleger(innen) widerspiegeln. 2 D e r Aufbau der vorliegenden Arbeit basiert

auf

dieser fundamentalen Einsicht: Im ersten Teil w e r d e n die (primären und s e kundären) Traditionen in den kanonischen Passionsberichten ohne j e d e Rücksicht auf historische Fragestellungen und Vor-Urteile ermittelt. Davon strikt 1 Zu den Belegen aus der Literatur s.u. II 1.1, insbesondere A 9. 2 S. dazu u. 1.4.

2

Einleitung

getrennt folgt im zweiten Teil die historische Analyse dieser (und der übrigen relevanten) Traditionen. 3 Allein diese konsequente Zweiteilung der Untersuchung kann - und wird — die Kritik vor historischen »Kurzschlüssen« bewahren. ad (3). Ein dritter wesentlicher Grund für die Entstehung dieser Arbeit ist schließlich die Tatsache, daß die einschlägige Sekundärliteratur zu den Problemen des Trozesses' Jesu die Quellen häufig nicht hinreichend kritisch diskutiert. Insbesondere die weithin als wissenschaftliches Standardwerk anerkannte Darstellung von Josef Blinzler (Der Prozeß Jesu, 41969) bedarf an vielen Stellen einer Korrektur, zu der die vorliegende Untersuchung ihren Teil beitragen möchte. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß im engeren Sinne theologische Fragestellungen in den folgenden Analysen in der Regel nur am Rande in den Blick genommen werden können. Diese Beschränkung erwies sich als notwendig, weil der Umfang der Untersuchung anderenfalls stark zugenommen hätte und es zumal in der heutigen Situation neutestamentlicher Exegese, in der allenthalben und mit Recht von einer 'Explosion' der Sekundärliteratur die Rede ist, galt, sich möglichst kurz und knapp zu fassen. Im übrigen bestand bereits bei der Diskussion unseres derart eingeschränkten Problemkomplexes die Gefahr der Überlänge: Eine äußerste Konzentration auf die wesentlichen Fragen war gefordert. Daß es bei den historischen Analysen der evangelischen Passionsberichte (und der übrigen relevanten Quellen) im zweiten Teil dieser Arbeit nicht darum gehen wird, in die Fußstapfen der Leben-Jesu-Forschung zu treten oder gar christliche Heilstatsachen' zu 'beweisen', braucht kaum eigens betont zu werden. Das Ziel der Untersuchung ist zunächst ein rein historisch-analytisches. Freilich sind die vielen Einzelergebnisse samt dem sich aus ihnen ergebenden Gesamtbild auch in theologischer Hinsicht von Bedeutung, wenn anders historischen Ergebnissen eine regulative Funktion für Theologie und Christologie zukommt. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang das theologisch brisante Problem des Verhältnisses des Christentums zum Judentum. Seit alters her hat die Mehrzahl der Christen die Geschichte 3 Allein bei der Diskussion der historisch möglicherweise relevanten nichtchristlichen Quellen und der christlichen Erwähnungen des Todes Jesu außerhalb des markinischen, johanneischen und lukanischen Passionsberichts wird diese strikte Trennung aus Gründen der Darstellung durchbrochen werden: Hier ist die Sachlage weniger komplex, so dafi ausnahmsweise jeweils die quellenkritischen zusammen mit den historischen Problemen abgehandelt werden können (Kapitel II 3.4.; II 4).

Das Anliegen der Untersuchung

3

und die Theologie des Judentums durch die Brille der Evangelien, speziell der evangelischen Passionsberichte betrachtet und dabei folgendes Bild gesehen: Das alte Israel verkommt nachexilisch zum »Spätjudentum«, seine Theologie depraviert zum »Gesetz«, dessen tödliche Wirkung sich am Ende exemplarisch darin offenbart, daß es den Christus tötet. 4 Notwendige Voraussetzung dieser »klassischen« Sicht ist die Behauptung, es sei historisch unbestreitbar, daß faktisch Juden für den Tod Jesu verantwortlich zeichneten (so bereits 1 Thess 2,15; Mk 14,lf.; Lk 24,20; Mt 27,24f. usw.). Ob dem tatsächlich so ist, wird im folgenden zu untersuchen sein. Noch ein Wort zur Literaturauswahl: Diskutiert und zitiert werden ausschließlich solche Arbeiten, die den Gegenstand mit wissenschaftlichen Methoden bearbeiten bzw. in Organen der wissenschaftlichen Diskussion erschienen sind. Die reichlich fließende populäre Literatur wurde, obwohl die Grenze hier selbstverständlich nicht immer klar gezogen werden kann, nicht in die Analysen einbezogen. Darin besteht ein gewisses Dilemma: Eine Reihe von Positionen, die in der wissenschaftlichen exegetischen Literatur mit Recht weithin längst aufgegeben sind, leben in der — nach der Zahl der Auflagen zu urteilen — einflußreichen populären Literatur fort. Gerade hier wäre eine Korrektur dringend nötig, die die vorliegende Arbeit aber aufgrund ihres Genus nicht leisten kann.

4 Cf. exemplarisch etwa Gerhard v. RAD, Theologie des Alten Testaments II (München 7 1980), S. 339-447, der entscheidende Satz auf S. 434f.

L Teil Quellenkritik: Gewinnung des ältesten Passionsberichtes

1. Forschungsbericht und methodische Klärung (I) Die Besonderheit des markinischen Passionsberichtes gegenüber den übrigen Partien des Evangeliums fällt bereits bei einer oberflächlichen Lektüre des ältesten Evangeliums 1 ins Auge: Werden in Mk 1-13 in aller Regel ursprünglich selbständige Einzelperikopen überliefert, die durch recht allgemein gehaltene Rahmennotizen in einen eher lockeren Zusammenhang gebracht worden sind, so findet sich ab Mk 14,1 ein in sich relativ konsistenter, längerer Bericht, der eine klare Chronologie aufweist und durch eine Vielzahl von Klammern zusammengehalten wird. Karl Ludwig SCHMIDT hat diese Diskrepanz zwischen Mk 1-13 und Mk 14-16 klar herausgearbeitet: "Der Aufbau des Berichtes über Jesu öffentliche Wirksamkeit hat sich uns als chronologisch und topographisch unergiebig erwiesen. Einzelgeschichten bzw. kleine Geschichtenkomplexe liegen in großer Fülle vor und stehen nicht in einer gesicherten zeitlichen Abfolge der Ereignisse, sondern sind innerhalb eines Aufrisses dargeboten, der nur den Wert eines Rahmenwerkes hat. ... Die Leidensgeschichte erfordert eine andere literarische Wertung. Sie ist der einzige Abschnitt der Ew, der genau örtliche und zeitliche Dinge, ja Tag und Stunde angibt. Es ist ohne weiteres deutlich, daß hier von vornherein eine fortlaufende Erzählung in der Absicht lag" (Rahmen 303). Wie K.L. Schmidt kamen auch die beiden anderen Väter der neutestamentlichen Formgeschichte — wenn auch mit Differenzen im einzelnen 2 - übereinstimmend zu dem Urteil, Markus habe in den letzten Kapiteln seines Evangeliums nicht auf Einzeltraditionen zurückgegriffen, sondern auf eine relativ umfangreiche, ihm wahrscheinlich bereits schriftlich vorliegende Quelle. Martin DIBELIUS faßt zusammen: "(D)ie verhältnismäßige Festigkeit der Leidensgeschichte bei den Synoptikern und die ganz eigenartige Übereinstimmung zwischen Johannes und den anderen Evangelien in diesem Teil der Erzählung bezeugen, daß dieser Stoff zeitig und einheitlich seine Formung erhalten hatte ... Die Leidensgeschichte darf also als das einzige evangelische

1 Dazu s.u. 2. 2 DIBELIUS betont den inneren Zusammenhang des Passionsberichtes stärker als BULTMANN. S.E. überschätzt dieser "die Zahl der Einzelstiicke in der Leidensgeschichte" (FdE 180 A l ) .

8

Forschungsbericht

Überlieferungsstück gelten, das schon in früher Zeit Begebenheiten in größerem Zusammenhang darstellte" (FdE 22.180). Rudolf BULTMANN resümiert: "CN }icht erst Mk (hat) aus ihm vorliegenden Einzelstücken einen fortlaufenden Zusammenhang geschaffen, sondern ihm lag schon ein zusammenhängender Passionsbericht vor. ... Ich vermute also, daß es einen alten Bericht gab, der ganz kurz Verhaftung, Verurteilung durch das Synhedrium und Pilatus, Abführung zum Kreuz, Kreuzigung und Tod erzählte" (GST 297.301f.). Dieses grundsätzliche Urteil ist in den folgenden Jahrzehnten praktisch zu einer communis opinio geworden.3 Die Aufgabe, die sich die Untersuchungen zum markinischen Passionsbericht vornehmlich stellten, bestand konsequenterweise in dem Versuch, die Konturen der postulierten vormarkinischen Passionsquelle möglichst genau festzulegen: Wie ist ihr Umfang zu bestimmen? Von welchen Interessen ist sie geleitet? Wo ist ihr Sitz im Leben? Wie ist ihr historischer Wert zu beurteilen?

1.1. Untersuchungen zur Markuspassion Überblickt man nun die Ergebnisse der neueren einschlägigen Monographien zur Markuspassion und die der neueren Markuskommentare,4 so fallt auf, wie unterschiedlich sie ausfallen.5 Im einzelnen:

3 S. nur VIELHAUER, Literaturgeschichte 332; KÜMMEL, Einleitung 50 A81; KÖSTER, Einführung 603; LOHSE, Geschichte 9ff. ; DONAHUE, Passion 8. Weitere Autoren bei SCHREIBER, Markuspassion 13f. mit A10-12; SCHENKE, Mk 14, 2 A l . 4 Nicht berücksichtigt werden im folgenden außer den vor allem historisch interessierten Untersuchungen (dazu s.u. Ii) die Arbeiten der älteren Literarkritik, die ihre Ergebnisse noch nicht dem formgeschichtlichen Fragenkatalog unterzogen hat (cf. etwa J. WEISS, Das älteste Evangelium, Güttingen 1903; E. WENDLING, Die Entstehung des Marcus-Evangeliums, Tübingen 1908; W. BUSSMANN, Synoptische Studien, Halle 1925; W.L. KNOX, The Sources of the Synoptic Gospels, I (Hrsg. H. Chadwick), Cambridge 1953; FINEGAN, Überlieferung, jeweils pass.). Einige weitere Titel finden sich in den Literaturüberblicken von SCHNEIDER, Problem; ERNST, Passionserzählung, jeweils pass, und DORMEYER, Passion 4-23; MOHR, Markuspassion 15-35. 5 Ich versage mir einstweilen eine Einzelbeurteilung und verweise lediglich in einigen wenigen Fällen, in denen die Schwächen der jeweiligen Untersuchung auf der Hand liegen und in denen sich die Kritik daher mehr oder weniger einig ist, auf die entscheidenden Probleme und einige repräsentative Stimmen der Kritik.

Untersuchungen zur Markuspassion

9

(1) Vincent TAYLOR unterscheidet in seinem Markuskommentar (.1952) zwei Quellen des markinischen Passionsberichtes: eine fortlaufende römische Quelle (»A«) (Mk 14,lf.lOf.(12-163.17-21.26-31.43-46.(53.55-64); 15,1.3-5.15.21-24.26. 29f.34-37.39.42- 46; (16,1-8)) und eine nicht kontinuierliche, aber detailreiche und Petruserinnerungen enthaltende 'semitisierende' Quelle (»B«) (14,3-9.22-25. 32-42.47-52.54.65-72; 15,2.6-14.16-20.25.27.31-33.38.40f.47) (Mark 658). "The hypothesis suggested is that Mark found an account of the Passion in Rome and expanded it by the aid of Petrine tradition" (ebd.). (2) Carl D. PEDDINGHAUS (1965) kommt in seiner Untersuchung von Mk 14-15 zu dem Ergebnis, der 'ursprüngliche Kreuzigungsbericht', der zuerst von Markus verschriftlicht worden sei (Leidensgeschichte 174), sei "unmittelbar aus Τ 21 entwachsen" (148) und habe den Psalm in seiner Funktion als "Trostlied der Gemeinde" (145) an seinem Sitz im Leben "innerhalb der Paränese während des Gottesdienstes" (149f.) abgelöst. Er umfasse die Verse Mk 14,4447.50-53a; 15,l*.15b.20b-22.24.27.29f.32c.34a.35-36a.37.39 (ebd. 142); sein historischer Wert sei relativ gering (127.186f. u.ö.). Markus habe die erzählende Passionstradition in einer bereits erweiterten Fassung (Mk 14, (27b.30f.).43-52*. 53f.66-72; 15,l-15.20b-29.31c-39) vorgefunden (168). (3) Nach Ludger SCHENKES literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Analysen (Mk 14 (1971); Christus (1974)) beginnt der älteste vormarkinische Passionsbericht mit Mk 14,32 und reicht bis 15,47. Er sei literarisch geschlossen und wesentlich vom alttestamentlichen Motiv des »Leidenden Gerechten« geprägt; sein Entstehungsort sei 'unzweifelhaft' Jerusalem (Christus 140). Im einzelnen rekonstruiert Schenke folgende Vorlage: "Mk 14,(la.)32a*.34.35a.3638.(40c.)42.43*-47.50.53a. 55-56.60-62a.63-65; 15,l*.3-5.2...(15b*.)16-20.22-27. 29a.31b.32.34a.36a.37.39.42*-47" (ebd. 135). Markus habe diesen Bericht in einer (wahrscheinlich von einer Gruppe der Hellenisten (143)) bereits überarbeiteten Form kennengelernt, die sich insbesondere durch eine apologetische und antijüdisch-polemische Pointierung auszeichne (Mk 14,57-59.62b; 15,6-15a. 21.29bf.33.38) (ebd. 141).

Zu allen Einzelproblemen sind die jeweiligen Analysen zu vergleichen: Zum Problem der Existenz eines vormarkinischen Passionsberichtes s.u. 5 und 6; zum Problem des Umfangs s.u. 6 und 7.1-5; zum Problem des Verhältnisses des Joh-Ev zu Mk s.u. 3; zum Problem des Verhältnisses des lk Passionsberichtes zu Mk s.u. 4; zum Problem der Datierung und Lokalisierung des ältesten Passionsberichtes s.u. 7.9; zum Problem der Gattung und des Sitzes im Leben s.u. 7.7; zu allen anderen literarischen Detailproblemen s.u. 7.6-8; zu den historischen Problemen s.u. II 2-4.

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(4) Detlev DORMEYER (1974) arbeitet unter Anwendung vokabelstatistischer und stilkritischer Kriterien eine knapp und zusammenhängend erzählende 'Märtyrerakte' (»T«) als älteste Überlieferungsschicht heraus, die mit der »Tempelreinigung« begonnen und mit der Bestattung geendet habe (Mk ll,15bf.l8a.; 14,10.11a.3.32a. 43b. 46.50-52.55; 15,lb.3.5f.ll.7.15.20b-22a.23.24a.26f.31a.32c. 34ab.37f.40.42b.43ac.46a) (Passion 238); diese sei von einem Redaktor (»Rs«) erweitert, dabei 'dialogisiert' und in Szenen aufgeteilt worden (Mk 14,4a.5b.6.8. 12-16.18-20.23.24a. 25.27a. 29f.32b. 35a. 36.37a. 41b.45.47.53a.54.66b.67bf.72c.56. 61b.62ai.63f.65b; 15,2.9f.l6ac.l7f.l9b.20a.31b.32a; 16,1.2b.4a.5-8a) (ebd. 258). Der Redaktor Markus habe seine Vorlage dann vor allem unter paränetischen Aspekten bearbeitet (269ff.). (5) Wolfgang SCHENK (1974) unterscheidet zwei von Markus - neben einigen 'unabhängigen Einzelüberlieferungen' — verarbeitete Passionsberichte: Mk 11,1-7; 14,12-21.26-30.32-56.61-64.66-72; 15,lf.l6-24.27.29; 16,1-8 auf der einen und Mk 11,8-16.18; 14,2.10f.23b.25f.33.35.38.41.44.46.50.53.57f.60f.65; 15,1.3.5. 12-16.25f.29f.33f.37-39 auf der anderen Seite (PB 272f.). Das maßgebliche Kriterium seiner Quellenscheidung ist das von den Quellen jeweils verwendete Tempus: im Unterschied zu der jüngeren, "apokalyptischen Passionstradition" formuliere die "offenbar sehr alte" Schicht (272) durchgehend im Praesens historicum. 6 (6) Eine völlig neue These hat Rudolf PESCH (1977) - nach einer großen Reihe von Vorarbeiten - 7 in seinem Markuskommentar in die Diskussion eingebracht: Danach sei nicht nur - wie gemeinhin angenommen wird - der Grundbestand von Mk 11; 14-16 zum vormarkinischen Passionsbericht zu rechnen, vielmehr setze dieser bereits in Mk 8,27ff. ein. Im einzelnen bestimmt Pesch den Umfang der markinischen Passionsquelle folgendermaßen: Mk 8,2733; 9,2-13.30-35; 10,1.32-34.46-52; 11,1-23.27-33; 12,l-17.34c-37.41-44; 13,lf.;

6 Die Kritik an SCHENKS Untersuchung konzentriert sich zu Recht auf die Problematik dieses Kriteriums: an seine Analyse "wird man vor allem die Frage stellen müssen, ob man eine Zeitform zum literarkritischen Seziermesser machen d a r r (GNILKA, Markus II 349). Die Antwort darauf lautet: Nein. Einheitliche literarische Texte weisen allenthalben Tempuswechsel auf; darüber hinaus verwendet Markus das Präsens häufig redaktionell (cf. etwa LÜHRMANN, Markus 9). Erschwerend kommt noch hinzu, daß Schenk ein ursprüngliches Praesens historicum an vielen Stellen nicht im Text vorfindet, sondern in ihn erst eintragen muß (s. z.B. 236: "Die Reaktion des Synhedriums auf die Frage des Hohepriesters Vers 64b ist wiederum deutlich markinisch überarbeitet. Statt des zu erwartenden Praes. hist, steht der Aor. katekrinan"). 7 S. die Literaturangaben bei PESCH, Markus II 2; cf. zu den Kriterien seiner Umfangsbestimmung insbesondere ders., Uberlieferung 152-162.

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14,1 - 16,8 (Markus II lf.). Diese »Urpassion« sei sehr alt (vor 37 n. Chr. entstanden (21)), sie stamme aus Jerusalem (ebd.) und sei - da sie von Markus nicht nennenswert überarbeitet wurde - ein Dokument von unschätzbarem Wert für die Rückfrage nach dem historischen Jesus (23f.). Pesch kommt zu diesem Ergebnis aufgrund eines 'methodenpluralistischen Neuansatzes', der "in dubio für die Einheitlichkeit vorgegebener Tradition entscheidet" (10).8 (7) Joachim GNILKA (1979) vertritt in seinem Markuskommentar vorsichtig die Position, die gattungsmäßig kaum einzuordnende, in Jerusalem entstandene Urpassion' habe wahrscheinlich den "Abschnitt 14,32-16,8 (abzüglich der redaktionellen Zutaten und Veränderungen) umfaßt" (Markus II 349). Diese Urpassion sei von hellenistischen Judenchristen bereits vormarkinisch erweitert worden: Mk 11,1-10.15-18; 14,3-9.12-21.29-31 (ebd. 350). Schon jetzt ist deutlich: ein Konsens über die Frage der Gestalt des vormarkinischen Passionsberichtes ist in den genannten Arbeiten nicht in Sicht. Noch verwirrender wird das Bild, wenn man nun in die Betrachtung zusätzlich solche Arbeiten miteinbezieht, die den Boden des (ehemaligen) Konsenses, es habe einen vormarkinischen Passionsbericht gegeben, verlassen haben. (8) So ist nach Johannes SCHREIBER (1959/1986) die Darstellung der Kreuzigung in Mk 15,20b-41 ursprünglich kein Bestandteil eines alten Passionsberichtes gewesen (Kreuzigungsbericht 24-46); vielmehr habe erst Markus diese Terikope' aus 'zwei ursprünglich selbständigen Überlieferungen von der Kreuzigung Jesu' (118) zusammengesetzt, und zwar aus Mk 15,20b-22a.24.27 einerseits (221) und Mk 15,25f.29a.32c-34a.37f. andererseits (229). (9) Eine noch weitergehende Dekomposition des markinischen Textes hat Eta LINNEMANN (1970) vorgenommen. Nach ihrer Analyse ist der Passionsbericht des Markus "von Anfang bis Ende vom Evangelisten aus selbständigen Einzeltraditionen komponiert" worden (Passionsgeschichte 171). Der Beitrag,

8 Zur — z.T. recht scharfen — Kritik an PESCHS Hypothese s . etwa LUZ, Markusforschung 646: "Peschs Hypothese von der Einheitlichkeit der uralten vormarkinischen Passionsgeschichte scheint mir eher eine zusätzliche Sackgasse als der 'methodenpluralistische Neuansatz' (II 10) zu sein, den er zu Recht fordert"; SCHMITHALS, Markus 589: "Der Versuch von Pesch ... ist wissenschaftlich unhaltbar"; KÜMMEL, Jesusforschung 407: "Peschs Beweisführung für die Entstehung dieser Passionsgeschichte vor 37 n.Chr. muB ich für phantastisch halten"; cf. auch CONZELMANN, 1978, 321-324; SCHREIBER, Kreuzigungsbericht 361ff. (sehr bissig). Es sei bereits hier festgehalten, daB auch ich der Meinung bin, daB Peschs These nicht aufrechtzuerhalten ist; die Begründung für diese Annahme kann allerdings erst in Kapitel 3 (wenn der johanneische Passionsbericht vom Markusevangelium unabhängig ist, ist Peschs These insgesamt falsifiziert) und in den Einzelanalysen erbracht werden.

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den diese Texte "zur Lösung der historischen Fragen der Passion Jesu leisten können, (sei) verhältnismäßig gering" (172). Im einzelnen rekonstruiert Linnemann in ihren exemplarischen Analysen bis zu drei verschiedene Traditionsfragmente als Grundlage einer Markusperikope (so fiir die »Verhaftung«: 180f.). Die Annahme eines vormarkinischen Passionsberichtes beruhe wesentlich auf einer Täuschung: faktisch habe der Evangelist die Einzeltraditionen aufgrund des 'natürlichen Handlungsablaufes' (174 u.ö.) gar nicht anders zusammensetzen können. 9 (10) Zu einem analogen Ergebnis kommt John R. DONAHUE (1973) in seiner Untersuchung der markinischen Darstellung der Verhandlung Jesu vor dem Synhedrium. Er resümiert: 10 "(I)t is Mark who created the trial narrative out of the disparate traditions available to him" (Christ 50); für traditionell hält er i.w. die Verse Mk 14,53a.56f.60f.65 (ebd. 98-102). (11) Ähnlich urteilt Frank J. MATERA (1982) in seiner Analyse von Mk 15: "(T)he final conclusion of our study is that the present shape and form of chapter 15 reveals a surprising degree of Markan redactional activity. ... ( W ] e propose that Mark assembled the chapter from earlier traditions in much the same way as he constructed the rest of his gospel" (Kingship 147). (12) Werner H. KELBER (1976) hat diese Einsicht am Schluß des von ihm herausgegebenen Sammelbandes zur Markuspassion in grundsätzlicher Form formuliert: "From the perspective of the history of tradition there exists no appreciable difference between Mk 14-16 and what is known about the literary genesis and composition of Mk 1-13. 11 ... ( T ) h e Mkan Passion Narrative does not constitute the exception to the form critical canons which govern the formation of the Synoptic tradition" (Passion 157f.). (13) Walter SCHMITHALS (1979) hat schließlich - nach einigen Vorarbeiten in seinem Markuskommentar die These begründet, der Passionsbericht des Markusevangeliums gehe, wie das gesamte Evangelium, auf eine umfangreiche

9 Zur Kritik an LINNEMANN s. das durchaus repräsentative Urteil von PESCH, Markus II 9, der zu Recht darauf hinweist, daB die rekonstruierten Traditionsfragmente 'kaum überlieferungsfähig' seien. Weiterhin besteht ein entscheidender — und m.E. unvermeidbarer (s.u. 7.7.1.) - Selbstwiderspruch in Linnemanns These darin, daB sie einerseits behauptet, erst Markus habe die ursprünglich selbständigen Einzelüberlieferungen zusammengefügt, andererseits dann aber doch annehmen muß, diese Überlieferungen seien zum Teil voneinander abhängig (!) (s. z.B. Passionsgeschichte 131: Mk 14,55-64 "dürfte von diesem Texte (sc. Mk 15,1.3-5) abhängig sein"). Logischerweise kann nur eine von beiden Annahmen zutreffen. 10 Cf. auch sein ähnliches Urteil in: Passion 20. 11 Im Original kursiv.

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»Grundschrift« zurück, die ein nach 70 wahrscheinlich in Antiochia schreibender »narrativer Theologe« im wesentlichen "erfunden"11 hat: "Der Verfasser dieser Grundschrift des Markusevangeliums ist der Schöpfer der synoptischen Tradition außerhalb von Q" (Kritik 183). Daher kann es einen vormarkinischen (bzw. »vorgrundschriftlichen«) Passionsbericht niemals gegeben haben.13 Es kann ob dieses beinahe totalen Forschungsdissenses nicht verwundern, daß schließlich eine Reihe von Exegeten gefordert hat, aus methodischen Gründen besser gänzlich vom Versuch einer »Rekonstruktion« der vormarkinischen PassionsUberlieferung Abstand zu nehmen. (14) So schrieb Erhardt GÜTTGEMANNS bereits 1970: "Die Komposition ist hier so verdichtet, daß jede traditions- oder redaktionsgeschichtliche Analyse viel zu viele hypothetische Kombinationen vornehmen muß, um den wahrscheinlich ziemlich komplizierten Entstehungsvorgang noch exakt nachweisen zu können. Was hier der eine »wahrscheinlich« oder »einleuchtend«, der andere dagegen »unwahrscheinlich« findet, ist zu sehr vom persönlichen Geschmack des Auslegers abhängig, als daß wir noch ein historisches Bild des Redaktionsprozesses mit einiger Zuversicht entwerfen könnten. ... Wir sollten uns darum mit der innermarkinischen Strukturanalyse (also der »literarischen« Ebene) begnügen" (Offene Fragen 228). (15) Dieser Forderung kommt z.B. Donald JUEL (1977) nach, der in seiner Analyse der markinischen Darstellung des Prozesses Jesu vor dem Synhedrium völlig auf die Scheidung von Redaktion und Tradition verzichtet; denn: "(T)he trial scene is best approached on the literary level" (Messiah 211). Betrachtet man die hier kurz vorgestellten neueren Analysen der Markuspassion im Überblick, so kann man Josef ERNSTS Fazit (1980) gut verstehen: "Angesichts der Divergenzen in der Einzelexegese und in den hermeneutischen Grundfragen greifen Resignation und Ratlosigkeit um sich" (Passionserzählung 170). Die Bedingung der Möglichkeit der Existenz derart unterschiedlicher Interpretationsmodelle ist die begrenzte Reichweite des literar- und redaktionskritischen Instrumentariums, die naturgemäß in dem Moment am stärksten

12 So LUZ in seiner Rezension (Markusforschung 650) in zutreffender Zuspitzung der These. 13 Zur auch m.E. voll berechtigten Kritik an SCHMITHALS' These s. neben LINDEMANN, 1984, 323-327 insbesondere LUZ, Markusforschung 649-653, wo sich bereits die entscheidenden Argumente finden. Wenn es — wie die vorliegende Untersuchung behauptet — einen vormarkinischen (bzw. sozusagen »vorgrundschriftlichen«) Passionsbericht gegeben hat, ist Schmithals' These falsifiziert (vgl. dazu jetzt seine konsequente These zur Entstehung des Johannesevangeliums: Johannes 318f.).

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hervortritt, wo ein Evangelium analysiert wird, dessen Quellen wir nicht kennen. Es ist bei einer Analyse allein des Markusevangeliums offenbar nicht möglich, auch nur annähernd zu einem Konsens über die Fragen zu kommen, ob es überhaupt einen vormarkinischen Passionsbericht gegeben hat und, wenn ja, wie dessen Umfang näherhin zu bestimmen wäre.

1.2. Untersuchungen zur Johannes-, Markus- und Lukaspassion Ein völlig anderes Bild ergibt sich in dem Moment, wo man solche Arbeiten betrachtet, die davon ausgehen, daß uns beim Versuch der Eruierung des ältesten Passionsberichtes nicht nur eine, sondern zwei oder gar drei Primärquellen zur Verfugung stehen, nämlich neben dem Markusevangelium noch das Johannes- und möglicherweise sogar das Lukasevangelium. Gelten die Passionsberichte des dritten und/oder des vierten Evangeliums als - weitgehend oder vollständig - von der markinischen Passionsdarstellung unabhängig, wird die Zahl der bei einer rein immanenten Mk—Analyse möglichen Hypothesen sofort erheblich eingeschränkt, da mit dem Text des Joh-Ev und/oder des Lk-Ev nunmehr externe Kriterien bei der Bestimmung der vormarkinischen Tradition zur Verfügung stehen. Ein grundlegender Konsens besteht unter solchen Exeget(inn)en, die die johanneische (und/oder die lukanische) Passionsdarstellung für unabhängig von der markinischen halten, zunächst darüber, daß es einen vormk (vorjoh; vorlk) Passionsbericht gegeben hat. Dieser Schluß ist unausweichlich: die immens hohe Zahl an Übereinstimmungen zwischen Markus und Johannes (bzw. Lukas) kann schlechterdings nicht zufällig sein, kann vielmehr allein unter der Annahme erklärt werden, daß beide bzw. alle drei Evangelisten gemeinsame Tradition verarbeitet haben. Ein weiterer grundlegender Konsens besteht sodann Uber den ungefähren Umfang des ältesten Passionsberichtes: er kann maximal diejenigen Stoffe — in ihrer jeweils ursprünglichsten Gestalt — enthalten haben, die jetzt in Mk 11,1-33 und 14,1-16,8 (par) zu finden sind; sein Minimalbestand findet sich in Joh 18,1-19,30* par Mk 14,43-53a.*54.66-72*; 14 15,1-41*. Im einzelnen:

14 Nur JEREMIAS - rein thetisch - , MOHR und MYLLYKOSKI scheren hier aus: ihres Erachtens ist die »Petrusverleugnung« erst von einem späteren Bearbeiter in den ältesten Passionsbericht integriert worden; s. gleich.

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(1) Robert T. FORTNA (1970) rekonstruiert als Quelle des Johannesevangeliums ein »Zeichenevangelium«, das unter anderem einen Passionsbericht enthalten habe. Dieser setze ein mit dem Komplex »Tempelreinigung/Todesbeschluß« und enthalte neben der »Salbung in Bethanien« und dem »Einzug« sowie möglicherweise einer Schilderung des letzten Mahles den gesamten Komplex »Verhaftung - Leeres Grab« — jeweils in der vorredaktionellen Gestalt. 15 (2) Anton DAUER (1972) eruiert in seiner traditionsgeschichtlichen Untersuchung von Joh 18,1-19,30 einen vorjohanneischen Passionsbericht, der die Szenen »Verhaftung - Hohepriesterverhör/Petrusverleugnung - Pilatusverhör Kreuzigung« in ihrer — im einzelnen allerdings häufig kaum mehr rekonstruierbaren - vorredaktionellen Gestalt enthalten habe. 16 Dieser Bericht sei im wesentlichen von den Synoptikern unabhängig, wenn auch "verschiedentlich von den synoptischen Berichten beeinflußt" (Passionsgeschichte 336). Er "dürfte auf eine zusammenhängende - schriftliche (?) — Quelle zurückgehen" (335). Fortna und Dauer erarbeiten ihre Resultate unter anderem durch einen Vergleich des johanneischen Textes mit den Synoptikern, konzentrieren sich dabei aber ganz auf das Problem der Gestalt der Quelle des vierten Evangelisten und fragen nicht weitergehend nach der Gestalt des ältesten Passionsberichtes. 17 Anders die im folgenden genannten Autoren: (3) Joachim JEREMIAS (1949) ermittelt anhand eines Vergleiches des markinischen und des johanneischen Passionsberichtes einen »Langbericht«, der Mk, Lk und Joh als Quelle vorgelegen habe. Er umfasse — in ihrer jeweils ursprünglichsten Form — folgende Passagen: "Einzug. - Tempelreinigung. Vollmachtsfrage. - Letztes Mahl mit Verratsansage. - Verleugnungsansage. Gethsemane. - Verhaftung Jesu. - Verhör vor dem Synhedrium. - Verleugnung durch Petrus. - Barabbasgeschichte. - Verhör durch Pilatus. - Kreuzigung. - Leeres Grab" (Abendmahlsworte 90). Ein nochmals älteres Überlieferungsstadium markiere der »Kurzbericht«, der erst mit der »Verhaftung Jesu« begonnen und die "Petrusüberlieferung (Mk 14,26-42.53f.66-72)" (ebd.) noch nicht enthalten habe. Das Anfangsstadium der Tradition finde sich schließlich in dem Kerygma 1 Kor 15,3b-5 (ebd.).

15 S. den abgedruckten Text, Gospel 241-245. 16 S. seine Zusammenfassung, Passionsgeschichte 334. 17 So auch die meisten Kommentare zum Johannesevangelium, deren Positionen hier daher nicht vorgestellt werden. S. dazu die Kommentare, jeweils pass. (cf. u. 3.1) und zu BULTMANN (Johannes) darüber hinaus D.M. SMITH, Composition, insbesondere 44-51.

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(4) Hugues COUSIN (1976) kommt in seiner Untersuchung nach einer Analyse aller vier kanonischen Passionsdarstellungen zu dem Schluß, daß der älteste Passionsbericht anhand eines Vergleiches zwischen Johannes und Markus ermittelt werden muß. S.E. umfaßt dieser 'récit primitif folgende Stoffe (in ihrer vorredaktionellen Gestalt): Mk 14,43-52.53a.54.66-72; 15,lb-28.33f.; 15,37-16,8 (par Joh) (Prophète 205-13). Während Markus diesen Urbericht in einer vor allem um den Trolog' und die Synhedriumsszene erweiterten Fassung kennengelernt hätte ('récit intermédiaire: Mk 14,l-42.53b.55-65; 15,la.2932.35f. (parr) (209-13)), habe Johannes offenbar den 'récit primitif verwendet (75.109.163). (5} Jürgen BECKER (1981) arbeitet in seinem Johanneskommentar mit der These von Joachim Jeremias, daß ein ursprünglicher, mit Joh 18,1 par Mk 14,43 einsetzender »Kurzbericht« bereits vormk/vorjoh zu einem »Langbericht« ausgebaut worden sei. Den Umfang dieses »Langberichtes« bestimmt Becker allerdings etwas anders: Joh 11,47-57; 12,1-19; 2,13-22 (?); 13,1-18; 18,1 - 20,23 (par Mk 11,1-33; 14,1 - 16,8) - jeweils im Grundstock (Johannes 1 531ff.). Es handele sich hierbei um einen "miindliche(n) Erzählzusammenhang mit relativ fester Struktur und Sprachgestalt" (531). Theologisch zentral sei die Deutung der Geschichte Jesu mit Hilfe der alttestamentlichen Kategorie des »Leidenden Gerechten« (533). Was die johanneische Passionsquelle anbetrifft, so sei damit zu rechnen, daß diese in einzelnen Fällen - mit Anton Dauer — "unter Quereinfluß aus den indessen literarisch festgelegten P(assions)B(erichten) bei Mt, Mk und Lk" stehe (537). (6) Till A. MOHR (1982) kommt nach seiner umfassenden Analyse der Markus- und der Johannespassion zu folgendem Schluß: "Mk hatte einen umfangreichen, schriftlichen Passionsbericht zur Verfügung, der bereits eine vormkn. Ueberarbeitung (B) aufwies und in seiner ursprünglichen) Gestalt (P) mit der von den Synoptikern unabhängigen vorjoh. Leidensgeschichte im wesentlichen übereinstimmt" (Markuspassion 404). Der 'unbearbeitete vormarkinische Langbericht' (»P«) enthielt nach Mohr folgende Passagen — in ihrer ursprünglichen Gestalt: 18 Mk 14,1-9; 11,1.8-10.11-16 (Joh 2,16-19); 14,18-25.32-42.43-52.53a.55f. 61-65; 15,1-3; 15,6 - 16,8 (sowie einen Bericht Uber die Protophanie vor Maria Magdalena) (ebd.). Der vormarkinische Redaktor (»B«) habe diesen Bericht vor allem um die Passagen Mk 10,32-34; ll.lb-7; 14,12-16. 26f.29f.53bf.57-59.66-72 erweitert (411). Der ursprüngliche Passionsbericht ist nach Mohr in der Jeru-

18 Ich verzichte auf die genaue Vers- bzw. Halbversaufzählung, die sehr lang und verwirrend ist; s. dazu MOHR, Markuspassion 404.

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salemer Urgemeinde in aramäischer Sprache abgefaßt worden und von hohem historischem Wert (405). Später habe er offenbar "zwei verschiedene Übersetzungen ins Griechische erfahren", die im vorjohanneischen Passionsbericht einerseits und in »P« andererseits vorliegen (408). Fragt man, warum Johannes "direkten Zugang zu der Ρ entsprechenden alten Leidensgeschichte hatte", so lautet die Antwort: er - der Lieblingsjünger - ist früher offenbar (Joh 18,15; 19,27; 21,24) "in Jerusalem wohnhaft" gewesen (409). Bei der Abfassung seines Evangeliums lagen ihm allerdings nach Mohr neben der 'alten Leidensgeschichte' auch die Synoptiker vor. 19 (7) Etienne TROCME vertritt in mehreren Untersuchungen die These, die Kapitel Mk 14-16 seien kein ursprünglicher Bestandteil des Markusevangeliums, vielmehr ein sekundärer Appendix (Formation 176-88 (1963); Passion 7-13 (1983)). Sie gingen - ebenso wie die lukanische und die johanneische Passionsdarstellung - zurück auf den 'Archetypus' des Passionsberichtes, der bereits alle wesentlichen Elemente aus Mk 14,1 - 16,8 enthalten habe (Passion 74f.). Der Sitz im Leben dieses ältesten Passionsberichtes sei die liturgische Erinnerung an den Tod Jesu während des Paschafestes gewesen (82); d.h., "the Markan Passion story originated as the megillah, the scroll, to be read at an early Christian celebration of the sufferings and death of Christ held on the occasion of the Jewish Passover" (81). 20 (8) Dieter LÜHRMANN (1987) ermittelt - unter Verweis auf das analoge Vorgehen Jürgen Beckers - in seinem Markuskommentar den Inhalt des vormarkinischen Passionsberichtes unter Berücksichtigung des johanneischen. S.E. enthielt die markinische Passionsquelle die Verse Mk 14,1-11.18-20.27.29-56.60.

19 Zur Kritik an MOHR s. BECKER, 1986, 25f. Ich will hier zunächst nur auf ein entscheidendes methodisches Problem hinweisen: wenn Johannes neben seiner alten Passionsquelle auch die Synoptiker kannte und benutzte, ist es in den meisten Fällen unmöglich zu entscheiden, wann er dieser und wann er jenen folgt. Ein Beispiel: Mk 14,47 stimmt in großen Teilen wörtlich mit Joh 18,10 überein: Quelle oder Abhängigkeit von den Synoptikern? Wie will man das entscheiden? Faktisch entwertet Mohr durch die These, der vierte Evangelist habe auch die Synoptiker benutzt (die er aufstellt, um die Übereinstimmungen von Johannes mit Matthäus bzw. Lukas gegen Markus zu erklären), seine vorhergehenden Analysen: wenn dem tatsächlich so ist, ist das Joh-Ev eben nicht das "wichtigste ... Kontrollorgan in bezug auf die Bestimmung der vormkn. Passionstradition" (Markuspassion 42), und der Versuch einer Rekonstruktion der johanneischen Passionsquelle ist ein völlig aussichtsloses Unterfangen. 20 Zur vollauf berechtigten Kritik an TROCME'S Beurteilung von Mk 14-16 als eines sekundären Anhangs s. BURKILL, Formation pass, und GREEN, Death 16.148-155, die auf die vielfältigen Klammern zwischen den beiden 'Teilen' des Markusevangeliums verweisen.

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Forschungsbericht

61a.63-72; 15,l-19a.32b-38; 15,40-16,6.8a - jeweils in ihrer vorredaktionellen Gestalt (Markus 227-231); die Gethsemaneszene könne angesichts ihres Fehlens im vierten Evangelium "ein Traditionsstück sein, das der gemeinsamen Passionsgeschichte erst auf dem Wege zu Mk hin zugewachsen ist" (229). Markus habe von der theologisch wesentlich durch das Motiv vom »Leidenden Gerechten« geprägten Passionsquelle her sein Evangelium geschrieben (230). (9) Joel B. GREEN (1988) kommt nach ausführlicher Diskussion der literarkritischen und formgeschichtlichen Probleme der kanonischen Passionsüberlieferung zu dem Ergebnis, daß die Konturen des ältesten Passionsberichtes anhand eines Vergleiches zwischen der markinischen, der johanneischen und der lukanischen Darstellung ermittelt werden müssen: "(B]oth Luke and John had access to non-Markan traditions of Jesus' passion... . Moreover ... the coherence of the Markan narrative, when viewed in relation to Mark's conservative treatment of his material and the high improbability that more than two or three episodes of the passion story were recounted independent of the greater whole, favored the existence of a narrative of Jesus' passion at the base of Mark 14-15" (Death 216). Die 'primitive passion narrative' enthält nach Green die Passagen Mk 14,1-11.17-21 sowie 14,26-15,41 (parr) in ihrer jeweils ursprünglichsten Form (223-311). Sie habe ihren Sitz im Leben in der frühchristlichen Abendmahlsfeier gehabt: "(T)he practice of the Lord's Supper within the early Christian community life provided both a setting and the impetus for the development of the passion story" (217). Das zentrale theologische Anliegen des ältesten Passionsberichtes sei die Einordnung der Passion und des Todes Jesu in den göttlichen Heilsplan gewesen: "According to the passion account, why did Jesus die? Because God willed it! It was necessary in God's salvific plan" (315). Die Vorstellung vom Sühnetod Jesu spiele hier noch keine Rolle; der älteste Passionsbericht zeige vielmehr, "that primitive Christianity did know non-soteriological interpretations of Jesus' death" (321). (10) Zuletzt hat Matti MYLLYKOSKI (1991) im ersten Teil seiner Dissertation, in dem er sich vor allem mit Mk 11; 14,1-15,1 (par) beschäftigt, 21 die Gestalt des 'alten Passionsberichtes' (»PB«) und der auf diesem basierenden 'erweiterten Passionsgeschichte' (»PG«) anhand einer vornehmlich literarkritischen Untersuchung des markinischen Textes ermittelt. Das wesentliche Kriterium

21 Myllykoskis Arbeit erscheint in zwei Teilen; der zweite ist bislang noch nicht allgemein zugänglich und wird hier daher nicht vorgestellt. Der Verfasser war allerdings so freundlich, mir ein Manuskript seiner Analyse zukommen zu lassen, auf das ich im folgenden vorbehaltlich eventueller Änderungen für die endgültige Fassung ab und an verweisen werde.

Folgerungen

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seiner Analyse ist der markinische Erzählfaden (Letzte Tage 36). Darüber hinaus untersucht Myllykoski aber auch den Passionsbericht des vierten Evangelisten; denn dieser hat s.E. zwar das Markusevangelium gekannt, aber nicht als Quelle seiner Darstellung verwendet (168). Daher sei der johanneische Text eine wichtige Verifikationsinstanz für die zunächst allein am Mk-Ev gewonnenen Ergebnisse (37). Myllykoski kommt auf dieser methodischen Basis zu dem Ergebnis, "daß Johannes und Markus eine weitgehend gleichlautende Quelle für ihre Darstellung der Passion Jesu zur Verfügung stand" (36). Diese habe die Passagen Mk 11,8-10.11.15; (11,28;) 14,58; 14,1-11.17-21.27-31.33-35.4154.60-62.65-72; 15,1 in ihrer jeweils ursprünglichen Form enthalten (191f.); wichtig sei ihr insbesondere der Schriftbeweis gewesen: die "heiligen Schriften haben den Leidensweg Jesu als den des Messias vorhergesagt und damit sein zwangsläufiges Eintreten auch bewirkt" (193). Der dieser 'erweiterten Passionsgeschichte' zugrundeliegende 'alte Passionsbericht' habe vor allem die "antipetrinische Tendenzerzählung" (192) von der Petrusverleugnung (Mk 14,2731.54.66-72), die »Salbung« Mk 14,3-9 und Mk 11,8-10; 14,18-21.33-35 noch nicht enthalten (191).22

1.3. Folgerungen Der kurze Überblick über die bisherigen Untersuchungen zum Thema zeigt: die unterschiedliche Bestimmung des Verhältnisses des johanneischen und des lukanischen Passionsberichtes zum markinischen trennt die Forschung in einen Bereich weitgehenden Dissenses auf der einen und weitgehenden Konsenses auf der anderen Seite. Diejenigen Exeget(inn)en, die die älteste Passionstradition allein anhand des Markusevangeliums eruieren wollen, vermögen sich über die Frage nach der Existenz bzw. nach der Gestalt eines vormarkinischen Passionsberichtes nicht zu einigen. Diejenigen Exegeten hingegen, die der Meinung sind, die johanneische und/oder die lukanische Passionsdarstellung sei von der markinischen weitgehend oder gänzlich unabhängig, kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß es einen vormk (vorjoh/vorlk)

22 MYLLYKOSKIS Position in der Frage des Verhältnisses des vierten Evangelisten zum Markusevangelium birgt in sich dieselbe grundsätzliche Schwierigkeit wie Möhrs Ansatz (s.o. A 19): Wenn Johannes neben seiner Passionsquelle auch Markus kannte (und zum Teil sogar verarbeitete; s. etwa Letzte Tage 168), wie will man dann entscheiden, wann er dieser und wann er jenem folgt?

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Forschungsbericht

Passionsbericht gegeben hat, und sind darüber hinaus in der Lage, sich über dessen Gestalt in den wesentlichen Zügen zu verständigen. Damit ist der weitere Gang der literarkritischen Untersuchung vorgezeichnet: Vor dem Versuch einer Bestimmung der Gestalt des ältesten Passionsberichtes (Kapitel 6-7) muß nach dem Verhältnis der johanneischen (Kapitel 3) und der lukanischen Passionsdarstellung (Kapitel. 4) zur markinischen gefragt werden. Doch zuvor gilt es, über die angewandten Methoden Rechenschaft abzulegen (Kapitel 1.4 und 5) sowie die wesentlichen Prämissen der eigenen Untersuchung offenzulegen (Kapitel 2).

1.4. Methodische Klärung (I) Das zentrale Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist die Eruierung der ältesten erzählenden Passionstraditionen, die anschließend vor allem in historischer Hinsicht untersucht werden sollen. Die in diesem Zusammenhang zentrale methodische Forderung lautet nun: Die literarkritische Argumentation muß von historischen Erwägungen unbedingt strikt getrennt werden. Diese Forderung ist so alt wie nach wie vor in weiten Bereichen unerfüllt. Bereits 1915 warnte Martin DIBELIUS vor dem "alten Theologenfehler: von historischen Gesichtspunkten aus literarische Urteile zu gewinnen" (Herodes .282); aber bis heute wird dieses Verfahren immer wieder angewandt. Ich gebe nur drei repräsentative Beispiele aus neueren Arbeiten: "Der hier verarbeitete Stoff muß gleichfalls auf eine eigene Tradition zurückgeführt werden .... In ihm ist nämlich (historisch) in Wahrheit nicht des Haus des Hohenpriesters, sondern der Versammlungsort des Synhedriums vorgestellt" (August STROBEL, Stunde 13).23 "(T)he Luke chronology of the trial before the Jews is the most probable from an historical viewpoint. One might therefore expect that the Lukan witness ... represents the more original" (Joel B. GREEN, Death 275). Die mischnischen "Rechtsvorschriften können eine literarkritische Analyse der Synhedriumsszene ... indirekt unterstützen. ... Eine (literarkritische) Rekonstruktion des Verhörs Jesu, die die genannten (historischen) Schwierigkeiten nicht aufweist, wäre ... als glaubwürdiger zu beurteilen" (Matti MYLLYKOSKI, Letzte Tage 40). Eine derartige Vermischung der literarkritischen mit der historischen Argumentati-

23 Hier und bei den folgenden beiden Zitaten: Kursive hinzugefügt.

Methodische Klärung (i)

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on bringt die Exegese weder in der Frage nacfi der ursprünglichen Gestalt der Passionstradition noch in den historischen Fragen weiter. Denn in allen Fällen spiegelt das exegetische Ergebnis lediglich das Vorverständnis des Auslegers, das im Blick auf die Passionsüberlieferung in aller Regel lautet: ältere Traditionen sind historisch zuverlässiger als jüngere, bzw. umgekehrt: historisch (möglicherweise) zuverlässige Traditionen sind älter als historisch unzuverlässige. Eben dieses Vorurteil wird durch die tatsächliche Geschichte der Tradition aber als falsch erwiesen, da hier häufig das Phänomen einer sekundären Anpassung der Ereignisse an die zeitgeschichtlichen Gegebenheiten zu beobachten ist; d.h. die historisch plausibleren Texte sind oft nicht die älteren, sondern die jüngeren.2* Daher muß die beschriebene Vorgehensweise unbedingt vermieden werden: Historische Wahrscheinlichkeitserwägungen bzw. Vorurteile haben in der literarkritischen Argumentation nichts zu suchen. Die literarische Analyse darf sich nicht von einer bestimmten Vorstellung, wie es denn 'gewesen sein könnte', beeinflussen oder gar leiten lassen. Wie können nun die ältesten erzählenden Passionstraditionen ermittelt werden? Der Überblick über die bisherige Forschung hat gezeigt, daß die in diesem Zusammenhang fundamentale, häufig nicht zureichend bedachte Frage die nach der Anzahl der vorhandenen Primärquellen ist. Bevor die methodische Klärung fortgeführt werden kann (Kapitel 5), muß daher zunächst geklärt werden, ob die johanneische und die lukanische Passionsdarstellung als Primärquellen gelten können oder nicht (Kapitel 3 und 4).

24 Ich gebe hier nur einige wenige, unbezweifelbare Beispiele aus der matthäischen Bearbeitung des mk Passionsberichtes (das Verhältnis der lukanischen Passionsdarstellung, die gegenüber der markinischen sehr häufig historisch zuverlässiger wirkt, zu Mk ist bekanntlich umstritten (dazu s.u. 4)): (l) Die Datierung in Mt 26,17 ist besser als die falsche oder jedenfalls ausgesprochen unpräzise der Vorlage (Mk 14,12). (2) Mt 26,57 enthält, anders als die Vorlage (Mk 14,53), den Namen des Hohepriesters. (3) Mt 27,2 enthält die korrekte Amtsbezeichnung des Pilatus (diff Mk 15,1). (4) Die historisch — vorsichtig formuliert — schwierige Zeitangabe in Mk 15,25 fehlt bei Mt. (5) Die die synoptische Datierung der Kreuzigung Jesu auf das Paschafest problematisierende mk Angabe, Simon von Kyrene sei απ' άγροΰ gekommen, (15,21 ), fehlt bei Mt.

2. Prämissen Zu Beginn der Untersuchung müssen zunächst deren Prämissen offengelegt werden. Ich gehe bei meinen Einzelanalysen von folgenden, im weiteren nicht mehr eigens begründeten Voraussetzungen aus: (1) Die nach wie vor beste Hypothese zur Klärung des synoptischen Problems ist die Zwei-Quellen-Theorie: Matthäus und Lukas haben das Markusevangelium sowie eine nicht mehr erhaltene Spruchsammlung, die »Logienquelle« »Q«, als Hauptquellen ihrer Evangelien verwendet. 1 Der entscheidende Vorteil dieser Hypothese gegenüber anderen besteht darin, daß sie äußerst ökonomisch ist: sie erklärt mit einer höchst geringen Zahl von Prämissen einen überaus großen Teil der einschlägigen Probleme auf sehr einfache Weise. Alle konkurrierenden Modelle scheitern an einer der beiden Anforderungen des Ökonomieprinzips: basieren sie auf einer geringen Zahl von Prämissen, dann sind sie nicht in der Lage, die Entstehung des Textes der drei synoptischen Evangelien plausibel zu erklären; 2 sind sie umgekehrt in der Lage, die Entstehung der Jetztgestalt von Mk, Mt und Lk plausibel zu erklären, dann basieren sie auf einer Vielzahl von Prämissen. 3 Sie alle werfen "wesent-

1 Dazu s. KÜMMEL, Einleitung 13-53; VIELHAUER, Literaturgeschichte 263-278; LINDEMANN, 1984, 246-263. Bestritten wird der sachliche Vorrang der ZweiQuellen-Theorie vor ihren Konkurrentinnen vor allem in den USA; s. dazu W.R. FARMER (Hrsg.), New Synoptic Studies, Macon, Ga. 1983; Β. ORCHARD/H. RILEY, The Order of the Synoptics, Macon, Ga. 1987, jeweils pass. Zur Diskussion um die Zwei-Quellen-Theorie s. zuletzt die Sammelbände von A.J. BELLINZONI, The Two-Source Hypothesis, Macon, Ga. 1985 und DUNGAN, Interrelations, jeweils pass. 2 So die sogenannte GRIESBACH-Hypothese (Mk als Exzerpt aus Mt und Lk) — und überhaupt alle Hypothesen, die die Priorität des Markusevangeliums bestreiten —, da sie insbesondere das Auswahlkriterium, von dem sich Mk und Lk leiten ließen, nicht angeben kann. D.h.: "Der Text der Evangelien, die nach (der Griesbach-Hypothese) von Mt abhängig sind, erscheint ... als ein Konglomerat von Einzelperikopen ohne literarischen und theologischen Zusammenhang; Lukas und Markus haben aus ihrer »Vorlage« Mt völlig willkürlich Texte ausgewählt, gestrichen und umgestellt — einen erkennbaren Sinn hatte ihr Vorgehen nicht" (LINDEMANN, 1984, 248). 3 So insbesondere das Modell von M.E. BOISMARD (Synopse des quatre Evangiles en français, II Paris 1972; III Paris 1977), das zur Erklärung der Jetztgestalt der vier kanonischen Evangelien (das Joh-Ev wird in die Diskussion miteinbezo-

Prämissen

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lieh mehr Probleme auf, als sie im Einzelfall - vielleicht - zu lösen" vermögen. 4 (1.1) Die Existenz der Logienquelle »Q« kann als gesichert gelten. 5 Die Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas außerhalb des Markusstoffes sind z.T. derart frappant (cf. etwa Mt 3,7-10par; Mt 6,24par), daß sie allein durch die Annahme einer gemeinsamen Quelle erklärt werden können. Über ihre bloße Existenz hinaus kann weiter als gesichert gelten, daß »Q« eine schriftliche Quelle in griechischer Sprache war. Dafür spricht die vielfache, bei einer Logiensammlung besonders signifikante Übereinstimmung der Stoffreihenfolge und die Tatsache, daß die wörtliche Übereinstimmung von Matthäus und Lukas in den Q-Passagen höher (!) ist als in den - den beiden Evangelisten unbezweifelbar schriftlich vorliegenden — Mk-Passagen. 6 Schließlich haben wir mit dem Thomasevangelium - bei allen Unterschieden im einzelnen 7 — inzwischen auch einen Beleg für die tatsächliche Existenz der ehedem nur postulierten Gattung einer »Spruchsammlung« im frühen Christentum. 8 (1.2) Die Logienquelle hat in (mindestens) zwei verschiedenen Rezensionen, Q Lk und Q M l , existiert. 9 Darauf weisen insbesondere folgende Indizien hin: "(a) Manche Parallelsprüche in Q unterscheiden sich im Wortlaut derart, daß sie durch eine bloße Redaktion von Lukas oder Matthäus nur schwer erklärt werden können; (b) es

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gen) die Existenz von — die alten Sammlungen und die verschiedenen Schichten des Johannesevangeliums einmal ausgenommen — nicht weniger als 7 (!) Quellen postuliert (Q, »A«, »B«, »C«, »Mc-intermédiaire«, »Mt-intermédiaire«, »ProtoLc«), deren Verhältnis zueinander und zu den Endredaktionen der vier Evangelien als derart kompliziert vorgestellt ist, daß eine präzise Wiedergabe der Theorie hier einige Seiten füllen würde (cf. dazu NEIRYNCK, Jean, pass.; ders., John 82-93; LINDEMANN, 1984, 254). Faktisch ist diese Theorie so etwas wie eine Meta-Theorie aller gängigen Hypothesen zum synoptischen Problem: sie kann "eigentlich alle Phänomene erklären ..., weil sie so kompliziert ist, daß sie alle anderen Hypothesen mehr oder weniger in sich integriert" (LUZ, Matthäus 30). LINDEMANN, 1984, 254. S. dazu KÜMMEL, Einleitung 37-49; VIELHAUER, Literaturgeschichte 311-329; LINDEMANN, 1984, 257-263 und J.S. KLOPPENBORG, The Formation of Q, Philadelphia 1987, 41-88. S. SATO, Q 16f. S. die Differenzierungen von KÜMMEL, Einleitung 47-49; SATO, Q 3-5. Cf. dazu ROBINSON, Logoi, pass.; KÖSTER, Einführung 480f. So etwa VIELHAUER, Literaturgeschichte 272; KÖSTER, Einführung 479; SATO, Q 47-62; LUZ, Matthäus 29; STRECKER, Literaturgeschichte 163f.

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Entstehungszeit der Evangelien

gibt offenbar sekundäre Fortbildungen, die entweder in Lukas oder in Matthäus stehen und nicht Werke des jeweiligen Evangelisten sein können." 10 (2) Keines der kanonischen Evangelien ist vor Beginn des Jüdischen Krieges (66-73 n. Chr.) verfaßt worden. 11 Lukas (19,43f.; 21,20.24) und Matthäus (22,7) blicken bereits auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 zurück. Das Johannesevangelium setzt den Ausschluß seiner Gemeinden aus dem Synagogenverband voraus (9,22; 12,42; 16,2), der im Zusammenhang mit der Neuformierung des Judentums nach 70 und näherhin mit der Einfügung der »Birkat ha-Minim« (Verfluchung der Häretiker) in das Achtzehngebet (cf. bBer 28b) steht. 1 2 Auch für das Markusevangelium kommt eine Ansetzung vor Beginn des Jüdischen Krieges nicht in Frage; es läßt sich allerdings darüber streiten, ob es noch während des Krieges (Mk 13) oder erst nach der Zerstörung Jerusalems (13,2; 12,9; 15,38?) entstanden ist. 13 (3) Das Johannesevangelium ist von einer Redaktion überarbeitet worden. 1 4 Klares Indiz dafür ist das 21. Kapitel, das mit Sicherheit ein redaktioneller Nachtrag ist. Die Existenz einer nachjohanneischen Redaktion ist demnach 10 SATO, Q 47. 11 S. KÜMMEL, Einleitung 53-120.155-212 pass.; VIELHAUER, Literaturgeschichte 329-460, pass.; GNILKA, Markus I 32-35; LUZ, Matthäus I 75f.; FITZMYER, Luke 53-57; BECKER, Johannes 64-66. Zu gegensätzlichen Positionen s. jeweils ebd. sowie etwa ORCHARD/RILEY, Order (s.o. A l), pass., insbesondere 275-277. 12 S. dazu W. SCHRÄGE, Art. άποσυυάγωγος, ThWNT VII, S. 845-850; BROWN, John LXXXV (der die aufgeführten Verse im Rahmen seines 5-Stufen Modells allerdings zu einer späteren Schicht rechnet); BECKER, Johannes 56-59.64f.; WENGST, Gemeinde 75 104 und SCHÄFER, Geschichte 154f. sowie W. HORBURY, The Benediction of the Minim and early Jewish-Christian Controversy, JThS 33 (1982), S. 19-61. 13 Für Letzteres plädieren etwa VIELHAUER, Literaturgeschichte 347; PESCH, Markus I 14; GNILKA, Markus I 34. KÜMMEL, Einleitung 70 und LÜHRMANN, Markus 6 legen sich nicht fest. Für eine Datierung in das Jahr 69 ist HENGEL mit interessanten Argumenten eingetreten (Entstehungszeit 1-43). Im übrigen ist die These, daß es sich bei einem oder mehreren der in Höhle 7Q gefundenen griechischen Papyrusschnipsel um Fragmente einer frühen Markushandschrift handele (so etwa C.P. THIEDE, 7 Q — Eine Rückkehr zu den neutestamentlichen Papyrusfragmenten in der siebten Höhle von Qumran, Bib 65 (1984), S. 538-559), keinesfalls aufrechtzuerhalten. Der sichere Textbestand ist derart gering, daß man über das Urteil des Erstherausgebers M. Baillet schwerlich hinauskommt: der Text "peut-être biblique, mais toute tentative d' identification s'est révelée infructueuse" (DJD III 143). 14 So etwa BULTMANN, SCHNACKENBURG, BROWN, BECKER, HAENCHEN (in ihren Johanneskommentaren, jeweils pass.), THYEN, Joh 13 pass, (u.ö.) uva. Gegen RUCKSTUHL, Einheit pass. u.a.

Prämissen

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nicht zu bestreiten; 1 5 fraglich kann allein sein, ob sie nicht nur die ersten 20 Kapitel des Evangeliums um ein weiteres erweitert, sondern auch in diese selbst eingegriffen hat. Bei der Klärung dieser Frage ist von den Besonderheiten des 21. Kapitels auszugehen: Es ist der "key and cornerstone for any redactional theory".16 (4) Die einzige Quelle der matthäischen Passionsdarstellung ist - von einigen Sondertraditionen abgesehen - 1 7 das Markusevangelium: 18 "CNjo source other than the gospel of Mark need be postulated to account for the form and tone of Matthew's Passion narrative."19 (5) Das erhaltene Fragment des Petrusevangeliums setzt sehr wahrscheinlich die Passionsdarstellungen aller kanonischen Evangelien voraus. 2 0 15 Es geht — gegen SCHNELLE, Christologie 22-36 — nicht an, Joh 21 als einen 'sekundären Anhang' zu isolieren, der nicht "den Ausgangspunkt von Redaktionstheorien für Kap. 1-20 bilden" könne (36). Vielmehr ist die "grundsätzliche Berechtigung, von einer aufweisbaren Redaktion (Joh 21) auf eine gröBere redaktionelle Schicht im Ev und vielleicht auf weitere kleine redaktionelle Zusätze und Veränderungen zu schließen, ... anzuerkennen" (SCHNACKENBURG, Johannes IV, 101; ebenso bereits HEITMÜLLER, Johannes-Tradition 204 uva.). 16 D.M. SMITH, Composition 234. 17 Zu Mt 27,3-10.62-66 s.u. II 3.4. 18 S. dazu SENIOR, Passion Narrative, pass.; GREEN, Death 20-23. 19 SENIOR, Passion Narrative 340. 20 So MARA 213f.; L. VAGANAY, L' Evangile de Pierre, Paris 1930, S. 45-82; VIELHAUER, Literaturgeschichte 645; LÜHRMANN, POx 2949, 220-222; GREEN, Gospel of Peter, pass. uva. Anders etwa J. DENKER, Die theologiegeschichtliche Stellung des Petrusevangeliums (EHS XXIII, 36), Bern/Frankfurt, Main 1975, S. 56f.; KÖSTER, Einführung 599; ders., Evangelienliteratur 1488; ders., Gospels 216-240 und zuletzt insbesondere CROSSAN, Cross, pass. (cf. auch ders., Jesus 385ff.). Zu Crossens Theorie, wonach ein im mehrschichtigen EvPetr noch erhaltenes 'Cross Gospel' die Grundlage aller kanonischen Passionsberichte sei, in aller Kürze ein paar kritische Anmerkungen: (l) Der Nachweis dafür, daß ein Grundstock des EvPetr zunächst um kanonisches Material (6,23-24; 12,50—13,57; 14,60) und schließlich um die notwendigen Überleitungsverse (2,3-5a; 7,26-27; 14,58-59; 11,43-44) erweitert worden ist, scheint mir nicht wirklich gelungen. Wo finden sich die Brüche im Petrusevangelium, die zu dieser Annahme zwingen (die Tatsache, daß sich bestimmte Passagen, leicht herauslösen lassen, besagt nicht viel)? (2) Crossan postuliert folgendes Schema zur Erklärung der Gestalt der kanonischen Passionsberichte: Mk kennt das 'Cross Gospel', M t / L k kennen diese beiden, Joh schließlich alle vier (ebd. 18). Er urteilt: "I can find nothing in the intracanonical tradition of the Passion and Resurrection that cannot be explained as redactional activity along the stemma" (ebd. 17f.). Dieses Urteil ist m.E. keinesfalls haltbar. Dann müßte — um nur einige wenige Punkte zu nennen — Markus etwa die Figur Joseph von Arimathias samt der ganzen Begräbnisszene 'erfunden haben (ebd. 238f.) und - noch gewichtiger - auch die Präsenz der

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Petrusevangelium

Klares Indiz dafür ist z.B. 2 1 die Tatsache, daß EvPetr Sondergut

des Mat-

thäus-, des Lukas- und des Johannesevangeliums enthält. Im einzelnen entsprechen sich vor allem folgende Motive: EvPetr 1,1; 11,46; 8,29-33 und Matthäus 27,24-25.62-66 (das Händewaschen, die Unschuldserklärung des Pilatus, die Grabeswache); EvPetr 1,1-2,5; 4,13; 7,25 und Lukas 23,6-12.27.39-41 (Herodes Antipas, der verständige Mitgekreuzigte, das klagende Volk); schließlich EvPetr 2,5; 6,24 und Johannes 19,14 (usw.); 19,41 (Kreuzigung vor dem Pascha, Bestattung in einem Garten). Raymond E. BROWN urteilt daher zweifellos mit Recht: "(The Gospel of Peter} is another window into popular Christianity of the 1st half of the 2nd century, ... where there was a knowledge of canonical Gospels ..., even if that knowledge rested on having heard or once having read them, but where now they had been blended into a confused but vivacious story — one made all the more vivid by the inclusion of imaginative details and popular traditions." 22

Frauen unter dem Kreuz. Er miifite die lange Episode um die Grabeswache (8,28-11,49) gestrichen haben und auch den Namen des römischen Hauptmannes ('Petronius': 8,31), usw. (3) Eine Reihe von Merkmalen des postulierten 'Cross Gospel' weist m.E. eindeutig auf eine gegenüber Mk fortgeschrittene Entwicklung der Tradition hin (s. wiederum 8,28-11,49, insbesondere 8,31). Cf. zur Kritik an Crossans Modell im übrigen auch R.E. BROWN, The Gospel of Peter and Canonical Gospel Priority, NTS 33 (1987), S. 321-343. 21 M.E. weist die Komposition des Petrusevangeliums auch Spuren rein redaktioneller Szenen des Matthäus- bzw. Lukasevangeliums auf. Ich nenne drei Fälle: EvPetr 1,1 (τ(ΰν) δέ 'Ιουδαίων ουδείς ένίψατο τάς χείρας) und 11,46 ('Αποκριθείς 6 Πειλατος £φη· "Εγώ καθαρεΰω του αίματος του υίοΰ του θεοΰ, ύμΤν δε τοΰτο έ'δοξεν) basieren auf dem (m.E.) redaktionellen Vers Mt 27,24 (dazu s.u. II 3.4). Die Erwähnung des Herodes Antipas in EvPetr 1,2-2,5 setzt doch wohl die (m.E.) redaktionelle Passage Lk 23,6-16 (dazu s.u. 4.4.1) voraus; zu vergleichen ist insbesondere Herodes' Anrede des Präfekten als Άδελφ(ός) Πειλάτ(ος) in EvPetr 2,5 mit Lk 23,12. EvPetr 4,13 schließlich (Είς δέ τις των κακούργων εκείνων ώνείδισεν αυτούς λέγων· »'Ημείς διά τά κακά α έποιήσαμεν οϋτω πεπόνθαμεν, οδτος δε σωτήρ γενόμενος των άνθρώπων τί ήδίκησεν ϋμάς«) setzt die (m.E.) redaktionelle Passage Lk 23,39-41 voraus (dazu s.u. 4.4.1; alle Zitate nach MARA). 22 BROWN, Gospel of Peter (s. Anm. 20) 339.

3. Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern

3.1. Die Forschungslage Die im letzten und noch zu Beginn dieses Jahrhunderts allgemein verbreitete Auffassung, das Johannesevangelium sei von einem oder mehreren der synoptischen Evangelien literarisch abhängig,1 wurde auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie ausführlich erstmalig 1914 von Julius SCHNIEWIND angefochten (Parallelperikopen, pass.). 2 wirkungskräftig dann 1938 durch Percival GARDNER-SMITH. Das Erscheinen seines kleinen Buches gilt inzwischen allgemein als entscheidender Wendepunkt, 3 da die Forschung seitdem zunehmend zur Annahme der literarischen Unabhängigkeit des Johannesevangeliums tendierte. So einflußreiche Exegeten wie Rudolf BULTMANN und Charles H. DODD schlossen sich Gardner-Smith' Meinung an und verhalfen ihr derart zum Durchbruch, daß D. Moody SMITH 1965 mit Recht von einem "growing consensus that John's reliance upon, or use of, the synoptics is to be minimized, if not denied" (John 12, 99) 4 sprechen konnte. Überwältigend ist der Konsens unter den seit 1938 erschienenen großen Kommentaren zum Johannesevangelium: Rudolf BULTMANN, Rudolf SCHNACKENBURG,5 Raymond E. BROWN, Jack N. SANDERS, Leon MORRIS, Siegfried SCHULZ, Barnabas LINDARS, Jürgen BECKER und Ernst HAENCHEN rechnen mit -

1 S. dazu die repräsentativen Urteile von H.J. HOLTZMANN (Verhältnis, pass.) und WERNLE (Frage 234-248) sowie die klassische Arbeit von WINDISCH, Johannes, pass. 2 Zu den Vorarbeiten, die ihn inspiriert haben, s. Parallelperikopen 1-5. 3 Cf. etwa DAUER, Johannes 15ff., der seinen Forschungsüberblick in "Veröffentlichungen vor" und "seit Gardner - Smith" gliedert, sowie KÜMMEL, Einleitung 167; BLINZLER, Johannes 19 und dazu jetzt kritisch VERHEYDEN, GardnerSmith, pass. 4 S. dazu auch BLINZLERS Kritik (Johannes 31ff.) und SMITH' Antwort (Christianity 7f. A15). 5 SCHNACKENBURG vertrat - ebenso wie DODD - zuvor die entgegengesetzte Meinung zum Problem; s. dazu NEIRYNCK, John 74 A 4 ; 75f. A12.

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

vollständiger oder weitgehender — literarischer Unabhängigkeit des Joh-Ev von den Synoptikern. 6 Charles K. BARRETT ist einer der ganz wenigen, der hier widerspricht (John 42ff.). Trotz dieses ausgesprochen breiten Konsenses unter den großen Johanneskommentaren hat es selbstverständlich nie an Gegenstimmen gefehlt. Neben Werner G. KÜMMEL, der mit einer Wiedergabe der Synoptiker aus dem Gedächtnis rechnet (Einleitung 165-170; dazu s.u. 3.2.6.4), ist hier vor allem der seit geraumer Zeit energischste Verfechter unmittelbarer literarischer Abhängigkeit des Johannesevangeliums zu nennen: Frans NEIRYNCK und der Kreis seiner Schüler — vor allem Maurits SABBE.7 In jüngster Zeit gewinnt nun die »alte« Einschätzung des Sachverhalts wieder an Boden. So formuliert Hartwig THYEN in seinem TRE-Artikel von 1988: Es "bahnt sich ... ein neuer Konsensus darüber an, daß jedenfalls derjenige, dem wir das Evangelium in seiner überlieferten Gestalt verdanken, die Synoptiker kannte und benutzte" (Johannes 208). Auch wenn seine Feststellung in dieser Form kaum aufrechtzuerhalten ist, 8 so benennt sie doch einen signifikanten Gegentrend: 9 In der Tat wird in jüngerer Zeit — wenn auch häufig ohne detaillierte Begründung - wieder vermehrt damit gerechnet, daß jedenfalls die Endredaktion des Johannesevangeliums die Synoptiker kannte. So schreibt zuletzt Wolfgang SCHENK am selben Ort: "Joh 18-19 stellt in eigen-

6 BULTMANN, Johannes pass.; SCHNACKENBURG, Johannes I 15-32; BROWN, John XLIV-VII; SANDERS, John 6-18; MORRIS, John 49-52; SCHULZ, Johannes 3f.; LINDARS, John 25-28; cf. auch ders., Test Case, pass.; BECKER, Johannes 41-45; HAENCHEN, Johannes 102 (auch ders., Probleme 111). Weitere Kommentarmeinungen sind zusammengestellt bei NEIRYNCK, John 76. Zu Bultmann und Haenchen s. aber auch u. 3.2.6.2. 7 NEIRYNCK, John; Jean; Empty Tomb; John 1990; John 1992, jeweils pass, (u.ö.); SABBE, Arrest; Footwashing; Trial; Anointing, jeweils pass. 8 Das geht bereits daraus hervor, daß die Autoren, die THYEN für diesen 'neuen Konsensus' anführt (Johannes 208: Neirynck, Sabbe, Boismard/Lamouille, Solages), alle aus dem französisch-belgischen Raum kommen und zudem sämtlich der römisch-katholischen Konfession angehören. Darüber hinaus kann man auch innerhalb dieser Gruppe kaum mit Recht von einem Konsens sprechen: dafür sind die Interpretationsmodelle doch viel zu unterschiedlich (cf. nur NEIRYNCK, John 82ff. zu Boismard, und SMITH, John 1982, pass, zu Neirynck und Solages. Smith spricht zu Recht von "different worlds" (141 )). 9 SCHNELLE, Johannes 1799, spricht jetzt gar bereits von der 'forschungsgeschichtlichen Wende'.

Die Forschungslage

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williger Bearbeitung des Materials aller drei Synoptiker ... den souveränen Wiederaufstieg des Offenbarers dar" (Leidensgeschichte 718).10 Im einzelnen herrscht unter den Vertretern beider Gruppen keine Einigkeit. Hier wirken sich die großen Unsicherheiten aus, die bei der Erforschung des Johannesevangeliums zur Zeit allenthalben zutage treten. So ist unter den Vertretern der Abhängigkeitstheorie umstritten, wer (der Evangelist? seine Tradition? der Redaktor?) welche Evangelien (Mk? Mk und Lk? Mt? alle drei?), in welchem Umfang benutzte. Auf der anderen Seite wird vor allem auf die Frage, wie genau denn die Entstehung der synoptikerähnlichen, Stoffe im Joh-Ev erklärt werden kann, eine Vielzahl im Detail oft hochdifferenzierter Antworten gegeben.11 Um in dieser Situation die vielfach untereinander vernetzten Probleme und Hypothesen überhaupt noch - und zwar in der im Rahmen dieser Untersuchung unabdingbaren Kürze - diskutieren zu können, ist es sinnvoll, vor der Kritik der wichtigsten komplexen Erklärungsmodelle (3.2.6) zunächst einmal wieder die ganz einfachen und grundsätzlichen Fragen an das Johannesevangelium zu richten und sie an den wirklich einschlägigen Texten zu klären: (1) Setzt die Komposition des Evangeliums redaktionelle Konzeptionen (eines) der Synoptiker voraus? (2) Ist der Wortlaut des Joh-Ev irgendwo von einer redaktionellen Synoptikerpassage abhängig? (3) Setzt die Gattung des Joh-Ev eine literarische Verarbeitung (mindestens) des Markusevangeliums voraus? (4) Setzt Johannes bei seinen Leser(inne)n Kenntnisse voraus, die nur aus einer Synoptikerlektüre stammen können?

10 SCHENK (ebd.) beruft sich dabei auf seine eigene Arbeit (PB 123-139), auf einen kurzen Aufsatz von BORGEN (John, pass.) und vor allem auf "Sabbe gegen Dauer, Mohr" (= SABBE, Arrest gegen DAUER, Passionsgeschichte und MOHR, Markuspassion, jeweils pass.; dazu s.u. 3.2.2). Diese Zusammenstellung ist a l lerdings mehr als eigenartig: denn Sabbe wendet sich bei seiner Kritik an Dauer implizit eben auch gegen Schenks zweiten Gewährsmann Borgen, der ja eine analoge These wie Dauer vertritt (s. dazu u. 3.2.6.3; NEIRYNCK, John 1990, 439 spricht gar von der 'Borgen-Dauer Thesis'!)· Neben Schenk seien an neueren Arbeiten noch genannt: KLEINKNECHT, Johannes 13, pass.; STRECKER, Anfänge 42 mit A47; ders., Literaturgeschichte 211-214; SCHNELLE, Christologie 130; HENGEL, Question 91; E. STEGEMANN, Tempelreinigung 507 A18; VOUGA, Jean, pass.; BUSSE, Lazarusperikope, pass.. Weitere Belege bei NEIRYNCK, John 1992, 3-13. 11 Cf. nur die Forschungsüberblicke von DAUER, Johannes 15ff.; KYSAR, 1985, 2395-2411; BECKER, 1986, 21ff. und zuletzt NEIRYNCK, John 1992, pass, und D.M. SMITH, John 1992, pass.

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

3.2. Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern

3.2.0. Vorbemerkung: Das Problem der Beweislast Die Vertreter der Theorie einer literarischen Abhängigkeit des Johannesevangeliums von den Synoptikern bürden in aller Regel der Unabhängigkeitstheorie eine Beweislast auf, indem sie sie für die schwierigere erklären. Maurits SABBE schreibt: "In questions of literary criticism, one ought to give priority to the hypothesis explaining the literary data without claiming the existence of unknown sources. ... The burden of proof is on the part of those who propose the existence of such a source" (Arrest 234. 206).12 Demgemäß formuliert er folgende, das Ergebnis präjudizierende Fragestellung: "My analysis ... intends to examine whether there is a need for postulating a pre-Johannine source, or whether a possibility of a direct dependence of the Gospel of John on the Synoptics could not be accepted" (Arrest 203).13 So richtig diese methodische Entscheidung in anderen Fällen ist 1 4 - entia non sunt multiplicanda sine necessitate ! (Ockham's razor) - : im Blick auf den speziellen Fall des Joh-Ev kann sie nicht in Anschlag gebracht werden. Denn wir kennen keine der Quellen des Johannesevangeliums; es gibt diese ens nicht, die wir nicht ohne Not um weitere vermehren sollen. Natürlich kennen wir die Synoptiker; aber diese Kenntnis ist, historisch betrachtet, in gewissem Grad eine zufällige: Mit den kanonischen Evangelien ist uns faktisch nur ein Bruchteil des viel größeren Universums der urchristlichen Evangelienliteratur direkt überliefert worden. Ohne Nag Hammadi (und Oxyrynchos) wüßten wir vom Thomasevangelium nichts; von vielen anderen Evangelien kennen wir bis heute nur Bruchstücke. Wir wissen, daß es im Laufe der Zeit verlorengegangene Quellen mit Jesusüberlieferung gegeben hat und daß die Evangelisten solche Quellen auch benutzt haben. In mindestens einem Fall ist der neutestamentlichen Exegese die Rekonstruktion einer derartigen Quelle sogar gelungen: »Q« ist inzwischen eine gesicherte Hypothese. Es ist auf diesem Hintergrund nicht zu begründen, daß immer dann, wenn in 12 So auch BARRETT, John 45; THYEN, Johannes 208 und zuletzt SCHNELLE, Johannes 1802; VOUGA, Jean 279: "l'hypothèse d'une source particulière ... ne ferait que repousser le problème du rapport avec le synoptiques, au prix du principe êpistémologique d'économie." 13 Kursive hinzugefügt. 14 Z.B. im Fall des Problems einer spezifischen lukanischen Passionsquelle; dazu s.u. 4.2.

Vorbemerkung: Die Beweislast

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einem anderen Evangelium synoptikerähnliche Stoffe vorliegen, die Synoptiker benutzt worden sind. D.h. in unserem speziellen Fall: Allein die historisch letztlich zufällige Tatsache, daß wir nur noch die Synoptiker unmittelbar kennen, kann die Annahme, a priori liege eine Abhängigkeit des Johannesevangeliums von ihnen nahe, keinesfalls begründen. Diese Hypothese muß vielmehr zuallererst vom Text her begründet werden und sich daran bewähren - ebenso wie die gegenteilige auch. Das aber heißt nichts anderes als: die Beweislast ist nicht definierbar; es geht im offenen Wettbewerb zwischen den Theorien allein darum, welche Theorie mit weniger Annahmen mehr Textbestand plausibel erklären kann. Percival GARDNER-SMITH hat die einzig sachgemäße Fragestellung in vorbildlicher Weise formuliert: "(T)he question Chas been) considered whether it is easier to account for the similarities between St John and the Synoptists without a theory of literary dependence, or to explain the discrepancies if such a theory has been accepted" (John X).15 Auf diesem Hintergrund sind exegetische Ergebnisse wie etwa das, man könne "eine literarische Beziehung zwischen dem Johannesevangelium und den synoptischen Evangelien (nicht) ernsthaft ausschließen",16 völlig nichtssagend. Zugespitzt: sofern eine Schrift Y im selben Kulturkreis wie eine ältere Schrift X entstanden ist und auch nur ein oder zwei identische oder ähnliche Sätze enthält, läBt sich eine literarische Beziehung natürlich niemals ausschließen; selbstverständlich kann man z.B. nicht mit Sicherheit ausschließen, dafi Lukas Matthäus als Quelle verwendet hat. So kommt man nicht weiter.

Man beachte in diesem Zusammenhang schließlich noch ein Letztes: Auch die Vertreter der Abhängigkeitstheorie müssen, wollen sie die Entstehung des Johannesevangeliums als ganzem verständlich machen, mit der Verwendung nichtsynoptischen Quellenmaterials rechnen (z.B. für die Hochzeit in Kana, für Tod und Auferweckung des Lazarus, usw.); d.h. die Existenz von 'unknown joh sources' kann - wie immer man sich ihre Entstehung vorstellen mag - überhaupt nicht strittig sein, lediglich deren Abgrenzung.17

15 Vgl. ebenso D.M. SMITH, John 1980, 169 und zuletzt WEDER, Wende 129: "Massgebend für die Entscheidung muss sein, welcher Theorie es mit der kleinsten Anzahl von hypothetischen Annahmen gelingt, die meisten Fakten zu erklären." 16 KLEINKNECHT, Johannes 13, 382; Kursive hinzugefügt. 17 Zutreffend GREEN, Death 110, der dieses Argument gegen Barrett stark macht; s. auch HAENCHEN, Johannes 80f. THYEN (Johannes 208) gründet sein Beweislastargument auf die Gattungsfrage (dazu s.u. 3.2.3.), allerdings vorschnell. Denn er selbst hält die joh »Grundschrift« für einen 'dem synoptischen gegenüber völlig eigenständigen und gleichursprünglichen Evangelientyp' (Entwicklungen 289 A79; fast wortgleich 1977, 252).

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

Fazit: Im Fall des Problems des literarischen Verhältnisses des Johannesevangeliums zu den Synoptikern kann keine Beweislast festgelegt werden. Die Frage, welcherart die Quellen waren, die Johannes benutzt hat, ist völlig offen. 18

3.2.1. Die Komposition des Johannesevangeliums und die Synoptiker Das Johannesevangelium enthält — von einigen wenigen kleineren Übereinstimmungen einmal abgesehen — folgende

»synoptische«

Stoffe: Joh

(1,19-34);

2,13-22; 4,46-53; 6,1-13.16-21.68f.; die Passionsgeschichte samt »Einzug« in Jerusalem (11,47- 12,15; 13; 14,31c; 18,1-19,42) sowie die Auferstehungsberichte (20,1-23). Ist eine dieser größeren »synoptischen« Einheiten erst redaktionell von einem der Synoptiker geschaffen worden? Zwei Passagen stehen zur Diskussion: Mt 28,9f. par Joh 20,14-18. Frans NEIRYNCK hat die These aufgestellt, die kleine Szene von der Erscheinung des Auferstandenen vor Maria Magdalena und der 'anderen' Maria in Mt 28,9f. sei eine matthäische Komposition ohne Traditionsgrundlage; folglich müsse Johannes das Matthäusevangelium gekannt haben (Les femmes, pass.). Dagegen: obwohl die Sprache der betreffenden Passage nicht auf nichtmarkinische Tradition weist, ist es doch völlig unwahrscheinlich, daß Mt die Tradition von der Protophanie vor Maria Magdalena »erfunden« hat. Denn es läßt sich schlechterdings kein plausibles Motiv dafür angeben, warum Matthäus ohne Not und im Widerspruch zur herrschenden Tradition (l Kor 15,5) ausgerechnet einer damals bekanntlich zeugnisunfähigen Frau eine Protophanie zugeschrieben haben sollte (dazu: Orígenes, C. Celsum 2,55). Und wie ist es möglich, daß eine (angeblich) redaktionelle Notiz eine derartige Autorität erlangt hat, daß selbst der sekundäre Markusschluß betont von einer Protophanie vor Maria Magdalena spricht (Mk 16,9: έφάυη πρώτον Mapíqt Μαγδαληνή)? Im übrigen: Indizien für eine literarische Abhängigkeit von Joh 20,14-18 finden sich nicht: die beiden Geschichten ha.. ig ben lediglich die drei Worte Ίησοΰς, λέγει und μου (!) wörtlich gemeinsam. Lk 24,36-43 par Joh 20,19-23. Analoges hat Neirynck für Lk 24,36-43 zu zeigen versucht: die Szene von der Erscheinung Jesu im Kreis der Jünger sei ein "récit tres lucanien", der nicht auf vorlukanischer Tradition beruhe (Lc 24,36-43, 680). Dagegen: die Passage enthält eine ganze Reihe unlukanischer Wendungen, die deut-

18 Zutreffend urteilt D.M. SMITH, John 12, 99: "(l)t can no longer be assumed that the burden of proof lies solely on whoever questions or denies the relationship. Nor can one who affirms this relationship assume it and merely bring forth evidence to illustrate and support it. It is precisely the question of the relationship itself which is at issue." 19 Cf. NEIRYNCKS Liste (Empty Tomb 180). Er unterstreicht fälschlicherweise zusätzlich ein αύτξ, das bei Mt aber nicht steht.

D i e Komposition des Joh-Ev und die Synoptiker

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lieh auf eine entsprechende Traditionsbindung hinweisen. Schlagend ist insbesondere das Präsens historicum λέγει, in V. 36 (par Joh 20,19!), das Lukas bekanntlich in 20

aller R e g e l peinlich meidet.

Neiryncks Vorschlag, es von Mk 6,50 her zu erklä-

ren (671), kann keinesfalls überzeugen.

Liegt also allen »synoptischen« Perikopen im Johannesevangelium Tradition zugrunde, so besagt deren bloße Existenz nichts über eine literarische Abhängigkeit von den Synoptikern. Setzt nun vielleicht die Reihenfolge, in der die »synoptischen« Stoffe im Joh-Ev erscheinen, die redaktionelle Arbeit eines der Synoptiker voraus? Einzig signifikant ist in diesem Zusammenhang die Abfolge von »Speisung der 5000« und »Seewandel« in Joh 6,1-21 par Mk 6,34-52. Hat erst Markus diese Abfolge hergestellt oder ist sie traditionell? Udo SCHNELLE hat zu zeigen versucht, daB "die Einheit der Speisung und des Seewandels auf den Evangelisten Markus zurückgeht" und daB also "die joh. Tradition das Markusevangelium kannte, so daB auch für den Evangelisten diese Annahme nicht abwegig ist" (Christologie 129f.). Dazu: In der Tat sind »Speisung« und »Seewandel« sehr wahrscheinlich ursprünglich selbständige Perikopen, wie vor a l l e m die konkurrierenden Zeitangaben in Mk 6,35.47 zeigen. D i e Frage hingegen, ob die sekundäre Verbindung erst auf Markus oder bereits auf seine Tradition zurückgeht, ist kaum mit einiger Wahrscheinlichkeit zu beantworten. Für l e t z t e r e s bereits Erich KLOSTERMANN mit Verweis darauf, daß "auch auf die Speisung § 39 (= Mk 8 , 1 - 9 ) ... eine Überfahrt § 40 (= Mk 8,10)" folgt (Markus 64). In keinem Fall ist Mk 6 , 3 4 - 5 2 der archimedische Punkt, von dem aus sich unser Problem entscheiden lieBe.

Vorläufiges Ergebnis: Es ist nicht zu erweisen, daß die Komposition des Johannesevangeliums die redaktionelle Arbeit (eines) der Synoptiker voraussetzt. Umgekehrt fällt nun folgendes ins Auge: Die Gesamtkonzeption des Johannesevangeliums hat mit der der Synoptiker bekanntlich nur sehr wenig gemeinsam. Das Bild, das Johannes von Jesus und seiner Geschichte gibt, unterscheidet sich von dem synoptischen derart stark, daß Albert SCHWEITZER in der Alternative "entweder synoptisch oder johanneisch" das zweite große 'Entweder - Oder der Leben-Jesu-Forschung finden konnte (Leben-Jesu— Forschung 254). Johannes überliefert - von der Passionsgeschichte einmal abgesehen — nur einen äußerst geringen Bruchteil des synoptischen Stoffes (nur etwa ganze 6 (!) Passagen; s.o.). Will die Abhängigkeitstheorie überzeugen, müßte sie daher vor allem folgenden Probleme klären: Warum übernimmt

20 Z w e i f e l l o s unlukanisch sind darüber hinaus: άυαβαίνειν έν t?¡ κοφδίφ, και εϊπευ αύτοΐς; cf. zu den anderen weniger sicheren Wendungen JEREMIAS, Sprache 320f.; FITZMYER, Luke 1572-1577.

34

Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

Johannes nur einen äußerst geringen Teil des synoptischen Stoffes? Nach welchen Kriterien trifft er seine Auswahl? Warum also hat er z.B. praktisch alle Q-Stoffe und die 'große Einschaltung' Lk 9,51-18,14 übergangen? Warum nimmt er bestimmte »johanneisch« klingende Worte (etwa Mt 11,25-27;Z1 Lk 22,53b) nicht auf? Warum Ubernimmt er manchmal periphere Notizen, läßt aber zentrale Szenen aus? Warum folgt er den Synoptikern in der Passionsgeschichte um ein Vielfaches genauer als sonst? Wo ist bei alledem etwas von einer "combination and harmonization of the Synoptic accounts" 22 zu spüren? Schließlich: Ist es textgeschichtlich Uberhaupt wahrscheinlich zu machen, daß der Verfasser des vierten Evangeliums alle drei Synoptiker "on his desk" 23 liegen hatte? Fazit: Die Komposition des Johannesevangeliums unterscheidet sich signifikant von der der synoptischen Evangelien. Nirgendwo ist eine Abhängigkeit des vierten Evangelisten von der redaktionellen Kompositionsarbeit der Synoptiker mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erweisen.

3.2.2. Der Wortlaut des Johannesevangeliums und die Synoptiker Das Johannesevangelium enthält eine Reihe wörtlicher Übereinstimmungen mit einem der Synoptiker, die allerdings selten mehr als ein paar Vokabeln umfassen. 24 Auffällig ist, daß sich mehr als zwei Drittel dieser Übereinstimmungen in den Passions- und Auferstehungsgeschichten finden. Die wichtigsten sind folgende: 25 Joh 1,23.27.32 par Mk 1,4.7.10; Joh 2,14f. par Mk 11,15; Joh 5,8f. par Mk 2,9-12; Joh 6,7.16f.l9f. par Mk 6,37.45.49f.; Joh 12,3.5.7f.l3 par Mk 14,3.5-8; 11,9; Joh 13,21.38 par Mk 14,18.30; Joh 18,2.10.15.18f.27.33.39 par Mk 14,44.47.54.60.72; 15,2.9; Joh 19,2f.l9.24f.29.31.38 par Mk 15,16-18.24. 26.36.40.42f.; Joh 20,1 par Mk 16,lf.; Joh 20,5.19f. par Lk 24,12.36.40. Setzt

21 22 23 24

S. dazu jetzt DENAUX, Mt 11,27, pass. NEIRYNCK, John 106. GOULDER, John 207; s. dazu auch u. 3.2.2. VIELHAUER, Literaturgeschichte 418 spricht mit Bezug auf das Verhältnis Joh/Mk von "nie mehr als drei einander folgende(n) Vokabeln"; das ist allerdings nicht korrekt: es sind in exakt identischer Form und Reihenfolge bis zu neun Wörter (Mk 14,18/Joh 13,21), in identischer Form und leicht veränderter Reihenfolge bis zu zwölf Wörter (Mk 14,7/Joh 12,8). 25 Sofern es zum johanneischen Text eine Markusparallele gibt, gebe ich im folgenden der Einfachheit halber diese an. Damit ist nicht gesagt, daB der mk Text dem johanneischen in allen Fällen näher steht als der matthäische oder lukanische. Vgl. im übrigen die Listen bei KIEFFER, Jean, pass.

Der Wortlaut des Joh-Ev und die Synoptiker

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der Text des Johannesevangeliums an einer dieser Stellen die Redaktion (eines) der Synoptiker voraus? Insbesondere zwei Passagen werden in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiert: Lk 24,12 par Joh 20,3-10.

Frans NEIRYNCK hat zu zeigen versucht, daß Lk

26

24,12 keine Traditionsgrundlage hat, vielmehr "a redactional doublet of the traditional visit to the tomb" sei (Historic Present 550; ebenso John 98-104). Dieser Nachweis kann hingegen trotz aller Anstrengungen schwerlich gelingen. Alle Indizien sprechen vielmehr klar gegen eine 27 freie lukanische Komposition: die Sprache des Verses ist z.T. derart unlukanisch, daß Raymond E. BROWN schließen konnte, hier handele es sich um eine vom Johannesevangelium abhängige (!) Glosse (John 1000); die Einbindung in den Kontext ist alles andere als gut: V.13 (δύο έξ αΰτων) bezieht sich zurück 28 auf V.ll, nicht aber auf V.12, wo von den Jüngern ja gar nicht mehr die Rede ist. Mk 14,3-9 par Joh 12,1-8 ('par' Lk 7,36-50). Die johanneische Variante der Salbungsgeschichte weist auffällige Ähnlichkeiten sowohl mit Markus als auch mit Lukas auf. Besondere Schwierigkeiten bietet der weithin als unsinnig geltende V. 29

3aß. John A. BAILEY urteilt: "The only explanation of these difficulties is that they stem from John's having purposedly and carefully combined the accounts of the anointing as they appear in the present gospels of Mark and Luke" (Traditions 3). Ahnlich jetzt Maurits SABBE: "John followed Mark ..., he also took over several descriptive details from the Lukan account" (Anointing 2081). Dagegen: die fraglichen synoptischen Passagen basieren in den in unserem Zusammenhang wesentlichen Punkten anerkanntermaßen auf Tradition 30 und fallen daher als Argu-

26 Es zeichnet sich zunehmend ein Konsens darüber ab, daß die Verse Lk 24,6a.12. 36b.40.51b (etc.) ursprüngliche Bestandteile des Lukasevangeliums sind. Das textkritische Problem wird kaum noch ernsthaft diskutiert; man geht zu Recht allgemein davon aus, daß die Verse, die alle in D it fehlen, keine sog. Western-nonInterpolations sind. S. dazu vor allem ALAND, Bedeutung, pass., besonders 168ff.; FITZMYER, Luke 130f.l542.1575f. NEIRYNCK bezeichnet BECKERS abwägende Position (Johannes 718) inzwischen bereits als 'anachronism' (Empty Tomb 166). Kritisch zu diesem neuen Konsens jetzt aber DAUER, Lk 24,12, pass. 27 Lukanisch sind: Άναστάς, θαυμάζειν + Akk., το γεγονός. Auf Tradition weisen: όθόυια (Hapaxlegomenon und diff. 23,53; cf. auch das weitere Hapaxlegomenon παρακύψας) und vor allem das Praesens historicum βλέπει (dazu: FITZMYER, Luke 1541f.l547f. und JEREMIAS, Sprache 312f., der eigenartigerweise nur das praes. hist, für Tradition verbucht). NEIRYNCKS Versuch, das für Lk ausgesprochen ungewöhnliche βλέπει von Mk 16,4 her zu erklären (Present 551; cf. auch ders., ΠΑΡΑΚΪΥΑΣ; ders., ΑΠΗΛΘΕΝ, jeweils pass.) kann nicht überzeugen. 28 S. zur Kritik an Neirynck jetzt auch CRAIG, Empty Tomb, pass.; DAUER; Lk 24,12, 1703-1713. 29 Maria salbt die Füße Jesu mit Öl und trocknet diese dann mit ihren Haaren ab; s.u. 7.4.1. 30 Das gilt wohl auch für die allerdings nicht leicht zu klassifizierende Passage τοις δάκρυσιν ηρξατο βρέχειυ ... έξέμασσεν in Lk 7,38; έκμάσσω hat Lk nur hier

36

Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

ment für die These aus. Man verstünde im übrigen nicht, warum Johannes Mk und 31 Lk in derart merkwürdiger Weise kombiniert haben sollte. Vorläufiges Ergebnis: Nirgendwo setzt der Wortlaut des Johannesevangeliums mit einiger Wahrscheinlichkeit die redaktionelle Arbeit (eines) der Synoptiker voraus. Umgekehrt fällt nun ins Auge, daß nicht nur die Gesamtkonzeption

des

Joh-Ev, sondern auch die Gestalt seiner »synoptischen« Passagen unter der Annahme, hier liege eine combination and harmonization of the Synoptic accounts' vor, nicht

zufriedenstellend

erklärt werden

kann.

Betrachten

wir

exemplarisch einmal die Passage Joh 18,1-11 parr. Maurits SABBE (Arrest, pass.) hat den Versuch unternommen zu zeigen, daß Johannes seine Perikope von der Gefangennahme Jesu allein aus Synoptikermaterial konstruiert hat. Nach Sabbe komponiert er den Text seines Evangeliums, indem er Stoffe aus allen drei Synoptikern übernimmt, wobei er in seinen Quellen häufig mehrere Kapitel springt, gleichzeitig auch von einem Evangelium zum anderen. So könne z.B. das δεξιού in Joh 18,10 "be explained as a ... Johannine alteration of the Markan text .... (U)sing a generally known topic, he was simultaneously inspired not so much by the instance of Lk 22,50 but also by Mt 5,29.30" (227f.). 33

Gegen dieses Erklärungsmodell ist zunächst ein textgeschichtlicher Einwand zu erheben: Seine Voraussetzung, Johannes habe die drei synoptischen Evangelien schriftlich vor sich liegen gehabt, ist höchst problematisch, da der Vier- (bzw. Drei-) Evangelienkanon ein relativ spätes Produkt ist. Offensichtlich "hat es lange gedauert, bis man in einer Gemeinde mehr als eine Evangelienschrift gebrauchte. 34 Erst um 180 ist das τετραευαγγέλιον ... allgemein bekannt und anerkannt." Papyri, die den Text von mehr als einem Evangelium enthalten, begegnen dementsprechend zuerst im 3. Jahrhundert (und auch da nur ganz vereinzelt: Ρ 4 5 , P 7 5 ) .

und 7,44, ή'ρξατο könnte auf Tradition hinweisen (so JEREMIAS, Sprache 169 — anders SABBE, Anointing 2073 A 47). 31 Cf. DAUER, Johannes 204; GREEN, Death 109; WAGNER, Auferstehung 375ff. 32 Weitere Passagen, für die eine literarische Abhängigkeit des Johannesevangeliums von den Synoptikern behauptet worden ist (s. etwa SABBE, Footwashing und KLEINKNECHT, Johannes 13, jeweils pass.), sind m.E. nicht diskussionswürdig (zu Sabbe, Arrest s. gleich; zu DAUERS (Passionsgeschichte; Johannes, jeweils pass.) Theorie s.u. 3.2.6.3). Zur Kritik an entsprechenden Ausführungen zu Joh 13 und 18,12-27 s. GREEN, Death 111-128. 33 Cf. jetzt auch GOULDER, John 237, der für Joh 1,1-4,54 zu folgendem Ergebnis kommt: "John took them in turn, as he judged best: first Mark, down to 2,12, then Matthew, for the first Jerusalem feast, then Luke from 3,22-4,54." 34 TDNT 57.

Der Wortlaut des Joh-Ev und die Synoptiker

37

Daß Johannes bereits am Ende des 1. Jahrhunderts 35 alle drei Synoptiker schriftlich 36

vorliegen hatte, ist eine ganz unwahrscheinliche Annahme. Darüber hinaus weist Sabbes Analyse auch in den Einzelexegesen eine Reihe von Problemen auf. Übliche Anhaltspunkte für Quellenbenutzung werden nicht entsprechend gewürdigt: Hapaxlegomena besagen im Grunde nichts ("why accept a hapax ... in the source? ... One cannot deny John the right to use a hap ax", ebd. 229), topographisch genaue Angaben ebenfalls nicht ("John may well dispose of a good topographical knowledge of his own", 206). Redaktionelle Änderungen gegenüber den Synoptikern bleiben oft unerklärt ("his reasons for dropping the name Gethsemane were not the same as Luke's", 207), johanneische Aussagen werden mit solchen der Synoptiker harmonisiert ("The ... verse (18,) 2 of John is a good substitute for the Synoptic account of the Gethsemane scene" (!) 211). Vor allem: Die Grenze zwischen unmittelbarer literarischer Abhängigkeit von den in ihrer Endgestalt vorliegenden Synoptikern - allein hierum geht es ja - und Abhängigkeit von synoptikerähnlichem Material verschwimmt ("here the author of the gospel was partially dependent on a Synoptic inspiration" (!) 222).37 Insgesamt dominieren Konjunktive mit der Feststellung von Möglichkeiten die Argumentation ("He could easily have been inspired by...", 215f.; "why could he not have known...", 218; "the use of the formula could easily have drawn its inspiration from...", ebd.; "the mention of Peter in the confession scene (Mk 8,27ff.) could have influenced the Johannine mention of Peter in the sword incident..." (!) 221 usw.) — Joel B. GREEN kommentiert zutreffend, es handele sich hierbei um ein "fishing for verbal agreements" (Death 113, A24). 3 8 Alle diese exegetischen Schwächen können aber nicht auf eine etwaige nachlässige Textanalyse zurückgeführt werden. Sie stellen sich vielmehr notwendig ein, sobald man versucht, die Abhängigkeitsthese en detail konsequent durchzuspielen. Sabbes Analyse bestätigt mit Nachdruck die Einsicht,

35 So die nahezu allgemein anerkannte Datierung des Joh-Ev; s. VIELHAUER, Literaturgeschichte 460; KÜMMEL, Einleitung 211; BECKER, Johannes 64-66; HAENCHEN, Johannes 80; WENGST, Gemeinde 180-182 uva. Für eine Datierung in das zweite Viertel des 2. Jahrhunderts jetzt SCHNELLE, Christologie 59 mit A51; STRECKER, Literaturgeschichte 214, die das Evangelium nach dem cy 1. Johannesbrief ansetzen und die gängige Datierung des Ρ auf das Jahr 125 problematisieren. 36 S. auch HAENCHEN, Johannes 80: "Wie unwahrscheinlich ein solches Verfahren ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß die synoptischen Evangelien gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. keineswegs überall nebeneinander von den Gemeinden gebraucht wurden. Wahrscheinlich wird eine Gemeinde froh gewesen sein, wenn sie überhaupt ein schriftliches Evangelium — es brauchte durchaus nicht ein synoptisches zu sein! — in ihrem Besitz hatte." 37 Alle Kursive hinzugefügt. 38 Nota bene, daß SCHENK sich in seinem TRE-Artikel wesentlich auf Sabbe (Arrest) beruft (s.o. A 8), dessen Analyse er mit keinem Wort kritisiert. Ein solches Vorgehen ist angesichts der offenkundigen Probleme dieses Aufsatzes — zumal in einem Standardlexikon — m.E. mißlich.

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

daB auch innerhalb des synoptikerähnlichen Materials nicht die Existenz spezifisch johanneischer Tradition strittig sein kann, sondern lediglich deren Abgrenzung.

Fazit: Nirgendwo läßt sich eine literarische Abhängigkeit des Textes des Johannesevangeliums von einem der Synoptiker mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erweisen. Die Existenz spezifisch johanneischer Tradition ist auch innerhalb des synoptikerähnlichen Materials unzweifelhaft.

3.2.3. Die Gattung des Johannesevangeliums und das Markusevangelium Johannes schreibt ein Evangelium. Setzt diese Tatsache eine literarische Verarbeitung (mindestens) des Markusevangeliums voraus? 39 Die Antwort auf diese Frage hängt, wie D. Moody SMITH jüngst hervorgehoben hat (Gospel Genre, pass.), zu einem Teil mit der anderen nach den Entstehungsbedingungen und dem Wesen der Gattung "Evangelium' zusammen. Markiert das Markusevangelium einen kreativen Neueinsatz? Oder wächst es organisch aus der Entwicklung der Tradition heraus? Im ersten Fall wäre der Rückschluß darauf, daß Johannes von der Existenz eines solchen Tivangeliums' Kenntnis hatte, zwingend — mehr allerdings nicht: Ein weitergehender Rückschluß auf eine literarische Verarbeitung ist nicht zu begründen. Im zweiten Fall fällt das Argument in unserem Zusammenhang gänzlich aus. Dann gilt z.B.: "if Mark introduced the gospel genre into the early church, and that genre was a Christian expression of the widespread phenomenon of religious biography, it certainly is arguable that what Mark did, another (John?) might easily have done also, and independently" (ebd. 1791 A 39). Zu beachten ist auch der weitergehende Vorschlag James M. ROBINSONS: Er geht von der auffälligen Tatsache aus, daß sowohl Lukas als auch Matthäus unabhängig voneinander das Markusevangelium um Stoffe aus der Logienquelle Q, eine Kindheitsgeschichte sowie Erscheinungen des Auferstandenen erweitert haben, und äußert nun die Vermutung, daß im Falle von Mk und Joh eine analoges Phänomen vorliegen könnte: "eine ähnliche, beiden gemeinsame strukturelle Stellung innerhalb der Entwicklungslinie des Evangeliums (könnte) die Ähnlichkeit der Form auch im Falle von Markus und Johannes erklären" (Entwicklungslinie 248). Voraussetzung dieser Vermutung ist freilich eine sehr weit vorangeschrittene Quellentheorie, die damit rechnet, daß sowohl Joh als auch Mk eine Passionsquelle und eine Wundergeschichtensammlung

39 So etwa SCHNELLE, Johannes 1801-1805.

Synoptikerlektüre der Adressaten des Joh-Ev?

39

vorlag. Robinsons Vorschlag kann daher nur diejenigen überzeugen, die ein Bild von der Entstehung der Evangelien haben, das dem der 'klassischen' Formgeschichte nahesteht. 4 0 Fazit: Die Tatsache, daß Johannes ein »Evangelium« schrieb, läßt allenfalls darauf schließen, daß er von der Existenz

(mindestens)

einer

derartigen

Schrift wußte. D. Moody SMITH resümiert mit Recht: "Mark may have provided the inspiration for the drawing together of material into a gospel, although I remain unconvinced that this could not have been done independently" (John 1980, 170). Ein weitergehender Rückschluß auf eine literarische Verarbeitung (eines) der synoptischen Evangelien ist in beiden Fällen nicht möglich.

3.2.4. Setzt das Johannesevangelium eine Synoptikerlektüre der Adressaten voraus? An einigen Stellen setzt das Johannesevangelium bei seinen Leser(inne)n offenbar Kenntnisse über einen nicht von ihm, wohl aber von einem der Synoptiker berichteten Sachverhalt voraus: Joh l,32f.: die Taufe Jesu; 3,24: die Verhaftung des Täufers; 6,67: die Auswahl der Zwölf; und vielleicht 18,24.28: die Verhandlung vor Kaiaphas. 41 Geht Johannes also davon aus, daß seine Adressaten einen oder mehrere der Synoptiker gelesen haben? Joseph BLINZLER führt die genannten Stellen unter den "wichtigsten positiven Indizien für eine Bekanntschaft des vierten Evangelisten mit den Syn(optikern)" an erster Stelle an (Johannes 52f.). Hingegen sind alle Indizien äußerst vage: die Taufe Jesu durch Johannes ist in l,32f. nicht notwendig vorausgesetzt, und die Existenz des Zwölferkreises sowie die Information über die Verhaftung des Täufers 40 Ablehnend urteilen etwa NEIRYNCK, John 80 A 29 ("for a 'solution see ... J.M. Robinson"); STRECKER, Literaturgeschichte 213 A 420; zum selben SchluB kommt BECKER, Johannes 45-47: der Evangelist hat, durch seine Vorlagen Semeiaquelle und Passionsbericht bestimmt, "die Textsorte nochmals im Rahmen des joh Traditionskreises konstituierte..). Er war also ein zweiter Mk" (47). 41 Cf. die Liste bei BLINZLER, Johannes 52f. Die weiteren von ihm aufgeführten Stellen (Joh 1,25; 2,23 usw.; 6,53f.; 12,14.16.27; 18,40; 20,lf.) sind m.E. nicht diskussionswürdig. BUSSE hat jetzt zu zeigen versucht, daB Joh 11,2 "Kenntnis von synoptischem Erzählgut voraussetzt. Denn der Leser konnte bei der Anspielung auf die Salbung nicht wissen, daB der Evangelist diese Episode noch erzählen wollte" (Lazarusperikope 300). Dagegen: 11,2 setzt keine der synoptischen, sondern eindeutig die johanneische Version der Salbungsgeschichte voraus (Maria salbt die FUBe Jesu mit Öl und trocknet dieses mit ihren Haaren ab: so nur Joh 12,3) und ist daher am besten als späte Glosse zu interpretieren (so etwa BECKER, Johannes 406).

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

kann den Leser(inne)n des Evangeliums sehr wohl aus anderweitiger (cf. nur 1 Kor 15,5; AJ XVIII 5,2 (116-119)) oder »vorsynoptischer« Tradition bekannt sein. 42 18,24.28 zwar versteht sich in der Tat "jedenfalls am besten, wenn der Vf. annimmt, die Leser wüBten über die Kaiphasverhandlung schon Bescheid" (ebd. 53 A37); aber die Probleme der bekanntlich ziemlich rätselhaften Passage 18,13-28a sind derart komplex, daß von hier aus kaum ein Urteil in unserer Frage gefällt werden kann.4'3 Fazit: Es ist schwerlich zu erweisen, daß Johannes bei seinen Leser(inne)n Informationen voraussetzt, die diese nur aus einer Synoptikerlektüre bezogen haben könnten.

3.2.5. Zwischenergebnis Weder (1) die Komposition noch (2) der Wortlaut des Johannesevangeliums weisen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf eine literarische Abhängigkeit von einem oder mehreren der synoptischen Evangelien hin. (3) Die Tatsache, daß Johannes ein »Evangelium« schreibt, läßt nicht zwingend darauf schließen, daß er (mindestens) Markus literarisch verarbeitet hat. (4) Es läßt sich nicht erweisen, daß der vierte Evangelist bei seinen Adressaten Kenntnisse voraussetzt, die diese nur aus einer Synoptikerlektüre bezogen haben könnten. 4 4 Auf der anderen Seite gibt es (5) vielfältige Differenzen zwischen dem Johannesevangelium und den Synoptikern - unterschiedlicher Aufbau des Evangeliums; äußerst geringe Zahl gemeinsamer Perikopen außerhalb der Passionsund Auferstehungsgeschichten; geringe wörtliche Übereinstimmung mit einem der Synoptiker, usw. (6) Es ist evident, daß der vierte Evangelist eigenes Quellenmaterial verarbeitet hat. (7) Es ist sehr fraglich, ob es zur Zeit der Entstehung des Johannesevangeliums bereits einen Drei-Evangelienkanon gab.

42 Eine Korrektur der synoptischen Konzeption ist in 3,24 im übrigen nicht notwendig gegeben; der Vers will vielmehr "vor allem begründen, wie ein solches Nebeneinander Jesu und des Johannes möglich war" (HAENCHEN, Johannes 231). 43 S. dazu u. 7.6.5. 44 Cf. auch das Resümee von BARRETT, John 45, der — obwohl er von der literarischen Abhängigkeit des Joh-Ev von Mk überzeugt ist — festhält: "The parallels (between Mark and John, der Vf.) cannot even prove that John had read the book we know as Mark. Anyone who prefers to say, 'Not Mark, but the oral tradition on which Mark was based', or 'Not Mark, but a written source on which Mark drew', may claim that his hypothesis fits the evidence equally well" (John 45).

Die komplexen Erklärungsmodelle

41

Aus all diesen Gründen wird die Hypothese, Johannes habe die Synoptiker nicht als Quellen verwendet, den Problemen erheblich besser gerecht: "(D)as 4. Evangelium verwertet Traditionen, die sich nur gelegentlich mit den synoptischen berühren, aber in viel stärkerem Maße von ihnen abweichen." 45

3.2.6. Die wichtigsten komplexen Erklärungsmodelle Weil die Theorie einer unmittelbaren literarischen Abhängigkeit des Johannesevangeliums von einem oder mehreren der Synoptiker den Problemen kaum in zufriedenstellender Weise gerecht wird, treten in der Regel komplexere Erklärungsmodelle an ihre Stelle. Deren wichtigste seien hier kurz vorgestellt und kritisiert.

3.2.6.1. Eigenständige Grundschrift und spätere Auffüllung mit Synoptikermaterial Dieses wesentlich auf Eduard SCHWARTZ (Aporien, pass.) zurückgehende Modell wird in neuerer Zeit insbesondere von Hartwig THYEN und seinem Schüler Wolfgang LANGBRANDTNER vertreten. 46 Thyen rechnet damit, daß dem Johannesevangelium eine eigenständige »Grundschrift« zugrundeliegt, die in wesentlichen Passagen erst sekundär an die Synoptiker angeglichen worden ist, und zwar von einem »Redaktor«, der kein anderer als der »Evangelist« selbst war. Er hat diese These vor allem an den Lieblingsjüngertexten im Joh-Ev erarbeitet. Im Gegensatz etwa zu Rudolf BULTMANN ist er der Meinung, daß sie sämtlich von der Redaktion nachgetragen worden sind. 47 Der Vorteil dieser Hypothese gegenüber der »einfachen« Theorie literarischer Abhängigkeit besteht darin, daß sie zu einem gewissen Grad erklären kann, warum die Berührungen des Joh-Ev mit den Synoptikern im ganzen gering sind und warum sie verstärkt in den Passions- und Auferstehungsgeschichten

45 HAENCHEN, Johannes 81. 46 Cf. darüber hinaus die analogen Modelle von BAUM-BODENBENDER, Hoheit, 218f. ; SCHENKE, Szenarium, 202f. Ähnlich auch MENDNER, Problem pass, mit Fazit auf S. 306f., dessen Theorie allerdings noch komplexer ist (gegenseitige Beeinflussung von Johannes und den Synoptikern). 47 So schon Joh 13, 352 (u.ö.). Ich behalte aus Verständnisgründen im folgenden die übliche Bedeutung der termini »Evangelist« und »Redaktion« bei.

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

auftreten. Neben anderen 4 8 wären demnach folgende Verse sekundär nachgetragen: Joh 13,20-26.34-38; 18,15-18.25-27; 19,25-27; 20,2-10. 4 9 Dazu: (1) Joh 13,20-26: Thy en begründet den sekundären Charakter dieser Verse mit den klaren Spannungen, die der Text aufweist. Zu V.26 stehe die Reaktion der Jünger in V. 28f. in "krassem Widerspruch" (Joh 13, 353). Das ist in der Tat richtig. Allerdings wird man dem Text erheblich besser gerecht, wenn man V.28f. als "Einfügung des Ev(an)gelisten in seine Quelle" 50 versteht und die Redaktion allein in V.23-25 am Werk findet. 51 Bei Thyens Analyse, nach der V.27 unmittelbar an V.19 anschloß, bleibt völlig unklar, was dann in 27 mit μετά τό ψωμιού gemeint 52

sein soll. Vor allem aber ist eine Ausdehnung des redaktionellen Nachtrags bis hin zu V.20 schlechterdings unbegründbar. (2) Joh 13,34-38; 18,15-18.25-27: Thyen vermutet, daß die gesamte Petrusverleugnung samt Ankündigung erst sekundär in die »Grundschrift« eingetragen wurde.

48 Dazu: THYEN, Johannes 204f.; LANGBRANDTNER, Gott 106. Ich beschränke mich im folgenden auf die Lieblingsjüngerpassagen. 49 THYEN, Joh 13, 352f.; ders., Entwicklungen 276ff.; ders., 1977, 249-253; ders., Johannes 205 — mit allerdings nicht immer identischen Angaben. LANGBRANDTNER weist im Umkreis der Lieblingsjüngerpassagen Joh 13,20-26.34-38; 18,13-18.24-27; 19,25-27; 20,2-10 der Redaktion zu (Gott 1-83; Liste auf S. 106). Thyen stimmt seiner Rekonstruktion "weitgehend zu" (1977, 239). 50 BULTMANN, Johannes 366; ebenso BECKER, Johannes 515 u.a. 51 So etwa BECKER, Johannes 515f. Vor allem an der Passage Joh 13,23-26 entscheidet sich die grundsätzliche Frage, ob die Lieblingsjüngertexte in Joh 1-20 auf den Evangelisten oder die Redaktion zurückgehen. Wenngleich in dieser Frage keine Sicherheit zu gewinnen ist, ist m.E. die zweite Position die bessere: (l) Das 21. Kapitel des Evangeliums zeugt vom herausragenden Interesse der Redaktion an dieser Figur und ihrem Verhältnis zu Jesus und Petrus; um eben dieses Thema geht es in Joh 13,23-25; 18,15-17; 20,2-10. (2) Immer dann, wenn der Lieblingsjünger in Joh 1-20 in Erscheinung tritt, weist der Text klare Spannungen auf (vor allem in Joh 13,20-30 und 20,1-10, aber auch in 18,15-17 und 19,25-27, dazu s. gleich und u. 7.6.5/7.6.8). (3) 13,23-25 und 13,28f. lassen sich besser interpretieren, wenn man hier mit zwei verschiedenen Händen rechnet (s. Becker, ebd. 512ff.). 52 LANGBRANDTNER, Gott 54 A 4 streicht konsequent μετά τό ψωμίον in V.27 und λαβών οδν τό ψωμίον in V.30 aus der Grundschrift und substituiert Ίούδαν fiir εκείνον in V.27. Dadurch fällt zwar das o.g. Problem weg. Hingegen wird dann der Anschluß von V.27 an V. 19 ebenso hölzern wie der Anschluß von V.30 an V.29. Vor allem aber eskamotiert die Konjektur das inhaltliche Problem, um das es geht: Gerne konzediere ich die Möglichkeit einer redaktionellen Glättung im Übergangsbereich zwischen »Grundschrift« und »Redaktion«, d.h. in diesem Fall in V.27, nicht aber in V.30; hier wird der Eingriff in den Text doch etwas willkürlich.

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Die komplexen Erklärungsmodelle

Eine Begründung für diese These hat er bisher m.W. nicht gegeben. 53 Zur Ankündigung der Petrusverleugnung vermerkt er lediglich, daB sie "den festen Zusammenhang von 13,33 und 14,lff." unterbreche (Johannes, 205). Der Zusammenhang zwischen 14,Iff. und 13,33 ist aber ebenso fest - oder genauer: locker, wie der 54

zwischen 14,1 und 13,38. Lediglich die Einfuhrung des Lieb lingsjüngers in 18,15b. 16 wird der Redaktion zuzuschreiben sein. 55 (3) Joh 19,25-27: Thyen begründet seine Einschätzung der Verse 25-27 als eines redaktionellen Nachtrags damit, daB "die Szene einschließlich des gesamten V.25 durch seine (des »Evangelisten«) Handschrift und seine Interessen geprägt" sei (1977, 249). Aber wo ist in V.25 ein 'Interesse' zu spüren? Überzeugend ist allein die Zuweisung von V.26f. zur Redaktion. Freilich kann V.25 an dieser Stelle unmöglich allein gestanden haben. Man muß daher — mit Jürgen BECKER — annehmen, daß die Redaktion ihn von seinem ursprünglichen Platz (zwischen V. 30+31) hierher transponiert hat (Johannes 697f.). (4) Joh 20,2-10: Deutlich ist, daB der Bericht über die Erscheinung des Auferstandenen vor Maria Magdalena (20,1.11-18) "ganz offensichtlich durch die V.2-10 unterbrochen (wird), die inhaltlich ... zum Kontext in großen Spannungen stehen." 56 Hingegen ist auch die Passage 20,2-10 offenbar in sich literarisch mehrschichtig, wie vor allem der fundamentale Widerspruch zwischen V.8 und V.9 zeigt (der Lieblingsjünger glaubt, 'weil sie die Schrift noch nicht verstanden). Eine Zuweisung des gesamten Abschnittes zur Redaktion ist daher kaum sachgemäß. Vielmehr werden auch hier nur die Lieblingsjüngerpassagen im engen Sinn (V.2 X .3 X .4.6.8) sekundär sein. 57 Fazit: Wahrscheinlich sehen Hartwig Thyen und Wolfgang Langbrandtner in der grundsätzlichen Frage der Zuordnung der Lieblingsjüngertexte zur Redaktion des Johannesevangeliums

richtig.58

Die sehr weitläufigen Abgrenzungen

der redaktionellen Ergänzungen überzeugen jedoch nicht. Die Hypothese der

53 Cf. THYEN, 1977, 249: "Ich vermute" mit Verweis auf: ders., Entwicklungen 281 (dort steht allerdings gar nichts zu dieser Frage); ebenso ders., Johannes 205: "Möglicherweise ..." Auch LANGBRANDTNER, Gott 44-46 bietet kein überzeugendes Argument. 54 Dazu: NEIRYNCK, other disciple, pass. 55 S. dazu BECKER, Johannes 650ff.. Zur genaueren Differenzierung s.u. 7.6.5. 56 LANGBRANDTNER, Gott 30. Zu weiteren Spannungen s. BULTMANN, Johannes 528; HARTMANN, Osterberichte 197-204; BECKER, Johannes 716f.. NEIRYNCK stellt diese Spannungen neuerdings offenbar in Abrede (Empty Tomb 178). Er spricht von ihnen nur in Anführungszeichen ('tensions'), unterschlägt das Problem von V.2 und fragt schließlich mit Bezug auf V.4: "Is it not an impertinent question (!) to ask how Mary came back to the tomb ?" 57 So auch BECKER, Johannes 714-723, insbesondere 719f.; cf. MYLLYKOSKI, Letzte Tage II 385-388. 58 So auch BECKER, Johannes 516-523 und bereits SCHWARTZ, Johannes, pass.; cf. auch HEITMÜLLER, Johannes-Tradition 204.

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

sekundären Auffüllung einer »Grundschrift« mit Synoptikermaterial ist daher nicht aufrechtzuerhalten.

3.2.6.2. Geringfügige sekundäre Angleichungen des Johannesevangeliums an die »synoptische Tradition« Dieses nach Vorgang von Julius WELLHAUSEN vor allem von Rudolf BULTMANN und Ernst HAENCHEN vertretene Modell rechnet damit, daß der Text des Johannesevangeliums lediglich an einigen wenigen Stellen sekundär von der Redaktion (oder einem Glossator) 59 an die »synoptische Tradition« angeglichen wurde. Hoch gehandelt werden in diesem Zusammenhang insbesondere die Verse l,22-24.26f.; 60 3,24;" 12,14f.;62 18,13f.24.28a;63 20,3-8. 64 Eine Beurteilung dieser Theorie ist ausgesprochen schwierig. Läßt man sich probeweise einmal auf sie ein, lassen sich zweifellos die meisten der angeführten Stellen relativ gut interpretieren. Hingegen ist es - sofern der Nachweis für einen redaktionellen Eingriff überhaupt mit einiger Wahrscheinlichkeit zu fuhren ist - keinesfalls deutlich, daß der Kenntnis der synoptischen Tradition eine literarische Benutzung (eines) der Synoptiker zugrundeliegt.65 Die bewußt vage gehaltenen Formulierungen sind in dieser Hinsicht vielsagend: "Angleichung an die synopt(ische) Tradition", "mündliche Kenntnis der synoptischen Tradition", usw. 66 Ich schließe daher mit Raymond E. BROWN: "(S)uch close parallels can also be explained in terms of dependence on similar early traditions, and so we find no absolutely compelling reason to posit Johannine dependence on the Synoptics even on this rather superficial level of borrowing incidental details. There are editorial remarks, like III 24, which show awareness of details about the life of Jesus that have not been mentioned in the gospel proper, but again this is no clear proof of dependence on the Synoptics" (John XXXVIII).

59 60 61 62 63 64 65 66

So WELLHAUSEN (zu den Belegen s. gleich). BULTMANN, Johannes 57Î.63 A l . A4; HAENCHEN, Johannes 157f. WELLHAUSEN, Johannis 18f.; BULTMANN, Johannes 124 A7. So - unentschlossen — BULTMANN, Johannes 319 mit A 4 ; dezidierter WAGNER, Auferstehung 170-178. WELLHAUSEN, Erweiterungen 25f. HAENCHEN, Johannes 568. Das Problem ist damit ähnlich gelagert wie das oben (3.2.4) diskutierte. BULTMANN, Johannes 63 A l ; WAGNER, Auferstehung 175.

Die komplexen Erklärungsmodelle

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3.2.6.3. Geringfügige Beeinflussung der Tradition des Johannesevangeliums durch die Synoptiker Dieses Modell ist nach Vorgang von Nils A. DAHL (Passionsgeschichte 21f.) und Peder BORGEN (John, pass.) wirkungskräftig von Anton DAUER in die Diskussion eingebracht worden. Danach basiert das Johannesevangelium auf 'durchaus selbständiger Überlieferung', die aber "verschiedentlich von den synoptischen Berichten beeinflußt worden" ist (Passionsgeschichte 336). 67 In der johanneischen Tradition sei ein "Ineinanderfließen von mündlicher und schriftlicher Tradition (= Synoptiker)" zu beobachten (ebd.; ähnlich Synedriumsverhandlung 338f.). Dazu: Dauer müBte, um seine Hypothese stichhaltig zu begründen, sowohl erweisen, daß der Text der johanneischen Passionsgeschichte an bestimmten Stellen von redaktionellen Synoptikerpassagen abhängig ist, als auch, daB diese Übereinstim68

mungen nicht auf das Konto des Evangelisten, sondern seiner Tradition gehen. Dieser Nachweis scheint mir nicht gelungen zu sein. Von den von Dauer angeführten Stellen (ebd. 49-61.91-99.146-164.216-227) sind m.E. fünf diskussionswürdig: 69 (l) die Überlieferung einer Antwort Jesu auf den »Schwertstreich« Joh 18,11 par Mt 26,52 (ebd. 51); (2) das Abschlagen des rechten Ohres Joh 18,10 par Lk 22,50 (57); (3) die Nennung des Kaiaphas in Joh 18,13f. par Mt 26,57 (96); (4) die Erwähnung des βημα in Joh 19,13 par Mt 27,19 (155); (5) die dreimalige Unschuldserklärung des Pilatus Joh 18,38; 19,4.6 par Lk 23,4.14.22 (156-162). Aber auch in diesen fünf Fällen ist keine Sicherheit zu erreichen: "Luke may well have derived 70 from 'L' the tradition of Pilate's triple declaration of Jesus' innocence" , und die vier anderen, im übrigen ja nur selten wörtlichen Ubereinstimmungen lassen sich — wie Dauer zum Teil selbst zugesteht —71 zwanglos als zufällige72 verstehen: Sie alle liegen im Trend der Entwicklung der synoptischen Tradition.

67 Der zitierte Satz bezieht sich zunächst nur auf die joh Passionsgeschichte, auf deren Analyse ich meine Kritik im folgenden aus Platzgründen beschränke. Später kommt DAUER dann aber für die drei übrigen von ihm analysierten Perikopen (Joh 4,46-54; 12,1-8; 20,19-29) zum selben Ergebnis: Johannes 297-299. 68 S. zu letzterem die Kritik von THYEN, Johannes 208, der Dauer vorwirft, seine These sei unökonomisch, und fragt: 'Warum sollen dann eigentlich nicht die Synoptiker selbst die gesuchte Quelle sein?' 69 Zu den im folgenden genannten und einigen weiteren Lk/Joh-Übereinstimmungen s. auch u. 4.6. 70 FITZMYER, Luke 1472. 71 "Zugegeben, manche dieser Ubereinstimmungen mögen zufällig und darin begründet sein, daß eben dieselben Vorgänge berichtet werden" (DAUER, Passionsgeschichte 91 u.ö.). 72 S. dazu vor allem BULTMANN, GST 303-308.335-346 und u. 7.6.

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

Fazit: Eine Beeinflussung der johanneischen Tradition durch redaktionelle Synoptikerpassagen läßt sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erweisen. Die Annahme, die johanneisch-synoptischen Übereinstimmungen gingen auf die Reproduktion gemeinsamer Tradition zurück oder seien zufällig, erklärt den Text in vollauf zufriedenstellender Weise. 73

3.2.6.4. Wiedergabe der Synoptiker aus dem Gedächtnis Der entscheidende Unterschied zwischen dieser vor allem von Werner G. KÜMMEL und Joseph BLINZLER vertretenen Hypothese und dem »einfachen« Modell literarischer Abhängigkeit besteht darin, daß ihre Vertreter jenes soweit ermäßigen, daß sie lediglich mit einer Wiedergabe der Synoptiker aus dem Gedächtnis rechnen. Die Vorstellung ist etwa diese: Johannes wußte nicht nur von der Existenz der Synoptiker, sondern hatte auch Kenntnis von ihrem Inhalt, sei es durch private Lektüre, sei es durch Vortrag im Gottesdienst. Als er sein Evangelium schrieb, baute er Teile der Synoptiker darin ein - soweit er sich erinnerte und soweit er sie als passend empfand. 74 Diese These sucht die Vorteile der Theorie unmittelbarer literarischer Abhängigkeit zu bewahren und deren Nachteile zu vermeiden. Sie kann im Einzelfall sowohl die Übereinstimmungen zwischen Johannes und den Synoptikern als auch die Differenzen relativ leicht erklären. Sie erlangt diesen Vorteil durch die Einführung der Erinnerung des Johannes, d.h. faktisch durch die Einführung eines Zufallsprinzips·. "Der Verf. hat offensichtlich die Ew. des Mk und Lk im Kopf und verwertet sie, soweit es ihm sachdienlich erscheint, nach dem Gedächtnis."15 Kritisch ist dazu folgendes zu bemerken: (l) Auch hier besteht wieder das Problem, daß die Beweislast der Unabhängigkeitstheorie aufgebürdet wird. Kümmel formuliert: die Gegenargumente "reichen schwerlich aus, um die Annahme einer Kenntnis oder Benutzung der Syn(o)pt(iker) durch Joh auszuschließen" (Einleitung 168). Voraussetzung dieses Satzes ist: 'Kenntnis oder Benutzung' ist die einfachere

73 Auch gegen BECKER, Johannes 44.640, der mit Dauers These arbeitet, obwohl er der Meinung ist, daß dieser "die Beweisführung für lk-redaktionelle Elemente oft überschätzt" (640). 74 KÜMMEL, Einleitung 170; BLINZLER; Johannes 59 A50; cf. auch FLOWERS, Mark 236 (NEIRYNCK, John 74f. verweist zu Recht darauf, daß der sowohl von Kümmel (ebd. 169f.) als auch von Blinzler (ebd. 37f.) angeführte kleine Aufsatz von LEE (Mark, pass.) lediglich eine "literal copy" der Studie von Flowers ist). 75 KÜMMEL, Einleitung 170. Hier und beim folgenden Zitat: Kursive hinzugefügt.

Die komplexen Erklärungsmodelle

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Hypothese. Diese Voraussetzung ist — wie unter 3.2.0 dargelegt — im Fall des Johannesevangeliums aber nicht sachgerecht. (2) Es ist sehr fraglich, ob die vielfältigen Probleme des Verhältnisses Joh-Ev/ Synoptiker durch die Einführung der Größe der »Erinnerung« des Evangelisten wirklich und nicht vielmehr nur scheinbar geklärt werden können. Ich notiere einige Anfragen, die - mutatis mutandis - denen entsprechen, die oben gegen das Modell direkter literarischer Abhängigkeit vorgebracht worden sind: Die Vertreter der These mUBten erklären, aus welchem Grund das Erinnerungsvermögen des Johannes insgesamt sehr schlecht, bei der Passionsüberlieferung erstaunlicherweise aber recht gut ist. Sie mUBten weiter erklären, wie es dazu kommt, daB der vierte Evangelist sich in völlig peripheren Passagen die Begriffe (eines) der Synoptiker genau gemerkt hat und sie zum Teil sogar gegen seinen eigenen Sprachgebrauch beibehält, 76 obwohl er sich an zentrale Passagen der synoptischen Evangelien nur ganz unzureichend 77

erinnert. Kurz: Sie müBten ein leitendes Motiv für die johanneische Erinnerung angeben können. Es sei sofort vermerkt, daB die theologische Tendenz des Johannes als Leitmotiv seiner »Erinnerung« nicht taugt: denn es gibt sowohl eine Reihe synoptischer Passagen mit »johanneischem Klang«, die wir bei Joh nicht finden 78 als auch solche, die er übernimmt, obwohl er sie nicht in seinem Sinn auswertet. Fazit; Der Vorteil, den die These einer gedächtnismäßigen Wiedergabe (eines) der Synoptiker durch Johannes gegenüber dem »einfachen« Modell literarischer Abhängigkeit hat, besteht in ihrer höheren Flexibilität. Sie hat zusätzlich zu den theologischen Interessen und Tendenzen des Evangelisten die flexible,

weil z.T. zufällige Größe der joh Erinnerung auf ihrer Seite. Jedoch

kann auch eine Kombination dieser beiden Gestaltungsprinzipien die Gestalt des Textes des vierten Evangeliums nicht zufriedenstellend erklären. 79

76 Das m.E. schlagendste Beispiel ist die Verwendung des Begriffes ώτάριου in Joh 18,10 par Mk 14,47: In seiner Rückblende in 18,26 korrigiert Johannes diesen Begriff in das gängige ώτιον. Dazu s.u. 7.7.2. 77 Cf. z.B. das Petrusbekenntnis in Joh 6,69 par Mk 8,29, wo nicht einmal der zentrale christologische Titel übereinstimmt. Joh bietet hier den Terminus δ άγιος τοΰ θεού, der im gesamten Evangelium nur hier steht und somit schwerlich redaktionell ist. 78 Zum ersten cf. wiederum etwa Lk 22,53b; Mt 11,25-27, die Verklärungsgeschichte, usw.; dazu CRIBBS, Contacts 7 und pass. Zum zweiten s. etwa DIBELIUS, FdE 204 A4. Er nennt "Todesdatum, Verräterprophezeiung, Verleugnung des Petrus, Verurteilung auf Gabbatha, Verlosung des Mantels, Unterlassung des crurifragiums." Zustimmend: BULTMANN, Johannes 491. 79 Es sei am Rande vermerkt, daß KÜMMELS Versuch, seine These durch eine kurze Analyse der Salbungsgeschichte zu erhärten (Einleitung 169), m.E. im Ansatz verfehlt ist, weil er dabei auf der Basis eines literarischen Verhältnisses zwischen Lk und Joh argumentiert. M.E. stützt der Text von Joh 12,3-8 seine These nicht nur nicht, sondern widerspricht ihr geradezu. Denn bei Annahme einer freien, gedächtnismäßigen Wiedergabe von Mk und Lk (so 170) ist die Ent-

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Das Verhältnis des Joh-Ev zu den Synoptikern

3.2.6.5. Fazit Keines der analysierten komplexen Erklärungsmodelle verdient den Vorzug vor dem einfachen Modell, das Johannesevangelium basiere auf eigenständiger, von den synoptischen Evangelien unabhängiger Tradition. Selbstverständlich lassen sich einige wenige Texte besser erklären, sobald man die Hypothese kompliziert und annimmt, es gebe auf der Ebene der Redaktion bzw. der Tradition Querverbindungen zwischen dem vierten Evangelium und den Synoptikern bzw. der »synoptischen Tradition«. Hingegen sind derartige Annahmen nicht hinreichend zu verifizieren, und der Zugewinn an Erklärungskraft vermag den Verlust der Ökonomie des Modells nicht zu kompensieren. Nicht zuletzt aus methodischen Gründen ist daher mit Jürgen BECKER (Johannes 1 38) folgender Gesamtthese der Vorzug zu geben: "Der joh Gemeindeverband kennt auf keiner theologiegeschichtlichen Stufe auch nur eines der synoptischen Evangelien."80

3.3. Ergebnis An keiner Stelle des Johannesevangeliums und auf keiner seiner theologiegeschichtlichen Ebenen ist eine literarische Abhängigkeit von den Synoptikern mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachweisbar. Umgekehrt sprechen vielmehr sowohl der Aufbau als auch der Wortlaut des vierten Evangeliums mit Nachdruck dafür, daß es auf von den synoptischen Evangelien unabhängiger Tradition beruht. Die Tatsache, daß Johannes ein »Evangelium« schreibt - im ganzen noch der gewichtigste Einwand —, stellt diese Hypothese nicht ernsthaft in Frage. Formulieren wir das Fazit in Anlehnung an Percival GARDNER-SMITH (John X): 'it is easier to account for the similarities between St John and the Synoptists without a theory of literary dependence than to explain the discrepancies if such a theory is accepted.' stehung eines derart rätselhaften Textes nicht vorstellbar (es sei denn, man nimmt an, der Text sei verderbt oder Joh habe ihn bewußt so gestaltet; in beiden Fällen würde der Text aber für alle Thesen als Argument ausscheiden). 80 Etwas anders jetzt BECKER, Johannes 45: "Der joh Gemeindeverband besitzt offenkundig auf keiner theologiegeschichtlichen Stufe auch nur eines der synoptischen Evangelien" (Kursive hinzugefügt). Mit dieser neuen Formulierung sucht Becker offenkundig eine gewisse Unscharfe in der ersten Auflage seines Kommentars auszuräumen, die darin besteht, daB er ja trotz des oben zitierten Satzes mit Dauers Modell (s.o. 3.2.6.3) arbeitet. M.E. ist der stärkere Satz der ersten Auflage der sachgemäßere (s.o. 3.2.6.3 und u. 4.6 - Exkurs sowie 7.7.2, Anm. 301).

4. Das Problem einer besonderen lukanischen Passionsquelle

4.1. Einleitung Das Problem der Existenz einer Sonderquelle für die lukanische Passionsdarstellung gehört zu den Dauerthemen der Lukasexegese. Der Text in den Kapiteln 22,1 - 24,12 ist - so scheint es - derart komplex, daß zur Klärung seiner Genese immer wieder zwei diametral entgegengesetzte Modelle vorgeschlagen werden konnten. Zum einen: Lukas basiere hier ausschließlich oder fast ausschließlich auf einer nichtmarkinischen Quelle. Zum anderen: Lukas basiere hier wesentlich auf Mk, dessen Text er lediglich stark redigiere und durch Sondertraditionen ergänze. 1 In diesem Jahrhundert wird die These der Existenz eines PB Lk2 vor allem in England immer wieder vertreten, während insbesondere die deutsche Exegese hier zurückhaltender ist. Diese forschungsgeschichtliche Kluft geht zu einem großen Teil zurück auf die analoge Akzeptanz der Proto-Lukas-Hypothese, mit der die Annahme eines PBLk häufig einhergeht: auch sie hat in England sehr viele Befürworter, in Deutschland hingegen sehr wenige. Zuletzt ausführlich begründet wurde die Hypothese eines PBLk ¡η England durch Joel B. GREEN im Jahre 1988 (Death), in Deutschland aber bereits 1959 durch Friedrich REHKOPF (Sonderquelle), dessen Monographie bezeichnenderweise in Großbritannien erheblich stärker rezipiert wurde als hierzulande, wohl auch, weil er zugleich mit PBLk die Proto-LukasHypothese vertrat. 3

1 Es seien genannt: TAYLOR, J. JEREMIAS, SCHÜRMANN, REHKOPF, WINTER, GREEN auf der einen, LIETZMANN, BULTMANN, M. DIBELIUS, CREED, CONZELMANN, KÜMMEL, VIELHAUER, FITZMYER auf der anderen Seite (s. jeweils die op. cit.). Cf. auch die Überblicke bei Taylor, Passion 3ff. und Fitzmyer, Luke 1365f. 2 Ich nenne die postulierte spezifische lukanische Passionsquelle im Anschlug an Q L k (usw.) PB L k . 3 Cf. nur KÜMMEL, Einleitung 103; VIELHAUER, Literaturgeschichte 369 auf der einen und TAYLOR, Passion 19ff. 24ff. (und pass.) auf der anderen Seite.

50

Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

Die wichtigsten Argumente für eine besondere lukanische Passionsquelie sind folgende: (1) Der Anteil des lukanischen Sondergutes ist in seiner Passionsdarstellung relativ hoch. (2) Im Markusstoff des lukanischen Passionsberichtes ist die wörtliche Übereinstimmung mit Mk signifikant geringer als außerhalb der Passionsdarstellung. (3) In einer Reihe von Fällen geht Lukas gegen Mk mit Joh parallel. Dagegen wird eingewandt: Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit zur Annahme eines PBLk. Wie im gesamten Evangelium basiert Lk auch in seiner Passionsdarstellung auf Mk, dessen Text er durch Sondergut erweitert. Die für die Existenz von PBLk angeführten Phänomene lassen sich auf andere Weise erklären. 4 Wie sind die Argumente der beiden Positionen zu bewerten?

4.2. Klärung der Beweislast und der Fragestellung Vor Beginn der Analyse gilt es, die Beweislast festzulegen, die auch in diesem Fall entscheidenden Einfluß auf das Ergebnis hat. Es gilt: in dubio contra PBLk; die Beweislast trägt, wer für die Existenz einer besonderen lukanischen Passionsquelle plädiert. Anders als im Falle des Johannesevangeliums greift hier der Ockham'sche razor: enfia non sunt multiplicanda sine necessitate, weil wir sicher wissen, daß Lukas das Markusevangelium nicht nur benutzt, sondern (sehr wahrscheinlich) sogar zur Grundlage seines Evangeliums gemacht hat. Seine normale Vorgehensweise besteht darin, Sondergut blockartig in den Markusstoff einzufügen, den er gleichzeitig mehr oder weniger stark redigiert. Läßt sich auch die lukanische Passionsdarstellung so interpretieren? Solange nicht erwiesen werden kann, daß das lk Passionssondergut sowohl untereinander als auch notwendig mit der erzählenden Passionstradition zusammenhängt, gebührt der Hypothese, die nicht mit einem PBLk rechnet, die Priorität: sie ist die ökonomischere. In der Verkennung dieses Sachverhalts liegt das fundamentale Problem vieler Untersuchungen, die die Existenz eines PBLk nachweisen wollen bzw. für wahrscheinlich halten. Oft wird die Frage der Beweislast gar nicht diskutiert, sondern gleich in die Analyse eingestiegen. Dabei kristallisiert sich dann die PBLk-Hypothese als hervorragende Lösung der vielfältigen Textprobleme her-

4 Die Argumente werden am übersichtlichsten dargestellt von FITZMYER, Luke 1365 f.

Beweislast und Fragestellung

51

aus. Schließlich wird sie - bereits unter der Voraussetzung, sie sei die bessere Hypothese - gegen Einwände verteidigt. Dieser Mechanismus läßt sich bereits bei Vincent TAYLOR beobachten. Er erklärt die markinischen Passagen im lukanischen Passionsbericht als "insertions" aus Mk in die "non-Markan source" und verteidigt diese These dann wie folgt: "there can be no valid objection to the possibility (!) that, when Luke used Mark, he carried over from this Gospel words and phrases in the passages in question" (Passion 119). Am Ende geht er gar so weit, die Tatsache, daß die markinischen 'insertions' "occur in Luke in precisely the same relative order in which they stand in Mark" (124), als Beleg für einen schriftlichen PB Lk zu werten: "The order of the 'insertions' supplies strong confirmatory evidence in favour of ... the view that the Marken passages in Luke are rightly described as 'insertions' and 'additions' and that the non-Markan narratives are parts of an existing document" (125). Das gleiche Phänomen kann man in der neuesten ausführlichen Analyse des lukanischen Passionsberichts durch Joel B. GREEN (Death 24-104) studieren. Er argumentiert von vornherein auf der Basis der Vermutung, die Existenz eines PB Lk sei wahrscheinlich. Daher fragt er nicht - wie es notwendig wäre - : 'Wo liegt sicher nichtmarkinische Tradition vor 7, sondern: 'Wo läßt sich nicht ausschließen, daß nichtmarkinische Tradition vorliegt?'. Ich gebe einige Beispiele für diese Vorgehensweise: "For these reasons, the so-called 'parallels' do not point unambiguously to Lukan dependence on Mark..." (Death 33). "Thus, the language of this verse (22,55) can be roughly accounted for as the editorial product of Luke's hand if he had only Mark before him, but we cannot yet rule out the possibility of his having possessed and employed a further source" (62). "The language is very close to Mark's account, and one may readily suggest that here Luke has redacted his Gospel source (22,71); of course, the possibility exists that the variation stems from Luke's other source" (75). "Πράσσω (23,15) ... is probably Lukan, for it is used in Luke-Acts 18 times .... On the other hand, its use in the Third Gospel does not point unambiguously to Lukan redaction" (83). Es ist evident, daß durch diese sensu stricto verkehrte Fragerichtung das Ergebnis der Analyse präjudiziert wird. 5 Unter Berücksichtigung der korrekten Festlegung der Beweislast diskutiere ich daher die Argumente pro PB Lk unter folgender Fragestellung:

5 Ahnliches gilt i.ü. von der sehr ausführlichen und daher nur schwer zu kritisierenden Arbeit SCHÜRMANNS (i/II/III, pass.). Er klassifiziert den lukanischen Text Wort für Wort in graduell fein abgestufte Kategorien ('lk Red sicher/ wahrscheinlich/weniger wahrscheinlich/möglich/nicht beweisbar' etc. 'wahrscheinlich/vermutlich lk Red einer vorlk Trad" etc. 'vermutlich lk Red; Mk-R aber nicht beweisbar' etc.). Einige dieser Kategorien sind bezeichnend, z.B. "vermutlich lk Red; Mk-R aber nicht beweisbar" und "lk Red nicht beweisbar". Denn sie sind unter der stillschweigenden Voraussetzung formuliert, man müsse die lukanische Mk-Redaktion beweisen; de facto geht es aber darum, die Existenz nichtmarkinischer Tradition nachzuweisen.

52

Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

(1) Es ist unbestritten, daß Lukas - sollte er in seinem Markusstoff allein auf Mk basieren - Mk in seiner Passionsdarstellung stärker redigiert als sonst üblich. Nötigt diese Tatsache zur Annahme eines PB Lk , oder läßt sich der Befund auch anders erklären (4.3; 4.5)? (2) Es ist unbestritten, daß Lukas in seine Passionsdarstellung Sondergut einbringt. Die entscheidenden Fragen sind: Ist dieses Sondergut traditionell (=S Lk ) oder möglicherweise erst vom Evangelisten formuliert worden (4.4.1)? Und: Handelt es sich um ursprünglich selbständiges Material, das erst sekundär an die betreffenden Stellen transponiert worden ist, oder hat dieses S Lk ursprünglich seinen Platz in einer Passionsgeschichte (4.4.2)? (3) Auch die Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes sind deutlich. Können diese auch ohne Annahme eines PB Lk plausibel erklärt werden (4.6)? 6

4.3. Das Verhältnis des Markusstoffes im lukanischen Passionsbericht zu Mk Wenn es darum geht, wie stark die lukanische Passionsdarstellung in ihrem Markusstoff mit Mk übereinstimmt, werden in der einschlägigen Literatur häufig zwei Zahlen genannt: in seinem Passionsbericht folge Lukas Mk zu 27%, im übrigen Evangelium hingegen zu 53% (bzw. 50%).7 Vielfach sieht man in der Differenz dieser beiden Zahlen bereits ein erstes klares Indiz für P B L k . 8 Vincent TAYLOR hat nun zu Recht darauf insistiert, daß "Rejections of the hypothesis of a special Passion narrative ... with no attempt to use numerical ... methods, stand out in contrast" (Passion 35). Wir müssen uns daher kurz mit den angegebenen Prozentzahlen auseinandersetzen, die zwar prinzipiell korrekt sind, 9 aber dennoch in die Irre führen, weil sie einen hia-

6 Diese Frage wird unten als Sonderproblem behandelt werden, weil der Boden hier aufgrund der Interdependenz mit dem Problem der Entstehung des Johannesevangeliums unsicherer ist als bei den anderen beiden Argumenten für die Existenz eines PB L k . 7 S. etwa TAYLOR, Passion 32; GREEN, Death 24; TROCMË, Passion 28; FITZMYER, Luke 1365f. (die Zahlen gehen zurück auf J.C. HAWKINS'S Aufsatz "Three Limitations of St. Luke's Use of St. Mark's Gospel" in: Studies in the Synoptic Problem by Members of the University of Oxford, Hrsg. W. Sanday, 1911, S. 27-94). 8 So etwa TAYLOR, Passion 33f.; GREEN, Death 24. 9 Ich errechne für den Markusstoff im lukanischen Passionsbericht eine wörtliche

Der Mk-Stoff im lk Passionsbericht

53

tus zwischen der Redaktion des Mk-Stoffes innerhalb und außerhalb der lukanischen Passionsdarstellung suggerieren, der in dieser krassen Form nicht besteht. Denn

es

ist nicht

sachgemäß,

die lk Passionsdarstellung

unter-

schiedslos mit dem gesamten übrigen Evangelium zu vergleichen. Vielmehr muß zuvor nach

analogem

Vergleichsmaterial

Ausschau

gehalten

werden.

'Analog', d.h., gesucht wird eine längere narrative Passage, die in sich geschlossen ist, die Verbindungsverse, Querverweise, Rückbezüge etc. enthält. Nun ist bekannt, daß die Passionsgeschichte in den Evangelien hinsichtlich ihres Umfangs sowie ihrer erzählerischen Dichte eine Sonderstellung

ein-

nimmt. Insofern - und darin besteht ein erster Einwand - gibt es kein wirklich geeignetes Vergleichsmaterial. An welchen Partien des Lukasevangeliums soll man also die Vergleichszahlen ermitteln? M.E. noch am besten geeignet sind folgende zwei Texte: (1) Der 'Tag in Kapernaum' Lk 4,31-44 par Mk 1,21-39 und (2) die synoptische Apokalypse Lk 21,5-36 par Mk 13. In beiden Fällen handelt es sich um längere Einheiten, deren Einzelbestandteile durch ein gemeinsames Band verknüpft sind: hier die Einheit des Ortes, dort die Einheit des Themas. (1) Lk 4,31-44 par Mk 1,21-39: Es ist unbestritten, daß Lk hier allein auf Mk basiert. Ich zähle bei Lk ca. 265 Wörter; davon stimmen ca. 98 wörtlich bzw. ca. 125 annähernd wörtlich 10 mit Mk überein. Es ergibt sich somit eine Übereinstimmung von ca. 37%/47,5%. Zum Vergleich: in der Passionsgeschichte liegt der Wert bei ca. 27,5%/36,5%, also nur etwa 10% (absolut) niedriger. 11 (2) Lk 21,5-36 par Mk 13: Gleiches läßt sich an der synoptischen Apokalypse zeigen. Allerdings plädieren viele Anhänger der Proto-Lukas-Theorie auch hier für 12

eine Sonderquelle, mindestens für V. 20-36. Ich verwende dieses Beispiel daher unter Vorbehalt, wenngleich der Nachweis einer nicht-mk Quelle m.E. nicht gelun-

Ubereinstimmung mit Mk von ca. 27,5%. Stichproben in anderen Teilen des Evangeliums ergeben Werte von durchschnittlich etwa 50%. 10 Die zweite Zahl bezieht solche Wörter mit ein, bei denen nur die Wurzel gleich ist; sie ignoriert erkennbar red. Differenzen bei Partikeln (etwa Substitution von δέ für κοά). 11 TAYLOR, Passion 31 errechnet für Lk 4,31-44 eine "percentage of Markan words" von 52%. Trotz mehrmaliger Überprüfung fällt mein Ergebnis niedriger aus. Selbstverständlich entstehen gerade bei der Berechnung der annähernd wörtlichen Übereinstimmungen vergleichsweise große (subjektive) Toleranzen. Aus einem anderen Grund ist Taylor's Ergebnis jedoch irreführend: offenbar errechnet er die annähernd wörtlichen Übereinstimmungen, während der für die Passionsgeschichte immer wieder genannte Wert von 27% sich auf die exakt wörtlichen Übereinstimmungen bezieht. Dadurch wird eine Differenz suggeriert, die in dieser Form nicht besteht. 12 S. vor allem TAYLOR, Passion 31f.

54

Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle 13

gen ist. Ich zähle bei Lk ca. 500 Wörter; davon stimmen ca. 163 wörtlich bzw. ca. 200 annähernd wörtlich mit Mk überein. Es ergibt sich somit eine Übereinstimmung mit Mk von ca. 33%/40%. Damit beträgt die Differenz zur Passionsgeschichte nürmehr 5,5%/3,5%. 14 Fazit: Die wörtlichen Übereinstimmungen des Markusstoffes im lukanischen Passionsbericht mit Mk sind erkennbar geringer als in -

cum grano salis

-

vergleichbaren Partien des Lk-Evangeliums. Die Differenz beträgt aber nicht - wie häufig a n g e g e b e n - ca. 20% (absolut), sondern ca. 5-10 % (absolut). Man wird darin schwerlich ein erstes klares Indiz für einen schriftlichen PB Lk sehen können. Das Phänomen läßt sich vielmehr zufriedenstellend wie folgt erklären: " ( O h e smaller percentage of Marcan vocabulary means only that Luke has more heavily modified "Mk' at this part of the Gospel." 15

4.4. Das Sondergut in der lukanischen Passionsdarstellung

4.4.1. Scheidung von S L k und lukanischer Komposition Folgende Passagen in der lukanischen Passionsdarstellung sind möglicherweise nichtmarkinischen Ursprungs: Lk 22,15-18.19c-20. 21-23. 24-30. 31-34. 35-38. 1 6

13 Cf. CONZELMANN, Mitte d. Zeit, 116ff.; KÜMMEL, Einleitung 102f.; FITZMYER, Luke 1326ff. 14 Selbstverständlich steigt der hier errechnete relativ sehr niedrige Wert von 33/40% sofort wieder an, wenn man das offensichtlich spezifisch lukanische »Schlußwort« 21,34-36 nicht mitrechnet (sei es, daß man es für S L k oder für lk Red hält; cf. FITZMYER, Luke 1354f.), und zwar auf etwa 37/44%. Im Gegenzug dürfte man dann allerdings auch die analogen Partien im Mk-Stoff des lk Passionsberichtes nicht rechnen. Streicht man probeweise nur einmal die offensichtlich spezifisch lk Passagen 22,15-17.31f. und 23,2b.4b.5, erhält man einen Wert von ca. 29,5/39,5%. In beiden Fällen liegt die Differenz deutlich unter 10%, bei den annähernd wörtlichen Ubereinstimmungen wiederum sogar unter 5%. 15 FITZMYER, Luke 1366 (auf der Basis der 'alten' Zahlen); zu einer mehr grundsätzlichen Kritik an der Argumentation mit den unterschiedlichen Prozentzahlen s. SOARDS, Passion 122f. Zur Frage nach möglichen Gründen für die stärkere Modifikation von Mk im lk Passionsbericht s.u. 4.5. 16 22,43f. sind textkritisch schlecht bezeugt; NA 2 6 setzt sie in doppelte eckige Klammern, cf. TCGNT 177. Die Verse werden dennoch häufig für ursprünglich gehalten (HARNACK, Probleme 470-474; GRUNDMANN, Lukas 410; HUCKGREEVEN; SCHNEIDER, Lukas 456ff.; WIEFEL, Lukas 377; RADL, Lukas

Scheidung von Sondergut und lk Komposition

55

63-65. 66-71; 23, 6-16.27-31. 17 35-37. 39-43. 56. 18 (1) Lk 22,15-18 V.18 hat seine Entsprechung in Mk 14,25. Sind die Verse 15-17 lk Komposition auf dieser Basis, oder liegt hier S Lk vor? Klare sprachliche Indizien für nichtmk Tradition finden sich nicht. Lediglich das in einem Mahlzusammenhang ungewöhnliche δέχομαι (17) Kilt auf; es läBt sich allerdings problemlos als stilistische Variante zu dem den Abschnitt dominierenden λαμβάνω (17.19) erklären." Zu absolut ge-

llf.). Die Entscheidung ist nicht leicht. M.E. spricht die Bezeugung ( Ρ 7 5 ! , Β!). lectio brevior potior sowie die Tatsache, daß f13 die Verse hinter Mt 26,39 stellen, aber doch deutlich gegen deren Ursprünglichkeit. Weitere Argumente bei FITZMYER, Luke 1444; TDNT 312; EHRMAN/PLUNKETT, Angel, pass. 17 23,34a ist textkritisch schlecht bezeugt (der Halbvers fehlt u.a. in Ρ 7 5 Κ1 Β D*; gegen UNTERGASSMAIR, Kreuzweg 9 führt diese äußere Bezeugung sehr wohl zu einem 'klaren Ergebnis'); NA 2 6 setzt den Vers in doppelte eckige Klammern, cf. TCGNT 180. Die Argumentation pro Ursprünglichkeit aus inneren Gründen kann nicht überzeugen; das entscheidende Argument findet sich bei JEREMIAS (Theologie 298): Die sekundäre Streichung eines der letzten Herrenworte (!) ist ausgesprochen unwahrscheinlich. GREEN'S Erwiderung (Death 92: was moderne Kritik für ausgesprochen wichtig halte "may have been of relatively little consequence to early copyists") ist ein Scheinargument; Antisemitismus als Motiv für die Auslassung (so neben Green bereits HARNACK, Probleme 478ff.; SURKAU, Martyrien 97; SCHELKLE, Passion 26; SCHWEIZER, Lukas 239; cf. auch WIEFEL, Lukas 396; RADL, Lukas 12f.) ist zwar schön ausgedacht, aber kaum durchschlagend: der sachlich identische Vers Acta 3,17 ist textkritisch unumstritten. 18 Weitere Passagen, die z.T. auch für nichtmarkinisch gehalten werden (s. insbesondere REHKOPF, Sonderquelle 31-85 zu Lk 22,47-53), sind m.E. nicht diskussionswürdig (zu den Ubereinstimmungen mit Joh s.u. 4.6). Ich verweise dazu pauschal auf die Analysen bei FITZMYER, Luke, dessen "L"-Texte ich hier vollständig diskutiere (s. die Liste auf Seite 84; in einem Fall hat Fitzmyer seine Meinung im Laufe der Ausarbeitung des Kommentars offenbar geändert: Lk 23,46.47b-49 sind in der L-Liste (84) enthalten, werden bei der späteren Analyse (l512ff.) dann aber als lk Redaktion seiner Markusvorlage erklärt; s. zu diesem Text auch MATERA, Death, pass.). Selbstverständlich kann im folgenden auf die sprachlichen Probleme nicht in extenso eingegangen werden (dazu s. neben Fitzmyer TAYLOR, Passion, pass.; JEREMIAS, Sprache 286-310; GREEN, Death 24-104; zu Lk 22,21-23.47-53 Rehkopf, ebd. pass.; zu Lk 22 SOARDS, Passion, pass.); vielmehr ist eine Konzentration auf die wesentlichen Fragen gefordert. Insbesondere das Gespräch mit Jeremias, der m.E. die Anteile nichtmarkinischer Tradition im lk Passionsbericht überschätzt, kann nur in Ansätzen geführt werden. 19 Daß λέγω (γαρ) ύμΐν immer vorlk sei (so JEREMIAS, Sprache 286.106), läßt sich kaum aufrechterhalten (cf. etwa Lk 12,4.8 diff Mt 10,28.32; Lk 19,26 diff Mt 25,29; Lk 19,40 diff Mt 21,16(?)). Jeremias' Verweis darauf, daß Lk die Formel in Mk 5,41 streiche (106), ist irreführend, denn Lukas streicht hier (8,54)

56

Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

brauchtem εύχαριστήσας s. Mk 14,23. Ansonsten ist die Sprache lukanisch (εϊπευ πρός αυτούς, έπιθυμί^ έπεθΰμησα, πρό του με παθεΐν, έως οτου, άπό του \ιΰ\ι).2" V.16 ist parallel zu 18 konstruiert; V.17 hat anfangs seine Entsprechung in Mk 14,23. Inhaltlich bringt die Passage den Paschabezug in die Darstellung des Abendmahles ein. Dies ist sowohl gegenüber Paulus (l Kor ll,23ff.) als auch gegenüber Mk (l4,22ff.) und Mt (26,26ff.), wo Paschabezug nicht oder nicht zweifelsfrei gegeben ist, eine Neuerung. Sie entspricht dem Trend der Überlieferung.21 Fazit: Es liegen keine klaren Indizien für nichtmarkinische Tradition vor. Die Passage läßt sich gut als lukanische Komposition auf der Basis von Mk 14,(23.)25 erklären. 22 (2) Lk 22,19b-20 Wie nahezu alle neueren Arbeiten rechne ich mit der Ursprünglichkeit des sog. 23

Langtextes. Der Text repräsentiert eine Mischform aus der markinischen und der paulinischen Tradition. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Lukas Mk 14,22ff. und 1 Kor ll,23ff. literarisch kombiniert hat - wie es überhaupt keine stichhaltigen Indizien dafür gibt, daß Lukas die paulinischen Briefe gelesen hat. 24 Daher besteht inzwischen weithin ein Konsens darüber, daß V.19b-20 auf nichtmarkinischer Tradi25

tion beruhen. Die wahrscheinlichste Annahme ist die, daß Lukas hier die mk Form der Eucharistieworte durch die ihm und seiner Gemeinde geläufige Form ersetzt hat. 26 Fazit: Lk 22,19b-20 ist S1-*.

20 21

22

23 24 25

26

nicht 'die Formel', sondern die gesamte relevante Passage (wonach »talitha kum« auf Griechisch το κοράσιον, σοι λέγω, έ'γειρε heißt). Cf. FITZMYER, Luke 1386ff.; PESCH, Abendmahl 28f. Auch Mk 14,12-16 ist eine gegenüber dem ältesten Passionsbericht sekundäre Passage. Dazu cf. vorerst LÜHRMANN, Markus 234ff. und GNILKA, Markus II 231f. und dann u. 6.2. Gegen FITZMYER, Luke 1386 ("It is impossible that w . 15-18 are a mere reworking of Mark 14:25"), der seine These leider nicht begründet; auch gegen SCHÜRMANN, I 1-74; JEREMIAS, Sprache 286f. ; GREEN, Death 28ff. u.a. Mit LIETZMANN, Herrenmahl 215f.; FINEGAN, Überlieferung llf.; SCHNEIDER, Lukas 444f. ; PESCH, Abendmahl 26ff.; SOARDS, Passion 54; KOLLMANN, Mahlfeier 162ff. u.a. Zum hier nicht behandelten Problem der lk Perikopenumstellungen s.u. A 54. Cf. N A 2 6 ; TCGNT 173ff.; JEREMIAS, Abendmahlsworte 133ff.; SCHÜRMANN, II pass.; ERNST, Lukas 583f.; FITZMYER, Luke 1387f. Cf. FITZMYER, Luke 28.49; LÜDEMANN, Apostelgeschichte 15f. Cf. nur SCHÜRMANN, II pass, und 151; JEREMIAS, Sprache 288; FITZMYER, Luke 1387; KOLLMANN, Mahlfeier 164 (mit allerdings nicht immer identischen Abgrenzungen). So SCHWEIZER, Lukas 221; KOLLMANN, Mahlfeier 164f.. SCHNEIDER, Lukas 445f. versteht den Text als Kombination des lk »Gemeindeformulars« und Mk. Ebenso PESCH, Markus II 368 u.ö.

Scheidung von Sondergut und lk Komposition

57

(3) Lk 22,21-23 V.22 entspricht Mk 14,21ab. Mk 14,18a fehlt wegen der lk Umstellung der Auslieferungsansage hinter das Abendmahl. Überhaupt ist die lk Version kürzer und pointierter; auch Mk 14,21c fehlt. V.23 ist ähnlich strukturiert wie Mk 14,19; ή'ρξαντο und μετ' έμοϋ stimmen wörtlich überein. Klare sprachliche Indizien für nicht-mk Tradition liegen nicht vor; die Sprache ist fast durchweg lukanisch (κατά το ώριομένον, πορεύομαι, πλην ούαί, και αϋτοί, το τίς δρα εΐη, μέλλω, πράσσω). Ζ7 Inhaltlich ordnet Lukas die Auslieferung durch Judas in die Heilsgeschichte ein (22: κατά τό (ορισμένου, pass, divinum) und vermeidet die bange Jüngerfrage μήτι έγώ aus Mk 14,19. Fazit: Lk 22,21-23 läßt sich gut als lukanische Überarbeitung von Mk 14,18-21 28 interpretieren. (4) Lk 22,24-30 Es ist allgemein anerkannt, daß V.25f.27.28-30 auf traditioneller Basis beruhen. V.24 liegt einleitende lk Redaktion vor (έγένετο δέ, τό τις δοκεΐ, μείζων für Superlativ). V.25f. haben ihre Entsprechung in Mk 10,42-44, als deren Wiedergabe sie sich sehr wohl verstehen lassen; die drei Hapaxlegomena (κυριεύειν, ευεργέτης, φιλονεικία) reichen als Argumente fur nicht-mk Tradition nicht aus: ευεργέτης und φιλονεικία sind gut hellenistische Begriffe, deren Wahl dem lk Trend zur stilisti29

sehen Verbesserung seiner Quellen entspricht. Nota bene, daß von Lukas' 2.055 Wörtern im Evangelium 971 (ü) Hapax- und 352 Dislegomena sind. 30 V.27 ersetzt Mk 10,45 durch ein weiteres διάκονος - μείζων Wort, das in Mt31 23,11 in einer dritten, unabhängigen Form vorliegt, also ebenfalls traditionell ist. V. 28-30 par 32

Mt 19,28 bildeten entweder das ursprüngliche Ende von Q, oder entstammen dem S L k . Die Zusammenstellung der Materialien in V.24-30 ist somit deutlich sekundär; eine vorlukanische Einheit der Verse läßt sich nicht nachweisen. 33 Fazit: In Lk 22,24-30 liegt traditionelles Material vor, möglicherweise aus allen drei lukanischen Quellen: 25f. Mk; 27 S L k ; 28-30 Q (?) S L k (?). 27 JEREMIAS, Sprache 288 hält πλήν ούαί für traditionell. FITZMYER, Luke 1410 kommentiert zutreffend : "Why J. Jeremias ... ascribes this expression to tradition, rather than redaction, is baffling." 28 Mit CREED, Luke 266f.; SCHÜRMANN, III 3-21; SCHNEIDER, Lukas 446f.; FITZMYER, Luke 1408ff. gegen TAYLOR, Passion 59ff.; REHKOPF, Sonderquelle 7-30; TROCMË, Passion 31; GREEN, Death 43f. 29 Cf. FITZMYER, Luke 107ff. 1411ff. 30 Ein beinahe identischer Wert ergibt sich für die Apostelgeschichte: 2.038/943/ 335 (MORGENTHALER, Statistik 27). 31 Die Streichung von Mk 10,45 könnte ihren Grund darin haben, daß Lk gerade eben (22,20) ein sehr ähnliches Jesuswort gebracht hat. So FITZMYER, Luke 1413f. 32 So BAMMEL, Ende, pass; SCHULZ, Q, 330ff.; SCHNEIDER, Lukas 450. SATO (Q, 23) taxiert die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit der Verse zu Q als 'möglich, aber unsicher'. 33 Gegen SCHÜRMANN, III 92-99; TAYLOR, Passion 61ff.; GREEN, Death 44ff. Mit SCHNEIDER, Lukas 450; FITZMYER, Luke 1411ff.; NEYREY, Passion 21-28; SOARDS, Passion 54.

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Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

(5) Lk 22,31-34 V.34 entspricht Mk 14,30. V.33 läßt sich gut als Redaktion von Mk 14,29 verstehen, weil Lukas die Jüngerflucht ausläBt (stattdessen stehen bei ihm πάντες οί γνωστοί αύτψ (23,49), also offenbar auch die Jünger, unter dem Kreuz). 3 4 Reflektiert der Vers Acta 5,18ff.; 12,3ff. und den Tod des Petrus? Aussagekräftige sprachliche Indizien für nicht-mk Tradition liegen nicht vor. Anders in V. 31: das doppelte Σίμων ist ungewöhnlich, Lk verwendet sonst Πέτρε, wie gleich in V.34, zu dem diese Formulierung in Kontrast steht; darüber hinaus sind έξαιτεΤσθαι und σινιάζειν NT-Hapaxlegomena. Anzeichen für lk Redaktion sind ιδού und του + Inf. Es ist daher nahezu allgemein anerkannt, daß in V.31 ein leicht überarbeitetes S L k -Logion vorliegt. 3 5 V.32a schließt eine spätere Verleugnung Jesu durch Petrus 36

geradezu aus, scheint also im Kern ebenfalls traditionell zu sein. V.32b entspricht 2 Sam 15,20 (έπιστρέφου και έπιστρέψον τους αδελφούς σου) nahezu wörtlich; er sucht das vorangehende Jesuswort an den Kontext anzupassen, d.h. mit der Tradition von der Petrusverleugnung in Einklang zu bringen. Da auch die Sprache des Halbverses lukanisch ist (έπιστρέφειν, στηρίζειν, αδελφοί), wird hier lk Kom37

position vorliegen. Inhaltlich stellen V.31ff. die Jünger und insbesondere Petrus, dessen nachösterliche Rolle reflektiert wird, in ein günstigeres Licht: "These words of the Lucan Jesus (31f.) serve to soften the following prediction of Peter's denial of Jesus." 3 8 Faz it: Lk 22,33f. liegt wahrscheinlich Mk 14,29f. zugrunde. V.32b läßt sich gut als lukanische Komposition interpretieren. V.31-32a dürfte i.w. traditionell sein. (6) Lk 22,35-38 V.35f. beziehen sich zurück auf die Aussendung der 72 (70) in Lk 10,4 Q (άποστέλλειν Ομάς, βαλλάντιον, πήρα, υποδήματα) und bereiten die Verhaftungsszene vor. Geht dieser Rückverweis auf Lk zurück? Dann wäre etwas eigenartig, daß er nicht 9,3 (die Aussendung der Zwölf) aufnimmt, denn Jesus spricht an unserer Stelle ja 39

nur die Apostel an. Allerdings nannte Q wahrscheinlich überhaupt keine Zahl, und die das Q-Zitat rahmenden Phrasen όίχερ, οΰθενός sowie ειπεν δέ sind klar redaktionell. Die Annahme eines lukanischen Rekurses erklärt den Befund in V.35f.

34 Cf. BULTMANN, GST 287; SCHÜRMANN, III 27-35; SCHNEIDER, Lukas 452f. uva. 35 BULTMANN, GST 287; TAYLOR, Passion 65f.; SCHÜRMANN, III 99-105; SCHNEIDER, Lukas 452; FITZMYER, Luke 1421. Anders FINEGAN, Überlieferung 14f. ; SOARD S, Passion 52f. 36 Cf. BULTMANN, GST 288, insbesondere A l . 37 Zur Sprache s. SCHÜRMANN, III 107-112; FITZMYER, Luke 1421ff. Daß die Tradition hinter V.31f. ursprünglich nichts von der Petrusverleugnung wußte und erst Lk hier durch die Einfügung von έπιστρέψας geglättet habe (so BULTMANN, GST 288), ist m.E. aus einer Reihe von Gründen sehr unwahrscheinlich. Dazu s.u. 7.6.5. 38 FITZMYER, Luke 1422. 39 Lk 10,1 ist kaum ursprünglicher Bestandteil von Q, sondern lukanische Redaktion; s. SCHULZ, Q 404; SATO, Q 37f.

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daher wohl doch am einfachsten. V.37 führt Jes 53,12 ein; Einleitung und »Kommentar« klingen lukanisch (τό γεγραμμένον, δεΤ, τελεσθ-ί^ναι iv ίμοί, τό περί έμοΰ). 4 ' Das Zitat entspricht LXX (και έν τοις άνόμοις έλογίσθη) nicht wörtlich, was für Lukas eher ungewöhnlich ist. Freilich paBt er die alttestamentlichen Zitate wo nötig dem Kontext seiner Schriften an (cf. 42 nur Lk 23,46; Acta 2,17ff.); eine solche Assimilation könnte auch hier vorliegen. V.38 bezieht sich zurück auf 43

V. 36; seine Sprache ist weder spezifisch lukanisch noch spezifisch traditionell. Inhaltlich markieren die Verse 35-38 das MiBverständnis, "das bei der Gefangennahme zum bewaffneten Widerstand führt, während die echte Aufgabe heißt, jetzt zu leiden." 4 4 Fazit: Lk 22,35-38 läBt sich als lukanische Komposition auf der Basis von Lk 10,4 Q und Jes 53,12 interpretieren; 4 5 eine klare Entscheidung ist allerdings schwierig. (7) Lk 22,63-65 Die Verse 63-65 werden häufig für nichtmarkinisch gehalten, weil sie mit Mk 14,65 nur sehr vage übereinstimmen, weil Lukas sie umgestellt hat und -z.T.- weil in V. 64 ein minor agreement mit Mt 26,68 vorliegt. 4 6 Das letzte Argument hängt an der Beurteilung der minor agreements. Rechnet man damit, dafi Lukas und Matthäus nicht genau den gleichen Mk-Text vorliegen hatten wie wir, könnte τίς έοτιν δ παίσας σε in ihrem Mk-Exemplar gestanden haben; die Textüberlieferung weist Spuren eines solchen Mk-Textes auf (NWX(i)0 Z13 uva.). M.E. sollte man i



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das minor agreement daher hier nicht als Argument für S LK benutzen. Zum zweiten Argument: die Umstellung der Verspottungsszene ist nötig, weil bei Lk das

40 Aus inhaltlichen Gründen (Wer sollte Jesus später ein solch 'aggressives' Wort in den Mund gelegt haben?) diagnostiziert BARTSCH, Schwertwort 199 hinter V.36 ein traditionelles, authentisches Jesuslogion; ähnlich SOARDS, Passion 53 (für V.36'd-f). Anders NEYREY, Passion 42: das Wort sei ein "symbolic Statement". 41 SCHÜRMANN, III 124-129; FITZMYER, Luke 1429ff.; SOARDS, Passion 53f. JEREMIAS' (Sprache 292f.) gegenläufige Argumente sind nicht überzeugend. 42 Der bestimmte Artikel und das έν aus Jes 53,12 passen an dieser Stelle nicht, da Jesus ja nicht (formal) in die große Menge der Verbrecher eingeordnet, sondern zwei ansonsten unbekannten Gesetzlosen »zugerechnet« wird (23,32; zum selben Schluß kommt BARTSCH, Schwertwort 196); ein Rekurs auf den Hebräischen Text (so etwa GREEN, Death 50f.) erübrigt sich. 43 Für Redaktion aber G.W.H. LAMPE, two swords 342; anders JEREMIAS, Sprache 293. 44 CONZELMANN, Mitte d. Zeit 75 mit Verweis auf die Leidensankündigungen und 19,11. 45 So auch FINEGAN, Überlieferung 16; NEYREY, Passion 37ff. Zu V.37 cf. CONZELMANN, Mitte d. Zeit 76. Zur Gestalt von Lk 22,14-38 als Abschiedsrede (cf. Acta 20,17-35!) s. Neyrey, ebd. 5-48 und KURZ, Luke 22:14-38, pass. 46 S. SCHNEIDER, Verleugnung 96-104; TAYLOR, Passion 79f.; TROCMË, Passion 32f.; MARSHALL, Luke 845f.; GREEN, Death 66ff. u.a. 47 So FITZMYER, Luke 1458; GREEN, Death 68 u.a.

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Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

Hohepriesterverhör am Morgen stattfindet (V.66); auf diese Weise kann er die Nachtzeit ausfüllen und vor allem am Morgen zwischen Verhör und Kreuzigung 48

Zeit sparen — was dringend nötig ist. Zum ersten Argument: Lk kürzt die mk Verspottungsszene an dieser Stelle ebenso wie später Mk 15,29-32; die breit geschilderte Verspottung durch die römischen Soldaten (Mk 15,16-20) läßt er sogar 49

völlig aus. Die Intensität der mk Aussagen ist an unserer Stelle gedämpft: die schmachvollen Begriffe έμπτύειν, κολαφίζειν, ραπίσμασιν λαμβάνειν fehlen; Lk verwendet lediglich die deutlich harmloseren Vokabeln έμπαίζειν (cf. 23,11.36!) und δέρειν. Dieselbe Tendenz zur Abschwächung gegen Jesus gerichteter Aussagen und Handlungen begegnet auch bei der Petrusverleugnung (Lk streicht άναθεματίζειν και όμνύναι Mk 14,71 ) und bei der Geißelung Jesu (die Lk nicht erwähnt: 23,25f. diff Mk 15,15).50 Auch die Sprache in Lk 22,63-65 verweist nicht auf Sondertradition; 51 sie ist vielmehr durchaus lukanisch (συνέχειν, άνήρ, λέγων, έτερα πολλά). 5Ζ V.65 ist ein typisch lukanisches Summar, cf. 3,18; 8,3; 21,37f.; Acta 2,40; u.ö. Fazit: Lk 22,63-65 läfit sich gut als lukanische Komposition auf der Basis von Mk 14,65 interpretieren.53 (8) Lk 22,66-71 V.67a.69-71a haben ihre Entsprechungen in Mk 14,61.62b.63b. Die Zeugenvernehmung und das Todesurteil fehlen, die Hohepriesterfrage ist im Unterschied zu Mk zweigeteilt, die Szene spielt anders als bei Mk am Morgen, sie ist von der Pe54 trusverleugnung abgekoppelt. Die Tatsache, daß die Zeugenvernehmung und das

48 Dies deshalb, weil Jesus bei Lk etwa um 6 Uhr morgens dem Hohepriester vorgeführt wird, danach Pilatus, danach Herodes Antipas, danach noch einmal Pilatus, danach mit Barabbas konfrontiert wird, nach Golgatha geht und doch noch deutlich vor 12 Uhr (ü) gekreuzigt wird (23,33.44). Die mk Zeitangabe, Jesus sei um 9 Uhr (!) gekreuzigt worden (Mk 15,24f.), hat Lukas aus denselben Gründen gestrichen (23,33). Cf. auch FITZMYER, Luke 1501. 49 Cf. zu den sehr wahrscheinlich apologetischen Motiven CONZELMANN, Mitte d. Zeit 128ff. 80f. 50 Diese Tendenz könnte auch erklären, warum Lk die Anspielung auf Jes 50,6, die mit ραπίσμασιν Mk 14,65 gegeben ist, nicht übernimmt. S. zu diesem Problem auch die Ausführungen von DIBELIUS, Motive 227. 51 Mit der möglichen Ausnahme des minor agreement, s.o. 52 Cf. JEREMIAS, Sprache 298; FITZMYER, Luke 111.1465. Das αυτόν in V.63, das sich strenggenommen auf Petrus beziehen müßte, ist eine redaktionelle Nachlässigkeit, die leicht durch Mk 14,65 hervorgerufen worden sein könnte. Man sollte es m.E. nicht für SLlc starkmachen (so GREEN, Death 67). 53 So auch CREED, Luke 277f.; FINEGAN, Überlieferung 24; SOARDS, Passion 102f. 54 An dieser Stelle muß kurz zu dem immer wieder geäußerten Argument Stellung genommen werden, die Änderung der mk Reihenfolge der Passionsberichtspassagen durch Lukas spiegele den Einfluß einer nichtmarkinischen Quelle wieder (so JEREMIAS, Abendmahlsworte 97ff.; ders., Perikopenumstellungen, pass.; SCHÜRMANN, Dublettenvermeidungen, pass.; REHKOPF, Sonderquelle lf.; GREEN, Death 29f. u.a.): Unbezweifelbar gruppiert Lukas den mk Text an einer Reihe von Stellen um (Mk 1,16-20; 3,7-12.13-19.31-35; 6,l-6.17f.; 10,42-44?;

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Todesurteil fehlen, fällt als Argument für S L k aus: Lk hätte sie problemlos vor V.67 bzw. nach V.71 bringen können. Wenn er sonst S^-k und Mk kombiniert, warum tut er es dann nicht auch hier? Lk hat also beide Passagen gestrichen. 5 5 Die Verlegung des Verhörs auf den Morgen gibt für S L k ebenfalls nichts her. Sie erinnert an Mk 15,1 und entspricht der typisch lukanischen historisierenden Darstellungsweise. 5 6 Der erste Teil der zweigeteilten Hohepriesterfrage hat eine gewisse Entsprechung in Joh 10,24f.; dort steht die Frage allerdings in einer typisch johanneischen Szene, außerhalb der Passionsdarstellung und in völlig anderem Zusammen57

hang; nicht der Hohepriester fragt, sondern »die Juden«. Aussagekräftige sprachliche Indizien für nichtmarkinische Tradition liegen in Lk 22,66-71 nicht vor; vielmehr enthält die Szene eine große Zahl typisch lukanischer Wendungen (και ώς έγένετο 58 ήμερα, άπό του νυν, πάντες, προς αυτούς έ'φη, λαός, τε καί, ειπευ δέ, έρωτάω). Inhaltlich entsprechen die Varianten gegenüber Mk lukanischer Escha59

tologie und Christologie. Fazit: Der Abschnitt Lk 22,66-71 läßt sich gut als lukanische Redaktion von Mk 14,55-64 interpretieren. 6 0 (9) Lk 23,6-16 Die beiden Abschnitte V. 6-12 und V. 13-16 gehören notwendig zusammen. Es ist allgemein anerkannt, daß Stil und Sprache der Perikope lukanisch sind. 61 Die Ein-

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14,18-21.55-72), sofern er hier nur Mk benutzt hat. Die Anhänger der These suchen daher zu beweisen, daß alle diese Varianten unter dem Einfluß einer nichtmarkinischen Quelle zustandegekommen sind. Das Problem kann hier nicht i.E. diskutiert werden. M.E. ist der Nachweis für den lk Passionsbericht nicht gelungen, weil (l) dabei die Beweislast verkannt (in dubio pro lk Redaktion, s.o.) und auf dieser methodischen Basis ein logischer Zirkel vollzogen wird, und weil (2) die These zu großen Teilen an der (m.E. nicht haltbaren) Proto-Lukas-Theorie hängt. Cf. dagegen KÜMMEL, Einleitung 102; FITZMYER, Luke 71f. 89ff. sowie NEIRYNCK, Argument from Order, pass. Gegen TAYLOR, Passion 84; GREEN, Death 68ff. u.a. Zu den Motiven s. CONZELMANN, Mitte d. Zeit 76ff. Ein Verhör am frühen Morgen entspricht der damaligen Rechtspraxis, ein nächtliches Verhör hingegen nicht; dazu s.u. II 2.5. Ob "There is undoubtedly an echo of this sort of interrogation (Lk 22,66ff.) in the Johannine tradition" (FITZMYER, Luke 1467; cf. KLEIN, Passionstradition 165f. ) erscheint mir fraglich. Cf. Jer 45,15 LXX! und BULTMANN, Johannes; BROWN, John; BECKER, Johannes, jeweils z.St. Cf. FITZMYER, Luke llOff. 1458ff.; auch JEREMIAS, Sprache 299f. S. vor allem CONZELMANN, Mitte d. Zeit 76ff., insbesondere 77 A2. So auch CREED, Luke 276ff.; FINEGAN, Überlieferung 24; CONZELMANN, Mitte d. Zeit 76ff.; MATERA, Jesus, pass.. SCHNEIDER, Verleugnung 105-118 findet nicht-mk Tradition in den V. 66-68; cf. auch das gegenteilige differenzierte Urteil von FITZMYER, Luke 1458 und die Diskussion bei RADL, Sonderüberlieferungen 140-147. TAYLOR, Passion 87; GREEN, Death 80f.; MÜLLER, Herodes 114ff.; cf. auch JEREMIAS, Sprache 301 ff.

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Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

bindung in den (markinischen!) Kontext ist sehr gut. Es finden sich viele Querverweise zu anderen Passagen des Lk-Ev (23,8 »» 9,9: θέλω\ι/έζήτει ίδεΤν αύτόν; 23,10 »» 2; 23,14 »» 2.4.22; 23,16 »» 22: παιδεύσας οδν αύτόν απολύσω). Die Szene geht also mit Sicherheit auf Lk zurück. Fraglich kann allein sein, ob Lukas hier eine 62

traditionelle Notiz verarbeitet hat. Das ist natürlich möglich, aber sowohl unbeweisbar als auch angesichts des lk Interesses an Herodes Antipas (s. Lk 3,1.19; 9,7; 13,31; Acta 4,25-27 u.ö.) eher unwahrscheinlich.63 Inhaltlich fügt sich die Perikope hervorragend in die lukanische apologetische Tendenz. Sie soll zeigen, "daß nach dem Römer auch der regierende Jude kein politisches Vergehen Jesu festzustellen vermag... Am Prozeß sind alle Instanzen beteiligt - und die Schuld fällt vollständig auf die Juden von Jerusalem." 6 ^ Fazit: Lk 23,6-16 läßt sich sehr gut als freie lukanische Komposition interpretieren. 65 (10) Lk 23,27-31 Die Genese dieser nichtmarkinischen Perikope ist schwer aufzuhellen. Die Sprache ist stark alttestamentlich gefärbt; im Hintergrund stehen Sach 12,10-14; Jes 54,1-10; Hos 10,8. Lk Redaktion ist ebenso zu greifen (πλήθος τοϋ λαού, στραφείς, είπεν προς αύτάς, πλήυ) 66 wie ein Rückbezug auf 21,23 und 19,41ff. Andererseits liegt mindestens in V.30-31 sehr wahrscheinlich Tradition vor. 6 7 V.29 hat eine Parallele in EvThom 79; cf. auch Mk 13,17. In ihrem jetzigen Zusammenhang setzt die Perikope die Zerstörung Jerusalems voraus; die Zusammenstellung des Materials in 23,27-31 erfolgte offenbar also nach 70. Inhaltlich fügt sich die Passage in die bei Lukas ausgeprägte Polemik gegen die Stadt Jerusalem (cf. 13,4f.34f.; 19,41-44; 21,20-24). 68

62 So etwa TAYLOR, Passion 89; ERNST, Lukas 624f.; LËMONON, Pilate 190; FITZMYER, Luke 1478f.; SOARDS, Herod Antipas, pass.; GREEN, Death 81f.; cf. auch TYSON, Trial, 256ff. 63 S. dazu MÜLLER, Herodes 116ff. und bereits DIBELIUS, Herodes pass., der die wirkungskräftige These aufstellte, Lk 23,6ff. sei eine lk Komposition auf der Basis von Ps 2,lf. (cf. Acta 4,25-27). Gegen diese These jetzt Müller, ebd. 139 mit dem zutreffenden Argument, in Acta 4,27 sei ein gemeinsames Vorgehen von Antipas und Pilatus gegen Jesus im Blick, während hier sich beide "als Zeugen der Schuldlosigkeit zugunsten Jesu aussprechen." 64 CONZELMANN, Mitte d. Zeit 79 A2; cf. BUCK, Function, pass. 65 So außer DIBELIUS, Herodes, 286ff. und MÜLLER, Herodes, pass, etwa LIETZMANN, Prozeß 4; BULTMANN, GST 294; CREED, Luke 280; FINEGAN, Überlieferung 27ff.; KLEIN, Passionstradition 160; LÜDEMANN, Paulus I 32f.; NEYREY, Passion 78f.; RADL, Sonderüberlieferungen 134-140. 66 FITZMYER, Luke 111.1494; gegen JEREMIAS, Sprache 305.155 ist στραφείς sicher nicht traditionell (cf. 7,9 diff Mt 8,10; 10,23 diff Mt 13,16; 14,25! u.ö.). 67 S. dazu DIBELIUS, FdE 203 A l ; BULTMANN, GST 121f. 37f. mit A3; FITZMYER, Luke 1494; JEREMIAS, Sprache 305. 68 CONZELMANN, Mitte d. Zeit 125ff.

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Fazit: Lk 23,27-31 enthält S L k . Eine präzise Abgrenzung von lukanischer Redaktion und Tradition ist kaum möglich. 69 (11) Lk 23,39-43 Die Perikope ist inspiriert durch Mk 15,32b. Ein klares sprachliches Indiz für Tradition ist möglicherweise das άμήν (σοι λέγω, V.43), das Lk in der Regel aus seinen Quellen streicht und ihnen nie nachweislich hinzufügt. 7 0 Auffallend ist aller71

dings, dafi Lk das αμήν λέγω mit einer erklärbaren Ausnahme ausschließlich an solchen Stellen beibehalten hat, an denen es um Eschatologie, meist sogar um Individualeschatologie geht: 18,17 (είσέρχεσθαι εις την βασιλείου του θεοΰ), 18,29f. (άπολαμβάνειν ζωήν αιώνιο·«), 21,31f. (έγγύς έοτιν ή βασιλεία τοΰ θεοΰ). Genau dieselbe Thematik findet sich nun auch in 23,43: Jesu letztes Wort an einen Menschen eröffnet eine grandiose individualeschatologische Perspektive. Es ist m.E. sehr gut möglich, dafi Lk selbst dieses SchluBwort ausnahmsweise mit αμήν (!) eingeleitet hat. Die Sprache der übrigen Verse weist nicht auf nichtmarkinische Tradition, 72 die Einbindung der Perikope in den (mk!) Kontext ist gut, ihre Stellung innerhalb des Lk-Ev sehr pointiert. Inhaltlich entspricht sie lukanischer Theologie aufs genaueste: "This episode, then, is Luke's way of presenting the salvific aspect of Jesus' death ... (it) sums up the Lucan theologia crucis",73 Fazit: Lk 23,39-43 läßt sich sehr gut als lukanische Komposition, inspiriert 74 durch Mk 15,32b, interpretieren. (12) Zwei kleinere Abweichungen: Lk 23,35-37.56 75 35-37: Die Gegenüberstellung von Ύοΐΐ?" und 'Führern ist typisch lk (cf. 22,2; 23, 4.13.27 u.ö). Das Tempelwort ist hier ebenso ausgelassen wie in 22,66ff. V.35a spielt auf Ps 22,8f. an, V.35b folgt Mk. Die mk Verspottungsszene ist ebenso wie in 22,63-65 zusammengestrichen und inhaltlich abgeschwächt. Von der Verspottung durch die römischen Soldaten (Mk 15,16-20) ist nurmehr V.36f. Übriggeblieben, der

69 Cf. dazu KÄSER, Erwägungen, pass.; UNTERGASSMAIR, Kreuzweg 13-42.125145; GREEN, Death 87ff. NEYREY, Passion 121 hält das'vaticinium ex eventu' für eine "creation of Luke h i m s e l f ; ebenso bereits FINEGAN, Überlieferung 30f. 70 Allenfalls in Lk 4,24 diff Mk 6,4. Allerdings ist auch hier die Quellenfrage nicht völlig klar; cf. FITZMYER, Luke 525ff. 71 4,24 steht es wahrscheinlich als Variante zu 4,25 (έπ' αληθείας δε λέγω ύμΤν). 72 Cf. die Listen bei TAYLOR, Passion 95; GREEN, Death 94f. Es ist mir unerklärlich, warum FITZMYER, Luke 1507 resümiert, lk Redaktion sei hier "at a minimum". Selbst auf der Basis seiner (unvollständigen) Liste ist das kaum haltbar. 73 FITZMYER, Luke 1508f; ebenso NEYREY, Passion 140. 74 So auch BULTMANN, GST 282f.; FINEGAN, Überlieferung 32; SCHENK, PB 102-109; NEYREY, Passion 133-140. 75 Ich behandele die folgenden Stellen hier nur, um FITZMYER'S Liste (Luke 84) vollständig zu diskutieren. Die Argumentation fällt dementsprechend sehr kurz und thetisch aus.

Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

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das Stichwort έμποάζειν zum dritten Mal aufnimmt (cf. 22,63; 23,11) und Mk 15,36; 15,18 (?) verarbeitet. Die lk Version der Szene ist kunstvoll dreigeteilt, jeweils mit dem Stichwort σώσον σεαυτόν (23,37.39) bzw. σωσάτω έαυτόν (35). Ihren würdigen AbschluB findet sie in 39-43. Die Sprache ist entweder 'markinisch' oder lukanisch. Fazit: Nichts weist auf S L k . 7 6 56: Bei Mk (16,1 ) kaufen die Frauen die Öle am Sonntag und sind trotzdem bereits 'sehr früh, als gerade die Sonne aufging' (!) am Grab. Lukas sucht diese chronologische Schwierigkeit dadurch zu vermeiden, daß er die Zubereitung der Öle (und Salben) vor den Sabbat verlegt. 7 7 23,56 schafft so eine Brücke zu 24,Iff. Sprachliche Indizien für nicht-mk Tradition liegen nicht vor; ύποστρέφειν ist lukanisches Vorzugsvokabular. Fazit; Keine Indizien für S L k .

4.4.2. Welche Passagen des S L k sind auf den Kontext der erzählenden Passionstradition angewiesen? Folgende Verse

der lukanischen Passionsdarstellung gehören nach

unserer

Analyse zum lukanischen Sondergut: 22, 19b-20.27.28-30.31-32a; 23,27-31*. Als Indiz für PB Lk können nur solche Verse gewertet werden, die nicht selbständig tradierbar sind, sondern notwendig

in den Zusammenhang einer

Passionsgeschichte gehören; denn anderenfalls muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß erst Lukas sie in ihren jetzigen Kontext gestellt hat. Welche Verse des S L k sind also unselbständig, d.h. auf den Kontext der erzählenden Passionstradition notwendig angewiesen? Lk 22,19b-20:

1 Kor 11,23-26 beweist, daß die Einsetzungsworte

isoliert

überliefert wurden. Lukas wird hier schlicht die in seiner Gemeinde übliche Fassung der Formel wiedergeben. Lk 22,27: Mk 10,43, Mt 23,11 und Joh 13,16 zeigen, daß das betreffende Jesuswort in vielen Varianten überliefert wurde. Seine Plazierung durch Markus und Matthäus beweist, daß es ursprünglich nicht zur Passionstradition gehörte. 78

76 Nach der Lektüre seiner Einzelanalyse (Luke 1504f.) ist mir nicht klar, warum FITZMYER V.35a.36f. für SLk hält (84.1500). Anders etwa SCHNEIDER, Lukas 482f. 77 Er entgeht dem Dilemma dadurch freilich nicht. "When the women could have done this, after what has been said in v. 54b, is a mystery" (FITZMYER, Luke 1530). 78 GREEN, Death 45 meint, es sei aufgrund der Antithese διάκονος, άνακείμενος fest mit dem Kontext dieser Mahlepisode verbunden, "in which Jesus is δ διακόνων". Nun ist Jesus hier aber nirgendwo der Tischdiener, und das wahrscheinlich traditionelle άνακείμενος verbindet den Spruch zwar in der Tat mit einer Mahlszene, aber eben: mit irgendeiner. Es sei nebenbei vermerkt, daß

Gründe für die Uberdurchschnittlich starke Redaktion des Mk-Ev

65

Lk 22,28-30: Mt 19,28 beweist, daß die Verse ursprünglich nicht zur Passionstradition gehörten. Dies umso mehr, sollten sie Bestandteil von Q gewesen sein. Lk 22,31-32a: Auch dieser Abschnitt, der die nachösterliche Führungsrolle des Petrus im Blick hat, bedarf des Kontextes der erzählenden Passionstradition nicht, könnte vielmehr ebensogut etwa hinter Lk 9,22 stehen. Lk 23,27-31*: Die Verse beziehen sich auf die Zerstörung Jerusalems und setzen den Tod Jesu in Beziehung zu dem »Tod« der Stadt. Die Passage bedarf also - sollte ihre Einheit ursprünglich sein - des Kontextes einer fortlaufenden Passionsgeschichte. Da die Zerstörung Jerusalems hier vorausgesetzt ist, ist die Tradition aber in keinem Fall vormarkinisch; d.h. sie läßt sich am besten als Ergänzung zur (kanonischen) markinischen Passionsgeschichte interpretieren. Fazit: Drei der fünf S Lk -Traditionen sind nachweislich selbständig tradiert worden (Lk 22,19b-20.27.28-30), eine ist selbständig tradierbar (Lk 22,31-32a). Sie alle bedürfen des Kontextes der erzählenden Passionstradition nicht. 79 Folglich erklärt die Annahme, erst Lukas habe sein Sondergut an den betreffenden Stellen seiner Markusvorlage hinzugefügt, den Befund in allen diesen Fällen überaus zufriedenstellend. Einzig die Passage Lk 23,27-31* könnte - sollte ihre Einheit vorlukanisch sein - eine Ausnahme bilden; da sie aber die Zerstörung Jerusalems bereits voraussetzt, greift in diesem Fall die ökonomische Hypothese, hier liege eine vorlukanische Ergänzung zur markinischen Passionsgeschichte vor. Nichts nötigt zur Annahme eines PBLk.

4.5. Warum redigiert Lukas das Markusevangelium in seiner Passionsdarstellung überdurchschnittlich stark? Die Analyse der lukanischen Passionsdarstellung erbrachte keine Indizien für einen PBLk. Der Text läßt sich vielmehr völlig zufriedenstellend unter der Annahme erklären, Lukas redigiere hier Mk, füge Sondergut in seine MarkusGreen's fünfter Punkt (ebd.) ein Musterbeispiel dafür ist, welch merkwürdige Argumente die Vermischung der literarkritischen mit der historischen Analyse hervorbringen kann: "Fifth, historically, a dispute of this kind ... might have arisen because of the seating arrangement at the meal " (!) (Kursive hinzugefügt). 79 Das gilt — um sicherzugehen — auch für die schwierige Passage Lk 22,35-38; s. dazu nur SCHÜRMANN, III 134; FITZMYER, Luke 1429.

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Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

vorläge ein und komponiere einige Szenen selbst, teils aus traditionellem Material, das er zu einer neuen Einheit zusammenfügt, teils völlig frei. Demnach besteht also kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem schriftstellerischen Vorgehen des Evangelisten innerhalb und außerhalb seiner Passionsdarstellung. Allerdings: Lukas redigiert Mk hier stärker als sonst üblich (s.o. 4.3). Warum? Ich nenne fünf Gründe, zwei formale und drei inhaltliche. (1) Die Passionsgeschichte ist die längste zusammenhängende Erzählung der synoptischen Tradition. Ihre markinische Gestalt ist relativ unausgewogen. Lukas sucht die story seiner Vorlage durch eine Reihe von Umstellungen, Erweiterungen und Korrekturen abzurunden. Die wichtigsten seien hier genannt: Lukas integriert die verstreuten Einzelsprüche in Mk 14,18-31 stilgemäß in eine große Abschiedsrede (22,21-38); er »entzerrt« den überfüllten Vormittag durch die Umstellung der Petrusverleugnung und der Verspottung durch die jüdischen Ankläger (22,54-65); er datiert das Hohepriesterverhör auf die übliche Zeit (22,66); er streicht die Zeitangabe für die Kreuzigung; er erläutert die Beweggründe Joseph von Arimathias (23,51a); er sucht die Zubereitung der Begräbnisutensilien sinnvoll in die Geschichte zu integrieren (23,56). (2) Die Passionsgeschichte bildet den Schluß- und Höhepunkt des Lebens Jesu. In ihr laufen spezifische kompositorische Fäden des Lukasevangeliums zusammen. Es findet sich daher im Markusstoff eine Reihe von lukanischen Querverweisen (z.B. 22,33; 23,2.4f.). (3) Jesus wird in der markinischen Passionsgeschichte nach der Verhaftung in eine passive Rolle gedrängt; er wird zum Opfer vielfacher Schmähungen und Mißhandlungen. Lukas betont demgegenüber die Souveränität Jesu auch während seiner Passion; er hält verbalen wie körperlichen Schaden so weit wie möglich von ihm fern (cf. 22,47.60.63-65; 23,35f.46? jeweils par Mk; Mk 15,15b.16-20 sind vollständig gestrichen). (4) Die Römer spielen bei Markus eine wichtige Rolle. Lukas minimalisiert ihren Anteil an der Passion Jesu. Pilatus wird ganz zum Vollstrecker des Willens der Juden stilisiert (23,24.25), die Soldaten erscheinen nur noch am Rande (23,36; cf. wiederum die Streichung von Mk 15,16-20). Nach Lk sind es sogar Juden, die Jesus zum Kreuz abführen (!) (23,25-26; cf. dazu Acta 2,36 u.ö.). (5) Die Jünger scheitern bei Mk an den Ereignissen. Lukas stellt sie in ein besseres Licht; er streicht die Jüngerflucht samt ihrer Ankündigung, er

67

Das Verhältnis zwischen lk und joh Passionsbericht

dämpft die Petrusverleugnung (22,31f.60) und stellt die Jünger de facto unter das Kreuz (23,49). 8 0 Fazit: Die markinische Passionsgeschichte weist eine Reihe formaler und inhaltlicher Spezifika auf, die sowohl den Schriftsteller als auch den Historiker und den Theologen Lukas zu einer ungewöhnlich starken Überarbeitung seiner Vorlage nötigen. Vielleicht kann man sogar mit Marion L. SOARDS so weit gehen zu sagen, daß Lukas "wrote his Gospel, rewriting Mark, in order to alter subtly the image of Jesus and the impact of his Passion" (Passion 123). Die Annahme einer spezifischen lukanischen Passionsquelle

ist nicht

notwendig.

4.6. Das Sonderproblem des Verhältnisses zwischen lukanischem und johanneischem Passionsbericht

4.6.1. Die wichtigsten Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes (1) Lk 22,3/Joh 13,27: Satan als Urheber des Judasverrats. (2) Lk 22,50/Joh 18,10: das rechte

Ohr wird abgeschlagen.

(3) Lk 23,4.14.22/Joh 18,38; 19,4.6: Pilatus erklärt dreimal Jesu Unschuld. (4) Lk 23,21/Joh 19,6: die Menge ruft 'kreuziget, kreuziget

ihn'.81

80 Zu (4)+(5) s. auch KLEIN, Passionstradition 181f.; zu (3) BÜCHELE, Tod 45 mit A149; zur lk Redaktion in 22,66 - 23,25 WALASKAY, Trial, pass. Die genannten inhaltlichen Tendenzen finden sich i.ii. nicht nur in der lukanischen Passionsdarstellung, sondern auch in anderen Partien seiner Schriften. Zu (3) cf. Mk 3,20f. (Lk streicht die Passage); zu (4) cf. vor allem die Reden der Apostelgeschichte (Petrus: 2,22f.36; Jakobus: 7,52; Paulus: 13,28 u.ö.), die Gallioszene 18,12-17 sowie den ganzen PaulusprozeB 21,27ff.; zu (5) cf. die hagiographischen Tendenzen in der Apostel- und Paulusdarstellung der Acta, etwa 5,15; 12,7ff. ; 16,26; 19,12; 20,9ff.; 28,4ff. 81 In Lk 23,38 besteht ein textkritisches Problem: X x c A C 3 D R W 0 ( ψ ) / - ' ( 1 3 ) u.a. bezeugen - mit Differenzen im einzelnen — die Aussage, Jesu Kreuzesinschrift sei in griechischen, lateinischen und hebräischen Buchstaben geschrieben worden. Eine analoge Aussage findet sich in Joh 19,20. Sollte der ursprüngliche Text des Sinaiticus (usw.) der bessere sein (so HUCK-GREEVEN), ergäbe sich eine weitere signifikante Übereinstimmung zwischen Lk und Joh. Hingegen ist der von Ρ 7 5 N1 BC X 1241 u.a. bezeugte Text — mit NA 2 6 — "almost certainly" der ursprüngliche (TCGNT 180), und zwar aus den drei ebd. 181 genannten Gründen: (a) Er wird von einigen der besten Handschriften bezeugt, (b) Die Einfügung ist

68

Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

(5) Lk 23,53/Joh 19,41: das Grab Jesu war neu. (6) Lk 24,4/Joh 20,12: zwei Engel im Grab. (7) Lk 24,12/Joh 20,2-10*: Petrus läuft zum Grab; Lk 24,12 ist in Joh 20,2-10* fast wortgleich enthalten. (8) Lk 24,13ff./Joh 20,llff.: Erscheinungen in Jerusalem. (9) Lk 24,36.40/Joh 20,19f.: die Passagen sind fast wortgleich.82

4.6.2. Zur Genese dieser Übereinstimmungen Die Übereinstimmungen zwischen Lukas und Johannes in ihren Passionsberichten sind auf sehr unterschiedliche Weise erklärt worden. Julius SCHNIEWIND rechnet mit einer "gemeinsamen Tradition mündlicher Erzählungen" (Parallelperikopen 96); ähnlich urteilt Hans KLEIN (Passionstradition 182). Raymond E. BROWN hält es für wahrscheinlich, "that Luke knew an early form of the developing Johannine tradition" (John 791). John A. BAILEY rechnet sowohl mit gemeinsamer Tradition als auch — wie alle Vertreter der Hypothese einer literarischen Abhängigkeit des vierten Evangeliums vom dritten damit, daß Johannes Lukas gelesen hat (Traditions 115). F. Lamar CRIBBS vermutet umgekehrt, Lukas könne vielleicht sogar "an early draft of the original Gospel of John" gekannt haben (Contacts 8).83 Anton DAUER postuliert, die joh Passionsquelle sei "verschiedentlich von den synoptischen Berichten beeinflußt worden" (Passionsgeschichte 336). Joel B. GREEN schließlich vermutet "a common non-Markan source behind the Lukan and the Johannine accounts" (Death 79). nicht wortgleich überliefert, (c) Lectio brevior potior: es gibt keine zufriedenstellende Erklärung für eine sekundäre Auslassung der Passage. 82 Obwohl in der einschlägigen Literatur häufig sehr viel mehr Analogien aufgeführt werden (cf. SCHNIEWIND, Parallelperikopen; BAILEY, Traditions; CRIBBS, Contacts; KLEIN, Passionstradition; DAUER, Passionsgeschichte, jeweils pass, und BROWN, John XLVIf.), sind weitere Übereinstimmungen m.E. nicht diskussionswürdig (zu Lk 7,36ff.par s.u. 7.4.1). Es handelt sich dabei um kompositorische oder wörtliche minor agreements, die sämtlich problemlos erklärt werden können — sofern die »Ubereinstimmung« nicht überhaupt konstruiert ist (was leider relativ häufig vorkommt; cf. etwa SCHNIEWIND, Parallelperikopen 39 zur Tageszeit des Verhörs; 45 zu Lk 22,61/Joh 18,24; 79 zum Namen der Kreuzigungsstätte; CRIBBS, Contacts 4 zu Lk 23,3/Joh 18,33ff.; 58 zu Lk 22,54/Joh 18,28; 69 zu Lk 23,9/Joh 19,9). S. zum Problem jetzt auch MYLLYKOSKI, Material, pass. 83 Diese These hängt zusammen mit seiner ders., Reassessment, pass.

Frühdatierung des Joh-Ev; cf. dazu

Das Verhältnis zwischen lk und joh Passionsbericht

69

Die Lösung des Problems hängt - wie ersichtlich - unmittelbar mit der jeweiligen Position zur Frage der Entstehung des Joh-Ev zusammen, die wir oben (Kap. 3) bereits geklärt haben und um die es hier — das sei aufs deutlichste hervorgehoben - dementsprechend nicht mehr geht. Ebenfalls nicht zur Diskussion steht die umfassende Problematik des Verhältnisses des Johannes- zum Lukasevangelium. Es geht im folgenden vielmehr allein um die Frage, ob die genannten Parallelen ein Argument pro PBLk oder contra die oben vorgenommene Abgrenzung des S Lk sind oder nicht. Dazu: Die Übereinstimmungen Nr. (7-9) fallen als Argumente für PBLk aus, weil das Mk-Ev mit 16,8 endet: es gab folglich keine »markinische« Tradition über diese Ereignisse. Lk und Joh geben hier in jedem Fall zusätzliche, gemeinsame Tradition wieder. Die Analogie Nr. (4) dürfte eine zufällige sein: Joh bietet sowohl die einmalige (19,15) als auch die zweimalige Forderung der Menge; Lk verdoppelt verschiedentlich zur Intensivierung Anreden in wörtlicher Rede (cf. 10,41; 13,34; 22,31?; Acta 9,4). 84 Gleiches gilt für Nr. (2): Gemeinsam ist Lk und Joh allein das Interesse, den konkreten Akt zu malen; dabei wird das Ohr im Rahmen der »natürlichen« Entwicklung der Tradition85 fast zwangsläufig zum 'rechten' (cf. Lk 6,6 diff Mk 3,1; auch Lk 1,11; Joh 21,6 und Mt 5,29ff.). Gemeinsame Lk/Joh Tradition könnte bei Nr. (1) und (5-6) zugrundeliegen; alle drei Übereinstimmungen — vor allem Nr. (5): cf. Mt 27,60! - lassen sich aber auch als unabhängige Weiterentwicklungen interpretieren. Gemeinsame Lk/Joh Tradition liegt schließlich wahrscheinlich bei Nr. (3) vor: die Übereinstimmung ist vergleichsweise umfangreich, der Wortlaut ähnlich - freilich liegt auch die dreifache Unschuldserklärung des Pilatus im Trend der Entwicklung der Überlieferung. Unsere S Lk - Liste für die Passionsgeschichte (4.4.2) muß also um die Verse Lk 23,4*.14*.22* ergänzt werden, vielleicht auch um 22,3*, 23,53* und 24,4*.86 Keine dieser gemeinsamen lukanischen und johanneischen Passionstraditionen nötigt aber zur Annahme eines PBLk. Sie lassen sich durchweg problemlos als sekundäre Weiterentwicklungen der jeweiligen Quellen (Mk; PB Ioh ) interpretieren. In allen Fällen handelt es sich darüber hinaus um »normale« Fortbildungen der älteren Passionstradition, deren Treffpunkt - wie bereits Julius SCHN1EW1ND richtig sah — in der mündlichen Tradition liegt; nirgends finden sich Anzeichen für eine literarische Beziehung. Bei den Auf-

84 Cf. FITZMYER, Luke 1491. 85 Cf. o. 3 A 72. 86 S. dazu aber u. 7.3.

70

Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

erstehungsberichten greifen Lukas und Johannes auf gemeinsame

Tradition

zurück, die Markus nicht kannte oder bewußt ausgelassen hat. 87

Exkurs: Der irrige Konsens über eine besondere Nähe des johanneischen Passionsberichtes zum lukanischen "(S)oweit Joh. hier (in der Passionsgeschichte, der Vf.) überhaupt den Synoptikern parallel geht, geht er mit Lk. zusammen." Dieses Urteil SCHNIEWINDS (Parallelperikopen 97) über eine besondere Nähe des johanneischen Passionsberichts zum lukanischen (von dem er ebd. A l lediglich die 'Ankündigung des Verrats' ausnimmt) repräsentiert einen breiten exegetischen Konsens. Ähnliche Urteile finden sich etwa bei REHKOPF, Sonderquelle 5; BUSE, John; CRIBBS, Contacts; KLEIN, Passionstradition, jeweils pass.; BECKER, Johannes 44.640 uva. Hingegen ist diese Einschätzung des Sachverhalts nicht aufrechtzuerhalten; sie beruht vielmehr auf einer Art optischer Täuschung. In Wirklichkeit ist der Grad der Übereinstimmung des Johannesevangeliums mit Markus wesentlich höher als der mit Lukas, und zwar sowohl was (l) die Komposition, als auch was (2) die wörtliche Übereinstimmung anbetrifft. ad (l). CRIBBS notiert folgende zwei wesentliche kompositorische Übereinstimmungen zwischen Joh und Lk gegen Mk: beide "place Jesus' prediction of Peter's three-fold denial in the upper room instead of later on the way to the Mount of Olives" (ebd. 4); beide (Lk 23,10-16; Joh 19,1-3) stimmen überein "in placing the scourging of Jesus (or the threat of scourging) as well as the mocking of Jesus prior to Pilate's affirming of his death sentence" (ebd.). Dazu: die zuletzt genannte Übereinstimmung ist keine, da Joh 19,1-3 nicht die Parallele zu Lk 23,10-16 (lk Sondergut!) ist, sondern zu Mk 15,16-20, einer Perikope, die bei Lk fehlt. Die erste Analogie ist die einzig nennenswerte; man beachte allerdings, daB Joh weder von der Einsetzung des Abendmahls noch vom Gebet in Gethsemane etwas berichtet und dementsprechend den 'Weg zum Olberg' gar nicht erwähnt. Umgekehrt bestehen folgende wesentliche kompositorische Ubereinstimmungen zwischen Mk und Joh gegen Lk: (a) Beide berichten nach dem »Todesbeschluß« von der Salbung Jesu in Bethanien (Mk 14,3-9; Joh 12,1-8); (b) Beide verschränken das Hohepriesterverhör und die Petrusverleugnung ineinander (Mk 14,53-72; Joh 18,12-28); (c) Beide erwähnen — wenn auch an verschiedenem Ort — die Geißelung Jesu und seine Verspottung durch römische Soldaten (Mk 15,16-20; Joh 19,1-3). ad (2). Betrachtet man die Zahl der wörtlichen/annähernd wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Joh und Mk in Mk 14,1 - 16,8par, so ergibt sich ein Wert von ca. 200/270 Wörter. Was das Verhältnis von Joh zu Lk anbetrifft, so ergibt sich ein Wert von lediglich ca. 115/150 Wörter. D.h., die Zahl der wörtlichen/annähernd wörtlichen Ubereinstimmungen zwischen Joh und Mk ist beinahe doppelt so hoch (!) wie die zwischen Joh und Lk (genau: 200/115= 174%; 270/150= 180%). Dar-

87 Dazu s.u. 7.3 und den folgenden Exkurs.

71

Ergebnis

über hinaus: von den ca. 115 identischen Wörtern bei Joh/Lk finden sich nur ca. 44 (!) nicht bei Mk, in allen übrigen Fällen gehen alle drei Evangelisten überein. Der exegetische Konsens über eine besondere Nähe des johanneischen Passionsberichts zum lukanischen beruht offenbar also auf einer optischen Täuschung. Diese hat m.E. zwei Ursachen: (1) Auffällige Übereinstimmungen zwischen Joh und Lk außerhalb der von Mk bezeugten Passionstradition. Die wichtigsten sind: Joh 21 par Lk 5,1-11; Joh 4,46-54 par Lk 7,1-10; Joh 20,5 par Lk 24,12; Joh 20,19-29 par Lk 24,36-43 (s. dazu PARKER, Luke, pass; SCHNIDER-STENGER, Johannes 54-88; DAUER, Johannes, pass.). Nota bene, daß die beiden zuletzt genannten, in der Tat frappierenden Übereinstimmungen keine Parallele bei Mk haben und also als Argument für die genannte These ausfallen. (2) Einige wenige signifikante Übereinstimmungen innerhalb von Mk 14,l-16,8par: s. dazu o. 4.6.1 sowie die Analogien in Joh 12,1-8/Lk 7,36-50, einer Passage, die — nota bene — bei Lk aber nicht im Passionsbericht steht (dazu s. Dauer, ebd. und u. 7.4.1). Fazit: Die These, der johanneische Passionsbericht weise eine besondere Nähe zum lukanischen auf, ist nicht aufrechtzuerhalten. Innerhalb des in diesem Zusammenhang einzig relevanten, d.h. des auch von Mk gebotenen Stoffes steht der vierte Evangelist aufs ganze gesehen vielmehr Markus erheblich näher als Lukas. Daher ergibt sich: Innerhalb der älteren Passionstradition steht Johannes dem Markusevangelium nahe; die Ubereinstimmungen zwischen Joh und Lk finden sich in der Regel in den internen und externen Erweiterungen dieser Tradition. Johannes und Lukas bezeugen also eine weithin analoge Überlieferungsgeschichte der älteren Passionstradition. Nota bene, daB in eingeschränktem MaBe auch Matthäus ein Zeuge für diese Überlieferungsgeschichte ist: s. Mt 27,19.60 par Joh 19,4b/13.41.

4.7. Ergebnis Der Text der lukanischen Passionsgeschichte läßt sich unter folgenden Annahmen vollauf zufriedenstellend erklären: (1) Grundlage des lukanischen Passionsberichts

ist das Markusevangelium,

dem

Lukas in

den

wesentlichen

Punkten folgt. (2) In das Mk-Gerüst fügt er Sondergut ein; an zwei Stellen ersetzt er Mk-Stoff durch Sondergut (22,19b-20.31-32a). (3) Darüber hinaus komponiert er eine Reihe von Passagen seiner Passionsdarstellung selbst, in der Regel aus traditionellem Material, das er zu einer neuen Einheit synthetisiert, z.T. aber auch völlig frei. (4) Insgesamt rundet Lukas die etwas unausgewogene Darstellung des Markusevangeliums ab. Er kürzt längliche Schilderungen, verbindet, erläutert, korrigiert. (5) Inhaltlich bringt er gegenüber

72

Das Problem einer besonderen lk Passionsquelle

der markinischen Darstellung vor allem die jederzeitige Souveränität Jesu sowie eine positivere Rolle der Römer und der Jünger — insbesondere des Petrus — zum Tragen. (6) Der für lukanische Verhältnisse relativ geringe Prozentsatz der wörtlichen Übereinstimmung mit Markus geht auf diese Veränderungen zurück. (7) Die Übereinstimmungen zwischen dem lukanischen und dem johanneischen Passionsbericht haben ihren Ursprung in der mündlichen Weiterentwicklung der älteren Passionstradition; bei den Auferstehungsberichten greifen beide Evangelisten auf gemeinsame Tradition zurück. (8) Die These einer besonderen Nähe des johanneischen Passionsberichtes zum lukanischen ist nicht haltbar. Fazit: Die Hypothese einer besonderen lukanischen Passionsquelle PB Lk ist nicht notwendig.

5. Methodische Klärung (Π) (1) Die beiden vorhergehenden Kapitel sind zu dem Ergebnis gekommen, daß die johanneische Passionsdarstellung von den synoptischen Passionsberichten unabhängig ist und daß die Existenz einer spezifischen lukanischen Passionsquelle nicht begründet werden kann. Trifft dieses Ergebnis zu, dann ergibt sich notwendig:1 Die Traditionen, die sowohl von Markus als auch von Johannes bezeugt werden, machen den sicheren Kernbestand der ältesten Passionstradition aus. Dieser Schluß ist unumgänglich, da die z.T. sehr weitgehenden sachlichen und sprachlichen Übereinstimmungen zwischen dem markinischen und dem johanneischen Passionsbericht nicht zufällig sein können. (2) Die vorliegende Untersuchung wendet daher beim Versuch der Rekonstruktion der Umrisse des nachfolgend »PB« genannten* ältesten erreichbaren Passionsberichtes zum ersten Mal konsequent die gleiche Methode an, mit der bereits die Logienquelle »Q« in den Grundzügen erfolgreich rekonstruiert werden konnte. Darin vor allem unterscheidet sich ihre literarkritische Vorgehensweise von den bislang ausführlichsten Analysen der Markus- und der Johannespassion, nämlich denen von Till A. MOHR und Matti MYLLYKOSKI: während Mohr und Myllykoski mit der Scheidung von Tradition und Redaktion in der markinischen Passionsdarstellung einsetzen und ihre Ergebnisse sodann mittels eines Blicks auf die Johannespassion überprüfen, geht die vorliegende Untersuchung unmittelbar vom Quellenvergleich aus, ohne im vorhinein die markinische und die johanneische Redaktion von der jeweiligen Tradition abzuheben; d.h. sie mißt dem johanneischen Passionsbericht nicht lediglich die Funktion des "wichtigsten Kontrollorgan(s)" (Mohr, Markuspassion 42) bzw. der Verifikationsinstanz (Myllykoski, Letzte Tage 37) zu, sondern die des primären Kriteriums. Eine Doppeluberlieferung gilt demnach in der Regel auch 1 Der theoretisch denkbare Fall, dafi eine relativ junge Tradition von Markus und Johannes unabhängig voneinander an derselben Stelle in ihre Passionsquellen eingebaut wurde, ist nirgends nachzuweisen; cf. u. 7.6. 2 Das Kürzel »PB« wird von BECKER (Johannes, pass.) und jetzt von MYLLYKOSKI (Letzte Tage, pass.) als Abkürzung für 'johanneische Passionsquelle' bzw. allgemein für 'Passionsbericht' verwendet. Im folgenden bedeutet es immer: 'ältester noch erreichbarer Passionsbericht'. Zur endgültigen Bestimmung der G e stalt dieser Größe s.u. 7.5 und auch 7.7.2.

74

Methodische Klärung (Ii)

dann als traditionell, wenn sie bei einem oder gar bei beiden Evangelisten in nachweislich redaktionell formulierten Passagen steht; der direkte Quellenvergleich eröffnet somit in einzelnen Fällen die Möglichkeit, die den redaktionellen Formulierungen zugrundeliegende Tradition zu eruieren. 3 (3) Entspricht also das hier angewandte Verfahren im wesentlichen dem, mit dem die Gestalt der Logienquelle Q annäherungsweise erfolgreich erschlossen werden konnte, so ähneln sich strukturell auch die Ergebnisse und die Hauptprobleme. (a) Wie im Fall von Q, so muß auch beim PB mit (mindestens) zwei unterschiedlichen »Rezensionen« gerechnet werden, da sich zum einen innerhalb des Grundbestandes der Quelle nicht alle Differenzen zwischen Mk und Joh als redaktionell erklären lassen und da es zum anderen auch hier "sekundäre Fortbildungen (gibt), die ... nicht Werke des jeweiligen Evangelisten sein können"; 4 diese beiden »Rezensionen« des PB werden analog zu »Q Lk /Q M1 « fortan »PBMk« und »PB Joh « genannt, (b) Wie im Fall von Q, nimmt auch beim PB der Wahrscheinlichkeitsgrad der Hypothesen bei der Bestimmung der Gestalt der beiden Rezensionen ab: häufig ist es - insbesondere beim Johannesevangelium — schwierig zu entscheiden, ob eine bestimmte Variante gegenüber PB bereits Bestandteil von PB Mk bzw. PB Joh war oder ob erst der Evangelist sie vorgenommen hat. (c) Wie im Fall von Q, läßt sich auch der Wortlaut des ältesten Passionsberichtes nicht mehr genau rekonstruieren. In dieser Hinsicht besteht freilich ein gravierender Unterschied zwischen beiden Quellen darin, daß der Grad der wörtlichen Übereinstimmung zwischen Mk und Joh in ihren PB-Stoffen ungleich geringer ist als der Grad der Übereinstimmung zwischen Mt und Lk in den Q-Stoffen. Diese Differenz dürfte wesentlich darin begründet sein, daß wir es zum einen im PB mit Tatenüberlieferung zu tun haben, die bekanntlich in der Regel stärkeren Veränderungen ausgesetzt war als die Logienüberlieferung 5 und daß zum anderen der Grundbestand des PB aus den verschiedensten Gründen 6 ungleich stärker erweitert wurde als die Logien in Q. Von einer »Rekonstruktion« des ältesten Passionsberichts kann daher noch weniger als im Fall von Q die Rede sein. Es kann — und das ist nun allerdings in der Tat möglich - lediglich darum gehen, die Umrisse sowie die wesentlichen Inhalte der Quelle zu ermitteln. 3 S. zu einem solchen Fall etwa 7.6.1.; 7.6.4 A 163. 4 SATO, Q 47. 5 Man beachte in unserem Zusammenhang insbesondere die große Diskrepanz zwischen der sehr hohen Übereinstimmung von Mt und Lk in den Q-Stoffen und der sehr niedrigen in den (mk) Passionsstoffen! 6 S. dazu die Einzelanalysen in 7.6 und vorerst BULTMANNS Ausführungen zur Geschichte der Passionstradition (GST 297-308).

75

Die Entwicklung der synoptischen Tradition

(4) Bei all denjenigen Stoffen, die im Kern traditionell sind, die aber im Zusammenhang mit dem Passionsbericht nur von einem der beiden Evangelisten überliefert werden, stellt sich die Frage, ob es sich um spätere Ergänzungen handelt oder ob sie in der jeweils anderen Tradition ausgefallen bzw. vom Evangelisten

bewußt

Ubergangen worden

sind. Naturgemäß

ist

diese

überlieferungsgeschichtliche Frage in all den Fällen, in denen in der betreffenden Passionsdarstellung jede Spur von der möglicherweise

ausgefallenen

bzw. übergangenen Tradition fehlt, kaum zu beantworten - insbesondere darin nicht, wenn sich auch noch ein plausibles Motiv für eine Auslassung angeben läßt. Um hier im Einzelfall zu einem Urteil kommen zu können, ist daher eine grundsätzliche Besinnung auf die Art und Weise der Entwicklung der erzählenden Passionsüberlieferung — soweit diese auf der Basis der Zweiquellentheorie für uns nachprüfbar ist - vonnöten. 7 Grundsätzlich gilt für die Geschichte der erzählenden Passionstradition dasselbe wie für die synoptische Tradition insgesamt: die

Tradition

wächst?

Sowohl der lukanische als auch

7 Vorausgesetzt ist dabei, daß die Geschichte der johanneischen Tradition keinen wesentlich anderen Mustern folgt als die Geschichte der synoptischen Tradition. 8 S. zu den Tendenzen der Entwicklung der synoptischen Tradition zunächst die in jüngster Zeit viel kritisierten 'klassischen' Sätze Rudolf BULTMANNS aus der Einleitung zur 'Geschichte der synoptischen Tradition': "Von der Geschichte der (synoptischen) Tradition liegt zwar der größte Teil im Dunkel, ein kleiner Abschnitt ist aber doch an der Hand der Quellen zu beobachten, nämlich die Abwandlung, die der Mk-Stoff in der Bearbeitung des Mt und Lk erfahren hat. Bei aller Rücksichtnahme auf die hier hineinspielende Frage des Ur-Mk und auf die textkritischen Probleme, die nicht in jedem Fall ein sicheres Urteil ermöglichen, läßt sich doch eine gewisse Gesetzmäßigkeit in der Behandlung des Mk durch Mt und Lk feststellen. ... Kann solche Gesetzmäßigkeit wirklich festgestellt werden, so darf man annehmen, daß sie an dem Traditionsstoff schon vor seiner Fixierung in Mk und Q wirksam war, und man kann so auf ein früheres Stadium der Tradition zurückschließen, als das in unseren Quellen fixierte ist (siel), wobei es zunächst gleichgültig ist, ob die Tradition mündlich oder schriftlich erfolgte, da bei dem unliterarischen Charakter des Uberlieferungsstoffes ein prinzipieller Unterschied zwischen beiden nicht vorhanden ist" (GST 7). E.P. SANDERS weist gegenüber Bultmann zu Recht darauf hin, daß jegliche Argumentation mit den »Tendenzen der Uberlieferung« sehr behutsam vorgehen muß: "dogmatic statements that a certain characteristic proves a certain passage to be earlier than another are never justified" (Tendencies 272; im Original kursiv). Im ganzen erweist sich freilich auch s.E. die These vom Wachstum der synoptischen Tradition als zutreffend: "Unless there are offsetting considerations ..., it may be held that material which is richer in detail and direct speech (and perhaps also in Speeches, conversations, and scenes) is probably later than parallel material less rich in these items" (274). Im Fall der erzählenden Passionstradition ist die Sachlage besonders klar (s. gleich). In diesem Zusammenhang ist es im übrigen völlig rätselhaft, warum Sanders — neben den Geburts- und Auferstehungsge-

76

Methodische Klärung (Ii)

der matthäische Passionsbericht enthält eine ganze Reihe von

Geschichten,

die Markus (noch) nicht überliefert. Aus dieser Entwicklungstendenz

folgt,

daß die Diagnose eines Traditionsschwunds eingehend begründet werden muß:

er ist die Ausnahme. Im Zweifel ist daher für das Wachstum der erzählenden Passionstradition zu plädieren. Daß diese Regel der Sache tatsächlich gerecht wird, läBt sich anhand der synoptischen Passionsberichte leicht aufweisen. Nehmen wir probeweise einmal an, wir würden das Markusevangelium nicht kennen und wollten die gemeinsame Passionsq quelle des Matthäus und des Lukas ermitteln. Der Grundbestand der Quelle wäre schnell ausgemacht: er liegt in Mt 26,1-5.14-75; 27,lf.ll-26.31b-61par vor. Übrig blieben zehn Passagen, die jeweils nur von einem der beiden Evangelisten im Passionszusammenhang überliefert werden: (a) Die »Salbung« Mt 26,6-13 par Lk 7,3650; (b-d) Drei Logien innerhalb der lk Abschiedsrede Lk 22,24-27.28-30.35-38; (e) Der »Tod des Judas« Mt 27,3-10 par Acta 1,15-20; (f) Jesus vor Herodes Antipas Lk 23,6-16; (g) Die Verspottung Jesu Mt 27,27-31a; (h) Die »Töchter Jerusalems« Lk 23,27-32; (i) Einer der Mitgekreuzigten lästert Jesus Lk 23,39-43; (k) Die Wächter am Grab Mt 27,62-66. Aufgrund der »Beweislastregel« müBte man in neun oder gar in allen zehn Fällen 10 für eine sekundäre Ergänzung plädieren. Damit hätte man in acht Fällen, 11 d.h. zu 80 bzw. 88,9%, die Sachlage richtig getroffen! (5) Damit ist bereits die Frage nach der Reichweite

der Methode

ange-

schnitten. Daß es mit Hilfe des direkten Vergleichs der Passionsberichte des Markus- und des Johannesevangeliums nicht möglich ist, die älteste Passionsquelle im Wortlaut zu rekonstruieren, wurde bereits festgehalten. Möglich ist hingegen die Eruierung des Umfangs der Quelle sowie ihrer wesentlichen In-

schichten - die Passagen Mt 27,3-10.62-66; Lk 23,6-16.27-31.39-43 völlig ignoriert: alle genannten Stellen sind klare Beispiele für 'new scenes and events' und müßten daher ebd. 78-80 erscheinen. Sanders' sehr skeptisches Urteil über die Aussagefähigkeit des Kriteriums 'new scenes' ('not very strong': 275) ist m.E. von hierher revisionsbedürftig. 9 Ich wähle im folgenden als exemplarisches Feld der Analyse die Kapitel Mk 14-15 parr. 10 Was die Verspottung Jesu in Mt 27,27-31a anbetrifft, so ließe sich argumentieren, daß das sachlich evidentermaßen unsinnige άπήγαγου in Lk 23,26 — das sich im Kontext jetzt auf Juden bezieht — auf eine redaktionelle Nachlässigkeit bei der Auslassung der Verspottungsszene (in der ja die römischen Soldaten agieren) zurückzuführen ist. Das Argument bliebe allerdings zwiespältig, da die Suggestion, Juden hätten Jesus nach Golgatha geführt, auch von Lukas beabsichtigt sein könnte (cf. Acta 2,36 usw.!). 11 Lediglich im Fall der »Salbimg« Mt 26,6-13par wäre ein Fehlurteil unvermeidlich: man müßte argumentieren, daß erst Matthäus die ursprünglich eigenständige Tradition in den Zusammenhang der Passionsereignisse gestellt hat.

Die Reichweite der Methode halte; darüber hinaus läßt sich in einzelnen

77

Fällen auch ihr Wortlaut noch mit

hinreichender Wahrscheinlichkeit ermitteln. Blicken wir wiederum probeweise auf die drei synoptischen Passionsberichte. Hätten wir Mk nicht, so könnte doch — wie gezeigt — Umfang und wesentlicher Inhalt 12 sowie in Einzelfällen auch der Wortlaut der Quelle vergleichsweise problemlos ermittelt werden; die Wahrscheinlichkeit etwa, daB sie folgende Sätze bzw. Satzteile enthielt, 13 müßte als sehr hoch beurteilt werden: που θέλεις έτοιμάσωμεν Mt 26,17par; ô διδάσκαλος λέγει ... τό πάσχα μετά τ£>ν μαθητών μου 26,18par; και ήτοίμασαν τό πάσχα 26,19par; οϋαί τψ άνθρώπψ έκείνψ δι' οδ παραδίδοται 26,24par; λέγω ύ μ ΐ ν ού μή πιω (άπό) του γενήματος της αμπέλου έ'ως 26,29par; τρις με άπαρνήση 26,34par; ώς επί ληστήν εξήλθατε μετά μαχαιρών και ξύλων 26,55par; συ εί δ χριστός 26,63par; σύ ει 6 βασιλεύς των 'Ιουδαίων ... σύ λέγεις 27,llpar; usw. In all diesen (und sehr vielen anderen) Fällen hätte man — geringfügige Änderungen der Wortfolge einmal außer Acht gelassen — den Text des Markusevangeliums zutreffend »rekonstruiert«. Notwendig zu Fehlurteilen

fuhrt die Methode lediglich in folgenden zwei,

insgesamt betrachtet nicht sehr zahlreichen Fällen: (a) Bei dem oben bereits angesprochenen spurlosen schen

Ausfall

von

Tradition,

(b) Bei doppelten,

identi-

Veränderungen.

Blicken wir nochmals probeweise auf die synoptischen Passionsdarstellungen, d.h. 14

in diesem Fall: auf die sogenannten minor agreements. Sowohl Lk als auch Mt streichen die Verse Mk 14,51f. (der »nackte Jüngling«), 15,25 (Kreuzigung um neun Uhr) und 15,44 (Pilatus fragt den Zenturio, ob Jesus bereits gestorben sei), die Angabe, Simon von Kyrene sei δ πατήρ 'Αλεξάνδρου και 'Ρούφου (15,21) sowie die Verse 14,35b und 15,8; weitere substantielle doppelte Auslassungen finden sich nicht. Doppelte, identische Ergänzungen des Mk-Textes liegen vor in Mt 26,16par (εύκαιρίαν), 26,40par (προς τούς μαθητάς), 26,50par (Ίησοΰς δε ειπεν αύτψ), 26,52par (eine Antwort Jesu auf den »Schwertstreich«), 26,68par (τίς έστιν ó παίσας σε), 26,75par (έξέλθων έ"ξω έ'κλαυσεν πικρως) sowie 27,54par (έκατοντάρχης/έκα-

12 Zu den Fehlerquellen s. gleich. Natürlich ist der Sachverhalt im Fall PB — Mk/Joh insofern komplizierter, als beide Evangelisten diese Quelle nicht unmittelbar vorliegen hatten; diese Differenz zum Verhältnis von Mt/Lk zu Mk ist hingegen keine qualitative. 13 Ich treffe im folgenden nur eine sehr kleine Auswahl. 14 Die kontroverse Frage nach der Entstehung der minor agreements braucht hier nicht diskutiert zu werden. Sicher ist mit einer gewissen Beeinflussung von Mt und Lk durch mündliche Tradition zu rechnen. Auch die Möglichkeit, daB das ihnen vorliegende Markusevangelium nicht identisch mit dem 'heutigen' kanonischen Mk ist (»Deuteromarkus«), muß in Betracht gezogen werden, auch wenn — meistens — textkritische Indizien für einen solchen Mk-Text fehlen. Cf. dazu jetzt die Beiträge des Göttinger minor agreements — Symposiums von 1991 (Minor Agreements, Hrsg. G. STRECKER, G TA 50, Göttingen 1993).

78

Methodische Klärung (Ii)

τόνταρχος); weitere einigermaßen signifikante doppelte Ergänzungen finden sich nicht. 15 In allen genannten Fällen würde man beim Versuch einer »Rekonstruktion« des Markusevangeliums notwendig falsch urteilen. Gemessen an der Zahl der richtigen Urteile fielen diese Fehlurteile — die im übrigen zumeist bei eher peripheren Details auftreten — allerdings kaum ins Gewicht. Überblickt man den Bereich der für uns auf der Basis der Zweiquellentheorie nachprüfbaren Entwicklung der erzählenden

Passionstradition,

so

muß per

Analogieschluß geurteilt werden, daß die in dieser Untersuchung in Anschlag gebrachte Methode erfolgversprechend ist: Wird den genannten methodischen Forderungen Rechnung getragen, ist ihre Trefferquote hoch und ihre — unvermeidbare - Fehlerquote vergleichsweise gering.

15 Eine vollständige Auflistung aller (auch der m.E. scheinbaren) minor findet sich bei NEIRYNCK, Minor Agreements 167-192.

agreements

6. Ermittlung der ältesten Passionstraditionen Die johanneische Passionsdarstellung basiert nach unserer Analyse - wie das gesamte Evangelium - auf eigenständiger Tradition (Kapitel 3), der lukanischen liegt - ebenso wie der matthäischen - allein der Markustext zugrunde, den der dritte Evangelist durch Eigenkompositionen und sekundäre Sondertraditionen anreichert (Kap. 4). Primärtradition über Passion und Tod Jesu liegt demnach allein im markinischen und im johanneischen Passionsbericht vor. Diese werden im folgenden auf der Suche nach dem Umfang der ältesten Tradition analysiert (Kap. 6-7). Vorausgesetzt wird, daß die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zur primären Passionstradition bei solchen Stoffen besonders hoch ist, die von beiden Evangelisten überliefert werden.1 Sie werden vorläufig insgesamt dem PB zugerechnet (Kap. 6.1). Darüber hinaus ist jetzt zu klären, ob dieser Grundbestand um solche Stoffe erweitert werden kann, die nur von einem der Evangelisten überliefert werden (Kap. 6.2).

6.1. Der Markus und Johannes gemeinsame Stoff Welche Stoffe gehören zur vormarkinischen und zur vorjohanneischen Passionstradition? Die Zuordnungen sind nicht unumstritten. Ich ermittle hier zunächst den Maximalbestand, der im folgenden weiter eingegrenzt werden wird, bis schließlich unter 7.5 der Umfang des PB genauer bestimmt werden kann. Ausgangspunkt ist der Kernbestand der beiden Passionsgeschichten: Mk 14,1 - 16,8 und Joh 18,1 - 20,18. Vom markinischen Text ausgehend, stößt man auf Joh 11,47 - 12,11 (par Mk 14,1-9) sowie Joh 2,19; 13,2.21-30.36-38; 14,31c (par Mk 14,58/15,29; 14,10/18a.l8b-21.29-31.42a). Liest man den johanneischen Text in Kapitel 12 weiter, entdeckt man eine weitere Parallele: Joh 12,12-19 par Mk 11,1-10. Liest man schließlich den markinischen Text in Kapitel 11 weiter, findet man eine letzte Parallele: Mk 11,15-18 par Joh 2,13-17.

1 Cf. o. 5.

Ermittlung der ältesten Passionstraditionen

80

Damit ergibt sich folgender gemeinsamer Stoff:

Mk

Joh

Einzug nach Jerusalem:

11,1-10

12,12-19

»Tempelreinigung«:

11,15-17

2,13-17

»Todesbeschluß«:

14,1-2

11,47-57

Salbung in Bethanien:

14,3-9

12,1-11

Ankündigung der Auslieferung:

14,17-21

13,21-30

Ankündigung der Verleugnung:

14,29-31

13,36-38

Gefangennahme:

14,43-52

18,1-11

Hohepriesterverhör:

14,53.55-65

18,12-14.19-24

Petrusverleugnung:

14,54.66-72

18,15-18.25-27

Pilatusverhör mit Barabbasszene:

15,l-15a

18,28-38; 19,4-16a

Geißelung und Verspottung:

15,15b-20a

19,1-3

Kreuzesweg und Kreuzigung:

15,20b-41

19,16b-30

Begräbnis:

15,42-47

19,38-42

L e e r e s Grab:

16,1-8

20,1-18

Hinzu kommen einige kleinere Übereinstimmungen: Mk 14,10/18a par Joh 13,2 (Judas wird Jesus ausliefern; die Ankündigung dieser Auslieferung erfolgt bei einem Mahl); Mk 14,42a par Joh 14,31c (εγείρεοθε αγωμεν, unmittelbar vor der Gefangennahme); 2 Mk 14,58/15,29 par Joh 2,19 (das »Tempelwort«).

6.2. »Sondergut« der beiden Evangelisten Von der Untersuchung ausgeschlossen bleiben folgende Texte: (a) die Streit- und Schulgespräche in Jerusalem Mk l l , 2 7 - 3 3 ; 3 12,13-40;

2 Die Kapitel 15-17 des Joh-Ev sind sehr wahrscheinlich Zusätze späterer Redaktion; s. SCHNACKENBURG, Johannes III 102; BROWN, John XXXVII; BECKER, Johannes 572 u.u. 7.6.3. 3 Vereinzelt wird erwogen, ob Mk 11,27-33 ursprünglicher Bestandteil von PB M k gewesen ist (BECKER, Johannes 144.634; dezidiert: PESCH, Markus II 208f„ SCHWEIZER, Markus 130 erwägt einen Zusammenhang zwischen dem ταύτα in 11,28 und der »Tempelreinigung«): die Vollmachtsfrage ähnelt Joh 2,19-22, sie könnte ursprünglich auch bei Mk unmittelbar hinter der »Tempelreinigung« gestanden haben. Dagegen: Mk ll,27ff. hat sachlich nichts mit Joh 2,19ff. zu tun. Der Abschnitt gehört formal zu den Streitgesprächen; er hat seine Parallelen in Mk 3,1-6; 12,13-17, nicht in der markinischen Passionsgeschichte. Darüber hinaus: nirgendwo sonst im mk Passionsbericht wird Johannes der Täufer erwähnt.

»Sondergut« der beiden Evangelisten

81

(b) die Verfluchung des Feigenbaumes, das Gleichnis von den bösen Winzern sowie die Geschichte vom »Scherflein« der armen Witwe Mk 11,12-14.1925; 12,1-12.41-44; (c) die synoptische Apokalypse Mk 13; (d) die Hellenenrede Joh 12,20-36; (e) der Abschluß der öffentlichen Wirksamkeit Jesu Joh 12,37-50; (f) die Fußwaschung Joh 13,l-20*4 sowie (g) die Abschiedsreden Jesu Joh 13,31-35; 14,1-17,26.5 Bei allen diesen Stoffen ist es evident, daß sie »Sondergut« der Evangelisten sind, das erst sekundär in den Rahmen der jeweiligen Passionsdarstellung eingebettet wurde.6 Behandelt werden alle übrigen Passagen, die außerhalb der unter 6.1 genannten Szenen nur einfach im Passionszusammenhang überliefert sind: (1) Mk 14,10f. (Judas nimmt Kontakt mit den Hohepriestern auf); (2) Mk 14,12-16 (die Vorbereitung des Paschamahls); (3) Mk 14,22-25 (die Einsetzung des Abendmahls); (4) Mk 14,26-28 (die Ankündigung der Jüngerflucht); (5) Mk 14,32-42 (Gethsemane) sowie (6) Joh 19,31-37 (die Feststellung des Todes Jesu). Handelt es sich hierbei um primäre oder sekundäre Bestandteile der erzählenden Passionstradition? Kann nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht werden, daß der jeweils andere Evangelist die betreffende Passage in seiner Passionsquelle gelesen hat? 7 Wenn ja: welche Gründe nötigten ihn zur Streichung? Wenn nein: welche Motive führten zur Erweiterung der primären Passionstradition?

4 5 6

7

Schließlich: bereits die Zugehörigkeit der »Tempelreinigung« zu PB M k ist fraglich (s.u. 7.4.2). Cf. GNILKA, Markus II 137f„ insbesondere 137 A4; LÜHRMANN, Markus 197. Mit Ausnahme des Verses Joh 13,2, der die Fuß Waschung in den Zusammenhang eines letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern stellt. Dazu s. gleich und u. 7.6.3. Mit Ausnahme des Halbverses Joh 14,31c; dazu s.u. 7.6.3-4. Hierüber besteht in der Forschung ein weitreichender Konsens. Anders PESCH, der den Umfang des vormarkinischen, und das heißt für ihn: des ältesten Passionsberichts bis Mk 8,27 ausdehnt (Markus II l). So wenig überzeugend diese These bereits bei einer rein innermarkinischen Analyse ist (zur Kritik s. vor allem LUZ, Markusforschung 643-646), so unmöglich wird sie angesichts der Tatsache, daß der vierte Evangelist lediglich Passionstraditionen mit Parallelen in den Kapiteln Mk 11; 14-16 überliefert. Demnach müfiten also Mk 8,27-33; 9,2-13.30-35 usw. in der joh Tradition ausgefallen oder vom Evangelisten übergangen worden sein. Diese Annahme ist schlechterdings unbegründbar. Mit dieser Formulierung greife ich dem Ergebnis von 7.7.2 voraus.

82

Ermittlung der ältesten Passionstraditionen

(1) Mk 14,10-11: Judas nimmt Kontakt mit den Hohepriestern auf Johannes bietet keine entsprechende Überlieferung. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Mk 14,10 weist zwar der Halbvers Joh 13,2b auf ('Ιούδας Ίσκοφιωθ, ϊνα παραδοΐ αύτόν); dieser ist allerdings aus ganz anderen Gründen der Redaktion des Joh-Ev zuzuschreiben. 8 Es gibt daher keine Indizien dafür, daß der vierte Evangelist eine Passage über eine Kontaktaufnahme des Judas mit den Hohepriestern in seiner Passionsquelle gelesen hat. Inhaltlich bietet Mk 14,10f. nicht mehr als das, was aus den nachfolgend geschilderten Ereignissen problemlos erschlossen werden konnte: wenn Judas später (14,43ff.) mit den jüdischen Autoritäten gemeinsame Sache macht, muß er sich vorher mit ihnen natürlich besprochen haben; daß bei einer Auslieferung Geld im Spiel ist, ist naheliegend. Sprachlich entsprechen die Verse mk Stil; eine vormarkinische Einheit von 14,lf. und 14,10f. ist nicht nachzuweisen. 9 Vielfach wird daher mit Recht geschlossen, daß erst Markus diese Verse komponiert habe. 10 Das Motiv für diese Erweiterung der primären Passionstradition ist die erzählerische Vorbereitung der Gefangennahme in Mk 14,43. Darüber hinaus wirkt sich hier die auch andernorts zu beobachtende Tendenz aus, 'den konkreten Akt zu malen' (Bultmann); dieselbe Tendenz führt später bei Lukas und bei Matthäus zu einer noch detaillierteren Darstellung der Szene. Fazit: Die Verse Mk 14,10-11 sind sehr wahrscheinlich eine markinische Komposition. In keinem Fall gehören sie zur primären Passionstradition. 11 (2) Mk 14,12-16: Die Vorbereitung des Paschamahls Die im wesentlichen traditionelle 12 Passage, die an Mk ll,lb-7 erinnert, 13 hat keine Entsprechung im Johannesevangelium. Es gibt keine Anzeichen da8 Die Satzkonstruktion 13,1-4 ist völlig überladen und praktisch unübersetzbar; V.2b widerspricht V.27 geradewegs. Cf. BULTMANN, Johannes 353: die Glosse "soll, höchst unnötig, auf V.11.18f.21-30 vorbereiten." Ebenso SCHNACKENBURG, Johannes III 11; THYEN, Joh 13, 246f.; BECKER, Johannes 499ff.; auch HAENCHEN, Johannes 455 A l . 9 Gegen BULTMANN, GST 300; DIBELIUS, FdE 178ff. uva. 10 SCHENKE, Markus 14, 119-140; GNILKA, Markus II 228; SCHMITHALS, Markus 598 u.a. 11 Gegen PESCH, Markus II 337ff. und GREEN, Death 232; Greens Argument: "While John has nothing that corresponds strictly with Mark 14:10-11, he does know that Judas made a treacherous pact ... with the Jewish authorities" (Kursive hinzugefügt) trifft nicht zu: Johannes weiß de facto nichts davon. 12 Die Sprache der Verse ist groBenteils unmarkinisch, wie vor allem die sieben mk Hapaxlegomena zeigen (θΰειν, κεράμιον, βαστάζει, οικοδεσπότης, κατάλυμα, άυάγοαον, έτοιμος). Gegen LÜHRMANN, Markus 236 ist eine Komposition der Passage durch den Evangelisten daher äußerst unwahrscheinlich.

»Sondergut« der beiden Evangelisten

83

fur, daß der vierte Evangelist sie in seiner Passionsquelle PB , o h gelesen hat. 14 Auch aus einer Reihe von anderen Gründen besteht ein weitreichender Konsens darüber, daß Mk 14,12-16 nicht zur primären Passionstradition gehört, daß diese Verse vielmehr erst sekundär - und zwar sehr wahrscheinlich bereits von einer vormarkinischen Redaktion - 1 5 in PB M k integriert wurden: (a) 14,12 datiert den Todestag Jesu auf das Paschafest. Diese Datierung hat nicht nur keinen Anhalt an den übrigen Stoffen der mk Passionsgeschichte, sie widerspricht auch Mk 15,21 (wonach Simon von Kyrene άπ

άγροϋ, d.h.: von der

Feldarbeit kommt) 16 und der johanneischen Passionschronologie (wonach Jesus einen Tag vor dem Paschafest gekreuzigt wird: 19,14 u.ö.). Darüber hinaus ist sie nach allen bekannten jüdischen Kalendern in sich falsch: sie identifiziert den 14. mit dem 15. Nisan. Man kann sie nur erklären, wenn man entweder annimmt, hier schreibe ein Unkundiger, oder aber, hier schreibe ein Kundiger für solche Nichtjuden, die die jüdische Tageseinteilung nicht kennen, denen man diese also »übersetzen« muß. 17 (b) Das Paschamahl wird in 14,12-16 zwar vorbereitet, danach aber nicht - jedenfalls nicht explizit - vollzogen, (c) Die

13 Dazu s.u. 7.6.2. 14 Es sei nebenbei bemerkt, daß die häufig vorgetragene These, die Streichung der Passage werde ihren Grund darin haben, daß Johannes Jesus als das wahre Paschalamm darstellen wolle und folglich die mit Mk 14,12 gegebene Datierung des letzten Mahls unterdrücken müsse, nicht überzeugend ist. "Für gewöhnlich sagt man: Er wollte Jesus als das wahre Paschalamm hinstellen, das zur gleichen Stunde am Kreuz starb, in der die Paschalämmer im Tempel geschlachtet wurden. Aber diese Auffassung steht auf schwachen FüBen; gerade das sagt der Evangelist nicht, man erschließt es nur aus seiner Chronologie und seinem Interesse am Paschageschehen" (SCHNACKENBURG, Johannes III 42). Zum Problem der Chronologie s. u. II 2.9. 15 Die Passage ist notwendig auf den Kontext der Passionsgeschichte angewiesen, kann also nicht selbständig überliefert und erst von Markus hier eingefügt worden sein; gegen MYLLYKOSKI, Letzte Tage 177. 16 Es fehlt zwar nicht an Versuchen, Mk 15,21 mit der Paschadatierung der Kreuzigung abzugleichen-, cf. schon DALMAN, Jesus 93f. Hingegen impliziert die Formel doch wohl notwendig, daß Simon von der Arbeit kommt: Was sonst pflegt man auf einem Acker zu tun? Man mache die Probe aufs Exempel: der »judaistisch« kundige Matthäus läßt die betreffende Notiz weg (27,32)! Zutreffend LÜHRMANN, Markus 259. 17 Zu letzterem s. BJ V 3,1 (99). Zum Problem cf. BULTMANN, GST 284; GNILKA, Markus II 232f.; LÜHRMANN, Markus 235f. Für PESCHS Hypothese, der vormk Passionsbericht sei vor dem Jahre 37 für sachkundige Leser(innen) geschrieben worden (Markus II Iff. u.ö.), stellt 14,12 ein unüberwindliches Hindernis dar. Nota bene, daß Matthäus, der sein Mk-Exemplar tatsächlich als Sachkundiger liest, den zweiten Teil der problematischen Phrase streicht (οίε κτλ.)!

84

Ermittlung der ältesten Passionstraditionen

Passage zielt zweifellos ab auf das Motiv des wunderbaren Vorherwissens Jesu; darin offenbart sich ein überlieferungsgeschichtlich relativ spätes Stadium.18 Das Motiv für die Erweiterung der primären Passionstradition um Mk 14,1216 ist zweifellos die Absicht, Jesu letztes Mahl explizit mit dem Paschafest in Verbindung zu bringen. Darüber hinaus kommt hier offenbar Erzählfreude zum Tragen; Vorbild der Geschichte ist wohl LXX 1 Kön 10: die Übereinstimmungen gehen bis in die Wortwahl (άπελθης, εϋρήσεις, απαντήσεις). Fazit: Die Verse Mk 14,12-16 sind sehr wahrscheinlich eine vormarkinische Ergänzung zu PB Mk . In keinem Fall gehören sie zur primären Passionstradition. (3) Mk 14,22-25: Die Einsetzung des Abendmahls Der Einsetzungsbericht wird im Johannesevangelium nicht überliefert; die Frage, ob der vierte Evangelist diese Tradition dennoch gekannt hat, wird heftig diskutiert. Deutlich und in unserem Zusammenhang allein ausschlaggebend 19 ist, daß es keine Anzeichen dafür gibt, daß Johannes einen Mk 14,22-25 vergleichbaren Text in seiner Passionsquelle gelesen hat: nirgendwo in Joh 13 findet sich eine Anspielung auf den Einsetzungsbericht, insbesondere nicht zwischen V.21 und 36, wo der Text - die Parallelität zu Markus vorausgesetzt gestanden haben müßte. D.h.: die These, der vierte Evangelist habe die Einsetzung des sakralen Mahls - aus welchen Gründen auch immer - 2 0 aus PB Ioh gestrichen, basiert auf einer petitio principii, sie muß voraussetzen, was zu beweisen wäre. Zutreffend urteilt Jürgen BECKER: Daß der Einsetzungsbericht "in Joh 13 ausgefallen ist oder die Fußwaschung dafür steht, läßt sich keinesfalls begründen" (Johannes 270f.).

18

Cf. BULTMANN, GST 283f.; DIBELIUS, FdE 189f. ; SCHENK, PB 182ff.; DORMEYER, Passion 88ff.; GNILKA, Markus II 232; MOHR, Markuspassion 162f.; MYLLYKOSKI, Letzte Tage 177. 19 Die Tatsache, daß das Joh-Ev in 6,51c-58 - seien die Verse nun redaktionell oder nicht (s. die Positionen bei SCHNACKENBURG, Johannes II 84ff. und BECKER, Johannes 263ff.) — eine gegenüber der synoptischen Tradition völlig eigenständige Interpretation der Eucharistie überliefert, gibt keinen weiteren Aufschluß; sie läßt sich von beiden Positionen aus erklären: Entweder repräsentiert der Text schlicht die typisch johanneische Tradition (z.B. Becker, ebd. 270f.51l), oder er markiert eine bewuBte Distanz zur synoptischen Tradition (z.B. BARRETT, John 8 5 ; GREEN, Death 116f.). 20 Das Angebot möglicher Gründe für eine Streichung ist reichhaltig. Am prominentesten sind die Positionen von BULTMANN (Johannes, 162.360: Joh stehe den Sakramenten kritisch gegenüber) und JEREMIAS (Abendmahlsworte 118f. : Joh wolle aus Gründen der Arkandisziplin den heiligen Text nicht der Öffentlichkeit preisgeben).

85

»Sondergut« der beiden Evangelisten

Blicken wir nun auf den markinischen Text. Es ist schon immer aufgefallen, daß die Einleitung der Abendmahlsszene in V.22 (και έσθιόντων αϋτων mit V.18 konkurriert (και άνακειμένων αύιων και έσ&ιόντων).21 1 Kor 11,23-26 beweist, daß die Einsetzungsworte als selbständige Tradition überliefert wurden. Auch Mk 14,22ff. weist keinen Zusammenhang mit dem Kontext Passionsgeschichte

auf, läßt sich vielmehr

leicht herauslösen. Aus

der

diesen

Gründen liegt die Vermutung nahe, der Abschnitt sei erst sekundär in PB Mk eingetragen worden. 2 2 Nimmt man nun diese Beobachtung mit der anderen zusammen, daß Johannes den Einsetzungsbericht nicht überliefert, dann ergibt sich: sehr wahrscheinlich gehört Mk 14,22-25 nicht zur primären Passionstradition. Das Motiv für deren Erweiterung ist klar: e s ist die Verankerung des liturgischen Textes im Leben Jesu. Analoge Vorgänge sind in großer Zahl belegt; genannt sei nur ein unbezweifelbares Beispiel aus dem Alten Testament: die Priesterschrift redatiert ihre grundlegenden Bestimmungen in die Zeit des Mose (Ex 25-31; 35-40 etc.). Der gegenteilige Nachweis der Zugehörigkeit von Mk 14,22-25 zur ältesten Passionstradition kann trotz aller Bemühungen schwerlich gelingen: weder läßt sich eine feste Verankerung des Textes im Kontext aufzeigen, 2 3 noch, daß hier im Gegensatz zu 1 Kor 11 klar von einem Paschamahl die Rede s e i . 2 4

21 Cf. nur BULTMANN, GST 285 uva. 22 So BULTMANN; GST 285f.; DIBELIUS, FdE 2T)7f.; LIETZMANN Herrenmahl 212f.; GNILKA, Markus II 240; LÜHRMANN, Markus 230.240; KOLLMANN, Mahlfeier 156-161; MYLLYKOSKI, Letzte Tage 147; auch GREEN, Death 241. 23 So PESCH, Markus II 354; MOHR, Markuspassion 185ff. u.a. Mohr setzt den Zusammenhang thetisch (z.B. 205: "Mk 14,22-25 ... setzt 14,18-21 voraus"; der Satz ist m.E. schlicht falsch); die Frage, warum Johannes (der nach Mohr ja einen "P" vergleichbaren Bericht vorliegen hatte; cf. o. 1.2) zwar die Verratsankündigung überliefert, nicht aber das (s.E.) ursprünglich darauf folgende Abendmahl, wird von ihm nicht gestellt. Pesch findet eine feste Verankerung im Kontext darin, daB V. 22-25 "wie die vorangehenden und nachfolgenden Erzähleinheiten auf Jesu Worte konzentriert (!) und mit ihnen durch Jesu Prophetien ... deutlich verbunden" ist (ebd.). Nun trifft das erste beinahe auf das gesamte Markusevangelium zu, und das zweite ist nicht richtig: Mk 14,22-25 könnte unverändert ebensogut etwa hinter 8,33 stehen. 24 JEREMIAS' umfangreiche Liste (Abendmahlsworte 35-82; cf. bereits DALMAN, Jesus (80)98-166; BILLERBECK, IV 41-76) zeigt bestenfalls, daß man den markinischen Text so verstehen kann. Es bedarf dazu jedoch einer umfänglichen Eisegese. Zutreffend urteilt BULTMANN, GST 285f. A4 (gegen Billerbeck und Dalman): Kein Leser kann "aus dem Mk-Bericht ersehen, daß es sich V.22 um die Einleitung der Paschamahlzeit, V.23 um den Schluß (den 'Segensbecher') handelt", zumal ja "die Hauptsache der Mahlzeit, das Paschalamm, überhaupt nicht erwähnt" ist. Er schließt zu Recht, es handele sich hierbei um 'künstliche

86

Ermittlung der ältesten Passionstraditionen

Die formale Differenz beider Texte schließlich - 1 Kor ll,23ff. ist eine Kultätiologie, Mk 14,22ff. hat stärker berichtenden Charakter - läßt sich nicht für ein höheres Alter der Markusfassung in Anspruch nehmen. 2 5 Die vormarkinische Passage Mk 14,12-16 setzt die Existenz des Einsetzungsberichtes in PB M k voraus: sie verlangt notwendig eine Fortsetzung in der Form der Schilderung eines Mahls im vorbereiteten Saal (l4,15f.). Da sich nicht zeigen läBt, 26

daß 14,22ff. eine ursprüngliche Schilderung einer Paschamahlzeit verdrängt hat, muß davon ausgegangen werden, daß 14,22-25 entweder gleichzeitig mit 14,12-16 in PB M k eingetragen wurde, oder daß PB auf seinem Weg zu der Markus vorliegenden Quelle (mindestens) zweimal redaktionell ergänzt wurde. 2 7 Fazit: Die Verse Mk 14,22-25 sind sehr wahrscheinlich eine (frühe) vormarkinische Ergänzung zur primären Passionstradition. (4) Mk 14,26-28: Die Ankündigung der Jüngerflucht Johannes bietet keine entsprechende Überlieferung. Eine gewisse

Ähnlich-

keit zu Mk 14,27 weist zwar der Vers Joh 16,32 auf (ιδού έρχεται ωρα και ελήλυθεν ίνα σκορπιοθητε έκαστος εις τά ίδια κάμέ μόνον άφητε). Er steht aber an völlig anderer Stelle, noch dazu im wahrscheinlich literarisch sekundären Teil der Abschiedsreden; 2 8

auch

sprachliche

Übereinstimmungen

mit

Mk

14,27 finden sich nicht. Im Gegensatz zu ihrer Ankündigung ist allerdings die Jüngerflucht

selbst

in

der joh

Darstellung

der

Gefangennahme

enthalten

(18,8f.), wenn auch in völlig anderer Form als bei Markus (14,50-52): es handelt sich eher um einen »freien Abzug« denn um eine Flucht.

25

26 27 28

Bemühungen' (ebd.). Schön auch LIETZMANN, Herrenmahl 212: "man muß maximale Unwahrscheinlichkeiten kombinieren, um zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen." So PESCH, Abendmahl 34ff. 76ff. ; ders., Markus II 354f. 369ff. ; ders., Evangelium 1983, 125ff.; MOHR, Markuspassion 206. Dagegen: 1 Kor ll,23ff. ist der ältere Text von beiden. Daher trägt die Beweislast, wer zeigen will, daß die Mk 14 zugrundeliegende Tradition noch älter ist. Der stärker berichtende Charakter des Mk-Textes trägt dafür nichts aus, da Markus — gesetzt den aufgrund der Entstehungszeiten der Schriften erst einmal wahrscheinlicheren Fall, daß die in 1 Kor 11 überlieferte Tradition die ältere ist — die Kultätiologie selbstverständlich seiner Passionsdarstellung anpassen mußte. Möhrs Argument "Das Fehlen einer hinreichenden Einleitung, wie sie Pis in 1 Kor 11,23b noch erhalten hat, spricht deutlich gegen den ursprünglich selbständigen Charakter von Mk 14,22-25" (ebd. 188f.) ist naiv; zutreffend GNILKA, Markus II 240; LÜHRMANN, Markus 239f. So BULTMANN, GST 285f.; zutreffend GNILKA, Markus II 240. Cf. dazu auch u. 7.4.1 A 54. S.o. A 2.

»Sondergut« der beiden Evangelisten

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Dieser Sachlage entspricht, daß der Text Mk 14,26-28 deutliche Spuren redaktioneller Bearbeitung aufweist. Es ist nahezu allgemein anerkannt, daß Mk 14,28 ein markinischer Querverweis auf das Ende seines Evangeliums ist: in 16,7 zitiert der Engel diesen Vers, der an seinem jetzigen Ort klar den Zusammenhang von V.27 und 29 (οκανδαλίζειν) unterbricht. 29 Der Vers 14,26 bringt entweder erneut Paschabezug in die Szene ein — das ΰμυεΐν könnte sich auf den zweiten Teil des Pascha-Hallels beziehen - 3 0 oder er ist eine dem Gegenstand angemessen feierlich gehaltene markinische Verbindungsnotiz. 31 In jedem Fall setzt er die sekundäre Passage 14,22-25 voraus. Der Vers 27, der Petrus das Stichwort für die Bekräftigung seiner Treue gibt, gehörte sicher bereits vormarkinisch mit V.29-31 zusammen und könnte insofern Bestandteil der primären Passionstradition sein. 32 Da Johannes ihn offensichtlich aber in seiner Quelle nicht gelesen hat, handelt es sich wohl eher um eine Ergänzung einer vormarkinischen Redaktion, die hier wiederum einen Schriftbezug nachträgt (cf. o. 14,12-16 und u. ll,lb-7; 14,18b). Das Motiv für diese Erweiterung ist klar: auch der dritte Skandal der Passionsgeschichte (neben Judasauslieferung und Petrusverleugnung) soll im voraus angekündigt werden. Fazit: Mk 14,26-28 gehören nicht zur primären Passionstradition. V.28 (und V.26?) ist redaktionell; V.27 (und V.26?) ist wohl eine vormarkinische Ergänzung zu PB Mk . (5) Mk 14,32-42: Gethsemane Johannes bietet keine entsprechende Überlieferung. Es scheint hingegen, als verarbeite er Bruchstücke aus der Gethsemaneszene in Joh 12,23.27; 18,11 (par Mk 14,41.34f.36). Eine Reihe von Exegeten nimmt daher an, er kenne die Gethsemanetradition und transformiere sie in spezifisch johanneischer Weise. 33 Problematisch an dieser These ist, daß die möglichen Anspielungen auf die Gethsemanetradition allesamt derart vage sind, daß es nicht zu erweisen ist, 29 Cf. nur BULTMANN, GST 287; KLOSTERMANN, Markus 148f. ; GNILKA, Markus 251f.; LÜHRMANN, Markus 242 und die lange Liste bei MOHR, Markuspassion 215 A l l . 30 So JEREMIAS, Abendmahlsworte 49; GNILKA, Markus II 247; PESCH, Markus II 379; SCHMITHALS, Markus 626; zweifelnd LÜHRMANN, Markus 242. Dagegen: LINNEMANN, Passionsgeschichte 86f. 31 KLOSTERMANN, Markus 149; LINNEMANN, Passionsgeschichte 87; SCHENKE, Markus 14, 348-354; LÜHRMANN, Markus 230. 32 So GNILKA, Markus II 252. 33 BULTMANN, Johannes 327 A7; HAENCHEN, Historie 58; DAUER, Passionsgeschichte 201.312; BECKER, Johannes 452ff.; ähnlich FELDMEIER, Krisis 39-49; MYLLYKOSKI, Letzte Tage 157.

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Ermittlung der ältesten Passionstraditionen

daß Johannes eine Szene wie Mk 14,32-42 in seiner Passionsquelle gelesen hat. Dies aus fünf Gründen: (a) Das eigentliche Geschehen in Gethsemane wird von Johannes nirgends erwähnt; alle Analogien treten im Rahmen von Jesuslogien auf. (b) Der Kontext, in dem diese Jesuslogien im vierten Evangelium stehen, ist ein völlig anderer als bei Markus. Darüber hinaus sind jene über sechs Kapitel verstreut; sie erscheinen nicht einmal in der mk Reihenfolge. (c) Sprache und Motive von zwei der drei Logien sind sehr johanneisch (13,23.27: έλήλυθεν ή ωρα, δοξασθηναι; ψυχή, ταράσσειν, πατήρ, ωρα; zu dem joh Hapaxlegomenon ποτηριού in 18,11 s.u.). (d) Die sprachlichen Übereinstimmungen mit Mk sind eher gering (12,23: (ελήλυθεν) ή ώρα, ô υιός τοΰ ανθρώπου; 12,27: ή ψυχή μου, (ωρα); 18,11: το ποτήριον, ô πατήρ), die inhaltlichen Differenzen hingegen erheblich, (e) Der Ortsname "Gethsemane" wird von Joh nirgends erwähnt; Jesus wird in 18,1 vielmehr πέραν τοΰ χειμάρρου του Κεδρών - eine sicher traditionelle Notiz - verhaftet. Unser Problem wird nun zusätzlich dadurch kompliziert, daß sich in der Forschung nicht einmal Ansätze eines Konsenses darüber abzeichnen, wie die Gethsemaneszene vormarkinisch ausgesehen hat. Einigermaßen deutlich ist allein, daß die von Mk jetzt dargebotene Überlieferung nicht einheitlich ist.34 Ihre Dekomposition ist hingegen "extrem schwierig, wie die unterschiedlichen Resultate der Einzelbemühungen unter Beweis stellen."35 Ist die Perikope aus zwei ursprünglich selbständigen Traditionen zusammengesetzt worden? 36 Wenn ja, welche Verse gehören zu Tradition "A", welche zu Tradition "B"? Oder ist ein Grundbestand sekundär erweitert worden? 37 Wenn ja, welche Verse gehören zu diesem Grundbestand? In unserem Zusammenhang entscheidend ist folgende Beobachtung: wie immer man Mk 14,32-42 auch dekomponiert, in jedem Fall gilt die Ortsangabe και έρχονται εις χωρίον οΰ τό δνομα Γεθσημανί (32a) als traditionell.38 Genau diese überliefert Johannes jedoch nicht, sondern bietet in 18,1 offenbar konkurrierende Tradition. Für eine redaktionelle Streichung des Ortsnamens »Gethsemane« läßt sich kein plausibler Grund angeben.39 Ließ sich bislang lediglich nicht erweisen, 34 Gegen LOHMEYER, Markus 313, PESCH, Markus II 386; FELDMEIER, Krisis 67-112. 35 GNILKA, Markus II 256 mit Verweis auf die divergenten Ergebnisse von Linnemann, Schenke, Mohn, Schenk, Dormeyer (jeweils op. cit.) u.a. 36 K.G. KUHN, Gethsemane, pass.; SCHENK, PB 193-206 u.a. 37 BULTMANN, GST 288f.; DIBELIUS, FdE 212ff. ; LINNEMANN, Passionsgeschichte 11-32; SCHENKE, Mk 14, 461-540; MOHN, Gethsemane, pass. u.a. 38 S. die Analysen der genannten Untersuchungen und dazu GNILKA, Markus II 256f. A5. 39 Johannes überliefert sonst alle aus dem markinischen Passionsbericht bekannten

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daß der vierte Evangelist die Gethsemaneszene kannte, so liegt darin nun ein starkes Indiz gegen eine solche Kenntnis. Wie sind dann aber die bestehenden Übereinstimmungen zu erklären? Die Antwort muß differenziert ausfallen. (a) Joh 12,23b ist ein Logion, das zwei typisch johanneische Motive miteinander verbindet: das TCommen der Stunde' und die 'Verherrlichung des Menschensohnes'. Bereits in 2,4 sagt der johanneische Jesus οΰπω ηκει ή ωρα μου; in 7,30 und 8,20 wird wortgleich (!) erklärt, Jesus sei nicht festgenommen worden, ότι οΰπω έλήλυθεν ή ωρα αύτοΰ (cf. auch 13,1 u.ö.). Die notwendige Verherrlichung des Menschensohnes wird 3,14 angekündigt: ύψωθηναι δει τον uìòv του ανθρώπου; cf. auch 13,31: νυν έδοξάσθη ó υιός του ανθρώπου. Beachtet man darüber hinaus die erheblichen inhaltlichen Differenzen zu Mk 14,41 (ιδού ποφαδίδοται ó υιός του ανθρώπου εις τάς χείρας των αμαρτωλών) sowie die Tatsache, daß letzteres ein typisch markinisches Logion ist (cf. 9,31; 10,33 !), so muß geurteilt werden, daß die sprachliche Übereinstimmung zwischen Joh 12,23b und Mk 14,41 eine zufällige ist. (b) Joh 12,27 basiert auf Ps 6,4f. LXX (και ή ψυχή μου έταράχθη... κύριε... οώσόν με), Mk 14,34a auf Ps 41,6.12 LXX (ίνα τι περίλυπος εΤ, ψυχή). Die sprachliche Übereinstimmung zwischen beiden Versen hat ihren Grund demnach sehr wahrscheinlich allein darin, daß beide Evangelisten hier ein Motiv der alttestamentlichen Leidenspsalmen aufgreifen. Gleiches gilt schließlich für Joh 18,11c·. der Vers basiert ebenso wie Mk 14,36 auf dem alttestamentlichen Motiv des Schicksalsbechers; cf. vor allem Jes 51,22: xò ποτήριον... (και) ού (προοθήση έτι) πιεΤν αύτό (auch Jes 51,17; Ps 10,6; 74,9; Jer 30,6; 32,15 jeweils LXX). Alle Übereinstimmungen lassen sich also problemlos ohne die Annahme erklären, Johannes kenne die Gethsemaneszene aus seiner Passionsquelle. Umgekehrt spricht vielmehr einiges dafür, daß Joh 12,23.27; 18,11 Ansätze einer Weiterentwicklung der primären Passionstradition aufleuchten (cf. auch Hebr 5,7), die sich dann zur markinischen Gethsemaneperikope verdichten. 4 0 Ihre Pointe ist nicht - wie häufig angenommen wird - die Schilderung der Niedrigkeit Jesu, sondern gerade umgekehrt die Schilderung seiner "Größe im Leiden". 41 Darin dürfte auch das Hauptmotiv für ihre Hinzufügung zur primären Passionstradition liegen.

Ortsangaben, auch die hebräischen bzw. aramäischen. Die Lokalisierung eines Teils des Pilatusverhörs an einem Ort namens "Gabbatha" ist sogar joh »Sondergut« (19,13). 40 Cf. zu einer analogen Vermutung bereits DIBELIUS, Gethsemane 260ff. 41 GNILKA, Markus II 264; cf. auch DIBELIUS, Gethsemane 258f. und pass.

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Ermittlung der ältesten Passionstraditionen

Fazit: Der Grundbestand der Passage Mk 14,32-42 ist vermutlich vormarkinisch in PB M k integriert worden. Sehr wahrscheinlich gehört die Gethsemanes z e n e nicht zur primären Passionstradition. 42 (6) Joh 19,31-37: Die Feststellung des Todes Jesu Markus bietet keine entsprechende Überlieferung. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß er eine analoge Passage in seiner Passionsquelle gelesen hat. 4 3 Es ist daher nahezu allgemein anerkannt, daß es sich hierbei um johanneisches »Sondergut« handelt. Es ist nicht isoliert traditionell, 44 d.h. eine

sekundäre

tradierbar und im Kern

Ergänzung zu P B , o h . 4 5

Die

sicher

Geschichte

steht in Konkurrenz zur primären Passionstradition Joh 19,38-42 (par Mk 15,42-47), wo Joseph von Arimathia Pilatus um die Abnahme des Leichnams Jesu vom Kreuz bittet, ohne zu wissen, daß dieser Wunsch bereits vor ihm von »den Juden« geäußert (und ihnen doch wohl gewährt) worden ist. 4 6 Die Erfüllungszitate in V.36 und 37 zeigen: das Motiv für diese Erweiterung der Passionstradition ist die Schilderung der Erfüllung der beiden alttestamentlichen »Prophetien« Ps 34,21 (Ex 12,10.46 LXX) und Sach 12,10. Fazit: Der Kernbestand von Joh 19,31-37 ist sehr wahrscheinlich vorjohanneisch in PB I o h integriert worden. In keinem Fall gehören die Verse zur primären Passionstradition. 47

42 So auch LÜHRMANN, Markus 228f.241f., der i.ü. zu Recht darauf verweist, daß angesichts der sonstigen Möglichkeiten des Johannes, Tradition zu interpretieren, "auch bei der Gethsemane-Szene eine Umarbeitung möglich gewesen" wäre (228). MOHR, Markuspassion 247 schließt m.E. zwar richtig, daß "Joh in 12,23.27f.31f. eine Tradition verwendete, die zwar einige strukturelle Analogien zum Gebetskampf Jesu in Gethsemane aufweist, aber urspr. mit der Gethsemaneüberlieferung nichts zu tun hatte." Er folgert dann aber: "Dagegen ist es sehr wohl möglich, daß der Evglst letztere kannte", und endet schließlich mit dem argumentativ erstaunlichen salto mortale, daß "Joh die letztgenannte wegliess" (ü) (ebd.; Kursive hinzugefügt). 43 Die sprachlichen Übereinstimmungen Joh 19,31/Mk 14,42 (έπεί παρασκευή η\>) und Joh 19,33/Mk 14,44 (ή'δη τεθνηκότα/τέθΜηκευ) ergeben sich aus dem jeweiligen Kontext der Szene; erstere stammt m.E. allerdings aus dem PB, s.u. 7.6.9. 44 S. nur BULTMANN, Johannes 516f.523ff.; SCHNACKENBURG, Johannes III 335; SCHULZ, Johannes 239; BECKER; Johannes 704ff.; HAENCHEN, Johannes 553. Zu den in unserem Zusammenhang nicht relevanten Problemen der Verse 19,34b-35 s. RICHTER, Blut, pass.; ders., Fleischwerdung 178f.; Becker, ebd.; SCHNELLE, Christologie 228ff. 45 Cf. BULTMANN, Johannes 516.523; SCHULZ, Johannes 239; BECKER, Johannes 704; HAENCHEN, Johannes 553 ('junge Tradition'). 46 Cf. BULTMANN, Johannes 516 A3. 47 MOHR, Markuspassion 359ff., urteilt zunächst ähnlich (19,31-37 gehören zu

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(7) Fazit: Keine der s e c h s behandelten Passagen, die außerhalb der unter 6.1. genannten Stoffe und außerhalb des spezifischen markinischen und johanneischen Passions»sondergutes« nur einfach im Passionszusammenhang überliefert sind, gehört zur ältesten Passionstradition. Es handelt sich in allen Fällen um spätere Erweiterungen.

PB , o h ), schließt dann aber, daß die vormarkinische Redaktion ("B") die Szene vermutlich aus PB M k gestrichen habe, "um das Gottessohnbekenntnis des Centun o nicht zu entwerten" (ebd. 364). Eine solche Vermutung ist hingegen — einmal ganz abgesehen davon, daB Mk 15,39 nahezu sicher auf markinische Redaktion zurückgeht (s.u. 7.6.8) — völlig aus der Luft gegriffen.

7. Der älteste erreichbare Passionsbericht (PB)

7.1. Einleitung Die bisherige Analyse hat ergeben: Die älteste evangelische Tradition Uber Passion und Tod Jesu ist in denjenigen Stoffen enthalten, die sowohl von Markus als auch von Johannes in ihren Passionsdarstellungen überliefert werden. Der Maximalbestand dieser Stoffe wurde in Kapitel 6.1 ermittelt. In Kapitel 6.2 wurde die Frage gestellt, ob auch solche Passagen, die nur von einem der beiden Evangelisten Uberliefert werden, der primären Passionstradition zugerechnet werden können. Diese Frage mußte durchgehend verneint werden. Damit ergibt sich: mit primärer erzählender Passionstradition ist ausschließlich innerhalb der in Kapitel 6.1 genannten Szenen - samt den ebenda genannten kleineren Übereinstimmungen - zu rechnen. Der Übersichtlichkeit halber seien die betreffenden Textabschnitte hier noch einmal aufgeführt. Es handelt sich um Markus 11,1-10.15-18; 14,1-2.3-9.17-21.29-31.42.43-52.53. 55-65.54.66-72; 15,l-15a.l5b-20a.20b-41.42-47; 16,1-8 par Johannes 2,13-17.19; 11,47-57; 12,1-11.12-19; 13,2a.21-30.36-38; 14,31c; 18,1-11.12-14.19-24.15-18. 25-27.28-38; 19,l-3.4-16a.l6b-30.38-42; 20,1-18. Bevor versucht werden kann, die Gestalt des ältesten uns noch erreichbaren Passionsberichtes in Umrissen aus diesen Texten zu erheben und zu analysieren (7.6-8) müssen zunächst noch folgende Fragen beantwortet werden: (1) Mit welcher Szene setzte PB ein: Mit dem »Todesbeschluß«? Mit dem »Einzug« in Jerusalem? Mit der Gefangennahme? Oder gar erst mit dem Petrusbekenntnis (7.2)? (2) Womit endete PB? Enthielt er bereits die Geschichten vom Begräbnis Jesu und vom Auffinden des leeren Grabes oder nicht (7.3)? (3) Zwei Sonderprobleme sind zu diskutieren: (a) Die Salbungsgeschichte wird zwar von Markus und Johannes im Passionszusammenhang überliefert, nicht aber von Lukas, (b) Die »Tempelreinigung« steht bei Johannes weit außerhalb der Passionsgeschichte. Sind diese Perikopen zum PB zu rechnen oder

Der älteste Passionsbericht

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nicht (7.4.1-2)? Nach der Klärung dieser Sonderprobleme kann der Umfang des PB endgültig bestimmt werden (7.5).

7.2. Bestimmung des Beginns des ältesten Passionsberichtes Womit setzte der älteste Passionsbericht ein? Zur Diskussion stehen im wesentlichen fünf Vorschläge. 1 Drei von ihnen repräsentieren weit verbreitete Auffassungen, zwei stellen Sondermeinungen dar. (1) Die übliche Meinung ist: PB begann mit Mk 14,1 und enthielt ausschließlich Stoffe, die jetzt in Mk 14,1 - 16,8 zu finden sind. 2 Liest man das Markusevangelium, so ergibt sich diese These praktisch von selbst: 14,1 markiert einen deutlichen Neueinsatz; die Notiz wäre zugleich inhaltlich ein guter Anfang für den ältesten Passionsbericht. Vielfach wird das Problem seines ursprünglichen Beginns daher gar nicht wirklich diskutiert. 3 (2) Eine Variante dieser Position rechnet damit, daß PB zwar mit Mk 14,1 (par Joh 11,47) einsetzte, aber darüber hinaus auch Stoffe aus Mk 11 enthielt (11,1-10.15-18?). Diese These ergibt sich, wenn man mit der Existenz von PB M k und PB Joh rechnet und die johanneische Szenenfolge (Todesbeschluß, Salbung, erst dann Einzug in Jerusalem) für die bessere hält. 4 (3) Ebenfalls weit verbreitet ist schließlich folgende Meinung, die in der Regel aus einer Differenzierung der zweiten Position erwächst: PB begann zwar in der unmittelbar vorjohanneischen und vormarkinischen Fassung wie

1 SCHENKE, Christus lllff.135 und GNILKA, Markus II 348f. plädieren für einen Beginn des vormarkinischen Passionsberichtes mit Mk 14,32 (Schenke hat seine ursprüngliche Position, wonach Mk in 14,1-42 keine zusammenhängende Passionsquelle verwendete (Markus 14, 561), hier modifiziert): der Vers markiere eine sachliche Zäsur, die eigentliche Passion Jesu beginne erst jetzt, von jetzt ab werde Jesus ganz in die passive Rolle gedrängt. Hingegen ist nach unserer Analyse die Gethsemaneszene kein Bestandteil der ältesten Passionstradition gewesen (s.o. 6.2). Darüber hinaus schließt diese These die Passionstraditionen in Mk 11 und 14,1-31 (jeweils par Joh) aus dem PB aus. Sie ist daher auch in ihrer negativen Abgrenzung des Umfangs des vormarkinischen Passionsberichts vom joh Text her nicht aufrechtzuerhalten. 2 So BULTMANN, GST 282; DIBELIUS, FdE 180f.; TAYLOR, Mark 524ff.; CONZELMANN, Historie 40f. ; SCHWEIZER, Markus 163ff.; LÜHRMANN, Markus 227ff.; GREEN, Death 24f.223 u.a. 3 Cf. etwa BULTMANN, DIBELIUS, LÜHRMANN, GREEN, jeweils ebd. (s. A 2). 4 BECKER, Johannes 428.442f. ; MOHR, Markuspassion 128.404. Vermutet auch von KÖSTER, Evangelienliteratur 1527 A290.

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Beginn

unter (2) dargelegt. Es läßt sich aber darin eine noch ältere Fassung erkennen, die mit Mk 14,43 (par Joh 18,1) einsetzte. 5 Joachim JEREMIAS hat für diese unterschiedlichen Gestalten des PB die Begriffe "Langbericht" und "Kurzbericht" geprägt (Abendmahlsworte 88ff.). Diese These ergibt sich, wenn man sowohl mit der Existenz von PB Mk und PB Ioh rechnet als auch der Meinung ist, die im Vergleich mit den voraufgehenden Stoffen deutlich stärkere Mk/Joh—Übereinstimmung ab der »Gefangennahme« sei ein Indiz für ein relativ höheres Alter dieser Traditionen. (4) Die erste Sondermeinung: PB begann bereits mit Mk 11,1 und folgte der markinischen Perikopenfolge. 6 Für einen Beginn mit 11,1 spricht: der Vers markiert eine inhaltliche Zäsur - Jesus betritt erstmals Jerusalem; darüber hinaus erinnern 11,1-10 stark an die Verse 14,12-16, die sehr wahrscheinlich zu PB Mk zu rechnen sind. (5) Die zweite Sondermeinung: PB begann sogar schon mit Mk 8,27. 7 Für einen Beginn bereits mit 8,27 spricht: der Abschnitt 8,27-33 markiert den entscheidenden Wendepunkt des Markusevangeliums; er enthält die erste Leidensankündigung (8,31), die auf die Ereignisse der Passion vorausweist. Zur Kritik: Es ist evident, daß die Anzahl der prinzipiell möglichen Hypothesen zur Frage des Beginns des PB in dem Moment erheblich eingeschränkt wird, wo dem Markusevangelium mit dem Text des Johannesevangeliums ein externes, objektives Kriterium gegenübergestellt wird. Geht man - wie die vorliegende Untersuchung - davon aus, daß Markus und Johannes gleichwertige Zeugen für die Gestalt der ältesten Passionstradition sind, dann wird Hypothese Nr. (5) unvertretbar, und die Hypothese Nr. (1) ist nur sehr schwer zu begründen. Analysiert man hingegen ausschließlich den markinischen Text, wird der Boden unsicherer. Eine Vielzahl inhaltlicher Zäsuren ermöglicht eine Vielzahl divergenter Hypothesen. Diese Tatsache hat ihren Grund darin, daß formale Kriterien nur sehr begrenzt zur Verfügung stehen. Das Traditionskrherium trägt praktisch nichts aus: der überwiegende Teil des von Markus in seinem Evangelium verarbeiteten Stoffes ist traditionell. Das Kriterium der Nicht-

5 JEREMIAS, Abendmahlsworte, 83ff.; K.G. KUHN, Gethsemane 261f. ; BROWN, John 789; LOHSE, Geschichte 24; GOPPELT, Theologie 272; BECKER, Johannes 433.637f.. Aufgrund einer mit historischen Überlegungen gekoppelten immanent markinischen Analyse kommen BULTMANN, GST 301f. und PEDDINGHAUS, Leidensgeschichte 85ff.l68 zu einem ähnlichen Ergebnis. 6 BARTSCH, Erwägungen 450f. A5; SCHENK, PB 166ff.272f. Ahnlich auch MYLLYKOSKI, Letzte Tage 184f. 7 PESCH, Markus II Iff.; ders., Evangelium 1983, 115 u.ö.

Der älteste Passionsbericht

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Selbständigkeit einer Passage bleibt ambivalent, da sich unschwer zeigen läßt, daß PB sekundär um unselbständige, auf den Kontext der erzählenden Passionstradition angewiesene Geschichten erweitert worden ist (z.B. Mk 14,12-16; s.o. 6.2); d.h.: die Tatsache, daß eine Markuspassage nicht aus ihrem Passionszusammenhang gelöst werden kann, beweist nicht notwendig, daß sie ein ursprünglicher Bestandteil des PB ist. Es bleibt das Kohärenzkriterium, das hingegen - ist es auf sich allein gestellt - ebenfalls wenig austrägt, da es mit der inhaltlichen Frage nach dem eigentlichen Thema des PB eng verwoben ist. Diese kann aber erst dann wirklich beantwortet werden, wenn der Umfang des PB einigermaßen gesichert ist. Man dreht sich also im Kreis; letztlich läuft alles auf die inhaltlichen Argumente hinaus. Dementsprechend groß sind die (subjektiven) Differenzen bei der Bestimmung des Beginns der primären Passionstradition, sofern ausschließlich das Markusevangelium zugrundegelegt wird. Nun zur Einzelkritik. Aufgrund der Basishypothese der vorliegenden Untersuchung kann die Diskussion der Hypothesen Nr. (1) und (5) sehr kurz ausfallen. ad (1). Die These ist insofern einsichtig, als ein Beginn des ältesten Passionsberichts mit Mk 14,1 (par) auch vom johanneischen Text her wahrscheinlich ist. Der Ausschluß der Passage vom Einzug Jesu in Jerusalem (Mk 11,1-10) aus dem PB ist hingegen nicht zu begründen, da auch Johannes diese Geschichte im Rahmen seiner Passionsdarstellung überliefert (12,12-19). ad (4). Diese These integriert den »Einzug« zu Recht in den PB. Sie ist zugleich der Meinung, hier liege dessen ursprünglicher Beginn vor. Johannes müßte die Geschichte folglich umgestellt haben. Argumentiert man vom johanneischen Text her, ergibt sich die genau entgegengesetzte Schlußfolgerung. Welche von beiden Hypothesen läßt sich besser begründen? Für eine Umstellung durch Johannes könnte sprechen: der vierte Evangelist verknüpft in 11,47 den Todesbeschluß der Hohepriester und Pharisäer sachlich mit der Auferweckung des Lazarus (11,1-44). Die jüdischen Repräsentanten fragen: τί ποιοΰμευ δτι ούτος ό άνθρωπος πολλά ποιεί οημεΤα? Ähnlich wie schon in 5,16 verwendet Johannes hier ein Wunder Jesu als Anlaß für den Todesbeschluß seiner Gegner. Sollte die Perikope vom Einzug Jesu in Jerusalem in PB ,oh vor 11,47 gestanden haben, könnte Joh sie umgestellt haben, weil sie den Zusammenhang zwischen Wunder und Todesbeschluß gestört hätte. Für eine markinische Umstellung spricht: Mk überliefert zwischen 11,10 und 14,1 eine Reihe von Traditionen, die notwendig an eine Lokalisierung in der

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Beginn

Stadt Jerusalem gebunden sind. Diese sind: die »Tempelreinigung« Mk 11,15-17; direkte Konfrontationen mit Hohepriestern und Sadduzäern ll,(18).27-33; 12,18-27 (beide Gruppierungen treten bei Mk ausschließlich in Jerusalem auf); die Weissagung der Zerstörung Jerusalems 13,lf. D.h.: Markus mußte den »Einzug« - sollte er in PB M k hinter der »Salbung« gestanden haben - umstellen. Das zweite Argument wiegt schwerer als das erste: handelt es sich dort um eine Möglichkeit, so liegt hier eine Notwendigkeit vor. Auch Hypothese Nr. (4) erweist sich damit vom johanneischen Text her als unwahrscheinlich. ad (5). Die These schließt über den in Kapitel 7.1 genannten Bestand hinaus folgende Stoffe in den PB ein: Mk 8,27-33; 9,2-13.30-35; 10,1.32-34.46-52; 11,11-14.18- 23.27-33; 12,l-12.13-17.34c.35-37.41-44; 13,1-2.® Mit Ausnahme des Petrusbekenntnisses (Joh 6,66-71 par Mk 8,27ff.) überliefert Johannes keine der betreffenden Perikopen. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, daß er eine von ihnen - geschweige denn alle — in seiner Passions quelle PB Joh gelesen hat. Vom Text des Joh-Ev her ist diese Hypothese daher klar abzulehnen. ad (2). Die These zieht den richtigen Schluß aus ihrer (m.E.) richtigen Prämisse. Der Vergleich zwischen markinischem und johanneischem Passionsbericht ergibt, daß PB mit Mk 14,1 par begann; der »Einzug« Jesu in Jerusalem stand in PB Joh und PB M k hinter der »Salbung«. Johannes hat hier die ursprüngliche Szenenfolge bewahrt. ad (3). Kann man nun hinter dieser Gestalt des PB eine noch ältere ausmachen, die erst mit der »Gefangennahme« Mk 14,43ff. par Joh 18,Iff. begann? Eine Diskussion dieser These ginge weit über unser momentanes Problem hinaus, da sie faktisch eine Aussage zur Überlieferungsgeschichte des PB macht. Eine fundierte Beurteilung kann daher erst unter 7.6(.5) erfolgen. Hier sei aber bereits zweierlei festgehalten: (a) Der Boden wird um so unsicherer, je weiter man in der Überlieferungsgeschichte der Passionstraditionen zurückzugehen versucht. Denn in der Regel stehen in dem Moment, wo man hinter die Markus und Johannes gemeinsame Tradition zurück will, keine externen Kriterien mehr zur Kontrolle der Hypothesen zur Verfügung. 9 Der Wahrscheinlichkeitsgrad der betreffenden Hypothesen sinkt somit erheblich; sie werden zunehmend spekulativer, (b) Ich bezweifle, ob man mit einiger Wahrscheinlichkeit einen alten »Kurzbericht« hinter dem noch erkennbaren »Langbericht« ausmachen kann. Für seine Existenz spricht m.E. ausschließ-

8 PESCH, Evangelium 1983, 115; ders., Markus II, Iff. sowie jeweils z.St. 9 Eine Ausnahme bildet die Salbungsperikope Mk 14,3-9 par. Dazu s.u. 7.4.1.

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lieh die im Vergleich mit den voraufgehenden Stoffen noch stärkere Mk/Joh Übereinstimmung von der »Gefangennahme« an. Zwar erscheint diese Passage auch inhaltlich als ein plausibler Beginn für einen alten »Kurzbericht«; aber das inhaltliche Argument kann eine solche These lediglich stützen, nicht begründen. Das formale Argument läßt sich nun aber durch folgende Gegenthese leicht entkräften: die relativ stärkere Übereinstimmung ab Mk 14,43ff. par verweist nicht etwa auf ein höheres Alter dieses Teils des PB, sondern schlicht darauf, daß Markus und Johannes - bzw. PB Mk und PB Joh - kaum »Sondertraditionen« kannten, die in diesen zweiten Teil gehört oder auch nur gepaßt hätten (lediglich Joh 19,31-37 sowie einige kleinere Notizen). 10 Das, was sie kannten, mußten sie aus inhaltlichen Gründen vor der »Gefangennahme« unterbringen: die Streitgespräche, die synoptische Apokalypse, die Abschiedsreden, die Hinweise auf die Passion, das Abendmahl (etc.) - alle diese Stoffe konnten nach der Verhaftung Jesu nicht mehr dargeboten werden. Fazit: Hypothese Nr. (2) ist sachgerecht. Danach setzte der älteste uns noch erreichbare Passionsbericht mit der Notiz über den »Todesbeschluß« der jüdischen Repräsentanten ein (Mk 14,If. par Joh 11,47-57), enthielt aber auch die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem (Mk 11,1-10 par Joh 12,12-19). In diesem Fall hat das Johannesevangelium die ursprünglichere Szenenfolge gewahrt; Markus mußte den »Einzug« vorziehen, um seine »Jerusalemer« Stoffe unterbringen zu können. Ob diesem sogenannten "Langbericht" ein noch älterer "Kurzbericht", der erst mit Mk 14,43ff. par einsetzte, zugrundelag, erscheint zweifelhaft, bedarf jedoch noch der näheren Prüfung (s. 7.6(.5)).

7.3. Bestimmung des Endes des ältesten Passionsberichtes Womit endete der älteste Passionsbericht? Zur Diskussion stehen vier 11 Vorschläge. Drei von ihnen repräsentieren weit verbreitete Auffassungen; einer stellt eine Sondermeinung dar. 10 Anders Mt und Lk; ihre Passionsdarstellungen zeigen, daB auch die Stoffe des postulierten »Kurzberichtes« andernorts stark erweitert wurden (cf. v.a. Mt 27,3-10.24f.62-66 und Lk 23,6-16.27-31.39-43). 11 MYLLYKOSKI vertritt jetzt die neue These eines Abschlusses des PB mit Mk 15,26. Die wenigen Argumente, die er bislang dafür vorgebracht hat (Letzte Tage 124-130; 125: V. 26 'vervollständige den traditionellen Bericht'; danach könne "kaum ein literarisch unproblematischer SchluB gefunden werden"), überzeugen m.E. nicht. Da aber der zweite Teil seiner Arbeit noch nicht publiziert ist, diskutiere ich seine Position hier noch nicht.

98

Ende

(1) Die übliche Meinung ist: PB enthielt bereits die Geschichte vom leeren Grab Mk 16,1-8 par Joh 20,l-18. lz Dafür wird vor allem die Parallelität der Struktur der Passionsgeschichte mit dem traditionellen frühchristlichen Kelygma, wie es Paulus in 1 Kor 15,3-5 bezeugt, angeführt. Diese lege den Schluß nahe, eine Passionsgeschichte ohne Hinweis auf die Auferstehung Jesu habe es nie gegeben. (2) Die zweite Position bezieht das Problem des ursprünglichen Markusschlusses mit in die Analyse ein. Die betreffenden Exegeten sind zwar der - inzwischen nahezu allgemein anerkannten - Auffassung, in 16,8 liege der ursprüngliche Schluß des Markusevangeliums vor; 13 sie vermuten aber, die Markus vorliegende Quelle habe noch (eine) Erscheinungstradition(en) gekannt, die erst Mk selbst weggebrochen habe. 14 (3) Die dritte weit verbreitete Meinung ist: PB endete bereits mit Mk 15,42-47 par Joh 19.38-42. 15 Dafür wird vor allem angeführt, daß Mk 16,1-8 eine ursprünglich selbständige Überlieferung sei, die zur Darstellung der »Grablegung« 15,42ff. in Spannung stehe: in 15,47 und 16,1 stehen unmittelbar nacheinander zwei divergierende Listen mit den Namen der Frauen. Hinzu komme die Tatsache, daß 15,46 schlecht mit der Salbungsabsicht der Frauen in 16,1 zusammenpasse. (4) Die Sondermeinung: PB endete bereits mit Mk 15,(39).40f. par. 16 Mit dem Tod Jesu sei der Höhe- und Schlußpunkt der Passionsgeschichte erreicht. Zur Kritik: ad (4). Das Hauptargument der beiden Vertreter dieser These ist ein inhaltliches: "Deutlich ist jedenfalls, dass ... das Bekenntnis des Centurio Höhepunkt und Ziel der Darstellung bildet"; "the passion story has its climax in Jesus' death and immediate vindication".17 Es ist aber methodisch höchst pro12 So etwa PESCH, Schluß pass.; GNILKA, Markus II 349; LÜHRMANN, Markus 228ff. 266; SCHNACKENBURG, Johannes III 36l(ff.); BECKER; Johannes 638f.; WILCKENS, Auferstehung 43; KÖSTER, Einführung 609; ders., Gospel 255 A5. 288. 13 Cf. nur ALAND, Schluß pass.; KÜMMEL, Einleitung 70ff.; GNILKA, Markus II 350f.; LÜHRMANN, Markus 268 und die lange Liste bei MOHR, Markuspassion 365f. A3. 14 DIBELIUS, FdE 190ff.; BARTSCH, Schluß, pass.; SCHMITHALS, Markusschluß pass.; MOHR, Markuspassion 401ff. 15 So etwa BULTMANN, GST 302.308; TAYLOR, Mark 601f.; GOPPELT, Theologie 272; SCHENKE, Christus 77ff.; DORMEYER, Passion 238 (für die älteste Quelle "T"); SCHWEIZER, Markus 199; cf. auch BOUSSET, Kyrios 64f.; MARXSEN, Markus 48. 16 So PEDDINGHAUS, Leidensgeschichte 168; GREEN, Death 311ff. 17 PEDDINGHAUS, Leidensgeschichte 141; GREEN, Death 312.

99

Der älteste Passionsbericht

blematisch, den Umfang des PB auf der Grundlage inhaltlicher Argumente zu bestimmen (s.o. 7.2). Das gilt ganz besonders für den vorliegenden Fall; denn wer auch immer der gegenteiligen Meinung ist, Mk 16,1-8 par sei ursprünglicher Bestandteil des PB gewesen, wird zu Recht reklamieren, hier liege der Ziel- und Höhepunkt der Geschichte. Formale Argumente finden sich bei Carl D. PEDDINGHAUS (Leidensgeschichte, pass.) überhaupt nicht. Joel B. GREEN hingegen nennt insgesamt 10 Gründe für einen AbschluB der "primitive passion narrative" mit Mk 15,40f. (par) (Death 312f.). Dazu in Kürze: die Argumente Nr. (1-3) sind lediglich antikritisch, Nr. (9) ist kein Argument, sondern eine Frage; Nr. (7) hängt ab von der Existenz eines PB Lk ; Nr. (8) und (10) argumentieren mit der formalen Gestalt der Quelle — aber diese kann doch erst nach der Umfangsbestimmung diskutiert werden; Nr. (6) beruht m.E. auf 18

einem Mißverständnis, kann in jedem Fall aber keinen Beweis tragen; zum inhaltlichen Argument Nr. (4) siehe oben. Es bleibt Nr. (5): "With the introduction of Joseph of Arimathea ... we encounter a narrative with a radically different climate with respect to the Jewish leadership" (ebd. 312). Dieses Argument ist aber überzogen: zum einen geht es hier nicht um 'die jüdische Führung', sondern um eine Einzelperson, zum anderen wird dieser Joseph als Jesusanhänger gekennzeichnet und eben deshalb im Gegensatz zu den αρχιερείς και γραμματείς (usw.) wohlwollend behandelt. Fazit: Für einen Abschluß des PB mit Mk 15,(39).40f. par gibt es keine Indizien. ad (2). Zweierlei ist allen unter diesem Punkt aufgeführten Hypothesen gemeinsam: Zum einen ihr in höchstem Maße spekulativer Charakter; die Existenz des postulierten ursprünglichen Abschlusses der markinischen

Passi-

onsquelle ist in keinem Fall am Text des Evangeliums zu erweisen. Zum anderen: die Jetztgestalt des Markusschlusses läßt sich auch ohne eine solche Annahme sinnvoll interpretieren; die Hypothesen sind strenggenommen daher überflüssig. Zur Einzelkritik. Hans-Werner BARTSCHS These ist deshalb höchst problematisch, weil er zur Klärung des Problems eine Geschichte erfinden muß: nirgendwo in der frühchristlichen Literatur ist eine als Parusiedarstellung konzipierte Protophanie Jesu vor Petrus (SchluB 425f.) bezeugt. Daß eine solche erstens existiert und zweitens in PB M k gestanden habe, ist nicht nur unbeweisbar, sondern auch völlig unwahrscheinlich. Gleiches gilt in geringerem Maße für Martin DIBELIUS' These (FdE 190f. ): mit Ausnahme der späten und sekundären Geschichte in Joh 21 wird nirgendwo in der frühchristlichen Literatur von einer Erscheinung des Auferstande-

18 Daß Joseph von Arimathia ein Mitglied des Synhedriums gewesen sei, ist zwar häufig zu lesen, trifft den Sinn des markinischen Textes aber kaum; s. dazu u. 7.6.9.

100

Ende

nen vor Petrus erzählt. 19 Man kann die Existenz einer solchen Geschichte m.E. auch nicht aus 1 Kor 15,4 erschliefien; denn es ist doch höchst auffallig, daß Lukas zwar von einer Erscheinung Jesu vor Petrus weiß (24,34), diese aber gerade nicht erzählt. Walter SCHMITHALS braucht die Texte, die den ursprünglichen AbschluB der von ihm rekonstruierten »Grundschrift« bildeten, nicht zu postulieren; er findet sie vielmehr im Markusevangelium vor und gruppiert sie nach seinen Kriterien um. Aber Mk 3,13ff; 9,2ff. fügen sich in ihren 'ursprünglichen' Grundschrift-Kontext erst nach einigen Retuschen ein und vor allem: Es läßt sich keinesfalls begründen, daß die im zweiten Jahrhundert entstandene Passage Mk 16,15ff. zur Grundschrift 20

gehört hat. Gegen Till A. MOHR ist schließlich festzuhalten: zwar ist ein AbschluB des PB mit Joh 20,(1.11-13)14-18 unter den gegebenen Voraussetzungen noch am besten zu begründen - Joh 20,14-18 könnte in PB I o h gestanden haben; es ist aber keinesfalls zu erweisen, daß Markus diese Geschichte in seiner Quelle vorgefunden und absichtsvoll gestrichen hat. Im übrigen: welches Motiv sollte ihn dabei geleitet haben? 21 Fazit: Ein Abschuß des PB mit einer von Mk weggebrochenen oder durch die Geschichte vom leeren Grab ersetzten Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena oder vor Petrus ist nicht zu erweisen. ad (1) und ad (3). Die beiden Thesen können zusammen diskutiert werden, da sie unterschiedliche Antworten auf ein- und dieselbe Frage repräsentieren: besteht

ein innerer, vormarkinischer bzw. vorjohanneischer

Zusammenhang

zwischen der »Grablegung« (Mk 15,42-47/Joh 19,38-42) und der Geschichte vom leeren Grab (Mk 16,1-8/Joh 20,1-18) (These 1) oder nicht (These 3)? Es sei im voraus betont, daß die Entscheidung in dieser Alternativfrage nicht leicht zu fällen ist; insbesondere das Problem der divergierenden »Frauenlisten« in Mk 15,40.47; 16,1 ist nicht vollauf zufriedenstellend zu lösen. M.E. spricht im ganzen mehr für die Hypothese Nr. (3). Ich argumentiere daher im folgenden zunächst pro Abschluß des PB mit Mk 15,47 par Joh 19,42 und benenne dann die Probleme dieser Position.

19 Das uns überlieferte Fragment des Petrusevangeliums bricht leider an der entscheidenden Stelle ab. Offenbar wurde dort aber eine Joh 21 vergleichbare Geschichte erzählt; um eine Proiophanie Jesu vor Petrus kann es sich i.U. nicht gehandelt haben: Maria Magdalena ist auch hier (cf. Joh/Mt) die erste (EvPetr 50ff.). 20 SCHMITHALS postuliert kurzerhand: "Der Redaktor des längeren Markusschlusses ... hat demzufolge Cnämlich, daß 16,15ff. "glatt an Mk 3,13-19 (soweit alt)" anschließt } die Quelle des Markus gekannt" (Markusschluß 403f.). Ein rasanter Schluß ! 21 MÖHRS Vorschlag ("weil der Auferstandene — wie schon in 14,28 angekündigt — den Jüngern in Galiläa erscheinen will"; Markuspassion 403) kann nicht überzeugen: Mk 14,28 ist sehr wahrscheinlich eine redaktionelle Klammer (s.o. 6.2).

101

Der älteste Passionsbericht (a) Das prominenteste und meistdiskutierte Indiz f ü r einen Abschluß

des

ältesten Passionsberichtes mit Mk 15,42ff. par sind die »Frauenlisten«: Markus erwähnt sowohl zum Abschluß der Schilderung der Bestattung als auch unmittelbar darauf zu Beginn der S z e n e vom leeren Grab (15,47; 16,1) die Namen d e r am G e s c h e h e n beteiligten Frauen (15,47 Μαρία ή Μαγδαληνή και Μαρία ή Ίωσήτος; 16,1 Μαρία ή Μαγδαληνή και Μαρία ή 'Ιακώβου και Σαλώμη). Hierin liegt ein e r s t e s Indiz f ü r die Verwendung zunächst eigenständiger Traditionen, d.h. in diesem Fall: f ü r die ursprüngliche Selbständigkeit von Mk 16,1-8* gegenüber 15,42-47*. Nun hat Joachim GNILKA (Markus II 331) im Rahmen seiner Argumentation f ü r die ursprüngliche Einheit von Mk 15,42 - 16,8* vorgeschlagen, die Liste in 16,1 als vormarkinisch-redaktionelle

Assimilation

an

die Liste

in

15,40

(Μαρία ή Μαγδαληνή καί Μαρία ή Ιακώβου του μικρού καί Ίωσητος μήτηρ και Σαλώμη) zu interpretieren. 2 2 Dieser Vorschlag erklärt die Textgestalt hingegen nicht hinreichend. Warum variierte der Redaktor die Liste aus 15,40 - wenn es ihm doch um eine 'Nachbildung' geht - , anstatt sie exakt zu

kopieren?

Warum schreibt er Μαρία ή (του) 'Ιακώβου und nicht Μαρία ή 'Ιακώβου του μικρού καί Ίωοητος μήτηρ? Ulrich WILCKENS (Auferstehung 42f.) nennt ein anderes Motiv: es gehe hier um die Hervorhebung der korrekten Einhaltung der Sabbatruhe (16,1a). Damit ist das eigentliche Problem jedoch gar nicht berührt: warum dann die nochmalige Erwähnung -der F r a u e n ? und nicht einfach καί διαγενομένου του οαββάτου ήγόρασαν αρώματα κτλ.? Und w o h e r stammt die "konkurrierende Namensliste von drei Frauen" (ebd. 43)? Die Probleme der drei unterschiedlichen Frauenlisten lösen sich am einf a c h s t e n bei umgekehrter Betrachtungsweise: nicht 16,1 ist an 15,40 angeglichen worden, sondern 15,40 an 16,1 (und 15,47). Die Liste in 16,1 ist ebenso traditionell 2 3 wie die in 15,47; die Liste in 15,40 hat einen Kern,

24

traditionellen

der sekundär erweitert wurde. Die Entwicklung ist also etwa folgen-

dermaßen vorzustellen: P B M k e n d e t e mit 15,47. Markus fügte daran zum Abschluß seines Evangeliums eine Einzeltradition, die von einem Besuch

der

genannten drei Frauen am (leeren) Grab berichtete. Die beiden Listen mit den Frauennamen standen untereinander und darüber hinaus zu der in 15,40

22 Ähnlich WILCKENS, Auferstehung 42f. Selbst PESCH, Schluß 378-386 rechnet mit der Möglichkeit einer sekundären Entstehung der Liste in 16,1. 23 Der Text des Joh-Ev bestätigt das (20,lf.); die Liste ist freilich jetzt verstümmelt, wie der Plural οίδαμεν in V. 2 anzeigt. 24 Das geht aus dem του μικροί! klar hervor; cf. GNILKA, Markus II 313 gegen SCHENKE, Christus 101.

102

Ende

in Spannung. M a r k u s , dem die N a m e n der F r a u e n nichts m e h r sagten, glich s i e nun aus, indem e r die jeweils z w e i t e Maria für ein- und d i e s e l b e Person erklärte: er identifizierte Μαρία ή Ίωσητος (15,47) mit Μαρία ή 'Ιακώβου (16,1) und Μαρία ή 'Ιακώβου ίου μικρού (15,40), indem er in 15,40 schlicht hinzufügte: και Ίωσητος (μήτηρ). Nun ist immer von d e n s e l b e n F r a u e n die R e d e ; die drei, die unter dem K r e u z stehen, e n t d e c k e n auch das l e e r e G r a b . 2 5 (b) D e r Grad d e r G e m e i n s a m k e i t z w i s c h e n den Passionsdarstellungen M a r k u s und d e s J o h a n n e s ist von M k 16,1 par Joh 20,1 an weitaus

des

geringer

als zuvor: in M k 16,1-8 par Joh 20,1-18 stimmen wörtlich nur noch Μαρία ή Μαγδαληνή, πρωί, τη μι^ των σαββάτων, (1'ρχονται/ερχεται έ π ί / ε ι ς ) το μνημεΐον, λίθον s o w i e (εϊσήλθεν/ εϊσηλθοΰσαι) εις το μνημεΐον (aber: hier Maria Magdalena, dort Petrus !) überein. Hinzu kommt das Motiv einer E n g e l e r s c h e i n u n g

ohne

klare wörtliche Übereinstimmungen; lediglich είδον/θεωρεΤ, λευκήν/λευκοΐς s o wie λέγει/λέγουσιν sind ähnlich. D.h. die wörtliche Übereinstimmung z w i s c h e n M k und Joh beträgt nicht einmal mehr 5 / 7 % . u D a r ü b e r hinaus sind auch die Motive — mit d e r erwähnten A u s n a h m e — völlig unterschiedlich: Joh hat mit M k gar nichts z u tun, die Protophanie J e s u vor Maria

20,2-10

Magdalena

20,14-18 wird b e i M k ebenfalls nicht überliefert. U m g e k e h r t fehlt bei J o h das für die markinische Darstellung zentrale praeconium

paschale

μή έκθαμβεΐσθε-

Ίηοοΰν ζητείτε τον Ναζαρηνόν τον έσταυρωμένον· ήγέρθη, ούκ εστίν ώδε (16,6). (c) Umgekehrt beginnen die auffälligsten G e m e i n s a m k e i t e n z w i s c h e n

Johan-

n e s und L u k a s mit der G e s c h i c h t e vom leeren Grab. B e r e i t s die e r s t e n fünf Worte stimmen exakt überein: Τη δέ μιδ των σαββάτων. D a s kann

selbstver-

ständlich zufällig sein; n i c h t s d e s t o t r o t z verdient festgehalten z u w e r d e n , daß L u k a s und J o h a n n e s nirgendwo zuvor in ihren Passionsdarstellungen fünf aufeinanderfolgende Worte gegen Mk gemeinsam haben. Weiter: L k 24,12

ent-

25 Mt setzt diesen Vereinheitlichungsprozeß fort, indem er die zweite Maria in 27,56 zunächst mit vollem Namen vorstellt, dann aber das Problem dadurch elegant eskamotiert, daß er zweimal ή όίλλη Μαρία schreibt (27,61; 28,1). Ähnlich auch Lk; cf. (8,2f.); 23,49.55; 24,10. Zum Gesamten cf. i.w. zutreffend S C H E N KE, Leeres Grab 20ff.; ders., Christus 77. PESCH interpretiert 15,40 unter der Voraussetzung, der Vers sei mit 15,47 'gleichursprünglich', und kommt so zu dem SchluB, in 15,40 seien "vier (nicht drei) Frauen genannt" (Markus II 506; ebenso ders., Schluß 377f. und SCHOTTROFF, Maria Magdalena 8). Hingegen ist die traditionelle Übersetzung von Mk 15,40 die philologisch viel näherliegende (cf. nur BAUER 997,3, der hier gar kein Problem sieht; cf. auch GNILKA, Markus II 326 A99), und die genannte Voraussetzung ist vom joh Text her problematisch. 26 Zum Vergleich: bei der »Grablegung« waren es noch 12/15%. Hinzu kommt dort noch das - jeweils unterschiedlich formulierte - Motiv, daß Joseph von Arimathia ein heimlicher Jesusjünger war (Mk 15,43/Joh 19,38).

Der älteste Passionsbericht

103

spricht Joh 20,3-10; Lk und Joh stimmen darin überein, daß es δύο άνδρες /άγγελοι gewesen seien, denen Maria Magdalena begegnet (Lk 24,4; Joh 20,12). Schließlich: Lk 24,36 entspricht Joh 20,19 εστη (έν/είς τό) μέοψ (αΰτων) και λέγει αύτοΐς· ειρήνη ύμΐν, Lk 24,40 entspricht Joh 20,20 και τούτο ειπών εδειξεν (αΰτοΤς) τάς χείρας και (τούς πόδας). Es ist evident, daß Lukas und Johannes hier gemeinsame, »nichtmarkinische« Tradition verwenden. (d) Nicht nur die Übereinstimmung zwischen Johannes und Markus, sondern auch die zwischen Matthäus/Lukas und Mk ist bei der Geschichte vom leeren Grab signifikant geringer als bei den vorangehenden PB-Stoffen. Lk folgt Mk in der Regel zu ca. 27,5/36,5% (s.o. 4.3), in 24,1-11 aber nur zu ca. 17/21%. Noch deutlicher ist die Differenz bei Mt: folgt er Mk in seiner Passionsdarstellung insgesamt zu ca. 49/57%, so sind es hier nur noch ca. 25/32%. 27 Offenbar genießt also die markinische Gestalt der Geschichte vom leeren Grab nicht dieselbe Autorität wie die vorangehenden Stoffe. Mit bzw. in ihr endet der Bereich, für den man eine vierfache Synopse anfertigen kann. (e) Es besteht eine gewisse inhaltliche Spannung zwischen Mk 15,42ff. und 16,Iff.: 16,1 paßt schlecht zu 15,46, "wo keineswegs daran gedacht ist, daß die Bestattung Jesu eine unvollständige und vorläufige ist".28 (f) Auch zwischen Joh 19,38-42 und 20,Iff. besteht eine gewisse Spannung: In 20,1 ist ganz selbstverständlich von dem Grabesstein die Rede, der zuvor offenbar noch unbekannt ist, jedenfalls nicht erwähnt wird. 29 Welche Hypothese wird nun diesen sehr unterschiedlichen Beobachtungen am besten gerecht? M.E. bietet sich folgendes Modell an: Der älteste noch erreichbare Passionsbericht endete mit der Grablegung Jesu Mk 15,42-47 par Joh 19,38-42. Dem Trend der Überlieferungsgeschichte folgend, erweiterten Markus und Johannes ihre Passionsquellen um (eine) selbständige Erscheinungsgeschichte(n); 30 die bestehenden Mk/Joh-Übereinstimmungen haben ihren

27 Ich zähle in der mt Passionsdarstellung im Markusstoff ca. 2.000 Worte. Davon stimmen knapp 1.000 wörtlich bzw. ca. 1.150 annähernd wörtlich mit Mk überein. 28 BULTMANN, GST 308. 29 Cf. dazu HARTMANN, Osterberichte 218f. ; er schließt, Joh 19,31-42 habe ursprünglich nicht mit 20,Iff. zusammengehört. Lk scheint den Grabesstein gegen seinen Mk-Text aus der »Grablegung« gestrichen zu haben. Der Schein trügt hingegen: der ideale Leser entnimmt diese Information dem eleganten λαξευτψ (23,53; NT- Hapaxlegomenon). 30 PESCH bewertet diese auf BULTMANN (GST 308f.) zurückgehende Einschätzung von Mk 16,1-8 als einer sekundären Einzeliiberlieferung als 'krasses Fehlurteil' (Schluß 365 Al). Dieses Urteil basiert hingegen wesentlich auf seiner keinesfalls haltbaren Behauptung, Markus habe in 16,1-8 "seine Vorlage nicht

104

Ende

Grund in der Verwendung ähnlicher Tradition. Der vierte Evangelist fügte seiner Quelle darüber hinaus - ebenso wie Lukas und Matthäus - eine Reihe von Auferstehungsgeschichten hinzu; auch die zwischen diesen drei Evangelisten bestehenden Übereinstimmungen haben ihren Grund in der Verwendung ähnlicher Tradition. Die relativ starken Differenzen besonders von Lk und Joh gegenüber Mk 16,1-8 sind wohl darin begründet, daß offenbar nicht eine, sondern viele verschiedene Traditionen über das leere Grab und die Ereignisse nach der Auferstehung Jesu in Umlauf waren. Nun zur Kritik der Argumente gegen einen Abschluß des PB mit Mk 15,47 par Joh 19,42, die bislang noch nicht diskutiert wurden. (a) Es ist richtig, daß die Struktur des letzten Teils der mk/joh Passionsgeschichte derjenigen des von Paulus in 1 Kor 15,3-5 überlieferten Kerygmas entspricht (Χριστός άπέθανεν: Mk 15,20bff. par; ετάφη: Mk 15,42ff. par; έγήγερχοα: Mk 16,Iff. par.). Diese Strukturanalogie trägt hingegen für die Bestimmung des Endes des PB nichts aus, da sie sowohl ursprünglich als auch erst sekundär sein könnte. Daß eine Formel wie 1 Kor 15,3ff. bei der Entstehung des PB Pate gestanden habe, läßt sich nur auf der Basis einer petitio principii begründen; es ist ebensogut möglich, daß PB ursprünglich mit Mk 15,47 (par) endete und erst später um 16,Iff. erweitert wurde, um eine Strukturanalogie zu einem Konzept wie dem in der in 1 Kor 15 überlieferten Formel zuallererst herzustellen. Es bedarf daher anderer Kriterien. Im übrigen sei darauf verwiesen, daß die Gesamtstruktur des PB von derjenigen der genannten Formel deutlich verschieden ist: die allermeisten Stoffe des PB haben in 1 Kor 15,3-5 gar keine Entsprechung, und umgekehrt fehlt dem PB ein dem wichtigen ωφθη in 1 Kor 15,5 korrespondierender ausgeführter Erscheinungsbericht sogar noch auf der relativ späten Traditionsstufe des Markusevangeliums. (b) Selbstverständlich ist die Tatsache, daß auch Johannes einen sonntäglichen Besuch Maria Magdalenas am Grab (20,1.11-13) überliefert, zudem den Grabesstein und eine Engelerscheinung erwähnt, trotz aller bestehenden Differenzen zu Markus auffällig. Allerdings bietet Johannes in seinem 20. Kapitel Pendants zu sämtlichen aus den Synoptikern bekannten Auferstehungsgeschichten: 31 - eine Engelerscheinung vor Maria Magdalena (und den anderen Frauen) Joh 20,1.11-13 par Mk 16,1-8 par Mt 28,1-7 par Lk 24,1-11; - eine Protophanie Jesu vor Maria Magdalena Joh 20,14-18 par Mt 28,9f. (par Mk 16,9-11); - ein

bearbeitet" (Markus II 520; cf. dagegen nur GNILKA, Markus II 337-345; LÜHRMANN, Markus 269ff.), 31 Die einzige Ausnahme bildet die Geschichte von den »Emmausjüngern« Lk 24,13-35.

Der älteste Passionsbericht

105

»Besuch« des Petrus am Grab Joh 20,2-10 par Lk 24,12; - eine Erscheinung Jesu vor den Zwölfen (Elfen) Joh 20,19-23.24-29 par Mt 28,16-20 par Lk 24,36-49 (par Mk 16,14-18). D.h.: die vorliegende Übereinstimmung mit Mk ist nicht signifikant; was immer Markus nach der »Grablegung« auch überliefert hätte - Johannes hätte eine Parallele dazu. (c) Auf dreierlei Weise ist Mk 16,Iff. mit 15,42ff. verbunden: - Die Datierung der Auferstehung Jesu auf den ersten Tag der Woche Mk 16,1 par Joh 20,1 setzt neben dem Wissen um ein Begräbnis Jesu die Kenntnis des Freitags als Kreuzigungstag bzw. des Sonntags als Auferstehungstag voraus. 32 Die Geschichte ist dadurch allerdings nicht notwendig an den PB gebunden, vielmehr auch ohne jenen verständlich, sofern die jeweiligen Leserünnen) eine Formel wie 1 Kor 15,3ff. (ετάφη !) kennen und um die Bedeutung des Sonntags wissen. Man muß aber wohl eine Erwähnung des Todes Jesu in der ursprünglichen Einleitung postulieren, etwa: Μετά xoö θανάτου ίου Ίηοου ... Μαρία ή Μαγδαληνή κτλ.

- In Mk 15,46 und 16,3f. wird der Grabesstein erwähnt. Sofern - was wahrscheinlich ist - Johannes an dieser Stelle die ältere Tradition bewahrt hat, 33 müßte man annehmen, daß Mk 15,46 nachträglich mit 16,3 ausgeglichen worden ist - dann wohl von Markus selbst. Der Wortlaut beider Verse ist in d e r Tat auffallend ähnlich (15,46: προοεκύλισεν λίθον επί την θύραν του μνημείου; 16,3: άποκυλίσει... λίθον έκ τ η ς θύρας του μνημείου).

- Die Frauen werden in Mk 16,1 nicht vorgestellt, vielmehr als bekannt vorausgesetzt, was sie für die Leser(innen) des Markusevangeliums ja auch sind (15,40.47). Für die postulierte Einzeltradition vom »leeren Grab« stellt diese Tatsache hingegen ein gewisses Problem dar, da man nicht annehmen kann, daß sie nur in solchen Kreisen zirkulierte, in denen diese Frauen persönlich bekannt waren. Folglich ist man versucht, in 16,1 eine jetzt ausgefallene Vorstellung der Frauen zu postulieren. Hingegen zeigt Mk 15,41 (red !),34 daß Markus selbst keine traditionelle Notiz über die Herkunft der Frauen und ihre Beziehung zu Jesus kannte. Gleiches gilt für Johannes: auch er stellt Maria Magdalena nicht vor (19,25).35 D.h. die Geschichte vom »leeren Grab« enthielt sehr wahrscheinlich auch als Einzeltradition keine explizite Vorstel-

32 Ist der Freitag der Todestag, dann muß der Sonntag der Auferstehungstag sein; denn Χριστός... έγήγερται τη ήμέρςι τρίτη κατά τάς γ ρ α φ ά ς (1 Kor 15,4). 33 W a r u m sollte er den Grabesstein aus der Begräbnisszene gestrichen haben? 34 Cf. nur GNILKA, Markus II 313: "in jedem Fall". 35 Im Unterschied zu den ersten beiden Frauen, die explizit als die Mutter und die Tante Jesu eingeführt werden (19,25).

106

Die Salbung in Bethanien

lung der genannten Frauen, worin auch immer die Selbstverständlichkeit ihres Bekanntseins im Tradentenbereich dieser Geschichte begründet gewesen sein mag. Die genannten Verknüpfungen der mk Passionsgeschichte mit der Szene vom »leeren Grab« stellen für die Hypothese, PB habe mit Mk 15,42-47 (par) geendet, zwar eine gewisse Schwierigkeit dar, das Postulat zweier kleiner markinischer Eingriffe in den traditionellen Text vermag diese aber durchaus zufriedenstellend zu lösen. Wirklich problematisch ist m.E. allein folgende Tatsache: Der vierte Evangelist kennt offenbar die Tradition, Maria Magdalena und Μαρία ή Ίωσητος hätten die Bestattung Jesu beobachtet, nicht; sie geht demnach wahrscheinlich auf PBMk zurück. Warum aber bringt der Redaktor dann hier einen neuen Namen36 ins Spiel?37 Warum behauptet er nicht eine Kenntnis der Begräbnisstätte für Maria Magdalena und eine der beiden aus 15,40 bekannten Frauen? Kennt er eine Sondertradition? An dieser Stelle bleiben Fragen offen. Eine vollauf befriedigende Erklärung der Genese der drei divergierenden Listen gibt es (m.E.) nicht. Fazit: Die Bestimmung des Endes des ältesten uns noch erreichbaren Passionsberichtes ist erheblich schwieriger als die seines Beginns. Deutlich ist: für einen Abschluß vor der Grablegung gibt es keine Indizien; auch ein Abschluß mit einer jetzt weggebrochenen Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena oder Petrus ist nicht zu erweisen. Nicht einfach ist hingegen die Entscheidung zwischen Position Nr. (1) und Position Nr. (3). M.E. sprechen für die Hypothese Nr. (3), die mit einem Ende des PB in Mk 15,42-47 par Joh 19,38-42 rechnet, im ganzen die besseren Argumente.

7.4. Sonderprobleme

7.4.1. Die Salbung in Bethanien Mk 14,3-9 par Joh 12,1-11 Die Geschichte von der Salbung Jesu durch eine unbekannte Frau bzw. durch Maria, die Schwester des Lazarus, wird sowohl von Markus als auch 36 Ich setze die obige Analyse voraus: και Ίωσΐ[τος (μήτηρ) in 15,40 ist ein glättender markinischer Zusatz. 37 Cf. zutreffend PESCH, Schluß 377.

107

Der älteste Passionsbericht

von Johannes im Rahmen ihrer Passionsdarstellung überliefert. Sie folgt in beiden Evangelien unmittelbar auf die Notiz ü b e r den »Todesbeschluß« durch jüdische Repräsentanten, und sie ist in beiden Fällen in Bethanien, außerhalb Jerusalems, lokalisiert. Die textlichen Übereinstimmungen zwischen Mk und Joh sind evident: 3 8 Mk 14 3

Joh 12

(Και οντος αύτοϋ) έν Βηθανί^ I (κατακειμένου αύτοΰ) (?|λθεν) (γυνή)

39

112

(έχουσα άλάβαστρον) μύρου νάρδου πιοτικης

3

(πολυτελούς), (συντρίψασα την άλάβαστρον κατέχεεν αύτου) (των π ο δ ώ ν ? ) . 4 0 4

(ήσαν δε) ( τ ί ν ε ς ) 4 1 (άγανακτουντες προς εαυτούς·)

4

15 (δια) τί I τοϋτο το μύρον (ούκ) έπράθη τριακοσίων δηναρίων και εδόθη

5

πτωχοίς; 6

ó δε Ίηοοΰς είπε ν αφετε αυτήν

7

7

πάντοτε γαρ τους πτωχούς εχετε μεθ' εαυτών, έμέ δε οϋ πάντοτε εχετε.

8

8

(προέλαβεν μυρίσαι το σώμά) μου εις τον ένταφιασμόν.

7

Das Sonderproblem besteht bekanntlich darin, daß Lukas

diese Geschichte

völlig aus seiner auf Markus basierenden Passionsdarstellung eliminiert und sie an anderer Stelle und in anderer Fassung überliefert (Lk 7,36-50). Aus dieser Tatsache muß - mit Dieter LÜHRMANN (Markus 232) -

geschlossen

werden, daß die Salbungsgeschichte "wohl erst sekundär in den Kontext der Passionsthematik gestellt worden ( i s t ) , und zwar schon in dem

Grundstock

der Mk und Joh vorgegebenen Passionsgeschichte." Folgende Indizien

spre-

chen f ü r diese Hypothese: (1) Die Tatsache, daß Lukas im Zentrum der Passionsgeschichte eine komplette

Perikope

ersatzlos

streicht, ist auffällig.

42

aus

dem

vorgegebenen

Markuszusammenhang

Singular ist, daß im markinischen Text kein

zurei-

38 Zur hier verwendeten Notation s. die Erläuterungen in 7.6.0. 39 Johannes gibt den Namen der unbekannten Frau sekundär mit "Maria" an. Zur Sekundarität dieser Variante s. HOLST, Anointing 438. 40 Die Salbung des Kopfes (Mk) ist wahrscheinlich sekundär; die johanneische Darstellung ist allerdings verworren, der Text in eckigen Klammern dementsprechend — ausnahmsweise — postuliert; s. die Analyse. 41 Bei Johannes fragt Judas. Hier liegt mit Sicherheit eine sekundäre Konkretion vor; cf. bereits BULTMANN, Johannes 317 A8 uva. 42 Eine gewisse Analogie dazu ist die Streichung der beiden markinischen Feigenbaumepisoden durch Lukas (Mk 11,12-14.20f.(22-25)). Hingegen stehen diese (l) nicht im Zentrum der Passionsgeschichte, und sie sind (2) nicht ersatzlos gestrichen: Lk 19,41-44 steht örtlich und sachlich an ihrer Stelle (cf. SCHNEIDER, Lukas 388). Im übrigen kennt Lk auch in diesem Fall, wenn nicht eine

108

Die Salbung in Bethanien

chender Grund für diese Streichung gefunden werden kann: die Geschichte ist - anders als Mk 15,16-20 (s.o. 4.5) - in keinerlei Hinsicht problematisch. 4 3 Prinzipiell läßt sich der lk Befund daher auf zweierlei Weise interpretieren: entweder hat Lukas Mk 1 4 , 3 - 9

nicht

in seinem

Markus exemplar

— was äußerst unwahrscheinlich ist, da Matthäus die Geschichte

gelesen

überliefert

und der Mk-Text textkritisch unumstritten ist —, oder er kannte die Salbungsepisode in anderer Gestalt. Letzteres ist nun bekanntlich in der Tat der Fall: (2) Lukas überliefert die Geschichte von der Salbung Jesu durch eine unbekannte Frau außerhalb seiner Passionsdarstellung in 7 , 3 6 - 5 0 . Die lukanische Geschichte ist der mk/joh Darstellung zum geringen Teil sehr ähnlich (V.37f. (44-46)), zum großen Teil jedoch völlig unähnlich. Folgt der Handlung der Frau dort ein Wort Uber die Armen und schließlich die Deutung der Handlung auf die bevorstehende Bestattung Jesu, so folgt hier eine Beispielgeschichte -

samt Deutung auf die Handlung der Frau -

und eine Sündenver-

gebung. Ein Passionsbezug ist nicht gegeben. Für Lukas war diese Fassung der Salbungsgeschichte offenbar die maßgebliche: nur so kann erklärt werden, warum er hier seinem Sondergut vor seiner Quelle Mk den Vorzug gegeben hat. Hierin liegt ein erstes klares Indiz für die ursprüngliche Eigenständigkeit dieses Stoffes, d.h.: für dessen sekundäre Einfügung in den PB. Gegen Rudolf BULTMANN (GST 19f.), der annimmt, Lk habe die Verse 7,37f.(4446) aus Mk 14,3-9 extrapoliert, um einen Rahmen für das »Gleichnis« (V. 41-43.47) zu schaffen, ist die Verbindung falls bliebe die Streichung von von allen Exegeten übersehen, haben, daß sie feststellen, Lk

44

beider Teile sicher bereits vorlukanisch. AnderenMk 14,3-9 völlig unerklärlich. Diese Tatsache wird die meinen, das Problem bereits dadurch gelöst zu habe Reminiszenzen aus Mk 14,3-9 in 7,36-50 ver-

echte Dublette, so doch eine ähnliche Geschichte (Lk 13,6-9; cf. SCHÜRMANN, Dublettenvermeidungen 282f.). 43 MÖHRS Vorschlag (Markuspassion 144 A80) kann nicht überzeugen: "Lk läßt das Wort und die ganze Szene weg, da er mit seinem Ideal der urchrl. Gütergemeinschaft (Apg 2,44f. ; 4,32ff.) im Grunde dem Einwand der murrenden Jünger zustimmen musste. Jesu Rechtfertigung der Frau hätte seine gesamte soziale Konzeption - zumindest scheinbar - in Frage gestellt." Denn (l) hätte in diesem Fall die (problemlos mögliche) Streichung von Mk 14,7 ausgereicht, und (2) widerspricht V.7 der Armenfürsorge nach dem Tode Jesu in keiner Weise. FITZMYER (Luke 1373) verweist zu Recht auf die Dublette in Lk 7,36ff„ nennt daneben aber als mögliche Gründe für die Streichung: "possibly also because of the reference to the preaching of 'the gospel' CMk 14,9 ) ..., and possibly because in his story the body of Jesus ist to be anointed after death (see 23:56 24:1)". Hingegen (l) hätte dann die (ebenfalls problemlos mögliche) Streichung von Mk 14,9 ausgereicht, und (2) ist Lk 23,56 ein redaktioneller Vers (s.o. 4.4.1). 44 So auch FITZMYER, Luke 684; MÄRZ, Mk 14,3-9, 106.

Der älteste Passionsbericht

109

wendet. 45 Zwar ist dies durchaus wahrscheinlich; 46 es ändert aber nichts daran, daB die für Lk 7,36-50 charakteristische Verbindung der Salbung mit der Beispielgeschichte vorlukanisch sein muB. (3) Betrachtet man allein den markinischen Text, kommt man in der Regel zu demselben Ergebnis. Tatsächlich gehört Mk 14,3-9 "zu den wenigen Stükken, welche die exegetische Literatur unseres Jahrhunderts fast unisono der älteren vormarkinischen Passionsgeschichte abspricht." 47 Rudolf BULTMANN und Martin DIBELIUS, auf die die Meinung, PB M k habe mit Mk 14,lf.l0f. eingesetzt, im wesentlichen zurückgeht, nennen folgende zwei Gründe: (a) Die Geschichte "ist augenscheinlich zwischen V.lf. und lOf. eingeschoben" (Bultmann, GST 283); sie ist das einzige "ohne weiteres auslösbareL.) Erzählungsstück" der gesamten mk Passionsgeschichte (Dibelius, FdE 178). (b) Die Geschichte stand ursprünglich wahrscheinlich in keinerlei Zusammenhang mit dem Passionsgeschehen. Denn V.8b verschiebt die Pointe von dem Wort über die Armen (V.7) auf den Bezug zur Beisetzung Jesu; er sprengt die apophthegmatische Form der Perikope und dürfte daher sekundär sein (Bultmann, ebd.). Dagegen ist zweierlei geltend gemacht worden. Ad (a): die Verschachtelung von Mk 14,3-9 in den Erzählablauf "muß nicht sekundär, kann sehr wohl primär sein"; ad (b): "Der Hinweis auf das Begräbnis in Vers 8 bringt keinen neuen Gedanken, sondern entfaltet nur 7c." 4 8 Beide Einwände sind durchaus ernst zu nehmen. Betrachtet man das Problem rein innermarkinisch, besteht zwar hinreichend Grund zu der Annahme, Mk 14,3-9 sei PB erst sekundär hinzugefügt worden - sei es von Mk selbst, sei es von einer vormarkinischen Redaktion; beweiskräftig sind die Argumente hingegen nicht. Es sei daher hervorgehoben: das entscheidende Argument gegen eine Zugehörigkeit der Salbungsgeschichte zum ältesten Passionsbericht ist dies, daß Lukas die Perikope nicht in seine Passionsdarstellung aufnimmt und sie an anderer Stelle, in anderer, in den wesentlichen Zügen traditioneller Form bietet. Diese echte Dublette legt den Verdacht nahe, daß wir es hier mit einer ursprünglich selbständigen Überlieferung zu tun haben, die in (mindestens) zwei Grundvarianten erzählt wurde. Dieser Verdacht wird vom markinischen Text erhärtet.

45 Cf. z.B. PESCH, Salbung 269f. 46 Das prominenteste Indiz ist, daB der Pharisäer erst in V.40 den Namen »Simon« erhält; cf. weiter SCHRAMM, Markus-Stoff 43ff. 47 PESCH, Salbung 267. 48 PESCH, Salbung 269; GNILKA, Markus II 222.

110

Die Salbung in Bethanien

Wie kann nun die Entstehung zweier derart verschiedener Varianten der Salbungsgeschichte erklärt werden? Prinzipiell sind drei Interpretationen möglich: 49 entweder bietet Lk die primäre Tradition, und die Geschichte ist bei ihrer Integration in den Passionsbericht stark abgewandelt worden; oder die lukanische ist gegenüber der mk/joh Tradition sekundär und die Geschichte ist aus dem PB extrapoliert und dabei stark verändert worden; oder aber der gemeinsame Kern der Varianten ist unterschiedlich erweitert worden. 50 Gegen die erste Möglichkeit sprechen eine Reihe von Spannungen innerhalb des lukanischen Textes, die darauf hinweisen, daß hier Stoffe unterschiedlichen Ursprungs zusammengewachsen sind. 51 Zudem verstünde man das Motiv für die starke Umwandlung und die Integration ausgerechnet dieser Geschichte in den PB nicht. Gleiches gilt für die zweite Möglichkeit: aus welchem Grund sollte die Geschichte aus dem PB extrapoliert worden sein? Einzig zufriedenstellend ist die dritte Möglichkeit: beide Geschichten gehen auf einen gemeinsamen Kern zurück, der sich in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt hat. Zutreffend urteilt Joseph A. FITZMYER: "the story of an anointing of Jesus by a woman intruder into a dinner-scene assumed in the stage of oral tradition various forms" (Luke 6 86). 52 Auf der einen Seite wurde die Geschichte mit der Beispielgeschichte von den zwei Schuldnern verbunden und in das Haus eines Pharisäers verlegt, auf der anderen Seite wurde sie mit dem Wort über die Armen verbunden und schließlich durch Mk 14,8b

49 Vorausgesetzt ist, daß beide Varianten dasselbe Ereignis im Blick haben (so etwa FITZMYER, Luke 686; DODD, Historical Tradition 172; HOLST, Anointing 436 uva.). Des öfteren wird zwar die Meinung vertreten, Mk 14,3-9 und Lk 7,36-50 bezögen sich auf zwei unterschiedliche Ereignisse im Leben Jesu, die im Laufe der Traditionsbildung z.T. miteinander verschmolzen seien -(so e t y a COAKLEY, Anointing 256; cf. weiter die Listen bei Fitzmyer, ebd.; Holst, ebd. 435 A 2 ) . Ein solcher Vorgang ist hingegen äußerst unwahrscheinlich. Denn die Diversifikation einer gemeinsamen Grundgeschichte in z.T. völlig unterschiedliche Erzählungen ist der Normalfall in der Evangelientradition (cf. etwa das Speisevermehrungswunder Mk 6,30-44 »par« Mk 8,1-10 par Joh 6,1-15); nirgends ist m.W. der umgekehrte Fall belegt, daß zwei Ereignisse sekundär zu einem verschmolzen worden sind. 50 Cf. zu der Vielzahl der vertretenen Positionen die Listen bei MOHR, Markuspassion 129f. A 2 - 8 und FITZMYER, Luke 684ff. s o y i e HOLST, Anointing und MÄRZ, Mk 14,3-9, jeweils pass. 51 Cf. dazu BULTMANN, GST 19f. und FITZMYER, Luke 684f. 52 So schon D O D D (Historical Tradition 172): the "variations arose in the course of oral transmission." Zustimmend HOLST, Anointing 436. Ahnlich MÄRZ, Mk 14,3-9, 111.

Der älteste Passionsbericht

111

(par) sinnvoll in den PB integriert. Das Motiv dieser Erweiterung der primären Passionstradition wird von diesem V.8b wünschenswert klar formuliert: προέλαβεν μυρίσαι τό σωμά μου εις τον ενταφιαομόν; denn nach der Kreuzigung wird Jesus nicht mehr gesalbt, vielmehr in aller Eile beigesetzt. Die mk Version der Geschichte verschiebt die Pointe schließlich um einen weiteren Schritt: durch die nur hier erwähnte Salbung des Kopfes Jesu wird auf die im Alten Testament verschiedentlich bezeugte Sitte der Inthronisation eines Königs durch Salbung seines Hauptes angespielt. So wie Samuel ελαβεν τον φάκον του ελαίου και επέχεεν επί την κεφαλήν (του Σαούλ) (1 Kön 10,1 LXX), nimmt jetzt die unbekannte Frau die kostbare Narde und κατέχεεν αϋτοΰ της κεφαλής (Mk 14,3); so wie dort eodem actu der erste König Israels inthronisiert wird, wird hier Jesus in das »Amt« des βασιλεύς των 'Ιουδαίων eingesetzt. Zutreffend urteilt wiederum Fitzmyer: "The anointing of the feet would have been the more primitive, since it is easier to explain the tradition shifting from the anointing of the feet to the head than vice versa" (Luke 686). 53 Fazit: Die markinisch/johanneische und die lukanische Version der Salbungsgeschichte gehen wahrscheinlich auf einen gemeinsamen Kern zurück, der sich in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt hat. Die eine Hauptform der Perikope wurde in einem sehr frühen Stadium sekundär in den PB integriert. Das Motiv für diese Hinzufügung bestand in der gewünschten Vorwegnahme der Salbung Jesu, die an ihrem eigentlichen Ort — bei der Grablegung — nicht mehr vorgenommen wird. Bei Mk wird die Salbung Jesu darüber hinaus zur Königssalbung des βασιλεύς των 'Ιουδαίων stilisiert. 54

53 Ebenso HOLST, Anointing 439ff. ; COAKLEY, Anointing 246ff. Die johanneische Version der Salbungsgeschichte ist bekanntlich verworren (Maria salbt die Füße Jesu mit der ungeheuren Menge von etwa 300 g Narde und trocknet diese dann mit ihren Haaren ab (!); das τηρήσει in V.7 ist unsinnig. Cf. Holst, ebd. 441: "Joh 12:3, in its present form, describes an act of utter nonsense" und BECKER, Johannes 438ff.. Coakley, ebd. pass, sucht m.E. vergeblich, die Perikope als sinnvoll zu erweisen), ihre Entstehungsgeschichte daher praktisch nicht mehr aufzuhellen (zu Vermutungen cf. BULTMANN, Johannes 317 A3; Holst, ebd. 441f.). Deutlich ist lediglich, daß Johannes hier eine ähnliche Tradition verwendet wie Lukas. 54 Cf. dazu auch u. 7.6.2. Trifft diese Interpretation zu, dann ist erwiesen, daß PB auf seinem Weg zu PBMk/pjjJoh (mindestens) zweimal redaktionell ergänzt wurde. Stufe 1: die »Salbung« wird PB hinzugefügt; Stufe 2: PB verzweigt sich und wird durch Stoffe wie Mk 14,12-16 und Joh 19,31-37 ergänzt. Sollte Mk 14,22-25 bereits in P B ^ k gestanden haben, als 14,12-16 hinzugefügt wurde (s.o. 6.2), wäre im markinischen »Zweig« des PB sogar mit drei Stufen redaktioneller Ergänzungen zu rechnen.

112

Die »Tempelreinigung«

7.4.2. Die »Tempelreinigung« Mk 11,15-17 par Joh 2,13-17 Die Geschichte von der sogenannten »Tempelreinigung« durch Jesus wird sowohl von Markus als auch von Johannes überliefert. Die sachlichen und wörtlichen Übereinstimmungen zwischen beiden Texten sind deutlich:55 Mk 11 Joh 2 15 Και (έρχονται) εις Ίεροοόλυμα. 13 Kai (είοελθών) εις τον ιερόν (ηρξατο) I έκβάλλειν I τους πωλοΰντας 0 0 14 1151 και τάς τραπεζας των κολλυβιστων κατέστρεψεν 15 κοιί τοΤς τάς περιοτεράς πωλοϋσιν 16 17 εϊπεν- ( οίκος ... μου ... ποιείτε 3 5 7 Das Sonderproblem besteht nun darin, daß das Ereignis bei Mk bekanntlich innerhalb der Passionsgeschichte, bei Joh hingegen zu Beginn der Wirksamkeit Jesu überliefert wird. Die Frage, ob Markus (bzw. PBMk) die »Tempelreinigung« sekundär in die Passionszusammenhänge integriert hat, oder ob Johannes die Geschichte seiner Quelle PB ,oh entnommen, aber im Leben Jesu vordatiert hat, ist ausgesprochen schwer zu beantworten. Symptomatisch ist das Urteil von Jürgen BECKER, der schließt: "Eine Entlehnung (der »Tempelreinigung«) aus dem joh PB ... bleibt denkbar" (Johannes 145), aber: es läßt "sich nicht sicher erweisen, daß 2,13ff. aus dem PB (=PB ,oh ) stammt" (150). Ich sammle in einem ersten Schritt zunächst die Argumente, die für eine Zugehörigkeit der »Tempelreinigung« zu PB ,oh - und damit zu PB - sprechen, kritisiere diese in einem zweiten Schritt und ziehe dann eine Zwischenbilanz. Abschließend bringe ich ein neues Argument in die Diskussion ein, das die »Tempelreinigung« gegenüber dem ältesten Passionsbericht isoliert. Für die Zugehörigkeit der »Tempelreinigung« zu PBIoh spricht: (1) Die »Tempelreinigung« steht innerhalb der markinischen Passionsdarstellung. Die wörtlichen und sachlichen Übereinstimmungen mit Joh 2,13ff. sind evident. Von daher legt sich die Vermutung nahe, Johannes habe die Perikope

55 Zur Notation s. wiederum u. 7.6.0. 56 Im Joh-Ev vertreibt Jesus darüber hinaus auch die Tiere; zum sprachlichen Problem von V.15a s. BAUER, Johannes 47; BULTMANN, Johannes 86f. AIO 57 Das Wort Jesu wird sehr unterschiedlich überliefert (Mk 11,17 ô οίκος μου οίκος προσευχές κληθήσεται πδσιν τ ο ι ς ϊθνεσιν, ϋμεΐς δε πεποιήκατε αυτόν σπήλαιον ληστών; Joh 2,16 δίρατε ταΰτα έντεΰθεν, μή ποιείτε τόν οίκον του πατρός μου οίκον ,έμπορίου), bei Joh ist es allein an die Taubenverkäufer, bei Mk an eine größere Gruppe (αύτοΤς) gerichtet.

Der älteste Passionsbericht

113

seiner Passions quelle entnommen und sie bewußt an den Beginn der Wirksamkeit Jesu gestellt. Als Motive für diese Umstellung sind vorgeschlagen worden: (a) Der vierte Evangelist wolle der »Tempelreinigung« durch die Positionierung nach der »Hochzeit in Kana« (2,1-11) programmatischen Charakter geben; denn beide Geschichten zusammen bildeten "ein Vorspiel oder ein Doppelbild, das Jesu Wirken symbolisch abbildet: das Weinwunder in Kana 2,1-11 ist ausdrücklich als αρχή των σημείων bezeichnet (V.ll), und die Tempelreinigung 2,13-22 ist die Vorabbildung des Endes: des Todes und der Auferstehung Jesu." 58 (b) Johannes wolle durch die Umstellung vielleicht einem Mißverständnis der »Tempelreinigung« als politischer Ursache des Todes Jesu vorbeugen. 59 (2) Ebenso wie Markus datiert Johannes die »Tempelreinigung« auf ein Paschafest (2,13). Diese Datierung könnte ihren Grund darin haben, daß die Geschichte aus PB Joh entnommen ist. (3) Das Wort über die Zerstörung des Tempels, das in Joh 2,19 unmittelbar auf die »Tempelreinigung« folgt, begegnet Mk 14,58 im Passionszusammenhang. Sollte die johanneische Verknüpfung von »Tempelwort« und »Tempelreinigung« ursprünglich sein, könnte Markus die Zeichenforderung Joh 2,18f. durch die »Vollmachtsfrage» Mk ll,27ff. ersetzt, das »Tempelwort« aber bewahrt und in 14,58 als Falschzeugnis in das Hohepriesterverhör integriert haben. Als Motiv für diese Umgestaltung ist vorgeschlagen worden: Mk sei daran gelegen gewesen, "dass Jesu Aktion im Tempel nicht missverstanden wurde, genauer gesagt, dass Jesus in dem Evangelium, welches Markus den Heiden respektive den Römern nach den Jahren 66-70 verkündete, nicht als Aufrührer vom Schlage der Zeloten erschien." 60 Zur Kritik: ad (1). Die »Tempelreinigung« ist eine in sich geschlossene Einzelüberlieferung, die Joh an den Beginn der Wirksamkeit Jesu stellt, Mk aber in seine Passionsdarstellung integriert. Markus muß dies tun, weil die Geschichte notwendig in Jerusalem spielt und Jesus in seinem Evangelium nur einmal dorthin kommt; Johannes, der mehrere Jerusalemaufenthalten Jesu überliefert, steht nicht unter diesem Zwang. Der Textbefund läßt sich also völlig zufrie58 BULTMANN, Johannes 78; er äußert sich zur hier diskutierten Frage zwar nicht, geht aber davon aus, daß die synoptische Überlieferung die bessere ist (ebd.). 59 So etwa SCHULZ, Johannes 48; MOHR, Markuspassion 87; E. STEGEMANN, Tempelreinigung 513ff. uva. 60 MOHR, Markuspassion 105; cf. zu den Argumenten insgesamt BECKER, Johannes 144f..

114

Die »Tempelreinigung«

denstellend unter der Annahme erklären, Mk (bzw. PB Mk ) und Joh hätten die ursprünglich selbständige Szene als solche kennengelernt und sie unabhängig voneinander an verschiedenen Stellen in ihre Evangelien eingebaut. Es gibt überhaupt keinen Grund zu der Annahme, Joh habe die »Tempelreinigung« seiner Passionsquelle PB Joh entnommen: die Szene selbst weist keinen Zusammenhang mit den Ereignissen der Passion auf; in PB Joh läßt sich kein sicherer Ort ausmachen, wo die »Tempelreinigung« gestanden haben müßte; 61 ein ursprünglicher Zusammenhang zwischen dem »Einzug in Jerusalem« (Mk 11,Iff.) und der »Tempelreinigung« (ll,15ff.) läßt sich nicht nachweisen. 62 Das Pro-Argument Nr. (1) muß folglich voraussetzen, quod esset demonstrandum. Akzeptiert man nun diese Prämisse einmal probeweise, stellt sich die Frage, ob die genannten Gründe für die postulierte Umstellung einleuchten. ad (a). In der Tat bilden die beiden in Kontrast zueinander stehenden Geschichten von der Hochzeit in Kana und der »Tempelreinigung« offenbar das programmatische E r s p i e l ' zum Joh-Ev: hier die άρχή der machtvollen Offenbarung der δόξα Jesu, dort der Kampf der Offenbarung mit der Welt in Form einer scharfen Auseinandersetzung mit »den Juden« samt Hinweis auf das τέλος der Auferstehung Jesu. 63 Es ist daher kaum zu bezweifeln, daß die jetzige Stellung der »Tempelreinigung« auf die kompositorische Arbeit des Evangelisten zurückgeht. 64 In seinem Wunsch, dem Evangelium eine programmatische Einleitung zu geben, könnte ein Motiv für eine Umstellung von Joh 2,13ff. liegen. ad (b). In der Tat entpolitisiert Johannes die Passion Jesu, indem er sie ganz auf das ή βασιλεία ή έμή ουκ εστίν εκ του κόσμου τούτου (18,36) ausrichtet. Hierin könnte ein Grund für die postulierte Umstellung der »Tempelreinigung« liegen. ad (2). Joh datiert die »Tempelreinigung« in 2,13 auf ein Paschafest. Dieser Vers geht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf die Hand des 4. Evangelisten 61 Mit BECKER, Johannes 145 gegen FORTNA, Gospel of Signs 145, der meint, sie habe vor dem »Todesbeschluß« gestanden und sei von der Lazarusgeschichte verdrängt worden. Es sei nebenbei vermerkt, daß die »Tempelreinigung« nach unserer Analyse (Mk hat den »Einzug« wahrscheinlich umgestellt; s.o. 7.2) hinter dem »Einzug« und vor dem »Letzten Mahl« gestanden haben müBte. 62 Gegen MOHR, Markuspassion 71; SCHMITHALS, Markus 482. Mk 11,11 ist mit GNILKA, Markus II 115; LÜHRMANN, Markus 187 - mindestens ab εις το ιερόν ein redaktioneller Verbindungsvers. 63 Cf. BULTMANN, Johannes 77ff. 85ff. 64 Das wird sehr weitgehend anerkannt; cf. neben BULTMANN, Johannes 78: DIBELIUS, FdE 43; BROWN, John 118; SCHULZ, Johannes 4 8 f . ; FORTNA, Gospel of Signs 145 und die lange Liste bei MOHR, Markuspassion, 86 A 5 3 .

115

Der älteste Passionsbericht

zurück. 6 5 E s ist daher nur s c h w e r zu entscheiden, ob die »Tempelreinigung« bereits vorjohanneisch an ein Paschafest gebunden war. Dafür spricht die analoge Datierung von Mk ll,15ff. 6 6 Dagegen spricht die Tatsache, daß Joh liche

Jerusalemreisen Jesu durch Wallfahrtsfeste, insbesondere

sämt-

Paschafeste

motiviert: 2,13 Kai έγγΰς ήν το πάσχα των 'Ιουδαίων, και άνέβη εις 'Ιεροσόλυμα ό Ίησοΰς; 6,4 ήν δέ εγγύς το πάσχα, ή έορτή των 'Ιουδαίων ... (5,1) και άνέβη Ίησοϋς εις 'Ιεροσόλυμα; 67 7,2

Τ

Ην δέ εγγύς ή έορτή των 'Ιουδαίων ή σκηνοπηγία

... (7,10) και αύτός άνέβη; 10,22 Έγένετο τότε τά έγκαινία έν τοις Ίεροσολύμοις; 11,55 ΤΗν δέ έγγύς τό πάσχα των 'Ιουδαίων ... (12,12) έρχεται ó Ίησους εις 'Ιεροσόλυμα. Die Paschadatierung der »Tempelreinigung« kann daher sowohl redaktionell als auch traditionell sein. ad (3). Ein ursprünglicher Zusammenhang der »Tempelreinigung« Joh 2,13-17 mit dem »Tempelwort« 2,18f.(20-22) läßt sich nicht erweisen. (a) Das »Tempelwort« begegnet in Mk 14,58; 15,29; Acta 6,14 (und EvThom 71) als isoliertes Logion; nur in Joh 2,13ff. ist es mit der »Tempelreinigung« verbunden. Diese singulare Verbindung ist viel wahrscheinlicher sekundär als primär. Denn zum einen ist die sekundäre Verbindung thematisch oder formal ähnlicher Stoffe der Normalfall in der Evangelien-Tradition, 6 8 und zum anderen ist das angegebene Motiv f ü r die mk Umstellung d e s

»Tempelwortes«

nicht r e c h t plausibel, weil dieses die ohnehin vorhandene (!) politische Implikation der »Tempelreinigung« nur dann bedenklich verstärkt,

wenn

die 1.

Pers. Sg. im ersten Teil des Logions (καταλύσω Mk 14,58 diff λύσατε Joh 2,19) ursprünglich ist. Zutreffend bemerkt Gerd THEISSEN: "Denn man konnte Jesus nur anschuldigen, wenn man unterstellte, er wolle die

Tempelzer-

störung aktiv betreiben (etwa durch Brandstiftung u.a.), nicht aber, wenn er seine Zerstörung im Rahmen d e r eschatologischen W e n d e angekündigt

hat"

(Tempelweissagung 144 A3). Daß die 1. Pers. Sg. ursprünglich ist, ist tatsächlich allerdings genauso wahrscheinlich wie das Gegenteil. 65 Cf. nur BULTMANN, Johannes 86; BECKER, Johannes 145. 66 Die »Tempelreinigung« selbst ist bei Mk i.ii. im Unterschied zu Joh nicht datiert; sie erhält ihr Datum allein durch die kontextuelle Nähe zu 14,1. 67 Es ist bekannt, daß der Text des Joh-Ev an einigen Stellen ganz offensichtlich in Unordnung ist. Sehr wahrscheinlich stand Kapitel 6 ursprünglich vor Kapitel 5 (so BULTMANN, Johannes 154f; BECKER, Johannes 35f.; SCHNACKENBURG, Johannes II 6ff. uva.; anders etwa BROWN, John XXVIf. (205ff.)). Ist diese traditionelle Umstellung korrekt, bezieht sich 5,1 zurück auf 6,4. 68 Cf. etwa die thematisch orientierte Neuordnung des Mk-Ev durch Matthäus, die thematisch und formal orientierte Ordnung der Einzellogien in Q (dazu: SATO, Q 33ff.), die thematisch begründete Zusammenstellung der zwei durch Lukas getrennt überlieferten Logien ll,27f. und 23,29 in EvThom 79, etc.

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Die »Tempelreinigung«

Für καταλύσω spricht: eine Umwandlung der 1. Pers. Sg. in die 2. Pers. PI. ist prinzipiell wahrscheinlicher als der umgekehrte Vorgang, da man Jesus dadurch in ein politisch bedenkliches Licht gerückt hätte. Dagegen spricht, daß -die 1. Pers. Sg. in den kanonischen Evangelien und der Apostelgeschichte immé? von Falschzeugen, nie aber von Jesus selbst verwandt wird, 6 ' daß sie also auf eine "ver70

leumderische Umformulierung" zurückgehen oder von vornherein als Falschzeugnis konzipiert worden sein könnte - was Jesus wirklich gesagt hat, steht für die Synoptiker in Mk 13,2 par. Das λύσατε entspricht zudem dem 71 etwa aus Am 4,4 und Jes 8,9f. bekannten "ironischen Imperativ" der Propheten. Rudolf BULTMANN schließt daher zu Recht: "Welches die ursprüngliche Form des Wortes ist, ... läßt sich kaum mehr entscheiden" (Johannes 89).72 (b) Das »Tempelwort« folgt in Joh 2,18f. auf eine Legitimationsforderang 'der Juden'. Diese hat eine Parallele in der Geschichte von der »Vollmachtsfrage« Mk 11,27-33. Fragen 'die Juden' in Joh 2,18 mit Bezug auf die »Tempelreinigung« τί σημείου δεικνύεις ήμΊλι ou ταύτα ποιείς?, so fragen 'die Hohepriester und die Schriftgelehrten und die Ältesten' in Mk 11,,28 ohne erkennbaren Bezug έ\) Tioícjc έξοuoíqt ταΰτα ποιείς ? Häufig wird daher die Meinung vertreten, 11,28 beziehe sich zurück auf ll,15ff; Markus habe den bei Johannes noch belegten alten Zusammenhang zwischen der »Tempelreinigung« und der Legitimationsforderung durch die Einfügung von ll,(18f.)20-25 unterbrochen. 73 Dagegen: es ist zwar nicht auszuschließen, daß Mk ein Zusammenhang zwischen ll,15ff. und ll,27ff. bereits vorgegeben war, hingegen sehr unwahrscheinlich, daß dieser Zusammenhang ursprünglich ist: beide Geschichten sind formal völlig verschieden, 74 die »Tempelreinigung« ist als Anstoß zu einem

69 Anders in EvThom 71; dort steht: "Jesus sagte: Ich werde (dieses) Haus zerstören, und niemand wird in der Lage sein, es (wieder) aufzubauen" (Ubersetzung nach SCHNEEMELCHER 109 (B. BLATZ)). Der zweite Teil des Logions ist sicher ein vaticinium ex eventu — der Tempel wurde nach dem Jahr 70 in der Tat nicht wieder aufgebaut. Ob man aus dem ersten Teil des Logions überlieferungsgeschichtliche Rückschlüsse ziehen kann, ist fraglich; seine Gestalt ist möglicherweise ebenso sekundär wie die des zweiten Teils. 70 THEISSEN, Tempelweissagung 144 A3. 71 BULTMANN, Johannes 88. 72 Er selbst favorisiert die johanneische Form (ebd. 88f. A7); so auch BECKER, Johannes 148 u.a. Anders GASTON, Stone 72; LÜHRMANN, Markus 217f.; DORMEYER, Passion 160; MYLLYKOSKI, Letzte Tage 120. 73 GASTON, Stone 82f.; PESCH, Markus II 209; SCHMITHALS, Markus 505; BECKER, Johannes 144; HAENCHEN, Johannes 208; MOHR, Markuspassion 81; BORGEN, Synoptics 435; ähnlich MYLLYKOSKI, Letzte Tage 116-122. 74 Die »Tempelreinigung« ist formal nicht leicht zu klassifizieren, da der Schwerpunkt nicht - wie bei Apophthegmen/Paradigmen üblich - auf dem Logion liegt. BULTMANN versteht sie als 'ideale Szene' (GST 36), DIBELIUS als 'Paradigma

Der älteste Passionsbericht

117

gelehrten Streit- bzw. Schulgespräch nicht geeignet,75 dieses rekurriert darüber hinaus in keiner Weise auf jene. Auch haben die johanneische und die markinische Gestalt der Szene mit Ausnahme der einleitenden Frage nichts gemein. Das unbestimmte ταύτα in Mk 11,28 schließlich hat eine Parallele in Lk 10,21/Mt 11,25 (Q): auch dort ist der Grund für den Lobpreis εξομολογούμαι σοι, πάτερ, ... δτι εκρυψας ταΰτα άπό σοφών και συνετών καί άπεκάλυψας αυτά

νήπιοις nicht ersichtlich. 76 Worauf sich das ταΰτα in Mk 11,28 einmal bezogen hat, ist nicht mehr auszumachen. 77 Zwischenbilanz: Ein Resümee der bisherigen Diskussion ergibt folgendes Bild: auf der einen Seite läßt sich eine ursprüngliche Zugehörigkeit der »Tempelreinigung« zu PB ( M k / J o h ) nicht erweisen; die Hypothese, Markus und Johannes hätten die Geschichte als isolierte Einzelüberlieferung kennengelernt und an unterschiedlichen Stellen in ihre Evangelien eingebaut, erklärt die Texte in vollauf zufriedenstellender Weise. Auf der anderen Seite legt der markinische Text auf ganz natürliche Weise die Vermutung nahe, Mk 11,15-17 entstammten PB Mk . Dann wäre es sehr gut möglich, daß auch das johanneische Pendant in der Passionsquelle des vierten Evangelisten stand, dies zumal die wörtlichen Übereinstimmungen mit Mk deutlich sind und in etwa dem PB-Durchschnittswert entsprechen. Hat man diese Vermutung erst einmal akzeptiert, finden sich in der Tat zwei gute Gründe, warum Johannes die »Tempelreinigung« an den Anfang seines Evangeliums gerückt haben könnte. Welche Hypothese ist nun die bessere? Die Frage ist auf der Basis der bisherigen Argumente kaum zu entscheiden. Auch was den Grad ihrer methodischen Ökonomie anbetrifft, unterscheiden sich die konkurrierenden Hypothesen nicht: sowohl »synoptische« PB Ioh -Stoffe, als auch »synoptische« Nicht-PB Joh -Stoffe sind im Johannesevangelium sicher nachweisbar. 78

75 76 77

78

minder reinen Typs' (FdE 40). Die »Vollmachtsfrage« ist formal ein (abgebrochenes) Streitgespräch (BULTMANN, GST 18; GNILKA, Markus II 136). Zutreffend BULTMANN, GST 18.36; GNILKA, Markus II 137 A4. Zum Gesamten cf. SAUER, Rückkehr 430-433. Den Hinweis verdanke ich DIBELIUS, FdE 42 A l . An Vorschlägen mangelt es nicht. GNILKA denkt an eine "Ausrichtung auf die gesamte Tätigkeit Jesu" (Markus II 137 A4). BULTMANN hatte seinerzeit, um "das Raten der Exegeten noch um eine Vermutung zu vermehren" (!), vorgeschlagen, es könne sich "auf die Tauftätigkeit Jesu (bzw. seiner Gemeinde) bezogen" haben (GST 18 A2). Die Frage, ob die »synoptischen« Nicht-PB , o h -Stoffe im Johannesevangelium insgesamt oder größtenteils der sog. Semeia-Quelle zugerechnet werden können,

118

Die »Tempelreinigung«

Folgende Tatsache legt nun aber eine Entscheidung gegen eine Zugehörigkeit der »Tempelreinigung« zu PB( Mk/Ioh ) außerordentlich nahe: Die »Tempelreinigung« weist nicht nur keinen expliziten Bezug zu Passion und Tod Jesu auf, sondern würde auch literarisch im ältesten Passionsbericht völlig isoliert dastehen. Wahrend alle echten PB-Stoffe auf vielerlei Weise untereinander verklammert sind, stünde die »Tempelreinigung« hier beziehungslos da; die innere Kohärenz des ältesten Passionsberichtes würde durch sie gestört. In Vorgriff auf Kapitel 7.7.1. sei dieses Argument hier kurz erläutert: Die »Tempelreinigung« hat mit den sonstigen PB-Stoffen nur die Lokalisierung der Aktion in Jerusalem sowie die Tatsache, daß Jesus handelt, gemein (!). Keine der im PB ansonsten zentralen Personen oder Personengruppen erscheint hier : weder die Hohepriester und Schriftgelehrten, noch Pilatus, noch Petrus, noch Judas. Keines der im PB zentralen Themen oder Stichworte wird angesprochen: weder das Thema des βασιλεύς tùu Ίουδαίωυ, noch das der Kreuzigung, noch das Thema des Abfalls der Jünger oder der Gegnerschaft jüdischer Gruppen. Umgekehrt: keine der ansonst im PB berichteten Aktionen spielt im Tempel. Weiter: Die »Tempelreinigung« ist - im Unterschied zu allen PB-Szenen — eine völlig eigenständige Perikope, die problemlos aus ihrem Passionszusammenhang gelöst werden kann — wie der Text des Joh-Ev eindrucksvoll beweist. Schließlich: nirgends im PB — etwa in den Verhören vor den jüdischen Instanzen oder vor Pilatus — wird auf den »Zwischenfall« im Tempel Bezug genommen.

Die Diskrepanzen zeigen: die »Tempelreinigung« paßt nicht in den genuinen Zusammenhang des PB; sie bleibt hier ein Fremdkörper. Fazit: Die Frage, ob die »Tempelreinigung« PB Ioh und damit auch PB Mk und PB zugerechnet werden kann, ist mit den herkömmlichen Argumenten kaum zu beantworten; es wäre gut möglich, ist aber nicht beweisbar. Die letztlich entscheidende Beobachtung ist die, daß sie die innere Kohärenz des ältesten Passionsberichtes erheblich stört. Sind die einzelnen Sinneinheiten des PB sonst untereinander vielfach verklammert, so stünde die »Tempelreinigung« in ihm völlig isoliert da. Es muß daher geschlossen werden, daß sie dem ältesten Passionsbericht nicht zugerechnet werden kann.

kann an dieser Stelle offenbleiben; cf. dazu die Diskussionsüberblicke bei SCHNACKENBURG, Johannes I 344ff. und BECKER, Johannes 134ff.. Becker könnte i.ü. auf der Basis der von ihm vertretenen Quellenhypothese — er rechnet neben PB J o h mit einer sehr umfangreichen Semeia-Quelle (cf. seinen Überblick ebd. 137) — ein interessantes Argument für die Zugehörigkeit der »Tempelreinigung« zu P B , o h gewinnen: außerhalb der S(emeia)Q(uelle) (der sie nicht zugehört; ebd. 145) und dem sicheren Bestand von PB , o h ist sie die einzige echt »synoptische« Perikope im Joh-Ev (das Petrusbekenntnis Joh 6,66-71 stimmt mit seinen synoptischen Parallelen nur geringfügig überein).

119

Der älteste Passionsbericht

7.5. Bestimmung des Umfangs des ältesten Passionsberichtes Nach der Bestimmung des Beginns (7.2) und des Endes des PB (7.3) sowie der Diskussion der Sonderprobleme (7.4) kann nun der Umfang des ältesten noch erreichbaren Passionsberichtes endgültig festgelegt werden. Er bestand nach der hier vorgetragenen Analyse aus neun Szenen, die jetzt im Markusund Johannesevangelium an folgenden Stellen zu lesen sind:

Mk (1) (2) (3)

(4) (5) (6) (7) (8) (9)

»Todesbeschluß« Einzug nach Jerusalem Letztes Mahl mit Ankündigung der Auslieferung und der Verleugnung Gefangennahme Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung Pilatusverhör und Barabbasszene Geißelung und Verspottung Kreuzigung und Tod Begräbnis

Joh

14,1-2 11,1-10

11,47-57 12,12-19

14,17-21 14,29-31 14,(42)43-52

13,(2a)21-30 13,36-38 18,1-11 (14,31c)

14,53-72 15,l-15a 15,15b-20a 15,20b-41 15,42-47

18,12-27 18,28-38; 19,4-16a 19,1-3 19,16b-30 19,38-42

7.6. Einzelanalyse der neun Szenen des ältesten Passionsberichtes

7.6.0. Vorbemerkung Im folgenden wird der Stoff des ältesten Passionsberichtes über die Feststellung der Szenenfolge (7.5) hinaus genauer bestimmt. Dabei wird der Behandlung der einzelnen Abschnitte jeweils der dem Markus- und dem Johannesevangelium wörtlich bzw. sachlich gemeinsame Text vorangestellt. Dieses Verfahren erweckt möglicherweise den Eindruck, der Textbestand des ältesten Passionsberichtes ließe sich noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sichern. Es sei daher von vornherein betont, daß Vf. nicht der Mei-

120

Einzelanalyse: Vorbemerkung

nung ist, mit diesen »Rekonstruktionen« den ursprünglichen Text79des PB wiederhergestellt zu haben. Ebensogut hätte man die wörtlichen und annähernd wörtlichen Übereinstimmungen Vers fur Vers unter Angabe der Differenzen hintereinanderstellen und die thematischen Entsprechungen durch Angabe der jeweiligen Verse bzw. Versteile markieren können. Ein derartiges Darstellungsverfahren hätte aber keinesfalls einen angemessenen Eindruck vom behandelten Gegenstand vermittelt. Das gewählte Verfahren hingegen hat den Vorteil der unmittelbaren Anschaulichkeit; es bietet — wenn man so will — eine analoge und nicht eine digitale Darstellung.80 Die Texte der einzelnen Szenen werden in folgender Weise notiert: (1) Wörtliche Übereinstimmungen sind fettgedruckt. (2) Annähernd wörtliche Übereinstimmungen81 stehen in normalem Druck. Auf die Hervorhebung der originalen Reihenfolge der Wörter wird in beiden Fällen aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet. (3) Nur sachliche Übereinstimmungen und einzelne Wörter bzw. Satzteile, die zur Vervollständigung eines im normalen Text stehenden Satzes notwendig sind, stehen in Klammern; innerhalb der Klammern wird nicht zwischen den beiden Evangelien gesprungen. Auf die Angabe der Herkunft des in Klammern notierten Textes wird wiederum aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet. (4) Spezialprobleme werden durch eckige Klammern markiert und jeweils in einer Anmerkung kommentiert. (5) Ein Verswechsel innerhalb einer Zeile wird durch einen Längsstrich markiert. Im Hinblick auf die Frage, inwieweit die abgedruckten Texte der Gestalt des ältesten Passionsberichtes nahekommen, gilt folgendes: (1) Die Wahrscheinlichkeit, daß die fettgedruckten Wörter tatsächlich in dieser Form im PB enthalten waren, ist (sehr) 82 hoch.

79 Mit dieser Formulierung wird hier (und im folgenden) wiederum dem Ergebnis von 7.7.2 vorausgegriffen. 80 Formales Vorbild dieses Verfahrens ist die ansatzweise »Rekonstruktion« der Logienquelle Q, wie sie POLAG vorgenommen hat (Fragmenta Q; cf. aber seine eigene Problematisierung dieses Begriffs ebd. 5f.); dort ist die Textbasis selbstverständlich erheblich breiter. 81 Unter diese Gruppe werden im folgenden solche Worte subsumiert, deren Wurzel gleich ist; Differenzen im Tempus, Kasus etc., Komposita sowie Substitution von δέ für καί (usw.) werden nicht berücksichtigt 82 Die Klammer bezieht sich auf die Signifikanz des überlieferten Wortes. Selbstverständlich ist die Wahrscheinlichkeit, daß etwa ein καί, ein ö, ein δέ o.a. im

Der älteste Passionsbericht

121

(2) Die Wahrscheinlichkeit, daß die in normalem Druck wiedergegebenen Wörter im PB enthalten waren, ist relativ hoch. (3) Im übrigen besteht hinreichend Grund zu der Annahme, daß die in Klammern wiedergegebenen Satzteile sachlich im PB enthalten waren. Ihre sprachliche Fassung und Einzelheiten ihres Inhalts sind aber nicht mehr zu ermitteln. Die bei dem gewählten Darstellungsverfahren unvermeidlichen Umstellungen innerhalb des Textes eines der beiden Evangelisten sind im übrigen methodisch unproblematisch. Denn zum einen kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, daß beide Evangelisten - oder eine PB M k - bzw. PB Ioh -»Redaktion« — in die Ordnung der Einzelereignisse eingegriffen haben. 83 Und zum anderen kommt es hier nicht auf die Rekonstruktion der wörtlichen Gestalt des ältesten Passionsberichtes an, sondern auf die Eruierung seines wesentlichen Inhalts. Um die komplexen Probleme übersichtlich darstellen zu können, wird die Analyse der einzelnen Szenen des PB jeweils in drei Schritten vorgenommen: Zunächst werden (1) Probleme grundsätzlicher Art diskutiert, sodann (2) Detailfragen. Abschließend wird (3) die Komposition des PB entfaltet.

7.6.1. Der »Todesbeschluß« Mk 14 1

2

T

Joh 11 84

Hv &έ τό πάοχα (μετά δύο ημέρας?) (και) οι αρχιερείς και οί (γραμματείς) 85 (έζήτουν πως) αυτόν I (κρατήσαυτες) I άποκτείνωοιν. ελεγον (... τοϋ λαοϋ ... ) 8 6

55 47 I 571 53 47

PB stand, geringer als die, daß etwa Begriffe wie αλέκτωρ, σπόγγος usw. im PB standen. 83 Cf. vor allem o. 7.2: die Umstellung der Perikope vom Einzug Jesu in Jerusalem, wahrscheinlich durch Mk; cf. auch u. 7.6.7: die Umstellung der Schilderung der Verspottung und Geißelung Jesu, wahrscheinlich durch Joh. 84 Das johanneische έγγύς ist sicher redaktionell (s. 2,13; 6,4; 7,2), die Bewertung der etwas unvermittelten markinischen Zeitangabe aber schwierig; s. die Detailanalyse. 85 Die »Schriftgelehrten« (Mk) sind gegenüber den »Pharisäern« (Joh) sicher ursprünglich; s. die Detailanalyse. 86 Die Überlegungen der jüdischen Repräsentanten werden von Mk und Joh sehr unterschiedlich wiedergegeben; s. die Detailanalyse.

122

D e r »Todesbeschluß«

(1) Grundsätzliches Martin DIBELIUS (FdE 181), Rudolf BULTMANN (GST 300) und viele andere ältere Arbeiten sahen in den Versen Mk 14,lf. die traditionelle Einleitung des vormarkinischen Passionsberichtes. Dagegen rechnen die meisten

neueren

Untersuchungen damit, daß erst Markus diese Verse komponiert habe. 87 Eine Entscheidung dieser Alternative fallt schwer. Für mk Redaktion spricht vor allem die Tatsache, daß Mk 14,1 eine beinahe wörtliche Parallele in dem sehr wahrscheinlich redaktionellen Vers 11,18 hat (Και ηχούσαν οϊ αρχιερείς και οϊ γραμματείς και έζήτουν πως αύτόν άπολέσωσιν έφοβοΰντο γάρ αυτόν, πας γαρ δ δχλος έξεπλήσσετο έπί xr¡ διδαχή αύτοΐί).88 Es fällt aber auf, daß die drei entscheidenden Begriffe in V. 2 (εορτή, θορυβός, λαός) bei Mk jeweils nur noch einmal vorkommen (15,6; 5,38; 7,6). 89 Die Darstellung des »Todesbeschlusses« im vierten Evangelium (11,47-53.55-57) läßt sich demgegenüber leicht klassifizieren: Sie weist deutliche Spuren redaktioneller Überarbeitung 90 einer älteren Überlieferung auf. Traditionell wirken insbesondere die Verse 47-50*.53*. 57*. 91 Darüber hinaus gilt es zu beachten, daß beide Evangelisten nicht erst hier von einem »Todesbeschluß« berichten; vielmehr wissen die Leser(innen) ihrer Evangelien von der Absicht der Gegner schon lange: Im Mk-Ev heißt es bereits in 3,6 και εξελθόντες οι ΦαρισαΤοι ευθύς μετά των Ήρψδιανων συμβούλιον

87 SCHENKE, Markus 14, 12ff.; P E D D I N G H A U S , Leidensgeschichte 86f. ; DORMEYER, Passion 66ff. ; GNILKA, Markus II 219; S C H M I T H A L S , Markus 587f. Cf. aber LÜHRMANN, Markus 229. 88 Cf. BULTMANN, G S T 36; DIBELIUS, FdE 42; H . - W . KUHN, Sammlungen 20; BARTSCH, Bedeutung 101 (er hält 11,18 für eine »Kopie« von 14,1). Für mk Redaktion sprechen die analogen V e r s e M k 1,22 (red), 3,6 (wahrscheinlich red; s. Kuhn, ebd. 19f.; GNILKA, Markus I 126 und u. II 4.3) und 12,12 (red) sowie der Makrokontext von 11,18. Anders: SCHENK, PB 148 (der 14,1 für eine »Kopie« von 11,18 hält); Gnilka, ebd. II 127. Sein Argument, die nur in 11,18 b e legte Aussage, die Hohepriester und S c h r i f t g e l e h r t e n h ä t t e n Jesus (und nicht den ό χ λ ο ς ) g e f ü r c h t e t , spreche für den traditionellen C h a r a k t e r des Verses, ü b e r zeugt aber nicht, da beides auf dasselbe hinausläuft (11,18c!). 89 SCHENK, PB 148.158 postuliert dementsprechend, 14,2 sei ursprünglich auf den (s.E. ja traditionellen) Vers 11,18 gefolgt. 90 Johanneisch sind τί ... 'ότι 47; ών 49; τοϋτο δε εϊπεν 51; οϋκ ... ά λ λ ά 51f.; ά λ λ ' 'ίνα 52; ην δε ε γ γ ύ ς ..., καί 55; έζήτουν οδν και ελεγον 56; δεδώκεισαν δέ ... ϊνα έάν τις 57; πιάζειν 57. D a z u und zu den P a r a l l e l e n s. BULTMANN, Johannes 313 A2. 315.316 A2; cf. FINEGAN, Überlieferung 40f. 91 S. dazu — mit Unterschieden im einzelnen — D O D D , Prophecy, pass.; HAHN, Prozeß 26f.; BECKER, Johannes 428ff.; MOHR, Markuspassion 126; G R U N D MANN, decision 301f. und die Liste bei MYLLYKOSKI, L e t z t e Tage 89 A90. Sprachlich zu beachten sind die drei H a p a x l e g o m e n a συνέδριον, λογίζεσθαι und μηνΰειν.

Der älteste Passionsbericht

123

έδίδουν κατ' αύτόν οπως αύτάν άπολέσωαιν (cf. 8,31; 9,31; 10,33f; 11,18); im J o h - E v lesen wir b e r e i t s in 5,18 δια τοΰτο ού\ι μάλλον έζήτουν αυτόν οί 'Ιουδαίοι

άποκτεΤναι (cf. 7,1.19.25.30; 8,37.40, auch 12,10). Nimmt man die zuletzt genannte Tatsache mit der anderen zusammen, daß der Wortlaut der Verse Mk 14,1-2 möglicherweise gänzlich auf das Konto des Evangelisten geht, so ließe sich argumentieren, daß die Übereinstimmung mit Joh 11,47-53.55-57 eine zufällige ist. Hingegen beweist die Stellung des »Todesbeschlusses« — er steht in beiden Evangelien unmittelbar vor der Salbungsgeschichte (Mk 14,3-9/Joh 12,1-8) - , daß bereits PB mit einer entsprechenden Notiz einsetzte: diese Übereinstimmung kann schwerlich zufällig sein. Die eingangs diskutierte Alternative ist daher nicht einfach mit 'Ja' oder "Nein' zu beantworten. Vielmehr ergibt sich, daß die Verse Mk 14,1-2 trotz ihrer überwiegend redaktionellen Sprachgestalt auf Tradition beruhen. (2) Details (a) Johannes berichtet von einer Zusammenkunft der αρχιερείς και Φαρισαΐοι (11,47), Markus nennt hingegen die αρχιερείς και γραμματείς als agierende Gruppen (14,1) und bietet damit nahezu sicher die bessere Tradition. Dafür sprechen folgende zwei Gründe: (α) Die Pharisäer werden außer im Joh-Ev (11,47.57; 18,3) nur noch von Matthäus im Zusammenhang mit der Passion Jesu erwähnt (21,45; 27,62). Beide mt Belege sind literarisch und überlieferungsgeschichtlich sekundär: 21,45 ist redaktionell, die Geschichte von der Grabeswache 27,62-66 ist sichtlich eine späte Bildung. 92 Matthäus kann also einen alten Zusammenhang der Pharisäer mit der Passionsüberlieferung nicht stützen. Wie bei ihm, dürften auch im vierten Evangelium die Pharisäer erst sekundär mit den letzten Tagen Jesu in Verbindung gebracht worden sein, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen spielen die Pharisäer bekanntlich außerhalb der Passionsgeschichte eine entscheidende Rolle als Gegner Jesu; zum anderen setzen sich gerade Mt und Joh in zum Teil überaus scharfer Form mit dem zur Zeit der Entstehung ihrer Evangelien bereits rabbinisch geprägten Judentum auseinander, und οί ΦαριοαΤοι sind vor allem im Matthäusevangelium dementsprechend die »natürlichen Gegner« Jesu. 9 3 Aus beiden Gründen lag es mehr als nahe, sie auch mit Passion und Tod Jesu in Verbindung zu bringen.

92 S. dazu u. II 3.4. 93 Cf. nur Kapitel 23 und die vielen Stellen, an denen die Pharisäer sekundär in die traditionellen Stoffe eindringen (etwa Mt 3,7 (Q); 12,24 (Q/Mk); 15,12 (Mk); 21,45 (Mk) etc.); s. auch LUZ, Pharisäer 229 und pass. Zum Problem der Kon-

124

Der »Todesbeschluß«

(β) Obwohl die γραμματείς im Mk-Ev die Hauptgegner Jesu sind und also "mit den Hohenpriestern und Schriftgelehrten ... die Gegner Jesu in Jerusalem und die in Galiläa zu einem Block vereinigt" sind, 94 sind die γραμματείς hier schwerlich erst von Markus als zweite Gruppe eingefügt worden. Denn dann müßte die Übereinstimmung, daß auch Johannes eine zweite Gruppe nennt, zufällig sein, und zwar sowohl hier als auch in Mk 14,43 par Joh 18,3 (s.u. 7.6.4). Viel wahrscheinlicher ist, daß der vierte Evangelist die γραμματείς seiner Quelle konsequent durch die Φαρισαΐοι ersetzt. (b) Die kurze Notiz über den »Todesbeschluß« seitens der Hohepriester und Schriftgelehrten ist offenbar bereits in PB ,oh zu einer regelrechten Szene ausgebaut worden: der amtierende Hohepriester Kaiaphas 95 tritt auf und begründet die Notwendigkeit der Hinrichtung Jesu mit politischer Pragmatik. Im PB hat dieser Auftritt des Kaiaphas keine Basis: Markus weiß nichts davon, er erwähnt noch nicht einmal den Namen des Hohepriesters (weder hier noch sonst im Evangelium).96 Ob nun umgekehrt die Kaiaphasszene eine Aussage wie Mk 14,2 verdrängt hat, ist nicht mehr auszumachen. Auffällig ist zwar die Verwendung des für beide Evangelisten ungewöhnlichen Begriffes ό λαός für das Volk Israel; sie allein läßt freilich kaum weitere Schlüsse zu. Möglicherweise berichtete PB ausschließlich von der Absicht der Hohepriester und Schriftgelehrten, Jesus zu töten, ohne überhaupt etwas über deren Motive auszusagen. In diesem Fall wären die wörtlichen Übereinstimmungen ελεγου und του λάου zufällig. (c) Der Verweis auf die Nähe des Paschafestes Mk 14,1/Joh 11,55a ist unbeschadet der Tatsache, daß er bei Johannes erst nach dem eigentlichen »Todesbeschluß« — zudem in einem sicher redaktionellen Vers — steht, ein ursprünglicher Bestandteil der Einleitung des PB gewesen: Wahrscheinlich hat

tinuität zwischen »Rabbinen« und »Pharisäern« s. STEMBERGER, Pharisäer 129-135. 94 So GNILKA, Markus II 219, der beide Verse für markinisch hält. Anders LÜHRMANN, Markus 50f., der in 14,1 mit Recht eine der wenigen Stellen sieht, an denen die »Schriftgelehrten« im Mk-Ev nicht redaktionell eingetragen sind. Zur Vorliebe des Evangelisten für diese Gruppe und ihren möglichen Ursachen cf. ders., Pharisäer, pass. 95 Cf. zu dieser Identifizierung der auftretenden Person aber u. 7.6.5. 96 Es läßt sich kein Motiv dafür angeben, warum er (oder eine PB Mk -Redaktion) diese Szene gestrichen haben sollte — zumal allein sie ein wirkliches Motiv für das Vorhaben der Hohepriester und Schriftgelehrten angibt (bei Mk wird nur begründet, warum alles so schnell gehen muß, nicht aber, warum Jesus überhaupt beseitigt werden muß; das έν δόλψ unterstellt ganz pauschal böse Absichten).

Der älteste Passionsbericht

125

der vierte Evangelist eine entsprechende Notiz (unter Neuformulierung) umgestellt, um zum einen den »Todesbeschluß« aufs engste mit der Auferwekkung des Lazarus zu verbinden und zum anderen die für die Kapitel 7,1 13,1 typische Struktur durchzuhalten, nach der jeder Abschnitt "damit endet, daß Jesus sich zurückzieht und verbirgt" (7,1; 8,59; 10,39-42; 11,54; 12,36b). 97 Ob der älteste Passionsbericht darüber hinaus auch die markinische Angabe, das Paschafest sei μετά δύο ημέρας (= morgen) 98 gewesen, bereits enthalten hat, ist aufgrund der mk Sprache des Verses leider kaum zu entscheiden. Es sei aber darauf hingewiesen, daß das sog. markinische »Wochenschema« -

entge-

gen einer weit verbreiteten Meinung —99 nicht gegen eine Traditionalität der Wendung angeführt werden kann. Denn 14,lf. markiert -

wie Dieter LÜHR-

MANN (Markus 229) zu Recht hervorhebt - einen Neuansatz, "bei dem völlig offen ist, ob Mk an den Tag denkt, der auf den in 11,20 begonnenen folgt." 100 (3) Zur Komposition des PB Die Notiz, daß die Hohepriester und Schriftgelehrten sich kurz vor einem Paschafest Gedanken darüber machten, wie sie Jesus gefangennehmen und töten könnten, leitete nach der hier vorgetragenen Analyse die älteste Darstellung der Passion Jesu ein. In der Tat erfüllt sie alle wesentlichen Funktionen einer Exposition.

97 BECKER, Johannes 274; die Vermutung der Umstellung der Notiz ebd. 431. 98 S. Mk 8,31; 9,31; 10,34 und 16,2: der Sonntag ist vom Freitag aus gesehen μετά τρεις ήμέρας (zu dieser, mit der Wendung τ ξ ήμέρ^ τξ τρίτη bedeutungsgleichen (!) Formulierung s. AJ VII 8,lf. (214.218). 11,6 (280f.) und BAUER 1645); cf. FENDLER, Studien 98. 99 Cf. SCHENKE, Markus 14, 36; SCHENK, PB 144; GNILKA, Markus II 219. 100 BECKER hat aufgrund von vier Joh/Mt-Übereinstimmungen geschlossen, PB , o h müsse "diese Angaben unter EinfluB von Mt-Tradition enthalten haben" (Johannes 431). Diese vier Ubereinstimmungen sind: - die Erwähnung des Hohepriesters Kaiaphas; - die Verbindung οΐ αρχιερείς και οΐ Φαρισαΐοι, die außer bei Joh nur noch bei Mt vorkommt (21,45; 27,62); - die Notiz, die jüdischen Repräsentanten seien »zusammengekommen« (συνήγαγον Joh 11,47; συνήχθησαν Mt 26,3); - die Formulierung (συν)εβουλεύσαντο Joh 11,53/Mt 26,4. M.E. ist Bekkers Annahme überflüssig. Die erste Übereinstimmung beweist lediglich, daß sowohl Mt als auch Joh (bzw. PB , o h — oder erst eine nachjohanneische Redaktion?; dazu s.u. 7.6.5) den Namen des zur Zeit des Todes Jesu amtierenden Hohepriesters kannten; die zweite und dritte gehen auf die natürliche Weiterentwicklung der Tradition zurück: die Szene wird ausgestaltet, die »normalen« Jesusgegner werden in die Passionsdarstellung integriert; die vierte Übereinstimmung schließlich wird eine zufällige sein (cf. Joh 12,10; 18,14). Vielleicht sind die beiden letzten Angaben auch durch Ps 30,14 LXX motiviert (έυ τψ έπισυναχθτίναι αυτούς άίμα έπ' έμέ του λαβείν τήν ψυχήν μου έβουλεΰσαντο).

126

Der »Todesbeschluß«

(a) Sie benennt zunächst die Situation, der der im folgenden geschilderte Konflikt entspringt. Der »Todesbeschluß« der Hohepriester und Schriftgelehrten ist das grundlegende Movens der gesamten Passionsgeschichte; er provoziert sämtliche der Ankunft in Jerusalem folgenden Ereignisse: ohne »Todesbeschluß« keine Auslieferung und Gefangennahme, keine Verleugnung, keine Verhöre, keine Kreuzigung, usw. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß PB offenbar kein Motiv für das Vorhaben der jüdischen Repräsentanten angegeben hat. (b) Die erste Szene des PB stellt weiter die Hauptakteure der Passionsgeschichte vor: die Hohepriester und Schriftgelehrten auf der einen, Jesus auf der anderen Seite.101 Sie - nicht etwa Pilatus und Jesus — sind die Antagonisten in der folgenden Geschichte, in der »gut« und »böse« von Anfang an klar festgelegt sind.102 In den Konflikt, der zwischen ihnen besteht, werden alle übrigen Hauptpersonen hineingezogen; sie alle entscheiden sich in diesem Spannungsfeld gegen Jesus: Judas liefert ihn aus, die Jünger verlassen ihn, Petrus verleugnet ihn, Pilatus verurteilt ihn.103 Dem römischen Präfekten wird durch diese Einleitung des PB von vornherein eine relativ unbedeutende Rolle zugewiesen; er kann und wird im folgenden kaum mehr sein als ein Werkzeug in der Hand der Hohepriester. (c) Schließlich datiert und lokalisiert die Notiz Mk 14,If.* par die Passionsereignisse: sie spielen in der Nähe eines Paschafestes in Jerusalem. Die Lokalisierung erfolgt zwar explizit erst im nächsten Abschnitt des PB, ist aber bereits aus der Exposition zu erschließen; denn zum einen ist das Pascha ein Wallfahrtsfest, und zum anderen treten die αρχιερείς in aller Regel in Jerusalem in Erscheinung.

101 Man mag spekulieren, ob der Name Jesu im PB an dieser Stelle — oder in einer Überschrift - ursprünglich genannt wurde. In jedem Fall ist klar, wer mit αυτόν gemeint ist; gegen einen Beginn des ältesten Passionsberichtes mit Mk 14,lf. x par kann das Fehlen des Namens nicht geltend gemacht werden. Zutreffend LÜHRMANN, Markus 229 (weil man sich die "Aufnahme von Tradition nicht als eine sklavische Bindung des Evangelisten an den Wortlaut eines vorgegebenen Textes vorstellen darf', wie bereits der Umgang von Mt/Lk mit Mk zeige). 102 Das gilt auch dann, wenn im PB keine Angabe wie etwa έν δόλψ (Mk 14,1) gestanden hat. Denn die tödliche Opposition gegen Jesus qualifiziert die Gegner natürlich von vornherein als »böse« Menschen. 103 Maria Magdalena und die andere(n) Frau(en) sowie Joseph von Arimathia sind keine Haupt-, sondern Randfiguren; sie nehmen am Ende den Platz ein, den die Jünger ob ihrer Entscheidung geräumt haben.

Der älteste Passionsbericht

127

Diese Beobachtungen zeigen: ein Beginn des ältesten Passionsberichtes mit der Erwähnung des »Todesbeschlusses« der Hohepriester und Schriftgelehrten ist inhaltlich in j e d e r Hinsicht sinnvoll.

7.6.2. D e r Einzug nach Jerusalem Mk 11

Joh 12

1

(Kai δτε έγγίζουσιν) εις 'Ιεροσόλυμα

12

8

(πολλοί τά ιμάτια αύτων έστρωσαν εις την όδόυ, άλλοι δέ

13

στιβάδας κόψαντες έκ των ά γ ρ ω ν ) 1 0 4 9

καί έ'κραζον ωσαννά- ευλογημένος ό ερχόμενος έν ονόματι κυρίου

10

Có βασιλεύς του 'Ισραήλ / ευλογημένη ή ερχόμενη βασιλεία του πατρός ημών Δαυίδ.) 105

7

(εύρών δέ) ô Ίησοΰς (πωλον) έκάθισεν έπ' αύιόν.

14

(1) Grundsätzliches Nach der Erwähnung des »Todesbeschlusses« der Hohepriester (und Schriftgelehrten) berichtete der älteste Passionsbericht nach u n s e r e r Analyse vom »Einzug« Jesu nach Jerusalem. Bei der Analyse dieses Abschnittes ist zweierlei zu beachten. Zwischen den »Todesbeschluß« und den »Einzug« hat wahrscheinlich

die

allererste PB-»Redaktion« die G e s c h i c h t e von d e r Salbung Jesu in Bethanien eingefügt (s.o. 7.4.1); deshalb ist der Übergang von der e r s t e n zur zweiten S z e n e jetzt s e h r holprig. Markus hat wahrscheinlich den »Einzug« vorgezogen (s.o. 7.2) und ihm dadurch einen völlig anderen Kontext gegeben. D e r - wie der johanneische Text zeigt - e h e r k u r z e ursprüngliche P B - B e richt ist s e h r wahrscheinlich bereits schichte erweitert worden:

106

in P B M k

zu einer ausführlichen

Ge-

Jesus sendet zwei seiner Jünger in das nächste

Dorf, um dort ein junges Eselsfohlen zu finden, auf dem er selbst dann in die Stadt einreiten wird ( l l , l b - 7 ) . In dieser Erweiterung, die stark an Mk

104 Joh berichtet davon, da£ die Menge Jesus entgegengezogen sei und ihn mit Palmzweigen begrüßt habe, was wahrscheinlich eine sekundäre Stilisierung ist; s. die Analyse. 105 Ob Mk oder Joh hier die bessere Tradition bietet, ist kaum zu entscheiden; s. die Detailanalyse. 106 Cf. nur GNILKA, Markus II 114; LÜHRMANN, Markus 187 (allerdings rechnen sie 11,Iff. noch nicht zu PB M k ).

128

Der Einzug nach Jerusalem

14,12-16 erinnert, ist offenbar eine Fülle von alttestamentlichen Bezügen verarbeitet: (a) Das Motiv des jungen, noch ungerittenen königlichen Reittiers erinnert an die messianisch gedeutete Prophezeiung Sach 9,9, die von Johannes (12,15) und Matthäus (21,5) explizit zitiert wird: Χαίρε σφόδρα, θύγατερ Σιων κήρυσσε, θύγατερ 'Ιερουσαλήμ: ιδού ό βασιλεύς έ'ρχεταί σοι, δίκαιος και σψζων αυτός, πραύς και επιβεβηκός επί ύποζύγιον και πωλον νέον. D e r Begriff πώλος fällt viermal (Mk 11, 2.4.5.7); dem νέος des Sacharjaverses entspricht die Wendung εφ' δν ουδείς ουπω ανθρώπου έκάθισεν (V.2). (b) Das Motiv, daß das Eselsfohlen 1 0 7 angebunden gewesen sei (V.2), erinnert an den ebenfalls messianisch gedeuteten Segen Jakobs ü b e r Juda in Gen 49,11. Dort heißt es von der endzeitlichen Rettergestalt: δεσμευων προς όίμπελον τον πωλον αΰτοΰ. 108 (c) Das Motiv der wunderbaren Vorhersage der Auffindung eines Reittiers erinnert schließlich an die Samuel - Saul Geschichte 1 Sam 10,2-10; hier sagt Samuel dem Saul voraus, wann, wo und wie er die verlorenen Eselinnen finden wird. Die Übereinstimmung geht aber noch wesentlich weiter: unmittelbar vorher hat Samuel Saul zum König von Israel gesalbt (10,1: και έ'λαβον Σαμουήλ τον φακόν του ελαίου και έπέχεεν επί την κεφαλήν αΰτοΰ ; cf. die Salbung Mk 14,3!), und unmittelbar darauf (10,24) wird Saul vom Volk p e r Akklamation zum König erklärt (cf. Mk ll,9f./Joh 12,13 !). Es ist offensichtlich, daß sowohl die Komposition von Mk l l , l b - 7 , als auch die Komposition der ersten Abschnitte von P B M k stark von 1 Sam 10 inspiriert ist. 1 0 9 Daß die markinische Episode in PB I o h und also im PB keine Basis hat, braucht wohl nicht betont zu w e r d e n . E s gibt keine Anzeichen dafür, daß Johannes sie in seiner Quelle gelesen hat, es läßt sich kein Motiv angeben, warum er (oder eine PB J o h -»Redaktion«) sie gestrichen haben sollte; vielmehr hätte er sich diese s c h ö n e Geschichte, wenn er sie gekannt hätte, "kaum entgehen lassen." 1 1 0 In den genannten drei Veränderungen der primären Passionstradition liegt s e h r wahrscheinlich der Grund dafür, daß die Übereinstimmungen

zwischen

Mk und Joh sich jetzt auf die sachlich notwendigsten Angaben (Einritt nach

107 H.-W. KUHN (Reittier pass.) hat die Bedeutung »Eselsfohlen« (und nicht: »Pferd«) für πώλος an dieser Stelle gegen BAUER, Colt, pass, mit Recht hervorgehoben. 108 Hervorgehoben von KUHN, Reittier 86ff. 109 Cf. GNILKA, Markus II 114; SCHMITHALS, Markus 485ff. ; LÜHRMANN, Markus 187f. 110 SCHNACKENBURG, Johannes II 471. Gegen PATSCH, Einzug 22; cf. schon BULTMANNS Vermutung (Johannes 320 A2).

Der ä l t e s t e Passionsbericht

129

Jerusalem) und den Akklamationsruf (Ps 118,25f.) beschränken, während der jeweilige Rahmen der Szenen sehr unterschiedlich ist. Berücksichtigt man hingegen einmal diese Variationen, so ergibt sich eine Reihe weiterer Übereinstimmungen: (a) Sowohl bei Joh (12,1) als auch bei Mk (11,1) kommt Jesus von Bethanien nach Jerusalem. In diesem Zusammenhang läßt sich vielleicht ein altes exegetisches Problem lösen: die Entstehung der merkwürdigen doppelten Ortsangabe in M k 11,1 (εις Βηθφαγή και Βηθανίαν), die z u m e i n e n ü b e r f l ü s s i g ist u n d

die zum anderen die beiden Orte in der geographisch falschen Reihenfolge n e n n t : 1 1 1 Hat M a r k u s s e i n e r Quelle r e d a k t i o n e l l εις Βηθανίαν (προς το δρος των

έλαιών) hinzugefügt, weil die Geschichte ursprünglich hinter der »Salbung« in Bethanien stand? (b) Sowohl bei Joh (12,12) als auch bei Mk (10,46) wird der δχλος erwähnt, der Jesus bei seinem Einzug in die Stadt begleitet hat. Mk rekurriert mit έγγίζουσιν (11,1) auf die Angabe in 10,46; vielleicht hatte sie im PB eine traditionelle Basis, (c) Sowohl bei Joh (12,4.16) als auch bei Mk (11,Iff.) ist schließlich deutlich, daß auch die Jünger Jesus bei seinem Einritt nach Jerusalem begleiten. (2) Details (a) Mk (11,8) berichtet davon, die Jesus begleitende Volksmenge hätte Kleider sowie herausgerissene Grasbüschel vor ihm auf den Weg gestreut. Bei Joh (12,13) ist davon die Rede, daß die Menge Jesus mit Palmzweigen vor der Stadt empfangen habe. Beide Angaben stellen den Einzug als einen königlichen dàr. (α) Die markinische Angabe hat ihre auffälligste Parallele in 4 Kön 9,13 LXX. Dort inthronisieren die Israeliten den Jehu, der unmittelbar zuvor von einem der Prophetenjünger Elischas zum König gesalbt worden ist (9,6 και έπέχεεν το ελαιον έπι την κεφαλήν αύτοΰ κτλ.; cf. 1 Sam 10,2 u n d M k 14,3!),

indem sie ihre Kleider vor ihm ausbreiten und rufen: Jehu ist König! (και ελαβον έκαστος τό ϊμάτιον αύτοΰ και εθηκαν ϋποκάτω αύτοΰ κτλ.). W i e d e r u m ist

deutlich, wie stark der Beginn von PB άπέκοψεν • \ 296 * Πέτρος το ώτίον, ...). Zum anderen ist die Bezeichnung ώτάριον für ein menschliches Ohr überhaupt nur noch einmal (!) in der griechischen Literatur belegt (Lukillios, Anthologie Palatina, 11,75,2).Z97 Es ist sehr fraglich, ob sich ein so ungewöhnlicher Begriff bei einer mündlichen Tradition des Stoffes bis hin zum Joh-Ev hätte behaupten können, (j) θερμαίνεσθαι Mk 14,54.67/Joh 18,18.25 ist ein Evangelien-Dislegomenon (sonst nur noch in Jak 2,16). Mt streicht die Notiz, daß Petrus sich am Feuer gewärmt habe, beide Male; Lk streicht den Begriff (22,55). (k) ράπισμα Mk 14,65/Joh 18,22 (19,3) ist — sieht man von der Wiederaufnahme in Joh 19,3 ab — NT-Hapaxlegomenon. Mt verwendet stattdessen die Verbform (26,67), Lk streicht den Begriff (22,63f.). (1) παιδίσκη Mk 14,66(69)/Joh 18,17 ist — sieht man von der Wiederaufnahme in Mk 14,69 ab — Mk/Joh-Hapaxlegomenon. (m) πλέκειν Mk 15,17/Joh 19,2 ist — sieht man von dem abhängigen Beleg Mt 27,29 ab — ein NT-Hapaxlegomenon. Lk streicht die ganze Verspottungsszene, (n) ακάνθινος Mk 15,17/Joh 19,5 ist wiederum ein NT-Hapaxlegomenon. Joh verwendet den Begriff allerdings nicht an derselben Stelle wie Mk (dort setzt er vielmehr έξ ακανθών, 19,3), sondern in einer Wiederaufnahme zwei Verse später, (ο) στέφανος Mk 15,17/Joh 19,2(5) ist — sieht man von der Wiederaufnahme Joh 19,5 ab — Mk/Joh-Hapaxlegomenon. (ρ) πορφύρα Mk 15,17.20 ist Mk-Dislegomenon; πορφυρούς Joh 19,2.5 Joh-Dislegomenon, die Begriffsverwandtschaft ist deutlich, (q) χαίρε Mk 15,18/Joh 19,3 ist Mk/Joh-Hapaxlegomenon. (r) κλήρος Mk 15,24/Joh 19,24 ist Mk/Joh-Hapaxlegomenon. (s) σπόγγος Mk 15,36/Joh 19,29 ist — sieht man von der Übernahme durch Mt (27,48) ab — NT-Hapaxlegomenon.

296 Um sicherzugehen: dieser Rekurs des Evangelisten beweist, daß der Mk 14,47 so ähnliche Vers Joh 18,10 nicht erst sekundär in das Joh-Ev eingefügt worden ist. 297 Cf. BAUER, LIDDELL-SCOTT, jeweils s.v. Das Zitat ist am leichtesten zugänglich bei STEPHANUS, s.v. (der vollständige Text bei DUEBNER, Anthologie Palatina).

184

Schriftlichkeit

(t) δξος Mk 15,38/Joh 19,29(30) ist — sieht man von der joh Wiederaufnahme ab — Mk/Joh-Hapaxlegomenon. (u) περιτιθέναι Mk 15,36/Joh 19,29 schließlich ist Joh—Hapaxlegomenon. Unter den 21 a u f g e f ü h r t e n Begriffen finden sich fünf N T - H a p a x l e g o m e n a (a, b, e, i, n), Z 9 8 drei M k / J o h - H a p a x l e g o m e n a (h, q, r) sowie j e ein Evangelien-Dislegomenon (j) und ein M k / J o h - D i s l e g o m e n o n (g). Sieht man von jeweils einer m k / j o h redaktionellen Wiederaufnahme bzw. einer Übernahme durch Matthäus ab, finden sich weitere drei N T - H a p a x l e g o m e n a {k, m, s) sowie vier M k / J o h - H a p a x l e g o m e n a (f, 1, o, t) Die längste identische Wortfolge in P B M t c / P B J o h umfaßt neun W o r t e : (Ίησοΰς ειπεν) αμήν λέγω ύμΤν 'ότι εις έξ υμών παραδώσει με (Mk 14,18/Joh 13,21). Die größte Ansammlung identischer W ö r t e r bei geringfügigen Abweichungen in der W o r t f o l g e umfaßt dreizehn W o r t e : (όίφετε/όίφες) αυτήν. πάντοτε γαρ ιούς πτωχούς έχετε μεθ' εαυτών, έμέ δε ού πάντοτε έχετε (Mk 14,6f./Joh 12,7f.). Sie findet sich auffälligerweise in einer Perikope, die dem PB nach unserer Analyse erst sekundär hinzugefügt wurde, wie überhaupt sowohl die Wahl der Begriffe als auch die w ö r t lichen Ubereinstimmungen zwischen Mk und Joh bei der Salbungsgeschichte sehr auffällig sind. Eine Folge von zehn — mit einer Ausnahme — identischen W o r t e n findet sich in Mk 1 4 , 4 7 / J o h 18,10: (εις) έ'ποασεν τον δοΰλον xoü άρχιερέως και ά φ ε ΐ λ ε ν / ά π έ κ ο ψ ε ν αϋτοΰ τό ώτάριον. Auffällig ist hier zudem, daß der so ungewöhnliche Begriff ώτάριον nicht isoliert dasteht, sondern in eine wesentlich längere identische W o r t folge eingebunden ist. V e r g l e i c h t man d i e s e s Resultat nun mit dem, das die A n a l y s e von Q als schriftlicher Quelle der Evangelisten Mt und Lk erbracht hat, s o ergibt

sich

f o l g e n d e s Bild: (1) D i e w e i t g e h e n d e Ü b e r e i n s t i m m u n g der S z e n e n f o l g e in P B M k und P B I o h ist auffällig. S i e kann z w a r z u e i n e m Teil mit d e m »natürlichen

Handlungsab-

lauf« erklärt w e r d e n , den e s in s o l c h e r W e i s e in der Logienquelle Q nicht gibt. D i e i d e n t i s c h e Positionierung einiger S t o f f e , die auch in anderer Abfolge hätten dargeboten w e r d e n k ö n n e n , ist gleichwohl signifikant. (2) Zwar ist der P r o z e n t s a t z der w ö r t l i c h e n Ü b e r e i n s t i m m u n g e n PBMk und P B

Ioh

insgesamt erheblich geringer als der z w i s c h e n

zwischen

den

beiden

Q - R e z e n s i o n e n Q L k und Q M 1 , Z " und die H a p a x - und D i s l e g o m e n a sind z.T. s c h l i c h t durch die b e s o n d e r e Thematik der b e t r e f f e n d e n S z e n e n bedingt (wie z . B . αλέκτωρ und σπόγγος). G l e i c h w o h l sind die w ö r t l i c h e n gen z w i s c h e n P B

Mk

und P B

Joh

-

Übereinstimmun-

auch in N e b e n s ä c h l i c h k e i t e n -

s e h r auffäl-

298 Z u beachten ist freilich die o. A 295 gemachte Einschränkung! 299 Liegt er dort bei etwa 50% (s. SATO, Q 16), so erhält man für die gemeinsamen Stoffe in P B M k / P B J o h einen W e r t von unter 15% wörtlicher Übereinstimmung.

Der älteste Passionsbericht

185

lig. Es findet sich eine Reihe »doppelter« NT- und Mk/Joh-Hapaxlegomena, darunter ganz ungewöhnliche Begriffe, die Mt und Lk ersetzt oder ausgelassen haben. Bei einer mündlichen Tradierung wären solche Begriffe zweifellos verlorengegangen. Fazit:

Es spricht vieles dafür und nichts dagegen, daß die Evangelisten

Markus und Johannes ihre Passionsquellen bereits in schriftlicher Form vorliegen hatten. 300 Ist das richtig, so folgt daraus notwendig, daß auch der älteste uns noch erreichbare Passionsbericht eine schriftliche Größe war: anders sind die bestehenden Übereinstimmungen zwischen den beiden »Rezensionen« PB Mk und Pßjoh nicht erklärbar. 301 Ob die Passionsdarstellung in der von PB überliefer-

300 Leider kann ich mich bei dieser Entscheidung nicht auf einen Konsens darüber stützen, daß Mk mit Sicherheit andere schriftliche Quellen vorliegen hatte. Denn zum einen wird die Existenz vormarkinischer Sammlungen immer wieder bestritten (cf. dazu LÜHRMANN, Markus 56), und zum anderen besteht keine Klarheit darüber, ob diese Sammlungen (mit deren Existenz m.E. zu rechnen ist) Mk in mündlicher oder schriftlicher Form vorlagen (cf. dazu v.a. H.-W. KUHN, Sammlungen, pass, und das Resümee ebd. 230: die Sammlungen seien z.T. "wohl nur in der mündlichen Überlieferung vorhanden gewesen"). Die Entscheidung für die Schriftlichkeit von PB M k und PB I o h läßt sich aber noch durch folgende, grundsätzliche Erwägungen abstützen: Q beweist, daß frühchristliche Quellen bereits relativ früh in schriftlicher Form umliefen; wahrscheinlich etwa dreißig Jahre vor dem Joh-Ev entsteht das schriftliche Markusevangelium. Uberhaupt muß man per Analogieschluß urteilen, daB die frühchristliche Kultur — ebenso wie ihre jüdische und ihre hellenistische Mutterkultur — literarisch geprägt gewesen sein wird. SCHMITHALS hebt in diesem Zusammenhang durchaus mit Recht hervor, daß "sowohl die palästinische wie die hellenistische Synagoge eine fundierte literarische Bildung Cvermittelte3; daß mehr auswendig gelernt wurde als heute, ändert an diesem Urteil nichts, weil die gelehrten und gelernten Texte literarischen Vorlagen entstammten" (Formkritik 184 A148). Ein eindrucksvolles Dokument der literarischen jüdischen Kultur ist das Ensemble der etwa 800 in den (bislang) 11 Höhlen am Toten Meer gefundenen Handschriften. Von hier aus kann mit gutem Recht geschlossen werden, daß die Verschriftlichung umfangreicherer Zusammenhänge autoritativer Tradition auch im frühen Christentum der Normalfall gewesen sein dürfte; es gibt — kulturpsychologisch geurteilt — überhaupt keinen Grund zu der Annahme, P B M k / P B I o h hätten ausschließlich als mündliche Größen existiert. 301 Für die Mündlichkeit von PB J o h plädiert vor allem BECKER (Johannes 634ff.; ders., 1986, 26). Er rechnet mit einem mündlichen "Erzählzusammenhang mit relativ fester Struktur und Sprachgestalt"; seine "Festigkeit in Form und Inhalt" gebe die Möglichkeit, "in Analogie zu einem literarischen Zusammenhang ... auch bei ihm von einer Quelle zu sprechen" (Johannes 634). Becker verbindet durch diese These die jeweiligen Vorteile der Hypothese eines schriftlichen bzw. eines mündlichen PB , o h ; sie ist dadurch ausgesprochen flexibel und kann

186

Form

ten Fassung darüber hinaus von Anfang an in schriftlicher Gestalt umlief, ist nicht mehr zu ermitteln, m.E. aber wahrscheinlich (s.u. 7.7.5). In jedem Fall muß, da die wörtlichen Übereinstimmungen sowohl im primären als auch im sekundären (Mk 14,3-9 par) Stoff auftreten, davon ausgegangen werden, daß der älteste Passionsbericht spätestens

von dem Moment an, in dem er um

Mk 14,3ff. par erweitert wurde, in schriftlicher Form vorlag.

7.7.3. Die Form des PB Der Ausgangspunkt der Darstellung des ältesten Passionsberichtes

ist

der

»Todesbeschluß« der Hohepriester (und Schriftgelehrten), der das entscheidende Movens der Handlung ist. Ziel- und Höhepunkt der Darstellung ist der Tod Jesu. Hier wird der fundamentale Konflikt aufgebaut, dort hat er sich »gelöst«. Zwischen diesen beiden Polen berichtet PB in chronologischer Folge vom Ablauf

der Ereignisse,

also

davon, wie

es

den

Hohepriestern

(und

Schriftgelehrten) gelang, ihr Vorhaben schließlich in die Tat umzusetzen. Dies ist das erklärte Thema des ältesten Passionsberichtes. Es geht ihm danach

eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene plausibel erklären (z.B. kannte "offenbar Lk ... eine zu Mk begrenzt divergierende Erzähltradition des PB" Cd.i.: des Urberichtes ) 639). Ich sehe zwei Schwierigkeiten: (l) Beckers Basisthese ist m.E. letztendlich inkonsequent, weil er PB Joh zwar in der zitierten Einleitung als mündliche Größe bestimmt und dadurch etwa das Problem der lk Passionsdarstellung leicht lösen kann, aber im Kommentar dann doch mit literaturbezogenen Begriffen arbeitet (etwa: "findet ... vor" 653; "E unterdrückt das Verhör ... aus dem PB, wo es nach V 15 (G) stand" 654; weiterhin "ist davon auszugehen, daß er bis in die sprachlichen Einzelheiten in den ihm vorgegebenen PB eingriff" 664; usw.). Man kann m.E. nur das Eine oder das Andere haben. (2) Es läßt sich nicht nachweisen — vielmehr nur a priori postulieren —, daß "Mk mit der Literarisierung die Ausnahme von der allgemeinen Regel" bildete (639), auch nicht, daß der PB "schon vor Mk eine umfassende Verbreitungsgeschichte gehabt" hat (637). Wie kann i.ü. erklärt werden, daß, wenn tatsächlich praktisch jede "Gemeinde X" und jede "Gemeinde Y" (ebd.) den PB »kannte«, dieser einer Persönlichkeit wie dem Verfasser des 1. Clemensbriefes in Rom noch am Ende des 1. Jh. offensichtlich unbekannt gewesen ist (cf. 1 Clem 16, wo man unweigerlich Rekurse auf die evangelischen Passionsberichte erwartet, stattdessen aber Jes 53 und Ps 22 zitiert werden (!))? Für Mündlichkeit plädieren auch: KLEIN, Passionstradition 182; PEDDINGHAUS, Leidensgeschichte 142 u.a. Bei diesen beiden Autoren wird — wie auch bei vielen Vertretern der Gegenseite (cf. etwa SCHENK, PB; SCHENKE, Markus 14; MOHR, Markuspassion; GREEN, Death, jeweils pass.) — das Problem hingegen nicht wirklich diskutiert.

Der älteste Passionsbericht

187

wesentlich um einen Geschichtsbericht, wobei der »Todesbeschluß« der Juden von allem Anfang an als entscheidende causa efficiens der Kreuzigung Jesu benannt wird. Der römische Präfekt Pontius Pilatus kann in diesem derart strukturierten Bericht nur eine völlig untergeordnete Rolle spielen: Er fungiert - widerwillig - als Mittel zum Zweck und steuert zur Handlung lediglich die römische Todesart der Kreuzigung bei; darüber, wer in Wahrheit die Verantwortung flir den Tod Jesu trägt, läßt der älteste Passionsbericht seine Leser(innen) keinen Augenblick in Zweifel — οι αρχιερείς και oí (γραμματείς έζήτουν π ώ ς ) αύτόν (κρατήσαντες) άποκτείνωοιν. Berücksichtigt man nun weiter, daß auf der Schilderung des Leidens Jesu kein besonderes Gewicht liegt, so wird deutlich: PB berichtet nicht von der Passion Jesu - der traditionelle Terminus »Passionsbericht« ist also nicht wirklich sachgemäß 3 0 2 - , sondern von den Umständen seines Todes. Es handelt sich um einen chronologisch

aufgebauten Geschichtsbericht über die Ursachen und die näheren Umstände des Todes Jesu. Gibt es nun analoge Berichte, die bei der Formbestimmung weiterhelfen können? Unter allen in diesem Zusammenhang diskutierten Parallelen 303 steht dem ältesten Passionsbericht die markinische Darstellung des Todes Johannes des Täufers (Mk 6,17-29) formal am nächsten. Ihre »dramatische« Grundstruktur ist mit der des PB nahezu identisch: hier wie dort ist die treibende Kraft der Handlung nicht der Machthaber, sondern eine Partei, die den Tod des Protagonisten nicht aus eigener Vollmacht bewirken kann (6,19: ή δέ Ήρψδιάς ή'θελεν αύτόν άποκτεΐναι, και οϋκ ήδύνατο); hier wie dort ist diese Partei »böse« und der Angeklagte »gut« (V.20 άνήρ δίκαιος και άγιος); hier wie dort ist der Angeklagte gefangen und wehrlos; hier wie dort hegt der Machthaber heimliche Sympathien für den Angeklagten und würde ihn aus freien Stücken nicht töten (V.20 ό γ α ρ Ήρψδης έφοβεΐτο τον Ίωάννην και συνετήρει αύτόν); hier wie dort begeht er aber einen taktischen Fehler 3 0 4 und wird sodann mittels einer dritten Person unter Druck gesetzt, dem er widerwillig

302 Von hier aus betrachtet, ist die auch in dieser Arbeit getroffene Wahl der Begriffe »Passionsbericht« bzw. »PB« strenggenommen natürlich miBlich. Der Einfachheit halber habe ich den traditionellen Begriff und das inzwischen ebenfalls bereits traditionelle Kürzel jedoch beibehalten; s. auch. u. 7.8.2 zur Bedeutung der Kategorie der passio iusti und cf. FORTNA, Fourth Gospel 179 zum Charakter der johanneischen Passionsquelle: It "is not strictly a passion narrative, an account of suffering." 303 Dazu s.u. 7.7.4. 304 Um sicher zu gehen: der taktische Fehler des Pilatus im PB besteht darin, daß er das Privilegium paschale ins Spiel bringt. S. auch GIBLIN, Hearing 238.

188

Form

nachgeben muß (V.26 και περίλυπος γενόμενος δ βασιλεύς δια τούς δρκους και τους άνακειμένους οΰκ ήθελησεν άθετηοαι αυτήν); hier wie dort wird am Ende schließlich der »Todesbeschluß« in die Tat umgesetzt und der Gerechte bestattet. Beide Geschichten weisen sichtlich dieselbe einfache »dramatische« Vierer-Struktur auf: Der »böse« Antagonist A (die Hohepriester/Herodias) setzt mit Hilfe der verfuhrbaren Mittelsperson Β (der »Menge«/der Tochter) den an sich »guten« Machthaber C (Pilatus/Herodes Antipas) unter Druck und auf diese Weise seinen Beschluß, den uneingeschränkt »guten« Protagonisten D (Jesus/Johannes der Täufer) zu töten, erfolgreich in die Tat um. 305 Wie ist nun die Geschichte vom Ende des Täufers formkritisch einzuordnen? Um einen Martyriumsbericht handelt es sich ersichtlich nicht, 306 literarische Vorbilder sind nicht auszumachen. Viele der in der Geschichte verwendeten Motive sind allerdings auch andernorts belegt: das Versprechen des Herodes in V.23 erinnert an Esther 5,3.6; 7,2; die Feindschaft der Herodias gegen Johannes erinnert an 1 Kön 19,2; das Motiv der ränke- und rachsüchtigen Frau ist bekannt etwa aus Herodot IX 108-113; der abgeschlagene Kopf auf der Schüssel ist bekannt aus Midr Esther 4,9.11 (zu Esth 1,19.21).307 Man wird der Geschichte daher am besten gerecht, wenn man sie ganz allgemein als eine "volkstümliche Erzählung" und genauer als eine "Hoflegende" bezeichnet. 308 Da nun genau die für die Hoflegende typischen Züge aus Mk 6,17ff. im PB fehlen, ergibt sich als Ergebnis dieses Vergleichs: Die »dramatische« Grundstruktur des ältesten Passionsberichtes läßt sich als eine volkstümliche' be-

305 In der Geschichte vom Tod Johannes des Täufers tritt diese Struktur freilich deutlicher hervor; der älteste Passionsbericht ist erheblich umfangreicher und enthält eine Reihe von Episoden, die ohne Schaden für diese Struktur auch fehlen könnten (so die Szenen 2,3,5,7). Nichtsdestotrotz ist die Parallelität signifikant. 306 Gegen BERGER, Formgeschichte 334. Ob man mit GNILKA, Martyrium 86 (cf. auch ders., Markus I 246) in den Versen "17, 18, 27b (evtl. 29)" noch die "Kurzform eines jüdischen Martyriums" als Basis der Geschichte rekonstruieren kann, erscheint mir sehr fraglich. In jedem Fall tritt in der Jetztgestalt der Perikope keiner der für einen Martyriumsbericht charakteristischen Züge auf; zutreffend LÜHRMANN, Markus 115. 307 Herodot, ed. A.D. Godley (London/Cambridge, Mass. 1925); Midr Esther ed. Romm, Wilna 1887 (auch bei BILLERBECK, I 683). 308 So GNILKA, Markus I 246; THEISSEN, Lokalkolorit 85 (ähnlich BERGER, Formgeschichte 334: 'Hofgeschichte'); zu weiteren vorgeschlagenen Benennungen s. ebd. A53. Zur historischen Beurteilung s. LÜHRMANN, Markus 114f., die bei Gnilka, ebd. 252 A 3 4 genannten Autoren, Theissen, ebd. 86ff. und u. II 1.2.

Der älteste Passionsbericht

189

zeichnen. Diesem Charakter entspricht seine Sprache. Es bedarf keines Beweises, daß sein Stil - wie immer man die Detailfragen beurteilt — außerordentlich einfach ist: die καί-Parataxe beherrscht weithin das Feld, "die maßlose Häufung der obliquen Kasus von αυτός" 309 springt — wie in den Evangelien insgesamt — ins Auge. Inhaltlich konzentriert sich PB ganz auf das Schicksal Jesu; er berichtet — mit Ausnahme der Petrusverleugnung - nichts, was darüber hinaus von Interesse sein könnte. Beschrieben werden dementsprechend fast ausschließlich Handlungen, die Verben der Bewegung und die verba dicendi dominieren, Personenbeschreibungen und Ortsbeschreibungen (etc.) fehlen ebenso wie metatextuelle Kommentare des Verfassers — mit der signifikanten Ausnahme der Exposition, die uns Uber die Motive einer der handelnden Parteien unterrichtet. Fazit: Formkritisch charakterisiert man den ältesten uns noch erreichbaren »Passionsbericht« zunächst am besten als einen volkstümlichen Geschichtsbericht.310 Sucht man nach dem Begriff, mit dem der antike Leser dieses Stück Kleinliteratur bezeichnet hätte, so kommen folgende termini in Frage: διήγηοις (Erzählung, Bericht, Erörterung; cf. Euseb, HE III 39,3 (Papias); Lk 1,1) oder διήγημα (Erzählung, Geschichte; cf. BJ I 1 (1); 2Makk 2,24) und sogar ϊοτορία (Geschichte; cf. ProtEvJak 25,1). Es handelt sich um eine διήγησις περί χοΰ θανάτου Ίηοοΰ Χρίστου, einen Bericht über den Tod Jesu Christi.

7.7.4. Zum Problem einer Näherbestimmung der Gattung des PB Läßt sich die Form des ältesten Passionsberichtes über diese allgemeine Charakterisierung hinaus nun noch genauer bestimmen? Läßt sich PB einer der zeitgenössischen Literaturgattungen zuordnen?

309 NORDEN, Kunstprosa 484 (mit Blick auf die Evangelien). 310 Auf zweierlei sei in diesem Zusammenhang noch hingewiesen: (l) Der Begriff 'Geschichtsbericht' ist im neutralen Sinn zu verstehen, er impliziert also keinerlei positives Urteil über die historische Qualität des PB (s. dazu u. II 2). (2) Der von den 'klassischen' Formgeschichtlern gern verwendete Begriff 'volkstümlich' scheint mir trotz der (zum Teil berechtigten) neueren Kritik nach wie vor hilfreich zu sein, um den Abstand zwischen unserer Literatur und den Geschichtsberichten der Hochliteratur festzuhalten. Zur 'Volkstümlichkeit' des PB sei i.ü. hingewiesen auf seine — doch kaum zufällige — außerordentlich groBe Wirkung auf die volkstumliche Literatur des Christentums, angefangen von den vielgelesenen Acta Pilati (SCHNEEMELCHER 399-414) bis hin zu den mittelalterlichen und modernen Passionsspielen.

190

Das Problem einer Näherbestimmung der Gattung

Wie alle seine Nachfolger widersetzt sich der älteste Passionsbericht - wie immer man ihn auch rekonstruiert - bislang standhaft jeder präziseren gattungsgeschichtlichen Einordnung. Joachim GNILKA resümiert: "Gattungsmäßig stellt die Urpassion etwas Neues dar. Sie nimmt aber Züge der Märtyrerakte (Prozeßschilderung) wie des jüdischen Martyriums (Schilderung des Leidens) auf' (Markus II 349 A12). Trotz seiner sehr anderen Bestimmung des Umfangs der vormk Passionsgeschichte kommt Rudolf PESCH 311 zu einem ganz ähnlichen Ergebnis: "Ein Versuch gattungskritischer Analyse der vormk Passionsgeschichte ... ist mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Eindeutige Analogien der Großerzählung ... sind nicht bekannt. Die (Großgattung ist) am ehesten mit Martyrien" vergleichbar (Markus II 22). Wie bereits aus diesen zusammenfassenden Feststellungen erhellt, haben die Gattungen Märtyrerakte/Martyrium bei den Versuchen, die Gattung des ältesten (bzw. vormarkinischen) Passionsberichtes präziser zu bestimmen, am meisten Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vor allem Detlev DORMEYER hat die älteste Gestalt des evangelischen Passionsberichts als "Märtyrerakte" (von ihm als »T« bezeichnet) bestimmt. Er resümiert: "T hat aus der Verbindung der hellenistischen Märtyrerakte mit dem spätjüdischen Martyrium die neue Gattung »christliche Märtyrerakte« geschaffen, in der Prozeß und Hinrichtung zu einem Gesamtgeschehen vereinigt sind" (Passion 288). Diese Gattungsbestimmung ist m.E. problematisch. Bevor die Probleme im einzelnen diskutiert werden können, ist zunächst eine — nur scheinbar banale — Vorbemerkung vonnöten. Es ist aufgrund des gemeinsamen Themas sämtlicher hier zur Diskussion stehender Literatur — nämlich des Todes eines verehrten Menschen — a priori klar, daß zwischen ihr und dem ältesten Passions312 Soll es beim Versuch der Bestimmung der Gatbericht Ähnlichkeiten bestehen.

311 PESCH rechnet — wie erinnerlich — den Kernbestand von Mk 8,27 - 16,8 zur vormk Passionsgeschichte (s. Markus II lf.); GNILKA zählt lediglich den Kernbestand von Mk 14,32-16,8 dazu (Markus II 349). 312 Aus diesem Grund führen die Ausführungen von BERGER, Gattungen 1248-1259, m.E. nicht weiter, (l) Sein Resümee: "Eine Reihe von Zügen der Passionstradition der Evangelien ist der Literaturgattung der exitus sehr verwandt und am besten von daher zu erklären. ... Die Passionsberichte Ckönnen) der Gattung der Martyrien und der exitus—Literatur an die Seite gestellt werden. Auch auf andere verarbeitete Gattungen wurde hingewiesen" (l259f.) ist derart allgemein, daß es praktisch nichts mehr aussagt. (2) Ich bezweifle, daß der Verweis auf eine Verwandtschaft des Passionsberichtes mit der Gattung der exitus virorum illustrium weiterhilft. Denn aufgrund welcher Schriften soll man die gattungstypischen Merkmale der exitus eruieren? Praktisch alle Exemplare dieser Gattung sind verloren oder nur fragmentarisch überliefert ! (s. ebd. 1257 und

Der älteste Passionsbericht

191

tung des PB nicht allein um einen Streit um Worte gehen, ist es daher von entscheidender Bedeutung, die Grenzen der möglichen Variabilität des jeweiligen Gattungsbegriffs zu definieren: Wo endet der Geltungsbereich des jeweiligen Begriffs? Wo beginnt eine neue Gattung? Und also: was sind die definitorisch entscheidenden Merkmale der Gattung?

(1) Zur Gattung der jüdischen Martyrienberichte: Die jüdischen Martyrien — man vergleiche etwa 2 Makk 6,18ff.; 7; 4 Makk 6; 8; MartJes 5 - schildern ausschließlich Leiden und Tod der betreffenden Märtyrer(innen). Das Spezifikum der Gattung besteht in der detaillierten Schilderung des Leidens samt der Betonung der gegen die Schmerzen unempfindlichen Frömmigkeit des Märtyrers. Man vergleiche exemplarisch 4 Makk 6,6: "Vielmehr ließ sich der Greis, die Augen fest zum Himmel emporgerichtet, mit Peitschen das Fleisch in Stücke fetzen. Blut überströmte ihn, und seine Seite war mit Wunden bedeckt." 6,24-27: Da "schleppten sie ihn zum Feuer. Sie warfen ihn darüber, versengten ihn mit raffiniert ersonnenen Werkzeugen und gössen ihm ein übelriechendes Gebräu in die Nasenlöcher. Als er schon bis auf die Knochen verbrannt war ..., erhob er seine Augen zu Gott und sprach: »Du weißt, o Gott, obgleich es mir freistand, mich zu retten, sterbe ich in den Qualen des Feuers um des Gesetzes willen."313 Genau diese Züge fehlen im PB; die Verwandtschaft mit der Gattung der jüdischen Martyrien ist somit lediglich oberflächlich. (2) Zur Gattung der hellenistischen Märtyrerakte: Die Märtyrerakten - ältestes Beispiel sind die Acta Alexandrinorum - berichten ausschließlich vom Prozeß gegen den/die betreffenden Märtyrer. Das Spezifikum der Gattung besteht in der ausführlichen Schilderung des Dialogs zwischen dem/den Angeklagten und dem Richter, meist gepaart mit einem stark anti-römischen Affekt. Man vergleiche exemplarisch die Acta Appiani (P. Oxy. 33 II 46-56): "Der Kaiser sagte: Jetzt weißt Du, mit wem Du sprichst, nicht wahr7 Appi-

RAC 6, S. 1258-1268 [A. RONCONI], Eine laudatio funebris ist der Passionsbericht im übrigen mit Sicherheit nicht; die Verwandtschaft mit Tacitus, Annalen XV 60-64 [?; ebd. 1257 steht "XV. 60,4"] und Plinius, Ep I 12 ist allenfalls oberflächlich). Wird hier nicht faktisch Unsicheres durch Unsicheres »aufgehellt« ? 313 Übersetzung nach KLAUCK, 714.716. Die Tatsache, daß 4 Makk vielleicht erst nach unserer Quelle PB entstanden ist (cf. ebd. 665-669 und CHARLESWORTH II 533-537 (H. ANDERSON)), disqualifiziert den Vergleich beider Schriften nicht. Sie zeigt vielmehr um so deutlicher, wie PB — wäre er ein Martyrienbericht — hätte aussehen müssen. Zu den Spezifika jüdischer Martyrienschilderungen s. die Zusammenfassung bei SURKAU, Martyrien 74-82.

192

Das Problem einer Näherbestimmung der Gattung

an: 'Ja, ich weiß: mit einem Tyrannen.' Der Kaiser: TVein, mit einem Kaiser!' Appian: 'Sage das nicht! Dein Vater, der göttliche Antoninus, zeichnete sich aus als Kaiser. Denn, höre, erstens war er ein Philosoph, zweitens war er nicht habsüchtig, drittens war er gut. Aber Du hast genau die entgegengesetzten Eigenschaften: Du bist tyrannisch, unehrlich, roh!"'. 314 Genau diese Züge fehlen im PB. Auch die Verwandtschaft mit der Gattung der hellenistischen Märtyrerakte ist somit lediglich oberflächlich. Weil die für die zur Diskussion stehenden Gattungen jeweils typischen Züge im ältesten Passionsbericht fehlen, ist es m.E. nur um den Preis der Entwertung der Begriffe möglich, ihn — mit Dormeyer — als erste christliche Märtyrerakte zu bezeichnen, die "aus der Verbindung der hellenistischen Märtyrerakte mit dem spätjüdischen Martyrium" hervorgegangen sei (Passion 288). Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang das völlig konträre Urteil Herbert MUSURILLOS zum Verhältnis der (späteren) christlichen Märtyrerakten zu den Acta Alexandrinorum: "(Dt must appear that to find actual parallels between the pagan and the Christian martyr acts is difficult if not impossible" (!) (Pagan Martyrs 262).315 Um wieviel mehr gilt dieses Urteil hinsichtlich des ältesten Passionsberichtes, der sich seinerseits noch einmal erheblich von den späteren christlichen Akten unterscheidet ! 316 Einen anderen Vorschlag zur Klärung des Gattungsproblems hat George W.E. NICKELSBURG (Genre) - ihm folgt Joel B. GREEN (Death 169ff.) gemacht. Nickelsburg sucht die Parallelen der (vor-)mk Passionsgeschichte in den "Stories of Persecution and Vindication in Jewish Literature" (155), d.h. vor allem in der Josephsgeschichte Gen 37ff., der Ahikar-Geschichte, Esther,

314 Übersetzung vom Vf. nach MUSURILLO, Pagan Martyrs. Zu den Spezifika der Acta Alexandrinorum s. ebd., 236-277. Was das (relativ späte) Datum der Entstehung der Acta Appiani anbetrifft (s. ebd. 206f.: der Richter ist wahrscheinlich der Kaiser Commodus), so gilt das eben (A 313) Ausgeführte. Die ältesten Akten innerhalb der Sammlung der Acta Alexandrinorum stammen etwa aus der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts (cf. ebd., 83ff. jeweils pass.). 315 Zu Vertretern der zu Beginn des Jahrhunderts aufgrund der "intoxication of the first discoveries" (MUSURILLO, Pagan Martyrs 262) beliebten entgegengesetzten Position s. ebd. 261.262 A 2 . 316 S. die Texte bei MUSURILLO, Christian Martyrs, pass. Man vergleiche e x e m plarisch etwa die Acta Polykarpi mit dem PB. Cf. auch Musurillos 5-Punkte Liste der — äußerlichen — Ähnlichkeiten zwischen den christlichen Märtyrerakten und den Acta Alexandrinorum (Pagan Martyrs 262; auch bei BERGER, Gattungen 1251): m.E. enthält der älteste Passionsbericht nicht einen dieser Topoi.

Der älteste Passionsbericht

193

Daniel 3 und 6, Susanna. In diesen Geschichten findet er "a limited number of narrative elements or components" (156), die zumeist in einer vorgegebenen Reihenfolge erscheinen. Im einzelnen sind es deren einundzwanzig (157ff.),317 wobei gelte: "most of the formal components of the genre Care present} ... in the Markan passion narrative" (163). Was eine vormk Passionsgeschichte anbetrifft, so postuliert er zum Abschluß seiner Studie, daß sie "recounted the death and exaltation of Jesus, employing the genre of the story of the righteous one" (183). In der Tat gibt es eine größere Zahl von Parallelen zwischen den von Nikkeisburg zum Vergleich herangezogenen Geschichten und dem ältesten Passionsbericht (cf. vor allem die Szenen 1, 4-6). Ebenso groß sind allerdings die Differenzen; vor allem die Szenen 7-9 (auch 3) lassen sich in seinem Schema nicht unterbringen, da dort die Protagonisten weder emstlich mißhandelt werden noch gar sterben; 318 umgekehrt fehlte im PB (m.E.) die "vindication".319 Insgesamt erscheint es mir ob der überaus großen Zahl der Einzelbestandteile der postulierten Gattung und der Tatsache, daß die Texte dem Idealtyp in allen Fällen erst angepaßt werden müssen, 320 fraglich, ob man hier tatsächlich von einem (relativ) festen Schema reden kann. Daher lautet das Fazit: Der älteste Passionsbericht läßt sich der (postulierten) Gattung der »persecutionvindication-stories« nicht einordnen; zweifellos verwendet er hingegen Motive, die sich auch in den Büchern Esther, Susanna etc. finden. Fazit: Über die formale Klassifikation des ältesten uns noch erreichbaren Passionsberichts als eines (volkstümlichen) Geschichtsberichts bzw. einer

317 Im einzelnen: "introduction, provocation, conspiracy, decision, trust, obedience, accusation, trial, condemnation, protest, prayer, assistance, ordeal, reactions, rescue, vindication, exaltation, investiture, acclamation, reactions, punishment" (Genre 157ff.). 318 Entgegen seiner Auflistung der relevanten Vergleichsgeschichten (Genre 155f.), bei der er schon Sap 2; 4-5 nur unter der Einschränkung "with some qualifications" nennt, schließt NICKELSBURG später — zur Verwirrung des Lesers und aus nicht ganz einsichtigen Gründen — zwar auch 2 Makk 7 und 3 Makk in die Analyse ein, so daß (in 2 Makk 7) die Protagonisten nun doch sterben. Mir scheinen hingegen die Parallelen etwa zwischen 2 Makk 7 und Susanna viel zu gering zu sein, als daß man hier noch von einem einheitlichen Genre sprechen könnte. Zur Kritik s. auch GREEN, Death 170, der die Differenzen allerdings wohlwollend als Anzeichen für die "flexibility of the literary genre" wertet. Zu diesem Grundsatzproblem s. meine einleitenden Bemerkungen o. 319 Zu den Übereinstimmungen und Differenzen zwischen NICKELSBURGS Schema und dem ältesten Passionsbericht s. auch — mit anderer Rekonstruktion — GREEN, Death 171 f. 320 Cf. NICKELSBURGS Liste, Genre 158f.

194

Sitz im Leben

διήγησις (διήγημα, ιστορία) kommt man schwerlich hinaus. Eine klare Zuordnung zu einer der zeitgenössischen Literatur- bzw. Kleinliteraturgattungen ist nicht möglich; zweifellos enthält PB aber Motive, die auch aus sonstiger zeitgenössischer Literatur,

insbesondere

alttestamentlich-jüdischer

»Todes-Literatur«

bekannt sind. 321

7.7.5. Zum Sitz im Leben des PB An Vorschlägen zur Bestimmung des Sitzes im Leben 3ZZ des ältesten Passionsberichtes mangelt es nicht. Keiner von diesen ist bislang hingegen in der Lage gewesen, eine Mehrheit der Exegetinnen und Exegeten zu überzeugen. In der Tat läßt sich weder (1) die Predigt 323 noch allgemein »der Kult« 3 2 4 bzw. speziell (2) das Abendmahl 325 noch (3) eine frühchristliche Paschafeier 3 2 6 noch (4) die frühchristliche Katechese 3 2 7 mit einiger Wahrscheinlichkeit als Sitz im Leben des ältesten Passionsberichts nachweisen. Zu den Hypothesen im einzelnen: ad (1). Die These von der Predigt als dem Sitz im Leben des ältesten Passionsberichtes

ist

schwer

zu kontrollieren,

weil uns keine

authentischen

321 Cf. das ähnliche Urteil von SCHENKE, Christus 138. 322 Ich verwende im folgenden den Begriff 'Sitz im Leben' in seiner strengen, formgeschichtlichen Bedeutung, d.h. ich verstehe darunter die typische Situation (BULTMANN, GST 4) im Leben des frühen Christentums, die die Form der jeweiligen Tradition geprägt hat. 323 So vor allem DIBELIUS, FdE 21.179.185f. u.ö. 324 So vor allem BERTRAM, Leidensgeschichte 2ff. Cf. in Abwandlung dieser These auch SCHILLE, Leiden, der postuliert, die Passionsgeschichte bestehe aus drei ursprünglich selbständigen Teilen, die relativ früh zu einer Einheit zusammengefügt worden seien. Dabei habe Mk 14,18-72 seinen Sitz im Leben "in einer Agape am Jahrestag" der letzten Nacht Jesu gehabt (199), Mk 15,2-41 sei der Text für eine Karfreitagsanamnese gewesen, Mk 15,42-47 sowie 16,1-8 schließlich hätten bei der Osterfeier Verwendung gefunden. Es braucht nicht betont zu werden, daß dieser Vorschlag von der hier vorgetragenen Bestimmung der Gestalt des PB her inakzeptabel ist. Darüber hinaus vermag ich im ersten Teil des PB keinerlei 'eucharistische Züge' (l76ff.) zu erkennen. 325 So zuletzt mit detaillierter Argumentation GREEN, Death 192ff. (zu den Vorläufern cf. ebd. 192 A 48). 326 So etwa TROCMÉ, Passion 77-82; BLANK, Johannespassion 152ff. Cf. auch Schilies Hypothese zu Mk 14,18-72 (s.o. A 324). 327 So etwa DORMEYER, Passion 256ff.; ERNST, Passionserzählung 172.

195

Der älteste Passionsbericht

frühchristlichen Predigten überliefert sind. 328 Formal spricht aber entscheidend gegen sie, daß PB keinerlei homiletische Stilelemente (Anrede des Publikums, Redundanz, usw.) aufweist. 3 2 9 ad (2). Gegen das Abendmahl als Sitz im Leben des ältesten Passionsberichtes, d.h. die Hypothese, der Passionsbericht sei als eine Art christlicher Festhaggada beim Begehen des Abendmahles verlesen worden, spricht

zu-

nächst die Tatsache, daß die vergleichbaren jüdischen Festhaggadot einmal im Jahr verlesen wurden, das Abendmahl aber zumindest wöchentlich

gefeiert

wurde. Vor allem aber fehlt im PB jegliche Spur einer solchen liturgischen Verwendung, etwa eine Anamneseformel, die Betonung des

soteriologischen

Charakters des Todes Jesu o.ä. Und nicht nur das: die Einsetzung Abendmahls wurde

im ältesten

Passionsbericht

(m.E.) gar nicht

des

berichtet

(auch nach Joel B. Green nicht!). 3 3 0 Schließlich würde man nicht verstehen, wie es zugehen kann, daß eine so alte Gewohnheit — sie geht nach Green sogar auf Jesus selbst zurück, der "purposed that the Supper be repeàted and that it be an occasion for »remembering« his suffering and death" (Death 192) - in der kirchlichen Kultgeschichte später völlig verloren gehen konnte. ad (3). Gegen das Paschafest als Sitz im Leben des ältesten Passionsberichtes, d.h. die Hypothese, dieser sei als neue, christliche Paschahaggada in

328 Die Missionsreden der Apostelgeschichte sind m.E. lukanische Kompositionen (s. dazu die einschlägige Arbeit von WILCKENS, Missionsreden, insbesondere 72-81; zur Kritik an DIBELIUS' Predigttheorie cf. auch ders., ThLZ 1961, 272ff.) Nota bene: die Acta-Predigten kommen sämtlichst ohne umfänglicheren Rekurs auf die Passionsereignisse aus; der Verweis darauf, daß die (in allen hier relevanten Predigten angesprochenen) Juden die Schuld am Tod Jesu tragen, reicht Lukas völlig aus (s. vor allem Acta 2,22-36; 3,12-16; 7,2-53; 13,16-41). 329 In Ermangelung besserer frühchristlicher Parallelen vergleiche man im Unterschied dazu etwa die formale Gestalt des Hebräerbriefs, dessen großer Hauptteil (1-12 bzw. 1,1-13,17) bekanntlich als "eine Predigt" bezeichnet worden ist (H. BRAUN, An die Hebräer, HNT 14, Tübingen 1984, S. l), insbesondere Passagen wie 2,1-4; 3,1-6; 4,1-13; 6,9-12 usw. S. zu den grundlegenden Problemen jetzt auch F. SIEGERT, Drei hellenistisch-jüdische Predigten II (WUNT 61), Tübingen 1992, S. 1-20. 330 GREEN weicht diesen Problemen in seiner Analyse (Death 192ff.) aus. Weder erklärt er eindeutig, was es praktisch heißt, "that the Sitz im Leben of the passion narrative was the celebration of the Lord's Supper" (192) (nämlich, daß sie bei jedem Abendmahl verlesen wurde), noch nimmt er den formalen Einfluß, den das Abendmahl auf die Gestalt des Passionsberichtes gehabt haben müßte (nichts Anderes besagt die Kategorie »Sitz im Leben« ja!) wirklich ernst. Man vergleiche dagegen etwa den formalen EinfluB des Sitzes im Leben »Paschafest« auf die jüdische Pascha-Haggada (s. u. A 332).

196

Sitz im Leben

der (nach der synoptischen Chronologie ja mit dem Tag des Todes Jesu zusammenfallenden) Paschanacht verlesen worden, spricht zunächst die Tatsache, daß ein solcher Brauch nicht belegt und daß darüber hinaus unsicher ist, ob die frühen Christen überhaupt das Paschafest gefeiert haben. 331 Vor allem aber weist PB keinerlei Spuren eines solchen liturgischen Gebrauchs auf. Man vergleiche im Gegensatz dazu die Gestalt der jüdischen Pascha-Haggada! 332 ad (4). Gegen die Katechese als Sitz im Leben des ältesten Passionsberichtes schließlich spricht zunächst die Tatsache, daß eine Belehrung der Katechumenen über die Passionsereignisse nirgendwo als Gegenstand der christlichen Eingangsunterweisung begegnet. Vor allem aber ist PB formal und inhaltlich alles andere als ein "»Vademecum«, eine geraffte Zusammenstellung der Kernwahrheiten, die den bekehrten Christen mit auf den Weg gegeben wurden": 333 Hier wird kein Katechismus zusammengestellt, sondern chronologisch von den Umständen des Todes Jesu berichtet. Was folgt aus diesem negativen Ergebnis? M.E. ist es als ein Indiz dafür zu werten, daß der älteste Passionsbericht nicht über Jahre hinweg an einem Ort institutionalisierter mündlicher Rede gewachsen ist. Vielmehr handelt es sich hierbei offenbar um das schriftstellerische Produkt eines einzelnen Autors, der seinen Bericht unabhängig von den festen Formen der mündlichen Überlieferung zum Zwecke der Lehre formulierte; welche Geschichten über die letzten Tage Jesu in den Gemeinden auch immer in Umlauf gewesen sein mögen, seine Darstellung der Ereignisse sollte von nun an die maßgebende sein. Die zuletzt diskutierte Hypothese kommt der Lösung des Problems daher am nächsten, weil sie den Sitz im Leben des ältesten Passionsberichtes nicht im kultischen oder homiletischen, sondern im weiteren Sinne im Bereich der »Lehre« ansiedelt. Für eine solche Zuordnung zur frühchristlichen διδαχή spricht neben der Form und der Schriftlichkeit der Quelle auch die vergleichsweise große Zahl der PB inhärenten Schriftbezüge. War der Verfasser des ältesten Passionsberichtes also ein διδάσκαλος (1 Kor 12,28) bzw. ein christlicher γραμματεύς (Mt 13,52; 23,34)? Fazit: Die gängigen Vorschläge zur Bestimmung des Sitzes im Leben des ältesten Passionsberichtes (Predigt, Kult, Abendmahl; Paschafeier; Katechese) sind mit erheblichen Schwierigkeiten belastet; unter ihnen scheint mir der

331 S. die Diskussion bei GREEN, Death 188ff. 332 Text (hebr.) bei GOLDSCHMIDT, HDD ^tÜ ΓΓΤΑΠ. 333 ERNST, Passionserzählung 172.

197

Der älteste Passionsbericht

letzte der Lösung am nächsten zu kommen. M.E. ist der älteste Passionsbericht ein unabhängig von den festen Formen der mündlichen Überlieferung formuliertes Produkt der frühchristlichen schriftlichen

Didache.

7.8. Die zentralen inhaltlichen Charakteristika des ältesten Passionsberichtes 7.8.1. Der Tod Jesu als Justizirrtum — Die Apologie Fragt man nach den inhaltlichen Charakteristika des PB, so verdienen die juristische

Apologetik

und die damit verbundene Betonung der jüdischen Ver-

antwortung an erster Stelle genannt zu werden. Die zentrale Aussage des ältesten uns noch erreichbaren Passionsberichts lautet: Jesus war objektiv unschuldig, seine Kreuzigung wurde von Juden gegen den Willen des schwachen Präfekten durchgesetzt. Allein die Juden, nicht die Römer, sind verantwortlich für den Tod Jesu: sie beschließen seinen Tod und bringen damit den Stein ins Rollen - die Römer werden in der Exposition nicht erwähnt; sie lassen Jesus gefangennehmen - eine römische Truppe ist nicht beteiligt; sie verhören Jesus als erste; sie

bewirken

das Verfahren vor Pilatus; sie

setzen

schließlich durch den »Druck der Straße« die Kreuzigung Jesu durch -

gegen

den Willen des Präfekten, der an dem Angeklagten keinerlei Schuld findet. PB hebt bei all dem hervor: Die einzige und zugleich unrechtmäßige Ursache des Todes Jesu war dessen Zugeständnis, er sei der Χριστός bzw. -

was

dasselbe ist - der βασιλεύς των 'Ιουδαίων. Dieser Sachverhalt wurde ihm zum Verhängnis. Kurz: Der älteste Passionsbericht beschreibt, wie die Hohepriester (und Schriftgelehrten) Jesus

aufgrund seiner Messianität

unter

Inan-

spruchnahme der Macht des römischen Präfekten ans Kreuz brachten. Dies ist sein zentrales Thema. Uns erscheint diese Behauptung der Veranwortung von Juden für den Tod Jesu nach einer fast 2000-jährigen Wirkungsgeschichte der

neutestamentli-

chen Passionsdarstellungen zwar wenig bedeutend; sie ist es dennoch. Denn die Kreuzesstrafe war eine römische, nicht eine jüdische Strafe; für eine Kreuzigung in Palästina im ersten nachchristlichen Jahrhundert zeichnete defmitionem

der

dortige

Repräsentant

der

imperialen

römischen

per

Macht

verantwortlich. 3 3 4 W e r immer also davon Kenntnis erhielt, daß Jesus zur Zeit

334 Dazu s.u. II 2.6.

198

Der Tod Jesu als Justizirrtum

des Präfekten Pontius Pilatus gekreuzigt worden war, mußte - wie Tacitus CAnnalen 15,44) — schließen, er sei "per procuratorem Pontium Pilatum" hingerichtet worden, d.h. 'durch' Pontius Pilatus, auf Befehl und unter der alleinigen Verantwortung des römischen Präfekten. Genau diesem Schluß widerspricht nun aber der älteste Passionsbericht, und zwar — wie seine Wirkungsgeschichte zeigt — mit überwältigendem Erfolg. Er behauptet: Jesus ist nicht durch den Präfekten gekreuzigt worden, sondern lediglich unter ihm; verantwortlich für seinen Tod zeichnen faktisch hingegen Juden. Dementsprechend heißt es bereits bei Ignatius (Sm l,lf.), Jesus sei επί Ποντίου Πιλάτου και Ήρώδου τετράρχου καθηλωμένου (cf. auch Trail 9,1 und ähnlich 1 Tim 6,13); ebenso dann im Romanum: (Χριοτόν Ίησουν) τον επί Ποντίου Πιλάτου οταυρωθέντα και ταφέντα, 3 3 5 "gekreuzigt und begraben unter Pontius Pilatus".336 Mit dieser Schilderung der Ereignisse entschuldigt PB Jesus — nicht die Römer, wie häufig zu lesen ist.337 Diese Apologie dient zunächst der Selbstvergewisserung der jungen christlichen Gemeinde: Sie bestärkt sie darin, daß ihr Herr als Unschuldiger gestorben ist, daß er kein gewöhnlicher Verbrecher war. Darüber hinaus kommt der Apologie eine weitere, alsbald ebenfalls sehr wichtige Bedeutung zu: Stellt sich für die frühen Christen erst einmal die Frage, wie sie politische Unbedenklichkeit für sich in Anspruch nehmen können, wenn ihr Herr den Tod eines politischen Gegners des römischen Imperiums gestorben ist, dann wird der älteste Passionsbericht zum Fundament

335 Der Text des Romanum nach LIETZMANN, Symbole 8. 336 Daß das επί hier mit "unter" und nicht — wie ja philologisch auch möglich — mit "durch" übersetzt werden muB, ist (außer durch die späteren lateinischen Übersetzungen; cf. LIETZMANN, Symbole 8) durch das nachfolgende ταφέντα und die parallelen Formulierungen bei Ignatius sichergestellt. Historisch korrekt wäre: τον ύπό Ποντίου Πιλάτου σταυρω&έντα. 337 Cf. nur KLOSTERMANN, Mk 159; BULTMANN, GST 305 und sehr viele andere. Diese Fehlinterpretation basiert auf der unbewußten Reprojektion der späteren Machtverhältnisse in die Zeit der Entstehung der Evangelien. Ist »das Christentum« mächtiger als »Rom«, ergibt es einen Sinn, die Römer zu entlasten. Unter den faktischen Machtverhältnissen des ersten Jahrhunderts aber muß es den in jeder Hinsicht ohn-mächtigen Christen darum gehen, Jesus zu entlasten. HAENCHEN, Historie 65, der die Tendenz der Überlieferung zur zunehmenden Entlastung Jesu diagnostiziert, hebt daher mit Recht hervor: "Dabei kommt es den Christen nicht auf eine Unschuld des Pilatus an, sondern auf den Nachweis, daß Jesus nicht von Rom als politischer Verbrecher ... hingerichtet worden ist und also auch die christliche Gemeinde keine antirömische politische Bewegung ist."

Der älteste Passionsbericht

199

für die politische Apologetik.33* Anhand dieses Dokumentes läßt sich erweisen, daß der »Stifter« des Christentums keine Gefahr für das Imperium darstellte. Die Kehrseite der Apologie fur Jesus ist die Betonung der alleinigen Verantwortung der Hohepriester (und Schriftgelehrten) und des Jerusalemer Volkes für den Tod Jesu. 339 PB begründet und verstärkt mit seiner Darstellung den offenbar sehr alten und bekanntermaßen verhängnisvollen Vorwurf, 340 Juden zeichneten für Jesu Tod verantwortlich (cf. 1 Thess 2,14f. ... ϋπό των 'Ιουδαίων, των και τον κύριον άποκτεινάντων Ίησοΰν; Acta 2,36 ... τούτον τον Ίησοΰν δ ν ύ μ ε ΐ ς ( = οϊ άνδρες Ίσραηλΐται 2,22) έαταυρώσατε; Acta 7,52 ... νυν ύμεΐς C= Juden) προδόται και φ ο ν ε ΐ ς ( Ί η σ ο ΰ ) έγένεοθε, usw.). Damit treibt er einen weiteren Keil zwischen »Christen« und Juden: Wenn Juden den Χριστός in den Tod getrieben haben, dann kann es für die noch um ihre Identität ringende junge christliche Gemeinde nur darum gehen, sich von der Synagoge zu trennen. Der älteste Passionsbericht forciert mit seiner Schilderung den Ablösungsprozeß der Kirche von der Synagoge. Muß man aus den genannten Gründen urteilen, daß die Apologie und die damit verbundene Belastung der Hohepriester und des Jerusalemer Volkes mit der Alleinverantwortung für den Tod Jesu das primäre Kennzeichen des ältesten uns noch erreichbaren Passionsberichtes sind, so sei abschließend betont, daß dieses Urteil völlig unabhängig davon gilt, ob seine Schilderung historisch im wesentlichen zutreffend ist oder nicht. PB ist eine apologetische Schrift. Die autoritative Absicherung der nicht-politischen, rein religiösen Interpretation des Kreuzestodes Jesu ist die faktische Funktion, die der älteste Passionsbericht — wie alle seine Nachfolger - in der Geschichte des Christentums erfüllt.

7.8.2. Jesus als 'Leidender Gerechter - Die Bindung an das Alte Testament Es ist schon immer aufgefallen, daß die Schriftbezüge in den evangelischen Passionsgeschichten so massiv hervortreten wie nirgends sonst in der älteren

338 Zum schwierigen Problem, ob die politische Apologetik sekundär an den Text herangetragen wurde oder von ihm von Anfang an intendiert war, s.u. 7.9.1. 339 Ob es sich hierbei um Polemik handelt, mit der die Apologie ja z.B. in den hellenistischen Märtyrerakten in der Regel einhergeht (s.o. 7.7.4), kann erst nach Klärung der historischen Fragen entschieden werden. S. dazu u. II 2.10. 340 Cf. dazu insbesondere die Arbeiten jüdischer Autoren, etwa HIRSCH, Crucifixion, pass.; ISAAC, Jesus, pass., insbesondere 275-305.449-463.

200

Jesus als 'Leidender Gerechter'

Evangelienüberlieferung. Dieses ihr Charakteristikum ist bereits im ältesten Passionsbericht angelegt. Der Übersichtlichkeit halber seien die deutlichsten Parallelen zu alttestamentlichen Versen bzw. Motiven hier kurz aufgelistet: (1) Ps 30,12; 87,9 LXX (etc.) (der Leidende wird von allen verlassen) (2) Ps 37,14f.; 38,10 LXX (etc.) (er schweigt zu den Anschuldigungen) (3) Ps 21,19 LXX (man zerreißt seine Kleider und würfelt um sie) (4) Ps 68,22 LXX (man gibt ihm Essig zu trinken) (5) Jes 50,6 (man schlägt den Gottesknecht auf die Wange und verhöhnt ihn) (6) Sach 9,9 (der König kommt auf einem Esel nach Jerusalem). Hinzu kommt (7) das Zitat von Ps 117,26 LXX beim »Einzug« sowie möglicherweise (8) das Zitat von Ps 22,2 durch Jesus am Kreuz. Erfüllungszitate fehlen im PB. Überhaupt fällt auf, daß die relative Häufigkeit der Schriftanspielungen in der Überlieferungsgeschichte nicht ab-, sondern zunimmt. Zwar orientiert bereits der älteste Passionsbericht seine Darstellung wesentlich am Alten Testament, aber dies gilt umsomehr für die späteren Erweiterungen. 341 Die zentrale alttestamentliche Interpretationskategorie des PB ist — wie inzwischen weithin anerkannt — die des 'Leidenden Gerechten' (alle PsalmVerweise). Daneben finden sich eine bzw. zwei 3 4 2 Anspielungen auf die deuterojesajanische Tradition vom »Knecht Gottes«, auf deren zentrale Passagen aber nicht Bezug genommen wird. 343 Hinzu kommt schließlich ein Verweis auf die Erfüllung der messianisch interpretierten Weissagung Sach 9,9. Die religionsgeschichtlich erstaunliche 344 Kombination der beiden Deutekategorien »Leidender Gerechter« und »(königlicher) Messias« ist charakteristisch für PB. Was will der älteste Passionsbericht seinen Leser(inne)n mit der Kategorie des »Leidenden Gerechten« vermitteln?

341 Die Auflistung aller evidenten bzw. vermuteten Anspielungen in den jeweils sekundären Passagen würde an dieser Stelle zu weit führen. Cf. dazu jeweils die Analysen in den Kapiteln 7.6.1 - 7.6.9 Eine Liste aller möglichen Zitate und Anspielungen in den kanonischen Passionsberichten findet sich bei MOO, Old Testament 352-356. 342 Der Bezug auf Jes 53,7 (der Knecht Gottes schweigt zu den Mißhandlungen) ist zwar des öfteren objektiv gegeben; es ist aber nicht entscheidbar, ob PB bei diesem Motiv an den π α ι ς θεοϋ oder allgemein an den Leidenden Gerechten denkt (s. die mannigfaltigen Ps-Belege). 343 Dieses Urteil gilt auch für den markinischen Passionsbericht. MAURER, Knecht Gottes 6 - 2 8 , der zu zeigen versucht, daß dieser voll von Anspielungen auf die Gottesknechtslieder sei, strapaziert die Analogien. 344 Zur religionsgeschichtlichen Frage, was man sich für die fragliche Zeit unter einem »königlichen Messias« vorzustellen hat, s.u. II 2.5.1.

Der älteste Passionsbericht

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(1) Von entscheidender Bedeutung ist eine Aussage, die aufgrund ihrer scheinbaren Banalität in der Regel übersehen wird: Wenn er Jesus als leidenden Gerechten darstellt, dann betont der älteste Passionsbericht zunächst schlicht: Jesus litt als Gerechter, d.h. er war unschuldig, die Verantwortung für seinen Tod trägt nicht er, sondern es tragen sie die ungerechten Feinde, eben die Juden. Die Wahl der Interpretationskategorie 'Leidender Gerechter' entspricht also aufs genaueste der (juristisch) apologetischen Ausrichtung des PB: Sie verankert die Unschuld Jesu tief in der Darstellung und schlägt den möglichen Verdacht, er könne vielleicht doch in irgendeiner Weise mitschuldig an seinem Schicksal gewesen sein, aus dem Feld. (2) Theologisch dient die fragliche Kategorie darüber hinaus zweifellos der Verarbeitung des Skandalons der Kreuzigung Jesu: 345 Wenn PB das Schicksal Jesu im Licht der Tradition vom Leiden des Gerechten deutet, dann verweist er damit implizit auf die Erhöhung, die dieser Erniedrigung gewiß folgen wird,346 d.h. auf seine Auferweckung. In der Tat hat er bei seiner Darstellung offenbar "stillschweigend die Auferweckung schon mitbedacht".347 Diese Deutung der Ereignisse kann das Skandalon der Kreuzigung - "Verflucht ist, wer am Holze hängt' (Dtn 21,23; Gal 3,13) - zwar nicht wirklich »auflösen«, trägt aber doch ihren Teil zur theologischen Bewältigung des Todesschicksals Jesu bei. Diese Interpretation der Bedeutung und des Stellenwertes der alttestamentlichen Bezüge im PB bedarf einer doppelten Abgrenzung: (1) Joel B. GREEN hat zuletzt mit allem Nachdruck die These vertreten, das zentrale Thema des ältesten Passionsberichtes sei der Nachweis der Vorherbestimmung von Jesu Schicksal in Gottes Heilsplan: "(I}n the passion account there is one, overarching, organizing theme - namely, the centrality of Jesus' death in God's redemptive plan. ... The »stumbling block« of the cross made it imperative that those very first christians come to terms with Jesus' passion in light of God's heilsgeschichtliche (sic!) purpose. ... According to the passion account, why did Jesus die? Because God willed it! It was necessary in God's salvific plan" (Death 315).348 Dieser Position muß von

345 Cf. nur RUPPERT, Jesus 58f. 346 Dieser Motivkomplex, der bereits in den Leidenspsalmen des Einzelnen relativ fest ist, tritt insbesondere in SapSal 2,12-20; 5,1-7 aufs deutlichste hervor; zu vergleichen sind auch die (z.T. jüngeren) Belege 4 Makk 18,14-19; äthHen 104,1-6; syrBar 52,1-7 und dazu RUPPERT, Der leidende Gerechte, pass. 347 FLESSEMAN-van LEER, Interpretation 96. 348 Cf. auch DIBELIUS, FdE 185f. und das Resümee von HAHN, Hoheitstitel 348: "Die älteste Leidensgeschichte sucht Jesu Weg zum Kreuz vom Gedanken der Schriftnotwendigkeit her zu begreifen, um dadurch den Anstoß zu überwinden."

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Jesus als 'Leidender Gerechter'

unserer Bestimmung der Gestalt des ältesten Passionsberichtes her widersprochen werden: Nirgendwo im PB ist die Rede von einem Heilsplan Gottes; die termini βουλή θεοΰ bzw. θέλημα θεοΰ fehlen; auch das für diesen Themenbereich charakteristische, beinahe technische δε! (cf. vor allem die erste Leidensankündigung Mk 8,31 parr und die Vielzahl der lk Belege (17,25; 22,37; 24,7.26.44; Acta 1,16)) ist nirgends belegt. Die von Green als Hauptargument für seine These angeführten pauschalen Verweise auf die Erfüllung der Schrift in Mk 14,21.49 (Death 315) gehören (m.E.) nicht zur ältesten Tradition.349 Erfüllungszitate — wie bereits erwähnt - fehlen. Von daher wird man schwerlich sagen können, daß "every reference to the OT - whether by slightest allusion or most explicit citation — must be regarded as serving this more general theme (= die Erfüllung des göttlichen Heilsplans)" (ebd.). Es ist vielmehr nicht erkennbar, daß der älteste erreichbare Passionsbericht Uberhaupt mit diesem Theologumenon arbeitet.350 (2) So unbestritten die theologische Bedeutung der Zeichnung der Passion Jesu in den Farben der passio iusti ist (s.o.), so sehr muß bestritten werden, daß das "eigentliche Anliegen schon des ältesten Berichtes ... nicht die Berichterstattung, sondern die Verkündigung dessen Cist), was von Gott aus in der Passion geschehen ist."351 Recht verstanden läßt sich der zitierte Satz sogar exakt umkehren: 'das eigentliche Anliegen schon des ältesten Berichtes ist also nicht die Verkündigung dessen, was von Gott aus in der Passion geschehen ist, sondern die Berichterstattung' — nämlich dann, wenn man mit dem Begriff »Berichterstattung« nicht sofort das Attribut großer historischer Zuverlässigkeit verbindet. 352 Denn es geht dem ältesten Passionsbericht in der Tat primär um den Bericht darüber, wie es den Hohepriestern (und Schriftgelehrten) gelungen ist, den 'Leidenden Gerechten', den unschuldigen Messias Israels kreuzigen zu lassen.

349 S.o. 7.6.3 und 7.6.4 sowie etwa GNILKA, Markus II 236.267 (nicht ursprünglich) und LÜHRMANN, Markus 237.246 (markmisch). 350 Cf. dazu auch die Einschränkung, die GREEN etwas später selbst an seiner These vornimmt: "Yet, it is also true that the passion story has very little to say about the significance of Jesus' death in salvation-historical terms" (Death 320). Bezeichnend ist auch die Verlegenheit, in die DIBELIUS gerät: Er verweist zum Erweis der Richtigkeit seiner These, es gehe in der ältesten Leidensgeschichte um 'heilsgeschichtliches Verstehen' (FdE 185), auf den Vers Lk 24,26 (ebd. 186). Aber dieser Vers (Emmausjünger!) hat in der ältesten Passionstradition in keinem Fall eine Basis. 351 DIBELIUS, FdE 187. 352 Dazu s.u. II 2.1-9.

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7.8.3. Der gekreuzigte Messias — Zur Christologie des PB Der zentrale christologische Titel, den der älteste Passionsbericht verwendet, ist d e r ihm e i g e n t ü m l i c h e Titel d e s βασιλεύς των 'Ιουδαίων ( S z e n e n (2), 6, 7,

8). Darüber hinaus findet sich — sehr wahrscheinlich (s.o. 7.6.5) — ein Beleg für den Gebrauch des Titels χριστός (Szene 5). Beide Bezeichnungen sind wie gezeigt - sachlich identisch. "»Jesus ist König« ist nur eine andere Wendung für »er ist der Messias«".353 Der Titel ό βασιλεύς των 'Ιουδαίων repräsentiert im PB die spezifisch heidnische Wiedergabe des jüdischen »ö Χριστός«. Der Messias-Titel ist also - in seiner traditionellen jüdischen und der dem PB eigenen heidnischen Formulierung - der christologische Titel des ältesten Passionsberichtes. 354 Er kombiniert ihn mit der Zeichnung der Ereignisse im Licht der alttestamentlichen Tradition vom »Leidenden Gerechten«. Der Bestimmung der (juristischen) Apologetik als des zentralen Charakteristikums unserer Quelle entspricht nun, daß das Bekenntnis Ίησοϋς (έστιν ô) Χριστός von ihr lediglich vorausgesetzt, aber weder mit Nachdruck als wahr behauptet noch gar theologisch erläutert wird. Die Messianität Jesu spielt im PB vielmehr ausschließlich als causa mortis eine Rolle. Der älteste Passionsbericht verkündet nicht: Jesus ist der Christus; eine religiöse Apologie des B e k e n n t n i s s e s Ίησους (έστιν ό) Χριστός — e t w a g e g e n ü b e r j ü d i s c h e n

Gruppen

- fehlt. Schon gar nicht expliziert PB - wenn er auch mit seiner Darstellung die frühen Christen faktisch auf das TCreuz' und das Leiden verpflichtet und insofern gegen eine theologia gloriae steht 355 —, was es sachlich bedeutet, daß der leidende Jesus der Messias ist; eine Polemik etwa gegen den frühchristlichen Pneumaenthusiasmus (o.ä.) sucht man vergebens.

353 CONZELMANN, Theologie 92. 354 Das kann angesichts der alten Bekenntnisformeln (s. vor allem Rom 5,8; 1 Kor 15,3-5) nicht verwundern: Bereits in allerfriihester Zeit ist die Sterbensaussage fest mit dem Χριστός—Titel verbunden (s. dazu KRAMER, Christos 22f. 36f.). HAHNS Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte des Christustitels, wonach dieser ursprünglich ausschließlich auf Jesu "machtvolles Handeln bei der Parusie" bezogen (180) und aufgrund der "Tatsache der Kreuzigung Jesu als "König der Juden'" lediglich sekundär mit dem Tod Jesu verbunden worden sei (217), kann nicht überzeugen; cf. zur Kritik VIELHAUER, Weg 175-185; CONZELMANN, Theologie 90f. 355 Dieses Sinnpotential des ältesten Passionsberichtes — er ist allein aufgrund seines Gegenstandes das narrative Dokument einer theologia crucis — dürfte wesentlich dafür verantwortlich zeichnen, daB er später zum semen der G a t tung »Evangelium« wird.

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Oer gekreuzigte Messias

Gleichfalls fehlt im PB eine soteriologische Deutung des Todes Jesu.356 Nirgends wird dem Kreuzesereignis eine erlösende Funktion zugesprochen, wie überhaupt dessen Bedeutsamkeit nicht expliziert wird: kerygmatische Sätze wie etwa ό υιός του ανθρώπου ... ήλθεν ... δούναι την ψυχήν αύτοΰ λύτρον αντί πολλών (Mk 10,45) f e h l e n völlig; das g e p r ä g t e υπέρ ημών d e s f r ü h c h r i s t l i -

chen Kerygmas findet sich - wenn anders der Ausschluß der Abendmahlstradition Mk 1 4 , 2 2 - 2 5 aus der ältesten Quelle kein Fehlurteil ist - nirgendwo; schließlich fehlt insbesondere von den zentralen theologischen Sätzen aus Jes 5 3 (cf. n u r 53,4 οδτος τάς αμαρτίας ήμών φέρει και περί ημών όδυνδται; 53,12 αύτός αμαρτίας πολλών άνήνεγκεν και δια τάς αμαρτίας αυτών παρεδόθη e t c . )

-

ein Kapitel, das andernorts geradezu als theologisches Passionskompendium zitiert wird (cf. insbesondere 1 Petr 2,21-24; 1 Clem 16; Justin, apol. 50; dial. 13) — jede Spur.357 In der Tat: "(T)he early narrative of Jesus' suffering and death ... told the story in such a way that the soteriological implications of the cross appear to have played very much a minor role."358 Weil der älteste erreichbare Passionsbericht den Tod Jesu nicht soteriologisch interpretiert, führt das überaus gängige Urteil in die Irre, es handele sich hierbei um eine narrative Explikation des frühchristlichen Kerygmas, wie es in 1 Kor 15,3-5 überliefert wird (Χριστός άπέθανεν ύπέρ των αμαρτιών ήμών κατα τας γ ρ α φ α ς κτλ.). 3 5 9 Daß PB im engeren Sinn ein Dokument christlicher Verkündigung ist, ist vielmehr keineswegs ersichtlich. Der Kreuzestod Jesu interessiert unsere Quelle nicht als soteriologisches, sondern offenbar allein als historisches Ereignis.360 356 Das wird (mit Bezug auf die 'älteren' bzw. kanonischen Fassungen der Leidensgeschichte) weitgehend gesehen. Cf. nur FLESSEMAN—van LEER, Interpretation 95; RUPPERT, Jesus 59; GREEN, Death 321; MYLLYKOSKI, Letzte Tage II 488 u.ö. 357 Diametral entgegengesetzt urteilt MOO, Old Testament 396: "In fact, all the evidence points to Isaiah 53 having been used extensively at an earlier, and almost ignored in the later, stages of development." Den Beweis für diese These bleibt Moo m.E. schuldig. 358 GREEN, Death 321. 359 DaB dem so sei, ist in Deutschland praktisch eine communis opinio. Cf. nur BERTRAM, Leidensgeschichte If.; DIBELIUS, Motive 222; JEREMIAS, Abendmahlsworte 83ff.; LOHSE, Geschichte l l f f . ; PESCH, Markus II 23; ERNST, Passionserzählung 171ff. Anders etwa TROCME, Passion 61-66. 360 Carl D. PEDDINGHAUS hat in seiner Analyse der Leidensgeschichte die These aufgestellt, das zentrale Thema der ältesten Passionsdarstellung sei die Paränese. Er postuliert, "die erzählende Passionstradition sei unmittelbar aus Ψ 21 entwachsen" (Leidensgeschichte 148) und habe diesen in seiner Funktion als "Trostlied der Gemeinde" (145) abgelöst. Der "Rückblick der christlichen Ge-

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7.9. Näherbestimmungen zur Genese des ältesten Passionsberichtes

7.9.1. Zur Intention und den Adressaten des PB Fragen wir abschließend zunächst nach der Intention und den Adressaten des ältesten Passionsberichtes. Sein primäres Interesse liegt nach den bisherigen Ausführungen auf der Hand: PB will in (juristisch-) apologetischer Absicht von den Ursachen und den näheren Umständen des Todes Jesu berichten. 361 Er will zeigen, daß Jesus keine Schuld an seinem Schicksal zukommt und gleichzeitig klarstellen, wer dafür verantwortlich zeichnet: die Jerusalemer Juden, nicht der von Jesu Unschuld im Grunde überzeugte Präfekt. Die Adressaten dieser Botschaft sind — PB setzt das Bekenntnis zu Jesus als dem Christos fraglos voraus - Christen. Faktisch plädiert der älteste Passionsbericht damit für ein Arrangement der Christen mit dem Imperium und für die Trennung von der Synagoge: Wie es Jesus möglich gewesen wäre, mit

meinde auf ihren irdischen Herrn" entspringe "dem Willen, die angefochtene Gemeinde zu trösten.... Nicht historiographische, apologetische oder gar missionarische Gründe haben diesen Rückblick veranlaßt" (149). Überhaupt sei "die Passionsgeschichte in allen Überlieferungsstadien (auf diese paränetische Aufgabe) ausgerichtet" (185). (Eine ähnliche These deutet jetzt Gerd THEISSEN an, wenn er resümiert, die Passionsgeschichte sei "Konfliktparänese in der Form einer Erzählung von erinnerten Ereignissen" (Lokalkolorit 210)). Dazu: in der Tat läßt sich aus einigen Szenen des PB Trost gewinnen: in der Petrusverleugnung kommt exemplarisch eine Situation zur Sprache, mit der sich die Christen sehr bald nach Jesu Tod konfrontiert sahen; das Erzählen der beiden Verhörsszenen und der Kreuzigung kann die Gemeinde darin bestärken, daß sie sich der Solidarität ihres Herrn im Leiden gewiß sein darf. Aber all diese Motive muß man an die älteste Passionsdarstellung — deren Gestalt Peddinghaus freilich anders bestimmt als die vorliegende Arbeit (s. ebd. 168) — doch von außen herantragen. Faktisch findet sich im PB kein einziger wirklich paränetischer Zug (wie ein Text aussieht, der in der Tat auf den 'irdischen Herrn zurückblickt, um die angefochtene Gemeinde zu trösten', kann man etwa an einem Text wie Hebr 4,14 - 5,10 studieren). Die Gestalt des ältesten Passionsberichtes ist unter der Annahme einer primär paränetischen Ausrichtung keinesfalls zu erklären. Zutreffend SCHENKE, Christus 138. 361 Darin stimmt er übrigens mit den späteren christlichen Märtyrerakten überein. Denn "the interrogatories of the Christian martyrs (however these were ultimately related to the official court records) (!) served an edifying and apologetic purpose" (MUSURILLO, Christian Martyrs LIVf.). "They are indeed documents of Christian witness, and for this very reason it becomes similarly difficult to separate the factual record (hypomnema) from apologia (!) and didache (!)" (ebd. LVII).

Intention und Adressaten

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Pilatus friedlich zu koexistieren, wenn nicht die Juden gewesen wären, so können die Christen mit dem Imperium koexistieren, während ein Zusammenleben mit der Synagoge offenbar nicht möglich ist. Läßt sich soviel noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erkennen, so ist die weitergehende, spannende Frage, ob PB bei seiner Darstellung auch Nichtchristen, 362

und das heißt in diesem Fall Heiden als 'heimliche' Adressaten im Blick hatte, leider vom Text her nicht zu beantworten. Fraglos ist hingegen zweierlei: (l) Die Darstellung des ältesten Passionsberichtes ist die conditio sine qua non für die spätere politische Apologetik gegenüber Rom. Ohne sie würden die Ausführungen 363

des Evangelisten Lukas ebenso in der Luft hängen wie die des Apologeten Justin. 3 6 4 Die auf PB zurückgehende Schilderung der Umstände des Todes Jesu dient hier der autoritativen Absicherung der nicht-politischen Interpretation des Todes Jesu und schafft damit zuallererst die Voraussetzung für eine rein religiöse Auseinandersetzung über das Pro und Contra der neuen Religion. 36 ^ Der älteste 362 Juden kommen als potentielle Adressaten des Berichts in keinem Fall in Frage, wie die fehlende Auseinandersetzung mit jüdischen Positionen zweifelsfrei zeigt. 363 Im lukanischen Doppelwerk spielt die politische Apologetik bereits eine erhebliche Rolle. Lukas thematisiert das Problem des Verhältnisses der Christen zum römischen Imperium vor allem in der Passionsgeschichte (Lk 22-23) sowie in seiner in vielem analogen Darstellung des Prozesses gegen Paulus (Acta 21,27 - 26,32; cf. insbesondere den programmatischen SchluBsatz 26,32). S. dazu CONZELMANN, Mitte d. Zeit 128-135.138f. ; ERNST, Lukas 647f.. R.J. CASSIDY'S (Jesus, Politics, and Society, New York 1978, pass., insbesondere 128-130) und - zustimmend - L. SCHOTTROFFS (Schuld 344ff.) Kritik an Conzelmanns Interpretation schlägt m.E. nicht durch. Cf. RADL, Lukas 125ff. 364 Von den vielen Stellen, an denen Justin die Verantwortung von Juden für den Tod Jesu betont (s. etwa Apol. 35,6; 36,3; Dial. 17,1; 32,2; 118,1 u.ö.), ist eine besonders interessant: Im 35. Kapitel seiner Apologie verweist Justin den Kaiser zur Absicherung seiner Aussagen auf 'die unter Pontius Pilatus angefertigten Akten' (9: και ταΰτα öu γέγονε δύνασθε μαθεΐν έκ των επί Ποντίου Πιλάτου γενομένων δκτων). D.h.: er sichert seine Darstellung durch den Verweis auf einen autoritativen schriftlichen Bericht ab, und zwar gleich bei seiner ersten Erwähnung der Verantwortung von Juden für den Tod Jesu. Zwar ist kaum auszumachen, ob Justin tatsächlich eine frühe Version der uns bekannten, auf den kanonischen Passionsberichten basierenden Pilatusakten gekannt (so etwa MOMMSEN, Pilatus-Acten 199; SCHEIDWEILER (in SCHNEEMELCHER, 395ff.); zur stark apologetischen Ausrichtung der Pilatusakten cf. v. DOBSCHÜTZ, Process, pass.) oder die Existenz solcher Akten lediglich postuliert hat (wie offenbar im Fall der Aufzeichnungen des Quirinus, Apol. 34,2; so etwa LÉΜΟΝΟΝ, Pilate 262f.; G.W.H. LAMPE, trial 173ff.). In jedem Fall ist aber deutlich, daB die Richtigkeit einer dem PB ähnlichen Darstellung die notwendige Voraussetzung seiner Apologetik ist. 365 Diese Funktion läßt sich an der Wirkungsgeschichte der evangelischen Passionsgeschichten bis hinein in die wissenschaftliche Exegese und Kirchengeschichte unserer Tage hervorragend studieren. Man vergleiche exemplarisch

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Passionsbericht ist in diesen späteren Zusammenhängen so etwas wie die Grundgeschichte des Christentums für die Begegnung mit dem Imperium Romanum geworden. (2) Postuliert man einmal, bereits der Verfasser des PB habe — wie später etwa Lukas —366 bei seiner Darstellung immer auch deren Wirkung auf Heiden mit bedacht, so wird vor allem die sachliche Notwendigkeit zur Abfassung des Berichtes unmittelbar einsichtig: Jedem auch nur einigermaßen rechtskundigen Bewohner des Römischen Reiches mußte die Behauptung der Christen, Juden seien für den Kreuzestod des Auferweckten verantwortlich (l Thess 2,14f. usw.), völlig unglaubwürdig erscheinen. Wollte das junge Christentum auf dem lebhaften religiösen 'Markt' jener Zeit bestehen, bedurfte es schliefilich einer autoritativen Tradition, die diese Behauptung legitimierte und die Vermutung, es berufe sich auf einen gefährlichen Staatsverbrecher (cf. nur Tacitus, Annalen 15,44), falsifizierte. Allein ein entsprechender Bericht über die näheren Umstände des Todes Jesu konnte diesen Nachweis in eindrücklicher und jedermann leicht nachvollziehbarer Weise leisten. 3 6 7 Es ist deutlich, daB die Entstehung des ältesten Passionsberichtes auf der Basis des Postulats, er habe bei der Darstellung auch Heiden als 'heimliche Adressaten' im Blick gehabt, außerordentlich zufriedenstellend erklärt werden kann. Rückschlüsse auf die Intention des Verfassers können aus dieser Einsicht allerdings nur mit großer Vorsicht gezogen werden. Denn es ist nicht auszuschließen, daß er seinen Bericht zur Selbstvergewisserung der jungen Kirche schrieb, ohne sich über dessen immenses politisch-apologetisches Sinnpotential wirklich im klaren zu sein.

7.9.2. Zu Ort und Zeit der Abfassung des PB Bevor eigene Überlegungen zum Problem der Datierung des ältesten Passionsberichtes angestellt werden können, ist zunächst eine Diskussion der einschlägigen Thesen von Rudolf Pesch und Gerd Theissen vonnöten. Rudolf PESCH hat das Alter der vormk Passionsgeschichte wie folgt festgelegt: "Als terminus

ante quem der Entstehung der vormk Passionsgeschichte

Henry CHADWICK, Die Kirche in der antiken Welt (1967; *1969; dt. Berlin/ New York 1972). Chadwick beginnt das Kapitel "Die Begegnung mit dem römischen Imperium" mit folgenden Sätzen: "Ein römischer Prokurator hatte den Herrn wie einen gewöhnlichen Verbrecher zum Tode verurteilt. Aber er hatte dies nur getan, um die Juden zu beschwichtigen, nicht weil er wirklich glaubte, daß Jesus ein Verbrechen gegen den römischen Staat begangen habe. So bestand noch Hoffnung auf eine Verständigung" (l8f.). Treffender kann man die zentrale Aussage des PB kaum wiedergeben! 366 Cf. etwa RADL, Lukas 127: "Lukas hat in erster Linie für Christen geschrieben; aber sein Werk ist offenbar auch für eine größere Öffentlichkeit gedacht." 367 Cf. dazu nochmals die oben (A 364) zitierte interessante Inanspruchnahme von 'Pilatusakten' durch Justin (Apol. 35,9).

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Ort und Zeit

ist ... das Jahr 37 zu bestimmen" (Markus II 21). Er kommt zu dieser Datierung i.w. aufgrund folgender zwei Argumente: (1) 1 Kor 11,23-25 "scheint ... den Kontext der vormk Passionsgeschichte ... vorauszusetzen" (ebd.). 368 (2) Diese "spricht vom amtierenden Hohepriester ... ohne Namensnennung"; offenbar habe Kaiaphas also noch amtiert (ebd.). ad (1). Mk 14,22-25 gehört nach der hier vorgetragenen Analyse nicht zum PB, ist aber PB M k wahrscheinlich bereits vormarkinisch hinzugefügt worden (s.o. 6.2). Die entscheidende Frage ist: hat es jemals eine synoptische Abendmahlstradition ohne Paschabezug gegeben (denn nur von einer solchen könnte Paulus, der ja einen Paschabezug noch nicht kennt, abhängig sein)? Und also: sind Mk 14,22-25 und 14,12-16 PB M k gleichzeitig hinzugefügt worden nacheinander (in dieser Reihenfolge)?

369

Leider ist

diese

Frage nicht

oder zu

entscheiden. 3 7 0 Sofern die Verse Mk 14,22-25 PB M k zuerst hinzugefügt worden sein sollten, ergäbe sich die überraschende Möglichkeit der Existenz eines Passionsberichts mit Einsetzungsbericht, aber ohne Paschabezug, und von diesem könnte Paulus tatsächlich abhängig sein. 3 7 1 Aber man kommt in dieser Frage über sachlich unergiebige Spekulation nicht hinaus. Denn ebenso ließe

368 Ähnlich auch TROCME, Passion 50: "What Paul was quoting from in I Cor 11.23-26 was ... the Passion narrative in a form closely similar to the Lukan story." 369 Die umgekehrte Möglichkeit, daß Mk 14,12-16 vor dem Einsetzungsbericht in PBMk integriert wurde, kommt m.E. nicht in Betracht: 14,12-16 verlangt eine Fortsetzung, die Passage ist ausschließlich im Zusammenhang einer fortlaufenden (Passions-) Geschichte sinnvoll; daß die Verse 22-25 eine ältere Mahltradition verdrängt haben (so BULTMANN, GST 285f.), läßt sich nicht zeigen (cf. dazu o. 6.2. mit A 26). 370 KOLLMANN, Mahlfeier 160f. plädiert dafür, daß erst Markus die Passagen 14,12-16 sowie 22-25 in PB M k eingefügt habe. Das ist allerdings sehr unwahrscheinlich: Die Passage 14,12-16 kann schwerlich selbständig existiert haben (s.o. A 369), und sie ist nicht erst von Markus formuliert worden (s.o. 6.2 A12). 371 Die Konsequenzen für die Datierung des PB wären erheblich: Paulus müßte bei seinem Gründungsbesuch in Korinth bereits einen um die Salbungsgeschichte (Mk 14,3-9 par) und um die Abendmahlsüberlieferung erweiterten Passionsbericht gekannt haben, d.h. PB müßte in diesem Fall (spätestens) etwa um das Jahr 40 entstanden sein (nach der Pauluschronologie von LÜDEMANN [Paulus i ] , der den Gründungsbesuch des Apostels in Korinth bereits auf das Jahr 41 datiert [cf. die chronologische Übersicht, ebd. 272f.] sogar noch früher). KOLLMANNS (Mahlfeier 156) gegen PESCH, Markus II 372 gerichtetes Argument, der Paschabezug sei für die synoptische Abendmahlstradition konstitutiv, ist i.ü. zwar gegen Peschs Sicht der Dinge (Mk 14,12-26 als Einheit) durchschlagend, aber m.E. grundsätzlich nicht zwingend.

Der älteste Passionsbericht

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sich die These exakt umkehren: Die PB Mk -»Redaktion«, die 14,22-25 einfügte, setzt 1 Kor ll,23ff. voraus; sie kennt den 1. Korintherbrief und nimmt diese Tradition zum Anlaß, den PB zu ergänzen! Dieses (fiktive) Argument eines advocatus diaboli zeigt die Unfruchtbarkeit der Spekulationen in schlagender Weise - denn es ist nicht widerlegbar. 372 Abschließend sei eine dritte Möglichkeit zur Diskussion gestellt, die mir aus allgemeinen Gründen die wahrscheinlichste zu sein scheint: Paulus und die PB Mk -»Redaktion« bezeugen unabhängig voneinander die gleiche Tradition. 373 In den beiden zuletzt genannten Fällen ist für eine Datierung des ältesten Passionsberichts nichts gewonnen. ad (2). Der entscheidende Einwand gegen Peschs zweites Argument ist ein methodischer: Es geht keinesfalls an, einen wesentlichen Teil der Beweislast für die Datierung auf ein derart ambivalentes Indiz wie das Fehlen des Namens des Hohepriesters zu legen. Daß dieses Indiz "den Schluß (nahezu zwingend) nahe (legt}" (Markus II 21), der älteste Passionsbericht sei vor 37 entstanden, ist schlicht und einfach falsch. Es legt ihn vielmehr genauso nahe wie den gegenteiligen, nämlich daß PB entweder am Namen des Hohepriesters keinerlei Interesse hatte oder diesen gar nicht kannte. 3 7 4 Das wird schon in dem Moment unmißverständlich klar, wo man bedenkt, daß weder Markus noch Lukas den Namen des Hohepriesters hier einfügen, es aber evidenterweise unsinnig wäre, zu behaupten, beide Evangelien (bzw. deren Passionsberichte) seien vor 37 entstanden. 3 7 5 Das wissenschaftliche Pathos,

372 Selbst dann nicht, wenn man (i.w.) von der Historizität von Mk 14,22-25 ausgeht. Denn es ließen sich — wie eine Lektüre von GREEN, Death 241-244 beweist — Gründe finden, warum PB diese Tradition zunächst nicht enthielt. 373 Dabei halte ich - mit KOLLMANN (Mahlfeier, pass., besonders 154-161.239258) u.a. (s. bereits BRANDT, Geschichte 196) - die Verbindung der »Nacht der Auslieferung« mit dem Einsetzungsbericht natürlich für nicht ursprünglich: erstere hat im PB eine Basis, letzterer nicht. 374 PESCHS moderne Analogie (Markus II 21) trägt zur Klärung gar nichts bei, da sie jederzeit durch eine Gegenanalogie entkräftet werden kann, was LUZ, Markusforschung 645 exemplarisch vorführt. Cf. dazu auch Peschs Replik (Evangelium 1983, 121), die Luz' Kritik aber (notgedrungen!) ignoriert; schön auch das alttestamentliche Beispiel bei THEISSEN, Lokalkolorit 181 A12. 375 Was Markus anbetrifft, so beruft sich PESCH zur Erklärung dieses Schweigens freilich auf dessen "Traditionsbindung" (Markus II 21). Sein Verweis auf die "lk Identifikation" des Hohepriesters (ebd.; ebenso eigenartigerweise auch THEISSEN, Lokalkolorit 184) ist aber völlig irreführend, denn Lukas identifiziert den Hohepriester hier eben nicht (ü) (auch nicht in Lk 3,2, wo im übrigen — historisch unzutreffend — Hannas als zur Zeit Jesu amtierender Hohepriester zu gelten scheint; dazu KLOSTERMANN, Lukas 51; WINTER, Trial 44ff.).

210

Ort und Zeit

mit dem Pesch seine These vorträgt ("eindeutig" ebd.), ist im übrigen völlig unangebracht. Hier wäre aus sachlichen Gründen äußerste Vorsicht erheblich besser am Platz. Gerd THEISSEN datiert in seiner jüngsten Arbeit die Entstehung der vormarkinischen Passionsgeschichte - vorsichtig - in die frühen 40er Jahre (Lokalkolorit 201ff.) und lokalisiert diese - bestimmter - in Jerusalem (182ff.). Er kommt zu diesem Ergebnis aufgrund einer flächigen Analyse des Markusevangeliums, das eine Reihe von "Vertrautheitsindizien" (181 u.ö.) aufweise, d.h. vom Leser ein zum Verständnis der Erzählung notwendiges Vorwissen erwarte. Als solche benennt Theissen im wesentlichen folgende: (1) Die Nennung des Hohepriesters ohne Namen (182f.). (2) Die Nennung des Pilatus ohne Amtsbezeichnung (183). (3) Die Nennung von Alexander und Rufus in Mk 15,21 (188). (4) Die für heutige Leser(innen) nicht eindeutig verständliche Benennung der Frauen in Mk 15,40 (188ff.) (5) Die Tatsache, daß die Orte Magdala und Arimathia innerhalb der 'Lokalperspektive' der Passionsgeschichte liegen (190ff.). (6) Die bestimmten Artikel vor 'Barabbas', 'Aufrührer' und 'Aufruhr' in Mk 15,7 (193ff.). (7) Die Nichtidentifizierung des »Schwertschlägers« (Mk 14,47) und des »nackten Jünglings« (Mk 14,51f.), wohl aufgrund von "Schutzanonymität" (196ff.). In einem zweiten Arbeitsgang (201ff.) sichert Theissen sein Ergebnis, daß die "Auswahl, Formung und Stilisierung von Überlieferungen zu einer zusammenhängenden Passionsüberlieferung in den 40er Jahren besonders plausibel wäre" (201), durch die Analyse einiger Spezifika der vormk Passionsgeschichte ab, die in der Situation nach der "Caligulakrise" (210) besonders gut verständlich seien. Zur Kritik: (1) Theissen sucht nach Vertrautheitsindizien im vormarkinischen Passionsbericht, analysiert aber die Jetztgestalt (!) des Markusevangeliums, ohne ernstlich auf die Probleme der Gestalt seiner Quelle einzugehen. Zwar ist dieser Versuch, die Analyse so vorzutragen, daß sie "unserem Nichtwissen über (den) Umfang und die innere Schichtung" der vormarkinischen Passionsgeschichte Rechnung trägt (181), angesichts der Forschungslage überaus verständlich. Hingegen ist ein solches Verfahren methodisch unmöglich; denn Ort und Zeit der Entstehung einer Quelle können selbstverständlich erst dann bestimmt werden, wenn deren Gestalt wenigstens in Umrissen bekannt ist. Damit zusammenhängend: wenn - wie Theissen m.E. zu Recht festhält — das Johannesevangelium "auf keinen Fall von den Synoptikern im Sinne einer literarischen Quellenverarbeitung abhängig ist" (178), dann geht es nicht an, den johanneischen Text bei der Analyse außer Acht zu lassen.

Der älteste Passionsbericht

211

(2) Was diejenigen von Theissen genannten Vertrautheitsindizien anbetrifft, die m.E. tatsächlich zum ältesten Passionsbericht zu rechnen sind, so ist festzuhalten: Ein "Fadennetz" (304) aus einer großen Menge per se völlig ambivalenter Indizien ist nicht aussagekräftiger als jedes dieser Indizien für sich genommen. Beweiskraft gewönnen sie erst, gäbe es ein wirklich eindeutiges und zugleich aussagekräftiges Vertrautheitsindiz in der primären Passionstradition. Eben dieses aber gibt es nicht. Dieser Tatsache entspricht, daß Theissen die Lokalisierung des ältesten Passionsberichts in Palästina bzw. Jerusalem m.E. praktisch aus dem Nichts gewinnt.376 Schließlich: die Datierung der Formung der ältesten Passionsüberlieferung in die 40er Jahre ist — wie Theissen selbst zu Recht hervorhebt - "nicht unabhängig von der Zuordnung der Passionsgeschichte zur Jerusalemer Gemeinde" (201 A51); d.h.: alles ruht letztlich auf der Lokalisierung, die ihrerseits nicht hinreichend zu begründen ist. Fazit: Die Argumentationsbasis ist für derart weitreichende Schlüsse, wie Theissen sie vorträgt, viel zu schmal. Erheblich schwieriger als die Kritik ist die Konstruktion. Sicherer terminus ante quem der Entstehung des ältesten Passionsberichtes ist die Abfassung des Markusevangeliums, also etwa das Jahr 70.377 Da PB nachweislich überarbeitet wurde, bevor Markus ihn in sein Evangelium integrierte, wird man den terminus ante quem noch etwas weiter nach vorn rücken müssen. Terminus post quem ist der Tod Jesu, also etwa das Jahr 30.378 Jede nähere Bestimmung ist äußerst schwierig, da sie zu einem erheblichen Teil von der inhaltlichen Bewertung der Quelle und auch von der Beurteilung ihres Entstehungsortes abhängt.379 Trifft die oben vorsichtig vorgetragene Vermutung zu, daß der Verfasser des PB vielleicht bereits die Wirkung seines Berichtes auf Heiden m/fbedachte, deren Vorurteil, die Christen beriefen sich auf einen zu Recht verurteilten Verbrecher, er widerlegen konnte, dann wird man die Entstehungszeit wohl nicht allzu weit von dem späteren Datum abrücken

376 Lokalkolorit 184: "Wenn die Passionsiiberlieferung in Palästina geformt wurde — und darauf deuten die vorgenannten Vertrautheitsindizien hin — ...". Welche sind die 'vorgenannten Vertrautheitsindizien' ? Die Nennung des Pilatus ohne Amtsbezeichnung und die Nichtnennung des Namens des Hohepriesters ! 377 Ob das Mk-Ev kurz vor oder kurz nach 70 entstanden ist, ist in unserem Z u sammenhang ohne Relevanz; s. dazu o. 2. 378 Wiederum kommt es auf das genaue Datum nicht an. Cf. zu den verschiedenen Vorschlägen samt deren Begründungen das Referat bei BLINZLER, Prozeß 101-108. 379 Cf. THEISSEN, Lokalkolorit 201 A51, der diesen Zusammenhang beim Vortrag seiner Hypothese in vorbildlicher Weise explizit festhält.

Ort und Zeit

212

dürfen. Denn vorausgesetzt wäre dann die Fremdwahrnehmung des Christentums als einer eigenständigen Religionsgemeinschaft (cf. Acta 11,26) 380 und vielleicht sogar ein Bewußtsein dafür, daß die Tatsache des Verbrechertodes Jesu zu Spannungen mit dem Imperium führen kann. Bedeutet das, daß der älteste Passionsbericht bereits erste Zusammenstöße von Christen mit der Staatsmacht

voraussetzt?

Die

erste

größere

Konfrontation,

Kenntnis haben, ist die von Sueton (Claudius 25,4) das Jahr 49 ? 3 8 1 d.h. von Christen,

von

der

wir

für das Jahr 41 oder

erwähnte Vertreibung von »Chrestus« aufgehetzter Juden, 382

aus Rom, in deren Gefolge sich das stadtrömische Chri-

stentum wahrscheinlich von der Synagoge getrennt hat. 383 Setzt PB

diese

Ereignisse voraus? Was den Ort der Entstehung des ältesten Passionsberichtes anbetrifft, so lautet der häufigste Vorschlag: Jerusalem. Begründet wird er in der Regel mit der "Vertrautheit (des ältesten Passionsberichtes) mit der Topographie von Jerusalem und Umgebung". 384 Aber dieses Argument ist zur Bestimmung des

380 Der Begriff Χριστιανός (Acta 11,26) zeigt, daß es sich bei dem Christennamen um eine Fremdbezeichnung handelt. Leider kann man aus der sicher historischen Notiz des Lukas keine chronologischen Rückschlüsse ziehen, da es "nicht sicher ... (ist), ob Lukas sie chronologisch richtig eingeordnet hat" (LUDEMANN, Apostelgeschichte 144). 381 LÜDEMANN hat die gängige Datierung des Claudiusediktes auf das Jahr 49 bestritten und ist für das Jahr 41 eingetreten (Paulus I 183-195; Judenedikt, pass.). Eine Entscheidung dieser Frage ist schwierig (in unserem Zusammenhang allerdings auch ohne größere Bedeutung). Zwar ist es m.E. einerseits schwerlich erweisbar, daß Cassius Dio 60,6.6f. dasselbe Ereignis anspricht wie Sueton, Claudius 25,4; vielmehr bezieht sich die Passage zurück auf Dio 57,18.5, und diese beiden Stellen "make perfectly good sense without arbitrary contextual gymnastics" (SLINGERLAND, Suetonius 320). Andererseits gilt es aber, das Schweigen des Tacitus über ein Judenedikt des Claudius im Jahre 49 zu erklären (die Annalen zum Jahr 41 sind nicht überliefert), und die Möglichkeit, daß Lukas in Acta 18,1-11 und 18,12-17 zwei chronologisch weit auseinanderliegende Ereignisse zusammengestellt hat, sollte nicht grundsätzlich bestritten werden (zur in diesem Fall erklärungsbedürftigen Übereinstimmung zwischen der Schilderung der Apostelgeschichte und der Datierung des Ediktes durch Orosius (Hist. adv. pag. VII 6,15) s. die Vermutung von Lüdemann, Judenedikt 296). 382 Eine Bestreitung dieser Deutung ist kaum möglich. Gegen derartige Versuche wendet sich zu Recht LAMPE, Christen 6. 383 Cf. dazu LAMPE, Christen 8f. 384 PESCH, Markus II 21. Cf. ebenso GNILKA, Markus II 349; BECKER, Johannes 636 uva. Die beiden weiteren von Pesch (ebd.) genannten Gründe sind m.E. nicht diskussionswürdig.

Der älteste Passionsbericht

213

Ortes der Entstehung des PB völlig unbrauchbar. Denn eine gute Kenntnis der Jerusalemer Topographie bewiese lediglich, daß die Traditionen, die PB verarbeitet, zu einem Teil aus Jerusalem stammen, was a priori

sicher ist.

Zudem fehlen im ältesten Passionsbericht (wie auch immer man ihn rekonstruiert) wirklich präzise topographische Angaben; nirgendwo finden sich solche Ortsbeschreibungen, die man nur einem Jerusalemer zutrauen könnte. 3 8 5 Wiederum ist die Konstruktion erheblich schwieriger als die Kritik. Gehen wir von den äußeren Kriterien aus: PB taucht in einer überarbeiteten Fassung das erste Mal bei Markus auf. Wo ist das Markusevangelium

geschrieben

worden? M.E. ist — trotz der in neuerer Zeit beliebten These einer syrischpalästinischen Herkunft — die beste Hypothese nach wie vor: im Westen des ΤΛ/·

Imperiums, vielleicht in Rom.

Die Argumente sind hinreichend bekannt.

Ausschlaggebend ist neben Mk 12,42 m.E. die Bezeichnung der Phönizierin in Mk 7,26 als Συροφοινίχιοοα,

die in Syrien schwerlich denkbar ist, 3 8 8 in Rom

aber um so sinnvoller, als man die Frau hier von den "sehr viel vertrauteren Puniern, als Λιβυφοίιιικες um Karthago" deutlich unterscheiden mußte. 3 8 9 Viel

385 Der Verfasser des PB weiß, daß es in Jerusalem einen Ort namens »Golgatha«, einen Bach namens »Kidron« (bzw. ein Grundstück namens »Gethsemane«) sowie eine αύλή des Hohepriesters und eine αύλή des Pilatus gibt. Mehr ificht. Sind solche Kenntnisse nur einem Jerusalemer zuzutrauen? Nota bene: die einzige etwas detailliertere Angabe in den neutestamentlichen Passionsberichten, nämlich die Nennung von Bethphage, Bethanien und des Ölbergs in Mk 11,1 (die m.E. nicht zum PB gehört, die PESCH, Markus II 21 aber zur Stützung seiner These heranzieht), ist geographisch nicht richtig (cf. dazu o. 7.6.2 A 111). 386 Dafür sind in jüngster Zeit vor allem eingetreten HENGEL, Entstehungszeit 43-45; PESCH, Markus I 12-14; GNILKA, Markus I 34 (Tür die Heidenchristen des Westens'). Für syrisch-palästinische Herkunft plädieren etwa: VIELHAUER, Literaturgeschichte 347; KÜMMEL, Einleitung 70; KÖSTER, Einführung 602; LÜHRMANN, Markus 7. M.E. ist diese Lokalisierung nicht nur nicht beweisbar, sondern sogar widerlegbar (l); s.u. A 388. 387 Cf. die Diskussion bei KÜMMEL, Einleitung 69f.; HENGEL, Entstehungszeit 43ff. 388 Man mache die Probe aufs Exempel: der tatsächlich sehr wahrscheinlich in Syrien (cf. nur LUZ, Matthäus 73-75) schreibende Matthäus ersetzt den Begriff durch Χαναναία ! Es ist m.E. von hierher völlig unwahrscheinlich, daß das Markusevangelium, in dem eine "Nachbarschaftsperspektive" spürbar werde, "nördlich von Palästina in jenem Teil Syriens geschrieben worden sein (könnte), der später 'Syrophönikien genannt wurde" (THEISSEN, Lokalkolorit 304). 389 HENGEL, Entstehungszeit 45. Hengel verbindet mit dieser Lokalisierung des Mk-Ev dann allerdings die m.E. schwerlich haltbare These, Markus sei der Dolmetscher des Petrus gewesen (so offenbar Papias bei Euseb, HE III 39,15), ein 'griechischsprechender Judenchrist, der auch Aramäisch verstand, vermutlich ein Jerusalemer' (ders., Probleme 242f.).

214

Ort und Zeit

wäre nun gewonnen, könnte man im Falle des PB die bei Pseudonymen Briefen gültige Faustregel anwenden, daß sie "meist dort entstanden (sind), wo sie zuerst auftauchen." 390 Denn zu den oben zur Datierung angestellten Überlegungen würde eine Lokalisierung der Entstehung des ältesten Passionsberichtes in Rom sehr gut passen. Und nicht nur das: PB verwendet mit dem Begriff ώχάριον in der Bedeutung »menschliches Ohr« einen Begriff, der in der gesamten antiken griechischsprachigen Literatur nur noch einmal (!) begegnet, und zwar - bei dem Epigrammatiker Lukillios zur Zeit Neros in Rom,391 Das mag zufällig und vielleicht darin begründet sein, daß die Sprache des Lukillios "der gesprochenen nahe(steht)". 39Z Oder aber hier liegt ein Jargon vor, der darauf schließen ließe, daß der Verfasser des PB und Lukillios etwa zur selben Zeit am selben Ort schrieben. In diesem Fall hätten wir einen objektiven äußeren Anhaltspunkt zur Datierung und Lokalisierung des ältesten Passionsberichtes, der demnach in den 50er Jahren in Rom entstanden wäre. 393 Freilich ist auch dieser Versuch, der Entstehungssituation des ältesten Passionsberichtes auf die Spur zu kommen, in hohem Maße spekulativ. Ort und Zeit der Entstehung des PB lassen sich - über die ohnehin sicheren Fakten hinaus - nicht mit wirklich hinreichender Wahrscheinlichkeit bestimmen. Die Interpretation darf sich daher nicht von einem wie auch immer gearteten

390 VIELHAUER, Literaturgeschichte 237 (unter Bezug auf die Pastoralbriefe). 391 Anthologia Palatina 11,75,2 (cf. o. 7.7.2 mit A 297). Zur Datierung s. vor allem Anth Pal 9,572 und dazu PAULY-W1SSOWA XIII, 1777-1785 (J. GEFFCKEN); PAULY III l i l i . (R. KEYDELL). 392 PAULY III 778. 393 Dem entspräche weiterhin, daß die erhaltenen Epigramme Lukillios' wohl auf den ersten Teil der Regierungszeit Neros (54-68) weisen; s. PAULY III 777. Spönne man die Spekulation von hier aus noch ein wenig weiter, so miifite man jetzt etwa fragen, wie PB (in überarbeiteter Form) dem Evangelisten Johannes zugekommen ist. Ist das Joh-Ev — sei es mit oder ohne »Umzug« der johanneischen Gemeinde von Syrien — in Ephesus entstanden (so etwa SCHNACKENBURG, Johannes I 134; BROWN, John Clllf.; BARRETT, John 133; STRECKER, Anfänge 38f. ) ? Dann könnte man auf die traditionell gute Verbindung RomEphesus verweisen (römische Christen fliehen nach dem Claudiusedikt (!) nach Ephesus und kehren später nach Rom zurück, wie Priska und Aquila etc.; Acta 18,2.19; Rom 16,3ff.).

Der älteste Passionsbericht

215

Vorverständnis leiten lassen; der Text ist allein aus sich selbst heraus auszulegen. 3 9 4

394 Es sei im übrigen an dieser Stelle betont, daß Zeit und Ort der Entstehung des PB per se m.E. gar nichts über dessen historische Zuverlässigkeit aussagen. Ein in den 30er Jahren in Jerusalem entstandener Passionsbericht wäre nicht schon deshalb historisch höchst zuverlässig; umgekehrt wäre ein in den 50er Jahren in Rom entstandener Passionsbericht nicht schon deshalb historisch eher unzuverlässig. Hier hängt vielmehr alles von der Intention des Verfassers und der Qualität der Tradition ab. Und auch letztere muB nicht schon deshalb hoch sein, weil die Tradition in örtlicher und zeitlicher Nähe zu den Ereignissen überliefert wurde (und umgekehrt) — gegen PESCH, Markus II 23 ("Die verbreitete Ansicht, 'daB die historische Ausbeute einer gewissenhaften Analyse der Leidensgeschichte im einzelnen nicht sehr ergiebig ist', läfit sich im Blick auf Alter und Herkunft der vormk Passionsgeschichte .... nicht halten"; Kursive hinzugefügt). Das ist auch gegen folgende beliebte Weise, die Historizität der synoptischen bzw. der Passions-Tradition a priori zu begründen, einzuwenden: "Bis zur Zerstörung Jerusalems unterlag die Überlieferung der ständigen Kontrolle durch die Augenzeugen und das gegen Falschprophetie sensibilisierte Traditionsbewußtsein der Gemeinden" (STUHLMACHER, Evangelium 1983, 8). Hier wird — ganz abgesehen davon, daB eine auch nur oberflächliche Lektüre der Überschneidungen zwischen Mk und Q, der Differenzen zwischen Q M t und Q L k (usw.) diesen Satz falsifiziert — die Existenz der neuzeitlichen Öffentlichkeit in das erste Jahrhundert reprojiziert, darüber hinaus in idealisierter Form: denn auch heute läBt sich die Entwicklung von Traditionen, zumal von volkstümlichen, eben nicht kontrollieren, es sei denn (und auch dann nicht vollständig) durch eine totalitäre Zensurinstitution.

Π. Teil Historische Analyse

1. Einleitung

1.1. Die Forschungslage Die Diskussion um die historischen Probleme im Zusammenhang mit der Passion und dem Tod Jesu ist vor allem im deutschen Sprachraum bis heute wesentlich bestimmt durch Josef BLINZLERS Standardwerk "Der Prozeß Jesu", das zuletzt 1969 in vierter Auflage erschienen ist.1 Blinzler vertritt in seinem großen Opus, in dem er praktisch alle auch nur im entferntesten mit der Passion Jesu zusammenhängenden Probleme diskutiert, 2 die These, daß die Darstellung, die uns die Evangelien vom Ablauf der letzten Tage Jesu in Jerusalem geben, in allen wesentlichen Zügen historisch zutreffend ist. Folglich tragen die »Schuld« am Tod Jesu in der Tat wesentlich die Juden, weniger die Römer. "Wer den Prozeß Jesu, wie er aus den evangelischen Passionsberichten zu rekonstruieren ist, als geschichtlich-juristischen Vorgang zu würdigen unternimmt, kommt zu demselben Ergebnis wie die urchristlichen Prediger: Die Hauptverantwortung liegt auf jüdischer Seite" (447). Ganz klar trete "die böswillige Einstellung der Synedristen im ... Verlauf der Ereignisse zutage" (448). Den jüdischen Gegnern sei es "um die Vernichtung Jesu um jeden Preis zu tun" gewesen (ebd.). Zugrunde habe dieser Absicht eine "Todfeindschaft der herrschenden jüdischen Kreise gegen Jesus" gelegen, die "machtpolitisch-egoistische, nationale und religiöse Gründe" gehabt habe (ebd.). Das Geschehen sei insgesamt als "Justizmord" zu werten (450). Was Pilatus anbetrifft, so wirke die Tatsache, daß er Jesus "unter dem Druck der fanatischen Juden" habe kreuzigen lassen, 'schuldmildemd' (449). Deshalb sei seine "Gesamtschuld geringer als die der Juden" (450).

1 Zur älteren Literatur zu den historischen Problemen s. das Referat bei BLINZLER, ProzeB, 14-38. Speziell über die jüdische Literatur zu diesem Thema informieren LINDESKOG, Jesusfrage 277-296 und CATCHPOLE, Trial, pass. 2 Neben den einschlägigen Fragen diskutiert Blinzler in den Exkursen auch solche Probleme wie "Hat Pilatus das Berna bestiegen?" (346ff.), die "Archäologie der Kreuzigung" (375ff.), "Der Kreuzestod in medizinischer Sicht" (38Iff.) und in den

220

Historische Analyse: Einleitung

Gegen diese Sicht der Dinge wandte sich vor allem Paul WINTER in seinem großen Entwurf "On the Trial of Jesus" (1961; 21974, überarbeitet von T.A. Burkiii und G. Vermes). Winter vertritt darin die These, daß die Passionsdarstellung der Evangelien den historischen Ablauf der Dinge in wesentlichen Punkten unzutreffend wiedergibt. Diese Tatsache habe ihren Grund zunächst darin, daß das, was "the Gospels tell us of the ... trial ... of Jesus is not a historical account of what actually took place, but is a representation of the manner in which the Passion of the Lord was interpreted in certain early Christian circles" (3). Was die Passionsdarstellungen anbetrifft, so seien diese wesentlich von der Tendenz geleitet, die Römer zu ent- und die Juden zu belasten. Insbesondere die zwei in diesem Zusammenhang zentralen Szenen, das Verhör vor dem Synhedrium und die Barabbasszene, entbehrten jeder ernstzunehmenden historischen Grundlage. Mk 14,53b.55-64 "has its Sitz im Leben in the history of the early Church, not in the history of Jesus' life" (34).3 "In all probability the insertion was made by the Second Evangelist ... — inspired by hortatory and apologetic interests" (ebd.). The "episode in Mc 15,7-15 is coloured by apologetic interest. The Evangelist throws the responsibility for the death of Jesus onto the Jews, making Pilate appear to have acted merely as an instrument of their heinous intention" (134). "The Privilegium paschale is nothing but a figment of the imagination. No such custom existed" (ebd.). Winter schließt: "It is maintained that the gospel records, when critically examined, furnish clear evidence of the fact that Jesus was executed on a charge of sedition at the order of the Emperor's representative" (206).

Es ist das Schicksal von Paul Winters Buch, daß es im christlichen deutschsprachigen Raum kaum rezipiert wurde. Die meisten Rezensenten 4 gestanden Winter seinerzeit zwar eine Reihe richtiger Einsichten zu, konnten seine Sicht der Dinge insgesamt aber nicht übernehmen. 5 Eine nicht zu un-

Anmerkungen zum Haupttext etwa das, ob das Gewand, das Herodes Antipas (!) Jesus umhängen ließ, "rot oder weiß war" (290 A18). 3 Im Original gesperrt. 4 Zu der großen Menge der Rezensionen s. die Auswahl bei WINTER, Trial X X I f . , zum Problem der Rezeption des Werkes L. SCHOTTROFF, Schuld 3 4 8 - 3 5 3 . D e s öfteren werden Winters Ergebnisse leider verzeichnet, so z.B. wenn behauptet wird, bei ihm bliebe 'von einer jüdischen Mitwirkung am Todesschicksal Jesu nichts übrig' (SCHNEIDER, Synedrium 171). Dieser Satz trifft Winters Position nicht: s. ebd. pass., insbesondere 42f. 56f. 66.192 u.ö. 5 Cf. exemplarisch etwa die Rezensionen von LOHSE, 1961, j e w e i l s pass.

1961 und

SCHWEIZER,

Die Forschungslage

221

terschätzende Rolle spielt dabei oft der stille, aber durchschlagende Vorwurf, Winter könne als Jude die Ereignisse nicht unvoreingenommen würdigen.6 Aufs ganze betrachtet sind die Problemstellungen und die historischen Urteile Blinzlers daher bis heute maßgebend. Dieses Urteil gilt - trotz Kritik im einzelnen - sowohl für die neueren großen deutschen Markuskommentare von Rudolf PESCH (»1976/77) und Joachim GNILKA (Ί978/79) 7 als auch für die neueren Spezialabhandlungen zu den historischen Problemen des Prozesses und der Passion Jesu von August STROBEL (Die Stunde der Wahrheit, 1980) und Otto BETZ (Probleme des Prozesses Jesu, 1982). "Blinzlers Buch ist in der deutschen neutestamentlichen Wissenschaft zur Autorität geworden".8 Eine neue historische Analyse der evangelischen Passionsdarstellungen ist in dieser Situation vor allem aus drei Gründen notwendig: (1) Viele der gängigen Monographien bzw. größeren Aufsätze zu den historischen Problemen leiden darunter, daß sie die Frage nach den uns zur Verfügung stehenden neutestamentlichen (Primär-) Quellen nicht mit hinreichender Klarheit beantworten9 bzw. die Eruierung der primären Passionstradition von historischen (Vor-) Urteilen abhängig machen.10 (2) Dringend notwendig ist eine wirklich kritische historische Analyse der Primärquellen, die m.E. vielfach in der einschlägigen Sekundärliteratur nicht gegeben ist;11 insbesondere Josef 6 Besonders deutlich wird dieser Vorwurf bei STAUFFER, Heimholung, pass.. Implizit regiert er aber auch manche andere Rezension; s. dazu SCHOTTROFF, Schuld 350-353. 7 SCHMITHALS und LÜHRMANN diskutieren in ihren Markuskommentaren bekanntlich nur selten historische Probleme. 8 SCHOTTROFF, Schuld 353 unter Verweis auf die "Menge und Art der Bezugnahmen" (ebd. A 100a) in QD 112 (genaue Literaturangabe unter: Blank, Johannespassion). Cf. auch den Anmerkungsapparat in den Markuskommentaren von PESCH und - weniger stark - GNILKA. 9 Das diesbezüglich deutlichste Beispiel findet sich bei STROBEL, der zur Frage des historischen Quellenwertes des Johannesevangeliums folgenden, völlig unklaren Satz schreibt: "Zwar scheint (!) Joh von der Mk-Darstellung teilweise abhängig zu sein, doch möchte (!) man zugleich annehmen, dafi er zusätzliches historisches Material eingebracht hat" (Stunde 6). Ähnlich verschwommen bereits BLINZLER, Prozeß 66-70. Bei BETZ vermißt man eine wirkliche Diskussion dieser Frage gänzlich (cf. lediglich die unbefriedigenden Äußerungen, Prozeß 613). 10 Beispiele für diese Vorgehensweise finden sich in der einschlägigen Literatur zur Genüge. S. dazu die kleine Auswahl in Kapitel 1.4, wo dieses grundsätzliche Problem bereits näher besprochen wurde. 11 Vorerst sei nur ein besonders krasses Beispiel angeführt (das hier auch deshalb gewählt ist, weil es nicht zu unserem Themenkreis im engeren Sinn gehört und daher im folgenden nicht mehr analysiert werden wird). BETZ (Prozeß 584f.) betrachtet innerhalb seiner Ausführungen zu "Flavius Josephus: Jesus und die frühjüdische Prophetie" (580ff.) die Gamalielrede in Acta 5,34-39 als historisch

222

Historische Analyse: Einleitung

BLINZLERS Arbeit weist z.T. erhebliche Schwächen auf - die Leser(innen) mögen diese These anhand der folgenden Analyse überprüfen. (3) Schließlich verdienen die Ergebnisse der Untersuchung Paul WINTERS m.E. mehr Beachtung, als ihnen in der Regel entgegengebracht wird.

1.2. Das methodische Problem einer historischen Analyse des ältesten Passionsberichtes Das besondere Problem einer jeden Rückfrage nach dem 'historischen Jesus' besteht bekanntlich in dem Charakter der einzig ergiebigen, uns zur Verfügung stehenden Quellen — der neutestamentlichen Evangelien. Es handelt sich bei ihnen bekanntlich um Werke religiöser Kleinliteratur, deren in der Regel ursprünglich selbständige Traditionen einem vielfachen Variationsprozeß unterworfen waren, bevor Markus, Matthäus, Lukas und Johannes sie in der für die Großkirche maßgebenden Gestalt fixierten. Sosehr die Erinnerung an den Meister bei der Überlieferung eine Rolle gespielt hat, so wenig war ein im engeren Sinn historisches Interesse auf irgendeiner Traditionsstufe das maßgebende. Vielmehr überlieferte man die Worte und Taten Jesu von Anfang an mit primär religiösen Interessen: Es ging um christliche Praxis, um Abgrenzung nach außen und Ordnung des Gemeindelebens, um Verkündigung, um religiöse Erbauung, usw. Dieses religiöse Interesse der frühen Kirche prägte die Jesusüberlieferung wesentlich: der 'kerygmatische Christus' hüllte den 'historischen Jesus' in Nebel. Aufgrund dieses allgemein zugestandenen Charakters der evangelischen Überlieferung ist es bekanntlich unmöglich, eine Biographie Jesu zu schreiben. Die "älteste Überlieferung bietet keinerlei Möglichkeit zu einer biographischen oder psychologischen Konstruktion, und

und analysiert sie dementsprechend bis hinein in Feinheiten der Wortwahl (Gamaliel beschrieb den Anspruch des Theudas "mit der scheinbar vagen, aber doch bedeutungsvollen Wendung ..." 584). Er ignoriert dabei die — so sollte man meinen — allseits bekannte Tatsache, daB die Gamalielrede nicht historisch ist. Denn (l) verwechselt 'Gamaliel' hier die historische Abfolge der beiden Aufrührer Judas und Theudas. Und (2) — noch schlimmer — hätte Gamaliel zu der Zeit, als er diese Rede nach Acta 5 gehalten haben soll, noch gar nichts von Theudas wissen können, da dieser damals noch gar nicht öffentlich aufgetreten war (ü) (s. die Kommentare). (Nebenbei bemerkt: was hat die Gamalielrede mit "Flavius Josephus" (580) zu tun?).

Das methodische Problem

223

sämtliche Versuche dieser Art sind auf Grund der Quellenlage als völlig unsachgemäß abzulehnen." 12 Will man den Evangelien trotz dieses ihres Charakters als '"Tendenzschriften"' 13 authentische Jesusüberlieferung entnehmen, bedarf es eines ausgefeilten, spezifischen Kriterienkataloges. Läßt sich ein solcher in Hinsicht auf die Tatüberlieferung im allgemeinen und auf die Logienüberlieferung noch vergleichsweise leicht und in einigermaßen zureichender Breite erstellen, 14 so besteht das besondere Problem einer historischen Analyse der ältesten Passionsüberlieferung darin, daß die meisten der gängigen Kriterien zur Ermittlung authentischer Jesustradition (Dissimilarität, Kohärenz, typische Sprache) hier nicht greifen. Denn (1) handelt Jesus im ältesten Passionsbericht nicht, ist vielmehr passiv - mit ganz wenigen und dann meist unspezifischen Ausnahmen. Und umgekehrt sind uns (2) die tatsächlich handelnden Personen in den meisten Fällen anderweitig entweder weitgehend (Petrus und Pilatus) oder gänzlich unbekannt (Judas, Barabbas, Maria Magdalena, Joseph von Arimathia). Versagen also die spezifischen Kriterien der historischen Analyse von Jesusüberlieferung im Fall des PB in aller Regel, so sind die Historikerin und der Historiker hier meist ganz auf die klassischen Kriterien der Geschichtswissenschaft angewiesen: Kritik, Analogie und Korrelation. Mit diesen Kriterien kommt man oft aber nicht sehr weit, und darin besteht das spezifische Dilemma jeder historischen Analyse der (ältesten) Passionsüberlieferung: Der Mangel an zureichenden, den oben skizzierten besonderen Charakter der evangelischen Tradition berücksichtigenden Kriterien macht das historische Urteil häufig ganz von der Grundeinstellung der Exeget(inn)en abhängig.15 Je nach dem, ob man der Tradition grundsätzlich vertraut oder grundsätzlich mißtraut, so wird das Urteil ausfallen.

12 KÜMMEL, Problem 51. 13 MUSSNER, Methodologie 126 (unter Bezug auf die 'evangelischen Erzählungen ). 14 Zum Kriterienproblem s. HAHN, Überlegungen; MUSSNER, Methodologie; LENTZEN-DEIS, Kriterien; NIELSEN, Kriterien; STEIN, Criteria; MEYER, Objectivity, jeweils pass, sowie LEHMANN, Quellenanalyse 163-205. 15 S. zu dieser Aporie auch die Ausführungen von MILLAR, Trial 356; "If we ... turn to the trial narratives ..., we may ... be able to show that one is plausible, that it does 'fit'. But that is not the same thing as proving it to be true. For it lies in the nature of arguments from coherence that we can never confidently distinguish between an essentially veridical narrative, based on first-hand reports, and a convincing reconstruction — or fiction — whose author respected historical realities."

224

Historische Analyse: Einleitung

Betrachten wir ein Beispiel: Nach Mk 15,43/Joh 19,38 ersucht ein gewisser Joseph aus Arimathia den Präfekten um die Freigabe des Leichnams Jesu zur Bestattung. Liegt hier zuverlässige historische Tradition vor? Oder taucht Joseph hier auf, weil der Erzähler einen Mittelsmann zwischen der Jesusgruppe und Pilatus brauchte? 1 6 Die Entscheidung dieser Frage hängt wesentlich, wenn nicht ausschließlich an der Klärung der Beweislast: Die Historizität der Szene ist weder beweis- noch widerlegbar. Ein anderes Beispiel: Nach Mk 14,54/Joh 18,15.18 folgt Petrus nach der Jüngerflucht Jesus in den Hof des Hohepriesters und wärmt sich dort am Feuer. Legendarische Ausschmückung mit Lust am Detail nach Art der apokryphen Evangelien? Oder historisch zuverlässige, alte Tradition mit "Lokalkolorit'? Wiederum: die Historizität der Szene ist weder beweis- noch widerlegbar. Der Klärung des Problems der Beweislast kommt somit bei einer historischen Analyse des ältesten Passionsberichtes herausgehobene Bedeutung zu: Soll man der Tradition in dubio vertrauen oder nicht? Für letzteres hat sich bekanntlich z.B. Ernst KÄSEMANN in seinem berühmten Vortrag von 1953 ausgesprochen: "Wir können nicht mehr die Zuverlässigkeit der synoptischen Überlieferung über Jesus im allgemeinen voraussetzen. Mehr noch, mit kritischen Korrekturen der Tradition allein ist hier auch nicht mehr zu helfen. Auf Grund der formgeschichtlichen Arbeit hat sich unsere Fragestellung derart zugespitzt und erweitert, daß wir nicht mehr die etwaige Unechtheit, sondern gerade umgekehrt die Echtheit des Einzelgutes zu prüfen und glaubhaft zu machen haben. ... Was die ... Passions- und Ostergeschichten anlangt, so ... läßt sich das alles verteidigen, solange man der Tradition zunächst einmal Glauben zu schenken bereit ist ... Nur kommt man auf diese Weise schwerlich weiter als zu einem persönlich befriedigenden Urteil im allgemeinen Chaos" (Problem 203f.). Ganz anders urteilt etwa Martin HENGEL: "Wenn ... diese älteste Erzählung (= der älteste PassionsberichO über Jesus in der von der radikalen Kritik postulierten Weise weithin ein Konglomerat von dogmatisch-legendären Gemeindebildungen darstellt, ist dann überhaupt noch etwas aus der Jesusüberlieferung zuverlässig? An der Passion Jesu, die die Grundlage der Urkirche und ihrer Botschaft bildete, mußten die Jünger Jesu doch noch viel mehr interessiert gewesen sein als an einzelnen Logien oder Gleichnissen. ... Die Urgemeinde in Jerusalem war ja

16 So CROSSAN, Jesus 393: "Mark ... created and sent to Pilate 'Joseph of Arimathea, a respected member of the council ...' That is a perfect in-between figure".

Das methodische Problem

225

unter der Führung eines Petrus und des Herrenbruders Jakobus die führende Kirche, die jahrzehntelang am Ort Informationen über jenes einzigartige Geschehen sammeln konnte. Wenn sie das nicht wollte, sondern gegen alle Erinnerung frei konstruierte, dann dürfte man von ihr auch kein Interesse an Jesusworten erwarten" (Messias 166). Nach unserer Analyse handelt es sich bei dem vergleichsweise früh entstandenen und hochgeschätzten ältesten Passionsbericht um einen Geschichtsbericht, der - so viel darf vor aller Analyse bereits festgehalten werden eine Reihe historisch mit Sicherheit zuverlässiger Daten enthält (Kreuzigung in Jerusalem, durch Pontius Pilatus). Wir wissen darüber hinaus, daß einige der Augenzeug(inn)en der letzten Tage Jesu kurze Zeit später in der christlichen Gemeinde eine bedeutende Rolle spielten (Petrus, Maria Magdalena). 17 Daraus folgt zwar nicht, daß der älteste Passionsbericht per defìnitionem Augenzeugenerinnerung enthält, wohl aber, daß es solche in der frühesten Kirche gegeben hat und daß sie also im PB aufbewahrt sein könnte. Gleichzeitig gilt es nun aber zu beachten, daß es sich bei unserer Quelle nicht um ein Produkt kritischer Historiographie handelt, sondern um einen volkstümlichen, durch Schriftlektüre geprägten Geschichtsbericht, der eine ganze Reihe von Jahren nach den Ereignissen und wohl nicht am selben Ort entstanden ist und dessen Darstellung zugleich bestimmte Interessen verfolgt. 18 Rechtfertigt dieser sein Charakter ein grundsätzliches Mißtrauen? Betrachten wir zur Klärung dieser Frage einmal eine in sehr vielem analoge volkstümliche Erzählung, deren historische Qualität wir vergleichsweise leicht überprüfen können, weil wir in der glücklichen Lage sind, einen Parallelbericht des Josephus zu besitzen: Mk 6,17-29. Nehmen wir probeweise einmal an, die Passage AJ XVIII 5 (109-142) samt der anderweitigen Nachrichten über die Familienverhältnisse der Herodianer sei nicht überliefert. Bei einem Urteil in dubio pro tradito müBte man dann m.E. folgende Daten aus Mk 6 für historisch halten: (l) Herodes inhaftiert Johannes und (2) läBt ihn hinrichten. (3) Er hat eine Frau und (4) eine noch junge Tochter, die (5) beide Herodias heißen, sowie (6) einen Bruder mit Namen Philippus. (7) Herodias war zuvor mit diesem Philippus verheiratet. (8) Herodes läBt Johannes wegen dessen Kritik an seiner Ehe hinrichten. (9) Der Täufer hat Jünger, die (10) ihn begraben.

17 Auch wenn man mit dem Grundsatz in dubio contra traditum arbeitet, sind die Jüngerflucht und die Präsenz der Frauen unter dem Kreuz (gegen BULTMANN, GST 296) nicht ernsthaft in Frage zu stellen. S. dazu u. II 2.4/2.8. 18 S. dazu o. 7.7-9.

226

Historische Analyse: Einleitung 19

Damit läge man in 5 bis 7 Fällen richtig. Würde man umgekehrt in dubio contra traditum urteilen, blieben von den 10 Punkten wohl nur (2) und (9) übrig. Damit hätte man ebenfalls in S bis 7 Fällen richtig geurteilt. Ergebnis: die beiden methodischen Grundpositionen werden bei der Analyse von Mk 6,17-29 ihrem Gegenstand in etwa gleicher Weise gerecht. Bedenkt man nun aber, daß - zum einen - die Familienverhältnisse der Herodianer außerordentlich schwer zu durchschauen sind (cf. AJ XVIII 5,3-4 (127-142)) und sich daher leicht Irrtümer einschleichen können und daß wir - zum anderen — im Falle der letzten Tage Jesu von Augenzeug(inn)en wissen, die nachweislich in der frühen Kirche eine bedeutende Rolle gespielt haben, so ergibt sich m.E.: Zu einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber der Qualität der Traditionen des ältesten Passionsberichtes besteht kein Anlaß — allerdings sollte man Indizien, die Anlaß zur Skepsis geben, sehr ernst nehmen und den Bereich jenseits des dubium nicht zu eng abstecken. 20

19 Nämlich: (1-3), (6) und (9); fraglich bleibt eine Beteiligung der Johannesjünger an seinem Begräbnis (lO) und das Motiv für die Verhaftung (8). Nach unseren Kenntnissen falsch sind die Informationen über die Familienverhältnisse in den Punkten (4-5) und (7). S. zu den Einzelheiten, die in unserem Zusammenhang ohne Interesse sind, LÜHRMANN, Markus 114-117 und THEISSEN, Lokalkolorit 85-102. 20 In Bezug auf Mk 6,17ff. heißt das z.B.: die Mahlszene samt der tanzenden Tochter und dem Kopf auf dem Teller ist angesichts der vielen Parallelen (s.o. 7.7.3) eindeutig legendarisch; hier ist die Grauzone, in der die Regel in dubio pro tradito gilt, weit überschritten.

2. Historische Analyse der neun Szenen des ältesten Passionsberichtes unter Berücksichtigung der einschlägigen Sondertraditionen von PB 1 ^ und PB Joh

2.1. Der »Todesbeschluß«1 Mk 14 1 THv δε το πάοχα (μετά δύο ημέρας?) (και) οι αρχιερείς και οί (γραμματείς) (έζήτουν πως) αύτόν I (κρατήσαυτες) I άποχτείνωοιν. 2 ελεγον· (... του λαοΰ ... )

Joh 11 55 47 1571 53 47

(1) PB PB setzt ein mit einer kurzen Notiz über den Beschluß der Hohepriester (und Schriftgelehrten), Jesus zu töten; ob hier eine Begründung für diesen Entschluß gegeben wurde, läßt sich kaum mehr ausmachen. Historisch sicher zuverlässig ist die Datierung des Todes Jesu in zeitlicher Nähe zu einem Paschafest. z Im übrigen ist die Notiz über den »Todesbeschluß« der jüdischen Repräsentanten historisch unbrauchbar. Die ganz unbestimmte Formulierung zeigt an, daß ihr keinerlei verwertbare Tradition zugrundeliegt, daß sie vielmehr ausschließlich die Meinung des Verfassers des PB wiedergibt: Weil die Hohepriester (und Schriftgelehrten) seines Erachtens die entscheidende Rolle beim Vorgehen gegen Jesus gespielt haben und für dessen Kreuzigung verantwortlich sind, schließt er, daß sie sich vorab Uber ihr Vorgehen verständigt haben. Eine historische Beurteilung dieser ΉΥροΛεββ' ist müßig. Selbst wenn die Initiative zur Verhaftung Jesu tatsächlich von den jüdischen Repräsentan-

1 Hier wie im folgenden drucke ich aus Gründen der Lesbarkeit den gemeinsamen Mk/Joh- Text— so wie er in Kapitel 7.6 bestimmt wurde — noch einmal ab, ohne jedoch die Probleme, insbesondere der in eckigen Klammern gesetzten Satzteile neuerlich zu erläutern. Dazu cf. jeweils o. an entsprechender Stelle. 2 Zur Frage, ob man den Tag der Verhaftung noch genau ermitteln kann, s.u. II 2.9.

228

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

ten ausgegangen sein sollte (s. dazu u. II 2.4), lassen sich daraus keinerlei Rückschlüsse auf eine etwaige Tötungsabsicht oder gar eine diesbezügliche Absprache ziehen. Jede Spekulation über die Motive der jüdischen Oberen ist völlig arbiträr. (2) PB Mk - Sondertradition Man hat in Mk 14,2 aufgrund des Widerspruches zwischen dem Vorhaben, Jesus μή e\j τΐ) έορτί) gefangenzunehmen, und der tatsächlichen, allerdings sekundären Datierung der Gefangennahme auf die Paschanacht (Mk 14,12...43; cf. u. II 3.1) eine historische Erinnerung diagnostiziert, wonach Jesus - wie in der johanneischen Darstellung - tatsächlich vor dem Fest verhaftet worden ist.3 Dagegen ist eingewandt worden, εορτή sei hier nicht temporal mit »Fest«, sondern lokal mit »Festmenge« zu übersetzen und widerspreche der synoptischen Datierung folglich nicht — m.E. aber zu Unrecht. 4 Dennoch enthält die Notiz zweifellos keine historische Erinnerung. Denn es hätte, was die Gefahr eines θορυβός του Xccoü anbetrifft, unter den faktischen Gegebenheiten eines Paschafestes zur Zeit Jesu überhaupt keine Rolle gespielt, ob die Verhaftung »am Fest« oder aber »einen Tag vor dem Fest« vorgenommen worden wäre, da die Stadt bereits eine geraume Zeit vor Beginn des Paschafestes übervoll mit Pilgern und jederzeit aufruhrgefährdet war. Der Vers Mk 14,2 ist historisch im Munde eines Hohepriesters unvorstellbar.

3 KLOSTERMANN, Markus 141; DIBELIUS, FdE 181; FINEGAN, Überlieferung 61f. u.a.; cf. THEISSEN, Lokalkolorit 177f. 4 S. JEREMIAS, Abendmahlsworte 65ff. ; HAENCHEN, Weg 462; LINNEMANN, Passionsgeschichte 49; PESCH, Markus II 321; SCHMITHALS, Markus 588 uva. (cf. die Listen bei SCHENKE, Markus 14, 48 A4 und MOHR, Markuspassion 124 A27). Dagegen: εορτή heißt in aller Regel (s. BAUER, s.v.) und auch sonst bei Mk (15,6) »Fest «. Daß jede temporale Ubersetzung "an dem vorangehenden γάρ, das die Worte έν δόλψ (Mk 14,1) begründen will", scheitere (Jeremias ebd. 66), ist nicht zutreffend. Denn ebensogut (und m.E. viel wahrscheinlicher) kann sich dieses γάρ auf das μετά δύο ήμέρας beziehen, in welchem Fall die normale temporale Übersetzung die einzig sachgemäße ist; cf. auch die ähnliche Kritik von Schenke, ebd. 48. 5 S. dazu BJ II 12,1 (223-227); V 5,8 (238-247) sowie die Pilgerzahlenangaben in BJ II 14,3 (280); VI 9,3 (424f.) und bPes 74b, die freilich übertrieben sind (SAFRAI kommt nach Abwägung der einschlägigen Angaben in der talmudischen Literatur zu dem vorsichtigen Ergebnis, die durchschnittliche Pilgerzahl lasse sich kaum mehr ermitteln; es seien aber sicher "Zehntausende" gewesen (Wallfahrt 97)). Es hat mehrere Tage gedauert, bis derart große Menschenmengen an- und wieder abgereist waren (cf. BJ VI 5,3 (290)).

Der »Todesbeschluß«

229

(3) PB'oh- Sondertradition Die joh Szene 11,47-50.53.55.57*, deren redaktionelle Anteile nur schwer von den traditionellen abzuheben sind, wird häufig für im Kern historisch zutreffend gehalten. 6 In ihrer jetzigen Gestalt enthält sie eindeutig unhistorische Züge: Die Wendung άρχιερεύς του έιιιαυιου εκείνου setzt offenbar einen jährlichen Wechsel im Hohepriesteramt voraus 7 — die Hohepriester waren z.T. aber mehr als 15 Jahre im Amt; 8 die Erwähnung der Pharisäer ist hier (wie in 18,3) sekundär (s.o. 7.6.1). Als möglicher Kern bleiben die Befürchtung der Hohepriester (V.48) sowie der Rat des Kaiaphas (V.49f.) übrig, die beide historisch überaus einleuchtend klingen: Die jüdischen Repräsentanten befürchten einen Aufruhr in Jerusalem, der die Römer zum Eingreifen zwingen würde, und wollen lieber Jesus opfern als das ganze Volk. Trotzdem dürfte hier keine historische Erinnerung, sondern eine sekundäre, plausible Spekulation über die Motive der Hohepriester vorliegen. Denn: (1) Die Tradition fehlt im PB. Warum? (2) V.48 "looks like a retrospective formulation ... (that) may rather be a literary device stemming from the period around the Jewish-Roman war (and formulated with a certain inside knowledge of the problems) than a tradition based on actual events". 9 (3) Wer sollte den Christen derartige Interna aus einer Ratsversammlung überliefert haben?

6 Cf. etwa WINTER, Trial 56; MOHR, Markuspassion 128; BETZ, Prozeß 596ff. DODD, Prophecy 143 findet eine "source of information deriving from a very early Jewish Christian circle". BLINZLER schmückt die Szene mit belletristischen Mitteln aus: "Kaiphas aber, der kaltblütige Rechner und verschlagene Politiker, warf ihnen verächtlich mangelnden Scharfblick vor" etc. (Prozeß 84). 7 "Attempts to evade this implication I find more ingenious than convincing" (DODD, Prophecy 141 A3). Gegen SCHNACKENBURG, Johannes II 449f.; BROWN, John 440; BARRETT, John 406. 8 Cf. die Hohepriesterlisten bei SMALLWOOD, High Priests 31f. ; SCHÜRERVERMES II 229-232. Obwohl die römischen Präfekten bzw. Prokuratoren einige Hohepriester bereits nach sehr kurzer Zeit wieder absetzten, ist es — gegen BAMMEL, Consilium 39 — keinesfalls so, "that the high-priestly office had become such an annual office by this time". 9 BAMMEL, Consilium 24f.

230

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

2.2. Der Einzug nach Jerusalem Mk 11 1 (Και οίε έγγίζουσιν) εις "Ιεροσόλυμα 8 (πολλοί τά Ιμάτια αϋτων έστρωσαν εις την όδόν, όίλλοι δέ στιβάδας κόψαντες εκ των άγρων) 9 και έ'κραζον ωσαννά- ευλογημένος ό ερχόμενος εν ονόματι κυρίου 10

[ò βασιλεύς του 'Ισραήλ / ευλογημένη ή ερχόμενη βασιλεία του πατρός ημών Δαυίδ.3

7

(εύρών δέ) ô Ίησοΰς (πώλον) έκάθισεν έπ' αυτόν.

Joh 12 12 13

14

(1) PB Historisch gesichert ist: Jesus ist in Jerusalem gekreuzigt worden — folglich hat er zuvor die Stadt betreten. Zuverlässig ist zweifellos die (zu erschließende) Angabe des PB, Jesus sei dabei von einigen seiner μαθηταί begleitet worden. 10 Dann beginnen die Schwierigkeiten: Zwar gibt es einen Zusammenhang zwischen Ps 118,25f. und dem Paschafest, insofern als das Hallel, zu dem Ps 118 gehört, am Fest mehrfach rezitiert wurde; 11 aber nirgends ist belegt, daß die Festpilger beim Betreten der Stadt mit den Worten des Psalmverses begrüßt wurden. 12 Im übrigen zeigt der Nachsatz, daß die Zitation von Ps 118,26 im PB nicht liturgischen Zwecken, sondern der Begrüßung des Messias Israels dient. 13 Der vom PB geschilderte königlich-messianische Einzug Jesu in Jerusalem - mit Eselsritt, Kleiderausbreiten und Akklamation durch die Menge — ist aber nahezu sicher unhistorisch, und zwar in beiden

10 S.o. 7.6.2: Aufgrund der (postulierten) Umstellungen der PB-Szenen ist der Übergang zwischen Szene 1 und 2 jetzt sehr holprig. Daß Jünger Jesus begleiten, ist sowohl bei Mk (10,46) als auch bei Joh (12,4.16) impliziert. 11 Cf. MPes 9,3 u.ö. (weitere Belege bei BILLERBECK I 845ff.). 12 Zwar ist dies oder ähnliches häufig zu lesen: Die Festpilger würden üblicherweise beim Betreten der Stadt (oder des Tempels) mit Ps 118,26 begrüßt (so etwa GNILKA, Markus II 118; LÜHRMANN, Markus 189; PATSCH, Einzug 11 uva.) oder sie selbst würden beim Betreten des Tempels das Hallel singen (so BECKER, Johannes 443). Eine solche Behauptung ist hingegen aus den Quellen nicht zu belegen, sondern allenfalls aus "Form und Inhalt" des Psalmes zu erschließen (so - vorsichtig - SAFRAI, Wallfahrt 157f.). 13 Eine eschatologische Deutung von Ps 118,26 begegnet auch in dem (späten) Midr Ps 118 § 22 (s. BILLERBECK I 850; JEREMIAS, Abendmahlsworte 248; zur Datierung: STRACK-STEMBERGER 294f.). Daß dort jedoch vom königlichen Messias die Rede sei (so Jeremias, ebd. 248f. ; ihm folgend PATSCH, Einzug 17), ist falsch. S. den hebräischen Text: 'Π DtÖD KD Π 1Γ13 (ed. Buber, Wilna 1891, S. 488). Richtig, aber zu vorsichtig, BURGER, Davidssohn 49f..

Der Einzug nach Jerusalem

231

vorgeschlagenen Versionen: Weder wird Jesus einen königlich-messianischen Einzug bewußt inszeniert haben, 14 noch wird er von der Menge — unbeabsichtigt - als Messias Israels empfangen worden sein. 15 Die erste Möglichkeit kann mit Recht nur verteidigen, wer - wie Robert EISLER — eine eminent politische, zelotische Jesusinterpretation vertritt (was die Quellen verbieten), 16 denn ein unpolitischer königlicher Messias ist eine contradictio in adiecto. Man steht hier m.E. - trotz allem - vor einer klaren Alternative, kann nicht das Eine und das Andere haben: Entweder hat Jesus sich als königlicher Messias verstanden oder er hatte keine (im engeren Sinne) politischen Ambitionen. Die gängige Koppelung beider Sätze ist unmöglich.17 Der zweite oben skizzierte Versuch, einen messianischen Einzug historisch zu denken, geht an der Eigenaussage unserer Texte vorbei; denn sowohl im PB als auch bei Markus und Johannes ist das Besteigen des Esels ein bewußter »messianischer« Akt, d.h., alle Texte setzen voraus, daß Jesus sich als königlicher Messias gebärdet habe.18 In beiden genannten Fäl-

14 So — mit zelotischer Jesusinterpretation — etwa EISLER, II 469-475. 15 So - stellvertretend für viele - BLINZLER, Prozeß 74.309. Daß hier vom Einzug des königlichen Messias die Rede ist, ist — um sicherzugehen — aufgrund der Anspielung auf Sach 9,9, aufgrund von Mk ll.lOpar sowie der nachfolgenden mehrmaligen Rede vom »König der Juden« unzweifelhaft. 16 EISLERS Interpretation, die methodisch höchst problematisch ist, weil sie so etwas wie eine »kollektive Verschwörung« zwecks Vertuschung des »in Wahrheit« zelotischen Jesus nachzuweisen sucht (cf. sein Vorwort I, V: es handele sich um "nichts Geringeres als um einen Versuch, der geschichtlichen Erinnerung all das wieder ins BewuBtsein zu rufen, was eine durchgreifend wirksame Zensur seit der Zeit Konstantins d. Gr. systematisch aus der Uberlieferung zu tilgen versucht und tatsächlich fast ausgelöscht hat") und dementsprechend die entscheidenden Daten über z.T. groBe Umwege erst in die Quellen eintragen muB, wird zu Recht (fast) allgemein abgelehnt. Cf. repräsentativ etwa GNILKA, Markus II 121 mit dem wesentlichen Argument: "Die entscheidenden Daten muB Eisler aus der Phantasie ergänzen". Ähnliche Interpretationen wie Eisler vertreten CARMICHAEL, Death, zusammenfassend 133-182; BRANDON, Jesus 322-358; ders., Trial 140-150 (jeweils zusammenfassend); ders., Trial 1971; pass.; cf. um der Präzision willen auch dessen »Correction« in NTS 17 (1971), S. 453. 17 Cf. vorerst den »klassischen« Messias-Text PsSal 17 und die Interpretation von Mk 14,62 durch BLINZLER, Prozeß 157. Zur detaillierteren Analyse der einschlägigen Probleme s.u. II 2.5.1. 18 Man kann dieser Schwierigkeit nicht dadurch entgehen, daß man die Vermutung äußert, Jesus habe das Messiasbild seiner Zeit durch bewußten Anschluß an den »sanften« Messias von Sach 9,9 korrigieren wollen (so etwa KÜMMEL, Verheißung 110: Jesus wolle zeigen, daß er ein "Messias ohne Pracht sein will"), denn eine derartige Interpretation ist in jüdischer Auslegung (m.W.) nirgendwo zu belegen (cf. BILLERBECK I 842ff.). Zutreffend PATSCH, Einzug 19f.

232

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

len hätte darüber hinaus - wie bereits Erich KLOSTERMANN (Markus 112) zu Recht hervorgehoben hat -

der römische Präfekt sofort eingegriffen: Er

weilte ja zur Festzeit in Jerusalem und ließ, um Tumulte jeder Art sofort unterbinden zu können, seine Truppenkontingente in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen und bewaffnete Wachen um den Tempel 19 aufziehen (BJ II 12,1 (224); V 5,8 (244)). Fazit: "In the 'triumphal' entry Jesus is seen as what he later became, after Easter, the Davïdic Messiah." 20 (2) PB M k - Sondertradition PB

Mk

hat die Einzugsperikope durch die um Motive aus ISam 10 und Sach

9,9 kreisende, sichtlich legendäre Geschichte von der wunderbaren Findung des Eselsfohlens (ll,lb-7*) weitergehend ausgestaltet. Eine historische Interpretation dieser Legende verbietet sich von selbst. "Von Vermutungen, daß eine vorherige Verabredung Jesu mit den Besitzern des Esels zugrunde läge, ... darf man schweigen." 21

2.3. Das letzte Mahl samt Ankündigung der Auslieferung und der Petrusverleugnung Mk 14 18 19 20

(Kai δείπνου γινομένου)

Joh 13 2a

ό Ίησοϋς είπεν · άμήν λέγω ύμΐν δτι είς έξ ύμων παραδώσει με.

21

(έ'βλεπον εις αλλήλους οϊ μαθηταί άποροΰμενοι περί τίνος λέγει.)

22

(Ô δε εΐπεν αΰτοΤς· εις, ό) έμβαπτόμενος

26

(μετ' έμοΰ εις ιό τρΰβλιον). 29

ό (δε) Πέτρος εφη αϋτφ· (κύριε, την ψυχήν μου ϋπέρ οοϋ θήσω.)

37

30

(και λέγει αύτψ ό) Ίησοΰς- άμήν λέγω σοι (οΰ μή) αλέκτωρ φωνήση

38

(έ'ως ού) άπαρνήο^ με τρίς. (42

έγείρεσ&ε άγωμεν.

14,31c)

19 Nota bene, daß das östliche Haupttor zur Stadt allenfalls einige wenige Meter vom Tempelbezirk entfernt war! (cf. etwa die Karte bei BLINZLER, Prozeß 9 oder - etwas anders - bei DALMAN, Orte 289). 20 CATCHPOLE, entry 334. 21 KLOSTERMANN, Markus 113.

Das letzte Mahl

233

(1) PB Die historische Beurteilung der dritten Szene ist aus zwei Gründen schwierig: Sie hängt zum einen ab von der Beurteilung der »Auslieferung« (Szene 4) und der Petrusverleugnung (Szene 5); wer die Faktizität dieser Ereignisse bezweifelt, kann ihre Vorankündigungen schlecht für authentisch halten. Da es hier nicht um historisch falsifizierbare Fakten geht, 22 kommt zum anderen die jeweilige Grundposition der Exeget(inn)en stark zum Tragen. Wer etwa mit dem Grundsatz der »Instructio de histórica Evangeliorum veritate« der Päpstlichen Bibelkommission arbeitet, die 'miraculorum et prophetiarum possibilitas et existentia' solle nicht bestritten werden, 23 und Jesus also das präzise prophetische Vorherwissen der »Auslieferung« und der Petrusverleugnung zutraut, wird an der dritten Szene des PB historisch nichts auszusetzen haben. 24 M.E. sind beide Vorhersagen erst sekundär gebildet worden und also ohne historischen Wert. 2 5 Dafür spricht — von den allgemeinen Gründen einmal abgesehen - zunächst die Tatsache, daß beide Prophetien einen apologetischen Zweck erfüllen: Sie zeigen, daß Jesus nicht überrascht wurde, daß er freiwillig ins Leiden ging und dieses bewußt auf sich nahm. Beide Vorhersagen sind darüber hinaus literarisch notwendig: Sie schließen — was fur die Gemeinde von eminenter Bedeutung ist - die Möglichkeit aus, daß Jesus in Jerusalem unbeabsichtigt in eine Katastrophe geriet. Was das sogenannte »letzte Mahl« anbetrifft, so spricht selbstverständlich nichts gegen dessen Historizität. PB erwähnt auffälligerweise allerdings nur das »Daß« einer solchen Mahlzeit; sie dient ihm lediglich als äußerer Rahmen für die beiden genannten Jesusworte. Von einem Paschamahl fehlt jede Spur.

22 BRANDT, Geschichte 32f. hatte freilich von MBQ 7,7; bBQ 82b aus (wonach Hühnerzucht in Jerusalem verboten ist) auf die Ungeschicklichkeit der Petrusverleugnung (samt Ankündigung) geschlossen. Aber TBQ 8,10 (die Stelle war Brandt offensichtlich unbekannt, cf. ebd.) zeigt, daS man sich an dieses doch sehr theoretisch wirkende Verbot wahrscheinlich kaum je hielt (s. BILLERBECK I 992f.; cf. auch DALMAN, Orte 299 A9) - von hier aus kommt man also nicht weiter. 23 Text mit Übersetzung und Kommentar bei FITZMYER, Wahrheit, das Zitat ebd. 38. 24 So etwa TAYLOR, Mark 539. 548; MOHR, Markuspassion 184 (für die »Auslieferung«); BLINZLER, Prozeß 86 (ohne Diskussion). 25 So etwa auch BULTMANN, GST 284 (für Mk 14,18); FINEGAN, Überlieferung 66.69f.; GNILKA, Markus II 251 (für Mk 14,30) uva.

234

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes (2) PB Joh -Sondertradition

Wahrscheinlich in PB I o h 2 6 ist die kurze Ankündigung der »Auslieferung« auf viererlei Weise ergänzt worden: (1) Der »Auslieferer« wird identifiziert (V.26). (2) Ein Dialog zwischen Jesus und Judas wird eingefügt (V.26f.). (3) Der Satan wird für die Tat des Judas verantwortlich gemacht (V.27; cf. analog Lk 22,3f.). (4) Es wird erwähnt, daß Judas den Ort des gemeinsamen Mahles verlassen hat (V.30f.). In allen vier Fällen handelt es sich ersichtlich um s e kundäre Erläuterungen, Näherbestimmungen und Glättungen, denen keine historisch relevante Tradition zugrundeliegt.

2.4. Die Gefangennahme Mk 14

Joh 18

C26.32 (Kai) (Ίησοϋς) έξηλθεν (σύν τοις μαθηταΐς αύτου)

1)

(πέραν του χειμάρρου του Κεδρών οπου ?¡v κήπος). 43144

(Και παραγίνεται) "Ιούδας I 6 παραδιδούς αύτόν

2

43

(και μετ' αΰτοΰ) ( δ χ λ ο ς )

3

μετά (μαχαιρών)

και (ξύλων)

(παρά) των αρχιερέων και των (γραμματέων). 46

(οί δέ έπέβαλον τάς χείρας αύτψ) και (έκράτησαν) αύτόν.

12

47

(είς δέ ( τ ι ς ) των παρεστηκότων)

10

(σπαοάμενος την) μάχαιραν επαιοεν τον δοϋλον του άρχιερέως και (άφεΐλεν) αύτοΰ το ώτάριον. 50

(και αφέντες αύτόν έ'φυγον πάντες.)

8c

(1) PB Historisch unverdächtig ist die Angabe des PB, Jesus sei aus dem Kreise seiner Anhänger heraus jenseits des Kidron, d.h. außerhalb der Stadtmauern Jerusalems,

verhaftet worden. 2 7

Ebenfalls

kann

kaum

mit

hinreichenden

26 Zur Analyse cf. außer 7.6.3 auch 3.2.6.1. 27 Das gilt auch dann, wenn die o. (7.6.4) getroffene Entscheidung zugunsten der joh Lokalisierung nicht richtig sein sollte. Denn auch das Grundstück »Gethsemane« liegt nach Mk (14,26.32) jenseits des Kidron, nämlich am Olberg. Am Rande sei darauf hingewiesen, daß die übliche Rede von einem »Garten Gethsemane« im Neuen Testament keinen Anhalt hat, vielmehr auf einer sekundären Kombination der synoptischen und der johanneischen Angabe beruht: hier steht »Gethsemane« (als χωρίον = »Grundstück« bezeichnet), dort »Garten« (κήπος).

Die Gefangennahme

235

Gründen bezweifelt werden, daß einer seiner Anhänger, ein gewisser Judas, ihn auslieferte (nicht: »verriet«!). 28 Im letzten Jahrhundert und noch zu Anfang dieses Jahrhunderts war es nicht unüblich, die Gestalt des »Auslieferers« Judas für eine tendenziöse Fiktion zu erklären. 29 Diese Position stützte sich wesentlich auf die Nichterwähnung der Figur in den neutestamentlichen Briefen sowie in weiten Teilen der sonstigen frühchristlichen Literatur und auf die mögliche

Identifikation

»Judas« = »Jude«. Beide Argumente sind aber kaum durchschlagend. Zum einen: Wieviel evangelische Jesustraditionen finden wir auch in den Briefen? 3 0 Zum anderen: Natürlich kann der moderne Verdacht, die fingierte Gestalt des »Auslieferers« Judas sei hier eingefügt worden, um die »Schuld der Juden« am Tod Jesu szenisch in der Passionsgeschichte zu verankern, nicht zwingend von der Hand gewiesen werden. Dagegen sprechen aber doch vier starke Argumente: Erstens hat die "Auffassung, Judas sei nur ein Typus und keine unmittelbar historische Größe oder er repräsentiere jüdisches Wesen, ... in den ( m k ) Texten nicht den geringsten Anhalt." 31 Zweitens gibt es in den antiken polemischen Texten (m.W.) keinen Beleg für die Identifikation »Judas« = »Jude«. 32 Drittens war der Name »Judas« im ersten Jahrhundert in Palästina gängig. 33 Und viertens gilt es zu beachten, daß die Gestalt des 28 Es sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ποφαδιδόνοα nicht mit »verraten« übersetzt werden kann. S. BAUER, LIDDELL-SCOTT, jeweils s.v. ; cf. auch SCHLÄGER, Ungeschicklichkeit 53ff. Daß Bauer ebd. (1243) trotzdem vom »Verrat« des Judas spricht, ist m.E. nur wirkungsgeschichtlich erklärbar. 29 Cf. etwa SCHLÄGER, Ungeschicklichkeit pass., die von ihm ebd. 52f. genannten Autoren sowie KRAUSKOPF, Impressions 83; PLATH, Judaserzählungen, pass.; FEIGEL, Weissagungsbeweis 47-50. SCHMITHALS, Markus 600f. hält Judas zwar für eine historische Figur, verlegt seine Tat aber in die nachösterliche Gemeinde. 30 Man könnte in diesem speziellen Fall allenfalls darauf verweisen, daß bei Historizität der »Judasauslieferung« das Fehlen seines Namens in der alten Formel 1 Kor 11,23b ausgesprochen verwunderlich wäre. Hingegen ist die Jetztgestalt der Formel theologisch vielschichtiger und daher sachgemäßer; sie bezeichnet "den gesamten Vorgang der 'Auslieferung' und 'Hingabe'" (H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5 12 , Göttingen 21981, 240 A44). Der Schluß: wenn Judas eine historische Figur wäre, dann miißte er hier erwähnt werden, ist keineswegs zwingend. 31 GNILKA, Markus II 230. 32 Die antike antisemitische Literatur findet sich gesammelt und kommentiert bei CONZELMANN, Heiden, pass. 33 Cf. nur die Konkordanzen zum NT und zu Josephus, s.v. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß selbst PHILIPPSON Judas für eine historische Figur hält (Juden 44). Zur ausführlichen Diskussion des Judasproblems s. die Abhandlungen von VOGLER (Judas) und KLAUCK (Judas), jeweils pass. Bedenklich in die

236

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

Verräters' später zum Problem wird (s. etwa Orígenes, C. Celsum 2,12). Wer aber dieser Judas, der laut PB zum

engeren Kreis

der Anhänger

Jesu

gehörte, 3 4 war, aus welchen Gründen er Jesus auslieferte, was später aus ihm wurde (usw.), läßt sich leider nicht mehr erkennen. Alle diesbezügliche Versuche haben romanhaften Charakter. 35 Weiterhin historisch zuverlässig ist sehr wahrscheinlich die für die junge Christenheit wenig schmeichelhafte Notiz des ältesten Passionsberichtes, die Jünger hätten Jesus bei

dessen Verhaftung insgesamt

Schwierig ist hingegen

die Bestimmung

sprach

einfach

wahrscheinlich

Schriftgelehrten)

ausgesandten,

von mit

im Stich

der Identität der

einem

von

Schwertern

den und

gelassen.

»Häscher«:

Hohepriestern Hölzern

PB (und

bewaffneten

»Haufen«. Häufig vermutet man, darunter sei die Tempelwache zu verstehen. 3 6

Richtung einer Verbindung der Tat des Judas mit einer aus der Tradition des europäischen Antijudaismus stammenden Bestimmung »jüdischen Wesens« geht es m.E., wenn GAECHTER das Motiv für die Tat des Judas "ohne Zweifel" in dessen "Geldgier" erblickt (1956, 228). Auch BLINZLER durchschaut die (diffamierende) Absicht von Joh 12,6 nicht, wenn er zum Motiv der Tat des Judas feststellt: "Seine Geldgier, ... (Jo 12,6), mag mitgespielt haben, bildete aber sicher nicht das Hauptmotiv" (Prozeß 86). 34 Daß er zum Kreis der »Zwölf« gehört habe, sagt PB (sehr wahrscheinlich, s.o. 7.6.3) nicht. Das höchst umstrittene Problem der Existenz eines vorösterlichen Zwölferkreises und die Frage, ob Judas diesem gegebenenfalls zuzurechnen ist (so Mk 3,19; Joh 6,71 etc.), braucht an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Es sei aber darauf verwiesen, daß das Problem m.E. nicht anhand der Figur des »Judas« zu entscheiden ist, die vielmehr weder für einen vorösterlichen Zwölferkreis in Anspruch genommen werden kann (denn wenn Judas beim — intimen! — letzten Mahl zugegen war, dann mußte er, sobald die »Zwölf« ins Leben Jesu redatiert wurden, konsequenterweise dieser Gruppe zugerechnet werden; mit VIELHAUER, Gottesreich 71) noch gegen einen solchen (denn der Begriff der »Zwölf« in 1 Kor 15,5 könnte jedenfalls formelhaft verwendet sein; gegen Vielhauer, ebd. 69). 35 Cf. zu derartigen Versuchen das kurze Referat von BLINZLER, Prozeß 85f. Cf. u. II 3.4. 36 So etwa JEREMIAS, Jerusalem IIB 73; KLOSTERMANN, Markus 152 (vorsichtig); GNILKA, Markus II 272 (der allerdings grundlos und zur Verwirrung des Lesers zwischen »Tempelwache« und »Tempelpolizei« differenziert (unter Berufung auf BLINZLER, Prozeß 126-128, wo es aber gar nicht um die Tempelwache geht)); cf. Blinzler, ebd. 90. Ebenso, mit Bezug auf Joh 18,3: WINTER, Trial 61; HAENCHEN, Historie 59 (u.a.). Worauf die Exegeten diese Vermutung stützen, bleibt in den meisten Fällen unklar. Jeremias behauptet, die Tempelwache nehme unter anderem auch "Verhaftungen" und "Strafexpeditionen" vor (ebd.). Diese These stützt sich aber allein auf Lk 22,52 — eine redaktionelle Notiz (cf. FITZMYER, Luke 1447f.) von sehr zweifelhafter historischer Qualität.

Die Gefangennahme

237

Hingegen ist diese Annahme sicher verfehlt, da die Tempelwache — wie der Name sagt! — nach unseren Quellen ausschließlich für die Sicherung des Tempelbezirks zuständig war.37 Josef BLINZLER hat daher (in einer im einzelnen allerdings verworrenen und widersprüchlichen Argumentation)38 vorgeschlagen, hier sei wesentlich an die »Gerichtsdiener« (ύπηρέτοα; cf. Joh 18,3) des Jerusalemer Synhedriums gedacht (Prozeß 90.126-128). 39 Das ist sehr gut möglich, aber eben: es steht (wahrscheinlich) nicht da. Die Angabe des PB ist vielmehr völlig allgemein gehalten. Sie sagt de facto nichts über die Zusammensetzung der Jesus verhaftenden Gruppe, sondern lediglich etwas darüber, in wessen Auftrag diese handelte, nämlich im Auftrag der Hohepriester (und Schriftgelehrten). Allein darauf, auf die Benennung der für Jesu Verhaftung Verantwortlichen, kommt es dem ältesten Passionsbericht hier offenbar

37 Cf. 1 Chron 9,27; 26,12-19; Philo, de spec. leg. I 32 (156); BJ VI 5,3 (294); MMid 1,1-2; auch Acta 4,1; 5,24.26. Dazu SCHÜRER-VERMES, II 284ff. Ob man aus AJ XX 6,2 (131 ) schließen kann, daß sie ausnahmsweise auch anderweitig eingesetzt werden konnte (so BLINZLER, Prozeß 90), ist sehr fraglich; BJ V 6,3 (272f.) (angeführt ebd. A52) gibt überhaupt nichts her. 38 Er betont auf der einen Seite zu Recht, daß die Tempelwache "normalerweise nur innerhalb des Tempels" eingesetzt wurde und daher für die Verhaftung Jesu kaum in Frage komme (Prozeß 90; ebenso 126, hier sogar explizit gegen HAENCHEN, Historie 59), bestimmt dann aber doch die Jesus nach Joh 18,3 verhaftende σπείρα unter völliger Ignoranz seiner eigenen (!) Argumente als "ein mehr oder weniger großes Detachement der Tempelwache" (Prozeß 96). Der Widerspruch ist diametral. 39 S. zur Größe der »Gerichtsdiener« AJ IV 8,14 (214); TMak 5,12 (weitere Belege bei BILLERBECK I 290); Mk 14,54.65; wohl auch Joh 7,32.45f. u.ö. im NT. Uber die Aufgaben der Gerichtsdiener sind wir leider nur unzureichend informiert. Daß neben dem Strafvollzug auch Verhaftungen dazugehörten, wird zwar nur im NT berichtet, ist aber naheliegend; cf. SCHÜRER-VERMES, II 187Γ. Auch die Existenz von Gerichtsdienern des Jerusalemer Synhedriums ist außerhalb des NT nicht belegt (BAUERS Ausführungen (1679) sind vorschnell: die Belege BJ I 33,4 (655); AJ IV 3,1 (37); XVI 8,1 (232) sind nicht deutlich), kann wohl aber mit Recht a minore ad maius erschlossen werden (so BLINZLER, Prozeß 126f.). 40 Auch über die angegebene Bewaffnung der »Häscher« kommt man nicht weiter. Denn die Angabe, darunter seien auch Schwerter gewesen, weist nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit auf römische Soldaten (gegen WINTER, Prozeß 98; cf. ders., Trial 66). Dies aber nicht etwa deshalb, weil "jüdische Polizeiorgane ... mit Schwertern ... ausgerüstet sein konnten" (BLINZLER, Prozeß 92 A57; ebenso GNILKA, Markus II 272) — diese Angabe ist vielmehr völlig aus der Luft gegriffen! (der Verweis auf MSchab 6,4 (Blinzler ebd.) führt nicht weiter) —, sondern schlicht deshalb, weil wir über die Bewaffnung 'jüdischer Amtsdiener' nichts Nennenswertes wissen.

238

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

Nun bezeichnet unsere Quelle freilich eine Person aus der gegnerischen Gruppe genauer: ό δούλος του άρχιερέως, der »Sklave« bzw. »Knecht« des

Hohepriesters sei unter ihnen gewesen. Schön wäre es, könnten wir von dieser Person her auf die Identität der Verhaftenden schließen. Hingegen: das hier offenbar als Titel verwendete Syntagma ô δούλος του άρχιερέως — es han-

delt sich wohl um eine Analogiebildung zu dem bekannten Titel ó δούλος του βασιλέως (1 Kön 29,3; 4 Kön 5,6 LXX)41 - ist sonst nirgends belegt. 42 Wer mit dieser Bezeichnung gemeint ist — deutlich ist wiederum nur, in wessen Auftrag er handelt —, bleibt ebenso rätselhaft wie die gesamte Szene: Einer der Dabeistehenden (Wer? Einer der Jünger? CWaren die Jünger bewaffnet?) Einer aus dem δχλος?) schlägt dem »Knecht des Hohepriesters« ein Ohr ab; aber über eine Reaktion, sei es der Jünger, sei es Jesu, sei es des »Knechtes« oder des δχλος, wird merkwürdigerweise nichts berichtet. PB kommt es offenbar allein auf die Mitteilung der Aktion an. Der Zweck dieser Mitteilung ist ersichtlich: hier wird "mit einer gewissen Schadenfreude von der Strafe, die der Anführer ... empfing", berichtet. 43 Das Abschlagen des Ohres ist ein "symbolischer Akt ... (, der zeigen soll,) daß der Gegner eine verachtete Persönlichkeit (ist. Er soll) für immer das Zeichen der Schande an sich tragen." 44 Ist die Aktion vom PB hier aufgrund dieses ihres symbolischen Charakters eingefügt worden? Oder liegt ihr eine verstümmelte historische Reminiszenz zugrunde? Etwa die, daß "im Tumult aus Versehen einer der Häscher ... das Ohr abgeschnitten" hat? 4 5 Aber von einem Versehen ist in unserer Quelle

41 Weitere Beispiele bei BAUER, s.v. δούλος. Daß hier vielleicht Semitismus vorliege (KLOSTERMANN, Markus 152. 7) und einfach 'ein Sklave' zu übersetzen sei, ist m.E. ebenso eine Notlösung wie die Vermutung, der Artikel werde hier gesetzt, weil "der Erzähler eine gewisse Bekanntschaft des Lesers mit der Geschichte" voraussetze (BLINZLER, Prozeß 99 A78) — man vergleiche dagegen das unmittelbar vorausgehende, völlig unbestimmte »einer der Umstehenden usw.« (dazu s. gleich; die Behauptung, daß Petrus der Schwertschläger gewesen sei, ist nur unter Verkennung des sekundären Charakters dieser Namensgebung möglich). 42 Auch von »Sklaven« (bzw. »Dienern«) der Hohepriester im allgemeinen hören wir sonst (m.W.) nur in bPes 57a: ΠΚΠ DK Γ031Π (der Hohepriester) i m i i y i m^pQD (der von BAUER, s.v. angeführte Beleg AJ XX 8,8 (181 ) gehört nicht in unseren Zusammenhang). Zu der häufiger, vor allem im Zusammenhang mit der Musik im Tempel erwähnten Gruppe der »Priesterdiener« s. bSuk 51a; bAr IIa; bGit 12b. 13a u.ö. (weitere Belege bei KASOWSKY, s.v. JHID "TDU). 43 GNILKA, Markus II 270. 44 ROSTOVTZEFF, Ους 198 unter Verweis auf eine analoge Notiz in der Korrespondenz eines Dorfschreibers aus Tebtunis (Ägypten). 45 GNILKA, Markus II 270; ähnlich PESCH, Markus II 403.

Die Gefangennahme

239

nicht die Rede, die Aktion wird vielmehr als eine absichtsvolle dargestellt. Also müßte man schließen, daß der Täter "ein guter Fechter gewesen ist und daß er seine Tat mit Absicht vollzogen hat."46 Ist das wahrscheinlich? Und warum verhaftet man ihn dann nicht sogleich? Die Aporien zeigen, daß die erste, literarisch-symbolische Interpretation die bessere ist. 47 Die historische Beurteilung der zentralen Aussage der Darstellung des ältesten Passionsberichtes: Jesus sei auf Betreiben der Hohepriester (und Schriftgelehrten) verhaftet worden, hängt m.E. wesentlich von der Beurteilung der folgenden Szene (Hohepriesterverhör/Petrusverleugnung) ab. Waren tatsächlich die Hohepriester die treibenden Kräfte beim Vorgehen gegen Jesus, dann wird auch diese — prinzipiell problemlose — Angabe Vertrauen verdienen. Es fällt hingegen auf, daß alle historisch potentiell interessanten Angaben über die Verhaftung seltsam unbestimmt bleiben (δχλος, εις δέ (τις) τωυ παρεοτηχότων, ό δούλος). Insbesondere über die Frage, welchen Grund die Hohepriester gehabt haben sollten, Jesus gefangennehmen zu lassen, schweigt der älteste Passionsbericht.48 Angesichts dieser mangelnden Detailliertheit muß es m.E. offen bleiben, ob hier wirklich historische Erinnerung und nicht vielmehr eine sekundäre Rationalisierung vorliegt: Hat PB — wie den »Todesbeschluß« — auch die Identität der Verhaftenden aus den nachfolgend zu berichtenden Ereignissen erschlossen? 49

46 ROSTOVTZEFF, Οδς 197. 47 THEISSEN, Lokalkolorit 196-199 plädiert dafür, der Name des »Schwertschlägers« sei absichtlich verschwiegen worden, um die betreffende Person nicht zu gefährden ("Schutzanonymität"). Diese Interpretation scheitert m.E. bereits an den oben genannten Argumenten; sie basiert darüber hinaus auf der (m.E. unbeweisbaren) Lokalisierung der Fixierung der ältesten Passionstradition in Jerusalem (s.o. 7.9.2). 48 Es muB an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daB BLINZLER bei seinem Versuch, eine Antwort auf die Frage "Wie ist es dazu (zur Verhaftung Jesu) gekommen ?" (Prozeß 73) zu geben, beinahe durchgehend schlimme, tendenziöse Zerrbilder des Judentums zur Zeit Jesu zeichnet. Ich gebe einige wenige Beispiele: "die Feindschaft verhärtete sich zu tödlichem Haß" (73); 'gemeinsamer Kampf aller jüdischen Parteien gegen Jesus' (77); "erbitterte Gegnerschaft der Pharisäer" (ebd.); "Buchstabenreligion" (78); "im religiösen Formalismus erstarrte Scheinfrömmigkeit" (ebd.); "Machtgier, Profitgier und engherziger religiöser Fanatismus" (ebd.). 49 Gegen eine solche Vermutung kann — nebenbei bemerkt — nicht eingewandt werden, daB doch eine groBe Zahl von Augenzeugen die Szene beobachtet und historisch zuverlässige Tradition daher mit Sicherheit existiert habe. Denn: was wir vor uns haben, ist eben kein Augenzeugenbericht (und auch nicht die literarische Variation eines solchen); cf. CONZELMANN, Historie 38.

240

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

(2) PB Mk -Sondertradition PB hat (wahrscheinlich) die Darstellung der Verhaftung um die sprichwörtliche Szene des »Judaskusses« (V.44f.) erweitert. V.44, der die nötigen Informationen zum Verständnis von V.45 vorausschickt, ist erschlossen. Der Kuß selbst veranschaulicht "die Tatsache des schändlichsten Verrats in einem plastischen Vorgang".50 Es handelt sich hierbei zweifellos um ein novellistisches Motiv. Mk

(3) PBJoh-Sondertradition PBJoh _ oder erst der Evangelist selbst? - hat die sehr allgemeinen Angaben des PB präzisiert: Jesus wird nicht von einem οχλος verhaftet, sondern von »der« römischen Kohorte 51 und den im Auftrag der »Hohepriester und Pharisäer« handelnden jüdischen ύπηρέται (Joh 18,3). Beiden Angaben liegt schwerlich historisch wertvolle Tradition zugrunde. Eine Beteiligung der 600 bzw. 1.000 Mann starken απεΐρα (BJ III 4,2 (67)) an Jesu Verhaftung ist ausgeschlossen, vollends, daß Judas diese geleitet habe. 52 Eine Beteiligung jüdischer ύπηρέται ist zwar historisch möglich und — sollten die Hohepriester tatsächlich die treibenden Kräfte beim Vorgehen gegen Jesus gewesen sein (s.u. II 2.5) — sogar wahrscheinlich; hingegen zeigt die sekundäre Erwähnung der hier quasi als Behörde agierenden Pharisäer, 53 daß hier eine teils glückliche, teils unglückliche Historisierung vorliegt. Vollends legendär sind die Identifikationen des Schwertschlägers und seines Opfers in V.10 als »Simon Petrus« und »Malchus«.54

50 BULTMANN, GST 306. 51 Nochmals: BLINZLERS Deutung der σπείρα auf ein "Detachement der Tempelwache" (Prozeß 96) ist philologisch (s. BAUER, s.v.; cf. SCHÜRER-VERMES, I 372 A 8 6 ) völlig abwegig. Ahnliches gilt — allerdings in erheblich geringerem Maße — für die Ubersetzung »manipulus« (erwogen von BARRETT, John 518). 52 Zutreffend etwa BULTMANN, Johannes 493; HAENCHEN, Historie 58f. uva. WINTER sieht zwar die Unmöglichkeit der joh Darstellung klar, meint aber, die Tradition, daß römisches Militär bei der Verhaftung agiert habe, sei zuverlässig (Trial 61 A 4 . 6 4 ) ; ebenso BRUCE, Trial 9; J.A.T. ROBINSON, Priority 240; SCHÜRER-VERMES, I 372 A 8 6 : die Bezeichnung der Truppe als »Kohorte« sei "clearly an exaggeration". Aber eine solche Analyse ist methodisch problematisch, da sie an der Eigenaussage des Textes vorbeigeht (cf. auch u. II 3.1 mit A 9). 53 Cf. HAENCHEN, Historie 59. 54 BLINZLER, Prozeß 92 A 5 7 . 9 8 f . u.ö. hält beide Angaben ohne Diskussion (!) für historisch. Nach allem, was sich über die Tendenz der Entwicklung der synoptischen Tradition ausmachen läßt (s. nur etwa BULTMANN, GST 337ff.), ist diese Annahme ohne Zweifel falsch; auch gegen D O D D , Historical Tradition 79f., der sich mangels (s.E.) klarer Evidenz nicht entscheidet.

Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung

241

2.5. Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung Mk 14

Joh 18

53 Kai άπήγαγον I τον Ίησοΰν I προς (του αρχιερέα)

13 112 I

54 (και ό) Πέτρος ήκολοΰθηοεν (αύτψ) εις τήν αύλήν του άρχιερέως. (Kai f¡v) (συγκαθήμενος) (μετά) τών υπηρετών

15 18

και θερμαινόμενος (προς τό φως). 60 ό (οδν) άρχιερεύς έπηρώτηοεν τον Ίησοΰν

(λέγων·)

19

61 (σύ εΓ ό χριστός;) 62 (ό δέ) Ίηοοϋς (εΐπεν·) (εγώ είμι)

20

65 (και) οί ϋπηρέται ραπίομασιν (αύτό\ι έ'λαβον).

22

66 (Και οντος του) Πέτρου (κάτω έν τξ αύλη)

25

(ερχεται μία των) παιδισκών

17

67 (καί ίδοΰοα) τον Πέτρον I θερμαινόμενον (αύτψ) λέγει· (μή) και ού (έκ των μαθητών) εί τοΰ (ανθρώπου τούτου);

I 25 17

68 λέγει (έκεΤνος· οϋκ ειμί). 69 (καί ή) (παιδίσκη) (ηρξατο πάλιν) λέγειν (οτι οδτος) έξ (αύτών) έστιν.

25

70 (ό δέ πάλιν) ήρνεΐτο. (καί) (πάλιν) (οϊ παρεοτώτες) Ι'λεγον· (αληθώς έξ αύτών εί). 71 (πάλιν οδν ήρνήσατο Πέτρος)

26 27

72 καί ευθύς αλέκτωρ έφώνησεν. (1) PB Was für die markinische und die johanneische Fassung der Petrusverleugnung weithin anerkannt ist, gilt auch für PB: Deutlich ist, daß hier eine novellistisch ausgestaltete Szene vorliegt, die in ihrer Jetztgestalt keinen Anspruch auf historische Zuverlässigkeit erheben kann. 55 Vor allem die — literarisch ursprüngliche - Dreigliedrigkeit 56 wirkt kunstvoll stilisiert. Interessant ist allein die Frage, ob der Überlieferung von der Verleugnung Jesu durch Petrus

55 Cf. nur DIBELIUS, FdE 218; LIETZMANN, Prozeß 5; GNILKA, Markus II 295; ERNST, Verleugnung 47 und alle Autor(inn)en, die die Szene für unhistorisch halten, etwa KLEIN, Verleugnung, pass.; LINNEMANN, Passionsgeschichte 71-103. 56 Es ist nicht möglich, die Szene auf eine traditionelle Verleugnung zu reduzieren; gegen SCHENK, PB 223.228 (dort mit weitergehenden, m.E. unmöglichen Vermutungen); auch gegen MYLLYKOSKI, Letzte Tage 111, der zwei Verleugnungen für ursprünglich hält. Zutreffend etwa KLEIN, Verleugnung 73; GNILKA, Markus II 290; ERNST, Verleugnung 48 uva.

242

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

ein historischer Kern zugrundeliegt oder nicht. Beide Positionen werden jeweils von einer Vielzahl von Exeget(inn)en vertreten. 5 7 Geht man — unter Berücksichtigung der literarischen Stilisierung — vom Text des PB aus, so ist historisch gegen

die S z e n e nichts

einzuwenden: 58

Die Hohepriester residierten in Jerusalem. Die Angabe, das Haus des Hohepriesters (cf. BJ II 17,6 (426): οικία) habe einen »Hof« (αυλή) gehabt, ist glaubhaft. Gleiches gilt für die Präsenz der ϋπηρέται (dazu s.o. II 2.4). Die Angabe, man habe sich am Feuer gewärmt, ist ob der üblichen

(Nacht-)

Temperaturen in Jerusalem zur Paschazeit unverdächtig. Auch dagegen, daß Petrus Jesus nachgefolgt und im Hof des Hohepriesters (mehrmals) auf seine Zugehörigkeit zur Jesusgruppe angesprochen worden sei, kann kaum etwas eingewandt werden. 5 9 Die Datierung der Petrusverleugnung auf die Nachtzeit ist schließlich durch den Kontext des PB (Mk 15,1/Joh 18,28: πρωί) und vielleicht auch durch Mk 14,54; Joh 18,18.25 klar bezeugt -

der Hahnenschrei

freilich dürfte sich erbaulicher Stilisierung verdanken, und von παιδίσκαι des Hohepriesters hören wir sonst nie. 6 0 Für den -

im wesentlichen -

histori-

schen Charakter der Petrusverleugnung läßt sich darüber hinaus anfuhren, daß

57 Ich spare mir eine lange Auflistung und verweise exemplarisch auf PESCH, Verleugnung (pass.) auf der einen und KLEIN, Verleugnung (pass.) auf der anderen Seite. Interessant ist, daß beide »Parteien« offenbar die jeweils entgegengesetzte Position als die dominierende empfinden; s. Klein, ebd. 49f.; ERNST, Verleugnung 43-47. 58 KLEINS (Verleugnung, pass.) Haupteinwände gegen die Historizität (des Kerns) der Petrusverleugnung sind literarkritischer bzw. überlieferungsgeschichtlicher Art. In allen relevanten Fällen habe ich mich anders entschieden: (l) Die Petrusverleugnung ist m.E. kein 'isolierbarer Komplex' (58f.; hier 59), sondern ein integraler Bestandteil des ältesten Passionsberichtes. (2) In Lk 22,31f. (ebd. 61-65) scheinen mir nur die V.31.32a traditionell zu sein (s.o. 4.6.1); das Gegenargument, das sei 'schon wegen' der formalen Struktur des Satzes unwahrscheinlich (65), schlägt nicht durch. (3) Mk 14,30 (ebd. 71f.) scheint mir durchaus ein sekundäres vaticinium ex eventu zu sein (s.o. II 2.3). (4) Daß sich schließlich "kein Grund denken läßt, warum überhaupt die Dreigliedrigkeit dem Verleugnungskomplex sekundär zugewachsen sein sollte" (73), ist nicht richtig: Verantwortlich dafür ist das vor allem im Mk-Ev häufiger anzutreffende volkstümliche Strukturprinzip der TRegel-de-tri' (cf. etwa die drei Leidensweissagungen und die Gethsemane-Szene; bei Joh etwa die dreimalige Unschuldserklärung Jesu durch Pilatus, usw.). 59 Offen bleibt im PB freilich — wie noch bei Mk (14,67; etwas anders 14,70) —, woher man Petrus kannte. Erst Joh 18,26 schafft hier Klarheit. 60 Der Begriff ποαδίοχη fällt bei Josephus überhaupt nur zweimal, häufig zwar in LXX und bT (vor allem ΠΠΏΕ)), aber nie im Zusammenhang mit den Hohepriestern (bGit 58a gehört nicht hierhin).

Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung

243

die Szene völlig aus dem Rahmen des ältesten Passionsberichtes fällt: Weder erzählt sie von Jesus noch ist sie für den Fortgang der Handlung von irgendeiner Bedeutung. Schließlich gelingt der gegenteilige Nachweis nicht: "das Motiv ..., das zur Erfindung der Verleugnungstraditionen geführt hat", läßt sich nicht aufweisen. 61 Trifft diese Beurteilung zu, so ergibt sich, daß Petrus sich nach der Flucht der Jünger tatsächlich noch einmal in die Nähe Jesu gewagt hat. Ein anderes Bild ergibt sich, sobald man die - nur hypothetisch zu ermittelnde - Darstellung des nachfolgenden Verhörs durch den Hohepriester analysiert. Zwar kann nicht wirklich etwas dagegen eingewandt werden, daß der amtierende Hohepriester das Verhör persönlich vorgenommen hat (cf. etwa AJ XX 9,1 (200); C. Apionem II 23 (194)), und Gleiches gilt trotz der alttestamentlichen Formulierung (ραπίσματα; cf. Jes 50,6) auch für die Aussage, die ύπηρέται hätten Jesus geschlagen (cf. etwa BJ VI 5,3 (302)). Aber das Zentrum der Verhörsszene, die Frage des Hohepriesters σύ εΐ ò χριστός62 und Jesu Antwort εγώ είμι ist — nach allem, was über die Bedeutung des Titels (königlicher) »Messias« in Palästina zur Zeit Jesu noch ausgemacht werden kann - historisch undenkbar. Jesus hätte auf eine solche Frage unmöglich mit einem klaren »Ja, ich bin es« antworten können, wenn anders das gängige, (im engen Sinn) unpolitische Jesusbild nicht völlig falsch ist. Denn der »königliche Messias«, von dem hier zweifelsfrei die Rede ist — im Kontext des PB findet sich mehrmals der eindeutig synonyme Titel ó βασιλεύς

61 LINNEMANNS Vorschlag, Mk 14,30 sei älter und "novellistisches und paränetisches Interesse" habe dann dazu geführt, die Verleugnung auch zu erzählen (Passionsgeschichte 85; das obige Zitat ebd. 80), ist ein unzumutbarer "Geniestreich" (SCHMITHALS, Markus 657) - 14,30 ist ohne 14,54.66-72 nicht l e bensfähig. Gleiches gilt für den Vorschlag KLEINS, die dreifache Verleugnung reflektiere einen dreifachen nachösterlichen Positionswechsel Petrus' (Verleugnung 74-90), der zu Recht weithin abgelehnt wird: "Wer hätte ernstlich diese Standortwechsel, falls sie überhaupt so vorliegen, als (Verleugnung) gedeutet?" (GNILKA, Markus II 294; cf. auch Linnemann, ebd. 71f. 103-108; ERNST, Verleugnung 44f.). Auch die Einsicht, daB Petrus hier als der 'exemplarische Jünger stellvertretend für viele Jünger in ein trübes Licht gerückt wird" (Schmithals, ebd.), führt nicht weiter. 62 Ob das in Mk 14,61 hierauf folgende »der Sohn des Hochgelobten« im PB eine Basis hatte, ist aufgrund der starken joh Überarbeitung der Szene praktisch nicht zu entscheiden (s.o 7.6.5). Ich behandele es hier unter II 2.5.2. Seine Originalität würde an der folgenden historischen Analyse nichts ändern.

244

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

των 'Ιουδαίων —,63 ist in der Regel 6 4 eine eminent (national-) politische

Figur:

Er herrscht über Israel, richtet die zwölf Stämme, besiegt deren Feinde, reinigt Jerusalem von den Heiden, usw. Zu vergleichen ist dazu insbesondere der »klassische« Text, der wahrscheinlich zu Beginn der römischen Ära in Palästina entstandene 6 5 PsSal 17, vor allem die Verse 21-31 (22 ... του θραΰσαι αρχοντας άδικους, καθαρίσαι Ιερουσαλήμ άπό έθνων ...; 24 έν ράβδψ οιδηρφ ουντρΤψαι πασαν ύποστάσιν αυτών, όλεθρεΰσαι εθνη παράνομα ...; 26 ... κρίνει φυλάς λαοΟ ...). Analoge Aussagen liber den davidischen Gesalbten finden sich in Qumran, so in CD VII, 20; lQSb V, 20-29 (über den m y n iCtDl) 66 und in 4QpJes a fr 10,17-21 (über den TTT (rra^)), 6 7 besonders • ^ t ô i o · ? DDÎÔ*? ΓΟΩ^ρΠ

eindrücklich in lQSb V,27f.:

ICD ' ΠΚΊΠ D""DD •'•(DV D1Q1D1 ... " 0 DD ΓΟΙΓ)

("Mögest du stoßen wie ein Jung(stier und niedertreten die Völjker wie den Kot

der

Straßen.

Denn

Gott

hat

dich

erhoben

zum

Szepter

über

die

63 Die überaus gängige Sicht, wonach die Fragen des Hohepriesters und des Pilatus strikt auseinanderzuhalten seien, weil dazwischen eine bewußte Verfälschung der Anklage seitens der jüdischen Oberen stattgefunden habe (so etwa BLINZLER, Prozeß 448; REICHRATH, Prozess 148; MOHR, Markuspassion 344; LOHFINK, Tag 47 uva.), ist unhaltbar, da (l) die Begriffe 6 Χριστός und 6 βασιλεύς των 'Ιουδαίων im PB und in den kanonischen Evangelien bedeutungsgleich verwendet werden, und da (2) Jesus beide Fragen zustimmend beantwortet (wenn auch die letztere mit gewissem Vorbehalt; s. dazu o. 7.6.6). 64 Es kann und soll im folgenden nicht darum gehen, die ganze Bedeutungsvielfalt des Begriffes 'königlicher Messias' darzulegen (s. dazu zuletzt die ausführliche Analyse von KARRER, Gesalbter, pass.). In unserem Zusammenhang von Interesse ist allein die gängige, im ersten Jahrhundert in Palästina meistverbreitete Vorstellung (s. dazu HORSLEY, Messianic Movements, pass.), um die es bei der Kommunikation zwischen Jesus und dem Hohepriester selbstverständlich gegangen wäre, sofern nicht einer von beiden eine spezielle Deutung des Begriffes vorgenommen hätte. Und eben davon berichten unsere Quellen nichts; Jesus antwortet vielmehr schlicht und einfach "Ja" und trägt eben nicht eine "creative interpretation" (de JONGE, Use 117) des Begriffes 'königlicher Messias' vor. 65 So HOLM-NIELSEN, 58; SCHÜRER-VERMES, II 503; CHARLESWORTH II, 640f. (R.B. WRIGHT). 66 KARRER meint, man könne hierbei "entgegen einer weitverbreiteten Forschungstendenz nicht von einem direkten messianischen Text sprechen" (Gesalbter 249), weil die spezifische Begrifflichkeit (Salbung, König) fehle. Hingegen ist vom unmittelbaren Kontext her (lQSb V,21: Π*71!Λ 1QV ITID*7Ö ¡Τρη 1 ?) und im Gesamtzusammenhang der qumranischen Messiaskonzeption (cf. etwa 1QS IX,11; 4QFlor 1,11; CD VII,18-21 und dazu van der WOUDE, Vorstellungen, pass.) völlig klar, daß hier mit dem terminus ÌCtDl der königliche, davidische Messias bezeichnet wird, wie es i.ü. bereits bei Ezechiel geschieht (s. etwa 34,24 und 37,24f., wo 'mein Knecht David' abwechselnd 1*7D und ÌCtDl heißt; cf. auch u. A 71 zu Bar Kosiba). 67 Text in DJD V 14.

Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung

245

Herrscher"). 68 Ähnliche, allerdings weniger pointierte und z.T. dunkle Aussagen finden sich in vorchristlicher Zeit auch in den Sibyllinen, so (sehr wahrscheinlich) in 3,46-50, vielleicht auch in 3,652-656 69 und bei Philo, de praem. 1 6 (95-97). Zu vergleichen ist schließlich die messianische Erwartung in der nach 70 n.Chr. entstandenen 5. Sibylle (5,155-160.414-421).70 Dieser inhaltlichen Bestimmung des Begriffs »königlicher Messias« entsprechen die historischen Daten: Nach Ausweis von pTaan 4,8 (68d, 50 (ed. Krotoschin)) hat Rabbi Aqiba keinen anderen als eben den militärischen Anfuhrer des zweiten großen jüdischen Aufstandes gegen Rom in Palästina (132-135), den sich selbst offiziell als *7Κ"ΐί£Γ SOÍül bezeichnenden Simon bar Kosiba 71 für den »König Messias« (ΚΓΡ10Ω KD1?Q) gehalten. Josephus berichtet von einer Reihe von Königsprätendenten, die allesamt mit militärischer Macht gegen ihre Gegner vorgegangen sind: So fällt der Sklave Simon, der von seinen Leuten zum König ausgerufen wurde (καί τίνος πλήθους ουοτάνιος και αυτός βασιλεύς αναγγελθείς, AJ XVII 274), im Kampf mit dem römischen Infanteriekommandanten Gratus (BJ II 4,2 (57-59); AJ XVII 10,6 (273-277)). Ebenso beansprucht der Hirte Athronges die Königsherrschaft (BJ II 4,3 (60-65); AJ XVII 10,7 (278-284)), d.h. er müht sich in erster Linie darum, Römer und M ä n n e r d e s H e r o d e s zu töten (το κτείνειν αύτοΐς προηγούμενου ην 'Ρωμαίους τε

και τούς βασιλικούς, BJ II 62). Menachem schließlich, der Sohn Judas des Galiläers, zieht bewaffnet und wie ein richtiger König (οία δη βασιλεύς) mit seinen Leuten in Jerusalem ein und führt dort den Aufstand gegen Rom an (BJ II 17,8-9 (433-448)). Daß es sich bei einigen oder gar all diesen Königsprätendenten auch um Λ/ess/asprätendenten gehandelt hat, sagt Josephus zwar nicht. Es ist gleichwohl ausgesprochen wahrscheinlich: "Da Josephus sich über die messianische Hoffnung seines Volkes fast völlig ausschweigt, darf man von ihm bei der Beschreibung messianischer Prätendenten kaum mehr erwarten

68 Text nach DJD I 128, Übersetzung nach LOHSE, 60f. 69 J.J. COLLINS (in CHARLESWORTH I, 354.376) bezweifelt die gängige (s. etwa V. NIKIPROWETZKY, La troisième Sibylle, Paris/La Haye 1970, S. 322f.; SCHÜRER-VERMES, II 501) messianische Deutung dieser Passage. Die Entscheidung hängt daran, ob man απ' ήελίοιο βασιλέα mit »König von Osten« oder aber mit »König von der Sonne« übersetzt. In letzterem Fall würde sich das Orakel auf einen ägyptischen König beziehen (s. Collins, ebd.). 70 S. dazu HENGEL, Messianische Hoffnung, pass., insbesondere 668-679. 71 Zur Namensform und Selbstbezeichnung s. SCHÜRER-VERMES, I 543ff.; die Originaldokumente in DJD II 122-133.159-163. Zu den Titeln Bar Kosibas und den mit seinem Auftreten verbundenen messianischen Implikationen s. SCHAFER, Bar Kokhba 55-73.

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Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

als die Hervorhebung ihres Strebens nach königlicher Wurde." 72 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang insbesondere 7 3 die Passage BJ VI 5,4 (312f.): Hier betont Josephus, der Hauptgrund für den Krieg sei ein zweideutiges, in den Heiligen Schriften zu findendes Orakel gewesen, wonach zu jener Zeit 'einer aus dem jüdischen Land die Welt beherrschen werde' (το δ' έπαραν αυτούς (= οί Ιουδαίοι) μάλιστα προς του πόλεμου ?¡v χρησμός αμφίβολος ομοίως έν τοις ίεροΐς εύρημένος γράμμααιν, ώς κατά τον καιρόν εκείνον άπό της χώρας αύτων τις οίρξει της οικουμένης). Diese bewußt allgemein gehaltene Bemerkung — das Orakel bezog sich nach Josephus' Meinung ja auf den römischen Kaiser Vespasian (cf. Tacitus, Hist. V 13,2; Sueton, Vespasian 4,5) — bezieht sich mit Sicherheit auf die Erwartung eines königlichen Messias im jüdischen Volk. 7 4 Wiederum ist deutlich, was man im ersten Jahrhundert in Palästina in der Regel vom NrPtÖD KD*7Q erwartete. Zusammenfassend muß daher - trotz der in neuerer Zeit vermehrt geäußerten Kritik an diesem traditionellen Bild - 7 5

festgehalten werden: Mit der

72 HENGEL, Zeloten 300. Ebenso urteilt HORSLEY, es habe sich bei den genannten Gruppen um 'messianic movements' gehandelt (Messianic Movements, pass.); Simon, Athronges usw. seien "popular messiahs" gewesen (Bandits 39). Dagegen jetzt KARRER, Gesalbter 144-146 mit dem keineswegs überzeugenden argumentum e silentio des Fehlens von Namen und Salbungsmotivik auf den während des Krieges von den Aufständischen geprägten Münzen. Skeptisch urteilt allerdings auch de JONGE, Josephus 216f. 73 Cf. zu einem möglichen Messiasanspruch von Menachem, dem Sohn Judas des Galiläers, auch die Passage über einen Messiasprätendenten (ΝΓΡΪ0Ώ KD*7Q) namens Menachem ben Hiskia in pBer 5a, 13-26 (ed. Krotoschin). Sofern Judas der Galiläer mit Judas ben Hiskia (BJ II 4,1 (56)) identisch und Menachem demnach ein (Sohn des Judas) Sohn des Hiskia gewesen sein sollte (dafUr etwa SCHÜRER-VERMES, I 381; HENGEL, Zeloten 337ff.; dagegen THACKERAY in der LCL-Ausgabe, A zu BJ II 8,1 (118); de JONGE, Josephus 217; HORSLEY, Bandits 39f.), enthielte die Jeruschalmipassage wahrscheinlich eine — getrübte — Erinnerung an dessen Messiasanspruch. S. dazu GRESSMANN, Messias 458-462; Hengel, ebd. 300-302 (anders de Jonge, ebd. 216; KARRER, Gesalbter 145 A243, die allerdings auf die Tatsache, daß pBer 5a ein Patronym überliefert, nicht eingehen). 74 Wiederum (cf. o. A 66) preßt KARRER den Wortlaut des Textes zu sehr, wenn er festhält, das Orakel sei "nicht im strengen Sinne messianisch", weil es den Titel des Herrschers offenlasse (Gesalbter 142); denn die Offenheit der Formulierung ist eben die notwendige Voraussetzung für die Deutung des Orakels auf Vespasian. 75 S. dazu vor allem BERGER, Messiastraditionen; ders., Messianität; MUSSNER, Messias; KARRER, Gesalbter, jeweils pass.; auch de JONGE, Use, pass, sowie SANDERS, Jesus 295. So richtig der Verweis auf die Bedeutungsvielfalt der termini ΓΡΙΰΩ/χριστός im allgemeinen ist, so wenig kann doch im speziellen

Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung

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Gestalt des »königlichen Messias« verbinden sich "in erster Linie die politischen und nationalen Gedanken"; 76 "in general, the Messiah was thought of as an earthly king and ruler". 77 Betrachtet man die Messiasfrage des Hohepriesters und die uneingeschränkt zustimmende Antwort Jesu auf diesem ihrem religionsgeschichtlichen Hintergrund, dann wird - die Gültigkeit des gängigen, (im engen Sinn) unpolitischen Jesusbildes vorausgesetzt - deutlich, daß hier keine historische Tradition vorliegen kann. Wer — wie eine Fülle von Exegeten —78 das Gegenteil behauptet, muß erklären, wie es zugehen kann, daß Jesus die Frage trotz seines "unpolitischen Sendungsanspruch(s)" 7 9 mit einem klaren έγώ ειμί beantwortet. Josef BLINZLER hat sich um eine solche Klärung bemüht. Seine Ausführungen seien hier aufgrund der zentralen Bedeutung des Problems etwas ausführlicher zitiert. Er schreibt: "Jesus hat es nach den synoptischen Evangelien während seines ganzen Wirkens vermieden, sich öffentlich als Messias zu bezeichnen. Seine Zurückhaltung hatte ihren Grund deutlich darin, daß er die nationalpolitischen Messiashoffnungen seiner Zeitgenossen nicht entfachen wollte. Jetzt, da er seinen Auftrag in Kürze erfüllt weiß, in Gegenwart der legitimen, wenn auch ungläubigen (!) und unwürdigen (!) Führer seines Volkes, zögert er nicht, die klar gestellte Frage nach seiner Messianität klar zu beantworten: »Ich bin es« (Mk 14,62). Zwar hatte seine Messiasidee mit der des Judentums so gut wie nichts gemein (!!). Aber der Hohepriester hatte nicht nach irgendeiner inhaltlich bestimmten Messiasidee gefragt, sondern bloß danach, ob Jesus der verheißene Messias zu sein vorgebe (!!). Und diese prinzipielle Frage zu ignorieren oder gar zu verneinen, bestand für Jesus, der sich als den Erfüller der messianischen Weissagungen wußte, kein Anlaß" (Prozeß 156f.). Es dürfte kaum nötig sein, auf die Absurdität dieser Darstellung hinzuweisen. 80 Blinzlers

Fall des königlichen Messias, von dem in unserem Text zweifelsfrei die Rede ist, die SachgemäBheit der traditionellen Sicht bestritten werden. 76 VOLZ, 173. 77 SCHÜRER-VERMES, II 519. Zum Gesamten s. BOUSSET-GRESSMANN, 222-232; GRESSMANN, Messias pass.; MOORE, Judaism II 323-376; VOLZ, 173-186; Schürer-Vermes, II 488-554; ThWNT IX, 500-518 (M. de JONGE; A. S. van der WOUDE). 78 Von den neueren Arbeiten seien genannt: BLINZLER, Prozeß 156ff; PESCH, Markus II 436ff.; STROBEL, Stunde 69ff.; MOHR, Markuspassion 427; BETZ, Prozeß 633f.; STUHLMACHER, Jesus 283. 79 So - repräsentativ - STROBEL, Stunde 70. 80 Welchen Sinn hat die Frage des Hohepriesters, wenn er mit dem Begriff »Messias« 'inhaltlich' nichts verbindet, vielmehr nur ganz 'prinzipiell' fragt ? Natürlich keinen. Und anderenfalls: Warum klärt Jesus ihn nicht vor Beantwortung

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Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

Sätze leben ersichtlich von der rein rhetorischen Trennung zwischen dem Wort »Messias« und dessen traditionellem Sinn; das Wort ist hier zur inhaltsleeren Hülse verkommen, die der Jude jüdisch, der »Christ« aber christlich füllt. 81 An dieser Stelle aber widerlegt die Interpretation sich selbst: denn die spezifisch christliche Füllung des Begriffes ist ein Produkt des Osterglaubens: Χριστός άπέθανεν

ύπέρ των αμαρτιών ημών ... και

... ετάφη και

... έγήγερται

(1 Kor 15,3f.). Fassen wir zusammen: Die PB-Darstellung der Petrusverleugnung verdient (m.E.) im wesentlichen historisches Vertrauen, die des Hohepriesterverhörs im entscheidenden Punkt nicht. Wie ist dieses eigenartige Phänomen zu erklären? Zwei Möglichkeiten stehen zur Disposition. Entweder - ad malam partem interpretiert — ist die ganze Verhörsszene unhistorisch. Dafür ließe sich anführen, daß der entscheidende Teil des Verhörs kein Vertrauen verdient und von daher hinreichend Grund zu der Annahme besteht, dieses Urteil treffe auf die ganze Szene zu. Dies um so mehr, als das »Schlagen« Jesu aus Jes 50,6 erschlossen sein könnte und die Christen später zweifellos den Hohepriester (und nicht irgendeine untergeordnete Person) als Gegenüber eingeführt hätten - die alles entscheidende Sache Jesu muß selbstverständlich auf allerhöchster Ebene verhandelt werden. 82 Die Motive, die zur Bildung der »Jetztgestalt« der Verhörsszene geführt haben könnten, ließen sich also problemlos aufweisen. Oder - ad bonam partem interpretiert - Petrus hat als (entfernter) Augenzeuge gesehen, daß Jesus im Hof (!)83 mit dem Hohepriester konfrontiert und später geschlagen wurde, und lediglich die Messiasfrage

der Frage über sein unterschiedliches Vorverständnis, seine 'unjüdische Messiasidee' (War Jesus Christ?) auf? 81 PESCH, Markus II 438 hält dafür, Jesus habe mit der Fortführung seiner Antwort in Mk 14,62 "die in der Frage des Hohenpriesters implizierte Messiasvorstellung" korrigiert (ähnlich viele andere). Dieses Urteil hat hingegen — von dem nahezu sicher (PB Mlc oder mk) redaktionellen Charakter von V.62b einmal ganz abgesehen — am Text keinen Anhalt. 82 Die Nicht-Nennung des Namens des Hohepriesters kann m.E. nicht gegen (aber auch nicht für !) die Historizität der PB-Identifikation des Verhörenden ins Feld geführt werden, da sie völlig ambivalent ist (s. dazu o. 7.9.2). 83 Der übliche Einwand gegen eine (entfernte) Augenzeugenschaft des Petrus (cf. schon LIETZMANN, Prozeß 5: Petrus, der im Hof ist, kann "von der Verhandlung nichts gehört haben und einen anderen Zeugen sehen wir nicht") fällt im Falle von PB aus, da das Verhör hier nicht im Inneren des »Palastes« stattfindet (was bei Mk und noch mehr bei Joh ja auch nur erschlossen werden kann), sondern im Hof: die ύπηρέτοα schlagen Jesus unmittelbar nach seiner Antwort, er befindet sich also am selben Ort wie sie, nämlich im Hof.

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Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung

samt Antwort ist sekundär in die Szene eingetragen worden. Argumentiert man - wie die vorliegende Untersuchung - im Falle des ältesten Passionsberichtes im Zweifel pro tradito, d.h. nimmt man die Historizität der Szene der Verleugnung Jesu durch Petrus samt der ihr inhärenten topographischen Angaben ernst, dann ist diese Interpretation trotz der genannten Bedenken vorzuziehen. Es ist ersichtlich, daß der Petrusverleugnung eine Schlüsselfunktion bei der Beurteilung der Frage zukommt, ob Juden am Vorgehen gegen Jesus beteiligt waren. Wenn Jesus tatsächlich in den Hof des Hauses des Hohepriesters geführt und dort verhört wurde, dann wird auch die per se fragwürdige Angabe des PB Vertrauen verdienen, die Verhaftung sei im Auftrag jüdischer Repräsentanten vorgenommen .

.



worden (s.o. II 2.4). Wenn nicht, dann bleibt auch dies unsicher. Nach der hier vorgetragenen Analyse kann — bei allen Unsicherheiten im einzelnen — davon ausgegangen werden, daß jüdische Instanzen in der Tat an der Verhaftung und am weiteren Vorgehen gegen Jesus beteiligt waren. Um seine Messianität ging es bei dem Verhör im Hof des Hauses des Hohepriesters allerdings sicher nicht.

(2) PBMk-Sondertradition Exkurs: Das Jerusalemer Synhedrium Das Problem der Bestimmung der Identität des 'Jerusalemer Synhedriums' zur Zeit Jesu ist notorisch: Die diesbezüglichen Angaben der rabbinischen und der griechischen Quellen (Neues Testament, Josephus) widersprechen sich derart, daß ein Ausgleich unmöglich ist. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß beide Gruppen von Quellen — vor allem aber die rabbinische Literatur — auch in sich keineswegs eindeutig sind (s. dazu die umfangreichen Monographien von BÜCHLER, Synedrion; HOENIG, Sanhédrin und MANTEL, Studies, jeweils pass, sowie ZEITLIN, Crucifixion, 334-347; ders., Synedrion, pass.; SCHÜRER-VERMES II 199-226; RIVKIN, Beth Din, pass; SANDERS, Jesus 312-317; ders., Judaism 4 7 2 - 4 8 8 ; GOODMAN, Ruling Class 112-116). Cum grano salis ergibt sich folgendes Bild: In den rabbinischen Quellen erscheint das Sanhédrin ("?tÖ Γ 7 ΓΡΙ1; V r u n Γ 7 ΓΡ3; ("ΤΠΝ1 CTVDtÜ *71Ü; ¡fTTU) Γ"ΠΠ10) ("ΤΠΚ1 •''VDtÜ) (die tannaitischen Belege bei Hoenig, ebd. 145f.) als eine in religiösen Fragen gesetzgebende und rechtsprechende Instanz, die sich ausschließlich aus pharisäisch gebildeten Schriftgelehrten zusammensetzt und der die beiden jeweiligen Schuloberhäuptern - die ΓΓΟΙΤ, der Κ'•tül und der Γ 7 ΓΓ3 3 Κ (MChag 2,2) - Vorsitzen. In den griechischen Quellen hingegen erscheint das Synhedrium primär als ein politisches Organ, das vom jeweiligen Hohepriester angeführt wird und die

84 Ich setze hier aus Gründen der Darstellung bereits die historische Beurteilung der Barabbas-Szene voraus, s. dazu u. II 2.6.

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Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

oberste juristische Instanz in Judäa darstellt (cf. AJ XIV 9,3-5 (165-179); XX 9,1 (200); Mk 14,53ff. par; Acta 5,21ff.; 23,Iff. u.ö.). A. Büchler hat aufgrund dieses eigentümlichen Sachverhalts geschlossen, hier sei nicht von ein- und demselben, vielmehr von zwei zu unterscheidenden Synhedria, einem primär religiösen und einem primär politischen, die Rede (ebd. 33-48; ähnlich Zeitlin, ebd.; Mantel, ebd. 54-101; Rivkin, ebd.). Hingegen gibt es zum einen "no valid reason to distinguish with Büchler between ρΤΤΠΙΟ and συνέδριον", und zum anderen ist die Hypothese der Existenz des in der talmudischen Literatur beschriebenen 'Sanhédrins' vor 70 "far from being solidly established" (Schürer-Vermes II 208). Man wird daher trotz allem davon ausgehen müssen, daß es nicht zwei 'große' Jerusalemer Synhedria zur Zeit Jesu gegeben hat und muß also hinsichtlich der Gewichtung der Quellen eine Entscheidung treffen. Diese Entscheidung kann — gegen Hoenig — nach Lage der Dinge nur zugunsten des weitgehend übereinstimmenden Zeugnisses des Josephus und der neutestamentlichen Autoren ausfallen: Die rabbinische Überlieferung ist literarisch jünger und steht allzusehr in dem Verdacht, die Verhältnisse des zweiten Jahrhunderts in die Zeit vor 70 zurückprojiziert zu haben (so auch Schürer-Vermes II 210-218; Goodman, ebd. 113 uva.). Was nun die neuerdings in verstärktem Maße aufgeworfene Frage anbetrifft, ob es sich bei dem vom amtierenden Hohepriester angeführten Jerusalemer Synhedrium tatsächlich um eine regelrechte politische Institution gehandelt habe (so die übliche Sicht) oder nicht vielmehr nur um ein je und je vom Hohepriester einberufenes beratendes consilium (so Goodman, ebd. 114: "I suggest ... that the Sanhédrin was not a regular political council at all, that it met only at the request of the High Priest as his advisory body"; ähnlich Rivkin, ebd.; McLAREN, Power 213-223; Sanders, Judaism ebd.), so ist kaum eine hinreichend sichere Entscheidung zu treffen. Die Texte sprechen von einem Jerusalemer 'Synhedrium' das eine Mal mit (Mk 14,53ff.; Acta 5,21ff.; 23,Iff.; AJ XIV 9,3-5 (165-179); cf. auch Mt 5,22), das andere Mal ohne Artikel (AJ XX 9,1 (200); Joh 11,47; cf. auch AJ XX 9,6 (216) und die Parallele zu AJ XIV 9,3-5 in BJ I 10,6f. (108-111), wo (noch?) keine Rede von 'dem Synhedrium' ist) und erwecken hie den Eindruck einer festen Institution, da den eines ad hoc vom Hohepriester zusammengerufenen Gremiums. Goodmans These hat den großen Vorteil, daß sie erklären kann, warum die Terminologie der Quellen so uneinheitlich ist (neben συνεδριον beziehen sich folgende Termini offenbar auf dieselbe Institution: γερουσία (z.B. Acta 5,21); βουλή (?) (z.B. BJ II 15,6 (331)); πρεσβυτέριον (z.B. Lk 22,66)) und warum nichts über die Umstände der Ernennung einer Person zu einem Mitglied des Synhedriums bekannt ist. Sie deckt sich darüber hinaus mit Josephus' Beschreibung der jüdischen Staatsform nach dem Tode des Archelaus (6. n.Chr.) als einer 'Aristokratie' unter der Führung der Hohepriester (AJ XX 10,5 (251): μετά δε τήν τούτων (= Herodes und Archelaus) τελευτήν αριστοκρατία μέν ην ή πολιτεία, τήν δέ προστασίαν του έ'θνους οί αρχιερείς έπεπίστευντο; cf. die analogen Aussagen in C. Apionem II 21 (187). 23 (194)). In jedem Fall sollte die tatsächliche Vorherrschaft des Hohepriesters in 'dem' bzw. 'seinem' Synhedrium nicht länger bezweifelt werden: Die gegenteilige summarische

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Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung

Angabe des Josephus in AJ XVIII 1,4 (17) wird durch die tatsächlichen Ereignisse nicht gedeckt und steht daher im Verdacht, eine Rückprojektion zu sein; it "clashes with his own history, as well as with his other summaries assigning governance to the priests" (Sanders, Jesus 410 A 71; cf. zum Problem des politischen Einflusses der Pharisäer im ersten Jahrhundert auch den Forschungsiiberblick von GOODBLATT, Pharisees, pass.). W a h r s c h e i n l i c h in P B M k ist das k u r z e V e r h ö r im Hof z u e i n e r

Gerichtsver-

h a n d l u n g ' d e s ' J e r u s a l e m e r S y n h e d r i u m s a u s g e b a u t w o r d e n , die — s o m u ß m a n schließen nächtliche

— im

Inneren

des

Hauses

Synhedriumsverhandlung

des

gilt

Hohepriesters

häufig

als

stattfindet.

mindestens

im

Diese Kern

h i s t o r i s c h . 8 5 E i n e s o l c h e I n t e r p r e t a t i o n ist a b e r a u s e i n e r Vielzahl von G r ü n d e n s i c h e r unmöglich. (1) D a s Z e n t r u m d e r S z e n e , die M e s s i a s f r a g e d e s H o h e p r i e s t e r s s a m t J e s u z u s t i m m e n d e r A n t w o r t ist -

w i e gezeigt -

sicher unhistorisch, wenn

anders

m a n k e i n e im w e i t e r e n Sinn » z e l o t i s c h e « J e s u s i n t e r p r e t a t i o n p r o p a g i e r e n Will. Zutreffend ist zwar der Verweis darauf, daß das alte Argument, die Verbindung des Titels »Messias« mit dem Titel »Sohn des Hochgelobten« sei in palästinischjüdischem Kontext schlechthin unmöglich, nach Auffindung des Fragmentes 4Q 246 86

in dieser Absolutheit vielleicht nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Hingegen kann das Fragment die These der Historizität der zweiteiligen Hohepriesterfrage keinesfalls stützen. Denn weder ist hier vom Messias die Rede noch sind die für den 'Sohn Gottes' verwendeten termini ( i r ^ y - q / ^ n r r a ) identisch mit denen aus Mk 14,61 — ein aramäisches Äquivalent zu der bislang als singular geltenden Wendung δ υιός του εύλογητοϋ ist vielmehr auch in 4Q 246 nicht belegt. Was schließlich Jesu zustimmende Antwort auf die zweiteilige Frage des Hohepriesters anbetrifft, so beachte man einmal den Kontext der gern zitierten Passage 4Q 246 11,1; dort heißt es von der als »Sohn Gottes« und »Sohn des Höchsten« bezeichneten Figur, sie werde (zusammen mit einer anderen, ebenfalls unidentifizierten Person) l l t f T K"7D1 K i D N 3 "7V fD^O"· (l)->JÜ (II,2) »(einige) Jahre ... über die Erde herrschen und alles zertreten« (!). Der Autor erwartet vom »Sohn des Höchsten« offenbar also militärische Aktionen. Wiederum ist überdeutlich: J e sus hätte — die Gültigkeit des gängigen Jesusbildes vorausgesetzt — eine Frage wie συ εΐ ό χριστός ó υιός του εύλογητοϋ unmöglich zustimmend beantworten können, da er sich damit zur Rolle eines militärischen Befreiers bekannt hätte. Mk 14,61f. ist eine interpretatio Christiana.87

85 So von BLINZLER, Prozeß 156ff.; PESCH, Markus II 436ff.; STROBEL, Stunde 69ff.; BETZ, Prozeß 633f.; SCHUBERT, Biblical Criticism 401f. u.a. 86 Cf. zu dem traditionellen Argument nur LIETZMANN, Prozeß 6 uva. S. zu 4Q 246 die kurze Besprechung durch FITZMYER, Contribution 391-394 und jetzt die Edition von PUECH, 4Q246, pass. 87 So — mit sehr vielen anderen — GNILKA, Verhandlungen 15; zustimmend auch

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(2) Die PB M k -Darstelhing der Synhedriumsverhandlung verstößt in jeder Hinsicht gegen die in der Mischna überlieferten einschlägigen ProzeßvorSchriften. Genannt seien nur die wichtigsten Abweichungen: (a) Die Verhandlung findet an einem hohen Festtag statt; 88 nach MBetsa 5,2 sind Gerichtsverhandlungen an Festtagen verboten, (b) Sie findet zur Nachtzeit statt; nach MSanh 4,1 müssen Prozesse zur Tageszeit stattfinden oder wenigstens beginnen. (c) Sie findet (offenbar) im Haus des Hohepriesters statt; nach MSanh 10,2 (11,2); Mid 5,4 trifft sich das Synhedrium in der ΓΓΠΠ rDÖ1? = »Halle beim Xystos«. 89 (d) Sie beginnt mit der Anklage; im Falle eines Kapitalprozesses 9 0 muß die Verhandlung nach MSanh 4,1 mit der Verteidigung beginnen, (e) Das Todesurteil wird sofort verkündet; nach MSanh 4,1 durften Todesurteile erst einen Tag nach der Verhandlung verkündet werden. Die Diskrepanz könnte stärker nicht sein. Freilich ist eine Argumentation mit den genannten Rechtsvorschriften mit erheblichen Problemen belastet. Dies vor allem deshalb, 91 weil die Gültigkeit mischnischer Rechtssätze vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 bekanntlich prinzipiell problematisch ist. Die Berechtigung des hier vorgetragenen Arguments wird daher immer wieder bestritten. (a) Josef BLINZLER hat die Gültigkeit der mischnischen Rechtsvorschriften vor 70 grundsätzlich bestritten 9 2 und die wirkungskräftige These aufgestellt, zur Zeit Jesu habe nicht das milde mischnisch-pharisäische, sondern allein das sich ausschließlich an der Schrift orientierende, im Urteil härtere (AJ

STROBEL, Stunde 74. Eine historische Analyse von V.62b, der das christolosche Kompendium' (CONZELMANN, Theologie 109) vervollständigt, erübrigt sich. Es sei aber nochmals darauf hingewiesen, daß die Behauptung, V.62b korrigiere "die in der Frage des Hohenpriesters implizierte Messiasvorstellung" (PESCH, Markus II 438, u.ö.), am Text keinen Anhalt hat. 88 Mk 14,12-16 ist PB Mk zuzurechnen (s.o. 6.2); ergo ergibt sich Tür PB Mk ebenso wie für das Mk-Ev eine Datierung der Verhandlung auf die Paschanacht. 89 So die überzeugende Identifizierung von SCHÜRER II 265; cf. auch THACKERAYS Anmerkung zu BJ V 4,2 (144) in der LCL-Ausgabe. 90 Die Frage, ob in PB Mk von einem KapitalprozeB die Rede war, hängt an der (schwierigen) Beurteilung von V.64. Ich behandele das Todesurteil im folgenden probeweise als (PB M k -) traditionell. 91 Die Tatsache, daß die zitierten Vorschriften nach MSanh 4-5 für die »kleinen« Synhedria gelten, ihre Gültigkeit aber nicht explizit für das »große« Jerusalemer Synhedrium behauptet wird, fällt kaum ins Gewicht, da darauf a minore ad maius geschlossen werden kann; zutreffend SCHÜRER-VERMES II 225f. 92 Vorangegangen sind ihm darin z.B. DANBY, Rabbinical Criminal Code, pass.; MOORE, Judaism II 187 A 5 u.a. Zum Problem s. NEUSNER, Use, pass.

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XIII 10,6 (294.297)) sadduzäische Strafrecht Gültigkeit gehabt (Synedrium, pass.; Prozeß 216-229). Dazu: Fraglos läßt sich etwa anhand von bSanh 52b; TSanh 9,11; MSanh 7,2 aufweisen, daß eine Reihe mischnischer Rechtsbestimmungen vor 70 noch nicht in Geltung war - die hier erwähnte Verbrennung einer Priestertochter gemäß Lev 21,9 widerspricht dem 'humaneren' Grundsatz in MSanh 7,2. Die Existenz eines spezifischen, allein maßgebenden sadduzäischen Rechtskodex ist hingegen nicht nachweisbar, auch nicht anhand von MegTaan 10.93 Umgekehrt ist vielmehr ebenso fraglos, daß es auch mischnische Rechtsvorschriften gibt, die tatsächlich bereits vor 70 Geltung hatten: Mindestens MMak 3,10 diff Dtn 25,3 ist nach Ausweis von 2 Kor 11,24 ein Beleg dafür — die von Paulus genannte Zahl von 39 Schlägen entspricht der Mischna, widerspricht aber der Dtn-Bestimmung. 94 D.h.: das Problem der Gültigkeit der mischnischen Rechtsbestimmungen vor 70 kann nicht in prinzipieller Weise gelöst werden; vielmehr muß in jedem einzelnen Fall eine spezifische Entscheidung getroffen werden. Es ist also zu fragen: Ist es wahrscheinlich, daß eine Verhandlung des/eines Jerusalemer Synhedriums sich in den Grundzügen nach solchen Vorschriften richtete, wie sie in MSanh 4-5; Mid 5,4; Betsa 5,2 überliefert sind? Werden die Angaben der Mischna durch ältere Quellen zum Teil bestätigt? Die Antwort auf diese Frage kann aus folgenden zwei Gründen nur lauten: Ja. (α) Die Angabe von MMid 5,4 (usw.), wonach sich das Sanhédrin in der ΓΓΠΠ nntü*7 traf, wird - sofern man SCHÜRER-VERMES' (II 223-225) überzeugender Interpretation folgt 95 — von den Angaben des Josephus über die Lage

93 In MegTaan 10 (ed. B.Z. Lurie, Jerusalem 1964) wird von der Abschaffung eines »Buches der Verordnungen« (ΚΓΓΡΠ ~©0) berichtet; BLINZLER schließt — wie bereits der spätere Kommentator der Fastenrolle -, damit sei ein sadduzäischer Strafkodex gemeint, das Ereignis sei auf das Jahr 66 zu datieren (Prozeß 226f.). Aber MegTaan 10 kann die Beweislast nicht tragen, da — wie so häufig in diesem Kalender (cf. MOORE, Judaism I 160: "the reference is f r e quently impenetrably obscure") — völlig unklar ist, was hier mit dem ΧΓΓΡΠ ~©0 gemeint ist. Bereits der Kommentator stellt darüber lediglich eine Vermutung an: "It is a critical error to take (the author's) learned combinations for tradition" (Moore, ebd.; positiv aufgenommen von WINTER, Trial 101 ). 94 Auf diese Ubereinstimmung (und andere) hat ABRAHAMS, Tannaite Tradition 136 verwiesen. BLINZLERS Antikritik (Prozeß 222) kann keinesfalls Uberzeugen: der hebräische Text von Dtn 25,3 ist vollkommen klar verständlich (s. die alten Übersetzungen); es bedarf der rabbinischen Interpretationsmethode, um von hier aus auf die Zahl 39 zu kommen. 95 Danach ist der terminus am besten mit 'Halle neben dem Xystos' zu übersetzen und die Tradition vom Umzug' in die ΠΤΏΠ (bSchab 15a u.ö.) historisch wertlos.

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der βουλή vollauf bestätigt (BJ V 4,2 (144)). (ß) Das Verbot einer Verhandlung an einem Festtag bzw. einem Sabbat in MBetsa 5,2 wird in seinem zweiten Teil bereits von Philo und Josephus erwähnt: Nach Philo, Migr. Abr. 16 (91) ist die Rechtsprechung (δικάζει) am Sabbat verboten; Josephus teilt ein Edikt des Augustus mit, wonach Juden am Sabbat und am Freitag nach 15 Uhr von der Verpflichtung befreit sind, vor Gericht zu erscheinen (έγγύας τε μή όμολογεΤν αυτούς 96 ε\ι οάββασιν η τη προ αύτη ς παρασκευή ornò ωρας ενάτης; AJ XV 6,2 (163)). Es ist ausgesprochen wahrscheinlich, daß für den Paschafeiertag, der dem Sabbat an Bedeutung nur wenig bzw. gar nicht nachstand, 97 sehr ähnliche, wenn nicht gar dieselben Grundsätze galten. Es ist daher festzuhalten, daß BLINZLERS These, die mischnische Tradition lasse keine Rückschlüsse auf die Situation vor 70 zu, faktisch sei keine der in der Mischna bezeugten Rechtsbestimmungen für ein sadduzäisch geprägtes Synhedrium verbindlich gewesen, historisch schwerlich aufrechtzuerhalten ist. 98 Eine strikte Entgegensetzung: hie das überaus strenge sadduzäische, da das übertrieben milde pharisäisch-rabbinische Recht, ist nicht sachgemäß. 99 SCHÜRER-VERMES resümieren daher zurecht: "although it is impossible to demonstrate that these (mishnaic) procedural rules correspond on every point to those observed before A.D. 70, they are unlikely to be the inventions pure and simple by the Tannaim. The reasonable assumption is that trials before the Great Sanhédrin were conducted on similar or identical lines" (II 225f.). (b) August STROBEL (Stunde 81-92) hat die These aufgestellt, das auf dem Hintergrund der mischnischen Rechtsbestimmungen auf den ersten Blick unverständliche Vorgehen des Synhedriums habe seinen Grund darin gehabt, daß

96 MARCUS (LCL) übersetzt: "need not give bond (to appear in court)". 97 Cf. nur etwa 1 Makk 10,34, wo Demetrios I. den Juden an allen 'Festen, Sabbaten, Neumonden und Feiertagen Steuerfreiheit zugesteht, oder AJ XIII 8,4 (252), wonach die Sabbatbestimmung, nur 2000 Ellen gehen zu dürfen, auch am Fest (έν τ§ έορτζ) gilt. 98 Ähnliche Einwände müssen jetzt auch gegen SANDERS geltend gemacht werden, der — aus ganz anderen Gründen — die mischnischen Rechtsbestimmungen ebenfalls vollständig aus der Diskussion ausschließen will: "The gospel accounts do present problems, but disagreement with the Mishnah is not one of them" (Judaism 487). Doch!, denn die Mischna gibt in einigen Punkten sehr wahrscheinlich schlicht älteres Recht wieder (s.o. und cf. ebd. 465f.). 99 Zur Kritik an BLINZLERS These s. auch LOHSE, Prozeß 33f. und STROBEL, Stunde 48-61. Beide weisen zurecht darauf hin, da£ das für Blinzlers Argumentation zentrale argumentum e silentio, die Sadduzäer hätten all das für rechtmäßig gehalten, was in der Tora nicht explizit verboten ist, nicht aufrechtzuerhalten ist.

Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung

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Jesus als rPOQ (= »Verführer«) angeklagt und verurteilt worden ist (cf. Mt 27,63; Joh 7,12.47; Justin, dial. 69,7 u.ö.). Die Tatsache, daß nach TSanh 10,11 in einem solchen Fall aufgrund der Schwere des Vergehens gewisse Verstöße gegen die übliche Verfahrensordnung zulässig waren, erkläre "die sog. Irregularitäten im Prozeß Jesu" (ebd. 85).100 Dagegen: (α) Die These, Jesus sei als »Mesit« verurteilt worden, hat in den Passionsberichten aller neutestamentlichen Evangelien nicht den geringsten Anhalt. Nirgendwo wird ihm der Vorwurf gemacht, er habe Israel zum Götzendienst verführt - das ist nach MSanh 7,10 das schlimme Vergehen des »Mesit« - , vielmehr der ganz andere, er habe sich dazu bekannt, der χριστός (usw.) zu sein, (ß) Uns ist weiter kein Ereignis aus dem Leben Jesu bekannt, das den Vorwurf der Verführung zum Götzendienst rechtfertigen könnte. Strobels Schluß, die Tatsache, daß ein solcher später von jüdischer Seite gegen das Christentum erhoben wurde, lasse "zwingend auf einen gleichen Rechtszusammenhang schließen" (ebd. 87 A 231), ist verfehlt, weil erst das Christentum nach jüdischer Sicht einen 'fremden Gott' verehrt, nämlich - Jesus (cf. Joh 20,28: ό κύριος μου και ό θεός μου).101 (γ) Die These ermangelt darüber hinaus auch deshalb einer tragfähigen Basis, weil wir keine Belege dafür haben, daß der Begriff des »Verführers« in neutestamentlicher Zeit "ohne Zweifel" längst juristisch definiert war (ebd. 84). (δ) Schließlich ist die Behauptung der juristischen Gültigkeit der fraglichen, MSanh 7,10 zitierenden und kommentierenden Tosefta-Bestimmung für die Zeit Jesu schon aus ganz allgemeinen Gründen höchst problematisch. (c) Rudolf PESCH setzt die Kritik, die einschlägigen mischnischen Bestimmungen widersprächen der Historizität des geschilderten Verfahrens gegen Jesus, durch folgendes Argument außer Kraft: "Es genügt nicht, die gesetzlichen Bestimmungen, die Sitzungen am Sabbat und an Festtagen verboten, in Rechnung zu ziehen; auch die konkrete Lage der jüdischen Behörde, die mit Aufruhr rechnen mußte, muß in Anschlag gebracht werden" (Markus II, 415 A 47). Im folgenden rekurriert er auf diese 'konkrete Lage der jüdischen Be-

100 Ähnlich — offenbar ohne Kenntnis von Strobels These — auch HILL, Sanhédrin 179-185. 101 Cf. die analoge Kritik von SCHNEIDER, Verfahren 124f. Die hier benannte Kluft überspringt auch F. MUSSNER (ThR 84 (1988), Sp. 353-360) in seiner Rezension zu QD 112 (genaue Literaturangabe unter Blank, Johannespassion), wenn er nicht zwischen einem (angeblichen) Bekenntnis Jesu, der »Sohn Gottes« zu sein, und der ausgebildeten christlichen Trinitätslehre differenziert (358): nur wenn man das ομοούσιος des Nicaenums mitdenkt, hat der Begriff »Sohn Gottes« für jüdische Ohren etwas mit Götzendienst zu tun.

256

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

hörde' immer dann, wenn es gilt, eine Irregularität zu erklären: die jüdische Behörde habe "in ihrer Lage" nur sofort handeln können (416); die Angaben (Paschanacht; Haus des Hohepriesters) seien, "nimmt man den »Zugzwang« der jüdischen Behörde ernst, glaubwürdig" (ebd.); die "faktische Situation der jüdischen Behörde" dürfe (bei der Diskussion um die Kompetenzen des Synhedriums) "nicht außer acht bleiben" (418). Die Funktion dieses Einwandes im Rahmen der Argumentation zeigt an, was hier passiert: Hier wird der individuelle Fall des Verfahrens gegen Jesus programmatisch isoliert, die historische Kritik durch Immunisierung des Gegenstandes aus den Angeln gehoben. Folgt sie Pesch, kann die historische Kritik an dieser Stelle ihre Arbeit aufgeben. (d) Schließlich muß noch kurz auf die Art und Weise der Lösung des Problems durch Otto BETZ aufmerksam gemacht werden. Ihm zufolge hatte sich im Haus des Hohepriesters "nur ein kleinerer Kreis von Ratsmitgliedern zum nächtlichen Verhör eingefunden, während die Vollversammlung am folgenden Morgen tagte, und zwar im offiziellen Verhandlungsraum auf dem Tempelberg; Markus 14,53-55 sind in diesem Sinne zu korrigieren (!!)" (Prozeß 629). Hier wird — das muß so deutlich gesagt werden - der Text vor der Analyse den Interessen des Auslegers entsprechend gemaßregelt.102 (3) Obwohl das Ergebnis der historischen Analyse damit längst feststeht, sei als ein drittes und letztes Argument gegen die Historizität der von PBMk geschilderten Synhedriumsverhandlung schließlich noch folgende Tatsache angeführt: Geht man trotz allem einmal probeweise von der historischen Zuverlässigkeit der Darstellung von Mk 14,55-64* aus, kann nicht geklärt werden, worin denn die todeswürdige »Blasphemie« Jesu bestanden haben soll.103

102 Die Rasanz dieses Schlusses ist umso erstaunlicher, als BETZ in derselben Abhandlung auf das entschiedenste gegen eine "Vivisektion" der Texte protestiert und eine Interpretation des Textes als Einheit fordert (623). Ein ähnlicher Schluß findet sich i.ü. auch bei STROBEL, wenn er feststellt, in Mk 14,60ff. sei "nämlich in Wahrheit nicht das Haus des Hohenpriesters, sondern der Versammlungsort des Synhedriums vorgestellt" (Stunde 13). 103 Die Frage, ob das in seiner ursprünglichen Form allerdings kaum mehr rekonstruierbare sog. »Tempelwort« (Mk 14,58; s.o. 7.4.2) ein echtes Jesuswort sei, wird hier nicht diskutiert, da es (l) nach mk Darstellung keine Rolle im Verfahren gegen Jesus gespielt hat, weil es ein Falschzeugnis war, und da (2) nach allem bisher Gesagten außer Frage steht, daß Mk (bzw. P B M k ) keine zuverlässige Tradition über eine Synhedriumverhandlung besaß, d.h. das »Tempelwort« hier ohne Zweifel sekundär eingedrungen ist — sei es nun echt (so etwa THEISSEN, Tempelweissagung 144f.; SCHLOSSER, parole 409-413) oder nicht (so zuletzt entschieden SAUER, Rückkehr 449-455).

Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung

257

In Frage kämen nach Mk 14,61f.: Jesu Messiasbekenntnis, sein Bekenntnis zur Gottessohnschaft oder sein Menschensohn-Wort. Jede dieser Möglichkeiten wird von einer Reihe von Exegeten vertreten. 104 Keine läßt sich aus den Quellen belegen. Zwar hat man versucht zu zeigen, daß die in MSanh 7,5 vorliegende Bestimmung, wonach Blasphemie allein dann vorliege, wenn der Gottesname ausgesprochen wird, zur Zeit Jesu keine Geltung hatte, der Begriff der Gotteslästerung vielmehr erst von der nachchristlichen jüdischen Halacha' so eng gefaßt worden sei. 105 Aber die Behauptung, »Blasphemie« sei seinerzeit "ein sehr dehnbarer Begriff' gewesen, basiert wesentlich auf einer Fehlinterpretation von Sifre Dtn 221 (zu 21,22)106: "(One) overlooks the fact that the Sifre here is not defining blasphemy, but is merely contrasting the pivotal nature of the sins of blasphemy and idolatry with the peripheral nature of other sins".107 Darüber hinaus gilt es zu beachten, daß auch nach den alttestamentlichen Bestimmungen Lev 24,10-16; Num 15,(22-29)30-31 in Jesu Aussage der Tatbestand der Gotteslästerung nicht erfüllt ist. In den sehr merkwürdigen Resümees der Exegeten spiegelt sich die hier vorliegende Aporie: "Indem Jesus sich vor dem höchsten Gericht des Volkes als »Menschensohn zur Rechten der Allmacht« ankündigte, d.i. ungeheuerlicherweise als Richter auch über dieses hohe Gericht, ... beleidigte und verletzte er die heiligsten Gefühle und Überzeugungen der Verantwortlichen des Volkes."108 Jesus "war der Messias und wollte es sein, aber in einem Sinne, 104 Cf. die Diskussion bei BLINZLER, Prozeß 186-197, der für die erste Möglichkeit plädiert. Für die zweite Möglichkeit: O'NEILL, Charge 77. Für die dritte: STROBEL, Stunde 92f. ; LOHFINK, Tag 40. Zur Kritik s. bereits WREDE, Messiasgeheimnis 74f. 105 BLINZLER, Prozeß 153; ebenso PESCH, Markus II 440; ThWNT I 621 (H.W. BEYER). 106 BLINZLER, ebd., Kursive hinzugefügt. Die Passage lautet: "Siehe, wir lernen es vom Gotteslästerer: Wie der Gotteslästerer besonders einer ist, der seine Hand nach Gott ausstreckt, und er als solcher gehängt wird, so wird jeder gehängt, der seine Hand nach Gott ausstreckt" (Übersetzung nach BIETENHARD, 524). 107 Auch eine Berufung auf Sifre Num 112 (zu 15,30) führt nicht weiter, da auch dieser Text nicht - wie öfters behauptet (s. H.W. BEYER, ThWNT I 621; BLINZLER, Prozeß 153 mit A 53) — den 'Tatbestand des todeswürdigen Vergehens' der Gotteslästerung definiert; er lautet vielmehr: "Wer aber vorsätzlich sündigt: (Damit) ist der (gemeint), der sich e r f r e c h t gegen die Tora" (Übersetzung nach K.G. KUHN, Stuttgart 1959, S. 324; hebr. ed. H.S. Horovitz, Leipzig 1917). Gleiches gilt schließlich auch für den Verweis auf die neutestamentlichen βλασφημία - Belege, da es hier in den meisten Fällen nicht um einen juristisch relevanten Gotteslästerungsbegriff geht und da in allen Fällen der Verdacht einer interpretatio Christiana mindestens naheliegt. 108 STROBEL, Stunde 92.

258

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

welcher dem engen Horizont des zeitgenössischen Judentums (!) als gotteslästerlich erschien." 109 Wenn das Urteil des

Synhedriums Uber Jesus "noch

nicht identisch sein sollte mit dem Vorwurf der Gotteslästerung, so liegt dazwischen jedenfalls nur ein ganz kleiner Schritt, den zu gehen ein Forum um so weniger Hemmungen hatte, je mehr es gegen jenen Menschen von vornherein eingenommen (!) war".110 Gesamtfazit: Der (PB M k -bzw.) markinischen Darstellung

eines

Prozesses

gegen Jesus vor dem Jerusalemer Synhedrium liegt keine historisch zuverlässige Tradition zugrunde. 111

2.6. Das Verhör vor Pilatus Mk 15

Joh 18/19 18,28

1

(Και ευθύς) πρωί (δήσανχες) τον Ίησοΰν (παρέδωκαν Πιλάχψ).

2

Και (έπηρώτησεν) αυτόν ό Πιλάτος- σύ εί ό βασιλεύς των 'Ιουδαίων;

33

ó (δε) αποκριθείς (αύτψ λέγει·) σύ λέγεις.

37

3

(και κατηγορούν αύτοΐί οί αρχιερείς πολλά.)

4

ò (δέ) Πιλάτος I πάλιν (έπηρώτα αύτόν) λέγων· (...)

5

ό δε Ίησοΰς ούκ(έιι ουδέν) άπεκρίθη.

19,8 I 9 9

109 DALMAN, Worte 259. 110 BLINZLER, Prozeß 155f. Kurios ist die diametral entgegengesetzte Interpretation der Synhedriumsszene von COHN, Trial 94-141, wonach der Hohepriester in seinem Verhör versuchte, Jesus von seinem Messiasbekenntnis abzubringen und ihn so vor der Kreuzigung zu retten. Ebenso ders., Reflections, pass. Zustimmend KREMERS, Passionsgeschichte 71f. 111 Der Leser mag eine Auseinandersetzung mit der vieldiskutierten Frage nach der Kompetenz des Synhedriums in Kapitalprozessen vermissen. Hingegen ist die Frage, ob das Synhedrium Jesus legalerweise zum Tode verurteilt und gesteinigt haben könnte, nach meiner Analyse gegenstandslos, da es historisch weder gegen Jesus prozessiert noch gar ein Todesurteil gefällt hat. Zum Problem s. die »klassische« These von JUSTER, Juifs II 132-145 — wirkungskräftig aufgenommen von LIETZMANN, Prozeß 8ff. und WINTER, Trial 97-130 - und dazu JEREMIAS, Geschichtlichkeit, pass.; KILPATRICK, Trial, pass.; SHERWIN-WHITE, Trial 32ff.; CATCHPOLE, Problem 59-63; SCHÜRER-VERMES, II 218-223; LH ΜΟΝΟΝ, Pilate 79-96; BAMMEL, Blutgerichtsbarkeit, pass.; MÜLLER, Kapitalgerichtsbarkeit, pass.. Es zeichnet sich zunehmend ein Konsens darüber ab, daß die gemeinhin mit dem Namen Lietzmanns verbundene Position, das Synhedrium habe zur Zeit Jesu das Recht auf uneingeschränkte Kapitalgerichtsbarkeit besessen, nicht haltbar ist. S. insbesondere Müller, ebd. 58 A33 und dazu KÜMMEL, Jesusforschung 1991, 419.

259

Das Verhör vor Pilatus

6

(Κατά την έ ο ρ τ ή ν ) ά π έ λ υ ε ν ( α ύ τ ο ΐ ς ) ε ν α (δέσμιον δ ν π α ρ η τ ο ΰ ν τ ο ) .

9

ό (δε) Πιλάτος (άπεκρίθη) αύτοίς λ έ γ ω ν

38

(βούλεσθε) απολύσω ύμΐν τον βασιλέα των 'Ιουδαίων;

39

Cot δέ α ρ χ ι ε ρ ε ί ς ά ν έ σ ε ι σ α ν τον ο χ λ ο ν ϊ ν α μ ά λ λ ο ν )

40

11

τον Βαραββαν (άπολύοη 7

αυτοΐς).

Jjv δέ ό ( λ ε γ ό μ ε ν ο ς ) Β α ρ α β β δ ς ( λ η σ τ ή ς / μετά τ£5ν σ τ α σ ι α ο τ ω ν δεδεμένος ο ϊ τ ι ν ε ς έν τ § στάοει φ ό ν ο ν

πεποιήκεισαν).

13

(οϊ δέ) έ κ ρ α ξ α ν ·

14

ô (δέ) Π ι λ ά τ ο ς έ'λεγεν αύτοΤς· ( τ ί γ α ρ έποίησεν

οταύρωοον (αύτόν).

19,6 κακόν;)

COL δέ περιοοως) έκραξαν- σταύρωσον αύτόν. 15

18,39

(Τότε ο δ ν ) π α ρ έ δ ω κ ε ν (τον Ί η σ ο ΰ ν )

(φραγελλώοας) ινα αταυρωθξ.

15 16a

(1) P B

Exkurs: Pontius

Pilatus

Pontius Pilatus war von 26-36/37 n.Chr. (das genaue Datum seiner Absetzung ist in unserem Zusammenhang ohne Relevanz; s. dazu LËMONON, Pilate 241-245) Präfekt von Judäa (die traditionelle Bezeichnung des Pilatus als »Prokurator« geht zurück auf den Anachronismus des Tacitus in Annales 15,44; seit der Auffindung der Pilatusinschrift in Caesarea wissen wir, daß sein offizieller Titel (praefjectus Iuda(ea)e war — s. dazu VOLKMANN, Pilatusinschrift, pass, und Lémonon, ebd. 23-32.54-58). Notorisch ist die Tatsache, daB die Art und Weise seiner Amtsführung von den neutestamentlichen Passionsberichten einerseits und von Philo und Josephus andererseits sehr unterschiedlich beschrieben wird (s. dazu Lémonon, ebd. und McGING, Pilate, jeweils pass.). Einschlägig ist in diesem Zusammenhang insbesondere eine Passage aus dem von Philo (Legatio 38 (299-305)) zitierten Brief Herodes Agrippas (i.). Leg. 299: weniger zu Ehren des Tiberius als vielmehr 'um die Juden zu betrüben' (έ'νεκα του λυπάσαι το πλήθος) habe Pilatus die goldenen Schilde im Herodespalast aufstellen lassen; 302: Kennzeichen seiner Amtsführung seien Bestechlichkeit, Gewalttätigkeit, Räuberei, Mißhandlungen, Bedrohungen, 'zahllose und fortgesetzte Morde' (άκριτους και έπαλλήλους φόνους; SMALLWOOD 128: "frequent executions of untried prisoners") sowie seine endlose, fürchterliche Roheit gewesen. Deutlich ist, daß Philo — bzw. Agrippa — hier im Dienst seiner Argumentation übertreibt: Josephus erwähnt nichts von solch massiven Rechtsbrüchen; wäre Pilatus tatsächlich derart ruchlos vorgegangen, wäre er schwerlich mehr als zehn Jahre im Amt geblieben. "Ce texte présente une exagération évidente" (Lémonon, ebd. 227). Es geht aber zu weit, wenn Josef BLINZLER (Prozeß 260-268) das Zeugnis Philos (und Josephus') als "ausgesprochen feindselig" (268) aus der historischen Diskussion ausschließt, um die Analyse dann im Grunde

260

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

gänzlich auf die Aussagen der Evangelien zu stützen. Vielmehr muß es — zumal als das einzige erhaltene zeitgenössische Urteil über Pilatus — trotz seiner Tendenz sehr ernst genommen werden. Nicht sicher zu entscheiden ist die Frage, ob es sich bei den Aktionen des P r ä fekten um "beabsichtigte Provokationen oder um den ... Versuch handelte, eine Angleichung der Verhältnisse in Iudaea an die in anderen Provinzen üblichen Maßstäbe zu erzwingen" (HENNIG, Sejanus 176). Für l e t z t e r e Möglichkeit plädiert — wohl zu Recht (cf. auch ebd. 179) — Lémonon nach seiner ausführlichen Analyse aller erhaltener Pilatustraditionen. Er resümiert: Pilatus "est intransigeant avec les habitants de la province ... Cet homme ... n'a pas cherché à blesser et provoquer Γ àme juive, il l'a ignorée. ... On ne peut confondre indifférence á la sensibilité juive et hostilité systématique. ... Pilate ... n'a pas cherché à humilier les Judéens, il a plutôt désiré qu'ils se comportassent comme les autres provinciaux de l'Empire" (ebd. 273.274.276.277). Es sei in diesem Zusammenhang im übrigen darauf hingewiesen, daß die öfters vertretene Ansicht, Pilatus habe seine Statthalterschaft bis zum Jahre 31 unter der Protektion des antisemitischen Tiberiusgünstlings L. Aelius Sejanus absolviert (so etwa BAMMEL, Φίλος, pass., der hierauf sogar chronologische SchluBfolgerungen aufbaut (Tod Jesu wegen Joh 19,12 erst nach dem Sturz Sejans im Jahre 31: ebd. 208f. mit AIO); Blinzler, ebd. 264f.; RITT, Tod 172; e t was vorsichtiger Smallwood, Jews 165-167), schwerlich zu halten ist: Die Textgrundlage für den 'Antisemitismus' Sejans ist äußerst schmal — nur Philo berichtet darüber (Legatio 24 (159-161); In Flaccum 1 (l). Euseb HE II 5,7 ist von Philos Schilderung abhängig) —, und es läßt sich eine Reihe von guten Gründen dafür anführen, daß Philo hier unter bewußter Verschleierung der Chronologie die antijüdischen Maßnahmen des Tiberius im Jahre 19 auf das Konto Sejans buchen will, um das Bild des Kaisers nicht zu trüben (zum Problem s. Hennig, ebd. 160-179, insbesondere 170ff. ; McGing, ebd. 424-428).

Historisch kaum anfechtbar sind folgende Angaben des ältesten Passionsberichtes: Jesus ist am Morgen mit Pilatus konfrontiert worden, dieser hat ihn — wie bei Todesstrafen aller Art üblich 112 — geißeln lassen und zum Tod am Kreuz verurteilt. Bemerkenswerterweise schweigt unsere Quelle allerdings über Wortlaut und Begründung des Todesurteils, das historisch gefällt sein worden muß.113 Ohne Zweifel ist Jesus aufgrund einer politischen Anklage

112 BJ II 14,9 (306-308); V 11,1 (449) u.ö.; Philo, In Flaccum 9 (72); Tacitus, Hist. III 77,3; Dig 47, 9,9 u.a.; cf. KUHN, Kreuzesstrafe 752f.: 113 Nur der Präfekt hatte das Imperium inne, dementsprechend gebührte allein ihm das Recht, Todesurteile zu rallen; s. SHERWIN-WHITE, Coercitio 4ff. mit Verweis auf Dig. 1, 16,6; 1, 15,11 und Plinius, Ep. X (29 und) 30,1 (ebd. 4 A 1.2). Daß also ein römisches Todesurteil gefällt worden ist und Pilatus ein jüdisches Urteil nicht nur bestätigt oder vollstreckt hat (so — leider! — noch BAUER, 1568 und viele ä l t e r e Arbeiten (s. BLINZLER, Prozeß 23-25; STROBEL, Stunde 132f.); ähnlich neuerdings wieder BAMMEL, trial, pass.), gilt in-

Das Verhör vor Pilatus

261

verurteilt worden. 1 1 4 Trifft die oben vorgetragene Analyse des Hohepriesterverhörs/der Petrusverleugnung zu, dann ist weiter davon auszugehen, daß tatsächlich die Hohepriester oder andere hochgestellte jüdische Repräsentanten 115 Jesus vor Pilatus geführt und dort Anzeige gegen ihn erhoben haben; 116 der Präfekt hat die Angelegenheit sodann in einer persönlichen, bei Verhandlun-

zwischen zu Recht weithin als sicher; zum wahrscheinlichen Grund für das diesbezügliche Schweigen unserer Quelle s.u.). Ausfuhrliche Diskussion des Problems bei Blinzler, Entscheid, pass. Pointiert CONZELMANN: "Das Fündlein vom bloBen Exekutionsbefehl des Pilatus ist nicht der Mühe wert, die der gelehrte J. Blinzler ... auf die Widerlegung verwendet" (Historie 47 A 21). 114 Das ergibt sich bereits aus der allgemeinen Tatsache, daB vom "Beginn der Römerherrschaft 63 v. Chr. bis kurz vor Ausbruch des Jüdischen Krieges 66 n. Chr. ... in Palästina offenbar nur Aufständische bzw. solche, die dafür galten oder mit Aufständischen sympathisierten" gekreuzigt worden sind (H.—W. KUHN, Kreuzesstrafe 724). "Jesus ist also als politischer Rebell von den Römern verurteilt und hingerichtet worden, eine Feststellung, die heute auch allgemein gilt. Nur macht man sich, soweit ich sehe, nicht klar, daB dieser Grund für die Hinrichtung Jesu schon allein aus der oben dargelegten Praxis der Kreuzesstrafe im damaligen Palästina so gut wie sicher zu erheben ist" (ebd. 733). Gegen diesen Konsens verstößt jetzt BAMMEL. Seine Interpretation, wonach "the main traits of the pieces of evidence point rather to a Jewish execution than to a Roman one" (trial 445), ist angesichts des Fehlens jeglicher Belege für eine von Juden in Palästina unter römischer Herrschaft durchgeführte Kreuzigung allerdings völlig unhaltbar. Cf. dagegen das Urteil von HENGEL: "from the beginning of direct Roman rule crucifixion was taboo as a form of the Jewish death penalty" (Crucifixion 85; s. zur Kritik an Bammels These auch KÜMMEL, Jesusforschung 1989, 21: "alles andere als überzeugend"). 115 Zum Problem s.o. II 2.5.1.; cf. auch u. II 4.5. 116 Leider berichten unsere Quellen nur sehr wenig über die Art und Weise des Zusammenspiels der römischen Präfekten/Prokuratoren mit den jüdischen Hohepriestern. Es kann aber kaum einem Zweifel unterliegen, daB die Hohepriester in den Jahren 6-41 auf ein gutes Verhältnis zu den Statthaltern bedacht waren, die ja die Macht hatten, sie ein- und abzusetzen und von diesem Privileg z.T. auch reichlich Gebrauch machten (der Pilatusvorgänger Valerius Gratus (15-26) z.B. setzte nicht weniger als drei Hohepriester ein und wieder ab, bis er schließlich mit Kaiaphas offenbar zufrieden war: AJ XVIII 2,2 (34f.)). In der Regel werden sie also "faithful collaborators with Rome" gewesen sein (HORSLEY, High Priests 31; ebenso GRANT, Trial 38.42). Dies gilt insbesondere für Joseph Kaiaphas, der unter allen Hohepriestern der fraglichen Periode am längsten im Amt war (18-36/37: AJ XVIII 2,2 (35). 4,3 (95)). Weil Pilatus ihn 'übernahm' und ihn während seiner zehnjährigen Amtszeit nicht absetzte, liegt die Vermutung in der Tat nahe, daB er ein "congenial High Priest to Pilate" gewesen ist (SMALLWOOD, High Priests 22; cf. auch LËMONON, Pilate 98-100). Diese Tatsache "lends credibility to the Christian Gospels' accounts, which portray a cooperative relationship between them" (Horsley, ebd. 35f.).

262

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

gen gegen Nichtbürger ( p e r e g r i n i ) weithin üblichen cognitio

extra

ordinem,

d.h. in einer Anhörung, deren juristische Grundlagen nicht von der römischen Prozeßordung definiert, vielmehr vom Präfekten nach eigenem Ermessen j e weils neu festzulegen waren, 1 1 7 entschieden. 1 1 8 Die weiteren Angaben des PB sind höchst problematisch. (1) Pilatus fragt Jesus σύ εΐ ό βασιλεύς των 'Ιουδαίων und betrachtet dessen vorsichtig bejahende Antwort σύ λέγεις nicht als todeswürdig. D i e s e Darstellung ist aus zwei Gründen historisch unmöglich: (a) Die Frage zielt in der Sprache des Römers auf Jesu königliche Messianität; sie setzt das nahezu sicher unhistorische Messiasbekenntnis Jesu vor dem Hohepriester voraus (s.o. II 2.5). Auch hier gilt daher: Jesus könnte auf eine solche Frage - die Gültigkeit des gängigen Jesusbildes vorausgesetzt

-

unmöglich zustimmend geantwortet haben. (b) Umgekehrt: Pilatus hätte Jesus auf eine zustimmende Antwort hin

sofort

zum Tode verurteilt, 119 da sie ein klares Bekenntnis zur politischen Rebellion, zur seditio,

gewesen wäre. Seit dem Tod Herodes des Großen (4 v. Chr.) gab

117 S. dazu insbesondere SHERWIN-WHITE, Coercitio 12ff. Er resümiert: "The conclusion is, that a provincial governor ... would deal with serious criminal or political or administrative jurisdiction affecting peregrini just as he thought fit, in regard to the formulation of charges and penalties" (23). 118 So auch SHERWIN-WHITE, Trial 24f.; SMALL WOOD, Jews 169; LËMONON, Pilate 189f.; ROSEN, Prozeß 127 uva. Die Kreuzigung eines Nichtbürgers nach einer kurzen cognitio durch den Richter ist in den zeitgenössischen Quellen ansonsten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit — die Kürze der Schilderungen der Quellen erlaubt nur selten ein sicheres Urteil Uber die genaue Art und Weise des Verfahrens — belegt bei: (l) Tacitus, Historien 2,72,2 (pertractus ad Vitellium interrogatusque quisnam mortalium esset ... sumptum de eo supplicium in servilem modum (dazu H.-W. KUHN, Kreuzesstrafe 691 )); (2) Valerius Maximus 8,4,2 (Alexander ... pernegauit ei se culpae adfinem fuisse, sed perinde atque confessus esset, a iudicibus damnatus et a L. Calpurnio triumuiro in crucem actus est) (ed. C. Kempf, Stuttgart 1982); (3) AJ XVIII 3,4 (79) (Τιβέριος μαθήσεως άκριβοΟς αύτψ γενομένης εξετάσει των ιερέων εκείνους τε άνεσταύρωσεν και την "Ιδην); (4) Ebd. XX 5,2 (102) (οΐ παίδες 'Ιούδα τοΰ Γαλιλαίου άνήχθησαν (FELDMAN (in LCL): "were brought up for trial"; v.l.: άνηρέθ-ησαν) ... ους άνασταυρωσαι προσέταξεν Αλέξανδρος); (5) Plutarch, Moralia (Reg. et Imp.) 207B (Augustus μετεπέμψατο αύτόν και άνέκρινεν· όμολογήσαντα δέ εκέλευσεν ίστψ νηός προσηλωθηναι); cf. noch Sueton, Galba 9,1; BJ IV 5,2 (317) und den analogen, von Josephus ausführlich beschriebenen Fall des Jesus ben Ananos (BJ VI 5,3 (300-306); der Angeklagte wird hier freilich nicht gekreuzigt, sondern freigelassen; s. dazu auch u. II 5). 119 Zum wahrscheinlich auch im Strafrecht gültigen Prinzip confessus pro iudicato habetur — das Bekenntnis des Angeklagten erübrigt den SchuldfeststellungsprozeB - s. KUNKEL, Prinzipien 20f.

Das Verhör vor Pilatus

263

es keinen βασιλεύς των 'Ιουδαίων mehr, Judäa wurde seit 6 n. Chr. von den Römern selbst verwaltet. Wer immer in dieser Situation mit dem Anspruch aufgetreten wäre, »König der Juden« zu sein, hätte die Legitimität der römischen Herrschaft über Judäa bezweifelt und sich offen zum politischen Aufruhr bekannt, der mit der Todesstrafe geahndet wurde (cf. etwa die sachlich analogen Fälle von Simon und Athronges (AJ XVII 10,6f. (273-284) und die summarische Bemerkung ebd. 10,8 (285)). Die Darstellung des ältesten Passionsberichtes, wonach Pilatus nicht recht versteht, was an Jesu Bekenntnis Verwerfliches sein soll (Mk 15,14: τί γαρ έποίησεν κακόν; noch deutlicher Joh 19,6: έγώ γαρ οϋχ ευρίσκω έν αύτψ αίτίαν), ist historisch unmöglich. 120 Dieser Konsequenz kann nur mittels eines argumentativen salto mortale ausgewichen werden, nämlich der Behauptung, der nach Philos Auskunft (Legatio 38 (299-305); cf. auch BJ II 9,2-4 (169-177)) bekanntermaßen ausgesprochen rücksichtslose, die Juden provozierende Präfekt habe die etwas zögerliche Antwort Jesu zum Anlaß genommen, seine jüdischen Untertanen ein weiteres Mal zu ärgern, indem er nämlich ihrem Todesbegehren zunächst nicht nachkommt und Jesus nicht sofort verurteilt. Joseph BLINZLER schreibt: "Weil er (Pilatus) die Juden verachtete und gern jede Gelegenheit wahrnahm, sie diese Verachtung spüren zu lassen, nahm er von vornherein eine Oppositionsstellung ein, als an ihn das Ansinnen gestellt wurde, den eingebrachten Gefangenen kurzerhand zu verurteilen und hinzurichten. ... Er denkt nicht daran, den jüdischen Anklägern gefällig zu sein, und bietet ihnen Trotz, solange ihm dies ohne Gefahr möglich ist" (Prozeß 268. 269). 121 Ein Kommentar erübrigt sich. (2) Pilatus stellt das Volk im Rahmen des Rechtsbrauchs des sogenannten Privilegium paschale vor die Entscheidung, ob sie den »König der Juden« freibitten möchten oder nicht. Die Szene ist klar verständlich, wenn man sie

120 PESCH entgeht dem hier gezogenen SchluB dadurch, daß er ου λέγεις faktisch mit 'Nein' übersetzt (Markus II 457), was philologisch sehr problematisch ist (s.o. 7.6.6) und im Kontext des PB spätestens an der Kreuzesaufschrift scheitert: wie kann Pilatus Jesus als den »König der Juden« verurteilen, wenn dieser eben diesen Anspruch verneint hat ? Unmöglich — neben vielen anderen (cf. etwa BLINZLER, Prozeß 280; McGING, Pilate 436) - auch SMALLWOOD, Jews 169: "Pilate had no option but to convict. But he found the offence noncapital." 121 Ähnlich LOHFINK, Tag 52 und eigenartigerweise auch LËMONON, Pilate 278, der ansonst die gute Kooperation zwischen Pilatus und der jüdischen Obrigkeit betont und — wohl zu Recht (s.o.) — bestreitet, daß Pilatus die Juden absichtsvoll provoziert habe.

264

Historische Anályse des ältesten Passionsberichtes

auf der literarischen Ebene interpretiert: Sie erklärt dem Leser, wie es möglich ist, daß ein nach römischem Recht unschuldiger Angeklagter

dennoch

den Kreuzestod stirbt. Analysiert man sie hingegen historisch, stößt man auf eine Vielzahl von Problemen: (a) Geht man einmal davon aus, daß das Urteil, über das unsere Quelle schweigt, bereits gefallen ist, 122 ergeben sich folgende schwerwiegenden Probleme: Von einer Einzelbegnadigung durch einen römischen Präfekten zur Zeit Jesu erfahren wir sonst nirgends, auch nicht in dem immer wieder angeführten Pap. Florentinus 61,59ff. 123 Schlimmer noch: Ein römischer Provinzstatthalter — diese Tatsache wird sehr oft übersehen — durfte offenbar haupt keine

über-

Begnadigungen aussprechen; dieses Privileg stand im Prinzipat

vielmehr allein dem Kaiser zu. 1 2 4 In Dig. 48, 19,31 heißt es mit Bezug auf zum Tode Verurteilte: "Ad bestias damnatos favore populi praeses (der Provinzstatthalter) dimitiere non debet, sed ... principem consultare debet." D.h.:

122 Die Diskussion um die möglichen Rechtsgrundlagen der Barabbasszene leidet unter der unklaren Darstellung der Evangelien und einer, allerdings nur z.T. vermeidbaren, unpräzisen Terminologie. Man spricht entweder von einer »Paschaamnestie« oder ganz allgemein von einem Privilegium paschale. Den ersten Begriff sollte man am besten ganz vermeiden, da eine »Amnestie« sich nach deutschem Sprachgebrauch immer auf Strafbefreiung in einer unbestimmten Zahl von Fällen bezieht (s. BROCKHAUS, Enzyklopädie s.v.). Der zweite — auch von mir gewählte — Begriff spiegelt die Unsicherheit, die sich aus den Texten notgedrungen ergibt, da sie den Leser darüber im Unklaren lassen, ob die Verurteilung bereits erfolgt ist oder nicht, ob hier also von einer regelrechten Einzelbegnadigung oder von einer sog. »Abolition« (dazu s. gleich) die Rede ist. Hinzu kommt noch die Schwierigkeit, daß auch die diesbezüglich einschlägigen römischen termini abolitio, indulgentia und venia gewisse Unschärfen aufweisen; s. dazu WALDSTEIN, Begnadigungsrecht, besonders 203-218. 123 Der Text ist am leichtesten zugänglich bei A. DEISSMANN, Licht vom Osten (Tübingen 4 1923), 229f. Der Prokurator G. Septimius Vergetus läßt einen gewissen Phibion mit den Worten frei: "Verdient hättest Du, daß Du Geißelhiebe erhieltest; ... ich will Dich aber dem Volkshaufen schenken" (όίξιος μ(έ}ϋ ης μαστιγωθτίναα ... χαρίζομαι δέ σε τοΤς οχλοις). Der Papyrus gibt evidenterweise viel zu wenige Informationen über die Rechtslage, als daß man aus ihm irgendetwas folgern könnte. Zutreffend WINTER, Trial 131; der Text gibt für unser Problem nichts her, da wir nicht einmal wissen, "whether legal proceedings had already been instituted when the presumed culprit's release was ordered." 124 S. PAULY-WISSOWA, IX 1378-1380 (KLEINFELLER): Die Republik Rom kannte die Institution der Begnadigung im engeren Sinn (d.h. die sog. indulgentia) überhaupt nicht; später wurde (mit wenigen begründbaren Ausnahmen) allein dem Kaiser das Recht zugestanden, geltendes Recht ausnahmsweise außer Kraft zu setzen.

Das Verhör vor Pilatus

265

"Provincial governors had no right to grant a pardon." 125 Einen Rechtsbrauch einer regelmäßigen Begnadigung eines verurteilten Gefangenen zum Paschafest hat es demnach ohne Zweifel nicht gegeben. (b) Möglich wäre allenfalls, daß Pilatus noch kein Urteil gefällt und nun eine sog. »Abolition« angeboten hat, d.h. angeboten hat, das Verfahren Jesu

vor

dem Urteilsspruch fallenzulassen. 1 2 6 Aber: die Sitte, zur Zeit des Paschafestes einen noch unverurteilten Gefangenen freizulassen, wird weder für die Stadt Jerusalem zur Zeit Jesu noch für eine andere palästinische Stadt zur Zeit der Römerherrschaft erwähnt, nicht von dem

römerfreundlichen

Josephus

und

auch nicht in den seit Charles B. CHAVELS Untersuchung (Release) immer wieder angeführten Texten MPes 8,6; bPes 91a. 127 Hat es sich also beim An-

125 SCHÜRER-VERMES, I 370. Ebenso schon SCHÜRER I 469 (freilich mit anderer Schlußfolgerung); s. auch PAULY-WISSOWA, IX 1380 ("Keinem Richter stand ein Begnadigungsrecht zu"); BICKERMANN, Utilitas Crucis 197 und ROSEN, ProzeB 130: "Eine Amnestie nach Wahl des Volkes ist sonst nicht belegt. Sie hätte ... den Amtsaufgaben eines Statthalters gröblich widersprochen." 126 Die Möglichkeit einer derartigen Praxis im Fall Jesus/Barabbas hält WALDSTEIN für gegeben (Begnadigungsrecht 41-44). Rechtsgrundlage könne die sog. venia gewesen sein; ähnlich RAC XI, 320 (H. DÖRRIE). Freilich ist die venia in juristischen Texten erstmals um die Mitte des 2. Jh. belegt (Waldstein, ebd. 140), und in den älteren, nichtjuristischen Quellen ist immer der Kaiser bzw. der Senat (und auch dies nur in einem uns bekannten, darüber hinaus noch rein hypothetischen Fall; Plinius, Ep. IV 9; dazu ebd. lOOf.) Subjekt des Abolitionsaktes. Zum Problem s. neben Waldstein, pass. MOMMSEN, Strafrecht 452-458 und PAULY-WISSOWA, s.v. abolitio; indulgentia. 127 Der Text MPes 8,6 lautet: "Für den Leidtragenden, einen, der einen Trümmerhaufen freilegt, einen, den man aus dem Gefängnis zu entlassen versprochen hat, einen Kranken und einen Greis, die ein olivengroBes Quantum essen können, darf man (das Pesahopfer) mitschlachten" (Übersetzung nach GOLDSCHMIDT I). Hier ist ersichtlich lediglich davon die Rede, daß man für einen Gefangenen, der die Zusage hat, vor dem Paschafest entlassen zu werden, mitschlachten darf. Aus der Tatsache, daß jüdische Gefangene aus nicht näher benannten Gefängnissen zuweilen kurz vor einem Paschafest entlassen wurden (und auch heute noch werden (!)), folgt ersichtlich gar nichts für die Behauptung einer römischen Rechtssitte in Jerusalem zur Zeit Jesu. Gegen GRUNDMANN, Markus 423; STROBEL, Stunde 121f. uva.; zutreffend MERKEL, Begnadigung 306f.; WINTER, Trial 131f.; BURKILL, Condemnation 326f.; LÉMONON, Pilate 191f. (der allerdings trotz des Fehlens jeglicher außerneutestamentlicher Belege ohne Angabe einleuchtender Gründe an der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit der evangelischen Berichte festhält: 195). Gleiches gilt für bPes 91a; Kritik an CHAVELS Interpretation dieses Textes schon bei BLINZLER, Prozeß 319f. Es ist i.ü. irreführend, wenn Strobel schreibt, P. BILLERBECK habe 'für die Sitte einer eigenen Passaamnestie' "noch keine Belege beibringen" können, was "inzwischen" anders sei (ebd. 121; Kursive hinzugefügt); de facto hat Bil-

266

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

gebot einer Abolition im Fall Jesus/Barabbas vielleicht um einen Einzelfall gehandelt? Nein. Denn zum einen hätte Pilatus einen Mann, der sich als »König der Juden« ausgibt, zweifellos der seditio für schuldig befunden (s.o.), und es gibt schlechterdings keinen Grund, warum er ohne Not, d.h. ohne Rechtsbrauch, seine Freilassung hätte anbieten sollen. Und zum anderen bliebe dann unerklärlich, warum das Volk an Jesu Stelle sich einen anderen Gefangenen freibitten darf. Wie man es auch dreht und wendet: Es ist mehr als deutlich, daß die PB-Darstellung des Pilatusverhörs samt der Barabbasszene historisch unmöglich ist. Wie die der Barabbasszene zugrundeliegende Tradition entstanden ist und wer genau dieser Barabbas denn war, ist nicht mehr aufzuhellen. Häufig vermutet man, die mit Jesu Verurteilung etwa zeitgleiche Freilassung des (noch unverurteilten) Barabbas aufgrund einer Volksakklamation sei sekundär zu der vorliegenden Szene ausgebaut worden.128 Diese Hypothese ist unter allen vorgetragenen zweifellos die ansprechendste;129 Barabbas "seems to have been a person who actually lived, and who was detained in a roman prison in Jerusalem at the time when Jesus was brought before Pilate. Who precisely he was, what led to his arrest, what he did after his release - we cannot say."130 Bleibt hier eine Reihe von Fragen offen, so ist hingegen das Motiv, das zur Entstehung der »Jetztgestalt« der Szene geführt hat, klar ersichtlich:131 Es geht hier darum, Jesus zu entschuldigen und die Juden zu belasten, es geht um Apologie und Polemik.132 Die Barabbasepisode ist die

lerbeck die Stelle MPes 8,6, die er natürlich kannte, zu Recht nicht als Beleg für die sog. »Paschaamnestie« gewertet. 128 So - mit Differenzen im einzelnen - etwa BRANDT, Geschichte 102ff.; KLOSTERMANN, Markus 159; BULTMANN, GST 293 A3; WINTER, Trial 142f.; SLOYAN, Last Days 67. 129 Zu weitergehenden — z.T. kuriosen — Spekulationen s. RIGG, Barabbas; BAJSIC, Pilatus; MACCOBY, Barabbas, jeweils pass. 130 WINTER, Trial 143. 131 Dies sei abschließend gegen solche Autoren betont, die die Historizität der Barabbasszene am Ende durch den Hinweis verteidigen, es könne keine "befriedigende Erklärung für die sekundäre Entstehung dieses Berichts" vorgebracht werden (so HENGEL, Zeloten 348 A l ; ähnlich LËMONON, Pilate 195; cf. auch GNILKA, Prozeß 35). 132 Ähnlich bereits KLOSTERMANN, Markus 159: es geht darum, "die Römer zu entschuldigen und die Juden zu belasten"; ebenso MERRITT, Jesus Barabbas 66 (die Szene erfüllt die "apologetic need to exculpate the Romans and put responsibility for the crucifixion on the Jews") u.a. Zu dem hier m.E. vorliegenden TrugschluB, es gehe um die Entlastung der Römer (und nicht um die Entlastung Jesu) s. aber o. 7.8.1. A 337.

Das Verhör vor Pilatus

267

zentrale Szene des ältesten Passionsberichtes. Allein durch ihre Einbeziehung in die Darstellung gelingt es PB, die folgenden zwei faktisch kontradiktorischen Aussagen miteinander zu verbinden: (1) Jesus wird auf Anordnung des römischen Präfekten gekreuzigt. (2) Der Präfekt hält Jesus für unschuldig. Und eben, weil es darum geht, das zu zeigen, wird von dem Todesurteil, das historisch gefällt worden sein muß, nicht berichtet. (2) PB Joh -Sondertradition pßJoh arbeitet die Tatsache, daß der Präfekt Jesus für unschuldig hält, noch wesentlich stärker heraus: Pilatus erklärt dreimal öffentlich εγώ ούδεμίαν ευρίσκω έν αύτψ αίτίαυ (18,38; geringfügig anders 19,4.6; cf. Lk 23,4.14.22). Diese Tradition hat aus den oben genannten Gründen mit Sicherheit keinerlei historischen Wert: Pilatus hätte Jesus nicht kreuzigen lassen, wenn er ihn für unschuldig gehalten hätte, und er hätte umgekehrt jemanden, der von sich behauptet, der »König der Juden« zu sein, nicht für unschuldig gehalten. Weiter wird die Pilatusszene um die Angabe erweitert, der Präfekt habe an einem Ort namens »Gabbatha« = Λιθόστρωτος den Richterstuhl bestiegen (Joh 19,13; cf. Mt 27,19), d.h. das Verfahren pro tribunali beendet. Beide Angaben sind historisch nicht wirklich anzufechten. 133 Verfügt der PB Ioh -»Redaktor« an dieser Stelle also über zusätzliche historische Kenntnisse? Wahrscheinlicher scheint mir, daß er den Bericht hier - wie so oft (cf. nur Joh ll,47ff.; 18,10) ausgeschmückt hat.

133 Anders vor allem DIBELIUS, Motive 226f. Zwar 'kann man bezweifeln', ob eine außerordentliche cognitio gegen einen Nicht-Bürger pro tribunali entschieden wurde; dagegen lassen sich offenbar aber keine grundlegenden Einwände vorbringen. Daß ein de piano durchgeführtes Verfahren grundsätzlich nicht pro tribunali entschieden wurde (so etwa CORSSEN, Berna 339; Dibelius, ebd. 226; BULTMANN, Johannes 514 A 2), ist nicht richtig, sofern WENGERS Interpretation der Papyri Yale 1528 und Fouad 21 zutrifft (Fragen, 376-389; Verfahren, pass.; die Texte der Papyri ebd. 381f.; 366f.); denn hier läge ein solcher Fall vor. Umgekehrt trifft es zweifellos nicht zu, daß Todesurteile grundsätzlich vom Tribunal aus gesprochen werden mußten (so — ohne Beleg — BLINZLER, Prozeß 353); man vergleiche nur die ο. II 2.5.1 A 118 angeführten Beispiele.

268

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

2.7. Die Verspottung Joh 19

Mk 15 (15b Τότε οδν ελαβεν δ Πιλάτος τον Ίήσουν και έμαστίγωσεν. 16

1)

Οί (δε) οτρατιωται (άπήγαγον αυτόν εσω της αύλης, δ έστιν

2

πραιτωριον, και συγκαλοΰσιν ολην την σπεΤραν.) 17

(και ένδιδύσκουσιν) αύτόν πορφύραν (και) περιτιθέασιν αΰτψ πλέξαντες άκάνθινον στέφανον.

18

και (ή'ρξαντο άσπάζεσθαι) αύτόν· χαίρε, βασιλευ των 'Ιουδαίων

19

και (ετυπτον αυτόν.)

3

(1) PB Die Verspottungsszene spielt im Inneren des »Palastes« (αυλή) des Pilatus. Hinter dieser wiederum sehr allgemein gehaltenen Angabe, die dementsprechend zu einer Vielzahl von Deutungen Anlaß gegeben hat 1 3 4 — wußte der Verfasser des PB um den genauen Ort? —, verbirgt sich nahezu sicher der Palast des Herodes im Westen der Stadt, in dem die Präfekten bzw. Prokuratoren nach BJ II 14,8 (301). 15,5 (328); Philo, Legatio 38 (299). 39 (306) während ihrer Jerusalemaufenthalte zu residieren pflegten. 1 3 5 Implizit lokalisiert die Szene damit auch das Verhör Jesu durch Pilatus, das demnach vor dem Palast stattgefunden hat (cf. analog BJ II 301: βημα προ των βασιλείων). Schwierig ist die Benennung möglicher Augenzeugen: wer sollte die Szene im Inneren des (Herodes-) Palastes überliefert haben? Hält man dieses Problem nicht für unüberwindlich, so steht einer Historizität der S z e n e auf den ersten Blick nichts im Wege. Dies gilt besonders aufgrund der z.B. von Joachim GNILKA herausgestellten Tatsache, "daß es antiker Gepflogenheit entsprach, anläßlich eines Festes — den Sakaien, Kronien und Saturnalien -

dem Delin-

quenten vor der Exekution den purpurnen Königsmantel anzulegen" (Markus II 308). Doch der Schein trügt; denn - das muß so deutlich gesagt werden

-

diese 'antike Gepflogenheit' ist eine Forschungslegende. Tatsächlich ist ein solcher Brauch nirgendwo zu belegen: weder in Strabo 11,8,5, 136 denn hier ist

134 S. die Diskussion bei BLINZLER, Prozeß 256-259. 135 SCHÜRER-VERMES, I 361; ebenso BENOIT, Prätorium 153-166; BLINZLER, Prozeß 258; LÉMONON, Pilate 122-124 u.a. LÜHRMANN, Markus 257 bleibt unentschlossen zwischen Herodespalast und Antonia. 136 (Ed. H.L. Jones, London/Cambridge, Mass. 1928). Bei GNILKA, Markus II 308 A19 steht - in Anschluß an RAC VII, 414 (Α. HERMANN) - irrigerweise: Strabo, 11,8,4.

Die Verspottung

269

weder von einer Hinrichtung noch auch nur von einem roten Mantel die Rede, vielmehr wird schlicht eine kurze, ganz allgemeine Beschreibung des Sakaienfestes gegeben; noch in Tacitus, Annales 13,15, denn hier geht es um die Wahl des Saturnalienkönigs, d.h. eines rex bibendi137 (das Los fällt auf den jungen Kaiser Nero, der danach - selbstverständlich - weiterlebt); und auch nicht in Dio Chrysostomos 4.66-68 138 , denn nach dessen Bericht darf der zum Tode Verurteilte sich im Rahmen des Sakaienfestes 139 mehrere Tage lang als König auffuhren und sich unter anderem mit den königlichen Konkubinen vergnügen, bevor er gehängt wird 140 - es ist evident, daß dies keine 'antike Gepflogenheit' war und noch mehr, daß hierin keinerlei Parallele zur Jesusgeschichte vorliegt.141 Die nächste und einzig ernstzunehmende Analogie zur Verspottung Jesu findet sich bei Philo, In Flacc. 36-40. Dort verkleiden die Alexandriner einen stadtbekannten Verrückten namens Καραβας als König, i n d e m s i e ihm ein D i a d e m aus P a p y r u s a u f s e t z e n (βύβλον μέν εύρύναντες αντί διαδήματος έπιτιθέαοιν αΰτου ι ξ κεφαλή), ihm e i n e n L u m p e n a n s t e l l e d e s

Kö-

n i g s m a n t e l s u m w e r f e n (χαμαιστρώτψ ... περιβάλλουσιν άντί χλαμύδος) u n d

ihm

einen Papyrus anstelle des Szepters geben; so eingekleidet, behandeln sie ihn w i e e i n e n König (oi μεν ώς άοπασόμενοι, οί δέ ώς δικασόμενοι, οί δ' ώς έντευξόμεVOL περί κοινών πραγμάτων); schließlich ruft d i e M e n g e ihn Μάριν, w a s — wie

Philo hinzufugt - bei den Syrern Herr' (κύριος) heißt. In diesem Ruf der Menge liegt die Pointe der Szene und zugleich die entscheidende Differenz zur Darstellung des PB; denn die Verspottung gilt hier nicht dem Karabas — der im übrigen auch nicht zum Tode verurteilt ist - , sondern dem anwesenden jüdischen König Agrippa, von dem man weiß, daß er von Geburt Syrer und zugleich König über einen großen Teil von Syrien ist (ή'δεσαν γαρ Άγρίππαν και γένει Σύρον και Συρίας μεγάλην άποτομήν έχοντα, ής έβασίλευε).

Fazit: Bei Dio Chrysostomos, 4,66ff. und Philo, In Flacc. 36ff. finden sich einige bemerkenswerte Analogien zu einzelnen Elementen der Darstellung der Verspottung Jesu im ältesten Passionsbericht; eine wirkliche außemeutesta-

137 PAULY-WISSOWA, II A, 207 (NILSSON). 138 Bei GNILKA, Markus II 308 A 1 9 steht - in Anschluß an RAC VII, 414 (Α. HERMANN) - irrigerweise: Dio Chrys. 4,157. 139 Bei GNILKA, ebd. steht — in AnschluB an RAC, ebd. — irrigerweise: Kronien. Zum Sakaienfest s. PAULY-WISSOWA, I A, 1769f. (HERRMANN). 140 Cf. auch PAULY-WISSOWA, II A, 208 (NILSSON). 141 Zu höchst spekulativen Versuchen, doch eine Beziehung zwischen den Sakaien oder den Saturnalien und der evangelischen Verspottungsszene herzustellen, s. WENDLAND, Saturnalienkönig, pass, und J.G. FRAZER, The Golden Bough, VI, London 1913, S. 412-423.

270

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

mentliche Parallele gibt es nicht. Das geschilderte Verhalten der Soldaten entspricht nicht einem üblichen Brauch, hängt vielmehr aufs engste mit dem Grund der Verurteilung Jesu zusammen, nämlich seiner Behauptung, der βασιλεύς των 'Ιουδαίων zu sein. Eben damit aber erweist sich die Verspottungsszene (m.E.) als unhistorisch: Denn - wie inzwischen bereits mehrmals betont — Jesus hätte auf die Frage »Bist Du der König der Juden?« ohne Zweifel nicht mit »Ja« geantwortet (s.o. II 2.5-6) und kann von den Soldaten folglich schwerlich als solcher verspottet worden sein. Wir schließen daher mit Rudolf BULTMANN, daß "die Verspottungsszene V. 16-20a eine sekundäre Ausführung des Motivs von V. 15b (φραγελλώσας)" ist (GST 293), zu der wohl eine Szene wie die von Philo überlieferte die Farben geliefert hat. 142

2.8. Die Kreuzigung Mk 15 20 (Καί έξάγουσιν αυτόν ίνα σταυρώσωσιν αύτόν). 21 καί (βαστάζων εαυτψ) τον σταυρόν 22 (έξηλθεν εις) τον Γολγοθάν (τόπον), δ (έστιν μεθερμηνευόμενον) Κρανίου Τόπος. 24 (Καί) σταυροΰσιν αυτόν (καί) διαμερίζονται τά ιμάτια (αύτοΰ) βάλλοντες κληρον. 26 καί í¡v (ή επιγραφή της αιτίας αύτοΰ) έπιγεγραμμένη·

Joh 19

16b 17

18 24 19

ό βασιλεύς των 'Ιουδαίων.

27

καί σύν αύτψ (σταυροΰσιν) (άλλους) δύο, (ενα έκ δεξιών καί ενα εξ ευωνύμων αύτοΰ). ? 34 καί έβόησεν ό Ίησοΰς· ελωι ελωι λεμα σαβαχθανι; ο έστιν ? μεθερμηνευόμενον· δ θεός μου δ θεός μου, εις τί έγκατέλιπές με; 36 (δράμων δέ τις (καί) γεμίσας) σπόγγον δξους περιθείς (καλάμψ έπότιζεν) αύτόν. 37 (δ δέ) Ίησους (άφείς φωνήν μεγάλην) (έξέπνευσεν). 40 (ΤΗσαν δέ καί γυναίκες άπό μακρόθεν θεωροΰσαι, έν αίς) καί Μαρία ή Μαγδαληνή (καί) Μαρία ή ( . . . ] .

142 Zum Problem cf. noch VOLLMER, König, pass.

28? ? 29 30 25

Die Kreuzigung

271

(1) PB Die PB-Darstellung der Kreuzigung Jesu enthält eine große Menge historisch sehr wahrscheinlich zuverlässiger Informationen: Nach der Geißelung wurde Jesus auf Befehl des Präfekten von den Soldaten an einen wohl außerhalb der Stadtmauern Jerusalems gelegenen Ort 1 4 3 namens »Golgatha« geführt und dort gekreuzigt. Den Querbalken des Kreuzes trug er nach der hier vorgetragenen Analyse - wie offenbar allgemein üblich 1 4 4 - selbst an die Hinrichtungsstätte. Zusammen mit ihm wurden zwei andere, namenlose Verbrecher gekreuzigt. Die geringfügige Habe des zum Tode Verurteilten teilten die Soldaten, wie es ihnen im ersten Jahrhundert wohl noch zustand, 1 4 5 unter sich auf, 146 d.h. er hing wohl nackt am Kreuz 1 4 7 und starb noch am selben Tag. 148 Das

143 Darauf deutet das έξηλθεν (Joh 19,17; cf. das im Kontext unklarere έξάγονσιν Mk 15,20) hin. Die Hinrichtung außerhalb der Stadt entspräche der üblichen Praxis; s. Lev 24,14; Num 15,35f.; Acta 7,58; BJ IV 6,1 (359f.) ; Plautus, miles glor. II 4 (359) (ed. W.M. Lindsay, Oxford 1905) etc. Ob die Hinrichtungsstätte tatsächlich innerhalb des Geländes der heutigen Grabeskirche lag, ist sehr unsicher; cf. dazu aber die diese Frage in positivem Sinne entscheidende Literatur bei BLINZLER, Prozeß 363 A30 und RIESNER, Golgota, pass. 144 Cf. Artemidor, Oneirocr. II 56; Plutarch, Moralia (de sera num vind) 554 A, B; Dionysios Hal., Ant. VII 69,2. Zur Praxis s. v.a. PEDDINGHAUS, Leidensgeschichte 34-37 sowie H.-W. KUHN, Kreuzesstrafe, pass. 145 Diese Tatsache muß wohl aus Digesta 48, 20,6 erschlossen werden (diese Parallele schon bei WETTSTEIN), wo Ulpian ein Reskript Hadrians zitiert, nach dem zu den sogenannten pannicularia (= 'Lumpen; s. GEORGES, s.v.), die die Henker sich offenbar anzueignen pflegten, nur gezählt werden dürfe, was den Wert von fünf Golddenaren nicht übersteigt. Ulpian selbst bestreitet den Henkern selbst dieses Privileg (ebd.). 146 Der Vers Mk 15,24 par Joh 19,24 ist ein geradezu 'klassisch' zu nennender Testfall für das Problem einer möglichen Historizität alttestamentlich formulierter Angaben (dazu s. FEIGEL, Einfluss; SUHL, Zitate; MOO, Old Testament, jeweils pass.). Die Frage kann m.E. nicht grundsätzlich entschieden werden. In diesem Fall sehe ich aufgrund der äußeren Bezeugung der fraglichen Praxis keinen Grund, der Angabe des PB aufgrund der Anlehnung an Ps 21,19 LXX eine historische Erinnerung abzusprechen (so etwa BRANDT, Geschichte 193). Wohl aber wird man sagen müssen, daß wir die Tatsache, daß uns diese für den Verlauf der Dinge relativ unbedeutende kleine Szene überhaupt überliefert ist, dem Faktum verdanken, daß sie im Alten Testament »prophezeit« ist; cf. dazu bereits DIBELIUS, FdE 188. BLINZLER schmückt - nebenbei bemerkt — die Szene belletristisch aus: die Soldaten verlosten das Untergewand, "möglicherweise eine Arbeit der Mutter Jesu" (!) (Prozeß 369). 147 Diese Praxis bezeugen Artemidor, Oneirocr. II 53; Dionysios Hal. Ant. VII 69,2; cf. auch den von Cassius Dio 62, 7,2 beschriebenen barbarischen Vorfall, MSanh 6,3 und Sifre Dtn 221.

272

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

ganze Geschehen wurde beobachtet von einigen Frauen, einer bis hierhin unbekannten »Maria Magdalena« sowie einer anderen »Maria«, deren Beiname nicht mehr zu ermitteln ist. 1 4 9 Eine historische Beurteilung des in Mk 15,34 überlieferten letzten Wortes Jesu ist kaum möglich, da unsicher ist, ob es im PB eine Basis hatte. Gehört das Wort zur ältesten Passionstradition, so ist gegen die Historizität der S z e ne (Augenzeuginnen sind anwesend !) strenggenommen nichts

einzuwenden;

andererseits mahnen die Tatsachen, daß zum einen die Überlieferung eines letzten Wortes eines berühmtes Mannes zum literarischen Standard gehört 150 und daß zum anderen Jesus später weitere »letzte Worte« in den Mund gelegt wurden (Joh 19,28.30; Lk 23,34 (K* z (A)C usw.). 43.46), zu äußerster Vorsicht. Die Frage, ob der von PB berichteten Tränkung mit Essig eine historische Erinnerung zugrundeliegt oder ob sich die kleine Szene der Stilisierung des Berichtes im Anschluß an Ps 68,22 LXX verdankt, ist sehr wahrscheinlich im letztgenannten Sinn zu entscheiden: es gibt keine Belege für eine derartige Praxis der römischen Soldaten. 151 Was schließlich das Problem 148 Rechnet man mit einer kurzen cognitio am frühen Morgen und mit der Bestattung noch vor Tagesende (s.u. II 2.9), dann ergibt sich ein Zeitraum von maximal acht bis zehn Stunden für die Dauer der Kreuzigung (die Zeitangaben in Mk 15,25: Kreuzigung um 9 Uhr, und Joh 19,14: um 12 Uhr, sind sekundär; dazu s.o. 7.6.6./7.6.8). Das ist außergewöhnlich wenig: Wir wissen z.B. aufgrund der Schilderung des Josephus in Vita 75 (420f.), daß der Tod z.T. erst nach sehr langer Zeit eintrat (weitere Belege bei KUHN, Kreuzesstrafe 752). M.E. besteht aber kein Anlaß, die Angaben des PB von hierher zu bestreiten. 149 Wer die Frauen waren, woher sie kamen, wie viele es genau waren und wie sie genau hiessen, ist nicht mehr zu ermitteln. Deutlich ist allein, daß bereits die Evangelisten (alle!) mit ihren Namen praktisch nichts mehr anzufangen wußten (anders für Mk: HENGEL, Maria Magdalena 247; aber 15,41 ist eine bewußt allgemein gehaltene, die markinische Unkenntnis offenbarende redaktionelle Notiz!; Gleiches gilt i.ü. für die Passage Lk 8,1-3, in der wohl nur die Namen eine Grundlage in der Tradition haben, s. JEREMIAS, Sprache 174-178), was freilich um so stärker für die Historizität der hier vorliegenden Tradition spricht (cf. dazu Hengel, ebd. pass.). BULTMANNS These, die Frauen tauchten hier auf, "weil man die geflohenen Jünger nicht auftreten lassen konnte" (GST 296), ist keinesfalls zu begründen. 150 S. etwa Sueton, Nero 49,1; Plutarch, Perikles 38 uva. Cf. BERGER, Gattungen 1257-1259. Zur Frage, warum Jesu letztes Wort in aramäischer Sprache überliefert wird, s. BURCHARD, Mk 1534, 8f. 151 Nur die römischen Soldaten kommen vom Kontext her und aus allgemeinen historischen Erwägungen als Subjekt der Handlung in Frage (die Kreuzigungsstätten dürften — wenn auch die Belege hierfür spärlich sind — streng bewacht worden sein; s. Petronius, Satyricon 111 (ed. K. Müller, München 1961); cf. Tacitus, Annales VI 19; Euseb, HE V 1,59-61). Einen Beleg dafür, daß die Römer den Verurteilten einen Betäubungstrank gaben, gibt es nicht (s. H.-W.

Die Kreuzigung

273

der genauen Art und Weise der Durchführung der Kreuzigung anbetrifft, so gibt uns PB hierüber keine Auskunft; 152 historisch belegt ist sowohl die Praxis des Aufhängens der Delinquenten mit Stricken als auch die des Annageins am Kreuzesbalken. 1 5 3 Bisher ausgeklammert wurde das Problem der Historizität des

titulus

ò

βασιλεύς των 'Ιουδαίων. Gern wird in jüngerer Zeit dazu das pointierte Verdikt Josef BLINZLERS zitiert: "Die Bestreitung der Geschichtlichkeit der Kreuzesinschrift gehört zu den Auswüchsen der Kritik" (Prozeß 368 A 44). 1 5 4 Dieser

KUHN, Kreuzesstrafe 757 A657); auch von qualverstärkenden »Getränken« wird nichts überliefert. 152 Für eine Annagelung Jesu kann man auf die — sekundären — Auferstehungsgeschichten verweisen, wo eben dies vorausgesetzt ist (Joh 20,19ff.; Lk 24,36ff.). DIBELIUS schließt umgekehrt aus der Tatsache der Nichtzitation von Ps 21,17 LXX, der "vom Durchbohren der Hände und Füße spricht", daß Jesus vielleicht an Stricken aufgehängt wurde; anderenfalls dürfte es die frühe Gemeinde kaum versäumt haben, einen Verweis auf diesen Psalmvers in die Darstellung der Ereignisse zu integrieren (FdE 189). Anders GNILKA: er postuliert hier eine 'semitische Textvorlage' von Ps 22, da dort — im Gegensatz zur LXX — nicht von einem »Durchbohren« die Rede sei (Markus II 316f. mit A 41; ebenso bereits GESE, Psalm 22, pass.; MOHR, Markuspassion 343). Beide Deutungen sind aber verfehlt. Denn zum einen ist die Bedeutung des hebräischen "HKD völlig unsicher (s. GESENIUS, s.v .; eine Berufung auf die 'aramäische Uberlieferung' führt überhaupt nicht weiter: gegen Gese, ebd. 3f. 14 mit A 26), und zum anderen heißt όρύσσείΛΐ nicht »durchbohren/durchstechen«, wie üblicherweise übersetzt wird, sondern »graben/ausgraben« (!) (s. BAUER, s.v.) und »durchbohren« (genauer: »durchgraben«; LIDDELL-SCOTT, s.v.: 'dig through') nur in dem spezifischen Sinn von »einen Tunnel (o.ä.) bohren«. Die Nichtzitation von Ps 21,17 LXX kann die These von einer Herkunft der Szene aus der 'Aramäisch sprechenden Jerusalemer Urgemeinde' (Mohr, ebd.) folglich nicht stützen. Sie wird ihren Grund vielmehr schlicht darin haben, daß der Vers weder im Hebräischen noch im Griechischen verständlich ist (cf. nur etwa den Versuch bei Gesenius, ebd.). 153 S. dazu die Auflistung der in den ersten eineinhalb Jahrhunderten n.Chr. vollzogenen Kreuzigungen bei H.-W. KUHN, Kreuzesstrafe, 685-718; die Grundbedeutung von κρεμάννυμι und προαηλόω — beides termini technici für »kreuzigen« — ist »aufhängen« bzw. »annageln« (s. BAUER, s.v.). »Nägel« und »Strikke« als Uberreste einer Kreuzigung werden nebeneinander gestellt von Plinius, Hist. nat. 28, 11,46 (ed. W.H.S. Jones, London/Cambridge, Mass. 1963). Eindrucksvollstes Beispiel für die Praxis des Annageins ist der Fund des Gekreuzigten von Giv'at ha-Mivtar; dazu Kuhn, Gekreuzigte, pass. 154 So etwa von MOHR, Markuspassion 345 A192. Sachlich entsprechende Urteile bei WINTER, Trial 154.156; J. SCHNEIDER, Johannes 310 mit A4; PESCH, Markus II 484; GNILKA, Markus II 326; STEICHELE, Sohn Gottes 233; BAMMEL, titulus, pass.; KÜMMEL, Jesus fors chung 1989, 21. HENGEL, Messias 167 bezeichnet die Kritik jetzt gar als "irreführend".

274

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

Feststellung muß entschieden widersprochen werden: Die 'Bestreitung der Geschichtlichkeit' des titulus ist keinesfalls ein 'Auswuchs', die Problematisierung der Geschichtlichkeit der Kreuzesinschrift gehört sogar zu den Pflichten historischer Kritik.155 Denn nirgendwo außerhalb der neutestamentlichen Evangelien ist die Praxis der Anbringung einer Schuldtafel am Kreuz des Verurteilten belegt. 156 Es gibt, wie Heinz-Wolfgang KUHN mit wünschenswerter Präzision herausgestellt hat (Kreuzesstrafe 733ff.), überhaupt nur einen Beleg, "der wenigstens eine Aufschrift mit der Angabe der Schuld in einen allerdings losen Zusammenhang mit einer Kreuzigung bringt" (ebd. 735), nämlich Cassius Dio 54, 3,7: Hier läßt der Vater eines gewisser Fannios Caepio einen Sklaven kreuzigen und ihn aus persönlichen Gründen (!) zur Verstärkung der Schmach vorher mit einer Schuldtafel (μετά γραμμάτων την αϊτίαν της θανατώσεως αύτου δηλούντων) quer über das Forum führen. Etwas häufiger ist das Umhängen einer Tafel (o.ä.) mit der Angabe der Schuld bei anderen Bestrafungsarten bezeugt: Sueton, Caligula 32,2, Domitian 10,1; Euseb, HE V 1,44.157 Es geht aber schwerlich an, von diesen vier (!) Belegen aus auf die gängige Praxis zu schließen und das Schweigen der übrigen Quellen auf die Tatsache zurückzuführen, daß "wir nur ganz wenige wirkliche Schilderungen von Kreuzigungen aus der Antike besitzen." 158 Denn diese Praxis ist sichtlich keineswegs die Regel gewesen: Vielmehr spielt in allen überlieferten Fällen deutlich ein persönliches Moment bzw. die Absicht einer besonderen Verspottung des Angeklagten mit hinein - und immer liegt der Schauplatz fernab von Palästina.159

155 Explizit gegen BLINZLER auch KUHN, Kreuzesstrafe 734 A519. 156 Zutreffend z.B. PEDDINGHAUS, Leidensgeschichte 161f.; KUHN, Kreuzesstrafe 734f.; ders., Kreuz 714; CONZELMANN, Theologie 93; cf. auch RADIN, Trial 256; ROSEN, Prozeß 132 mit A33. 141. Falsch - neben vielen anderen etwa BAMMEL, titulus 353: "The fixing of a tablet with an inscription on the cross is less well testified" (Kursive hinzugefügt; bezeichnenderweise verweist Bammel in der zu dieser Feststellung gehörigen Anmerkung (6) denn auch nicht auf eine antike, sondern auf eine moderne Quelle). 157 Der von PESCH, Markus II 484 zusätzlich angeführte Beleg (Cassius Dio 73,16,5) existiert nicht. 158 HENGEL, Messias 167. 159 Cassius Dio 54,3,7 (Rom): der Sklave hatte Fannius Caepio auf der Flucht im Stich gelassen. Sueton, Caligula 32,2 (Rom): Caligula läßt einem Sklaven, der bei einem kaiserlichen Gastmahl eine silberne Platte gestohlen hat, die Hände abhauen und ihn dann mit der Schuldtafel unter den Gästen (!) herumführen. Sueton, Domitian 10,1 (Rom): Domitian ist von dem Hinzurichtenden persönlich beleidigt worden. Euseb, HE V 1,44 (Lyon): ein Statthalter will die Menge im Zirkus weiter anstacheln, indem er einem angesehenen Christen namens Attalus

Die Kreuzigung

275

Nun kann freilich mit gewissem Recht eingewendet werden, bei Mk (und wohl auch im PB) sei doch gar nicht explizit davon die Rede, daß der titulus am Kreuzesbalken angebracht war, und also sei die Diskrepanz zu dem von Cassius Dio 54, 3,7 beschriebenen Fall gar nicht so groß wie hier dargestellt. 160 Hingegen ist das übliche Verständnis des Textes doch das weitaus nächstliegende: (1) Bereits Matthäus und Lukas haben den Mk-Text in genau diesem Sinn verstanden (Mt 27,37; Lk 23,38). (2) Auch Johannes spricht explizit vom Anbringen des titulus am Kreuz (19,19). (3) Wollte Mk von einer Jesus auf dem Kreuzesweg umgehängten Tafel (o.ä.) erzählen, müßte V.26 hinter V.22 stehen. (4) Vor allem aber: Von einem persönlichen Interesse des Richters bzw. dessen Absicht, den Angeklagten in besonderer Weise zu verspotten, ist in unserer Quelle nirgendwo die Rede. Muß daher daran festgehalten werden, daß das vom ältesten Passionsbericht (und allen Evangelien) geschilderte Geschehen singulär und schon von daher historisch höchst problematisch ist,161 so spricht schließlich der Inhalt des titulus klar gegen dessen Historizität. Denn im Kontext des Passionsberichtes ist — um es nochmals zu betonen - ò βασιλεύς των 'Ιουδαίων ein messianischer Titel, und der Schuldangabe geht das (m.E.) zweifellos unhistorische Bekenntnis Jesu zu dem Anspruch, der »König der Juden« zu sein, voraus (Mk 15,2par; s.o. II 2.6). 1 6 2

Will man trotz dieser schwerwiegenden Einwände für die Historizität des Inhalts des Schuldtitels eintreten, so gibt es m.E. nur zwei in sich konsistente Möglichkeiten: (l) Man behauptet gleichzeitig die Historizität von Mk 15,2(par) — mit al-

eine Schuldtafel mit der Aufschrift 'Dies ist Attalus, der Christ' umhängen läBt (zur Hinrichtung kommt es dann nicht, weil dieser sich auf sein Bürgerrecht beruft). 160 So etwa GNILKA, Markus II 326; ders., ProzeB 33; ders., Jesus 305. Erstaunlich: LOHFINK, Tag 68, der fraglos davon ausgeht, der titulus sei Jesus 'auf dem Gang zur Hinrichtungsstätte vorangetragen' worden. 161 Cf. dagegen 6LINZLER, ProzeB 367, der sogar die Farbe der Buchstaben anzugeben weiB: "Die am Kreuze angebrachte Tafel trug — in schwarzen oder roten Lettern auf weißem Grund — (!) die Inschrift ...". 162 HENGEL, Messias 167 urteilt jetzt: "Mit einem gegen alle historische Wahrheit auf Jesus übertragenen Titel "König der Juden hätte die früheste Gemeinde Jesus in die allerschlechteste Gemeinschaft gebracht und ihren Meister und sich selbst diffamiert." Aber dieses Urteil gilt nur, solange der Kontext des Passionsberichtes außer Acht gelassen wird. Denn für den Leser des PB ist doch klar: (l) TCönig der Juden ist eine nicht ganz präzise Übersetzung fur χριστός (Mk 14,62; 15,2par); (2) Pilatus hatte gegen Jesu Anspruch, der 'König der Juden zu sein, nichts einzuwenden (Mk 15,14par). In diesem Licht betrachtet, gerät Jesus keineswegs in 'allerschlechteste Gesellschaft'.

276

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

len sich daraus ergebenden Konsequenzen: Jesus hätte dann im engeren Sinn politische Ambitionen nicht von sich gewiesen. 163 (2) Man plädiert für die Nicht-Historizität von Mk 15,2(par), betrachtet aber den titulus als historischen Kern, aus dem die diesbezügliche Darstellung des PB (und damit der Evangelien) wesentlich erwachsen ist. 1 6 4 Die zweite Position ist grundsätzlich nicht ohne Attraktivität. Sie scheitert m.E. hingegen daran, da£ (l) die von PB geschilderte Praxis analogielos ist, daß (2) der Bezeichnung Jesu als ô βασιλεύς των 'Ιουδαίων ein Mißverständnis zugrunde liegen müßte und daß (3) der Titel ό βασιλεύς των 'Ιουδαίων im Neuen Testament — mit Ausnahme von Mt 2,2 — ausschließlich im PB und dem von ihm direkt oder indirekt abhängigen Stoffen auftritt. Die Historizität des Schuldtitels »König der Juden« muß daher bestritten werden.

(2) PB M k - Sondertradition Nach Mk 15,21 hat ein gewisser Simon aus Kyrene, »der Vater von Alexander und Rufus«, das Kreuz Jesu an die Hinrichtungsstätte getragen. Deutlich ist, daß der Evangelist Markus Alexander und Rufus gekannt hat (s.o. 7.6.8); wahrscheinlich haben sie ihm die Tradition über ihren Vater vermittelt, sei es mündlich, sei es durch deren Einfügung in PB Mk . Enthält diese Tradition eine historisch zuverlässige Angabe, war also Simon von Kyrene ein Augenzeuge der Kreuzigung Jesu? Dagegen spricht die Tatsache, daß die älteste Passionstradition die kleine Szene (m.E.) noch nicht kannte: warum sollte sie in PB gefehlt haben? Prinzipiell könnte man natürlich dafürhalten, daß Simon sein Erlebnis zunächst für sich behalten und es erst später seinen Söhnen erzählt hat. Aber — malen wir die Szene ausnahmsweise einmal aus — wenn Simon tatsächlich den Querbalken des Kreuzes Jesu nach Golgatha getragen hätte, wäre er dort doch unweigerlich mit den Frauen zusammengestoßen; und warum berichten Maria Magdalena und die andere(n) Frau(en), die historisch nach unserer Kenntnis allein als Tradentinnen der Kreuzigungstradition in Frage kommen, dann nichts von ihm? Mit Dieter LÜHRMANN läßt sich m.E. nur noch soviel sagen, daß Alexander und Rufus "einmal eine Rolle in der christlichen Gemeinde gespielt haben" und daß "man sich (von ihnen} erzählte, daß ihr Vater Jesu Kreuz getragen habe" (Markus 259). Wie diese Tradition zustandekam, wissen wir nicht. 165

163 So etwa BRANDON, Trial, pass., besonders 92f. 140-150. 164 So HAHN, Hoheitstitel 178f,195f. (cf. auch DAHL, Messias 159-163; BURKILL, Condemnation 326 u.ö.). 165 Cf. aber die Spekulation von SCHENKE, Christus 91f.

277

Das Begräbnis

2.9. Das Begräbnis Mk 15

Joh 19

42

(Μετά δε ταύτα), I (έπεί ή\ι) παρασκευή,

43

Ίωοήφ Cò) ornò 'Αριμαθαίας ($ς και αυτός ífy προσδεχόμενος την

38142 38

βασιλείαν τοΰ θεου,] (είσήλθεν προς) τον Πιλδτον (και ήτήσατο) το οώμα τοΰ Ίησοΰ. 44145

ό (δε) Πιλάτος I (έδωρήσατο το πτώμα τψ Ίωοήφ).

46

(Και καθελών αυτόν I ένείλησεν σινδόνι και)

140

εθηκεν (αυτόν έν) μνημείψ.

42 (1) PB

Die epilogartige letzte S z e n e des ältesten Passionsberichtes datiert zunächst den Todestag Jesu auf einen Freitag (παρασκευή).166 Dieser Freitag war nicht zugleich der erste Tag der Paschawoche, denn die Passage Mk 14,12-16, die allein diese Datierung impliziert, ist nicht ursprünglich (s.o. 6.2). Die vieldiskutierte Frage, ob die Synoptiker oder Johannes die ursprünglichere Chronologie der Passion Jesu bieten, ist daher klar zugunsten Chronologie zu entscheiden.

167

der johanneischen

Allerdings ist auch hier noch Vorsicht

am

Platze; 168 denn die Datierung des ersten Tages der Paschawoche auf einen

166 Absolut gebrauchtes παρασκευή entspricht dem hebräischen ΓΠΙΰ 3~1V und bedeutet schlicht »Freitag«; s. BAUER, s.v.; cf. BILLERBECK I 1052f. 167 So bereits BLINZLER, Prozeß 104-108 uva. Anders v.a. JEREMIAS, Abendmahlsworte 73-78; PESCH, Markus II 323-327. Zuletzt BETZ, Prozeß 572; ROSEN, Prozeß 123; GNILKA, Jesus 282f.. Ein Ausgleich zwischen der markinischen und der johanneischen Chronologie ist nicht möglich. Der jüngste derartige Versuch von RUCKSTUHL (Chronologie I, II, jeweils pass.) zeigt das noch einmal aufs deutlichste, da er voll von (m.E.) nicht anders als phantastisch zu nennenden Thesen ist (einige wenige Beispiele: es sei "nicht daran zu rütteln, daß die joh Uberlieferung ursprünglich das letzte Mahl Jesu als Paschamahl (!) festgehalten hat" (I 44); die synoptische Chronologie "widerspricht ... den astronomischen (!) und geschichtlichen Gegebenheiten" (I 46); "Der Vorzugsjünger (der joh Lieblingsjünger, der Vf.) war Mitglied der Jerusalemer Essenergemeinde und ihr (der Jünger, der Vf.) 'Gastmönch', der Hauswirt des Essener Gästehauses, der Jesus und den Zwölf einen Saal seines Hauses zur Paschafeier überlassen hatte" (I 56); usw.). 168 Sehr kritisch urteilt BRANDT, Geschichte 303f., der die synoptische Chronologie verwirft, aber auch gegenüber der johanneischen Datierung des 15. Nisan auf einen Sabbat skeptisch bleibt. S.E. ist historisch nur eine gewisse zeitliche Nähe des Freitags zum Paschafest gesichert. Ebenso jetzt CROSSAN, Cross 110; MYLLYKOSKI, Letzte Tage 183.

278

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

Sabbat basiert zunächst

allein auf

den nicht ursprünglichen Versen

Joh

19,14.3t, 169 deren Angaben sich allerdings auf Umwegen stützen lassen. 170 Die johanneische Chronologie wird wahrscheinlich also nicht nur darin historisch zuverlässig sein, daß Jesu Todestag nicht der 15. Nisan war, sondern auch darin, daß es tatsächlich der 14. Nisan war. Szene 9 des PB berichtet weiter, daß ein ansonst unbekannter, mit Jesus sympathisierender Jude namens Joseph aus Arimathia von Pilatus die Erlaubnis erbeten und bekommen habe, Jesus noch am selben Tag zu begraben. Eine Einschätzung der diesbezüglichen römischen Praxis in Palästina zur Zeit Jesu ist nicht einfach. Einerseits ließen die Römer Gekreuzigte oft so lange am Kreuz hängen, bis sie von Raubtieren gefressen wurden; 171 in vielen, wenn nicht den meisten Fällen wurde den Hingerichteten eine ordentliche Bestattung verweigert. 172 Andererseits ist uns ein zeitgenössischer Fall aus Alexandria bekannt, wo der Statthalter die Leichen Gekreuzigter anläßlich des Geburtstags des Kaisers den Verwandten zur Bestattung übergeben hat (Philo, In Flacc. 10 (83)), und die späteren Juristen traten explizit für diese humanere Praxis ein. 173 D.h.: die römische Praxis war offenbar nicht einheitlich

169 JEREMIAS problematisiert die chronologische Aussage dieser Verse (Abendmahlsworte 73-76). Aber die Argumente überzeugen nicht: (l) Die nächstliegende Übersetzung von παρασκευή τοΰ πάσχα (Joh 19,14) ist »Rüsttag auf Pascha« und nicht »Freitag der Paschawoche« (s. dazu bereits BILLERBECK II 8 3 4 - 8 3 6 und vor allem ZEITLIN, Date, pass.). (2) Die Bezeichnung »großer Sabbat« (19,31) ist für den 15. Nisan mindestens ebenso sinnvoll wie für den 16. (cf. Billerbeck II 581f.). (3) 18,28 schließt jeden Zweifel darüber aus, wie Johannes 19,14.31 verstanden wissen wollte. Cf. zum Problem auch die analoge These von TORREY, Date, pass, und dazu die überzeugende Kritik von Zeitlin, ebd. 170 Sollte das μετά Suo ημέρας in Mk 14,1 traditionell sein, ergäbe sich — läßt man Mk 14,12-16 einmal außer Acht — ursprünglich dieselbe Datierung (!) in P B M k , denn die Formulierung verweist auf den (nach der markinischen, griechischen Tageszählung) morgigen Tag (nicht den »übermorgigen«: s.o. 7.6.1 A 98), d.h. den Freitag, an dessen Abend das Paschafest auch nach der johanneischen Chronologie beginnt. Cf. dazu — mit etwas anderer Begründung — auch THEISSEN, Lokalkolorit 177f. ; KOESTER, Gospels 288f. mit Al. 171 Artemidor, Oneirocr. II 53: ó σταυρωθείς ... πόλλους τρέφει (οιωνούς); cf. IV 49 sowie Euseb, de mart. Pal. 9,9f.; Sueton, Augustus 13. 172 S. weiter Philo, In Flacc. 10 (84); Tacitus, Annales VI 19.29; Petronius, Satyricon 111 (Lit. o. A 151); Euseb, HE V 1,59-61 u.ö. Zum Problem s. MOMMSEN, Strafrecht 987-990. 173 So Ulpian (Digesta 48, 24,1), der den Zustand seiner eigenen Zeit (2./3.Jh.) so beschreibt, daß "nonnumquam" der Bitte um eine ordentliche Beisetzung nicht stattgegeben werde, insbesondere im Fall von Majestätsverbrechen; cf. auch Paulus, ebd. 3.

279

Das Begräbnis geregelt, konnte vielmehr je nach Fall und je nach persönlichem

Entscheid

des Verantwortlichen so oder so ausfallen. Im jüdischen Bereich hingegen p i t die sofortige Bestattung ganz grundsätzlich als fromme Pflicht gegenüber jedermann. 174 Besonders eindrücklich ist die Schilderung des Josephus in BJ IV 5,2 (317), wonach den Juden so viel daran gelegen ist, ihre Toten beizusetzen, 'daß sie sogar die aufgrund eines Strafurteils Gekreuzigten noch vor Sonnenuntergang abnehmen und bestatten' (ωστε και τους έκ καταδίκης άνεσταυρωμένους προ δύνχος ήλίου καθελεΤν τε και θάπτειν). Notwendige Voraussetzung dieser jüdischen Praxis ist die diesbezügliche Genehmigung des Inhabers des Imperiums.

Ist die Bemerkung des Josephus zuverlässig, so folgt daraus, daß

die Römer in Palästina die Gekreuzigten offenbar in aller Regel zur Bestattung freigaben — wohl aus Rücksicht auf die religiösen Empfindungen der Juden. Im speziellen Fall Jesu, d.h. im Fall einer Kreuzigung vor einem Paschafest in einer politisch vergleichsweise ruhigen Zeit, erscheint dies umso wahrscheinlicher, als Pilatus durch einen gegenteiligen Entscheid vor dem großen Festtag unweigerlich erhebliche Unruhe im Volk hervorgerufen hätte. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, daß gegen die Darstellung des ältesten Passionsberichtes, auch gegen dessen Behauptung, Jesus sei in einem Privatgrab ist.

bestattet

worden, 1 7 5

historisch

nichts

Ernsthaftes

einzuwenden

176

174 S. Dtn 21,23; Tobit l,17f. ; 2,3-8; Philo, de spec. leg. III 28 (152); BJ III 8,5 (377f.) ; MSanh 6,5; Sifre Dtn 221 u.ö. 175 Zwar dürfen nach MSanh 6,5 Hingerichtete nicht in den Gräbern der Väter, müssen vielmehr zunächst in einem Massengrab beigesetzt werden. Aber diese Bestimmung ist wahrscheinlich (für den m.E. sehr wahrscheinlichen Fall, daB den Juden in der fraglichen Zeit keine Kapitalgerichtsbarkeit zustand (s.o. II 2.5 A 111) sogar: sicher) rein theoretischen Charakters, da sie sich offenbar auf von Juden Hingerichtete bezieht — s. die Differenzierung, die Rabbi Abbaje (3./4. Jh.) nach bSanh 47a-b vornimmt. Vor allem aber ist jetzt auf den Fund des Gekreuzigten von Giv'at ha-Mivtar in einem A-ivafgrab hinzuweisen (s. dazu KUHN, Gekreuzigte, pass.). Zwar ist bei der Auswertung dieses archäologischen Faktums eine gewisse Vorsicht am Platz, da es sich um eine Ossuar-, d.h. Mederbestattung handelt und wir nicht mit Sicherheit ausschließen können, daß der Tote zuvor an einem anderen Ort bestattet worden war. Kuhn urteilt aber mit Recht: "wahrscheinlich ist das in diesem Fall wegen der römischen Hinrichtungsart und der ordentlichen Ossuarbestattung freilich nicht" (ebd. 331). 176 Cf. zum Problem auch BROWN, Burial 234-238. Er resümiert mit Recht: "Thus we cannot discount the possibility of an honorable first burial of one crucified by the Romans" (238). Gegen BLINZLER, Grablegung 87 können von hier aus allerdings keinerlei Rückschlüsse darauf gezogen werden, daß Pilatus Jesus nur "ungern und unter Druck" verurteilt habe.

280

Historische Analyse des ältesten Passionsberichtes

Wer dieser Joseph aus Arimathia, der Jesus begraben hat, freilich war und was aus ihm geworden ist, wissen wir nicht. 177 Deutlich ist lediglich, daß er nicht zu den Jüngern Jesu gehörte, die mit der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu tun hatten. Ob die frühe Gemeinde — wie häufig behauptet -

den

Ort des Grabes Jesu wirklich kannte, 178 ist mehr als fraglich. Nur Joseph selbst käme - abgesehen von den Frauen, deren Beobachtung der Bestattung vom PB (m.E.) aber nicht behauptet wurde -

als Vermittler einer solchen

Lokaltradition in Frage; aber kannten die Jünger(innen) Joseph von Arimathia? Wichtiger noch: Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Verehrung der Grabesstätte, die die unweigerliche Folge einer Kenntnis des Ortes seitens der frühen christlichen Gemeinde gewesen wäre. 1 7 9

2.10. Zur Tendenz der unhistorischen Angaben des ältesten Passionsberichtes180 Nach der hier vorgetragenen Analyse haben folgende wesentliche Angaben des ältesten noch erreichbaren Passionsberichtes keine historische Grundlage:

177 SCHREIBER, Bestattung 174f. hält ihn für ein Mitglied des 'hebräischen Teils der Jerusalemer Urgemeinde'. Häufiger liest man, daß Joseph ein Mitglied des Synhedriums gewesen sei (z.B. bei BLINZLER, Prozeß 392; etwas vorsichtiger MOHR, Markuspassion 353). Hingegen hat Mk βουλευτής offensichtlich (noch) nicht in diesem Sinn verstanden (14,64!), und im PB fehlt jegliche nähere Angabe. Später macht Joseph dann allerdings eine erstaunliche »Karriere«: cf. Lk 23,50; Acta Pilati llff. 178 So etwa BLINZLER, Prozeß 401f.; ders., Grablegung 83ff.; GNILKA, Markus II 346; SCHENKE, Leeres Grab 102 uva. 179 Zum Problem s. GOGUEL, Jésus 454-458 und BROER, Urgemeinde 280-294 (der unentschlossen bleibt). SCHENKE, Leeres Grab 93-103 postuliert mit vagen Argumenten eine Kenntnis des Ortes des Grabes seitens der Jerusalemer Urgemeinde. Sein Resümee, die Konsequenz der Kenntnis der Begräbnisstätte sei "eine schon sehr früh einsetzende Verehrung des Grabes" gewesen (102), ist ob des Fehlens jeglicher Belege für eine derartige Verehrung mehr als erstaunlich. Wenn BLINZLER die Tatsache, daß die Angaben in Mk 16/Joh 20 "gut auf das traditionelle Heilige Grab unter der Kuppel der Grabeskirche in Jerusalem" passen (Prozeß 401), als Beleg für die "Echtheit des Heiligen Grabes" wertet (402), dann verwechselt er in naivster Weise Ursache und Wirkung. 180 Zu den historischen Traditionen s.u. II 5.

Die Tendenz der unhistorischen Angaben

281

(1) Die Hohepriester (und Schriftgelehrten) haben Jesu Tod gewollt und beschlossen. (2) Die Menge hat Jesus beim Einzug in Jerusalem als Messias begrüßt. (3) Der Hohepriester hat Jesus an Pilatus ausgeliefert, weil dieser bekannt hatte, der Messias zu sein. (4) Pilatus hat Jesus seinen Soldaten zur Kreuzigung übergeben, weil dieser zugegeben hatte, der »König der Juden« zu sein. (5) Pilatus hat Jesus für unschuldig gehalten und das jüdische Volk aufgrund eines Rechtsbrauchs vor die Wahl gestellt, ob Jesus gekreuzigt werden solle oder nicht. (6) Die Juden von Jerusalem haben auf das entschiedenste die Kreuzigung Jesu gefordert. (7) Die römischen Soldaten haben Jesus als »König der Juden« verspottet. (8) Pilatus hat den Grund der Kreuzigung Jesu auf einer Schuldtafel dahingehend angegeben, dieser sei der »König der Juden«. Auffallig an dieser Liste ist die Tatsache, daß alle einschlägigen unhistorischen Angaben des ältesten Passionsberichtes die Geschichte nicht etwa in verschiedener Hinsicht ausschmücken, sondern eine klar bestimmbare Tendenz haben; sie alle verankern die folgenden beiden Aussagen in der Erzählung: (1) Jesus war aus römischer Sicht unschuldig. (2) Juden haben ihn kreuzigen lassen, weil er der Messias war. Dieses Ergebnis bestätigt mit allem Nachdruck die im ersten Teil dieser Untersuchung völlig unabhängig von historischen Erwägungen vertretene These, das wesentliche Kennzeichen des ältesten noch erreichbaren Passionsberichtes sei sein apologetischer Charakter. Nun kann auch die dort181 gestellte Frage beantwortet werden, ob auch im Falle des PB die Rückseite der Apologie die Polemik sei: Ja — wenn sie auch noch nicht stark ausgeprägt ist. Denn genau die für die Apologie unabdingbaren Momente der Darstellung entbehren einer historischen Grundlage.182 Der älteste Passionsbericht schildert die näheren Umstände des Todes ersichtlich in tendenziöser Weise.183 181 S.o. 7.8.1, A 339. 182 Cf. auch das Resümee von ROSEN, Prozeß 142f.: "Aber für die junge christliche Kirche wurde wichtiger, die unmittelbare Schuld an Jesu Tod dem jüdischen Volk in Jerusalem zuzuweisen. Denn wo immer im Imperium Romanum Christengemeinden entstanden, waren Juden ihre ersten und meist schwersten Gegner. In der Passionsgeschichte erhielt der Gegensatz eine theologische Rechtfertigung, die nachhaltig den eigentlichen AnlaB für die Kreuzigung überdeckte." 183 Christen tun in diesem Zusammenhang gut daran, sich der nur scheinbar banalen Feststellung des in seinen Urteilen bahnbrechenden jüdischen Apologeten L. PHILIPPSON zu erinnern: "Es fehlt also über den ProzeB Jesu an allen historischen Dokumenten, und wir besitzen darüber nichts als die Berichte der Evangelisten. ... (D)iese aber (sind) nur Partei" (Juden 30.14).

3. Historische Analyse einiger sekundärer Passionstraditionen

3.0. Vorbemerkung Da es nicht a priori ausgeschlossen werden kann, daß historisch zuverlässige Tradition über die letzten Tage Jesu außerhalb des Rahmens des ältesten Passionsberichtes überliefert worden ist, müssen die als literarisch sekundär erkannten Passagen innerhalb der Passionsberichte der vier kanonischen Evangelien im folgenden analysiert werden. Diskutiert werden aus sachlichen Gründen aber nur solche Passagen, die (1) unselbständig, d.h. notwendig auf den Kontext der erzählenden Passionstradition angewiesen sind,1 und die (2) auf Tradition beruhen (bzw. noch nicht analysiert worden sind). 2 Im Falle des Markus- und Johannesevangeliums können wir uns auf die Passagen beschränken, die außerhalb der in Kapitel II 2 analysierten Szenen des ältesten Passionsberichtes stehen; im Falle des Matthäusevangeliums können aus Platzgründen nicht sämtliche Variationen gegenüber der Markusvorlage analysiert werden, sondern nur die anerkanntermaßen wesentlichen. Untersucht werden gemäß dieser Charakteristik folgende Passagen: (a) (b) (c) (d)

Mk Joh Lk Mt

14,12-16.27a.32-42. 19,31-37. 23,6-16. 27,3-10.19.24f.62-66.3

1 Eine Ausnahme bildet die Behandlung der »Tempelreinigung« (Mk ll,15-17par): Sie ist eine eigenständige Perikope, gilt aber vielfach als historischer AnlaB für das Vorgehen gegen Jesus. 2 Eine weitere Ausnahme bildet die Behandlung der Passage Lk 23,6-16, die ich für redaktionell halte (s.o. 4.4.1), hier aber aufgrund ihrer Prominenz — BLINZLER, Prozeß 284-300 widmet ihr ein ganzes Kapitel! — trotzdem behandele. 3 Nicht untersucht werden demgemäß die folgenden Passagen, die hier der Vollständigkeit halber unter Angabe des jeweiligen Unterscheidungsmerkmals kurz aufgelistet seien. Gegen Kriterium (l) verstoßen: Mk 14,3-9/Joh 12,1-8 (s. 7.4.1); Mk 14,22-25 (s. 6.2); alle zu Beginn des Kapitels 6.2 genannten Stoffe (synoptische Apokalypse, Jerusalemer Streitgespräche, joh Abschiedsreden etc., s. dort); Lk 22,19b-20.24- 27.28-30.31-32a (s. 4.4.2). Gegen Kriterium (2) versto-

Historische Analyse einiger sekundärer Traditionen

283

3.1. Markus 14,12-16.27a.32-42 Mk 14,12-16 Die Szene, die wie ll,lb-7; 14,18-20.27.29-31 auf das wunderbare Vorherwissen Jesu und damit auf die Freiwilligkeit seiner Passion abzielt und an Motive aus 1 Kön 10 LXX erinnert, enthält keine historisch relevante Tradition: (1) Nur sie datiert die »Prozesse« und die Kreuzigung Jesu auf den 15. Nisan. PB weiß davon nichts; Johannes widerspricht dieser Datierung (19,14.31).4 (2) Der Inhalt der Geschichte ist eindeutig legendären Charakters. "Eine historisierende Erklärung der Szene, wie Pesch sie vorlegt ('geheime Absprache' zwischen Jesus und dem Hausherrn, von der die Jünger nichts wissen dürfen; der Wasserträger als TVlittelsmann'), ist unzumutbar." 5 Die Analogie zur Vorhersage der »Auslieferung« und der Petrusverleugnung macht das unmißverständlich klar: Auch dort hat sich Jesus nicht vorher mit Judas bzw. Petrus 'abgesprochen', sondern sagt die Handlung kraft seiner besonderen εξουσία voraus. Mk 14,27a Auch in diesem Vers sagt Jesus ein späteres Ereignis voraus: die Jüngerflucht (14,50-52). Die Tatsache, daß es ersichtlich eine Tendenz der Überlieferung gibt, den Meister immer mehr Ereignisse seines zukünftigen Geschicks im vorhinein verkünden zu lassen (14,18.30; 14,12-16; ll,lb-7; cf. 10,33f.), spricht dafür, daß 14,27a sekundär aus V.50 (51f.) erschlossen und also historisch wertlos ist.

Ben: Mk 14,10f.(26).28 (s. 6.2); Lk 22,15-18.21-23.32b.35-38(?); 23,(6-16).39-43 (s. 4.4.1). Zum speziellen Problem von Lk 23,27-31 s.o. 4.4.2. Was im übrigen die Beurteilung der Art und Weise der Entstehung dieser Passagen sowie der wahrscheinlichen Gründe für ihre Hinzufügung zu PB (bzw. Mk) anbetrifft, so ist — mit Ausnahme der mt Belege — oben (4.4.1 zu Lk; 6.2 zu Mk und Joh) bereits alles Wichtige gesagt worden. Ich setze diese Analyse im folgenden voraus. 4 Die Verwirrung, die Mk 14,12-16 durch diese Datierung ausgelöst hat, ist enorm. Man vergleiche etwa die komplizierten Lösungsversuche von RUCKSTUHL, Chronologie 1963; ders., Chronologie I/II, jeweils pass.; JAUBERT, Date, pass., insbesondere 105-136 und schon CHWOLSON, Passahmahl, pass.; BILLERBECK, II 812-853 sowie das Referat bei BLINZLER, Prozeß 104-108. 109-126. Alle Versuche eines Ausgleichs mit der joh Chronologie sind aussichtslos (s. bereits ο. II 2.9 A 167). Erkennt man den sekundären Charakter von Mk 14,12ff., lösen sich die Probleme mit einem Schlag (cf. z.B. LÜHRMANN, Markus 229). 5 LÜHRMANN, Markus 236 (die Zitate bei PESCH, Markus II 345). Cf. auch GNILKA, Markus II 234; SCHMITHALS, Markus 604f. Ahnlich unkritisch wie von Pesch wird der Text behandelt von KLAUSNER, Jesus 450 und SAFRAI, Wallfahrt 162.

284

Markus 14,32-42

Mk 14,32-42* Es ist (nahezu) allgemein anerkannt, daß die Jetztgestalt der Gethsemaneszene keinen Anspruch auf historische Zuverlässigkeit erheben kann, da sie (1) mehrschichtig und von markinischer Redaktion durchdrungen ist 6 und da es (2) niemanden gibt, der Jesu Gebet hätte überliefern können: schlafende Jünger kommen als Augen- bzw. Ohrenzeugen offenbar ja schlecht in Frage. Fraglich kann allein sein, ob ihr ein historischer Kern zugrundeliegt, der jetzt durch sekundäre Stoffe überlagert ist, 7 ob also z.B. die Tatsache eines Gebets Jesu vor seiner Verhaftung historisch ist. 8 Hingegen liegt der Schwerpunkt der mk Gethsemaneperikope eben gerade auf der Überlieferung des Inhalts des Gebets Jesu (V.35b.36), und Gleiches gilt zweifellos für alle denkbaren Vorstufen der Szene. Die Fragestellung führt daher in die Irre. Sie geht nicht vom "Bericht aus, sondern von Vermutungen über das Berichtete"; 9 sie argumentiert auf der (hypothetischen!) Grundlage, der Text enthalte eine historische Erinnerung, um ihn sodann unter Mißachtung seiner Eigenaussage dieser konstruierten Historie anzupassen. Geht man hingegen - wie es methodisch allein sachgemäß ist - vom Text aus, so kommt man zwangsläufig zu dem Urteil, daß die Entstehung der aus historischer Perspektive so problematischen Gethsemaneszene in hervorragender Weise von den Bedürfnissen der frühen Gemeinde her erklärt werden kann und daß sie also als legendär zu beurteilen ist.10

6

Für Einheitlichkeit plädieren (s. bereits o. 6.2) LOHMEYER, Markus 313; PESCH, Markus II 386; FELDMEIER, Krisis 67-112. Auch Pesch urteilt über die historische Qualität des Kerns der Gethsemaneszene aber vorsichtig ("Sofern Jesu Gebet authentisch überliefert ist, was nicht als bewiesen gelten kann, aber auch nicht begründet widerlegt ist, ..." 395). G. SCHWARZ' (Jesus) Rekonstruktion der letzten Nacht Jesu nach Art eines modernen Fernsehprogramms (Ankunft in Gethsemani "gegen 21.30 Uhr" (213), "kaum vor 22.30 Uhr, als Jesus sie zum ersten Mal weckte" (220), zweites und drittes Wecken dann jeweils "in Abständen von je einer halben Stunde" (ebd.), somit Verhaftung "gegen 23.30 Uhr" (213)) ist abenteuerlich.

7 So etwa LIETZMANN, Prozeß 5; TAYLOR, Mark 551; BARBOUR, Gethsemane 234f.; GNILKA, Markus II 264; FITZMYER, Luke 1439; cf. auch FELDMEIER, Krisis 133-139. 8 So etwa GNILKA, Markus II 264; "Hat er [ J e s u s ] dort [in Gethsemane] die letzte Nacht zugebracht, so ist die Erinnerung an ein intensives Gebet glaubwürdig." Ähnlich FINEGAN, Leidensgeschichte 71. 9 CONZELMANN, Historie 40 A 9 (in anderem Zusammenhang). 10 So vor allem DIBELIUS, Gethsemane, pass. Cf. auch BULTMANN, GST 288f. Lediglich der Name »Gethsemane« wird einen historischen Anhaltspunkt haben — aber welchen? Gegen GNILKA, Markus II 260f. vermag ich in der Gebetsanre-

Historische Analyse einiger sekundärer Traditionen

285

3.2. Johannes 19,31-37 Die joh Sondergutszene setzt ganz offensichtlich die alttestamentlichen Verse Ps 34,21 (Ex 12,46) und Sach 12,10 in Erzählung um. Darauf weisen zunächst die Erfüllungszitate in V.36f. hin, die die Pointe der Passage bilden. Ein weiteres klares Indiz ist die Tatsache, daß die Geschichte an der entscheidenden Stelle (nämlich den Schriftzitaten) abbricht: »die Juden« hatten Pilatus nach V.31 ja gar nicht in erster Linie um die Durchführung des

crurifragium

ersucht, sondern um die Abnahme des Leichnams vom Kreuz. Eben von dieser ist aber später nicht mehr die Rede. V.38 schließt eine solche Handlung vielmehr sogar aus. Die Szene ist also — mit Ausnahme der aus dem PB (Mk 15,42; Joh 19,42) stammenden Freitagsdatierung - 1 1 historisch wertlos.

Das

Alte Testament hat hier »Geschichte« produziert; eine historische Interpretation von Joh 19,31-37 ist verfehlt. 12

3.3. Lukas 23,6-16 Obwohl Martin DIBELIUS (Herodes 286ff.) und andere m.E. klar gezeigt haben, daß die Perikope Lk 23,6-16 eine lukanische Komposition ist, 13 behandele ich sie hier aufgrund ihrer Prominenz. 14

11 12

13 14

de »Abba« V.36 (Gal 4,6; Rom 8,15!) und der Anrede »Simon« V.37 (Variation zur Vermeidung eines doppelten »Petrus« ?) keine Spuren für einen "palästinischen Charakter der Tradition" (261) zu sehen. Um sicherzugehen.- "Für die Historizität der Überlieferung ist das Argument untauglich, daß hier von der Niedrigkeit Jesu erzählt würde und der Gemeinde, solches zu ersinnen, nicht zuzutrauen wäre. (So etwa LIETZMANN, Prozeß 5 uva.; der Vf.) Wie wir sehen konnten, wird gerade Jesu Größe im Leiden geschildert" (Gnilka, ebd. 264). Und mit Ausnahme der Datierung des Pascha auf einen Sabbat (19,31)? S. dazu o. II 2.9. Gegen BLINZLER, Prozeß 391, der Joh 19,31-34 völlig kritiklos in ein (pseudo)historisches Imperfekt überträgt ("Pilatus hatte keinen Grund, den Antrag abzulehnen" etc.). Auch gegen LË ΜΟΝΟΝ, Pilate 196-199, der hier Spuren einer "rôle actif des autorités juives" (l99) im Zusammenhang mit der Bestattung Jesu findet (cf. Acta 13,27-29). S.o. 4.4.1 und zuletzt die Analyse von MÜLLER, Herodes pass. Für historisch halten sie etwa BLINZLER, Prozeß 284ff. ; HOEHNER, Herod Antipas 233ff.; MARSHALL, Luke 854f.; STROBEL, Stunde llOf.; FITZMYER, Luke 1478ff.; RUCKSTUHL, Chronologie I 30f. II lOlff. u.a. "(A) basic historical remembrance of Herod's involvement in the trial of Jesus" diagnostiziert SOARDS, Herod Antipas 350; ähnlich LÉMONON, Pilate 190: "Luc peut faire

286

Lukas 23,6-16

Folgende Beobachtungen sprechen klar gegen ihre Historizität: (1) Die Geschichte ist im Rahmen lukanischer Redaktion hervorragend verständlich: Sie hat eine juristisch-apologetische Funktion (V.14f. ούθέν εΰρον έν τψ άνθρώπψ τούτψ αίτιον ... αλλ' ουδέ Ήρφδης); V.12 pointiert das ουνάγείΛ) der Herrschenden (gemäß Ps 2,2; cf. Acta 4,26) und ist zugleich "another Lucan way of insinuating an effect of the Christ-event." 15 An diesen drei Versen (12.14f.) liegt Lukas. Ansonsten ist die S z e n e gänzlich typisiert; sie ist an den entscheidenden Stellen völlig inhaltsleer. 16 (2) Versucht man hingegen, die

Szene

historisch zu lesen, verstrickt man sich in Aporien. Stellen wir nur die entscheidende Frage: Warum schickt Pilatus Jesus zu Herodes Antipas? Im w e sentlichen zwei Antworten sind auf diese Frage gegeben worden. Variante 1: um von ihm ein "außergerichtliches Zeugnis" zu erhalten. 17 Aber warum sollte das nötig sein, wo Pilatus sich doch über sein Urteil bereits völlig im Klaren ist (V.4!)? Zudem: warum fragt Pilatus ausgerechnet seinen Teind' (V.12) Herodes? Variante 2: um die "lästige Rechtssache los(zu)werden". 1 8 Aber Herodes Antipas hatte sehr wahrscheinlich überhaupt keine juristischen Kompetenzen in Jerusalem, das ja außerhalb seiner Tetrarchie lag! 19 Und warum

15 16

17

18 19

écho à une tradition orale qui conservait le souvenir d'une participation d'Hérode à la Passion de Jésus." FITZMYER, Luke 1480; ähnlich SOARDS, Herod Antipas 363. Daß Herodes Antipas und Pilatus Feinde waren, ist i.ii. sonst nicht überliefert. Warum schickt Pilatus Jesus zu Herodes (s. auch u.)? Wo genau hält sich Herodes in Jerusalem auf? Was fragt er Jesus ? Wie lauten die Beschuldigungen der Hohepriester und Schriftgelehrten? Warum verspotten die Soldaten Jesus? etc. STROBEL, Stunde 111 (unter Berufung auf Mommsen und unter Abgrenzung von Variante 2); RUCKSTUHL, Chronologie I 30; LOHFINK, Tag 53f.; MARSHALL, Luke 854; "Pilate was ... seeking the advice of an expert in Jewish affairs". BLINZLER, Prozeß 286. Ebenso HOEHNER, Herod Antipas 236; ders., Pilate 88; McGING, Pilate 436f.; ähnlich BAMMEL, trial 424. Cf. den Grundsatz Digesta 1,18,3. Wahrscheinlich galt - mit SHERWIN-WHITE, Trial 29f. (gegen MOMMSEN, Strafrecht 356f.) - im 1. Jh. das forum delicti (= Tatortprinzip) und nicht das forum domicilii (= Wohnortprinzip), d.h. der Täter wurde dort bestraft, wo er die Tat begangen hat. In diesem Fall hätte Herodes Antipas keinerlei Kompetenz gehabt, den »Fall« Jesu zu übernehmen — es sei denn, man rechnet (wie Sherwin-White ebd. 31) damit, daß ihm möglicherweise ein ähnliches Privileg zustand wie Herodes dem Großen, dem der Kaiser nach BJ I 24,2 (474) das außergewöhnliche Recht zugestanden hatte, Flüchtige auch außerhalb seines Reiches ergreifen zu lassen. Allerdings ist nichts dergleichen überliefert. BLINZLERS 'Lösung' dieses Problems liest sich wie folgt: "Aber es ließe sich denken, daß Ausnahmen von dieser Regel [dem Tatortprinzip] zulässig waren" (ü) (Prozeß 286).

Historische Analyse einiger sekundärer Traditionen

287

- nehmen wir einmal probeweise an, dem wäre doch so gewesen - läßt sich Pilatus die 'lästige Rechtssache' schließlich doch wieder 'aufhalsen' (V.ll.13-15)? Es ist deutlich: die Szene widersetzt sich dem historischen Zugriff.

3.4. Matthäus 27,3-10.19.24-25.62-66 Mt 27,3-10 Die matthäische Überlieferung vom weiteren Schicksal und Tod des Judas wird zu Recht allgemein als legendär eingestuft. Die Passage Acta 1,16-20, die von Mt 27,3-10 signifikant abweicht, beweist, daß man über das Ende des Judas keinerlei historische Informationen besaß. "Die Mt-Fassung ist vielleicht durch Übertragung einer ätiologischen Sage auf Judas und jedenfalls unter der Einwirkung von Sach ll,12f. zustande gekommen." 20 Das Alte Testament hat hier ein weiteres Mal »Geschichte« produziert. Mt 27,19.24-25 Der Kulminationspunkt der matthäischen Barabbasszene ist eine redaktionelle Komposition des ersten Evangelisten: Die Einfügung des die Handlung retardierenden V.19 in den Mk-Stoff erzwingt die redaktionelle Wiederaufnahme der Pilatusfrage aus V.17 in V.21 und bereitet V.24f. vor. V.24-25 bauen die kurze Notiz Mk 15,15a(a) zu einer eindrücklichen Szene aus. Sprache (λέγουσα, δίκαιος, κατ' οναρ; γίνεται, λαβών, όχλος, αποκριθείς είπεν, λαός u.a.) 21 und Thema (eine Traumoffenbarung, cf. 2,12f.l9.22 u.ö.; die Verbindung der Oberen mit dem Jerusalemer Volk gegen den βααιλεύς των 'Ιουδαίων, cf. 2,3f.; die alttestamentliche Prägung der Verse, cf. Ps 25,6 LXX; 1 Kön 2,32f.; cf. auch 27,4) beider Szenen sind ausgesprochen matthäisch. Die Verse sind daher als redaktionell einzustufen und also historisch wertlos. 22 Beide Szenen

20 BULTMANN, GST 294. Cf. KLOSTERMANN, Matthäus 217-219; GNILKA, Matthäus II 442-450; SAND, Matthäus 546-549. Zu den schwierigen überlieferungsgeschichtlichen Problemen der Perikope s. SENIOR, The Fate of the Betrayer (1972), in: ders., Passion Narrative, S. 343-397. 21 Cf. die Liste des mt Vorzugsvokabulars bei LUZ, Matthäus 35-53 und GNILKA, Matthäus II 453f. ; SENIOR, Passion Narrative 242-248. 252-261. 22 BLINZLERS Plädoyer für die Historizität der Szene (Prozefl 313-317) ist verfehlt: Er erklärt die Verse (ohne Diskussion!) für traditionell und argumentiert sodann mit der Kategorie der 'Denkbarkeit': "Sie (die V.19.24f.) enthalten kaum (0 etwas, was geschichtlich undenkbar wäre" 315 (cf. zum Einsatz dieser Kate-

288

Ein Sonderproblem: Die »Tempelreinigung«

gehören zur Kategorie der 'primär apologetisch motivierten

legendarischen

Züge'. 23 Mt 27,62-66 Die Überlieferung von der von Juden beantragten Bewachung des Grabes Jesu durch eine römische κουστωδία ist eine 'apologetische Ostergeschichte',

die

sich — zusammen mit Mt 28,11-15 — offenbar gegen eine jüdische These, die Jünger hätten den Leichnam Jesu gestohlen, wendet (cf. EvPetr 28-33; Justin, dial. 108,2). Sie ist vollends legendär. "Die Überlieferung von der Grabeswache kann als historische nicht ernst genommen werden." 2 4

3.5. Ein Sonderproblem: Die »Tempelreinigung« Obwohl die Tradition über die »Tempelreinigung« Jesu — wie ihre Stellung im Johannesevangelium zeigt — selbständig ist und also gegen das oben (II 3.0) genannte erste Kriterium verstößt, diskutiere ich im folgenden das Problem der Historizität dieser Überlieferung, weil eine sehr große Zahl von Exegeten in der »Tempelreinigung« einen, wenn nicht gar den

entscheidenden

Grund

für die Verhaftung Jesu erblickt. 2 5 Zur b e s s e r e n Übersicht sei zunächst der gorie auch o. A 19). Weitere Befürworter der Historizität der Szene bei SCHELKLE, Selbstverfluchung 153 AIO. 23 BULTMANN, GST 304. GNILKAS (Matthäus II 459; ähnlich SCHELKLE, Selbstverfluchung 149) Interpretation des wirkungsgeschichtlich für Juden vielleicht verhängnisvollsten aller neutestamentlichen Sätze (Mt 27,25) scheint mir i.ü. zu vorsichtig. Natürlich müssen wir — und das kann kaum stark genug betont werden — uns von Begriffen wie »Selbstverfluchung« bzw. »Kollektivschuld« des jüdischen Volkes aufs entschiedenste distanzieren. Aber daß Matthäus eben genau das mit dem Vers 27,25 gemeint hat, scheint mir exegetisch fraglos zu sein (cf. 1 Kön 2,32f. und »... und unsere Kinder«, dazu ORIGENES' Kommentar (als »Motto« in P. WINTERS Hauptwerk (Trial l))). Umso schärfer müssen wir Mt an dieser Stelle kritisieren und seine Mitverantwortung an der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes unter Christen festhalten. 24 GNILKA, Matthäus II 489 (der Begriff 'apologetische Ostergeschichte' ebd. 486). Mit einem historischen Kern der Geschichte rechnet allerdings LËMONON, Pilate 199-201. 25 So z.B. JEREMIAS, Theologie 266-, TROCME, Expulsion 22 (obwohl er sie zeitlich um 'einige Wochen oder Monate' von der Verhaftung abrückt); ENSLIN, Temple 26ff.; FLUSSER, Approach 34; COUSIN, Prophète 192ff.; DORMEYER, Ergebnis 223.226-231; STUHLMACHER, Jesus 282; MÜLLER, Kapitalgerichtsbarkeit 78-83; GNILKA, Jesus 306f. ; MYLLYKOSKI, Letzte Tage II 467; entschieden: SANDERS, Jesus, insbesondere 270ff. Zum Problem s. auch u. II 5.

Historische Analyse einiger sekundärer Traditionen Wortlaut

der

Markus

und

Johannes

gemeinsamen

Tradition

289 noch

einmal

abgedruckt. 26 Mk 11 15

Joh 2

Και (έρχονται) εις 'Ιεροσόλυμα.

13

Και (είσελθών) εις τον ιερόν (ήρξατο) I έκβάλλειν I ιούς πωλοΰντας

17

14 1151

καί τάς τραπέζας των κολλυβιστων κατέστρεψεν

15

και τοις τάς περιστεράς πωλοϋοιν

16

ε ΐ π ε ν ( οίκος ... μου ... ποιείτε ) Sicher ist: So wie die Aktion Jesu im Tempel in der Mk/Joh-Tradition ge-

schildert wird, kann sie sich historisch nicht abgespielt haben; denn e s wäre einem Einzelnen und sogar einer kleinen Gruppe unmöglich gewesen, riesige

das

Tempelareal 2 7 von den, d.h. allen (so explizit Joh 2,15) Käufern, Ver-

käufern und Geldwechslern zu »reinigen« oder auch nur deren Tische umzuwerfen. Fraglich kann allein sein, ob hinter der Tradition eine Erinnerung an eine kleinere Aktion, d.h. an so etwas wie ein "demonstratives Auftreten Jesu im Jerusalemer Tempel" steht. 2 8 D i e s e Frage wird von der neutestamentlichen E x e g e s e in seltener Einmütigkeit bejaht. Betrachtet man die Handlung als eine ursprünglich zeichenhafte29,

läßt sich in der Tat nichts gegen die

Historizität der »Tempelreinigung« einwenden. "It is reasonable to think that Jesus ... overturned s o m e tables as a demonstrative action. It would appear that the action was not substantial enough even to interfere with the daily routine .... Thus those who saw it, and those who heard about it, would have known that it was a gesture, intended to make a point rather than to have a concrete result". 30 Unklar bleibt zweierlei: (1) Da sich nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit ermitteln

läßt,

ob

eines

der überlieferten

Deuteworte

ursprünglich

Handlung hinzugehörte — und wenn ja, w e l c h e s (s.o. 7.4.2), bleibt

zu

der

zunächst

26 Zu den Problemen im Einzelnen s.o. 7.4.2. 27 S. zur Größe des Tempels die ausführliche Schilderung in AJ XV 11 (380-425) und die kurze Angabe in MMid 2,1. 28 LÜHRMANN, Markus 193. 29 So etwa GASTON, Stone 86; ROLOFF, Kerygma 95; JEREMIAS, Theologie 145; DORMEYER, Ergebnis 228; TRAUTMANN, Handlungen 78-131; H. STEGEMANN, Jesus 15 A59; SANDERS, Jesus 69; SAUER, Rückkehr 448; MYLLYKOSKI, Letzte Tage II 465f. uva.; anders EPPSTEIN, Historicity 56f. Zur Frage, was die Handlung denn bezeichnen sollte, s. gleich. 30 SANDERS, Jesus 70.

290

Ein Sonderproblem: Die »Tempelreinigung«

ihr Sinn unklar. Wandte sie sich (a) gegen einen Mißbrauch des Tempels 31 ? Wollte sie (b) die Funktion des Tempels als eine auch für Heiden offene 'opferlose Synagoge' neu bestimmen 32 ? Oder wollte sie (c) den »alten« Tempel als zentrale Institution der »alten Ordnung« zeichenhaft angreifen (und ihm vielleicht sogar das Ende durch Zerstörung ansagen) 33 ? (2) Unklar bleibt auch, ob der synoptischen oder der johanneischen Datierung der Vorzug zu geben ist: Gehört die »Tempelreinigung« an das Ende der Wirksamkeit Jesu? Damit zusammenhängend: Hat Jesus Jerusalem nur einmal oder mehrmals besucht? Geht man von der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Quellen »Markusevangelium« und »Johannesevangelium« aus, ist diese Frage kaum mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu beantworten; denn sowohl das mk Konzept der einen Reise als auch das joh Konzept mehrerer Reisen nach Jerusalem ist ein redaktionelles. Hinter welchem Konzept die bessere Tradition steht, ist kaum mit einiger Wahrscheinlichkeit zu ermitteln. 34 Fazit: Hinter der Tradition von der »Tempelreinigung« steht wahrscheinlich eine historische Erinnerung an ein - wie auch immer genau zu interpretierendes - 'demonstratives Auftreten Jesu im Jerusalemer Tempel'. Ob diese Aktion - mit den Synoptikern — chronologisch den letzten Tagen Jesu zuzuordnen ist, ist praktisch nicht zu entscheiden. Wäre dem so, hätten wir mit der »Tempelreinigung« den (m.E.) einzigartigen, interessanten Fall einer Passionstradition vor uns, die zwar historisch im Kern zuverlässig ist, aber (m.E.) nicht im ältesten Passionsbericht enthalten war. 35

31 So etwa ABRAHAMS, Cleansing, pass.; ROLOFF, Kerygma 95f.; JEREMIAS, Theologie 145; SAFRAI, Wallfahrt 185-187. 32 So etwa LÜHRMANN, Markus 193. 33 So zuletzt entschieden SANDERS, Jesus 61-76, der Mk 11,15-17 mit dem »Tempelwort« (Mk 13,2; 14,58) verbindet. SAUER, Rückkehr 457 spricht von "Ablehnung des gesamten Opferbetriebes" (im Original kursiv). 34 Zum Problem der Einordnung der »Tempelreinigung« in die Chronologie des Lebens Jesu s. K.L. SCHMIDT, Rahmen 291-293; SCHNACKENBURG, Johannes I 368-370; BROWN, John 117f.; BECKER, Johannes 144f.; zum grundsätzlichen Problem der Zuverlässigkeit der chronologischen und topographischen Angaben des Joh-Ev s. DODD, Historical Tradition 233-247; Brown, ebd. XLVII-LI. Zuletzt urteilt SAUER m.E. zu Recht: "non liquet" (Rückkehr 448). Interessant: Schmidt, der die Alternative aufsprengen will: "Sed tertium datur. ... In der evangelischen Überlieferung hatte diese Jerusalemgeschichte keine zeitliche Fixierung" (ebd. 293 Al. 292; Kursive hinzugefügt). 35 Zum Problem, ob die »Tempelreinigung« in diesem Fall bei der Klärung des historischen Hergangs der Passion Jesu helfen kann, s.u. II 5.

4. Historische Analyse der ältesten potentiell relevanten Erwähnungen des Todes Jesu außerhalb der evangelischen Passionsberichte Bevor die Untersuchung abgeschlossen und das Problem angesprochen w e r den kann, ob sich die näheren Umstände d e s Todes Jesu mit hinreichender Wahrscheinlichkeit rekonstruieren lassen, muß zunächst noch die Frage b e antwortet werden, ob uns außerhalb der evangelischen Passionsberichte weit e r e historisch relevante Quellen zur Verfügung stehen und, wenn ja, wie sich d e r e n Darstellung der Ereignisse zu derjenigen des PB verhält.

4.1. Paulus: 1 Thess 2,14-16 Nur eine der vielen Stellen, an denen Paulus den Tod Jesu

erwähnt,

ist

möglicherweise von historischer

Gruppe

von

Relevanz, da allein sie

eine

M e n s c h e n als V e r u r s a c h e r dieses Todes benennt 1 : 1 Thess 2,14-16. Paulus schreibt hier an die Thessalonicher, sie würden von Seiten ihrer Landsleute dasselbe erleiden, wie die judäischen Christen ΰπό των 'Ιουδαίων, 2 των και τον κύριον άποκτεινάντων Ίησοΰν και τούς προφήτας και ήμας έκδιωξάντων και θεψ μή άρεσκόντων και πδσιν άνθρώποις εναντίων, κωλυόντων ημάς τοις έ'θνεοιν λαλησαι ϊνα σωθωοιν, είς τό άναπληρωοαι αύτων τάς αμαρτίας πάντοτε, έ'φθασεν δέ έπ' αύτούς ή όργή είς τέλος. Ist diese Passage ein ursprünglicher Bestandteil des ältesten Paulusbriefes? Oft wird die These vertreten, hier liege eine nach-

1 Sonst spricht Paulus theologisch von der Dahingabe des Herrn Jesus bzw. des Sohnes durch Gott (Rom 4,25; 8,32), der Selbsthingabe des Sohnes (Gal 2,20) bzw. des Herrn Jesus Christus (1,4) oder der Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit durch die »Herrscher dieses Äons« (l Kor 2,8). 2 GILLIARD, Comma, pass, bestreitet neuerdings, daß das Komma zwischen 1 Thess 2,14 und 15 sachgemäß ist; die Phrase sei vielmehr restriktiv zu übersetzen ("von eben den Juden, die usw."). Diese Interpretation scheitert hingegen klar an den nachfolgenden Vorwürfen (Prophetenmord, usw.). Sie verkennt darüber hinaus den polemischen Charakter der Passage (dazu s. MICHEL, Fragen 53ff. und u. A 8).

292

Die ältesten relevanten außerevangelischen Traditionen

paulinische Interpolation vor.3 Dafür lassen sich im wesentlichen zwei Gründe anführen: (1) Die Sprache der Verse ist unpaulinisch. 4 (2) Zu der positiven Perspektive, die Paulus in Rom ll,25ff. für »ganz Israel« zeichnet, steht diese scharfe antijudaistische Aussage in denkbar stärkstem Kontrast. Dazu: Die zweite Beobachtung scheidet als Basis für die Hypothese einer Interpolation aus, da sie sich auf eine keineswegs unüberbrückbare inhaltliche Diskrepanz bezieht. 5 Die unpaulinische Sprache der Verse läßt sich hervorragend unter der Annahme erklären, daß Paulus selbst hier eine im wesentlichen traditionelle Formel zitiert. 6 Man muß daher schließen, daß kein hinreichender Grund zur Annahme einer Glosse vorliegt, die Verse 2,(13)14-16 also als ein originaler Bestandteil des ältesten Paulusbriefes zu betrachten sind.7 Liegt in dieser - sieht man einmal vom nicht sicher datierbaren PB ab ältesten erhaltenen Äußerung zur Frage, wer für den Tod Jesu verantwortlich zeichne, eine historisch zuverlässige Tradition vor? Nein. Historisch ist die paulinische Äußerung in jedem Fall falsch, da Jesus von römischen Soldaten gekreuzigt wurde. Allerdings muß aufgrund des Kontextes bezweifelt werden, daß Paulus den - verhängnisvollen - Vorwurf des »Herrenmordes« wirklich historisch gemeint hat. Denn er kombiniert ihn zum einen mit traditioneller antiker antijüdischer Polemik (cf. etwa Tacitus, Historien V 5)8 und zum anderen mit der jüdischen Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten, die eben keine historische, sondern eine theologische Aussage enthält: "Die Vorstellung (vom Prophetenmord) ist ... schon an ihrem Ursprung eine theologische Aussage über Israel im Gewände einer geschichtlichen über die

3 So etwa PEARSON, Interpolation; D. SCHMIDT, Interpolation, jeweils pass.; KÖSTER, Einführung 546; LINDESKOG, Problem 166; weitere Autoren bei GILLIARD, Comma 485 mit A 2 und 5. 4 Dazu STECK, Israel 274f. ; SCHMIDT, Interpolation 273ff. 5 Zwischen der Abfassung des (ersten) Briefes an die Thessalonicher und der des Römerbriefes liegen einige Jahre — warum "soll Paulus nicht ... seine Auffassung geändert haben?" (LÜDEMANN, Judentum 51 A95); zudem dürfte die inhaltliche Diskrepanz gar nicht so groß sein, wie es auf den ersten Blick scheint (dazu s. gleich). JOHNSON vermutet als Grund für die Hypothese einer Interpolation denn auch eine emanzipatorisch motivierte »Zensur« und nennt den Versuch, die »unangenehmen« paulinischen Äußerungen auf diese Weise loszuwerden, "a mildly amusing form of censorship" (Anti-Jewish Slander 421 A4). 6 So STECK, Israel 274f. ; LÜDEMANN, Judentum 22f.; HOLTZ, Thessalonicher 104 uva. 7 Zur detaillierteren Kritik der Interpolationshypothese s. LUDEMANN, Judentum 25-27. 8 S. zum Charakter und den Bedingungen von antiker Polemik die erhellenden Ausführungen von JOHNSON, Anti-Jewish-Slander, pass..

Die Leidens ankiindigungen im Mk-Ev

293

Propheten." 9 Gleiches dürfte - cum grano salis - auch fur den Vorwurf des »Herrenmordes« gelten: Paulus trifft hier wohl eine theologische Aussage über das »ungläubige« Israel (cf. etwa Rom 9,32; 11,28a) im Gewände einer geschichtlichen über Jesus. Historisch interessant ist allein die Frage, ob Paulus die Sätze 1 Thess 2,14-16 hätte schreiben können, wenn Juden gar nichts mit dem Tod Jesu zu tun gehabt hätten. Ist eine gewisse, wie auch immer im einzelnen geartete Beteiligung von Juden die conditio sine qua non dieser Aussagen? Mit aller gebotenen Vorsicht läßt sich dieser Schluß vielleicht ziehen. Die Behauptung, Juden seien »schuld« am gewaltsamen Geschick Jesu, ist, wie der vom PB sehr wahrscheinlich unabhängige Text zeigt, 10 sehr alt, und es ist doch wohl unwahrscheinlich, daß die frühen Christen diesen Vorwurf ohne jeden Anhalt an den historischen Fakten formuliert haben. 11 Fazit: Historisch ist die Passage 1 Thess 2,14-16 wenig ergiebig. Nimmt man Paulus beim Wort, so sind seine Äußerungen objektiv falsch. Allenfalls läßt sich vermuten, daß die conditio sine qua non der — analog zur Tradition vom prophetenmordenden Israel - wohl theologisch gemeinten Aussage eine gewisse Beteiligung von Juden am Tod Jesu ist.

4.2. Die Leidens- und Auferstehungsvoraussagen des Markusevangeliums (Mk 8,31; 9,31; 10,33f.) Dreimal sagt Jesus im Markusevangelium den Jüngern seine Passion z.T. detailliert voraus: 8,31 δει τον υίόν του ανθρώπου πολλά παθεΐν και άποδοκιμαοθηναι ύπό των πρεσβυτέρων και των αρχιερέων και των γραμματέων και άποκτανθηναι και μετά τρεις ημέρας άναστηναι. 9,31 ό υιός του ανθρώπου παραδίδοται εις χείρας ανθρώπων, και άποκτενουοιν αύτόν, και μετά τρεις ημέρας άναστήοεται. 10,33f. ò

9 STECK, Israel 317. 10 Uber die Frage, ob Paulus den ältesten Passionsbericht gekannt habe, läBt sich wiederum nur ohne Aussicht auf irgendein nennenswertes Ergebnis spekulieren; cf. MICHEL, Fragen 55 A12. 11 HOLTZ geht m.E. allerdings viel zu weit, wenn er festhält, daB Paulus mit seinen Äußerungen in 1 Thess 2,14-16 den "Kern des Geschehens um Jesu Ende bloBgelegt" habe (Thessalonicher 104), bzw., daB wir keinen AnlaB hätten, "den zornigen Affekt des Paulus ... gänzlich für verkehrt zu erklären" (112). Im Gegenteil !

294

Die ältesten relevanten außerevangelischen Traditionen

υιός του ανθρώπου παραδοθήσεται τοις άρχιερεΰσιν και τοις γραμματεΰσιν, και κατακρινοΰσιν αυτόν θανάτψ και παραδώσουσιν αύτόν τοΤς έ'θνεοιν και έμπαίξουσιν αύτψ και έμπτύοουσιν αύτψ και μαστιγώσουσιν αύτόν και άποκτενοΰσιν, καί μετά τρεις ημέρας άναστήσεται. Läßt sich Uber die Frage diskutieren, ob einem oder mehreren dieser Texte ein authentisches Menschensohn-Wort Jesu zugrundeliegt, 12 so ist die Jetztgestalt der Leidens- und Auferstehungsvoraussagen doch mit Sicherheit eine nachösterliche. 1 3 Soweit sie in unserem

Zusammenhang

von Interesse wären, gilt Gleiches für jede denkbare Vorstufe der Leidensankündigungen: 14 Sie sind vaticinia

ex eventu.

Formal handelt es sich jeweils

um "ein kurzes Summarium der Leidensgeschichte" 1 5 , das als solches in jedem Fall direkt 16 oder indirekt vom ältesten Passionsbericht abhängig ist. D.h.: die drei Leidens-

und Auferstehungsvoraussagen

des Mk-Ev

sind

für die

historische Frage nach dem Hergang der Passion Jesu ohne Bedeutung. 1 7

12 So - für Mk 9,31a - z.B. JEREMIAS, Theologie 267f. ; PESCH, Markus II 99f. 13 So schon WREDE, Messiasgeheimnis 87-92; K.L. SCHMIDT, Rahmen 218. S. auch BULTMANN, Theologie 31; STRECKER, Leidens- und Auferstehungsvoraussagen 32-34 uva. 14 Denn allenfalls ein kurzer Spruch wie Mk 9,31a (»Der Menschensohn wird übergeben in Menschenhände«) könnte jesuanisch sein (so JEREMIAS, Theologie 268; PESCH, Markus II 99f.); naturgemäß fehlen hier alle historisch potentiell interessanten Details. 15 WREDE, Messiasgeheimnis 88. 16 So JEREMIAS, Abendmahlsworte 88f., der die Tatsache, daß die 'alten Passionssummarien frühestens mit der Auslieferung durch Judas einsetzen, als Beleg für die Existenz eines »Kurzberichtes« (dazu s.o. 7.2; 7.6.5) wertet, d.h. sie als direkt vom ältesten Passionsbericht abhängig betrachtet; ähnlich WILCKENS, Missionsreden 113ff. 17 Die Frage, ob die markinischen Leidensankündigungen z.T. vor-mk Ursprungs (so etwa STRECKER, Leidens- und Auferstehungsvoraussagen 24-30; HOFFMANN, Mk 8,31, 175-184; WILCKENS, Missionsreden 112f.; GNILKA, Markus II 12f. uva.) oder gänzlich redaktionell sind (so etwa DIBELIUS, FdE 227f.; SCHMITHALS, Markus 384; LÜHRMANN, Markus 149), braucht hier nicht näher diskutiert zu werden. M.E. ist die zweite Position die bessere: (l) Es liegen keine wirklich klaren sachlichen oder sprachlichen Indizien für Tradition vor. Die immer wieder angeführte Beobachtung, daß anstelle des im Passionsbericht so dominanten »kreuzigen« hier »töten« steht (s. nur Strecker, ebd. 25), besagt m.E. gar nichts, da Markus das Subjekt der Handlung in den ersten beiden Leidensankündigungen bewußt offenläßt und deshalb nicht von »kreuzigen« sprechen kann; cf. im übrigen Mk 14,1! (2) Die Leidensankündigungen sind notwendig an die Form des Evangeliums gebunden, d.h. sie können schwerlich isoliert existiert haben. (3) Sie entsprechen inhaltlich und in ihrer Stellung innerhalb des Mk-Ev aufs beste markinischer Theologie.

Ein Sonderproblem: Mk 3,6

295

4.3. Ein Sonderproblem: Mk 3,6 Das gängige Bild, wonach der gewaltsame Tod Jesu eine folgerichtige Konsequenz seiner fortgesetzten Streitigkeiten mit jüdischen Gruppen war, hängt zu einem wesentlichen Teil an dem Vers Mk 3,6, in dem es als Abschluß ein e r R e i h e von S t r e i t g e s p r ä c h e n h e i ß t : και εξελθόντες οί Φαρισαΐοι εύθύς μετά των

Ήρψδιανων

συμβούλων

έδίδουν κατ' αύτοΟ δ'πως αυτόν άπολέσωσιν.

Rudolf

PESCH kommentiert: "Dem galiläischen συμβούλιον entkommt Jesus, der Vernichtungsbeschluß des Hohen Rates ... in Jerusalem führt zu seinem Tod" (Markus I 195). Reflektiert Mk 3,6 einen historischen Tatbestand? 18 Eine positive Entscheidung dieser Frage setzt voraus, daß der Vers im wesentlichen als traditionell zu beurteilen ist. Eben das ist allerdings höchst umstritten. 19 Wie ist das Problem zu beurteilen? Für die Traditionalität des Verses spricht dreierlei: (1) ουμβούλιον δώόναι und δπως sind Hapaxlegomena im Markusevangelium. (2) Die Ήβπ^ΪΒηβΓ gehören nicht zu den typischen Gegnern Jesu bei Mk. (3) Ohne V.6 hängt V.2b in der Luft. Für markinische Redaktion läßt sich anführen: (1) Von den beiden Hapaxlegomena abgesehen, ist die Sprache des Verses typisch markinisch (καί + έξέρχεσθαι: 1,28.29; 2,13; 6,1 u.ö.; εύθύς; μετά + Gen. zur Verbindung von Personen(gruppen): 1,29; 3,7; 8,10; 15,1.31 u.ö.; die Wendung δπως αύτόν άπολέσωσιν erinnert an 11,18 und 14,1; zum gesamten Vers ist insbesondere 1,29 und 15,1 zu vergleichen). (2) Die Identifizierung der Gegner Jesu klappt nach; sie paßt formal nicht zu 3,1-5. (3) Der Vorverweis auf die Passion Jesu ist typisch für Mk (cf. 8,31; 9,31; 10,33f.; 11,18; 12,12); der Vers verlangt nach seiner Fortsetzung in Mk 14,Iff. Welche sind die besseren Argumente? M.E. sind die zuletzt genannten durchschlagend: Die Sprache des Verses spricht eher, der Makrotext spricht "entschieden" 20 dafür, daß Mk 3,6 vom Evangelisten redaktionell gebildet wurde. Zur Kritik der entgegengesetzten Argumente ist folgendes zu bemerken: ad (1): Die Jetztgestalt des Verses ist eindeutig markinisch. Zwingen die Hapaxlegomena dazu, eine Vorlage anzunehmen? Schwerlich: Die beiden sin-

18 So neben PESCH etwa K.L. SCHMIDT, Rahmen 101; SCHMID, Markus 47 und vor allem ROLOFF, Kerygma 63f. 19 Für redaktionell halten den Vers etwa DIBELIUS, FdE 42; BULTMANN, GST 9; H . - W . KUHN, Sammlungen 19f.; GNILKA, Markus I 126, SCHMITHALS, Markus 191f. ; SAUER, Überlegungen 189; LÜHRMANN, Markus 66; W. WEISS, Lehre 110. 20 GNILKA, Markus I 126.

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Die ältesten relevanten außerevangelischen Traditionen

guiaren Wendungen stehen typisch markinischem Stil zu nahe, als daß man ihnen großes Gewicht beimessen könnte; cf. 11,18 και έζήιουν πως αυτόν άπολέσωοιν; 15,1 και ευθύς πρωί ουμβούλιον ποιήσαντες κτλ.; zur - gängigen21 Variierung von ϊνα durch δπως (V.2.6) cf. die Variierung von ïva durch πως in Mk 14,10-11. ad (2): Die Erwähnung der - ansonst unbekannten 22 - Gruppe der Ήerodianef ist literarkritisch kaum auszuwerten. Zwar ist sie "frei ... von der Schablone (Jesu Gegner = Pharisäer und Schriftgelehrte)" 23 , jedoch stehen die Ήβπ^Ϊ3ηθΓ' (bzw. Herodes) bei Mk auch in 8,15 und 12,13 als Gegner Jesu mit den Pharisäern zusammen. Bringt Mk sie hier, weil er "an Herodes als Gegner des Täufers und damit Jesu interessiert" ist? 2 4 ad (3): V.2, in dem der allwissende Erzähler die Leser(innen) Uber die verborgenen Absichten der noch unidentifizierten Gegner Jesu unterrichtet und so V.6 vorbereitet, dürfte jedenfalls in seinem zweiten Teil markinisch sein; 25 wie V.6 auf 15,1, so weist er auf 15,3f. voraus (και κατηγορούν αύτοΰ οί αρχιερείς πολλά, κτλ.). Freilich beruht diese Einschätzung der Sachlage letztlich auf einem Zirkelschluß ("Stammt 6 von ihm CMk), so auch die Bemerkung in 2b").26 Fazit: Die Hypothese, Mk 3,6 sei ein redaktioneller Prospekt des Evangelisten auf die Passionsereignisse, wird den Problemen des Verses am besten gerecht. Ist diese Einschätzung des Sachverhalts richtig, dann hängt die traditionelle christliche Sicht, Jesu Tod sei in der Sache eine Konsequenz seiner Differenzen mit den Pharisäern bzw. gar eines pharisäischen »Todesbeschlusses« gewesen, völlig in der Luft. Ein Satz wie der folgende ist damit historisch unhaltbar: "Die Pharisäer beschlossen, gegen Jesus vorzugehen, weil er das Gesetz Ubertrat, und ihn zu beseitigen. Dieser Entschluß wurde verwirklicht, als Jesus nach Jerusalem gekommen war." 27

21 22 23 24

S. BDR 369 A8. S. dazu GNILKA, Markus I 128f.; LÜHRMANN, Markus 67. K.L. SCHMIDT, Rahmen 101. GNILKA, Markus I 126. COOK, Jewish Leaders postuliert, Mk habe in einer 'Pharisäer/Herodianer'-Quelle die Verse 3,1-5; 12,13-17.34b; 3,6 im Verbund vorgefunden — als Abschluß einer Sammlung von Streitgesprächen (41 A34). Eine solche Annahme ist hingegen schwerlich begründbar. 25 So GNILKA, ebd.; SAUER, Überlegungen 189; W. WEISS, Lehre 111. SCHMITHALS, Markus 192 hält den Vers insgesamt für markinisch. 26 GNILKA, ebd. 27 LOHSE, Umwelt 57 — bis zu der im Literaturverzeichnis angegebenen siebten Auflage (1986). In der jüngsten Auflage ( 8 1989) hat der Autor die Passage bezeichnenderweise verändert: "Da Jesus der von den Pharisäern vertretenen Gesetzespraxis entschieden widersprach, beschlossen diese, gegen ihn als Ubertre-

Die Reden der Apostelgeschichte

297

4.4. Die Aussagen Uber den Tod Jesu in den Reden der Apostelgeschichte (Apg 2,23.36; 3,15, 4,10.27f, 5,30, 7,52; 10,39; 13,27-29) Sehr ähnlich wie bei den markinischen Leidens- und Auferstehungsvoraussagen liegt der Fall bei den einschlägigen Passagen über den gewaltsamen Tod Jesu in den Reden der Apostelgeschichte. Die "Aussagen über Verurteilung und Tod Jesu in den Actareden" sind, wie Ulrich WILCKENS gezeigt hat, "in ihrer jetzigen Gestalt durchgehend von Lukas selbst formuliert ..., und zwar nachweislich in engem Anschluß an den Wortlaut der Leidensgeschichte seines eigenen Evangeliums" (Missionsreden 137).28 Fragen kann man hingegen, ob Lukas nicht "die allgemeine Form der knappen Darstellung des Passionsgeschehens in Aneinanderreihung einiger weniger entscheidender Data" bereits in der Tradition vorgefunden hat (ebd.). Das Urteil in dieser Frage hängt wesentlich mit der Einschätzung der markinischen Leidensankündigungen zusammen: Sind diese redaktionell, so ist es sehr wahrscheinlich, daß auch die 'allgemeine Form' der einschlägigen Passagen der Acta-Reden redaktionell ist. 29 In jedem Fall enthalten die Reden aber keine vom ältesten Passionsbericht unabhängigen, historisch also potentiell wertvollen Traditionen. In ihnen wird vielmehr die im PB grundgelegte Tendenz, Juden die Verantwortung für den Tod Jesu aufzubürden, erheblich verstärkt - bis hin zu historisch absurden Aussagen wie der, Juden hätten Jesus gekreuzigt ((Ίηοοΰς) dv ύμεΐς έοταυρώοατε: Acta 2,36; 4,10).

4.5. Josephus: Das Testimonium Flavianum' AJ XVIII 3,3 (63-64) Zweimal kommt Josephus in seinem Gesamtwerk auf Jesus (von Nazareth) zu sprechen: In AJ XX 9,1 (200) erwähnt er den Tod des Herrenbruders Jakobus (('Ιάκωβος ò αδελφός) Ίησοΰ του λεγομένου Χριοτοΰ), an der berühmten

ter des Gesetzes vorzugehen (Mk. 2,1-3,6 Par.). So traten sie ihm in entschiedener Ablehnung entgegen (Mk. 12,13-17 Par.)." S. zum Problem 'Jesus und die Pharisäer' auch u. II 5. 28 Im Original kursiv. Ebenso — mit Bezug auf die Acta-Reden insgesamt — RO~ LOFF, Apostelgeschichte 49 (die 'Annahme der lk Verfasserschaft' sei "zwingend"); LÜDEMANN, Apostelgeschichte 53 uva. 29 Dazu s.o. A 17; WILCKENS hält die mk Leidensweissagungen in wesentlichen Teilen für traditionell (Missionsreden 112f.).

298

Die ältesten relevanten außerevangelischen Traditionen

Stelle AJ XVIII 3,3 (63f.) berichtet er kurz über Leben, Tod und Nachgeschichte Jesu. Die Frage, ob dieses sogenannte »Testimonium Flavianum« authentisch ist oder nicht, hat seit dem Beginn der historischen Forschung die Geister in Atem gehalten: "Cit) has been a stumbling block for centuries." 30 Alle drei grundsätzlich denkbaren Positionen sind dabei jeweils von einer Vielzahl von Forschern vertreten worden: (a) das Testimonium ist authentisch; (b) das Testimonium ist gänzlich interpoliert; (c) das Testimonium ist nur zum Teil interpoliert. 31 In jüngerer Zeit scheint sich allerdings ein Konsens in dieser prinzipiellen Frage anzubahnen: Die neueren Arbeiten kommen weithin zu dem Ergebnis, daß das Testimonium in den Grundzügen authentisch, aber christlich überarbeitet worden ist. 32 In der Tat hat diese Position die entscheidenden Argumente auf ihrer Seite; sie seien hier in aller Kürze zusammengefaßt: (1) Es gibt keinen hinreichenden Grund, die Erwähnung Jesu als des λεγομένου Χρίστου in Josephus' Notiz über den Tod seines Bruders Jakobus in AJ XX 200 für unecht zu halten. (2) Also setzt Josephus Jesus bei seinen Leser(inne)n als bekannt voraus, d.h. er hat über ihn vorher bereits irgendetwas berichtet Cgegen (b)). (3) Das Hauptargument für (b), nämlich die etwas problematische Stellung des Testimoniums im Kontext der Darstellung des Josephus, 33 wiegt umgekehrt um so schwerer; denn man fragt sich, "warum die Stelle, wenn schon ihr Verfasser freie Hand hatte, gerade an dieser Stelle der Altertümer, in der Nachbarschaft makabrer stadtrömischer Geschichten eingesetzt wurde". 34 (4) Der Inhalt des Testimoniums ist an nicht wenigen Stellen einem christlichen Interpolator schwerlich zuzutrauen Cgegen (b)). 35 (5) Andererseits ist die uns vorliegende Gestalt des Textes mit Sicherheit nicht authentisch, da Josephus kein Christ war (cf. Orígenes, C. Celsum I 47), in AJ XVIII 64 aber zu lesen ist: ό χριστός οδτος f[\i (gegen (a)). 36

30 BAMMEL, Variant Form 190. 31 Die Literatur bis 1968 findet sich nach diesen drei Kategorien geordnet bei SCHÜRER-VERMES I 428-430; die einschlägige Literatur bis 1984 bei FELDMAN, Josephus 679-703. 32 So SCHÜRER-VERMES I 428-441 (dort 429f. die ältere Literatur); PINES, Arabic Version; DUBARLE, témoignage; BAMMEL, Testimonium; ders., Variant Form, jeweils pass.; LËMONON, Pilate 174-177; FELDMAN, Flavius Josephus 821-835; VERMES, Jesus Notice, pass.; W. BIENERT (in: SCHNEEMELCHER) 387-389. 33 Im Kontext der Passage geht es durchweg um θορυβοί (so explizit AJ XVIII 3,1 (58). 2 (62). 4 (65); 4,1 (85). 2 (88)). 34 BAMMEL, Testimonium 177. 35 Dazu s. gleich.

299

Das Testimonium Flavianum

Ist es also höchst wahrscheinlich, daß das Testimonium in seiner jetzigen Gestalt zum Teil auf Josephus selbst und zum Teil auf einen christlichen Redaktor zurückgeht, so ist die Rekonstruktion des genauen

Wortlauts des ur-

sprünglichen Textes doch schwierig und dementsprechend

umstritten· 37

In

unserem Zusammenhang ist eine Rekonstruktion des gesamten Testimoniums freilich nicht notwendig; wir können uns vielmehr auf die eine Frage konzentrieren, ob der für die Beurteilung der historischen Probleme des Todes Jesu entscheidende Satz authentisch ist oder nicht: και αυτόν ένδείξει των πρώτων ανδρών παρ' ήμΐν σταυρψ επιτετιμηκότος Πιλάτου (...) ('und diesen, den Pilatus auf Anzeige unserer führenden Männer mit dem Kreuz bestraft hatte, ...') (AJ XVIII 64). Zwei starke Argumente sprechen für die Authentizität dieser Passage: (1) Ihre Sprache entspricht dem Stil des Josephus. 3 8 (2) Einem christlichen Interpolator wäre eine derart differenzierte Sicht der Dinge keinesfalls zuzutrauen: "this distinction between the Roman and the Jewish role in Jesus' trial conflicts with all notions held by Christians of the second and the third century." 39 Wie ein gänzlich ungebundener Redaktor wohl formuliert hätte, kann man etwa bei Aristides (Apologia 2,8: (Jesus) ab Iudaeis crucifixus e s t ) 4 0 oder Justin (Apologia 35,6: Ίηοους δε Χριοτός ... σταυρωθείς ύπό των Ιουδαίων) nachlesen. 4 1

36 Zum Gesamten s. insbesondere THACKERAY, Josephus 125-149; SCHÜRERVERMES I 428-441; FELDMAN, Flavius Josephus 821-835. 37 S. dazu insbesondere PINES, Arabic Version; DUBARLE, témoignage, jeweils pass, und den 'fast zu genialen (BIENERT, in: SCHNEEMELCHER 388) Rekonstruktionsversuch von BAMMEL, Testimonium, pass. 38 So bereits THACKERAY, Josephus 147, dessen Urteil durch die Konkordanz vollauf bestätigt wird: zu ενδειξις cf. AJ XIX 1,16 (133); zu έπιτιμάω cf. etwa AJ XVIII 3,4 (69). 4,6 (107). 6,6 (183); zu πρώτοι άνδρες cf. AJ XVIII 1,1 (7). 4,4 (99). 5,3 (121). 9,9 (376) u.ö.; zu παρ' ήμΐν cf. AJ XV 7,10 (259); C. Apionem II 12 (136) u.ö. Allenfalls die Tatsache, daß das παρ' ήμΐν nachgestellt ist, wirkt angesichts des sonstigen Sprachgebrauchs des Josephus (cf. etwa AJ XVIII 9,9 (376); C. Apionem II 12 (136); Vita 52 (266)) eigentümlich. 39 SCHÜRER-VERMES I 433. 40 Text nach der syrischen Übersetzung (s). Die griechische Version (G) überliefert den Text geringfügig anders in Kapitel 15,2. S. GOODSPEED, 5.19. 41 In der von PINES in die Diskussion eingeführten Version des Testimoniums bei dem mittelalterlichen (10. Jh.) Bischof von Hierapolis, Agapius, wird die Beteiligung von Juden am Vorgehen gegen Jesus nicht erwähnt (s. Arabic Version 9f.). Die Uberlieferungsgeschichte dieser Version ist ausgesprochen schwierig aufzuhellen; es ist fraglich, ob von hier aus tatsächlich ein Weg zum ursprünglichen Testimonium zurückführt (zur Kritik s. BAMMEL, Variant Form, pass.). Was unseren speziellen Fall anbetrifft, so scheint mir dieser Weg aus den eben genannten zwei Gründen nicht gangbar zu sein.

300

Die ältesten relevanten außerevangelischen Traditionen

Bemerkenswert an dieser somit ältesten 4 * erhaltenen nichtchristlichen Notiz über den Tod Jesu 4 3 ist die Tatsache, daß sie die Akzente signifikant anders setzt als die christliche Überlieferung, ja dieser in mancherlei Hinsicht sogar widerspricht. Zwei Differenzpunkte springen ins Auge: (1) Josephus erwähnt anders als Markus (14,55-64) keinen Prozeß vor dem Synhedrium und schon gar kein formelles Todesurteil, »Anzeige/Anklage« 4 4

sondern

spricht

schlicht von

einer

durch führende jüdische Repräsentanten. (2) Josephus

hebt anders als Markus (und alle anderen kanonischen Evangelien) unzweideutig die alleinige richterliche Verantwortung des Pilatus fur den Tod Jesu hervor. Im ersten Punkt geht Josephus relativ genau — gegen Markus (!) — mit der Darstellung des ältesten erreichbaren Passionsberichtes überein, im zweiten ist er sowohl PB als auch allen seinen kanonischen Nachfolgern gegenüber historisch im Recht. Die Aussage des Testimonium Flavianum deckt sich mit dem in unserer Untersuchung gewonnenen historischen

Ergebnis,

daß Juden beim Vorgehen gegen Jesus offenbar zwar per ενδειξις beteiligt waren, daß sie aber nicht gegen ihn prozessiert haben, geschweige denn die Entscheidung über Leben und Tod selbst in der Hand hatten (s.o. II 2.5-6). Diese Übereinstimmung ist auch dann signifikant, wenn Josephus hier gänzlich von christlichen Informationen abhängig sein sollte, aus denen er lediglich seine Schlüsse zieht. 4 5

42 Die Antiquitates wurden im Jahr 93/94 fertiggestellt (AJ XX 12,1 (267)). 43 Notorisch schwierig zu beantworten ist die Frage nach den diesbezüglichen Quellen des Josephus. DaB er den ältesten Passionsbericht oder eines der kanonischen Evangelien gekannt hat, ist natürlich möglich — insbesondere, wenn Markus (wie m.E. wahrscheinlich) wie er in Rom geschrieben haben sollte -, aber keinesfalls zu erweisen. Ebenso schwierig ist die Annahme, Josephus habe in Rom in den kaiserlichen Archiven Zugang zu den originalen ProzeBakten Jesu gehabt (so FELDMAN, Flavius Josephus 832), da die Existenz solcher Akten mehr als fraglich ist (Justin und Tertullian beziehen sich sicher nicht auf ihnen bekannte offizielle ProzeBakten; s.o. 7.9.1 A 364). Am besten ist daher wohl die nächstliegende Annahme, Josephus habe seine diesbezüglichen Informationen aus einer uns unbekannten jerusalemischen oder römischen Quelle bezogen: "Josephus might have learned about the Christians in Jerusalem, where he had been born not long after the crucifixion of Jesus; and, moreover, he had been in Rome in 64, the year of the great fire which Nero had blamed upon the Christians" (ebd.). 44 "Ενδειξις heißt 'Anzeige, Denunziation, Anklage' (GEMOLL, s.v), 'laying of information against somebody', in speziellen Fällen 'writ of indictment' (LIDDELL-SCOTT, s.v.); FELDMAN (in LCL) übersetzt: "accused". 45 Zur schwierigen Quellenfrage s.o. A 43.

Tacitus, Annalen XV 44

301

4.6. Tacitus: Annalen XV 4 4 P. Cornelius Tacitus erwähnt die Hinrichtung Jesu mit kurzen Worten in seinen um das Jahr 120 entstandenen »Annalen«46 im Rahmen der Schilderung des Brandes der Stadt Rom. Er schreibt: auctor nominis eius (»Chrestiani«) 4 7 Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio adfectus erat ('dieser Name (die »Chrestianer«) stammt von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war ) (Ann XV 44,3). Woher bezieht Tacitus seine Informationen? Stammen sie aus einer vom ältesten Passionsbericht unabhängigen Quelle? Obwohl es nicht an Versuchen gemangelt hat, eine nichtchristliche Quelle als Grundlage der Kenntnisse des Tacitus zu benennen, 48 wird man diese Frage wohl verneinen müssen. Tacitus ist vielmehr, "sei es durch seine Bekanntschaft mit Plinius oder seine eigene Statthaltertätigkeit in Asien, über den Ursprung und Stifter dieser exitiabilis superstitio (44,3) orientiert." 49 D.h.: Er gibt Informationen wieder, die indirekt durch Christen vermittelt sind. Er "gibt nur an, was ein Römer von einem einfachen Christen erfahren konnte" 50 — man kann also nicht von einer unabhängigen, nichtchristlichen Quelle sprechen. Historisch ist die knappe Angabe des Tacitus trotzdem von Interesse. Denn er zieht aus den ihm überkommenen Informationen einen vom PB und den kanonischen Evangelien signifikant abweichenden Schluß, wenn er die alleinige richterliche Verantwortung des Pilatus für den Tod Jesu feststellt und eben — anders als das christliche Credo — nicht formuliert, Jesus sei sub Pontio Pilato, sondern per Pontium Pilatum hingerichtet worden. Damit ist er gegenüber der christlichen Tradition historisch im Recht; er bestätigt, obwohl

46 Er begann das Werk wohl nach seiner Statthalterschaft in der Asia (112/13); ob er es vor seinem Tod (das Datum ist unbekannt) abschließen konnte, ist unsicher. S. zu den Problemen im einzelnen PAULYWISSOWA, Suppl. XI, 376-399. 464-471 (S. BORZSÁK); PAULY V 486-493 (M. FUHRMANN). 47 Nicht: »Christian!«; s. zu den beiden Lesarten FUCHS, Tacitus 69-74; zur Interpretation von Ann XV 44 s. WLOSOK, Rom 7-26. 48 Vorgeschlagen wurden als Quelle etwa: das »Testimonium Flavianum« AJ XVIII 3,3 (63f.); Plinius, Ep. X 96(f.); die Senatsakten; ein verlorenes Geschichtswerk eines gewissen Antonius Iulianus (erwähnt von Minucius Felix, Octavius 33,4 (ed. B. Kytzler, 1982)). Alle Belege bei FUCHS, Tacitus 72f. A l l . 49 WLOSOK, Rechtsgrundlagen 286; zustimmend H.-W. KUHN, Kreuzesstrafe 659 A42, weitere ähnliche Positionen bei FUCHS, ebd. 50 DIBELIUS, Rom 79, der allerdings hinter der Äußerung des Tacitus letztlich nicht einen christlichen Passionsbericht vermutet, sondern 'alte kerygmatische Formulierungen'.

302

Die ältesten relevanten außerevangelischen Traditionen

seine Aussage wahrscheinlich erschlossen ist, noch einmal, daß die diesbezüglichen Ausführungen des ältesten Passionsberichts und seiner kanonischen Nachfolger von einer bestimmten Tendenz geleitet sind: der, Jesus zu entlasten und die Juden zu belasten.

4.7. Mögliche Erwähnungen des Todes Jesu im babylonischen Talmud: bSanh 43a.67a. An zwei Stellen im babylonischen Talmud wird möglicherweise die Hinrichtung Jesu erwähnt. bSanh 67a heißt es im Zusammenhang mit der Erörterung der Frage, wie man mit einem Verleiter zum Götzendienst, einem Mesit' (rrOD), umzugehen habe: "Tritt er zurück (von der Verleitung zum Götzendienst), so ist es recht; wenn er aber sagt, dies sei unsere Pflicht und so sei es gut für uns, so bringen ihn die Zeugen, die ihn draußen gehört haben, vor das Gericht und man steinige ihn. So verfuhr man auch mit Ben Stada (K7D0 p ) in Lud, und man henkte ihn (ΐΠΙΚ^Πΐ) am Vorabend des Paschafestes." 51 Sehr häufig ist diese Passage, hauptsächlich wegen ihres letzten Halbsatzes, auf Jesus von Nazareth bezogen, 52 Jesus also mit »Ben Stada« identifiziert worden. Hingegen zeigen die Parallelstellen TSanh 10,11; pSanh 7,16 (25c-d), daß eine solche Interpretation grundlos ist. Denn in ihnen fehlt eben dieser letzte Halbsatz, der allein die Vermutung begründen kann, mit »Ben Stada« sei Jesus gemeint; es handelt sich hierbei also um eine (frühestens) amoräische Ergänzung, die keinen Anspruch auf historische Zuverlässigkeit erheben kann. 53 "That Jesus is not referred to in the(...) tannaitic statements can be stated with all certainty." 54 An der zweiten relevanten Stelle im Babli heißt es in einer Baraita: "Am Vorabend des Pascha hängte man Jeschu (han-nozri), 55 und der Ausrufer ging

51 Übersetzung — mit geringfügigen Änderungen — nach GOLDSCHMIDT II. 52 So etwa von HERFORD, Christianity 78-83; BAUER, Leben Jesu 470.478f.; weitere Forscher bei CATCHPOLE, Trial 11-71, pass. Dagegen bereits GOLDSCHMIDT I, z.St. A 519. 53 "Ernsthaft zu erörtern ist allein die Frage, ob der Babli-Zusatz ... ein Indiz dafür ist, daB man in Babylonien ... [ s o ] formulierte, um einen Hinweis auf Jesus anzubringen" (MAIER, Jesus 217). S. dazu ebd. 217f.; LAUTERBACH, Jesus 523-529. 54 LAUTERBACH, Jesus 519. 55 So die Lesart in MS München ("HÜUn), s. GOLDSCHMIDT I, z.St.

bSanh 43a. 67a

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40 Tage lang vor ihm her: 'Er geht hinaus, um gesteinigt zu werden, weil er gezaubert hat und Israel verleitet und verführt hat. Jeder, der etwas zu seiner Entlastung weiß, komme und bringe es für ihn vor.' Da sie aber fur ihn keine Entlastung fanden, hängten sie ihn am Vorabend des Pascha" (bSanh 43a).56 Leider ist eine Auswertung dieses Textes mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Dies vor allem deshalb, weil es sehr fraglich ist, ob die Baraita ursprünglich im Zusammenhang mit der Erläuterung der Mischnabestimmung "Und ein Ausrufer geht vor ihm her" überhaupt von Jesus gesprochen hat. 57 Wenn dem tatsächlich so sein sollte, ließe sich die Frage nach den Quellen dieser Babli-Tradition nicht beantworten, schon gar nicht, ob sie von christlichen (Passions-) Berichten abhängig ist oder nicht. Das historische Urteil über den Text liegt freilich in jedem Fall auf der Hand: Sollte er ursprünglich von Jesus geredet haben, so zeichnet er sich durch einen erheblichen "Mangel von Sachkenntnis" aus; 58 er wirkt wie eine "legend made up by guesswork and misunderstanding of various legends and popular reports about Jesus." 59 Allenfalls die mit PB — vermutlich (s.o. II 2.9.1) — übereinstimmende Angabe, Jesus sei am 14. Nisan hingerichtet worden, könnte eine historische Reminiszenz enthalten. Angesichts der vielfältigen Probleme des Textes und seines - sollte der Jesusbezug ursprünglich sein legendären Charakters ist aber auch das äußerst fraglich.60 Man sollte bSanh 43a daher nicht als Beleg für die Historizität der johanneischen (und PB-) Chronologie verwenden. 61

56 Übersetzung nach GOLDSCHMIDT I vom Vf. Zu den schwierigen Text- und Übersetzungsproblemen s. MAIER, Jesus 219f. mit A 436-442 und KUHN, Kreuzesstrafe 665f. mit A 90.93f. 57 Die Identifizierung Jesu als »der Christ« (dazu: MAIER, Jesus 270f.) findet sich allein in MS München, könnte also sehr spät sein. Ob der Name »Jeschu« per se notwendig auf Jesus von Nazareth weist, ist unsicher (dazu: KUHN, Kreuzesstrafe 666-669). Wenn dem so ist, liegt aufgrund des Kontextes aber immer noch die Annahme nahe, der Name sei dem Text sekundär zugewachsen (so Maier, ebd. 223ff.). 58 BILLERBECK II 843. 59 LAUTERBACH, Jesus 497. 60 Dazu s. MAIER, Jesus 229. 61 So etwa KLAUSNER, Jesus 472; BLINZLER, Prozeß 44f. ; GRUNDMANN, decision 300; J.A.T. ROBINSON, Priority 151.225f. Dagegen bereits HERFORD, Christianity 88.

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Die ältesten relevanten außerevangelischen Traditionen

4.8. Ertrag 62 Fassen wir die Ergebnisse der Analysen der ältesten, möglicherweise historisch relevanten Erwähnungen des Todes Jesu außerhalb der evangelischen Passionsberichte zusammen: (1) Der Vers Mk 3,6 ist vermutlich redaktionell und daher ohne eigenständigen historischen Wert. (2-3) Historisch unergiebig sind auch die Leidens- und Auferstehungsvoraussagen des Markusevangeliums sowie die einschlägigen Passagen aus den Reden der Apostelgeschichte; sie sind, wenn nicht gänzlich redaktionell, so doch in jedem Fall von der Darstellung des PB abhängig; letztere sind darüber hinaus darin tendenziös, daß sie die Verantwortung für den Tod Jesu von Pilatus auf die Juden abwälzen. (4) Unergiebig sind gleichfalls die Ausführungen des babylonischen Talmuds, die - sofern sie sich ursprünglich überhaupt auf Jesus bezogen haben sollten (was sehr zweifelhaft ist) — historisch nicht ernstzunehmen sind; allenfalls die Datierung des Todestages auf den 14. Nisan in bSanh 43a könnte eine historische Reminiszenz enthalten — m.E. ist jedoch auch das höchst zweifelhaft. (5) Auch die antijüdische "Entgleisung" 63 des Paulus in 1 Thess 2,14-16 ist historisch — ihrem polemischen Charakter entsprechend — unbrauchbar; sie bestätigt allenfalls mittelbar, daß Juden in irgendeiner Weise in das Verfahren gegen Jesus einbezogen waren. (6) Tacitus' wahrscheinlich mittelbar auf christlichen Informationen beruhende Notiz in Ann. XV 44 ist insofern interessant, als er aus diesen den historisch zutreffenden Schluß zieht und — anders als alle kanonischen Evangelien - die alleinige Verantwortung des Pilatus für den Tod Jesu festhält; was aber das eigentliche Problem anbetrifft, ob und wenn ja: wie jüdische Instanzen am Verfahren gegen Jesus beteiligt waren, so bleibt auch seine kurze Bemerkung unergiebig. (7) Ähnliches gilt vielleicht auch für die Darstellung des Hergangs der Ereignisse durch Josephus in AJ XVIII 3,3 (63f.), deren Authentizität im Blick auf die in unserem Zusammenhang relevante Passage als hinreichend gesichert gelten kann: Möglicherweise zieht auch er hier lediglich seine Schlüsse aus ihm überkommenen christlichen Informationen - und kommt zu signifikant abweichenden

62 Eine Analyse weiterer Texte ist m.E. nicht notwendig. Die in 1 Tim erhaltene Tradition gibt — ganz abgesehen von der Frage ihres Alters und Unabhängigkeit von einem evangelischen Passionsbericht — historisch nichts Zu den weiteren in Frage kommenden Texten s. zuletzt die einschlägigen merkungen von KUHN, Kreuzesstrafe 654-658. 663-665. 63 LÜDEMANN, Judentum 50 A 8 8 .

6,13 ihrer her. Be-

Ertrag

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Ergebnissen. Falls Josephus' Informationen allerdings auf eine nichtchristliche Quelle zurückgehen sollten, wären sie historisch äußerst ergiebig: Sie würden dann das Ergebnis unserer Analyse nachdrücklich bestätigen, daß führende jüdische Repräsentanten zwar eine ενδειξις gegen Jesus erhoben haben, daß sie aber nicht offiziell gegen ihn prozessiert haben, geschweige denn das Urteil über Leben und Tod selbst in der Hand hatten.

5. Schluß: Die wichtigsten historischen Ergebnisse. Bleibende Probleme einer Rekonstruktion der Umstände des Todes Jesu Am Ende des historischen Teils der Untersuchung, nachdem sämtliche potentiell wertvollen Quellen analysiert worden sind, stellt sich die weitergehende Frage, die viele für die interessanteste halten mögen: Lassen sich die näheren Umstände des Todes Jesu noch rekonstruieren? Kann man in wissenschaftlich verantwortbarer Weise über das historische Minimalergebnis hinauskommen, das Hans CONZELMANN wie folgt bestimmt hat: "Das gesicherte Kern-Faktum ist, daß Jesus gekreuzigt wurde. Daraus kann geschlossen werden, daß man ihn verhaftete und daß ein Gerichtsverfahren erfolgte, und zwar ein römisches" (Historie 37f.)? In der Tat läßt sich - das sei vorab ausdrücklich betont — nicht mehr als das historisch mit Sicherheit feststellen. Allen anderen Ergebnissen kommt lediglich eine mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit zu — die betreffenden Entscheidungen hängen zudem zu einem Teil von der Grundeinstellung des Exegeten ab (s.o. II 1.2). Ich will im folgenden nun die wichtigsten historischen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung in Form von Thesen zusammenfassen, gleichzeitig aber - im Gegensatz zum bisherigen, rein analytischen Vorgehen — versuchen, einige wenige der historischen Wissenslücken durch Hypothesen zu füllen. Dabei sollen jeweils auch die Grenzen sichtbar werden, an denen die historische Eruierung der Umstände des Todes Jesu unweigerlich das Gebiet der Wissenschaft verläßt und das der romanhaften Leben-Jesu-Darstellung betritt.

(1) Die Pharisäer und der Tod Jesu Gängig ist die Sicht, wonach der Tod Jesu ein unweigerliches Ergebnis seiner vielfaltigen religiös bedingten Konflikte mit zeitgenössischen jüdischen Gruppierungen, insbesondere mit den Pharisäern, gewesen ist. Bei Wilhelm BOUSSET etwa liest man: "Die eigentlichen Antipoden und erbittertsten Gegner Jesu sind die Gelehrten (= die Schriftgelehrten und Pharisäer). ... Hier die Unnatur grüblerischer, unfruchtbarer Gelehrsamkeit ... (,) eine durch Generationen fortgesetzte Verbildung und Verschrobenheit ... (,) ein Hängen

SchluB: Die wichtigsten historischen Ergebnisse

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und Kleben am Kleinen und Kleinsten, ein Wühlen im Staube, und dort ein Drängen auf die Hauptsache und der starke Sinn für Realität; ... hier der Buchstabe der Schrift und dort der lebendige Gott. Das war wie Wasser und Feuer. ... Hier war von Anfang an Todfeindschaft" (Jesus 31f.). Josef BLINZLER schreibt: "Die erbitterte Gegnerschaft der Pharisäer gegen Jesus beruhte außer auf machtpolitischen Erwägungen auch auf religiös-dogmatischen Motiven. Jesu Religiosität war ihnen eine völlig fremde Welt. Er ... führte einen schonungslosen Kampf gegen alle Buchstabenreligion und alle im religiösen Formalismus erstarrte Scheinfrömmigkeit" (Prozeß 77f.). Noch pointierter formulierte einst Eduard LOHSE:1 "Die Pharisäer beschlossen, gegen Jesus vorzugehen, weil er das Gesetz übertrat, und ihn zu beseitigen. Dieser Entschluß wurde verwirklicht, als Jesus nach Jerusalem gekommen war" (Umwelt 57). Siegfried SCHULZ resümiert: Die "provokativ antipharisäische Auslegung des Mosegesetzes wie der damit verbundene apokalyptische Fluch über die pharisäisch geführte Synagoge waren aufrührerisch und der Grund des Kreuzestodes Jesu. Dieser geht zurück auf den Haß der jüdischen Frommen und das Mißverständnis der Römer" (Jesus 16f.). Diese Sicht der Dinge ist vornehmlich aus zwei Gründen nicht aufrechtzuerhalten. (a) In unserem Zusammenhang ausschlaggebend ist die Tatsache, daß die Pharisäer nirgendwo im ältesten Passionsbericht in Erscheinung treten. Gleiches gilt — von einigen wenigen, ganz unerheblichen Ausnahmen abgesehen - für die Jetztgestalt der kanonischen Evangelien.2 (b) Darüber hinaus muß, insbesondere im Blick auf die These von Jesu Kampf gegen die pharisäische 'Gesetzlichkeit' und 'Scheinfrömmigkeit', grundsätzlich bezweifelt werden, daß das Bild, das die Evangelien vom Verhältnis Jesu zu den Pharisäern zeichnen, historisch zutreffend ist: Die allermeisten Erwähnungen der Pharisäer sind überlieferungsgeschichtlich jung und darüber hinaus "eindeutig tendenziös." 3 Analysiert man die erhaltenen Quellen kritisch, 4 so erscheint es

1 In den älteren Auflagen der Umwelt'. Die zitierte Passage hat Lohse — was sehr zu begrüßen ist — in der neuesten Auflage seines Buches verändert (s.o. II 4.3 A 27). 2 BLINZLER sucht diesem Argument dadurch zu entgehen, daß er postuliert, bei der Verhandlung Jesu vor dem Synhedrium seien die "pharisaically inclined 'learned Scribes' ... undoubtedly in the forefront" gewesen (Trial 51). Hingegen hat ein derartige Verhandlung nach unserer Analyse nicht stattgefunden, und darüber hinaus geht es auch nach der markinischen Darstellung des 'Prozesses' nirgendwo um Probleme der Schriftinterpretation. 3 LUZ, Pharisäer 231f. 240f., das Zitat 232.

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Der 'Prozeß' vor dem Synhedrium

als sehr zweifelhaft, "that there were any substantial points of opposition between Jesus and the Pharisees (that is, with the Pharisees in particular, as distinct from the rest of Jewish Palestine)". 5 Bereits Rudolf BULTMANN hebt daher mit Recht hervor, man dürfe nicht annehmen, "daß Jesu sittliche Verkündigung die Pharisäer und Schriftgelehrten so gegen ihn aufgebracht habe, daß er schließlich ihrer Feindschaft zum Opfer fiel" (Erforschung 37). Zutreffend urteilt auch Ulrich LUZ: Der Konflikt mit den Pharisäern "hat Jesus nicht ans Kreuz gebracht und war vermutlich ein eher nebensächlicher" (Pharisäer 241). Die Pharisäer hatten mit dem Tod Jesu nichts zu tun. (2) Die Priesteraristokratie und der Tod Jesu Beteiligt am juristischen Vorgehen gegen Jesus waren offenbar hingegen Mitglieder der Jerusalemer Priesteraristokratie, möglicherweise sogar der amtierende Hohepriester Kaiaphas selbst. Aber auch was diese Gruppe anbetrifft, so ist es historisch alles andere als ausgemacht, daß sie Jesus zu Tode bringen wollten. Die entsprechenden Aussagen des PB sind erschlossen und fraglos von den späteren negativen Erfahrungen der »Christen« mit Juden eingefärbt. In der Tat muß mit Paul WINTER festgehalten werden: "(There) is no warrant for the supposition that there existed among his contemporaries a concerted plan to have Jesus put out of the way" (Trial 169). Die Interpretation, daß es, wenn schon nicht den Pharisäern, dann doch jedenfalls den Hohepriestern "um die Vernichtung Jesu um jeden Preis zu tun war", 6 ist unhaltbar. Jede Spekulation über etwaige Motive der jüdischen Oberen ist angesichts der Quellenlage völlig arbiträr. (3) Der Trozeß' vor dem Synhedrium Ein regelrechter Prozeß gegen Jesus vor 'dem' bzw. einem Jerusalemer Synhedrium hat nicht stattgefunden. Der älteste Passionsbericht berichtete von einem solchen noch nicht. Hier war offenbar lediglich davon die Rede, "that Jesus, after his arrest was questioned in the high-priest's residence by

4 S. zu den großen Problemen der Rekonstruktion eines historisch zutreffenden Pharisäerbildes das grundlegende Werk von NEUSNER, Pharisees, pass, sowie ders., Politics, pass., insbesondere 143-154·, LUZ, Pharisäer, pass.; SALDARINI, Pharisees, pass., insbesondere 277-297 und STEMBERGER, Pharisäer, pass. 5 E.P. SANDERS, Jesus 264f. Zum Problem s. ebd. 245-293; WINTER, Trial 174-176 und LUZ, Pharisäer 241-244. 6 BLINZLER, Prozeß 448; Kursive hinzugefügt.

SchluB: Die wichtigsten historischen Ergebnisse

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some Jewish official."7 Die späteren Ausführungen des Markusevangeliums über einen Synhedriumsprozeß sind historisch ohne Zweifel unzuverlässig. Denn sie kollidieren — um nur eins der vielen Argumente anzuführen - in beinahe allen Details mit den in MSanh 4-5 (usw.) enthaltenen Prozeßregeln, und obwohl bei einer Redatierung der einschlägigen mischnischen Rechtsvorschriften in die Zeit vor 70 grundsätzlich äußerste Vorsicht am Platze ist, ist es doch in diesem speziellen Fall schwerlich bestreitbar, daß "trials before the Great Sanhédrin were conducted on similar or identical lines."8 Zwar läßt sich dieses starke Argument selbstverständlich durch die Überlegung außer Kraft setzen, die Tatsache, daß solche Rechtsvorschriften existiert haben, besage noch lange nichts darüber, daß sich die Synhedristen auch an sie gehalten haben müssen.9 Hingegen ist dieses Argument zum einen methodisch höchst dubios, da es den »Prozeß« Jesu faktisch gegen historische Kritik immunisiert; und zum anderen basiert es letztlich auf der unbegründbaren Annahme, die Synhedristen hätten Jesus um jeden Preis zu Tode bringen wollen, d.h., sie seien von vornherein gegen ihn eingestellt gewesen. Josef BLINZLER bringt diese Position auf folgenden Nenner: "Ganz klar tritt die böswillige Einstellung der Synhedristen im ... Verlauf der (Prozeß-) Ereignisse zutage" (Prozeß 448). Daß in diesem Satz kein ernstzunehmendes historisches Urteil vorliegt, braucht kaum eigens betont zu werden. Es sei daher nochmals festgehalten: "The trial scene is unlikely on all counts."10 Eine Verhandlung vor dem Synhedrium hat historisch nicht stattgefunden. (4) Die Verantwortung für den Tod Jesu Die Verantwortung für den Tod Jesu lag allein und ausschließlich bei dem zuständigen römischen Präfekten Pontius' Pilatus. Historisch unhaltbar ist die Sicht, dieser sei lediglich ein Werkzeug, ein Spielball in der Hand der Juden zwecks Durchsetzung ihres »Todesbeschlusses« gewesen, wie überhaupt das gängige christliche Bild vom schwächlichen, im Innersten von Jesu Unschuld überzeugten »Prokurator« ein unhistorisches, grundlegend von der Darstellung des ältesten Passionsberichtes inauguriertes Konstrukt ist. Die diesbezüglich zentrale Szene der evangelischen Passionsberichte, die Barabbasszene, entbehrt jeder ernstzunehmenden historischen Grundlage: Einen

7 WINTER, Trial 43 (als Vermutung). 8 SCHÜRER-VERMES II 225f. 9 PESCH, Markus II 415 A 4 7 u.ö.. 10 SANDERS, Jesus 298.

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Die Verantwortung für den Tod Jesu

römischen Brauch, den Juden anläßlich des Paschafestes das Recht zu gewähren, einen bestimmten Gefangenen in einer für den Präfekten praktisch bindenden Entscheidung freibitten zu dürfen, hat es ohne Zweifel nicht gegeben. Paul WINTER formuliert zwar scharf, aber doch zutreffend: "The Privilegium paschale is nothing but a figment of the imagination. No such custom existed" (Trial 134). Die Entscheidung über Leben und Tod Jesu lag nicht beim Jerusalemer Volk, sondern einzig und allein bei Pilatus. Dieser ist nicht nur — wie allgemein anerkannt - n 'letztlich', sondern in jeder Hinsicht für den Tod Jesu verantwortlich. Das bedeutet in der Konsequenz aber auch: Er hat Jesus nicht — wie es die Evangelien in immer stärkerem Maße betonen — für unschuldig erklärt (oder jedenfalls gehalten), geschweige denn beinahe verzweifelt versucht, seine Freilassung durchzusetzen, sondern er hat Jesus für schuldig befunden und abgeurteilt.12 Es gilt daher, endgültig von dem folgenden, wiederum von Josef BLINZLER nachgerade »klassisch« gezeichneten Bild Abschied zu nehmen: "Neben den Juden ist der römische Prokurator Pilatus für die Hinrichtung Jesu verantwortlich. Seine verhängnisvolle Behandlung der Barabbasaffäre mag man zwar noch als Ungeschicklichkeit ... ansprechen. Schuldig gemacht hat er sich aber dadurch, daß er trotz seiner Überzeugung von der Schuldlosigkeit des Angeklagten diesen geißeln ließ und schließlich sogar zum Kreuzestod verurteilte. Schuldmildernd ist der Umstand, daß er beides unter dem Druck der fanatischen Juden tat, obgleich dem Richter das Recht höher zu stehen hat als sein persönliches Wohl. Entlastend wirken auch seine wiederholten Anstrengungen, Jesu Freilassung durchzusetzen" (Prozeß 449).13

11 Selbst W. GRUNDMANN bestreitet diese Tatsache in seinem offen antisemitischen Jesusbuch (Jesus der Galiläer, 158) nicht. 12 Man sollte daher nicht ohne weiteres davon sprechen, Jesus sei einem "Justizmord" zum Opfer gefallen (so z.B. CONZELMANN, Heiden 4 uva.): Wenn Pilatus in ihm eine Gefahr für die öffentliche Ordnung erkannt hat, so hat er ihn — nach damaligen Rechtsvorstellungen — durchaus zu Recht verurteilt. Cf. nur das Resümee von PAULUS, daß "die Kreuzigung dem Recht entsprach" (Bemerkungen 445). Abenteuerlich ist die diesbezügliche Argumentationsstruktur bei BLINZLER. Er bemerkt zum Thema einer möglichen Schuld Jesu-, "Für den gläubigen Christen bedarf es keines umständlichen Beweises, daß Jesus von Nazareth als Unschuldiger verurteilt und hingerichtet wurde Wenn aber Jesus schuldig gesprochen wurde, ohne in Wahrheit schuldig zu sein, dann erhebt sich die Frage, wer dafür die Verantwortung trägt" (Prozeß 19). Hier wird ein eminent wichtiges historisches Urteil unmittelbar aus einem christlichen Bekenntnis abgeleitet! 13 Sogar noch schärfer als J. Blinzler urteilt P. BENOIT: "Pilatus hatte Jesus also für unschuldig erklärt. Dies ist eine historische Tatsache, an der wir unbeirrt

Schluß: Die wichtigsten historischen Ergebnisse

311

Unlösbar sind die Fragen nach der Person des Barabbas und danach, was damals wirklich in Jerusalem geschah. Irgendein historisches Substrat liegt der Darstellung des ältesten Passionsberichtes sicher zugrunde; es besteht kein Grund, Barabbas für eine erfundene Figur zu halten. Aber - wie Paul WINTER mit Recht hervorgehoben hat - : "Who precisely he was, what led to his arrest, what he did after his release — we cannot say" (Trial 143). (5) Der Grund der Anzeige bei Pilatus Unbekannt ist der wirkliche Grund der Anzeige gegen Jesus beim Präfekten. Sein Messiasbekenntnis gegenüber dem Hohepriester kommt dafür nicht in Frage: es ist nahezu sicher unhistorisch. Was aber hatte man dann gegen Jesus vorzubringen? Mit der nötigen Vorsicht läßt sich der wirkliche Grund der Anzeige vielleicht noch erschließen. Allein aufgrund der Tatsache der Kreuzigung ist klar, daß Jesus wegen eines politischen Vergehens 14 hingerichtet wurde. Die nächstliegende und aus einer Reihe von Gründen beste Hypothese (s.u. (6-7)) ist daher immer noch: Der wirkliche Grund der ενδειξις bei Pilatus war die Behauptung, er erzeuge öffentlichen Aufruhr (so bereits Lk 23,2.5).15 Interessant ist nun die Beobachtung, daß bereits der Verfasser des ältesten Passionsberichtes — will man nicht unnötigerweise annehmen, er habe seine Leser(innen) absichtlich täuschen wollen - offenbar nicht mehr wußte, warum man Jesus zu Pilatus überstellt hatte. Er reprojizierte vielmehr den entscheidenden Differenzpunkt zwischen »Juden« und »Christen« zu seiner Zeit — das Bekenntnis zu Jesus, dem Χριστός - in die Geschichte Jesu und folgerte:

festhalten müssen. ... Jesus ... war kein politischer Aufrührer. Pilatus hat dies sehr wohl gemerkt und deshalb dem Drängen der Juden nach Möglichkeit widerstanden. Aber schlieBlich hat er doch nachgegeben. Warum also? Einzig, weil er eingeschüchtert war. ... Die Juden sind insofern verantwortlich, als sie den Tod Jesu gewollt und mit moralischer Nötigung durchgesetzt haben. An dieser objektiv historischen Tatsache ist nicht zu rütteln" (127-129). Am Ende geht Benoit sogar so weit, den traditionellen Vorwurf des »Gottesmordes« zu legitimieren: "In diesem Sinn ist die Bezeichnung 'Gottesmörder' ... nur berechtigt, wenn man das Wort mehr theologisch als psychologisch versteht. Was die Juden taten, war objektiv 'Gottesmor