Der klassische Liberalismus und die Gretchenfrage: Zum Verhältnis von Freiheit, Staat und Religion im klassischen politischen Liberalismus 3515120068, 9783515120067

Aus der Sicht des politischen Liberalismus sind die individuellen Freiheiten das höchste Gut. Diese Freiheiten sind aber

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Der klassische Liberalismus und die Gretchenfrage: Zum Verhältnis von Freiheit, Staat und Religion im klassischen politischen Liberalismus
 3515120068, 9783515120067

Table of contents :
EDITORIAL
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT UND DANKSAGUNG
EINLEITUNG
TEIL I: EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMATIK
KAPITEL 1: DIE GRETCHENFRAGE
KAPITEL 2: DER ZEITGENÖSSISCHE POLITISCHE LIBERALISMUS UND DIE GRETCHENFRAGE
KAPITEL 3: STAAT, RELIGION, LIBERALISMUS: BEGRIFFSERKLÄRUNG
TEIL II: DIE THEOLOGISCHE UND DIE POLITISCHE PERSPEKTIVE
EINLEITUNG
KAPITEL 1: WAHRHEIT UND NÜTZLICHKEIT
KAPITEL 2: RELIGION UND STAATSRÄSON
KAPITEL 3: DER POLITISCHE UND DER RELIGIÖSE TUGENDBEGRIFF
KAPITEL 4: RELIGIÖSE WAHRHEIT UND POLITISCHER NUTZEN BEI MONTESQUIEU
KAPITEL 5: RELIGIÖSE WAHRHEIT UND POLITISCHER NUTZEN BEI TOCQUEVILLE
KAPITEL 6: DIE ZURÜCKWEISUNG EINER – REIN – POLITISCHEN PERSPEKTIVE AUF DIE RELIGION
KAPITEL 7: VON DER WAHRHEITSFRAGE ZUR NÜTZLICHKEITSFRAGE
TEIL III: DIE RELIGION IM DIENST DES LIBERALISMUS
EINLEITUNG
KAPITEL 1: FESTE ÜBERZEUGUNGEN
KAPITEL 2: RELIGION, MORAL UND STRAFRECHT
KAPITEL 3: DER WERT DES MENSCHEN
KAPITEL 4: DIE OPFERBEREITSCHAFT
KAPITEL 5: DIE BEGRENZUNG DER POLITISCHEN MACHT
TEIL IV: DER LIBERALE STAAT UND DIE RELIGION
EINLEITUNG
KAPITEL 1: DIE TRENNUNG VON KIRCHE UND STAAT
KAPITEL 2: DIE BESOLDUNG DER PRIESTER
KAPITEL 3: DIE TOLERANZ UND IHRE GRENZEN
KAPITEL 4: DER STAAT UND DER ATHEISMUS
TEIL V: DER KLASSISCHE LIBERALISMUS UND DER ISLAM
EINLEITUNG
KAPITEL 1: MONTESQUIEU UND DER ISLAM
KAPITEL 2: TOCQUEVILLE UND DER ISLAM
KAPITEL 3: DER ISLAM IM KLASSISCHEN ANGELSÄCHSISCHEN LIBERALISMUS
SCHLUSSBETRACHTUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS

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Norbert Campagna

Der klassische Liberalismus und die Gretchenfrage Zum Verhältnis von Freiheit, Staat und Religion im klassischen politischen Liberalismus

34 Staatsdiskurse Franz Steiner Verlag

Norbert Campagna Der klassische Liberalismus und die Gretchenfrage

Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 34

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Erfurt Paula Diehl, Berlin Michael Hirsch, München Sebastian Huhnholz, Hannover Manuel Knoll, Istanbul Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Peter Schröder, London

Norbert Campagna

Der klassische Liberalismus und die Gretchenfrage Zum Verhältnis von Freiheit, Staat und Religion im klassischen politischen Liberalismus

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Bosch Druck, Ergolding Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12006-7 (Print) ISBN 978-3-515-12009-8 (E-Book)

In memoriam Jean-Paul Harpes (1934–2017)

EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staats­ diskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt

INHALTSVERZEICHNIS Editorial ..............................................................................................................

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Vorwort und Danksagung ................................................................................... 11 Einleitung ........................................................................................................... 13 TEIL I: EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMATIK

Kapitel 1: Die Gretchenfrage ............................................................................. 27 Kapitel 2: Der zeitgenössische politische Liberalismus und die Gretchenfrage ....................................................................... 38 Kapitel 3: Staat, Religion, Liberalismus: Begriffserklärung .............................. 63 TEIL II: DIE THEOLOGISCHE UND DIE POLITISCHE PERSPEKTIVE

Einleitung ........................................................................................................... Kapitel 1: Wahrheit und Nützlichkeit ................................................................ Kapitel 2: Religion und Staatsräson ................................................................... Kapitel 3: Der politische und der religiöse Tugendbegriff ................................ Kapitel 4: Religiöse Wahrheit und politischer Nutzen bei Montesquieu ........... Kapitel 5: Religiöse Wahrheit und politischer Nutzen bei Tocqueville ............. Kapitel 6: Die Zurückweisung einer – rein – politischen Perspektive auf die Religion ................................................................................. Kapitel 7: Von der Wahrheitsfrage zur Nützlichkeitsfrage ................................

83 86 91 96 103 111 126 135

TEIL III: DIE RELIGION IM DIENST DES LIBERALISMUS

Einleitung ........................................................................................................... Kapitel 1: Feste Überzeugungen ........................................................................ Kapitel 2: Religion, Moral und Strafrecht ......................................................... Kapitel 3: Der Wert des Menschen .................................................................... Kapitel 4: Die Opferbereitschaft ........................................................................ Kapitel 5: Die Begrenzung der politischen Macht .............................................

151 157 192 214 242 257

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Inhaltsverzeichnis

TEIL IV: DER LIBERALE STAAT UND DIE RELIGION

Einleitung ........................................................................................................... Kapitel 1: Die Trennung von Kirche und Staat .................................................. Kapitel 2: Die Besoldung der Priester ............................................................... Kapitel 3: Die Toleranz und ihre Grenzen ......................................................... Kapitel 4: Der Staat und der Atheismus .............................................................

275 279 304 332 356

TEIL V: DER KLASSISCHE LIBERALISMUS UND DER ISLAM

Einleitung ........................................................................................................... Kapitel 1: Montesquieu und der Islam ............................................................... Kapitel 2: Tocqueville und der Islam ................................................................. Kapitel 3: Der Islam im klassischen angelsächsischen Liberalismus ................

375 384 403 416

Schlussbetrachtungen ......................................................................................... 426 Literaturverzeichnis ........................................................................................... 441

VORWORT UND DANKSAGUNG Dieses Buch ist das Resultat einer fast zwanzigjährigen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen politischem Liberalismus und Religion. Diese Auseinandersetzung hat ihren Niederschlag in Monographien zu einzelnen Autoren (Montesquieu, Constant, Tocqueville) gefunden, aber bislang fehlte eine Perspektive die, wenn nicht alle, so doch die wichtigsten Autoren in einem Gesamtzusammenhang berücksichtigt. Auf die autorenorientierte Perspektive folgt also hier eine problemorientierte Perspektive bzw. stellen die Probleme den Rahmen für eine Behandlung der Autoren dar. Man könnte sich über die Wichtigkeit, die die klassischen liberalen Autoren der Religion zuschreiben, hinwegsetzen und diese Autoren als „Kinder ihrer Zeit“ sehen, als Menschen, die in einer Welt lebten, in der die Religion noch für die große Masse der Bevölkerung eine strukturierende Rolle spielte. Der Philosoph, so wird man dann sagen, kümmert sich nicht um Religion. Man könnte diesen Autoren auch, und vielleicht nicht ganz zu unrecht, eine gehörige Portion Heuchelei vorwerfen und behaupten, dass sie dem Volk eine Religion „verkaufen“ wollten, an die sie selbst gar nicht mehr, oder vielleicht nur noch halbherzig, glaubten. Der Philosoph, wird man dann sagen, kümmert sich nur um die Wahrheit. Man kann aber auch, und das ist der in diesem Buch eingeschlagene Weg, die sich in den Schriften der klassischen liberalen Denkern ausdrückende Sorge ernst nehmen und dementsprechend auch ihr Versuch, mit Hilfe der Religion dieser Sorge zu begegnen. Vielleicht ist der von ihnen eingeschlagene Weg ein Holzweg und vielleicht braucht man die Religion nicht, oder man braucht sie zwar, kann ihre Existenz aber nicht garantieren, oder man braucht sie, kann ihre Existenz garantieren, aber nur indem man auf Mittel zurückgreift, die dem Geist des Liberalismus widersprechen. Die Sorge, um die es hier geht, ist die Sorge um die Freiheit, also um jenes Gut, auf das die Menschen sich seit Jahrtausenden immer wieder berufen und das im Liberalismus zum Grundwert erhoben wird. Wäre die Freiheit ein leicht oder einfach zu verwirklichendes bzw. zu bewahrendes Gut, dann würde sie vielleicht heute überall gegeben sein. Doch es scheint so zu sein, dass wir auch heute, zweieinhalb Jahrhunderte nach Rousseau, immer noch die Feststellung machen müssen, dass der Mensch zwar frei geboren wurde, dass er aber immer noch so gut wie überall in Ketten – die manchmal enger, manchmal loser sind – liegt. Welche Rolle könnte die Religion bei seiner Befreiung aus diesen Ketten spielen? Allein schon die Frage klingt komisch, wird die Religion doch gewöhnlich als eine derjenigen Ketten angesehen, die den Menschen daran hindern, frei zu sein. Anstatt einfach diese letztgenannte, heute auch bei vielen Liberalen anzutreffende, gängige Meinung zu übernehmen, sollten wir uns die Gegenseite anhören, die, ohne

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Vorwort und Danksagung

für die durch die Religion entstehenden oder mit ihr verbundenen Gefahren blind zu sein, auch deren freiheitsfördernde Dimensionen hervorstreicht. Und dass es gerade liberale Denker sind, die diese Gegenposition vertreten, macht ein solches Unternehmen besonders interessant. Auch wenn ich selbstverständlich ganz allein für den Inhalt und die Form dieses Buches verantwortlich zeichne, so möchte ich doch einigen Kolleg(inn)en danken, die mir mit ihren wertvollen Bemerkungen und Hinweisen – philosophischer aber auch sprachlicher Natur – behilflich waren und die sich freundlicher Weise bereit erklärt haben, Teile des Manuskripts zu lesen und zu kommentieren. Alphabetisch: Eric Bruch, Hubert Hausemer, Oliver Hidalgo, Skadi Siiri Krause und Franziska Martinsen. Bedanken möchte ich mich dann auch bei Herrn Professor Rüdiger Voigt, der bereit war, dieses Buch in der von ihm geleiteten Reihe Staatsdiskurse aufzunehmen – und dessen Geduld ich wahrscheinlich strapaziert habe, da das Projekt am Anfang nur ganz schleppend vorankam. Und als es dann gut vorankam, kam es zu Verspätungen bei anderen Projekten, zu deren Verwirklichung ich mich auch bei Herrn Voigt verpflichtet hatte. Insofern möchte ich mich nicht nur bei ihm bedanken, sondern ihn gleichzeitig auch um Entschuldigung bitten. Serrouville, im Herbst 2017

EINLEITUNG Braucht die Freiheit bzw. braucht eine liberale Demokratie1 die Religion, oder kann sie gänzlich auf sie verzichten? Falls sie die Religion braucht, zu welchem Zweck braucht sie sie dann: um die durch sie verwirklichten Werte der Freiheit und Gleichheit zu begründen oder – und es handelt sich hier um ein einschließendes „oder“ – um ihre Bürger zu Respekt und zur Verteidigung dieser Werte zu motivieren?2 Im ersten Fall ist die Religion bzw. sind religiöse Prämissen notwendig für die liberale Theorie, im zweiten Fall ist die Religion bzw. ein religiöser Glaube notwendig für die liberale Gesellschaft. Und wenn sie die Religion zu einem dieser beiden Zwecke oder gar zu beiden braucht, taugen dann alle Religionen gleichermaßen, oder sind einige besser als andere bzw. sind einige – oder gar alle bis auf eine einzige – völlig untauglich und sogar kontraproduktiv, oder, schlimmer noch, gefährlich? Und wenn man davon ausgeht, dass die Freiheit oder eine liberale Demokratie die bzw. eine Religion braucht, darf und gegebenenfalls muss dann ein liberaler Staat, zu dessen Aufgaben, so wollen wir einmal annehmen, die Bewahrung und gegebenenfalls auch Förderung der Freiheit gehört, die Religion fördern?3 Und wenn er sie fördern darf oder gar muss, welcher Mittel darf er sich dabei bedienen – d. h. welche Mittel darf er benutzen, wenn er seine Identität als liberaler Staat behalten will? 1

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Die zentrale Frage scheint mir nicht zu sein, ob eine Demokratie als solche die Religion braucht. Zumindest dann nicht, wenn man den Begriff der Demokratie als „Herrschaft des Volkes“ bzw. „Herrschaft der Mehrheit des Volkes“ versteht. Der Hinweis auf Gott mag vielleicht nützlich sein zur Beantwortung der Frage, von wem das Volk sein Herrschaftsrecht bekommen hat. Was die in diesem Band behandelten Autoren weit mehr interessiert, ist die Frage, wie eine bestimmte Form der Demokratie, nämlich die liberale Demokratie, ohne die Religion funktionieren und bestehen kann. In einer liberalen Demokratie gilt zwar noch immer das Prinzip der Volkssouveränität, aber der Wille des Volkes muss die Freiheit der Individuen anerkennen. Mit dem Begriff der Freiheit ist hier jene Freiheit gemeint, die Constant als die Freiheit der Modernen bezeichnet, und deren Kern das individuelle Recht ist, sein Leben so zu gestalten, wie man es für richtig hält, und höchstens nur solchen Gesetzen unterworfen zu sein, deren Richtigkeit die Vernunft einsehen kann. Frei ist der Mensch also, wenn er keiner fremden Will­ kür unterworfen ist. Insofern die Vernunft als eine Fähigkeit gedacht wird, die allen Menschen gemeinsam ist und in jedem Individuum dieselben Einsichten erzeugt, kann man nicht einer fremden Vernunft unterworfen sein. Nur die eigene Willkür kann eine Unterwerfung unter die Vernunft als heteronom deuten. Ich lasse hier einen dritten Aspekt beiseite, nämlich den der Ideengeschichte. Es besteht heute kaum noch Zweifel daran, dass das Christentum jene Denkkategorien geschaffen hat, ohne die es den Liberalismus nicht gegeben hätte. Insofern kann man von der Geburt des Liberalismus aus den Denkkategorien des Christentums sprechen. Aber dieser Ursprung impliziert noch nicht, dass man die Religion braucht, um den Liberalismus zu begründen. Hier ließe sich auch fragen, wie der liberale Staat sich zu Religionen verhalten sollte, die nichts zum Erhalt der Freiheit beitragen oder diesen Erhalt sogar gefährden. Es geht hier nicht um die Frage, ob der Staat den religiösen Irrtum tolerieren soll, sondern darum, ob der Staat einen politisch gefährlichen Glauben tolerieren muss.

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Einleitung

Der liberale Staat kennzeichnet sich nämlich dadurch, dass er auf bestimmte Mittel verzichtet, weil er sich nicht auf ein reines Zweck-Mittel Denken reduziert, sondern Werte anerkennt, die a priori den Rückgriff auf bestimmte Mittel ausschließen. Angenommen, es gibt legitime Mittel, denen sich der liberale Staat bedienen darf, ohne aufzuhören, liberal zu sein, dann stellt sich noch die Frage, ob diese Mittel in einem aufgeklärten Zeitalter überhaupt Aussicht auf Erfolg haben. Und hier taucht ein mögliches gravierendes Problem auf: Wenn die Freiheit einerseits die Religion brauchen sollte, der aufgeklärte Mensch aber andererseits nicht mehr dazu gebracht werden kann, an die Religion, oder genauer an Gott zu glauben, dann scheint es schlecht um die Freiheit des aufgeklärten Menschen zu stehen. Dann scheint die Aufklärung gerade jenen Wert zu gefährden, den sie doch gerade fördern wollte.4 Und dann ist die Frage nicht mehr, ob man Freiheit und Religion unter einen Hut bringen kann, sondern ob man zugleich ein aufgeklärter und ein freier Mensch sein kann. Liegt die Zukunft der liberalen Demokratie in einer sich immer mehr von der Religion emanzipierenden Aufklärung oder in einem sich immer mehr von der Aufklärung emanzipierenden Rückzug ins Religiöse? Oder gibt es einen Platz für eine Aufklärung die mit der Religion, und für eine Religion die mit der Aufklärung vereinbar ist? Oder sollten wir noch einen Schritt weiter gehen, und beide hinter uns lassen, also einen Schritt jenseits von Religion und Aufklärung wagen, wie ihn etwa Charles Larmore tut (Larmore 1993)? Wenn sowohl die Religion als auch die Aufklärung die Freiheit bedrohen, dann wäre ein solcher Schritt angebracht. Aber wie müsste man dann die Freiheit schützen und fördern? Aber bedrohen Religion und Aufklärung tatsächlich die Freiheit? Die in diesem Buch behandelten Autoren gehören jenen Generationen an, die man als Kinder der Aufklärung und der liberalen Revolution(en) ansehen kann. Sie leben in einem Zeitalter, in dem die Menschen dazu neigen, jegliche intellektuelle Autorität, und vor allem diejenige des Klerus, zu verwerfen, und sie tun dies im Namen der Freiheit. Sie haben den Schritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gewagt und wollen nur noch an solche Wahrheiten glauben, die sie mit ihrem eigenen Verstand – den sie zu gebrauchen wagen – einsehen können. Dabei kommt man allerdings nicht an der Frage vorbei, ob tatsächlich alle Menschen in der Lage sind, ohne intellektuellen Autoritäten auszukommen. Wieso glauben heute Hunderte Millionen Menschen, dass sie Menschenrechte haben? Weil sie 4

Hier sind wir bei der Dialektik der Aufklärung, wie sie von Horkheimer und Adorno in ihrem gleichnamigen Buch thematisiert wurde. Man könnte unser Anliegen in diesem Buch eventuell als eine Untersuchung der Dialektik des Liberalismus auffassen. Es könnte dann heißen: „Indem die Besinnung auf das Destruktive der Säkularisierung ihren Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings immanente Denken seinen aufhebenden Charakter, und darum auch die Beziehung zur Wahrheit“ (nach Horkheimer/Adorno 1968, S. 7 – man ersetze die kursiv gesetzten Wörter durch „des Fortschritts“ und „pragmatisierte“ – man erhält dann den Originaltext der Dialektik der Aufklärung). Auch wenn man die Säkularisierung als einen wichtigen Schritt in der Menschheitsgeschichte begrüßt, sollte man sich einen Augenblick nehmen um nachzudenken, ob sie nicht auch negative Seiten hat. Dabei geht es nicht darum, die Säkularisierung wieder rückgängig zu machen – wie es ihre Feinde tun, die nur ihre destruktiven Seiten sehen.

Einleitung

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die tatsächliche Existenz dieser Menschenrechte mittels ihres eigenen Verstandes eingesehen haben5, oder weil sie in einer Kultur leben, in welcher man ihnen von klein an gesagt hat, dass sie Menschenrechte haben? Kleine Kinder von acht Jahren, glauben heute nicht mehr an Gott, weil der Religionslehrer und ihre Eltern ihnen gesagt haben, dass es Gott gibt, aber sie glauben an die Menschenrechte, weil ihre Lehrer, ihre Eltern und die Medien ihnen ständig sagen, dass sie solche Rechte haben. Und auch wenn wir zugeben, dass es nützlich ist, dass sie an die Existenz ihrer Menschenrechte glauben, so ändert das nichts an der Tatsache, dass die allermeisten von ihnen, wenn sie einmal erwachsen sein werden, an die Existenz ihrer Menschenrechte glauben werden, weil man ihnen gesagt hat, dass sie tatsächlich solche Rechte besitzen.6 Die in diesem Buch behandelten Autoren leben aber auch in einem Zeitalter, in dem sich die praktische Vernunft Kants in die pragmatische Vernunft der Utilitaristen verwandelt, und in dem es folglich nicht mehr darum geht, sich und sein individuelles Glücksstreben einer kategorischen Pflicht zu unterwerfen, sondern in dem das individuelle Glücksstreben sich soweit wie nur möglich von allen Verpflichtungen emanzipieren will. Der Mensch erfasst sich als ein freies Wesen, als ein Wesen, das sich selbst bestimmt und das das Recht für sich beansprucht, sein Leben so zu gestalten, wie es dies für richtig erachtet – und nicht, wie es dies für richtig erachten sollte.7 Der Mensch hat den Mut gefunden, seinen eigenen Begier-

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Es geht hier nicht darum, zu sehen oder einzusehen, dass irgendwo geschrieben steht, dass jeder Mensch Menschenrechte hat. Es geht darum zu wissen, ob das, was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in anderen Texten steht, auch der Wirklichkeit, und zwar einer von diesen Texten und den sich in ihnen kund gebenden Willensäußerungen unabhängigen Wirklichkeit entspricht. Ich bin mir bewusst, dass nicht jede und nicht jeder diesem Vergleich zustimmen wird. Die Menschenrechte und Gott sind sicherlich zwei ganz unterschiedliche Dinge. Hier geht es mir aber nur um die Frage, wie man dazu kommt, die Existenz von etwas anzunehmen bzw. etwas als existent anzusehen. Wenn man Kindern nicht von früh auf sagt, dass sie Menschenrechte haben und wenn sie, allgemeiner gesprochen, nicht in einer Lebensform aufwachsen, die durch den Gedanken der Menschenrechte strukturiert wird, dann werden sie auch nicht glauben, dass sie Menschenrechte haben. Und sie werden ihre Rechte als Menschen bzw. deren Respekt nur dann einfordern, wenn sie glauben, dass sie solche Rechte haben, genauso wie der Gläubige sich nur dann für seinen Gott einsetzen wird, wenn er an dessen Existenz glaubt. „Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften, und sie sollte es auch nur sein, und sie keinen Anspruch auf eine andere Funktion erheben, als ihnen zu dienen und zu gehorchen“ (Hume 1978, S. 156), wie Hume es unmissverständlich formuliert hat. Gemeint ist damit, dass die Vernunft nicht für sich allein praktisch sein kann, sondern immer auf die Leidenschaften angewiesen ist, um praktisch zu werden. Die Aufgabe der Vernunft besteht aus dieser Sicht lediglich darin, die größtmögliche Befriedigung der Leidenschaften herbeizuführen. Die Vernunft rechnet und plant, sie ist ein Instrument im Dienste der Begierden und Leidenschaften. Eine autonome kritische Funktion besitzt die Vernunft hier nicht. In einem Brief aus dem Jahr 1850 an seinen Freund Gustave de Beaumont finden wir folgende, stark an Hume erinnernde, Stelle: „Aber Sie wissen es genauso gut wie ich, es ist nicht der schlussfolgernde Vernunftgebrauch [raisonnement], der die Welt führt, es ist die Leidenschaft; oder man wird zumindest sagen müssen, dass die Vernunft sich nur dann einen Weg bahnt, wenn sie einer Leidenschaft begegnet, die ihr zufälliger Weise Gesellschaft leisten will“ (Tocqueville OC VIII, 2, S. 296).

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Einleitung

den zu folgen und sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um die geeigneten Mittel zur Befriedigung dieser Begierden zu finden. Das Individuum will frei sein – und dieser Wille ist auch vollkommen legitim. Allerdings kann das Individuum nur frei sein, wenn man es frei sein lässt und wenn es in einem Umfeld lebt, in welchem Platz für Freiheit ist. Die Freiheit des Individuums verweist somit auf ihre Ermöglichungsbedingungen. Man ist nicht schon dadurch frei, dass man frei sein will bzw. der bloße Wunsch, frei zu sein, garantiert noch nicht seine Erfüllung.8 Wären die Ermöglichungsbedingungen der Freiheit ein für allemal gegeben, so bräuchte man nicht über sie nachzudenken. Sie sind aber leider nicht ein für allemal gegeben. Dementsprechend können sie dem Individuum, das frei sein will, letzten Endes nicht gleichgültig sein. Wer frei sein will muss auch wollen, dass Bedingungen existieren, die es ihm ermöglichen, frei zu sein. Meine Freiheit hört vielleicht da auf, wo diejenige des anderen anfängt, aber unsere gemeinsame Freiheit hört dann auf, wenn die sie ermöglichenden Bedingungen nicht mehr gegeben sind. In einer liberalen Gesellschaft neigen die Menschen oft dazu zu sagen, dass es am Staat ist, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Freiheit zu garantieren. Aber je mehr sie das sagen und je mehr sie den Staat damit beauftragen, diese Bedingungen zu garantieren, desto mehr untergraben sie diese Bedingungen. Damit stellt sich die Frage: Wie bewahrt man am besten die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit? Und genau diese Frage steht im Mittelpunkt dieses Buches, wobei wir uns auf eine ganz spezifische Epoche beziehen werden, nämlich, grob gesagt, auf die Zeit zwischen 1670 und 1870.9 In diesen beiden Jahrhunderten behaupten eine Reihe liberaler Autoren, dass der Mensch nur dann hoffen kann, frei zu bleiben, wenn er am Religiösen festhält. Wie man einst meinte, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt, so meinten diese Autoren, dass es in einer nicht-religiösen Gesellschaft keine Freiheit geben konnte. Die Religion interessierte sie nicht, insofern sie ein jenseitiges Heilsversprechen verkörperte10, sondern als Instrument der Freiheit. „Religion oder Despotismus“, so hätten sie sich auf ihre Fahnen schreiben können. Vielleicht hatten diese Autoren unrecht mit der These, dass die Religion überhaupt oder sogar, dass nur die Religion die Freiheit in einer liberalen Gesellschaft auf Dauer garantieren kann. Aber sie hatten doch recht, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu stellen und auch zu fragen, ob und inwiefern die Religion dazu gehörte. Vielleicht haben viele zeitgenössische liberale Autoren recht, wenn sie die Religion nicht mehr als Instrument der Freiheit auffassen. 8 9

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Der Wille frei zu sein impliziert eigentlich schon, dass man auch etwas tun wird, um frei zu bleiben. Beim Wunsch frei zu sein, muss dies nicht der Fall sein. Es geht mir bei dieser konkreten Datumsangabe lediglich darum, eine bestimmte Epoche, und zwar die Epoche des klassischen Liberalismus zeitlich einzugrenzen. Lockes erste große Schriften entstehen um oder kurz nach 1670, und Laboulayes wichtige Schriften wurden etwa 200 Jahre später verfasst. Um ganz genau zu sein: In ihren politischen Schriften steht dieses jenseitige Interesse nicht im Mittelpunkt. Es ist nicht Aufgabe des Staates, den Menschen zu seinem ewigen Seelenheil zu führen, und somit kann es auch nicht die Aufgabe der politischen Theorie sein, die Religionen im Hinblick auf ihren Beitrag zur Erreichung des ewigen Seelenheils zu hinterfragen.

Einleitung

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Aber sie haben sicherlich unrecht, wenn sie die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit nicht mehr stellen. Doch es geht eigentlich um mehr als um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit. Es geht auch um die Frage nach dem Wert der Freiheit und nach der Würde des diese Freiheit wollenden Menschen. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit stellt sich in ihrer ganzen Komplexität erst für ein solches Wesen, das in der Freiheit einen Wert sieht, und zwar jenen Wert, der ihm erst seine Würde verleiht. Mögen auch Tiere ein Wohl haben, dem wir Menschen unbedingt Rechnung tragen sollen, so fehlt ihnen doch die Freiheit – und damit auch die Würde. Doch wie muss der Mensch sich begreifen, um sich als ein Wesen mit Freiheit und somit auch als ein Wesen mit Würde zu begreifen? Die Aussage „Ich bin ein freies Wesen“ verweist auf ein Netz anderer Aussagen, in welche sie eingebettet ist und vor deren Hintergrund sie erst einen bestimmten Sinn erhält. Auch wenn uns diese Aussagen nicht immer bewusst sind, so hängt es doch letztlich von ihnen ab, ob wir mit Recht behaupten können, wir seien frei.11 Bestimmte dieser Aussagen sind metaphysischer Natur. Sie verweisen auf eine Seinsdimension, die über das hinaus geht, was sich durch empirische Beobachtungen und Messungen bestätigen lässt. Wir leben nun aber heute, so wird manchmal behauptet, in einem sogenannten nachmetaphysischen12 Zeitalter und wir haben es uns deshalb abgewöhnt, oder sollten es uns abgewöhnen, in der politischen Philosophie bestimmte Fragen zu stellen, wie z. B. die Frage nach dem Wesen und der Wirklichkeit der menschlichen Freiheit. Wenn die Vertreter des Determinismus recht haben, dann unterscheidet der Mensch sich eigentlich nicht mehr wesentlich vom Tier. Und dann ist es auch um seine Freiheit und um seine Würde getan. Will man letztere denken, dann muss man den Menschen als ein Wesen denken, dass dem Naturmechanismus nicht ganz unterworfen ist, das also eine spirituelle Dimension besitzt, durch welche es die rein materielle Dimension transzendiert. Und mit diesem Transzendieren haben wir einen Schritt ins Metaphysische getan. Muss dieses Metaphysische auch die Form des Religiösen im engen Sinn des Wortes annehmen? Kann es Spiritualität nur in religiöser Form geben? Kann nur eine Transzendenz oder Spiritualität in religiösem Gewand jene Mittel bereitstellen, 11 12

Dass wir mit Recht behaupten können, wir seien frei, heißt noch nicht unbedingt, dass wir auch tatsächlich frei sind. Es bedeutet nur, dass es in unserem impliziten Weltbild – unserer impliziten Metaphysik – einen Platz für diese Aussage gibt. Vor allem Habermas hat diesen Begriff popularisiert (Habermas 1988). Zur Kritik an Habermas’ Auffassung der Metaphysik, siehe Henrich 1987. Wie Henrich richtig bemerkt, beruht auch das Habermassche Denken auf bestimmten metaphysischen Voraussetzungen. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass ein emanzipatorisches Denken und eine damit zusammenhängende Praxis, wie man sie bei Habermas findet, den Menschen als ein freies Wesen denken muss, das einen bestimmten Einfluss auf seine eigene Geschichte haben kann. Eine emanzipatorische Praxis setzt also die Annahme einer wenigstens zum Teil offenen Geschichte voraus, auf die der Mensch einwirken kann. Oder anders gesagt: In einem im Lichte des Fatalismus gedachten Universums ist kein Platz für eine emanzipatorische Praxis. Die Ablehnung des Fatalismus ist aber eine metaphysische These.

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Einleitung

ohne die die Freiheit nicht auf Dauer abgesichert werden kann, weil sie ohne sie nicht mehr als etwas absolut Wertvolles betrachtet werden kann – sondern nur als etwas, was ein kontingentes empirisches Wesen will, wonach es verlangt, und auf das es ein Recht beansprucht? Diese eben gestellten Fragen sind vollkommen berechtigt und sollten wieder den ihnen zukommenden Platz in der politischen Philosophie finden. Das bedeutet nicht, dass man auch jene Antworten akzeptieren muss, die man in der Vergangenheit oft auf sie gegeben hat und deren Leitgedanke es war, dass ein freies politisches Gemeinwesen die Religion braucht. Vielleicht braucht ein liberales Gemeinwesen die Religion nicht, um frei zu bleiben. Vielleicht ist es den hier behandelten Autoren einfach nicht gelungen, die Denkmuster ihres Zeitalters abzulegen – und zu ihrer Zeit und für sie war die Religion der alleinige Ort der Transzendenz. Oder sie dachten, dass auch wenn die Philosophie der Ort der Transzendenz für die Intellektuellen war, nur die Religion als Ort der Transzendenz für das Volk in Frage kam – und ein Volk von Philosophen konnte man sich noch nicht vorstellen, zumindest nicht als real existierend. Vielleicht kann die Philosophie – oder etwas anderes – jene Funktion erfüllen, die in den Augen der meisten in diesem Band behandelten Autoren nur die Religion erfüllen konnte. Aber um zu wissen, ob sie es kann oder nicht, muss zunächst einmal die Frage gestellt werden. Die in diesem Buch behandelten Autoren hatten keine Angst, die Frage nach dem Beitrag der Religion zur Erhaltung einer liberalen Demokratie zu stellen, auf die Gefahr hin, bei einer positiven Antwort eventuell zur Schlussfolgerung zu kommen, dass der Gebrauch bestimmter illiberaler Mittel notwendig ist, um die Religion, und damit auch die liberale Demokratie, aufrecht zu erhalten. Und da bei ihnen die Religion vor allem eine Rolle auf der Ebene der Gefühle und Leidenschaften spielte, hatten sie auch keine Angst, die Frage nach der Rolle der religiösen oder der durch die Religion geförderten Leidenschaften zu stellen. Für diese Denker spielten institutionelle Überlegungen eine wichtige Rolle, aber diese Überlegungen wurden nie von psychologischen und metaphysischen Überlegungen getrennt. Diese letztgenannten Überlegungen bildeten den Hintergrund für die institutionellen Überlegungen. Jenseits der Politik der Freiheit, gibt es für diese Autoren auch eine Psychologie der Freiheit und, um mit Kobusch zu sprechen13, eine „Metaphysik der Freiheit“ (Kobusch 1993). In diesem Zusammenhang schreibt Martha Nussbaum: „Lockes Schweigen über die Psychologie einer dezenten Gesellschaft ist gang und gäbe in der auf ihn folgenden liberalen politischen Philosophie die sich im Rahmen der westlichen Tradition bewegt – zum Teil, sonder Zweifel, weil die liberalen politischen Philosophen das Gefühl hatten, dass das Vorschreiben eines bestimmten Typs emotionaler Kultivierung ganz leicht zu Einschränkungen der Redefreiheit und zu anderen Schritten führen konnte, die mit den liberalen Ideen der Freiheit und der Autonomie unvereinbar sind“ (Nussbaum 2013, S. 4). Was Nussbaum hier über den westlichen politischen Liberalismus schreibt, mag zwar für den von ihr erwähnten John Locke gelten, trifft aber überhaupt nicht 13

Der aber weder Tocqueville noch Constant erwähnt.

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auf bedeutende westliche liberale Denker wie Benjamin Constant oder Alexis de Tocqueville zu. Diese beiden Autoren schweigen keineswegs über die Psychologie einer dezenten liberalen Gesellschaft, sondern sehen durchaus ein, dass man neben der Frage nach den Institutionen auch die Frage nach der Psychologie des in einer liberalen Gesellschaft lebenden Menschen stellen muss. Dadurch werden sie aber mit der Frage konfrontiert, wie man jene Emotionen kultivieren soll, ohne die sich, so ihre Überzeugung, die Freiheit in einem liberalen Gemeinwesen nicht erhalten lässt. Und zu diesen Emotionen gehören auch solche, die, wie sie glauben, nur die Religion in uns erwecken oder aufrecht erhalten kann. Somit stellt sich für sie die Frage, wie ein liberaler Staat sich zum religiösen Glauben – oder Fühlen – verhalten soll, und damit auch die Frage, ob der liberale Staat auf Mittel zurückgreifen darf, die nur schwer mit den liberalen Idealen der Freiheit und der Autonomie vereinbar sind. Constant und Tocqueville hatten das von Nussbaum hervorgehobene Problem erkannt, aber diese Erkenntnis hat sie nicht davon abgehalten, nach den psychologischen Voraussetzungen einer dezenten liberalen Gesellschaft zu fragen. Ich möchte mich in diesem Buch der Frage zuwenden, wieso bedeutende liberale Denker in der Religion den einzigen Rettungsanker der Freiheit sahen und wie sie, ausgehend von dieser Feststellung, das Verhältnis zwischen Staat und Religion dachten. Diese Auseinandersetzung mit ihren Thesen sollte aber nicht nur als Produkt eines rein philosophiehistorischen Interesses betrachtet werden. Diese Autoren zwingen uns, (wieder) bestimmte Fragen zu stellen. Und auch wenn wir nicht gezwungen sind, ihre Antworten zu teilen, so sollten wir uns doch die Mühe geben, uns mit den Fragen und mit den Antworten zu befassen. Denn die Fragen sind noch immer unsere, und andere Antworten als die von ihnen gegebenen sind auch eher Mangelware. Was nicht bedeutet, dass es keine anderen gibt. Vielleicht gibt es sie. Aber wenn wir uns nicht einmal die Mühe geben, uns die Fragen zu stellen, dann werden wir auch niemals diese anderen Antworten finden können. Wir scheinen uns so sehr an die Wirklichkeit der Freiheit gewöhnt zu haben, dass wir uns keine Sorge mehr um sie machen, dass wir sie also als ein ewig Gegebenes betrachten. Die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit interessiert uns kaum noch – und wenn sie uns interessiert, dann nur insofern es um Institutionen geht, durch welche die Freiheit bewahrt werden kann. Die Frage, unter welchen Bedingungen diese Institutionen ihre freiheitsschützende Funktion erfüllen können, steht nicht mehr oder kaum noch auf der Tagesordnung. Das mit diesem Buch verfolgte Ziel, das soll noch einmal ganz klar gesagt werden, ist es nicht, die These zu verteidigen, dass ein bestimmter religiöse Glaube – etwa der christliche, insofern die in diesem Band behandelten Autoren in der christlichen Tradition stehen – eine conditio sine qua non der Freiheit in einem liberalen Staat ist. Es soll vielmehr zunächst versucht werden zu verstehen, wie man dazu kommen kann, eine solche These zu verteidigen, d. h. welche Argumente zu ihrer Verteidigung vorgebracht wurden. Es soll auch gezeigt werden, von welchen Aspekten des religiösen Glaubens – bzw. des religiösen Gefühls, wenn man Constants Position einnimmt – die klassischen Liberalen ausgingen, um ihren Standpunkt zu untermauern. Es geht mir also darum, eine bestimmte, heute zum Teil vernachläs-

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sigte Tradition im Liberalismus darzustellen, eine Tradition in der man sich noch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit stellte. Um es thesenartig zu formulieren: (1) So gut wie alle klassischen liberalen Autoren gehen davon aus, dass ein liberales Gemeinwesen nicht auf der reinen Immanenz des Individuums aufgebaut werden kann.14 (2) Viele klassische liberale Denker gehen davon aus, dass allein die Religion – und vornehmlich die christliche Religion – jenes Element liefern kann, mit dem man die reine Immanenz des Individuums transzendieren oder zumindest – im Sinne Hegels – aufheben kann. (3) Einige klassische liberale Denker gehen davon aus, dass der liberale Staat eine Rolle bei der Förderung der Religion spielen darf und soll. (4) Kein klassischer liberaler Denker behauptet, dass die Falschheit einer Religion allein schon genügt, um dieser Religion gegenüber intolerant zu sein.15 Auch wenn man Agnostiker und sogar Atheist ist, kommt man nicht an der Feststellung vorbei, dass das Christentum das westliche Denken dauerhaft geprägt hat und dass es ihm eine Reihe von Denkkategorien zur Verfügung gestellt hat, ohne die es sich nicht in jene Richtung entwickelt hätte, in die es sich entwickelt hat. Der Liberalismus, so Siedentop, „bewahrt die christliche Ontologie ohne die Heilsmetaphysik“ (Siedentop 2015, S. 338).16 Doch kann man die christliche Ontologie, oder Elemente dieser christlichen Ontologie, bewahren, ohne an den christlichen Gott zu glauben, und d. h. auch, ohne die Heilsmetaphysik? Ich behaupte hier nicht, dass die Religion die Probleme der heutigen Welt lösen kann, oder gar nur die Probleme die sich im Rahmen der zeitgenössischen liberalen Demokratien stellen, und auch hier eventuell nur die Probleme, die unmittelbar mit dem Erhalt der Freiheit zusammenhängen. Aber die Religion kann uns dennoch neue Denkhorizonte öffnen, und die Behandlung liberaler Autoren, die auf diese Denkhorizonte aufmerksam gemacht haben, macht in diesem Zusammenhang 14

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Theoretisch gesehen. kann man gleichzeitig ein liberaler Denker sein, und die reine Immanenz des Individuums als letzten normativen Referenzpunkt ansehen. Als in seiner reinen Immanenz befangen bezeichne ich ein Individuum, das sich nicht als ein solches begreift, das Distanz zu seinen Begierden, Leidenschaften, Auffassungen nehmen kann oder will, das sich also nicht mehr vor dem Tribunal der eigenen Vernunft beurteilen will. Alain Renaut hat die Genese dieses modernen Individuums nachgezeichnet und darauf hingewiesen, dass man zwischen Individuum und Subjekt unterscheiden sollte (Renaut 1989). Ich denke, dass auch der von Dietmar von der Pfordten vertretene „normative Individualismus“ nicht das in seiner reinen Immanenz gefangene Individuum als seinen letzten normativen Referenzpunkt nehmen muss (von der Pfordten 20112). Hier haben wir es mit einer grammatischen These im Sinne Wittgensteins zu tun. Wer eine Religion allein wegen ihrer Falschheit verbieten will, hört auf, ein Liberaler zu sein. Statt die Ontologie im Allgemeinen, könnte man hier die Anthropologie im Besonderen erwähnen, wie es etwa Jacques Rollet tut: „Das Verhältnis zwischen religiöser Anthropologie und politischer Wissenschaft wird unserer Meinung nach in den kommenden Jahren eine immer größere Wichtigkeit annehmen“ (Rollet 1998, S. 50). Genau dieses Verhältnis wird bei den in diesem Buch behandelten Autoren thematisiert, und der Gegenstand des Buches ist, so könnte man sagen, eine Thematisierung dieser Thematisierung.

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auch Sinn. Der zeitgenössische Liberalismus sollte in dieser Hinsicht weder jene liberalen Autoren ignorieren, die der Religion einen großen Wert zuerkannt haben, noch die Religion als solche. Um Jean-Marc Ferry zu zitieren: „Das intellektuelle Verwerfen aller Sinnvorschläge die von der Religion stammen, grenzt an militante Unkultur. Die Religion wird uns keine Antworten bringen, aber ich denke, dass ihre Kultur dazu beitragen kann, unsere Probleme zu klären und Wege aufzuzeigen“ (Ferry 2013, S. 68). Einigen der in diesem Buch behandelten Autoren kann man vielleicht vorwerfen, „Sinnvorschläge“ allein in der Religion gesucht zu haben und demnach ein intellektuelles Verwerfen aller Sinnvorschläge, die nicht von der Religion stammen, betrieben zu haben. Ihre mögliche Einseitigkeit sollte uns aber nicht dazu verleiten, denselben Fehler zu machen, bloß dass bei uns das Pendel am anderen Extrem stehen bliebe. Das vorliegende Buch besteht aus fünf Teilen. Der erste Teil ist als allgemeine Einführung in die Problematik gedacht. Ausgehend von der Szene aus Goethes Faust, die zum Ausdruck „Gretchenfrage“ geführt hat, soll die Thematik Religion-Moral beleuchtet werden. Ganz allgemein geht es darum zu wissen, ob man gleichzeitig gut und nicht-religiös sein kann. Bei der uns beschäftigenden Problematik muss „gut“ durch „ein Bürger wie ihn ein liberales politisches Gemeinwesen braucht, um als liberales politisches Gemeinwesen weiter bestehen zu können“ ersetzt werden. Nach einer kurzen Diskussion der Rawlsschen Position zur Religion, werden in dem abschließenden Kapitel dieses ersten Teils die drei Grundbegriffe des Titels bzw. Untertitels des Buches – Staat, Liberalismus/Freiheit, Religion – kurz erläutert. Im zweiten Teil wird die rein theologische der politischen Perspektive entgegengesetzt. Fragt die erste nach der Wahrheit der Religion, so geht es der zweiten um die politische Nützlichkeit der Religion. Insofern sich der politische Liberalismus als politische Theorie nicht zur Wahrheitsfrage äußern kann und will, wird er die Religion nicht als theologisches Phänomen betrachten, und wird demnach auch nicht an der Frage interessiert sein, welcher religiöse Glaube dem Menschen am besten zum ewigen Seelenheil verhilft. Wenn er sich für die Religion interessiert, dann höchstens insofern sie soziale Wirkungen haben kann, wobei die Wirkungen auf die Etablierung und Stabilisierung einer liberalen Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Dieser zweite Teil stellt den neuzeitlichen historischen Hintergrund der Debatte um den Zusammenhang zwischen theologischer und politischer vor, um dann genauer auf Montesquieu und Tocqueville einzugehen, die sich alle beide ausdrücklich zu einer rein, oder doch hauptsächlich, politischen Perspektive auf die Religion bekennen. Die Einnahme einer solchen rein politischen Perspektive wurde aber nicht nur von religiöser, sondern auch von liberaler Seite kritisiert und es wurde von Autoren wie Constant oder Mill darauf hingewiesen, dass die Einnahme einer Nützlichkeitsperspektive eigentlich nur ein Symptom dafür ist, dass man nicht mehr an die Wahrheit der betreffenden Religion glaubt. Doch kann eine Religion noch nützlich sein, wenn man nicht mehr an ihre Wahrheit glaubt? Gemeint ist hier nicht, ob eine Religion noch nützlich sein kann, wenn der Herrscher bzw. die Regierenden nicht mehr an ihre Wahrheit glaubt. Vielmehr ist gemeint, ob ein ganzes Volk eine für seine Freiheit nützliche Religion haben kann, ohne an die Wahrheit

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dieser Religion zu glauben? Können die Wirkungen eines bewussten So-tun-als-ob dieselben sein wie diejenigen eines wahrhaftigen Glaubens? Der dritte Teil des Buches untersucht genauer den Nutzen, den die Religion, laut den führenden klassischen liberalen Denkern, für ein liberales Gemeinwesen haben kann. Insofern in der Vergangenheit die Religion vor allem zum Nutzen illiberaler Gemeinwesen eingesetzt wurde – man denke etwa an die Zeit des Absolutismus und, werden manche hinzufügen, an den vorwiegend aus religiösen Kreisen stammende zeitgenössischen Widerstand gegen bestimmte als liberal dargestellte Reformen17 – kann es auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, dass der politische Liberalismus in der Religion etwas finden kann, das ihm und seinem politischen Projekt nützen kann. Welche Elemente die man in Religionen – wenn auch nicht unbedingt in allen – wiederfindet, können eine Rolle beim Aufbau oder bei der Stabilisierung eines liberalen politischen Gemeinwesens spielen? Dabei geht es in erster Linie um das, was die ein solches Gemeinwesen bildenden Menschen glauben und fühlen, d. h. es geht um den Impakt der Religion – der religiösen Dogmen bei Tocqueville, des religiösen Gefühls bei Constant – auf die Psyche des liberalen Menschen. Inwiefern kann die Religion dazu beitragen, jenen Menschentyp zu schaffen, den ein liberales politisches Gemeinwesen braucht, um seinen liberalen Charakter zu erhalten und sich nicht als Gemeinwesen aufzulösen oder, was wahrscheinlicher ist, sich in ein absolutistisches oder despotisches Gemeinwesen zu verwandeln? Wichtig ist dabei aber auch die Frage, inwiefern die Religion eine Rolle bei der Begründung bestimmter Wertentscheidungen spielt. Kann etwa der Gedanke der Menschenwürde noch einen Platz in einem von jeder Transzendenz gereinigten Weltbild finden? Der vierte Teil geht auf die Beziehungen zwischen dem Staat und der Religion ein, wobei die Religion hier vor allem unter ihrer institutionalisierten Form erscheint, also als Kirche oder organisierte Glaubensgemeinschaft. Wenn man voraussetzt, dass die Religion dem liberalen Projekt nützlich sein kann oder dass sie gar für dieses Projekt notwendig ist, dann muss man sich die Frage stellen, ob und inwiefern der Staat sich die Religion zu Nutze machen kann, ist er doch in einer Welt ohne unsichtbare Hand und ohne prästabilierte Harmonie dafür zuständig – oder wenigstens mit dafür zuständig –, dass sich der Inhalt des liberalen Projektes verwirklicht bzw. dass die liberale Gesellschaft nicht verkümmert und sich in ihr Gegenteil verwandelt. Damit hängt die Frage zusammen, ob und unter welcher Form ein liberaler Staat die Religion fördern oder unterstützen darf oder 17

Von der Legalisierung der Abtreibung und der aktiven Euthanasie, über die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern, bis hin zur Abschaffung des Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen. Ich möchte aber sogleich betonen, dass die Tatsache, dass ein bestimmter Widerstand aus religiösen Kreisen stammt bzw. dass besonders solche Kreise am vehementesten Widerstand leisten, nicht bedeutet, dass dieser Widerstand nur mittels religiöser Argumente oder im Rahmen eines religiösen Weltbildes begründet werden kann. Ein radikal rationalistischer Liberalismus, der den Gefühlen keinerlei normative Relevanz zuerkennt, kann sich der Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern entgegenstellen, ohne auf religiöse Argumente zurückzugreifen. Ein solcher Liberalismus hätte allerdings auch unwillkommene Konsequenzen für manche oder sogar zahlreiche Eheschließungsprojekte zwischen nicht gleichgeschlechtlichen Partnern.

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soll. Welchen Platz soll er dem religiösen Diskurs im öffentlichen, und in erster Linie im politischen Diskurs zugestehen? Bedeutet die Trennung von Kirche und Staat, wie sie von jedem der hier diskutierten klassischen liberalen Denker vertreten wird, dass der Staat eine absolute Neutralitätspflicht in Sachen Religion hat? Und impliziert diese absolute Neutralitätspflicht, dass der Staat keine Ausgaben für religiöse Angelegenheiten, allen voran die Finanzierung des Klerus, tätigen darf? Impliziert sie des Weiteren, dass der Staat keine Maßnahmen ergreifen darf, um dem Vormarsch des Atheismus, der religiösen Indifferenz oder dem Aufkommen antiliberaler religiöser Gemeinschaften entgegenzuwirken? Dies sind die Hauptfragen, die im vierten Teil behandelt werden sollen. Insofern der Islam heute viele liberale Staaten vor Probleme stellt, die je nach liberaler Tradition zu unterschiedlichen Lösungsvorschlägen geführt haben, schien es mir interessant, in einem eigenständigen fünften und letzten Teil des Buches auf das Verhältnis zwischen Islam und Liberalismus einzugehen. Von einigen Überlegungen in der allgemeinen Einleitung zu diesem letzten Teil abgesehen, werde ich mich allerdings nicht unmittelbar mit der aktuellen Situation des Islams in modernen liberalen Staaten, noch mit der aktuellen Situation des liberalen Gedankenguts im zeitgenössischen islamischen Denken befassen, sondern ich werde mich darauf beschränken zu sehen, wie Montesquieu, Tocqueville, Locke und die Amerikaner gegen 1800 den Islam betrachtet haben. Dabei wird sich zeigen, dass eine Auseinandersetzung mit bestimmten Gedanken einiger dieser Autoren nicht nur aus philosophiehistorischen Gründen interessant ist.

TEIL I: EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMATIK

KAPITEL 1: DIE GRETCHENFRAGE „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon“ (J. W. Goethe, Faust I, Verse 3415–3417)1

Der erste der soeben zitierten drei berühmten Verse aus dem ersten Teil von Goethes Faust ist, nach dem Kose(vor)namen der sie stellenden Dramenfigur, als „Gretchenfrage“ bekannt geworden: Da sie selbst einen großen Wert auf Religion legt, will Gretchen wissen, ob Faust, den sie liebt, dies auch tut, so dass sie, wenn Faust ihr eine positive Antwort erteilen würde, etwas beruhigter sein könnte. Und wie der dritte Vers allerdings zeigt, hat Gretchen, als sie Faust die Frage stellt, diesen schon zum Teil durchschaut bzw. glaubt sie, dies getan zu haben: Faust legt, so scheint es, keinen besonders großen Wert auf die Religion bzw. spielt diese keine bedeutende Rolle in seinem Leben. Was genau damit gemeint ist, erklären die folgenden Verse: Faust ehrt weder die heiligen Sakramente, noch geht er zur Messe oder zur Beichte. Er nimmt also nicht an all jenen Riten teil, durch die für jeden ersichtlich wird, dass man sich zu einer bestimmten Religion – in diesem konkreten Fall der christlichen – bekennt. Wie Mephisto es auf die für ihn typische sarkastische Weise formulieren wird, ist Faust „nicht fromm und schlicht nach altem Brauch“ (Vers 3526), so wie es die „Mädels“ wollen (Vers 3525) – und Gretchen ist ein solches „Mädel“ –, damit man sich vor ihnen ducke, wie vor dem Pfarrer oder Gott (Vers 3527). Mag Faust auch ungefähr so reden wie der Pfarrer (Vers 3460), „Christentum“ im allgemein üblichen Sinne hat er auf jeden Fall nicht (Vers 3468). Aber wie aus dem Vers 3416 hervorgeht, schließt Gretchen die Möglichkeit nicht kategorisch aus, dass man gleichzeitig nicht viel von Religion im traditionellen Sinn halten kann, und trotzdem nicht bloß ein guter, sondern sogar ein „herzlich guter Mann“ sein kann, dass also fehlende Religiosität und moralische Güte zugleich in einem Menschen gegeben sein können. Gretchen scheint zwar Fausts mangelnde Wertschätzung der Religion zu bedauern, aber diese disqualifiziert ihn nicht unbedingt in moralischer Hinsicht. Der religiöse Glaube ist somit keine notwendige Bedingung für den Besitz moralisch guter Eigenschaften2, und man kann dementsprechend ein guter Mensch sein, ohne gleichzeitig auch ein guter Christ sein zu müssen.3 1 2 3

Goethe 1971. Ähnliche Quelle für die folgenden Zitate Goethes. Ob es eine hinreichende Bedingung ist, wird nicht diskutiert. Faust und Gretchen erinnern hier an Constant und Julie Thalma, bloß dass im letztgenannten Fall die Frau gleichzeitig herzlich gut ist und nicht viel, um nicht zu sagen nichts – Julie bekennt sich zum Atheismus – von der Religion hält, während der Mann, Constant, sich über dieses Paradox wundert. Siehe dazu Constants ‚Lettre sur Julie‘ (Constant OCBC III, 1).

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Teil I: Einführung in die Problematik

Damit stellt Gretchen eine Behauptung auf, die für ihre – und auch für Goethes – Zeit, wenn nicht ganz atypisch, so doch nicht selbstverständlich ist. Für viele ihrer Zeitgenossen – aber auch noch für viele unserer Zeitgenossen – waren und sind Moral und Religion ganz eng miteinander verbunden. Wer nicht an Gott und an ein Leben im Jenseits glaubt, so der Grundgedanke, kann kein guter Mensch sein, da ihm ein starkes, um nicht zu sagen ein notwendiges Motiv zum moralischen Handeln fehlt, und zwar die Angst vor einer jenseitigen Strafe bzw. die Hoffnung auf eine jenseitige Belohnung. Die menschlichen Gesetze mit ihrer Strafandrohung tragen wohl dazu bei, die Zahl der schlimmsten Verbrechen zu reduzieren, sie können aber nicht jede Form von unmoralischem Handeln verhindern und sie beziehen sich auch nicht auf das Innere des Menschen und damit auf die unmoralischen Motive, die die eigentliche Wurzel des unmoralischen Handelns darstellen. Diese Gesetze, und vor allem die in den Gesetzen enthaltenen Sanktionsandrohungen für den Fall eines Zuwiderhandelns, können vielleicht ein moralkonformes Handeln hervorrufen, moralische Menschen können sie aber nicht erzeugen. Sie bestimmen das äußere Handeln, nicht den Charakter. Ein moralischer Mensch ist man nämlich nicht schon dann, wenn man sich moralkonform verhält, wenn man also das ausführt, was die moralischen Normen – die durchaus, wenn sie wichtig für das geordnete Zusammenleben der Menschen sind, die Form von Strafgesetzen annehmen können – von einem verlangen, sondern wenn man auch aus den richtigen Motiven moralkonform handelt.4 Und dies hatte zur Folge, dass die Wirksamkeit dieser Gesetze nur dann wirklich garantiert werden kann, wenn der für ihre Einhaltung zuständige Justiz- und Polizeiapparat allgegenwärtig ist, wenn also das Risiko einer Aufdeckung des gesetzeswidrigen Verhaltens groß ist, und wenn auch die angedrohte Strafe abschreckend genug ist. Während eine sich nur aus guten Christen zusammensetzende Gemeinschaft bspw. gänzlich auf das Strafrecht und gegebenenfalls sogar auf eine politische Autorität verzichten kann – wie es im XVI. Jahrhundert u. a. die Wiedertäufer glaubten –, bedarf es der strafrechtlichen Sanktionen oder Sanktionsandrohungen anscheinend umso mehr, als der religiöse Glaube, und mit ihm der Glaube an eine mögliche Bestrafung im Jenseits, schwinden. Je verdorbener der Charakter der Menschen, umso mächtiger und furchteinflößender muss der Staat sein – wie es vor allem Thomas Hobbes im Leviathan gezeigt hat. Mögen auch einige Philosophen davon ausgehen, dass die praktische Vernunft allein zum moralischen Handeln motivieren kann – etwa durch die rein intellektuelle Achtung vor dem moralischen Gesetz 4

Man kann hier Kants Unterscheidung zwischen der bloßen Legalität und der Moralität einer Handlung erwähnen. Legal ist eine Handlung, wenn sie gesetzeskonform ist, moralisch ist sie aber erst, wenn sie primär aus Achtung für das moralische Gesetz ausgeführt wird, wenn man sie also auch dann noch ausgeführt hätte, wenn alle anderen Motive, außer der Achtung vor dem moralischen Gesetz, nicht präsent gewesen wären. Kant behauptet keineswegs, wie ihm oft vorgeworfen wurde und noch wird, dass man de facto kein anderes Motiv als die Achtung vor dem Gesetz haben darf, sondern nur, dass dieses letztgenannte Motiv immer schon für sich allein ein hinreichendes Handlungsmotiv sein soll. Insofern dürfen Eltern sich durchaus um ihre Kinder kümmern, weil sie sie lieben; sie müssen lediglich bereit sein, sich auch noch um sie zu kümmern, wenn sie sie nicht mehr lieben und wenn auch alle anderen nicht-moralischen Motive, wie die Angst vor einer Bestrafung, abwesend sind.

Kapitel 1: Die Gretchenfrage

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bei Kant –, oder dass, wie es die Moralphilosophen der sogenannten schottischen Aufklärung – genannt seien hier nur Francis Hutcheson, David Hume und Adam Smith – glauben, die Menschen ein starkes Sympathiegefühl ihren Mitmenschen gegenüber verspüren, so dass sie allein schon dadurch zu moralischem Handeln motiviert werden konnten, so war dies keine allgemein akzeptierte Sicht5, und vor allem konnte nicht davon ausgegangen werden, dass die u. U. für die Philosophen wirksamen und angemessenen Handlungsmotive auch solche für das philosophisch nicht gebildete Volk sein würden. Und eine ähnliche Bemerkung gilt für die Utilitaristen, zumindest insofern sie davon ausgehen, dass alle oder doch die allermeisten Menschen hinreichend aufgeklärt sind, um ihr langfristiges Interesse zu erkennen und ihr Verstand stark genug ist, um sich gegen die oft nur die Perspektive der Kurzfristigkeit einnehmenden Leidenschaften und Begierden durchzusetzen. Da nun aber – wie es die dem philosophischen Ideal nicht immer entsprechende Wirklichkeit lehrt – auf der einen Seite nicht alle Menschen sich allein durch die Vernunft oder den Verstand leiten lassen, oder ständig das Sympathiegefühl in sich verspüren, und da andererseits die Polizei nicht allgegenwärtig sein kann und keine unserer Handlungen ihrem wachenden Auge und ihrer strafenden Hand entgeht, liegt der Gedanke nahe, auf eine interne Kontrollinstanz zurückzugreifen, und zwar auf die Religion, die das Individuum immer wieder daran erinnert, dass Gott jede seiner Handlungen sieht und ihn auch eines Tages für jede Handlung zur Rechenschaft ziehen wird. Der fehlende Glaube an eine ständige Beobachtung durch die nicht allmächtige politische Autorität sollte durch den Glauben an die ständige Beobachtung durch die allmächtige göttliche Autorität ergänzt werden. Die Religion kombiniert gewissermaßen die Vorteile der beiden anderen Kontrollinstanzen. Wie die Vernunft, der Verstand oder die Sympathie, ist sie bzw. der religiöse Glaube intern, so dass das Individuum sie sozusagen immer mit sich trägt. Und wie das Strafrecht, kann sie auf Sanktionsandrohungen zurückgreifen. Dabei handelt es sich meistens – aber nicht nur – um Sanktionen, die das Individuum erst im jenseitigen Leben treffen werden und bei denen somit nicht das irdische Wohl, sondern das ewige Seelenheil auf dem Spiel steht. Aber insofern kein Verbrechen bzw. keine Sünde Gott unbekannt bleibt und insofern auch kein Verbrecher oder Sünder der strafenden Hand Gottes entkommen wird, kann niemand sich Straflosigkeit erhoffen. Hinzu kommt, dass die Beschreibung der göttlichen Strafen im Jenseits durchaus abschreckend ist, und dies umso mehr, als man sich nicht die Hoffnung machen kann, ihnen durch den Tod zu entkommen. Wenn man nicht der Utopie einer Gemeinschaft von Philosophen verfallen will, die sich allein durch den Verstand und die Vernunft leiten lassen, wenn man des Weiteren nicht daran glaubt, dass es im Menschen ein angeborenes und starkes Sympathiegefühl gibt, das ihn davon abhält, seinen Mitmenschen zu schaden – auch und vor allem dort, wo eine solche Schädigung ihm einen großen Gewinn bringen kann – und ihn gegebenenfalls sogar dazu motiviert, ihnen zu helfen und dabei einen Teil seines eigenen Wohls zu opfern, und wenn man schließlich die 5

Bei einem Volk von gleichgesinnten Philosophen könnte die Freundschaft ein Handlungsmotiv sein.

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Teil I: Einführung in die Problematik

Dystopie eines totalitären Polizeistaats mit einem strengen Strafrecht und einer ständigen Kontrolle als ein absolut zu vermeidendes Gräuel ansieht – u. a. weil man nicht an der schon von Platon gestellten Frage vorbei kommt, wer denn eigentlich die Wächter bewachen sollte6 –, wird man sich vielleicht zu einem Modell hingezogen fühlen, das den Glauben an einen allmächtigen, allwissenden und auch gerechten Gott als Lösung für die ordnungspolitischen diesseitigen Probleme vorstellt, eine Lösung die, und das könnte das Modell noch attraktiver machen, nicht nur das Ordnungsproblem löst, sondern auch das Problem der Harmonisierung von Ordnung und Freiheit. Nur wenn sie an einen Gott glauben, so wird dann die These lauten, können die Menschen in einer geordneten und freien politischen Gemeinschaft leben. Diese These, so wird sich zeigen, wurde von vielen Theoretikern des klassischen Liberalismus vertreten. Für sie ist der religiöse Glaube nicht nur der Garant für die gesellschaftliche Ordnung, sondern auch für die individuelle Freiheit. Frei kann der Mensch nur dann sein, wenn er glaubt. Allerdings muss der Mensch nicht nur als frei durch den religiösen Glauben gedacht werden, sondern auch als frei im religiösen Glauben, sprich man darf ihm keinen Glauben aufzwingen. Und gerade hier taucht dann die Frage auf, ob und inwiefern der für die Freiheit als notwendig gedachter Glaube sich selbst erhalten kann. Oder anders formuliert: wie kann ein als Bedingung der Freiheit gedachter Glaube sich unter freien Bedingungen erhalten? Bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Freiheit und Religion gilt es, zwischen zwei unterschiedlichen Fragedimensionen zu unterscheiden, von denen die erste eher empirischer, die zweite aber rein philosophischer Natur ist. In den oben zitierten Versen aus Goethes Faust, gibt Gretchen eine positive Antwort auf die moralpsychologische Frage, ob man ein moralisch guter Mensch sein kann bzw. ob man unter allen Umständen – also auch dann, wenn man keine weltlichen Sanktionen zu befürchten hat, wenn man sich unmoralisch oder widergesetzlich verhält – moralisch handeln wird, ohne durch Motive religiöser Natur bestimmt zu sein. Wird etwa ein Atheist von einem Diebstahl absehen, wenn er weiß, dass kein Mensch je etwas von diesem Diebstahl erfahren wird, so dass er also keine weltlichen Sanktionen zu befürchten hat – und jenseitige Sanktionen befürchtet

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Wenn die Menschen von Natur aus böse sind und deshalb im Zaum gehalten werden müssen, dann wird man auch diejenigen Menschen im Zaum halten müssen, deren Aufgabe es ist, ihre Untertanen im Zaum zu halten. Und diese Menschen wird man vielleicht sogar noch mehr im Zaum halten müssen, da sie mehr Macht als ihre Mitmenschen besitzen und diesen demnach einen größeren Schaden zufügen können. Wie Locke es im Second Treatise mit einem sprechenden Bild veranschaulichen wird, ist es töricht, wenn eine Wildkatze sich einem in absoluter Freiheit lebenden Löwen unterwirft, um den Angriffen der anderen Wildkatzen zu entkommen. Wenn die Wildkatzen eine Instanz benötigen, die sie voreinander schützt, dann bedürfen sie auch einer Instanz, die sie vor dem Löwen schützt, da dieser sich in Punkto Wildheit nicht von ihnen unterscheidet. Sie müssen vielleicht sogar noch mehr vor dem Löwen als voreinander geschützt werden, da der Löwe viel mächtiger ist und demnach auch viel gefährlicher. Hinter diesem Bild verbirgt sich eine leicht durchschaubare Kritik am Hobbes’schen Leviathan (Locke 1993, S. 328).

Kapitel 1: Die Gretchenfrage

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er sowieso nicht, da er nicht an ein Jenseits glaubt?7 Wer davon ausgeht, dass der Mensch ein von Natur aus egoistisches Wesen ist, das nur durch die Angst vor möglichen Sanktionen davon abgehalten werden kann, unmoralische oder gar kriminelle Handlungen zu begehen, wird auf die Notwendigkeit des Glaubens an einen alle menschlichen Handlungen zur Kenntnis nehmenden Gott pochen, einen Gott, der die Menschen, wenn nicht schon im Diesseits, dann doch im Jenseits für ihre Handlungen bestrafen oder belohnen wird.8 Diese anthropologische Annahme eines an sich egoistischen Menschen findet man nicht nur bei Hobbes wieder, sondern auch bei vielen Autoren, die sich der absolutistischen Lösung des englischen Autors entgegensetzen und die man zum liberalen Lager zählen kann.9 Mag auch der klassische politische Liberalismus manchmal von einem Menschenbild ausgehen, das dem Verstand oder der Vernunft eine übertriebene Macht über die Begierden und Leidenschaften zuschreibt, so kann man ihm doch nicht vorwerfen, den Menschen als ein vollkommen tugendhaftes Wesen zu betrachten bzw. als ein Wesen, dessen Begierden und Leidenschaften sich einzig und allein oder vorwiegend um das Wohl seiner Mitmenschen dreht. Der Hang zum Bösen ist auch für die großen liberalen Denker im Menschen verankert10 und nicht bloß, wie es etwa der Marxismus und mehr noch der Anarchismus vorauszusetzen scheinen, durch die gesellschaftlichen, und spezifisch ökonomischen Umstände bedingt, und eines der zentralen Probleme der liberalen politischen Philosophie besteht eben darin, diesen Hang zum Bösen im Menschen nicht mit solchen Mitteln zu bekämpfen, die der menschlichen Freiheit – die auch eine Freiheit zum Guten bzw. zur Vervollkommnung sein kann – jede Ausdrucksmöglichkeit nehmen oder diese Ausdrucksmöglichkeiten auf den

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Man denke hier an die von Platon in der Politeia (360a ff.) erzählte Gyges-Geschichte. Gyges findet einen Ring, der ihn unsichtbar macht und ihm dementsprechend erlaubt, unerkannt Verbrechen zu begehen. Wenn Menschen davon absehen, Verbrechen zu begehen, so das Fazit, dann nicht, weil sie ihre Mitmenschen respektieren, sondern weil sie Angst haben, entdeckt und bestraft zu werden. Hätten sie die Gewissheit, unentdeckt zu bleiben, dann würde sie davon profitieren und Verbrechen begehen. Zumindest wird man behaupten, dass der Glaube an einen solchen Gott im Rahmen eines bestimmten Typs moralischer Erziehung wichtig ist. Bei dieser Erziehung geht es darum, dem Individuum bestimmte Tugenden, im Sinne von Handlungsdispositionen, „einzupflanzen“. Ist die Tugend bis implantiert, wird das tugendhafte Handeln sozusagen zur zweiten Natur und die religiöse Motivation kann wegfallen. Man stellt den Hobbeschen Leviathan so dar, als ob er die gesellschaftliche Ordnung und den gesellschaftlichen Frieden allein dadurch aufrecht erhalten würde, dass er mit Sanktionen droht. Liest man Hobbes genauer, so wird man leicht sehen, dass der Souverän auch auf rein pädagogische Mittel setzt. Die Untertanen sollen nicht nur Angst vor einer möglichen Sanktion haben, sondern sie sollen auch einsehen, dass es für sie besser ist, in einem geordneten Staat als in einem ungeordneten Naturzustand zu leben. Oder noch anders gesagt: Der Souverän muss dafür sorgen, dass die Untertanen ihre Pflichten kennen und einsehen, dass es in ihrem Interesse ist, diese Pflichten einzuhalten. Insofern handeln die Menschen nicht nur aus Angst vor einer Bestrafung, sondern auch aus Angst vor einer Rückkehr des Naturzustandes. Hierzu Campagna 2000, S. 64. Der Frage, ob und inwiefern sich darin ein augustinisches Erbe widerspiegelt, soll hier nicht nachgegangen werden.

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Teil I: Einführung in die Problematik

Bereich des Trivialen beschränken.11 Dass der Mensch seine Freiheit nutzen kann, um Böses zu tun, ist noch kein hinreichender Grund, ihn dieser Freiheit ganz zu berauben, da man ihm nämlich dadurch auch eventuell die Freiheit wegnehmen könnte, Gutes zu tun. Von der eben diskutierten moralpsychologischen ist die moralphilosophische Frage zu unterscheiden. Diese bezieht sich nicht mehr auf den als empirisches Subjekt handelnden Menschen, sondern auf die Rechtsfertigungsgründe und damit auf logische oder begriffliche Zusammenhänge. Hier wird gefragt, ob man den Verpflichtungscharakter von moralischen Werten und Normen unabhängig von religiösen Prämissen begründen kann, ob man also zeigen kann, um bei Gretchens Beispiel zu bleiben, dass man unter der moralischen Verpflichtung steht, ein guter Mensch zu sein, auch wenn es Gott nicht gibt12 bzw. auch wenn er uns nicht explizit befohlen oder dazu verpflichtet hat, moralisch gut zu sein.13 Hier geht es also 11 12

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Für die klassischen liberalen Denker sind die Ausdrucksfreiheit oder die politische Partizipationsfreiheit wesentlich wichtiger als die Freiheit, im Supermarkt zwischen mehreren Zahnpastamarken wählen zu können. Hugo Grotius hatte in seinem 1625 erschienenen Werk De iure belli ac pacis behauptet, die natürlichen Gesetze hätten auch noch dann Geltung, wenn wir die Inexistenz Gottes voraussetzten (etiamsi Deus non esse) oder einen Gott annehmen, dem die menschlichen Angelegenheiten gleichgültig sind – eine Voraussetzung die man aber nicht machen sollte, wie Grotius sofort hinzufügt (Grotius 1723, S. 10). Für Grotius besitzen die Normen des Naturrechts einen intrinsischen Verpflichtungscharakter, was nichts anderes heißt, als dass ihre Verbindlichkeit nicht von der Setzung durch einen göttlichen Willen abhängig ist. Der göttliche Wille schafft nicht den Verbindlichkeitscharakter dieser Normen, sondern er verleiht ihm nur einen Ausdruck und verschafft ihm einen größeren Einfluss auf die menschliche Motivationsstruktur. Aber dass man bei der Begründung von moralischen Werten auf Gott verzichten kann, bedeutet nicht, dass man auch hinsichtlich der Motivation zum moralischen Handeln darauf drängen sollte, religiöse Motive zu eliminieren. Der britische Philosoph Simon Blackburn schreibt in diesem Kontext, die Religion sei zwar nicht als eine Quelle von Werten zu betrachten, könne aber durchaus dazu beitragen, dass Menschen sich unter bestimmten sozialen und politischen Bedingungen an diese Werte halten (Blackburn 2013, S. 255). Als Quelle von Werten würde die Religion eine Begründungsfunktion übernehmen, da man den Wertcharakter eines Wertes nicht ohne Rückgriff auf sie erklären könnte. Begnügt sie sich aber bloß damit, den Menschen zu helfen, gemäß diesen Werten zu leben bzw. diese Werte zu verteidigen, beschränkt sie sich auf eine Motivationsfunktion. Dies kann man mit dem Problem in Verbindung bringen, das Platon schon im Euthyphron (9e ff.) formuliert hatte: Ist etwas gut, weil Gott es befohlen hat, oder hat Gott etwas befohlen, weil es an sich gut ist? Für den sogenannten moral- oder rechtsphilosophischen Voluntarismus, ist der göttliche Wille die absolute, und damit von allen moralischen Vorgaben losgelöste Quelle aller normativen Unterscheidungen. Ihm steht der moral- oder rechtsphilosophische Rationalismus gegenüber, der den göttlichen Willen an eine ihm vorgegebene Natur bindet, in der er auf durch die Vernunft einsehbare moralische Vorgaben stößt. Da allerdings die erste dieser beiden Positionen den Menschen dazu verdammt, in einem irrationalen Universum zu leben, und die zweite die göttliche Allmacht zu begrenzen scheint, haben einige Autoren versucht, eine Kompromissposition zu entwickeln. Dies tut etwa der englische Jurist William Blackstone, indem er zwischen der Allmacht und der Weisheit Gottes unterscheidet. Insofern er allmächtig ist, ist Gott an keine Normen gebunden, so dass es ihm frei steht, ungerechte Gesetze zu machen. Aber als weiser Gesetzgeber hat Gott sich an diejenigen Gesetze gehalten, die er im Wesen der von ihm geschaffenen Dinge vorgefunden hat und in denen sich eine natürli-

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nicht darum zu wissen, warum ich de facto moralisch handle, sondern darum, wieso ich überhaupt moralisch handeln soll.14 Oder anders gesagt, hier geht es nicht um Handlungsmotivation, sondern um Werte- und Normenbegründung. Es geht um die Frage, ob es ein verpflichtendes Sollen geben kann, wenn man nichts anderes als den Willen, und auch keinen anderen Willen, als denjenigen der Menschen kennt und voraussetzt, wobei diese Menschen, und dies macht die Sache noch komplizierter, alle als prinzipiell gleich angesehen werden, so dass es also kein Individuum oder keine Gruppe von Individuen gibt, das bzw. die den anderen von Natur aus in einem normativ relevanten Sinn übergeordnet wären.15 Diese Gleichheit ist das Charakteristikum der Demokratie. Eine demokratische Gesellschaft geht von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen aus, und in ihr stellt sich demnach die Frage nach der Begründung der Verbindlichkeit von Normen akuter als in einer Gesellschaft, in welcher der Wille bestimmter Individuen sozusagen von Natur aus normativ ausgezeichnet ist und deshalb über den Willen aller anderen Menschen bestimmen kann.16 Wenn in einer demokratischen Gesellschaft alle Willen gleich sind bzw. alle einen prinzipiell gleichwertigen Anspruch erheben können, normsetzend zu sein, dann kann ein Wille sich nur dann als für alle gesetzgebend bezeichnen, wenn alle anderen Willen ihn als solchen anerkannt haben und sich ihm freiwillig unterwerfen. Nur ein Wille, den alle Willen als für sie normsetzenden Willen anerkannt haben, ist ein legitimer normsetzender Wille, und er ist es auch nur insofern, als er sich in seiner normsetzenden Aktivität an die Bedingungen hält, die die sich ihm unterwerfenden individuellen Willen ihm gesetzt haben. Dabei spielt es an sich keine Rolle, ob dieser normsetzende Wille der Wille einer Person, einer Gruppe von Personen – die eine Minderheit oder die Mehrheit aller Betroffenen sein kann – oder aller ist. Wir haben es hier mit dem Grundgedanken der Vertragstheorien zu tun, die man im XVII. Jahrhundert vornehmlich bei Hobbes und Locke findet, und die u. a. Rousseau, aber unter wesentlich stärkeren demokratietheoretischen Prämissen, im XVIII. Jahrhundert wieder aufgegriffen hat. Wenn Normen nicht mehr durch Rekurs auf einen individuellen Willen und

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che Gerechtigkeit ausdrückt. (Blackstone 1979, S. 40). Stellt man die göttliche Weisheit in den Mittelpunkt, dann kann die Verbindlichkeit der Normen unabhängig von der Religion begründet werden, und zwar selbst dann, wenn man die Existenz der Gegenstände nicht ohne die Annahme der Existenz Gottes erklären kann. Von den zahlreichen Büchern die sich mit dieser für die Moralphilosophie zentralen Frage befassen, seien paradigmatisch nur folgende erwähnt – die Frage bildet jedesmal den Titel des Buches: Nielsen 1989, Bayertz 2002 und Bayertz 2004. Sei es, weil sie von Gott auserwählt wurden oder weil sie weiser sind als die anderen, wie etwa Platons Philosophenkönige. In diesem letztgenannten Typ von Gesellschaft ist zwar der Wille bestimmter Individuen verbindlich, aber diese Verbindlichkeit gründet sich nicht in einen Willensakt, sondern sie existiert von Natur aus. Und insofern sie als von Natur aus existierend gesetzt wird, kann sie nicht durch einen menschlichen Willensakt abgeschafft werden. Da sie von Natur aus existiert, können die Verbindlichkeit und die mit ihr zusammen hängenden hierarchischen Relationen auch nicht als willkürlich oder ungerecht angesehen werden – es sei denn man betrachtete die Natur als die Schöpfung eines nicht mit der Gerechtigkeit identifizierten Gottes, eines Gottes der darüber hinaus nicht der Notwendigkeit unterworfen ist.

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Teil I: Einführung in die Problematik

auch nicht durch Rekurs auf einen göttlichen Willen oder eine – sich eventuell in der Natur ausdrückenden – göttliche Vernunft begründet werden können, dann bleibt anscheinend keine andere Möglichkeit mehr – will man weiter am Begründungsgedanken festhalten –, als die Fundierung oder Letztbegründung in einem kollektiven Willen, und zwar im kollektiven Willen aller Betroffenen.17 Gretchen, um wieder auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen, stellt fest, dass Faust ein herzlich guter Mensch ist, obwohl er nicht viel von Religion hält. Aber kann sie ihm auch zeigen, dass er ein guter Mensch sein soll, ohne dieses Sollen auf ein religiöses Fundament zu stützen? Kann Gretchen sich damit zufrieden geben zu wissen, dass Faust ein herzlich guter Mensch ist, oder muss sie sich Sorgen machen, weil Faust nicht weiß, dass er und vor allem auch warum er ein guter Mensch sein soll – und es auch vielleicht nie wissen kann, solange er nicht viel von Religion hält? Lassen sich die Pflichten, als Pflichten, und nicht als bloße Klugheitsregeln18, anders als durch Rückgriff auf religiöse Voraussetzungen begründen? Kann man auf die Frage „Warum soll ich ein moralisch guter Mensch sein?“ eine andere Antwort geben als „Weil Gott es so will“? Ist nicht, wie Sartre es im Anschluss an Dostojewski formulieren wird, alles erlaubt, wenn man die Existenz Gottes ausschließt (Sartre 1996, S. 39)? Ist Religion nicht die einzige Quelle, aus der eine allgemein verbindliche und nicht mit dem Makel der Willkürlichkeit behaftete moralische Normativität fließen kann? Verweist Normativität, und vornehmlich die moralische Normativität, nicht letzten Endes auf eine der bloß empirischen und materiellen, und demnach stets unvollkommenen, Welt übergeordnete Sphäre des Seins? Kann man absolut überzeugende Gründe für das Gut-Sein finden, wenn man sich nicht über die Sphäre des Empirischen erhebt? Und kann man absolut überzeugende Gründe für das Frei-Sein und das Frei-Sein-Lassen finden, wenn man sich nicht auch über diese Sphäre des Empirischen erhebt? Dem guten Menschen Gretchens entspricht in gewissem Sinne der freie Mensch des politischen Liberalismus. Hat man noch gute Gründe, sich für die Freiheit einzusetzen, wenn man diese nicht in einer dem individuellen Willen übergeordneten transzendenten Ordnung fundiert, wenn man in der Freiheit nicht bloß etwas sieht, worauf man ein Recht hat – ein Recht das man für sich beanspruchen wird, wenn man dadurch seine persönlichen Interessen fördern kann, das man aber ansonsten vernachlässigen wird –, sondern auch den Gegenstand einer Pflicht? Kann man die Freiheit, deren Bewahrung und gegebenenfalls auch deren Förderung, über seine jeweiligen persönlichen Interessen stellen, ohne eine diesen Interessen übergeordnete Ordnung anzuerkennen, ohne also die Freiheit nur ein als Gegenstand dieser Interessen zu sehen? Und wird der Wert der Freiheit nicht umso höher eingeschätzt werden, als auch der Ursprung der Werthaftigkeit der Freiheit edler oder erhabener 17 18

Zu dieser Problematik der Normbegründung, siehe Campagna 2006. Will man es mit Kant ausdrücken, so kann man sagen, dass der Unterschied zwischen einer Pflicht und einer Klugheitsregel darin besteht, dass die Pflicht kategorisch gebietet, während es die Klugheitsregel nur hypothetisch tut. Dabei wird man im Fall der Klugheitsregel hinzufügen können, dass das angestrebte Ziel das man durch die Verwirklichung der Klugheitsregel erreichen will, einfach als vorgegeben akzeptiert wird, ohne dass man es als ein kategorisch gesolltes Ziel darstellt.

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ist und den immer suspekten menschlichen Willensentscheidungen – die fehlerhaft, egoistisch, usw. sein können – entzogen wird? Wie muss die Ontologie der Freiheit gedacht werden, wenn man die Freiheit angemessen im Rahmen einer liberalen Axiologie denken will? Viele große klassische liberale Denker, so wird sich zeigen, denken die Freiheit vor einem religiösen Hintergrund und glauben, dass sie so gedacht werden muss, wenn man ihren Wert begründen und die Menschen zu ihrer Bewahrung und Förderung bewegen will. Die Religion liefert für sie nicht nur eine Antwort auf die moralpsychologische Frage, sondern sie trägt auch dazu bei, die moralphilosophische Frage zu beantworten.19 Weit davon entfernt, sich gegenseitig auszuschließen, verweisen für sie Freiheit und Religion vielmehr aufeinander.20 Die Religion liefert für sie einen Rahmen, innerhalb dessen man Freiheit angemessen denken und begründen kann, und der auch die nötigen Motive parat hält, um die Menschen zum Einsatz für die Freiheit zu motivieren.21 Freiheit bzw. wahre Freiheit ist für diese Denker nicht ohne Transzendenz denkbar, und Transzendenz denken sie immer nur in religiösen Begriffen. Sie stellen das politische Denken damit vor eine doppelte Frage. Auf der einen Seite stellt sich die Frage nach der Begründung der Freiheit in einer Transzendenz, in einer metaempirischen Gegebenheit. Freiheit, so lautet hier die These, kann nicht allein schon deshalb wertvoll sein, weil die Menschen sie tatsächlich wollen. Würde die Freiheit oder der Wert der Freiheit immer nur im tatsächlich vorhandenen Willen der Menschen gründen, dann würde sie diesen Wert verlieren, wenn die Menschen sie nicht mehr wollen. Und da die Geschichte uns zeigt, dass die Menschen durchaus die Freiheit nicht mehr wollen können, scheint eine rein immanente Begründung der Freiheit oder ihres Wertes nicht in der Lage zu sein, eine liberale Gemeinschaft auf Dauer abzusichern.22 Also, so die Schluss19

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Es soll schon gleich an dieser Stelle angemerkt werden, dass die allermeisten dieser Autoren, da sie keine „Vollblutphilosophen“ waren, die moralphilosophische Frage relativ oberflächlich behandeln und dass man bei ihnen nicht jene analytische Gründlichkeit erwarten darf, die man etwa bei Kant oder in der gegenwärtigen analytischen Philosophie vorfindet. Ich sehe hier von der Vielfalt der Religionen ab. Wie sich noch zeigen wird, machen einige klassische liberale Denker diesbezüglich Unterschiede und behaupten, dass nicht jede Religion gleich gut ist, um die Freiheit zu begründen oder zu schützen. Aber aus der Tatsache, dass nicht alle gleich gut sind, folgt für sie nicht, dass man immer nur auf die am besten dazu geeignete zurückgreifen sollte. Den religiösen Glauben, wenn mir der Vergleich erlaubt ist, wechselt man nicht wie seine Strümpfe, und anstatt einem Volk den für den Schutz der Freiheit besten religiösen Glauben aufdrängen zu wollen, sollte man sich u. U. schon damit zufrieden geben, dass das Volk glaubt. Die Kirche, so Hatzinger die sich dabei auf Weizsäcker beruft, macht nicht unmittelbar Politik, sondern sie hilft dabei, Politik zu ermöglichen (Hatzinger 2015, S. 209). Man kann dies mit der Frage nach dem Austritt aus dem Naturzustand vergleichen. Bei Hobbes ist dieser Austritt der Gegenstand einer reinen Klugheitsregel und die Schaffung einer – wenngleich auch vor einem absolutistischen Hintergrund entstehenden – rechtlichen Ordnung wird nicht als an sich wertvoll betrachtet. Ganz anders sieht die Sache bei Kant aus, denn das exeun­ dum ist hier nicht bloßer Gegenstand einer Klugheitsregel, sondern eines Sollens. Wer den Naturzustand und die bloße Dimension des – an sich unwirksamen – Privatrechts nicht verlässt, tut „im höchsten Grade daran unrecht, in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, der kein

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folgerung die gezogen wird, muss die Freiheit bzw. ihr Wert transzendent begründet werden und der immanente Freiheitswille der Menschen muss stets an ein ihm übergeordnetes und verpflichtendes Sollen erinnert werden: „Du sollst die Freiheit wollen“.23 Der Mensch hat insofern nicht nur ein Recht auf Freiheit, sondern er hat auch eine Pflicht, den Gegenstand dieses Rechts und damit auch die Ausübung dieses Rechts zu fördern. Reduziert man die Freiheit auf den Gegenstand eines Rechts, so besteht das Risiko, dass jeder immer nur seine eigene Freiheit sieht und die der anderen vernachlässigt. Sieht man in ihr aber zugleich auch den Gegenstand einer Pflicht, so rückt die Freiheit in den Vordergrund und mein Interesse an ihr in den Hintergrund. Und nur dann, so scheint es, kann ein nicht als Investition in die eigene Zukunft gedachtes individuelles Opfer konzipiert werden. Oder noch anders formuliert: Wer nur das Recht auf Freiheit sieht, sieht vor allem seine Freiheit, wer aber eine Pflicht zur Freiheit sieht, sieht vor allem die Freiheit. Die zweite vorhin erwähnte Frage betrifft die Identifikation der Transzendenz mit dem Religiösen. Man könnte nämlich einerseits zugeben, dass die Freiheit einer transzendenten Begründung bedarf, andererseits aber die These vertreten, dass die Religion nicht die einzige Transzendenzquelle ist bzw. dass die von ihr gedachte Transzendenz nicht unbedingt die beste ist. Man kann also entweder den Exklusivitätsanspruch oder den Optimalitätsanspruch anfechten. Mag man auch im ausgehenden XVIII. und im XIX. Jahrhundert das religiöse Modell als einziges oder als bestes Modell für eine Transzendenz gedacht haben – als die beste Konzeption der Transzendenz –, so lassen sich doch aus heutiger Sicht alternative Modelle denken. So stellt etwa Tzvetan Todorov der vertikalen Transzendenz des Religiösen, die Gott über den Menschen setzt, eine „laterale Transzendenz“ (Todorov 1997, S. 152) bzw. eine rein menschliche Transzendenz (Todorov 1997, S. 184) entgegen, die den Menschen neben den Menschen stellt, und er findet Spuren davon schon bei

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rechtlicher ist“ (Kant 1982, S. 425). Man soll den Naturzustand also nicht bloß verlassen, weil wir in ihm unsere Interessen nicht so gut verfolgen und unsere Begierden nicht so gut befriedigen können, wie dies in einem (öffentlich-)rechtlichen Zustand der Fall ist, sondern man soll ihn verlassen, weil der rechtliche Zustand als solcher ein wertvoller Zustand ist. Für eine Rehabilitierung des Pflichtbegriffs, siehe etwa Selbourne 1994, der u. a. darauf hinweist, dass der Begriff der Pflicht, auch wenn er in bestimmten Formen des Liberalismus verschwunden zu sein scheint, dem Liberalismus als solchen trotzdem nicht ganz fremd ist. Man könnte hier sagen, dass genauso wie der Adel den Adligen verpflichtet – noblesse oblige – so verpflichtet aus klassischer liberaler Sicht auch die Freiheit den Menschen – liberté oblige. Mag auch die Freiheit als der Gegenstand eines grundlegenden menschlichen Rechts angesehen werden, so ist der Mensch doch dazu verpflichtet, einen vernünftigen Gebrauch dieser Freiheit zu machen, ansonsten die Gefahr besteht, dass das System der Freiheit, also das allgemeine Zusammenbestehen der individuellen Freiheiten – zusammenbricht. Indem jeder Mensch einen vernünftigen Gebrauch seiner Freiheit macht, schützt er nicht nur seine Freiheit, sondern auch diejenige seiner Mitmenschen. Fundamentaler gesehen gilt weiterhin, dass jeder Mensch die Pflicht hat, sich seiner Freiheit würdig zu zeigen. In diesem Sinne schreibt auch Simone Goyard-Fabre in ihrer Locke-Monographie: „Es gibt kein Recht, das nicht auch zugleich eine Pflicht ist. Dies ist das fundamentale Gesetz der Vernunft, das Gesetz aller Gesetze. Wo die Politik es missachtet, verliert sie sich in unhaltbaren Absurditäten“ (Goyard-Fabre 1986, S. 167).

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Benjamin Constant, einem der in diesem Band behandelten klassischen liberalen Autoren.24 Auf Grund des eben Gesagten kann man in begründungstheoretischer Hinsicht zwischen drei Typen von Liberalismus unterscheiden: a) Ein Liberalismus, der ganz auf eine transzendente Begründung der Freiheit verzichtet und nur eine immanente Begründung zulässt.25 b) Ein Liberalismus, der auf eine transzendente Begründung der Freiheit zurückgreift, diese Begründung aber unabhängig von der Religion konzipiert, und also auf eine nicht-religiöse Form der Transzendenz zurückgreift. c) Ein Liberalismus, der auf eine transzendente Begründung der Freiheit zurückgreift, diese Begründung aber nur vor dem Hintergrund der Religion konzipiert bzw. in einer solchen religiösen Konzeption der Transzendenz die beste Begründung der Freiheit sieht. Der klassische Liberalismus entspricht dem dritten Modell, wobei man feststellen kann, dass man Letzteres es vor allem bei katholischen Autoren in seiner am stärksten ausgeprägten Form wiederfindet. Für Tocqueville dient etwa Amerika als Beispiel für eine Fundierung der Freiheit in einer religiösen Transzendenz. Der Autor der Démocratie en Amérique lässt anscheinend keine dritte Möglichkeit neben der religiösen Transzendenz und dem aufgeklärten Eigeninteresse zu. Bei protestantischen Autoren – Constant wurde gerade schon erwähnt – findet man Spuren des zweiten Modells, und es wird vor allem John Stuart Mill sein, der – mit seiner Religion der Menschheit – diesem zweiten Modell klarere Konturen geben wird.26 Es wird zwar noch davon ausgegangen, dass man den Individuen einen anderen Referenzpunkt anbieten muss, als ihr eigenes empirisches Selbst, aber dieser andere Referenzpunkt ist nicht mehr ein existierender Gott mitsamt der von ihm geschaffenen Seinsordnung, sondern die sich in der Geschichte verwirklichende Menschheit. Der zeitgenössische politische Liberalismus, so wie man ihn vor allem bei Rawls findet, scheint eher dem ersten Modell zu entsprechen, da in ihm (i) der Rückgriff auf eine transzendente Begründungsinstanz abgelehnt wird und (ii) anscheinend vorausgesetzt wird, dass die Freiheit ein von den Menschen tatsächlich gewolltes Gut bzw. sogar Grundgut ist.

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Für Agnès Antoine ist Tocqueville ein Autor der versucht, „Dispositive der Transzendenz innerhalb der Demokratie zu organisieren“ (Antoine 2003, S. 67). Man könnte selbstverständlich noch eine vierte Form erwähnen, nämlich ein Liberalismus, der gänzlich auf die Begründung der Freiheit bzw. deren Wertes verzichtet. Insofern Mill von einer Religion der Menschheit spricht, könnte ein Missverständnis entstehen. Deshalb sei hier gesagt, dass ich bei der Unterscheidung zwischen den drei Modellen mit dem Begriff der Religion ein Glaubenssystem bezeichne, das die Existenz einer göttlichen Instanz voraussetzt – mag diese Instanz persönlich gedacht werden, wie im Katholizismus, oder als ein göttliches Prinzip, wie es Aristoteles oder die Stoiker gedacht haben.

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KAPITEL 2: DER ZEITGENÖSSISCHE POLITISCHE LIBERALISMUS UND DIE GRETCHENFRAGE Die Frage, die Gretchen Faust stellt, kann man auch dem politischen Liberalismus stellen und somit von ihm verlangen, dass er darüber Auskunft gibt, was er eigentlich von der Religion hält.27 Stellt man diese Frage dem zeitgenössischen politischen Liberalismus28, so wird man sicherlich mit Gretchen sagen können, er sei wie Faust und halte, als politische Theorie, eigentlich nicht sehr viel von der Religion – was ihn aber nicht davon abhält, könnte man hinzufügen, ein herzlich guter Verteidiger der Freiheit zu sein. Er spricht zwar oft sehr viel über Religion – dies gilt vor allem für den nordamerikanischen politischen Liberalismus, der sich in einer Gesellschaft entwickelt hat, in welcher sich noch ein großer Teil der Bevölke27

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In der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes zu Constants Staatsverständnis, sehen Lembcke und Weber eine andere Frage als „Gretchenfrage der Politischen Theorie“ an, nämlich die Frage nach der Stellung des Politischen in der Moderne (Lembcke/Weber 2013, S. 13). Constants berühmter Aufsatz über die Freiheit der Alten und der Modernen wirft diese Frage mit besonderer Eindringlichkeit auf (Constant 1980c). Dem Verständnis der Alten nach, ist das Politische der Ort der menschlichen Verwirklichung. Für die Modernen ist hingegen der private Bereich ein solcher Ort. Insofern muss sich die Moderne die Frage gefallen lassen, wie sie es mit dem Politischen hält, und ob sie glaubt, man könne sich als Mensch verwirklichen, wenn man, um Gretchens Worte zu gebrauchen, „nicht viel davon“ – scil. vom Politischen – hält. Ich bestreite hier nicht, dass Lembcke und Weber eine wichtige Frage aufwerfen und dass man diese Frage durchaus auch als Gretchenfrage bezeichnen kann. Ich bin auch der Überzeugung, dass die von Lembcke und Weber aufgeworfene Gretchenfrage mit der in diesem Buch behandelten Gretchenfrage der Politischen Theorie und vorwiegend der Politischen Theorie des Liberalismus in Verbindung gebracht werden kann. Man müsste in diesem Zusammenhang auch eine Gretchenfrage an die Religion richten: „Wie hältst Du es mit der Politik?“. Seit dem Erscheinen von Rawls’ Theory of Justice und der 1993 unter dem Titel Political Libe­ ralism veröffentlichten Aufsatzsammlung, wird der politische Liberalismus oft nicht mehr primär vom ökonomischen, kulturellen, moralischen, religiösen, usw. Liberalismus abgegrenzt, sondern vom metaphysischen Liberalismus. Der politische Liberalismus Rawls’ will mit einer minimalen Konzeption der Person auskommen und sich nur auf Annahmen stützen, die von jedem frei akzeptiert werden können. Das Ziel ist es, einen übergreifenden Konsens hinsichtlich bestimmter Gerechtigkeitsprinzipien zu erlangen. Dabei schreibt Rawls vor einem ganz anderen kulturellen oder ideologischen Hintergrund als Constant und er stellt sich auch zum Teil andere Fragen als Constant bzw. stellt er dieselben Fragen, aber ganz anders. In seinem Buch über Constant – ein Buch, in dem er ausdrücklich auf eine genauere Berücksichtigung von Constants Ansichten zur Religion und zu ihrem Verhältnis zur Politik verzichtet (Weber 2004, S. 34) – kreidet Florian Weber Constant „zu viele Schwächen und Unklarheiten [an], als dass er zu den herausragenden Exponenten eines ‚political liberalism‘ gezählt werden könnte“ (Weber 2004, S. 307). Die Frage ist hier, ob nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden. Man könnte ebenso gut sagen, dass man bei Rawls zu viele Schwächen und Unklarheiten findet, als dass man ihn zu den herausragenden Exponenten des metaphysischen Liberalismus zählen könnte. In dieser Arbeit werde ich den Begriff des politischen Liberalismus nicht in dem eingeschränkten Sinn verwenden, den Rawls ihm gegeben hat. Insofern zählt Constant – trotz der Schwächen und Unklarheiten die man sicherlich bei ihm findet – zu den herausragenden Exponenten eines politischen Liberalismus.

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rung offen zum Christentum bekennt und auf deren Geldscheine religiöse Symbole zu finden sind –, aber für viele liberale Autoren geht es oft nur darum zu zeigen, dass die politische Sphäre sich von allem Religiösen freizuhalten habe, dass also, wer sich in die politische Arena begibt, um seine Ideen durchzusetzen, diese Ideen auf keinen Fall allein – wenn überhaupt – auf religiöse Prämissen gründen sollte. Mag ein Individuum X sich auch aus religiösen Motiven für eine bestimmte Sache einsetzen, so sollten seine Gründe doch rein säkularer Natur sein bzw. sollte er zumindest neben seinen religiösen auch noch rein säkulare Gründe angeben können. Religiöse Gründe werden nämlich als Gründe angesehen, die der öffentlichen Vernunft nicht zugänglich sind, da religiöse Wahrheiten bzw., neutraler formuliert, religiöse Grundüberzeugungen die ontologischer und metaphysischer Natur sind und die den Hintergrund der religiösen Gründe bilden, keiner reinen Vernunfteinsicht zugänglich sind. Mag es auch, wie u. a. Kant es gezeigt hat, nicht irrational sein, an Gott zu glauben, so ist es doch auch nicht irrational, nicht an Gott zu glauben. Der Gottesglaube kann also nicht als notwendige Voraussetzung einer rationalen Diskussion angenommen werden, und da er auch nicht als hinreichende Voraussetzung einer solchen Diskussion angenommen werden kann, sollte er keinen Einfluss auf öffentliche politische Diskussionen haben. Die öffentliche politische Debatte, so wird behauptet, sollte nur solche Gründe zulassen, die der öffentlichen Vernunft zugänglich sind, so dass ein jeder sie verstehen und angemessen im Vergleich mit ähnlich formulierten Gegengründen abwägen kann. Gründe säkularer Natur, so wird vorausgesetzt, sind miteinander kommensurabel und man kann demnach zu einem rationalen Einverständnis kommen – prinzipiell zumindest, auch wenn vielleicht der fehlende Wille der Beteiligten ein unüberbrückbares Hindernis darstellen kann. Gründe säkularer Natur und Gründe religiöser Natur werden aber als miteinander inkommensurabel angesehen, was zur Folge hat, dass man hier nicht zu einem rationalen Konsens kommen kann, ja dass ein solcher Konsens nicht nur de facto unmöglich ist, sondern prinzipiell. An religiöse Behauptungen kann man immer nur persönlich glauben, und man kann sich nicht gemeinschaftlich auf ihre Akzeptanz einigen. Deshalb sollten sie nicht in öffentliche Diskurse einfließen, da sie dort nur Uneinigkeit und Konflikte stiften können. Die Religion, so könnte man, wenn auch vielleicht etwas vereinfacht, zusammenfassen, gehört für viele heutige Liberale in die Privatsphäre und man sollte tunlichst davon absehen, die Frage nach ihrer möglichen politischen Relevanz, vor allem aber diejenige nach ihrer Relevanz für das Weiterbestehen der liberalen Gesellschaft, zu stellen. Wer diese Frage nämlich stellt, und vor allem, wer in der Religion einen Faktor sieht, der sich, wenn auch nicht unbedingt zwangsläufig, so doch in manchen Fällen, positiv auf das Weiterbestehen und eventuell sogar die Förderung einer liberalen Gesellschaft auswirken kann, scheint, wie Pandora in der klassischen Sage, eine Büchse zu öffnen, aus der Unannehmlichkeiten entweichen können. In unserem Fall handelt es sich dabei um unangenehme Fragen bzw. um Fragen, die für den politischen Liberalismus unangenehm sein können, da sie ihn vor Dilemmata stellen. Wenn nämlich der politische Liberalismus davon ausgeht, dass der Staat sich nicht nur um die Bewahrung der Freiheit als solche, sondern auch um die Bedingungen der Möglichkeit eines liberalen politischen Ge-

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meinwesens kümmern soll, und wenn der religiöse Glaube zu diesen Bedingungen der Möglichkeit gehört, dann wird man schlussfolgern können, dass der religiöse Glaube seiner Bürger dem liberalen Staat nicht gleichgültig sein kann und dass man diesen Glauben demnach nicht als eine bloße Privatsache betrachten kann.29 Aber, und hier taucht das Dilemma dann auf, der liberale Staat versteht sich prinzipiell als ein Staat, der sich nicht in die Privatsphäre seiner Bürger einmischen will und für den die Religion zu dieser Privatsphäre gehört.30 Man kann diesem Dilemma auf mindestens zwei mögliche Weisen entkommen. So kann man erstens behaupten, dass der religiöse Glaube keine Bedingung der Möglichkeit für das Weiterbestehen eines liberalen politischen Gemeinwesens ist bzw. dass er keine notwendige Bedingung der Möglichkeit ist, so dass man ihn durch etwas anderes ersetzen kann, was den liberalen Staat nicht vor ein ähnliches Dilemma stellt. Hier wird nicht behauptet, dass der liberale Staat sich nicht um die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu kümmern hat, sondern nur, dass er sich nicht um die Religion und den religiösen Glauben seiner Bürger zu kümmern hat. Man könnte natürlich noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass der liberale Staat sich eigentlich nur um die Freiheit seiner Bürger, nicht aber um die Bedingungen der Möglichkeit dieser Freiheit zu kümmern hat. Dies, so könnte man vielleicht hinzufügen, sei letztendlich eine Angelegenheit der Bürger selbst. Der Staat wird sich höchstens darauf beschränken dafür zu sorgen, dass alle Bürger die Freiheit haben, sich um die Erhaltung der Bedingungen der Möglichkeit zu kümmern – wobei er allerdings darauf achten wird, dass kein Bürger einen anderen Bürger dazu zwingt, sich auch um den Erhalt der Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu kümmern. In einer solchen Situation verhält der Staat sich eigentlich 29

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Ute Uhde hat diesen Aspekt bei Tocqueville erkannt und untersucht. So schreibt sie: „Durch die Wechselbeziehung der Religion mit der Freiheit und die Erklärung der Freiheit zum Staatszweck, findet Tocqueville einen inhaltlichen Staatsbegriff, der über die Vorstellung des Staates als ‚Institution zur Daseinsermöglichung‘ hinausgeht“ (Uhde 1978, S. 97). Und einige Seiten weiter: „Das höchste Ziel des Staates ist der freie Mensch, und dessen Freiheit sieht Tocqueville durchaus als den letzten Grund der Rechtfertigung staatlicher Existenz. Maßstab menschlichen Handelns und des Staates ist die Religion; sie verbürgt so nicht nur ihre Nützlichkeit, sondern spricht auch für eine objektive Wahrheit, die auszusprechen und zu erkennen dem Menschen nicht gegeben ist“ (Uhde 1978, S. 101). Mit der amerikanischen Situation vor Augen, stellt Thiemann zunächst die allgemeine Frage, ob die Regierung öffentliche Vereinigungen unterstützen sollte, die einen positiven Beitrag zu einer demokratischen Kultur leisten, um dann die spezifische Frage zu stellen, ob die Regierung auch religiöse Vereinigungen unterstützen darf, die einen solchen positiven Beitrag leisten. Eine positive Antwort auf die allgemeine Frage impliziert noch keine positive Antwort auf die spezifische Frage, da man im Fall der spezifischen Frage den ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung berücksichtigen muss (Thiemann 1996, S. 96). Thiemann wirft hier ein grundlegendes Problem auf: Wenn zwei Vereinigungen A und B einen ähnlichen positiven Beitrag zur demokratischen – oder liberalen – Kultur eines politischen Gemeinwesens leisten, kann dann die Tatsache, dass eine dieser Vereinigungen eine religiöse Vereinigung ist, eine Ungleichbehandlung in der Förderung rechtfertigen? Dass religiöse Vereinigungen nicht gegenüber anderen Vereinigungen bevorzugt werden sollen, bloß weil sie einen religiösen Charakter haben, ist eine Sache. Aber sollte man zulassen, dass Vereinigungen allein deshalb benachteiligt werden, weil sie religiöser Natur sind? Ist bei ihnen der Verdacht angebracht, dass sie nicht nur einen nichtreligiösen, sondern gleichzeitig immer auch einen religiösen Zweck verfolgen?

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neutral gegenüber der Freiheit, und zwar in dem Sinne, dass er weder Handlungen privilegiert, die auf die Erhaltung der Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zielen, noch Handlungen untersagt, die eine Gleichgültigkeit gegenüber der Erhaltung dieser Bedingungen ausdrücken. Und Handlungen die diese Bedingungen unmittelbar gefährden wird er nur dann untersagen, wenn sie auch unmittelbar die Freiheit einzelner Individuen gefährden. Man kann dann aber auch, und dies ist die zweite Möglichkeit, akzeptieren, dass der religiöse Glaube notwendig für das Weiterbestehen eines liberalen politischen Gemeinwesens ist, dass er also durchaus eine Bedingung der Möglichkeit der Freiheit ist, und daraus zunächst schließen, dass er insofern nicht in die Privatsphäre verbannt werden kann bzw. dass man ihn im Rahmen politischer Überlegungen nicht ganz ausklammern kann oder darf. Wenn der Glaube ferner dementsprechend nicht ausschließlich in die Privatsphäre gehört, dann kann der liberale Staat sich seiner annehmen und ihn gegebenenfalls fördern.31 Dabei kann man durchaus nuancieren und behaupten, dass zwar ein Teil des Religiösen in die Privatsphäre gehört, dass aber ein anderer Teil auch für die öffentliche Sphäre relevant ist. Sofern die Religion mein Verhältnis zu Gott bestimmt, gehört sie zur Privatsphäre, sofern sie aber mein Verhältnis zu meinen Mitmenschen bestimmt, betrifft sie auch die öffentliche Sphäre.32 Es sollte dem liberalen Staat gleichgültig sein, ob mein religiöser Glaube oder Unglaube tatsächlich mein ewiges Seelenheil garantieren kann, aber der soziale Impakt des religiösen Glaubens kann ihm nicht gleichgültig sein.33 Mag er sich auch nicht aus religiösen Gründen für den religiösen Glauben interessieren, so interessiert er sich aus politischen Gründen dafür. Und politische Gründe gehören ex definitione nicht in die Privatsphäre.34 31

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Der damalige deutsche Außenminister Franz-Walter Steinmeier hat darauf hingewiesen, dass in Deutschland der Staat das religiöse Leben fördert, obwohl die Religion in die Privatsphäre verwiesen wurde (Steinmeier 2015, S. 70). Man sollte allerdings bedenken, dass der Staat auch das sportliche Leben fördert, obwohl Sport eigentlich ein Bestandteil der Privatsphäre ist. Der englische Liberale Leonard Hobhouse sieht in der Religion u. a. den konkretesten Ausdruck einer persönlichen Haltung zu seinen Mitmenschen (Hobhouse 1994, S. 14). Religionen sprechen nicht nur über Gott, sondern auch über die durch diesen Gott geschaffenen Menschen, und was die Religionen über die Menschen sagen, hat einen Einfluss auf ihr Zusammenleben. Wie eine Religion über den Menschen denkt, kann dem Staat unter diesen Umständen nicht völlig gleichgültig sein. Bentham, so Schofield, hatte festgestellt, dass der aufgeklärte Teil der Engländer eine Einmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten akzeptiert, insofern diese Einmischung sich auf den Beitrag der Religion zum weltlichen Glück bezieht, eine solche Einmischung aber ablehnt, wenn sie auf den Beitrag der Religion für die Erlangung des ewigen Seelenheils ausgerichtet ist (Schofield 2009, S. 178). Dies setzt natürlich voraus, dass man beide Funktionen der Religion klar voneinander trennen kann. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen verschiedenen Sphären, ist die mir von Hubert Hausemer suggerierte Frage angebracht, ob man es bei zwei Sphären sein lassen sollte: Die private und die öffentliche. Hausemer schlägt vor, drei Sphären zu unterscheiden: Die rein private, die bürgerliche und die staatliche. Ich denke, dass der klassische Liberalismus dieser dreifachen Unterscheidung Rechnung getragen hat, indem er die Gesellschaft als eine vom Staat unabhängig existierende Sphäre anerkannt hat, die nicht mit der reinen Privatsphäre – das Individuum bei sich zu Hause, um es vereinfacht auszudrücken – identisch ist.

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Der zeitgenössische Liberalismus tendiert meistens dazu, den ersten der beiden genannten Auswege aus dem Dilemma zu wählen, wohingegen der klassische Liberalismus eher zur Wahl des zweiten Auswegs neigte. Dem ersten geht es darum, Religion und Politik zu trennen, dem zweiten ging es darum, Religion aus politischen Gründen mit Politik zu verbinden. Wenn wir als Beispiel ein für die Begründung des zeitgenössischen politischen Liberalismus repräsentatives und äußerst einflussreiches Werk nehmen35, nämlich das 1971 erschienene Buch von John Rawls A Theory of Justice,36 dann fällt auf, dass in ihm die Religion so gut wie gar nicht erwähnt wird37, und zwar weder im ersten, begründungstheoretischen Teil, noch im dritten Teil, der sich moralpsychologischen Fragen zuwendet und u. a. nach den Motiven fragt, die uns dazu bringen können, jene gerechten sozialen Institutionen aufrechtzuerhalten, von denen im zweiten Teil des Buches die Rede ist. In der Begründung seiner liberalen Gerechtigkeitsprinzipien38 greift Rawls also nicht auf religiöse Voraussetzungen zurück, sondern auf den sogenannten Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance) und auf 35

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Rawls soll hier als Vertreter des politischen Liberalismus betrachtet werden, auch wenn einige Autoren, die man oft als Libertarier (libertarians) bezeichnet, bestreiten, dass er und die sogenannten amerikanischen liberals tatsächlich liberal sind (siehe dazu etwa Laurent 2002, S. 158). Für diese Autoren widerspricht der in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie enthaltene aufgezwungene Solidarismus dem eigentlichen Geist des Liberalismus. Dieses Buch hat der liberalen politischen Philosophie gezeigt, dass Diskussionen zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit nicht nur im Rahmen des Marxismus geführt werden konnten, sondern dass sich eine gerechte Sozialordnung auch im Rahmen des Liberalismus denken ließ. Es kann als Pendant zu jenen Publikationen betrachtet werden, die um dieselbe Zeit versuchten, im Rahmen des Marxismus einen Platz für liberale Freiheiten und Grundrechte, also für eine offene Gesellschaft, zu finden (etwa Cornforth 1968). Insofern hat das Buch einen enormen Fortschritt bedeutet und der politischen Philosophie neue Horizonte geöffnet. Allerdings war eine Konsequenz hiervon, dass sich das politische Denken fortan hauptsächlich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit befasste, was u. a. Philipp Pettit dazu gebracht hat zu schreiben, dass die politische Philosophie ihren Blick von der sozialen Gerechtigkeit auf das demokratische Design umlenken sollte (Pettit 2015, S. 33). Die in diesem Buch zu behandelten klassischen liberalen Autoren hätten dem hinzugefügt, dass man den Blick auch auf die Menschen werfen sollte, die innerhalb gerechter und demokratischer Institutionen leben und handeln, und dass man sich die Frage stellen sollte, woran diese Menschen glauben müssen, damit sie sich für die gerechten und demokratischen Institutionen einsetzen, falls diese bedroht sind. Man findet das Wort „religion“ nicht im Stichwortregister am Ende des Buches. Die Religion wird allerdings etwas ausführlich im vierten Kapitel im Rahmen der Diskussion um Gewissensfreiheit und Toleranz erwähnt. Eine gerechte Gesellschaft erkennt die Gewissensfreiheit ihrer Mitglieder an und sie ist auch tolerant. Der religiöse Glaube wird hier von Rawls eher als Problem für das menschliche Zusammenleben, denn als Lösung für ein sich aus der menschlichen Natur ergebendem Problem für dieses Zusammenleben gesehen. Zu diesem Punkt siehe Valadier 2007, S. 154. Derselbe Valadier meint übrigens, dass Rawls sich auf einen Personenbegriff stützt, der sich stark von der religiösen Tradition inspiriert – was nicht verwunderlich ist, berücksichtigt man die Entstehungsgeschichte des modernen Personenbegriffs (dazu Campagna 2017a). Auch wenn nur der Begriff der Gerechtigkeit im Titel des Buches erwähnt wird, so geht es Rawls doch letzten Endes um die Freiheit bzw. um eine gerechte Verteilung der Freiheit(en) bzw. der Mittel die es uns erlauben sollen, ein Leben in Freiheit zu führen. Und der sogenannten capability approach, die wir bei Sen und Nussbaum finden, geht es letzten Endes auch um

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bestimmte psychologisch durchaus plausible, obwohl nicht absolut unangreifbare Entscheidungskriterien39, und in seinen Überlegungen zur Stabilität einer gemäß diesen Prinzipien funktionierenden Gesellschaft klammert er auch religiös bestimmte Motive aus.40 Eine nach den Prinzipien der Gerechtigkeit organisierte Gesellschaft bedarf zwar auch nach Rawls einer motivationellen Fundierung, aber diese lässt sich unabhängig von irgendwelchen religiösen Prämissen formulieren. Man kann also ein herzlich guter Liberaler sein, ohne viel von Religion zu halten oder halten zu müssen. Eine wohlgeordnete Gesellschaft funktioniert auch dann, wenn alle ihre Mitglieder Agnostiker oder sogar überzeugte Atheisten sind. Ihr entstehungsgeschichtlicher erster Referenzpunkt ist der – auf die nahen Verwandten und Freunde ausgedehnte – Egoismus. Rawls meint nämlich, dass die Einsicht, dass eine durch die Gerechtigkeitsprinzipien bestimmte Sozialordnung unser Wohl und das Wohl der uns Nahestehenden fördert, in uns die Begierde weckt, gemäß diesen Prinzipien zu handeln (Rawls 2000, S. 415). Ein Handeln das am Anfang nur durch die Angst vor einer möglichen Bestrafung motiviert war, kann, sobald wir seinen Vorteil für uns einsehen, durch diese Einsicht motiviert werden. Doch Rawls geht noch einen

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eine gerechte Verteilung der Möglichkeiten, die Freiheit(en) auch wahrzunehmen oder davon zu profitieren. Etwa das Maximinprinzip, das man bei risikoabgeneigten Individuen wiederfindet, nicht aber bei jedem. In Political liberalism wird die Religion öfters erwähnt – Nussbaum schreibt sogar, dass die Religion hier im Fokus steht (Nussbaum 2008, S. 57) –, wobei Rawls u. a. zu verstehen gibt, dass seine Grundprinzipien durchaus, im Rahmen eines übergreifenden Konsenses, von Anhängern bestimmter Religionsgemeinschaften akzeptiert werden können. Hier wird also höchstens ein akzidenteller und kein essentieller Zusammenhang zwischen einer liberalen politischen Gemeinschaft und der Religion behauptet. Außerdem behauptet Rawls, dass die Bürger einer liberalen Gemeinschaft von ihren religiösen Prinzipien, usw. absehen müssen, wenn sie in die Arena der öffentlichen Kommunikation treten. Für eine Kritik der Rawlsschen Position, siehe etwa Sandel 2009, besonders S. 246 f. Sandel zitiert in diesem Zusammenhang eine Passage aus einer Rede Obamas: „Wenn wir wirklich hoffen, mit den Leuten dort zu sprechen, wo sie sind – unsere Hoffnungen und Werte auf eine Art und Weise zu kommunizieren, die auch relevant für die ihrigen ist –, dann können wir nicht, als Progressive, das Feld des religiösen Diskurses verlassen“ (in: Sandel 2009, S. 250). Anstatt, wie es oft geschieht, die mit dem sozialen und politischen Fortschritt zusammenhängenden Werte in einem Diskurs zu formulieren, der diese Werte von den religiösen Werten abgrenzt und einen Widerspruch zwischen beiden Typen von Werten behauptet, sollte man eher versuchen, so könnte man Obamas Worte deuten, diese Werte in einen religiösen Diskurs einzubetten und etwa zeigen, dass Gott diese Werte für die Menschheit will. Wenn Nicht-Gläubige unter sich sprechen, brauchen sie sich nicht gegenseitig zu beweisen, dass sich ihr Diskurs auch in einem religiösen Rahmen formulieren lässt. Sprechen sie aber mit Gläubigen oder wenden sie sich an Gläubige und wollen sie diese für ihre Ideen gewinnen, dann kommen sie nicht daran vorbei, die Möglichkeit einer religiösen Formulierung ihrer Gedanken aufzuzeigen. Tocqueville hatte dies zu seiner Zeit schon begriffen, als er den französischen Katholiken den Vormarsch der Demokratie in der Welt als gottgewollt darstellte. Was Obama sagt, kann auch umgekehrt gelten: wenn religiöse Menschen ihre Hoffnungen und Werte an Liberale vermitteln wollen, dann kommen sie nicht umhin, das Feld des liberalen politischen Diskurses zu betreten. Der liberale Diskurs müsste sich demnach einerseits dem religiösen Diskurs, und der religiöse Diskurs müsste sich andererseits dem liberalen Diskurs öffnen.

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Schritt weiter, und behauptet, dass es zu einer partiellen Entkoppelung von egoistischen Motiven und gerechten Handlungen kommen kann, so dass wir eine gerechte Handlung nicht mehr ausschließlich ausführen, weil wir den Nutzen einsehen, den wir und unsere nahen Verwandten von ihr haben, sondern auch, weil wir sie als an sich gerecht ansehen (Rawls 2000, S. 416).41 In diesem Fall ist es die Einsicht in die Richtigkeit der Gerechtigkeitsprinzipien – eine Richtigkeit die sich aus der Fairness der Entscheidungsprozedur ableitet –, die als Motiv zur Bewahrung der gerechten Grundstruktur dient. Allein entscheidend ist dann nicht mehr, ob ich selbst und meine nahen Verwandten irgendwelche Vorteile aus der gerechten Grundstruktur ziehen, sondern ob die Grundstruktur als solche gerecht ist. Die Gerechtigkeit der Grundstruktur wird dann zum ausschlaggebenden Faktor, der mich an diese Grundstruktur bindet und mir ihre Bewahrung als Pflicht erscheinen lässt. Unterstützte ich sie zunächst aus bloßen Klugheitsgründen – ich sah ihren unmittelbaren Nutzen für mich und meine nahen Verwandten ein –, so unterstütze ich sie fortan aus rein moralischen Gründen – sie ist gerecht, und was gerecht ist, verpflichtet uns unmittelbar. Genauso wie ein Christ sagen könnte, dass die Menschen zunächst aus Angst vor Bestrafung und aus Hoffnung auf Belohnung ein gottgefälliges Leben führen, um sich danach durch die Einsicht in die intrinsische Richtigkeit eines solchen Lebens leiten zu lassen – und gegebenenfalls auch aus Liebe zu einem weisen und gütigen Gott, der uns ein solches Leben vorgeschrieben oder empfohlen hat42 –, macht auch Rawls den Schritt von primär partikularen und egoistischen zu primär abstrakten und unparteilichen Motiven. Mit dem Unterschied jedoch, dass bei Rawls eine mögliche religiös bestimmte Dimension der Motivation wegfällt. Wir bewahren die Grundstruktur nicht, weil Gott es uns befohlen hat und auch nicht, weil wir Angst vor einer göttlichen Bestrafung haben. Wir bewahren sie auch nicht – was eine schon edlere Motivation wäre –, weil wir glauben, dass sich in ihr die göttliche Weisheit und seine Güte uns Menschen gegenüber manifestiert. Allerdings erwähnt Rawls die religiöse Motivation, und zum Teil auch die religiöse Begründung, in einer kurzen Fußnote seines Hauptwerks. Dort stellt er fest, dass der Rückgriff auf die edle Lüge – wie man ihn etwa in Platos Politeia findet (414–415 und 459–460) – ausgeschlossen werden muss43, genauso wie man den 41 42

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„[M]oral attitudes are no longer connected solely [Hervorhebung von mir] with the well-being and approval of particular individuals and groups“, heißt es im Originaltext. In vielen Religionen kann man zwischen einer vorgeschriebenen Minimalmoral und einer empfohlenen Maximalmoral unterscheiden. Das Leben des Heiligen ist ein Ideal und ist nicht verbindlich. Philosophen sprechen hier von supererogatischen Pflichten – sie gehen über das hinaus, was von einem „normalen“ Gläubigen verlangt wird. Wer diesen Pflichten nicht nachkommt, wird nicht getadelt, wer ihnen aber nachkommt, wird besonders bewundert. Ein Kritiker von Rawls hat ihn bezichtigt, selbst auf die Strategie der edlen Lüge zurückzugreifen (Jackson 1997, S. 217). Und zwar geschieht dies, so der Autor, wenn Rawls behauptet, dass man der vernünftigen Konzeption der Gerechtigkeit den Vorrang vor einer wahren allumfassenden Lehre geben soll. Ich denke, dass der Vorwurf nicht unbedingt zutrifft. Man sollte dabei einerseits bedenken, dass wir nie mit absoluter Gewissheit wissen können, welche allumfassende Lehre wahr ist, so dass wir eigentlich zwischen einer aus vernünftigen Gründen für wahr gehaltenen und einer nicht aus vernünftigen Gründen für wahr gehaltenen allumfassenden

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Rückgriff auf die Religion – „when not believed“, heißt es in einer Klammerbemerkung! – ausschließen soll, um ein bestehendes Sozialsystem zu untermauern, das ohne einen solchen Rekurs zusammenbrechen würde (Rawls 2000, S. 398, Fußnote). Hier gibt Rawls nicht nur explizit zu, dass man die Religion de facto benutzen kann, um ein gesellschaftliches System aufrecht zu erhalten, sondern er gibt auch implizit zu, dass eine solche Benutzung u. U. legitim sein kann. Zumindest scheint mir dies durch die Klammerbemerkung angedeutet zu sein.44 Der Rückgriff auf die Religion ist ausgeschlossen bzw. ist er auszuschließen, wenn man selbst nicht an die Religion glaubt, mittels deren man das soziale System aufrecht erhalten will, aber er ist nicht unbedingt ausgeschlossen bzw. auszuschließen, wenn man selbst an die betreffende Religion glaubt, mittels deren man das gesellschaftliche System untermauert.45 Der eigene ehrliche Glaube ist somit eine notwendige Bedingung für denjenigen, der ein Sozialsystem durch die Religion stabilisieren will. Für einen solchen Menschen ist die Religion nicht nur nützlich, sondern sie ist auch, und vielleicht sogar vor allem, wahr, und diese ihre Wahrheit kann dann auch vom Gläubigen als der Grund ihrer Nützlichkeit angesehen werden. Dieser ehrliche Glaube an die Wahrheit der Religion ist allerdings nicht unbedingt auch schon eine hinreichende Bedingung, da Rawls von einem sozialen System spricht, das nicht anders aufrecht erhalten werden kann, so dass man in einem solchen Fall vor der Alternative steht, ob man lieber den Zusammenbruch des Sozialsystems will, oder sein Weiterbestehen um den Preis einer religiösen Untermauerung. Sollte es aber möglich sein, das soziale System durch andere Mittel als die Religion aufrecht zu erhalten, dann, so wird man schlussfolgern können, sind diese anderen Mittel – vorausgesetzt sie sind nicht noch in den diesbezüglich relevanten Hinsichten schädlicher als die Religion – anzuwenden. Der Rückgriff auf die Religion kommt, so könnte man sagen, immer und höchstens nur als ultima ratio in Frage. Und auf diese ultima ratio sollte auch immer nur derjenige zurück-

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Lehre unterscheiden müssen. Andererseits gilt dann auch, dass man nicht unbedingt lügt, wenn man der vernünftigen Konzeption der Gerechtigkeit den Vorrang vor einer wahren allumfassenden Lehre gibt. Eine Lüge würde erst dann vorliegen, wenn man die vernünftige Konzeption der Gerechtigkeit als in einem allumfassenden Sinn wahre Konzeption darstellt. Ich behaupte hier nicht, dass Rawls es tatsächlich so gemeint hat. Ich stelle nur fest, dass er sich genötigt gefühlt hat, eine Klammerbemerkung zu machen, die an sich nicht nötig gewesen wäre. Mit dieser Bemerkung wollte er demnach eine in seinen Augen wichtige oder doch erwähnenswerte Unterscheidung machen, nämlich die Unterscheidung zwischen einer Religion, die man anderen aufdrängt, ohne selbst an sie zu glauben, also nur wegen ihres – zumindest vermeintlichen – sozialen Nutzens, und einer Religion, deren – zumindest vermeintlichen – sozialen Nutzen man einsieht, an die man aber auch glaubt, und zwar ohne dass der soziale Nutzen ein Grund des Glaubens ist. In seinem Aufsatz ‚The idea of public reason revisited‘ spricht Rawls von einer auf den richtigen Gründen („right reasons“) beruhenden Stabilität (Rawls 1999, S. 150). Wer Stabilität mittels Rückgriff auf Religion erreicht, gründet sie aber nicht auf „right reasons“. Allerdings wird man hier fragen können, ob Stabilität als solche nicht zunächst wichtiger ist als die „right reasons“. Sollte man auf die Stabilisierung durch Religion verzichten, wenn Religion allein stabilisierend wirken kann und wenn das stabilisierte System zumindest den Bedingungen einer dezenten Gesellschaft entspricht – als dezent bezeichnet Rawls solche Gesellschaften, deren Grundinstitutionen bestimmte Gerechtigkeitsbedingungen erfüllen (Rawls 1999, S. 3)?

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greifen, der selbst an die Wahrheit der betreffenden Religion glaubt. Insofern kann es hinsichtlich des Gebrauchs der Religion keine in Platons Sinn edle Lüge geben, sondern höchstens nur einen edlen falschen Glauben. Dabei sollte man zwischen dem von Rawls entworfenen sozialen System mit den zwei Gerechtigkeitsprinzipien und anderen sozialen Systemen unterscheiden müssen. Es ist davon auszugehen, dass das Rawlssche System nie in eine Situation kommen wird, in welcher ein Rückgriff auf die Religion eine conditio sine qua non für sein Weiterbestehen sein wird. Ein gerechtes Sozialsystem wird immer in seiner Gerechtigkeit einen Faktor finden, der seine Stabilität garantiert. Und wenn es ihn nicht in der Gerechtigkeit findet, dann in der Tatsache, dass jeder davon profitiert. Wenn demnach ein Sozialsystem in eine Lage gerät, in welcher nur noch die Religion seine Stabilität garantieren kann, indem sie etwa das System als gottgewollt, und demnach als dem menschlichen Wollen entzogen darstellt, dann kann man daraus schließen, dass es sich bei besagtem Sozialsystem nicht mehr um ein gerechtes handelt. Wer in einem gerechten sozialen System die Religion in den öffentlichen Diskurs einfließen lässt, wird damit nicht mehr Stabilität, sondern eventuell Instabilität erzeugen. In einem kürzlich erschienen Aufsatz ist Aurélia Bardon der Frage nachgegangen, inwiefern der zeitgenössische Liberalismus die religiösen Argumente als gefährlich für die Freiheit betrachten kann (Bardon 2016). Dass diese Argumente oft konservative Positionen unterstützen, dass ihr Gebrauch zu politischer Instabilität führen können, dass sie auf dem Gedanken der Unfehlbarkeit beruhen oder dass sie nicht den Spielregeln und den Werten des Liberalismus entsprechen, sind Gesichtspunkte, die zwar oft vorgebracht werden, die aber, so Bardon, nicht genügen, um religiöse Argumente als gefährlich anzusehen. Sie sieht die Gefahr vielmehr in der Tatsache, dass bei religiösen Argumenten auf eine absolute und unfehlbare Quelle moralischer Wahrheiten zurückgegriffen wird, wodurch eine wirkliche Diskussion unmöglich gemacht wird – frei nach dem Motto Roma locuta, causa finita.46 Problematisch ist für sie nicht so sehr der religiöse Gehalt, als vielmehr die Tatsache, dass von allen Teilnehmern erwartet wird, dass sie eine absolute Quelle moralischer Normen als verbindlich anerkennen – mag es sich bei dieser um Gott oder die Natur handeln. Dabei unterscheidet die Autorin zwischen unbeweisbaren ersten Prinzipien, die als Teil des Rahmens fungieren, innerhalb dessen politische Diskussionen stattfinden, und dem Glauben an eine absolute Quelle moralischer Wahrheiten. Wie wir im Laufe unserer Untersuchungen feststellen werden, hat vor allem Alexis de Tocqueville darauf hingewiesen, dass politische Diskussionen einen bestimmten normativen Rahmen voraussetzen, und dass religiöse Dogmen – aber nur eine bestimmte Art religiöser Dogmen – einen wesentlichen Teil dieses Rahmens ausmachen. Auch wenn die Religion den Menschen nicht genau vorschreibt, wie sie die politischen Institutionen zu gestalten haben, innerhalb derer sie leben werden, setzt sie ihnen doch bestimmte Grenzen, innerhalb derer ihr Nachdenken über diese 46

Wie man aus dem Motto ersehen kann, trifft dies besonders auf den Katholizismus zu, der nicht nur, wie der Protestantismus oder der Islam, einen heiligen und deshalb unfehlbaren Text als letzten Referenzpunkt annimmt, sondern auch eine auf der Autorität eines bestimmten Menschen fundierte Interpretation dieses Textes.

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Institutionen sich bewegen soll. Wenn der Mensch als ein Wesen gedacht wird, dessen Würde göttlichen Ursprungs ist, dann kann diese Würde nicht mehr hinterfragt werden und die politischen Institutionen müssen ihr Rechnung tragen. Aus der Tatsache, dass die Religion keinen erwähnenswerten Platz in der zeitgenössischen liberalen Theorie spielt, sollte allerdings nicht geschlossen werden, dass die zeitgenössischen Vertreter des politischen Liberalismus alle, oder doch zumindest in ihrer großen Mehrzahl, Agnostiker oder sogar Atheisten sind, dass sie also als private Individuen nicht viel von der Religion halten.47 Es geht hier nicht um die privaten religiösen Ansichten bestimmter Individuen48, also um die Frage, ob sie an Gott glauben oder nicht, und wenn ja, an welchen und wie49, sondern es geht ausschließlich um den Platz, den die Religion in der politischen Theorie dieser liberalen Denker einnimmt.50 Man kann etwa durchaus selbst ein überzeugter Atheist sein und trotzdem meinen, dass es aus politischer Sicht gut ist, wenn die Mehrzahl der Menschen an Gott glaubt.51 Genauso kann man umgekehrt gleichzeitig selbst fest an Gott glauben und trotzdem eine politische Theorie aufstellen, die 47

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Thomas Pogge macht darauf aufmerksam, dass Rawls sich während seiner Studienzeit ganz stark für Religion interessierte und sogar seine Collegeabschlussarbeit darüber schrieb (Pogge 1994, S. 18–19). Was Rawls besonders interessierte, war die Frage nach dem Bösen und, damit zusammenhängend, die Frage nach der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft, eine Frage die „eine, wie [Rawls] auch sagt, religiöse Form hat“ (Pogge 1999, S. 35). Siehe hierzu Rawls 2009. In dieser Schrift geht Rawls von der Tatsache aus, dass die Sünde existiert und dass der Mensch ein sündhaftes Wesen ist. Erst diese Tatsache lässt die Schaffung einer Gemeinschaft zu einem Problem für die Ethik und die Politik werden (Rawls 2009, S. 128). Das Grundproblem der Ethik und der Politik hat somit einen theologischen Hintergrund für den frühen Rawls. Man sollte allerdings bedenken, dass sich dieses Problem auch unabhängig von dieser theologischen Prämisse stellen lässt, und zwar indem man die antisozialen Triebkräfte im Menschen als natürliche Gegebenheiten akzeptiert, ohne sie theologisch, etwa augustinisch als Folge des Sündenfalls, erklären zu wollen. Diese Frage mag ihre Wichtigkeit für jemanden haben, der eine Biographie eines Autors verfassen will und der im Rahmen dieser Biographie die historische Genese der Theorie des betreffenden Autors nachzeichnen will, sie ist aber irrelevant für jemanden, der die Theorie eines Autors logisch rekonstruieren will. Ob der Autor X dazu gekommen ist, der Religion einen wichtigen Platz in seiner politischen Theorie einzuräumen, weil er selbst an Gott glaubte, mag eine aus biographischer Sicht interessante Frage sein, muss aber von der Frage nach dem systeminternen Grund für die Präsenz Gottes in der Theorie getrennt werden. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass Religion nur etwas mit Gottesglauben zu tun hat. Allerdings ist dieser Gottesglaube zentral, und alle andere Fragen, wie etwa die Frage nach der Güte bzw. Bosheit des Menschen oder die Frage nach dem Sinn oder Unsinn des Lebens müssen vor dem Hintergrund der Antwort auf die Gottesfrage diskutiert werden. Eine solche Theorie muss einerseits den für sie zentralen Wert der Freiheit begründen, d. h. sie muss zeigen, wieso dieser Wert wichtig ist und geschützt werden muss, und sie muss andererseits zeigen, wie man die Freiheit absichern kann, d. h. wie man sicherstellen kann, dass die Menschen die Freiheit – und die freiheitsschützenden Institutionen – auch tatsächlich schützen und gegebenenfalls fördern, oder zumindest nicht gefährden werden. Der Atheist kann selbst so tun, als glaube auch er an Gott. Eric Bruch hat mich in diesem Zusammenhang auf ein Bonmot Voltaires aufmerksam gemacht: Er, Voltaire, glaube zwar nicht an die Existenz Gottes, es beruhige ihn aber zu wissen, dass sein Gärtner an die Existenz Gottes glaubt und dieser Glaube ihn von einem Diebstahl abhält. Und ich will davon ausgehen, dass Voltaire nicht an die Existenz Gottes zu glauben braucht, um seinen Gärtner angemessen für die

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Gott weder als notwendiges Begründungspostulat, noch den Glauben an Gott als notwendiges Motivationspostulat gebraucht. Der atheistische Berater, der dem Herrscher rät, einen obligatorischen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen einzuführen, steht nicht im Widerspruch zu sich selbst, sondern er zeigt nur, dass er ganz klar die Frage nach der Wahrheit der Religion von der Frage nach ihrer möglichen Funktion für die breite Masse der Bevölkerung unterscheidet.52 Die Falschheit einer Religion schließt in seinen Augen nicht ihren möglichen sozialen Nutzen aus.53 Es sind dies zwei Aspekte, die man klar trennen muss, und wenn ein Staat der nur nach politischen Kriterien sein Handeln ausrichtet, darüber zu entscheiden hat, welche Religionen Zugang zu den öffentlichen Schulen haben sollen, dann dient dabei nicht die Wahrheit als Kriterium – denn an diesem Kriterium gemessen sind alle Religionen für den Atheisten falsch –, sondern der soziale oder politische Nutzen, der unabhängig von der Wahrheit bestimmt werden kann.54 In dieser Hinsicht ist die Einführung eines Religionskurses an öffentlichen Schulen keine religiöse, sondern eine rein politische Entscheidung, bedingt durch die – ob vermeintliche oder nicht, sei dahin gestellt – Tatsache, dass die meisten Menschen die Religion brauchen. Mögen auch die Gelehrten, zu denen der Atheist sich selbst zählen wird, ohne religiösen Glauben und ohne die Furcht vor jenseitigen Strafen auskommen, so gilt das doch lange nicht unbedingt für die breite Masse der Bevölkerung. Diese muss man manchmal, so könnte ein Atheist arguemntieren, mit Lügen im Zaume halten, wie es übrigens schon Plato in der Po­ liteia behauptete, als er den Einsatz der „Edlen Lüge“ rechtfertigte, und dies obwohl er andererseits die Philosophen dem Wahrhaftigkeitsimperativ unterwirft. Der Gläubige kann seinerseits behaupten, dass die Religion eine wichtige Rolle im Privatleben eines Individuums spielen kann, dass die durch die Religion betroffene Sphäre

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geleistete Arbeit zu bezahlen – was, nebenbei bemerkt, auch dazu beitragen kann, den Gärtner von einem Diebstahl abzuhalten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Behauptung von Paul Thibaud, der schreibt, dass die Totengräber des Christentums sich Sorgen über den Verlust des religiösen Gedächtnisses machen sollten, also darüber, dass immer weniger Menschen einen großen Teil ihrer kulturellen Wurzeln kennen (Thibaud 2003, S. 38). Ausdruck dieser Sorge ist die Einführung eines Kurses über Religionen an den öffentlichen französischen Schulen. Dieser Kurs ist kein Religionskurs im traditionellen Sinn des Wortes, sondern es geht in ihm darum, auf eine objektive und neutrale Art und Weise das Faktum Religion zu untersuchen und zu verstehen. Einer der Hauptbefürworter der Einführung dieses Kurses war Régis Debray, einstiger Weggefährte Che Guevaras, dann persönlicher Berater des Präsidenten François Mitterand. Für ein Land, das einen derart radikalen Laizismus vertritt wie Frankreich es tut, ist die Einführung eines solchen Kurses fast schon eine Revolution. Unnütz zu sagen, dass viele Gläubigen diese These verwerfen, und dass für sie nur eine wahre Religion einen wirklichen oder langfristigen sozialen Nutzen haben kann. Für sie geht es nämlich nicht bloß um den psychologischen Aspekt – die Wirkung des Glaubens auf die menschlichen Handlungen –, sondern auch um den metaphysischen – die göttliche Unterstützung. Es ist nicht anzunehmen, dass Gott einer Nation beistehen wird, die zwar einen religiösen Glauben hat, aber eben einen falschen. Nicht jeder wird diese Unabhängigkeit zugeben. Viele religiöse Menschen gehen davon aus, dass nur eine wahre Religion auch nützlich sein kann, dass man also die Wahrheit und den Nutzen – zumindest den langfristigen Nutzen – nicht voneinander loskoppeln kann.

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des Privatlebens aber keinen relevanten Impakt auf das gesellschaftliche Leben als solches hat55, so dass die politische Theorie die Frage nach der möglichen Stabilisierungsfunktion der Religion ausklammern kann, genauso wie sie etwa die Frage nach der möglichen Stabilisierungsfunktion sportlicher Betätigung ausklammern kann. Wie schon angedeutet wurde, soll uns die Frage nach dem privaten Glauben eines Autors – eine Frage, die übrigens wahrscheinlich nur der betreffende Autor selbst beantworten kann – nicht weiter interessieren, sondern es geht uns hier nur um den Platz, den ein Autor der Religion in seiner politischen Theorie einräumt bzw. um die Rolle, die in seinen Augen die Religion für das Weiterbestehen und das Gedeihen eines politischen Gemeinwesens spielen kann. Und insofern wir uns in diesem Buch vorrangig mit Autoren befassen werden, die eine liberale politische Theorie entwickelt und vertreten haben, muss die Frage gestellt werden, wie sie den Zusammenhang zwischen der Religion – dem rein inneren Element des religiösen Glaubens bzw. Gefühls, aber auch den äußerlichen Elementen, also den religiösen Riten, Praktiken und Institutionen – und jenem Wert sehen, dem sie als Liberale verpflichtet sind, mit jenem Wert also, der konstitutiv für die von ihnen vertretene politische Theorie ist und dieser Theorie auch ihren Namen gibt: die Freiheit. Die an den politischen Liberalismus gerichtete Gretchenfrage könnte demnach lauten: Wie hast du’s mit der Religion in Bezug auf die Freiheit? Personifiziert man die Freiheit, dann könnte man sich auch direkt an sie wenden mit der Frage: Wie hast Du’s mit der Religion? Siehst Du in der Religion einen Verbündeten oder einen Feind, eine Stütze oder ein Hindernis, eine Bedingung der Möglichkeit Deiner Existenz oder, wenn der Ausdruck erlaubt ist, eine Bedingung der Unmöglichkeit derselben? Aber man wird auch der Religion eine Frage stellen müssen, und zwar: Wie hast du’s mit der Freiheit? Siehst Du in der Freiheit eine Verbündete oder eine Feindin, eine Deine Entwicklung fördernde Kraft oder eine Deine Autorität und damit auch Deine Existenz untergrabende Bedrohung, eine Bedingung der Möglichkeit Deiner Verbesserung oder Deine Totengräberin? Wie sollte man sich das von Wechselwirkungen geprägte Verhältnis von Religion und Freiheit denken? Wer braucht hier wen und wofür? Wer kann hier für wen gefährlich werden, und warum? Und wie sollte sich der Staat, und vornehmlich der liberale Staat, zu diesem Fragekomplex positionieren? Wenn ein liberales politisches Gemeinwesen tatsächlich nicht ohne Religion auskommt, sprich seinen liberalen Charakter nur solange behalten kann, wie die Menschen an eine transzendente Welt 55

Hier wäre natürlich zu fragen, ob es tatsächlich eine Sphäre des Privatlebens gibt, die keinen gesellschaftlichen Impakt hat. Auf den ersten Blick schade ich niemandem, wenn ich meine Tage zu Hause damit verbringe, die großen Monumente der Welt mittels Streichhölzer nachzubauen und mich absolut nicht für öffentliche Angelegenheiten – vom Preis der Streichholzschachteln einmal abgesehen – interessiere. Aber was wäre, wenn die Mehrzahl der Menschen sich so benehmen würde wie ich? Bestünde dann nicht die Gefahr, dass die politisch Verantwortlichen ihre Macht frei missbrauchen könnten, da keine wirksame Kontrolle mehr existieren würde? Wie wir noch im weiteren Verlauf dieses Buches sehen werden, ist das durch den modernen Individualismus bedingte politische Desinteresse eine der größten Gefahren für liberale Denker wie Constant und Tocqueville, und in ihren Augen kann die Religion diesem Desinteresse entgegenwirken.

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oder an transzendente Werte glauben, sollte dann ein liberaler Staat sich darum bemühen, den religiösen Glauben zu erhalten und gegebenenfalls zu fördern? Wenn eine politische Gemeinschaft umso freier wird, je stärker sie religiös geprägt ist, sollte die Förderung dieser religiösen Prägung dann zu einem Staatsziel werden? Dabei wird es dem Staat nicht darum gehen, die Religion um deren religiösen Wertes willen zu schützen oder zu fördern, sondern weil sie und insofern sie einen politischen Wert hat. Die Religion wird als Instrument zur Bewahrung der Freiheit geschützt.56 In den Notizen die er anlässlich seiner Amerikareise gemacht hat, bemerkt Tocqueville an einer Stelle: „Die größte Sorge einer guten Regierung sollte darin bestehen, die Völker nach und nach daran zu gewöhnen, ohne sie auszukommen“ (Tocqueville OC V, 1, S. 90). Nehmen wir an, der religiöse Charakter eines Volkes habe tatsächlich einen positiven Einfluss auf die Einmischung bzw. Nichteinmischung der Regierung in das gesellschaftliche Handeln. Religiöse Menschen, so wollen wir annehmen, sind wesentlich hilfsbereiter, so dass eine wirksame Armenhilfe ohne Einmischung der Regierung stattfindet. Auch soll, argumentationshalber, angenommen werden, dass solche Menschen von sich aus wesentlich disziplinierter sind, so dass auch hier die öffentliche Macht weniger einzugreifen braucht. Der religiöse Glaube erscheint somit als ein Faktor, der es den Menschen erlaubt, in mehreren Bereichen ohne die Regierung oder zumindest mit wesentlich weniger Regierung auszukommen. Wenn nun, wie Tocqueville es behauptet, die größte Sorge der Regierung darin bestehen soll, die Menschen daran zu gewöhnen, soweit wie möglich ohne sie auszukommen, dann wird sich für die Regierung die Frage stellen, ob sie den religiösen Glauben ihrer Bürger fördern soll. Hier scheint der liberale Staat tatsächlich vor einem Dilemma zu stehen, wie wir es schon vorhin angedeutet hatten. Kümmert er sich nicht um den religiösen Glauben seiner Bürger, dann läuft er Gefahr, seinen liberalen Charakter zu verlieren und sich einerseits immer mehr in das Leben seiner Bürger, und andererseits auch in immer mehr Sphären ihres Lebens einmischen zu müssen. Denn je weniger die Bürger sich selbst disziplinieren, umso mehr muss der Staat für eine solche Disziplin sorgen. Wenn die Menschen von sich aus darauf verzichten würden, in Restaurants zu rauchen, bräuchte der Gesetzgeber keine Gesetze zu machen, die das Rauchen in Restaurants verbieten. Kümmert er sich um den religiösen Glauben seiner Bürger, dann läuft er auch Gefahr, seinen liberalen Charakter zu verlieren. Der Liberalismus findet seine Wurzeln, oder doch eine seiner Hauptwurzeln im Kampf um die Anerkennung der Gewissens- und Religionsfreiheit. Mit der „Entdeckung“ der Innerlichkeit und der Subjektivität in der Frühen Neuzeit, kam die Forderung nach der Freiheit dieser Innerlichkeit auf: Jeder Mensch sollte selbst darüber bestimmen können, woran er glaubte oder nicht glaubte. 56

Im XIX. Jahrhundert verteidigten zahlreiche Katholiken die Gewissens- und Ausdrucksfreiheit, weil sie in diesen Freiheiten ein Mittel sahen, den Katholizismus zu verbreiten. Die liberalen Freiheiten wurden demnach hier für einen religiösen Zweck instrumentalisiert. Sobald sie an der Macht sein würden oder einen entscheidenden Einfluss auf die Entscheidungen der Machthaber haben würden, so wurde ihnen oft von ihren Gegnern vorgeworfen, dann würden sie die Gewissens- und Ausdrucksfreiheit wieder abschaffen, da sie ihnen dann nicht nur nicht mehr nützlich sein, sondern auch für sie gefährlich werden würde.

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Der Staat müsste sich demnach in etwas einmischen oder sich um etwas kümmern, worin er sich nicht einmischen bzw. worum er sich nicht kümmern sollte, und dies, um sich nicht in etwas einzumischen brauchen, worin er sich nicht einmischen sollte. Indem der Staat sich um die Religion und den religiösen Glauben seiner Bürger kümmert, kann er dazu beitragen, die Bedingungen der Möglichkeit dafür zu schaffen, dass er sich nicht mehr um bestimmte Dinge zu kümmern braucht, so dass er auch seine Macht und den Wirkungsbereich seiner Macht reduzieren kann. Wer sich demnach Gedanken über die Möglichkeit einer Reduzierung der allgemeinen Wirksamkeit des Staates macht, kommt anscheinend nicht daran vorbei, sich auch Gedanken über die Vergrößerung der Wirksamkeit des Staates in religiösen Angelegenheiten zu machen. Hier geht es also schlichtweg um die Frage, ob der liberale Staat die Bedingungen der Möglichkeit seiner eigenen liberalen Identität erhalten darf. Darf er vorübergehend einen Schleier über seine liberale Identität werfen, um sie so besser langfristig erhalten zu können? Der liberale Staat steht vor diesem Dilemma bzw. es handelt sich hier für den liberalen Staat um ein Dilemma, weil er die Autonomie der Bürger als einen hohen Wert ansieht. Die Bürger zur Annahme eines religiösen Glaubens, und womöglich noch des richtigen – worunter man sowohl „nützlichen“ als auch „wahren“ verstehen kann – religiösen Glaubens, zu bringen bzw. einen solchen Glauben – sei es durch eine staatlich organisierte religiöse Erziehung, durch eine wie auch immer geartete geistige Manipulation oder gar durch Strafandrohung zu fördern, verstößt gegen die Autonomie der Bürger. Der Bürger eines liberalen Staates sollte in aller Freiheit darüber bestimmen können, woran er glaubt oder nicht glaubt bzw. worin er den letzten Sinn seines Lebens sieht. Des Weiteren sollten seine diesbezüglichen Entscheidungen – falls der Begriff der Entscheidung hier überhaupt angebracht ist – nicht dazu führen, dass er als Bürger zweiter Klasse behandelt wird und dass ihm etwa bestimmte Vorteile vorenthalten werden, bloß weil er einen bestimmten religiöse Glauben hat oder nicht hat. Der liberale Staat braucht also anscheinend eine bestimmte Art von Menschen, aber auf Grund seines liberalen Charakters scheint es ihm verboten zu sein, diese Art von Menschen bewusst und absichtlich hervorzubringen. Demnach könnte sich ein liberaler Staat glücklich wähnen, der solche Menschen schon vorfindet, da er sie nicht hervorzubringen braucht. Allerdings stellt sich doch auch für ihn die Frage, auf welche Mittel er zurückgreifen darf, um diesen Menschentyp zu erhalten. Denn es besteht nämlich a priori kein Grund zur Annahme, dass der herrschende religiöse Glaube sich erhalten wird. Wir hatten weiter oben schon zwei mögliche Auswege aus dem Dilemma skizziert. Es gibt vielleicht noch einen dritten – auf den schon hingedeutet wurde, als wir die Rolle der Gesellschaft bei der Erhaltung der Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit erwähnten. Denn das Dilemma entsteht eigentlich nur mit der Annahme, dass die Religion sich nicht ohne staatliche Hilfe erhalten und entwickeln kann, d. h. wenn die Religion den Staat tatsächlich braucht. Braucht sie nämlich den Staat nicht, um sich zu erhalten und zu entwickeln, dann braucht sich der liberale Staat auch nicht die Frage zu stellen, ob er etwas zum Erhalt und zur Förderung der Religion tun soll bzw. kann er diese Frage ruhigen Herzens negativ beantworten,

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wenn eine positive Antwort seinen liberalen Charakter in Frage stellen würde. Die erste Prämisse sollte dementsprechend ergänzt werden, und man sollte eine dritte Prämisse hinzuziehen. Prämisse 1: Der liberale Staat muss sich um die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit kümmern, es sei denn, diese Bedingungen der Möglichkeit würden sich selbst erhalten. Prämisse 2: Die Religion ist eine Bedingung der Möglichkeit der Freiheit. Prämisse 3: Die Religion kann sich selbst, ohne staatliche Unterstützung oder Förderung, erhalten. Aus diesen drei Prämissen folgt nicht mehr, dass der Staat sich um die Erhaltung oder Förderung der Religion kümmern muss. Insofern führen diese drei Prämissen den liberalen Staat nicht in ein Dilemma. Allerdings stellt sich die Frage, ob die dritte Prämisse eine notwendige, in der menschlichen Natur wurzelnde Wahrheit ausdrückt, oder lediglich ein empirisches und kontingentes Faktum. Im ersten Fall braucht man sich nicht mit der prinzipiellen Frage zu befassen, ob der liberale Staat, wenn die Religion sich nicht selbst erhalten würde, zu ihren Gunsten eingreifen darf. Im zweiten Fall ist die prinzipielle Frage nicht müßig. Die dritte Prämisse stellt uns allerdings nicht nur vor die Frage, ob die Religion sich auch ohne staatliche Unterstützung erhalten kann. Falls wir diese Frage positiv beantworten, stellt sich nämlich noch die Frage, ob die Religion sich nicht vielleicht besser ohne als mit staatlicher Unterstützung erhält. Und beantwortet man diese Frage positiv, dann wird man nicht nur bewiesen haben, dass der Staat sich nicht um die Religion zu kümmern braucht, sondern auch, dass er sich nicht um die Religion kümmern soll. Für den Liberalismus würde sich somit eine Situation des „You can have your cake and eat it“ ergeben, d. h. er hätte, was er braucht, um die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu erhalten, und er bräuchte die Identität des liberalen Staates nicht vorübergehend aufzugeben, um die betreffenden Bedingungen zu erhalten oder zu fördern. Wir können grundsätzlich folgende Positionen unterscheiden – unter der Voraussetzung, dass die Religion für den Erhalt des liberalen Staates bzw. der menschlichen Freiheit im liberalen Staat notwendig ist: –



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Der liberale Staat muss sich um den religiösen Glauben seiner Bürger kümmern, da dieser Glaube nur so erhalten werden kann. Die Religion ist nicht in der menschlichen Natur verankert und ist demnach auf die Kunst angewiesen, gegebenenfalls auf die Kunst des Gesetzgebers, der adäquate institutionelle, u. a. gesetzliche, Bedingungen schafft. Der liberale Staat braucht sich nicht um den religiösen Glauben seiner Bürger zu kümmern, da dieser Glaube sich auch selbst erhalten kann. Die Religion ist in der menschlichen Natur verankert und ist demnach nicht auf die Kunst des Gesetzgebers angewiesen.57 Constant und Tocqueville nehmen diese zweite Position ein, wobei allerdings Tocquevilles Blick auf die menschliche Natur nicht ganz so optimistisch ist wie diejenige Constants. Das erklärt vielleicht, wieso Tocqueville manchmal bereit ist, auf die Kunst des Gesetzgebers zu-

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Der liberale Staat darf sich nicht um den religiösen Glauben seiner Bürger kümmern. Eine Einmischung des Staates ist dem Glauben immer abträglich. Und sie kann zu einer Verletzung grundlegender Rechte der Individuen innerhalb liberal verfasster Staatsformen verletzen kann.

In diesem dritten Fall beruht das Verbot nicht, oder nicht nur, auf dem Recht eines jeden Bürgers auf Gewissens- und Religionsfreiheit, und demnach auf die Verpflichtung des Staates, sich nicht in die Gewissenssphäre seiner Bürger einzumischen, sondern es handelt sich um ein politisch begründetes Verbot. Wenn die Religion etwas ist, das es dem Staat erleichtert, seine Aufgabe zu erfüllen bzw. wenn sie es ihm ermöglicht, seine Aufgabe zu erfüllen, ohne seine liberale Identität aufgeben zu müssen, und wenn ein staatliches Eingreifen in die Religion der Religion schadet, dann würde der Staat sich mittelbar selber schaden, wenn er in die Religion eingreift. Einige der bedeutendsten klassischen liberalen Autoren haben mit aller Deutlichkeit den freiheitsbewahrenden bzw. sogar freiheitsfördernden Charakter der Religion oder des Religiösen hervor gestrichen. Insofern zu ihrer Zeit der Zusammenhang zwischen absolutem Staat und Religion noch Wirklichkeit war oder noch stark im Gedächtnis vieler Menschen präsent war, hatte ihre These auf den ersten Blick einen paradoxen Charakter: Wie konnte ein Instrument des Herrschens zu einem Instrument der Freiheit werden? Wie konnte eine der Hauptstützen des monarchischen Absolutismus zu einer Stütze jenes Wertes werden, den der Absolutismus während Jahrhunderten unterdrückt hatte? War es nicht an der Zeit, sich gänzlich von der Religion zu befreien, oder sie zu einer reinen Privatsache zu erklären. Wer die Religion mit der politischen Unterdrückung identifiziert, kann sie nicht ohne offenkundigen Widerspruch als ein Instrument der Freiheit betrachten. Wer sie demnach als ein Instrument der Freiheit betrachten will, muss ihre Identifikation mit einem Instrument der Unterdrückung ablehnen. Die klassischen liberalen Denker lehnen, wie Donégani es nuanciert formuliert, eine vollständige Trennung zwischen religiösem Glauben und politischer Meinung ab (Donégani 2003, S. 67). So privat auch immer der religiöse Glaube sein mag, so hat er doch öffentliche Konsequenzen. Auch wenn die Entscheidung zu glauben letzten Endes immer nur meine private Entscheidung sein kann bzw. auch wenn die Glaubensevidenz letzten Endes immer nur meine private Evidenz sein kann, so wird die betreffende Entscheidung oder Evidenz doch Auswirkungen auf mein öffentliches Handeln haben. Was oder woran der einzelne Mensch glaubt, hat nicht nur Auswirkungen auf sein Wohl – sein diesseitiges, aber auch sein jenseitiges –, sondern es hat auch einen Impakt auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Als liberale Denker wollen die betreffenden Autoren zeigen, dass die Religion einen positiven rückzugreifen, um die Menschen wieder zur Religion zu bringen, während Constant einer solchen, wenn auch wohlgemeinten, Manipulation negativ gegenüber steht. Pierre Manents Aussage, die Religion bedürfe für Tocqueville nicht der institutionellen Unterstützung, sollte demnach nuanciert werden (Manent 1993, S. 124). Wie wir sehen werden, darf sie nicht zum Gegenstand einer offenen und direkten institutionellen Unterstützung werden, aber sozusagen hinter den Kulissen darf der Gesetzgeber, laut Tocqueville, die Menschen zum Glauben zurückbringen.

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Teil I: Einführung in die Problematik

Einfluss auf die Freiheit haben kann. Und insofern sie in einer christlichen Gesellschaft leben und auch Christen sind, geht es ihnen vor allem darum zu zeigen, dass das Christentum und die Freiheit Hand in Hand gehen können, und dass das Christentum, weit davon entfernt, die Menschheit in ein Zeitalter des Despotismus geführt zu haben, ihnen vielmehr alle jene geistigen Mittel zur Verfügung gestellt hat, mittels derer sie erst die Freiheit im modernen Sinn denken konnten. Es mag zwar stimmen, dass das Christentum während Jahrhunderten als instrumentum regni gebraucht wurde, aber dass es als ein solches Unterdrückungsinstrument gebraucht werden konnte heißt nicht, dass man es nicht auch als instrumentum libertatis gebrauchen kann bzw. dass es sich als ein Instrument erweisen kann, das der Freiheit förderlich ist.58 Aus der Tatsache, dass die Kirche sich im Laufe der Jahrhunderte freiheitsfeindlich gezeigt hat bzw. die Freiheit immer nur als eine solche dachte, die ihr, der – so behauptete sie – alleinigen Vertreterin, nicht aber ihren Gegnern zustand, sollte nicht geschlossen werden, dass das Christentum als solches freiheitsfeindlich ist.59 Auch wenn man Zweifel daran hegen kann, ob es „[b]is in die 1990er Jahre“ galt, so wird man doch Heinig insofern recht geben können, dass im klassischen Liberalismus „den meisten das Christentum als unverzichtbare Umweltbedingung einer modernen Demokratie“ erschien (Heinig 2015, S. 179).60 So schreibt etwa Montesquieu in De l’esprit des lois, dass es der christlichen Religion zu verdanken ist, dass ein Land wie Äthiopien, das wegen seiner klimatischen Bedingungen61 und seiner Größe eigentlich unter einem schrecklichen Despotismus leiden müsste, die gemäßigten Sitten und Gesetze Europas kennt (Montesquieu EL, XXIV, 4, S. 717). Durch seine Größe und sein Klima eigentlich dazu verdammt, ein despotischer Staat zu sein, konnte Äthiopien sich als ein – relativ gesehen – freier Staat behaupten, und dies, folgt man Montesquieu, nur wegen der dort etablierten christlichen Religion. Montesquieu stellt hier nur den Impakt des Christentums auf den Zustand der Freiheit in Äthiopien fest und enthält sich eines jeden Urteils über die Wahrheit des Christentums. Er belässt es also bei der Feststellung, dass das Christentum positive politische Konsequenzen in Äthiopien hatte. Es bleibt jedem überlassen zu entscheiden, ob man diese positiven Konsequenzen 58 59

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Viroli hat gezeigt, dass Machiavelli die christliche Religion so interpretiert, dass sie als instru­ mentum libertatis fungiert: „Ohne jene Religion und ohne Gott, kann ein Volk nicht in Freiheit leben“ (Viroli 2010, S. 8). In seiner Studie zur Entstehung des modernen Individuums will Siedentop – aber er ist bei weitem nicht der erste – zeigen, dass das liberale Denken im Christentum wurzelt, auch und vor allem in seiner kirchenkritischen Dimension: „[Der Liberalismus] entstand, als die durch das Christentum hervorgebrachten moralischen Intuitionen gegen das autoritäre Modell der Kirche gewendet wurden“ (Siedentop 2015, S. 332). Heinig meint auch: „Die Frage ist doch eigentlich nicht: Wie viel, sondern welche Religion verträgt der liberal-demokratische Staat“ (Heinig 2015, S. 180). Es ist aber nicht nur eine Frage des Vertragens, sondern auch und vor allem eine Frage des Brauchens. Die Situation wäre problematisch, wenn der liberal-demokratische Staat eine Religion brauchen würde, die er nicht verträgt, sei es, dass die öffentliche Ordnung diese Religion nicht verträgt, oder dass die Individuen sie nicht vertragen, weil sie einen zu großen Verzicht auf materielle Güter von ihnen verlangt. Gemäß der Klimatheorie – die Montesquieu übrigens nicht erfunden hat – sind die Völker des Südens unfrei, während die des Nordens frei sind.

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nur durch Rückgriff auf ein göttliches Wunder, und damit auf das Übernatürliche, erklären kann, oder ob sich eine auf rein empirische und natürliche Phänomene beschränkende Erklärung ausdenken lässt. Montesquieu geht auch nicht auf die Frage, wie das Christentum überhaupt in einer Gegend Fuß fassen konnte, deren Klima ein solches Fußfassen mehr als unwahrscheinlich machte. Fest steht für ihn, dass der religiöse Glaube, der eine der stärksten Triebfedern im Menschen ist und diesen zu Handlungen zu motivieren, zu denen kaum eine andere Triebfeder ihn zu motivieren in der Lage ist, einen Sieg der Kultur über die Natur erlaubt hat, und dies indem der klimatische Determinismus durch ein geistiges Phänomen außer Kraft gesetzt wurde. Montesquieu ist einer der ersten liberalen Autoren, die den positiven Einfluss der Religion auf die Freiheit explizit unterstreichen – genauso wie er auch einer der ersten liberalen Autoren ist, die die Religion rein funktionalistisch betrachten und von der Wahrheitsfrage absehen. Ihm werden zahlreiche andere Autoren folgen, wie etwa Benjamin Constant.62 In seiner Studie über die Religionen schreibt Constant:63„Die Epoche, in welcher das religiöse Gefühl aus der menschlichen Seele verschwindet, ist immer nahe an derjenigen ihrer Unterwerfung. Religiöse Völker konnten Sklaven sein; kein nichtreligiöses Volk ist frei geblieben“ (Constant 1999, S. 62).64 Auch wenn bei Constant die Präsenz des Religiösen kein hinreichender Faktor für die Freiheit eines Volkes ist – denn religiöse Völker können in die Sklaverei fallen –, so ist diese Präsenz doch ein notwendiger Faktor – nichtreligiöse Völker werden alle irgendwann einmal in die Sklaverei verfallen.65 Die 62

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Wobei aber schon gleich hier darauf hingewiesen werden muss, dass Constant sich einer rein funktionalistischen Perspektive widersetzt. Für Constant ist das religiöse Gefühl ein mit dem Menschen gegebenes Gefühl, und dieses Gefühl lässt sich nicht auf eine rein instrumentelle Dimension reduzieren. Trotzdem zeigt Constant, dass und inwiefern dieses Gefühl eine wichtige Rolle für die Bewahrung der Freiheit spielt. Es ist interessant darauf hinzuweisen, dass Constant um 1785 mit einer eher religionsfeindlichen Sichtweise angefangen hat, um sich dann allmählich im Laufe der Jahrzehnte schließlich zu einer religionsfreundlichen Position zu bekennen (dazu Bastid 1966, S. 600). Lucien Jaume erinnert daran, dass Constants Abhandlung über die Religion „fast einen Skandal bei den Liberalen hervorruft“ (Jaume 2008, 176), und dass seine liberalen Zeitgenossen nicht verstehen, wie ein liberaler Denker der Religion eine derart große Wichtigkeit zuschreiben kann. Für die liberalen Zeitgenossen Constants ist die Religion noch immer mit dem Ancien Régime assoziert, und auch mit Rom und den Versuchen päpstlicher Einmischungen in die Angelegenheiten Frankreichs – von der Verurteilung des Toleranzedikts von 1598 über die Verurteilung des Jansenismus und die Verurteilung der Revolution bis zum halbherzigen Ja zum napoleonischen Konkordat. In der posthum erschienenen Ausgabe von Du polythéisme romain steht dieser Satz auf der Titelseite des Bandes, was den Stellenwert zeigt, den Constant ihm zuschrieb – die Entscheidung, ihn dort abzudrucken, stammt von Constant selbst. Tocqueville schreibt: „Das Christentum ist eine Religion freier Menschen; und [die Meister – N. C.] fürchten, dass man, indem man es in den Seelen ihrer Sklaven entwickelt, dort einige Instinkte der Freiheit wachrüttelt“ (Tocqueville OC III, 1, S. 45). Auch wenn Tocqueville hier von den amerikanischen Sklaven schreibt, so kann man doch annehmen, dass er seiner Aussage einen allgemeinen Charakter gibt: Despoten zögern, ihre Untertanen dem Christentum auszusetzen, denn dadurch könnten sie ihre eigene Macht untergraben. Wer zur Überzeugung gelangt, dass er einen absoluten Wert hat, der ihm durch seine Seele und seine Gottähnlichkeit

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Religion mag ein Volk nicht immer vor der Sklaverei bewahren, aber wenn ein Volk sich Hoffnungen auf die Bewahrung der Freiheit machen will, so muss es religiös werden.66 Dass auch religiöse Völker Sklaven sein konnten, hängt zu einem großen Teil, wenn nicht sogar ausschließlich, von ihrer Religion ab: Nicht alle Religionen sind in gleichem Maße freiheitsfördernd.67 Wie wir noch sehen werden, spielt bei Constant das religiöse Gefühl eine wichtige Rolle für die Bewahrung der Freiheit, während die Religionen als Systeme von Glaubenssätzen und in ihrem institutionellen Machtstreben dazu tendieren, in Konflikt mit der Freiheit zu geraten. Mit dem religiösen Gefühl hingegen findet das Individuum etwas in sich, das ihn zur Aufgabe rein individueller und kontingenter Güter zu Gunsten der Freiheit motivieren kann. Wer, wie Constant dies tut, in der Freiheit ein gefährdetes Gut sieht, dessen Verteidigung manchmal Opfer abverlangt, und wer, wie Constant dies auch tut, nur religiöse Menschen als opferbereite Menschen konzipiert, wird zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Freiheit auf Dauer nur durch Religion geschützt werden kann.68 In seinen ‚Notes on the State of Virginia‘ aus dem Jahr 1782 stellt Thomas Jefferson die rhetorische Frage, ob die Freiheiten einer Nation noch als gesichert gedacht werden können, wenn man das einzige stabile Fundament entfernt hat, auf dem sie beruhen. Und dieses Fundament ist der Glaube, dass die Freiheiten der Nation ein Geschenk Gottes sind und dass jede Verletzung dieser Freiheiten den Zorn Gottes hervorrufen wird (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 294).69 Als Geschenk Got-

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verliehen wird, der wird nicht mehr erdulden, dass man ihn wie einen Sklaven behandelt. Allerdings ist sich Tocqueville bewusst, dass es auch Epochen gab, in denen das Christentum die Sklaverei duldete (Tocqueville OC III, 1, S. 125). Germaine de Staël erklärt wie folgt die Tatsache, dass die Revolution von 1789 nicht in ein liberales Regime mündete, sondern zur terreur führte: „[E]s ist weil die Franzosen nicht die Religion mit der Freiheit verbunden haben, dass ihre Revolution so früh von ihrer ursprünglichen Richtung abgekommen ist“ (Staël 2000a, S. 604). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch folgende Behauptung Virolis – der übrigens auch Constant zitiert: „Die italienische Geschichte scheint uns also zu lehren, dass gute Religion politische Freiheit hervorbringt, während das Fehlen von Religiosität oder schlechte Religion Tyrannei und Beherrschung hervorbringt“ (Viroli 2012, S. xi–xii). Es ist in diesem Zusammenhang unverständlich, wie Stephen Holmes behaupten kann: „Auch wenn er von der Wichtigkeit der Religion auf persönlicher Ebene überzeugt ist, bestritt Constant, dass sie die geringste politische Relevanz hatte“ (Holmes 1994, S. 317–318). Für eine Widerlegung dieser These, siehe Campagna 1998. Constant spricht natürlich auch von der Wichtigkeit der Religion auf rein persönlicher Ebene – etwa wenn er in der Religion eine Freundin des Unglücklichen sieht (Constant 1980a, S. 394) –, aber in seinen Schriften spielt die soziale und politische Relevanz eine größere Rolle. Eine Stelle, in welcher diese Mehrdimensionalität zum Ausdruck kommt, ist folgende: „Sie [die christliche Religion – N. C.] war für die Armen eine Unterstützung, den Unterdrückten stellte sie die Gerechtigkeit vor, den Sklaven stellte sie die Freiheit als ein Recht vor“ (Constant 1987a, S. 50). Mit Kloocke lässt sich sagen: „[D]as politische Denken und das religiöse Denken sind für ihn unzertrennlich miteinander verbunden“ (Kloocke 1984, S. 179), und „der theologische Diskurs Constants ist auch ein politischer Diskurs“ (Kloocke 1984, S. 264). In diesem Text erwähnt Jefferson übrigens die Möglichkeit, dass Gott die Amerikaner bestrafen wird, weil sie Sklavenhalter sind. Einige der Gründerväter waren sich der Tatsache vollends bewusst, dass die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika vor dem Hintergrund eines

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tes sind die Freiheiten wertvoll, was nicht nur bedeutet, dass man sie ihrem Besitzer nicht entziehen kann, ohne ihm gegenüber ungerecht zu handeln, sondern auch, dass der Besitzer sie als wertvoll zu schätzen und dementsprechend gegebenenfalls auch für sie zu kämpfen hat. Genauso wie das paulinische „Non est potestas nisi a Deo“ bzw. „Omnis potestas a Deo“ nicht nur die Untertanen davon abhalten soll, sich den bestehenden Mächten zu widersetzen,70 sondern diese auch daran erinnert, dass Gott ihnen die Macht anvertraut hat und über deren Gebrauch wachen wird, ließe sich ein „Non est libertas nisi a Deo“ zugleich als eine Warnung an die Mächtigen wie auch als ein memento an die Besitzer der Freiheit interpretieren. Wenn die Freiheit von Gott stammt, dann muss sie geschützt werden, denn ihr Ursprung macht aus ihr einen Wert an sich. Und diese intrinsische Werthaftigkeit scheint der Deist Jefferson nur insofern denken zu können, als die Freiheit auf etwas anderes als die kontingenten Wünsche der Menschen verweist. Nicht mein Wunsch nach Freiheit begründet deren Wert, sondern ihr göttlicher Ursprung. In einer Schrift aus dem Jahr 1823 meint Jasper Adams: „Wir müssen eine christliche Nation sein, wenn wir weiter eine freie Nation sein wollen“ (Adams 1996, S. 52). Indem die Religion uns dazu zwingt, unsere Leidenschaften der Vernunft zu unterwerfen und uns zur ständigen Selbstkontrolle anhält, schafft sie die Bedingungen unter denen allein ein verantwortlicher Gebrauch der Freiheit gemacht werden kann. Ohne Religion wird ein Volk entweder den Weg der Anarchie oder den des Despotismus einschlagen. Bekanntlich führt keiner dieser beiden Wege in die Freiheit. Tocqueville71 spricht ebenfalls deutliche Worte, wenn er auf den Zusammenhang zwischen Freiheit und Religion eingeht.72 Im zweiten Band Démocratie fin-

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flagranten Widerspruchs erfolgte. Einerseits wollte man ein Vorbild für die Freiheit sein, und andererseits ließ man hunderttausende von an sich freigeborenen Menschen in der Sklaverei leben. Paulus hat mit dieser Formel eine Unterscheidung abgeschafft, die die Griechen kannten. Wie Fustel de Coulanges erinnert, galt für die Griechen der Antike derjenige als Tyrann, der seine Autorität nicht auf ein religiöses Fundament gründete (Fustel de Coulanges 1984, S. 323). Ceasar bezeichnet ihn als „einen der standhaftesten Verteidiger der Religion unter den großen liberalen Denkern“ (Ceasar 1991, S. 320). Herb und Hidalgo sehen in der Religion „das heimliche Hauptthema Tocquevilles“ (Herb/Hidalgo 2005, S. 172). Ein Hauptthema ist sie sicherlich. Aber ob sie wirklich so „heimlich“ ist, darf angesichts der klaren Äußerungen Tocquevilles bezweifelt werden. Richtiger wäre es vielleicht zu sagen – und darauf werde ich noch eingehen –, dass Tocqueville in der Religion ein Mittel sieht, dessen die Regierenden sich heimlich bedienen sollten, um die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit in der Demokratie zu bewahren. Nolla zu Folge sieht sich Tocqueville als „der Detektiv, der Licht in die dunklen demokratischen Geheimnisse und Verschleierungen bringen will“ (Nolla 2014, S. 16). Auf das Verstecktsein spielen auch Donegani und Sadoun an, wenn sie schreiben: „[D]ie Religion ist dem Liberalismus nicht fremd, sondern bildet im Gegenteil dessen geheime Triebfeder, trägt dazu bei, sein Wesen zu definieren: Die öffentliche Regulierung des demokratischen Funktionierens geschieht durch die Privatsphäre, dadurch, dass die Individuen Leitprinzipien integrieren, die ihren Ursprung in der Religion und ihren Ausfluss in der Politik finden“ (Donegani/Sadoun 2007, S. 413). Die Religion wirkt demnach nicht direkt, sondern indirekt auf die Politik. John Stuart Mill war einer der ersten, die dies klar erkannt haben. In seiner in der Westminster Review erschienenen Rezension der Démocratie schreibt, Tocqueville sehe im religiösen Geist die erste Ursache für die Erhaltung der Demokratie in Amerika (Mill 1994, S. 103). Er setzt

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den wir etwa folgende Passage über den demokratischen Menschen und über das Verhältnis von Freiheit und Religion:73 „[I]ch bin geneigt zu denken, dass er, wenn er keinen Glauben hat, dienen muss, und, wenn er frei ist, glauben muss“ (Tocqueville OC I, 2, I, 5, S. 29).74 In einem Nachruf auf seinen Freund, schreibt JeanJacques Ampère: „[D]enn er hat nicht angenommen, ich habe ihn dies oft sagen hören, dass ein nichtreligiöses Volk fähig sein konnte, frei zu sein“ (Tocqueville OC XI, S. 448). Für Tocqueville befähigt die Religion ein Volk zur Freiheit, und nur sie allein scheint dies tun zu können.75 Wie wir noch genauer sehen werden, steckt die Religion für Tocqueville einen Rahmen ab, innerhalb dessen der Mensch einen vernünftigen Gebrauch seiner Freiheit machen kann. Zugleich bringt sie ihn auch dazu, die Bewahrung der Freiheit vor seine eigenen Interessen zu setzen. Nur wer einen religiösen Glauben hat ist bereit, so Tocqueville, sich für die Freiheit zu

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sich aber nicht kritisch mit dieser These Tocquevilles auseinander und sagt nicht, wie er es im Hinblick auf Tocquevilles Lob der Aristokratie behauptet, sie sei übertrieben (Mill 1994, S. 85). Stimmte Mill zu dieser Zeit der These Tocquevilles zu oder wollte er sich nicht auf die Diskussion einer Frage einlassen, über die er noch nicht genügend nachgedacht hatte? Die Formel erinnert stark an die vorhin zitierte Stelle von Constant, bloß dass Constant von Völkern spricht, während Tocqueville vom demokratischen Menschen spricht. Diese und ähnliche Passagen Tocquevilles kommentierend, meint Sanford Kessler, die Geschichte gebe Tocqueville recht: kein großes Volk hat seine Freiheit ohne eine religiös begründete Moral bewahrt, und dort wo man versucht hat, die Religion auszumerzen, hat sich ein Tyrann etabliert (Kessler 1994, S. 186). Und Oliver Hidalgo schreibt am Schluss seiner spannenden Auseinandersetzung mit der Problematik des Theologisch-Politischen bei Tocqueville (und in der Moderne): „Überall dort, wo Christen und Liberale sich einig waren, konnte sich weder eine rassistisch-faschistische Doktrin etablieren, die dem Ideal der Gleichheit widersprach, noch konnte sich ein pseudoreligiöser Materialismus durchsetzen, der das Ideal der Freiheit gefährdete. Ohne Religion aber blieb die liberale Demokratie an beiden Flanken verwundbar“ (Hidalgo 2006, S. 440). Die liberale Demokratie braucht insofern die Hilfe des Christentums, und in diesem Kontext ist auch Tocquevilles Hilferuf „an alle religiösen Menschen, aller Glaubensrichtungen, eines jeden Klerus, aller Glaubensgemeinschaften“ zu sehen (Tocqueville OC III, 2, S. 495). Die Gefahr besteht hier nicht in einer rassistisch-faschistischen Doktrin, noch in einem pseudoreligiösen Materialismus, sondern im allgemeinen Hang zum Wohlergehen und in der Reduktion des Menschen auf den Konsumenten und auf das Herdentier. In einem Brief an Corcelle aus dem Jahr 1853 meint Tocqueville, die wirkliche Größe des Menschen bestünde nur im Einklang des liberalen mit dem religiösen Gefühl (Tocqueville OC XV, 2, S. 81). Während seiner Amerikareise hatte Tocqueville die Gelegenheit, mit zahlreichen Amerikanern zu sprechen. Viele dieser Gespräche hat er aufgezeichnet, und zwar in Dialogform – das „D.“ steht dabei für Tocquevilles „Demande“, also Frage, und das „R.“ für die „Réponse“, also Antwort seines jeweiligen Gesprächspartners. Eine vergleichende Lektüre dieser Dialoge und der Démocratie zeigt, dass Tocqueville mehrmals die Antworten seiner Gesprächspartner fast wörtlich übernimmt und sie somit als seine eigenen Gedanken präsentiert. Dies gilt u. a. auch für Tocquevilles Aussagen zum freiheitsfördernden Charakter der Religion. So sagt ihm der Presbyterianer Clay: „Die Religion ist bei uns der sicherste Garant der Freiheit. […] Wenn wir jemals aufhören würden, religiös zu sein, dann würde ich unseren Zustand als sehr gefährlich ansehen“ (Tocqueville OC V, 1, S. 102). Und vom Juristen und Politiker Spencer hält Tocqueville die Behauptung fest: „Bei uns ist es übrigens eine allgemein verbreitete Meinung, dass irgendeine Religion für den innerhalb einer Gesellschaft lebenden Menschen notwendig ist; und dies umso mehr, als er frei ist“ (Tocqueville OC V, 1, S. 70).

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opfern. Es gilt aber auch hervorzuheben, dass sich der Mensch, durch das Christentum, seiner Würde bewusst geworden ist.76 Das Christentum, so Tocqueville, muss zur Seele der politischen Gesellschaft werden (Tocqueville OC III, 2, S. 38), denn nur mit einer solchen Seele, so sein Gedanke, kann die politische Gesellschaft frei bleiben.77 Oder mit Hilfe der Wurzelmetapher ausgedrückt: „[I]ch habe nie ein freies Volk gesehen, dessen Freiheit seine mehr oder weniger tief vergrabenen Wurzeln nicht in Glaubenssätzen fand“ (Tocqueville OC III, 2, S. 494). Neben den Vereinigten Staaten von Amerika, ist England in seinen Augen das land, in dem die Religion und der Liberalismus miteinander übereinstimmen (Tocqueville OC XV, 2, S. 206). Auch Edouard Laboulaye, ein liberaler Zeitgenosse Tocquevilles, macht auf den freiheitsbewahrenden Charakter der Religion aufmerksam. Im Vorwort zu einer Textsammlung zum Thema der religiösen Freiheit schreibt er: „Woher kommt es, dass alle unsere Versuche, die politische Freiheit einzurichten, scheitern, und dass wir trotzdem unaufhörlich zu diesem Ideal zurückkommen, ohne uns durch unser Scheitern niederschlagen zu lassen? Es gibt eine tödliche Uneinigkeit zwischen unseren Bedürfnissen und unseren Sitten. Wir brauchen freie Institutionen, aber wir können uns ihrer nicht bedienen. Es fehlt uns die moralische Erziehung, der Respekt vor dem Recht, die Liebe zu unseresgleichen, alle Dinge die nur die Religion uns geben kann. Die Freiheit, wir haben sie in unserem Geist, wir haben sie nicht in unserem Herzen; sie wurzelt nicht in der Tiefe unserer Gewissen, und deshalb ist sie, statt eine Wohltat für alle, nur allzu oft ein Instrument der Revolte und der Zerstörung“ (Laboulaye 1858, S. xxi – Hervorhebung von mir). Auch Laboulaye ist der Überzeugung, dass der Mensch sich seiner Freiheit nur dann angemessen bedienen kann und gleichfalls dieser Freiheit nur dann angemessen dienen kann, wenn er eine Religion hat. Eine sich gänzlich von der Religion emanzipierende Freiheit verliert sich laut Laboulaye in der Zerstörung und Anarchie. Will der Mensch von den positiven Früchten der Freiheit profitieren, dann braucht er dafür die Religion. Laboulaye erhebt die Frage der Religion zu einem der größten Probleme der Zukunft: „Nur durch den Glauben ist der Mensch etwas, er opfert sich nur für Ideen, er leistet Widerstand nur im Namen der Pflicht, woraus folgt, betrachtet man nur die Dinge der Welt, dass die religiöse Frage mehr den je eines der größten Probleme der Zukunft ist“ (Laboulaye 1858, S. 73). Der Mensch muss sich allem widersetzen, was ihn seiner Würde beraubt, und bei diesem Widerstand muss er bereit sein, Opfer zu bringen. Doch kann er noch Opfer bringen, wenn er nur seine eigenen Interessen sieht und nicht auch nach Ideen handelt? Und was kann, so scheint Laboulaye vor76

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Jaume hebt drei Verbindungspunkte zwischen moderner Demokratie und Religion bei Tocqueville hervor: (i) die moderne Demokratie entspricht dem göttlichen Willen, (ii) die moderne Demokratie bedarf der Religion auf sozialer und moralischer Ebene und (iii) die moderne Demokratie schafft, über den Weg der öffentlichen Meinung, eine öffentliche Religion (Jaume 2008, S. 112). Die Seele der Gesellschaft lässt sich allerdings nicht unabhängig von der Seele der in dieser Gesellschaft lebenden Individuen denken. Genauso wie die politischen Institutionen checks and balances benötigen, muss man solche auch in den individuellen Seelen finden (dazu Kahan 2015).

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auszusetzen, diesen Ideen – und zu ihnen gehört auch die Idee der Freiheit – ihren Wert verleihen, wenn nicht die Religion? Der Mensch wird dementsprechend nur dann Widerstand leisten und bereit sein, sein Leben zu opfern, wenn er glaubt und wenn er in sich mehr sieht als nur eine Summe von sinnlichen Begierden. Will der Mensch den Wert der Freiheit erkennen, muss er seinen Wert als freies Wesen erkennen. Und diese Erkenntnis, so ließe sich Laboulaye interpretieren, wird dem Menschen nur zuteil, wenn er einen religiösen Glauben – den christlichen religiösen Glauben, müsste man in diesem Zusammenhang hinzufügen – besitzt. Auch im katholischen Klerus findet man Stimmen, die den Kausalzusammenhang zwischen Religion und Freiheit unterstellen. Als eine „große Tat“ hatte Tocqueville Montalemberts Buch Intérêts catholiques au XIXe siècle bezeichnet. Montalembert, der zuerst dem Staatsstreich Napoleons III. zugestimmt hatte, wird sich in der Folge davon distanzieren und sich auf Seiten derjenigen schlagen, die für die Freiheit plädieren – was ihnen eine Rüge Roms einhandeln wird. In dem eben genannten Buch schreibt Montalembert u. a.: „Die Religion braucht die Freiheit; und die Freiheit braucht die Religion“ (zitiert in Cabanis 1982, S. 94). Auch wenn man vermuten kann, dass Montalembert die Freiheit zunächst als ein Mittel konzipiert, das es der Religion erlauben kann, sich zu verbreiten78 – die Religionsfreiheit impliziert u. a. auch die Freiheit, religiöse Privatschulen zu betreiben –, so kommt doch auch er nicht an der Behauptung vorbei, dass die Religion der Freiheit dienen kann. Selbst wenn er keinen direkten Zusammenhang zwischen der Religion und der Freiheit herstellt, so betont auch John Stuart Mill die Rolle der Religion als Motivationsfaktor, wobei er allerdings einen Unterschied zwischen den sogenannten „übernatürlichen“ Religionen und der von ihm vertretenen Religion der Menschheit macht. Diese Religion der Menschheit, die in seinen Augen allein den Namen Religion verdient, erfüllt alle jene Aufgaben, die die traditionellen übernatürlichen Religionen erfüllten, und sie kann somit als ihr funktionales Äquivalent79 – aber ohne deren metaphysische Last – angesehen werden (Mill 2006, S. 422). Wenn die Bewahrung und Förderung der Freiheit zu diesen Aufgaben gehörten, wie es Mills liberale Vorläufer meinten, dann gilt, so kann man vermuten, auch für die Religion der Menschheit, dass sie diese Aufgabe erfüllt. Und dann würde auch Mill zu jenen liberalen Denkern zählen, die in der Religion eine Garantie der Freiheit sehen.80 Vor allem den Aussagen Constants, Tocquevilles und Laboulayes ist folgende Aussage Alain Renauts entgegenzusetzen: „Es gibt keine Religion eines freien Volkes“ (Renaut 2011, S. 43). Moderne Gesellschaften, so behauptet Renaut an der78

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Für die liberalen Politiker ist die Religion ein Mittel zum Erhalt und zur Förderung der Freiheit, für die „liberalen“ Katholiken ist die Freiheit ein Mittel zum Erhalt und zur Förderung der Religion. Beide Gruppen müssen Argumente finden, die die Gegner in ihrem eigenen Lager überzeugen können. Das zu lösende Problem ist: Den Menschen zu Handlungen motivieren, die seinen Egoismus transzendieren. Funktional äquivalent sind zwei Denk- oder Fühlweisen, wenn sie gleuich erfolgreich bei der Lösung dieses Problems sind. Alan Millar spricht zwar nicht von einem Zusammenhang zwischen der Menschheitsreligion und der Freiheit bei Mill, wohl aber von einem Zusammenhang zwischen dieser Religion und dem Utilitarismus. Die Menschheitsreligion, so Millar, ist „die absichtliche Pflege von Gefühlen, die die natürliche Grundlage der utilitaristischen Moral bilden“ (Millar 1998, S. 197).

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selben Stelle weiter, „können ihre Normen nicht mehr kollektiv in einem Dogmenuniversum finden, das seinen Ankerpunkt außerhalb des menschlichen Gewissens finden“ (Renaut 2011, S. 43).81 Während also Constant und Tocqueville behaupten, dass ein freies Volk eine Religion braucht, um frei zu sein und frei zu bleiben, streitet Renaut die Möglichkeit ab, dass ein freies Volk überhaupt noch eine Religion finden kann.82 Man sollte hier allerdings berücksichtigen, dass Renaut von einem Freiheitsbegriff ausgeht, der sich nicht ganz mit demjenigen der klassischen liberalen Autoren deckt. Für Renaut ist der Mensch nur dann frei, wenn er den Ankerpunkt seiner Normen in seinem eigenen Gewissen findet, wenn ihm diese Normen also nicht mehr als Normen erscheinen, die, um mit Kant zu sprechen, den Stempel der Heteronomie, sondern denjenigen der Autonomie tragen. Die Gültigkeit und Verbindlichkeit einer Norm soll ihren einzigen Grund darin haben, dass meine Vernunft diese Norm als für mich verbindlich anerkennt. Die Vernunft kann aber, so scheint Renaut vorauszusetzen, keine Norm als für sich verbindlich anerkennen, die ihren letzten Grund in einem der Vernunft unzugänglichen Dogmenuniversum hat. Allerdings macht Renaut den Unterschied zwischen dem Individuum und dem Subjekt, wodurch er ein Transzendenzelement anerkennt. Im Gegensatz zum Individuum, das im Partikularen verhaftet bleibt, erhebt sich das Subjekt durch seine Vernunftautonomie auf die Ebene des Allgemeinen. Verbindet man die Aussagen der drei genannten liberalen Denker mit derjenigen Renauts, so ergeben sich folgende Fälle: (1) Ein freies Volk braucht eine Religion, um frei zu bleiben, und es gibt eine Religion für ein solches Volk. (2) Ein freies Volk braucht eine Religion, um frei zu bleiben, aber es gibt keine Religion für ein solches Volk. (3) Es gibt eine Religion für ein freies Volk, aber ein solches Volk braucht keine Religion, um frei zu bleiben. (4) Es gibt keine Religion für ein freies Volk und ein freies Volk braucht keine Religion, um frei zu bleiben. Die Bestrebungen der klassischen liberalen Denker gehen dahin, eine Religion für ein freies Volk zu finden bzw. offenzulegen, was man von der Religion zurückbehalten muss, damit sie überhaupt noch ihre Funktion erfüllen kann, und was man von ihr aufgeben kann oder sogar aufgeben muss, damit sie nicht in Widerspruch 81

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Jelen sieht in der Religion „so etwas wie ein gefährlicher Fremder im Rahmen der demokratischen Politik“ (Jelen 1998, S. 3). Schon Etienne Vacherot hatte darauf hingewiesen, dass die Religion auf einem Autoritätsprinzip beruht, das mit der Demokratie unvereinbar ist (Vacherot 1860, S. 46). Allerdings weist er darauf hin, dass ein solches Autoritätsprinzip zu Beginn einer demokratischen Erziehung nötig ist, bevor es dann aber überflüssig wird (Vacherot 1860, S. 49). Diese Aussagen Vacherots gelten sowohl onto- als auch phylogenetisch. Erst mit der Zeit und der intellektuellen Entwicklung kann die Religion durch die Wissenschaft ersetzt werden, in der Erziehung der Individuen und in der Entwicklung der Menschheit. Bei Marcel Gauchet heißt es: „Wie kann man Demokratien mit Gläubigen machen, und dabei gleichzeitig jene Version des Glaubens bekämpfen, die mit einer heteronomen Politik assoziiert ist?“ (Gauchet 1998, S. 31).

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zur menschlichen Freiheit gerät. Sie gehen also vom ersten Fall aus und glauben, dass man die christliche Religion so interpretieren kann, dass man sie als Religion eines freien Volkes gebrauchen kann. Sie sind sich der Tatsache also bewusst, dass nicht jede Religion von einem freien Volk akzeptiert werden kann. Und sie sind auch nicht bereit, von einem freien Volk zu verlangen, dass es sich vorbehaltlos an eine vorgefundene Religion anpasst, sondern sie verlangen viel eher von der vorgefundenen Religion, dass sie sich dem freien Volk anpasst. Mag auch für sie die Religion immer noch den Weg zum ewigen Seelenheil aufzeigen, so interessiert sie an der Religion aber hauptsächlich die politische Funktion der Freiheitsbewahrung. Die Religion wird von ihnen unter dem leitenden Interesse der Freiheitsbewahrung gedacht, und sie sind nur bereit, solche Religionen zu unterstützen, die mit der Freiheitsbewahrung kompatibel sind. Für Renaut führen diese Anstrengungen aber in eine Sackgasse. Sie ergaben vielleicht noch einen gewissen Sinn, als die religiöse Homogenität der Gesellschaft groß war, als der religiöse Glaube noch eine strukturierende Funktion innerhalb der Gesellschaft hatte. Aber in einer modernen Gesellschaft sind sie zum Scheitern verurteilt, da die christliche Religion kein allgemeiner Denkrahmen mehr ist, innerhalb dessen der Mensch nach Orientierungspunkten seines Handelns suchte, und weil auch keine andere Religion das Christentum ersetzt hat. Renaut vertritt mithin die vierte der genannten Positionen. Wo heute vielfach davon ausgegangen wird, dass eine liberale Gesellschaft nicht mit der Religion vereinbar ist und dass es demnach keinen Sinn macht, nach einer Religion für ein freies Volk zu suchen bzw. die Religion so zu modifizieren, dass sie mit dem Geist des Liberalismus vereinbar ist, ging man vor anderthalb Jahrhunderten vielfach davon aus, dass die katholische Religion nicht mit dem Liberalismus vereinbar war und dass es demnach keinen Sinn machte, nach einer liberalen Organisation für eine katholische Gemeinschaft zu suchen bzw. den Katholizismus salonfähig für den Liberalismus zu machen. Für Théodule Normand etwa widersprechen sich Katholizismus und Liberalismus schon auf rein begrifflicher Ebene (Normand 1841, S. 39). Der Katholizismus ist an sich gut und der Liberalismus ist an sich schlecht (Normand 1841, S. 10). Für Romand kann nur der Katholizismus die wahre Freiheit verwirklichen, wohingegen der Liberalismus zur Anarchie führt, die, anstatt die Freiheit zu verwirklichen, diese vielmehr zerstört. Für Renaut kann nur der Liberalismus zur Freiheit führen, wohingegen die Religion – und nicht nur der Katholizismus – zur Unterjochung führt. Wenn Renaut recht hat, dann stellt sich die Frage nicht, ob und inwiefern der liberale Staat sich um die Religiosität kümmern sollte. Und zwar stellt sie sich dann nicht mehr, weil diese Religiosität nicht für die Erhaltung der Freiheit nötig ist. Für die klassischen liberalen Denker stellte sie sich aber, und in diesem Buch wollen wir der Frage nachgehen, wie sie die Rolle der Religion bei der Bewahrung und Förderung der Freiheit konzipierten und wie sie das Verhältnis zwischen dem Staat und der Religion dachten.83 83

Für Renaut stellt die Frage sich aber in einem anderen Gewand. Im Gegensatz zu Ruwen Ogien, vertritt Renaut nämlich die These, dass es Pflichten gegenüber sich selbst gibt, allen voran die Pflicht, eine moralische Person zu sein, sprich eine Person die sich als verantwortli-

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KAPITEL 3: STAAT, RELIGION, LIBERALISMUS: BEGRIFFSERKLÄRUNG Bevor man sich mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und Religion im klassischen Liberalismus befasst, müsste man eigentlich zuerst eine klärende Vorstudie zu den Begriffen des Staates, der Religion und des Liberalismus verfassen. Also die Fragen stellen: Was ist ein Staat? Was ist eine Religion? Was ist der Liberalismus? Auch wenn an dieser Stelle keine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen an sich äußerst problematischen Begriffen stattfinden kann, sollten wir uns doch Zeit für einige kurze Erläuterungen nehmen. Der Begriff des Staates verweist auf ein organisiertes politisches Gemeinwesen, wobei aber gleich anzumerken ist, dass nicht jedes organisierte politische Gemeinwesen auch ein Staat ist84, zumindest nicht in dem Sinne, wie man den Begriff Staat seit dem Anfang der Neuzeit und dem Aufkommen der bürokratisch organisierten und zentralisierten Nationalstaaten versteht. Die griechische polis, das römische Imperium, das mittelalterliche Heilige Römische Reich Deutscher Nation, die freien Städte des Mittelalters und der frühen Neuzeit oder noch die Europäische Union, um nur diese Formationen zu nennen, haben sicherlich Ähnlichkeiten mit dem Staat im neuzeitlichen Sinn des Wortes, aber es gibt auch Unterschiede. In seiner Studie zur Entstehung und zum Untergang des Staates, schreibt der Historiker Martin van Crefeld, nachdem er auf die sehr unterschiedlichen Definitionen des Staates hingewiesen hat, dass er den Begriff in einem ganz bestimmten Sinn verstehen will. Er fasst den Staatsbegriff als ein rein abstraktes Wesen, das sich jedem sinnlichen Zugang entzieht: Man kann den Staat weder sehen, noch hören, noch fühlen. Man kann ihn also nicht sinnlich wahrnehmen (van Crefeld 1999, S. 1). Aus dieser Definition folgt, dass der Staat nicht mit dem- oder denjenigen identifiziert werden kann, der bzw. die im Besitz der staatlichen Macht ist bzw. sind – denn Menschen kann man sinnlich wahrnehmen. Der Staat sind also nicht bestimmte Menschen, sondern die u. a. durch eine, geschriebene oder ungeschriebene, Verfassung definierten Beziehungen zwischen Menschen, Beziehungen, die sich innerhalb bestimmter Institutionen verwirklichen. Die Identität der Individuen wird durch ihren jeweiligen Platz oder ihre Rolle innerhalb der Institutionen bestimmt und kein Individuum kann sich mit dem Staat identifizieren. Ludwig XIV. kann in dieser Hinsicht nie der Staat sein, sondern höchstens derje-

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che Schöpferin ihrer eigenen Identität betrachtet (Renaut 2011, S. 240). Renaut geht nicht genau auf die Frage ein, inwiefern die Existenz einer solchen Pflicht das staatliche Handeln konditioniert. Dabei geht es nicht darum zu wissen, ob man die moralischen Pflichten gegenüber sich selbst in legale Pflichten übersetzen sollte – was Renaut, so glaube ich, mit Recht, ablehnen würde –, sondern ob und inwiefern der Staat dazu beitragen sollte, dass die Menschen sich als moralische Personen erleben können. Denn ob man sich als eine moralische Person erlebt hängt nicht nur, wenn überhaupt, davon ab, ob man Rousseau, Kant oder Renaut gelesen hat, sondern auch davon, wie man tatsächlich behandelt wird und welches Bild die Gesellschaft vom Menschen hat. Die Frage wäre somit, ob und inwiefern der liberale Staat dazu beitragen soll, eine bestimmte Kultur, nämlich die Kultur der rousseauisch und kantianisch verstandenen Menschenwürde aufrecht zu erhalten. Allerdings ist jeder Staat ein politisches Gemeinwesen.

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nige, der die staatliche Macht innehat oder im Namen des Staates handelt, der also eine bestimmte Funktion innerhalb der Staates ausübt. Van Crefeld zu Folge, ist die Auffassung des Staates als eines abstrakten Wesens relativ rezent, insofern sie Ende des Mittelalters bzw. am Beginn der Neuzeit zu verorten ist. Vieles deutet darauf hin, dass der Staat in diesem Sinne allmählich durch andere Formen der politischen Organisation ersetzt werden wird. Insofern das goldene Zeitalter des Liberalismus zum Teil mit dem goldenen Zeitalter des Staates, wie ihn van Crefeld versteht, zusammenfällt, werde ich in diesem Buch vom Verhältnis zwischen Staat und Religion im klassischen Liberalismus sprechen. Das schließt aber nicht aus, dass man sich auch die allgemeinere Frage nach dem Verhältnis zwischen einem politischen Gemeinwesen – genauer noch: einem liberalen politischen Gemeinwesen – und der Religion stellt. Ein politisches Gemeinwesen – ob es die Bedingungen der Staatlichkeit erfüllt oder nicht – zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass in ihm bestimmte Menschen das Recht besitzen oder zumindest den Besitz des Rechts beanspruchen, zum Zweck der Bewahrung oder der Förderung eines wie auch immer gearteten Allgemeinwohls85, die Lebensführung ihrer Mitmenschen – aber auch ihre eigene, insofern sie den von ihnen erlassenen Gesetzen unterworfen sind, was aber nicht immer und unbedingt der Fall sein muss86 – zu regeln, und diese Regelung notfalls durch Rückgriff auf Sanktionen oder im Extremfall sogar mit Gewalt durchzusetzen bzw. selbst diese Sanktionen oder diese Gewalt über sich ergehen zu lassen, wenn sie die Gesetze verletzen. Wichtig ist, dass die Eingriffe in die Lebensführung im Namen eines zu fördernden Gutes geschehen, das meistens als Allgemeinwohl bezeichnet wird. Dieses kann entweder als ein Wohl betrachtet werden, das neben oder über dem Wohl aller die Gemeinschaft bildenden Individuen steht, oder es kann sich lediglich um die bloße Aggregation der Individualwohle handeln. Dass solche Eingriffe in die Lebensführung der Individuen laut offizieller Verlautbarung im Namen des Gemeinwohls geschehen, schließt nicht aus, dass sie eigentlich nur den Herrschenden nützen und die offizielle Verlautbarung demnach eine bloße Augenwischerei ist – ein ideologischer Schleier. Wichtig für unsere Zwecke ist hier, dass es in einem politischen Gemeinwesen eine Instanz gibt, die dafür zuständig ist, das Allgemeinwohl zu bewahren oder zu fördern. Im Hinblick auf die Religion stellen sich diesbezüglich zwei Fragen. Bei der ersten, prinzipiellen, geht es darum zu wissen, ob die Religion konstitutiv für das Allgemeinwohl ist. Wenn sie es ist, kommt das politische Gemeinwesen, will es seine Aufgabe erfüllen, nicht daran vorbei, die Religion zu schützen oder zu fördern.87 Bei der zweiten Frage wird die Religion nicht als konstitutiver Bestandteil 85 86 87

Das unabhängig vom Wohl der Individuen definiert werden kann, das aber auch in der Summe der „Individualwohle“ bestehen kann. Im Absolutismus ist der Herrscher seinen eigenen Gesetzen oder denjenigen seiner Vorgänger nicht unterworfen bzw. kann er die vorgefundenen, vom menschlichen Willen gemachten Gesetze immer ändern. Paley hat dem Argument seine Standardformulierung gegeben: „Wenn wir zugestehen, dass es dem Gesetz entspricht, dass das Staatsoberhaupt [magistrate] in die Religion eingreift, immer wenn ihm ein solcher Eingriff in seiner allgemeinen Tendenz für das öffentliche Glück förder-

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des Allgemeinwohls betrachtet, sondern sie wird im Hinblick auf ihren möglichen instrumentellen Charakter betrachtet: Spielt die Religion eine instrumentelle Rolle bei oder für die Bewahrung und Förderung des Allgemeinwohls? Ist dies der Fall, gilt es zu wissen, ob Religion ein absolut notwendiges Instrument darstellt oder ob prinzipiell auf sie verzichtet werden kann. Für den politischen Liberalismus, und damit komme ich zu einem zweiten problematischen Begriff in der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Fragestellung, ist die individuelle Freiheit ein wesentlicher Bestandteil des Allgemeinwohls. Der Liberalismus, so wie ich ihn hier verstehe, geht davon aus, dass jedem Individuum – zumindest jedem erwachsenen, seiner Vernunft mächtigen, adäquat informierten und auf seine Vernunft hörenden Individuum – a priori ein Recht zugestanden werden muss, sein Leben so zu führen, wie es dies für richtig hält. Hierum ging es vor allem im klassischen Liberalismus, der sich auf die Handlungsfreiheit der Individuen fokussierte und der sicherstellen wollte, dass jede diesbezügliche Einschränkung einer Rechtfertigung bedarf, der prinzipiell jedes betroffene Individuum zustimmen kann88. Diese rechtfertigungstheoretische Pointe ist charakteristisch für den zeitgenössischen politischen Liberalismus, der sich vor allem auf den politischen Diskurs fokussiert. Zu dieser Lebensführung gehört auch die „Gedankenführung“, so dass dem Individuum auch a priori ein Recht zugestanden werden muss, seine Gedanken in jene Richtung zu lenken, die es für richtig hält.89

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lich erscheint; kann man, von dieser zugestandenen Prämisse ausgehend, argumentieren, dass, insofern das ewige Seelenheil das höchste Interesse der Menschheit ist und insofern und daraus folgend, die Förderung von diesem [scil. Seelenheil – N. C.] das öffentliche Glück auf die beste Weise und in höchstem Maße fördern wird, in welchem man es überhaupt fördern kann, als Schlussfolgerung folgt, dass es nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht eines jeden Staatsoberhauptes ist, der über die höchste Macht verfügt, seinen Untertanen jene Religion aufzuzwingen, von welcher er glaubt, sie sei Gott am gefälligsten; und sie mit jenen Mitteln aufzuzwingen, die für den gesuchten Zweck am wirksamsten erscheinen“ (Paley 2002, S. 408–409). Wie Paley selbst zugibt, folgt diese Schlussfolgerung aus seinen eigenen Prämissen, ist aber gleichzeitig unannehmbar. Um dem hier entstehenden Problem zu entgehen, macht Paley darauf aufmerksam, dass er von einer allgemeinen Tendenz der Handlungen spricht. Da es aber, so wird zumindest vorausgesetzt, viele falsche Religionen und nur eine wahre Religion gibt, und da eine falsche Religion das wahre Glück nicht fördert, kann man nicht aus seinen Prämissen schließen, dass jedes Staatsoberhaupt das Recht und die Pflicht hat, seinen Untertanen eine Religion aufzuzwingen. Bardon weist mit Recht darauf hin, dass man hier zwischen einem starken „acceptable by all“ und einem schwachen „accessible to all“ unterscheiden sollte (Bardon 2016, S. 281). Von diesen beiden sollte noch das aus dem römischen Recht stammende Quod omnibus tangit unterschieden werden, das eher einer demokratischen als einer rein liberalen Logik zugeordnet werden muss: Wenn etwas alle Mitglieder einer Gemeinschaft betrifft, dann sollten alle (dazu fähigen) Mitglieder dieser Gemeinschaft darüber abstimmen. Ein Individuum kontrolliert seine Gedanken selbstverständlich nicht so wie es seine Handlungen kontrollieren kann. Mit der Freiheit der Gedankenführung soll hier die Freiheit verstanden werden, sich denjenigen intellektuellen Einflüssen aussetzen zu dürfen, die man für richtig hält. Wenn ich glaube, dass die Lektüre des Kommunistischen Manifests meine Gedankenführung positiv beeinflussen kann, dann muss ich das Buch lesen können – außer die Lektüre würde unmittelbar die Rechte einer anderen Person derart verletzen, dass die Rechte dieser Person Vorrang vor meinem Recht haben.

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Die Beweislast liegt in dieser Hinsicht nicht auf den Schultern des Individuums, sondern auf denjenigen der politischen Autorität. Nicht das Individuum muss beweisen, dass es eine bestimmte Handlung H ausführen darf, sondern die politische Autorität muss beweisen, dass das Individuum kein Recht hat, H auszuüben oder dass es zumindest unter den gegebenen Bedingungen kein solches Recht genießt bzw. dass es unter den gegebenen Bedingungen kein Recht hat, sein Recht auszuüben. Um diesen Beweis zu liefern, muss die politische Autorität zeigen können, so wird zumindest im Rahmen des liberalen Denkens vorausgesetzt, dass die Handlung H die Rechte eines anderen Individuums verletzt. Nur solche Handlungen dürfen gesetzlich untersagt werden, die die Rechte anderer Individuen verletzen, wobei aber immer abzuwägen ist, ob die Verletzung derart gravierend ist, dass sie das Verbot einer Handlung rechtfertigt. Der liberale Staat schützt die Rechte der das politische Gemeinwesen bildenden Individuen, und er tut dies u. a. dadurch, dass er rechtsverletzende Handlungen untersagt und diejenigen Individuen oder Gruppen sanktioniert, die solche Handlungen ausüben. Im zeitgenössischen Liberalismus wird in diesem Zusammenhang oft zwischen der Gerechtigkeit und dem guten Leben unterschieden, und es wird darauf aufmerksam gemacht, dass in einem liberalen politischen Gemeinwesen der Staat die Gerechtigkeit – verstanden als Achtung der individuellen Rechte – durchsetzen darf und sogar soll, dass es ihm aber nicht gestattet ist, eine bestimmte Auffassung des guten Lebens zu fördern oder gar durch Sanktionsandrohungen durchzusetzen. Der Staat garantiert einen öffentlichen Raum innerhalb dessen Grenzen die Menschen unterschiedliche Auffassungen des guten Lebens verfolgen können, ist aber selbst gegenüber diesen Auffassungen neutral. Dabei sollen die Individuen sowohl gegen staatliche Eingriffe geschützt werden – was u. a. durch ein System der Gewaltenteilung und der damit verbundenen checks and balances geschieht –, als auch gegen Übergriffe ihrer Mitbürger – hier liegt der eigentliche Aufgabenbereich der öffentlichen Ordnungskräfte. Soweit ich den Liberalismus bisher skizziert habe, entspricht er dem minimalistischen Modell, wie es u. a. der französische Philosoph Ruwen Ogien seit einigen Jahren vertritt.90 Der Minimalismus ist dabei der Widerpart des Maximalismus – dessen Spuren oder Ursprung Ogien bis in den Millschen Liberalismus verfolgt.91 Während letzterer die These vertritt, dass man in die Lebensführung eines anderen Menschen eingreifen darf, um dessen eigenes Wohl zu schützen oder zu fördern, und dass solche Eingriffe auch dann gerechtfertigt sind, wenn die betreffende Lebensführung keine Rechte verletzt – oder zumindest keine solchen Rechte die menschliche Grundgüter wie das Leben oder die körperliche Integrität schützen –, 90 91

Siehe etwa Ogien 2007. Im Gegensatz zu Bentham, der sich eines jeden Urteils über eine mögliche Hierarchie der Lüste enthielt, stellt Mill eine solche Hierarchie auf und legt somit den Grundstein für eine – wenn nicht gesetzliche, so doch vielleicht soziale – Diskriminierung derjenigen, die nur nach der Befriedigung ihrer niederen Lüste streben. Es sei auch nicht vergessen, dass Mill die Kolonisierung, insofern sie mit der Aufklärung der „Wilden“ verbunden war, guthieß – aber die Selbstregierung für diejenigen forderte, die aufgeklärt worden waren.

Kapitel 3: Staat, Religion, Liberalismus: Begriffserklärung

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behauptet der Minimalismus, dass Eingriffe in die Lebensführung eines „normalen“ Erwachsenen nur dann gerechtfertigt sind, wenn dies zum Schutz fundamentaler Rechte anderer Personen notwendig ist.92 In den modernen liberalen Gesellschaften besteht ein großes – und sicherlich immer größer werdendes – Problem darin, die wirklich fundamentalen Rechte der Individuen zu identifizieren. Ein schon fast als alles allumfassend auftretendes Recht auf Nichtdiskriminierung bringt es mit sich, dass der Staat immer mehr Gesetze gegen Diskriminierungen erlässt und damit der Entscheidungsfreiheit der Individuen immer engere Grenzen setzt. Der moderne liberale Staat begnügt sich also nicht mehr bloß damit, selbst nicht aus religiösen Gründen zu diskriminieren – und etwa jemanden nicht in den öffentlichen Dienst zuzulassen, weil er Atheist ist –, sondern er erlässt auch immer öfter Gesetze, die Privatindividuen oder privaten Institutionen ein religiöses Diskriminierungsverbot auferlegen. Das kann dazu führen, dass eine katholische Privatschule keinen Lehrer wegen Atheismus vom Amt suspendieren kann – sofern der Atheismus des Lehrers sich nicht auf seinen Unterricht auswirkt.93 Mag die minimalistische Variante des Liberalismus – die man gegebenenfalls auch als Libertarismus bezeichnen kann – tatsächlich von einigen liberalen Autoren vertreten worden sein, so sollte man den politischen Liberalismus doch nicht auf diese minimalistische Variante reduzieren bzw. so tun, als ob ein Abweichen von dieser minimalistischen Variante durch einen bestimmten Autor – etwa John Stuart Mill – mit einem Teilverrat am Liberalismus gleichzusetzen ist. Ein wohlverstandener politischer Liberalismus sollte sich nicht nur darum bemühen, das Recht eines jeden auf eine möglichst freie Lebensführung zu behaupten, sondern er sollte sich auch darum bemühen, nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen freien Lebensführung zu fragen, um sich gleich daran anschließend zu fragen, ob und in welchem Maße die politische Autorität in die freie Lebensführung der Individuen eingreifen darf und soll, um ihnen, oder ihren Nachfolgern, auch in Zukunft eine solche freie Lebensführung zu garantieren. Auch wenn ich meinen Nachbarn jetzt nicht durch meine Lebensführung bedrohe, so kann meine jetzige Lebensweise doch dazu führen, dass ich mich zu jemandem entwickle, der seinen Nachbarn in Zukunft bedrohen kann. Oder allgemeiner formuliert: auch wenn wir uns jetzt noch nicht respektlos verhalten, so kann unsere jetzige Lebensweise uns dazu führen, dass wir nach und nach den Respekt gegenüber unseren Mitmenschen verlieren. Und je mehr wir den Respekt gegenüber unseren Mitmenschen verlieren, je mehr sich also 92

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Ich habe hier Ogiens Überlegungen vereinfacht. Er macht nämlich einen doppelten Unterschied, und zwar einerseits den Unterschied zwischen einem ethischen Minimalismus und Maximalismus, und andererseits zwischen einem politischen Minimalismus und Maximalismus. Der ethische Minimalismus behauptet, dass man die Lebensführung anderer Menschen nicht ethisch bewerten und diese Bewertung gegebenenfalls zur Basis einer sozialen Diskriminierung oder öffentlichen Kritik machen sollte. Der politische Minimalismus seinerseits behauptet, dass der Staat sich nicht in die Lebensführung der Individuen einmischen sollte, solange die Individuen die Rechte anderer nicht verletzen. Auch dürfen die Besitzer eines Bed-and-breakfast innerhalb der EU keinen homosexuellen Kunden den Zugang zu einem gemeinsamen Schlafzimmer verwehren, wie es in einem Urteil der Straßburger Richter festgehalten wurde.

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die sogenannten „Inzivilitäten“94 vermehren, umso größer wird das Risiko, dass der Ruf nach mehr Staat oder nach mehr staatlichen Eingriffen in die Lebensführung der Menschen laut wird. Ein liberaler Staat sollte also nicht nur darauf achten, jetzt nicht in bestimmte Gebiete der individuellen Lebensführung einzugreifen, sondern er sollte auch verhindern dass eine Situation entsteht, die ihn möglicherweise in Zukunft dazu zwingen kann – falls er seine Aufgaben erfüllen will –, immer mehr in diese Lebensführung einzugreifen.95 Wer den Minimalismus wertschätzt, sollte sich die Frage stellen, wie man ihn auf Dauer erhalten kann. Diese Frage wird aber von Ruwen Ogien vernachlässigt. Doch genau sie nimmt einen zentralen Platz im Denken der klassischen liberalen Denker ein. Insofern ist Craiutu zuzustimmen, wenn er von einer Verarmung des zeitgenössischen anglo-amerikanischen Liberalismus spricht, wie er sich vor allem in Anschluss an Rawls entwickelt hat (Craiutu 2003, S. 290). Dieser Liberalismus befasst sich vor allem mit abstrakten und prinzipiellen Fragen oder mit dem Entwurf bestimmter Institutionen, die nach den allgemeinen Prinzipien funktionieren. Ausgeklammert werden dabei jedoch die Bedingungen, unter denen diese Institutionen funktionieren müssen. Es ist nun aber, so Craiutu, das Verdienst der liberalen Denker des XIX. Jahrhunderts – und der Autor erwähnt hier Guizot, aber was er sagt, trifft auch auf viele andere Liberale des XIX. Jahrhunderts zu –, dass sie „versucht haben, die kulturellen und institutionellen Voraussetzungen des politischen Lebens zu verstehen versucht haben und über die vielfältigen Weisen nachgedacht haben, auf denen soziale und moralische Faktoren das Funktionieren der politischen Institutionen beeinflussen“ (Craiutu 2003, S. 290).96 Und damit lässt sich der Übergang zum dritten Grundbegriff der Fragestellung machen, denn die Religion wurde von den klassischen Denkern als eines jener Elemente betrachtet, durch die ein Staat davon abgehalten werden kann, in die freie Lebensführung der Individuen einzugreifen und die den Menschen dazu bewegen können, seine Rechte und seine Freiheit zu verteidigen. Doch was soll man unter Religion verstehen? Rein etymologisch gesehen werden meistens zwei mögliche Ursprünge genannt: „religere“ und „relegere“. Sieht man von dieser zweiten Möglichkeit ab, so bleibt noch der Gedanke einer Verbindung: Die Religion verbindet. Sie verbindet Menschen untereinander, insofern sie eine Religionsgemeinschaft bilden, also eine Gruppe von Menschen, die einen bestimmten religiösen Glauben teilen und in diesem Glauben einen wesentlichen Teil ihrer Identität sehen. Aber die Religion verbindet die Menschen auch mit etwas, das von ihnen unabhängig ist, das, in einem ontologischen Sinn, über ihnen steht und zugleich auch eine 94 95 96

Im Französischen hat sich seit einigen Jahren das Wort „incivilités“ eingebürgert, das ich hier einfach verdeutsche. In der Vergangenheit hätte man einfach von schlechten Manieren gesprochen. Eine solche präventive Logik sollte allerdings mit größter Vorsicht angewendet werden. Ich glaube, dass Dworkin auch eine solche Verarmung des liberalen Diskurses anspricht, wenn er behauptet, dass während Jahrzehnten die Füchse die Oberhand u. a. im politisch-philosophischen Diskurs hatten (Dworkin 2011, S. 2). Die Füchse wissen viel, wohingegen der Igel nur eine Sache weiß, aber dafür ist es eine große: Wie man leben soll, um gut zu leben. Dworkin will, und das erklärt den Titel des Buches, den vernachlässigten Igeln Gerechtigkeit widerfahren lassen.

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Quelle von Verpflichtungen ist, die unabhängig von ihren Willensentscheidungen existieren, und insofern nicht erst durch diese Willensentscheidungen entstehen, noch durch sie außer Kraft gesetzt werden können. Der Mensch ist also mit einer die rein empirische, naturwissenschaftlich feststellbare transzendierende Ordnung verbunden, und er ist auch an diese Ordnung gebunden. Wir werden sehen, dass dieser Aspekt eine wichtige Rolle im Liberalismus spielt, und dass die Rückbindung an eine solche Ordnung als eine Bedingung der Freiheit und der Bewahrung der Freiheit gesehen wird. Grundsätzlich – und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – kann man zwischen einem religiösen Glauben, religiösen Riten, einer religiösen Gemeinschaft und einer religiösen Autorität unterscheiden. Die religiösen Riten sind mit dem religiösen Glauben verbunden – auch wenn man sich prinzipiell einen religiösen Glauben ohne äußere Riten vorstellen kann (aber nicht umgekehrt). Die religiöse Gemeinschaft ist die Gemeinschaft aller Individuen, die sich zu einem gegebenen religiösen Glauben bekennen und gegebenenfalls bestimmte religiöse Riten durchführen. Die religiöse Autorität steht an der Spitze der religiösen Gemeinschaft – auch wenn es prinzipiell religiöse Gemeinschaften ohne religiöse Autorität geben kann – und kann u. a. den religiösen Glauben und die religiösen Riten bestimmen, sowie die allgemeinen Organisationsregeln der religiösen Gemeinschaft. Aus dem eben Gesagten geht hervor, dass man vom religiösen Glauben als Grundbegriff ausgehen muss. Wo es keinen religiösen Glauben gibt – nicht einmal einen vorgetäuschten – kann es auch die anderen hier genannten Phänomene nicht geben. Was also ist ein religiöser Glaube bzw. was genau macht das Religiöse eines religiösen Glaubens aus? In seinen Ausführungen zu Auguste Comtes Positivismus, weist John Stuart Mill darauf hin, dass eine Religion nicht unbedingt den Glauben an einen – in erster Linie persönlichen – Gott voraussetzt, wie man dies zunächst einmal glauben könnte und wie das gewöhnliche Verständnis des Wortes es – wie Mill selbst zugibt – nahelegt. Religionen können unterschiedliche Formen annehmen: Manche kennen nur einen Gott (Judentum, Christentum, Islam), andere mehrere (Hinduismus), und andere wiederum gar keinen (Taoismus). Mag auch der Glaube an Gott ein hinreichendes Kriterium sein, so sollte man einen solchen Glauben aber nicht auch als notwendiges Kriterium ansehen. Laut Mill ist eine Religion durch zwei wesentliche Elemente gekennzeichnet, die man, so interpretiere ich Mill, als notwendig und hinreichend bezeichnen kann. Einerseits, so Mill, findet man einen Glauben oder eine Überzeugung, die eine Autorität über das gesamte Leben des Menschen beanspruchen. Die religiösen Glaubenssätze geben nicht nur Antworten auf Fragen, die lediglich Teilaspekte unseres Lebens betreffen, sondern sie setzen diese Teilaspekte immer in den Rahmen eines Gesamtzusammenhangs, und es ist diese Einbettung, die den Teilaspekten einen allgemeinen Sinn geben.97 Eine Religion gibt Antworten auf sogenannte letzte Fragen.98 Dieser Glaube, den Mill als willentlich angenommen beschreibt, betrifft das 97 98

Für die Gläubigen bestimmter Religionen bestimmt nicht primär das Wetter, die Mode oder der Komfort die Kleidung, die sie tragen, sondern die religiösen Vorschriften. So etwa auch Martha Nussbaum 2008. S. 168.

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gesamte Schicksal und auch die übergeordneten Pflichten des Menschen. Es handelt sich also um ein Glaubenssystem, dem alle menschlichen Handlungen untergeordnet werden müssen und das auch einen Rahmen abgibt, innerhalb dessen der Mensch sich und seinen Platz im Universum denkt.99 Neben diesem in erster Linie intellektuellen Element muss es aber auch ein Gefühl geben, das mit diesem Glauben einhergeht.100 Allein dieses Gefühl, so Mill, vermag es, dem Glauben eine wirkliche Autorität über das Leben und die Handlungen des Gläubigen zu geben (Mill 2006a, S. 332).101 Dass sich dieser Glaube und dieses Gefühl auf ein – als existent gedachtes – Objekt beziehen, kann von Vorteil sein, ist aber laut Mill nicht notwendig, ebenso wie es nicht notwendig ist, dass dieses Objekt als Person, also als persönlicher oder gar anthropomorpher Gott, gedacht wird.102 Mill geht also von einem Glauben aus, der mit einem Gefühl in Verbindung steht oder gebracht werden kann, so dass das Gefühl uns dazu motiviert das zu tun, was der Glaube von uns verlangt. Für sich genommen besitzt der Glaube noch keine motivierende Kraft. Der Mensch wird noch nicht schon durch eine intellektuelle Vorstellung und den mit ihm verbundenen Glauben, dass es sich in Wirklichkeit so verhält, wie es die Vorstellung nahelegt, zum Handeln veranlasst, sondern nur ein Gefühl kann ihn zum Handeln bringen. Fehlt das Gefühl, so ist der Glaube sozusagen wirkungslos und träge bzw. es gelingt ihm nicht, sich gegen Leidenschaften und Begierden durchzusetzen. Um den Egoismus in sich zu besiegen, genügt es nicht zu 99

Mit Platz ist hier nicht so sehr der „topographische“ Platz gemeint, als vielmehr der „axiologische“ Platz. Die Religion sagt dem Menschen, welchen Wert er im Vergleich zu allen anderen existenten Entitäten hat. In der Vergangenheit haben manche Menschen die axiologische Zentralität durch eine topographische verdeutlicht: da der Mensch die Krone der Schöpfung ist, lebt er auf einem Planeten, der im Zentrum des Universums steht. 100 Thomas Nagel spricht in diesem Kontext von einem „religiösen Temperament“: Menschen mit einem solchen Temperament glauben einerseits, dass es eine sie transzendierende Kraft gibt, und sie wollen andererseits im Einklang mit dieser Kraft leben, d. h. sie wollen ihr kleines Ich transzendieren und es als Teil von etwas Größerem betrachten (Nagel 2010, besonders Kapitel 1). 101 In seinem Essay ‚Utility of Religion‘ schreibt Mill, dass das Wesen der Religion darin besteht, unsere Leidenschaften und Begierden auf ein ideales Objekt hin zu orientieren. Dieses Objekt wird als höchstes Gut konzipiert und als solches kann es rechtmäßig beanspruchen, allen Objekten übergeordnet zu sein, die für uns einen Wert nur deshalb besitzen, weil unsere eigennützigen Begierden sich auf sie beziehen (Mill 2006, S. 422). 102 Neuere Definitionsversuche der Religion weichen nicht grundsätzlich von Mills Definition ab. So definiert Perry die Religion als „eine Menge von Glaubenssätzen darüber, wie man auf eine tiefe persönliche und letztendlich sinnvolle Weise mit der Welt – mit dem „Anderen“ und der „Natur“ – und, vor allem, mit der Letzten Wirklichkeit verbunden sein kann“ (Perry 1993, S. 70). Zentral ist hier der Gedanke einer letzten Realität, die als Quelle aller Sinngebung fungiert, und mit welcher der Mensch nicht nur intellektuell, sondern auch gefühlsmäßig verbunden ist. Diese letzte Realität ist nicht unser eigenes Ich, sondern etwas außer ihm Liegendes, das ihm als Sinnquelle erscheint. In diesem Sinne konnte Max Stirner schreiben, der Liberalismus sei Religion „darum, weil er ‚den Menschen‘ in demselben Sinne erhöht, wie irgendeine andere Religion ihren Gott oder ihren Götzen, weil er das Meinige zu einem Jenseitigen, weil er überhaupt aus dem Meinigen, aus meinen Eigenschaften und meinem Eigentum, ein Fremdes, nämlich ein ‚Wesen‘ macht […]“ (Stirner o. D., S. 170).

Kapitel 3: Staat, Religion, Liberalismus: Begriffserklärung

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glauben, dass man nur Teil eines größeren Ganzen ist, dem man sein eigenes Wohl unterordnen muss, sondern es muss sich ein Gefühl der Zugehörigkeit hinzugesellen, und erst kraft dieses Gefühls kann der Egoismus überwunden werden. Allerdings ist ein inerter religiöser Glaube immer noch ein religiöser Glaube, so dass Mills zweites Element eigentlich kein notwendiges definitorisches Element ist, sondern eher ein Element das notwendig präsent sein muss, damit aus dem religiösen Glauben auch ein diesem Glauben gemäßes Handeln fließt. Das Gefühl ist anders ausgedrückt notwendig, damit der Glaube sich durchsetzt, damit also religiöses Handeln möglich wird bzw. ein Handeln, das sich an dem religiösen Glauben orientiert. Es ist kein definitorisches Element des religiösen Glaubens, wohl aber des religiösen Handelns. Definiert man dementsprechend die Religion als etwas, das sich aus einer Glaubens- und einer Handlungskomponente zusammensetzt, dann sind die beiden von Mill unterschiedenen Elemente tatsächlich notwendige Elemente. Worin besteht laut Mill der konkrete Inhalt des Glaubens? Erinnern wir daran, dass es sich bei dem religiösen Glauben um einen Glauben handelt, der unser ganzes Menschsein involviert und der den Anspruch erhebt, über alle Dimensionen unseres Menschseins zu herrschen. Wenn der religiöse Glaube spricht, dann müssen alle anderen Stimmen in mir verstummen. Insofern kann der religiöse Glaube als souveräner Glaube bezeichnet werden: er bestimmt, inwiefern den anderen Stimmen in mir Rechnung getragen wird. Diese anderen Stimmen müssen sich vor ihm rechtfertigen, ohne dass er sich seinerseits vor einer dieser vielen Stimmen zu rechtfertigen hätte. Indem er sich auf unser ganzes Menschsein bezieht, bezieht er auch Stellung zum menschlichen Schicksal und zu den mit diesem Schicksal verbundenen Pflichten. Der religiöse Glauben denkt den Menschen also als Teil eines größeren Ganzen, und indem Mill von Schicksal (destiny) spricht, gibt er zu verstehen, dass diese Ganze nicht einfach dem Zufall untersteht, sondern dass es auf ein Ziel hin ausgerichtet ist, so dass die menschlichen Pflichten sich vor dem Hintergrund dieses Zieles rechtfertigen lassen. Der Mensch sieht sich also nicht als Individuum auf einer großen Bühne, ohne dass ihm eine bestimmte Rolle als Mensch zuerteilt worden wäre, sondern seine Rolle als Mensch wird durch die „destiny“ festgelegt. Und diese Rolle hat Vorrang vor allen anderen Rollen. Dieser Glaube, sagt Mill, muss auch freiwillig und bewusst angenommen worden sein (deliberately adopted). Hier geht Mill wahrscheinlich einen Schritt zu weit. Es ist zwar nachvollziehbar, dass er einem unter Zwang geäußerten Bekenntnis zu einem religiösen Glauben die Qualität des religiösen Glaubens absprechen will. Wer unter Zwang sagt „Ich glaube an Gott“, glaubt erstens nicht an Gott und dieser fehlende Glaube kann demnach, zweitens, auch nicht sein ganzes Sein bestimmen. Doch warum sollte ein Glaube, in den man sozusagen hineingewachsen ist, ohne dass man sich jemals bewusst für ihn entschieden hat, nicht auch als religiöser Glaube gelten? Ein „blinder“ religiöser Glaube mag zwar blind sein, ist aber nichtsdestotrotz immer noch ein religiöser Glaube. Aber vielleicht wollte Mill hier die Religion im strengen Sinn des Wortes vom Aberglauben abgrenzen. Beide würden sich nicht durch ihren Inhalt unterschei-

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den – die Religion glaubt an den wahren, also existenten Gott (falls man sich hier einmal auf Religionen beschränkt, die einen Gott anerkennen), der Aberglaube an falsche, also inexistente Götter –, und auch nicht durch die Art und Weise, wie man sich die Götter und unseren Einfluss auf sie vorstellt – der Aberglaube meint, wir könnten Gott oder die Götter durch unsere Geschenke oder Gebete beeinflussen –, sondern durch die Art und Weise, wie man glaubt.103 Aberglaube wäre ein blinder Glaube, Religion ein aufgeklärter. Der religiöse Mensch hat sich für den Glauben entschieden, nachdem er festgestellt hat, dass er, mit Kant gesprochen, innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft verbleibt. Der abergläubische Mensch hingegen glaubt, ohne dass er seinen Glauben jemals vor den den Richterstuhl der Vernunft geführt zu hat, um ihn dort auf seine Vernunftgemäßheit zu prüfen. Das bedeutet nicht, dass der Inhalt dieses Glaubens diese Prüfung nicht bestehen wird, sondern nur, dass er solange als Aberglaube zu gelten hat, wie er sich dieser Prüfung nicht gestellt hat und als innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft verbleibend erkannt wurde. Wichtiger für unsere Zwecke ist aber Mills Zusatz zu seiner Definition. Eine Religion, so Mill, setzt nicht unbedingt den Glauben an eine Gottheit voraus. Sie setzt nicht einmal den Glauben an ein tatsächlich existierendes Objekt voraus. Als Beispiel führt Mill Auguste Comtes religion de l’humanité an. Comte, so Mill, hat aus seiner Philosophie eine Religion gemacht, indem er aus der Idee der Menschheit das funktionale Äquivalent der Gottheit gemacht hat. Auch wenn Comte die Menschheit als „Etre suprême“, also als höchstes Wesen bezeichnet104, scheint sie bei ihm keine als solche schon in ihrer Vollkommenheit existierende Entität zu sein, sondern etwas, das die Menschen erst zu verwirklichen haben.105 Diese Verwirklichung einer überindividuellen Idee ist die höchste Pflicht eines jeden Individuums und alle anderen individuellen Belange und Wünsche müssen in den Hintergrund treten. Mill selbst wird sich durch diese Comtesche Idee beeinflussen lassen und eine religion of humanity entwerfen.106 103 Zum Begriff des Aberglaubens, siehe Martin 2004. Martins These lautet, dass die Griechen und Römer unseren neuzeitlichen Begriff des Aberglaubens noch nicht kannten, und dass unser Begriff erst mit der Entwicklung der modernen Wissenschaft entstanden ist. Die moderne Definition des Aberglaubens, so Martin, muss vor dem Hintergrund der modernen Definition der Wissenschaft verstanden werden, so dass der Aberglaube sich ganz allgemein als das Andere der Wissenschaft verstehen lässt (Martin 2004, S. 12). Unter diesen Umständen versteht man, warum szientistische Atheisten jede Religion als Aberglauben ansehen, da für sie jede Religion als das Andere der Wissenschaft erscheint. Dabei kann der Szientismus – der Glaube, dass die Naturwissenschaften prinzipiell alles erklären können – u. U. selbst zu einem Aberglauben werden. Die Naturwissenschaftler die dem szientistischen Aberglauben nicht verfallen sind, sind sich meistens der Tatsache bewusst sind, dass es Dinge gibt, die nicht im Rahmen der Naturwissenschaften erklärt werden können. 104 Comte 1966, S. 69. 105 Kant hätte gesagt, dass es sich bei der Comteschen Menschheit nicht um eine konstitutive, sondern bloß um eine regulative Idee handelt. 106 In seiner Autobiographie befasst sich Mill an einigen Stellen mit dem Thema der Religion. Im ersten Teil geht es ihm vor allem darum zu zeigen, dass er den religiösen Glauben eigentlich nie abzuwerfen brauchte, da er einen solchen Glauben nie hatte (Mill 1989, S. 52). Allgemein relevanter als diese autobiographischen Angaben sind die Überlegungen im Schlussteil des Bu-

Kapitel 3: Staat, Religion, Liberalismus: Begriffserklärung

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Fassen wir zusammen. Der Staat schreibt dem Menschen verbindliche und zwangsbewehrte Handlungsnormen – Gesetze – vor, durch die das gesellschaftliche Zusammenleben friedlich und geordnet vonstatten gehen soll. Auf absehbare Zeit ist ein friedliches und geordnetes menschliches Zusammenleben ohne Staat – oder funktionale Äquivalente – nicht möglich. Mag auch eine sich selbst ordnende Anarchie der Traum eines jeden Liberalen sein, so ist ein solcher Zustand eben nur ein Traum. In der real existierenden Welt kommt der Liberalismus nicht umhin, den Staat zu denken, wobei er sich nicht mit einer Kritik der bestehenden nichtliberalen Staatsformen begnügen kann, sondern auch das Modell eines liberalen Staats entwerfen muss. Der Liberalismus legt einen großen Wert auf Frieden und Ordnung, aber da er diese nicht als Selbstzweck, noch als bloß im Interesse der Regierenden und ihrem Wunsch nach Machterhaltung stehend sieht, sondern als Bedingungen der Möglichkeit des freien Lebens der Individuen, verlangt er, dass die vom Staat erlassenen Gesetze auf das notwendige Minimum reduziert werden und dass sie nicht das Produkt der menschlichen Willkür sind. In einem idealen liberalen Staat werden demnach nur solche Gesetze erlassen, ohne die die Freiheit der Individuen nicht garantiert werden könnte. Bei jedem Gesetz wird es heißen: es ist so, weil es so sein muss. Und nicht, wie es bei den französischen Königen üblich war: car tel est notre bon plaisir (frei übersetzt: Weil wir das so wollen). Die Religion widersetzt sich der Reduktion der Wirklichkeit und damit auch des Menschen auf sein kontingentes empirisches Dasein und denkt ihn als Teil einer ihn transzendierenden Ordnung. Integriert man den Freiheitsgedanken in die Religion, dann lässt sich Freiheit nicht auf die Möglichkeit reduzieren, seine kontingenten empirischen Begierden und Leidenschaften zu befriedigen. Die im Rahmen der Religion gedachte menschliche Freiheit bzw. die als Religion gedachte menschliche Freiheit ist immer die Freiheit eines Wesens, das mehr ist als die Summe seiner empirischen Begierden und Leidenschaften. Die Freiheit, unsere kontingenten und empirischen Begierden und Leidenschaften zu befriedigen, ist keine Freiheit, deren Verwirklichung uns als Gegenstand einer Pflicht erscheinen könnte. Eine Pflicht, und vor allem eine absolute Pflicht, wie Mill sie im Rahmen seiner Definition der Religion denkt, kann nämlich von uns das Opfer dieser kontingenten und empirischen Begierden und Leidenschaften verlangen. Die klassischen liberalen Autoren Constant, Humboldt, Mill und Tocqueville stechen hier besonders hervor, insofern sie die menschliche Würde als ein Absoluches. Dort stellt Mill fest, dass die alten Überzeugungen auf den Gebieten der Religion, der Moral und der Politik Schiffbruch erlitten haben und höchstens nur noch die geistige Entwicklung bremsen. Und weiter: „Wenn die philosophischen Geister der Welt nicht mehr an deren Religion glauben können, oder nur an sie glauben können, nachdem sie sie derart verändert haben, dass sie ihren wesentlichen Charakter geändert hat, dann beginnt eine Übergangsperiode, gekennzeichnet durch schwache Überzeugungen, gelähmte Intellekte, und eine wachsende Laxheit der Prinzipien, und diese Periode wird erst dann zu einem Ende kommen, wenn eine Erneuerung auf der Ebene ihres Glaubens (belief) stattgefunden hat, die zu der Entwicklung eines, religiösen oder bloß menschlichen, Glaubens (faith) führt, an den sie glauben können […]“ (Mill 1989, S. 180). Mill scheint also vorauszusetzen, dass der Mensch einen festen Glauben braucht, damit er sich in der Welt orientieren und in ihr handeln kann.

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Teil I: Einführung in die Problematik

tes begreifen.107 Die menschliche Freiheit wird vor dem Hintergrund dieser Würde gedacht: weil er Würde hat, darf der Menschen einen unbedingten Anspruch auf eine Freiheit legen, die die menschliche Würde ausdrückt und fördert. Der Glaube vieler liberaler Denker an die Existenz der menschlichen Würde ist ein Glaube, der, wie Mill es für den religiösen Glauben fordert, die Gesamtheit ihrer Existenz bestimmt. Der Glaube an diese Würde darf einerseits nicht vernachlässigt werden, d. h. die Menschen dürfen nicht vergessen, dass sie eine Würde haben, und der Glaube an diese Würde muss eine motivierende Kraft bekommen, damit das Individuum gegebenenfalls die Befriedigung seiner auf materielles bzw. sinnliches Wohlergehen gerichteten Leidenschaften und Begierden oder sogar sein individuelles Leben opfert, um den absoluten Wert der menschlichen Würde zu bekräftigen. Dies scheint nur möglich zu sein, wenn dem Glaube an die Würde ein Gefühl assoziiert wird, das, wie Mill es verlangte, stark genug ist, um dem Glauben auch einen tatsächlichen Einfluss auf unser Handeln zu geben. Indem die Religion die sinnlichen, und oft rein egoistischen Begierden und Leidenschaften des Menschen erniedrigt, erniedrigt sie auch die menschliche Willkür. Diese muss vor der Autorität des religiösen Glaubens schweigen. Die Willkür des Regierenden besitzt keine Autorität über das gesamte menschliche Leben. Insofern hat die Religion eine antiautoritäre Funktion, und kommt dem Liberalismus entgegen. Die in diesem Band behandelten Autoren sind sich durchaus der doppelten Janusköpfigkeit der Religion bewusst. Sie wissen einerseits, dass die Religion entweder in den Dienst jenseitiger oder diesseitiger Ziele gestellt werden kann. Sie wollen Religion aber nicht auf eines dieser beiden Ziele reduzieren. Insofern sie politische Schriftsteller und keine Seelsorger oder Theologen sind, gehen sie nicht auf die jenseitigen Dienste der Religion ein, sondern behandeln nur ihre diesseitigen Dienste. Und hier finden wir dann die zweite Janusköpfigkeit der Religion. Wenn sie im Dienste diesseitiger Ziele mobilisiert wird, kann sie entweder in den Dienst der Macht oder in den Dienst der Freiheit gestellt werden. Hatten die nicht-liberalen 107 Aus der Tatsache, dass bei manchen Autoren das Wort „Würde“ oder sein Äquivalent in einer anderen Sprache fehlt, darf nicht geschlossen werden, dass es für diese Autoren keine Würde gibt. Sobald jemand den Menschen als ein Wesen denkt, das sich über seine sinnlichen Begierden und Leidenschaften, also über das Biologische, erheben kann, denkt er ihn als ein Wesen mit Würde. Insofern kann auch behauptet werden, dass die Folter die menschliche Würde verletzt, da die durch die Folter zugefügten Schmerzen den Menschen dazu bringen sollen, seiner Begierde nach Leidensfreiheit nachzugeben und eine Information mitzuteilen, die er eigentlich nicht mitteilen will und hinsichtlich derer er es vielleicht sogar als Pflicht sieht, sie nicht mitzuteilen. Die Folter soll die Stimme der Pflicht zum Schweigen bringen, um der Stimme des – an sich durchaus legitimen – Wunsches nach Leidensfreiheit Gehör zu verschaffen. Die Folter zwingt das Individuum sich zu einem Wesen zu erniedrigen, das sich nicht mehr über das Biologische hinwegsetzt. Hegelianisch gesprochen könnte man sagen, dass die Folter den Herrn zwingt, zu einem Knecht zu werden. Oder genauer: Sich wie ein Knecht zu verhalten. Aus der Tatsache nämlich, dass jemand unter der Folter ausgesagt hat, folgt noch nicht, dass er die Fähigkeit verloren hat, immer dem Wunsch nach Leidensfreiheit nachzugeben und somit niemals mehr seine Pflicht zu erfüllen, wenn diese Erfüllung mit Leiden verbunden ist. Für diese Überlegungen zur Folter und ihres die Menschwürde verachtenden Charakters, schließe ich mich der Argumentation Hubert Hausemers an (Hausemer 2014).

Kapitel 3: Staat, Religion, Liberalismus: Begriffserklärung

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Autoren den ersten dieser beiden Aspekte betont und aus der Religion Argumente und Motive geschöpft, um den Gehorsam der Untertanen gegenüber den absoluten Herrschern zu untermauern108, werden die liberalen Autoren in der Religion Argumente und Motive schöpfen, um den Willen der Untertanen bzw. Bürger zu fördern oder zu erhalten, sich gegen die Unterdrückung, Missachtung oder Gefährdung ihrer Freiheit zu erheben und zu wehren. Für sie darf die Religion kein Instrument der politischen Unterdrückung sein, sie kann ein Instrument zur Erlangung des ewigen Seelenheils sein, und sie soll ein Instrument zur Bewahrung der Freiheit sein. Die Religion, so die These der meisten in diesem Buch behandelten klassischen liberalen Autoren, gibt dem politischen Liberalismus das, was er braucht. Der Liberalismus braucht erstens eine nicht-willkürlich definierte staatliche Ordnung bzw. die Möglichkeit, eine nicht-willkürlich definierte staatliche Ordnung zu definieren. Indem die Religion eine allumfassende Autorität beansprucht, muss die Willkür des Gesetzgebers sich ihr unterwerfen, so dass die staatlichen Gesetze – wenn der Gesetzgeber seine Willkür tatsächlich zum Schweigen gebracht hat – nicht der reinen menschlichen Willkür entstammen dürfen bzw. nicht alles zum Gegenstand eines Gesetzes gemacht werden kann. Dies gilt sowohl für einen monarchischen als auch für einen demokratischen Gesetzgeber. Dem politischen Liberalismus gebührt das Verdienst erkannt zu haben, dass ein auf dem demokratischen Mehrheitsprinzip beruhendes Gesetzgebungssystem genauso despotisch sein kann wie ein auf dem guten Willen eines monarchischen Fürsten beruhendes Gesetzessystem. Die Willkür der Mehrheit kann genauso unterdrückerisch sein wie die Willkür eines Einzelnen.109 Die Religion gibt dem Liberalismus zugleich ein kritisches Instrument, um bestehende Ordnungen zu beurteilen und gegebenenfalls als illegitim zu brandmarken. Insofern der Maßstab der Kritik keiner menschlichen Willkürentscheidung entspringt, kann er nicht als ein solcher dargestellt werden, der nur die Partikularinteressen des Beurteilers ausdrückt. Genauso wenig wie die staatliche Ordnung durch die Willkür des Gesetzgebers definiert werden kann, darf die Infragestellung dieser staatlichen Ordnung sich aus der reinen Willkür des revolutionären oder reformistischen Infragestellers ableiten lassen. Sowohl der Gesetzgeber als auch der sich ihm entgegenstellende Kritiker müssen sich alle beide auf eine Ordnung berufen, deren Bestimmung sich nicht aus der Willkürentscheidung eines menschlichen 108 Diese Autoren schöpfen natürlich auch aus der Religion Argumente und Motive, um die Herrschenden an den Respekt der Gerechtigkeit zu binden. 109 Der Liberalismus versteht sich als Korrektiv zur Demokratie. Er ist, so Ortega y Gasset, „das Recht, den die Mehrheit den Minderheiten gewährt“ (Ortega y Gasset 2015, S. 137). Genau diesen Liberalismus sieht Ortega aber im Massenzeitalter gefährdet. Dieses ersetzt die alte liberale Demokratie durch die „Hyperdemokratie“ der Massen (Ortega y Gasset 2015, S. 72). Diese Hyperdemokratie kann nur, so der Autor, zu einem Zeitalter der Barbarei führen. Im Gegensatz zu Tocqueville, der eine ähnliche Diagnose machte, sagt Ortega nicht genau, wodurch sich die Gefahr abwenden lässt. An einer Stelle kommt aber ein Hoffnungsschimmer zum Ausdruck: „Die Rebellion der Massen kann tatsächlich ein Übergang zu einer neuen und noch nie dagewesenen Organisation der Menschheit sein, aber sie kann auch eine Katastrophe auf dem menschlichen Schicksalsweg sein. […] Es handelt sich, streng gesprochen, um ein Drama“ (Ortega y Gasset 2015, S. 139).

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Teil I: Einführung in die Problematik

Individuums oder einer empirisch gegebenen Gruppe menschlicher Individuen ergibt. Die Religion erlaubt es dem Liberalismus, den von ihm vertretenen Wert der Würde und der mit ihr zusammenhängenden Freiheit in einer transzendenten Ordnung zu verankern. Durch diese Verankerung hören Würde und Freiheit auf, Dinge zu sein, die im Rahmen menschlicher Transaktionen verhandelbar und menschlichen Willensentscheidungen unterworfen sind. Würde und Freiheit sind das Wertvollste, was die Menschen besitzen, da sie es nämlich sind, die dem Menschen allererst einen Wert geben. Die Religion, insofern sie auch die menschliche Gefühlsebene betrifft, gibt dem liberalen Menschen die notwendige Motivation, sich für die Verteidigung der Würde und der Freiheit einzusetzen. Dabei ist der Einsatz für die Würde immer als Einsatz für die Würde überhaupt zu denken und nicht nur für meine Würde hier und jetzt. Wird die Menschenwürde eines Menschen verletzt, so wird dadurch die Würde aller Menschen verletzt. Der liberale Mensch muss an die Würde und an die Freiheit als die für den Menschen höchsten Güter glauben und sein Gefühl muss ihn zur Verteidigung der Würde und der Freiheit motivieren. Der religiöse Mensch des Christentums glaubte an seine ewige Glückseligkeit als das für ihn höchste Gut, und er versuchte, sich dieser ewigen Glückseligkeit würdig zu erweisen. Die katholische Kirche zeigte ihm den Weg zur ewigen Glückseligkeit und appellierte auch manchmal, wenn nicht sogar oft, an den Staat, um ihr bei ihren Anstrengungen beizustehen, die Menschen zur ewigen Glückseligkeit zu führen. Religiöse Sanktionen für einen lauen oder vernachlässigten Glauben und strafrechtliche Sanktionen für den Irrglauben oder den Unglauben sollten für die Bewahrung des wahren Glaubens sorgen. Wollte der Mensch nicht von selbst auf dem Weg des Glaubens bleiben, durch den er das ewige Seelenheil erlangen konnte, so durfte er notfalls durch Zwang auf diesen Weg gebracht werden, ad maiorem Dei gloriam. Darf auch der liberale Staat auf Zwangsmaßnahmen zurückgreifen, um den Glauben an die menschliche Würde bzw. an den absoluten Wert dieser Würde zu bewahren? Muss er die Bedingungen bewahren oder sogar fördern, durch welche dieser Glaube bewahrt werden kann? Gesetzt die traditionellen Religionen, oder doch zumindest einige unter ihnen, gehören zu diesen Bedingungen. Darf der liberale Staat sie unterstützen? Darf er einen Glauben fördern durch den der Glaube gefördert werden kann, der sozusagen seine Existenzgrundlage bildet? Denn der liberale Staat ist nur entstanden, weil viele Menschen an die Existenz ihrer Würde und ihrer Freiheit geglaubt haben und sich einen wirksamen Schutz dieser für sie unverhandelbaren Güter wünschten. Oder noch anders formuliert: Würden die Menschen nicht an ihre Würde glauben, verlöre der liberale Staat seine wichtigste, wenn nicht sogar seine einzige Rechtfertigung. Man kann sicherlich behaupten, dass der liberale Staat existiert, um jedem die Möglichkeit zu geben, nach seinen eigenen Vorstellungen des guten Lebens zu leben. Charles Larmore sieht im Liberalismus einen Versuch, das Problem des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen mit unterschiedlichen, aber im Rahmen des verständigen verbleibenden, Konzeptionen des guten Lebens zu lösen

Kapitel 3: Staat, Religion, Liberalismus: Begriffserklärung

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(Larmore 2015, S. 65). Der Liberalismus ist dann eine Lösung für ein Problem, das mit der Neuzeit entstand. Diese Lösung steht aber vor einem neuen Problem, und zwar vor einem Problem, das sie selbst betrifft: Wie kann die Lösung sich selbst bewahren? Wie kann man die vom friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher verständiger Konzeptionen des guten Lebens profitierenden Menschen dazu bringen, sich für den Erhalt der liberalen Institutionen einzusetzen, notfalls durch das Opfer des eigenen Lebens? In diesem Zusammenhang schreibt Larmore, dass die klassischen liberalen Autoren von einer individualistischen Ethik ausgingen, in welcher dem Gedanken der Wahl (choice) ein großer Platz zukam. Doch diese Voraussetzungen, so Larmore, sind heute sehr umstritten (Larmore 2015, S. 66). Wie sich zeigen wird, stimmt diese Aussage Larmores nicht für einige der wichtigsten liberalen Autoren. Weder Locke, noch Constant, noch Tocqueville, und sogar nicht einmal Mill können als Vertreter einer reinen individualistischen Ethik angesehen werden. Und sie können es nicht, weil sie alle, wenn auch unterschiedlich, die religiöse Perspektive in ihren Liberalismus einbauen. Am Schluss seines sich pessimistisch über die Zukunft des Liberalismus äußernden Beitrags, zweifelt Larmore an der Möglichkeit der Menschheit, sich als eine globale Gemeinschaft zu betrachten. Eine solche Betrachtung wäre laut ihm aber notwendig, um sicherzustellen, dass der Liberalismus auch auf globaler Ebene, und nicht etwa nur innerhalb eines Nationalstaates, funktioniert (Larmore 2015, S. 87). Für die klassischen Liberalen sollte der religiöse Glaube dazu beitragen, diese globale Perspektive einzunehmen und dadurch sowohl die rein individualistische als auch die rein nationalistische Perspektive zu überwinden. Für diese klassischen Liberalen kann die Religion – und für einige unter ihnen nur die Religion – dazu beitragen, den um sich grassierenden Individualismus zu bekämpfen, ohne in einen starren Kommunitarismus zu verfallen. Die Religion, und vornehmlich die christliche – und für einige von ihnen auch nur die protestantische – Religion war in der Lage, das unverzichtbare individuelle Element in eine überindividuelle Perspektive zu integrieren und es sozusagen dort, im Sinne Hegels, aufzuheben. Die Religion konnte den Menschen zugleich als ein freies Wesen denken, die Freiheit dieses Wesens aber gleichzeitig als eine solche denken, die nicht nur der Gegenstand eines Rechts, sondern auch der Gegenstand einer Pflicht war. Die Freiheit ist zwar immer auch meine Freiheit, aber es ist mehr als nur meine Freiheit. Ich bin zwar einerseits ein freier Mensch, aber andererseits bin ich immer ein freier Mensch. Und insofern dies der Fall ist, muss ich gegebenenfalls bereit sein, das Ich oder doch die Befriedigung starker Leidenschaften, Begierden oder Neigungen dieses Ichs für die Bewahrung der Freiheit zu opfern. Ohne je die Wichtigkeit der Freiheit für das Individuum zu leugnen, verweisen diese Denker immer auch auf die Spezieszugehörigkeit dieses Individuums und konzipieren demnach die Freiheit nie bloß als eine individuelle, sondern immer zugleich auch als eine menschliche. Für viele klassische Liberale wurde die Freiheit der Individuen immer auch zugleich als Mittel und nicht nur als Zweck an sich selbst gedacht. Die individuelle Freiheit war wirklich wertvoll als Instrument der Vervollkommnung, und diese Vervollkommnung wurde meistens, wenn nicht sogar immer, als Vervollkommnung

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Teil I: Einführung in die Problematik

der menschlichen Spezies gedacht. Das zu erreichende Ziel war somit kein Ziel, dessen Verwirklichung das Individuum unmittelbar erleben konnte, sondern diese Verwirklichung transzendierte das je individuelle Leben. Und dadurch entstand die Frage, wie man ein Individuum dazu bringen kann, erreichbare und erlebbare immanente Ziele zu Gunsten eines für es selbst unerreichbares und auch nicht erlebbares transzendentes Ziel zu opfern. Die in diesem Buch behandelte Debatte dreht letztendlich um die Frage der sogenannten Zivilreligion. Mit diesem Begriff wird keine bestimmte Religion bezeichnet, sondern lediglich ein bestimmter Gebrauch der Religion. Vielleicht lassen sich nicht alle Religionen als Zivilreligionen gebrauchen, aber sehr unterschiedliche Religionen – sowohl mono- als auch polytheistische – lassen einen solchen Gebrauch zu. Laut Beiner kann man dann von einer Zivilreligion sprechen, wenn die entsprechende Religion funktionalisiert wird, um die Ausübung des Bürgerseins zu fördern (Beiner 2012, S. 8). John Scheid schreibt hierzu: „Es sind die Beziehungen der politischen Gemeinschaften mit ihren Göttern, auf Erden und im Hinblick auf irdische Ziele, wie etwa der Sieg, der Erfolg oder das diesseitige Heil, die die bürgerliche Religion [religion civique] bilden, und nicht die Beziehungen mit fernen Göttern im Hinblick auf das Leben im Jenseits“ (Scheid 2013, S. 166). Die Ausbreitung der Religion verfolgt hier nicht den Zweck, mehr Menschen zu wahren Gläubigen zu machen und ihnen somit, wie es erhofft wird, die Tür zum Himmelreich oder einem sonstigen jenseitigen Heilzustand zu öffnen, sondern es geht beim Gebrauch einer Religion als Zivilreligion darum, aus diesen Menschen bessere Bürger im Rahmen eines gegebenen politischen Gemeinwesens zu machen, so dass dank dieser erhöhten Qualität des Bürgerseins das politische Gemeinwesen und die durch Letzteres verwirklichten Werte eine größere Stabilität besitzen. Der primäre Zweck der Zivilreligion besteht also in der Stabilisierung und gegebenenfalls Förderung der durch das Gemeinwesen verwirklichten Werte. D. h. dann aber auch, dass der primäre Wert einer Zivilreligion nicht in der Wahrheit ihrer auf transzendente Gegebenheiten zielenden Aussagen liegt, sondern in ihrem Beitrag zur Stabilisierung und Förderung der durch das Gemeinwesen verwirklichten Werte. Die Zivilreligion soll nicht so sehr Antworten auf die letzten Fragen um dieser Antworten selbst willen geben, sondern um durch diese Antworten ein bestimmtes Handeln bei den Menschen zu bewirken. Oder noch anders ausgedrückt: Eine Zivilreligion gibt religiös bestimmte Antworten auf politische Fragen. Beiner stellt zu Beginn seines Buches fest, dass der Liberalismus sich der Zivilreligion widersetzt, da er eine religionsfreie öffentliche Sphäre will (Beiner 2012, S. 2). Zum Schluss seiner Untersuchungen sieht Beiner sich aber zur Behauptung veranlasst, dass es „untergründige Affinitäten“ zwischen dem Liberalismus und der Zivilreligion gibt (Beiner 2012, S. 412). Ein Ziel des vorliegenden Buches ist es, diese untergründigen Affinitäten transparent zu machen und zu zeigen, inwiefern der klassische politische Liberalismus der Religion eine wichtige Rolle bei der Bewahrung und Förderung der Freiheit zusprach und inwiefern dieses Zusprechen einer wichtigen Rolle Konsequenzen für den Umgang des Staates mit der Religion bzw. mit religiösen Angelegenheiten hatte. Wenn der Staat die sich in der politischen Gemeinschaft verwirklichenden Werte bewahren und gegebenenfalls fördern

Kapitel 3: Staat, Religion, Liberalismus: Begriffserklärung

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soll, muss er dann auch dafür sorgen, dass eine diese Werte bewahrende und gegebenenfalls fördernde Religion – also eine Zivilreligion – bewahrt und gegebenenfalls gefördert wird? Muss und darf der liberale Staat eine Religion bewahren, die es ihm erlaubt, sich selbst weiter als liberaler Staat zu erhalten? Ersetzt er dadurch nicht die theologische durch eine rein politische Perspektive? Und lässt sich ein solcher Perspektivenwechsel vornehmen, ohne dass dadurch die Religion in ihrem eigentlichen Wesen verraten wird?

TEIL II: DIE THEOLOGISCHE UND DIE POLITISCHE PERSPEKTIVE

EINLEITUNG In diesem zweiten Teil wollen wir uns mit dem Unterschied zwischen einer rein theologischen oder religiösen und einer rein politischen Perspektive auf die Religion befassen. Während die erste die Wahrheit als einzig legitimes Beurteilungskriterium einer Religion betrachtet und die mögliche individuelle oder politische Nützlichkeit gänzlich von der Wahrheit abhängig macht – man könnte demnach von einem Vorrang der Wahrheit vor der Nützlichkeit sprechen –, befasst sich die politische Perspektive ausschließlich mit der Nützlichkeit der Religion und sieht von der Wahrheitsfrage ab – man interessiert sich hier höchstens für den Glauben an die Wahrheit. Wie Étienne Vacherot es 1860 formuliert hat: „Die einzige wirklich politische Frage die man über die Religion stellen kann, ist folgende: Passt sie zur Erziehung in einer demokratischen Gesellschaft?“ (Vacherot 1860, S. 43 – Hervorhebung N. C.). Es wird also nicht gefragt, ob die religiösen Sätze mit einer transzendenten Wirklichkeit übereinstimmen, noch wird gefragt, ob der Glaube an die religiösen Sätze und das Leben gemäß dieser Sätze einen Einfluss auf ein eventuelles jenseitiges Leben des Glaubenden und Handelnden haben, noch wird drittens gefragt, ob der religiöse Glaube oder das religiöse Handeln dem Individuum ein Glücks- oder Geborgenheitsgefühl – oder ein sonstiges nur für das Individuum in der diesseitigen Welt relevantes Gefühl – vermitteln, sondern es wird danach gefragt, ob die Religion – und u. a. die religiöse Erziehung – dazu beitragen kann, den Menschentyp zu schaffen, den eine demokratische Gesellschaft braucht, um sich zu erhalten und um sich weiterzuentwickeln. Dieselbe Frage, die Vacherot hinsichtlich der demokratischen Gesellschaft stellt, kann auch hinsichtlich der liberalen Gesellschaft gestellt werden1: Muss bzw. 1

Im heutigen Sprachgebrauch wird oft von einer „liberal-demokratischen“ Gesellschaft gesprochen, wobei manchmal der Eindruck erweckt wird, als ob die beiden Elemente problemlos zusammenpassen würden. In Wirklichkeit sind die demokratische und die liberale Logik voneinander unterschieden – worauf u. a. schon Carl Schmitt aufmerksam gemacht hatte (Schmitt 1993, S. 233). Die rein demokratische Logik geht davon aus, dass nur der Wille aller Betroffenen – und wenn nicht aller im absoluten Sinn des Wortes, dann wenigstens derjenige der (einfachen oder qualifizierten) Mehrheit der Betroffenen bzw. Stimmberechtigten – legitime Einschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit begründen kann. Hier gibt es prinzipiell keinen Bereich der individuellen Handlungsfreiheit, der immun gegen eine Einschränkung wäre, selbst gegen eine radikale Einschränkung, die de facto einer Abschaffung gleichkäme. Die liberale Logik geht ihrerseits davon aus, dass, um es zunächst einmal vereinfacht auszudrücken, nicht die Quantität, sondern die Qualität relevant ist. Eine Einschränkung der individuellen Handlungsfreiheit ist nur dann legitim, wenn sie durch nicht willkürliche Gründe gerechtfertigt werden kann. Dabei wird auch implizit vorausgesetzt, dass es bestimmte Einschränkungen gibt, die nur durch willkürliche Gründe legitimiert werden können. Das Problem besteht darin, die Nichtwillkürlichkeit eines Grundes zu bestimmen. Und bei der praktischen oder pragmatischen Lösung dieses Problems kann der Liberalismus auf die Demokratie zurückgreifen: Ein Grund sollte dann als nichtwillkürlich betrachtet werden, wenn es ihm gelingt, alle,

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Teil II: Die theologische und die politische Perspektive

soll oder darf derjenige, der die Menschen zu Bürgern einer liberalen Gesellschaft erziehen will, auf die Religion zurückgreifen? Und wenn er auf sie zurückgreifen darf, welcher Mittel darf er sich dabei bedienen? Judd Owen meint in diesem Zusammenhang: „[D]a der liberale Staat handeln muss, und da er seine Handlungen nicht nach religiösen Vorschriften ausrichten darf, verneint der liberale Staat im Prinzip, dass es wahre, politisch relevante religiöse Vorschriften gibt. Der Liberalismus beruht auf einer theologischen Prämisse“ (Owen 2001, S. 119). Owen wirft hier die zwei von uns unterschiedenen Perspektiven zusammen. Insofern er die rein politische Perspektive einnimmt, kümmert der liberale Staat sich nicht um die Wahrheit der religiösen Aussagen und Vorschriften, sondern lediglich um ihre politische Relevanz. Der liberale Staat kann, betrachtet man die Sache genauer, mehreres verneinen – bzw. behaupten –, und zwar: (1) dass es wahre und gleichzeitig politisch relevante religiöse Aussagen und Vorschriften gibt (2) dass es politisch relevante religiöse Aussagen und Vorschriften gibt, über deren Wahrheit oder Falschheit man sich nicht weiter äußert (3) dass es falsche und gleichzeitig politisch relevante religiöse Aussagen und Vorschriften gibt Nur in den Fällen (1) und (3) kann man davon sprechen, dass der liberale Staat auf theologischen Prämissen beruht, da nur in diesen beiden Fällen die Wahrheitsfrage aufgeworfen wird. Nur da wo die Wahrheitsfrage aufgeworfen wird, betreten wir das Gebiet der Theologie. Solange der Staat sich damit begnügt, (2) zu verneinen oder zu behaupten, bleibt er auf dem Terrain des Politischen und klammert die Wahrheitsfrage aus. Owen scheint hier zu übersehen, dass es nicht darum geht, ob eine Vorschrift religiöser Natur ist oder nicht, sondern dass es darum geht zu wissen, welche Gründe der Staat geltend macht, um nach einer religiösen Vorschrift zu handeln. Ein liberaler Staat darf keine religiösen Gründe geltend machen, aber nichts spricht dagegen, politische Gründe geltend zu machen. Das erste Kapitel dieses zweiten Teils präsentiert drei möglichen Antworten auf die Frage, wieso Menschen bestimmte Tugenden annehmen oder sich zu einer bestimmten Religion bekennen sollten bzw. wieso eine Gesellschaft bestimmte Tugenden oder eine bestimmte Religion fördern sollte. Diese drei möglichen Antworten werden es uns erlauben, präziser in den Unterschied zwischen der Wahrheitsund der Nützlichkeitsperspektive einzuführen. Im zweiten Kapitel soll ein kurzer Blick auf eine der wichtigsten ideengeschichtlichen Episoden des westeuropäischen politischen Denkens geworfen werden, nämlich auf die Staatsräson-Debatte, wie sie vor allem zu Beginn der Neuzeit ausgetragen wurde. Gegenstand der Kontroverse war, ob man die Religion nur im Hinblick auf ihren politischen Nutzen betrachten darf, oder ob man immer auch die Wahrheitsdimension, nicht nur mitberücksichtigen musste, sondern ihr auch den oder doch eine Mehrheit, zu überzeugen. Aus der Sicht des Liberalismus konstituiert der Mehrheitsbeschluss aber noch keineswegs die Nichtwillkürlichkeit des Grundes. Der Wille der Mehrheit konstituiert nicht das Recht, sondern ist höchstens ein – prinzipiell fehlbares – Mittel zu seiner Erkenntnis.

Einleitung

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absoluten Vorrang geben sollte, so dass etwa der eventuelle gesellschaftliche Nutzen einer falschen Religion nicht als hinreichenden Grund angesehen wurde, diese Religion zu tolerieren. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Tugendfrage, wobei, ausgehend von einer Klarstellung Montesquieus gleich zu Beginn seines Hauptwerkes, ein Unterschied zwischen dem religiösen und dem politischen Tugendbegriff gemacht wird. Das vierte Kapitel setzt sich hauptsächlich mit Montesquieus Anspruch auseinander, ein politischer Schriftsteller zu sein, der die Religion aus rein politischer Sicht betrachtet und dabei den Bezug der Religion zu dem Übernatürlichen ausklammert. Es soll gezeigt werden, wie Montesquieu diesen Anspruch rechtfertigt und sich vor möglichen Angriffen schützt. Im fünften Kapitel wird ein ganz ähnlicher Anspruch Tocquevilles diskutiert. Wie Montesquieu, beansprucht auch Tocqueville nicht, verbindliche Aussagen über die Wahrheit einer Religion zu machen, sondern auch er betrachtet die Religion nur insofern sie eine gesellschaftliche und politische Relevanz haben können. Und diese Betrachtungsweise wendet er nicht nur auf die Religionen an, sondern auch auf die Tugend und Laster. Genauso wie falsche Religionen, können auch Laster nützlich für die Bewahrung der Freiheit sein. Im sechsten Kapitel werden mögliche Kritiken an einer rein politischen Betrachtung der Religion untersucht, wobei eine dieser Kritiken aus der Feder Madisons stammt. Obwohl sie sich noch primär als religiös bestimmt präsentiert, ist sie aber in Wirklichkeit politisch begründet. Neben derjenigen Madisons, werden in diesem siebten Kapitel auch die Kritiken Constants und Lamennais’ an einer rein politischen Betrachtung der Religion vorgestellt. Das siebte und letzte Kapitel befasst sich mit den Hintergrundbedingungen des Übergangs von der Wahrheits- zur Nützlichkeitsdimension, und insofern auch mit der Frage, was ein solcher Übergang uns über den Zustand der oder einer bestimmten Religion sagen kann. John Stuart Mill vertritt die These, dass man die Nützlichkeitsfrage eigentlich erst dann stellt, wenn man aufhört, an die Wahrheit der Religion zu glauben, Letztere aber nicht aufgeben oder verschwinden lassen will. Die eben erwähnte Kritik an der Nützlichkeitsperspektive stellt uns vor die Frage, ob und inwiefern eine liberale Staatsphilosophie sich die Frage nach dem Nutzen der Religion für ein liberales politisches Gemeinwesen überhaupt stellen darf. Denn es besteht nämlich die Gefahr, dass die Einsicht in einen solchen Nutzen, gepaart mit der Vermutung, dass die Religion sich nicht ohne staatliche Hilfe wird erhalten können, zu der Schlussfolgerung führen kann, dass der Staat die Religion fördern soll – wenn nicht offen, dann zumindest auf eine versteckte Weise.2 In diesem letzteren Fall befänden wir uns ganz im Rahmen der meistens nur im Kontext der absolutistischen Staatsphilosophie behandelten arcana imperii.3 Und wie sich 2

3

Wie Pritchard schreibt: „Der Liberalismus spielt ein endloses Spiel des Verurteilens der und des heimlichen Hofmachens gegenüber der Religion. […] Religion ist irgendwie notwendig für das ganze Unternehmen, aber sie muss ihren Zauber ausführen, ohne gesehen zu werden“ (Pritchard 2014, S. 130–131). Zu dieser äußerst spannenden Thematik der Staatsphilosophie, siehe die kürzlich von Rüdiger Voigt herausgegebene Aufsatzsammlung (Voigt 2017).

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Teil II: Die theologische und die politische Perspektive

in diesem Buch zeigen wird, ist eine solche Perspektive dem liberalen Denken nicht gänzlich fremd, vor allem nicht dem Denken Tocquevilles. Von allen der in diesem Buch diskutierten Autoren, ist Alexis de Tocqueville sonder Zweifel derjenige, der in dieser Hinsicht am weitesten gegangen ist. Und dass seine Überlegungen sich aus einer gelebten Erfahrung während seiner Amerikareise ergeben haben und nicht das Produkt reiner Spekulation sind, macht sie besonders interessant. KAPITEL 1: WAHRHEIT UND NÜTZLICHKEIT Warum sollte ein Mensch bestimmte Tugenden besitzen oder sich zu einer bestimmten Religion bekennen? Weshalb sieht man im Besitz dieser Tugenden oder im Bekenntnis zur Religion etwas Wichtiges, ja gar etwas dessen Wichtigkeit so groß ist, dass man den Menschen den Besitz der Tugenden oder die Bekehrung zum Glauben nicht nur empfehlen kann, sondern dass man die Tugenden und den Glauben durch eine bestimmte Erziehung oder gar – wenn es überhaupt möglich ist – durch Zwang oder Zwangsandrohung hervorrufen kann? Mindestens drei Antworten lassen sich auf diese Frage angeben. Bei diesen Antworten sollte man allerdings stets den Unterschied zwischen der Innen- und der Außenperspektive im Auge behalten. Fragt man den Gläubigen nach dem Grund seines Glaubens, so wird er sicherlich sagen, dass die Wahrheit der Religion der Grund ist4, wieso er sich zu ihr bekennt. Der wirklich Gläubige kann nicht sagen: „Ich glaube an diese Religion, weil dieser Glaube mir nützt“.5 Der religiöse Glaube ist seinem Wesen nach – und formal betrachtet – zunächst ein Glaube an die Wahrheit der Religion. Den Gläubigen interessiert also in erster Linie die Wahrheit der Religion an die er glaubt. Und wenn dieser Glaube auch – mag es für jenseitige oder diesseitige Zwecke – nützlich ist, dann kann das für den Gläubigen letzten Endes immer nur durch seine oder wegen seiner Wahrheit erklärt werden. Wenn der Glaube an Gott einer Nation in einem Krieg zum Sieg verhilft, dann erklärt sich dieser Sieg für den Gläubigen dadurch, dass Gott die Nation dafür belohnt hat, dass sie an ihn glaubt, dass sie also den wahren Glauben hat. Hätte sie einen genauso starken Glauben an einen anderen, aber nicht existenten Gott gehabt, dann hätte sie den Krieg verloren. Für den Gläubigen ist es nicht die bloße Intensität des Glaubens

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Ein Gläubiger wird auch eine Kausalerklärung für seinen Glauben verwerfen. Mag es auch, von außen gesehen, der Fall sein, dass das Charisma eines Priesters ein Individuum dazu gebracht hat, zu glauben, so wird aus der Perspektive des gläubigen Individuums dieses Charisma höchstens als eine occasio betrachtet werden, durch die es den Weg zum wahren Glauben gefunden hat. Das Charisma des Priesters hat dem Individuum die Gelegenheit gegeben, die Wahrheit der Religion zu entdecken. Es handelt sich hier um eine grammatische Behauptung im Sinne Wittgensteins. Ein Individuum kann sicherlich die Worte äußern, es glaube an eine Religion, weil dieser Glaube ihm nützlich ist. Aber ein solches Individuum wird man nicht im strengen Sinne des Wortes als einen gläubigen Menschen bezeichnen können.

Kapitel 1: Wahrheit und Nützlichkeit

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die zählt – man kann genauso intensiv an einen „falschen“ wie an den „wahren“ Gott glauben –, sondern seine Wahrheit.6 Den nicht-gläubigen Außenstehenden interessiert nicht die Wahrheit der Religion, sondern der Glaube an die Wahrheit der Religion, mag dieser Glaube wahr oder falsch sein. Der Außenstehende wird zwar auch nicht vom Gläubigen sagen können: „Er glaubt an diese Religion, weil dies ihm nützt“.7 Aber er wird sagen können: „Er glaubt an diese Religion, weil er an ihre Wahrheit glaubt, obwohl sie in Wirklichkeit falsch ist“. Und er wird vielleicht hinzufügen: „Der Glaube an diese Religion, bringt ihm einen Nutzen“. Der Gläubige wird seinerseits nicht sagen können: „Ich glaube an die Wahrheit dieser Religion, obwohl sie falsch ist“. Aus der Sicht des Nichtgläubigen wäre der vorhin erwähnte Sieg im Krieg nicht der Wahrheit des Glaubens, sondern höchstens seiner Intensität zuzuschreiben. Für ihn hat nicht Gott den Sieg herbeigeführt, sondern die starke Motivation der Kämpfenden. Während es für den Gläubigen Gott ist, der die Berge versetzt bzw. Gott es ist, der denjenigen die an ihn glauben immer beim Bergeversetzen beisteht und ihren Glauben zu einem solchen macht, der Berge versetzen kann, bricht für den Nichtgläubigen die Erklärung bei der Feststellung einer starken durch den Glauben induzierten Motivation ab. Die erste der oben erwähnten drei Antworten auf die Frage, warum der Mensch bestimmte Tugenden besitzen sollte, weist darauf hin, dass die betreffenden Tugenden diejenigen sind, die dem Menschen als Menschen geziemen, die also aus ihm einen guten oder vollkommenen Menschen machen, einen Menschen, der dem idealen Menschen entspricht. Hier geht es also nicht um einen etwaigen Nutzen, den man aus dem Besitz der Tugenden ziehen kann. Und was das Religionsbekenntnis betrifft, so scheint es offensichtlich, dass einzig und allein die Wahrheit bzw. der Glaube an die Wahrheit einen notwendigen und hinreichenden Grund liefert, um sich zu einer bestimmten Religion zu bekennen. Ähnlich gilt, dass die Laster oder eine falsche Religion um ihrer selbst willen zu verurteilen sind, und nicht, oder zumindest nicht bloß, weil sie sozial gefährlich sind. Adam Smith verwirft in diesem Zusammenhang die These, dass Gott die Tugend nicht um ihrer selbst wil6 7

Was nicht ausschließt, dass der Gläubige einen intensiven Glauben an den „wahren“ Gott verlangen wird. Doch auch hier gilt: Die Intensivität wird nicht bloß wegen eines durch sie zu erreichenden Vorteils verlangt, sondern wegen der Wahrheit. Man sollte allerdings die Zweideutigkeit des Wörtchens „weil“ berücksichtigen. Wenn mit dem „weil“ ein Grund angegeben werden soll, lässt sich die Aussage nicht machen. Wird aber mit dem „weil“ eine Ursache ausgedrückt, dann lässt sich durchaus im Rahmen einer rein materialistisch-funktionalistischen, die Rolle oder gar die Existenz von logischen, nicht in Kausalketten eingebetteten Handlungsgründen leugnenden Erklärung sagen, dass der Glaube durch die Nützlichkeit bedingt ist. Evolutionstheoretisch formuliert würde man sagen: Die Evolution hat den religiösen Glauben selektiert, weil er für das Überleben der Spezies nützlich ist. Im Rahmen einer solchen Erklärung lässt sich auch die Existenz einer genetischen Grundlage für den religiösen Glauben postulieren (ein Religionsgen) – aber ob sie sich auch nachweisen lässt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ganz zu schweigen von der Frage, ob es unterschiedliche Religionsgene für die unterschiedlichen Religionen gibt. Und wie Hubert Hausemer richtig suggeriert: Wenn man den religiösen Glauben evolutionstheoretisch erklärt, dann ist nicht einzusehen, wieso man nicht auch den Glauben an die Wahrheit der Evolutionstheorie evolutionstheoretisch erklären sollte.

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len, sondern nur wegen ihres Nutzens liebt, und dass er auch das Laster nicht um seiner selbst, sondern bloß um seiner negativen Konsequenzen hasst (Smith 1982, S. 90).8 Diese These, so Smith weiter, ist das Produkt einer künstlichen, d. h. sich von den dicta der Natur entfernenden Philosophie. Es entspricht demnach nicht einem natürlichen Gebrauch unseres Urteilsvermögens, die Tugenden und die Laster im Hinblick auf ihren Nutzen oder Schaden für die Gesellschaft zu beurteilen. Wenn wir Menschen gottähnlich werden oder wenn wir Gottes Standpunkt einnehmen wollten, dann müssten auch wir Tugenden und Laster um ihrer selbst willen beurteilen, anstatt dass wir, wie wir es nur allzu oft tun, die Nützlichkeitsperspektive einnehmen. Hier geht es also einzig und allein um den intrinsischen Wert der Tugenden oder der Religion. Die zweite Antwort bezieht sich auf die Nützlichkeit der Tugenden und des Glaubensbekenntnisses für das jeweils betroffene Individuum. Die Tatsache, dass der Besitz bestimmter Tugenden oder der Glaube an eine bestimmte Religion einen Menschen glücklich oder zufrieden macht, kann schon eine hinreichende Ursache für die Erlangung und Bewahrung dieser Tugenden und für das Bekenntnis zu einer Religion sein – zumindest unter der Voraussetzung, dass es keine besseren Optionen gibt. Bei dieser zweiten Antwort rückt sowohl der ideale Mensch als auch die transzendente Welt in den Hintergrund bzw. werden sie gänzlich ignoriert. Es zählt einzig und allein noch das subjektiv empfundene irdische Glück oder Wohlbefinden des empirischen Individuums.9 Vor allem Freud hat auf die positiven individualpsychologischen Konsequenzen des religiösen Glaubens hingewiesen10, wobei er aber gleichzeitig zu verstehen gibt, dass die Religion – in welcher er eine infantile neurotische Wunschvorstellung sieht – nur bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe der Menschheit notwendig ist. Die Religion, so Freud, beschwichtigt die Angst, die wir vor den Gefahren haben, die uns im alltäglichen Leben begegnen. Außerdem stellt sie uns eine Welt in Aussicht, in welcher gerechte Verhältnisse herrschen werden, so dass der Gerechte, der auf dieser Welt leidet, einen Sinn in seinem gerechten Handeln sehen kann und nicht verzweifelt. Und schließlich, so immer noch Freud, gibt uns die Religion Antworten auf jene großen Fragen, die sich unserer natürlichen Wissbegierde stellen (Freud 1969). Mit der Entwicklung der Technik – die dem Menschen erlaubt, die Natur zu meistern –, der Zivilisation – die u. a. ein wirksameres Rechts- und Rechtsdurchsetzungssystem schafft – und der Wissenschaft – die versucht, die Rätselfragen durch empirisch nachprüfbare Hypothesen zu beantworten –, verliert die Religion ihre drei Grundfunktionen und wird somit immer überflüssiger. 8 9

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Diese Behauptung stand in den fünf ersten Ausgaben der Theory of Moral Sentiments, wurde dann aber ab der sechsten gestrichen. Marcel Gauchet hat auf die individualpsychologischen Kosten des Religionsschwundes hingewiesen, und dabei festgestellt, dass der Untergang der Religion ihren Preis fordert. In der postreligiösen Gesellschaft haben die Phänomene des Wahnsinns und der Störungen im Bereich der intimen Beziehungen rasant zugenommen (Gauchet 1985, S. 302). Man findet aber auch schon bei Germaine de Staël, der Geliebten Benjamin Constants, eine Liste der Vorteile die die Religion dem Individuum bringt (Staël 2000, S. 190 ff.).

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Solange nur der religiöse Glaube dem Menschen Trost spenden wird, wird der Mensch glauben.11 Und dass der Glaube ihm tatsächlich Trost spendet, kann ihm dann eventuell als ein Zeichen für die Wahrheit des betreffenden Glaubens erscheinen. Wenn die religiösen Behauptungen sich in ein zufriedenstellendes individuelles Lebenssystem integrieren lassen, dann können sie, wendet man das vor allem von William James, in Anschluss an Charles S. Peirce entwickelte pragmatistische Wahrheitskriterium an12, als wahr akzeptieren werden. Stellt mich also das Leben, das ich mit dem religiösen Glauben führe, mehr zufrieden als ein Leben, das ich ohne diesen Glauben führe, dann ist für mich der religiöse Glaube wahr. Eine solche pragmatistische Deutung findet man schon im Keim bei Edouard Laboulaye: „In den Beunruhigungen unserer Seele, in jenen Leiden, die keinen Trost wollen, finden wir im Evangelium, und im Evangelium allein, die Ruhe, nach der wir uns sehnen, der einzige Balsam, der blutende Wunden besänftigt; dann ist das Evangelium wahr, und die Heiligkeit von Jesus Christus beweist seine Göttlichkeit“ (Laboulaye 1858, S. XV). Laboulaye will hier nicht nahelegen, dass die Nützlichkeit der Seinsgrund der Wahrheit des Evangeliums ist, d. h., dass das Evangelium nicht wahr wäre, wenn es nicht zugleich auch nützlich wäre. Man sollte ihn vielmehr so interpretieren, dass er die individualpsychologische Nützlichkeit des Evangeliums als ratio cog­ noscendi seiner Wahrheit betrachtet: Das Evangelium könnte auch noch dann wahr sein, wenn es nicht nützlich wäre. Die Nützlichkeit gibt uns einen hinreichenden Grund, an seine Wahrheit zu glauben. Dieser hinreichende Grund braucht aber noch kein absolut notwendiger zu sein. Man könnte etwa auch auf die Offenbarung zurückgreifen. Laboulaye will demnach nicht behaupten, dass wir der Wahrheit des Evangeliums nur über die Feststellung seiner individualpsychologischen Nützlichkeit gewahr werden können. Was hier vom religiösen Glauben gesagt wurde, gilt auch für die Tugenden. Als Charaktereigenschaften können Tugenden dem Individuum, das sie besitzt, unmittelbar nützlich sein. Dabei kann die Nützlichkeit oder die Schädlichkeit durchaus von den Umständen abhängen und insofern relativ sein. Im Hobbes’schen Naturzustand wäre es etwa für das Individuum schädlich, die Tugend der Ehrlichkeit zu besitzen, da hier, wie das Sprichwort sagt, der Ehrliche der Dumme ist. Schaut man nur nach dem Nutzen der Tugenden für das Individuum, dann wird man von ihrem intrinsischen Wert absehen müssen, da eine intrinsisch wertvolle Tugend nicht immer auch unbedingt eine individuell nützliche ist, vor allem nicht in einer nicht-idealen Welt wie diejenige des Hobbes’schen Naturzustandes. Im Extremfall 11 12

Hier passt auch Marx’ Behauptung, Religion sei eigentlich Opium des Volkes, wobei Marx, im Gegenteil zu Freud, die Funktion der Religion auf einen einzigen Aspekt reduziert. Siehe dazu William James 1956 (besonders S. 22 ff.), 1978 und 2004. Für James geht es nicht darum, eine Aussage mit der Wirklichkeit zu vergleichen, noch, auf ihre intrinsische Evidenz zu achten, sondern man sollte auf ihren Einfluss auf unser Leben schauen. Dies gilt auch, und vielleicht vor allem, für religiöse Aussagen. Aus pragmatistischer Sicht ist wahrheit keine statische Eigenschaft von Aussagen, sondern sie ist etwas Dynamisches. Aussagen sind nicht wahr, sondern sie bewahrheiten sich im Handeln des Menschen. Wahr wird eine Aussage für mich dadurch, dass ein Handeln nach ihr mich zu jeden Zielen führt, die ich verfolge.

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wird man vielleicht sogar bestreiten, dass Tugenden überhaupt einen intrinsischen Wert haben – genauso wie man bestreiten kann, dass religiöse Aussagen wahr sein können –, und man wird nur noch von ihrem Nutzen sprechen – sei er individuell oder kollektiv. Die dritte Antwort bezieht sich auf die Nützlichkeit der Tugenden und des Glaubensbekenntnisses für das politische Gemeinwesen und für die in diesem oder durch dieses Gemeinwesen verkörperten politischen Ideale und Werte. Das Individuum soll jene Tugenden erwerben und sich zu jener Religion bekennen, die es am besten erlauben, das politische Gemeinwesen und die mit ihm zusammenhängenden politischen Ideale und Werte zu erhalten und zu fördern. Oder noch anders formuliert: ein bestimmtes Gemeinwesen ist nur dann angemessen funktionsfähig, wenn sich die es bildenden Individuen alle, oder doch zumindest in ihrer großen Mehrheit, bestimmte Tugenden aneignen oder sich zu einer bestimmten Religion bekennen. Bei dieser dritten Antwort werden der ideale Mensch – auf den es der ersten Antwort ankam – und das glückliche Individuum – das bei der zweiten Antwort im Vordergrund stand – durch den idealen Bürger ersetzt. Und auch bei dieser dritten Antwort wird, wie bei der zweiten, sowohl vom intrinsischen Wert der Tugenden als auch von der transzendenten Wahrheit des religiösen Glaubens abgesehen. Tugend und Religion werden jeweils auf ein bestimmtes politisches Gemeinwesen bezogen, und was nützlich für ein Gemeinwesen A ist, muss nicht auch für ein Gemeinwesen B nützlich sein. Insofern kann Gemeinwesen A andere Tugenden oder einen anderen Glauben verlangen als Gemeinwesen B. Würde man sich hier auf den intrinsischen Wert der Tugenden oder auf eine – anders als pragmatistisch verstandene – Wahrheit des religiösen Glaubens beziehen, dann könnte jeweils nur ein Tugendkatalog oder eine Religion gelten. In dieser Arbeit wird vor allem diese dritte Antwort im Mittelpunkt stehen. Um sie angemessen zu verstehen, lohnt sich ein kleiner Blick auf die frühneuzeitlichen Debatten über die Staatsräson. Auch wenn man in der Frühen Neuzeit den Beginn der Autonomisierung des Staates und der Politik sehen kann, so sollte doch niemals vergessen werden, dass im politischen Diskurs der Frühen Neuzeit die Religion alles anders als abwesend war. Wie autonom der Staat auch immer gedacht werden mochte, die Notwendigkeit einer religiösen Stütze wurde kaum geleugnet. Der Staat hatte zwar seine eigenen Ziele, die als solche unabhängig von der Religion und deren Hauptzielen gedacht werden konnten. Für viele Autoren war mit einer solchen Autonomisierung der staatlichen Ziele aber noch lange nicht die Religion als solche überflüssig geworden.

Kapitel 2: Religion und Staatsräson

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KAPITEL 2: RELIGION UND STAATSRÄSON Im Übergang des XVI. zum XVII. Jahrhundert, entwickelt sich in mehreren europäischen Staaten eine Debatte um die sogenannte Staatsräson bzw. um das richtige Verständnis der Staatsräson.13 Zielscheibe einer heftigen Kritik sind dabei in erster Linie die Schriften Machiavellis sowie aller jener Autoren, die sich an seinen Gedanken inspirieren – oder denen vorgeworfen wird, sich daran zu inspirieren – und die die Bewahrung und Förderung des Staates bzw. einer rechtlichen Ordnung oder eines Lebens unter Gesetzen14 zur höchsten Pflicht der Regierenden erklären.15 Insofern diese Autoren den Staat und damit, im damaligen Verständnis, das Politische ins Zentrum ihrer normativen Überlegungen rückten, wurden sie als Politiques bezeichnet. Ihr Credo, so Claudio Clemente – der sie mit strengen Worten verurteilt –, verlangt, dass alles im Hinblick auf seinen Nutzen für den Staat beurteilt wird (Clemente 1637, S. 19), dass also die Dimension der politischen Nützlichkeit zur alleinigen Beurteilungsdimension wird, was u. a. bedeutet, dass die Wahrheitsoder Richtigkeitsdimension in den Hintergrund rückt oder gar nicht berücksichtigt wird. Die Dimension des Intrinsischen weicht also der Dimension des Extrinsischen, und letztere wird auf das Politische reduziert. Die Nützlichkeit wird nicht nur unabhängig von der Wahrheit gedacht, sondern sie wird auch noch der Wahrheit übergeordnet. Zu diesen Dingen, die von einer rein politischen Perspektive aus beurteilt werden, gehört auch die Religion. Die Politiques, so immer noch Clemente, entwerten 13

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Auch wenn der Ausdruck ragion di stato, oder ähnliche Ausdrücke – etwa ragionare dello stato – schon sporadisch vor dem letzten Jahrzehnt des XVI. Jahrhunderts auftauchen, ist es Giovanni Boteros 1589 erschienenes Buch Della ragion di stato, das die wirkliche Debatte um das angemessene Verständnis der Staatsräson in Gang setzen wird. Botero verfolgt eine doppelte Absicht. Einerseits will er den Begriff der Staatsräson gegenüber all denjenigen legitimieren, die in der Staatsräson ein Produkt des Teufels sehen. Andererseits will er zeigen, dass Machiavellis Verständnis der Staatsräson nicht das einzig mögliche Verständnis ist. Botero geht es also um den Entwurf einer „guten“, sprich nicht-machiavellistischen Staatsräson. Zu dieser ganzen Debatte, siehe etwa Meinecke 1957, Lutz 1961, Münkler 1987, Borelli 1993 (mit ausführlicher Bibliographie zur Primärliteratur), Ferrari 1992, Zarka 1994, Thuau 2000, Voigt 2012, Campagna 2013 (besonders Kapitel 5). Machiavelli spricht vom „vivere civile“, also vom Leben innerhalb eines rechtlich geordneten Gemeinwesens. Im Gegensatz zu dem was oft behauptet wird, ist Machiavelli kein absoluter und bedingungsloser Verfechter des Machtstaates. Der Machtstaat erscheint ihm vielmehr als ein unter bestimmten historischen Bedingungen notwendiges Mittel, um die Bedingungen des „vivere civile“ wieder einzurichten. Für eine nuancierte Lesart Machiavellis, siehe Campagna 2003. Man sollte hier ganz klar zwischen der Bewahrung des Staates und der Bewahrung einer bestimmten Regierung unterscheiden. Den echten Theoretikern der Staatsräson geht es um die Bewahrung des Staates, und wenn diese Bewahrung nur dadurch geschehen kann, dass die Regierung umgestürzt wird, dann kann die Staatsräson durchaus einen solchen Umsturz der Regierung verlangen. Im staatlichen Gefüge ist die Regierung nur ein dienendes Element. Dieses Element zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass es über das Recht und die Macht verfügt, das für den Staat Gute zu definieren. Dadurch ist die Gefahr gegeben, dass für die Regierenden die Bewahrung des Staates mit der Bewahrung der Regierung zusammenfällt.

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alle menschlichen und, vor allem aber alle göttlichen Dinge, und das Einzige, was für sie noch einen intrinsischen Wert besitzt, ist der Staat16 (Clemente 1637, S. 20). Dies impliziert einerseits, dass man nicht mehr nach der Funktion des Staates für die Religion fragt, dass man also den Staat nicht mehr als eine Institution betrachtet, die im Dienste der Religion steht und die, auch wenn sie eigene Zwecke verfolgt, die Verfolgung dieser Zwecke immer im Rahmen der Verfolgung übergeordneter, und zwar religiöser Zwecke konzipieren muss.17 Es bedeutet aber andererseits auch, dass eine bestimmte Religion für die Politiques nur insofern einen Wert hat, als sie dazu beitragen kann, den Staat zu erhalten. Der Wert einer bestimmten Religion – ihr politischer Wert – hängt somit nicht mehr von ihrer intrinsischen Wahrheit oder Richtigkeit ab, noch – ganz eng damit verbunden – von ihrem Beitrag zur Erlangung des ewigen Seelenheils des an sie glaubenden Individuums, sondern er hängt lediglich von ihrer politischen Nützlichkeit ab. Der Staat wird sich unter diesen Umständen höchstens nur dann für eine bestimmte Religion einsetzen, wenn diese Religion sich für die Erhaltung der gesetzlichen Ordnung nützlich erweist. Desgleichen wird der Staat die Frage nach der Toleranz bestimmter Religionen von politischen Gesichtspunkten abhängig machen: Sollte es politisch unklug sein, intolerant gegenüber den aus der Sicht einer bestimmten Religion falschen Religionen zu sein, dann wird der Staat dem Verlangen der Anhänger dieser sich als allein wahr betrachtenden Religion nicht nachkommen. Wo staatliche Intoleranz einen Bürgerkrieg hervorrufen kann, wird der soziale Frieden der allgemeinen Durchsetzung der sich allein als wahr betrachtenden Religion vorgezogen. Der Sieg der religiösen Wahrheit über den religiösen Irrtum soll nicht mit dem Preis des sozialen Friedens bezahlt werden. In diesem Kontext wird die Unterscheidung zwischen einer wahren und einer falschen Religion durch die Unterscheidung zwischen einer wahren und einer falschen Staatsräson ergänzt.18 Während die wahre Staatsräson, so ihre Vertreter, sich nur an der wahren Religion orientiert, sich nur für diese Religion einsetzt und nur den Vorschriften dieser Religion folgt, und dementsprechend nicht bereit ist, einen Kompromiss mit einer falschen Religion einzugehen, ist der falschen Staatsräson die Wahrheit oder Falschheit einer Religion gleichgültig, und es kommt bei der 16

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Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Staat mit der rechtlichen Ordnung gleichgesetzt wird, wenn er also nicht bloß ein Mittel zur Bewahrung dieser Ordnung ist, sondern wenn er sie definiert. Das setzt voraus, dass man die rechtliche Ordnung nicht mehr als eine natürlich oder göttlich gegebene Ordnung ansieht, die der Staat bloß zu bewahren hätte. In der traditionellen christlichen Lehre wurden dem Staat durchaus rein weltliche Aufgaben zuerkannt, aber seine Handlungssphäre wurde nie auf die Erfüllung dieser rein weltlichen Aufgaben reduziert. Der christliche Herrscher musste die wahre Religion – sprich das Christentum – schützen und fördern. Auch sollte er, so wie es etwa Bellarmin im Kontext der Reformation fordert, die Kirche vor der Desintegration bewahren (Bellarmin 1979, S. 82). Hier wird der Staat also zum Bewahrer der Einheit der Gläubigen im wahren Glauben erklärt. Diese Einheit im Glauben wird dabei als Element des Allgemeinwohls betrachtet, und die Aufgabe des Staates ist gerade eben die Förderung des Allgemeinwohls. Insofern das Allgemeinwohl sowohl eine rein weltliche als auch eine religiöse Dimension hat, hat der Staat auch Pflichten hinsichtlich der Religion. Hinzu kommt, dass der Herrscher als Stellvertreter Gottes angesehen wird. Zu dieser Unterscheidung, siehe etwa Campagna 2012.

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Beurteilung einer Religion nur auf ihren Beitrag zur Erhaltung des Staates an. Die Politiques, so Juan Marquez, ein Zeitgenosse Clementes, behaupten, dass man bei der Beurteilung einer Religion nur darauf achten sollte, ob und inwiefern sie es erlaubt, die politische Macht zu bewahren (Marquez 1614, S. 360). Die Religion wird demnach als ein bloßes Instrument betrachtet, das man nur solange fördert, toleriert oder benutzt, wie es einem nützlich ist. Der intrinsische Wert der Religion wird auf dem Altar ihres instrumentellen Wertes geopfert. Der Staat setzt sich fortan nicht mehr allein für die Bewahrung und Förderung der wahren Religion ein. Gegebenenfalls könnte er sogar die wahre Religion verbieten, sähe er in ihr eine Gefahr für das Gemeinwesen. Dabei sehen die Politiques von der Beantwortung der Frage ab, ob eine bestimmte Religion es nur deshalb am besten erlaubt, die politische Macht zu bewahren, weil sie wahr ist. Auch wenn sie nicht unbedingt, wie Clemente und andere es ihnen zu unterstellen scheinen, den Glauben an Gott als eine bloße Illusion betrachten19 und demnach von der Prämisse ausgehen, dass jede Religion falsch ist20, so 19

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Bei Bodin gibt es in meinen Augen keinen Grund anzunehmen, dass er Atheist oder Agnostiker war. Aus der Tatsache, dass man die Religionskriege durch eine Politik der religiösen Toleranz zu beenden sucht, folgt noch nicht, dass man alle Religionen als gleich wahr oder vielmehr als gleich falsch betrachtet. Bezüglich der Wahrheitsfrage kann man mindestens die folgenden fünf Grundpositionen unterscheiden: (1) Hinsichtlich der Religion stellt sich die Wahrheitsfrage nicht, da nur solche Sätze wahr oder falsch sein können, die sinnvoll sind, und nur solche Sätze sind sinnvoll, die empirisch verifizierbar sind oder sich aus empirisch verifizierbaren Sätzen ableiten lassen. Religiöse Sätze sind aber nicht empirisch verifizierbar und lassen sich auch nicht aus empirisch verifizierbaren Sätzen ableiten. Sie gehören somit alle in die Kategorie des Sinnlosen und sie können somit weder wahr noch falsch sein. (2) Religiöse Sätze sind nicht sinnlos, sie können als Sätze angesehen werden, die eine – wenngleich nicht empirische – Wirklichkeit beschreiben, sie erheben einen Wahrheitsanspruch, aber wir können niemals wissen, ob dieser Wahrheitsanspruch einlösbar ist. Wir können also weder wissen, ob jede Religion falsch ist oder ob es eine wahre oder mehrere wahre Religionen gibt. (3) Religiöse Sätze sind nicht sinnlos, sie erheben einen Wahrheitsanspruch, aber jede Religion ist falsch. Hier wird also behauptet, dass wir wissen können, dass es keine wahre Religion gibt. Dadurch wird geleugnet, dass religiöse Sätze eine wie auch immer geartete Wirklichkeit beschreiben. (4) Religiöse Sätze sind nicht sinnlos, sie erheben einen Wahrheitsanspruch, wir wissen, dass nicht jede Religion falsch ist, aber wir können nicht wissen, welche wahr ist bzw. welche wahr sind – wenn wir, was problematisch ist, voraussetzen, dass mehrere Religion zugleich wahr sein können. (5) Religiöse Sätze sind nicht sinnlos, sie erheben einen Wahrheitsanspruch, wir wissen, dass nicht jede Religion falsch ist, und wir können wissen, welche wahr ist bzw. wahr sind – falls mehrere zugleich wahr sein können. Bei diesen fünf Positionen wird die sogenannte Korrespondenztheorie der Wahrheit vorausgesetzt: Eine Aussage ist wahr, wenn es sich so verhält, wie ihn ihr ausgesagt wird. So ist die Aussage „Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen“ wahr, genau dann wenn Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. Die Frage, wie man die Existenz einer Korrespondenz zwischen Aussagen und Welt feststellen kann, betrifft das Wahrheitskriterium. Wenn man andere Wahrheitstheorien voraussetzt, werden sich andere Grundpositionen ergeben.

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verzichten die Politiques doch darauf, die Wahrheit einer Religion als letzten Grund ihrer politischen Nützlichkeit zu betrachten. Sie klammern also eine bestimmte Beurteilungsperspektive aus, weil sie für die von ihnen verfolgten Zwecke irrelevant ist, aber auch vielleicht, weil es auch ihrer Sicht unmöglich ist festzustellen, welche Religion wahr ist. Wer einerseits glaubt, dass Religion ein politisch relevanter Faktor ist, und wer andererseits meint, man könne keine sichere Erkenntnis bezüglich der Wahrheit einer Religion erlangen, wird sich für diejenige Religion entscheiden, die in seinen Augen und aus einer rein diesseitigen Perspektive betrachtet die besten Resultate hinsichtlich des verfolgten Zwecks verspricht. In diesem eben genannten Punkt liegt der wesentliche oder doch zumindest ein zentraler Unterschied zwischen den Politiques und den christlichen Theologen. Letztere beginnen mit der Prämisse, dass das Christentum wahr ist, und sie erklären dann die politische Nützlichkeit des Christentums aus dessen Wahrheit. Für sie kann die politische Nützlichkeit einer Religion nur aus ihrer Wahrheit folgen, da Gott nur jene Herrscher und Völker unterstützen wird, die an die wahre Religion glauben, und die auch nur deshalb an sie glauben bzw. sich offiziell zu ihr bekennen, weil sie wahr ist – und nicht auch, oder vielleicht sogar vorwiegend, weil sie politisch nützlich ist. Insofern verurteilt Marquez diejenigen Herrscher, die nur aus politischen Gründen ihre Religion wechseln (Marquez 1614, S. 360) – vielleicht eine Anspielung auf Heinrich IV. und den berühmten ihm zugeschriebenen Ausspruch: „Paris vaut bien une messe“ – Paris, sprich die Königskrone, ist es sicherlich wert, dass man dem Tempel und dem protestantischen Gottesdienst den Rücken kehrt, und fortan am katholischen Gottesdienst teilnimmt und sich von katholischen Theologen in die Mysterien des Katholizismus einweihen lässt.21 Wenn für die damaligen Theologen der Glaube an eine falsche Religion nichts zur Bewahrung des Gemeinwesens beitragen kann bzw. wenn für sie feststeht, dass man die Bewahrung eines sich zu einer falschen Religion bekennenden Gemeinwesens nur dadurch erklären kann, dass diese – sowieso immer nur zeitlich befristete – Bewahrung von Gott gewollt ist22 – also nur durch Rückgriff auf die wahre Religion –, so lassen einige Nicht-Theologen jener Epoche zwischen den Zeilen durchblicken, dass auch eine falsche Religion positive Konsequenzen haben könnte, ohne dass sie dabei auf Gottes Willen als den einzig möglichen Erklärungsgrund zurückgreifen. So versteckt sich etwa Antonio Pérez hinter Cicero und anderen klassischen römischen Autoren, wenn er behauptet, dass „weil Rom allen anderen Nationen im Hinblick auf die Einhaltung der Religion, welche sie auch immer gewesen sein mag, voraus war, diese Nationen auch im Hinblick auf Größe 21 22

Zu Heinrich IV., siehe etwa Bayrou 1994. Genauso wie er die Herrschaft tyrannischer Fürsten wollen kann, obwohl ihm doch eigentlich am Wohl der Menschen gelegen sein sollte, kann Gott auch die Herrschaft falscher Religionen zulassen, obwohl man doch annehmen sollte, dass er den Triumph der wahren Religion will. Wichtig ist nur, dass es sich bei der Herrschaft tyrannischer Fürsten oder der falschen Religion immer nur um eine letzten Endes zeitlich befristete Herrschaft handelt, und dass am Schluss die Gerechtigkeit und die wahre Religion triumphieren werden. Gott wird schon seine Gründe haben, so der Gedanke, dem Bösen und dem Falschen für eine begrenzte Zeit das Feld frei zu lassen.

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und Ruhm überragte“ (Pérez 1991, S. 31 – Hervorhebung N. C.). Pérez will hier zum Ausdruck bringen, dass die religiöse Praxis als solche und auf Grund rein menschlicher Faktoren positive Konsequenzen für Rom – gemeint ist natürlich das antike Rom – hatte. Die Größe und der Ruhm Roms sind nicht der göttlichen Hilfe oder Mithilfe zu verdanken, sondern sie wurzeln einzig und allein im menschlichen Glauben und Handeln. Es sind, könnte man sagen, hauptsächlich formale Aspekt der Religion, die hier ausschlaggebend sind. Wichtig ist nicht, dass man an den wahren Gott geglaubt hat, sondern dass man überhaupt geglaubt hat. Der Inhalt des Glaubens tritt hinter der Intensität des Glaubens zurück, und ein Volk das seinen falschen Glauben ernst nimmt, kann mehr erreichen als ein Volk, das zwar den wahren Glauben hat, diesen aber vernachlässigt. Clemente konfrontiert seine Gegner mit folgender Frage: Wenn der Glaube an Gott obgleich illusorisch, so doch politisch wichtig ist, wenn es also wichtig ist an etwas zu glauben, das nicht wahr ist und von dem derjenige, der die Wichtigkeit des Glaubens betont, weiß, dass es nicht wahr ist, wieso behaupten die Politiques dies dann in der Öffentlichkeit, auf die Gefahr hin, dass die Leute aufhören zu glauben? (Clemente 1637, S. 33). Kann ein vorgeheuchelter Glaube oder eine heuchlerische Verteidigung der Wahrheit des Glaubens mit der Offenbarung der Falschheit eben dieses Glaubens vereinbart werden? Die einzige Antwort der Politiques, schreibt Clemente, besteht in dem Hinweis, dass sie lediglich für eine Minderheit schreiben (Clemente 1637, S. 34) – eine Minderheit die sowieso schon weiß, dass die Religion falsch ist, aber trotz, oder vielleicht gerade wegen, ihrer Falschheit, ein nützliches Herrschaftsinstrument sein kann. Die Religion ist für sie eine jener arcana imperii23, über die man zwar für eine gebildete Minderheit schreiben darf, die man aber unter keinen Umständen der großen Masse offenbaren soll. Mit einer solchen allgemeinen Offenbarung würden die arcana imperii ihre Wirksamkeit verlieren. Die Herrschenden können die Religion gebrauchen, ohne an sie zu glauben, und die Masse soll an die Religion glauben, ohne zu wissen, dass ihr Glaube politisch instrumentalisiert wird. Die Instrumentalisierung der Religion setzt bei den einen die Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Wahrheit oder Falschheit oder gar die Gewissheit ihrer Falschheit voraus, und bei den anderen – der großen Masse – den Glauben an ihre Wahrheit. Und diese große Masse darf auf keinen Fall erfahren, dass sie manipuliert wird. Oder anders gesagt: Wer die Religion instrumentalisiert, ohne selbst an sie zu glauben, muss so tun, als ob er an sie glaubt, und als ob es der Glaube an die Wahrheit der Religion wäre, der ihn dazu bewegt, eine bestimmte Religion zu fördern. 23

Die Lehre der arcana imperii ist vor dem Hintergrund der Wiederentdeckung der Schriften des römischen Historikers Tacitus im XVI. Jahrhundert zu sehen. Für manche Autoren ist Tacitus so etwas wie eine Art Kompromisslösung zwischen dem strikten Moralismus und dem A- oder Immoralismus von Machiavelli. Dies erklärt die Fülle an Kommentaren zu Tacitus die im XVI. und XVII. Jahrhundert erscheinen, und unter denen vor allem Lipsius’ Politica hervorsticht (Lipsius 2004). Einen guten Überblick über die Tacitusrezeption, wenn auch mit dem Hauptgewicht auf Spanien, findet man bei Anton Martinez (1991). Eine ausgearbeitete Theorie der ar­ cana findet man bei Clapmarius (1644). Eine detaillierte Aufdeckung liefert Boxhorn (1701). In Frankreich hat Gabriel Naudé die Theorie der arcana unter dem Begriff des coup d’État popularisiert (Naudé 1989). Zu Naudé, der sich auch mit der Legitimität und Opportunität des Diskurses über die arcana befasst, siehe Campagna 2017.

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Eine solche Politik der Manipulation und der Heuchelei ist sicherlich nur schwer mit dem politischen Liberalismus zu vereinbaren, da dieser – als Vater, als Kind oder als Bruder der Aufklärung24 – einen großen Wert auf die kritische Vernunft und die Transparenz setzt. Und Transparenz bedeutet in diesem Zusammenhang u. a., dass die Bürger nicht über die wahren Absichten derjenigen getäuscht werden dürfen, die über sie herrschen. Wenn es sich jedoch so verhielt, dass die fehlende Transparenz im Interesse der Bürger selbst ist, wenn also auf eine, mit Platon gesprochen, edle Lüge zurückgegriffen wird? Dürfen die Politiker in einem liberalen politischen Gemeinwesen einen religiösen Glauben vorheucheln, bloß damit ihre Bürger auch weiterhin glauben, und dann vor allem, weil allein dieser Glaube der Bürger den Erhalt der Freiheit garantieren kann?25 Und gesetzt den Fall, sie dürfen es, wie lange lässt sich ihre Heuchelei dann überhaupt aufrecht erhalten, ohne dass sie vom Volk aufgedeckt wird?26 Und welche Konsequenzen kann diese Aufdeckung für den Glauben selbst haben? Könnte eine, wenn auch mit guten Absichten, praktizierte Heuchelei letzten Endes nicht genau das Gegenteil von dem Erreichen, was man sich mit ihr zu erreichen erhoffte?27 Wie wir noch sehen werden, sind dies Fragen, mit denen sich einige liberale Autoren befasst haben. Vor allem Tocqueville, bei dem mehr als einmal Gedanken Machiavellis auftauchen, heißt, wie wir noch sehen werden, eine Politik der edlen Lüge – aber zum Vorteil der Freiheit – gut. KAPITEL 3: DER POLITISCHE UND DER RELIGIÖSE TUGENDBEGRIFF Bei den Debatten über die Wahrheit oder die Nützlichkeit der Religion, geht es nicht nur um den religiösen Glauben im strengen Sinn des Wortes, sondern auch um die Tugenden die ein religiöser Mensch besitzen soll und um die Laster, die er vermeiden soll. Auch hier wird sich zeigen, dass man zwischen einer, wenn nicht Wahrheits-, so doch Richtigkeits- einerseits und einer Nützlichkeitsperspektive andererseits unterscheiden kann. Dabei soll Montesquieu als Beispielfall vorgestellt werden. 24 25 26 27

Ich will mich hier nicht festlegen, ob die Aufklärung ihre Wurzeln im Liberalismus oder der Liberalismus seine Wurzeln in der Aufklärung hat, oder ob beide einen gemeinsamen Vater haben – etwa das Christentum. Jack Lively macht darauf aufmerksam, dass Tocqueville, indem er den Rückgriff auf den „nutzvollen Mythos“ verteidigte, eine häretische Position vertrat, sprich jene Werte verriet, die der Liberalismus als wichtig erachtet (Lively 1962, S. 249). In seinem gegen Machiavellis Politik der simulazione gerichteten Buch, hatte schon Botero darauf hingewiesen, dass es für einen Fürsten sehr schwierig ist, den religiösen Glauben vorzutäuschen (Botero 1997, S. 73). So bemerkt etwa Germaine de Staël, dass es mit der Freiheit so ist wie mit der Religion, „jede Heuchelei in einer schönen Sache empört mehr als ein radikales Verwerfen“ (Staël 2000a, S. 487). Wer die Religion verwirft, gebraucht sie nicht, und kann sie demnach auch nicht missbrauchen. Es ist aber gerade der Missbrauch, welcher der Religion am meisten geschadet hat. Und die Heuchelei ist eine Form des Missbrauchs.

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Spätere Ausgaben seines Hauptwerkes De l’esprit des lois beginnt Montesquieu mit einer Warnung an den Leser, die noch nicht in den ersten Ausgaben präsent war, und deren Hinzufügung sich, so der Autor, aus der Notwendigkeit ergab, bestimmten Fehldeutungen wichtiger Passagen des Buches entgegenzuwirken (Montesquieu EL, S. 227). Die Warnung gilt, so der Autor weiter, besonders für die ersten vier Kapitel seines Werkes, in denen die drei großen Regierungsformen vorgestellt und miteinander verglichen werden, und sie betrifft dort den Gebrauch des Wortes „vertu“ – Tugend. Diese Warnung ist für Montesquieu notwendig, weil man das Wort gewöhnlich in einem moralischen Sinn gebraucht und damit die Tugend, oder die Tugenden meint, die den Menschen von der christlichen Religion als zu erwerbende vorgestellt werden, also etwa die Nächstenliebe, die Barmherzigkeit, usw. Ohne diese moralische, und religiös geprägte, Bedeutungsdimension zu leugnen, weist Montesquieu darauf hin, dass er dem Wort eine neue Bedeutung gibt und dass er das Wort nicht in seiner moralischen oder christlichen, sondern in einer rein politischen Bedeutung gebraucht. In dieser von Montesquieu als neu bezeichneten Bedeutung, ist die Tugend mit dem „amour de la patrie“, also der Liebe zum Vaterland gleichzusetzen, und diese ist ihrerseits mit der Liebe zur Gleichheit identisch. Als solche ist die Tugend der Motor der Republiken, also jener Regierungsformen, in denen das Volk in seiner Gesamtheit bzw. der größte Teil des Volkes oder doch ein bestimmter Teil von ihm herrscht.28 Dieser Gebrauch des Wortes mag wohl bei einem auf Französisch schreibenden Autor neu sein, ist es aber nicht, wenn man den Blickwinkel erweitert. Lange bevor man im Christentum von der virtus sprach, hatte das Wort seinen Stammplatz in der Rhetorik des republikanischen Roms und bezeichnete dort die den vir, also den Mann, kennzeichnenden Eigenschaften, wobei der Mann mit dem freien römischen Bürger identifiziert wurde. Machiavelli, dessen Bewunderung für Rom nicht mehr erwähnt zu werden braucht, übernahm den lateinischen Begriff in die italienische Sprache und sprach seinem idealen Fürsten virtù zu. Solche virtù konnten aber auch die Bürger einer freien Stadt besitzen, und es ist diese republikanische virtù, die von Montesquieu in seinem Hauptwerk thematisiert wird. Am Schluss seiner Warnung bezüglich der Bedeutung des Wortes „vertu“, weist Montesquieu darauf hin, dass diejenigen die das Wort in einem moralischen oder gar religiösen Sinn verstanden haben, ihn „absurde Dinge haben sagen lassen, und die in allen Ländern der Welt widerlich wären; denn in allen Ländern der Welt will man Moral“ (Montesquieu EL, S. 228). Allerdings kommen bei einer solchen Lektüre nicht nur oder nicht immer absurde Behauptungen zu Stande. Wenn Montesquieu etwa von der Tugend schreibt, sie sei „Selbstverzicht“ (Montesquieu EL IV, 5, S. 267), dann kann dies auf den ersten Blick durchaus von einem Christen unterschrieben werden, da auch die christlichen Tugenden, allen voran die Tugend der Nächstenliebe, einen Selbstverzicht beinhalten. Um den Nächsten so zu lieben, wie man sich selbst liebt, muss man eine gehörige Portion Selbstliebe aufgeben, 28

Für Montesquieu gehört sowohl die Demokratie als auch die Aristokratie zur republikanischen Regierungsform.

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da die Liebe zu sich selbst gewöhnlich weit größer ist als die Liebe zum Nächsten. Und denkt man an die ersten christlichen Märtyrer, so wird man auch sagen können, dass diese Menschen auf sich selbst bzw. auf ihr irdisches Leben verzichtet haben, um Zeugnis von ihrem Glauben abzulegen. Somit ist es kein Zufall, wenn Montesquieu im zweiten Kapitel des fünften Buches – das die Überschrift „Was die Tugend im politischen Zustand ist“ trägt – von den Mönchen spricht, deren strenge Ordensregel sie von all jenen Leidenschaften fernhält, die sie gewöhnlich plagen. Je strenger diese Regel ist, „d. h., je mehr sie von ihren Neigungen abschneidet, desto mehr Kraft gibt sie jenen, die sie ihnen noch lässt“ (Montesquieu EL V, II, S. 274). Die Ordensregel schwächt die auf das Ich gerichteten Neigungen und fördert somit die über die individuellen Interessen hinaus gehenden Neigungen. In allen ihren Formen scheint die Tugend also einen Kampf gegen bestimmte Neigungen zu implizieren. Doch auch wenn wir zugestehen, dass es Gemeinsamkeiten zwischen der moralisch-religiösen und der politischen Tugend gibt, so dürfen diese Gemeinsamkeiten nicht über einige manifeste Unterschiede hinwegtäuschen. Die politische Tugend unterscheidet sich nämlich in wesentlichen Punkten von der religiös-moralischen Tugend. Die politische Tugend bedeutet, dass man „das Allgemeinwohl dem Eigenwohl immer vorzieht“ (Montesquieu EL IV, 5, S. 267). Das Allgemeinwohl wird hier von Montesquieu als Wohl des Vaterlandes verstanden. Für einen Christen steht nicht so sehr das Wohl des Vaterlandes in Konkurrenz mit dem Eigenwohl, sondern vielmehr das Wohl der Christenheit, und dieses Wohl der Christenheit verweist seinerseits auf einen strikten Respekt der göttlichen Gebote. Diese Gebote bilden den höchsten normativen Referenzrahmen und sie dürfen unter keinen Umständen verletzt werden, auch nicht, um das Vaterland zu retten. Von einem tugendhaften Handeln kann mithin nur solange die Rede sein, wie man sich im Rahmen des von diesen Geboten Vorgeschriebenen bewegt. Sobald man diesen Rahmen verlässt, handelt man lasterhaft. Der gute Christ muss bereit sein, den Untergang seines Vaterlandes hinzunehmen, wenn das Wohl der Christenheit dies verlangt. Der erste Unterschied zwischen den beiden Auffassungen von Tugend stellt also nicht das individuelle Wohl dem Allgemeinwohl gegenüber, sondern er betrifft das jeweils zu fördernde Allgemeinwohl.29 Neben der Sorge um das Wohl der Christenheit, findet man die Sorge um das eigene Seelenheil, die auch in Konflikt treten kann mit der Sorge um das Wohl des Vaterlandes – oder sogar mit der Sorge um das Wohl der gesamten Christenheit.30 Wer sich strikt an die göttlichen Gebote hält, sorgt damit zugleich für sein 29

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Montesquieu erkennt zwar nicht die Christenheit als den höchsten Referenzpunkt an, wohl aber die Menschheit. So schreibt er etwa in den Pensées, dass er, wenn er etwas kennen würde, das einer Nation nützlich, aber einer anderen Nation schädlich wäre, diese Sache seinem Fürsten Sache nicht vorschlagen würde. Denn, so seine Begründung, das Menschsein ist normativ höherrangig als das Französischsein; Mensch ist man notwendig, Franzose durch Zufall der Geburt (Montesquieu P, N. 350). Dementsprechend steht das Wohl des Menschen als Menschen über dem Wohl des Menschen als Mitglied einer bestimmten Nation. Das eigene ewige Seelenheil verlangt, dass man Gott nicht verletzt. In einer an Dramatik kaum zu übertreffenden Passage schreibt Jean de Silhon: „[E]s ist gewiss, dass es keinen Preis gibt, um dessen willen man Gott verletzen darf; nicht einmal, um das öffentliche Wohl zu besorgen;

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individuelles Seelenheil, da Gott nur denjenigen mit dem Paradies belohnen wird, der in einem religiösen Sinn tugendhaft gehandelt hat. Wenn die Bewahrung des Vaterlandes immer durch einen strikten Respekt der göttlichen Gebote möglich wäre, würden keine Dilemmas auftauchen bzw. würden sie nur für denjenigen existieren, der nicht sieht, dass das Vaterland, wenn überhaupt, nur durch einen strikten Respekt der göttlichen Gebote möglich ist. Das Dilemma hätte dann keine metaphysische, und damit objektive, sondern lediglich eine epistemische und subjektive Wurzel. Eine genauere Erkenntnis der Tatsachen würde zeigen, dass es gar keinen Konflikt gibt. Wer an eine göttliche Leitung der Welt glaubt, wird davon ausgehen, dass Gott niemals zulässt, dass man durch unmoralisches Handeln das Vaterland rettet.31 Für ihn bestehen eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Gott hat – aus Motiven, die dem Menschen verborgen sind, die aber, weil es Gottes Motive sind, immer als gut konzipiert werden müssen – das Vaterland zum Untergang bestimmt, und dann kann auch unmoralisches Handeln es nicht retten, oder, zweitens, Gott hat das Vaterland zum Weiterbestehen bestimmt, und dann kann man es auch ohne unmoralisches Handeln verteidigen. Unmoralisches Handeln ist demnach entweder unwirksam oder unnötig, und für den politischen Akteur erübrigt sich somit die scheinbar zum Verzweifeln führende Frage, ob man nicht die göttlichen Gebote verletzen soll, um dadurch sein Vaterland zu retten. Daraus folgt, dass man auch nie seine moralische Integrität und sein ewiges Seelenheil aufopfern muss, um das Vaterland zu retten. Aus christlicher Sicht ist folgende Aussage Machiavellis aus den Discorsi empörend, ja gar widerlich: „Welcher Bürger auch immer sich in einer Situation befindet, in welcher er dem Vaterland zu Rate stehen wird, muss sich dies [eben Gesagte – N. C.] merken und es beachten: denn wo sich die Überlegungen ganz um das Heil des Vaterlandes drehen, darf man keine Rücksicht nehmen auf die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit, das Mitleid oder die Grausamkeit, den guten oder den schlechten Ruf; sondern, nachdem man jede andere Rücksicht zurückgestellt hat, ganz jenen Weg gehen, der ihm [dem Vaterland – N. C.] das Leben rettet und ihm seine Freiheit bewahrt“ (Machiavelli 1992a, S. 249). Und in einem Brief an seinen Freund Vettori schreibt der Florentiner: „Ich mag den Herrn Francesco Guicciardini, ich liebe mein Vaterland

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nicht einmal, um die Zerstörung des Vaterlandes abzuwenden; nicht einmal, um das ganze Menschengeschlecht vor dem Untergang zu bewahren; nicht einmal, um die gesamte Natur vor dem Tod und der Vernichtung zu bewahren“ (Silhon 1661, S. 219). „Fiat iustitia pereat mun­ dus“, lautet eine lateinische Wendung, die hier bei Silhon zum Vorschein kommt. Die Kompatibilität kann hier auf zweierlei Weise hergestellt werden. Einerseits kann man behaupten, dass Gott uns nicht die Bewahrung des Vaterlandes vorgeschrieben hat, dass diese Bewahrung aber immer unter strikter Einhaltung der göttlichen Gebote erreicht werden kann. Andererseits kann man behaupten, dass Gott uns die Bewahrung des Vaterlandes vorgeschrieben und diese Bewahrung sogar als höchstes Gebot formuliert hat. In einem solchen Fall folgt man nur Gottes willen, wenn man das Vaterland bewahrt, auch wenn man es mit Mitteln tut, die Gott verabscheut – d. h. die er verabscheut, wenn sie nicht für den Erhalt des Vaterlandes eingesetzt werden. Es ist diese zweite Interpretation, die Viroli als konstitutiv für die politische Theologie des italienischen Republikanismus sieht (Viroli 2012). Man findet sie auch bei Spinoza (dazu Campagna 2001).

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mehr als meine Seele […]“ (Machiavelli 1992c, S. 1250). In den Istorie Fiorentine berichtet Machiavelli von Bürgern, die der päpstlichen Exkommunizierungsdrohung trotzten, und die sich der Güter der Kirche bemächtigten, um ihr Vaterland zu schützen, und damit zum Ausdruck brachten, dass sie „mehr ihr Vaterland als die Seele liebten“ (Machiavelli 1992b, S. 696). Empörend sind solche Aussagen aus christlicher Perspektive erstens einmal, weil sie den Handelnden dazu auffordern, sein ewiges Seelenheil aufzuopfern, um das Vaterland zu retten, d. h. ein spirituelles Gut um der Bewahrung eines an sich materiellen oder irdischen Gutes willen zu riskieren. Aus christlicher Sicht32 muss man immer auf die Gerechtigkeit Rücksicht nehmen, und ohne unbedingt strikt dem Mitleid zu folgen, sollte man sich zumindest nicht einem grausamen Handeln hingeben. Und zweitens sind die Aussagen empörend, weil in ihnen ein Zweifel bzw. sogar eine Leugnung der göttlichen Vorsehung zum Ausdruck kommen – ein Zweifel oder eine Leugnung die, denkt man sie konsequent zu Ende, in den Atheismus führen. Auch wenn Montesquieu nie so weit geht wie Machiavelli, macht doch auch er einen Unterschied zwischen dem guten Bürger und dem guten Christen, und weist ganz zum Schluss seiner Warnung an den Leser hin, dass es sich beim guten Menschen des fünften Kapitels des dritten Buches nicht um den guten christlichen Menschen handelt, sondern um den guten politischen Menschen (Montesquieu EL, S. 228). In einer Fußnote dieses fünften Kapitels betont Montesquieu, dass er von der politischen Tugend spricht, die er aber ausdrücklich als „moralische Tugend“ bezeichnet, wobei er allerdings gleich präzisiert, dass sie sich auf das Gemeinwohl bezieht und wenig mit besonderen moralischen Tugenden und gar nichts mit jener Tugend zu tun hat, „die sich auf die geoffenbarten Wahrheiten bezieht“ (Montesquieu EL III, 5, 255). Wenn man demnach das politische Handeln berücksichtigen will bzw. wenn man das politische Handeln aus einem politischen Blickwinkel beurteilen will, sollte man sich von der rein moralischen und vor allem von der rein religiösen Perspektive – die der moralischen zu Grunde liegt – befreien. Was aus rein religiöser Sicht verurteilungswürdig erscheint, kann aus politischer Sicht ratsam, wenn nicht sogar als notwendig erscheinen. Ähnliches gilt auch für die Gesetze. In De l’esprit des lois unterwirft Montesquieu die Gesetze einer strikt funktionalistischen Analyse. Das bedeutet u. a., dass er die Güte eines Gesetzes nicht in abstracto betrachtet, sondern immer nur im Rahmen einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft. Aus der Tatsache, dass ein Gesetz an sich gut ist, folgt noch nicht, dass es auch in einem konkreten Kontext gut sein wird. Und umgekehrt auch: aus der Tatsache, dass ein Gesetz uns als äußerst grausam erscheint, folgt noch nicht, dass dieses Gesetz nicht unter bestimmten Umständen positive Auswirkungen haben kann. Montesquieu betrachtet die soziale Welt nicht aus der Perspektive des Utopisten, der sich ideale Menschen unter idealen Bedingungen ausdenkt, und sich dann fragt, welche Gesetze diese Menschen hätten, sondern er betrachtet sie aus 32

Viroli würde hier sicherlich sagen, dass es sich um die Sicht des nachtridentinischen Christentums, nicht aber um die Sicht des republikanischen Christentums handelt.

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dem Blickwinkel des konkreten Gesetzgebers, dem es immer nur darum geht, das Zusammenleben konkreter Menschen in einer realexistierenden Gemeinschaft zu ermöglichen. Gesetze die für ein im hohen Norden, am Polarkreis lebendes Volk ihre Nützlichkeit haben, können verheerende Folgen für ein im Süden, am Äquator lebendes Volk haben. Gesetze müssen immer vor dem Hintergrund der Menschen und der objektiven Situation betrachtet werden, für die sie gedacht sind. Insofern ist die Güte – hier im Sinne von Angemessenheit – des Gesetzes, wie Montesquieu sie betrachtet, immer relativ und keine dem Gesetz intrinsische Eigenschaft. Und auch wenn man davon ausgeht, dass man in einem absoluten Sinne von der Güte oder Richtigkeit eines Gesetzes sprechen kann, so sollte der Gesetzgeber sich nicht nach der Richtschnur dieser absoluten Güte richten, sondern er sollte sich stets die Frage stellen, welches Gesetz unter den gegebenen Umständen am nützlichsten ist. Eine wiederum ähnliche Bemerkung lässt sich bezüglich der Tugenden im traditionellen Sinne, also der strikt gesehen moralischen Tugenden aufstellen. Aus einer rein moralischen Perspektive betrachtet, sind die Tugenden an sich wertvoll, und ihr Besitz ist allein schon als solcher gut. Wenn man die Tugenden aristotelisch betrachtet, d. h. die Tugend als eine Art Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Lastern, dann stellt sich höchstens die Frage nach ihrem Beitrag zu einem gelungenen oder glücklichen Leben, wobei man diesen Beitrag nicht, oder doch nicht nur, extrinsisch, sondern – auch – intrinsisch betrachten sollte. Für Aristoteles ist der Besitz der Tugenden ein Bestandteil des guten Lebens und er sollte nicht bloß instrumentell gedacht werden. Tugenden sind nicht bloß beliebig wählbare Instrumente die zum guten Leben führen können, sondern sie machen das gute Leben aus. Der Mensch sollte sie dementsprechend auch immer um ihrer selbst willen anstreben. Sie haben einen Wert an sich, ganz unabhängig von dem instrumentellen Wert, den sie auch vielleicht besitzen. Man kann diese moralische Perspektive aber auch durch eine politische Perspektive ergänzen und untersuchen, inwiefern der Besitz der moralischen Tugenden das Wohl des Gemeinwesens fördert. Der Besitz der Tugenden ist dann nicht mehr nur, und vielleicht sogar nicht mehr ausschließlich, aus dem Blickwinkel der persönlichen Integrität oder der persönlichen Glückseligkeit wichtig, sondern er wird vor einem ihm äußerlichen Hintergrund gedacht. Die Frage stellt sich, ob der Besitz moralischer Tugenden für das Bewahren des Gemeinwohls förderlich ist oder nicht, unabhängig von jeglichem intrinsischen Wert, den diese Tugenden an sich haben können. Und hier taucht dann gegebenenfalls wieder jenes Dilemma auf, auf das schon vorhin hingewiesen wurde: was sollte man tun, wenn der Besitz der moralischen Tugenden dem Gemeinwohl nicht nur nicht förderlich ist, sondern gegebenenfalls sogar eine Gefahr für das Gemeinwohl darstellt? U. a. Machiavelli hatte darauf aufmerksam gemacht, dass das Christentum der Evangelien mit seiner Moral der Nächstenliebe kaum, wenn überhaupt, in der Lage ist, als öffentliche Moral zu dienen, da ein Staat der sich nach dieser Tugend richtet, seine Feinde liebt und gegebenenfalls die andere Wange hinhält, schnell zu Grunde

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gehen wird.33 Mag also durchaus die christliche Moral als solche höchst bewundernswert sein und als reine Privatmoral akzeptiert werden kann, so taugt sie doch nicht als öffentliche Moral. Für die öffentliche Moral kommt es auf die sogenannte verità effettuale an, also auf die wirkende bzw. die sich verwirklichende Wahrheit.34 Wer eine politische Funktion ausübt und im Rahmen dieser Funktion ein bestimmtes Resultat erzielen muss, muss das als wahr oder richtig betrachten, was es ihm ermöglicht, sein Ziel zu erreichen. Wie wahr oder richtig die christliche Morallehre der Evangelien auch immer in abstracto sein mag, so scheitert sie doch als Mittel, um die politische Ordnung in einem Staat zu bewahren bzw. ist man zum Scheitern verurteilt, wenn man sich ausschließlich nach ihr richtet und sich nicht den faktischen Gegebenheiten anpasst.35 33

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Die Moral der Evangelien ist nicht dieselbe wie die Moral des Alten Testaments, vor allem nicht, wenn es auf den Rückgriff auf Gewalt im Namen Gottes ankommt. Der Gott des Alten Testaments scheut sich nicht vor dem Aufruf zur Gewalt, wohingegen der Gott des Neuen Testaments, durch die Stimme Jesus’, die Menschen zum Frieden untereinander aufruft. Catherine Zuckert verwendet diesen durch Machiavelli – siehe Machiavelli 1992, S. 280 – popularisierten Begriff im Zusammenhang mit Tocqueville. Machiavelli stellt die „verità effe­ tuale della cosa“ den politischen Utopien entgegen: Statt zu sagen, wie die Dinge sein sollten, besteht die Aufgabe des politischen Schriftstellers, der seinen Zeitgenossen nützlich sein will, darin, zu sagen, wie die Dinge sich tatsächlich verhalten. Wer nämlich seinen politischen Überlegungen ein idealisiertes Bild des Menschen zu Grunde legt, wird nicht mit den real existierenden Menschen umgehen können. Zuckert behauptet, dass Tocquevilles Wissenschaft der Politik letztlich auf der „effective truth“ beruht, d. h. dass es ihm nicht darauf ankommt zu wissen, was die Wahrheit im absoluten Sinn des Wortes ist, sondern welche Behauptungen von den Menschen als wahr geglaubt werden können und damit auch in ihrem Leben wirksam und gestaltend sein können – „what people are willing to believe“, so Zuckerts Definition der „effective truth“ (Zuckert 1991, S. 131). Sie verkürzt allerdings die Perspektive Tocquevilles wenn sie schreibt, es geschehe bei ihm ein Übergang von der Suche nach der Wahrheit zu einer Entdeckung der Ursprünge und Wirkungen dessen, was die meisten Menschen als wahr akzeptieren (Zuckert 1991, S. 134). Auch wenn nicht bestritten werden kann, dass Tocqueville ein Soziologe des, wie sein Zeitgenosse Karl Marx gesagt hätte, ideologischen Überbaus ist, so geht es Tocqueville doch auch darum zu wissen, was die Menschen als wahr akzeptieren müssen, wenn sie weiterhin in Freiheit leben wollen. Für Raymond Aron, der in Frankreich zu seiner Wiederentdeckung beigetragen hat, ist Tocqueville ein Soziologe, insofern er seinen Blick auf die Vielfalt der Sitten, der Gesetze, usw. wirft und diese Vielfalt beschreibt und zu erklären versucht. Im Gegensatz zu Hennis, der unnuanciert behauptet, es sei radikal falsch, Tocqueville als einen Soziologen zu verstehen (Hennis 1992, S. 65), sollte man vorsichtiger sein und behaupten, es sei falsch, in Tocqueville nur einen Soziologen zu sehen. Für Aron ist Tocqueville nämlich auch ein Philosoph, und dies insofern er Werturteile fällt (Aron 1998, S. 19). Die Begründung die Aron für seine Beschreibung Tocquevilles als Philosophen gibt, ist ziemlich oberflächlich, hat aber zumindest den Verdienst hervorzuheben – contra Feldhoff 1968, S. 132 –, dass man bei Tocqueville durchaus wertende Stellungnahmen findet. Auch wenn Zuckert sicherlich recht hat darauf hinzuweisen, dass Tocqueville die philosophischen Grundlagen der modernen Politik und seines eigenen Unternehmens nicht genügend reflektiert (Zuckert 1991, S. 152), so lässt sich doch nicht bestreiten, dass Tocqueville von einer bestimmten philosophischen Grundlage ausgeht und auch diese Grundlage hinsichtlich ihrer „effective truth“ betrachtet, so dass man zumindest behaupten kann, dass er, vielleicht wie seiner Zeit Machiavelli, die „effective truth“ seines Unternehmens reflektiert. Ich verweise hier noch einmal auf die Arbeiten Virolis. Viroli verteidigt die These, dass Machiavelli, im Einklang mit dem florentinischen Republikanismus seiner Zeit, das Christentum als

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Während der religiöse oder moralische Tugendbegriff in erster Linie die intrinsische Güte oder Richtigkeit einer Tugend betrachtet und den Erwerb oder die Förderung bestimmter Tugend fordert, weil es die wahren oder richtigen sind bzw. weil es die Tugenden sind, die zu unserer menschlichen Natur passen, so orientiert sich der politische Tugendbegriff an der Nützlichkeit und fordert den Erwerb oder die Förderung solcher Tugenden, die dem politischen Gemeinwesen und den von ihm verkörperten Werten nützlich sind. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die in einem absoluten Sinn wahren oder richtigen zugleich auch die politisch nützlichen Tugend sind. Aber diese Übereinstimmung kann nicht a priori behauptet werden. Oder sie kann es nur, wenn man ein bestimmtes Weltbild voraussetzt, nämlich ein Weltbild, in dem eine unsichtbare Hand dafür sorgt, dass das Wahre und Richtige zugleich auch immer das Nützliche ist. Wenn ein gütiger Gott die Welt so eingerichtet hat, dass der Mensch nie unmoralisch handeln muss, um grundlegende politische Werte – Bewahrung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Freiheit – zu verwirklichen, dann kann es keine politischen Dilemmatas mehr geben. KAPITEL 4: RELIGIÖSE WAHRHEIT UND POLITISCHER NUTZEN BEI MONTESQUIEU Die vorigen Überlegungen haben uns gezeigt, dass man den Besitz moralischer Tugenden aus einer doppelten Perspektive betrachten muss. Einerseits kann man ihn aus einer rein moralischen Perspektive betrachten, und dann erscheinen einem die moralischen Tugenden als an sich wertvoll. Betrachtet man sie aber andererseits aus einer politischen Perspektive, dann kann sich durchaus herausstellen, dass das an sich moralisch Wertvolle politisch gesehen wertlos ist oder sogar gefährlich. Hier legt man einen anderen, äußeren Maßstab an. Doch ist man berechtigt, einen solchen Maßstab anzulegen? Darf man das an sich Göttliche aus einer rein menschlichen, und d. h. hier spezifisch politischen Perspektive betrachten? Im ersten Kapitel des XXIV. Buches von De l’esprit des lois, erklärt Montesquieu, wie er an die Untersuchung der Religionen herangehen will. Er schreibe nicht als Theologe, sondern als politischer Schriftsteller, so eine Grundfeststellung. Was damit konkret gemeint ist, erfahren wir in folgendem Satz: „Ich werde demnach die verschiedenen Religionen der Welt nur im Hinblick auf das Gut betrachten, das man aus ihnen für den bürgerlichen Zustand ziehen kann, mag ich von derjenigen eine Religion betrachtete, die uns die Verteidigung des Vaterlandes zur religiösen Pflicht macht, und dass Gott dementsprechend diejenigen liebt, die für ihr Vaterland kämpfen, auch dann, wenn sie sich dabei bestimmter Mittel bedienen, die an sich als verwerflich gelten (Viroli 2010). Für Viroli unternimmt Machiavelli also, im Einklang mit dem republikanischen Denken seiner Zeit, den Versuch, das mit dem antiken Rom in Verbindung stehende Ideal der Vaterlandsliebe zu verchristlichen, d. h. ihm den Segen des christlichen Gottes zu geben: Das Politische wird durch das Religiöse gerechtfertigt, indem sozusagen das Ziel des Politischen eine religiöse Weihe erhält. Beiner sieht die Sache anders und behauptet, man finde bei Machiavelli viel eher den Versuch, das Christentum zu verheidnischen (Beiner 2012, S. 20): Das Religiöse wird in den Dienst des Politischen gestellt.

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sprechen, die ihre Wurzel im Himmel hat, oder von denjenigen, die ihren Ursprung auf Erden haben“ (Montesquieu EL XXIV, 1, S. 715). Eigentlich stellen sich der Theologe und der politische Schriftsteller – zumindest oberflächlich betrachtet – dieselbe Frage: Was bringt ein bestimmter religiöser Glaube den Menschen? Allerdings sprechen sie dabei nicht von demselben Gut. Während nämlich der Theologe sich mit der Frage nach dem Beitrag der Religion zum Erreichen eines jenseitigen Gutes – das ewige Seelenheil – befasst, befasst der politische Schriftsteller sich mit der Frage nach dem Beitrag der Religion zum Erreichen eines diesseitigen Gutes – und hier kommen prinzipiell viele mögliche Güter in Frage (Frieden, Ordnung, Freiheit, …). Dabei ist, wie schon an anderer Stelle erläutert wurde, zwischen einem privaten und einem öffentlichen diesseitigen Gut zu unterscheiden. An der eben zitierten Stelle erwähnt Montesquieu den bürgerlichen Zustand. Aber man könnte durchaus auch, individualpsychologisch betrachtet, das persönliche Glück oder Wohlbefinden bzw. das individuelle Selbstwertbewusstsein nennen. Dies tut etwa Tocqueville, wenn er schreibt: „An einer anderen Stelle dieses Werkes habe ich nach den Ursachen gesucht, denen man die Bewahrung der politischen Institutionen der Amerikaner verdanken kann, und die Religion erschien mir als eine der wichtigsten. Heute befasse ich mich mit den Individuen und bemerke, dass sie dem Individuum nicht weniger nützlich ist als dem Staat“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 149). Der politische Schriftsteller, qua politischer Schriftsteller, wird sich vielleicht höchstens nur am Rande mit dem Beitrag der Religion für das persönliche Glück, Wohlbefinden oder Selbstwertbewusstsein befassen bzw. wird er sich nur insofern mit dieser Frage befassen, als das persönliche Glücksgefühl, Wohlbefinden oder Selbstwertbewusstsein einen Einfluss auf den bürgerlichen Zustand haben kann. Wenn das Fehlen jeglicher Religion die Menschen unglücklich macht oder wenn dieses Fehlen dazu führt, dass sie kein oder nur noch ein sehr niedriges Selbstwertgefühl haben, und wenn dieses Gefühl des Unglücklichseins oder dieses fehlende oder niedrige Selbstwertgefühl sich negativ auf den bürgerlichen Zustand niederschlagen, dann kann dies dem politischen Schriftsteller nicht gleichgültig sein, denn als politischer Schriftsteller ist ihm an erster Stelle am bürgerlichen Zustand gelegen, so dass alles was die Güte dieses bürgerlichen Zustandes fördern kann, ihn auch interessieren muss. Wenn das politische Gemeinwesen nur gut funktionieren kann, wenn die Psyche der Individuen in Ordnung ist, und wenn die Psyche der Individuen nur dann in Ordnung ist, wenn sie einen religiösen Glauben haben, dann muss sich der Blick des politischen Schriftstellers auch auf den religiösen Glauben richten. Dabei kommt es nicht auf die Wahrheit der Religion an, sondern lediglich darauf, wie der religiöse Glaube sich auf das Glück- oder Selbstwertgefühl des Einzelnen auswirkt – und wie dies sich dann auf das Wohl des Gemeinwesens auswirkt. Montesquieu geht nicht auf die möglichen rein individualpsychologischen Einflüsse der Religion ein, sondern spricht nur vom unmittelbaren Impakt der Religion auf den bürgerlichen Zustand. Dabei stellt er fest, „dass es Dinge geben könnte, die nur aus einer menschlichen Denkweise betrachtet ganz wahr wären, weil man sie nicht im Hinblick auf sublimere Wahrheiten betrachtet hat“ (Montesquieu EL XXIV, 1, S. 714). So könnte etwa eine Religion, die, betrachtet man sie aus einer

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rein theologischen Perspektive, ganz falsch ist, sich als ganz wahr erweisen, wenn man sie aus einer rein politischen Perspektive betrachtet. Montesquieu ‚perspektiviert‘ hier sozusagen den Wahrheitsbegriff, indem er eine menschlich-soziale und eine göttliche bzw. eine politische und eine theologische Perspektive voneinander unterscheidet. Insofern er als politischer Schriftsteller und nicht als Theologe schreibt, ist er an dem interessiert, was aus politischer Perspektive betrachtet wahr ist. Dabei schließt er keinesfalls aus, dass etwas aus beiden Perspektiven betrachtet wahr sein kann. Wichtig ist hier nur für ihn die Möglichkeit, dass die beiden Perspektiven sich nicht decken, und dass das, was aus der theologischen Perspektive betrachtet falsch ist, aus der politischen Perspektive betrachtet sich als wahr darstellt. Montesquieu geht in diesem Zusammenhang nicht auf die Frage ein, was es heißt, aus der einen oder anderen Perspektive betrachtet wahr zu sein, d. h. er liefert keine Wahrheitsdefinition. Allerdings scheint doch ein Wahrheitskriterium stillschweigend vorausgesetzt zu werden: Aus einer göttlichen oder theologischen Perspektive kann das als wahr betrachtet werden, was zum ewigen Seelenheil führt, und aus einer politischen Perspektive kann das als wahr betrachtet werden, was zum Wohl des politischen Gemeinwesens und zum Erhalt oder zur Förderung der diesem Gemeinwesen zu Grunde liegenden Werte führt. Oder vielleicht noch anders ausgedrückt: Das theologische Wahrheitskriterium ist die Erlangung des ewigen Seelenheils; das politische Wahrheitskriterium ist die politisch-soziale Stabilität. Dabei ist zu bedenken, dass man das ewige Seelenheil, den salus animae, nur dann erlangen kann, wenn man an den wahren Gott glaubt, d. h. wenn die religiösen Sätze an die man glaubt einer objektiven Wirklichkeit entsprechen. Diese Voraussetzung gilt allerdings nicht für den salus populi: Die religiösen Aussagen an deren Wahrheit ein Volk glaubt brauchen nicht unbedingt mit einer objektiven übernatürlichen Wirklichkeit übereinzustimmen, damit die betreffende Religion politische oder soziale Wirksamkeit besitzt. Im Fall des Christentums kann allerdings auch der Ursprung als Wahrheitskriterium dienen. Die theologische Perspektive vergleicht die Aussagen der Religion mit der übernatürlichen Wirklichkeit bzw. sie vergleicht die Aussagen einer bestimmten Religion R2 mit den Aussagen einer als wahr vorausgesetzten Religion R1. Aus der Sicht der Christen ist das Christentum wahr, weil es die von Gott geoffenbarte Religion ist. Insofern der christliche Gott ein gütiger Gott ist, kann er uns nicht täuschen wollen und wir können deshalb sein in der Bibel geoffenbartes Wort als Wahrheit hinnehmen. Wenn wir an diese Wahrheit glauben und nach ihr leben, dann wird uns das ewige Himmelsreich zuteil, während diejenigen die diese Wahrheit ablehnen, zur ewigen Verdammnis verurteilt werden. Dem Theologen geht es darum, jene Wahrheit zu vertreten, die dem Menschen die Tür zum Himmelsreich öffnet, und er will umgekehrt jene Falschheit bekämpfen, die dem Menschen nur ewiges Unglück bringen wird. Wer an die Wahrheit glaubt und nach ihr lebt, wird vielleicht seine irdischen Ziele verfehlen, aber ihm öffnen sich die Türen des Himmelreichs. Und die ewige Glückseligkeit sollte für jeden Menschen das höchste Ziel sein, um dessen Willen alle anderen Ziele notfalls geopfert werden müssen.

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Ganz anders der politische Schriftsteller. Um Montesquieu noch einmal zu zitieren: „So wie man hinsichtlich der Finsternis die größere von der geringeren unterscheiden kann, und hinsichtlich der Abgründe jene die tiefer und jene die weniger tief sind, kann man auch unter den falschen Religionen diejenigen suchen, die dem Wohl der Gesellschaft am meisten entsprechen; diejenigen die, obwohl sie nicht die Wirkung haben, die Menschen zum Glück des jenseitigen Lebens zu führen, am meisten zu ihrem Glück in diesem Leben beitragen können“ (Montesquieu EL XXIV, 1, S. 714). Aus einer rein theologischen Perspektive betrachtet, kann es nur eine wahre Religion geben, und alle anderen Religionen sind, zumindest in einem bestimmten Sinn, gleich falsch.36 Der Theologe wird sich allerhöchstens mit der Frage befassen, welche dieser falschen Religionen der wahren Religion am ähnlichsten ist, so dass bezüglich ihrer Anhänger die Hoffnung wahrscheinlich am größten ist, sie zur wahren Religion hinzuführen. Wenn der Theologe demnach einen Unterschied zwischen den falschen Religionen macht, dann geschieht dies immer vor dem Hintergrund der einen wahren Religion. Für den Theologen müssen alle Menschen zu dieser einen wahren Religion gebracht werden, und es darf dementsprechend keine falsche Religion geduldet werden, wobei die Theologen sich höchstens darüber streiten, mit welchen Mitteln man das Ende der falschen Religionen herbeiführen sollte – rein mit Predigten und Überzeugungsarbeit, oder gegebenenfalls auch mit Gewalt? Für den politischen Schriftsteller ist die theologische Wahrheit Nebensache bzw. besteht seine Priorität nicht darin, die falschen Religionen durch die wahre zu ersetzen – und schon gar nicht, die wahre von der falschen zu unterscheiden, da für eine solche Unterscheidung andere Kompetenzen gefragt sind als die, über die der politische Schriftsteller als solcher verfügt. Sollte sich für ihn herausstellen, dass eine aus theologischer Sicht falsche Religion zum Gemeinwohl beiträgt, und dementsprechend aus politischer Sicht wahr ist, dann sollte diese Religion, trotz ihrer theologischen Falschheit, bewahrt werden, und zwar solange, wie sie ihre Funktion erfüllt und nicht durch eine Religion ersetzt werden kann, die diese Funktion besser, 36

Aus christlicher Sicht kann man sicherlich behaupten, dass der Islam nicht so falsch ist wie der römische Polytheismus. Aber trotzdem ist aus dieser Sicht – zumindest so wie sie traditioneller Weise interpretiert wurde – derjenige, der an die Wahrheit des Islams glaubt, ebenso vom ewigen Seelenheil ausgeschlossen wie der römische Polytheist. Laut dem traditionellen Verständnis kann nur der christliche – der christlich-katholische – Glaube zum ewigen Seelenheil führen. Insofern ist der Islam genauso falsch wie der Polytheismus, auch wenn er bestimmte Aspekte enthält – etwa den Monotheismus –, die man auch im Christentum wiederfindet. Man kann zwar einerseits dem in der Kirche gelehrten Glauben ferner oder näher stehen, solange man diesen Glauben nicht ganz teilt, darf man sich keine Hoffnung auf die Erlangung des ewigen Seelenheils machen. Oliver Hidalgo hat mich diesbezüglich auf die Existenz bestimmter Religionen aufmerksam gemacht, die keinen solchen Exklusivitätsanspruch stellen. Sein Hinweis ist ganz richtig und meine Behauptung sollte dementsprechend relativiert werden: Die Theologen bestimmter Religionen haben zu bestimmten Zeitpunkten die These vertreten, dass es nur eine wahre Religion geben kann, da es nur einen wahren Gott bzw. eine Gruppe wahrer Götter gibt. Ich möchte hier die Hypothese aufstellen, dass eine Religion umso toleranter – als Religion – wird, je mehr sie eine soziale und politische Funktion erfüllt oder je mehr sie sich der Philosophie annähert.

Kapitel 4: Religiöse Wahrheit und politischer Nutzen bei Montesquieu

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oder zumindest doch genauso gut erfüllt. Für den politischen Schriftsteller zählt primär der jeweilige Beitrag der Religionen zum Gemeinwohl bzw. zum öffentlichen Glück, und bei der Untersuchung dieses Beitrags setzt er die Frage nach der theologischen Wahrheit zwischen Klammern. Diese Frage ist für seine Untersuchungen irrelevant, so dass er auch nicht auf eine definitive Antwort auf sie warten muss. Er mischt sich nicht in Diskussionen ein, auf die er keine Antwort finden kann. Er braucht in dieser Hinsicht keinen Alberico Gentili, der ihn zu einem „Silete politici in munera alieno“ aufruft37, sondern er legt sich selbst ein solches Schweigen auf. Er spricht zwar noch über Religion, aber er mischt sich nicht in theologische Diskussionen ein. Und er begründet dies nicht durch eine theologische These – Gott mischt sich nicht in menschliche Angelegenheiten ein (weil es ihn nicht gibt oder weil es ihn zwar gibt, er sich aber nicht einmischt). Sein Untersuchungsgegenstand ist nicht der Einfluss Gottes auf die Welt, sondern der Einfluss des menschlichen Glaubens an Gott auf den Zustand der Gesellschaft. Das Untersuchungsmaterial des politischen Schriftstellers sind die real existierenden Gesellschaften und die beobachtbaren Beziehungen der Menschen in diesen Gesellschaften. Diese Beziehungen werden zum Teil durch den religiösen Glauben geprägt. Der politische Schriftsteller untersucht die Auswirkungen dieses Glaubens auf das Zusammenleben der Menschen, wobei er davon ausgeht, dass es nur der Glaube und das sich aus ihm ergebende Handeln sind, die sich auf menschliche Zusammenleben auswirken. Aus rein methodologischen Gründen schließt er das Eingreifen einer transzendenten Instanz aus. Ein Theologe schließt ein solches Eingreifen nicht aus, und wird demnach bereit sein, die Wirkung des religiösen Glaubens durch Rückgriff auf diese transzendente Instanz zu erklären. Für den Theologen wirkt nur der wahre Glaube sich positiv auf die Gesellschaft aus, da nur der wahre Glaube und die wahren Gläubigen auf die Unterstützung Gottes zählen können. Man findet aber bei Montesquieu einige Aussagen, die eher einem Theologen als einem politischen Schriftsteller entsprechen bzw. bei denen beide Perspektiven vermischt werden. So heißt es in den Pensées, dass auch wenn die christliche Religion falsch wäre, man sie trotzdem behalten müsste, weil die Menschen der Gottheit besser gefallen werden, wenn sie ein christliches Leben führen, als wenn sie die christliche Moral missachten (Montesquieu P, N. 421). Der politische Schriftsteller kann eigentlich nicht wissen, was der Gottheit besser gefällt. Und man kann sich auch fragen, wie er wissen kann, dass einer nicht-christlichen Gottheit Menschen besser gefallen werden, die nach der christlichen Moral leben als Menschen die dies nicht tun. Dies kann höchstens der Theologe. Wenn aber der Theologe weiß, dass die christliche Religion falsch ist, dann wird er verlangen, dass man sie durch die 37

Der in Oxford tätige Rechtsgelehrte hatte in seinem Traktat De iure belli die Theologen zum Schweigen in bestimmten Angelegenheiten aufgefordert (Gentili 1918, S. 57). Für den Völkerrechtler Gentili spielten die Religionsunterschiede keine Rolle im Völkerrecht, und Theologen sollten demnach davon absehen sich etwa die Frage zu stellen, ob ein mit Ungläubigen – in diesem Fall Muslimen – eingegangener Vertrag überhaupt verbindlich sein kann. Der Dreißigjährige Krieg ist in diesem Zusammenhang ein sprechendes Beispiel: Das katholische Frankreich verbündete sich mit protestantischen Fürsten, um den katholischen Kaiser zu bekämpfen, und hoffte dabei auf die Unterstützung des ottomanischen Reichs.

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wahre Religion ersetzt. Dem wird der politische Schriftsteller entgegnen, dass es unter bestimmten Umständen nicht möglich oder aber gefährlich ist, eine Religion durch eine andere zu ersetzen, mag es sich bei dieser anderen auch um die richtige handeln. Für ihn geht es nicht darum in Erfahrung zu bringen, was der Gottheit besser gefallen wird, sondern was machbar ist, ohne das soziale Leben der Menschen zu stark zu erschüttern. Im 29. Kapitel des XIV. Buches von De l’esprit des lois schreibt Montesquieu ausdrücklich: „Die wahrsten und heiligsten Dogmen können sehr schlimme Konsequenzen haben, wenn man sie nicht mit den Prinzipien der Gesellschaft verbindet; und im Gegenteil können die falschesten Dogmen wunderbare [Konsequenzen – N. C.] haben, wenn man sie mit denselben Prinzipien in Verbindung bringt“ (Montesquieu EL XXIV, 19, S. 728–9). Es ist also nicht, wie es in der Überschrift des Kapitels heißt, die Wahrheit – oder, was aber eher unwahrscheinlich ist – die Falschheit eines religiösen Dogmas an sich, die letztendlich seine Nützlichkeit bestimmen. Wichtig ist, wie man mit einem bestimmten Dogma umgeht. Insofern aber Wahrheit oder Falschheit des Dogmas keine Rolle spielen, braucht sich der politische Schriftsteller auch nicht darum zu kümmern. Er will die Menschen nicht zu einem bestimmten religiösen Glauben führen, weil das ihrem ewigen Seelenheil nützt, noch, weil es in irgendeinem Sinne absolut wahr oder richtig ist, sondern er will sie an etwas glauben lassen, weil dies ihrem irdischen Wohl im Rahmen einer bestimmten politischen Gesellschaft förderlich ist. Oder noch genauer: der politische Schriftsteller will den politischen Entscheidungsträgern erklären, dass sie sich bei der Gesetzgebung nicht am Kriterium der religiösen Wahrheit orientieren sollten, sondern an demjenigen des Nutzens. Jean-Baptiste Say wird dies mit aller Klarheit in einer Fußnote zum XXI. Kapitel seiner Politique pratique – dessen Überschrift „Vom politischen Nutzen der Religionen“ lautet – formulieren: „Wir mussten, um dieses Kapitel zu behandeln, uns ganz von dem Punkt desinteressieren, um den es geht. Wenn wir mit der Voraussetzung begonnen hätten, dass eine bestimmte Religion in der Tat notwendig ist und dass sie triumphieren muss, dann wäre jede Untersuchung überflüssig geworden; denn wenn man mit der These beginnen würde, dass nur die Regierung von Konstantinopel gut ist, und dass allein schon der Gedanke, dass es eine andere geben könnte, ein Verbrechen wäre, dann ist es nutzlos, über Politik zu schreiben. Dieses Kapitel, wie auch das ganze Werk, wurde nicht geschrieben, um dieses oder jenes System zu vindizieren, sondern um die Wirkungen zu zeigen, die in Wirklichkeit aus diesen oder jenen Institutionen (für das Schicksal der Nationen) resultieren. Die Religionen werden hier nicht an sich selbst beurteilt, oder aus der Sicht der Autorität, die den Menschen ein bestimmtes Dogma als Wahrheiten (sic!) empfiehlt. Das muss man den Streitgesprächen überlassen. Aber sind einmal ein bestimmtes Dogma, eine bestimmte Disziplin angenommen, was sind dann die Konsequenzen, das gehört in das Gebiet der politischen Wissenschaft“ (Say 2003, S. 515).38 Der politische Schriftsteller geht demnach, wie der Mathematiker, von einer bestimm38

Anmerkungen zu Says Verhältnis zur Religion, und vor allem zum religiösen Gefühl, wie es Constant verteidigt, findet man in Whatmore 2000.

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ten Hypothese aus: Angenommen eine bestimmte Religion X ist etabliert – und untersucht dann die Konsequenzen dieser Hypothese für die Gesellschaft. Die Frage nach der Wahrheit der Hypothese selbst fällt nicht in seinen Zuständigkeitsbereich, sondern in denjenigen des Theologen und ist ein Gegenstand der theologischen Streitgespräche. Auch Gaetano Filangieri, der italienische Montesquieu, wird sich rechtfertigen, über alle Religionen, und somit auch über die falschen, geschrieben zu haben und den – wenn auch geringen – positiven politischen Beitrag der letzteren thematisiert zu haben: „Die Wissenschaft also, die den Gesetzgeber und die Gesetzgebung leitet, kann die falschen Religionen nicht vernachlässigen, und niemand darf ihrem Autor Anathema entgegen schreien, wenn der Götzenanbeter und der Heide, der Anhänger Mohammeds oder derjenige CHRISTUS’, dort in gleicher Weise die Prinzipien finden, die ihre Gesetze leiten sollen, die sich auf derart unterschiedliche Religionen und Kulte beziehen“ (Filangieri 1821, S. 158–159). Einige Zeilen früher hatte Filangieri auf die „minori vantaggi“, also die kleineren Vorteile hingewiesen, die ein Volk aus einer falschen Religion ziehen kann. Diesen kleineren Vorteilen stehen aber große Nachteile gegenüber. Aber anstatt zur Konversion aufzurufen, will Filangieri den nicht-christlichen Gesetzgebern zeigen, wie sie ihre Gesetze zu gestalten haben, damit diese Nachteile der falschen Religionen durch die Vorteile einer guten Gesetzgebung neutralisiert werden. Filangieri sagt aber nicht, dass man immer die falsche Religion durch die richtige ersetzen muss. Es obliegt den Theologen darüber zu streiten, welche Religion wahr ist, und der politische Wissenschaftler soll sich weder an diesen Gesprächen beteiligen, noch soll er sich an deren Ergebnissen orientieren. Auch wenn die Theologen anhand ihrer Kriterien etabliert haben, dass nur eine Religion R positive Wirkungen auf die Gesellschaft haben kann, weil sie die einzig wahre Religion ist, soll der politische Schriftsteller sich auch weiterhin mit dem Einfluss aller Religionen auf das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen befassen. Seine Aufgabe besteht darin, die rein diesseitigen Konsequenzen des religiösen Glaubens zu untersuchen, ohne nach einer übernatürlichen Erklärung dieser Konsequenzen zu suchen. Dem in einem christlichen Gemeinwesen lebenden politischen Wissenschaftler muss die Freiheit gelassen werden zu untersuchen, welche Wirkungen der Glaube an eine nicht-christliche Religion auf ein politisches Gemeinwesen haben kann, wobei nicht von vornherein postuliert werden muss, dass (a) eine nicht-christliche Religion keine positiven Konsequenzen haben kann und (b) das Christentum sich sowieso überall durchsetzen wird. Wie Gentili die Theologen dazu auffordert, sich nicht in Angelegenheiten des Völkerrechts einzumischen, rät Say einerseits den politischen Wissenschaftlern, die Frage nach der Wahrheit der Religionen auszuklammern, und verlangt andererseits implizit von den religiösen Autoritäten, dass sie es den politischen Wissenschaftlern gestatten, von der Wahrheitsfrage abzusehen, um sich nur auf die Nützlichkeitsfrage zu konzentrieren.39 Und wie Montesquieu dies in De l’esprit des lois getan hat, tut Tocqueville es auch in seinem Hauptwerk. 39

Was Vieillard-Baron von der Religionsphilosophie im Allgemeinen sagt, gilt auch für eine politische Philosophie der Religion im Besonderen. Er meint nämlich, dass eine Philosophie der Religion keine andere Wahl hat, als den epistemischen Standpunkt des Nichtgläubigen einzu-

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KAPITEL 5: RELIGIÖSE WAHRHEIT UND POLITISCHER NUTZEN BEI TOCQUEVILLE Ein großer Teil von Tocquevilles Schrift De la démocratie en Amérique befasst sich mit dem Einfluss der Religion bzw. des religiösen Glaubens auf die politischen Institutionen – auf die amerikanischen Institutionen im ersten Band, auf die politischen Institutionen im Allgemeinen, im zweiten Band –, wobei die Frage der Wahrheit des Glaubens ausgeklammert wird.40 Aber Tocqueville spricht auch umgekehrt vom Einfluss des menschlichen Handelns, u. a. des Handelns innerhalb der politischen Institutionen, auf den religiösen Glauben. Der religiöse Glaube wird dementsprechend als etwas betrachtet, das einerseits auf das menschliche Handeln einwirkt und das dieses Handeln in eine bestimmte Richtung lenken kann, aber der religiöse Glaube ist andererseits auch etwas, auf das durch menschliches Handeln eingewirkt werden kann. Dass Tocqueville eine rein „menschliche“ Perspektive auf die Religion einnimmt, geht etwa aus folgender Stelle hervor: „Ich habe weder das Recht, noch die Absicht, die übernatürlichen Mittel zu untersuchen, deren Gott sich bedient, um einen religiösen Glauben in das Herz der Menschen einzuflößen. In diesem Augenblick betrachte ich die Religionen nur unter einem rein menschlichen Gesichtspunkt; ich suche nach der Art und Weise, wie es ihnen in den demokratischen Jahrhunderten – in die wir eintreten – am einfachsten gelingen kann, ihre Herrschaft zu bewahren“ (Tocqueville OC I, 2, I, 5, S. 29).41

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nehmen. Sie muss also von der Wahrheitsfrage absehen. Wo sie dies nicht tut, verwandelt sie sich in Theologie (Vieillard-Baron 2010, S. 215). Dabei muss betont werden, dass es sich um einen rein methodischen Agnostizismus handelt, vergleichbar, in mancher Hinsicht, dem methodischen Agnostizismus des gläubigen Naturwissenschaftlers, der die Naturphänomene erklärt, ohne die Wahrheit einer bestimmten Religion oder einer bestimmten Philosophie vorauszusetzen. In der Démocratie, so Goldstein, steht die funktionalistische Perspektive im Vordergrund (Goldstein 1975, S. 26). Tocquevilles Verteidigung des Christentums, so noch Goldstein, beruht zwar einerseits auf persönlichen Motiven und Gefühlen – das Christentum ist die Religion, zu der sich Tocqueville hingezogen fühlt, ohne dass es ihm aber gelingt, sie fraglos anzunehmen –, geschieht andererseits aber auch aus Gründen der sozialen und politischen Nützlichkeit – das Christentum und sein Menschenbild ist das beste Bollwerk gegen den Despotismus (Goldstein 1975, S. 40). Schon im ersten Band lesen wir: „Wenn man die Religion nur von einem rein menschlichen Standpunkt aus betrachtet, kann man also sagen, dass alle Religionen im Menschen selbst ein Element ihrer Stärke schöpfen, das ihnen nie fehlen wird, denn es hängt mit einem konstitutiven Prinzip der menschlichen Natur zusammen“ (Tocqueville OC I, 2, II, 9, S. 310). Tocqueville geht es also nicht darum zu wissen, welche übernatürliche Quelle dem menschlichen Herzen die nötige Stärke geben kann, gemäß seinen religiösen Vorstellungen zu leben, auch dann, wenn ein solches Leben mit mancherlei Unannehmlichkeiten verbunden ist, oder sogar das eigene Leben kosten kann. Er ist nur an Ursachen interessiert, die in der menschlichen Natur liegen und wo demnach keine spezifische göttliche Intervention nötig ist. Einen kurzen Hinweis auf eine solche macht er aber in folgender Passage: „Ich weiß nicht was man tun müsste, um dem Christentum in Europa wieder die Energie der Jugend zu geben. Gott allein

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Ob der religiöse Glaube eine göttliche Gnade ist, die der Mensch sich durch eigenes Mitwirken verdienen muss oder aber eine solche, die er auch ohne sein Mitwirken erhalten kann, ist eine Frage, die Tocqueville in seinen politischen Untersuchungen nicht unmittelbar interessiert. Als Nicht-Theologe sieht Tocqueville sich nicht „akademisch“ dazu berechtigt, an einer Diskussion teilzunehmen, die seine fachlichen Kompetenzen – er hatte Jura studiert – überschreitet. Wie wichtig es auch immer für Theologen sein mag zu bestimmen, ob und unter welchen Bedingungen Gott dem Menschen den religiösen Glauben schenkt42, so ist Tocqueville als politischer Schriftsteller nicht daran interessiert zu wissen, welche der konkurrierenden theologischen Positionen die wahre ist. Als politischer Schriftsteller verfolgt er nicht die Absicht, über Gottes Einwirken auf das menschliche Handeln und den menschlichen Glauben zu reden. Der politische Schriftsteller untersucht die menschlichen Angelegenheiten nur aus einer menschlichen Perspektive. Ihm geht es darum zu wissen, was die Menschen tun können, um den religiösen Glauben ihrer Mitmenschen zu erwecken, zu erhalten oder zu fördern.43 Und genauer noch will er untersuchen, wie das den Menschen – und hier übernehme ich Tocquevilles eigene Wörter in der eben zitierten Stelle, „am einfachsten“ gelingen kann. Das interessiert natürlich auch den Theologen, aber aus einem anderen Grund: Der Theologe will wissen, wie man die Menschen „am einfachsten“ zur wahren Religion führen kann, wohingegen der politische Schriftsteller wissen, wie man die Menschen „am einfachsten“ zu jener Religion führen kann, die – wenn wir den politischen Schriftsteller Tocqueville nehmen – die Freiheit am besten unterstützt oder fördert. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Tocqueville, als liberaler Denker, einen normativen Rahmen voraussetzt, in welchem die Einfachheit oder die Wirksamkeit

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wäre dazu in der Lage: aber zumindest hängt es doch von den Menschen ab, dem Glauben den Gebrauch aller Kräfte zu lassen, die er noch besitzt“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 315). Diese Frage interessiert nicht nur den Theologen, sondern ist auch für jemanden wichtig der, wie Tocqueville, auf der Suche nach dem verlorenen religiösen Glauben ist. Wettergreen hat sicherlich recht zu behaupten, dass Tocqueville sich nicht nur für die Nützlichkeit der Religion, sondern auch für ihre Wahrheit interessiert hat (Wettergreen 1991, S. 235). Auch Ceasar weist darauf hin, dass die Religiosität für Tocqueville nicht nur instrumentell wertvoll ist, sondern dass sie für ihn auch einen intrinsischen Wert besitzt (Ceasar 1991, S. 316), so dass man also nicht behaupten kann, Tocqueville betrachte die Religion nur als ein instrumentum libertatis. Allerdings wäre zu bemerken, dass der politische Schriftsteller Tocqueville sich primär für ihre Nützlichkeit und der Mensch Tocqueville sich primär für ihre Wahrheit interessiert hat. Für den Menschen Tocqueville sind die Thesen und Argumente der Theologen wichtig, für den politischen Schriftsteller sind sie es nicht bzw. sind sie es nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Wahrheit, sondern höchstens unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen Wirkung. An einer Stelle heißt es: „[I]ch bewundere die Macht Gottes, der so kurze Hebel genügen, um die ganze Masse der menschlichen Gesellschaften in Bewegung zu setzen“ (Tocqueville OC II, 2, S. 116). Im Gegensatz zu Gott, bedürfen die Menschen oft langer Hebel, um ihr Ziel zu erreichen. Wollte Gott den Glauben wieder in den Menschen stärken, dann wäre das ganz einfach für ihn. Um dasselbe Ziel zu erreichen, muss der Gesetzgeber auf eine komplexe Kunst zurückgreifen, eine Kunst die umso komplexer ist, als die Menschen aufgeklärter sind und den ‚naiven‘ Glauben verloren haben.

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nicht die einzigen oder gar die höchsten Gesichtspunkte sind.44 Wer diesen durch den Liberalismus und dessen Menschenbild vorausgesetzten normativen Rahmen ernst nimmt, darf keine Mittel gutheißen, welche die jedem Menschen inhärente Würde missachten. Wenn die Religion, wie wir noch im nächsten Kapitel sehen werden, dazu dienen soll, den Menschen an seine Würde zu erinnern, dann kann ihre Förderung nicht jenen Wert leugnen, an den sie den Menschen erinnern will. Das Problem ist dabei, und darin besteht das sogenannte Böckenförde-Paradox, ob es einfache und wirksame menschliche Mittel gibt, den religiösen Glauben zu fördern, die den vorgegebenen normativen Rahmen nicht sprengen.45 Tocqueville will dabei erstens wissen, wie eine Religion gestaltet sein muss, um den demokratischen Menschen überhaupt anzusprechen und um somit eine Chance zu haben, vom demokratischen Menschen akzeptiert zu werden.46 Der de44

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Was Tocqueville hinsichtlich der Sklaverei sagt, lässt sich durchaus verallgemeinern: „Ich werde es auf keinen Fall zulassen, dass eine Handlung, die ungerecht, unmoralisch ist und den geheiligsten Rechten der Menschheit widerspricht, sich jemals durch einen Nützlichkeitsgrund rechtfertigen lassen könnte“ (Tocqueville OC XVI, S. 167). Der säkularisierte Staat ist, so Böckenförde, ein Wagnis eingegangen: „Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, d. h. mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben […]“ (Böckenförde 1992, S. 112–113). Der liberale Staat hat sich demnach selbst verboten, dasjenige zu garantieren was er braucht, um als liberaler Staat weiter bestehen zu können. Ein liberaler Staat, so könnte man behaupten, kann nur dann bestehen bleiben, wenn alle – oder doch die ganz große Mehrheit – die Freiheit auch (weiterhin) will und sich für die Freiheit einsetzt. Das Wollen der Freiheit entspricht in etwa dem, was Böckenförde als moralische Substanz bezeichnet, und dass die große Mehrheit es will, entspricht der geforderten Homogenität. Aber der liberale Staat kann die Menschen nicht rechtlich dazu zwingen, die Freiheit zu wollen. Habermas hat sich 2004 in einer Diskussion mit Kardinal Ratzinger auf die Böckenfördesche Formel berufen, um auf die Frage nach den vorpolitischen, allgemein weltanschaulichen und dabei u. a. auch religiösen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats einzugehen. Obwohl er einerseits ganz klar sagt, dass in rechtfertigungstheoretischer Hinsicht letztes Endes nur säkulare Gründe ausschlaggebend sein können, sagt er doch andererseits, dass erstens religiöse Gründe durchaus im öffentlichen Raum vorgebracht werden dürfen und er lässt zweitens durchblicken, dass man es als „eine offene empirische Frage“ ansehen sollte, ob eine moderne Gesellschaft allein mit säkularen Handlungsmotiven auskommt (Habermas 2009, S. 113). Während Böckenförde und Habermas auf die moralische Substanz eingehen, erwähnt Bourdin institutionelle Vorgaben und behauptet von der liberalen Demokratie: „[S]ie benötigt nicht-demokratische institutionelle Elemente, um als Demokratie existieren zu können“ (Bourdin 2014, S. 95). Als Beispiel für Frankreich nennt er den Conseil constitutionnel. Doch den drei hier erwähnten Autoren geht es letztendlich um eins und dasselbe: Kann eine rein immanente Demokratie bestehen? Oder noch anders formuliert: Kann eine Demokratie bestehen, die nichts anderes als den je gegebenen faktischen Willen des Volkes? Cynthia Hinckley vertritt die These, dass man bei Tocqueville eine „wirkliche Religion“ und eine „organisierte Religion“ findet. Die erste ist die Religion der Wenigen, die unmittelbar von Gott inspiriert werden, während letztere die Religion der Masse ist: „Die Religion der Amerikaner ist kein rettender Mythos oder eine Zivilreligion, sondern es ist eine Religion für die Vielen, und es ist eine organisierte Religion, wie wir sie kennen und die für Tocqueville eine Art der wirklichen Religion ist, der Religion für die Wenigen“ (Hinckley 1990, S. 51). Die Frage der Wahrheit bleibt insofern immer wichtig.

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mokratische Mensch verfügt nämlich über eine zum Teil andere psychologische Struktur als der aristokratische Mensch, und der politische Schriftsteller kann nicht vom Menschen überhaupt ausgehen. Der politische Schriftsteller nimmt hier sozusagen die Perspektive des politischen Psychologen ein. Tocqueville geht davon aus, dass der religiöse Diskurs sich seinem Publikum anpassen muss, was voraussetzt, dass man dieses Publikum kennt und dass man weiß, wie man mit ihm spricht und welchem Diskurs es bereit ist, überhaupt zuzuhören. Es genügt demnach nicht, von der absoluten Wahrheit einer Religion überzeugt zu sein und dann zu glauben, dass man allein schon durch die Wahrheit dieser Religion die Menschen dazu bringen kann, sich zu ihr zu bekehren oder zumindest nach ihren Vorschriften zu leben. Der demokratische Mensch akzeptiert die Wahrheit nicht schon deshalb, weil es die Wahrheit ist. Sollte die Wahrheit oder die als absolute Wahrheit vorgestellte Religion ihn bei der Verfolgung seiner als legitim betrachteten Interessen hindern, dann wird er seinen Interessen den Vorrang geben. Eine Religion hat dementsprechend nur dann eine Aussicht, akzeptiert zu werden, wenn sie einen Kompromiss mit den menschlichen Interessen und Bedürfnisse eingeht. Ein solcher Kompromiss bedeutet nicht, dass von ihr verlangt wird, dem menschlichen Handeln gar keine normativen Schranken mehr zu setzen, denn durch einen solchen normativen Quietismus würde die Religion eines ihrer spezifischen Merkmale aufgeben. Es bedeutet allerdings, dass sie fortan nur mehr solche Schranken setzen soll, die dem wohlverstandenen Eigeninteresse entsprechen, deren Sinn und Zweck der demokratische Mensch also mittels seiner vorwiegend utilitaristisch ausgerichteten Vernunft einsehen kann. Will die Religion vom demokratischen Menschen verstanden werden und Eingang, wenn nicht in sein Herz, so doch in sein Handeln finden, dann muss sie eine Sprache sprechen, die der demokratische Mensch auch versteht, eine Sprache die nicht, wie die Sprache des aristokratischen Menschen, auf die Größe und Erhabenheit setzt bzw. diese als alleinige Werte sieht, noch, wie etwa die Sprache eines asketischen Menschen – der als Menschentyp nicht bei Tocqueville auftaucht –, nur von Verzicht spricht. Tocqueville will dann zweitens wissen, wie eine Religion gestaltet sein muss, um die demokratischen Menschen vor dem demokratischen Despotismus zu bewahren. Es geht nämlich nicht nur darum, dass die demokratischen Menschen an irgendeine Religion glauben. Tocqueville ist sich bewusst, dass es bestimmte Religionen gibt – etwa der Pantheismus, mit dem wir uns noch in einem späteren Kapitel genauer befassen werden –, die den demokratischen Menschen in bestimmten Hinsichten ansprechen, da sie seinem sich aus der gelebten Situation heraus bildenden Selbstverständnis entsprechen oder entgegen kommen, die aber in mancher Hinsicht gefährlich für die Bewahrung oder Förderung der Freiheit sind. Als demo­ kratischer Mensch fühlt das Individuum sich de facto zu bestimmten Religionen hingezogen, zu denen es sich als demokratischer Mensch aber nicht hingezogen fühlen sollte, da diese Religionen nämlich sein in einem normativen Sinn verstandenes Menschsein in Frage stellen oder gar untergraben. Die Anpassung des religiösen Diskurses an den demokratischen Menschen ist kein Selbstzweck bzw. geht es bei dieser Anpassung nicht bloß darum, dass die Religion weiter bestehen bleibt, wiewohl unter einer anderen Form. Der letzte Be-

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zugspunkt bei Tocqueville ist immer die Würde des Menschen, der Gedanke, dass der Mensch ein Wesen ist, das, weil es frei sein kann, auch frei sein soll, und dessen Größe eben in dieser Freiheit besteht.47 Die Religion soll und darf sich nie als im Dienste der kontingenten und rein diesseitsbezogenen Bedürfnisse und Interessen des demokratischen Menschen stehend sehen. Geht sie auch Kompromisse mit diesen Bedürfnissen und Interessen ein, so dürfen diese Kompromisse doch niemals die Möglichkeit der Freiheit als solcher gefährden. Sie soll Kompromisse nur insofern eingehen, als dies notwendig ist, um überhaupt fördernd auf das Bewusstsein der Freiheit einwirken zu können. Die Kompromisse bilden sozusagen eine List, mittels derer die Religion versucht, Eingang in das Gedankenuniversum des demokratischen Menschen zu finden, um sich dann dort einen festen Platz erobern zu können, von dem aus sie ihr freiheitsförderndes Potenzial entfalten kann. Bei der dritten Frage die Tocqueville beschäftigt, geht es um die Rolle der Gesellschaft im Allgemeinen und der politischen Autoritäten im Besonderen bei der Bewahrung und Verbreitung der Religion. Wie schon gezeigt wurde, will Tocqueville nicht darüber spekulieren, welcher übernatürlichen Mittel Gott sich bedienen kann, um die Menschen zu einem religiösen Glauben zu bringen. Hierüber lassen sich erstens keine empirisch überprüfbaren Aussagen machen, und selbst wenn sich solche Aussagen machen ließen, hätten sie zweitens keine unmittelbare Relevanz für das menschliche Handeln. Was Tocqueville wissen will ist, ob menschliches Handeln einen Einfluss auf den religiösen Glauben haben kann, und wenn ja, auf welche natürlichen Mittel eine politische Gemeinschaft zurückgreifen kann und darf, um einen religiösen Glauben zu bewahren oder zu fördern. Die zentrale Frage für Tocqueville ist also nicht unbedingt: „Wie kann man der wahren Religion in einer demokratischen Gesellschaft zum Sieg verhelfen, so dass sichergestellt ist, dass alle Bürger das ewige Seelenheil erlangen werden?“, sondern „Welche Zugeständnisse muss eine Religion an die Natur des demokratischen Menschen machen, um von ihm akzeptiert werden zu können, und welche Zugeständnisse darf sie an die Natur des demokratischen Menschen machen, ohne dazu beizutragen, die Bedingungen der Möglichkeit eines liberalen demokratischen Gemeinwesens zu untergraben?“48 Sind die beiden Teile dieser Frage einmal be47

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So schreibt Welch: „Atheisten, Sozialisten und ‚schreibende Frauen‘ bringen uns an den Rand der furchterregenden Möglichkeit, alle noch bestehenden Fäden zu zerstören, die den demokratischen Individuen erlauben, würdevolle und unabhängige Leben zu führen. Tocqueville macht nicht einmal den Versuch, die verbleibenden Fäden zu einer verständlichen Theologie oder Philosophie zusammenzubringen. Sie sind vielmehr durch seine eigene Sprache des Herzens legitimiert, die sich hinter einer funktionalistischen Rhetorik verbirgt“ (Welch 2001, S. 234). Tocqueville hat also das Gefühl, dass in der demokratischen Gesellschaft etwas Wesentliches dabei ist, verloren zu gehen, nämlich die Möglichkeit eines würdevollen Lebens. Die Religion erscheint ihm dabei als ein letztes Rettungsanker. Aber er gibt sich nicht die Mühe, diesem letzten Rettungsanker klar umrissene theologische Konturen zu geben. Als Nicht-Theologe ist Tocqueville sowieso nicht dafür gewappnet. An einer Stelle macht Tocqueville ganz klar den Unterschied zwischen der individuellen und der sozialen Perspektive: „Wenn es dem Menschen als Individuum viel nutzt, dass die Religion wahr sei, so ist nicht der Fall für die Gesellschaft. Die Gesellschaft hat nichts zu befürchten, noch zu erhoffen vom anderen Leben; und was für sie wichtig ist, ist nicht, dass alle Bürger sich

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antwortet, dann stellt sich folgende Frage: „Was darf ein sich zur Bewahrung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit bekennender liberaler Staat tun, um eine sozusagen auf den demokratischen Menschen zugeschnittene Religion zu fördern bzw. um Religionen entgegenzuwirken, die für das Bewusstsein der Würde und Freiheit, und damit auch für das liberale Gemeinwesen als solches gefährlich sein könnten?“. Es geht also einerseits darum zu wissen, wie der liberale Staat mit freiheitsfördernden Religionen umgehen soll, andererseits aber auch, wie er sich gegenüber freiheitsgefährdenden Religionen – oder allgemeiner noch: die freiheitsfördernden Religionen gefährdenden Denkweisen (etwa der Atheismus) – verhalten sollte. Arthur de Gobineau, der eine Zeit lang als Sekretär für Tocqueville arbeitete und mit dem Tocqueville eng befreundet war, und dies trotz seiner herben Kritik an Gobineaus Rassenlehre, hat in einem Brief vom 16. Februar 1843 Tocqueville mit Cicero verglichen. Cicero, so Gobineau, war „ein sehr schlechter Devot“, aber er bedauerte trotzdem den sich zu seiner Zeit verlierenden Respekt gegenüber den Göttern. Cicero, so scheint Gobineau sagen zu wollen, wusste, dass die religiösen Riten keinen Einfluss auf die Götter hatten, aber er wusste auch, dass diese Riten eine strukturierende Rolle im republikanischen Rom spielten, und dass der sich verlierende Respekt gegenüber den Götter und die sich in eine Alleinherrschaft verwandelnde Republik nur die zwei Seiten einer und derselben Medaille waren. Und Gobineau fährt dann fort: „[W]erden Sie mir verzeihen, Monsieur, wenn ich es wage, ein bisschen zu glauben, dass sie diese Angelegenheit ein wenig wie Cicero betrachten, und dass sie sich weit weniger Sorgen um die Bewunderung machen, die ihnen das Christentum inspiriert, also um seine absolute Wahrheit, als um seine politische Nützlichkeit?“ (Tocqueville OC IX, S. 65–6).49 In dieser Hinsicht scheint Tocqueville den Amerikanern zu ähneln, von denen er im ersten Band der Démo­ cratie schreibt: „Ich weiß nicht, ob alle Amerikaner an ihre Religion glauben, denn wer kann in der Tiefe der Herzen lesen? Aber ich bin mir sicher, dass sie von ihr glauben, dass sie notwendig ist, um die republikanischen Institutionen aufrecht zu

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zu derselben Religion bekennen, als dass sie sich alle zu einer Religion bekennen“ (Tocqueville OC I, I, II, 9, S. 304). Das individuelle Seelenheil geht die Gesellschaft nichts an, und ein soziales Seelenheil gibt es nicht. Aber die Gesellschaft ist stark daran interessiert, dass die Menschen ihre Pflichten einander gegenüber kennen und ausüben, da nur so der soziale Frieden und die Freiheit eines jeden garantiert werden können. Insofern ist es der Gesellschaft gleichgültig, welche strikt religiösen Pflichten – und gemeint sind hier Pflichten Gott gegenüber, wie ihn etwa anzubeten – die Individuen anerkennen, denn die Gefahr einer göttlichen Bestrafung betrifft hier im Prinzip nur sie selbst und nicht die Gesellschaft. Hauptsache ist für die Amerikaner, dass die Menschen die richtigen sozialen Pflichten – Pflichten gegenüber ihren Mitmenschen – anerkennen. Dabei gehen sie implizit davon aus, dass Gott keine politische Gemeinschaft bestrafen wird, die sich nicht die Durchsetzung der wahren Religion zum Ziel gesetzt hat. Der Gott an den die Amerikaner glauben hat also nichts mit dem Gott zu tun, den man bei vielen Theologen findet und dem die Gleichgültigkeit einer politischen Gemeinschaft gegenüber der theologischen Dimension der Religion nicht gleichgültig ist. In Welchs Augen sind Tocquevilles utilitaristische Argumente „eine Art Gabe an einen Gott, den er nicht mehr mit ganzem Herzen aufnehmen kann“ (Welch 2001, S. 182). Auch Polin stellt die „Authentizität und sogar die Ehrlichkeit seines Appells an die Vorsehung“ in Frage und sieht hier eine Schwachstelle in Tocquevilles Argumentation (Polin 1991, S. 62).

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erhalten. Diese Meinung ist keiner Klasse von Bürgern und keiner Partei eigen, sondern der gesamten Nation; man findet sie in allen Rängen“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 306). Und an einer anderen Stelle heißt es: „Man darf annehmen, dass eine bestimmte Anzahl Amerikaner in dem Kultus, den sie Gott erbringen, ihren Gewohnheit mehr folgen als ihren Überzeugungen.50 Überdies ist in Amerika der Souverän religiös, und demnach muss die Heuchelei allgemein sein; aber Amerika ist trotzdem noch der Ort auf der Welt, wo die christliche Religion am meisten ihre wirkliche Macht über die Seelen behalten hat; und nichts zeigt in höherem Maße, dass sie dem Menschen nützlich und natürlich ist, da das Land in dem sie heute die größte Macht besitzt ist zugleich das aufgeklärteste und freieste“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 304).51 Selbst hinsichtlich der Prediger können Zweifel aufkommen: „[E]ist oft schwer zu wissen, wenn man ihnen zuhört, ob der wesentliche Gegenstand der Religion darin besteht, zur ewigen Glückseligkeit in der anderen Welt, oder zum Wohlergehen in dieser zu führen“ (Tocqueville OC I, 2, II, 9, S. 130).52 Mögen also auch nicht alle Amerikaner an die Wahrheit der Religion bzw. an ihre Nützlichkeit für die Erlangung des ewigen Seelenheils glauben, so glauben sie doch alle an ihre rein diesseitige bzw. immanente Nützlichkeit. Und wie Tocqueville feststellt, sind die Mitglieder einer bestimmten Religionsgemeinschaft bereit, einen Politiker zu unterstützen, der nur ihren Glauben angreift. Sollte dieser Politiker aber, so Tocqueville, die Religion als solche angreifen, dann wird ihn niemand mehr unterstützen. Wichtig für die Amerikaner ist demnach nicht, woran geglaubt wird, sondern dass geglaubt wird. Und wenn man noch einen Schritt weiter geht, dann kann man sagen, dass es für sie nicht wichtig ist, dass man tatsächlich glaubt, sondern dass man so tut, als glaube man. Die soziale Wirksamkeit der Religion hängt anscheinend letzten Endes nicht so sehr von der Intensität des Glaubens ab, sondern vom allgemeinen Glauben, dass intensiv geglaubt wird. Was die Menschen sich über ihre Mitmenschen vorstellen ist wichtiger als die Wirklichkeit, selbst dann, wenn die Menschen sich bewusst sind, dass ihre Vorstellungen der Wirklichkeit nicht entsprechen. Tocquevilles – zumindest öffentliche – Auseinandersetzung mit dem Christentum dreht sich also nicht um die Frage, ob das Christentum wahr ist und ob man es wegen dieser Wahrheit bewundern sollte, sondern um die Frage, ob und in welcher 50

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Dieser Gewohnheitsaspekt kommt auch an folgender Stelle eines Briefes Tocquevilles an seinen Freund Louis de Kergorlay zum Ausdruck: „Man folgt einer Religion so wie unsere Vorfahren im Monat Mai eine Medizin einnahmen: wenn es keine guten Wirkungen hat, so scheint man zu sagen, kann es wenigstens keine schlechten haben, und es ist übrigens passend, sich an die allgemeine Regel zu halten“ (Tocqueville OC XIII, 1, S. 228). In den Augen Tocquevilles sind die meisten Amerikaner nicht mehr voll und ganz durch die Religion ergriffen. Dies ist vor allem deshalb der Fall, weil man sich viel mehr auf den moralischen als auf den dogmatischen Aspekt der Religion konzentriert. Man streitet sich demnach nicht mehr um dogmatische Freiheiten. Und was als Toleranz gegenüber den Andersgläubigen erscheint, ist wahrscheinlich nur Gleichgültigkeit (Tocqueville OC XIII, 1, S. 227). Zum Aspekt der religiösen Heuchelei bei Tocqueville, siehe etwa Benoît 1991, S. 133. „[D]er öffentliche Nutzen der Religion in der amerikanischen Gesellschaft funktioniert unabhängig von der Wahrheit oder Überzeugungskraft des religiösen Glaubens“, stellt Mary Segers fest (Segers 1998, S. 79).

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Hinsicht das Christentum politisch nützlich sein kann.53 Er hat von der Religion, so Laurence Guellec, „eine global gesehen utilitaristische Auffassung, die in diesem XIX. Jahrhundert üblich war, der in der Religion nicht mehr, wie es das Zeitalter der Aufklärung tat, das Symbol des Obskurantismus sah, sondern einen Faktor spiritueller Erhöhung und ein wirksames Ferment der Geselligkeit“ (Guellec 1996, S. 72).54 Tocquevilles Argumente sollen nicht beweisen, dass man das Christentum wegen seiner Wahrheit unterstützen sollte, sondern dass man es wegen seiner politischen Nützlichkeit tun sollte. Es gilt nicht, eine Religion wegen ihrer Wahrheit zu bewundern, sondern sie wegen ihrer Nützlichkeit zu bewahren. Dass eine Religion nützlich ist, kann schon für sich genommen ein hinreichender Grund sein, an ihr festzuhalten.55 Im ersten Band der Démocratie sagt er vom Ungläubigen: „Indem er aufhört, an die Wahrheit der Religion zu glauben, sieht der Ungläubige sie weiter als nützlich an. […] Er versteht, wie [der religiöse Glaube – N. C.] die Menschen in einem Friedenszustand leben lassen und sie langsam auf den Tod vorbereiten kann. Er trauert also dem Glauben nach, nachdem er ihn verloren hat, und, eines Gutes beraubt, dessen ganzen Preis er kennt, fürchtet er sich davor ihn denjenigen abzunehmen, die ihn noch besitzen“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 313). Der Ungläubige sagt demnach zwar in seinem Herzen, dass es keinen Gott gibt, aber er sagt es nicht laut. Gobineau bestreitet nicht, dass Tocqueville das Christentum auch als solches bewundert, d. h. unabhängig von seinem politischen Nutzen, aber er sieht, dass Toc53

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An einer Stelle spricht Tocqueville ausdrücklich von der „religion politique“, und zwar in einem Brief an Joseph Eötvös, der ihm ein Exemplar eines von ihm verfassten Buches geschickt hatte. Zu den Grundprinzipien dieser politischen Religion gehören „die Liebe einer wirklichen und geordneten Freiheit, der Respekt der individuellen Würde des Menschen, der Wunsch, das edle Erbe der uns von unseren Vätern überlassenen christlichen Zivilsation zu bewahren“ (Tocqueville OC VII, S. 364–365). In einem Brief an Gustave de Beaumont spricht er auch von der „religion politique“ der englischen Tudors, wobei der Begriff aber hier in einem anderen, nämlich negativen Sinn gebraucht wird (Tocqueville OC VIII, S. 70). Genau diesen Sinn finden wir auch in einer politischen Rede aus dem Jahr 1844, in welcher Tocqueville von der politischen Religion sagt, sie sei „die abscheulichste aller menschlicher Institutionen“ (Tocqueville OC III, 2, S. 494). In dem Brief an Eötvös sieht Tocqueville in der Religion ein Mittel, das die Menschen auf die Freiheit vorbereitet bzw. das sie in den Stand setzt, von der Freiheit – der wirklichen, wie Tocqueville betont – zu profitieren. Beim Hinweis auf die Tudors ist die politische Religion eher im Sinn eines Herrschaftsinstruments gemeint. Kahan schreibt in diesem Zusammenhang: „Wenn Tocqueville davon spricht, dass die Religion die schlechten Tendenzen der Demokratie kontrolliert und bremst, nimmt er eine utilitaristische Perspektive ein, und wenn er davon spricht, dass die Religion die demokratischen Seelen darin ermutigt, nach ‚höheren‘ Zielen zu streben, nimmt er eine perfektionistische Perspektive ein“ (Kahan 2014, S. 191). Tocqueville ist sicherlich der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus dafür gemacht ist, nach Höherem zu streben als bloß nach materiellen Gütern. Aber man muss auch sehen, dass die Ermutigung der Seelen auch als Mittel gedacht ist, den schlechten Tendenzen der Demokratie entgegenzuwirken und somit auch aus einer utilitaristischen Perspektive betrachtet werden kann. Für Tocqueville, so Jack Lively, ist der soziale Nutzen einer religiösen Praxis schon ein hinreichender Grund dafür, diese Praxis aufrecht zu erhalten (Lively 1962, S. 183). Die Praxis muss also nicht erst ihren religiösen Wert beweisen bzw. beweisen, dass sie auf einer wahren Religion gründet, bevor man weiter an ihr festhält, sondern der Beweis des sozialen Werts genügt.

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quevilles Grundsorge nicht darin besteht, das Christentum als wegen seiner eventuellen Wahrheit bewunderungswürdig zu erhalten, sondern darin, seine politische Nützlichkeit zu bewahren. Hätte er sich zwischen der Reinheit des Glaubens und seiner Nützlichkeit zu entscheiden, so würde sich Tocqueville, folgt man Gobineau, für die Nützlichkeit entscheiden: lieber eine nicht ganz reine aber für die Bewahrung der Freiheit nützliche Religion, als eine reine Religion die keine Früchte hinsichtlich der Bewahrung der Freiheit trägt – eben weil sie zu rein ist und somit den demokratischen Menschen nicht anspricht. Die Religion kann ihren Nutzen also nur dann entfalten, wenn sie bereit ist, Zugeständnisse zu machen. Oder noch anders gesagt: der politische Schriftsteller muss davon ausgehen, dass eine Religion ihren Nutzen für die Bewahrung der Freiheit in einer Demokratie nur dann entfalten kann, wenn sie den demokratischen Menschen anspricht, und dass sie diesen Menschen nur dann anspricht, wenn sie sich auch auf die gröberen, nicht ganz so reinen Aspekte des demokratischen Menschen einlässt. So heißt es bei Tocqueville: „Ich glaube nicht, dass das einzige Handlungsmotiv der religiösen Menschen das Interesse ist; aber ich denke, dass das Interesse das Hauptmotiv ist, dessen sich die Religionen selbst bedienen, um die Menschen zu führen, und ich zweifle nicht, dass sie auf diese Weise die Masse erfassen und populär werden“ (Tocqueville OC I, 2, II, 9, S. 132). Der politische Schriftsteller sollte nicht voraussetzen, dass Gott es schon bewirken wird, dass eine ganz reine Religion einen groben Menschen anspricht. Der politische Schriftsteller muss bei den in seinen Augen psychologisch plausiblen Aussagen stehen bleiben und sich nicht auf mögliche göttliche Wunder verlassen. Auch wenn er nicht bestreitet, dass Gott, wenn es ihn gibt, die Gesetze der menschlichen Psychologie außer Kraft setzen kann, so muss er bei seinen Untersuchungen von dieser Möglichkeit absehen. Er muss sehen, wie eine Religion die Masse der Menschen erfassen kann, denn in einer Demokratie ist es das Verhalten dieser Masse, das die Identität der Gesellschaft prägen wird. Eine liberale Gesellschaft hat in den Augen Tocquevilles nur dann eine Chance, liberal zu bleiben, wenn die Religion die Masse erfasst und diese Masse an die in dieser Religion enthaltenen freiheitsfördernden Elemente akzeptiert. Das setzt aber voraus, dass die Religion eine Form annimmt, die sie akzeptabel für die Masse macht. Es ist interessant zu sehen, dass Tocqueville nicht nur bei der Religion von der Wahrheitsfrage absieht bzw. nur hinsichtlich der Religion die funktionale Dimension betrachtet, sondern dass er dies auch bei der Lehre vom wohlverstandenen Eigeninteresse tut.56 Das wohlverstandene Eigeninteresse nimmt eine Zwischenstelle 56

Lively behauptet, dass diese Lehre für Tocqueville auch nur als rettender Mythos Wert hatte (Lively 1962, S. 199). Man sollte diese Lehre also nicht annehmen, weil sie die letzte Wahrheit über den Menschen und seine Handlungsmotive ausdrückte, sondern weil sie es ermöglichte, die Freiheit zu retten. In ähnlicher Weise schreibt Harpaz im Zusammenhang mit Constant: „Dass diese Rechte [des Menschen – N. C.] einen anderen Mythos bilden konnten, spielt keine Rolle, bedenkt man den Sinn, den sie dem Leben und dem Glück geben, das sie neu definieren“ (Harpaz 1968, S. 51). Was zählt ist also nicht die Wahrheit, sondern die Wirkung des Für-WahrHaltens. Sowohl Lively als auch Harpaz sprechen von einem „Mythos“ und bringen damit zum Ausdruck, dass in den Augen Tocquevilles und Constants, auch der Liberalismus nicht ohne

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zwischen einerseits dem unaufgeklärten Eigeninteresse und dem reinen Altruismus ein. Während der erste zu keinem Opfer bereit ist, weil er nur kurzfristig denkt – und kurzfristig ist kein Opfer rentabel –, und der zweite von jeder möglichen Nützlichkeit der Handlung für den Handelnden absieht, geht das wohlverstandene Eigeninteresse davon aus, dass auch ein Opfer – also eine Handlung, die anderen etwas bringt und mir unmittelbar etwas kostet – langfristig für den Handelnden rentabler sein kann als die Unterlassung dieser Handlung. Von allen philosophischen Lehren, heißt es in der zweiten Démocratie, scheint die Lehre vom wohlverstandenen Eigeninteresse diejenige zu sein die „den Bedürfnissen der Menschen unserer Zeit am besten entspricht“.57 Und an derselben Stelle lesen wir weiter: „Es ist also hauptsächlich in ihre Richtung, in die der Geist der Moralisten unserer Zeit sich wenden muss. Denn selbst dann, wenn sie sie als unvollkommen beurteilen würden, müssten sie sie noch immer als notwendig annehmen“ (Tocqueville OC, II, 2, II, 8, S. 129).58 Und an einer anderen Stelle heißt es: „[D]ie Moralisten fürchten sich vor dieser Idee des Opfers und sie trauen sich nicht mehr, sie dem menschlichen Geist anzubieten; sie beschränken sich also darauf zu untersuchen, ob der individuelle Vorteil der Bürger nicht darin bestehen könnte, zum Wohl aller beizutragen […] In Amerika sagt man fast nicht mehr, dass die Tugend schön ist. Man behauptet, dass sie nützlich ist und man beweist es jeden Tag“ (Tocqueville OC I, 2, II, 8, S. 127).59 Eigentlich sollten die Moralisten oder die Moralphilosophen die höchste oder edelste Morallehre verteidigen, also jene, die sich von allen unedlen Handlungsmotiven distanziert und im Menschen ein Wesen sieht, das sich über seine animalische und egoistische Natur erheben kann, der also bei seinem Handeln von allen rein eigennützigen Motiven absehen kann. Sie sollten die Tugend wegen ihrer intrinsischen Schönheit bzw. ihrer Erhabenheit, und nicht wegen ihres individuellen Nutzens loben.60 Man denke hier etwa an Immanuel Kant, der in seiner Moralphilosophie, zumindest was die Ebene der Prinzipien betrifft, keine Zugeständnisse an die empirische Dimension der menschlichen Natur machen wollte. Für Kant gab es nur ein „entweder-oder“: entweder eine vollkommene Moral oder keine Moral.

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einen Mythos auskommt. Die Frage wäre also nicht, ob die Politik einen Mythos braucht, sondern welchen Mythos sie braucht. Auch hier zeigt sich wieder, dass Tocqueville nicht von einem ewigen Wesen des Menschen ausgeht und dass er seine politischen Gedanken nicht von einer solchen Voraussetzung ausgehend entfaltet, sondern dass er vielmehr den Menschen so nimmt, wie er ihn vorfindet, und dann nach einer Lehre sucht, die (a) sich positiv auf die Beförderung der Freiheit auswirkt und (b) gute Chancen hat, vom demokratischen Menschen akzeptiert zu werden. Wie Bruce Frohnen treffend bemerkt, sollte die Orientierung am Eigeninteresse immer nur als Mittel gebraucht werden und die Befriedigung des Eigeninteresses sollte niemals als letztes Ziel des menschlichen Handelns gedacht werden (Frohnen 1993, S. 130). In den Augen Tocquevilles ist der Mensch mehr als ein Wesen, das nur die Befriedigung seiner kontingenten Interessen anstrebt. Siehe hierzu Campagna 2007. „Die Schönheit der Tugend ist die Lieblingsthese der Moralisten unter der Aristokratie. Ihre Nützlichkeit unter der Demokratie“, heißt es an einer Stelle des mit Rubish gekennzeichneten Konvoluts von Notizen, die Tocqueville gemacht, aber nicht verwendet hat (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 922 Fußnote k).

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Entweder berücksichtigt man bei der Begründung der Moral nur die rationale Natur des Menschen, also das, was er mit allen Vernunftwesen gemeinsam hat, oder man greift auf Elemente zurück, die nicht in dieser rationalen Natur enthalten sind, und dann verdient das, was man auf diese Weise begründet, nicht mehr den Namen „Moral“.61 Insofern man sich auf der Ebene der philosophischen Abstraktion bewegt und nur an der Frage der Wahrheit interessiert ist, ist eine solche Position vertretbar. Berücksichtigt man aber die Frage der allgemeinen Akzeptanz, dann kann die vollkommene Moral viele Menschen davon abschrecken, nach ihr zu leben, da sie ein zu großes Opfer oder eine zu große Anstrengung von ihnen verlangt. Aus der Sicht Kants spricht dies allerdings nicht gegen die Moralbegründung, sondern eher gegen die Menschen, die sich dem Ruf der Pflicht entziehen, weil ihm zu folgen zu viel von ihnen verlangen würde. Es ist, aus der Sicht Kants, nicht an den Moralphilosophen, sich der menschlichen Psychologie anzupassen und ihr bestimmte Zugeständnisse zu machen, sondern die Menschen sollen sich der Pflicht anpassen. Mag eine solche Anpassung auch große Anstrengungen kosten, so ist sie trotzdem möglich: man kann, denn man soll. Im Gegensatz zu Kant, lädt Tocqueville die Moralisten ein, die von ihnen vertretene Morallehre nicht nur vom Standpunkt der Wahrheit oder Vollkommenheit zu betrachten, sondern sich auch die Frage zu stellen, welche Morallehre überhaupt Aussichten hat, von den demokratischen Menschen akzeptiert zu werden. Diese Frage sollte allerdings immer vor dem Hintergrund der Sorge um die Bewahrung eines liberalen Gemeinwesens gestellt werden. Die erste, abstrakte Frage lautet: welche Moral braucht ein liberales Gemeinwesen? Die zweite, konkretere Frage lautet: welche Moral verträgt der demokratische Mensch? Und die Hoffnung ist, dass man eine Moral findet, die für die Bewahrung eines liberalen Gemeinwesens notwendig und hinreichend ist und vom demokratischen Menschen auch akzeptiert wird. Die Akzeptanz oder Akzeptierbarkeit durch den demokratischen Menschen ist in dieser Hinsicht das Kriterium, das es uns erlaubt, unter den ein liberales politisches Gemeinwesen fördernden Moralen zu wählen – sollte es mehrere solcher Moralen geben. Aus der Tatsache, dass eine Moral M1 diejenige ist, die an sich oder in ab­ stracto das liberale Gemeinwesen am besten fördern würde, folgt demnach noch nicht, dass die Moralisten sie auch predigen sollten – und vor allem: dass sie nur diese Moral predigen sollten. Denn wenn M1 keine Chance hat, von den demokratischen Menschen angenommen zu werden, dann predigen die Moralisten ins Leere und es ist dem liberalen Gemeinwesen damit nicht geholfen. Lieber eine „schwächere“ Moral, die Aussicht auf allgemeine Akzeptanz hat, als eine „stärkere“ Moral, für die es keine solche Aussicht gibt. Tocqueville glaubt nicht daran, dass man die Psychologie des demokratischen Menschen derart beeinflussen kann, dass dieser eine starke bzw. heroische Moral akzeptieren wird, dass er also die Psychologie des 61

Bei Schopenhauer spielt das Mitleid als Triebfeder eine zentrale Rolle: Einen moralischen Wert besitzt eine Handlung nur insofern ich bei ihr von mir selbst und meinen Interessen absehe und mich mit dem anderen identifiziere. Mit dieser Selbstlosigkeit ist nicht nur der unaufgeklärte, sondern auch der wohlverstandene Egoismus unvereinbar.

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aristokratischen Menschen annehmen wird. Man muss den demokratischen Menschen da „abholen“, wo er sich befindet, auch wenn das bedeutet, dass man einige Abstriche bezüglich der Reinheit oder Größe der Moral machen muss. Umgekehrt gilt aber auch, dass man nicht nur nach der Akzeptanz schauen und diejenige Moral predigen sollte, die die größte Chance hat, akzeptiert zu werden, so als ob es nur darum ginge, dass der demokratische Mensch irgendeine Moral hat. Die Akzeptanz ist ein wichtiges Element dem man Rechnung tragen sollte, aber sie ist nur ein Element. Der politische Wissenschaftler, so wie Tocqueville ihn inkarnieren will, schwebt weder im Himmel der absoluten Ideale, noch verharrt er auf dem Boden des rein faktisch Gegebenen. Er versucht vielmehr, beide Elemente zu berücksichtigen: die Demokratie muss moralisiert werden, d. h. man muss bestimmten natürlichen Tendenzen des demokratischen Menschen entgegenwirken, indem man sie einem normativen und axiologischen Rahmen unterwirft, der den Menschen über seine Natürlichkeit erhebt, aber dies muss auf eine für den demokratischen Menschen zuträgliche und annehmbare Weise geschehen. Der Moralist sollte insofern darauf achten, dass er nicht, von einem moralischen Reinheitseifer ergriffen, zu voreilig bestimmte Laster verurteilt.62 Nicht, als ob diese Laster an sich gut wären. Ein Laster bleibt ein Laster, aber manche Laster können positive Konsequenzen haben, zumindest im Diesseits – und der Blick des politischen Denkers ist nur auf das Diesseits gerichtet. Während der Theologe den Menschen sagt, dass ein bestimmtes Laster ihr ewiges Seelenheil gefährdet, klammert der politische Denker diesen Gesichtspunkt und zeigt den Menschen, wie das betroffene Laster sich positiv auf ihr irdisches Leben auswirken kann. Und wo der politische Denker sich zum Liberalismus bekennt und in der Freiheit den höchsten irdischen Wert sieht, wird er den Menschen zeigen, inwiefern ein bestimmtes Laster, zumindest unter bestimmten Bedingungen, die Freiheit schützen oder sogar fördern kann. In einem solchen Fall sollte man dementsprechend die rein deontologische Perspektive durch eine utilitaristische Perspektive ergänzen, wenn nicht sogar ganz durch diese ersetzen. Der politische Denker muss, um mit Max Weber zu reden, be62

Die Thematik erinnert an Bernard de Mandevilles berühmte Fable of the Bees. Jeder Teil des von Mandeville in ‚The Grumbling Hive: or, Knaves Turn’d Honest‘ – das als Allegorie gedachte Einführungsgedicht – beschriebenen Bienenstocks ist voller Laster, aber aus dieser Summe von Lastern entsteht ein Paradies (Mandeville 1970, S. 67), so dass die Tugend und das Laster Frieden miteinander geschlossen haben (Mandeville 1970, S. 68). Doch eines Tages wird bestimmt, dass fortan die Laster bekämpft werden müssen. Die Konsequenz ist der Untergang des Bienenstocks. Wie verurteilungswürdig auch immer, von einer rein moralischen Perspektive aus betrachtet, der Luxus und die damit verbundenen Laster des Adels sein mögen, so lässt sich doch nicht bestreiten, dass sie von einem nationalökonomischen Standpunkt aus ganz nützlich sind, und zwar sowohl für das Gemeinwesen als auch für alle jene Individuen, die ihr Leben dadurch verdienen, dass sie im Dienste der Adligen arbeiten. Neben der rein moralischen und der rein nationalökonomischen Beurteilung des Luxus, sollte hier noch zusätzlich die politische erwähnt werden. Für zahlreiche politische, vornehmlich republikanische Denker, hat der Luxus negative Auswirkungen auf den Charakter eines Volkes, da er zur Verweichlichung führt und damit die Kampffähigkeit untergräbt. Will man den Luxus aus der Perspektive des politischen Denkers betrachten, so muss man diese letztgenannten Auswirkungen berücksichtigen.

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reit sein, den gesinnungsethischen Standpunkt zu verlassen und denjenigen des Verantwortungsethikers einzunehmen. Ihm geht es nicht primär darum, die moralische Integrität des Handelnden zu bewahren, sondern die Bedingungen der Möglichkeit bestimmter politischer Werte – und im Falle des Liberalismus ist es der mit dem Wert der Freiheit gekoppelte Wert der Menschenwürde. Diese müssen um jeden Preis bewahrt werden, und sei es auch mit Hilfe von Lastern.63 So schreibt Tocqueville im Jahre 1852: „Es gibt in unseren Qualitäten, in unseren Fehlern, ja sogar in unseren Lastern etwas, was sich ihr [der absoluten Macht – N. C.] auf unbesiegbare Weise widersetzt“ (Tocqueville OC IV, 1, S. 467). Und an einer anderen Stelle heißt es: „[A]uch wenn unsere Tugenden den Moralisten immer beunruhigen müssen, so müssen unsere Laster ihm immer einen Rest Hoffnung lassen“ (Tocqueville OC II, 2, S. 276). Mögen auch die Laster von einem rein moralischen Standpunkt aus gesehen verurteilungswert sein, so sind sie es noch nicht unbedingt auch von einem politischen Standpunkt aus. Der Besitz bestimmter Laster hindert uns zwar daran, gute Menschen zu werden, aber er erlaubt es uns manchmal, freie Menschen zu bleiben bzw. die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu bewahren, indem diese Laster uns dazu führen, uns dem Despotismus zu widersetzen bzw. in uns den Geist aufrecht erhalten, uns dem Despotismus und der Unterdrückung zu widersetzen.64 Der Widerstand des Adels gegen den königlichen Absolutismus hatte keinen moralisch bewundernswerten Ursprung, aber er hatte dennoch positive politische Konsequenzen. Die Adligen wollten nicht die Freiheit des Volkes fördern, sondern ihre Privilegien verteidigen. Aber indem sie dies taten, verhinderten sie, dass die Könige eine zu starke Macht an sich reißen konnten. Außerdem hielten sie den Geist der Freiheit aufrecht. Hochmut, Unnachgiebigkeit oder noch das kompromisslose Pochen auf seine Privilegien, sind Beispiele solcher Laster, die einen positiven Einfluss auf die Bewahrung der Freiheit haben können.65 63

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Welchen Preis Tocqueville gegebenenfalls zu zahlen bereit wäre, um den Geist der Freiheit wieder aufleben zu lassen, zeigt ein Auszug aus einem am 27. Februar 1858 verfassten Brief an Gustave de Beaumont. In diesem Brief teilt Tocqueville seinem Freund mit, dass er manchmal daran denkt, dass nur noch „die ruhige und scheinbar endgültige Etablierung des Despotismus“ in Frankreich die Freiheitsleidenschaft seiner Zeitgenossen wieder aufleben lassen kann (Tocqueville OC VIII, 3, S. 544). Den Wert der Freiheit scheint man erst dann (wieder) einzusehen, wenn man vor dem Risiko steht, sie dauerhaft zu verlieren. Und diese sich in einer solchen Extremsituation einstellende Einsicht kann den Menschen wachrütteln und dazu bringen, sich für die Freiheit zu engagieren, bevor es endgültig zu spät ist. Dabei muss man darauf achten, dass das Laster des einen manchmal die Tugend des anderen ist. Was in einer aristokratischen Gesellschaft als Tugend angesehen wird, kann in einer demokratischen Gesellschaft als Laster betrachtet werden, und umgekehrt. Wenn Cynthia Hinckley schreibt, dass Tocqueville ein gewisses Gefühl für die soziale Nützlichkeit der bürgerlichen Tugend („bourgeois virtue“) hatte (Hinckley 1992, S. 198), so muss gleich gesagt werden, dass bestimmte bürgerliche Tugenden – etwa die Ordnungsliebe – für den Aristokraten Tocqueville eher den Charakter von Lastern hatten. Aber das schließt nicht aus, dass sie trotzdem einen bestimmten sozialen Nutzen haben können. Und insofern sie diesen Nutzen haben, sollte man sie nicht von vorherein verurteilen, bloß weil sie nicht mit dem Idealbild des Menschen übereinstimmen. In einem Brief an Arthur de Gobineau aus dem Jahr 1853 vergleicht Tocqueville das XVIII. mit dem XIX. Jahrhundert und stellt bei Ersterem einen übertriebenen Hochmut und bei Letzterem

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Und umgekehrt gilt dann auch: Der Besitz bestimmter Tugenden ist keine Garantie gegen den Despotismus, sondern kann diesem sogar den Weg bereiten. Insofern kann Tocqueville an der gerade eben zitierten Stelle schreiben, dass die Tugenden ein Gegenstand der Beunruhigung für den Moralisten sein müssen, sprich für den Moralisten der sich nicht damit zufrieden gibt, einen absoluten Standpunkt einzunehmen, dem es nur um die abstrakte oder intrinsische Wahrheit oder Richtigkeit geht, sondern der sich auch Sorge um die Bewahrung der Freiheit macht. Bevor ich zum nächsten Kapitel übergehe, möchte ich noch kurz auf Tocquevilles Ausführungen zum Freiheitsbegriff eingehen. In seinem Essai Etat social et politique de la France avant et depuis 1789, unterscheidet Tocqueville zwischen einem aristokratischen und einem demokratischen Freiheitsbegriff. Der erste verleitet die Menschen zu außergewöhnlichen Handlungen und hat die großen Völker hervorgebracht. Dieser Begriff, so Tocqueville ganz emphatisch und fast schon enthusiastisch, gibt den Individuen ein Bewusstsein ihres Wertes und ein leidenschaftliches Begehren nach Unabhängigkeit. Bei der Beschreibung des demokratischen Freiheitsbegriffs findet man keine solche Begeisterung des Autors wieder. Der demokratische Freiheitsbegriff setzt die Gleichheit aller Menschen voraus und gibt jedem ein Recht, sein Leben so zu gestalten, wie er es für richtig hält und unabhängig von seinesgleichen zu leben (Tocqueville OC II, I, S. 62). Dieser Freiheitsbegriff begünstigt demnach den Individualismus, den Tocqueville, wie wir noch sehen werden, als eine der durch die Demokratie begünstigten Krankheiten betrachtet. Der demokratische Freiheitsbegriff beinhaltet auch die Freiheit, sich nicht um öffentliche Angelegenheiten zu kümmern und sich für die Freiheit zu desinteressieren. Der aristokratische Mensch, so ließe sich sagen, war nicht nur an der Freiheit interessiert, sondern auch an den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit. Er wollte nicht nur Großes vollbringen, sondern er wollte auch weiter in einer Gesellschaft leben, die es ihm ermöglichte, Großes zu vollbringen. Und indem er für die Erhaltung einer solchen Gesellschaft kämpfte, indem er sich also zum Beispiel dem Staat widersetzte, der ihm seine Privilegien abnehmen wollte, vollbrachte er Großes. Der demokratische Mensch tendiert aber dazu, sich nicht mehr für die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu interessieren. In einem nicht datierten und ‚Socialisme et liberté‘ überschriebenen Text, integriert Tocqueville das private und das öffentliche Moment in einen Freiheitsbegriff, den er mit der Demokratie gleichsetzt: „Die größtmögliche Freiheit, die dem Armen wie auch dem Reichen, dem Schwachen wie auch dem Mächtigen zugestanden eine übertriebene Demut fest (Tocqueville OC IX, S. 205). Wie manche andere Passagen, bringt auch diese Stelle einen gewissen moralischen Aristotelismus Tocquevilles zum Vorschein, der das Tugend- oder Lasterhafte an das Mehr oder Weniger bindet. Hochmut und Demut, um bei Tocquevilles Beispiel zu bleiben, sind an sich weder Tugenden, noch Laster, sondern alles hängt vom Maße ab. Ein Zuviel oder ein Zuwenig verwandeln beide in Laster, und nur das richtige Maß begründet den Tugendcharakter. Das entspricht natürlich nicht einem bestimmten christlichen Verständnis, das die Demut als solche mit einer Tugend und die Hochmut als solche mit einem Laster identifiziert. Aus Tocquevilles Sicht kann es vorkommen, dass das Laster unter bestimmten Umständen einen positiven Einfluss hat. So kann übertriebener Hochmut der Freiheit manchmal förderlicher sein als ein Hochmut in verständigem Maße oder als Demut.

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wird, die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln und von seinen Fähigkeiten den Gebrauch zu machen, den er für richtig hält, das zu tun, was ihm gefällt und Herr seines Schicksals zu bleiben“ (Tocqueville OC III, 3, S. 195). Dieser Freiheitsbegriff enthält nicht nur den Gedanken, dass jeder tun und lassen kann, was er will, sondern indem Tocqueville im Schlussteil den Blick auf die Zukunft richtet, spricht er jenseits der im Augenblick gelebten Freiheit auch die Erhaltung der Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit an. Es geht nicht nur um den jetzigen Genuss der Freiheit im Sinne eines Tun-Was-Mir-Gefällt, sondern die Bewahrung der Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit kann durchaus von mir verlangen, dass ich jetzt nicht das tue, was mir gefällt. Wichtig für unsere Zwecke ist die Tatsache, dass Tocqueville in seiner Schrift État social et politique de la France avant et depuis 1789 ausdrücklich vom modernen, demokratischen Freiheitsbegriff als „ich wage es zu sagen, die richtige Auffassung der Freiheit“ spricht (Tocqueville OC II, I, S. 62 – Hervorhebung N. C.). Aber dass es die richtige Auffassung der Freiheit ist, bedeutet noch nicht, dass es auch diejenige Auffassung der Freiheit ist, die den Menschen dazu bringen kann, Großes zu vollbringen und sich gegebenenfalls für diese Freiheit zu opfern. Wie wir eben gesehen haben, ist die aristokratische Freiheitsauffassung mit einem Enthusiasmus verbunden, den Tocqueville bei der modernen nicht mehr finden kann, wie „richtig“ Letztere auch immer sein mag. Was an sich „richtig“ ist, muss nicht unbedingt auch unter allen Umständen gut sein. An einer Stelle seiner Studie zum Ancien Régime spricht Tocqueville über die falschen Auffassungen bestimmter Revolutionäre, stellt aber dabei fest: „Nehmt den Franzosen von damals ihre falschen Ideen weg, und ein Teil ihres Elans geht sogleich verloren; und dieser Elan wird sogar unverständlich. Nur das Absurde kann die Menschen dazu bringen, solche Anstrengungen zu vollbringen“ (Tocqueville OC II, 2, S. 167). Und in derselben Studie heißt es: „Gott hat das Herz aller Völker mit demselben Rauch gefüllt, damit sie sich, weil sie sich als mehr wähnen, als was sie in Wirklichkeit sind, dazu verpflichtet fühlen alles zu tun, was sie können“ (Tocqueville OC II, 2, S. 262). Will man also die Menschen dazu bringen, Großes zu vollbringen und sich bis zum Äußersten zu engagieren, dann kann es unter Umständen durchaus angebracht sein, ihnen falsche, wenn nicht sogar absurde Ideen zu vermitteln. Das Engagement für eine bestimmte Idee ist nicht von der Wahrheit dieser Idee abhängig, sondern von ihrer Größe bzw. der Größe ihres Inhalts. Will man etwa, dass der Mensch sein Leben für die Freiheit opfert, dann ist ein solches Opfer eher zu erwarten, wenn man die Menschen dazu bringt, die aristokratische Freiheitsauffassung als die richtige anzusehen. Will man aber, dass der demokratische Mensch überhaupt eine Freiheitsauffassung akzeptiert und der Freiheit nicht ganz den Rücken kehrt, um nur noch die Gleichheit und das individuelle Wohlbefinden als wertvoll anzusehen, dann sollte man ihm die demokratische Freiheitsauffassung als die richtige vorstellen. Es geht dem politischen Wissenschaftler nicht darum zu wissen, welche der beiden Auffassungen von einem absoluten Standpunkt aus gesehen die richtige ist, sondern sein Augenmerk gilt vielmehr der Frage, welche Freiheitsauffassung in einem bestimmten Zeitalter als die richtige bezeichnet werden sollte. Aber das bedeutet nicht, dass man die andere Freiheitsauffassung ganz

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ignorieren sollte. Wenn auch das Handeln der großen Mehrzahl der demokratischen Menschen ihr niemals entsprechen wird, so sollte sie doch weiterhin im Bewusstsein eines demokratischen Gemeinwesens präsent bleiben. Dass Tocqueville die demokratische Auffassung der Freiheit als „ich wage es zu sagen, die richtige“ bezeichnet, kann auch ein taktischer Schachzug sein, eine Art von captatio benevolentiae.66 Wenn Tocqueville den demokratischen Menschen ansprechen will, muss er ihm zum Teil entgegenkommen, und ein Schritt in diese Richtung besteht darin, den demokratischen Freiheitsbegriff als den richtigen zu bezeichnen. Darin ist insofern ein Wagnis enthalten, als die Gefahr besteht, dass der aristokratische Freiheitsbegriff als der falsche, und damit auch als ein völlig unnützer betrachtet wird. Tocqueville muss hier aufpassen, dass er in seinem Versuch, dem demokratischen Menschen entgegenzukommen, nicht über das Ziel hinausschießt. Dies versucht er dadurch zu vermeiden, dass er bei der Beschreibung des aristokratischen Freiheitsbegriffs eine Sprache gebraucht, die sich an die Gefühle wendet, während er bei der Beschreibung des demokratischen Freiheitsbegriffs eine „intellektuellere“ Sprache gebraucht. Im ersten Band der Démocratie zitiert Tocqueville eine Passage aus einer Rede die Winthrop, einer der ersten Gouverneure Neuenglands, gehalten hat, und in welcher er eine „schöne“ Definition der Freiheit findet. Die „bürgerliche und moralische Freiheit“, so Winthrop, ist die Freiheit, „ohne Furcht alles tun zu können, was gerecht und gut ist. Diese heilige Freiheit müssen wir unter allen Umständen verteidigen und, wenn es sein muss, unser Leben für sie wagen“ (Tocqueville OC I, 1, I, 2, S. 41). Hier ist nicht die Rede davon, dass jeder sein Leben so gestalten kann, wie er es für richtig hält. In der Tat hatte Winthrop, bevor er die eben zitierte „schöne“ Definition der Freiheit gab, behauptet, dass es eine verdorbene Form der Freiheit gibt, hinsichtlich welcher der Mensch sich nicht von den Tieren unterscheidet, und die darin besteht, „alles zu tun, was [einem] gefällt“ (Tocqueville OC I, 1, I, 2, S. 41). Die Freiheit muss als in einem das Individuum transzendierenden normativen Rahmen eingebettet gedacht werden, wenn man will, dass der Mensch die Bereitschaft aufbringt, sein Leben für sie zu wagen. Fassen wir zusammen. Aus der Sicht des um die Bewahrung des liberalen Charakters eines politischen Gemeinwesens besorgten politischen Wissenschaftlers tritt die Frage nach der Wahrheit einer Morallehre oder Religion in den Hintergrund, und in den Vordergrund tritt die Frage nach der Angemessenheit einer Morallehre oder Religion zur Bewahrung des liberalen Charakters eines politischen Gemeinwesens. Wenn es sein muss, ist der politische Wissenschaftler bereit, Abstriche zu 66

Hinsichtlich der Demokratie, ist Tocqueville vorsichtiger. In einer Passage die ihren Weg nicht in die veröffentlichte Fassung der Démocratie gefunden hat, schreibt er: „Was die Frage betrifft, ob ein solcher sozialer Zustand [gemeint ist die Demokratie – N. C.] der beste ist, den die Menschheit haben kann, so soll Gott selbst es sagen. Nur Gott allein kann es sagen“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 693 Fußnote f). Wenn man den Gang der Geschichte als Gottes Wort liest und in diesem Gang einen unaufhaltsamen Vormarsch der Demokratie sieht, dann wird man schlussfolgern müssen, dass Gott gesagt hat, dass die Demokratie der beste soziale Zustand der Menschheit ist. Es sei denn man würde annehmen, dass es noch einen sozialen Zustand jenseits der Demokratie gibt, wobei die Demokratie dann nur eine Etappe auf dem Weg zu diesem Zustand ist.

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tun bzw. bestimmte Normen einer als wahr oder vollkommen betrachteten Religion oder Morallehre zu verwässern, um sie für die demokratischen Menschen akzeptabel zu machen. Dem liberalen politischen Wissenschaftler geht es nämlich nicht um das ewige Seelenheil des Gläubigen – das dieser vielleicht nur durch ein Befolgen der nicht verwässerten religiösen Normen erlangen kann –, noch um die moralische Vollkommenheit des Individuums – die dieses vielleicht nur durch ein Befolgen der nicht verwässerten moralischen Normen erlangen kann. Es geht ihm einerseits um die Bewahrung des liberalen Gemeinwesens und andererseits um die Bewahrung eines bestimmten Menschentyps, wobei dieser Menschentyp die Bewahrung des liberalen Gemeinwesens, und die Bewahrung des Gemeinwesens ihrerseits die Entwicklung dieses Menschentyps ermöglicht. Ein liberales Gemeinwesen kommt auf Dauer nicht ohne einen bestimmten Menschentyp aus, und dieser Menschentyp entsteht nicht spontan von selbst, sondern ist ein Produkt der Kunst. Von Natur aus produziert die Demokratie einen Menschentyp, für den die Freiheit nicht das wesentlichste Gut ist und der demnach bereit ist, diese Freiheit auf dem Altar anderer Güter, wie etwa der Gleichheit oder der Wohlstand zu opfern. Die neue politische Wissenschaft die Tocqueville entwickeln will soll u. a. zeigen, wie man der natürlichen Tendenz der Demokratie entgegenwirken, und dabei einen Menschentyp produzieren kann, für den die Freiheit zumindest noch so wichtig ist wie andere, materielle Güter. Dabei spielt die Religion eine wesentliche Rolle. Sie ist, wie Pierre Manent zu recht geschrieben hat, „der strategische Ort par excellence der Tocquevilleschen Lehre“ (Manent 1993, S. 148). Derselbe Manent macht aber auch auf ein gravierendes Problem einer bewussten politischen Instrumentalisierung der Religion aufmerksam: „Die Religion der Amerikaner verliert in dem Maße von ihrer Nützlichkeit, als die Amerikaner an ihr wegen ihrer Nützlichkeit hängen“ (Manent 1993, S. 129). Mit anderen Worten: eine Religion hört dann auf, ihre soziale Nützlichkeit zu entfalten, wenn alle wissen oder doch eine sehr große Mehrheit weiß, dass ihre soziale Nützlichkeit der einzige Grund ist, wieso man sie noch aufrecht erhält. Die Wirksamkeit der Religion setzt demnach voraus, dass man auch an ihre Wahrheit glaubt oder dass man sie zumindest nicht bloß wegen ihrer Nützlichkeit schützt und aufrecht erhält. Die Regierenden können zwar eine rein politische Perspektive auf die Religion haben; die Mehrzahl der Bürger sollte diese Perspektive aber nicht einnehmen – falls die Religion weiterhin sozial und politisch nützlich bleiben soll. KAPITEL 6: DIE ZURÜCKWEISUNG EINER – REIN – POLITISCHEN PERSPEKTIVE AUF DIE RELIGION Eine rein funktionalistische Perspektive auf die Religion ist nicht primär an der Wahrheitsdimension der Religion interessiert, sondern fragt nur danach, ob und inwiefern die Religion eine bestimmte – auf das bloß irdische Leben begrenzte – Funktion erfüllt oder erfüllen kann. Und auch wenn es sein mag, dass eine bestimmte Religion diese Funktion nur angemessen erfüllen kann, weil sie wahr ist,

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so kann man ihre funktionale Dimension beschreiben, ohne auf diese Wahrheitsdimension einzugehen. Dass man die Religion im Allgemeinen oder eine bestimmte Religion im Besonderen unter einem rein funktionalistischen Blickwinkel betrachten kann, bedeutet noch nicht, dass man sie auch so betrachten darf, und es bedeutet noch weniger, dass man sie allein schon oder nur wegen ihrer funktionalen Dimension empfehlen darf. Für einen Theologen oder auch nur einen sehr gläubigen Menschen, wäre eine solche rein funktional bedingte Empfehlung mit einem Verrat an der Religion gleichzusetzen. Aus ihrer Sicht ist es nämlich die Wahrheit, die eine bestimmte Religion in erster Linie empfehlenswert macht, und erst nachdem man sie wegen ihrer Wahrheit empfohlen hat, darf man sie auch noch zusätzlich wegen ihres Beitrags zur Erhaltung oder Förderung eines irdischen Gutes empfehlen. Auf keinen Fall darf die Wahrheitsfrage ausgeklammert oder als Nebensache betrachtet werden. Montesquieu hatte erkannt, dass man ihn wegen seiner Beschränkung auf die funktionale Dimension der Religion angreifen könnte. Folgende Zeilen sollten einem solchen Angriff vorbeugen: „Was die wahre Religion betrifft, so erfordert es nur sehr wenig Billigkeit, um zu sehen, dass ich niemals behauptet habe, dass ihre Interessen vor den politischen Interessen zurückzuweichen hätten, sondern dass ich sie miteinander vereinen wollte: aber, um sie zu vereinen, muss man sie kennen“ (Montesquieu EL XXIV, 1, S. 714). In den ersten Ausgaben von De l’esprit des lois hatte Montesquieu das Adjektiv „wahr“ nicht benutzt, und nur geschrieben, dass man ihm nicht vorwerfen könne, die Interessen der Religion auf dem Altar der politischen Interessen zu opfern. Durch die Hinzufügung des Adjektivs wollte er den möglichen Konflikt zwischen einer rein politischen und einer rein theologischen Perspektive auf eine pointierte Art und Weise andeuten, um aber gleich zu verstehen zu geben, dass es einen solchen Konflikt eigentlich nicht geben sollte, da die Interessen der wahren Religion und die Interessen der Politik immer zusammenfallen. Die wahre Religion und die Politik widersprechen sich nicht, sondern können und sollten sich gegenseitig fördern. Die christliche Religion, so Montesquieu, der die zunächst nur als „wahr“ bezeichnete Religion nun auch mit ihrem Namen nennt, „die den Menschen befiehlt, sich zu lieben, will ohne Zweifel, dass jedes Volk die besten politischen und die besten bürgerlichen Gesetze hat, denn diese sind, nach ihr, das höchste Gut, das Menschen geben und bekommen können“ (Montesquieu EL XXIV, 1, S. 715). Hier wird ganz ausdrücklich die Rangfolge genannt: die wahre Religion ist ein höheres Gut als die politischen und die bürgerlichen Gesetze. Durch letztere gelangt der Mensch höchstens nur zum irdischen Glück, während die wahre Religion es ihm erlaubt, die ewige Glückseligkeit zu erlangen. Montesquieu beschwichtigt eventuelle Gegner mit dem Hinweis, dass die wahre Religion will, dass die Menschen auch das irdische Glück erlangen. Das politische Interesse ist somit im religiösen Interesse enthalten und beide widersprechen sich nicht. Doch auch wenn das erste im zweiten enthalten ist, kann es nützlich sein, sich zunächst einmal auf das bloß politische Interesse zu konzentrieren und zu sehen, inwiefern die Religion es fördern kann. Man muss sozusagen vom Beitrag der wahren Religion zur Erlangung des ewigen Glücks absehen, um den Beitrag der wahren Religion zur Erlangung des irdischen Glücks angemessen sehen zu können.

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Teil II: Die theologische und die politische Perspektive

Montesquieu will, dass man sein Ausklammern der theologischen Perspektive als einen bloß methodologischen oder heuristischen Gestus versteht, und nicht als einen Versuch, den politischen Interessen den Vorrang zu geben, um dann nach einer Religion Ausschau zu halten, die diesen Interessen, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, am besten entgegenkommt. Dass es in der Vergangenheit durchaus lebensgefährlich sein konnte, die wahre Religion als rein funktionales Instrument zu betrachten, zeigen die 1647 erlassenen Laws and Liberties of Massachusetts. Unter das mit dem Tode zu ahndende Verbrechen der Gotteslästerung fallen dort nicht nur diejenigen, die „den wahren Gott, oder seine Schöpfung, oder seine Regierung über die Welt“ leugnen, sondern auch diejenigen, die „der wahren Religion Gottes vorwerfen, nur ein politisches Instrument zu sein, mit dem man unwissenden Menschen Furcht einflößt“ (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 93). Die wahre Religion sollte also auf keinen Fall nur als ein Instrument dargestellt werden, das einen politischen Zweck erfüllt – auch wenn sie diesen Zweck tatsächlich erfüllt. An der eben zitierten Stelle scheint der Autor – oder die Autoren – diejenigen verurteilen zu wollen, die den Gebrauch des religiösen Glaubens als Machtinstrument anprangern. Man könnte das „reproach“ im Original aber sehr wohl durch ein „consider“ ersetzen, so dass dann alle jene als Gotteslästerer zu betrachten wären, die in der Religion nur ein nützliches und wirksames Instrument sehen, mittels dessen man die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten kann. Die Religion, und vor allem die wahre Religion Gottes, sollte, so kann man zwischen den Zeilen lesen, immer – auch, und sogar primär – im Hinblick auf ihre Wahrheit und auf ihren Beitrag zur Erlangung des ewigen Seelenheils betrachtet werden. Das „nur“ im obigen Zitat lässt durchblicken, dass man die Religion – einbegriffen die heilige oder wahre – zwar auch als ein politisches Instrument betrachten darf, dass man sie – und vor allem nicht die wahre – nie auf ein solches politisches Instrument reduzieren darf. Genau diesem Reduktionsvorwurf will Montesquieu, ein Jahrhundert später, vorbeugen. In seinem 1785 veröffentlichten Memorial and Remonstrance Against Reli­ gious Assessments, geht auch James Madison auf die Frage einer möglichen politischen Instrumentalisierung der Religion ein. Der Text wendet sich gegen den Bill establishing a provision for Teachers of the Christian Religion und damit gegen den Versuch, einer bestimmten Religion eine staatliche Unterstützung zu gewähren. Für unsere Zwecke ist der fünfte Punkt wichtig, denn dort heißt es – als Grund für die Ablehnung: „Weil die Gesetzesvorlage impliziert, dass entweder die politische Autorität ein kompetenter Richter über die religiöse Wahrheit ist, oder dass er die Religion als ein Mittel zum Gebrauch der bürgerlichen Politik gebrauchen kann. Das erste ist ein arroganter Anspruch, den die widersprüchlichen Meinungen der Herrscher aus allen Zeiten widerlegen; das zweite eine unheilige Pervertierung der Heilsmittel“ (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 311). Madison prangert hier einen rein politischen Gebrauch der Religion an, wobei er implizit zu verstehen gibt, dass es gleichgütig ist, ob die politische Autorität die Religion im Sinne einer liberalen oder einer aristokratischen Politik gebraucht. Jeder politische Gebrauch der Religion entspricht in seinen Augen einer Pervertierung, denn die Religion wird zur Erfüllung einer ihr wesensfremden Aufgabe ein-

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gespannt. Die Religion sollte immer nur als „Heilsmittel“ gebraucht und, so könnte man hinzufügen, betrachtet werden. Sinn und Zweck der Religion ist es, den Menschen zu erlösen, ihn zu seinem ewigen Glück zu leiten. Und da dieses ewige Glück keinen anderen als immer nur den einzelnen Menschen betrifft, sollte der Staat sich hier nicht einmischen und jeden das glauben lassen wovon er meint, es führe am besten zum ewigen Seelenheil. Ob ein Individuum sein ewiges Seelenheil erlangt oder nicht, hat keinen Einfluss auf das politische Gemeinwesen. Eine Religion sollte dementsprechend immer höchstens nur als individuelles Erlösungsmittel und nie als politisches Mittel empfohlen werden. Hatte der Gesetzgeber von Massachusetts sich scheinbar nur gegen einer Reduktion der Religion auf ein politisches Instrument ausgesprochen, scheint Madison an der eben zitierten Stelle noch einen Schritt weiter zu gehen, indem er jede politische Perspektive auf die Religion und konsequenterweise auch jeden politischen Gebrauch verurteilt. Madison, dies muss hier hinzugefügt werden, wollte keineswegs abstreiten, dass der religiöse Glaube durchaus auch politisch förderlich sein konnte. Er wollte lediglich davor warnen, das Augenmerk auf diesen politischen Aspekt zu konzentrieren und dadurch in Versuchung zu geraten, einen bestimmten religiösen Glauben, nämlich denjenigen, den man als am förderlichsten für das politische Gemeinwesen betrachtet, zu institutionalisieren. Madisons Kritik an der politischen Instrumentalisierung der Religion drückt sich zwar in religiösen oder theologischen Begriffen aus – wenn er etwa von einer unheiligen Pervertierung eines Heilsmittels spricht –, sie sollte aber auch, und vielleicht in erster Linie, als politische Kritik betrachtet werden. Solange die Religion nur als ein individuelles Erlösungsmittel beschrieben wird, interessiert sich der Staat nicht für sie. Wird sie aber als ein politisch nützliches Instrument dargestellt, wird der Staat sich für sie interessieren und sie gegebenenfalls für seine Zwecke instrumentalisieren. Eine Kritik der Instrumentalisierung der Religion findet man auch bei Benjamin Constant. Diese Kritik nährt sich nicht nur aus dem Respekt, den Constant für das religiöse Gefühl hat, sondern fußt auch auf seinem radikal anti-utilitaristischen Denken (dazu Campagna 2011). Constant wehrt sich nämlich dagegen, jedes Phänomen nur im Lichte seiner Nützlichkeit zu sehen und den derart betrachteten Phänomenen somit einen bloß extrinsischen Wert zuzugestehen. Damit verlieren nämlich viele Phänomene ihren intrinsischen Wert und sie werden dadurch entwertet bzw. entwürdigt. Hinsichtlich der Literatur heißt es etwa in De la religion: „Jede Literatur die einen außer ihr liegenden Zweck hat, kann vielleicht, als Mittel, nützlicher, wirksamer sein, aber sie wird immer weniger vollkommen sein als eine Literatur, die sich selbst Zweck ist“ (Constant 1999, S. 496). Man wird der Literatur als Literatur nur dann gerecht, wenn man sie nicht als Propagandamittel oder als Zeitvertreib sieht. Wer als Schriftsteller einen Roman schreibt, muss als primäres Ziel den rein literarischen Wert des Romans vor Augen haben. Erst dann kann er die Hoffnung hegen, sich der literarischen Vollkommenheit zu nähern. Aber es ist dies nur eine notwendige, und nicht auch schon hinreichende Bedingung. Dass sein Roman darüber hinaus auch sozial wirksam werden und mit dazu beitragen kann, das materielle Los der Menschheit zu verbessern – etwa indem er Sozialreformen

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inspiriert –, ist eine rein akzidentelle Konsequenz und macht ihn nicht zu einem besseren Roman. Wahre Literatur darf nur sich selbst zum Zweck haben, und wahre Religion darf nur den unter den gegebenen Bedingungen angemessensten Ausdruck des religiösen Gefühls zum Zweck haben.67 Auch hier gilt, dass positive Konsequenzen dieses Ausdrucks auf das materielle Leben der Menschen nur akzidenteller Natur sind. Der wahre Schriftsteller sucht nach der literarisch angemessensten Form, und der wahre Gläubige sucht nach der religiös angemessensten Form. Der Zweck ihrer jeweiligen Praxis liegt in der Praxis selbst und nicht außer ihr. Dies kann bei vielen Menschen den Eindruck erwecken, als sei die betreffende Praxis eitler Luxus. Den zu seiner Epoche herrschenden Zeitgeist kritisierend, schreibt Constant: „Es sieht so aus, als ob wir uns nicht mehr vorstellen könnten, dass man ohne weiteren Zweck glauben kann“ (Constant 1997, S. 153).68 In den Augen Constants gibt es bestimmte Handlungen, die man um ihrer selbst willen ausführt, völlig unabhängig von einem eventuellen Nutzen, die sie für uns oder andere haben können. Wer etwa seiner Geliebten ein Geschenk macht, fragt sich nicht, welchen Nutzen diese Handlung für ihn, für seine Geliebte oder für die Beziehung zwischen beiden haben wird, sondern er macht das Geschenk aus reiner Liebe, und d. h. eben ohne Nutzenkalkül. Die Liebesbeziehung gehört zu jener Beziehungsart, innerhalb welcher Nutzenüberlegungen nicht nur einfach unangebracht sind, sondern sogar die Natur der Beziehung vollkommen verändern können. Und das hängt u. a. damit zusammen, dass diese Beziehung sich als solche, wenn sie eine echte Liebesbeziehung sein soll, über die Nutzendimension erheben muss. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass das erotische Gefühl nicht als ein solches betrachtet werden sollte, das einen bestimmten Nutzen hat, z. B. für die Arterhaltung oder – mit Schopenhauer – für das Weiterbestehen des Willens. Eine ganz ähnliche Bemerkung kann man hinsichtlich des religiösen Gefühls und des mit ihm einhergehenden religiösen Glauben machen. Es gibt Philosophen, so Constant, die Angst vor einem religiösen Glauben haben, der keinen Nutzen hat, weder einen jenseitigen, noch einen diesseitigen (Constant 1999, S. 70), und die dementsprechend versuchen, einen möglichen Nutzen für den Glauben zu finden, so dass sie den durch das Nutzendenken geprägten Menschen beweisen können, dass es in ihrem ureigenen individuellen Interesse liegt, an übernatürliche Mächte 67

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Wie Gauchet bemerkt, kann das religiöse Gefühl zwar erklären, warum eine Religion entsteht, es kann aber nicht die konkrete Organisation einer Religion erklären (Gauchet 1985, S. 135). Rosenblatt sieht im religiösen Gefühl den Ort der Offenbarung, einer Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen (Rosenblatt 2008, S. 197), wobei man aber gleich anmerken muss, dass Gott hier keine spezifischen Wahrheiten offenbart. Es handelt sich vielmehr um eine ganz allgemeine Offenbarung des Transzendenten. Das religiöse Gefühl lässt den Menschen erahnen, dass es etwas Höheres, Erhabeneres gibt als seine kontingente Individualität. Das ist sozusagen das Gemeinsame. Wie wir aber wissen, gibt es sehr unterschiedliche Religionen und das Transzendente kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. Solche unterschiedliche Formen nehmen auch die Riten an, mittels derer sich die Menschen auf dieses Transzendente beziehen. Um diese Unterschiede zu erklären, wird man jenseits des bloßen religiösen Gefühls schauen müssen. „[C]roire pour rien“, heißt es im französischen Original.

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zu glauben. Da man die Menschen nicht mehr mit Wahrheitsargumenten dazu bringen kann, an die Existenz bestimmter Entitäten zu glauben, versuchen bestimmte Philosophen, sie durch Nützlichkeitsargumente dazu zu bringen. Constant begegnet diesen Philosophen und ihrer Argumentation mit drei Einwänden. Als erstes weist er auf die Herabwürdigung der Religion hin, die eine solche Einbettung des Glaubens in einen Nützlichkeitsdiskurs mit sich bringt: „Indem man nie aus den Augen verliert, dass die Religion nützlich sein muss, entwürdigt man die Religion“ (Constant 1999, S. 70). Man sollte also zumindest manchmal die Religion anders im Hinblick auf ihren bloßen individuellen oder sozialen Nutzen betrachten. Die Religion, so könnte man Constants Gedanken auch in einer von Kant entlehnten Formulierung ausdrücken, sollte niemals nur als bloßes Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Constant bestreitet damit nicht, dass die Religion nützlich sein kann, aber er verwirft doch die These, dass wir einen religiösen Glauben haben und ihn aufrecht erhalten sollten, bloß weil er nützlich ist. Die Nützlichkeit einer Religion ist in seinen Augen immer nur akzidentell bzw. ist sie eine positive Neben- oder Begleiterscheinung von etwas an sich intrinsisch Wertvollem, und diese Nützlichkeit sollte demnach nicht den wesentlichen Gesichtspunkt ausmachen, von dem aus man sich mit einer Religion beschäftigt oder gar der Grund sein, wieso man glaubt. Ein credo quia utile kommt für Constant nicht in Frage. Insofern kann Constant Montesquieu vorwerfen, dieser habe die Religion nur unter dem Gesichtspunkt ihrer akzidentellen Eigenschaften behandelt: „[E]r hat von ihr nur das gesagt, was er zu sagen gezwungen war“ (Constant 1999, S. 71). Montesquieu hat die Religion nicht um ihrer selbst willen, und nicht einmal um ihres Beitrags zur Erlangung des ewigen Seelenheils willen betrachtet, sondern er hat sich nur mit ihrem diesseitigen Nutzen befasst, und er hat dementsprechend von ihr nur das gesagt, was ihn sein Untersuchungsrahmen über sie zu sagen zwang. Wer die Religion aus einer rein politischen Perspektive betrachtet, wird weder die theologische, noch die ästhetische Dimension betrachten, sondern er wird sich auf das beschränken, was er über sie von seinem rein politischen Standpunkt aus zu sagen hat. Damit verrät er aber das eigentliche Wesen der Religion und würdigt sie zum reinen Instrument herab, mag sie dabei auch als Instrument im Dienste der Freiheit betrachtet werden. Ein zweiter Einwand Constants dreht sich um den Begriff des Glaubens. An eine Religion glauben heißt nicht, an den Nutzen dieser Religion glauben. Oder noch anders formuliert: ein sich auf bloße Nützlichkeitsüberlegungen stützender Glaube, ist kein religiöser Glaube im eigentlichen Sinne des Wortes. Ein wahrhaft religiöser Mensch glaubt nicht, weil er sich einen Nutzen von diesem Glauben erwartet, sondern er glaubt, weil sich ihm dieser Glaube aufdrängt. Auch hier kann ein Vergleich mit der Liebe gemacht werden: wer aus bloßen Nützlichkeitsüberlegungen liebt, liebt eigentlich nicht. Das Gefühl der Liebe bringt den Liebenden oft dazu, Handlungen auszuführen, die einem Außenstehenden nicht nur als nutzlos, sondern die ihm sogar als wahnsinnig erscheinen können, wenn etwa der Liebende sich mit seiner Geliebten in den Tod stürzt, um dadurch die Stärke der Liebe auszudrücken. Aus der Sicht eines strikten Utilitaristen ist eine solche Handlung völlig

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irrational, genauso wie das Gefühl, das zu ihr führt. Ähnlich wäre es für einen strikten Utilitaristen irrational, zu einem religiösen Glauben zu konvertieren, ohne sich einen konkreten Nutzen von dieser Konversion zu erwarten. Aus rein utilitaristischer Sicht sollte man nicht konvertieren, weil man die Wahrheit einer bestimmten Religion fühlt, sondern weil der Verstand einem zeigt, dass der Nutzen, den man aus der Konversion ziehen kann, größer ist als der Nutzen den man hätte, wenn man sich nicht zu dieser Religion konvertieren würde. Während die beiden ersten Einwände in erster Linie auf den Schaden hinweisen, welchen die Religion oder die Authentizität des Glaubens erleiden, wenn man die Religion allein auf ihre Nützlichkeitsdimension reduziert, betrachtet Constant in seinem dritten Einwand die möglichen politischen Gefahren einer solchen Reduktion. In diesem dritten Einwand greift Constant nämlich den Gedanken auf, dass man den Mächtigen in die Hände spielt, wenn man von der Religion nur die Nützlichkeitsdimension berücksichtigt, und vor allem, wenn man sie auf die Dimension der politischen Nützlichkeit reduziert. Wenn die Mächtigen nämlich denken, dass die Religion ein bloßes Instrument ist, das man zur Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens gebrauchen kann, dann werden sie keine Rücksicht mehr auf andere Dimensionen der Religion nehmen und sie werden sie mit gutem Gewissen als bloßes Herrschaftsinstrument gebrauchen. Will man demnach die menschliche Freiheit schützen, so wird man sich davor hüten müssen, die Religion nur unter ihrem bloßen Nutzenaspekt zu betrachten. Die Religion muss immer einen Aspekt behalten, der sie aus der Sphäre der reinen Immanenz erhebt und der es ihr dementsprechend erlaubt, nicht vollständig instrumentalisiert zu werden.69 In seinem Essai sur l’indifférence en matière de religion erhebt sich auch Félicité de Lamennais, ein zumindest in seinen späten Jahren liberaler Katholik und Zeitgenosse Tocquevilles, gegen diejenigen, die die Religion nur als eine politische Institution betrachten und sie dementsprechend lediglich unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit beurteilen. In seinem Essai schreibt Lamennais: „Sobald die Religion eine bloße politische Institution, der Glaube ein staatliches Gesetz geworden war, musste jeder, der einen anderen Glauben vertrat, als Rebell gegenüber den Gesetzen und als Feind des Staates betrachtet werden. Daher die Verfolgungen, die die Abtrünnigen in England über sich ergehen lassen mussten, Verfolgungen rein politischer Natur. Denn man bemerke den Unterschied: die Kirche, die spirituelle Gesellschaft, insofern sie die verschiedenen Religionen nur in spiritueller Hinsicht betrachtet, d. h. als wahr oder falsch, ist höchst intolerant gegenüber den Fehlern, spricht aber nur spirituelle Strafen gegen die Personen aus. Die politische Macht, im Gegenteil, die die Religion unter einer von ihrer Wahrheit unabhängigen Perspektive betrachtet, ist höchst tolerant gegenüber den Fehlern; sie zeigt sich aber in ihrer ganzen Strenge gegenüber den Personen, denn sie kann nur Kenntnis nehmen von den äußeren Verbrechen oder von den Handlungen“ (Lamennais 1844, S. 64). 69

Insofern kann man auch verstehen, wieso Constant vor der Gefahr warnt, sich in politischen oder religiösen Angelegenheiten an den Antiken zu inspirieren (Constant 2004, S. 119). Bei diesen hatte die Religion nämlich eine unmittelbar politische Dimension, und wer die Religion des Staates nicht teilte, konnte auch nicht Bürger sein.

Kapitel 6: Die Zurückweisung einer – rein – politischen Perspektive auf die Religion

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Wenn man, wie es die Glaubensgemeinschaften laut Lamennais tun oder tun sollten, den religiösen Glauben eines Menschen nur unter dem Blickwinkel seiner Wahrheit oder Falschheit betrachtet, und d. h. nur insofern er diesem Individuum das Tor zum ewigen Seelenheil öffnet oder schließt, wird man zwar über die eventuelle Falschheit des Glaubens urteilen können, aber man wird Gott die Entscheidung überlassen, den betroffenen Menschen gegebenenfalls mit anderen als bloß spirituellen Strafen – als höchste Strafe ist hier die Exkommunikation zu erwähnen – zu bestrafen. Dem Staat, so Lamennais, ist die Wahrheitsfrage der Religion gleichgültig. Er wird keinen Menschen bestrafen, weil er einen falschen Glauben hat. Aber er wird Menschen bestrafen, die nicht an das glauben, was er ihnen vorschreibt zu glauben. Wird die Religion zur politischen Institution – und zu einer solchen wird sie, wenn man in ihr einen politischen Nutzen sieht –, dann werden religiöse Handlungen auch zu politischen Handlungen, und was unter einer rein theologischen oder religiösen Perspektive eine Sünde war, wird zu einem Staatsverbrechen. In der Einleitung zu diesem Teil hatten wir Owens These erwähnt, der Liberalismus beruhe auf einer theologischen Prämisse, da der liberale Staat, so Owen, die Existenz wahrer politisch relevanter religiöser Aussagen oder Vorschriften leugne. Wir hatten dort gezeigt, dass Owen sich irrt, da der liberale Staat nicht unbedingt Stellung zur Wahrheitsfrage nehmen muss, sondern diese einfach ausklammern oder eventuell einen skeptischen Standpunkt einnehmen kann. Owen könnte nun aber seine Behauptung dadurch verteidigen, dass er darauf hinweist, dass die Behauptung, man könne und vor allem man dürfe die Nützlichkeitsfrage unabhängig von der Wahrheitsfrage diskutieren, letztendlich auf eine theologische Prämisse verweist. Denn, so ein mögliches Argument, der Verweis auf ein Dürfen setzt entweder voraus, dass man glaubt, dass Gott es uns erlaubt hat, oder es setzt voraus, dass man nicht an einen Gott glaubt, der es uns verboten hätte. Wenn der Mensch sich das Recht nimmt, beide Fragen unabhängig voneinander zu betrachten, dann muss er davon ausgehen, dass er dieses Recht hat. Doch man kann eine solche Voraussetzung nicht machen, ohne sich dabei auf ein bestimmtes Weltbild zu stützen. Denn wenn jemand von sich behauptet, er hätte ein Recht, dann setzt er immer einen Rahmen voraus, innerhalb dessen er diese Behauptung rechtfertigen kann. Und wer sich auf ein bestimmtes Weltbild stützt, kommt nicht daran vorbei, die Frage nach der Existenz Gottes zu stellen. Mag also auch an sich das methodologische Vorgehen der Unterscheidung zwischen Wahrheits- und Nützlichkeitsfrage noch nicht auf theologische Prämissen verweisen, so sind theologische Prämissen im Spiel, sobald man das Recht für sich beansprucht, dieses methodologische Vorgehen anzuwenden. Hier scheint man in der Tat zugeben zu müssen, dass der Liberalismus letztendlich immer theologische Aussagen machen muss – oder doch zumindest solche Aussagen voraussetzt –, also Aussagen, in denen etwas über Gott gesagt wird – mag es die Behauptung seiner Existenz oder seiner Inexistenz sein oder die Behauptung, dass er uns bestimmte Freiheiten lässt oder uns bestimmte Dinge verbietet. Es sei denn, man würde behaupten, dass man ein bestimmtes Recht für sich beansprucht, mag es Gott geben oder nicht und mag er uns erlauben das Recht zu beanspruchen

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Teil II: Die theologische und die politische Perspektive

oder nicht. Man würde somit eine Art épochê praktizieren, indem man die Frage nach Gott ganz ausklammert und de facto keine Stellung dazu bezieht. In der Unwissenheit darüber, ob es Gott gibt oder nicht und ob er uns etwas erlaubt oder nicht, tut man so, als ob einem etwas erlaubt sei. Dies entspricht der Weigerung, sich auf bestimmte Diskussionen einzulassen, weil man keine sicheren Antworten auf die in diesen Diskussionen zur Sprache kommenden Fragen finden kann. In diesem Zusammenhang schreibt Owen: „Der Versuch, seitens zeitgenössischer liberaler Theoretiker wie etwa Rorty oder Rawls, die Begründungsfragen des Liberalismus in ihrem vollen transhistorischen Rahmen zu ignorieren oder zu umgehen, führt zu einem Liberalismus, der sich durch Dogmatismus und Konformismus charakterisiert, wobei keiner der beiden mit dem politischen Projekt der Befreiung vereinbar ist“ (Owen 2001, S. 167). Eine ähnliche Position findet man bei Wolterstorff, der auch gegen Rorty und Rawls polemisiert: „Wenn jemand fragt, warum ich glauben sollte, dass alle normalen Erwachsenen die Mitglieder meiner Gesellschaft sind frei und gleich sind, welchen Grund es gibt, dies zu glauben, dann kommt keine Antwort. Der Liberale kann beobachten, dass, wie der Zufall es halt eben so will, wir alle daran glauben. Aber dieser Wir-ismus ist keine Antwort auf die warum glauben Frage“ (Wolterstorff 1997, S. 179). Genauso wie der Skeptizismus im XVI. Jahrhundert letztendlich auch zum Dogmatismus und Konformismus wurde, sobald der Skeptiker sich als ein Wesen betrachtete, das mit anderen Wesen zusammen in einer politischen Gemeinschaft lebte, in welcher es nicht jedem gestattet werden durfte, ständig alles in Zweifel zu ziehen – obwohl, rein theoretisch gesehen, alles anzweifelbar war –, wird hier dem Liberalismus vorgeworfen, auch in den Dogmatismus und Konformismus zu fallen. Sobald der Liberale ganz auf die Begründung verzichtet – wie es Rorty tut – oder die Begründungsfrage durch Rückgriff auf ein Gedankenexperiment zu beantworten versucht, das mit mehr oder weniger idealisierten Individuen operiert – wie es bei Rawls der Fall ist –, kann keine begründete und allgemeinverbindliche Antwort auf die Warum-Frage herauskommen. Viele der in diesem Buch behandelten Autoren haben eine Antwort auf die Warum-Frage, und diese Antwort lautet: Weil Gott oder die Vorsehung es so wollen. Dabei ist nicht immer klar, ob sie auch tatsächlich an das glauben, was sie sagen, oder ob bei ihnen nicht vielmehr bloß der Aspekt der Nützlichkeit des Glaubens im Vordergrund steht. Wie wir sehen werden, sieht Tocqueville den Glauben an die Souveränität des Volkes als den Inhalt eines Dogmas an. Und dieses Dogma verbindet er mit einer providentialistischen Geschichtsphilosophie: In der Entfaltung der Gleichheit in der Geschichte offenbart sich der Wille Gottes. Oder zumindest sollte man dies glauben bzw. zumindest sollten die Christen dies glauben. Denn wenn sie es glauben, werden sie sich der Demokratie nicht widersetzen. Und wenn sie sich der Demokratie nicht widersetzen, dann wird es ihnen möglich sein, weiter in der Demokratie zu bestehen. Und nur, wenn die Christen weiter in der Demokratie bestehen, haben sie eine Chance, mit Hilfe ihrer Moral die Demokratie zu moralisieren und vor dem demokratischen Despotismus zu bewahren.

Kapitel 7: Von der Wahrheitsfrage zur Nützlichkeitsfrage

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KAPITEL 7: VON DER WAHRHEITSFRAGE ZUR NÜTZLICHKEITSFRAGE In seinem schon zu Beginn des XIX. Jahrhunderts verfassten, aber erst 1970 zum ersten Mal veröffentlichten Text ‚De l’intervention de l’autorité dans ce qui a rapport à la religion‘, weist Benjamin Constant darauf hin, dass die Tatsache, dass man sich mit der Frage des Nutzens einer Religion befasst bzw. dieser Frage einen größeren Platz einräumt als der Wahrheitsfrage, als ein Symptom dafür gedeutet werden kann, dass die betreffende Religion sich ihrem Untergang zuneigt, dass sie also dabei ist, Anhänger und Einfluss zu verlieren (Constant 1970b, S. 132). Ein starker Glaube gründet auf der Anerkennung des Wahrheitsanspruchs der Religion, ein schwacher oder sich abschwächender Glaube, der sich aber noch nicht selbst ganz aufgeben will, versucht, wenn nicht an der Wahrheit, so doch zumindest noch an dem Nutzen des religiösen Glaubens festzuhalten. Der mögliche Nutzen erscheint somit als ein letzter Rettungsring oder als ein letzter Rückzugspunkt, und die Notwendigkeit eines solchen Rettungsrings scheint umso größer, als der Glaube an die Wahrheit der Religion sich abschwächt. Der Glaube an die Nützlichkeit ersetzt dann schlussendlich den Glauben an die Wahrheit. Wenn demnach der Enthusiasmus der Anfänge, der eigentlich keine Beweise brauchte, verschwunden ist, wenn auch keine wirksamen Argumente mehr aufgeboten werden können, um die Wahrheit oder Religion zu beweisen oder doch zumindest als sehr plausibel erscheinen zu lassen, dann greift man auf Nützlichkeitsüberlegungen zurück. Wenn Gefühl und Vernunft sich von der Religion abgewendet haben, legt man seine letzte Hoffnung darin, dass zumindest der Verstand uns sagen wird, weiter an ihr festzuhalten. Und der Verstand von dem hier die Rede ist, bewegt sich nicht auf dem Terrain der Wahrheit, sondern auf dem der Nützlichkeit. Wo eine neue Religion auftaucht, so Constant, wird nicht nach ihrem Nutzen gefragt, sondern es wird geprüft, inwiefern sie unter den gegebenen Bedingungen der intellektuellen Entwicklung der Menschheit ein angemessener Ausdruck des religiösen Gefühls ist, inwiefern sie also dem Entwicklungsstand der menschlichen Intelligenz entspricht und dementsprechend von den Menschen akzeptiert werden kann. Bezeichnet man eine Religion dann als wahr, wenn sie dem religiösen Gefühl entspricht, wenn letzteres sich also in ihr erkennen kann, dann steht in der Anfangsphase einer Religion die Wahrheitsfrage. Diese Wahrheit kann bloß empfunden werden, sie kann aber auch gegebenenfalls durch die Vernunft eingesehen werden. In ihr drückt sich die Angemessenheit einer verbalen Ausdrucksweise mit einem bloß Gefühlten aus, eine Adäquation des Intellekts an das Gefühl. Eine solche Wahrheit ist natürlich immer nur relativ und provisorisch, da keine positive Religion jemals in der Lage sein wird, der im religiösen Gefühl erfühlten übernatürlichen Wirklichkeit vollkommen und auf alle Zeiten angemessen zu sein. Constant stellt sich den Mensch als ein Wesen vor, das sich kontinuierlich perfektioniert. Verfeinert sich das menschliche Gefühl und entwickelt sich die menschliche Vernunft weiter, dann kann eine zunächst als wahr empfundene oder eingesehene Religion als falsch oder zumindest als nicht der Wahrheit vollkommen angemessen verworfen werden. Und in dieser Situation taucht dann die Versuchung auf, die

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Wahrheitsperspektive durch die Nutzenperspektive zu ersetzen. Und diese Versuchung taucht besonders bei denjenigen auf, die ein Interesse daran haben, die alte Religion zu erhalten – und das ist für Constant in erster Linie der Klerus. Da aber dieser Klerus nicht offen sagen kann, dass die Erhaltung der alten Religion ihm nützt – er profitiert zum Beispiel weiter von finanziellen Zuwendungen seitens der Gläubigen –, greift er auf den Gedanken eines allgemeinen Nutzens der alten Religion zurück. Ohne die Religion, wird dann behauptet, fällt die ganze Gesellschaft in sich zusammen. In seinem Essay ‚Utility of Religion‘, bemerkt auch John Stuart Mill, dass der Hinweis auf den Nutzen einer Religion sich erst aufdrängte, als die Argumente für die Wahrheit dieser Religion ihre Überzeugungskraft verloren hatten (Mill 2006, S. 403). Solange die Menschen von der Wahrheit einer Religion überzeugt sind – sei es durch Argumente oder durch die unmittelbare Evidenz (der Vernunft oder des Herzens) –, brauchen sie keine Nützlichkeitsargumente, um den Glauben an diese Religion zu untermauern bzw. um diese Religion vor ihrem Verschwinden zu retten. Die Wahrheit der Religion ist für sie nicht nur ein notwendiger, sondern auch – und vor allem – schon ein hinreichender Grund, die Religion zu akzeptieren. Die Religion muss also nicht noch nützlich sein oder den Beweis ihrer Nützlichkeit erbringen, um geglaubt zu werden, sondern ihre Wahrheit ist das alles entscheidende Merkmal. Das schließt nicht aus, dass die betreffende Religion gleichzeitig auch nützlich sein kann, aber dieser Nutzen spielt an sich keine Rolle bei der Beantwortung der Frage, ob man die Religion akzeptieren soll oder nicht. Man hätte auch dann noch einen Grund sie zu akzeptieren, wenn sie nicht nützlich wäre. Nützlichkeitsargumente tauchen also dann auf, so Mill und Constant, wenn die Wahrheit zweifelhaft wird, wenn ein großer Teil der Gläubigen die Argumente nicht mehr akzeptiert, mit denen man die Wahrheit der Religion zu begründen versuchte und wenn auch das rein gefühlsmäßige oder vorrational bestimmte Festhalten an einer Religion drastisch nachgelassen hat. Wenn etwa eine Religion bislang ihre Wahrheit vorwiegend oder sogar ausschließlich dadurch begründete, dass sie auf die von ihrem Gründer oder unmittelbar von ihrem Gott bewirkten Wunder hinwies, dann wird diese Wahrheit zweifelhaft, sobald die Gläubigen nicht mehr an die Wunder glauben, wenn sie also z. B. ein wissenschaftliches Weltbild annehmen, in dem kein Platz mehr für Wunder ist. Und zur Zeit Constants, und dann vor allem Mills, setzt sich ein Weltbild durch, in welchem nicht mehr nur kein Platz für Wunder war, sondern in dem die Hypothese eines Gottes, wie der französische Physiker Laplace es formulierte, nicht mehr nötig war, um das Funktionieren des großen Uhrwerks zu erklären. Ich möchte von diesem Hinweis auf Laplace profitieren, um kurz darauf hinzuweisen, dass die Religion und vor allem die Hypothese der Existenz Gottes in der Vergangenheit nicht nur wegen ihres gesellschaftlichen oder politischen Nutzens berücksichtigt wurden, sondern auch wegen ihres intellektuellen oder theoretischen Nutzens bzw. wegen ihres Nutzens bei der Aufstellung einer wissenschaftlichen oder philosophischen Theorie. Es ist also nicht nur das geordnete gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen, das zusammenbrechen würde, wenn man die Existenz Gottes nicht, in der einen oder anderen Form, annehmen würde, sondern

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dieses Schicksal würde auch bestimmten philosophischen Theorien ereilen. Und insofern diese philosophischen Theorien oft dazu dienen, bestimmte Disziplinen zu begründen, würden auch diese Disziplinen fraglich werden. So muss etwa Descartes die Existenz Gottes voraussetzen – und er unternimmt auch den Versuch, sie zu beweisen –, um andere Wahrheiten als die des cogito ergo sum akzeptieren und somit einerseits dem Solipsismus entkommen zu können, und andererseits die Wissenschaften auf ein solides Fundament setzen zu können, so dass sie nicht mehr den Angriffen des Skeptizismus ausgesetzt sind und ihren wahrhaft wissenschaftlichen Status behaupten können. Die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes ist, neben dem Cogito, das zweite Prinzip, auf dem Descartes sein philosophisches System errichtet, und dieses System, in dem die durch Gott abgesicherte Evidenz eine zentrale Rolle spielt, würde zusammenbrechen, wenn man Gott ausblenden würde. Und Immanuel Kant, der die Fehler in den Gottesbeweisen seiner Vorgänger nachweist, kommt nicht daran vorbei, die Existenz Gottes als Postulat der praktischen Vernunft vorauszusetzen, um das höchste Gut als möglich denken zu denken: Nur wenn man postuliert, dass Gott existiert, wird es möglich, Moral und Glückseligkeit zusammenzudenken. Auch Hobbes kann nur dann von natürlichen Gesetzen sprechen, wenn er einen göttlichen Gesetzgeber voraussetzt.70 Es ist demnach prinzipiell möglich, nicht an die Existenz Gottes zu glauben71, den Glauben an diese Existenz aber als für den Aufbau einer Theorie nützlich oder gar notwendig zu betrachten. Mill ist der Überzeugung, dass er in einer Zeit lebt, in welcher der Unglaube immer mehr um sich greift. Er stellt aber auch fest, dass er in einer Zeit lebt, in welcher man doch nicht ganz auf die Religion verzichten will. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Religion dazu beigetragen hat, den sozialen Frieden und die soziale Ordnung abzusichern72, so dass man, wenn man sich kein funktionales Äquivalent zur Religion vorstellen kann, weiter an ihr festhalten will. In einer solchen Situation ersetzen die Nützlichkeitsargumente die Wahrheitsargumente, oder bringen ihnen eine weitere Unterstützung. Man glaubt dann sozusagen nicht mehr primär an die Religion, sondern an den Nutzen der Religion. Und da man nicht mehr an die Wahrheit der Religion glaubt, kann auch der Glaube an den Nutzen der Religion nicht von dem Glauben an die Wahrheit der Religion abgeleitet werden. Man wird, anders gesagt, nicht mehr davon ausgehen, dass die Religion deshalb nützlich ist, weil Gott denjenigen zur Seite steht, die an die betreffende Religion glauben. Somit wird die Religion zu einem rein menschlichen Phänomen. 70

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Locke schreibt: „Ohne den Begriff eines Gesetzgebers, ist es unmöglich, einen Begriff des Gesetzes und einer Verpflichtung, es einzuhalten, zu haben“ (Locke 1975, S. 87). Insofern Hobbes davon ausgeht, dass jedes Gesetz einen Gesetzgeber voraussetzt, muss er, wenn er es mit dem Ausdruck „natural law“ ernst nimmt, einen von Natur aus existierenden Gesetzgeber voraussetzen. Als solcher kommt scheinbar nur Gott in Frage. Ich will hier keineswegs behaupten, dass Descartes und Kant nicht an die Existenz Gottes glaubten und diese Existenz nur voraussetzten, um ihre theoretischen Zwecke – Neuaufbau der Wissenschaften bei Descartes, Ermöglichung des höchsten Gutes bei Kant – zu erreichen. Die Sache ist anders bei Hobbes, auch wenn nicht mit absoluter Gewissheit behauptet werden kann, dass er ein Atheist war. Die Erfahrung lehrt aber auch, dass sie zu bestimmten Zeiten zu sozialen Konflikten geführt hat.

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Dabei erwähnt Mill drei Bevölkerungsgruppen, die durch die Nützlichkeitsargumente angesprochen werden. Als erstes spricht er von denjenigen, die ihren Glauben schon gänzlich verloren haben, und für die also die Wahrheitsargumente keine Plausibilität mehr besitzen. Sie praktizieren eine, wie Mill sie nennt, wohlgemeinte Heuchelei (Mill 2006, S. 403). Auch wenn sie selbst nicht mehr an die Wahrheit der Religion glauben, so können diese Menschen doch noch weiter so tun, als würden sie tatsächlich glauben, und durch ihr Handeln können sie in ihren Mitmenschen den Glauben erzeugen, sie würden immer noch an die Wahrheit der Religion glauben. Und sie tun dies, weil sie glauben, dass es nützlich ist, wenn viele Menschen noch an die Wahrheit der Religion glauben. Im Gegensatz zu Gott, der in die Herzen der Menschen sieht und so mit absoluter Gewissheit zwischen wahrem und vorgeheucheltem Glaube unterscheiden kann, sehen die Menschen immer nur den äußeren Ausdruck des Glaubens ihrer Mitmenschen und können somit bloß geheuchelte religiöse Handlungen als wahrhaft religiöse Handlungen interpretieren. Die von Mill erwähnten wohlmeinenden Heuchler können demnach durchaus noch weiter an religiösen Riten teilnehmen und sie können sich auch noch öffentlich zu der Religion bekennen. Ihre Handlungen und ihre Lebensweise können dadurch in ihren Mitmenschen den Eindruck erwecken, als würden sie tatsächlich glauben. Was ihnen aber fehlt, ist der innere Glaube, und ohne diesen kann es keinen tatsächlichen Glauben geben. Insofern die innere Überzeugung und das äußere Handeln nicht kongruent sind, und die Handelnden sich dieser Inkongruenz vollends bewusst sind, kann Mill von einer Heuchelei sprechen: man heuchelt einen Glauben vor, den man nicht mehr hat. Er bezeichnet diese Heuchelei aber als eine wohlgemeinte, womit er ausdrücken will, dass sie nicht dazu gedacht ist, anderen Menschen zu schaden. Wie Platon von einer edlen Lüge gesprochen hatte, könnte man hier von einer edlen Heuchelei sprechen. Für diese Menschen ist dann nicht nur der religiöse Glauben ihrer Mitmenschen nützlich, sondern auch die von ihnen praktizierte Heuchelei. Auch wenn Mill die Unterscheidung nicht selbst macht, so kann man doch zwei Fälle von wohlgemeinter Heuchelei unterscheiden, wovon der zweite der von Mill gemeinten Situation entspricht, während der erste der Pascalschen Wette entspricht. (Pascal 1962, S. 224). In der berühmten Passage der Pensées, in dem er den Gedanke der Wette expliziert, geht Pascal vom Extremfall des libertin aus. Der libertin glaubt nicht an Gott und führt ein ausschweifendes Leben, das allen göttlichen Geboten trotzt. Pascals Problem ist folgendes: Wie kann man den libertin dazu bringen, so zu handeln, wie es die Religion vorschreibt? Da der libertin sich dem Glauben an Gott verschließt und nur das akzeptiert, was die Vernunft ihm als wahr darstellt – und die Existenz Gottes gehört eben nicht dazu –, kann Pascal sein Ziel nicht erreichen, indem er dem libertin die Wahrheit der katholischen Religion mittels vernunftgemäßer Argumente beweist. Es hat keinen Sinn dem libertin more geometrico zu beweisen – vorausgesetzt, dies sei überhaupt möglich –, dass das Leben nach den göttlichen Geboten das wahre oder richtige Leben ist und dass er deshalb, und nur deshalb, ein solches Leben führen sollte. Will man den libertin überzeugen, so muss man sozusagen seine eigene Sprache sprechen, und das ist die Sprache der Nützlichkeit: Der libertin wird etwas tun, wenn man ihm zeigt, dass es

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ihm einen Nutzen bringt bzw. dass es ihm einen größeren Nutzen bringt, es zu tun, als es nicht zu tun. Zuerst postuliert Pascal, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Gott existiert, genauso groß ist wie die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht existiert. Es gibt keinen objektiven Grund, einer dieser Wahrscheinlichkeiten einen größeren Wert zuzusprechen als der anderen. Die Wahrscheinlichkeit hat insofern keinen Einfluss auf das Endresultat. Pascal geht dann auch davon aus, dass Gott, wenn er existiert, die Menschen belohnt und bestraft, je nachdem, wie sie gelebt haben. Und drittens geht Pascal davon aus, dass die Menschen entweder so leben, wie Gott es ihnen vorgeschrieben hat, oder dass sie nicht so leben – tertium non datur. Jeder Mensch muss sich also entscheiden, entweder das Leben eines libertin oder das Leben eines Gläubigen zu führen. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann vier Fälle unterscheiden. In zwei Fällen wird die Nicht-Existenz Gottes vorausgesetzt. Wenn Gott nicht existiert und ich lebe nach den als göttlich bezeichneten Geboten, dann werde ich keine sinnlichen Freuden auf Erden genießen und nach meinem Tod werde ich weder Freuden genießen, noch Schmerzen erleiden, denn alles hört mit meinen Tod auf. Entscheide ich mich für ein Leben, das den als göttlich bezeichneten Geboten widerspricht, dann werde ich während meiner begrenzten Lebenszeit sinnliche Freuden genießen, und nach meinem Tod wird es mir ebenso ergehen, als wenn ich das Leben eines Gläubigen geführt hätte, d. h., dass auch hier alles ein Ende mit meinem irdischen Leben nehmen wird. Unter der Annahme der Nicht-Existenz Gottes spricht demnach vieles, wenn nicht sogar alles, für das Leben eines libertin. Doch wie sieht es unter der Annahme der Existenz Gottes aus? Hier finden wir auch wieder zwei Fälle. Gesetzt Gott existiert und ich führe das Leben eines libertin. Dann werde ich während meines irdischen Lebens sinnliche Freuden genießen, aber nach meinem Tod werde ich eine ewig währende göttliche Strafe erleiden. Führe ich aber das Leben eines Gläubigen, so verzichte ich auf die sinnlichen Freuden während meiner irdischen Lebenszeit, aber ich kann mit einer ewig währenden göttlichen Belohnung rechnen.73 Ewiges Leid auf der einen, ewige Freude auf der anderen Seite. Kann ein rationaler libertin sich unter diesen Bedingungen noch weiter für sein Leben als libertin entscheiden? Ist es nicht vernünftig, sich für das Leben eines Gläubigen zu entscheiden, wenn man dadurch einerseits – und mit absoluter Gewissheit – dem Risiko entgeht, ewig zu leiden, und andererseits eine Chance auf zwei hat (50 %ige Wahrscheinlichkeit), ewig glücklich zu werden? Oder anders herum gefragt: ist es unter den gegebenen Umständen unvernünftig, sich für ein Leben gemäß den religiösen Geboten zu entscheiden? Pascal sagt, dass die Vernunft uns keine absolute Gewissheit geben kann, dass wir die richtige Entscheidung treffen, wenn wir uns für das Leben eines Gläubigen entscheiden. Insofern gehen wir eine Wette ein, aber eine zum Teil kalkulierte Wette. Pascal meint, wir sollten alles wetten, wenn es um einen unendlichen Gewinn geht und die Chancen 50 zu 50 stehen (Pascal 1962, S. 227). 73

Ich lasse hier die Fragen und Probleme außer Acht, die sich in diesem Kontext aus dem jansenistischen Hintergrund von Pascals Glauben ergeben könnten.

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Der libertin der das Leben eines Gläubigen führt, glaubt allerdings deshalb noch nicht. Pascal hat ihm kein Argument für die Existenz Gottes gegeben – ein solches Argument gibt es sowieso nicht für Pascal –, sondern nur ein Szenario vorgestellt, das ihn dazu bringen soll, ein Leben zu führen, das demjenigen eines Gläubigen ähnelt. Indem er ein solches Leben führt, wirkt er den Begierden und Leidenschaften in sich entgegen. Diese Begierden und Leidenschaften – und kein Mangel an intellektueller Einsicht – sind es, die den Menschen davon abhalten, an Gott zu glauben. Indem er das Leben eines Gläubigen führt, heilt der frühere libertin seine gefallene Natur und öffnet sich somit für die Möglichkeit des Glaubens und damit auch für die Möglichkeit der göttlichen Gnade – von welcher der Glaube und auch die ewige Erlösung letztlich abhängen. Pascal spricht somit hier zunächst nicht von der Nützlichkeit des Glaubens, sondern von der Nützlichkeit einer Lebensweise, die derjenigen eines Gläubigen ähnelt. Der frühere libertin lebt so, als ob er an Gott glauben würde, aber er glaubt – noch – nicht wirklich an Gott. Insofern ist seine Lebensweise zum Teil heuchlerisch. Aber die Heuchelei soll zum Glauben an Gott führen, indem sie die in der menschlichen Natur verankerten Hindernisse abschwächt, die von einem Glauben fernhalten bzw. Hindernisse für den göttlichen Gnadenakt sind. Der Mensch soll kein religiöses Verhalten vorheucheln, um seine Mitmenschen irrezuführen, auch nicht, was sowieso unmöglich wäre, um Gott irrezuführen, sondern um sich selbst der Möglichkeit des Glaubens zu öffnen. In diesem Sinne kann man hier von einer wohlgemeinten Heuchelei sprechen. Was aber den echten Glauben selbst betrifft, so ist keine Rede davon, ihn wegen seines Nutzens anzunehmen. Wer an Gott glaubt, glaubt an Gott, weil es wahr ist, dass Gott existiert, und nicht bloß, weil es nützlich, an seine Existenz zu glauben. Aber wer noch nicht an Gott glaubt, kann dazu gebracht werden, an Gott zu glauben, indem man ihn zunächst dazu bringt so zu leben, als ob er an Gott glaubte, und zwar dadurch, dass man ihm den möglichen Gewinn vor Augen führt, den ein solches Leben und den sich gegebenenfalls durch ein solches Leben ergebenden Glauben bringen können. Als Jansenist ist Pascal der Überzeugung, dass der Glaube ein göttliches Geschenk ist (Pascal 1962, S. 235), ein Geschenk, das nicht der Vernunft gegeben wird – Pascal distanziert sich hier von Descartes, für den Gott unserer Vernunft die angeborene Idee von ihm gegeben hat –, sondern dem Herzen. Wie Pascal noch weiter bemerkt, wird diese christliche Lebensweise ohne christlichen Glauben nicht nur der betroffenen Person, sondern auch ihrem sozialen Umfeld von Nutzen sein. Wer nämlich nach den göttlichen Geboten lebt, wird seinen Mitmenschen gegenüber ehrlich, treu, usw. sein, d. h. er wird ein besserer Mitbürger und Mitmensch (Pascal 1962, S. 228). Der mögliche individuelle Nutzen eines gottgefälligen Lebens – ewige Freuden im Jenseits – wird durch den fast sicheren sozialen Nutzen eines solchen Lebens ergänzt. Und es ist davon auszugehen, dass dieser soziale Nutzen auch positive Konsequenzen für das Individuum selbst hat: Wenn meine Mitmenschen feststellen, dass ich vertrauenswürdig bin, dann wird es zwischen ihnen und mir zu engeren sozialen Bindungen kommen, und ich werde dadurch die Gelegenheit haben, etwa echte Freundschaftsbeziehungen und das ihnen inhärente Gut zu erleben.

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Pascals libertin ist ein erster Beispielsfall für Mills wohlgemeinte Heuchelei. Auch wenn der durch die Lebensweise vorgeheuchelte religiöse Glauben einen Nutzen für andere hat, besteht sein Hauptzweck nicht darin, den religiösen Glauben der Mitmenschen weiter am Leben zu halten oder ihn zu fördern. Es geht Pascal primär nur um das ewige Seelenheil des libertin, und etwaige positive Konsequenzen für sein soziales Umfeld sind hier bloß zweitrangig. Bei Tocqueville finden wir eine schöne Illustration für den zweiten oben erwähnten Beispielsfall, einen Fall, in dem man die Heuchelei nicht um ihrer selbst willen treibt, also etwa, um selbst zum Glauben zu finden, sondern um anderen dadurch nützlich zu sein. Im zweiten Band der Démocratie, in einem Kapitel in dem Tocqueville sich der Frage widmet, wie es den Amerikanern gelingt, mit Hilfe der Religion den menschlichen Geist auf nicht-materielle Genüsse hin zu orientieren, schreibt der Autor: „Was ich sagen werde, wird mir sehr in den Augen der politiques74 schaden. Ich glaube, dass das einzig wirksame Mittel, dessen sich die Regierungen bedienen können, um dem Dogma der Unsterblichkeit der Seele zu Ehren zu verhelfen, darin besteht, jeden Tag so zu handeln, als würden sie selbst daran glauben; und ich glaube, dass sie sich nur dann brüsten können, den Bürgern beizubringen, die religiöse Moral zu kennen, zu lieben und in den kleinen Angelegenheiten zu respektieren, wenn sie sich genauestens in den großen an sie halten“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 153). Tocqueville verlangt nicht von den Regierenden, dass sie tatsächlich an die Unsterblichkeit der Seele glauben. Sie können durchaus in ihrem Herzen ungläubig sein. Wichtig ist nur, dass sie stets so handeln, als würden sie daran glauben.75 Ihr Handeln muss, mit anderen Worten, stets bei den Bürgern den Eindruck erwecken, als ob er sich aus dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele nähren würde. Die Regierenden müssen sich an die religiöse Moral halten, auch wenn sie nicht mehr an die religiöse Moral glauben. Sie müssen einsehen, dass auch wenn sie der Überzeugung sind, dass die religiöse Moral falsch ist, es immer noch besser ist, wenn sich ihre Bürger an diese Moral halten, als wenn sie dies nicht tun. Die Regierenden müssen den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und die mit ihr zusammenhängende religiöse Moral vorheucheln, denn nur so kann sicher gestellt werden, dass die Bürger weiter gemäß der religiösen Moral handeln werden.76 Als 74

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Wenn Tocqueville in diesem Zusammenhang von „politiques“ spricht, so meint er damit nicht – nur – die Politiker im heutigen Sinn des Wortes, also diejenigen Menschen, die sich beruflich den politischen Angelegenheiten widmen bzw. die aktiv am politischen Leben der Gemeinschaft teilnehmen, indem sie politische Mandate ausüben oder die Ausübung solcher Mandate anstreben, sondern das Wort verweist auch, und vielleicht sogar vor allem, auf die Bedeutung, die es in der Frühen Neuzeit, beim Übergang vom XVI. zum XVII. Jahrhundert hatte. Wie schon einmal erwähnt, bezeichnete man damals jemanden als politique, der die Bewahrung des politischen Gemeinwesens über die Bewahrung oder Verteidigung einer bestimmten Religion stellte, für den also das politische Heil des Gemeinwesens über dem Seelenheil des Individuums stand. Wie es auch Ernesto Rossi formuliert: „Die Jansenisten sagten: ‚Glaubt an Gott, aber handelt so, als ob es ihn nicht gäbe‘ […] Ich würde eher sagen: ‚Glaubt nicht an Gott, aber handelt so, als ob es ihn gäbe‘“ (Rossi 1968, S. 150; zitiert in Viroli 2012, S. 254). Wenn die aufgeklärten Klassen so tun würden, als ob sie glaubten, dann würden, so Tocqueville, neun Zehntel der Gesamtbevölkerung die Religion annehmen (Tocqueville OC VI, 2, S. 280). Dabei ist nicht klar, ob die aufgeklärten Klassen den übrig bleibenden Zehntel ausma-

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Regierende sind sie für das Wohlergehen der ihnen anvertrauten politischen Gemeinschaft verantwortlich, und ein Handeln im Sinne dieser Verantwortung kann manchmal von ihnen verlangen, dass sie einen Glauben vorheucheln, den sie nicht haben, dessen Überleben im Gemeinwesen aber wichtig ist, um in den Individuen jenen geistigen Zustand zu bewahren, ohne den ein Abgleiten der Gemeinschaft in den Despotismus wahrscheinlich wird. Da Tocqueville der Überzeugung ist, dass eine liberale Gesellschaft nur dann Aussichten hat, ihren liberalen Charakter zu bewahren, wenn die Bürger an die Unsterblichkeit der Seele glauben, ist die Heuchelei der Regierenden wohlgemeint. Sie heucheln den Glauben nicht vor, um ihre Macht zu behaupten oder zu verstärken, sondern sie tun es, um jene Bedingungen zu garantieren, ohne die eine liberale Gesellschaft Gefahr läuft, in den Despotismus zu fallen. Tocqueville will den ungläubigen Liberalen deutlich machen, dass sie weiter so tun sollten, als ob sie glaubten, nicht, weil sie so größere Chancen haben, in den Genuss des ewigen Seelenheils zu kommen – auf diese Frage geht Tocqueville nicht ein –, sondern weil dadurch die Chance erhöht wird, dass sich die von ihnen vertretenen liberalen Werte weiter in der Gemeinschaft erhalten. Es geht hier letztlich nicht nur um den Nutzen des religiösen Glaubens, sondern auch um den Nutzen eines vorgetäuschten religiösen Glaubens. Oder genauer: Es geht um den Nutzen des vorgetäuschten religiösen Glaubens für den Erhalt des wirklichen religiösen Glaubens, der seinerseits als nützlich für die Bewahrung des liberalen Charakters der politischen Gemeinschaft gedacht wird. Benjamin Constant hatte aber schon ernsthafte Zweifel gegenüber einer solchen Strategie der religiösen Heuchelei geäußert. Er geht dabei von einer Situation aus, in welcher der religiöse Glaube seinen Einfluss über einen Großteil der Bevölkerung verloren hat, so dass also ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr an die Wahrheit der Religion glaubt. Auch die Regierenden haben den Glauben verloren, aber sie sind der Überzeugung, dass der Glaube nützlich ist. Insofern haben sie ein Interesse daran, den Glauben wieder zu rehabilitieren oder zu fördern.77 Das Problem dabei ist allerdings, dass sie einen Glauben rehabilitieren wollen, den sie selbst nicht teilen. Die Religion wird von Menschen verteidigt, so Constant, die selbst nicht mehr an sie glauben (Constant 1997, S. 150). Und von diesen Menschen kann man nicht erwarten, dass sie die Religion mit demselben Enthusiasmus verteidigen

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chen, oder ob es neben ihnen und den von Tocqueville erwähnten neun Zehntel noch einen Teil der Bevölkerung gibt, der nicht glaubt. In demselben Zusammenhang stellt Tocqueville fest, dass die Aristokratie 1789 die Religion als politisches Instrument zu einem neuen Leben erweckt hat und dabei auf die Wichtigkeit des vorgeheuchelten Glaubens hingewiesen hat (OC VI, 2, S. 280). An einer anderen Stelle heißt es aber auch: „Man spielt nicht lange die Komödie vor einem Volk, das so intelligent ist wie das unsere […]“ (Tocqueville OC VIII, 3, S. 502–503). Und schon Burke hatte gemeint, dass die Herrschenden, wenn sie nicht selbst ehrlich an die Religion glauben, es schwer haben werden, das Volk zum Glauben zu bringen (Burke 1982, S. 200). Constant erwähnt auch diejenigen die den religiösen Glauben ihrer Untertanen benutzen, um ihre eigene Macht zu stützen: „[D]iejenigen sind gar nicht religiös, die aus der Religion ein Herrschaftsinstrument machen“ (Constant 1987b, S. 78).

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werden wie Menschen, die noch einen lebendigen religiösen Glauben haben. Damit sind der Wirksamkeit der religiösen Heuchelei Grenzen gesetzt. In diesem Zusammenhang könnte man Constant vorwerfen, eine Möglichkeit übersehen zu haben. Anstatt selbst einen Glauben zu verteidigen, den sie nicht teilen, können die Regierenden – falls sie den religiösen Glauben als nützlich betrachten – überzeugte Religionslehrer bezahlen und unterstützen, so dass diese dann den Glauben in ihren Mitmenschen wiederbeleben. Man hätte dann eine staatlich organisierte religiöse Propaganda, bei welcher die Religionslehrer von den Regierenden instrumentalisiert werden. Selbstverständlich sollten weder die Religionslehrer noch das Volk diese Instrumentalisierung durchschauen, da sie sonst kaum Aussichten hat, den erwünschten Zweck herbeizuführen. Hier kann jetzt ein anderes Problem auftauchen. Wer in einem skeptischen Zeitalter die Religion verteidigt, läuft Gefahr, dass man ihm Naivität vorwirft. Die Regierenden, so Constant, „würden befürchten, [von der Wahrheit des religiösen Glaubens – N. C.] überzeugt zu erscheinen, aus Angst, dass man sie für Leichtgläubige hält“ (Constant 1997, S. 150). Sie stehen somit vor einem Problem, dessen Lösung unmöglich erscheint: sie müssen einerseits überzeugt genug erscheinen, damit man ihnen den Glauben sozusagen abkauft, können und wollen aber andererseits nicht derart überzeugt erscheinen, dass man sie für Naivlinge hält. Ihre Eitelkeit verbietet es ihnen, ihren guten Ruf aufs Spiel zu setzen, während ihr Verstand ihnen sagt, dass sie nur dann Hoffnung auf Erfolg haben werden, wenn sie so erscheinen, wie es ihnen ihre Eitelkeit verbietet. Constants Fazit ist klar: in einem Zeitalter des verallgemeinerten religiösen Zweifels ist es hoffnungslos, die Religion durch einen vorgeheuchelten Glauben zu verteidigen. Eine Religion muss und kann sich immer nur durch eigene Mittel durchsetzen, wobei dies bei Constant nicht ihre absolute Wahrheit ist, sondern ihre Angepasstheit an den erreichten Entwicklungsstand des menschlichen Geistes. Insofern der Rückgriff auf den vorgeheuchelten Glauben anscheinend nur durch die Überzeugung motiviert wird, dass die Religion, wenn nicht schon wahr, so doch zumindest nützlich sein kann, wird man den Gedanken an einen solchen Rückgriff nur dann endgültig begraben können, wenn man es ablehnt, die Religion unter dem Gesichtspunkt ihres sozialen oder politischen Nutzens zu betrachten. Damit sind, dies muss hier betont werden, die positiven Religionen gemeint. Denn auch wenn er es ablehnt, diese Religionen unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit zu betrachten, spricht Constant über den politischen Nutzen des religiösen Gefühls. Dieses Gefühl lässt sich aber nicht von außen manipulieren, und es ist auch fraglich, ob man es auf eine glaubwürdige Weise vorheucheln kann. Wir hatten vorhin erwähnt, dass Mill von drei gesellschaftlichen Gruppen spricht, an den sich der Nützlichkeitsdiskurs wendet. Nachdem wir uns ausführlicher mit der ersten dieser drei Gruppen – die Ungläubigen – befasst haben, sollen noch kurz die beiden anderen Gruppen genannt werden, wobei einige der bisher vorgebrachten Überlegungen auch schon sie betreffen. Eine dieser zwei verbleidenden Gruppen besteht aus denjenigen, die Mill als „semi-believers“, Halbgläubige, bezeichnet (Mill 2006, S. 403). Es sind dies Menschen, die weder vollkommen vom Glauben ergriffen sind, noch völlig von ihm losgelassen haben. Es sind Men-

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schen, so könnte man sagen, die einerseits noch nicht ganz aufgehört zu glauben, dass die Religion wahr ist – insofern sind sie demnach noch „believers“ –, die aber andererseits manchmal an dieser Wahrheit zweifeln bzw. deren Glaube an die Wahrheit der Religion die Tür für den Zweifel offen lässt – das erklärt das „semi“. Nützlichkeitsargumente können solche Menschen zwar nicht mehr zu „ganzen“ Gläubigen machen, aber sie können sie davon abhalten, noch weniger zu glauben, als sie es bisher taten. Mit Mill gesprochen haben für sie Nützlichkeitsargumente die Funktion, ihren Blick von all dem abzuwenden, was ihren wackelnden Glauben eventuell erschüttern könnte (Mill 2006, S. 403). Wer nur noch „zur Hälfte“ glaubt, könnte sich gegebenenfalls durch Gedanken verführen lassen, die ihm auch noch diese Hälfte des Glaubens wegnehmen. Ist er aber der Überzeugung, dass der Glaube nicht nur wahr, sondern auch sehr nützlich sein kann, so wird er, weil für ihn Nützlichkeit eine große Rolle spielt, davon absehen der Frage nachzugehen, ob der Glaube wirklich wahr ist bzw. wird er nicht versuchen, seinen „halben Glauben“ durch weitere religiöse Argumente zu bekräftigen – die er, so wollen wir annehmen, nicht mehr finden kann –, sondern er wird ihn durch Nützlichkeitsargumente stabilisieren. Somit entsteht eine Mischung: Zum Teil hängt man noch an der Wahrheitsperspektive, aber man ist froh, dass die Nützlichkeitsperspektive als Unterstützung dient. Gleichzeitig weiß man aber, dass man besser daran tut, die Wahrheitsperspektive nicht ganz zu Gunsten der Nützlichkeitsperspektive aufzugeben. Und damit dies nicht geschieht, wendet man, um mit Mill zu sprechen, seine Augen von dem ab, was den Glauben an die Wahrheit endgültig erschüttern könnte. Wer aber Angst hat, sich mit möglichen Argumenten zu befassen, die gegen den religiösen Glauben sprechen, kann eigentlich nicht mehr als ein echter oder wirklicher Gläubiger bezeichnet werden. Ein echter Gläubiger ist derart von der Wahrheit seines Glaubens überzeugt, dass er sicher ist, allen möglichen Einwänden gegen die Wahrheit seines Glaubens begegnen zu können. Ein stabiler Glaube fürchtet sich nicht vor dem, was ihn destabilisieren könnte, denn er ist sich seiner Stabilität gewiss. Man könnte sich demnach die Frage stellen, ob die Kategorie der „Halbgläubigen“ nicht mit der Kategorie der „Halbschwangeren“ verglichen werden kann. Anders gesagt: der Glaube existiert immer nur als „ganzer“, und sobald sich der leiseste Zweifel einschleicht, verschwindet auch der Glaube. Die letzte von Mill erwähnte gesellschaftliche Gruppe umfasst eigentlich die beiden ersten. Wenn die Religion wirklich nützlich ist, dann wird man durch den Nachweis dieser Nützlichkeit die Menschen dazu bringen, dass sie davon ablassen, mögliche Zweifel laut zu äußern, da sie befürchten, dass durch die Äußerung solcher Zweifel die Religion derart erschüttert wird, dass sie zusammenbricht (Mill 2006, S. 403). Wenn die Religion tatsächlich nützlich ist, und vor allem, wenn sie tatsächlich jenen überragenden Nutzen hat, den man ihr zuschreibt – sie ist, so wird behauptet, das Fundament des geordneten gesellschaftlichen Lebens überhaupt –, dann sollte man davon absehen sich mit der Frage ihrer Wahrheit oder Falschheit zu befassen, oder genauer, man sollte immer so tun, als sei die Religion wahr. Und d. h. konkret, dass man sie nie in Zweifel ziehen sollte. Es ist dies eine, wie Mill selbst schreibt, unbequeme Situation: Man hält an der Religion fest, weil man sie als nützlich betrachtet, hat aber den Glauben an ihre

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Wahrheit verloren.78 Auf der einen Seite sagt einem die Sorge um das öffentliche Wohl, dass man den religiösen Glauben weiter aufrecht erhalten sollte – in den anderen, die noch glauben –, und dies, obwohl man ihn als falsch ansieht. Auf der anderen Seite sagt einem der dem menschlichen Geist innewohnende Wahrheitswille, man soll den Menschen die Gelegenheit geben, zur Wahrheit zu gelangen, was u. a. bedeutet, dass man dem menschlichen Geist die Möglichkeit lassen sollte, sich frei zu entfalten, selbst auf die Gefahr hin, dass dadurch die Falschheit des religiösen Glaubens aufgedeckt wird. Auf der einen Seite hat man den Willen zur Wahrheit, auf der anderen den Willen, das Fundament der Gesellschaft zu bewahren. Solange man davon überzeugt ist, dass die Religion zugleich wahr ist und das Fundament der Gesellschaft bildet, gibt es hier kein Problem. Dieses taucht erst dann auf, wenn man nicht mehr überzeugt ist, dass die Religion wahr ist und wenn man gleichzeitig die Wahrheit als einen zu verwirklichenden Wert betrachtet. Dann steht der menschliche Geist vor einem Dilemma: welchem Wert soll er den Vorrang geben, dem Wert der Wahrheit oder dem Wert des geordneten gesellschaftlichen Zusammenlebens? In Zeilen die es verdienen würden, in extenso zitiert zu werden, die aber aus Platzgründen hier nicht zitieren werden können, weist Mill nach, wie sich der menschliche Geist mit diesem Dilemma herumschlägt, ohne je eine zufriedenstellende Lösung zu finden. Da Mill nicht glaubt, dass man eine solche Lösung finden kann, schlägt er vor, eine der Prämissen in Frage zu stellen, die zum Dilemma führen. Man soll, so sagt er, untersuchen, ob es sich wirklich lohnt, solche intellektuellen Mühen aufzuwenden, um eine Lösung für das Problem der Rettung des schwindenden religiösen Glaubens zu finden (Mill 2006, S. 404). Das Dilemma entsteht nämlich erst dann, wenn man voraussetzt, dass die Religion tatsächlich nützlich ist, und vor allem, wenn man voraussetzt, dass nur sie den gesuchten Nutzen erfüllen kann. Nur wer davon ausgeht, dass allein die Religion als Fundament für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben dienen kann, wird mit allen Mitteln versuchen, die Religion zu retten, auch dann, wenn sie falsch ist – vorausgesetzt, er stellt den Wert des geordneten gesellschaftlichen Zusammenlebens über den Wert der Wahrheit. Doch welchen Wert hat eigentlich ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben, das auf der Unwahrheit beruht? Sollte man nicht gleichzeitig beide Werte – ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben und die Wahrheit – zu verwirklichen versuchen? Das geht aber nur, wenn man nicht mehr davon ausgeht, dass es kein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben ohne religiösen Glauben gibt. Dabei gibt Mill zu, dass man sich durchaus vorstellen kann, dass eine Religion moralisch nützlich sein kann, auch wenn sie vom intellektuellen Standpunkt aus nicht verteidigt werden kann (Mill 2006, S. 405).79 Er leugnet also nicht katego78

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Wie Ottmann auch fragt: „Kann eine Religion das Leben leiten, wenn sie nicht als Wahrheit, sondern nur als Nützlichkeit aufgefasst wird?“ (Ottmann 2008, S. 113). Wenn man eine Religion mit einer wissenschaftlichen Arbeitshypothese vergleicht, könnte die Antwort auf diese Frage positiv ausfallen. So rechnen etwa Mathematiker mit der Quadratwurzel von Negativzahlen, obwohl es solche Quadratwurzeln eigentlich nicht geben kann. Doch kann die Religion mit einer wissenschaftlichen – oder hier mathematischen – Hypothese verglichen werden? Mill sieht auch von allen möglichen moralischen Kritiken ab, die man gegen die Religion richten und in deren Namen man einen Rekurs auf sie verwerfen könnte, wie etwa die Tatsache,

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Teil II: Die theologische und die politische Perspektive

risch die Nützlichkeit einer falschen Religion bzw. einer Religion, deren Wahrheitsanspruch nicht vor der Vernunft stand hält. Er sieht es aber als ein notwendig zum Scheitern verurteiltes Projekt an, in einem aufgeklärten Zeitalter einen falschen religiösen Glauben deshalb retten zu wollen, weil man ihn als nützlich ansieht. Ein solcher Rettungsversuch ist nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern er widerspricht auch grundlegenden liberalen Werten. Das epistemische Argument wird somit durch ein moralisches ergänzt (Mill 2006, S. 404). Wenn eine falsche Religion nützlich sein kann, und wenn sie nur solange nützlich sein kann, wie die Menschen davon überzeugt sind, dass sie wahr ist, so dass die Menschen sich nicht wegen ihrer Nützlichkeit zu ihr bekennen, sondern wegen ihrer – geglaubten – Wahrheit, dann, so Mills Schlussfolgerung, ist es gefährlich, das kritische Denken in den Menschen zu fördern, da dieses Denken sie nämlich zur Einsicht bringen könnte, dass die Religion falsch ist. Und da die Menschen sich nur im Glauben an ihre Wahrheit zu ihr bekannten, ist mit der Einsicht in ihre Falschheit auch gleichzeitig ihre Nützlichkeit zerstört. Will man die Nützlichkeit einer Religion bewahren, dann muss man also bereit sein, den Preis der Einschränkung der Untersuchungs- und Kritikfreiheit zu bezahlen. Damit wird aber ein für den politischen Liberalismus, und besonders für den Millschen politischen Liberalismus, zentraler Wert geopfert. Mill meint, dass ein aufgeklärter und ehrlicher Geist die Wahrheit der Religion nicht akzeptieren kann (Mill 2006, S. 425). Wie kann ein solcher Geist nämlich die Existenz eines vollkommenen Wesens mit der Existenz einer von diesem Wesen geschaffenen unvollkommenen Welt in Einklang bringen? Und wie soll man sich vorstellen, dass ein allgültiger Gott es unterlassen kann, allen Menschen zu offenbaren, dass es ihn gibt, so dass alle gerettet werden können und als allgütiges Wesen muss Gott die Rettung aller Menschen wollen? Für Mill kann es einen vernünftigen Zweifel am göttlichen Ursprung derjenigen Texte geben, die als göttliche Offenbarung gelten. Insofern ist Mill der Überzeugung, dass man nicht mehr an die Wahrheit der Religion glauben kann. In einem skeptischen Zeitalter – und Mill scheint der Überzeugung zu sein, dass die Menschheit, wenn nicht für ewig, so doch noch für eine lange Zeit in einem solchen Zeitalter leben wird –, kann man die Religion nicht durch Nützlichkeitsargumente zu retten versuchen. Wo der religiöse Glaube schwindet, sollte man sich diesem Schwinden nicht entgegen stellen bzw. ihn aufzuhalten versuchen. Denjenigen die glauben, dass dadurch auch das geordnete gesellschaftliche Zusammenleben aufhören wird, sollte man sagen, dass die Religion zwar nützlich sein kann, dass aber nicht nur sie allein den von ihr erwarteten Nutzen erfüllen kann. Anstatt weiter an der Prämisse festzuhalten, dass die Religion absolut notwendig ist, sollte man sich mit der Frage befassen, ob es keine Alternative zur Religion gibt, ob man also kein funktionales Äquivalent zur Religion finden kann, das zu seiner Verteidigung – wenn es überhaupt einer solchen Verteidigung bedarf – kein Opfer liberaler Werte verlangt. dass eine Religion mehr Übel als Güter produziert. Er geht von der Voraussetzung einer vollkommen guten Religion aus und zeigt dann, dass selbst eine solche Religion nicht notwendig ist (Mill 2006, S. 406).

Kapitel 7: Von der Wahrheitsfrage zur Nützlichkeitsfrage

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Mill will weder eine bloß aus Nützlichkeitsgründen verteidigte Religion, noch den allgemeinen Zweifel. Der allgemeine Zweifel sagt uns nicht, wie wir uns verhalten sollen. Die Religion, auch wenn sie hinsichtlich ihrer ontologischen oder metaphysischen Thesen falsch war, zeigte uns wenigstens einen Weg, und zwar einen klaren Weg bzw. zeigte sie uns den Weg auf eine klare Weise (Mill 2006, S. 405). Viele Elemente der christlichen Moral finden sich in der utilitaristischen Moral wieder, und die Worte des Evangeliums sind, in den Augen Mills, für das allgemeine Publikum verständlicher und klarer als die Worte eines utilitaristischen Traktats. Mill leugnet nicht, dass auch eine liberale Gesellschaft klarer Koordinaten bedarf, an denen sich das menschliche Handeln orientieren kann. Er leugnet auch nicht, dass die Religion solche Orientierungspunkte liefern kann. Das Problem ist nur, dass die Religion nicht bloß solche Maßstäbe liefert, sondern dass sie diese Orientierungspunkte in ein gesamtes Weltbild integriert, das man als wahr akzeptieren muss und durch welches die Orientierungen ihren verpflichtenden Charakter erhalten. Die Religion sagt uns nicht nur, wie wir uns verhalten sollen, sondern sie sagt uns auch, warum wir uns so verhalten sollen, nämlich weil Gott es so will. Und es ist dieser Ursprung der moralischen Normen im göttlichen Willen oder der ihnen durch den göttlichen Willen verliehene obligatorische Charakter, und nicht etwa die bloße Nützlichkeit des gebotenen Verhaltens, der für den Gläubigen ausschlaggebend ist. Auch wenn das Verhalten nicht nützlich wäre, wäre es trotzdem noch immer Pflicht für den Gläubigen, sich auf die betreffende Art und Weise zu verhalten. Nur wenn man die Perspektive der bloßen Nützlichkeit verlässt, kann man das betreffende Verhalten als Inhalt einer verpflichtenden moralischen Norm und nicht als Inhalt einer bloßen Klugheitsregel betrachten. Wenn aber der Glaube an Gott brüchig wird, dann sollte man diesen Glauben nicht dadurch zu retten versuchen, dass man darauf hinweist, dass die Menschen an Gott glauben müssen, um dem Zweifel an den Orientierungspunkten und am verpflichtenden Charakter der moralischen Normen zu entgehen. Diese Orientierungspunkte sollten vielmehr, so Mill, durch Argumente gestützt werden, bei denen man die Wahrheits- und nicht die Nützlichkeitsperspektive einnimmt. Mill selbst versucht, die Wahrheit des Utilitarismus auf ein Faktum der menschlichen Natur zu gründen. Es ist ein allgemein beobachtbares Phänomen, so Mill, dass der Mensch – aber auch viele andere Lebewesen, so dass ihnen bei einer moralischen Überlegung auch Rechnung getragen werden muss – nach Lust strebt und Schmerz vermeiden will. Daraus schließt Mill – aber es ist eigentlich ein Fehlschluss –, dass Lust ein erstrebenswertes Gut ist.80 Und daraus folgt, dass der Utilitarismus recht hat zu behaupten, dass die Menschen unter der Pflicht stehen, Handlungen auszuüben, bei denen die Lust den Schmerz oder das Leid überwiegt. Mill selbst, wie schon gesagt, will die übernatürlichen Religionen durch eine Religion der Menschheit ersetzen. Er gibt zu, dass es sich hierbei um etwas han80

Aus der Tatsache, dass alle Menschen etwas sehen, folgt zwar, dass dieses Ding sichtbar ist. Aber es folgt nicht daraus, dass es sehenswert ist. Und aus der Tatsache, dass alle Menschen nach etwas streben, folgt sicherlich, dass dieses Ding erstrebbar ist, nicht aber, dass es auch erstrebenswert ist. Für Mills Zweck genügt aber nicht der Beweis der Erstrebbarkeit, sondern er benötigt den Beweis der „Erstrebenswertigkeit“.

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Teil II: Die theologische und die politische Perspektive

delt, das den übernatürlichen Religionen sehr ähnlich ist (Mill 2006, S. 422). Damit spricht er die funktionale Äquivalenz an: die Religion der Menschheit soll die Menschen zu moralischen Handlungen motivieren, und zwar nicht dadurch, dass ihnen Strafen in Aussicht gestellt werden, wenn sie schlecht handeln, sondern durch die Liebe zur Menschheit und die Anerkennung einer absoluten Pflicht gegenüber der Menschheit. Der Sinn für die Einheit der Menschheit und das Gefühl für das Allgemeinwohl sind die Grundelemente der Millschen Religion der Menschheit (Mill 2006, S. 422). Gegenüber übernatürlichen Religionen mit ihren Sanktionsandrohungen spricht diese Religion der Menschheit nicht unmittelbar die egoistische Dimension des Menschen an und hat dementsprechend einen moralischen Vorzug gegenüber ihren Rivalinnen die auf die Angst vor einem strafenden Gott setzen. Und insofern man wie Mill davon ausgeht, dass die Menschheit wirklich eins ist und sich im Laufe der Jahrhunderte vervollkommnet hat, baut eine Religion der Menschheit auch auf Fakten auf.81 Es ist interessant darauf hinzuweisen, dass Mill die Möglichkeit erwägt, dass der Manichäismus als Ergänzung zur Religion der Menschheit fungieren kann, ohne dass er sie allerdings ersetzen kann oder soll (Mill 2006, S. 425). Gegen den Manichäismus hat Mill nicht die moralischen Einwände, die er gegen die anderen übernatürlichen Religionen – mit an erster Stelle dem Christentum – vorbringt. Der Manichäismus erlaubt es u. a., so Mill, den Menschen als einen Mithelfer des gütigen Gottes an der Verwirklichung des Allgemeinwohls zu betrachten. Die Hinwendung zur Nützlichkeit des religiösen Glaubens, so der Grundtenor der Überlegungen Constants und Mills, deutet darauf hin, dass man an der Wahrheit des religiösen Glaubens zweifelt, diesen Glauben aber trotzdem noch aufrecht erhalten will, da man in ihm, auch wenn er sich als falsch herausstellen sollte, ein Gut sieht. Für den politischen Schriftsteller, wie wir ihn in diesem zweiten Teil des Buches kennen gelernt haben, muss die Frage nach der Nützlichkeit allerdings nicht unbedingt ein Ausdruck des Zweifels an der Wahrheit sein. Aus rein methodologischen Gründen kann der politische Schriftsteller sich darauf beschränken, den Glauben nur aus der Nützlichkeitsperspektive zu betrachten. Man könnte dies mit einer epoche vergleichen: Genauso wie der Phänomenologe das Phänomen in seiner reinen Phänomenalität beschreibt, ohne nach einem Bezug zu einer außerhalb liegenden Wirklichkeit zu fragen, beschreibt der politische Schriftsteller die politische Funktion der Religion, ohne nach deren Wahrheit im theologischen Sinn zu fragen. Aus der Tatsache, dass man in der Religion eine sozial nützliche Institution sieht, folgt noch nicht, dass man in ihr nur eine sozial nützliche Institution sehen muss. Im folgenden Teil werden wir untersuchen, wie einige große klassische liberale Denker versucht haben, die Nützlichkeit des religiösen Glaubens für ein liberales Gemeinwesen zu erklären. 81

John Gray meint, dass Mills Idee einer positiven Entwicklung der Menschheit einer „schlechten Wette“ gleichkommt und als „Glaubensakt“ bezeichnet werden kann, dass sie also nicht aus der strikten Beobachtung der Fakten induziert wurde (Gray 1996, S. 147). Kritisch zu Mills Religion der Menschheit äußert sich auch Cowley 1990.

TEIL III: DIE RELIGION IM DIENST DES LIBERALISMUS

EINLEITUNG Ein liberales politisches Gemeinwesen sollte nicht nur – aber trotzdem auch – aus politischen Institutionen bestehen, die die Bürger vor einem Machtmissbrauch der Regierenden schützen und somit sicherstellen, dass keine willkürlichen Eingriffe in ihre Privatsphäre geschehen. Man sollte in ihm auch einen – wenn nicht permanent sichtbaren und aktiven, so doch stets aktualisierbaren und aktivierbaren – Willen finden, diese Institutionen zu bewahren und gegebenenfalls zu fördern bzw. zu verbessern, so dass sie ihre Aufgabe noch besser erfüllen können. Dieser Wille muss als Wille möglichst vieler Bürger existieren, denn nur wenn möglichst viele Bürger einen solchen Willen besitzen, besteht eine Aussicht, die diesem Willen gegenläufigen Absicht der Regierenden oder einer anderen Gruppe von Menschen zu neutralisieren. Die Bürger eines liberalen politischen Gemeinwesens müssen die liberalen Institutionen als ihre Sache ansehen und dementsprechend diese Institutionen ernst nehmen und sich gegebenenfalls für sie einsetzen. Liberale politische Institutionen stehen zwar im Dienst der unter diesen Institutionen lebenden Menschen, aber wenn diese Menschen sich nicht in den Dienst der Institutionen stellen und sich auch nicht in ihren Dienst stellen wollen, dann werden die Institutionen sich nicht selbst schützen können, und wenn die Institutionen dann abgeschafft sein werden, werden sie auch nicht mehr ihre Aufgabe erfüllen können, nämlich die Menschen vor Machtmissbräuchen zu schützen. Freiheitliche Institutionen gibt es, weil Menschen sie wollten und sich für ihre Errichtung eingesetzt haben, und diese Institutionen werden nur so lange bestehen bleiben, wie die unter ihnen lebenden Institutionen sie wollen. Freie Institutionen sind ein Produkt der Kunst, nicht der Natur. Sie setzen einen menschlichen Willen voraus und werden nicht durch eine unsichtbare Hand geschaffen. Die freiheitlichen Institutionen schützen primär die Freiheit der unter ihnen leben Menschen, sie schützen aber nicht unmittelbar den Willen zur Freiheit, noch die Motivation, freie Institutionen zu wollen und sich gegebenenfalls für sie einsetzen bzw. Opfer für sie zu bringen und verantwortlich in ihrem Rahmen zu handeln. Dass ein Individuum von diesen freien Institutionen profitiert, gibt diesem Individuum sicherlich einen guten Grund, die Bewahrung dieser Institutionen zu wollen. Dieser aus dem Eigeninteresse stammende Grund gibt ihm aber noch keinen Grund, sich auch dann noch für die freien Institutionen einzusetzen, wenn diese ihm keinen unmittelbaren Vorteil mehr bringen bzw. wenn das Opfer, das vom Individuum zum Schutz und zur Bewahrung der Institutionen verlangt wird, größer ist, oder zu sein scheint, als der Vorteil, den das Individuum aus den Institutionen zieht. Wer sich nur dann für freie Institutionen einsetzt, wenn sie ihm etwas bringen, wird sich nicht für sie einsetzen, wenn dieser Einsatz ihm nichts bringt oder ihm sein Leben kostet. Wenn dem so ist, und wenn man den freien Institutionen einen Wert zuschreibt, der sich nicht auf den Beitrag zur Befriedigung der je eigenen Interessen bezieht, dann wird man sich nach einer Motivationsquelle umsehen müssen, die jenseits des

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Teil III: Die Religion im Dienst des Liberalismus

Eigeninteresses liegt und die demnach die Individuen zum Einsatz ihres Lebens motivieren könnte, auch wenn dieser Einsatz ihnen selbst wahrscheinlich nichts bringen wird, da sie nämlich beim Kampf für die freien Institutionen ihr Leben lassen. Eine solche, das individuelle Interesse transzendierende Motivationsquelle, könnte die Religion sein, da ihr der Opfergedanke sozusagen inhärent ist: Jede Religion verlangt von den sich zu ihr bekennenden Individuen, dass sie Verzicht leisten, dass sie ihren Begierden nicht in allem folgen, wonach diese begehren. Wer sich zu einer Religion bekennt, erkennt die Werte und Normen dieser Religion an und gestaltet sein gesamtes Leben nach ihnen, da die religiösen Werte und Normen – und gerade das macht ein konstitutives Element ihrer religiösen Identität aus – eine Autorität über alle Lebensbereiche des Individuums beanspruchen. Auch denkt die Religion den empirischen Menschen als Teil eines größeren Ganzen bzw. konzipiert ihn als mehr als nur dieses Individuum aus Fleisch, Knochen und Blut, projiziert ihn in eine Dimension des Seins, die sich nicht mit den Mitteln der empirischen Naturwissenschaften ergründen lässt, und in der allein man Wesen antreffen kann, die man um ihrer selbst willen zu achten hat, da sie eine Würde besitzen. Während meine Interessen immer nur die jeweilig meinen sind, so ist meine Menschenwürde etwas, was ich mit allen anderen Menschen teile. Eine Regierung welche die bloßen Interessen anderer Menschen missachtet, missachtet deshalb noch nicht meine eigenen Interessen. Aber eine Regierung welche die Menschenwürde meiner Mitmenschen missachtet, missachtet gleichzeitig etwas, was auch mir eigen ist und missachtet demnach auch indirekt mich. In diesem dritten Teil des Buches werde ich mich mit der Frage befassen, inwiefern, aus der Sicht bestimmter klassischer liberaler Denker, die Religion eine Rolle bei der Lösung des Problems der Bewahrung der liberalen Institutionen spielen kann, wie sie also dazu beitragen kann, jenen Geist aufrechtzuerhalten, ohne den ein liberales Gemeinwesen nicht auf Dauer bestehen kann. Insofern ich der Frage nachgehe, wie die Religion zur Bewahrung eines liberalen Gemeinwesens beitragen kann, behandle ich natürlich implizit die Frage, wie die Religion zur Bewahrung eines Gemeinwesens beitragen kann, wie sie also dazu beitragen kann, für soziale Ordnung zu sorgen. Es ist dies eine Frage, mit der man sich schon lange vor dem Aufkommen liberaler Gedanken beschäftigt hat. Diese Frage ist aber hier nur zweitrangiger Natur und tritt vor der Frage zurück, wie die Religion dazu beitragen kann, die Freiheit zu bewahren bzw. das zu bewahren, ohne das man sich kaum Hoffnungen machen kann, die Freiheit auf Dauer zu bewahren. Ich werde die Religion also nicht so sehr primär in ihrer ordnungsfördernden als in ihrer freiheitsbewahrenden Funktion betrachten, nicht so sehr als ein Instrument der Ordnung, als vielmehr als ein Instrument der Freiheit. Für die klassischen liberalen Autoren galt es nicht so sehr, den Staat und die staatliche Autorität zu sakralisieren, um sie gegenüber den Untertanen oder den Bürgern zu schützen, sondern es ging ihnen darum, die Bürger vor dem Staat zu schützen. Und ab der Mitte des XIX. Jahrhunderts galt es auch, die Individuen vor dem Mehrheitswillen oder der öffentlichen Meinung zu schützen.

Einleitung

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Im ersten Teil wird es um die Rolle fester Überzeugungen gehen, wobei die die Religion als eine vorzügliche Lieferantin solcher Überzeugungen angesehen wird. Eine vor allem von Alexis de Tocqueville verteidigte These lautet, dass stets zweifelnde Menschen nicht dazu motiviert werden können, Großes zu vollbringen. Insofern die Verteidigung liberaler Institutionen aber manchmal vom Einzelnen fordert, dass er Großes vollbringt, können Menschen die stets zweifeln keine guten Verteidiger solcher Institutionen sein. Auch wenn es vielleicht wünschenswert wäre, dass solche festen Überzeugungen auf einer unumstößlichen rationalen Evidenz beruhen oder sich rein deduktiv aus rational einsichtigen Wahrheiten ergeben, so muss man doch zugeben, so Tocqueville, dass die menschliche Vernunft nicht in der Lage ist, bestimmte fundamentale Aussagen zu beweisen. Dazu gehören bestimmte Aussagen, die für die praktische Sphäre relevant sind. Hinsichtlich dieser Aussagen steht man vor der Alternative: entweder man lässt sie im Schatten des Zweifels oder man akzeptiert sie als Dogmen bzw. als auf Dogmen fundiert. Dass der Mensch eine Würde hat, ist für Tocqueville ein Dogma, ein Satz, an den man glaubt, den man aber nicht im strengen Sinn des Wortes beweisen kann. Und wer dieses Dogma trotzdem „begründen“ will, kann dies nur tun, indem er auf ein anderes Dogma zurückgreift, das religiöser Natur ist, etwa: Der Mensch besitzt eine Würde, weil Gott ihn geschaffen hat und einen Funken des Göttlichen in sich trägt. Im Gegensatz zum Programm der Aufklärung, das sich jeder Dogmatisierung widersetzte, rehabilitieren einige klassische liberale Autoren wieder das dogmatische Denken oder eine bestimmte Form dieses Denkens. Aber die freiheitsbeschränkende Dimension dieses dogmatischen Denkens wird als freiheitsförderndes Element gedacht und wird auch nur als solches gerechtfertigt. Die Dogmen sollen keine die Menschen unterjochende Autorität schützen, sondern sie sollen vielmehr dazu beitragen, die Menschen vor einer solchen Autorität zu schützen. Im zweiten Kapitel werde ich auf die Trias ‚Religion, Moral und Strafrecht‘ eingehen. Wer Strafrecht sagt, sagt Staat, und wer Staat sagt, sagt Gefahr eines willkürlichen Eingriffs in die Privatsphäre. Dass dieser Eingriff im Namen eines positiven Gesetzes geschieht, nimmt ihm noch nicht automatisch seinen willkürlichen Charakter, denn auch positive Gesetze können das Resultat der Willkür sein. Um die Zahl der Strafgesetze zu verringern bzw. um sich vor einer strafgesetzlichen Inflation zu bewahren, wie man sie heute kennt, liegt es nahe, mehr Wert auf eine moralische Regulierung der Gesellschaft zu setzen, so dass die Menschen aus Achtung vor dem moralischen Gesetz das tun, was sie ansonsten aus Angst vor einer Bestrafung tun würden. Doch wie kann man die Achtung vor dem moralischen Gesetz im Menschen fördern? Wie kann man ein Wesen dazu bringen, seine Mitmenschen zu achten, auch wenn es keine Sanktion im Falle einer Missachtung riskiert? Durch die Religion, antworten einige klassische liberale Denker. Wenn demnach die Religion moralisches – und nicht bloß moralkonformes – Handeln fördert, und wenn weitverbreitetes moralisches Handeln die Notwendigkeit einer strafrechtlichen Regulierung eliminiert oder nicht aufkommen lässt, dann minimiert die Religion das Risiko willkürlicher Eingriffe in die Privatsphäre der Menschen und kommt demnach dem politischen Liberalismus entgegen. Die Religion wird also nicht als etwas gesehen, das den Staat stärken oder seine Autorität heiligen soll, sondern als etwas, was einer

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Teil III: Die Religion im Dienst des Liberalismus

solchen Stärkung entgegenwirkt. Die klassischen liberalen Denker wollen den Staat zwar nicht abschwächen, aber sie wollen seine Wirksamkeit doch auf ein Minimum reduzieren. Das dritte Kapitel befasst sich mit der Frage, wie die Religion den Gedanken der menschlichen Würde unterstützen kann und wie sie demnach einen Wert aufrecht erhalten kann, der dem Staat vorgeordnet ist und den der Staat zu achten hat. Auch wenn manche zeitgenössische liberale Denker behaupten, man müsse mit ganz bescheidenen normativen Voraussetzungen operieren und man dürfe keine substantielle Idee des Guten voraussetzen, so kommt doch kein liberaler Ansatz ohne die Voraussetzung aus, dass der Mensch ein Wesen ist, das Würde besitzt und das man deshalb respektvoll behandeln soll. Und wenn dieser Gedanke der Würde einen sinnvollen Gehalt haben soll, dann setzt er voraus, dass wir den Menschen als ein Wesen betrachten, das sein rein empirisches Dasein transzendieren kann, etwa indem es sich seinen Begierden widersetzt und mittels der Vernunft sein Leben bestimmt. Wenn wir an dem Begriff der Würde festhalten wollen, dann müssen wir uns als Wesen betrachten, die dem natürlichen oder sozialen Determinismus nicht vollkommen unterworfen sind, die also jederzeit in der Lage sind, über ihr Handeln zu reflektieren und dieses Handeln in einen von ihnen selbst bestimmten oder mitbestimmten Sinnzusammenhang zu stellen. Kant hatte in diesem Zusammenhang von Autonomie gesprochen und in dieser Autonomie den Ursprung des moralischen Gesetzes gesehen. Die Frage ist hier nicht so sehr, ob wir tatsächlich solche Wesen sind, sondern die Frage ist, ob wir uns zugleich zu den Idealen und Werten des politischen Liberalismus bekennen können, ohne uns als solche Wesen zu betrachten. Viele der hier diskutierten klassischen liberalen Denker sind keine Fachphilosophen, die sich eingehend mit ontologischen Fragen befassen und die das eigentliche Wesen der Dinge bloß um der reinen Erkenntnis willen erforschen wollen.1 Sie gehen meistens nicht von einer interesselosen oder interesseunabhängigen theoretischen Einsicht in das Wesen der Welt aus, um dann daraus normative und axiologische Behauptungen abzuleiten. Am Anfang steht bei ihnen ein axiologisches Bekenntnis zur Freiheit, und es folgt dann der Versuch, ein Weltbild zu entwerfen, das diesem Bekenntnis Rechnung trägt.2 Für viele klassische liberale Denker bot die Religion dem Menschen eine Möglichkeit, sich als ein Wesen zu betrachten, das es wert oder würdig war, unter liberalen Institutionen zu leben. Für sie konnte auch nur die Religion den Menschen dazu motivieren, seine Interessen, von den trivialsten bis zum Interesse am eigenen Überleben, für die liberalen Institutionen zu opfern. Auf den Zusammenhang zwischen Religion und 1 2

Man kann hier von einem erkenntnisleitenden Interesse sprechen (dazu Habermas 1979 und 1981). Was immer auch die sonstigen Gründe gewesen sein mögen, die Kant dazu gebracht haben, seine Kritik der reinen Vernunft zu verfassen, so entstand das Werk auch mit dem Ziel, eine Auffassung der Dinge zu finden, in welcher sowohl für die deterministische Wissenschaft als auch für die autonome Moral Platz war. Kant wollte keine dieser beiden Disziplinen aufgeben. Um ihre Kompatibilität zu erklären, musste Kant die Unterscheidung zwischen Ding für uns und Ding an sich einführen.

Einleitung

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Opferbereitschaft werde ich im vierten Kapitel eingehen. Die klassischen liberalen Denker sehen, dass die modernen Gesellschaften sich zu, wie man heute sagt, Wohlstandsgesellschaften entwickeln, in denen die Hauptsorge der Menschen das individuelle Wohlergehen bzw. das sich in einer rein materiellen Dimension ausdrückende Glück ist. Die Entwicklungen auf den Gebieten der Wissenschaft, der Technik, der Medizin, usw., lassen die Möglichkeit eines allgemeinen Wohlstandes erahnen. Wer diesen Wohlstand einmal genossen hat, will nicht mehr auf ihn verzichten. Insofern ist der Mensch nicht mehr bereit, Opfer zu bringen. Insofern liberale Institutionen sich nicht selbst erhalten können, sondern einen Willen zu ihrer Erhaltung voraussetzen, und insofern diese Erhaltung oft mit Wohlstandsopfern verbunden ist, setzt die Bewahrung liberaler Institutionen auch den Opferwillen voraus. Für einige liberale Denker kann ein solcher Opferwille sich nur aus einer religiösen Quelle nähren, da die Religion der Ort ist, an dem der Begriff des Opfer(n)s seinen ursprünglichen Platz hat. Das fünfte und letzte Kapitel dieses dritten Teils befasst sich nicht mehr mit der Frage, inwiefern die Religion einen positiven Einfluss auf die Bürger eines liberalen Gemeinwesens haben kann, sondern der Blickwinkel wird geändert und der Einfluss des religiösen Glaubens auf die Regierenden wird diskutiert. Diese besitzen die Macht, durch Gesetze die Handlungssphäre der Bürger einzuschränken und diesen Einschränkungen gegebenenfalls durch Gewaltanwendung Wirksamkeit zu verschaffen. Prinzipiell sollte – im Rahmen eines liberalen Denkens – die individuelle Handlungssphäre nur dann und in dem Maße eingeschränkt werden, wie es absolut notwendig ist, um ein friedliches und geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben im Rahmen liberaler Institutionen zu garantieren. Rechtsstaatliche Prozeduren und Institutionen erschweren den Machtmissbrauch durch die Regierenden, aber wie uns die Geschichte lehrt, schützen diese Prozeduren und Institutionen sich nicht selbst vor einem Machtmissbrauch. Insofern die Regierenden oft von der Freiheit der Bürger profitieren3, haben sie sicherlich ein durch das Eigeninteresse bestimmtes Motiv, diese Freiheit nicht auf willkürliche Weise einzuschränken. Doch gesetzt den Fall, dass ihnen willkürliche Freiheitseinschränkungen von Vorteil sind – oder sie dies zumindest fest glauben? In einem solchen Fall könnte sie immer noch die Angst vor einem Aufstand der Bürger davon abhalten, die Freiheit willkürlich einzuschränken. Diese Angst werden sie aber nur dann haben, wenn sie wissen, dass die Bürger ihre Freiheit schätzen und bereit sind, gegebenenfalls für ihre Verteidigung zu sterben. Doch gesetzt den Fall, die Bürger ziehen ihren Wohlstand der Freiheit vor, und gesetzt auch den Fall, dass die Regierung ihnen diesen Wohlstand auch garantieren kann. Was kann die Regierenden dann noch davon abhalten, ihre Macht nicht zu missbrauchen? Eine mögliche Antwort lautet: der Glaube an Gott. Dabei muss es sich nicht unbedingt um den Glauben an eine göttliche Bestrafung im Falle eines Machtmissbrauchs handeln. Ein edleres Motiv 3

Ein oft – im Zusammenhang mit den Monarchien des XVII. und XVIII. Jahrhunderts – zitiertes Beispiel ist hier die Besteuerungspolitik. Je höher die Steuern, umso weniger werden die Bürger motiviert sein zu arbeiten und Reichtum zu produzieren. Aber je weniger Reichtum sie produzieren, umso geringer werden die Steuereinnahmen des Staates sein und umso weniger Geld werden die Regierenden zur Verfügung haben, um sich das Leben angenehm zu gestalten.

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Teil III: Die Religion im Dienst des Liberalismus

könnte der Respekt vor der den Menschen durch Gott verliehene Freiheit sein. Wer Gott respektiert, wird auch den göttlichen Willen respektieren, der den Menschen die Freiheit gegeben hat, nach ihrem eigenen Wissen und Gewissen zu handeln. Diese Freiheit ist solange zu achten, wie sie nicht die Freiheit anderer missachtet, auch nach ihrem Wissen und Gewissen zu handeln. Was man auch noch in diesem Kontext berücksichtigen muss, ist die Tatsache, dass in einer Demokratie die Souveränität in den Händen des Volkes liegt. Während in einer konstitutionellen Monarchie, gewöhnlich, mit dem Volk eine Instanz existiert, die, normativ gesprochen, über dem Monarchen steht, wird man sich in einer Demokratie die Frage stellen müssen, welche Instanz über dem Volk steht. Zu behaupten, dass in einer Demokratie die Verfassung über dem Volk steht, mag zwar auf den ersten Blick einleuchtend klingen, wird aber fraglich, sobald man sich vergegenwärtigt, dass das Volk die Verfassung ändern kann. Mögen auch die Prozeduren für eine Verfassungsänderung komplexer sein als diejenigen, an die man sich bei der normalen Gesetzgebung halten muss, so bleibt die Verfassung doch immer prinzipiell revidierbar durch das Volk.4 Das Volk steht somit über der Verfassung und ist in diesem Sinne noch mächtiger als manche absolute Herrscher der Frühen Neuzeit.5 Somit scheint eine Bindung des Volks – in Wirklichkeit: der (gegebenenfalls qualifizierten) Mehrheit des Volks – an eine seinen Willen transzendierende Rechtsordnung noch wichtiger zu sein, als dies für den Willen eines Monarchen der Fall sein kann. Für die absoluten Könige Frankreichs stellten die Fundamentalgesetze des Königreichs eine normative Ordnung dar, die sie als unabänderlich betrachteten, da sie nur im Rahmen dieser Gesetze als Könige existierten. Wenn aber ein Volk sich als eine der Verfassung transzendente Instanz betrachtet und wenn es sich ferner durch keine transzendenten Normen gebunden sieht, dann kann in ihm der Eindruck entstehen, dass ihm alles erlaubt ist, auch und vor allem die Unterdrückung derjenigen, die ihm seinen Allmachtsanspruch abstreiten wollen. Man sollte nicht einfach voraussetzen, dass sich mit dem Übergang von der Monarchie zur Demokratie alle Probleme bezüglich des Machtmissbrauchs von selbst gelöst haben. Sie sind noch immer da, aber unter einer anderen Form.

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Es sei denn, man habe bestimmte Verfassungsnormen in den Rang von Ewigkeitsnormen erhoben. Doch stellt sich hier die Frage, mit welchem Recht eine Generation alle nachfolgenden Generationen auf diese Weise binden darf. Mochten die französischen Könige auch die Gesetze ihrer Vorgänger außer Kraft setzen, so hatten sie doch kein Recht, die Fundamentalgesetze des Königreichs zu ändern – und dasselbe galt in noch stärkerem Maße für die natürlichen und göttlichen Gesetze. In diesem Sinne kann man behaupten, dass die Freiheit der absoluten Könige des Ancien Régime weitaus geringer war als die Freiheit einer qualifizierten Parlamentsmehrheit heutzutage. So besaßen die absoluten Könige nicht die Freiheit, per Gesetz die gleichgeschlechtliche Ehe einzuführen, eine Freiheit, die heute eine einfache Parlamentsmehrheit besitzt.

Kapitel 1: Feste Überzeugungen

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KAPITEL 1: FESTE ÜBERZEUGUNGEN Wie soll jemand sich in einem dichten Wald zurechtfinden, wenn er keine festen Anhalts- oder Orientierungspunkte hat, und wenn er demnach nicht weiß, welchen Weg er einschlagen muss, um den Wald zu verlassen? Das Bild des in einem dichten oder dunklen Wald verlorenen Wanderers findet man nicht nur zu Beginn von Dantes Divina Commedia – die selva oscura, in welcher sich der Dichter, 33-jährig, auf dem halben Weg seines Lebens verloren hat –, sondern auch etwa vier Jahrhunderte später in Descartes’ Discours de la méthode. Dort schreibt der französische Philosoph nämlich: „Meine zweite Maxime war, so stark und entschlossen wie möglich in meinen Handlungen zu sein, und, sobald ich mich dazu entschlossen hatte, auf eine nicht weniger dauerhafte Weise den zweifelhaftesten Meinungen zu folgen, als ob sie gewiss wären. Ich wollte somit die Reisenden nachahmen, die, wenn sie in irgendeinem Wald ihren Weg verloren haben, nicht gut daran tun, umherzuirren und sich im Kreis zu drehen, einmal nach einer Seite, dann nach der anderen gehend, und die auf keinen Fall auf der Stelle stehen bleiben, sondern die vielmehr, immer so gerade wie nur möglich, in eine bestimmte Richtung gehen sollten […]“ (Descartes 1966, S. 52). Auf diese Weise, so Descartes, wird man zwar nicht unbedingt dort ankommen, wo man eigentlich ankommen wollte, aber man wird zumindest den Wald verlassen und irgendwo ankommen. Mit anderen Worten: es kann manchmal ratsam sein, auch Meinungen zu folgen, deren Wahrheit nicht absolut gewiss ist, wobei man aber so tut, als seien diese Meinungen absolut gewiss. Wer handeln muss, kann nicht immer abwarten, bis er im Besitz der absoluten, unbezweifelbaren Wahrheit ist. Er muss sich in die Welt hinauswagen, mit dem Risiko, sich zu irren. Dieses nie ganz zu beseitigende Risiko sollte nicht dazu verleiten, ständig an dem einmal eingeschlagenen Weg zu zweifeln und sich dementsprechend immer wieder vorzuwerfen, vielleicht doch nicht richtig gewählt zu haben. Ein solcher Zweifel kennzeichnet, meint Descartes, „schwache und wankende Geister“ (Descartes 1966, S. 53). Diese Bemerkungen Descartes’ gelten für das praktische Leben – für den Bereich, den Descartes mit dem Begriff moeurs bezeichnet, und den er von der Philosophie abgrenzt. Hier gilt jene morale provisoire, aus der Descartes hoffte, eines Tages eine vollkommene morale définitive machen zu können – was ihm aber nicht wirklich gelang.6 Von diesem praktischen Leben mit seinen Anforderungen sollte man die reine Philosophie unterscheiden. Hier sollte man seine Zustimmung immer nur solchen Aussagen geben, die über jedem Zweifel stehen bzw. die dem radikalsten Zweifel ausgesetzt worden sind und die diesen Test bestanden haben, so dass man davon ausgehen kann, dass sie gegen jeden möglichen Zweifel abgesichert sind. Wer auf solche Aussagen baut kann, wenn er beim Bauen sorgfältig vorgeht, sicher sein, dass sein Gebäude jedem Zweifel Stand halten wird. Im Rahmen seines methodischen Zweifels verwirft Descartes jede Aussage als falsch, die auch nur den geringsten Grund zum Anzweifeln ihrer Wahrheit zulässt – 6

Zu dieser Frage Rodis-Lewis 1998.

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mögen auch die Gründe zum Zweifeln extravagant klingen und den Nicht-Philosophen absurd erscheinen. Die Philosophie will nur jene Aussagen zurückbehalten und als fixe Referenzpunkte betrachten, die absolut unanzweifelbar7 sind – die Aussagen dienen als Prinzipien – oder die aus Aussagen abgeleitet werden können, die absolut unanzweifelbar sind – wobei die dabei gebrauchten Ableitungsregeln ihrerseits auch wieder unanzweifelbar sein müssen, ebenso wie die Wahrheit der Aussage, dass man diese Ableitungsregeln korrekt angewendet hat. Die absolute Unanzweifelbarkeit einer Aussage ist das erste von Descartes gebrauchte Wahrheitskriterium – ohne dass es aber ausdrücklich als solches bezeichnet wird. Da aber nur der Satz „Ich denke, ich bin“ den Zweifelstest besteht, muss Descartes, wenn er dem Solipsismus entkommen will, ein anderes Wahrheitskriterium finden. Dieses findet er in der Evidenz: ich bin als Philosoph dann und nur dann berechtigt, eine Aussage als wahr zu akzeptieren, wenn sie mir bei aufmerksamem Betrachten als evident für meine Vernunft erscheint.8 Das individuelle Evidenzerlebnis wird somit zum Wahrheitskriterium, aber da dieses Evidenzerlebnis ein „Vernunfterlebnis“ ist, kann es prinzipiell den Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit erheben, da die Vernunfterlebnisse, im Gegensatz zu den subjektiven Sinnenerlebnissen, objektiver Natur sind. Das Ich des „Ich denke“ ist für Descartes ein allgemeines Ich, im Gegensatz zum Ich des „Ich fühle/empfinde“. Letzteres ist an einen bestimmten Körper gebunden, und steht somit im Raum und in der Zeit. Seine Erlebnisse sind somit „indexiert“, wohingegen die Vernunft sich von Raum und Zeit emanzipieren kann. So hat etwa die Vernunft es immer nur mit dem abstrakten Dreieick zu tun, dessen gedachte Eigenschaften für alle die gleichen sind, wohingegen die Sinne es immer nur mit konkreten Dreiecken zu tun haben, bezüglich derer die Wahrnehmung von einem Individuum zu andern varieren kann. Gleich im ersten Kapitel des ersten Buches der zweiten Démocratie geht Tocqueville auf die, so die Überschrift des Kapitels, „philosophische Methode der Amerikaner“ ein. Auch wenn die Amerikaner sich wenig, wenn überhaupt, mit Philosophie befassen und in dieser Hinsicht kein philosophisches Volk sind9, bei dem abstrakte Gedanken eine große Rolle spielen und in denen man sich, womöglich sogar noch professionell mit Philosophie befasst, besitzen die Amerikaner doch „eine gewisse philosophische Methode, die ihnen allen eigen ist“ (Tocqueville 7 8

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„Unanzweifelbar“ ist hier im Sinne von „nicht mit (Hoffnung auf) Erfolg anzweifelbar“. Evident ist eine Idee oder Aussage, wenn sie klar und distinkt ist. Descartes hat allerdings selbst zugeben müssen, dass man nicht immer mit absoluter Gewissheit wissen kann, wann eine Aussage wirklich evident ist bzw. dass man auf Schwierigkeiten trifft – auf die er aber nicht weiter eingeht – wenn man bestimmen will, ob eine Aussage oder Idee uns wirklich als distinkt erscheint. Man kann demnach nur solche Aussagen als wahr ansehen, die auf evidente Weise evident sind. Doch muss dann auch evident sein, dass etwas auf evidente Weise evident ist, usw. Hier steht man vor dem Risiko eines infiniten Regresses, dem man nur dadurch entkommen kann, dass man eine bestimmte Evidenz einfach als gesichert annimmt und keine sie bestätigende Evidenz ihrer Evidenz verlangt. Des Weiteren musste Descartes das Kriterium der Evidenz durch Gott absichern. Tocqueville spricht hier von den Amerikanern im Allgemeinen. Die Gründerväter waren durchaus philosophisch versiert und kannten die philosophischen Klassiker, von Platon bis Montesquieu.

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OC I, 2, I, 1, S. 11).10 Wie viele andere Dinge, hat sich bei den Amerikanern auch die, oder eine bestimmte, philosophische Methode demokratisiert, aber so, dass die Amerikaner sich nicht bewusst sind, dass sie sie anwenden. Diese Methode besteht darin, letztlich nur seiner eigenen Vernunft zu vertrauen und nur solche Aussagen als wahr anzusehen, deren Wahrheit man selbst eingesehen hat. Hätte ein Deutscher vielleicht gesagt, dass die Amerikaner die Kantsche Methode anwenden bzw. die Methode, die von Kant als für die Aufklärung wesentlich bezeichnet wurde, bringt Tocqueville die Methode der Amerikaner mit seinem Landsmann Descartes in Verbindung11: „Amerika ist also eines jener Länder der Welt, wo man die Vorschriften Descartes’ am wenigsten studiert und wo man ihnen am besten folgt“ (Tocqueville OC I, 2, I, 1, S. 11).12 Die Amerikaner sind also Cartesianer, ohne dass sie es selbst wissen, und vielleicht sogar ohne jemals etwas von Descartes und dem cartesischen Zweifel gehört, geschweige denn die philosophischen Schriften des französischen Denkers gelesen und studiert zu haben.13 Den Amerikanern, um es kantianisch auszudrücken, kann man keine selbstverschuldete Unmündigkeit vorwerfen; sie haben durchaus den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Und sie tun es von sich aus, ohne dass ein Philosoph sie dazu aufgerufen hätte. Wir werden allerdings noch sehen, dass die selbstverschuldete Unmündigkeit, wenn sie auch nicht am Anfang steht, doch die Konsequenz des ursprünglichen Mutes ist, sich nur auf seinen eigenen Verstand verlassen zu wollen. Den – impliziten und seiner Identität unbewussten – Cartesianismus der Amerikaner erklärt Tocqueville – wie er es übrigens für viele andere von ihm beobachteten Phänomene tut –, durch den sozialen Zustand in dem sie leben. Als fast vollendete Demokratie sind die Vereinigten Staaten von Amerika ein Land, in dem die Individuen keine intellektuelle Autorität mehr anerkennen. Wenn, wie es das Grunddogma der Demokratie will, alle Menschen gleich sind, dann gibt es keinen Grund anzunehmen, dass ich nicht genauso gut zur Wahrheit gelangen kann als irgendein anderes Individuum, vorausgesetzt, ich gebrauche dabei meinen eigenen Verstand. Die im Alltag erlebte soziale Gleichheit spiegelt sich im Glauben an eine intellektuelle Gleichheit aller – weißen, männlichen, erwachsenen, muss man hin10

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Tocqueville macht in diesem Kontext den Unterschied zwischen einer Philosophie und einem philosophischen System (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 706 Fußnote r). Mit „Philosophie“ ist hier ein allgemeines Weltbild gemeint, das die Grundlage unseres Denkens und unseres Handelns bildet, von den meisten Menschen aber nicht bewusst und in seiner Komplexität wahrgenommen wird. Das philosophische System wäre seinerseits die Systematisierung dieses Weltbildes. Wie Tocqueville an einer nicht veröffentlichten Stelle des Manuskripts der Démocratie schreibt: „[D]ie philosophische Methode des XVIII. Jahrhunderts ist nicht nur französisch, sondern demokratisch“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 703 Fußnote o). In seinem Buch über die „Verwirklichung“ der Aufklärung in Amerika erwähnt Steele Commager Descartes mit keinem Wort, selbst nicht im „Americans Realize the Theories of the Wisest Writers“ überschriebenen Kapitel seines gut informierten und äußerst detaillierten Buches (Steele Commager 2000). In einem Manuskript hatte Tocqueville festgehalten: „Descartes, der größte Demokrat“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 700 Fußnote e – die schon auf Seite 699 beginnt). Sind die Amerikaner Cartesianer, die es nicht wissen, so ist Descartes ein Demokrat – sogar der „größte“ –, der es nicht weiß.

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zufügen – Individuen wider.14 Was der andere erkennen kann, kann auch ich auf dieselbe Art und Weise erkennen, da wir beide über denselben Verstand verfügen. Die intellektuellen Einsichten zu denen der andere gelangen kann, sind keine anderen als diejenigen, zu denen auch ich gelangen kann. Insofern gibt es für mich keinen Grund, mich einem anderen intellektuell zu unterwerfen, d. h. meine Meinung der seinigen anzupassen. Auf diese Weise verwandelt sich jeder Amerikaner in das Cartesische Ego, das sich durch nichts anderes als durch die eigene Einsicht leiten lässt. Diese philosophische Methode der Amerikaner, so Tocqueville, macht ebenfalls in Europa Fortschritte, da sich die sozialen Verhältnisse auch in Europa angleichen. Die cartesianische Methode der Erkenntnisgewinnung ist eine auf das demokratische Zeitalter zugeschnittene Methode und ihre Verbreitung geht deshalb Hand in Hand mit der Ausbreitung der Demokratie. Die Demokratie bricht nicht nur mit dem Dogma der natürlichen sozialen Ungleichheiten, sondern auch mit demjenigen der natürlichen intellektuellen Ungleichheiten – zumindest, und das gilt für beide Fälle, sofern weiße erwachsene Männer betroffen sind und insofern es sich um lebenspraktische Dinge handelt, allen voran die Frage, wie man sein Leben führen soll. Tocqueville weist allerdings auf einen wesentlichen Unterschied zwischen der europäischen und der amerikanischen Anwendung der cartesianischen Methode hin. Während nämlich die Europäer einerseits dem Zweifel absolut freie Bahn gelassen haben, so dass er sich auf alles erstrecken konnte, und sie andererseits dabei ein absolutes Vertrauen in den Verstand oder die Vernunft gesetzt haben, so als ob diese Erkenntnisvermögen ihnen eine zufriedenstellende Antwort auf jede Frage geben konnten, waren die Amerikaner vorsichtiger und haben nicht zugelassen, dass die individuelle Vernunft sich überall als oberste Richterin etabliert. Die aufklärerische Vernunft trat in Europa mit dem Anspruch auf, vor keinem Glaubensatz stehen zu bleiben, sondern für alles eine vernunftgemäße Begründung zu finden. Im Krieg gegen die sogenannten Vorurteile – also Urteile, die man vor einer gründlichen intellektuellen Prüfung als Handlungsgrundlage akzeptiert und deren Wahrheit man nicht in Frage stellt – sollte alles kritisch hinterfragt und damit dem Zweifel ausgesetzt werden. Als Beispiel könnte man hier d’Holbachs 1770 erschienen Essai sur les pré­ jugés erwähnen, ein Buch in welchem der Autor dazu aufruft, alle religiösen und politischen Vorurteile einer Untersuchung durch die Vernunft zu unterwerfen, da nur auf diese Weise sichergestellt werden kann, dass die Menschheit sich ihrer Vollendung und damit auch ihrem Glück nähert. Was sich nicht durch die Vernunft begründen oder beweisen lässt, sollte als bloßes Vorurteil verworfen werden. Das 14

Auch hierzu eine Passage aus den in Yale aufbewahrten Manuskripten: „Auch wenn Descartes eine große Verachtung für die Menge zeigt, ist seine Methode auf dem Gedanken der Gleichheit der Intelligenzen fundiert, denn wenn ich mich auf mich selbst beziehen soll, warum sollten Sie es dann nicht auch tun“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 699 Fußnote e). Und in einer anderen unveröffentlichten Passage schreibt Tocqueville: „Bacon und Descartes, wie alle großen Revolutionäre, haben die schon in allen Geistern vorhandenen Ideen klar formuliert und syste­ matisiert“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 702 Fußnote n).

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Festhalten an Vorurteilen konnte nur negative Konsequenzen haben, hielt es doch einerseits die Menschen davon ab, auf dem Weg der Wahrheitsfindung voranzuschreiten, und erlaubte es andererseits den Mächtigen, die Masse ruhig zu halten. Vorurteile wurden also in erster Linie als im Interesse der Mächtigen stehend gesehen und es wurde ihnen auf diese Weise jeder Beitrag zu einem emanzipatorischen Zweck abgesprochen. Der Fortschritt war demnach nur unter der Voraussetzung denkbar, dass man sich von jedem Vorurteil befreite und nur solche Aussagen akzeptierte, die durch die Vernunft bewiesen werden konnten. Dies konnte aber nur dann erreicht werden, wenn man den Zweifel auf alles ausdehnte und somit einen grenzenlosen Zweifel praktizierte. Insofern die Amerikaner dem Zweifel Grenzen setzen, sind sie, Tocquevilles Urteil zu Folge, der Methode Descartes’ treuer geblieben als die Europäer: „Warum hat Descartes, der seine Methode lediglich auf bestimmte Gebiete angewendet hat, behauptet, dass man nur über philosophische, nicht aber auch über politische Angelegenheiten eigenständig urteilen sollte, und dies obwohl er sie so konzipiert hat, dass man sie auf allen Gebieten anwenden kann? Wie konnte es geschehen, dass im XVIII. Jahrhundert plötzlich eine allgemeine Anwendung dieser Methode gemacht wurde, die Descartes und seine Vorgänger15 nicht gesehen hatten oder nicht entdecken wollten?“ (Tocqueville OC I, 2, I, 1, S. 12). Die Philosophen des XVIII. Jahrhunderts, so Tocqueville, haben jene Grenzen durchbrochen, innerhalb derer Descartes wohlweislich geblieben war, und dies obwohl er seinen methodischen Zweifel durchaus auch jenseits dieser Grenzen hätte anwenden können.16 Hätte Descartes seinen Zweifel bis ans Ende durchgezogen, dann hätte er den Solipsismus nie überwinden können, denn es wäre ihm nicht gelungen, ein allgemeines Wahrheitskriterium aufzustellen, mittels dessen es ihm gelingt, die Existenz Gottes als Wahrheit zu etablieren, und mit der Existenz Gottes auch seine wesentliche Attribute, wie etwa die Güte. Die Philosophen des XVIII. Jahrhunderts, die den Zweifel radikalisiert haben, sind dem Solipsismus nicht entkommen: „Die neue Philosophie, indem sie alle Meinungen dem alleinigen Tribunal der individuellen Vernunft unterwirft, wollte alle Intelligenzen unabhängiger, stolzer, aktiver machen, aber sie hatte sie isoliert“ (Tocqueville OC XVI, S. 259).

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Tocqueville hat Luther und die Reformatoren als Vorgänger Descartes’ genannt. Interessant ist hier die Manuskript gebliebene Bemerkung: „Descartes war Katholik durch seinen Glauben und Protestant durch seine Methode“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 704 Fußnote p). Auf die potentielle Gefahr der „protestantischen“ Methode hatte übrigens schon Montaigne aufmerksam gemacht. Er hatte nämlich darauf hingewiesen, dass die Lehre Luthers die Menge dazu führen kann, alles, und also nicht nur religiöse Aussagen, in Zweifel zu ziehen und nur noch solche Aussagen als wahr zu akzeptieren, denen die eigene Vernunft zugestimmt hatte (Montaigne 1965, S. 139). Ganz ähnlich wird Vacherot über das XVII. Jahrhundert schreiben: „Das Dogma bewahrte seine ganze Autorität in Sachen, die ihm eigen waren; aber es verlor sie über die die Natur betreffenden Dinge und über die metaphysischen Fragen, die somit den Weg der Wissenschaft, ihre eigentliche Bestimmung, einschlugen“ (Vacherot 1869, S. 405). Im XVIII. Jahrhundert hingegen wird alles, auch der Bereich des Übernatürlichen, dem Tribunal der Vernunft unterworfen.

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Tocqueville macht hier einen Unterschied zwischen einer prinzipiell auf alle Gebiete anwendbare Methode und einem, aus seiner Perspektive, verantwortlichen Gebrauch dieser Methode. Aus der Tatsache, dass man den Zweifel auf alles anwenden kann, folgt noch nicht, dass man ihn auch auf alles anwenden soll, noch, dass Descartes ihn auf alles anwenden wollte. Er scheint dabei die Frage offen lassen zu wollen, ob die Begrenzung des Zweifels bei Descartes und seinen Vorgängern bloß das Resultat einer Unnachsichtigkeit ist, oder ob Descartes und seine Vorgänger zwar erkannt hatten, dass man den Zweifel prinzipiell auf alle Aussagen anwenden kann, es aber unterlassen haben, dies zu tun, etwa aus Angst, dass dadurch das Projekt, gesicherte Wahrheiten zu finden, scheitert. Man wird allerdings vermuten können, dass diese zweite Erklärung weitaus plausibler ist als die erste, denn es ist kaum anzunehmen, dass ein großer Geist wie Descartes sich nicht der Tatsache bewusst war, dass man seinen Zweifel prinzipiell auf jede Aussage anwenden konnte. Man sollte demnach davon ausgehen, dass er, um nicht, sozusagen, im und am Zweifel zu verzweifeln, diesen Zweifel nicht bis zu seinen extremsten Grenzen durchgezogen hat. Descartes, um es anders zu formulieren, hat eine Art Selbstzensur ausgeübt, und Tocqueville sieht in dieser Selbstzensur keinen Grund, Descartes eine Inkonsequenz vorzuwerfen, sondern diese Selbstzensur wird zu einer Tugend des cartesischen Zweifels, an die sich die Amerikaner, nicht aber die europäischen Nachfolger Descartes’ gehalten haben.17 Descartes hat sich in seinen Schriften nur sehr wenig mit Theologie und Politik befasst bzw. er hat seine Methode nicht systematisch auf diese beiden Gebiete angewendet. In einem Brief aus dem Jahr 1649 an Henry More, erklärt er, er könne dessen Wunsch nicht erfüllen, ihm Informationen über die Engel zu geben, da er, Descartes, nie Aussagen über Dinge mache, deren Gewissheit er nicht einmal mit einer Wahrscheinlichkeit in Verbindung bringen könne (Descartes 2013a, S. 655). Ganz davon abgesehen, hinsichtlich der Engel und ihrer Eigenschaften jemals eine metaphysische, d. h. durch den Zweifel nicht umstürzbare Gewissheit zu besitzen, 17

Lawler sieht in Tocqueville „einen tiefgründigen Kritiker der zerstörerischen Wirkungen der Aufklärung auf den menschlichen Geist oder die menschliche Seele“ (Lawler 1992, S. xxi). Man sollte allerdings nuancieren: Tocqueville ist kein Gegner der Aufklärung als solcher, genauso wenig wie er ein Gegner der Demokratie als solcher ist. Für Tocqueville ist die Aufklärung ein Faktum, aber ein Faktum mit dem man behutsamen umgehen muss bzw. das man in geordnete Bahnen lenken muss, damit sich seine potentiellen zerstörerischen Tendenzen nicht verwirklichen. Insofern geht Hancock zu weit, wenn er von Tocquevilles „counter-enligthenment“ (Hancock 1992a, S. 151) spricht. Aus der Tatsache, dass Tocqueville bestimmte Exzesse der Aufklärung – oder was er dafür hält – verurteilt, kann man nicht schließen, dass er, wie etwa de Maistre oder de Bonald, die Aufklärung als solche verdammt. Tocqueville warnt sozusagen die Aufklärung vor sich selbst und antizipiert gewissermaßen schon Horkheimer und Adorno. In einem Brief an Beaumont aus dem Jahre 1856, in welchem er das Kapitel über die „gens de lettres“ aus seinem Spätwerk L’Ancien Régime et la Révolution kommentiert, schreibt Tocqueville übrigens ausdrücklich: „[I]ch wollte in diesem Kapitel keineswegs den Ideen des XVIII. Jahrhunderts den Prozess machen, oder zumindest nicht dem richtigen, vernünftigen, anwendbaren Teil dieser Ideen, die ja schließlich auch die meinigen sind“ (Tocqueville OC VIII, 3, S. 395). Tocqueville nimmt also ganz klar eine Zwischenposition ein, zwischen einerseits den radikalen Gegnern der Aufklärung, und andererseits jenen Autoren von denen er glaubt, dass sie ihre eigene aufklärerische Praxis nicht kritisch reflektiert haben.

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wird man auf diesem Gebiet nicht einmal eine moralische Gewissheit erhoffen können, also eine Gewissheit, wie wir sie im Bereich der moeurs besitzen und die uns für unser Alltagsleben genügt. Schon einige Jahre zuvor hatte Descartes in einem Brief geschrieben, er wolle sich nie zu theologischen Fragen äußern, da er durch solche Aussagen die Grenzen seines Berufs bzw. seiner Kompetenzen überschreiten würde (Descartes 2013a, S. 836). Gewissheit über die Engel oder andere komplexe theologische Fragen, so scheint es, wird der Mensch nur auf dem Weg der göttlichen Offenbarung erlangen können. Der Philosoph befasst sich als solcher aber nur mit denjenigen Aussagen, die der menschlichen Vernunft ohne göttliche Offenbarung zugänglich sind.18 Insofern muss ihr die Offenbarung fremd bleiben, was u. a. bedeuten kann, dass der von der Vernunft in Gang gesetzte Zweifel sich nicht auf die Offenbarung erstrecken soll. Der Philosoph sieht also nicht nur davon ab, Aussagen über die Engel zu machen, sondern er sieht auch davon ab, die Wahrheit solcher Aussagen in Zweifel zu ziehen. Während seines langjährigen Aufenthalts in den Niederlanden hat Descartes auch davon abgesehen, sich, wie er in einem Brief an Christian Huygens schreibt, in den theologischen Streit zwischen Katholiken und Protestanten einzumischen (Descartes 2013a, S. 160), und dies, obwohl er in einem Brief an denselben Huygens, den er nur kurz vor dem eben erwähnten verfasst hatte, festhielt: „[I]ch habe es mir angewohnt über alles zu philosophieren, was sich mir darbietet“ (Descartes 2013a, S. 160). Da sich ihm in den Niederlanden theologische Diskussionen anboten, hätte er dementsprechend auch über sie bzw. über ihren Gegenstand philosophieren müssen. Aber vielleicht wollte Descartes mit dem „alles“ nur sagen, dass er über alles philosophiert, was der menschlichen Vernunft zugänglich ist. In einem Brief an Chanut aus dem Jahr 1647, teilt Descartes seinem Landsmann mit, dass es ihm widerstrebt, ein Buch über Moral zu schreiben (Descartes 2013a, S. 693). Einerseits fürchtet er sich davor, dass ihm schlecht gesinnte Geister – und Descartes hatte zahlreiche Feinde in den Niederlanden19 – in diesem Buch nach Material suchen würden, mit dem sie ihn verunglimpfen könnten. Andererseits ist er der Auffassung, dass es nur den Fürsten obliegt, die Lebensweise der Menschen zu regeln.20 Die philosophische Vernunft erkennt hier, wie es Lefèvre schreibt, ihre Unfähigkeit, sich mit Angelegenheiten zu befassen, die die politische Autorität betreffen (Lefèvre 1957, S. 4). Genauso wie er sich als Nicht-Theologe

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Man muss hier selbstverständlich die göttliche Offenbarung von den angeborenen Ideen unterscheiden. Descartes geht davon aus, dass Gott uns bestimmte ganz allgemeine Ideen gegeben hat. Diese betreffen aber nicht den Bereich des Theologischen. Vor allem die Hypothese des genius malignus – und die Verwendung des Begriffs „deus“ zu seiner Bezeichnung – hat ihm die Feindschaft vieler Theologen eingebracht. Man kann hier Descartes und Montaigne miteinander vergleichen. Montaigne, so Hubert Vincent, will kein Berater des Fürsten sein. Allerdings lehnt er diese Funktion nicht ab, weil es einem Untertanen nicht ansteht, einem Fürsten zu sagen, welche Politik er führen soll, sondern weil es mit einem Fürsten so bestellt ist, wie mit einem Freund: Man sagt ihm zwar, was man denkt, aber man belässt es dabei (Vincent 2001, S. 148).

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nicht mit theologischen Wahrheiten befassen will21, so will Descartes sich auch nicht als Nicht-Fürst mit moralischen oder politischen Wahrheiten befassen.22 Descartes hat sich allerdings nicht ganz streng an seine Regel gehalten. In einigen Briefen, aber dann vor allem in seinem Briefwechsel mit der Prinzessin Elisabeth von Böhmen, hat der französische Philosoph Stellung zu politischen Fragen bezogen. So hat er u. a., auf die eindringliche Bitte Elisabeths hin23, Machiavellis Principe kommentiert (Descartes 1989, vor allem Ss. 175 ff.).24 Auch wenn er, wie es sich für einen Autor des XVII. Jahrhunderts gehört, Machiavellis radikale Thesen kritisiert, lässt er doch durchblicken, dass diese Thesen, befreit man sie von ihrer Radikalität, durchaus vertretbar sind.25 Man sollte aber hier bedenken, dass der Briefwechsel eigentlich nicht gedacht war, einem größeren Publikum zugänglich gemacht zu werden. In seinem Alltagsleben hat Descartes, was die Religion und die Politik betrifft, die Verhältnisse akzeptiert, die er vorgefunden hat, und er hat weder den christlichen Glauben, noch die absolutistische Politik, einem methodischen Zweifel unterzogen bzw. seinen Mitmenschen ans Herz gelegt, den Zweifel auf diese Gebiete anzuwenden oder das Wahrheitskriterium der Evidenz auch in diesen Gebieten zur Geltung zu bringen, und theologische und politische Aussagen nur insofern zu akzeptieren, als die Vernunft ihre Evidenz einsehen kann oder sie zumindest auf eine evidente Weise begründen kann. Auf den Gebieten der Religion und der Politik hat er sich vielmehr an seine zweite Maxime gehalten und hat nicht nach einer besseren Religion, noch nach einer besseren gesellschaftlichen und politischen Ordnung gesucht.26 Descartes, so Quillien, geht es in Sachen Religion primär um 21

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Descartes macht einen Unterschied zwischen theologischen und metaphysischen Fragen. Während letztere der natürlichen menschlichen Vernunft zugänglich sind, und somit in den Zuständigkeitsbereich des Philosophen fallen, ist dies nicht der Fall für erstere, so dass der Philosoph sich nicht mit seiner Methode auf dieses weite Feld hinauswagen sollte (Descartes 2013, S. 72). Zu erwähnen ist aber hier, dass in Descartes’ Baum der Erkenntnis die vollkommene Moral als höchste praktische Wissenschaft betrachtet wird. Wie die Medizin und die Mechanik, will Descartes auch die Moral auf die Physik gründen. Eine solche Fundierung der Moral auf der Physik – die ihrerseits aus der Metaphysik als Fundamentalwissenschaft entspringt – legt es nahe, die Moral nicht den Fürsten, sondern den Wissenschaftlern zu überlassen. Descartes’ Aussagen zur Politik können in dieser Hinsicht, wie es Lefèvre formuliert, als „spät kommend, fragmentarisch, akzidentell“ bezeichnet werden (Lefèvre 1957, S. 67). Die Studien zum politischen Denken Descartes’ sind selten. Erwähnt seien hier Schall 1962 – der die These vertritt, Descartes habe eine politische Theorie nach dem Modell der exakten Wissenschaften aufstellen wollen –, Negri 2007 – der in Descartes den politischen Denker der Bourgeoisie sieht, der ihr die notwendige politische Ontologie liefert – und Guenancia 1983 – der den rationalistischen Individualismus Descartes’ dem kommunitaristischen Mystizismus Pascals entgegenstellt. Im Hinblick auf Tocqueville ist vor allem der letzte Punkt interessant, da Tocqueville in vielen Hinsichten von Pascal beeinflusst wurde. Tocqueville hätte sicherlich Guenancia vorgeworfen, nicht bemerkt zu haben, dass Descartes’ Rationalismus vor bestimmten politischen Thesen Halt macht. Siehe hierzu etwa Cavaillé 2001. Man könnte höchstens sagen, dass er durch seinen Aufenthalt in den Niederlanden durch die Tat gezeigt hat, dass er den in Frankreich waltenden Absolutismus ablehnte. In einem Brief aus dem Jahr 1637 lobt er die Niederlande aber vor allem, weil dort kein Krieg ist (Descartes 2013a, S. 33).

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sein individuelles Seelenheil, und er will nicht durch religiöse Stellungnahmen mit dazu beitragen, die kollektive Ordnung zu zerstören (Quillien 1994, S. 87). Als Zeitgenosse des Dreißigjährigen Krieges weiß Descartes nur allzugut, welche verheerenden Wirkungen religiöse Konflikte auf das friedliche und geordnete Leben in einem politischen Gemeinwesen haben können. Was die Religion betrifft, folgt Descartes, wie er es selbst sagt, der Religion, in welcher er aufgewachsen ist. Und in der Politik akzeptiert er die politische Situation, die er vorfindet. Auch wenn er sich in vielen anderen Dingen von Montaigne unterscheidet, bleibt er zumindest auf diesen beiden Gebieten einer der Grundmaximen seines Landsmanns treu: er bleibt auf dem Weg, den die meisten Menschen um ihn herum eingeschlagen haben (Montaigne 1965, S. 293). Doch bleiben nicht nur die Politik und die Religion vom Zweifel verschont. An keiner Stelle seines Unternehmens denkt Descartes daran, die Logik und die Sprache in Zweifel zu ziehen. Aus der Tatsache, dass ihm seine Sinnesorgane manchmal Informationen liefern, die sich widersprechen – der ins Wasser getauchte Stab sieht gekrümmt aus, fühlt sich aber gerade an –, zieht Descartes die Konsequenz, dass seine Sinne ihn zumindest manchmal täuschen. Diese Konsequenz wird man aber nur dann ziehen, wenn man davon ausgeht, dass der Stab nicht gleichzeitig gekrümmt und gerade, also nicht gekrümmt, sein kann, und wenn man also die klassische aristotelische Logik als gültig akzeptiert. In dieser Logik können nämlich zwei sich widersprechende Aussagen nicht gleichzeitig wahr sein. Wenn demnach Aussage A wahr ist, dann ist Aussage Nicht-A falsch. Und dass man nicht erkennen kann, welche der beiden Aussagen wahr, und welche falsch ist, hat keinen Einfluss auf die logische Dimension. Auch die Sprache wird von Descartes nicht in Frage gestellt. So geht der französische Philosoph implizit davon aus, dass die Sprache die Wirklichkeit widerspiegelt und dass Sprachgrammatik und Sprachsyntax Rückschlüsse auf die Wirklichkeit erlauben, dass also die Struktur der Sprache uns Aufschlüsse über die Struktur der Wirklichkeit gibt. Dies wird am berühmten „Je pense, je suis“ deutlich. In den meisten Sprachen kann man ein Verb nur in Verbindung mit einem Personalpronomen gebrauchen, und selbst in einer Sprache wie das Lateinische, wo man an der Endung des Verbs erkennen kann, um welche Person des Singulars oder des Plurals es sich handelt, gibt es Personalpronomen, so dass man nicht nur einfach „cogito“, sondern auch „ego cogito“ sagen kann. In den Descartes bekannten Sprachen setzte ein Verb somit immer ein Subjekt voraus, das entweder unter der Form eines Substantivs oder eines Personalpronomens im Satz erschien. Von hier war es dann nur ein Schritt – aber ein sehr bedeutungsträchtiger –, den Zustand in der Sprache auf die außersprachliche Wirklichkeit zu projizieren. Wenn ein Verb ein grammatisches Subjekt voraussetzt, dann setzt eine Handlung ein ontologisches Subjekt voraus. Das Denken ist eine Handlung. Also setzt das Denken ein denkendes Subjekt voraus.27

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Nietzsche hat u. a. diese Kritik geäußert und vom „Aberglauben der Logiker“ gesprochen (Nietzsche 1999a, S. 30).

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Stellt Descartes die Wahrheit der theologischen und politischen Aussagen nicht in Frage, weil die Vernunft hier keine Möglichkeit sieht, Evidenzen und damit absolute Gewissheiten zu finden – und auch weil er sich vielleicht der Gefahren bewusst war, denen man sich damals aussetzte, wenn man sich mit theologischen und politischen Angelegenheiten befasste und dabei eventuell der herrschenden Meinung und der Meinung der herrschenden widersprach –, so scheint er die Gültigkeit der Logik und der Sprache nicht in Frage zu stellen, weil er ohne Logik und ohne Sprache einfach nicht denken kann. Logik und Sprache sind der Vernunft nicht äußerlich, sondern sie sind für sie konstitutiv, was u. a. bedeutet, dass ein Zweifel an der Logik und an der Sprache nur unter der Form des Schweigens und des NichtDenkens möglich ist. Ein Zweifel an der Logik und an der Sprache kann sich somit nicht äußern und er kann sich auch nicht begründen. Ein solcher Zweifel zerstört gleichzeitig die Möglichkeit von Wahrheit. Aber er zerstört auch gewissermaßen sich selbst. Der Zweifel setzt somit immer etwas voraus, was er nicht in Zweifel setzen kann, ohne sich selbst unmöglich zu machen. Um demnach überhaupt an allem zweifeln zu können, musste Descartes einiges nicht in Zweifel ziehen. Es war also nicht Descartes, so Tocqueville, der alles – und zwar wirklich alles – in Frage gestellt und damit die Tür für den allgemeinen Skeptizismus und dessen die Freiheit untergrabenden Konsequenzen geöffnet hat, sondern es waren seine Nachfolger im XVIII. Jahrhundert, vor allem in Frankreich.28 Die Franzosen, und überhaupt die Europäer, sind, so könnte man sagen, dem Buchstaben der Methode Descartes’ gefolgt, haben aber dessen Geist, zumindest so wie Tocqueville ihn versteht und mit Descartes’ ureigenen Absichten in Verbindung bringt, verraten. Wie andere Entdecker der hier diskutierten philosophischen Methode, wollte auch Descartes bestimmte Anwendungen dieser Methode lieber unerwähnt lassen bzw. davon absehen, die Methode auf bestimmte mögliche Anwendungsfelder anzuwenden.29 Descartes hat ein gefährliches Instrument geschaffen, und auch wenn er selbst keinen gefährlichen Gebrauch dieses Instruments gemacht hat, so war ein 28

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Simone Goyard-Fabre hat demnach nur zum Teil recht, wenn sie schreibt: „Wenn man das Werk Tocquevilles wieder schließt, kommt man nicht am Gedanken vorbei, dass der Cartesianische Rationalismus, indem er unsere Modernität eröffnet hat, nicht den Weg der Freiheit gezeichnet hat“ (Goyard-Fabre 1991, S. 43). Man müsste eher sagen, dass man den Eindruck gewinnt, dass sich zwei Wege vor dem modernen Menschen öffneten, und dass dieser Mensch einen der beiden Wege gegangen ist, nämlich denjenigen, der ihm die größte Freiheit zu versprechen schien. Doch war der Schein vielleicht trügerisch. Denn was die größte Freiheit verspricht, kann auch die Freiheit enthalten, die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu zerstören. Tocqueville hat seinerseits bemerkt: „Man sollte keine Vorwürfe an die Adresse Luthers, Bacons, Descartes’ oder Voltaires richten. Sie haben nur die Form oder die Anwendung gegeben, der Inhalt wurde vom Zustand der Welt zu ihrer Zeit bestimmt“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 705 Fußnote q). Die genannten Autoren haben lediglich gesagt, dass der Zweifel angebracht ist. Der Zustand der Welt hat dann gewollt, dass man alles in Zweifel zieht. In einem Brief aus dem Jahr 1837 drückt Tocqueville allerdings seine Verachtung gegenüber Voltaire aus, in dessen Schriften er kein einziges Wort findet, das „einen wirklichen Respekt für die Rechte der Menschheit, noch einen ehrlichen Geschmack für deren Freiheit“ bezeugt (Tocqueville OC XIII, 1, S. 474). Descartes’ Zweifel ist demnach nicht mit dem „kühnen Zweifel“ identisch, den Tocqueville als höchst demokratisch bezeichnet (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 834 Fußnote h).

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solcher möglicher gefährlicher Gebrauch sozusagen schon im Instrument selbst angelegt. Doch ein Autor kann nicht darüber bestimmen, was andere mit seiner Methode anfangen werden, und somit sollte man nicht Descartes vorwerfen, Europa in den allgemeinen Skeptizismus geworfen zu haben, sondern seinen Nachfolgern. Hätten diese sich, wie die Amerikaner, an einen verständigen Gebrauch von Descartes’ Methode gehalten, dann wären Europa bestimmte schreckliche Ereignisse erspart blieben. Aus der Sicht Tocquevilles ist der Wille der französischen Revolutionäre, alle bestehenden Institutionen – bis hin zum Kalender – zu zerstören, um eine rein auf die Vernunft fundierte politische Gemeinschaft zu gründen, ein Ausdruck eines radikalen und verantwortungslosen Gebrauchs der Methode Descartes’. Die Infragestellung von allem, der Wunsch, alles vor das Tribunal der Vernunft zu bringen, kann nur, folgt man Tocqueville, in ein normatives Nichts führen, in welchem nur noch Platz für die Willkür sein wird. Der absolute Skeptizismus führt ins absolute Nichts, und weit davon entfernt, dem Menschen ein freies Handeln zu ermöglichen, zerstört er vielmehr jede vernünftige Handlungsmöglichkeit.30 Tocqueville macht demnach einen Unterschied zwischen einem geregelten Gebrauch der individuellen Vernunft und deren Missbrauch (Tocqueville OC I, 2, I, 1, S. 15). Der geregelte Gebrauch stellt nicht alles in Frage, sondern akzeptiert bestimmte Aussagen als wahr, auch wenn sie die Evidenzprüfung nicht bestehen oder nicht schlüssig bewiesen werden können. Die Vernunft fordert nicht für alles eine absolute Evidenz oder einen letzten Beweis, sondern fügt sich dem Gedanken, dass man bestimmte Sätze als Dogmen akzeptieren muss. Für alles einen solchen Beweis oder eine absolute intellektuelle Evidenz zu verlangen, ist utopisch, da bestimmte Dinge die Grenzen der Vernunft überschreiten und da die Menschen auch nicht immer Zeit haben, alles selbst mittels ihrer individuellen Vernunft zu überprüfen. Selbst wenn man also kontrafaktisch annimmt, dass die individuelle Vernunft die Wahrheit aller Aussagen durch Beweis einsehen kann, so wird es ihr doch immer an Zeit mangeln, nach diesen Beweisen zu suchen. Es gibt einerseits Sätze, die alle Menschen akzeptieren, ohne dass irgendjemand in der Lage wäre, diese Sätze zu beweisen, und zwar in dem Sinne zu beweisen, dass es irrational wäre, sie nicht als wahr zu akzeptieren. Und es gibt andererseits Sätze, die zwar einige Menschen beweisen können und auf Grund eines Beweises akzeptieren, die aber die Mehrheit der Menschen ohne Beweis akzeptiert. Zur ersten Kategorie gehört ein Satz wie „Alle Menschen haben von Natur aus ein gleiches Recht, an der Gestaltung ihrer politischen Gemeinschaft mitzuwirken“ – das Dogma der Souveränität des Volkes, wie Tocqueville es in Amerika etabliert findet. Ein Beispiel für einen Satz der zweiten Kategorie wäre „Es gibt unendlich viele Primzahlen“. Sätze der ersten Art sind in den Augen Tocquevilles nicht absolut beweisbar, und sie werden nicht akzeptiert, weil man ihre Wahrheit mittels der Vernunft eingesehen hätte, sondern weil sie mit einer bestimmten sozialen Le-

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Zur Thematik Liberalismus-Skeptizismus bei Constant und Tocqueville, siehe Campagna 2013c.

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bensform in Einklang stehen.31 Sie beziehen ihre Evidenz – die aber keine rationale Evidenz im Sinne Descartes’ ist – aus dieser sozialen Lebensform. Als konstitutive Elemente dieser Lebensform können sie nur mit der Lebensform selbst in Frage gestellt werden, d. h. derjenige der sie in Frage stellt, hat damit schon die Lebensform als solche in Frage gestellt. Im Gegensatz dazu sind Sätze der zweiten Kategorie prinzipiell beweisbar und jeder könnte die Gültigkeit ihres Beweises auch einsehen. Allerdings hat nicht jeder die Zeit, sich das theoretische Wissen anzueignen, ohne welches man den Beweis nicht nachvollziehen und seine Gültigkeit einsehen kann. Man vertraut deshalb denjenigen, die über dieses theoretische Wissen verfügen. Die Menschen sind somit gezwungen, bestimmte Aussagen auf guten Glauben hin zu akzeptieren. Sie akzeptieren diese Aussagen nicht, weil sie deren Wahrheit eingesehen hätten, sondern weil sie durch deren Akzeptanz erst einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen sie sich die Frage nach der Wahrheit, und damit auch nach der möglichen Allgemeingültigkeit von Aussagen stellen können. Nur so, sagt Tocqueville, kann es gemeinsame Ansichten geben, und nur wo es solche gemeinsame Ansichten gibt, kann es eine geordnete menschliche Gesellschaft geben: „[O]hne gemeinsame Ideen gibt es keine gemeinsame Handlung, und ohne gemeinsame Handlung, gibt es zwar noch Menschen, aber keinen sozialen Körper“ (Tocqueville OC I, 2, I, 2, S. 16). Der Zusammenhalt einer Gesellschaft setzt demnach eine gemeinsame Praxis voraus, und diese gemeinsame Praxis setzt ihrerseits eine geteilte Weltsicht voraus. Wer diese Weltsicht, oder doch deren Grundelemente in Frage stellt, stellt damit auch die Praxis in Frage und demnach auch die gesellschaftliche Ordnung. Gemeinsame Ideen entstehen nicht dadurch, dass jeder einzeln die Wahrheit einer Idee einsieht und sich dann mit anderen zusammentut, die auch, jeder für sich, die Wahrheit dieser Idee eingesehen haben. Die Menschen werden in eine bestimmte Ideenwelt hineingeboren und sie übernehmen dann die vorgefundenen Ideen. Hierbei spielt nicht nur die formelle Erziehung eine wichtige Rolle, sondern auch das Leben im Alltag. Wir lernen nicht nur in der Schule, dass wir alle Menschen respektieren müssen, sondern wir lernen diesen Respekt auch, wenn nicht vor allem, im außerschulischen Alltag. Und wenn manche ihn nicht lernen, dann kann das dadurch bedingt sein, dass sie nicht die Gelegenheit hatten, an jenen Praktiken teilzunehmen, durch die wir lernen, andere zu respektieren. Für die meisten Menschen ist der Respekt gegenüber ihren Mitmenschen nicht das Resultat einer theoretischen Einsicht – mag es sich um eine unmittelbare rationale Evidenz oder 31

Tocqueville gebraucht den Begriff der Lebensform nicht. Ich übernehme ihn von Wittgenstein. In den Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein u. a.: „Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform“ (Wittgenstein 1982, N. 241). Es wäre m. E. nicht falsch, die Demokratie und die Aristokratie, wie Tocqueville sie beschreibt, als globale Lebensformen zu bezeichnen. Als solche strukturieren sie unser Leben und ihre strukturellen Elemente werden als unhinterfragte Wahrheiten betrachtet. Um noch einmal Wittgenstein zu zitieren: „Was die Menschen als Rechtfertigung gelten lassen, – zeigt, wie sie denken und leben“ (Wittgenstein 1982, N. 325). In einer demokratischen Gesellschaft lässt man das Gottesgnadentum nicht mehr als Rechtfertigung gelten, und das zeigt, dass die Menschen denken, sie seien alle gleich.

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um die Schlussfolgerung eines komplexen Gedankengangs handeln –, sondern ein Vorurteil bzw. ein Vor-Urteil, ein handlungsleitendes Prinzip das man befolgt, noch bevor man sich ein Urteil über seine Gültigkeit gemacht hat. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass aus diesem Vor-Urteil ein Urteil wird, dessen Wahrheit oder Richtigkeit man einsieht. Ein Kind lernt zuerst an der Praxis des Sichbedankens teilzunehmen und auf diese Weise gewöhnt es sich daran, sich zu bedanken, wenn man ihm etwas gibt oder einen Dienst erweist. Wenn es älter wird, kommt das Kind zur Einsicht, dass es richtig ist, sich zu bedanken. Eine virulente Verteidigung der Vorurteile findet man u. a. bei Joseph de Maistre wieder, einem der interessantesten Gegner der Französischen Revolution, aber auch einem der wichtigsten Vertreter des Antiliberalismus.32 Ohne Vorurteile, so de Maistre in seinem gegen Rousseaus Contrat social gerichtetes Pamphlet, kann es keinen Kultus, keine Moral und keine Regierung geben, und wo jeder nur für sich selbst urteilt, kommt es zur Anarchie, denn die individuelle Vernunft ist die „tödliche Feindin einer jeden Vereinigung“ (de Maistre 1992, S. 147). Dieser individuellen Vernunft stellt de Maistre die nationale Vernunft entgegen, die er in den bestehenden Institutionen verkörpert findet, und in der modernen Philosophie sieht er „die Ersetzung der nationalen Dogmen durch die individuelle Vernunft“ (de Maistre 1992, S. 170). Die bestehenden Institutionen werden von der nationalen Vernunft nicht als Menschenwerk betrachtet, sondern werden als etwas gesehen, das auf „[d]ie Natur, die Zeit, die Umstände, d. h. Gott“ zurück geht (de Maistre 1992, S. 129). Diesen Ursprung gilt es, nicht in Frage zu stellen, auch wenn – und vor allem vielleicht gerade weil – er der individuellen Vernunft nicht einleuchtet. Nicht die individuelle Vernunft soll sich zur Richterin über die etablierten Institutionen erheben, sondern die Anerkennung der Legitimität dieser Institutionen gilt umgekehrt als der Maßstab eines gesunden Vernunftgebrauchs. In einer anderen Schrift stellt de Maistre Vernünfteln (raisonnement) und Vernunft (raison) einander gegenüber, und betont: „[D]er Mensch braucht Vorurteile, praktische Regeln, durch die Sinne erfassbare, materielle, anfassbare Ideen. Ihr könnt ihn nicht durch Syllogismen führen; und so ist die Natur dieses zugleich großen und kleinen Wesens, dass er seinen Tugenden nur dann gewiss ist, wenn er sie in Vorurteile verwandelt hat“ (de Maistre 1989, S. 33). Für de Maistre spielen dabei die religiösen Ideen eine fundamentale Rolle. Sie sind, mögen sie wahr oder falsch sein, „die einzige Basis auf welcher alle Institutionen beruhen“ (de Maistre 1989a, S. 133). Nur wenn die Menschen glauben, ohne 32

Stephen Holmes beginnt seine Geschichte des Antiliberalismus mit de Maistre, in dem er sozusagen ein Paradigma des antiliberalen Denkens sieht (Holmes 1996). Jean-Yves Pranchère ist allerdings etwas nuancierter und zeigt, ohne aber de Maistre ganz vom Vorwurf des Antiliberalismus zu befreien, dass es in den Schriften des Franzosen Überschneidungen mit liberalen Gedanken gibt (Pranchère 2004, S. 86). In seiner monumentalen Geschichte des antiaufklärerischen Denkens, tendiert Sternhell dazu, in de Maistre einen Nachfolger Burkes zu sehen, so dass eher dieser – aber vor ihm auch schon der Italiener Vico – als erster wichtiger Gegner jener Werte war, in dem sich der Liberalismus mit der Aufklärung deckt (Sternhell 2006). Sternhell ist für unsere Zwecke auch deshalb interessant, weil er in Tocqueville einen „Liberalen der Aufklärung“ sieht, der den Beweis erbringt, dass es den Liberalismus nur im Kontext der Gedanken der Aufklärung geben kann (Sternhell 2006, S. 110).

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diesen Glauben zu hinterfragen, dass die Institutionen gottgewollt und nicht das Produkt des menschlichen Willens sind, können diese Institutionen jene Stabilität besitzen, die die Gesellschaft vor der Anarchie bewahrt. Was nicht religiös begründet ist, was nicht als Werk Gottes angesehen wird, was in diesem Sinne nicht als geheiligt betrachtet wird, wird dem menschlichen Willen früher oder später anheim fallen. In den Augen de Maistres haben die französischen Revolutionäre einen Frevel begangen, als sie die Vorurteile in Frage stellten, auf denen die Monarchie beruhte, ohne von den religiösen Ideen zu sprechen, auf denen die Vorurteile ihrerseits beruhten. Dabei ist interessant zu sehen, dass de Maistre den Amerikanern gut hält, dass sie auf dem Fundament der englischen Verfassung aufgebaut haben und nicht, wie die Franzosen, tabula rasa gemacht und bei Null angefangen haben (de Maistre 1989a, S. 154). De Maistre behauptet weiter, dass der Mensch die Religion braucht, um konstruktiv handeln zu können (de Maistre 1992, S. 172). Mag die Religion auch auf der einen Seite einen die Freiheit beschränkenden Aspekt haben, so geschieht die Beschränkung der Freiheit letzten Endes doch um der Freiheit willen bzw. um der menschlichen Freiheit zu erlauben, nicht nur destruktiv, sondern auch konstruktiv zu wirken. Oder anders gesagt: Die menschliche Freiheit muss sich als durch etwas außer ihr Liegendes gebunden fühlen, muss sich durch außer ihr liegende Normen geleitet fühlen, um etwas Dauerhaftes errichten zu können. Auch Tocqueville teilt diese Ansicht. Während aber de Maistre an den Vorurteilen der aristokratischen Gesellschaft festhält, ist Tocqueville der Theoretiker solcher Vorurteile, die eine demokratische Gesellschaft braucht. Und wo de Maistre das Prinzip der Souveränität des Volks als Hirngespinst sieht und behauptet, dass das Vorurteil des Gottesgnadentums ein „universelles Vorurteil“ ist, das die Völker freiwillig akzeptiert haben (de Maistre 1992, S. 110), behauptet Tocqueville, dass in einer demokratischen Gesellschaft dieses Vorurteil durch ein anderes ersetzt wurde, nämlich durch das Dogma der Volkssouveränität.33 Tocqueville plädiert keineswegs dafür, dass wir alle vorgefundenen Ideen einfach blind und auf guten Glauben hin akzeptieren. Er verurteilt nicht den Rationalismus oder auch nur den Vernunftgebrauch als solchen, sondern er verurteilt sie nur insofern, als sie sich der Bedingungen ihrer Möglichkeit nicht bewusst sind. Die Menschen sollen durchaus schon von ihrer kritischen Vernunft Gebrauch machen, denn nur so können sie sich auch weiterentwickeln und die sich ihnen neu stellenden Probleme lösen. Tocqueville hinterfragt nur den Versuch eines globalen Zweifels, der, nachdem er die Wahrheit aller Aussagen in Frage gestellt hat, plötzlich vor einem Nichts steht. Der Zweifel soll nicht jene Vorurteile in Frage stellen, die man als Bedingungen seiner Möglichkeit bzw. als Bedingungen seiner sinnvollen, und d. h. konstruktiven Benutzung, ansehen kann. Aber in einer demokratischen Gesellschaft soll er auch nicht die strukturierenden Elemente dieser Gesellschaft treffen. Und in einer liberalen demokratischen Gesellschaft soll er nicht die Bedingungen hinterfragen, unter denen allein die Freiheit als ein Wert denkbar ist. 33

Auch Constant stellt fest, dass die religiöse Theorie des Gottesgnadentums diskreditiert ist (Constant 1997, S. 70).

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In einer Passage des Manuskripts der zweiten Démocratie stellt Tocqueville das Mittelalter und das XVIII. Jahrhundert einander gegenüber. Im Mittelalter nahm die Philosophie die Form der Religion an, d. h. man musste alles einfach glauben, ohne nach Gründen zu suchen. Im XVIII. Jahrhundert schlug das Pendel auf die andere Seite: Aus der Religion wurde eine Philosophie, d. h. man entledigte sich aller Dogmen. Und Tocqueville bemerkt dazu: „Heutzutage geht diese Bewegung in den Geistern zweiten Ranges weiter, aber die anderen verstehen und akzeptieren, dass man zugleich Glaubenssätze braucht, die man einfach hinnimmt, und Glaubenssätze, die man entdeckt, Autorität und Freiheit, Individualismus und soziale Kraft. Die ganze Frage ist über die Grenze zwischen diesen beiden Sachen zu entscheiden. Mein ganzer Geist muss sich darauf konzentrieren“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 709–710 Fußnote u).34 Tocqueville will also wissen, welche Glaubenssätze eine Demokratie als Dogmen akzeptieren muss, d. h. ohne sie in Zweifel zu ziehen und nach ihrer Wahrheit zu fragen. Tocqueville scheint nicht zu glauben, dass ein unanzweifelbares Cogito aus diesem Nichts herausragt, so dass auf diesem Cogito als absolut gesicherter Grundlage methodisch das Gebäude der Wissenschaften aufgebaut werden kann.35 Letzte Evidenzen sind seines Erachtens nicht auf dem Weg einer rationalen Einsicht zu gewinnen. Hier zeigt sich der Einfluss Pascals auf sein Denken.36 In seinen Pensées hatte Descartes’ Zeitgenosse die These vertreten, dass das Herz Wahrheiten kennt, die der Vernunft verborgen bleiben (Pascal 1962, S. 236–7)37, dass es also Wahrheiten gibt, bezüglich derer man nur eine gefühlsmäßige, aber keine rationale Evidenz 34

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Und in einer nicht veröffentlichten Randbemerkung heißt es: „Ich verstehe unter Religion alles, das man ohne Diskussion annimmt. Die Philosophie und die Religion sind somit also zwei natürliche Antagonisten. Je nachdem, welcher der beiden im Menschengeschlecht vorherrscht, tendieren die Menschen zu einem grenzenlosen intellektuellen Individualismus, oder sie haben nur gemeinsame Meinungen und begeben sich in eine intellektuelle Sklaverei. Diese beiden Resultate sind praktisch nicht zu verwirklichen und schlecht. Man braucht Philosophie und man braucht Religionen“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 713 Fußnote e). Man beachte, dass Tocqueville hier von Religionen im Plural spricht – womit er natürlich nicht sagen will, dass jeder Mensch mehrere Religionen braucht, sondern für unterschiedliche Menschengruppen durchaus unterschiedliche Religionen nötig sein können. Wobei auch bei Descartes das Cogito allein noch keine hinreichende Grundlage liefert. Ohne den das Wahrheitskriterium garantierenden allmächtigen und allgütigen Gott, würde Descartes im Solipsismus des „Ich denke, ich bin“ verharren, und die Wissenschaften wären nichts weiter als eine Beschreibung subjektiver Phänomene bzw. Bewusstseinsinhalte. Ohne Gott wäre Descartes also ein solipsistischer Phänomenist. Pascal ist der am öftesten erwähnte Denker in den zwei Bänden der Démocratie. Zum Einfluss Pascals auf Tocqueville, siehe u. a. Díez del Corral 1989, Kapitel V). „Le coeur a ses raisons, que la raison ne connaît point […]“, wie es in der schönen Formulierung Pascals heißt. Damit meint Pascal, dass wir bestimmte Sätze akzeptieren, ohne einen hinreichenden vernunftmäßigen Grund dafür zu haben. Die Vernunft kann dementsprechend nicht verstehen, wieso wir den betreffenden Satz akzeptieren, da sie immer nur das verstehen kann, was sich auch begründen lässt. Die Gründe des Herzens sind keine vernunftmäßigen Gründe, und dass Pascal sie trotzdem als Gründe bezeichnet soll nur ausdrücken, dass wir es hier mit etwas zu tun haben, das dieselbe Funktion wie vernunftmäßige Gründe spielt: Es bestimmt uns dazu, einen bestimmten Satz – als wahr bzw. als Richtschnur unseres Handelns – zu akzeptieren.

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bekommen kann. Wer sich nicht mit dieser gefühlsmäßigen Evidenz begnügt und nach einer rationalen sucht, wird zwangsläufig dem Skeptizismus verfallen. Die Vernunft muss ihren Anspruch aufgeben, alles selbst einsehen zu wollen, bevor sie es akzeptiert, und sie muss sich zum Glauben entscheiden. Diese Entscheidung impliziert u. a., dass sie von sich aus darauf verzichtet, diese gefühlten Wahrheiten rational zu hinterfragen. Um dem absoluten Skeptizismus zu entkommen, muss sie sich also selbst einschränken. Ihre Größe wird sie nur dann erreichen, wenn sie sich erniedrigt, wobei sie dies selbst einsieht. Was sich ihr hier zur Wahl bietet, sind nicht einerseits nur gefühlte und andererseits zunächst gefühlte und dann rational eingesehene oder einsehbare Wahrheiten, sondern einerseits gefühlte Wahrheiten und andererseits nichts, bzw. einerseits eine ihr durch die Gefühle vermittelte Basis und andererseits keine Basis. Insofern das, was für sie erste Wahl wäre, nämlich rational eingesehene Wahrheiten, nicht im Angebot vorhanden ist, und insofern sie es sich nicht leisten kann, keine Basis zu haben – denn das würde jedes Handeln unmöglich machen –, bleibt ihr nur eine einzige Option offen. Sie muss sich auf gefühlte Wahrheiten stützen, wenn sie überhaupt weiterkommen will (Pascal 1962, S. 237). Die Vernunft muss sich immer auf etwas stützen, was nicht von ihr kommt und was sie auch nicht im Nachhinein in sich integrieren kann. Sie ist also immer auf ein Anderes als sie selbst verwiesen, und dieses Verwiesen-Sein auf ein Anderes sollte sie, so Pascal, dazu bringen, bescheidener zu sein und ihren Anspruch aufzugeben, alle Dimensionen des menschlichen Seins zu umfassen. Pascal sollte allerdings nicht missverstanden werden. Er behauptet nicht, dass der Mensch aufhören soll, seine Vernunft zu gebrauchen. Auch wenn er an mehreren Stellen der Pensées die Schwachheit des Menschen hervorhebt, erkennt er doch auch explizit seine Größe und Würde an, und er bindet diese an die Denkfähigkeit: „Der Mensch ist sichtlich zum Denken geschaffen: das macht seine ganze Würde und seinen ganzen Verdienst aus, und seine gesamte Pflicht besteht darin, so zu denken, wie er soll. Aber die Ordnung des Denkens besteht darin, mit sich und mit dem Autor seiner selbst und seines Glaubens zu beginnen“ (Pascal 1962, S. 113). Die Anfangspunkte eines jeden Denkens sind dem Denken als solchen nicht zugänglich und sie können nur gefühlt werden. Paradoxerweise kann der Mensch seine Größe und Würde nur dort entfalten, wo seine Vernunft sich zunächst vor dem natürlichen Gefühl gedemütigt hat, wo sie also bestimmte Dinge einfach als gegeben hinnimmt, ohne sie kritisch zu hinterfragen, um sie nur unter der Bedingung ihrer rationalen Evidenz bzw. ihrer rationalen Beweisbarkeit zu akzeptieren. Die Vernunft setzt demnach etwas anderes als sich selbst voraus, um konstruktiv sein zu können. Oder noch anders gesagt: die Vernunft kann nur dann hoffen, voranzukommen, wenn sie vor bestimmten Aussagen halt macht. Ein solches Paradox findet man auch bei Tocqueville wieder.38 Er sieht in dem religiösen Glauben ein „heilsames Joch“ für die Vernunft: „Wenn die Religion bei einem Volk zerstört ist, ergreift der Zweifel die höchsten Teile der Intelligenz und 38

Mehrere Autoren haben auf dieses Paradox aufmerksam gemacht. Siehe etwa Battista 1976, Zuckert 1991 und Hancock 1991.

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lähmt zur Hälfte alle anderen. Jeder gewöhnt sich daran, nur konfuse und wechselnde Begriffe von jenen Materien zu haben, die seine Mitmenschen und ihn selbst am meisten angehen; man verteidigt seine Meinungen schlecht oder gibt sie auf, und, insofern man daran verzweifelt, selbst die allergrößten Probleme zu lösen, vor die das menschliche Schicksal einen stellt, hört man feige auf, an sie zu denken“ (Tocqueville OC I, 2, I, 5, S. 28).39 In den Augen Tocquevilles ist es somit nicht, wie die Gegner der Religion es oft behaupten, die Religion und ihre Dogmen, die die menschliche Vernunft lähmen, sondern es ist vielmehr der allgemeine Zweifel der sich einstellt, wenn der Mensch keine Dogmen mehr anerkennt, wenn ihm keine klaren und eindeutigen Orientierungspunkte mehr gegeben sind.40 Indem die Menschen sich dem religiösen Joch unterwerfen – und dieses religiöse Joch muss nicht unbedingt auch ein klerikales Joch sein, d. h. die Autorität der Dogmen muss nicht unbedingt auch die Form der Autorität einer religiösen Gruppe annehmen –, entgehen sie dem Zweifel. Indem sie dem Zweifel entgehen, erhalten sie ihre politische Handlungsfähigkeit.41 Indem sie ihre politische Handlungsfähigkeit erhalten, erhalten sie eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der politischen Freiheit. Wer sich dem religiösen Joch nicht unterwerfen will, wird sich, so Tocquevilles Überlegung, früher oder später dem politischen Joch des Despoten unterwerfen müssen. Aus der Sicht Tocquevilles besteht die Wahl also nicht darin, dass man sich entweder vom religiösen und vom politischen Joch befreit – „Ni Dieu, ni maître“, wie es bei den Anarchisten heißen wird42 –, oder dass man beiden unterworfen ist – „Un Dieu et un maître“, wie es bei den Verteidigern der absoluten Monarchie von Gottes Gnaden hätte heißen können –, sondern darin, dass man sich entweder dem religiösen Joch unterwirft, und dadurch politisch frei bleibt, oder aber sich dem religiösen Joch nicht unterwirft, dabei aber seine politische Freiheit verliert. Sich dem religiösen Joch zu unterwerfen, also die Autorität bestimmter Glaubenssätze zu akzeptieren, ohne sie durch die individuelle Vernunft beglaubigen zu lassen – denn sie lassen sich nicht durch die Vernunft beglaubigen – bedeutet für Tocqueville, jene moralischen Kräfte am Leben zu halten, ohne die der Despotismus nicht bekämpft werden kann.43 39 40

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In den Souvenirs schreibt Tocqueville, sein Geist sei ein solcher, der „die Gefahr weit weniger befürchtet als den Zweifel“ (Tocqueville OC XII, S. 105). Vielleicht sollte es genauer heißen, dass die Religion den menschlichen Geist lähmen kann, ihn aber nicht lähmen muss, während der Zweifel ihn nicht nur lähmen kann, sondern immer tatsächlich lähmt. Was bei der Religion bloß eine mögliche Gefahr ist, ist beim Zweifel eine intrinsische Gefahr. Der Zweifel ist an sich schlecht, die Religion ist es nur unter bestimmten Umständen. Oder noch anders formuliert: Jeder Zweifel ist lähmend, aber nicht jede Religion ist es. Dazu etwa de Sanctis 1993, S. 110. Man beachte aber, dass der sich selbst als Anarchist bezeichnende Proudhon – „Je suis anarchiste“ (Proudhon 1966, S. 295) – behauptet, dass alle Menschen von Natur aus an Gott glauben und dass das Vergessen der religiösen Pflichten zu der allgemeinen Korruption beitragen kann (Proudhon 1966, S. 65–66). Constant schreibt an einer Stelle, dass er das religiöse Joch dem politischen Despotismus vorzieht (Constant 1980b, S. 216). Ein Mensch der sich einem Gott unterwirft, tut dies gewöhnlich aus Überzeugung, während man sich einem Tyrannen aus Nutzenkalkül unterwirft. Auch erhält die Religion in uns das Pflichtgefühl lebendig, während man den Tyrannen gegenüber keine

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Smith bemerkt an einer Stelle, dass in den Augen Tocquevilles die größte Gefahr für die Freiheit des Menschen nicht darin besteht, dass der Staat die Menschen daran hindert, ihre Freiheit auszuleben – wobei der Wille, frei zu leben, vorausgesetzt wird –, sondern dass er sie darin unterstützt, die Bürde des Handelns auf sich zu nehmen (Smith 1991, S. 88).44 Angesichts des eben Gesagten wird man die Hypothese aufstellen können, dass der zum Despotismus neigende Staat ein Interesse daran hat, dass die Menschen sich von der Religion abwenden und dass ein solcher Staat gegebenenfalls eine solche Abwendung unterstützen wird. Und dies wird er eventuell dadurch tun, dass er den Menschen verspricht, sie vom religiösen Joch zu befreien. Die Religion, so Tocquevilles These, ist allein in der Lage, dem Menschen jene Glaubenssätze zu liefern, die als Grundlage für sein gesamtes Handeln dienen können und die ihn allein erst als ein handlungsfähiges Wesen konstituieren, als ein Wesen, dessen Eingriffe in die Welt und dessen Interaktionen mit seinen Mitmenschen nicht einfach einer zufälligen Laune entspringen oder das bloße Produkt der individuellen, jeder Gesetzmäßigkeit fremden Willkür sind, sondern eine strukturierte Form annehmen und auch begründet werden können. Genauso wie der Mathematiker nur rechnen kann, wenn er von bestimmten Ausgangshypothesen ausgeht, die er bei seinem Kalkül nicht in Frage stellt, soll auch der Mensch von bestimmten unhinterfragten Aussagen ausgehen. Wenn das Handeln – durchaus in dem Sinne, wie es Hannah Arendt verstand – für die Menschlichkeit des Menschen konstitutiv ist, und wenn der Glaube an bestimmte unhinterfragte Sätze ein solches Handeln erst möglich macht, dann kann man Lawler nur zustimmen wenn er behauptet, dass „das moderne philosophische Projekt von Grunde aus zerstörerisch

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Gehorsamspflicht empfindet. Man gehorcht dem Tyrannen, weil man Angst vor ihm hat. Im Gegensatz zu Tocqueville stellt Constant hier das religiöse Joch zwar nicht als eine Art Wunschzustand dar, aber er streicht doch die moralischen Vorteile eines solchen Jochs hervor. Diese Vorteile stammen nicht aus dem unterjochenden Charakter der Situation, sondern aus der Tatsache, dass die religiöse Dimension im Spiel ist. Auch bei Germaine de Staël heißt es: „Nur Gott und das Gesetz können dem Menschen befehlen, ohne ihn zu erniedrigen“ (Staël 2000a, S. 588). Dabei steht fest, dass der Mensch gehorchen muss, dass eine politische Gemeinschaft also den Gehorsam voraussetzt. Aber dieser Gehorsam darf nicht die menschliche Würde dem Ideal der sozialen Ordnung opfern. Dies würde aber geschehen, wenn Menschen lediglich der Willkür anderer Menschen gehorchen würden. Nur wenn die den Gehorsam fordernde Autorität keine Spur menschlicher Willkür trägt – und die Gesetze, in Staëls liberaler Auffassung, sollten frei von jeder solcher Spur sein –, kann der Mensch gehorchen, ohne sich zu erniedrigen. Er gehorcht dann nämlich nicht einem Willen, sondern der Vernunft. Ähnlich heißt es bei Lively: „Die Gefahr für die Freiheit lag ebenso bei den Menschen, die die Freiheit (und die mit ihr einhergehende Verantwortung) ablehnten, als darin, dass man sie ihnen vorenthielt“ (Lively 1962, S. 15). Es geht also nicht bloß und vielleicht sogar nicht hauptsächlich darum, einen Damm gegen einen Staat zu errichten, der den Menschen die Freiheit mit Gewalt abnehmen will, sondern die Menschen müssen sozusagen gegen sich selbst geschützt werden, sie müssen dazu gebracht werden, sich so zu verstehen, dass die Freiheit für sie keine Option ist, auf die sie durchaus verzichten können, sondern dass sie die Freiheit wollen müssen, auch wenn sie mit Verantwortung verbunden ist.

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für die Menschlichkeit ist“ (Lawler 1992b, S. 96).45 Das hier angesprochene moderne philosophische Projekt ist das Projekt einer vollständigen Vernunftbegründung: Der Mensch soll keinen Glaubenssatz mehr annehmen, der sich nicht auf dem Wege der Vernunft beweisen lässt. Dieses Projekt trägt der Menschlichkeit des Menschen zwar insofern Rechnung, als es die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt stellt, aber es gefährdet diese Menschlichkeit, insofern es die Verankerung dieser Vernunft in etwas Vorvernünftigem leugnet und dadurch die Basis zerstört, auf der sich erst der Gebrauch der Vernunft entfalten kann. Tocqueville spricht in diesem Zusammenhang mehrmals von „Ideen über Gott und die menschliche Natur“ (Tocqueville OC I, 2, I, 5, S. 30)46, eine Formulierung die ganz stark an Pascal erinnert, bloß dass Tocqueville zuerst von Gott, und dann erst von uns selbst spricht, während Pascal an der vorhin zitierten Stelle zuerst von uns selbst und dann vom Schöpfer sprach. Doch beiden Denkern ist gemeinsam, dass sie ein Handeln immer nur vor dem Hintergrund bestimmter metaphysischer, genauer noch religiöser Ideen konzipieren. Dabei meint Tocqueville nicht rein theoretische theologische Aussagen, sondern theologische oder religiöse Aussagen mit einer praktischen, und d. h. moralischen Relevanz. Wichtig ist nicht so sehr, dass die Menschen rein theologische Aussagen über die Natur Gottes akzeptieren – z. B. dass Gott eine Person in drei ist, oder umgekehrt drei Personen in einer –, wichtig ist vielmehr, dass sie religiös begründete Aussagen über sich selbst und die ihnen angemessene Handlungsweise akzeptieren. Nur wenn der Mensch ein bestimmtes Bild von sich selbst – und damit auch von seinen Mitmenschen und den Beziehungen zu diesen Mitmenschen – hat und dieses Bild als unhinterfragte Grundlage seines Handelns anerkennt, kann er überhaupt ein kohärentes Handeln an den Tag legen. Dieses Bild muss ihm nicht unbedingt bis in die letzten Einzelheiten bewusst sein, sondern es kann auch unbewusst auf ihn wirken und sein Handeln bestimmen. Dieses Bild muss aber in etwas verankert sein, das der menschlichen Vernunft und damit auch dem von dieser Vernunft ausgehenden Zweifel entzogen ist. Und für Tocqueville kann dies nur die Religion sein. In seinen Augen steht der Mensch nicht vor der Wahl, ob er ein rational begründetes oder ein religiös begründetes Menschenbild akzeptiert, sondern ob er ein religiös begründetes oder ein letzten Endes unbegründetes Menschenbild annimmt. Tocqueville hätte prinzipiell, wie etwa Hume es vor ihm getan hatte, ein allen Menschen natürliches Gefühl oder allgemeine Gesetze der menschlichen Psychologie als mögliche Quelle annehmen können, aber der Hinweis auf das bloße natürli45

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Lawler hat allerdings unrecht wenn er in demselben Aufsatz behauptet, Tocqueville habe sich nie als Philosophen bezeichnet (Lawler 1992b, S. 91). In einem Brief an Reeve aus dem Jahr 1837 ist die Rede von „ein[em] Philosoph[en] wie ich“ (Tocqueville OC VI, 1, S. 39). Zwei Jahre später bedauert Tocqueville in einem Brief an Kergorlay, dass er den „Standpunkt eines beobachtenden Philosophen“ einnimmt (Tocqueville OC XIII, 2, S. 64). Tocqueville bezeichnet sich also durchaus als Philosophen. Allerdings wird der Begriff des Philosophen in einem weiten Sinn gebraucht und Tocqueville ist sich selbstverständlich bewusst, dass er kein Fach­ philosoph ist. Tocqueville ist in dem Sinne Philosoph, als er sich allgemeine Gedanken über die Menschheit macht, sich also jene ewigen Fragen stellt, die man mit der Philosophie assoziiert. In einem Brief an Beaumont spricht Tocqueville von den „hohen und heilsamen Theorien über die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele“ (Tocqueville OC VIII, 1, S. 292).

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che Gefühl oder die Funktionsweise der menschlichen Psyche besitzen nicht genügend Autorität bzw. sie schaffen keine verbindliche Normativität. Eine Humesche Antwort mag zwar wohl als Erklärung genügen, nicht aber als Begründung und wahrscheinlich auch nicht als Motivationsfaktor. Es mag interessant sein zu wissen, wieso ich ein bestimmtes Menschenbild habe, aber daraus lässt sich noch nicht begründen, warum ich dieses Menschenbild haben soll und wieso die in diesem Menschenbild enthaltenen Elemente von mir als Werte anerkannt werden müssen. In dieser Hinsicht stimmt Tocqueville mit Kant überein, der mit Humes Erklärung des natürlichen Glaubens an die Kausalität unzufrieden war. Hume hatte den Glauben an die Kausalität in den natürlichen Funktionsmechanismen unseres Geistes verankert und damit eine psychologische Erklärung gegeben: Wir glauben, dass es Kausalverhältnisse gibt, weil unser Geist auf eine bestimmte Weise funktioniert (Hume 1975, S. 24 ff.). Und selbst wenn jemand uns mittels eines perfekten rationalen Beweises zeigt, dass wir nicht den geringsten Grund haben, die objektive Existenz von Kausalverhältnissen zu akzeptieren, wird das de facto Funktionieren unseres Geistes eine Ursache sein, mittels derer man erklären kann, wieso die rationalen Argumente den Glauben nicht in uns zerstören können. Für Hume war dies eine Situation, die man hinnehmen musste: Entweder glaubte man schlichtweg an die Existenz von Kausalverhältnissen und trieb dann Naturwissenschaften47, oder man störte sich an dem nicht rational begründeten Glauben an Kausalverhältnisse und entschied sich dafür, erst dann Naturwissenschaften zu betreiben, wenn dieser nicht rational begründete Glaube sich in eine rational bewiesene Wahrheit verwandelt hat und d. h., akzeptiert man die Humeschen Grundlagen, dass dies nie der Fall sein wird. Für Kant war eine rein psychologische Erklärung des Glaubens an das Kausalverhältnis nicht zufriedenstellend, da sie die Kausalität, und damit auch die Wissenschaften, auf wacklige Füße stellte. Der dogmatische Schlummer sollte nicht in einen, aus Kants Perspektive betrachtet, chaotischen Albtraum verwandelt werden. Kants Transzendentalphilosophie wird die Kausalität als Verstandeskategorie deuten, und damit als konstitutiven Bestandteil von Natur überhaupt. Ohne die Kategorien gäbe es keine von uns erfahrbare Welt oder Natur, d. h. es gäbe kein geordnetes und verstehbares System von Phänomenen. Wer demnach die Kausalität nicht immer schon voraussetzt, wird niemals erklären können, wie es eine Natur geben kann, in welcher wir mehrmals beobachten, dass ein Phänomen B auf ein Phänomen A folgt, um dann – wie es Hume sagte – durch Ideenassoziation zum Glauben zu gelangen, dass A die Ursache von B ist. Während Hume behauptet, dass es erst die Ideenassoziation ist, die überhaupt die Idee der Kausalität konstituiert, sucht Kant nach einer anderen als einer bloß psychologischen Erklärung.

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Bei Hume kann keine Rede von einer Entscheidung zu glauben sein. Der natürliche Glaube ist einfach da und man kann sich höchstens dafür entscheiden, diesen Glauben als falsch oder als rational unbegründet zu betrachten. Aber diese letzte Entscheidung bringt den Glauben nicht zum Verschwinden. Sie kann aber, so würde Tocqueville vielleicht sagen, zu einer Lähmung führen, nämlich in dem Sinne, dass man einem als falsch angesehenen Glauben nicht mehr trauen und demnach auch nicht mehr nach ihm handeln wird.

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Kants transzendentale Deduktion unternimmt den Versuch zu beweisen, dass die Verstandeskategorien objektive Gültigkeit besitzen, so dass wir berechtigt sind, sie überall anzuwenden. Wir sollen uns somit nicht damit begnügen so zu tun, als ob die Welt Kausalrelationen enthält, sondern wir dürfen – und müssen – annehmen, dass sie solche Kausalrelationen tatsächlich enthält. Allerdings dürfen wir diese Annahme nur für die Welt als Phänomen, also die Welt für uns, machen, nicht für die Welt an sich. Diese wird sich unserer Erkenntnis stets entziehen, und wir sollten darauf verzichten, in ihr nach Wissen zu suchen. Allerdings, und das ist eine der wichtigsten Konsequenzen die Kant aus seiner Kritik der reinen Vernunft zieht, kann die Welt an sich Gegenstand des Glaubens sein. In seiner praktischen Philosophie arbeitet Kant mit den sogenannten Postulaten der praktischen Vernunft. Soll moralisches Handeln nicht nur geboten, sondern auch sinnvoll sein – wobei es seinen Gebotscharakter allerdings nicht aus seiner Sinnvollheit bezieht –, dann müssen wir annehmen, dass der Mensch frei ist, dass die Seele unsterblich ist, und dass es einen Gott gibt, der für die Kongruenz von Moral und Glückseligkeit – und in dieser Kongruenz besteht das höchste Gut – sorgen wird. Diese Postulate können nicht mittels der theoretischen Vernunft bewiesen werden – und sind demnach nicht Gegenstand des Wissens –, sie entstammen aber auch nicht dem Gefühl oder gar der Erfahrung. Sie müssen vielmehr von der menschlichen Vernunft gesetzt werden, postuliert, um dadurch dem menschlichen Handeln den notwendigen Sinnhorizont zu geben. Ohne sie hört die Pflicht nicht auf, Pflicht zu sein, aber ohne sie wird ihr ein Sinnhorizont entzogen.48 Für Tocqueville müssen bestimmte Aussagen über den Menschen in einer als transzendent gedachten Seinssphäre verankert werden, denn nur so kann man ihnen den nötigen Halt und die nötige Autorität geben und verhindern, dass sie vom Menschen in Frage gestellt werden. Tocqueville geht es dabei nicht so sehr darum, die Wahrheit dieser Aussagen in einem unbezweifelbaren Evidenzerlebnis zu garantieren, als vielmehr ihre allgemeine Akzeptanz. Nicht die rationale Evidenz der betreffenden Aussagen soll den menschlichen Geist zwingen, sie als Grundlage seines Handelns zu akzeptieren, sondern der Glaube, dass sie göttlichen Ursprungs sind. Die in ihrem göttlichen Ursprung enthaltene Autorität bzw. der Glaube an einen solchen Ursprung ist in einem gewissen Sinn wichtiger als ihre Wahrheit – die man wahrscheinlich sowieso nie mit allerletzter Gewissheit beweisen können wird.

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In der Tugendlehre spricht Kant von einer Pflicht zur Religion. Zur Frage, wie Kant diesen theoretischen Schritt vollzogen hat und damit seinen eigenen Äußerungen in der Kritik der praktischen Vernunft scheinbar widerspricht – dort hatte er nämlich die Religion nämlich als Gegenstand eines bloßen Bedürfnisses bezeichnet –, siehe Campagna 2013a. Zu dieser Problematik, siehe auch Spiertz, die von einer „unentschiedene[n] und unentscheidbare[n] Haltung Kants gegenüber der Religion“ spricht (Spiertz 2013, S. 67). Womöglich hat der anthropologische Pessimismus bei Kant die Überhand genommen, so dass er die Achtung vor dem moralischen Gesetz bei den meisten Menschen nur dann als garantiert sieht, wenn diese Menschen auch an Gott glauben. Die Pflicht zur Religion wäre demnach die Pflicht, ein solches Motiv anzunehmen, das die Achtung vor dem moralischen Gesetz garantiert. Damit wäre die Religion zwar immer noch im Begründungsdiskurs abwesend, aber sie hätte einen wichtigen Platz im Motivationsdiskurs gefunden.

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Bei Tocqueville bildet der Glaube an die göttliche Vorsehung eine Art Postulat der liberalen Vernunft.49 Deren höchstes Gut, wenn der Ausdruck hier erlaubt ist, ist die Kongruenz der Gleichheit mit der Freiheit, wie sie sich allein in einer liberalen – Aspekt der Freiheit – Demokratie – Aspekt der Gleichheit – realisieren lässt.50 Tocqueville sieht in der Entwicklung zur Demokratie, also zu einer immer größeren Angleichung der sozialen Verhältnisse, eine unaufhaltsame Tendenz der menschlichen Gesellschaften und führt diese Tendenz nicht auf unpersönliche Kräfte zurück, sondern erkennt oder ahnt in ihr das Werk der göttlichen Vorsehung. Es gibt eine den Menschen übergeordnete intelligente Macht, die seit Jahrhunderten dafür sorgt, dass sich ihre soziale Situation immer mehr angleicht. In der Einleitung zum ersten Band der Démocratie zeichnet er in groben Zügen den Vormarsch der Gleichheit seit dem Mittelalter nach. Die Ereignisse der letzten Jahrhunderte sind für ihn „sichere Zeichen“ des göttlichen Willens und diese der Beobachtung zugänglichen Zeichen machen eine göttliche Offenbarung im eigentlichen Sinn überflüssig (Tocqueville OC I, 1, I, 1, S. 4). Wer sich die Mühe gibt, diese Zeichen als das zu verstehen, was sie sind, „würde dieser Entwicklung [in Richtung Gleichheit – N. C.] den heiligen Charakter des Willens des souveränen Herrn“ geben (Tocqueville OC I, 1, I, 1, S. 5). Es ist also nicht nötig, dass Gott uns durch eine ausdrückliche Offenbarung mitteilt, dass wir uns auf die Seite der Demokratie schlagen sollten, statt die Institutionen und Gedanken der aristokratischen Gesellschaft zu verteidigen. Der Verlauf der Geschichte der vergangenen Jahrhunderte genügt hier, um den göttlichen Willen zu interpretieren: Gott will die Gleichheit.51 49

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Mitchell ist der Meinung, dass Tocqueville zwar ein providentialistisches Vokabular benutzt, dass er es aber derart von allem Göttlichen befreit, dass man am Schluss vor einer „divine absence“ steht, also vor einem Zustand der menschlichen Angelegenheiten, in dem man keine Spur Gottes mehr wiederfindet (Mitchell 1992, S. 387–88). Diese Behauptung scheint mir etwas übertrieben zu sein. Unabhängig von der Frage, ob und inwiefern Tocqueville selbst an seine eigene providentialistische Rhetorik geglaubt hat, so lässt diese doch an keiner Stelle Gott ganz verschwinden. Auch wenn er nicht immer explizit von göttlicher Vorsehung spricht, so steht doch außer Zweifel, dass er die Vorsehung immer als eine göttliche meint. Bei Tocqueville ist Gott zwar nicht so präsent wie etwa bei Bossuet, aber man findet ihn bzw. seine Erwähnung an mehreren Stellen der Démocratie wieder. Aus der Sicht Tocquevilles kann es sowohl liberale als auch illiberale Demokratien geben, genauso wie sich liberale und illiberale Aristokratien finden lassen. Der Begriff der liberalen Demokratie ist also bei Tocqueville kein Pleonasmus, genauso wenig wie derjenige einer liberalen Aristokratie ein Oxymoron ist. Für viele politische Denker des XIX. Jahrhunderts, war Demokratie nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Während für ihre Vorfahren die Aufgabe darin bestand, innerhalb der Monarchie Räume für die Freiheit zu schaffen oder zu garantieren, bestand für die liberalen Denker des XIX. Jahrhunderts die Aufgabe darin, innerhalb der Demokratie Räume für die Freiheit zu schaffen oder zu garantieren. Auch wenn man ihre Lösungen bezüglich der Bewahrung der Freiheit innerhalb der Demokratie nicht akzeptiert, so sollte man doch das von ihnen erkannte Problem ernst nehmen. Tocqueville, so West, zweifelt an der Wahrheit der Idee der Gleichheit, aber er kommt nicht umhin, die Gleichheit als ein Faktum zu akzeptieren, das in den modernen Gesellschaften eine strukturierende Funktion hat und ihnen ihre spezifische Identität gibt (West 1991, S. 174). Tocqueville, so könnte man hier sagen, akzeptiert die Normativität des Faktischen. Und der religiöse Diskurs – Gott will die Gleichheit – soll diese Normativierung des Faktischen untermauern. Das Faktum ist kein rein natürliches, sondern ein gottgewolltes. Nur wenn dieser Bezug zu

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Tocqueville ist sich bewusst, dass es sich hier um eine prinzipiell durch die Vernunft widerlegbare Interpretation handelt bzw. dass sich prinzipiell daran zweifeln lässt, dass Gott die Demokratie will. Eine Vernunft die an allem zweifelt und die sich nicht zufrieden gibt, bevor sie etwas gefunden hat, das jedem möglichen rationalen Zweifel widersteht, wird sich nie über den Gang der Geschichte sicher sein können. Damit wird eine solche Vernunft auch nie mit absoluter Gewissheit wissen können, wofür sie kämpfen soll. Und wenn sie sich und ihrem Ideal absoluter rationaler Gewissheit treu bleiben will, dann wird eine solche Vernunft sich auch nie politisch engagieren. Hier haben wir also wieder den Gedanken der Lähmung. Nur wer fest an einen Sinn in der Geschichte glaubt, aber an einen Sinn, den der Mensch noch zum teil mitgestalten kann, wird sich politisch engagieren. Und die Stärke des Engagements wird von der Stärke des Glaubens abhängen. Aber die Stärke des Glaubens muss nicht von der Stärke der rationalen Gründe abhängig sein, die für ihn sprechen. Es steht jedoch noch weitaus mehr auf dem Spiel. Indem Tocqueville die Demokratie als einen gottgewollten sozialen Zustand darstellt, gibt er implizit zu verstehen, dass man sich Gott widersetzt, wenn man sich der Demokratie widersetzt, und dass man auf Gottes Seite steht, wenn man für die Demokratie kämpft. Auch wenn Tocqueville die Demokratie nicht besonders liebt, so sagt ihm seine Vernunft, dass er keine andere Wahl hat, als sie zu akzeptieren und für ihre allgemeine Akzeptanz einzutreten.52 Tocquevilles Glaube an die demokratische Zukunft stammt in dieser Hinsicht nicht von seinem Herzen, sondern aus einer bestimmten Interpretation der beobachtbaren Tatsachen. Diese Interpretation weist dann aber auf etwas hin, das selbst nicht eine beobachtete Tatsache ist, sondern gleichsam ein Postulat der politischen Vernunft. Damit die politische Vernunft sich für die Demokratie einsetzt bzw. damit sie sich ihr zumindest nicht widersetzt, muss diese ihr als ein gottgewolltes Faktum erscheinen. Die im Rahmen der reinen Immanenz verbleibende Deutung der empirisch feststellbaren historischen Ereignisse genügt also noch nicht. Sie muss mit „Ideen über Gott“ in Verbindung gebracht werden, nämlich mit der theistischen Idee, dass Gott den Lauf der Welt lenkt. Letztere Idee ist aber nicht empirisch feststellbar und kann auch nicht mit rein rationalen Mitteln bewiesen werden. Sie ist Gegenstand eines Glaubens. Der Glaube an die Gottgewolltheit der Demokratie ist eine jener Meinungen, die zumindest alle jene nicht hinterfragen dürfen, die sich für die Demokratie einsetzen wollen. Ob Tocqueville tatsächlich selbst daran geglaubt hat, dass die De-

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Gott etabliert wird, kann das Faktische zugleich auch einen normativen Anspruch erheben. Der rein immanent gedachten Natur – wie Charles Darwin, der Zeitgenosse Tocquevilles, sie beschreibt – lässt sich keine Normativität entnehmen. Interessant ist in diesem Kontext Tocquevilles Verurteilung des Hegelianismus, dem er die Legitimierung des Faktischen vorwirft und in dem sowohl die Wurzel des Antispiritualismus als auch des Sozialismus sieht (Tocqueville OC XV, 2, S. 108). Die hier erwähnte Vernunft sollte allerdings nicht mit der Vernunft im Sinne Kants verwechselt werden, sondern sie ist eher als Klugheit zu verstehen. Insofern Tocqueville davon überzeugt ist, dass man den Vormarsch der Demokratie nicht mehr aufhalten kann, hat es einfach keinen Sinn mehr für ihn, gegen sie anzukämpfen. Dieser Kampf wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

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mokratie gottgewollt ist, lässt sich nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Er hatte den religiösen Glauben in seiner frühen Jugend verloren, sah sich aber selbst als jemanden, der unter diesem Glaubensverlust litt. An und für sich hätte er gerne ehrlich geglaubt, aber den verloren gegangenen religiösen Glauben stellt man nicht wieder durch eine Willensentscheidung her.53 Man kann in einer solchen Situation höchstens nur so tun, als ob man glaubt, und sich in seinen Schriften dementsprechend ausdrücken, was Tocqueville auch tut. Dadurch kann man eventuell in anderen Menschen, die den Glauben noch haben, etwas ausrichten – und vielleicht sich selbst vorspiegeln, dass man glaubt.54 Hängt der Glaube an die demokratische Zukunft der Menschheit von dem Glauben ab, dass die göttliche Vorsehung diese Zukunft will, so steht es anders um die liberale Zukunft der Menschheit. Hat der Mensch keine Möglichkeit mehr, die demokratische Zukunft zu verhindern, so hängt es von seinem Willen ab, ob diese demokratische Zukunft eine liberale oder eine despotische sein wird, ob die Menschen frei sein werden, oder unter der Herrschaft einer ihnen wohlwollenden paternalistischen Regierung leben werden. Bei dieser Frage muss Tocqueville wenigstens an die Möglichkeit glauben, dass sich die despotische Variante der Demokratie verhindern lässt. Wer nicht an diese Möglichkeit glaubt, wer also davon ausgeht, dass Gott nicht nur die Demokratie, sondern auch den demokratischen Despotismus will, wird sich nicht für die liberale Demokratie einsetzen. Man kann natürlich nicht beweisen, dass Gott den Menschen die Freiheit gelassen hat, zwischen den beiden Varianten der Demokratie zu wählen. Man kann dies höchstens postulieren. Und wo, wie es bei Tocqueville der Fall ist, die menschliche Freiheit ein Gegenstand der stärksten positiven Gefühle ist, kann dieses Postulat den Willen im Sinne der menschlichen Freiheit zu handeln nur bekräftigen. Wenn Tocquevilles Vernunft sich für die Demokratie entscheidet, so schlägt sein Herz für die Freiheit. Sein Herz sagt ihm, dass er die Freiheit mit allen Mitteln verteidigen muss, und seine Vernunft sagt ihm, dass eine Verteidigung der Freiheit nur dann Hoffnung auf Erfolg hat, wenn sie den Rahmen der demokratischen Gleichheit akzeptiert. Mochte die aristokratische Gesellschaft auch bessere Bedingungen für die Verteidigung der Freiheit bieten, so gehört diese

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„Man verfügt über seinen Willen, man verfügt über seine Handlungen, aber was den Glauben betrifft, inwiefern verfügt man darüber?“, schreibt er in einem Brief an Sophie Swetchine vom 4. August 1856 (Tocqueville OC XV, 2, S. 283). Sechs Jahre früher schriebt er an Corcelle, dass, wenn der Wille zu glauben genügen würde, dann wäre er schon seit langem ein devoter Mensch bzw. er wäre Zeit seines Lebens ein solcher Mensch geblieben. Der Zweifel, so Tocqueville weiter, ist schlimmer als der Tod (Tocqueville OC XV, 2, S. 29). Richard Herr schreibt Tocqueville eine sehr große Fähigkeit zur Selbsttäuschung („self-deception“) zu (Herr 1962, S. 95). Es könnte aber auch sein, dass Tocqueville nur seine Leser täuschen will und also nur so tut, als ob er wirklich an das glaube, was er scheibt. Ein genauer Vergleich der Briefe und der für die Veröffentlichung verfassten Texte wäre in dieser Hinsicht interessant und könnte Aufschluss darüber geben, ob Tocqueville jene Kunst der Täuschung praktiziert, die Leo Strauss bei einigen politischen Schriftstellern findet.

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Gesellschaft endgültig der Vergangenheit an. An dem Dogma der Souveränität des Volkes soll man nicht mehr rütteln.55 Dabei kann die Vernunft als solche nicht beweisen, dass der Mensch als frei existieren soll, d. h. die Vernunft allein kann, so verstehe ich Tocqueville, den Willen nicht bestimmen, sich für die liberale Demokratie einzusetzen. Insofern es sich um eine utilitaristisch geprägte Vernunft handelt56, also um eine Vernunft, die sich in den Dienst der materiellen Bedürfnisse stellt und nach den Mitteln Ausschau hält, die ihrer unmittelbaren Befriedigung dienen, würde sie wahrscheinlich der despotischen Demokratie den Vorzug geben, da diese eine Befriedigung dieser Bedürfnisse verspricht – allerdings um den Preis der Freiheit. Den unbedingten Wert der Freiheit kann eine solche Vernunft nicht begründen, so dass man, würde man sich nur auf sie verlassen, niemals die Gewissheit dieses unbedingten Wertes haben würde. Dessen Gewissheit hat nur der, der ihn fühlt. Dieses Gefühl drückt sich natürlich in Sätzen aus, und diese Sätze sind Gegenstände des Glaubens. Diese Glaubenssätze dürfen nicht hinterfragt werden, da ansonsten ihre Falschheit aufgedeckt, oder zumindest ihre Gewissheit, gefährdet werden könnte. Damit wäre aber zugleich ihre handlungsbestimmende Funktion erschüttert. Wer nicht mehr fest daran glaubt, dass der Mensch ein Wesen ist, das Würde besitzt, wird auch weniger enthusiastisch sein, wenn es darum geht, sich für diese Würde einzusetzen und gegebenenfalls dafür sein Leben zu opfern. In der Einleitung zum ersten Band der Démocratie sagt Tocqueville, sein Vorhaben bestehe u. a. darin, den Glauben an die Demokratie „wenn es geht“ wieder zu beleben (Tocqueville OC I, 1, I, 1, S. 5).57 Die Demokratie muss lernen, an sich zu glauben, und vor allem muss der demokratische Mensch lernen, dass er eine Würde besitzt, dass er der Freiheit würdig ist, und dass er die Sorge um sein Wohl gegebenenfalls hinter die Sorge um seine Würde zurückstellen muss. Wenn es Tocqueville nicht gelingt, diesen Glauben der Demokratie wieder zu beleben, dann wird sie sich endgültig auf dem Weg des Despotismus befinden: „Was mich betrifft, so zweifle ich daran, ob es dem Menschen je gelingen kann, gleichzeitig eine vollständige religiöse Unabhängigkeit und eine völlige politische Freiheit auszuhalten; und ich bin geneigt zu denken, dass er, wenn er keinen Glauben hat, dienen muss, und, wenn er frei ist, glauben muss“ (Tocqueville OC I, 2, I, 5, S. 29). Freiheit setzt Gewissheit voraus und Gewissheit setzt feste Meinungen voraus. Die Vernunft allein kann dem Menschen diese festen Meinungen nicht geben.58 Also muss er sie woanders finden, nämlich in der Religion. Die Religion entzieht bestimmte ihrer Aussagen der kritischen Vernunft, und durch diesen Entzug gelingt 55

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Der Versuch, das Prinzip der Souveränität des Volkes in Frage zu stellen, erschiene heute als „absurd und illegitim“ (Craiutu 2003, S. 145). In manchen Ländern könnte eine Partei die sich etwa für die Wiedereinführung einer absoluten Monarchie ausspricht, wegen Verfassungsfeidnlichkeit verboten werden. Spuren einer reinen praktischen Vernunft im Sinne Kants findet man bei Tocqueville keine. „[R]animer s’il se peut ses croyances“, heißt es im Original. Auch wenn Tocqueville die übertriebenen Ansprüche der Vernunft kritisiert, so geht es ihm doch letzten Endes immer – auch – darum, die Bedingungen eines geregelten Gebrauchs der Vernunft zu retten.

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es, diese Aussagen als Gewissheiten erscheinen zu lassen. So, und nur so, laut Tocqueville, können sie das Fundament für unser Handeln bilden. Sie bilden allerdings nicht nur ein Fundament, sondern auch einen Rahmen, vor allem einen normativen Rahmen. An dieser Stelle ist auf das schon mehrmals erwähnte Dogma der Volkssouveränität einzugehen, das Tocqueville an mehreren Stellen der Démocratie erwähnt. So schreibt er zu Beginn des ersten Bandes der Démocratie: „Wenn man von den politischen Gesetzen der Vereinigten Staaten sprechen will, muss man immer mit dem Dogma der Souveränität des Volkes beginnen“ (Tocqueville OC I, 1, I, 4, S. 54).59 Dieses Dogma hat eine strukturierende Funktion und bildet den unhinterfragten und nicht mehr hinterfragbaren Horizont des politischen Lebens. In einer demokratischen Gesellschaft wird das Prinzip der Volkssouveränität kaum noch, wenn überhaupt, in Frage gestellt, und wer es dennoch wagt, es radikal in Frage zu stellen, wird mit einer allgemeinen Welle der Entrüstung und eventuell mit einem Prozess wegen Verbreitung verfassungsfeindlicher Werte – oder so ähnlich – rechnen müssen. Für das moderne Staatsdenken lässt sich so gut wie keine Alternative zur Volkssouveränität mehr vorstellen, und es geht diesem Staatsdenken lediglich nur noch um die Frage, wie die Ausübung oder der Ausdruck der Volkssouveränität organisiert werden sollten. Wir streiten nicht mehr darüber, ob alle Macht vom Volk ausgeht, sondern darüber, ob das souveräne Volk sich nur in Wahlen oder auch in bindenden Volksbefragungen ausdrücken sollte, ob es seinen Willen bei der Gesetzgebung nur über den Willen seiner Abgeordneten äußern sollte, oder unmittelbar. Vom linken bis zum rechten Extrem des politischen Spektrums ist der Begriff der Demokratie der zentrale Begriff des politischen Diskurses. Ohne hier die Geschichte des Gedankens der Volkssouveränität bis zu seinen antiken Quellen zurückverfolgen zu wollen, begnüge ich mich mit dem Hinweis auf die frühneuzeitlichen Quellen dieses zum Strukturmerkmal moderner politischer 59

Auch Donoso Cortés spricht vom „Dogma der Volkssouveränität“ (Cortés 1984, S. 22). Er sieht in ihm „eine Maschine, die der Menschheit zur Zerstörung des Werkes von zwölf Jahrhunderten gedient hat“ (Cortés 1984, S. 22). An einer Stelle des Manuskripts die er nicht für sein Hauptwerk zurückbehalten hat, meint Tocqueville: „Das Dogma der Souveränität des Volkes, man darf es nicht vergessen, hat nicht als Ziel für das Volk das zu tun, was es wollen sollte, sondern alles, was es will“ (Tocqueville/Nolla 2009a, S. 109 Fußnote p). Damit will Tocqueville zu verstehen geben, dass das wahre Verständnis der Volkssouveränität einen normativen Kern hat und den empirisch gegebenen Willen des Volkes nicht als letzten Referenzpunkt nimmt. Würdig, absolut respektiert zu werden, ist nur Wille des Volkes, der vollkommen aufgeklärt ist. Die Frage ist berechtigt, ob Tocqueville sich an Montesquieus berühmter Definition der Freiheit inspiriert hat. Montesquieu schriebt nämlich: „Es stimmt, dass in den Demokratien das Volk das tut, was es will; aber die politische Freiheit besteht nicht darin, das zu tun, was man will. In einem Staat, d. h. in einer Gesellschaft in welcher es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man tun soll, und nicht dazu gezwungen zu sein, das zu tun, was man nicht wollen soll“ (Montesquieu EL XI, 4, S. 395). Auch Prévost-Paradol macht auf eine der Demokratie zu Grunde liegenden Fiktion aufmerksam. Es handelt sich um die Fiktion, „dass die größte Zahl der Bürger einen vernünftigen Gebrauch ihres Wahlrechts macht, und immer mit Scharfsinn das sieht, das der Gerechtigkeit entspricht und dem Allgemeinwohl nutzt“ (Prévost-Paradol 1981, S. 166). Die wesentliche Frage ist, ob man so tun sollte, als entspreche diese Fiktion der Wirklichkeit. Tut man es, dann wird sie zum Dogma.

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Theorien gewordenen Gedankens. Diese Quellen sind religiöser Natur. Für die spanischen Denker der zweiten Scholastik – wie etwa der Dominikaner Francisco de Vitoria60 –, hat Gott, sieht man von der einen oder anderen Episode des Alten Testaments ab, keiner bestimmten Person die Ausübung der politischen Souveränität delegiert, sondern der Gesamtheit, also dem gesamten Volk.61 Und nur weil das Volk aus praktischen Gründen nicht in der Lage war, diese ihm delegierte Souveränität selbst auszuüben, hat es deren Ausübung an einen Fürsten weiterdelegiert, mit oder ohne Auflagen. Dass Gott dem gesamten Volk und nicht einer Person die Souveränität delegiert hat, lässt sich natürlich nicht beweisen bzw. lässt es sich nur durch das Anführen bestimmter Bibelstellen beweisen.62 Doch diese Bibelstellen werden höchstens nur denjenigen überzeugen, der an Gott glaubt und der in der Bibel das Werk Gottes sieht. In dieser Hinsicht bleibt der Gedanke der Volkssouveränität an den Gedanken Gottes gebunden. Insofern Gott dem Volk die Ausübung der politischen Souveränität delegiert hat, hat er sozusagen zugleich die mit dieser Ausübung einhergehenden Begrenzungen delegiert. Da Gott als absolut gerechtes Wesen konzipiert wird, kann er den Menschen die Ausübung der politischen Souveränität nur mit der Auflage delegiert haben, dass sie keinen ungerechten Gebrauch davon machen. Und genauso kann das Volk sie dann auch weiter an einen Fürsten mit der Auflage delegieren, dass dieser keinen ungerechten Gebrauch davon macht.63 Doch während es nachweisbare Spuren dieser letzten Form von Delegation gibt, gibt es keine nachweisbaren Spuren der ersten. Hier muss man einfach daran glauben, dass Gott dem Volk die Ausübung der Souveränität delegiert hat bzw. man glaubt der Bibel wenn sie sagt – oder den Bibelinterpreten wenn sie sagen –, dass dem so ist.64 60 61

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Zu Vitorias Rechts- und Staatsdenken, siehe Campagna 2010. Wer zum Volk gehörte, dem die Souveränität übertragen wurde, war eine andere Frage. Grundsätzlich hatte Gott die politische Souveränität nur den Männern übertragen bzw. allgemeiner all jenen Individuen, die Herr über sich selbst waren und nicht in einer naturbedingten Abhängigkeit von einem anderen lebten – wie es, so glaubte man zumindest, für Frauen und Kinder der Fall war. Man könnte hier sagen, dass wenn sich nicht beweisen lässt, dass einem bestimmten Individuum oder einer nicht mit dem Volk identischen Gruppe von Individuen die Ausübung der Souveränität delegiert wurde, implizit bewiesen ist, dass die Souveränität ursprünglich dem Volk delegiert wurde. Hier dreht sich alles um die Frage, wer die Beweislast zu tragen hat. Im modernen Denkrahmen trägt derjenige die Beweislast, der den Gedanken der Volkssouveränität in Frage stellt. Dabei muss betont werden, dass der Gedanke der Volkssouveränität, insofern er das moderne politische Denken strukturiert, nicht innerhalb dieses Denkens angefochten werden kann. Diese Auflage ist in Wirklichkeit immer schon gegeben, und wenn das Volk den Herrscher vertraglich an die Einhaltung der Gerechtigkeit bindet, dann macht es lediglich eine immer schon vorgegebene Auflage explizit. Der Herrscher wäre auch ohne den Vertrag an die Einhaltung der Gerechtigkeit gebunden gewesen. Durch seine Unterschrift unter den Vertrag bekräftigt er nur diese Bindung. Auch Cortés weist auf die göttlichen Ursprünge des liberalen Legitimitätsprinzips hin, macht dabei aber folgenden Unterschied: „Der Katholik ist derjenige, der in Gott die konstituierende und die faktisch ausgeübte Souveränität anerkennt; derjenige ist Deist, der ihm die faktisch

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Genauso wie Kant in den Kategorien des Verstandes die Bedingungen der Möglichkeit von Natur und in den Postulaten der praktischen Vernunft die Bedingungen des sinnvollen Charakters von Moral sieht, erblickt Tocqueville in bestimmten Ideen über Gott und den Menschen die Bedingungen der Möglichkeit der liberalen Demokratie und zugleich auch die Bedingungen des sinnvollen Einsatzes für die liberale Demokratie. Ohne Dogmen ist der Mensch verloren, so dass Tocqueville behaupten kann: „Die Menschen haben ein immenses Interesse daran, sich feste Ideen über Gott, ihre Seele, ihre allgemeinen Pflichten ihrem Schöpfer und ihren Mitmenschen gegenüber zu bilden; denn ein diese ersten Punkte treffender Zweifel würde alle ihre Handlungen dem Zufall überlassen und würde sie in gewissem Sinne zum Durcheinander oder zur Machtlosigkeit verdammen“ (Tocqueville OC I, 2, I, 5, S. 27).65 Mögen diese Ideen zwar einerseits die Macht der Vernunft begrenzen, indem sie Fixpunkte bilden, die nicht in Frage gestellt werden dürfen, eröffnen sie aber andererseits einen sinnvollen Handlungshorizont und können insofern als ermächtigend betrachtet werden. Diese festen Ideen entstammen nicht der Vernunft und können auch nicht unmittelbar durch sie gerechtfertigt werden. Prinzipiell kann man sich ganz unterschiedliche Ideen über Gott und uns selbst machen, ohne dass eine dieser Ideen sich einer absoluten intellektuellen Gewissheit66 erfreuen würde. Somit scheint einem

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ausgeübte Souveränität abspricht und in ihm die konstituierende anerkennt; derjenige ist ein Atheist, der ihm jede Souveränität abspricht, da er seine Existenz leugnet“ (Cortés 2003, S. 214). Lacorne hat unrecht, wenn er behauptet, dass Tocqueville sich nicht über den Inhalt der dogmatischen Glaubenssätze ausspricht (Lacorne 2012, S. 137). Richtig ist, dass Tocqueville sich nicht über den Inhalt jener Dogmen ausspricht, die keinen Bezug zur Erhaltung der Freiheit in der Demokratie haben. Es ist dem politischen Schriftsteller Tocqueville gleichgültig zu wissen, ob die Menschen an die unbefleckte Empfängnis glauben oder nicht, es ist aber wichtig, dass die Menschen an die Unsterblichkeit der Seele glauben. Man sollte in diesem Zusammenhang einen klaren Unterschied zwischen zwei Arten von Dogmen machen. Es gibt einerseits Dogmen an die man nur glauben muss, weil dieser Glaube, so nimmt man an, zum ewigen Seelenheil führt, und es gibt andererseits Dogmen an die man glauben muss, weil dieser Glaube zwar durchaus zum ewigen Seelenheil führen, aber auch, und das ist der wichtigste Punkt für den politischen Schriftsteller, die Freiheit fördert. Über die erste Art von Dogmen, könnte man sagen, sollte nur die Kirche bzw. die kirchliche Autorität bestimmen. Hier ist eigentlich kein Platz für die individuelle Vernunft. Bei der zweiten Art von Dogmen ist ein Platz für die menschliche Vernunft. Hier kann man sich nämlich Gedanken darüber machen, welche Dogmen nützlicher sind bzw. welcher Glaube an welche Dogmen nützlicher ist und man kann diese Gedanken auch prüfen. Hier kann die individuelle Vernunft zur Schussfolgerung kommen, dass es gut ist, bestimmte Sätze als Dogmen zu akzeptieren und sie als Fixpunkte eines liberalen politischen Gemeinwesens anzusehen. Auch wenn er sie sicherlich nicht in dem eben dargelegten Sinn gemeint hat, so könnte man doch hier die Worte Bautains zitieren: „[A]us der Tatsache, dass die Kirche die Urteilsfreiheit in Glaubenssachen, die jenseits der Vernunft liegen, ablehnt und zu Recht verurteilt, folgt nicht im Geringsten, dass sie auch die Freiheit ablehnt, in den weltlichen Angelegenheiten zu urteilen und zu handeln, dort, wo die Vernunft kompetent ist“ (Bautain 1865, S. 24). Sobald man annimmt, dass bestimmte Dogmen auch eine weltliche Relevanz haben, geraten sie in den Sog der Vernunft – was nicht unbedingt bedeutet, dass die Vernunft sie ablehnen und verwerfen wird, weil sie in ihrer Wahrheitsdimension fraglich sind. Tocqueville will eine absolute Gewissheit. In einem Brief an Royer-Collard aus dem Jahr 1838 schreibt er: „Es gibt eine andere intellektuelle Krankheit die mich auch ständig plagt. Es ist eine

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allgemeinen Relativismus Tür und Tor geöffnet zu sein. Diese Tür verschließt Tocqueville allerdings dadurch, dass er den Inhalt der Dogmen an den Willen knüpft, die Demokratie in Richtung liberale Demokratie zu lenken und ihrem spontanen Kurs in Richtung demokratischer Despotismus entgegenzuwirken. Dieses Ziel wird aber nicht durch die Vernunft gesetzt und lässt sich auch nicht durch die Vernunft rechtfertigen. Es muss als höchstes Gut für den Menschen postuliert werden, wobei dieses Postulat bei Tocqueville letzten Endes in einem Gefühl der menschlichen Größe verankert ist.67 Nur wenn der Mensch an seine Größe glaubt, nur wenn er das Gefühl seiner Größe nicht bloß als subjektives Gefühl betrachtet, sondern es auch auf ein objektives Korrelat bezieht, auf etwas, was nicht erst durch das Gefühl konstituiert wird, sondern von dem das Gefühl höchstens die ratio cognoscendi ist, wird er diese Größe schützen und fördern wollen, in sich als auch in seinen Mitmenschen, denn es ist eine allgemeinmenschliche Größe. Somit verbindet sich das aristokratische Dogma der exklusiven Würde mit dem demokratischen Dogma der einen menschlichen Natur.68 Vom aristokratischen Dogma wird die Exklusivität gestrichen, während der Inhalt beibehalten wird, und dieser Inhalt wird sozusagen in eine demokratische Konzeption der menschlichen Natur gegossen. Der aristokratische Mensch glaubt an seine persönliche Würde, kennt aber keine allgemein menschliche Würde. Die Gedankenstruktur des demokratischen Menschen hat einen Platz für den Gedanken der menschlichen Würde, tendiert aber von Natur aus dazu, dem Begriff der Würde mit Skepsis entgegenzusehen, und sei es nur wegen seines aristokratischen Ursprungs. Diese Skepsis wird man nur dadurch unterbinden, dass man den Begriff der allgemeinen menschlichen

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ungebremste und unvernünftige Leidenschaft für die Gewissheit“ (Tocqueville OC XI, S. 59). Tocqueville diagnostiziert hier nicht nur die Krankheit, an der er leidet, sondern er bewertet auch deren Ursprung: In der Welt, in welcher er lebt, ist es nicht vernünftig, nach einer absoluten Gewissheit zu suchen. Daraus folgt für ihn aber nicht, dass man in eine allgemeine Skepsis fallen sollte. Vielmehr sollte man so tun, als seien bestimmte Dinge absolut gewiss bzw. als wüsste man, dass sie absolut gewiss sind. Tocqueville, so Mansfield, macht aus der Größe einen „Ersatz für das gute Leben der klassischen Philosophen und das Leben der annehmlichen Selbsterhaltung der liberalen Philosophen. Sie ist besser mit der Freiheit vereinbar als jedes der anderen“ (Mansfield 2014, S. 240). Mansfield hat recht, aber man muss seine Behauptung in dem Sinne korrigieren, dass Tocqueville einerseits die annehmliche Selbsterhaltung nicht in toto verurteilt, und andererseits in dieser annehmlichen Selbsterhaltung nicht das letzte Lebensziel des liberalen Menschen sieht, sondern dasjenige des demokratischen Menschen. In einem Brief an Reeves aus dem Jahr 1837, behauptet Tocqueville von sich selbst, er habe weder aristokratische, noch demokratische Vorurteile (Tocqueville OC VI, 2, S. 37). Dabei erklärt er, wieso er keine der beiden Arten von Vorurteilen haben konnte: „Die Aristokratie war schon tot, als ich begonnen habe zu leben, und die Demokratie existierte noch nicht; somit konnte mein Instinkt mich weder blindlings zur einen, noch zur anderen treiben“ (Tocqueville OC VI, 2, S. 38). Vorurteile entspringen somit aus dem Instinkt und der Instinkt verweist auf eine Lebenswelt. Fehlt diese Lebenswelt, fehlen die Instinkte und mit ihnen auch die Vorurteile. Auch wenn Tocqueville bestimmte Vorurteile der Aristokratie nicht mehr hat, so übernimmt er doch den aristokratischen Gedanken einer dem Menschen inhärenten Würde und demokratisiert ihn in dem Sinne, dass diese Würde fortan allen Menschen zugesprochen werden muss. Insofern könnte Tocqueville behaupten, er habe weder exklusiv aristokratische, noch exklusiv demokratische Vorurteile.

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Würde der Kritik entzieht und zum Dogma erhebt. Jeder Mensch hat eine Würde und diese Würde muss in jedem gleich beachtet werden. Dieser Satz formuliert, so könnte man sagen, die Grundspielregel eines demokratischen und liberalen politischen Gemeinwesens, und wer ihn nicht akzeptiert, zeigt damit, dass er auch das demokratische und liberale Gemeinwesen nicht akzeptiert. Die fixen Ideen, von denen Tocqueville, spricht sind keine im strengen Sinne des Wortes politische Ideen. Tocqueville bezeichnet sie als moralische Ideen. Man könnte sie als für das Politische relevante vorpolitische Ideen bezeichnen. Was er vom Christentum als Fixpunkte zurückbehalten will, sind nicht Aussagen mit einem strikt theologischen, sondern Aussagen mit einem moralischen Gehalt. In Amerika, so Tocqueville, gibt es eine Vielfalt an Religionsgemeinschaften, „aber alle sind sich einig über die Pflichten, die die Menschen einander schulden“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 304). Die Amerikaner haben ein bestimmtes Bild vom Menschen und eine bestimmte Auffassung der menschlichen Pflichten. Dieses Bild findet seinen Ursprung im republikanisch orientierten Christentum der Pilgerväter. Ihr Puritanismus, so Tocqueville, war nicht nur eine religiöse Lehre; er stimmte überdies noch mit vielen Punkten der absolutesten demokratischen und republikanischen Theorien überein“ (Tocqueville OC I, 1, I, 2, S. 31). Man kann nun in diesem Zusammenhang zwei Fragen stellen, und zwar erstens die Frage, was ein demokratisches und liberales Gemeinwesen mit denjenigen tun soll und darf, die den Satz nicht akzeptieren, und zweitens die Frage, was ein demokratisches und liberales tun soll und darf, um den Satz in die Geister derjenigen einzuprägen, die Bürger eines solchen Gemeinwesens sind oder eines Tages sein werden. Insofern Tocqueville der Überzeugung ist, dass die im Lichte des Liberalismus angemessene Sicht des Menschen auch mit der Religion zusammenhängt bzw. dass das Menschenbild des demokratischen Liberalismus in ein religiöses Weltbild integriert werden muss, lassen sich die zwei eben gestellten Fragen auch auf die Religion anwenden: inwiefern soll und darf ein demokratisches und liberales Gemeinwesen jenes Bild Gottes, der göttlichen Vorsehung und der gottgewollten menschlichen Natur verbreiten, das die Entstehung oder Bewahrung eines solchen Gemeinwesens fördert, und inwiefern soll und darf es Bilder Gottes, der göttlichen Vorsehung und der gottgewollten menschlichen Natur verbieten, die ein solches Gemeinwesen gefährden? Sozusagen diesseits dieser Fragen stellen sich andere Fragen, und zwar, erstens, ob die Menschen in einer liberalen Gesellschaft tatsächlich feste Überzeugungen benötigen, dann zweitens, ob diese festen Überzeugungen, wenn sie notwendig sind, auf dem Weg der Vernunft gefunden werden können, und drittens, ob diese Überzeugungen, wenn sie nötig sind und nicht auf dem Weg der Vernunft gefunden werden können, aus der Religion geschöpft werden müssen? Wer die erste Frage negativ beantwortet, kann sich eine Antwort auf die beiden nächsten Fragen ersparen, und wer an die Fähigkeit der Vernunft glaubt, uns diese Überzeugungen zu geben, erspart sich die dritte Frage. Wer aber glaubt, dass die Menschen in einer liberalen Gesellschaft nicht ohne eine feste Überzeugung betreffend den absoluten, unverhandelbaren Wert der menschlichen Würde auskommen – zumindest wenn sie sich um die Bewahrung ihrer liberalen Gesellschaft besorgt zeigen –, und wer gleich-

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zeitig glaubt, dass die Vernunft viele Probleme lösen kann, es ihr aber nie gelingen wird, jene Letztbegründung zu liefern, durch die unser Glaube an die menschliche Würde sich in ein Wissen um die Existenz der menschlichen Würde verwandeln würde, kommt nicht umhin, wenigstens nach dem möglichen Beitrag der Religion zu fragen. Denn mögen auch religiöse Sätze keine Letztbegründung liefern, so verlangen die religiösen Dogmen doch, dass man bezüglich ihrer nicht mehr nach einer Begründung verlangt. Wenn man glaubt, dass Gott dem Menschen Würde verliehen hat, dann hat der Mensch auch Würde, und der Glaube an diese Würde erhält denselben Status wie der Glaube an die Existenz Gottes. Glaubt man des Weiteren, dass der Mensch nur Würde hat, weil Gott ihm diese Würde verliehen hat, verschwindet der Glaube an diese Würde mit dem Glauben an die Existenz Gottes. Auch wenn Tocqueville einerseits behauptet, dass die individuelle Vernunft bestimmte Fixpunkte benötigt, um überhaupt konstruktiv wirken zu können, ist Tocqueville sich andererseits bewusst, dass seine Position eine Gefahr in sich birgt, und zwar die Gefahr der Tyrannei der öffentlichen Meinung. Amerika wird zwar von Tocqueville als freies Land und die Amerikaner werden von ihm als ein freies Volk bezeichnet, aber gleichzeitig finden sich auch Passagen in Tocquevilles Werk, die auf die fehlende geistige Freiheit in Amerika hinweisen. „[E]s gibt keine geistige Freiheit in Amerika“ (Tocqueville OC I, I, II, 7, S. 267). Die einzelnen Amerikaner denken so, wie die öffentliche Meinung denkt, da sie Angst haben, mit der öffentlichen Meinung in Widerspruch zu geraten und aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. In den nicht für die Endfassung der Démocratie zurück behaltenen Texten, findet man folgende Passage: „Der Mensch muss eine große Menge Sachen dogmatisch glauben, und sei es nur, um Zeit zu haben, einige andere zu diskutieren. In den aristokratischen Zeitaltern heißt diese Autorität hauptsächlich Religion. Sie wird vielleicht Mehrheit in den demokratischen Jahrhunderten genannt werden, oder eher öffentliche Meinung“69 (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 720 Fußnote p). Tocqueville erweckt hier den Eindruck, als ob man die Religion und die öffentliche Meinung als funktionale Äquivalente ansehen kann. Wie er festhält, haben sie eine ganz ähnliche Wirkung. Diese besteht darin, dass sie dem menschlichen Denken eine Grenze ziehen. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass im Fall der Religion der Grenzzieher der Menschheit vorgeordnet ist, wohingegen es sich im Fall der öffentlichen Meinung um einen menschlichen Grenzzieher handelt. Damit taucht aber die Frage auf, ob der menschlichen Würde weniger Abbruch getan wird, wenn das Individuum seine Denkfreiheit einer ihm radikal transzendenten Autorität unterwirft, oder ob es besser ist, wenn es sich der Meinung der Mehrheit – aber einer Mehrheit seinesgleichen – unterwirft. Insofern Tocqueville die Religion mit der Aristokratie in Verbindung bringt und die öffentliche Meinung als etwas betrachtet, das in den demokratischen Jahrhunderten zu finden ist, scheint für ihn festzustehen, dass es leichter ist, seine Würde zu bewahren, wenn man sich einer nicht-menschlichen Instanz unterwirft. 69

Tocqueville spricht von „opinion commune“, d. h. von einer Meinung, die allgemein geteilt wird und in diesem Sinne öffentlich ist.

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Teil III: Die Religion im Dienst des Liberalismus

So heißt es bei Tocqueville: „Die Religion bringt den menschlichen Geist dazu, selbst stehen zu bleiben und macht aus dem Gehorsam die freie Wahl eines moralischen und unabhängigen Wesens. / Die Mehrheit zwingt den Geist dazu, stehen zu bleiben, obwohl sie deren haben [sic] und indem sie ihn unaufhörlich zwingt, zu gehorchen, nimmt sie am Ende bis zu der Begierde, frei zu sein und für sich selbst zu handeln“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 720 Fußnote p). Der religiöse Mensch hört nur die Stimme Gottes in sich und folgt dieser Stimme aus freien Stücken. Gott nimmt uns nicht unser freies Denken, sondern überlässt uns die Verantwortung, es zu gebrauchen oder auch nicht. Ganz anders die öffentliche Meinung, deren Zwang wir tagtäglich spüren. Insofern stellt für Tocqueville die Religion eine weniger gravierende Freiheitsbeschränkung dar als die öffentliche Meinung. Tocquevilles Überlegungen befassen sich mit der Rolle religiöser Meinungen die als unerschütterliche Dogmen angesehen werden. Was als gottgegeben angesehen wird, ist dem menschlichen Handeln und Entscheiden entzogen und bildet somit einen festen Rahmen. Constant stellt nicht die religiösen Meinungen bzw. die positiven Religionen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, sondern das religiöse Gefühl. Die positiven Religionen sind stets unvollkommene, aber sich stets auf eine größere Vollkommenheit oder zumindest Angemessenheit hin entwickelnde Versuche, das subjektive religiöse Gefühl zu objektivieren und allgemein zugänglich zu machen. In einem Tagebucheintrag vom 19. November 1804 schreibt Constant: „[D]as religiöse Gefühl ist sehr vereinbar mit dem Zweifel und […] es ist sogar mehr mit dem Zweifel vereinbar als mit dieser oder jener Religion“ (Constant 1957, S. 412). Das religiöse Gefühl gibt uns zwar eine gefühlsmäßige Gewissheit, dass es etwas Transzendentes gibt, aber jeder Versuch, etwas über dieses Transzendente auszusagen bzw. jeder Versuch, dieses Transzendente in einem – zum Teil auch – intellektuellen System zu fassen – und eine jede positive Religion ist ein solches System – gibt Anlass zum Zweifeln. Das religiöse Gefühl entzieht sich immer dem Zugriff der Vernunft, so dass die Vernunft immer eine Distanz zwischen ihren Produkten und dem religiösen Gefühl wahrnehmen wird. Dementsprechend wird sie jede positive Religion in Zweifel ziehen. Die Vertreter der positiven Religionen werden zwar versuchen, sich diesem Zweifel zu widersetzen, da sie, wie wir noch im nächsten Kapitel sehen werden, ein Interesse daran haben, dass ihre jeweilige Religion bestehen bleibt, aber die Entwicklung der menschlichen Intelligenz wird sich letzten Endes über jeden solchen Zweifel hinwegsetzen und die alte positive Religion wird einer neuen positiven Religion weichen müssen, die ihrerseits auch wieder verschwinden wird, usw. Der Zweifel an der religiösen Form ist eigentlich ein gesunder Zweifel, baut er doch auf der in den Augen Constants wahren Prämisse auf, dass keine religiöse Form jemals dem religiösen Gefühl vollkommen angemessen sein kann. Durch diesen Zweifel wird, so könnte man sagen, das religiöse Gefühl in seiner Lebhaftigkeit erhalten. Außerdem trägt er dazu bei, dass sich die religiösen Formen entwickeln und Schritt mit der Entwicklung der menschlichen Intelligenz halten können. Wer an einer religiösen Form, d. h. an der Angemessenheit einer positiven Religion, zweifelt, zerstört damit nicht die Grundlage alles dessen, was der Mensch an Gro-

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ßem hervorbringen kann. Diese Grundlage ist nämlich das religiöse Gefühl, und insofern dieses Gefühl sich uns aufdrängt, hat es motivierende Kraft. Kein intellektueller Zweifel kann die Motivationskraft des religiösen Gefühls zerstören, aber der intellektuelle Zweifel kann die Angemessenheit und Wahrheit einer positiven Religion zerstören. Constant kann also erklären, dass Zweifel und religiöses Gefühl sich nicht ausschließen, wohl aber Zweifel und positive Religion. Kann aber nicht ein Zweifel an der Objektivität des religiösen Gefühls entstehen? Können wir jemals wissen, ob es das Transzendente wirklich gibt, das sich uns im religiösen Gefühl offenbart? Auch wenn man Constant zugesteht, dass wir die Existenz eines Transzendenten erfühlen, so lässt sich immer noch einwenden, dass es sich bei diesem Gefühl um eine Täuschung handelt, dass wir etwas erfühlen, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Dieser Einwand geht über die Dimension des Wie-Sein der unsichtbaren Mächte hinaus. Insofern die positiven Religionen immer nur ein unvollkommener Ausdruck des religiösen Gefühls sind, werden wir uns die unsichtbaren Mächte niemals so vorstellen können, wie sie in Wirklichkeit sind. Die positiven Religionen täuschen uns insofern über das wahre Wie-Sein dieser Mächte. Das religiöse Gefühl täuscht uns in dieser Hinsicht nicht, da es diesen Mächten keine spezifische Form zuschreibt. Für das religiöse Gefühl ist das Transzendente ein unbestimmtes Etwas, das sich uns offenbart. Schon die Bezeichnung „unsichtbare Mächte“ geht über das hinaus, was uns im unmittelbaren religiösen Gefühl gegeben ist. Jede sprachliche Artikulation dieses Gefühls macht schon etwas Bestimmtes aus seinem Inhalt. Der Einwand bezieht sich auf das Sein des Transzendenten als solchen. Ist es wahr, dass es etwas Transzendentes gibt, das sich uns im religiösen Gefühl offenbart, oder leben wir in einem Universum der absoluten Immanenz? An einer Stelle von De la religion hat Constant das Problem explizit angesprochen: „Der philosophische Begriff [des Universums – N. C.] ist vielleicht wahrer; aber um wie viel wärmer und lebhafter ist der andere [der religiöse – N. C.]“ (Constant 1999, S. 66). Der philosophische Begriff des Universums bezeichnet hier den, wie wir heute sagen würden, naturwissenschaftlichen Begriff. Eine berühmte Anekdote macht diesen Begriff leicht verständlich. Als Napoleon ihn fragte, wo denn in seinem physikalischen Modell des Universums Gott sei, antwortete der Physiker Laplace: „Sire, ich brauchte diese Hypothese nicht“. Das Universum der Naturwissenschaften geht nicht über die Sphäre der reinen Immanenz hinaus und kennt dementsprechend nicht jene Realität, die uns durch das religiöse Gefühl offenbart wird. Die Physik – oder heute die Astrophysik – kann den Mechanismus des Universums erklären, ohne die Existenz von transzendenten Mächten anzunehmen.70 Constant bestreitet nicht, dass der naturwissenschaftliche Begriff des Universums wahrer sein kann, aber er will die Wahrheit nicht auf ihre bloße empirische oder gegebenenfalls auch logische Dimension reduzieren, sondern behauptet, dass 70

In einem bestimmten Sinn kennt auch die Physik im strengen Sinn unsichtbare Mächte. Aber diese Mächte – wie etwa der Elektromagnetismus – sind nicht absonderlich und sie bzw. ihre Wirkungen können gemessen werden. Außerdem können die Menschen Letztere auch erzeugen. Die unsichtbaren Mächte die sich durch das religiöse Gefühl offenbaren, sind ganz anderer Natur.

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der religiöse Begriff des Universums seine eigene Wahrheit hat. Eine sich auf naturwissenschaftliche Argumente stützende Kritik der Objektivität des religiösen Gefühls kann demnach Zweifel hinsichtlich seiner Objektivität aufkommen lassen, aber insofern sich diese Kritik auf einen reduktionistischen Wahrheitsbegriff stützt, kann sich das religiöse Gefühl trotz des Zweifels weiter behaupten. Im Gegensatz zu Tocqueville, der den religiösen Dogmen eine große Wichtigkeit schenkt und die Moral auf sie gründet, legt Constant einen großen Wert auf das religiöse Gefühl und lehnt es ab, Moral und Religionen in einen zu engen Zusammenhang zu bringen. Tocqueville hatte geglaubt, dass man die Moral dadurch stabilisieren kann, dass man sie auf die Religion gründet. Genau dies stellt Constant aber in Frage (Constant 1970a, S. 62). Constant befürwortet nämlich ein dynamisches Religionskonzept: Religionen entwickeln sich mit dem menschlichen Geist, und das Gottesbild – oder allgemeiner: das Bild des Transzendenten – passt sich der jeweilig erreichten Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes an. Wenn man dementsprechend die moralischen Meinungen dadurch festigen zu können glaubt, dass man sie an die religiösen Dogmen bindet, dann läuft man Gefahr, dass sie mit diesen Dogmen in Frage gestellt und gegebenenfalls verworfen werden. Constant ist, genauso wie Tocqueville, davon überzeugt, dass der Mensch feste moralische Referenzpunkte braucht, dass die Moral nicht einfach eine Sache des Nutzenkalküls ist. Eine Gesellschaft in welcher die Menschen nicht wissen, was erlaubt, verboten und geboten ist bzw. eine Gesellschaft in welcher das Erlaubte, Verbotene und Gebotene je nach Konjunktur wechselt, ist eine Gesellschaft, in welcher man nie richtig weiß, wie man handeln soll. Ein solches Wissen wird man aber nicht erlangen, wenn man die Moral an die Religion bindet, da die Entwicklung der Religion mit sich bringt, dass man nie richtig wissen kann, was man glauben soll. Aus der Sicht Constants ist die Instabilität der positiven Religion kein bloßes Produkt des Zufalls, sondern er sieht in ihr eine Art Naturgesetz (Constant 1970a, S. 67). Der Mensch neigt von Natur aus dazu, alles genau zu untersuchen und in Frage zu stellen. Was bei Tocqueville den demokratischen Menschen kennzeichnete, wird bei Constant zu einem allgemeinmenschlichen Merkmal. Unter diesen Umständen hat es keinen Sinn, bestimmte religiöse Meinungen vor dem Zweifel zu schützen, denn früher oder später wird der Zweifel auch sie treffen. Wo findet Constant den Grund der Festigkeit der moralischen Überzeugungen? In einem an Montesquieu erinnernden Passus, führt er die moralischen Regeln auf die sich natürlich ergebenden Beziehungen zwischen den Menschen zurück. In De l’esprit des lois hatte Montesquieu nämlich behauptet, dass es bestimmte Gesetze gibt, die sich aus der Natur der Menschen ergeben und damit auch die zwischenmenschlichen Verhältnisse bestimmen (Montesquieu EL I, 1, S. 233). Diese Gesetze gelten solange, wie die Natur der Menschen sich nicht ändert. Genauso wie bestimmte mathematische Gesetze aus der Natur des Dreiecks fließen, fließen bestimmte moralische Gesetze aus der Natur des Menschen. Und eine ähnliche Bemerkung gilt für Gesellschaften, so dass Montesquieu in seinem Werk zeigen kann, dass eine Gesellschaft nicht rein zufällig diese oder jene Gesetze hat, sondern dass die in ihr geltenden Gesetze sich aus ihrer Natur – und diese Natur bilden ganz unterschiedliche Elemente – ergeben.

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Eine solche Verankerung in der Natur findet man auch bei Constant. Die natürliche Gerechtigkeit besteht aus Maximen, die „dem Ziel der Gesellschaften entsprechen und notwendig für ihr Überleben sind“ (Constant 1970a, S. 62–3). Insofern alle Gesellschaften aus Menschen bestehen und insofern die Natur dieser Menschen nicht von Gesellschaft zu Gesellschaft wechselt, sind die Maximen der natürlichen Gerechtigkeit auch überall die gleichen. Damit besitzen sie jene Stabilität, die moralische Maximen brauchen, und ein Rückgriff auf stabilisierende religiöse Dogmen ist eigentlich unnötig. Allerdings stellt sich immer noch die Frage, wieso man sich an die Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit halten sollte, d. h. was diesen Prinzipien ihre Verbindlichkeit verleiht. Der Mensch kann zwar durchaus die Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit erkennen, aber diese Erkenntnis ist noch nicht zugleich auch handlungsleitend, d. h. aus der Erkenntnis, dass ich X tun soll, folgt noch nicht, dass ich X auch tun werde. Oder noch radikaler: Aus der Tatsache, dass ich in mir das Gefühl habe, X tun zu sollen, folgt noch nicht, dass ich diesem Gefühl auch jene Autorität zugestehen werde, den es von mir verlangt. Die Frage vor die uns die klassischen Liberalen stellen, ließe sich wie folgt formulieren: Muss die individuelle Vernunft etwas anerkennen, das ihr vorausgeht und das ihr nicht einfach so zur Verfügung steht, oder soll sie alles Vorgefundene als zur Disposition stehend ansehen? Insofern die moderne Vernunft sich als autonom begreift und jedes Element von Heteronomie von sich weist, tendiert sie dazu, die Welt als etwas zu sehen, das ihr zur Verfügung steht und das sie umgestalten kann, wie sie es will. Sahen die Alten die natürliche und soziale Welt als eine dem Menschen vorgegebene natürliche und göttliche Ordnung, können die Modernen die Ordnung immer nur als eine durch die Menschen geschaffene Ordnung begreifen. Die Konservativen wollen alles so sein lassen, wie es ist, während die Modernen bzw. Progressiven alles in Frage stellen und ändern wollen. Denker wie Constant und Tocqueville sind in diesem Sinne weder Konservative, noch Moderne. Sie entsprechen vielmehr einer skeptischen Position, wie sie Hayek in seinem Aufsatz ‚Why I am not a Conservative‘ vertritt. Der liberale Skeptiker „ist ebenso weit entfernt vom rohen Rationalismus des Sozialisten, der alle sozialen Institutionen gemäß dem Plan umgestalten will, den ihm seine individuelle Vernunft vorschreibt, als vom Mystizismus auf den die Konservativen so oft zurückgreifen“ (Hayek 2011, S. 528). Im Zentrum der Kritik steht hier die individuelle Vernunft, und vor allem die Anmaßung der individuellen Vernunft, mit Bestimmtheit zu wissen, was gut für die Allgemeinheit ist. Das Hauptproblem ist nicht nur, dass die individuelle Vernunft alles in Frage stellt, sondern dass sie alles in Frage stellt, nur sich selbst nicht. Insofern erhebt sie ihre subjektiven Einsichten zu allgemeingültigen Sätzen und stellt deren Allgemeingültigkeit nicht in Frage.

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KAPITEL 2: RELIGION, MORAL UND STRAFRECHT Wären die Menschen so wie sie sein sollten, lässt Hobbes implizit an einer Stelle des Leviathan anklingen, dann bräuchten sie keine Gesetze und dementsprechend auch keinen gesetzgebenden Staat. Es bestünde dann die Möglichkeit eines „Friedens ohne Unterwerfung“ (Hobbes 1996, S. 119). Auch wenn z. B. die Wiedertäufer glaubten, dass der gläubige Mensch, der das göttliche Gesetz in seinem Herzen trägt, so ist, wie der von Gott geschaffene Mensch eigentlich sein soll – und er soll so sein bzw. wieder so werden, wie er vor dem Sündenfall war –, sieht Hobbes im Menschen ein Wesen, das durch seine natürlichen Begierden und Leidenschaften getrieben wird. Insofern der Mensch diese Begierden und Leidenschaften von Natur aus hat, sind sie, wie jedes rein natürliche Phänomen, an sich weder moralisch gut, noch moralisch böse. Und die aus diesen Begierden und Leidenschaften entspringenden Handlungen sind im Naturzustand auch weder gut, noch böse. Wer im Naturzustand einen anderen Menschen verletzt, weil sein Zorn ihn dazu verleitet, folgt einfach der Stimme des Eigeninteresses, das im Naturzustand die einzige für das Handeln des Individuums relevante Stimme ist. Sein Handeln kann nicht vor dem Richterstuhl eines menschlichen Gesetzgebers beurteilt werden, da es einen solchen im Naturzustand noch nicht gibt. Hobbes erkennt zwar die Existenz eines natürlichen Gesetzes an, das aber eher den Charakter einer Klugheitsregel, als den eines Gesetzes im eigentlichen Sinn des Wortes hat. Dessen erste Vorschrift ist die Selbsterhaltung. Der Mensch soll nichts unterlassen, was seine Selbsterhaltung fördert. Und er soll auch nichts tun, was seiner Selbsterhaltung schadet. Dies sind Gebote der Vernunft, die, im Gegensatz zu den Begierden und Leidenschaften, nicht nur den kurzfristigen Nutzen sieht, sondern sich in die Zukunft projiziert und dementsprechend rechnet, ob es sich in einem bestimmten Fall tatsächlich lohnt, seiner Begierde nachzugeben und dadurch einen kurzfristigen Nutzen zu erreichen, der aber zu Konsequenzen führen kann, die langfristig nachteilig sind und somit den momentanen Nutzen aufwiegen. Dank der Vernunft kann der Mensch seine Begierden und Leidenschaften kontrollieren und ihnen ihre Befriedigung verweigern, wenn diese der Selbsterhaltung schaden würde.71 Die Vernunft zeigt dem Individuum hier keinen Wert, der denjenigen des Gegenstandes seiner Begierden und der Befriedigung dieser Begierden übersteigt, sondern Wert hat hier nur das individuelle Leben als Bedingung der Möglichkeit der Begierden und der Befriedigung dieser Begierden. Wären die Menschen – erste Bedingung – vollkommen rationale Wesen und wäre es ihnen möglich – zweite Bedingung –, stets alle Konsequenzen der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung vor Augen zu haben, und könnten sie, und dies ist eine 71

Die Vernunft von der hier die Rede ist die rein rechnende Vernunft und nicht die praktische Vernunft im Sinne Kants oder die Vernunft im aristotelischen Sinn des Wortes. Bei Hobbes ist die Vernunft ein Instrument der Interessebefriedigung und der Selbsterhaltung: Sie sagt uns, bei welchen Entscheidungen und Handlungen die größte Wahrscheinlichkeit besteht, unser Selbst zu erhalten und auch die Bedingung der Möglichkeit einer größtmöglichen Interessebefriedigung.

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dritte Bedingung, immer sicher sein, dass jeder ihrer Mitmenschen als vollkommen rationales Wesen handeln wird, dann bräuchten die Menschen wahrscheinlich auch keinen Staat und keine Gesetze. Vollkommen rationale Wesen würden von selbst einsehen, dass die Selbsterhaltung, aber auch ein zufriedenes, wahrhaft menschliches Leben – im Naturzustand ist das Leben, in Hobbes’ ureigenen Worten formuliert, „solitary, poore, nasty, brutish and short“ (Hobbes 1996, S. 89) – dann am besten gewährt sind, wenn sie den Frieden unter sich bewahren und wenn sie miteinander kooperieren. Doch ebenso wenig wie sie vollkommen moralische Wesen sind, sind die Menschen vollkommen rationale Wesen. Und selbst wenn es unter ihnen einige vollkommen rationale Wesen gäbe, so würde die Existenz nicht vollkommen rationaler Wesen eine Kooperation ausschließen, da die bloße Möglichkeit, dass andere nicht vollkommen rational sind, zu einem allgemeinen Klima des Misstrauens führt. Und wo Misstrauen herrscht, besteht wenig Hoffnung auf Kooperation. Misstrauen erzeugt vielmehr den Wunsch, mögliche Konkurrenten auszuschalten, bevor diese einen selbst ausschalten. Fazit: Der Naturzustand ist ein permanenter Kriegszustand eines jeden gegen einen jeden, in dem der Mensch – nach einer Beschreibung, die Hobbes von Plautus übernimmt – ein Wolf für den Menschen ist. Auch wenn sie nicht vollkommen rational sind, so sind die Hobbes’schen Individuen doch rational genug um einzusehen, dass ein Friedenszustand ihr Überleben besser garantieren kann als der Kriegszustand in dem sie sich befinden. Ein Friedenszustand ist aber nur dann möglich, wenn alle sich an die Spielregeln dieses Zustandes halten, wenn also alle davon absehen, jenen Begierden und Leidenschaften nachzugeben, durch welche sie anderen Menschen Schaden zufügen. Wichtig ist vor allem, dass alle, wenn nicht die absolute Gewissheit, so doch eine begründete Zuversicht haben, dass niemand ihnen einen Schaden zufügen wird. Alle wissen, dass nicht alle vollkommen moralisch und vollkommen rational sind, aber alle sollen glauben, dass alle so handeln werden, als seien sie entweder vollkommen moralisch oder vollkommen rational. Die Hobbes’schen Individuen stehen vor dem Problem, wie sie in sich den Glauben erzeugen können, dass sie unter Menschen leben, die genauso handeln, wie es vollkommen moralische oder vollkommen rationale Individuen tun würden. Es geht nicht darum, bessere Menschen zu machen, sondern besser ein der instrumentellen Rationalität entsprechendes Handeln abzusichern, so dass unter allen Betroffenen ein Vertrauensklima herrscht und Kooperation möglich wird. Bei Hobbes geht es konkret gesehen darum, dass die Menschen ihren Mitmenschen gegenüber bestimmte Erwartungen hegen. Es sind diese Erwartungen, die sie auch zu einem bestimmten Handeln motivieren können. Wenn ich erwarte, dass meine Mitspieler mogeln werden, dann werde auch ich zum Mogeln motiviert sein, da ich nicht der Dumme sein will. Wenn ich aber erwarte, dass meine Mitspieler nicht mogeln werden und dass ich vom Spiel ausgeschlossen werde, wenn ich mogle, dann werde ich dazu motiviert sein, nicht zu mogeln – ohne dass dadurch aber mein Wunsch, ungestraft mogeln zu dürfen, verschwinden würde. Werfen die Individuen einen Blick in sich selbst, so wird ihnen klar, dass – vorausgesetzt, sie sind keine vollkommen moralische oder rationale Wesen – nur

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Teil III: Die Religion im Dienst des Liberalismus

die Angst vor Nachteilen sie dazu bringen kann so zu handeln, wie ein vollkommen moralisches oder rationales Wesen handeln würde. Wer sich Vorteile vom Mogeln erwartet wird nur dann vom Mogeln absehen, wenn er sich größere Nachteile vom fast sicheren Erwischt-Werden beim Mogeln erwartet. Die Menschen müssen demnach nach einem Mittel Ausschau halten, durch dessen Existenz in jedem der Glaube erweckt wird, dass er Schaden erleiden wird, wenn er anderen Menschen Schaden zufügt. Den auf diese Weise erlittenen Schaden bezeichnet man als Strafe, wenn er von einer den Individuen übergeordneten Autorität zugefügt wird und sich aus einem Gesetz ergibt, welches das Begehen einer bestimmten Handlung – die fortan als Sünde oder Verbrechen bezeichnet wird – mit dem Zufügen einer Strafe belegt (Hobbes 1996, S. 214). Als Sünde wird das Begehen einer Handlung bezeichnet, wenn Gott die Handlung verboten und ihr Begehen unter Strafe gestellt hat. Würden erstens alle Menschen an Gott glauben, würden zweitens alle Menschen wissen, dass alle Menschen an Gott glauben, würden drittens alle Menschen sich derart vor einer göttlichen Strafe fürchten, dass diese Furcht sie davor bewahrt, der Versuchung nachzugeben, die verbotene Handlung auszuführen, und würden sie, viertens, gleichsam alle wissen, dass alle sich auf diese Weise vor einer göttlichen Strafe fürchten, dann würde der Glaube an Gott genügen, um das Begehen sündhafter Handlungen zu unterbinden. Die Menschen könnten dann prinzipiell auf die Errichtung eines Staates verzichten. Ist die Angst vor Gott groß genug, d. h. genügt diese Angst allein schon, um die Menschen davon abzuhalten, ihren Mitmenschen zu schaden, dann wird die Angst vor dem Staat eigentlich überflüssig. Hobbes weiß aber, dass nicht alle Menschen an Gott glauben und dass die Menschen auch voneinander wissen, dass zumindest einige nicht an Gott glauben. Die Menschen wissen auch voneinander, dass selbst dann, wenn sie an Gott und an eine Bestrafung im Jenseits glauben, dieser Glaube noch weit davon entfernt ist, alle Menschen genügend zu motivieren und sie davon abzuhalten, eine Sünde zu begehen. Man muss nämlich mit einer durch die zeitliche Entfernung induzierten Diskontierung rechnen: Je weiter entfernt die Strafe in der Zeit ist, umso weniger Einfluss hat die Erwartung dieser Strafe auf unser Handeln.72 Hinzu kommt, dass die Menschen den strafenden Gott nicht unmittelbar sehen oder wahrnehmen, wohingegen sie den unmittelbaren Nutzen einer Sünde durchaus unmittelbar wahrnehmen. Und der Mensch ist psychologisch so beschaffen, dass das unmittelbar Wahrgenommene meistens einen größeren Einfluss auf sein Handeln hat als das bloß Vorgestellte. Mögen die Menschen sich also durchaus vor Gott und seinen Strafen fürchten, so fürchten sie sich dennoch nicht derart davor, dass sie diese Angst allein schon zu einem gesetzeskonformen Handeln führen würde. Da Moral, Selbstinteresse und eine mit dem Motiv der Angst vor einer göttlichen Strafe operierenden Religion nicht in der Lage sind, den für eine optimale 72

Der Zeitfaktor ist nicht der einzige Faktor. Man muss auch den Charakter der Strafe und ihre Dauer in Erwägung ziehen. Mill hatte schon darauf aufmerksam gemacht, dass die Menschen sich nicht durch den Gedanken jenseitiger Strafen abschrecken lassen und dass die Religion mit einer solchen Strafandrohung eigentlich nur sehr wenige Menschen abschrecken wird (Mill 2006, S. 412).

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Selbsterhaltung nötigen sozialen Frieden zu garantieren, müssen die Menschen nach einer anderen Lösung ihres Problems suchen. Und diese Lösung ist der Staat, jener „Mortall God“, wie Hobbes ihn an einer Stelle selbst nennt (Hobbes 1996, S. 120). Doch unterscheidet sich der Staat nicht nur dadurch von dem wirklichen Gott, dass er sterblich ist, sondern auch dadurch, dass er sichtbar ist und dass seine Handlungen – und dazu zählen auch die Bestrafungen – prinzipiell für alle wahrnehmbar sind. Kein lebender Mensch sieht die Verhängung der göttlichen Strafen im Jenseits, aber den Staat kann man bei der Bestrafung sehen und wahrnehmen. Wer den Dieb am Galgen hängen sieht, wird es sich zweimal überlegen, bevor er auch zum Dieb wird, da er mit einer ähnlichen Bestrafung rechnen muss.73 Da diese Bestrafung aber seiner Selbsterhaltung widerspricht, wird er von der Handlung absehen, die die Bestrafung auslöst. Laut Hobbes können die Menschen nur solange hoffen, den sozialen Frieden zu bewahren, wie sie Angst vor den staatlichen Strafen haben. Und diese Angst werden sie nur solange haben, wie sie glauben, dass (a) der Staat ihre Verbrechen in jedem Einzelfall aufdecken und (b) er sie auch in jedem Fall bestrafen wird. Strafrechtliche Normen sind umso präventiver, als man sich vor der Umsetzung ihres repressiven Inhalts fürchtet. Dabei kann, wie es u. a. Beccaria ein gutes Jahrhundert nach Hobbes formulieren wird, die Gewissheit, eine kleinere Strafe zu erleiden, eine größere präventive Wirkung haben, als ein bloß auf Wahrscheinlichkeit beruhender Glaube, eine größere Strafe zu erhalten (Beccaria 2003). Als Vertreter einer humanistischen Strafpolitik glaubt Beccaria nicht, dass es die Angst vor der Grausamkeit einer Strafe ist, die die Menschen davon abhält, Verbrechen zu begehen, sondern vielmehr die Angst vor ihrer Unausweichlichkeit.74 Pocht man, wie Beccaria es tut, auf die Wichtigkeit des Glaubens an die Unausweichlichkeit der Strafe, dann muss man auch die Mittel gutheißen, die es erlauben, jeden Verbrecher – oder zumindest so gut wie jeden Verbrecher – tatsächlich zu bestrafen. D. h. aber mit anderen Worten, dass der Staat angemessen über alle Handlungen seiner Bürger informiert sein muss bzw. wissen muss, wo jeder sich aufhält. A wird nur dann mit Gewissheit glauben, dass er eine Strafe für sein Verbrechen erleiden wird, wenn er mit Gewissheit glaubt, dass der Staat sein Verbrechen aufdecken und ihn, den Schuldigen, finden und festnehmen wird. Und er wird dies nur dann mit Gewissheit glauben, wenn er mit Gewissheit glaubt, dass der Staat über alle Handlungen seiner Bürger informiert werden kann. Wenn etwa jedem Menschen bei der Geburt ein Chip eingepflanzt würde, der es erlaubt, seine Bewegungen zu registrieren und somit auch seinen jeweiligen Aufenthaltsort zu bestimmen, dann würden sicherlich weit weniger Verbrechen begangen werden, da die Wahrscheinlichkeit, als Täter identifiziert und gefasst zu werden, groß wäre. Ein solches Einpflanzen wäre heute sicherlich technisch möglich. Dass es nicht getan wird zeigt, dass uns nicht nur daran liegt, besser oder gar optimal gegen Vergehen und Verbrechen unserer Mitmenschen geschützt zu werden. 73 74

Michel Foucault hat auf die Wichtigkeit der Sichtbarkeit der grausamen Strafe im vorrevolutionären Frankreich hingewiesen (Foucault 1975). Im Gegensatz dazu wird Facchinei in seiner Kritik an Beccaria behaupten, dass es die Höhe der Strafe und nicht ihre Gewissheit ist, die eine präventive Wirkung hat (Facchinei 1765, S. 87).

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Teil III: Die Religion im Dienst des Liberalismus

In Dei delitti e delle pene stellt Beccaria die These auf, die Menschen seien umso unabhängiger, je weniger sie beobachtet werden, und sie werden umso weniger beobachtet, als sie zahlreicher sind (Beccaria 2003, S. 95). In kleinen Gemeinschaften weiß so gut wie jeder, was der andere tut, und dieses gegenseitige Wissen wirkt wie eine gesellschaftliche Kontrolle. Wer sich ständig durch seine Mitmenschen beobachtet fühlt, braucht nicht auch noch zusätzlich durch den Staat beobachtet zu werden. Solche kleinen Gemeinschaften gehören aber schon zur Zeit Beccarias der Vergangenheit an, und die modernen Menschen leben in großflächigen Staaten in denen u. a. die Bevölkerungszahl, die soziale Anonymität und die geografische Mobilität eine gegenseitige Beobachtung erschweren. Wenn nun aber erstens die Gewissheit einer Bestrafung von der Gewissheit abhängt, als Täter identifiziert und festgenommen zu werden, wenn zweitens die Gewissheit einer Identifikation und einer Festnahme von der Gewissheit abhängt, dass man unter ständiger Beobachtung steht, und wenn drittens die Beobachtung nicht mehr durch die Mitmenschen erfolgt, dann muss der Staat die Aufgabe der Beobachtung übernehmen. Damit profiliert sich das Gespenst von Orwells „Großem Bruder“ am Horizont.75 Dieses eine totalitäre Dystopie kennzeichnende Gespenst passt selbstverständlich nicht in das Gedankengebäude des politischen Liberalismus. Der politische Liberalismus erkennt zwar die Notwendigkeit einer staatlichen Macht an – dadurch unterscheidet er sich vom Anarchismus –, aber er will diese Macht auf das notwendige Minimum beschränken. Der Staat muss in das Leben seiner Bürger eingreifen, aber nur insofern dies absolut notwendig ist, um ein friedliches Zusammenleben zu garantieren. Dabei darf nicht davon ausgegangen werden, dass prinzipiell jede Handlung zu einer Störung dieses Zusammenlebens führen kann. Mit viel Phantasie kann man sich sicherlich ein Szenario ausdenken, in welchem eine an sich harmlose Handlung negative Auswirkungen auf das friedliche Zusammenleben hat. Aus liberaler Sicht betrachtet ist aber nicht dieses phantasievolle Szenario relevant, sondern der an sich harmlose Charakter der Handlung.76 Hinsichtlich ihrer an sich harmlosen Handlungen sollen die Menschen vor einem staatlichen Eingriff, aber auch vor einer staatlichen Kontrolle geschützt werden. Jeder Mensch hat das Recht auf eine nicht-überwachte Privatsphäre, und daran ändert die Tatsache nichts, dass viele Verbrechen innerhalb dieser Privatsphäre geschehen. Der Staat darf dann zwar a posteriori eingreifen, um den Schuldigen zu bestrafen, aber er darf nicht a priori kontrollieren, um das Begehen einer Tat zu verhindern.

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Man denke hier auch etwa an Benthams Panoptikon. Von einer zentralen Stelle aus sind alle Zellen eines Gefängnisses beobachtbar, so dass die Insassen nichts tun können, ohne dass die Wächter wissen, was sie tun. Heute werden manchmal Kameras in einige Zellen installiert, u. a. um einem möglichen Selbstmordversuch des Inhaftierten rechtzeitig vorbeugen zu können. Constant bemerkt an einer Stelle seiner Principes de politique, dass die an sich harmloseste Handlung unter bestimmten Umständen ein Übel produzieren kann, das mit demjenigen vergleichbar ist, den eine kriminelle Handlung hervorbringen. In einer solchen Situation darf der Staat, Constant zu Folge, die betreffende Handlung verbieten. Aber das Verbot muss für alle Menschen gelten (Constant 1997, S. 91).

Kapitel 2: Religion, Moral und Strafrecht

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Auch wenn sie versuchen, die staatliche Macht durch institutionelle Arrangements zu zähmen oder zu binden, damit sie in ihren Grenzen bleibt, so haben die klassischen liberalen Denker erkannt, dass man auch noch nach etwas anderem als den Institutionen Ausschau halten sollte, um die staatliche Macht zu begrenzen bzw. um keine Situation aufkommen zu lassen, in welcher die Menschen nach einer Ausweitung der staatlichen Macht verlangen oder eine solche Ausweitung zumindest begrüßen. In einer demokratischen Gesellschaft kann man nicht mehr einfach annehmen, die Ausweitung der staatlichen Macht sei nur auf den bösartigen, machtgierigen Willen der Regierenden zurückzuführen. Es gilt vielmehr zuzugeben, dass auch eine Nachfrage nach mehr Sicherheit seitens der Bürger zu einer solchen Ausweitung führen kann. Wenn die Menschen sich auch ohne Angst vor äußerem Zwang oder äußeren Zwangsandrohungen an bestimmte Grundregeln des friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens halten würden, dann bräuchte der Staat sich nicht um den Respekt dieser Regeln zu kümmern und man bräuchte ihm nicht das Recht zu transferieren, sich um deren Respekt zu kümmern. Je weniger das Individuum sein Handeln selbst reguliert und je mehr es nach einer möglichst großen Regulierung des individuellen Handelns – des Handelns der anderen, das als störend oder gefährlich empfunden wird – verlangt, umso mehr muss der Staat sich der Regulierung annehmen. Dies ist zumal dann der Fall, wenn es sich um einen demokratisch legitimierten Staat handelt, dessen Regierung und Parlament den Willen derjenigen verwirklichen müssen, die sie an die Spitze des Staates gesetzt haben.77 Und dies bedeutet, dass die Individuen ihm wahrscheinlich ein erweitertes Recht zuerkennen werden, in ihre Handlungssphäre zu intervenieren bzw. dass der Staat sich ein solches Interventionsrecht selbst zuschreiben wird, unter Hinweis auf seine Pflicht, die Individuen voreinander zu schützen, zumindest was den Schutz bestimmter Grundgüter, wie etwa das Leben oder die körperliche Integrität, betrifft. Was vorher nicht durch das Gesetz geregelt wurde, weil man auf den gesunden Menschenverstand oder auf bestimmte Gefühle zählte, wird fortan durch ein Gesetz geregelt, weil man den Menschen nicht mehr traut, von sich aus das Richtige zu machen.78 Doch je 77

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Marcel Gauchet hat auf das scheinbare Paradox hingewiesen, dass die öffentliche Macht umso mehr auf uns lastet, als sich das politische Band liberalisiert: „Je mehr [der Staat – N. C.] tun lässt, umso mehr muss er letztendlich tun“ (Gauchet 1985, S. 263). Schon in seiner Einführung zur Taschenbuchausgabe einiger der wichtigsten Texte Constants hatte Gauchet auf die „ursprüngliche Illusion des Liberalismus“ (Gauchet 1980, S. 71) hingewiesen, auf die „ursprüngliche Blindheit des liberalen Denkens hinsichtlich der unausweichlichen Zunahme der öffentlichen Macht unter einem Regime der Freiheit der Individuen“ (Gauchet 1980, S. 75). Tocqueville hatte diese Gefahr gesehen und dafür plädiert, dass die Individuen sich zu Vereinigungen zusammenschließen. Die Ohnmacht oder Schwäche der Individuen ruft den Staat auf den Plan, und je weniger die Individuen durch infrastaatliche Bindungen gebunden sind, umso mehr muss der Staat sie binden. Gustave de Molinari bemerkt: „Je religiöser ein Volk ist, umso besser hält es sich an die Gesetze, und desto weniger hat es nötig, auf den Eingriff der weltlichen Macht zurückzugreifen, damit sie respektiert werden“ (Molinari 1892, S. 32). Der freiwillige Respekt der moralischen Gesetze macht das Erlassen staatlicher Gesetze überflüssig, und der freiwillige Respekt staatlicher Gesetze – wo man sie erlassen musste –, macht die staatliche Kontrolle und staatliche Eingriffe überflüssig. Dieser freiwillige Respekt kann aber, so Molinari, nur dort garantiert

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mehr Gesetze gemacht werden, so Constant, umso mehr Gesetzeshüter sind nötig, und je mehr Gesetzeshüter man hat, so immer noch Constant, umso mehr nimmt die Gefahr der Willkür zu (Constant 1997, S. 82). Und neben diesem Willkürrisiko nimmt auch das Irrtumsrisiko zu: Je öfter der Gesetzgeber eingreift, so Constant, desto mehr Fälle wird es geben, in denen er falsch eingreift, und im Glauben, das Richtige zu tun, bewirkt er genau das Gegenteil von dem, was er bewirken wollte (Constant 2004, S. 62). Um hier nur ein ganz konkretes Beispiel unter vielen zu nennen: Wenn Eltern nicht von selbst darauf verzichten, im Auto zu rauchen, wenn sich dort auch Kleinkinder befinden, dann wird der Staat, sich dabei auf Studien betreffend die Gefährlichkeit des Passivrauchens stützend, Gesetze erlassen, die das Rauchen im Auto verbieten, wenn Kinder als Passagiere mitfahren. Das bedeutet dann aber, dass die Polizei sich nicht nur um das Fahrzeug als solches kümmern muss – sprich um dessen Geschwindigkeit, Zustand, …, – sondern auch um das, was in der Privatsphäre des Autos vor sich geht und was an sich nicht gefährlich für die anderen Verkehrsteilnehmer ist.79 Und wenn man das Rauchen in Autos verbietet, wenn Kinder mitfahren, dann wird man nicht umhin kommen, auch das Rauchen in Wohnungen zu verbieten, in denen sich Kinder aufhalten – dies umso mehr, als die Zeit, die das Kind in der Wohnung verbringt, weit größer ist als die Zeit, die es im Auto verbringt. Und das würde mit sich bringen, dass der Staat, wenn das gesetzliche Verbot nicht nur ein papiernes Verbot bleiben soll, systematische Kontrollen in den Privathäusern durchführen müsste. Damit wird man nicht mehr nur im öffentlichen Raum der Willkürgefahr ausgesetzt sein, sondern auch im privaten Raum. Und die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Willkürhandlung zu werden nimmt im Prinzip mit der Zahl der Eingriffe und der diese Eingriffe ausführenden Ordnungshüter zu. Mag der Gesetzgeber auch aus vertretbaren und allgemein nachvollziehbaren Gründen – Schutz des Lebens und der Gesundheit – Gesetze erlassen, die in unsere Privatsphäre eingreifen, so besteht doch immer das Risiko, dass er sich irrt, und dass seine Eingriffe unwirksam oder fehlgeleitet sind, d. h. jene Güter nicht bewahren oder befördern, die eigentlich bewahrt oder befördert werden sollten. In einem solchen Fall bezahlen wir sozusagen den Preis der Mittel, ohne dafür im Gegenzug das zu erreichende Gut zu erhalten und haben insofern auf der ganzen Linie verloren.

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werden, wo die Menschen religiös sind. Kurz gesagt: Je mehr Religion, desto weniger Staat. Und da es für einen Liberalen wie Molinari darauf ankommt, sowenig Staat wie möglich zu haben, ist es für ihn wichtig, so viel Religion wie möglich zu haben, was aber nicht bedeutet, dass Molinari auch so viel Klerus wie möglich will. Ein Liberaler wie Molinari wehrt sich sowohl gegen die Macht des Staates als auch gegen die Macht der Kirche. Auch Tocqueville schreibt an einer Stelle: „Man wird Soldaten und Gefängnisse brauchen, wenn man den Glauben abschafft“ (Tocqueville OC III, 2, S. 551). Im Auto telefonieren kann für die anderen Verkehrsteilnehmer gefährlich sein. Man könnte jetzt behaupten, dass auch das Rauchen im Auto für die anderen Verkehrsteilnehmer gefährlich sein kann, da auch das Rauchen den Fahrer ablenken kann. Wenn dem so wäre, dann würde es aber nicht genügen, das Rauchen im Auto nur dann zu verbieten, wenn Kinder mitfahren, sondern man müsste es als solches verbieten.

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„Je weniger der Gesetzgeber die Gelegenheit haben wird zu handeln, umso weniger wird er dem Risiko ausgesetzt sein, sich zu irren“, meint Benjamin Constant, dem es in erster Linie darum geht, dem Individuum eine Privatsphäre zu garantieren, innerhalb welcher er selbstverantwortlich entscheiden und handeln muss, auch auf die Gefahr hin, die falschen Entscheidungen zu treffen und die falschen Handlungen auszuführen (Constant 2004, S. 62). Man sollte nicht davon ausgehen, so Constant weiter, dass der Gesetzgeber aufgeklärter oder wesentlich besser Bescheid weiß als diejenigen, die dem Gesetz unterworfen sind (Constant 2004, S. 65).80 Das Individuum kann sich zwar irren, aber daraus folgt nicht, dass man es bevormunden darf, zumal dann nicht, wenn die Irrtumsgefahr auch bei demjenigen besteht, der das Individuum bevormunden will. Man könnte sogar behaupten, dass beim Staat eine doppelte Irrtumsgefahr besteht: Er kann sich nicht nur hinsichtlich der Mittel irren, sondern auch hinsichtlich dessen, was das Individuum tatsächlich will. Und auch wenn man behauptet, dass das Individuum immer nur das wollen soll, was in seinem aufgeklärten Interesse ist – und was es de facto nicht immer unbedingt will –, so kann man doch trotzdem nicht behaupten, dass der Staat unbedingt immer besser als das Individuum weiß, was in dessen langfristigem Interesse liegt. Für die Denker des klassischen Liberalismus war der Hobbes’sche Leviathan ein Staatsmodell, dessen Verwirklichung es absolut zu vermeiden galt. Gleichzeitig waren sie, ebenso wie Hobbes, darum besorgt, die Bedingungen der Möglichkeit eines friedlichen und gesicherten gesellschaftlichen Zusammenlebens zu garantieren. Und wie Hobbes gingen auch sie davon aus, dass die Menschen Wesen mit egoistischen Begierden und Leidenschaften sind. Sie teilten wesentliche Hobbes’sche Prämissen, lehnten aber die Hobbes’sche Schlussfolgerung ab.81 Insofern sie den Leviathan als Garantie ablehnten und auch nicht an das Modell einer prästabilierten Harmonie bzw. an die Wirkung einer unsichtbaren Hand glaubten, blieb den klassischen Liberalen anscheinend keine andere Wahl übrig, als in den Individuen selbst nach einem Faktor zu suchen, durch den eine Regulierung des individuellen Handelns gesichert werden konnte. Noch etwas anderes als bloß die Angst vor dem Strafrecht musste die Menschen dazu bringen, moralkonform zu handeln. Wie wir vorhin gesehen haben, kann dies entweder der Respekt vor dem moralischen Gesetz, das wohlverstandene Eigeninteresse oder die Angst vor göttlichen Strafen sein. Aus der Sicht einiger der wichtigsten Vertreter des klassischen politischen Liberalismus war diese dritte Möglichkeit alles andere als attraktiv. Wilhelm von Humboldt bringt zwei Argumente gegen sie vor, wovon das erste uns schon aus der Diskussion um Hobbes bekannt ist. Einerseits, so Humboldt nämlich in seiner Schrift ‚Über Religion‘, ist die Angst vor jenseitigen Strafen kein wirklich wirksames Motiv, da diese Strafen in weiter Ferne liegen und, wie wir schon angemerkt hatten, die Menschen die Tendenz haben, die Zukunft zu diskontieren. Wenn man schon mit Strafandrohung operieren will, dann ist die Androhung bürgerlicher Strafen wirksamer als die Androhung 80 81

Constant schränkt seine Behauptung allerdings auf die gebildete Klasse ein. Die Regierung ist seiner Ansicht nach aufgeklärter als diejenigen, die sich mit mechanischen Arbeiten abgeben. Siehe hierzu Campagna 1999.

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jenseitiger Strafen (Humboldt 1980, S. 28). Bürgerliche Strafen folgen im Prinzip schneller auf das Begehen des Verbrechens und man kann ihre Ausführung sehen, was dann auch für ihre Realität bürgt. Die Ausführung jenseitiger Strafen hat noch kein lebender Mensch gesehen und es gibt demnach keinen empirischen Beweis ihrer Existenz. Andererseits, so Humboldt weiter, wird ein Mensch der sich nur aus Angst vor einer jenseitigen Bestrafung so verhält, wie er sich verhalten soll, kein besserer Mensch (Humboldt 1980, S. 28). Die Angst bringt eventuell moralkonformes Handeln hervor, aber sie macht den Menschen nicht zu einem besseren Menschen, bringt also kein wahrhaft moralisches Handeln hervor. Wenn demnach die Angst nicht mehr wirkt, weil der Mensch etwa aufgehört hat, an Gott zu glauben, oder weil das sich ihm darbietende Gut derart groß ist, dass die Aussicht auf eine riesige unmittelbare Lust die Angst vor einem ewigen Leiden sozusagen neutralisiert, dann wird der Mensch sich nicht mehr moralkonform verhalten. Will man moralkonformes Handeln auf Dauer stabilisieren, dann muss man den Menschen als solchen besser machen, was u. a. bedeutet, dass seinem moralkonformen Handeln nicht mehr die Angst vor Bestrafung als Motiv zu Grunde liegen darf. Man muss den Menschen dazu bringen, auch ohne Angst vor einer Bestrafung – mag sie menschlicher oder göttlicher Natur sein – das zu tun bzw. zu unterlassen, was er tun bzw. unterlassen soll. Auch Benjamin Constant lehnt es ab, in der Religion lediglich ein Verstärkungsmittel des Strafgesetzes zu sehen (Constant 1980a, S. 401). Man sollte dementsprechend davon absehen, den Menschen nur deshalb einen religiösen Glauben einflößen zu wollen, damit sie sich vor göttlichen Strafen fürchten und, bedingt durch diese Furcht, davon absehen, Verbrechen zu begehen. In De la religion verurteilt er die Philosophen, die die Religion zum Gendarmen machen: „Die Philosophen die, indem sie die bestehende Religion angriffen, die Prinzipien bewahren wollten, die jeder Religion als Basis dienen, betrachteten diese Prinzipien allerdings nur hinsichtlich ihrer unedelsten und gröbsten Funktion, nämlich als Ersatz für die Strafgesetze“ (Constant 1999, S. 70).82 Constant bestreitet hier nicht ausdrücklich, dass die Religion, indem sie den Menschen Angst vor göttlichen Strafen einflößt, ein Ersatz für das Strafrecht sein kann, welches letztere den Menschen lediglich Angst vor menschlichen Strafen einflößt. Er bestreitet auch nicht, dass die Religion dazu dienen kann, die Menschen zu moralischem Handeln zu motivieren. Sein 82

Auch Mill weist darauf hin, dass edle Geister nicht „den Wert der Religion als eines Zusatzes zu den menschlichen Gesetzen“ hervorheben bzw. dass sie in ihr nicht „die Hilfskraft des Diebfängers und des Henkers“ sehen (Mill 2006, S. 415). Allerdings glaubt Mill nicht, und darin unterscheidet er sich von Constant, dass man die Religion braucht, um eine edlere Moral zu unterstützen. In seinen Augen ist der Rekurs auf das Übernatürliche in jeglicher Hinsicht überflüssig: In ontologischer, in erkenntnistheoretischer und in motivationaler Hinsicht (Mill 2006, S. 417). Allerdings muss man sich mit Beiner fragen, ob die – übernatürliche – Religion in ihrer motivationalen Funktion für alle Bevölkerungsschichten überflüssig ist. Beiner meint nämlich, Mills Religion der Menschheit sei letztlich eine Religion für Philosophen (Beiner 2012, S. 267): Philosophen können sich durch die ganz abstrakte Vorstellung einer sich vervollkommnenden Menschheit dazu motivieren lassen, sich für die Vervollkommnung dieser Menschheit zu opfern, nicht aber Durchschnittsbürger oder gar ungebildete Menschen.

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Punkt ist folgender: Die Religion soll uns durch ein anderes Motiv als die Angst vor göttlichen Strafen zu moralischem Handeln motivieren. Der Fehler liegt nicht darin, in der Religion nach einem Handlungsmotiv zu suchen, noch liegt er darin, im Strafrecht nach einem Handlungsmotiv zu suchen, sondern er liegt darin, in der Religion nach einem dem Strafrecht eigentümlichen Handlungsmotiv zu suchen bzw. ein solches Motiv in sie zu importieren. Dass eine solche Funktionalisierung der Religion ihr Ziel erreicht, genügt Constant noch nicht als Rechtfertigungsgrund. Die Religion, und vor allem das sich in den positiven Religionen ausdrückende religiöse Gefühl, sind viel zu edel, als dass man sie auf eine unedle und grobe Funktion reduzieren darf83 – und die von Constant erwähnten Philosophen reduzieren die Religion auf diese ordnungspolitischen Zwecke.84 Man kann davon ausgehen, dass sie selbst Atheisten sind, dass sie aber glauben, dass die große Menge der Bevölkerung, die sich nicht aus rein rationalen Motiven gesetzeskonform verhalten kann, der Religion bedarf. Für diese Philosophen gilt nicht der Beitrag der Religion zum ewigen Seelenheil der betroffenen Individuen, sondern sie sehen in dem allgemein verbreiteten Glauben an ein ewiges Seelenheil und in dem Glauben, dass die Erlangung dieses Seelenheils vom gesetzeskonformen Handeln abhängt, ein Mittel, um die Menschen zu einem solchen gesetzeskonformen Handeln zu manipulieren. In diesem Zusammenhang widersetzt sich Constant auch einem gängigen Vorurteil das besagt, dass die repressive Dimension der Religion nicht für die höheren, gebildeten Klassen, sondern nur für das niedere und ungebildete Volk notwendig ist, dass man also nur das Volk durch die Androhung göttlicher Strafen vor dem Begehen von Verbrechen abhalten soll: „Die Verbrechen der armen und weniger aufgeklärten Klassen haben gewaltsamere, schrecklichere Merkmale, aber sie sind gleichzeitig leichter zu ermitteln und zu unterdrücken. Das Gesetz umgibt sie, fasst sie, erdrückt sie mit Leichtigkeit, da diese Verbrechen es auf eine direkte Weise treffen. Die Verdorbenheit der höheren Klassen ist nuanciert, vielfältig, entzieht sich den positiven Gesetzen, umgeht ihren Geist, indem sie sich an ihren Formen vorbeischleicht, und stellt ihnen darüber hinaus das Ansehen, den Einfluss, die Macht entgegen“ (Constant 1980a, S. 400). Aus dieser Perspektive betrachtet, hätten es die höheren Klassen durchaus nötiger als die niederen, durch die Angst vor göttlichen Strafen zu einem moral- und gesetzeskonformen Handeln motiviert zu werden. Denn im Gegensatz zur staatlichen Macht, lässt sich Gott nicht durch Ansehen, Einfluss und Macht einschüchtern, und man kann ihn auch nicht so täuschen, wie man ein irdisches Gericht täuschen kann. Wenn der Staat demnach leicht gegen die Verbrechen der niederen Klassen vor83 84

Constant findet, dass schon konkrete Vorstellungen eines Jenseits zu einer bestimmten Erniedrigung der Religion führen, dass sie also schon ihrem edlen Charakter Abbruch tun (Constant 1999, S. 118). Constant wendet sich in erster Linie gegen diese Reduzierung. So erkennt er in De la religion an, dass die Religion dazu nützlich ist, um Verbrechen zu verhindern, will aber nicht, dass dieser Nutzen uns vergessen lässt, dass ein viel wichtiger Nutzen der Religion darin besteht, bestimmte Gefühle in uns zu erwecken (Constant 1999, S. 114). Die emotionsfördernde Rolle der Religion darf demnach nicht auf dem Altar ihrer das Strafrecht unterstützenden Funktion geopfert werden.

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gehen kann, so dass diese Klassen sich wenig Hoffnung auf irdische Straffreiheit machen können, und wenn er nur schwerlich die Verbrechen der höheren Klassen bekämpfen kann, so dass diese sich eine große Hoffnung auf irdische Straffreiheit machen können, dann besteht eine durchaus größere Notwendigkeit, den höheren Klassen die Angst vor göttlichen Strafen einzuflößen, als dies für die niederen Klassen gilt. Allerdings wird man sich fragen dürfen, ob die höheren Klassen, die die Religion, so Constant, in ihrer das Strafrecht unterstützenden Funktion weit mehr nötig hätten als die niederen Klassen, überhaupt noch an die göttlichen Strafen glauben und demnach von der Androhung solcher Strafen abgeschreckt werden können. Wenn sie nicht mehr an die Existenz göttlicher Strafen glauben, dann stehen wir vor einer Situation, in welcher die Religion in ihrer das Strafrecht unterstützenden Funktion unnötig ist: Sie ist unnötig für die niederen Klassen, da hier der Staat schon wirksam genug ist, und sie ist unnötig für die höheren Klassen, weil sie bei ihnen, wegen des fehlenden Glaubens, unwirksam ist. Auch wenn er zugibt, dass es einzelne Menschen gibt, die auch ohne religiöses Gefühl moralisch sein können, (Constant 1980a, S. 395), so glaubt Constant doch, dass sie eine Minderheit bilden, und dass bei den meisten Menschen das religiöse Gefühl zu einem moralischen Handeln beitragen kann. Das religiöse Gefühl wirkt aber dabei nicht als ein furchterregender Faktor, ganz im Gegenteil. Constant behauptet demnach nicht, dass Religion und Moral nichts miteinander zu haben und dass die Religion völlig irrelevant ist für die Moral. Er behauptet vielmehr eine solche Relevanz, wechselt aber die Perspektive, weg von der das Strafrecht unterstützenden Funktion der Religion und hin zu einer Sicht, die der Würde der Religion besser entspricht. Die Religion soll uns, trivial gesagt, nicht das Fürchten lernen, sondern vielmehr die Achtung. Dabei ist zu betonen, dass er keineswegs die Moral auf die Religion gründen will, und vor allem nicht auf irgendwelche positive Religion. Dadurch wäre die Moral nämlich dem Schicksal dieser positiven Religion ausgesetzt, d. h. sie wäre zum Verschwinden verurteilt (Constant 1970a, S. 62–3). Indem das religiöse Gefühl unsere Seele erhebt, so Constant, befreit es uns von unseren egoistischen Instinkten (Constant 1980a, S. 394). Insofern viele Verbrechen diesen egoistischen Instinkten entspringen, wirkt das religiöse Gefühl ihnen entgegen. Das religiöse Gefühl wirkt hier nicht dadurch, dass es in uns die Angst vor einer göttlichen Bestrafung erweckt, sollten wir unseren egoistischen Instinkten nachgehen, die nach einer verbrecherischen unmittelbaren Befriedigung trachten, sondern dadurch, dass es uns von unserem Egoismus befreit und uns somit zu besseren Menschen macht. Insofern bekämpft das religiöse Gefühl die egoistische Wurzel der Verbrechen, eine egoistische Wurzel, die alle diejenigen unangetastet lassen, die mit dem Motiv der Angst operieren wollen. Wer nämlich nur aus Angst vor einer Bestrafung davon absieht, seinem Nachbarn das Geld zu stehlen, um damit seine egoistischen Begierden zu befriedigen, unterdrückt sicherlich diese Begierden, aber er tut es vor dem Hintergrund einer anderen egoistischen Begierde, nämlich der Begierde, keine Schmerzen als Konsequenz seiner Handlung zu erleiden. Hier wird der menschliche Charakter also nicht erhoben, sondern er bleibt im Sumpf der egoistischen Begierden stecken. Es geschieht keine Moralisierung des Menschen, sondern lediglich eine egoistisch motivierte Einschränkung der Handlungen.

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In einer Passage aus De la religion stellt Constant einen Zusammenhang zwischen der Moralisierung durch das religiöse Gefühl und der Frage der staatlichen Eingriffe in die Privatsphäre der Individuen her. Die Verbrechensprävention, heißt es dort, „stellt eine unerschöpfliche Quelle von Belästigungen und Willkür dar, wenn die weltliche Autorität ihre Eingriffe nach diesem Axiom [das Präventionsaxiom – N. C.]85 richten will. Aber das religiöse Gefühl, das bis in die Tiefen der Seele dringt, kann dieses Ziel ohne Willkür und Belästigungen erreichen“ (Constant 1999, S. 514). Constant stellt hier nicht das Prinzip der Verbrechensprävention als solches in Frage: Eine Gesellschaft in welcher die Menschen keine Verbrechen begehen ist an sich besser als eine Gesellschaft, in welcher Verbrechen ausgeübt werden. Was ihn interessiert, sind die Modalitäten der Prävention: Wenn der Staat sich darum kümmert, dann kommt er nicht umhin, sich in die Privatsphäre seiner Bürger einzumischen. Und dies kann er nur, wie Constant sagt, mittels vieler Belästigungen und unter ständiger Gefahr willkürlicher Handlungen. Im Gegensatz dazu steht das religiöse Gefühl: Dieses hält die Menschen von Verbrechen ab, ohne dass ein äußerer Eingriff nötig wäre und ohne dass man sie stets kontrollieren müsste. Das religiöse Gefühl, das soll noch einmal betont werden, wirkt dabei nicht auf das Motiv der Furcht vor einer Bestrafung, sondern es bringt die Menschen dazu, einander zu respektieren. Je mehr die Menschen sich von sich aus gegenseitig respektieren, umso weniger wird es der willkürlichen Belästigungen seitens des Staates bedürfen. Und je weniger willkürliche Belästigungen es bedarf, umso freier werden die Menschen sein. Insofern spielt das religiöse Gefühl eine wichtige Rolle für die Bewahrung und die Förderung eines liberalen politischen Gemeinwesens.86 In einem aufgeklärten Zeitalter, so Constant an einer anderen Stelle, „besänftigt die Religion die Sitten, erhebt die Seele, gibt dem Ganzen des menschlichen Lebens eine reinere und moralischere Tendenz“ (Constant 2004, S. 121). Mag auch vielleicht in weniger aufgeklärten Zeiten die Religion als Zusatz zum Strafrecht gedient haben, so muss sich ein aufgeklärtes Zeitalter von dieser Funktion der Religion verabschieden.87 Je aufgeklärter die Menschen werden, umso moralischer werden sie auch. Und je moralischer sie werden, umso mehr werden sie edlen Handlungsmotiven folgen.

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Constant formuliert es wie folgt: „[E]s ist besser, die Verbrechen zu verhindern, als sie zu bestrafen“ (Constant 1999, S. 515). Eisenach weist auf die hier vorliegende paradoxale Situation hin: „Eine Gesellschaft, die durch ökonomischen Kalkül und Mangelerscheinungen auf der Ebene des Marktes gekennzeichnet ist, benötigt ein größeres Maß an Strafgesetzgebung als frühere Gesellschaften, die durch affektive Bindungen und Privilegien zusammengehalten wurden, durch die der Ausdruck des Selbstinteresses unterbunden wurde. […] Der rächende Gott eines früheren Liberalismus verschwindet nur, um unter einem anderen Kleid aufzutauchen“ (Eisenach 1989, S. 118). Eine ähnliche Problematik wird von Waldron in seinem Aufsatz ‚When Justice replaces Affection: The Need for Rights‘ aufgegriffen (Waldron 1993b). Der Grundgedanke ist folgender: Wer sich nicht mehr aus Liebe um das Wohl seiner Kinder kümmert, muss durch das Rechtssystem dazu gezwungen werden. Ihre besänftigende Funktion übt sie aber auch schon in weniger zivilisierten Zeiten aus (Constant 1970a, S. 59).

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Insofern Constant behauptet, dass große Seelen – und deren gibt es nicht viele – auch ohne religiöses Gefühl moralisch sein können, gibt er implizit zu verstehen, dass die Keime der Moralität schon in der menschlichen Natur liegen und unabhängig vom religiösen Gefühl sind. In seiner Schrift ‚Über Religion‘ hatte Humboldt behauptet, dass die Triebfeder zur Tugend in der menschlichen Natur liegt und er hatte daraus geschlossen, dass man die Triebfeder der Religion eigentlich nicht braucht (Humboldt 1980, S. 29).88 Dabei bestreitet er nicht, dass die Religion eine zusätzliche Triebfeder zur Tugend sein kann, da sie nämlich den Sinn für die Schönheit der Tugend in uns erwecken kann. Doch die Nützlichkeit der Religion in dieser Hinsicht ist kein hinreichender Grund, sie auch automatisch als zusätzliche Triebfeder zu gebrauchen. Was sein kann, muss nicht sein, und es kann sogar sein, dass es nicht sein soll. Denn, so Humboldt, man muss „ihren Nutzen gegen ihren Schaden“ abwägen (Humboldt 1980, S. 29). Der bei der Religion zu berücksichtigende Schaden ist die Einschränkung der Denkfreiheit. Wenn man demnach auf die Religion verzichten kann, dann sollte man lieber auf sie verzichten, auch wenn uns dadurch die Tugend nicht so schön erscheint, wie sie uns erscheinen könnte. Denn wirksam scheint die Religion nur zu sein, wenn man auch tatsächlich an sie glaubt. Doch wenn ihre Wirksamkeit vom Glauben abhängt, dann wird man, um des Erhalts der Wirksamkeit willen, die Kritik am Glauben oder seine Hinterfragung unterbinden. Die Einschränkung der Denk- und Redefreiheit erscheint demnach als Preis für die Wirksamkeit der Religion im Hinblick auf die Förderung der Tugend. Für Humboldt ist dies aber ein zu hoher Preis für einen ästhetischen Mehrwert, auf den man auch hätte verzichten können, ohne dadurch gleich die Tugend als solche mit zu opfern. Da Constant nicht so sehr die positiven Religionen als vielmehr das religiöse Gefühl als solches als Triebfeder zum moralischen Handeln nimmt, fällt der Schaden weg, den Humboldt erwähnt. Das religiöse Gefühl ist nämlich mit keiner bestimmten religiösen Doktrin identisch und verlangt demnach nicht, dass man bestimmte Dogmen akzeptiert. Zu einer Einschränkung der Denk- und Redefreiheit braucht es also nicht zu kommen. Und Constant hätte, ebenso wie Humboldt, eine solche Einschränkung abgelehnt, da auch er ein Verfechter dieser Freiheiten ist. Allerdings kann das religiöse Gefühl den von ihm ergriffenen Menschen zu grausamen Handlungen führen. Wer für die höchsten Ideale zu kämpfen glaubt und dies mit einem, wie man zu sagen pflegt, religiösen Eifer tut, kann u. U. dazu nei88

In seiner Schrift ‚Über das Verhältniss der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung‘, schreibt Wilhelm von Humboldt allerdings: „Ein wahrhaft religiöser Mensch ist schon eben dadurch auch ein sittlicher; und es wäre eine gewissermassen unnütze Frage, ob ein sittlicher Mensch auch nothwendig ein religiöser seyn muss? da die wahre Sittlichkeit in ihren höchsten Principien eine solche Anerkennung von dem Verhältniss des Menschen zu dem, was über die Endlichkeit hinaus liegt, voraussetzt, dass sie selbst nothwendig Religion ist“ (Humboldt 1980b, S. 563). Weder die Schrift ‚Über Religion‘, noch die Schrift, aus der das vorliegende Zitat stammt, sind in der bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienenen Ausgabe der Werke Humboldts datiert. Aus dem chronologisch geordneten Inhaltsverzeichnis, in dem so gut wie alle anderen Texte datiert sind, geht allerdings hervor, dass ‚Über Religion‘ etwa ein Vierteljahrhundert älter ist als der Text über Poesie und Religion.

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gen, alle anderen Werte, wie etwa das menschliche Leben, zu relativieren.89 Constant glaubt dabei nicht, dass das religiöse Gefühl die Menschen zu eigennützigen Verbrechen führen kann, wohl aber, dass es den vom furor religiosus Ergriffenen zu Handlungen führen kann, die die Moral zwar auch verurteilt, obwohl sie nicht eigennütziger Natur sind. So schreibt er: „Es gibt in uns ein Prinzip, das sich gegen jeden intellektuellen Zwang empört. Dieses Prinzip kann bis zum Wahnsinn gehen; es kann die Ursache vieler Verbrechen sein; aber es hängt mit allem Edlem in unserer Natur zusammen“ (Constant 1999, S. 42).90 Der Mensch will sich seine intellektuelle Freiheit nicht nehmen lassen, und wenn man trotzdem versucht, sie ihm zu nehmen, dann wird er u. U. bereit sein, zu den Waffen zu greifen, um sie zu verteidigen, mag er auch dabei einen Bürgerkrieg auslösen und damit die Ursache vieler Verbrechen sein – die er selbst im Eifer des Gefechts begeht, oder die andere im Laufe eines solchen Krieges begehen. Mögen Ordnung und Freiheit auch zusammenhängen, so kann es doch vorkommen, dass die Freiheit oder der Wille zur Freiheit Unordnung stiften.91 Wie auch Tocqueville bemerkt, kann die „Unruhe der Freiheit das Wohlergehen stören“92 und dazu führen, dass die Menschen, aus „Angst vor der Anarchie“93, bereit sind, auf die Freiheit zu verzichten (Tocqueville OC I, 2, II, 14, S. 147) – und damit implizit auch auf das, was den Willen zur Freiheit am Leben hält, also die Religion. Die Religion ist also nicht nur ein Instrument, 89

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Carl Schmitt hat auf diese Gefahr hingewiesen. Wie Donoso Cortés ist auch Schmitt der Ansicht, „dass gerade die Pseudo-Religion der absoluten Humanität den Weg zu einem unmenschlichen Terror öffnet“ (Schmitt 1950, S. 108). Wer den absoluten Respekt der Menschenrechte über alles stellt, wird bereit sein, einen diesen Respekt – in seinen Augen zumindest – garantierenden Zustand auch dadurch zu schaffen, dass er sich massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig macht, die er aber als Menschenrechtsverletzungen zum Zweck eines endgültigen Endes aller Menschenrechtsverletzungen zu legitimieren versucht. Im Gegensatz zu Constant, will Schmitt aber mit allen Mitteln versuchen, dieser Gefahr entgegenzuwirken und er kann einem Menschenrechtsenthuasismus nichts Positives abgewinnen. Wie auch Roland Herpich festhält: „Religion wird von vielen als gefährlich eingestuft und ist es tatsächlich, da sie besondere Kräfte im Menschen, in Gruppen und Gesellschaften freisetzen kann“ (Herpich 2015, S. 32). In einem Brief an Gustave de Beaumont spricht Tocqueville von den „Orgien der englischen Freiheit“ (Tocqueville OC VIII, 1, S. 60), und meint damit die manchmal gewalttätigen Geschehnisse, die sich im Rahmen der Lokalwahlen in England ereigneten. Aus der Sicht Tocquevilles sind solche Exzesse der Freiheit immer noch besser als eine allgemeine Gleichgültigkeit ihr gegenüber. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch folgende Aussage Mablys: „Wenn die Liebe zur Freiheit die Seele erhebt, so erregt sie auch oft die Leidenschaften auf eine gefährliche Art“ (Mably 1791, S. 109). Was hier von der Freiheit gilt, gilt auch für die Religion, und in Mably Augen gilt es, sowohl den religiösen Fanatismus als auch die religiöse Gleichgültigkeit zu vermeiden (Mably 1789, S. 351). Und eine freie Gesellschaft wird immer eine unruhige Gesellschaft sein (Tocqueville OC III, 2, S. 109). Auch Constant weist darauf hin, dass die Besitzer aus Angst vor den Nicht-Besitzern und deren Anspruch, die Besitzverhältnisse radikal umzuordnen, einer Tyrannei zustimmen könnten. Die Angst, so Constant, „ist in der Politik die feindlichste aller Leidenschaften“ (Constant 1997, S. 183). Man wird sich allerdings fragen müssen, ob nicht auch Constant, aus Angst vor dem niederen Volk, diesem das Recht verweigert, an den Wahlen teilzunehmen und dementsprechend für ein Zensuswahlrecht zu plädieren.

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das man zur Erhaltung der Macht und Ordnung einsetzen kann, sondern sie kann sich auch als ein Instrument entpuppen, das man gegen eine die Freiheit unterdrückende Macht einsetzt. Bezüglich dieser Janusköpfigkeit der Religion schreibt Constant: „[W]enn die Religion uns notwendig ist […], so ist es unnütz, der Religion ihre Nachteile oder Gefahren vorzuwerfen. Die Notwendigkeit wird immer über die Vorsicht siegen“ (Constant 1999, S. 67). Die möglichen Nachteile oder Gefahren der Religion, die Constant nicht abstreitet94, wiegen demnach leicht, wenn man sie mit den Nachteilen und Gefahren der Religionslosigkeit vergleicht.95 Sie sollten auf jeden Fall kein Grund sein, das Verschwinden der Religion zu wünschen oder sich dieses Verschwinden zum politischen Programm zu machen. Wenn der notwendige Preis für die allgemeine Förderung der Moralität der furor religiosus ist, dann sollte man also, laut Constant, bereit sein, diesen Preis zu zahlen. Der Nutzen ist in seinen Augen größer als der Schaden. Aber es ist ein Schaden anderer Natur, als der bei Humboldt hervorgehobene. Während Humboldt sich nämlich darüber beklagt, dass die positiven Religionen mit einer Einschränkung der Gedankenfreiheit einhergehen, behauptet Constant, dass das religiöse Gefühl zu Handlungen führen kann, die das menschliche Leben und die gesellschaftliche Ordnung gefährden. Aus der Sicht Constants ist das individuelle menschliche Leben nicht so wichtig wie die alle Menschen betreffenden Ideale. Oder anders formuliert: Die Vervollkommnung des Menschengeschlechts hat Vorrang vor dem individuellen Glück und vor dem individuellen Leben.96 Wenn demnach nur dort für die Vervollkommnung des Menschengeschlechts gekämpft wird, wo das religiöse Gefühl eine starke motivierende Wirkung hat, und wenn diese starke motivierende Wirkung durchaus das Opfer menschlichen Lebens oder menschlichen Glücks als Konsequenz haben kann, dann muss man dieses Opfer akzeptieren. Wir sind hier sehr weit entfernt von einem Liberalismus, dessen letzter Orientierungspunkt das in der kontingenten Faktizität seiner egoistischen Begierden gefangene Individuum ist. Genauso wie Constant die Freiheit der Alten von der Freiheit der Modernen unterschieden hat, sollte man auch einen Unterschied zwischen einem Liberalismus der Alten und einem Liberalismus der Modernen machen. Und genauso wie Constant es hinsichtlich seiner kanonisch gewordenen Unterscheidung gemacht hat, sollte man den Versuch machen, die beiden Liberalismen in ein kritisches Gespräch miteinander zu bringen.

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In einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1804 heißt es: „Ich will beweisen, dass die Religion, trotz ihrer individuellen Vorteile, solche Nachteile hat, dass man aus ihr nicht die Basis der Moral machen soll“ (Constant 1957, S. 354). Constant gründet die Moral nicht auf die Religion, aber er lehnt es nicht ab, in ihr, und vor allem im religiösen Gefühl, eine Motivationsquelle für moralisches Handeln zu suchen. Er interessiert sich also nicht für die legitimatorische, sondern nur für die motivationale Funktion der Religion. In einem anderen Werk schreibt Constant bezüglich der Freiheit, dass deren Nachteile unbedeutend sind, vergleicht man sie mit denjenigen des Despotismus (Constant 1991, S. 320). Ohne Constant zu nennen, greift Mill diejenigen an die behaupten, die Güte Gottes bestünde nicht darin, das menschliche Glück, sondern die menschliche Tugend zu wollen (Mill 2006b, S. 389). Aus der Sicht des Utilitaristen Mill, steht das Glück an erster Stelle.

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Ein wichtiger Punkt bei Constant ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen einer höheren und einer niederen Moral.97 Diese Unterscheidung bezieht sich nicht auf den Inhalt – also auf die von der Moral verlangten Handlungen –, sondern auf die Motivation. Im Fall der höheren Moral ist, so Constant, das religiöse Gefühl die Triebfeder für das Handeln. Hier ist jede Spur von Egoismus verschwunden, und wir werden einzig und allein durch die Schönheit oder Erhabenheit des tugendhaften Handelns motiviert. Es ist somit eine intrinsische Eigenschaft der Handlung oder des Handelns, die uns motiviert, und nicht der Bezug der Handlung auf unsere Interessen, also ihre diesbezügliche Zweckdienlichkeit. Moralisches Handeln ist in diesem Sinne völlig uneigennützig. Dieser ästhetischen Triebfeder setzt Constant die rein rationale entgegen. Sie orientiert sich am wohlverstandenen Eigeninteresse des Handelnden: Man handelt moralkonform, weil man einsieht, dass ein solches Handeln in unserem Interesse liegt. Eine solche Einsicht kann auch unabhängig vom Glauben an eine jenseitige oder diesseitige Bestrafung existieren. Man sollte demnach die Moral des wohlverstandenen Eigeninteresses nicht unbedingt mit einem bloß auf der Angst vor einer Bestrafung beruhenden moralkonformen Handeln gleichsetzen. Wer moralkonform handelt, kann es auch tun, weil er sich dadurch erhofft, dass auch die anderen ihm gegenüber moralkonform handeln werden, wobei vorausgesetzt wird, dass ein allgemeines moralkonformes Handeln in der Regel dem wohlverstandenen Eigeninteresse besser entspricht als eine Situation, die dem Hobbes’schen Naturzustand ähnelt.98 Während das religiöse Gefühl die Gefahr des furor religiosus und die aus ihm entspringenden mögliche moralwidrigen Handlungen nicht abwenden kann, sondern sie in sich einschließt, schließt das wohlverstandene Eigeninteresse jedes gewalttätige leidenschaftliche Handeln aus, da es das leidenschaftliche Handeln schon rein als solches ausschließt. Wer nach dem wohlverstandenen Eigeninteresse lebt, handelt nur nach den dicta seines Verstandes und lässt sich nicht durch irrationale oder nicht rationale Begierden und Leidenschaften lenken. Vielmehr behält ein solcher Mensch immer die Kontrolle über sich selbst. Er handelt immer so, wie es ihm die rationale Überlegung nahelegt. Insofern verlangt die Lehre vom wohlverstandenen Eigentinteresse eine bestimmte Askese und damit auch eine Selbstkontrolle, die man beim blinden oder schlechtverstandenen Egoismus nicht findet. Wie Constant an einer Stelle festhält, ist das wohlverstandene Eigeninteresse keine Quelle von Verbrechen (Constant 1999, S. 31), wie es das blinde Eigeninteresse durchaus sein mag. Constant kritisiert also nicht nur die blinden Egoisten, die immer nur ihr kurzfristiges Wohl sehen und nicht auch über die langfristigen Konsequenzen ihres Handelns nachdenken. So wird etwa der blinde Egoist zum Schwarzfahren neigen. Wenn aber alle so handeln wie er, dann bricht das ganze Transportsystem zusammen und der Egoist kann nicht mehr von ihm profitieren. Er wird dann vielleicht viel mehr für Taxis ausgeben müssen, als er für Bus- oder 97 98

Constant könnte Nietzsche zustimmen, wenn dieser vom Utilitarismus sagt, er sei eine Moral, die nur für mittelmäßige Menschen gilt (Nietzsche 1999a, S. 165). Man könnte die Ablehnung der Kooperation allerdings als eine informelle Art der Bestrafung ansehen.

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Metrofahrkarten ausgegeben hätte. Wer sich das System des wohlverstandenen Eigeninteresses zu eigen gemacht hat, wird diese letzte Konsequenz in Betracht ziehen und sich dementsprechend dafür entscheiden, Fahrkarten zu kaufen, anstatt schwarz zu fahren. Es geht ihm dabei nicht darum, dass allen anderen Menschen ein System öffentlicher Transportmittel zur Verfügung steht, sondern er will auch noch in Zukunft von einem solchen System profitieren. Natürlich wird man hier voraussetzen müssen, dass eine große Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Menschen sich ähnlich verhalten werden wie er. Wenn nämlich der Egoist weiß, dass nur er die Transportmittel ohne gültige Fahrkarte benutzen wird, dann liegt es in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse, keine Fahrkarten zu kaufen. Der aufgeklärte Egoist wird demnach nur dann Fahrkarten kaufen, wenn eine der beiden folgenden Bedingungen erfüllt ist: (a) es besteht ein sehr großes Risiko, dass er beim Schwarzfahren erwischt wird und ein konsequentes Bußgeld bezahlen muss – das Bußgeld muss also abschreckend genug sein – oder (b) es besteht ein großes Risiko, dass viele anderen Benutzer der öffentlichen Transportmittel ihn nachahmen. Im ersten Fall hat er Angst vor der Strafe, im zweiten Fall befürchtet er, nicht mehr von einem bestimmten Gut profitieren zu können. Wer auf dem Terrain der niederen Moral bleibt, wird kein besserer Mensch, sondern bleibt ein Egoist, denn auch der aufgeklärte Egoist ist noch ein Egoist. Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus gesehen steht er über dem blinden Egoisten, vom Standpunkt der inneren Moralität aus betrachtet, gibt es aber keinen Unterschied. Nur wer das Terrain des Egoismus ganz verlässt und sich allein durch das religiöse Gefühl motivieren lässt, wird ein besserer Mensch. Die niedere Moral kann durchaus als Zusatz zum Strafrecht gesehen werden, da ihre Funktionsweise dem des Strafrechts partiell ähnelt bzw. auf dasselbe Motiv – das wohlverstandene Eigeninteresse – setzt wie das Strafrecht. Bei der höheren Moral verlassen wir aber das Terrain der strafrechtlichen Motivationslogik, da hier ein Motiv ins Spiel kommt, das jenseits des wohlverstandenen Eigeninteresses liegt und das uns sogar zu Handlungen motivieren kann, die diesem Eigeninteresse widersprechen können. Auch Tocqueville spricht von der Funktion der Religion im Hinblick auf die Besserung des Menschen. Der offizielle Grund für Tocquevilles und Beaumonts Amerikareise war der Wunsch der französischen Regierung, einen Bericht über das Gefängniswesen in Amerika zu erhalten.99 Tocqueville und Beaumont haben die ihnen anvertraute Aufgabe erledigt, und Tocqueville hat neben dem Bericht über das amerikanische Gefängniswesen auch noch einige kleinere Texte zu den Gefängnissen verfasst. In ‚Le bagne de Toulon‘, einem Text aus dem Jahr 1832, schreibt Tocqueville: „Das einzige mir bekannte wirksame Mittel einer moralischen Regenerierung der Gefangenen, es fällt mir nicht schwer, es zu sagen, ist die Religion. Solange man 99

Um ganz genau zu sein, müsste man sagen, dass Tocqueville sich angeboten hat, das amerikanische Gefängniswesen untersuchen zu gehen und dass das Ministerium positiv auf dieses Angebot reagiert hat. Tocqueville und Beaumont mussten übrigens ihre Reise selbst finanzieren. In seinem zuerst 1938 erschienenen Monumentalwerk, durch welches das Interesse für Tocqueville wieder erweckt wurde, gibt Pierson eine detaillierte Beschreibung des Aufenthalts Tocquevilles und Beaumonts in Amerika (Pierson 1996).

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die Religion nicht auf eine wirksame Weise in unsere Gefängnisse bringt, wird man sie dezent und produktiv machen können, aber reformierend, nein“ (Tocqueville OC IV, 2, S. 55).100 Ohne Religion wird man also zwar das Leben in den Gefängnissen so gestalten können, dass die Gefangenen sich (a) die Köpfe nicht gegenseitig einschlagen und (b) produzieren und sich somit zum Teil sozial nützlich machen bzw. für die Kosten ihres Unterhalts selbst aufkommen. Aber dieses Ergebnis erreicht man nicht dadurch, dass man sie zu besseren Menschen macht, sondern nur dadurch, dass man auf ihre eigeninteressierten Motive agiert, sei es die Angst vor Schlägen oder die Hoffnung auf eine frühzeitige Entlassung oder bessere Haftbedingungen. Nur wenn man die Gefangenen dazu bringt, ihre Eigeninteressen zu transzendieren und eine andere Dimension des Seins zu betrachten als die bloß sinnliche und materielle, wird es möglich sein, sie auch zu besseren Menschen zu machen. In einer Notiz aus dem Jahr 1832, die er anlässlich eines Besuchs der Genfer Gefängnisse niedergeschrieben hat, spricht Tocqueville von einer „antichristlichen Philanthropie“ der Franzosen, die er mit der Strafvollzugspolitik der Schweizer kontrastiert. Denn während die Genfer sich nämlich auch um die spirituellen Belange der Gefangenen kümmern und demnach, legt man die im Text über das Gefängnis von Toulon geäußerten Gedanken zu Grunde, um ihre moralische Besserung, glauben die Franzosen, dass es genügt, dem Menschen genügend Nahrung und eine angemessene Unterkunft zu bieten (Tocqueville OC IV, 2, S. 70). In Frankreich vernachlässigt die Gefängnisverwaltung die spirituellen Belange der Gefangenen, was sich u. a. darin äußert, dass die Wächter nicht an religiösen Gottesdiensten teilnehmen, die Gefangenen sonntags arbeiten müssen und nicht durch das Gesetz vorgesehen ist, dass es in jedem Gefängnis Priester gibt (Tocqueville OC IV, 2, S. 56). Hinzu kommt, dass die Gefangenen in einer unmoralischen Umwelt leben, die keinen günstigen Einfluss auf die Entwicklung des religiösen Prinzips bei ihnen hat (Tocqueville OC IV, 2, S. 55). Elf Jahre später, in einem Bericht den er für die französische Abgeordnetenkammer verfasst und der sich auf einen Gesetzesentwurf zu den Gefängnissen bezieht, bemerkt Tocqueville, dass „vor allem die Festigung oder die Dekadenz des religiösen Glaubens“101 das Ab- oder Zunehmen der Kriminalitätsrate erklärt (Tocqueville OC IV, 2, S. 119). Wo die religiösen Glaubenssätze das Handeln der Menschen nicht mehr bestimmen, nimmt auch die Kriminalitätsrate zu. Die Religion wirkt also für Tocqueville wie eine Art Bremse, die die Menschen davon abhält, Verbrechen zu begehen. Er lässt aber in den hier erwähnten Texten die Frage offen, wie die Religion wirkt. Ist es die Angst vor einer göttlichen Bestrafung die 100 Einer seiner amerikanischen Gesprächspartner, ein gewisser Elam Lynds, ist hier allerdings skeptischer. Er meint nämlich, dass ein Gefangener trotz der Predigten nicht zu einem besseren Christen wird (Tocqueville OC V, 1, S. 66). 101 Tocqueville nennt den religiösen Glauben als Hauptursache, sieht aber auch in der Entwicklung der Industrie und des Reichtums, den Strafgesetzen und ganz allgemein den Sitten, Ursachen, die auf die Kriminalitätsrate einwirken. In einem Brief an Honoré Langlois aus dem Jahr 1838 hatte Tocqueville noch erklärt, dass es das Faulenzen ist, das fast alle Menschen ins Verbrechen treibt (Tocqueville OC IV, 2, S. 96).

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den Menschen davon abhält, sich an seinesgleichen oder an dessen Eigentum zu vergreifen? Oder ist es die durch die Religion vermittelte Einsicht, dass man jeden Menschen als Geschöpf Gottes respektieren muss? Im Text über das Gefängnis von Toulon stellt Tocqueville fest, dass es nur zwei Weisen gibt, den Willen eines Menschen zu beeinflussen: Das Überzeugen und die Angst (Tocqueville OC IV, 2, S. 59). Diese zwei genannten Weisen sind, so könnte man Tocqueville interpretieren, stellvertretend für den Rückgriff auf eigennützige Motive einerseits (Angst) und das Absehen von solchen Motiven andererseits (Überzeugung). Prinzipiell kann die Religion auf beide Weise funktionieren. Wie Constant, scheint auch Tocqueville davon auszugehen, dass es der Religion nur dann gelingen wird, bessere Menschen zu machen, wenn sie sich nicht auf eigennützige Motive stützt. Allerdings hat Tocqueville aus seinen Beobachtungen in Amerika gelernt, dass man sich vielleicht nicht zu sehr auf die Religion oder auf ein tiefes religiöses Gefühl verlassen sollte. Sieht man sich das religiöse Verhalten der Amerikaner an, dann findet man etwas „so ruhiges, so methodisches und so berechnetes, dass es sehr wohl den Anschein hat, als ob es vielmehr der Verstand als das Herz ist, das sie zu Füßen der Altäre bringt“ (Tocqueville OC I, 2, II, 9, S. 132). Die Religiosität der Amerikaner scheint also eher das Resultat einer Vernunfteinsicht – allerdings keine Vernunfteinsicht in die Wahrheit der Religion – zu sein, als zu jenen „habits of the heart“ zu gehören, von denen Bellah e. a. sprechen.102 Die Amerikaner scheinen sich nicht religiös zu verhalten, weil sie von einem religiösen Eifer ergriffen sind, sondern weil sie implizit davon ausgehen, dass ein solches Verhalten positive Konsequenzen für die soziale Ordnung hat. Die Amerikaner, heißt es unumwunden, „folgen ihrer Religion aus Interesse, aber das Interesse das man hat, ihr zu folgen, verlegen sie oft in diese Welt“ (Tocqueville OC I, 2, II, 9, S. 132). Die Amerikaner scheinen also nicht an einer jenseitigen Welt und an ihrem Seelenheil in dieser jenseitigen Welt interessiert zu sein, sondern an der diesseitigen, und insofern sich die Religion diesbezüglich positiv auswirkt, folgen sie ihr. Die Amerikaner, so heißt es in der Überschrift des Kapitels aus dem die eben zitierten Stellen stammen, wenden „die Lehre des wohlverstandenen Interesses in religiösen Angelegenheiten“ an. Das vorige Kapitel der Démocratie hörte mit folgenden Zeilen auf: „Ich glaube nicht, dass die Lehre des Eigeninteresses, wie man sie in Amerika predigt, in allen ihren Teilen evident ist; aber sie enthält derart viele evidente Wahrheiten, dass es genügt, die Menschen aufzuklären, damit sie sie sehen. Klärt sie also um jeden

102 Bellah e. a. 1996. Die Studie erschien zuerst 1985 und ging von Tocquevilles Bemerkungen über den Individualismus aus. Bellah e. a. wollten sehen, inwiefern im Amerika des ausgehenden XX. Jahrhunderts Tendenzen auszumachen waren, die dem utilitaristischen Individualismus entgegenwirkten. In der elf Jahre später erschienenen Neuausgabe, halten die Autoren in einer neuen Einleitung fest, dass sie die moralische Dimension des utilitaristischen Individualismus unterschätzt hatten (Bellah e. a. 1996, S. x). Tocqueville hatte diese moralische – oder vielleicht sollte man sagen: moralisierende – Dimension schon zu seiner Zeit gesehen und er hatte auch geglaubt, dass man, sollten die „habits of the heart“ einmal ganz verschwinden, nur noch auf die Aufgeklärtheit des utilitaristischen Individualismus zählen konnte.

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Preis auf; denn das Zeitalter der blinden Hingaben und der instinktiven Tugenden flüchtet schon fern von uns, und ich sehe die Zeit sich nähern, in welcher die Freiheit, der öffentliche Friede und selbst die soziale Ordnung nicht ohne Aufklärung auskommen“ (Tocqueville OC I, 2, I, 8, S. 130).103 Interessant – manche werden vielleicht, und nicht ganz zu unrecht, sagen: skurril – sind in diesem Zusammenhang auch einige Aussagen Tocquevilles über die Erziehung der Frauen in Amerika. Das große Problem der amerikanischen Männer scheint es gewesen zu sein, die Tugend der Frauen zu schützen, sprich sie davon abzuhalten, vor- oder außerehelichen Geschlechterverkehr zu haben.104 Um dies zu bewerkstelligen, so Tocqueville, haben sie zunächst versucht, die Vernunft der Frau zu „bewaffnen“ (Tocqueville OC I, 2, III, 9, S. 208). Damit wird wohl gemeint sein, dass sie den jungen Mädchen klar gemacht haben, dass sie ihren langfristigen Interessen zuwiderhandeln, wenn sie Geschlechtsverkehr vor der Ehe haben oder als zukünftige Ehefrauen fremd gehen. Die Amerikaner haben, so Tocqueville, „unglaubliche Anstrengungen gemacht, damit sich die Unabhängigkeit selbst regelt“ (Tocqueville OC I, 2, III, 9, S. 208). Die Frauen sollten nicht nur zur Einsicht gebracht werden, dass vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr für sie schädlich ist, sondern sie sollten auch dazu gebracht werden, auf Grund dieser Einsicht tugendhaft oder doch zumindest tugendkonform zu handeln. Sie sollten also einzig und allein ihrem Verstand folgen, so dass es keiner äußeren Autorität bedarf, um das gewünschte Handeln zu bewirken. In den Augen Tocquevilles ist eine solche Erziehung nicht ohne Gefahr. Er unterlässt es allerdings, auf diese Gefahr einzugehen oder sie auch nur zu benennen. Stattdessen weist er auf ein Übel hin, das eine solche Erziehung bewirkt: Man produziert ehrliche, aber gefühlskalte Frauen, und nicht „zarte Ehefrauen und liebenswürdige Begleiterinnen des Mannes“ (Tocqueville OC I, 2, III, 9, S. 208). Daraus folgt, so Tocqueville weiter, dass zwar das gesamtgesellschaftliche Leben ruhiger ist, aber das private Leben „hat oft weniger Charme“ (Tocqueville OC I, 2, III, 9, S. 208). Tocqueville ist aber überzeugt, dass man diesen Verlust hinnehmen muss: „[W]ir können es uns nicht mehr leisten, eine Wahl zu treffen: Es bedarf einer demokratischen Erziehung, um die Frauen vor den Gefahren zu bewahren, die ihnen durch die sie umgebenden demokratischen Institutionen und Sitten der Demokratie entstehen“ (Tocqueville OC I, 2, III, 9, S. 208). Man kann nicht mehr auf die große ewige Liebe zählen, noch auf eine von allen rationalen Elementen freie Tugend – jene Tugend die einer Frau etwa sagt, dass sie den Selbstmord einer Vergewal-

103 Wenn Tocqueville von „lumières“ spricht, so meint er damit nicht die philosophische Aufklärung im Sinne Kants. Die Menschen sollen nicht mittels ihrer Vernunft höhere Wahrheiten über sich und die Welt erkennen, sondern sie sollen vielmehr die weltlichen Zusammenhänge kennen lernen, so dass sie ihr Handeln derart in diese Zusammenhänge einfügen können, dass sie auch noch langfristig einen Nutzen daraus ziehen können. 104 Tocqueville, dies sei hier nur anekdotisch angemerkt, hat seine Frau mehrmals betrogen und ist auch fast zur Trennung gekommen. Hierzu die von Kerdellant in Romanform verfasste, aber ganz akkurate, Biographie Tocquevilles (Kerdellant 2015).

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tigung vorziehen soll.105 Man muss sich auf das wohlverstandene Eigeninteresse der Frauen stützen, und damit dies gelingt, muss man das Eigeninteresse zunächst aufklären.106 Doch gesetzt den Fall, dass dies nicht gelingt und dass bestimmte Frauen entweder den Zusammenhang zwischen Eigeninteresse und tugendkonformem Handeln überhaupt nicht einsehen, oder diesen Zusammenhang zwar einsehen, aber dennoch nicht gewillt sind, sich tugendkonform zu verhalten. In einem solchen Fall, so Tocqueville, haben die Amerikaner „endlich die Religion zu ihrer Hilfe gerufen“ (Tocqueville OC I, 2, III, 9, S. 208). Es ist interessant zu sehen, dass Tocqueville hier die Religion bzw. den Rückgriff auf die Religion zur Festigung eines tugendkonformen Handelns als ultima ratio anführt. Bevor die Amerikaner den Frauen sagen, dass in der Bibel107 der vor- und außereheliche Geschlechtsverkehr von Gott verurteilt wird und dass strenge Strafen für diese Sünden vorgesehen sind, appellieren sie an die Vernunft der Frauen. Die Frau soll sehen, dass es in ihrem Interesse ist, unter bestimmten Umständen auf den Genuss lustvoller Empfindungen zu verzichten.108 Es ist ebenfalls interessant zu bemerken, dass Tocqueville mit keinem Wort den Rückgriff auf physische Gewalt seitens der Männer erwähnt. Allerdings spricht er von der Macht der öffentlichen Meinung: „So herrscht in den Vereinigten Staaten eine unnachgiebige öffentliche Meinung, die die Frau sorgsam in den kleinen Kreis ihrer häuslichen Interessen und Pflichten einsperrt und die ihr verbietet, aus ihnen auszubrechen“ (Tocqueville OC I, 2, III, 10, S. 209). Diese öffentliche Meinung ist religiös geprägt, so dass sie jener ultima ratio Ausdruck verleiht, von der Tocqueville gesprochen hatte. Wenn die Frau nicht von sich aus ihren Pflichten nachkommt, dann wird die stets präsente öffentliche Meinung sie gewaltlos, aber umso wirksamer dazu bringen, es zu tun. Wer sich nicht der öffentlichen Meinung unterordnet, wird zwar vielleicht nicht mehr strafrechtlich verfolgt, aber er wird aus 105 Tocqueville spricht von „erschütterten oder zerstörten Schranken“ (Tocqueville OC I, 2, III, 9, S. 208). 106 Es wäre allerdings fatal, wenn in der häuslichen Gemeinschaft alles nach dem Prinzip des wohlverstandenen Eigeninteresses ablaufen würde. In einer Kammerrede aus dem Jahr 1848 hatte Tocqueville warnend gemeint: „Es ist weil das Interesse im öffentlichen Leben die uninteressierten Gefühle ersetzt hat, dass das Interesse auch im Privatleben tonangebend ist“ (Tocqueville OC III, 2, S. 748). Damit fällt die Möglichkeit weg, dass ein in der häuslichen Sphäre gelerntes oder angewohntes uninteressiertes Handeln sich auch manchmal im öffentlichen Leben manifestiert. Tocqueville glaubt aber, dass letzten Endes nur eine solche Fähigkeit zum uninteressierten Handeln auf Dauer den Schutz der Freiheit garantieren kann. 107 Gemeint ist hier vor allem das Alte Testament. 108 An einer anderen Stelle hatte Tocqueville etwas gesagt, das auch hier passen könnte: „Wenn ein Mensch an die Religion glaubt, zu der er sich bekennt, wird es ihn nichts kosten, sich den Lasten zu unterwerfen, die sie ihm aufzwingt. Selbst die Vernunft rät ihm, es zu tun, und die Gewohnheit hat ihn im Voraus gelehrt, sie zu erdulden“ (Tocqueville OC I, 2, II, 9, S. 132). Hier bringt er drei Handlungsquellen in zwei Sätzen zusammen: der religiöse Glaube, die Vernunft, die Gewohnheit. Der Glaube verweist auf Gott, die Vernunft auf den Menschen, und die – durch den Sozialisationsprozess angeeignete – Gewohnheit auf die Gesellschaft. Wo diese drei Handlungsquellen wirksam sind, sind der Staat und dessen Sanktionsandrohungen eigentlich überflüssig.

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der Gesellschaft ausgeschlossen.109 Und dieser soziale Ausschluss ist oft schlimmer als eine Bestrafung im traditionellen Sinn des Wortes. In der häuslichen Gesellschaft wirken also dieselben Prinzipien wie in der großen Gesellschaft. Die Töchter und Ehefrauen sollen auf dieselbe Art und Weise kontrolliert werden wie die Gesellschaftsmitglieder insgesamt. Will man verhindern, dass der Mann zum Despoten in der Ehegemeinschaft wird, dann sollte man die Frau dazu bringen einzusehen, dass es in ihrem ureigenen Interesse liegt, sich an die herrschende Sexualmoral zu halten, so dass der Despotismus des Mannes unnötig wird. Und sollte die Frau dies nicht einsehen, so wirkt die öffentliche Meinung. Und auch sie erscheint insofern als ein Mittel, den Despotismus des Ehemannes unnötig zu machen. Tocqueville will sowohl dem Despotismus des Ehemannes als auch dem Despotismus der öffentlichen Meinung entgegenwirken. Keine dieser beiden Despotismen lässt sich nämlich mit dem Respekt gegenüber der Würde der Frau als solchen und des Menschen in der Frau vereinbaren. Nur eine selbstauferlegte Disziplin kann diesen Respekt bewahren. Aber diese selbstauferlegte Disziplin bei den Frauen ist nicht mehr der Ausdruck eines Bewusstseins des intrinsischen Wertes der ihnen vorgeschriebenen Tugend, sondern lediglich ihres instrumentellen Werts. Und diesen instrumentellen Wert kann nur jemand erkennen, der über seine Interessen aufgeklärt ist. Wenn die Frau also nicht dem Despotismus des Ehemannes oder der öffentlichen Meinung unterworfen sein will, dann muss sie zur Einsicht gelangen, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten und diese Einsicht muss handlungsleitend für sie werden. Tocqueville ist der Überzeugung, dass Frauen bestimmten, ihnen spezifischen normativen Vorgaben gehorchen müssen, damit die soziale Kohäsion und vor allem die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit nicht gefährdet werden. Dieser Gehorsam muss den betroffenen Frauen aber als ein selbst aufgelegter erscheinen, dann nur so können sie sich ihm unterwerfen, ohne den Eindruck zu haben, ihre menschliche Würde zu verlieren. Ein solcher Eindruck würde nämlich entstehen, wenn die Frauen den Eindruck hätten, nur der Willkür der Männer zu gehorchen. Es gilt hier für die Frauen, was Tocqueville zunächst nur für die Männer feststellt, nämlich dass wer selbstständig denkt, sich nicht mehr auf eine würdige Weise einer absoluten Macht wird unterwerfen können. Cheryl Welch verweist in diesem Kontext auf einen Unterschied zwischen Tocquevilles und Montesquieus Ansichten und wirft Ersterem vor, nicht, wie Letzterer es getan hatte, eingesehen zu haben, „dass die soziale Freiheit der Frauen die öffentliche Freiheit fördert“ (Welch 2001, S. 206). Montesquieu, so Welch weiter, war bereit, das Risiko eines Verlustes an privater Moralität eingehen, den eine Teilnahme der Frauen am politischen Leben implizierte, denn er war der Überzeugung, dass die potentiellen Gewinne die eventuellen Nachteile oder Verluste durchaus kompensierten. 109 Im ersten Band der Démocratie hatte Tocqueville die Gesetzgebung Connecticuts um 1650 kommentiert (Tocqueville OC I, 1, I, 2, S. 36–38). Diese Gesetzgebung sah u. a. den Tod für diejenigen vor, die sich eines Ehebruchs schuldig machten. Solche Gesetze sind für Tocqueville „komisch und tyrannisch“ und der menschliche Geist sollte sich ihrer – „ohne Zweifel“, merkt Tocqueville an – schämen (Tocqueville OC I, 1, 2, S. 38).

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Teil III: Die Religion im Dienst des Liberalismus

KAPITEL 3: DER WERT DES MENSCHEN Was ist der Mensch? Ist er bloß ein Bestandteil der materiellen Welt, zusammengesetzt aus Atomen, den Naturgesetzen in allem unterworfen, ähnlich den leblosen Gegenständen, mit dem einzigen normativ relevanten Unterschied, dass der Mensch, wie viele Tiere, Lust und Schmerz empfinden kann? In einem solchen Fall wird man das höchste Gut des Menschen in der Leidensfreiheit – dem negativen Hedonismus110 – oder in der Lustempfindung – dem positiven Hedonismus – suchen, und das Streben des Menschen wird darauf gerichtet sein, so wenig Schmerz wie möglich oder so viel Lust wie möglich zu empfinden. Wenn dem so ist, dann scheint der Mensch sich nicht wesentlich von den Tieren zu unterscheiden, denn auch sie streben nach Leidensfreiheit oder Lustempfindung. Daraus ergibt sich wiederum, dass man in moralischer Hinsicht nicht zwischen Mensch und Tier unterscheiden darf, da sie in der einzig normativ relevanten Hinsicht ähnlich sind: Es sind leidensfähige Wesen, die nicht leiden wollen. Mag der Mensch auch, im Gegensatz zum Tier, neben dem Bewusstsein des jetzigen Leidens auch ein Bewusstsein des zukünftigen Leidens besitzen, so genügt dieses auf die Zukunft gerichtete Bewusstsein doch nicht, um einen fundamentalen moralischen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu begründen.111 Wer eine solche Ähnlichkeit des Menschen mit dem Tier nicht zulassen will – ohne deshalb die Abstammung des Menschen vom Tier oder die Zugehörigkeit des Menschen, in einer Dimension seines Seins, zum Tierreich zu leugnen –, wird im Menschen ein Wesen sehen, dessen Sein sich nicht auf die rein materielle Dimension reduzieren lässt, ein Wesen, dessen Entscheidungen sich nicht ganz ins Netzwerk des den Naturgesetzen unterworfenen Geschehens einordnen lassen, und das, obwohl es Lust und Schmerz empfinden kann, diese doch nicht als einzige normativ relevante Gesichtspunkte betrachten sollte. Will der Mensch auch, wie die Tiere, Lust empfinden und dem Schmerz entkommen, so kann es doch für den Menschen manchmal moralisch geboten sein, Schmerzen zu ertragen, ohne dass dadurch ir110 Entgegen dem, was die frühchristlichen Kritiker oft an ihm ausgesetzt haben, ist der Hedonismus Epikurs keine Philosophie für Schweine, der es um das Erreichen der größtmöglichen sinnlichen Lust geht. Epikur geht es vielmehr um das Erreichen der Seelenruhe – ataraxia diese entspricht viel eher einem Zustand der inneren Gelassenheit als dem eines Sinnenrauschs. 111 Manche extreme Tierschützer, sowie Politiker, verlangen, dass man auch Tieren eine Würde zuspricht. Selbst dann wenn man den Willen, die Tiere besser zu schützen, nur gutheißen kann, so sollte man doch große Vorsicht walten lassen, wenn es darauf ankommt, diesen Schutz in die Verfassung zu integrieren. Wenn man den Tieren nämlich Würde zuspricht, so ist die Frage, ob es sich dabei um dieselbe „Sache“ handelt wie beim Menschen. Wenn nicht, dann sollte man nicht denselben Begriff gebrauchen, denn dadurch schafft man nur Verwirrung. Glaubt man aber, dass es sich um denselben Begriff handelt, dann sollte man sich bewusst werden, dass die Erweiterung der Würdeträger auf die Tiere uns entweder dazu verpflichtet, keine Tiere mehr zu essen – und diese Konsequenz sind die extremen Tierschützer durchaus bereit zu ziehen, nicht aber viele Politiker, die von der Notwendigkeit sprechen, die Würde der Tiere in der Verfassung zu verankern –, oder sie lässt das Züchten und Essen von Menschen nicht mehr als absolut verboten erscheinen – und ich kenne niemanden, der für das Aufheben dieses Verbots eintreten würde.

Kapitel 3: Der Wert des Menschen

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gendeine Lustempfindung – beim Leidenden oder bei anderen – erzeugt wird. Der Mensch, so könnte man sagen, kennt nicht nur Lust und Schmerz, sondern auch Werte, die sich nicht auf sinnliche Gefühle oder Empfindungen reduzieren lassen. Die Frage, was der Mensch ist – und diese Frage war für Kant die den drei anderen Grundfragen der Philosophie112 übergeordnete Frage –, ist keine bloß theoretische. Es geht bei ihr nicht nur darum, die Wahrheit über das Wesen des Menschen zu ergründen oder in einem Ideenreich zu kontemplieren. Insofern Menschen in Interaktion miteinander stehen, wird das Bild das sie sich voneinander machen auch ihr Handeln beeinflussen: „Sag mir wie Du die Frage ‚Was ist der Mensch?‘ beantwortest, und ich werde Dir sagen, wie Du mit den Menschen umgehst“. Dies gilt übrigens auch für die Frage nach dem Wesen der Tiere oder – ein Thema das in der zeitgenössischen Philosophie immer aktueller wird – für die Frage nach dem Wesen der sogenannten „intelligenten“ Maschinen, seien es Computer oder Roboter.113 Wer, wie Descartes, in den Tieren seelenlose Maschinen sieht, wird keine Probleme mit der Vivisektion haben. Genauso wie unsere Konzeption der Tiere unseren Umgang mit ihnen bestimmt, bestimmt unsere Konzeption des Menschen auch unseren Umgang mit demselben.114 Die Frage ‚Was ist der Mensch?‘ verweist somit auf die Frage ‚Wie sollen/dürfen wir den Menschen behandeln?‘. Insofern der Fragesteller auch ein Mensch ist, geht es ihm dabei ebenfalls um die Art und Weise, wie er sich selbst behandeln soll oder darf. Mit Kant gesprochen, geht es also nicht nur darum zu wissen, wie ich die Humanität in meinen Mitmenschen zu behandeln habe, sondern auch, wie ich sie in mir selbst behandeln soll. Kants Antwort – um bei Kant zu bleiben – lautet, dass man die Menschheit in sich selbst oder in anderen niemals bloß als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck an sich selbst behandeln sollte. Was uns nämlich als Menschen gegenüber allen anderen irdischen Wesen auszeichnet, ist die Selbstzweckhaftigkeit: Wir existieren nicht bloß, um einen uns fremden Zweck zu erfüllen, sondern wir sind uns auch selbst Zweck. Diese Selbstzweckhaftigkeit macht unsere Würde aus, also das, was uns über alle anderen irdischen Wesen stellt.115 Sie erklärt, warum wir nur einen Wert, und niemals auch einen Preis haben, während andere Wesen, laut Kant, durchaus einen Preis haben können: Man darf zwar Tiere für einen bestimmten Preis verkaufen, aber auf keinen Fall Menschen. Diese Selbstzweckhaftigkeit des Menschen verweist aber auch auf ein anderes Element, nämlich auf die Selbstgesetzgebung bzw. Autonomie der Vernunft. Damit der Mensch Zweck an sich selbst bleibt, muss er sich selbst das Gesetz geben, das sein Handeln leitet. Indem wir einem anderen Gesetz folgen als dem, das 112 Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? 113 Zu dieser Frage siehe Campagna 2012a und 2014. 114 Nicht umsonst werden in totalitären Regimes die Individuen – wenn nicht alle, so doch bestimmte Kategorien – ihrer persönlichen Identität beraubt und erscheinen nur noch als Nummern. 115 Über Kants Gebrauch des Würdebegriffs sei verwiesen auf von der Pfordten 2009. Einen erhellenden Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Begriffs der Menschenwürde gibt derselbe von der Pfordten in einer kürzlichen erschienen kleinen Monographie (von der Pfordten 2016).

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wir uns selbst gegeben haben, unterwerfen wir uns auch einem außer uns liegenden Zweck. Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen ist demnach nur garantiert, wenn der Mensch sich selbst das Gesetz gibt. Aber dieses Gesetz muss wiederum so sein, dass es den Menschen als Selbstzweck setzt und respektiert. Die Selbstzweckhaftigkeit ist, wenn nicht das Ziel, so doch zumindest der normative Rahmen der Selbstgesetzgebung. Wer sich selbst ein Gesetz gibt, das seine Selbstzweckhaftigkeit nicht respektiert, verletzt dadurch seine eigene Würde und setzt sich auf das Niveau der nichtmenschlichen irdischen Wesen herab. Insofern aber für alle diese Wesen gilt, dass sie sich selbst kein Gesetz geben können, kann das Gesetz, durch welches der Mensch seine Selbstzweckhaftigkeit nicht respektiert, eigentlich nicht mehr als ein Gesetz betrachtet werden, das er sich selbst gegeben hat. Selbstzweckhaftigkeit und Selbstgesetzgebung sind nicht voneinander zu trennen: Die Selbstzweckhaftigkeit wird durch die Selbstgesetzgebung garantiert, und die Selbstgesetzgebung lässt sich nur dadurch als Selbstgesetzgebung erkennen, dass sie die Selbstzweckhaftigkeit nicht verletzt. Wenn Kant davon spricht, dass der Mensch sich stets selbst das Gesetz seines Handelns geben muss, dann meint er damit, dass die allen Menschen – und darüber hinaus allen vernünftigen Wesen116 – gemeinsame Vernunft der Ursprung dieses Gesetzes sein soll. Der Mensch muss dementsprechend nicht nur als ein Wesen gedacht werden, das den Bestimmungsgrund seines Handelns nicht von außen empfängt, sondern zugleich auch als ein Wesen, dessen Handeln nicht durch das Sinnliche bestimmt wird. Bei Kant ist die Vernunft sich selbst Gesetz und erkennt somit keine ihr fremde oder äußerliche Normativitätsquelle an. Was dem Menschen Würde verleiht, ist somit kein rein menschliches Spezifikum, sondern etwas, was der Mensch mit anderen – aber nicht mit allen anderen – Wesen teilt. Wenn die Würde des Menschen darin besteht, dass er sich selbst Zweck ist und sich selbst das Gesetz gibt, also darin, dass er nicht Teil einer übergeordneten Ordnung ist, durch die ihm ein Zweck und damit auch eine Reihe Pflichten zugeordnet werden, so dass er seinen Teil zur Erreichung des Zwecks der Ordnung beitragen kann und muss, und dies, ohne dass er selbst über den Zweck der Gesamtordnung und die ihn bindenden Pflichten hat mitbestimmen können, dann wird man anscheinend auf Probleme stoßen, wenn man die Würde des Menschen im Rahmen eines religiösen Weltbildes denken will, an dessen Spitze Gott steht. Denn ein solcher Gott wird womöglich Zwecke haben, die dem Menschen nicht bekannt sind und mit die er dementsprechend nicht mit Hilfe seiner Vernunft wird einsehen können – die Wege des Herrn, so heißt es, sind unergründbar. 116 Es muss hier betont werden, dass bei Kant nicht das rein biologische Wesen Mensch im Mittelpunkt steht, sondern der Mensch als Mitglied der Gemeinschaft der Vernunftwesen. Der Mensch ist ein Vernunftwesen, das auch über eine biologische Natur verfügt. Doch ist es nicht diese biologische Natur und es sind auch nicht irgendwelche mit dieser Natur zusammenhängenden Tatsachen, aus denen sich die moralischen Normen ableiten lassen. Die moralischen Normen stammen einzig und allein aus der Vernunft und sind insofern für alle Vernunftwesen gültig. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Menschen und einem reinen Vernunftwesen besteht in der Tatsache, dass im Falle des Menschen die moralischen Sätze die imperative Form annehmen.

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In Lockes Schrift über das natürliche Gesetz stößt man auf Passagen, in welchen der englische Philosoph behauptet, Gott habe etwas Bestimmtes mit uns vor, konkreter, er wolle, dass wir einen von ihm bestimmten Zweck verfolgen, einen Zweck, den Locke mit dem Ruhm Gottes identifiziert (Locke 1997b, S. 105). Die Menschen sind demnach dazu geschaffen worden, dem göttlichen Ruhm zu dienen. In allem, was der Mensch tut, muss er Zeugnis von Gottes Größe ablegen. Indem er dies tut, erfüllt er die einzige Aufgabe, um deren willen Gott ihn geschaffen hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Mensch nicht, so immer noch Locke, von allen anderen Dingen. Auch die Tiere und die leblosen Geschöpfe existieren, um Gottes Größe und Weisheit zu bezeugen. Der einzige Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Geschöpfen ist, dass der Mensch Gottes Größe bewusst anerkennen und sich freiwillig den göttlichen Gesetzen unterwerfen kann. Nimmt man Locke beim Wort, so sind wir Menschen nicht da, um unsere eigenen Ziele und Zwecke zu setzen und zu verfolgen, sondern wir sollen nur arbeiten und handeln ad maiorem Dei gloriam. Auch wenn Kant dem vernunftgemäßen Glauben an Gott einen Platz eingeräumt hat, hat er den Zweck des Menschen unabhängig von Gott definiert. Sein Ausgangspunkt ist die menschliche Vernunftnatur. Sie ist das nicht weiter abzuleitende oder zu erklärende Faktum, von dem aus alle anderen normativen Überlegungen ihren Ausgangspunkt zu nehmen haben. Der Mensch wird sich seiner selbst als eines Vernunftwesens bewusst, und die Entwicklung der Vernunft in ihm wird zu seinem Zweck. Das Vernunftwesen ist sich somit selbst Zweck. Auf keinen Fall darf das Vernunftwesen sich vollständig in den Dienst des sinnlichen Wesens stellen, das der Mensch immer zugleich auch ist. Kant bestreitet zwar nicht, dass unsere sinnliche Natur legitime Ansprüche stellen kann, denen auch Rechnung zu tragen ist. Er behauptet nur, dass die Ansprüche der sinnlichen Natur sich immer vor dem Richterstuhl der Vernunft auszuweisen haben, und dass es immer die Vernunft sein muss die darüber entscheidet, ob und inwiefern einem Anspruch der sinnlichen Natur nachzugeben ist. Unser Willen kann durch unsere sinnliche Natur auf eine bestimmte Materie gerichtet werden, aber er wird nur dann dem moralischen – kategorischen – Imperativ gerecht, wenn er nicht durch diese Materie oder durch die sinnliche Begierde bestimmt wird, sondern durch die Tatsache, dass er sich im Wollen dieser Materie als der Wille eines jeden vernünftigen Wesens identifizieren kann. Trotz der erheblichen Unterschiede zwischen ihren jeweiligen Theorien, geht es Locke und Kant doch schlussendlich um dasselbe: Ein Gesetz zu finden, das die menschliche Willkür, die sich nur allzu gern dem Appell der sinnlichen Begierden unterwirft, einer höheren Autorität unterwirft. In beiden Fällen steht die menschliche Freiheit im Zentrum. Der sich selbst überlassene, keiner über ihm stehenden Autorität unterworfene Mensch ist nicht frei bzw. ist er nicht in einem normativ relevanten Sinne frei. Seine „Freiheit“ ist dann höchstens die wilde Freiheit eines Tieres und nicht die Freiheit eines Menschen. Es ist eine rein faktische, keine moralische Freiheit, also keine Freiheit die als Wert, und demnach auch als schützenswert, anzusehen ist. Frei im moralischen Sinn des Wortes ist der Mensch für Locke nur, wenn er sich den göttlichen Gesetzen unterwirft, wenn er sein Handeln also

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in einen normativen Rahmen einfügt, der ihm allein einen Wert geben kann. Frei ist der Mensch für Kant nur, wenn er sich den Gesetzen der Vernunft, allen voran dem kategorischen Imperativ, unterwirft. Das radikal Böse besteht bei Kant darin, sich für die Unterwerfung unter den lockenden Ruf der Sinne und somit gegen die Vernunft zu entscheiden. Bei Locke besteht es darin, sich gegen Gott zu entscheiden. Menschen die sich, bei Kant, gegen die Vernunft oder, bei Locke, gegen Gott entscheiden, ähneln vielmehr Tieren als Menschen. Will der Mensch sich über das Tier stellen, so muss er eine seiner sinnlichen Natur übergeordnete Normativität anerkennen und sich ihr in seinem Handeln unterwerfen. In einem kurzen Text den er um das Jahr 1693 verfasst hat, schreibt Locke, dass der Mensch, wenn er bloß seinen Willen als Richtschnur des Handelns besitzt, nur sich selbst als letzten Zweck seines Handelns konzipieren kann, und somit nur die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse anstreben wird. Ein solcher Mensch, so Locke, würde sich als Gott ansehen (Locke 1997, S. 328–329). Da der menschliche Wille nicht von Natur aus vernünftig ist, wäre ein sich bloß nach seinem eigenen Willen richtender Mensch nur insofern ein Gott, als er sich keiner höheren Autorität unterworfen fühlt. In Wirklichkeit wäre er aber ein Tier. Für Locke, so Raymond Polin, kann man dem Menschen keine zwanglose Freiheit geben, bevor man in ihm die Vernunft kultiviert und ihm beigebracht hat, sich durch die Vernunft leiten zu lassen. Tut man es dennoch, so erhebt man ihn nicht in das Reich der Götter, sondern versetzt ihn wieder in das Reich der vernunftlosen Tiere. (Polin 1960, S. 125). Und in diesem Reich der vernunftlosen Tiere gibt es keine Würde. Die Vernunft, die den Menschen bei Locke leiten soll, stammt allerdings letztlich von außen, denn es handelt sich um die göttliche Vernunft – wie sie sich in den göttlichen Gesetzen ausdrückt –, der sich die menschliche Vernunft anzupassen hat. Wenn der Mensch demnach wirklich wie Gott sein will bzw. wenn er wie der wirkliche Gott sein will, dann muss er nicht seinem gesetzlosen Willen folgen, sondern sich den natürlichen Gesetzen unterwerfen. Die menschliche Freiheit hat insofern nur dann einen Wert – und sie ist dementsprechend auch nur dann schützenswert –, wenn sie sich diesen Gesetzen unterwirft und der Wille somit aufhört, sich bloß nach den Bedürfnissen und Begierden zu richten und diese als letzte Richtschnur des Handelns zu akzeptieren. Und da diese natürlichen Gesetze göttliche Gesetze sind – aber göttliche Gesetze, die der Mensch schon mittels seiner natürlichen Vernunft erkennen kann, ohne auf ihre Offenbarung durch Gott zu warten –, ist der Mensch nur dann würdig, als ein freies Wesen behandelt zu werden, wenn er sich Gott unterwirft. Nur insofern er sich Gott unterwirft, ist der Mensch mehr als nur ein Tier. Und nur insofern er mehr als nur ein Tier ist, verdient er es, wie ein Mensch behandelt zu werden. Bei Locke lässt sich die Menschenwürde nicht unabhängig von Gott denken, wobei aber Gott selbst, als Schöpfer des Menschen, nicht an den Respekt dieser Würde gebunden zu sein scheint.117 Locke geht es letzten Endes 117 In Lockes Eigentumstheorie entsteht das Eigentum an einer Sache durch die Vermischung der Arbeit mit einem vorgegebenen Material. Insofern Gott den Menschen geschaffen hat, insofern also der Mensch das Produkt eines göttlichen Arbeitsaktes ist, kann Gott als Eigentümer des Menschen betrachtet werden. Und mit seinem Eigentum kann der Eigentümer machen, was er will. Im Falle des Menschen gilt allerdings, dass man bei der Aneignung eines Guts stets dafür

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auch nicht darum, die Menschenwürde gegen Gott zu behaupten, sondern dieser Begriff hat nur in der Menschenwelt Geltung, denn nur dort, im zwischenmenschlichen Verkehr, kann es zu einer Verletzung der Menschenwürde kommen. Insofern die wahre menschliche Freiheit eine sich an der göttlichen Vernunft orientierende Freiheit ist, verdient sie Respekt und darf nicht willkürlich eingeschränkt werden. Allein der Bezug zu Gott konstituiert bei Locke den Menschen als ein Wesen, mit dem die politische Autorität nicht alles machen darf.118 Und der sogenannte appeal to Heaven, mit dem Locke das Recht auf Revolution begründet, ist nicht nur ein Appell an einen obersten Richter, sondern ist auch ein Appell an jene Quelle, die dem Freiheitswillen des Volkes allein Legitimität verleihen und es allein würdig machen kann, auf eine eventuelle göttliche Unterstützung zu zählen. Gott wird nicht allen Aufständen beistehen, sondern prinzipiell nur denjenigen, die sich an jener Freiheit orientieren, die den Menschen allererst als Mensch konstituiert bzw. ihn aus der Tierwelt heraushebt. Indem die Menschen für die Bewahrung ihrer wahren Freiheit kämpfen bzw. indem sie sich vor ungerechtfertigten Eingriffen in diese wahre Freiheit schützen, kämpfen sie für ihr unveräußerliches Recht, gemäß den natürlichen Gesetzen zu leben. Dieses Recht ist mehr als nur die Forderung des subjektiven menschlichen Willens, d. h. es kann nicht als bloßer Ausdruck der individuellen Willkür angesehen werden, eine Willkür, die an sich, aus der Lockeschen Perspektive, keine normative Kraft hat. Es ist vielmehr ein Recht, das Gott den Menschen übertragen hat. Und es ist zugleich auch eine Pflicht. Indem die Menschen sich in ihrem Handeln an den natürlichen Gesetzen orientieren, tragen sie dazu bei, die soziale Welt so zu gestalten, dass sie in ihrer Prosperität und ihrem Frieden die göttliche Weisheit ausdrückt und widerspiegelt. Aus dem Wohl einer nach den göttlichen Gesetzen organisierten politischen Gemeinschaft lässt sich auf die Weisheit des Gesetzgebers schließen. Das gesetzmäßige Handeln der Menschen ist somit ad maiorem Dei gloriam. Der Mensch kann die natürlichen Gesetze erkennen und nach ihnen leben und handeln. Und nur wenn er nach den natürlichen Gesetzen lebt und handelt, ist er wirklich frei und ist seine Freiheit es auch wert, geschützt zu werden. Antonio Rosmini wird in diesem Zusammenhang von einem menschlichen Grundrecht sprechen, seine moralischen Pflichten erfüllen zu können, da er in der Erfüllung dieser moralischen Pflichten das Grundelement der Freiheit findet (Rosmini 1985, S. 269). Nur insofern er moralische Pflichten hat, kann der Mensch ein Recht auf Freiheit beanspruchen, da die Freiheit nur vor dem Horizont dieser moralischen Pflichten aufhört, ein bloßes Faktum zu sein, um zu einem Wert zu werden.119 Sorge tragen muss, dass man genug für die anderen übrig lässt. Aber diese Bedingung gilt nicht für Gott. 118 Wie Polin richtig feststellt, würde die Kohärenz der Lockeschen Philosophie zusammenbrechen, wenn man in ihr den Rekurs auf Gott streichen würde (Polin 1980, S. 3). Ohne religiöse Prämissen, so auch John Dunn, wäre Locke nichts anderes als ein Vertreter einer sozusagen ästhetisch-existentialistischen Theorie der individuellen Selbstschöpfung – „a somewhat doleful Nietzschean way before his time“, wie es im Englischen Originaltext heißt – gewesen (Dunn 1993, S. 42). Für eine ausführliche Begründung dieser These, siehe Dunn 1969. 119 Zu Rosmini, siehe Krienke 2017. In diesem Beitrag betrachtet Krienke auch die Zusammenhänge zwischen dem Denken Rosminis und einigen Thesen Tocquevilles.

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Aber was kann den Menschen bei Locke motivieren, nach diesen natürlichen Gesetzen zu leben? Locke geht davon aus, dass ein Leben gemäß den natürlichen Gesetzen die Menschen glücklich macht. Demnach gilt: Wenn Gott den Menschen ein Leben nach den natürlichen Gesetzen vorgeschrieben hat, dann wollte er ihr Glück. Gott hat die Menschen also anscheinend nicht nur ad maiorem Dei gloriam geschaffen, sondern er hat sie auch geschaffen, damit sie glücklich werden können. Ein glückliches Leben ist damit aber keine dem Menschen bloß angebotene Option, die er auch prinzipiell verwerfen könnte, sondern ein solches Leben ist, wie Polin es formuliert, die Bestimmung des Menschen (Polin 1980, S. 23). Der Lockesche Mensch darf nicht nur glücklich sein, sondern er muss es auch bzw. wird er seiner Bestimmung nur dann gerecht, wenn er ein Leben führt, das ihn glücklich macht. Für Locke hat Gott den Menschen einerseits zum Glücklichsein bestimmt, und hat ihm andererseits alles das gegeben, was er braucht, um auch glücklich leben zu können. Am Menschen liegt es nun, einen richtigen Gebrauch dieser göttlichen Gaben zu machen. Und nur wenn er einen solchen Gebrauch von ihnen macht, verdient er es, in seinen Entscheidungen und seinem Handeln respektiert zu werden. Nur wenn er so lebt, wie er leben soll, ist er würdig, dass kein anderer Mensch sich in sein Leben einmischt. Darin unterscheidet sich die Lockesche Theorie von modernen Theorien, die das Glück nicht als Gegenstand einer Pflicht konzipieren, sondern im Glückstreben lediglich ein biologisches Faktum sehen, das als Gegebenheit akzeptiert werden muss, ohne in eine transzendente normative Ordnung eingebettet zu werden (Polin 1980, S. 83). Dem modernen Liberalismus, der sich von allen transzendenten Sinnhorizonten befreien will, wird in dieser Hinsicht oft vorgeworfen, keine Unterschiede mehr zwischen den vielfältigen menschlichen Wünschen machen zu können, so dass am Ende auch die Erfüllung solcher Wünsche akzeptiert werden muss, durch welche der Mensch sich, so wird gesagt, selbst entwürdigt. Wenn die Definition des guten Lebens tatsächlich jedem freigestellt ist, dann kann man kein menschliches Leben mehr als ein mit der Würde des Menschen inkompatibles Leben bezeichnen. Man wird nur noch verlangen, dass das betreffende Leben ein freiwillig gewähltes Leben sein muss. Der letzte Maßstab wird dann der individuelle Wille sein: Sofern ich mich frei für einen bestimmten Lebensstil entscheide, ist meine Entscheidung eine notwendige und hinreichende Bedingung für die moralische Legitimität meiner Entscheidung. Es darf dann niemand mehr sich in den Weg ihrer Verwirklichung stellen, unter dem Vorwand, meine Würde schützen zu wollen. Stellt sich mir doch jemand in den Weg, dann ist er es, der meine Würde verletzt. Unter diesen Umständen wird man es auch dem Staat untersagen, ein bestimmtes Modell des guten Lebens zu fördern, etwa in der Schule. Folgt man dieser Ansicht bis zu ihren letzten Konsequenzen, dann wird man vom Staat verlangen, dass er freiwillig gewollte Sklaverei akzeptiert, dass er also zulässt, dass sich eine Person freiwillig versklavt – was voraussetzt, dass der Staat die Sklaverei als rechtliche Institution anerkennt.

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In einem berühmten Gedankenexperiment lädt uns der amerikanische Philosoph Robert Nozick dazu ein120, uns vorzustellen, wir könnten uns dadurch angenehme Erlebnisse verschaffen, dass wir uns an eine Erlebnismaschine anbinden lassen. Wir hätten dann Erlebnisse, ohne dass wir uns jene Mühe geben müssen, die gewöhnlich mit dem Erlangen der betreffenden Erlebnisse verbunden ist. Oben auf einem Berg stehen und sich die Landschaft anschauen, ist ein angenehmes Erlebnis – man hat bestimmte Gefühle der Freiheit, der Unendlichkeit, usw. –, aber im normalen Leben muss man sich zuerst die Mühe geben, den Berg zu ersteigen.121 Mit der Erlebnismaschine ist dies nicht mehr nötig: Sie lässt uns genau dasselbe Gefühl empfinden, als stünden wir oben auf dem Berg und als schauten wir uns die Landschaft an. Wir brauchen uns nicht mehr einmal die Mühe zu geben, in eine gebirgige Gegend zu fahren. Nozicks Gedankenexperiment dient dazu, eine radikale Form des Hedonismus zu widerlegen. Dieser Radikalhedonismus behauptet, dass einzig und allein die Glücksgefühle zählen und einen Wert haben. Dem Radikalhedonismus zu Folge kann keine Rede davon sein, sich solche Glücksgefühle allererst verdienen zu müssen bzw. ihrer würdig zu werden. Glaubt man Nozick, so werden viele Menschen nicht damit einverstanden sein, sich an die Erlebnismaschine anbinden zu lassen. Vielen Menschen geht es nämlich nicht nur darum, angenehme Gefühle zu verspüren, sondern sie wollen auch handeln. Das eigenständige Handeln, durch das die Gefühle produziert werden, hat, neben seinem instrumentellen, auch einen intrinsischen Wert. Das Erklimmen des Berges ist nicht nur wertvoll, weil es uns in eine Situation bringt, in der wir angenehme Gefühle empfinden werden, sondern es hat auch einen eigenständigen Wert. Der Mensch mag nicht nur Situationen, in denen er angenehme Gefühle hat, sondern er will sich auch selbst beweisen, dass er etwas zu leisten imstande ist. Und das geht nur, wenn er sich anstrengt und dabei auch unangenehme Gefühle verspürt und duldet. Was Nozicks Gedankenexperiment auch zeigen soll ist, dass der Mensch mehr als nur ein Wesen ist, das lediglich nach der Präsenz von Lustgefühlen und der Abwesenheit von Schmerzgefühlen strebt, dass es also andere intrinsische Güter gibt, als die bloße Lust bzw. dass die Lust gar kein intrinsisches Gut ist. Wenn es nun andere intrinsische Güter neben der bloßen Lust gibt, und wenn Tiere als Wesen identifiziert werden, die bloß nach Lust streben, dann kann der Mensch sich nur dadurch von der Tierwelt abheben, dass er nach diesen anderen intrinsischen Gütern strebt. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, inwiefern die Religion den Menschen dazu bringen kann, nach anderen Gütern als der bloßen Lust zu streben bzw. inwiefern die Religion (a) dem Menschen andere Güter als die bloße Lust als intrinsisch anstrebbar vorstellt und (b) dem Menschen ein Motiv gibt, auch – wenn nicht vielleicht sogar nur – nach diesen Gütern zu streben und die Lust nicht mehr als ein intrinsisches Gut anzusehen. Die Liberalen des XIX. Jahrhunderts leben in einem Zeitalter, in dem viele Menschen zwar noch in Armut leben, in dem sich aber auch schon der Horizont ei120 Siehe Nozick 1974. 121 Zumindest dort, wo noch keine Gondelbahn oder ähnliches die Touristen auf den Gipfel führt.

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ner allgemeinen Befriedigung der elementaren materiellen Bedürfnisse öffnet. Vor allem bildet sich eine sogenannte Mittelklasse, und das Verhalten deren Mitglieder wird zu einem der zentralen Themen der liberalen Denker. War der Begriff der Würde bislang ein Begriff, den man in aristokratischen Kreisen gebrauchte – wo er aber nicht im Sinne der allgemeinen Menschenwürde verstanden wurde, sondern lediglich als soziale Würde, die mit dem Rang bzw. dem sozialen Status verbunden war –, so stellte sich im XIX. Jahrhundert die Frage, welche Zukunft dieser Begriff in der sich herausbildenden demokratischen Gesellschaft haben würde. Diese Gesellschaft, die davon absah, den sozialen Status mit einem naturgegebenen Wert zu verbinden. Wenn alle Menschen von Natur aus gleich sind, haben sie dann alle Würde, oder hat dann keiner mehr Würde? Insofern der Gedanke der Würde mit der Oben-Unten-Dichotomie verbunden ist, scheint der Begriff der Würde kein demokratischer Begriff zu sein. Eine demokratische Gesellschaft, so scheint es, tendiert nicht schon von sich aus, den Gedanken der Würde zu fördern oder hochzuhalten, ja er scheint ihr sogar fremd zu sein. Insofern dieser Gedanke aber für die Liberalen eine wichtige Rolle spielte, standen sie vor einem doppelten Problem. Einerseits mussten sie nämlich jene Tendenzen in der demokratischen Gesellschaft identifizieren, die zu einer Würdevergessenheit führen konnten. Und andererseits mussten sie sich überlegen, wie man diesen Tendenzen entgegenwirken und wie man dem Gedanken der Würde – aber einer sich auf alle Menschen erstreckenden Würde – einen festen Platz in der demokratischen Gesellschaft sichern konnte. Der Kampf für die Anerkennung der Würde war zugleich ein Kampf für die Anerkennung der Freiheit, und umgekehrt. Vor allem Tocqueville hat sich mit dieser Frage befasst und sich um den Gedanken der Größe – vor dessen Hintergrund der Gedanke der Würde allererst denkbar wird – besorgt gezeigt. Was ihm dabei am meisten Sorgen bereitet ist das Streben des demokratischen Menschen nach Wohlergehen. Dem Autor der Démocratie zu Folge, neigt der demokratische Mensch nämlich zum Hedonismus. Darin unterscheidet er sich vom aristokratischen Menschen, für den – auch noch – andere Güter als die materiellen und der mit ihnen assoziierte sinnliche Genuss eine Rolle spielten – zumindest im offiziellen Selbstverständnis des aristokratischen Menschen. In Europa hatte man noch die Erinnerung an die Aristokratie, nicht aber jenseits des Atlantiks. Denn dort hat es nämlich nie eine Aristokratie gegeben.122 In Amerika, jenem Land, in welcher die Demokratie die größten Fortschritte gemacht hat und aus dessen gegenwärtiger Situation die zukünftige Situation aller Länder abgelesen werden kann – zumindest was die soziale Lage betrifft –, ist, so schreibt Tocqueville, die „Leidenschaft des materiellen Wohlergehens“ allgemein verbreitet (Tocqueville OC I, 2, II, 10, S. 134). Die Amerikaner sorgen sich primär um ihr körperliches Wohlergehen und den Erwerb materieller Güter. Ihr Geist dreht sich dementsprechend ständig um die Frage, wie sie sich am besten die kleinen Annehmlichkeiten123 des Lebens verschaffen können, in deren Erwerb und Besitz sie den letzten Zweck ihres Handelns, wenn nicht sogar ihres Lebens, legen. Be122 Man muss allerdings von der Aristokratie der Sklavenhalter absehen. 123 Dies ist nur eine von vielen Stellen, an denen Tocqueville die Demokratie mit der „Kleinheit“ assoziiert.

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sonders im zweiten Band der Démocratie geht Tocqueville auf den Hedonismus der Amerikaner ein und macht dabei auf dessen Gefahren für die Freiheit aufmerksam. Tocqueville wirft der demokratischen Begierde nach materiellem Wohlergehen nicht vor, die Menschen zu Verbrechen zu verleiten. Der demokratische Mensch – der die soziale Ordnung ebenso liebt wie den materiellen Besitz (u. a. weil diese soziale Ordnung ihm sein Eigentum garantiert) –, strebt nach materiellem Wohlergehen, aber er tut es immer nur, indem er im Rahmen des Gesetzes bleibt. Man verspürt vielleicht Neid für den Nachbarn, der mehr besitzt124, aber man wird ihm dieses Mehr nicht durch einen Diebstahl entwenden, sondern man wird versuchen, durch seine eigene Arbeit mehr zu haben als er. Der Materialismus der Amerikaner ist in dieser Hinsicht, wie Tocqueville es formuliert, ein „anständiger Materialismus“125 (Tocqueville OC I, 2, II, 11, S. 139), der nur nach solchen Gütern strebt, deren Gebrauch uns die Moral und die Religion erlauben, und der sie sich auch nur auf eine durch Moral und Religion erlaubte Weise verschafft. Man kann diesem Materialismus der Amerikaner also nicht vorwerfen, alle moralischen Normen zu brechen und die Gesellschaft in einen Krieg eines jeden gegen einen jeden zu stürzen. Das Problem mit dem Hedonismus der Amerikaner – und des demokratischen Menschen insgesamt – ist also nicht, dass er die Grundlagen der Gesellschaft erschüttert und den Naturzustand wieder aufleben lässt. Doch was ist dann der Vorwurf? Indem die demokratischen Menschen ihr Leben damit verbringen, nach materiellen Gütern zu streben, vergessen sie, so Tocqueville, „jene wertvolleren Güter, die den Ruhm und die Größe der menschlichen Spezies ausmachen“ (Tocqueville OC I, 2, II, 11, S. 138). Oder wie es einige Seiten später heißt: „Aber indem der Mensch sich seiner anständigen und legitimen Suche nach Wohlergehen mit Freude hingibt, ist zu befürchten, dass er am Schluss den Gebrauch seiner höchsten Fähigkeiten verliert, und dass er, indem er alles um sich selbst verbessern will, sich am Ende selbst entwürdigt. Da ist die Gefahr, und nirgendwo sonst“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 150). Tocqueville verurteilt somit nicht die Suche nach materiellem Wohlergehen als solche. Er akzeptiert das demokratische Streben nach Wohlergehen und weiß, dass eine Theorie, die dieses Streben in toto ablehnt, in einem demokratischen Zeitalter keine Aussichten auf Akzeptanz hat. Wer den demokratischen Menschen von seinem Streben nach materiellem Wohlstand abbringen will, sollte dementsprechend nicht damit anfangen, dieses Streben als solches zu verurteilen und den Menschen zur Askese aufzurufen, sondern er sollte, wie Tocqueville es tut, von einem legitimen Streben sprechen, d. h. dem demokratischen Menschen zu verstehen geben, 124 Auch wenn Tocqueville ihn nur sporadisch erwähnt, so scheint doch auch der Neid eine potentielle Gefahr für die Freiheit zu sein. In einem Gespräch hatte Tocqueville die Gleichheit als die Begierde definiert, niemanden besser gestellt zu sehen als sich selbst (Tocqueville OC VI, 2, S. 273). Insofern die Freiheit aber notgedrungen dazu führt, dass es den einen besser geht als den anderen, stehen Freiheit und Gleichheit in einem Spannungsverhältnis zueinander und stellen den liberalen Verteidiger der Demokratie vor eine Aufgabe, für deren Bewältigung nichts weniger als eine neue politische Wissenschaft notwendig ist (Tocqueville OC I, 1, S. 5). Hierzu Krause 2017. 125 Tocqueville spricht von einem „matérialisme honnête“.

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dass die Bürde des Beweises nicht auf seinen Schultern liegt – er muss sein Streben nach Wohlergehen nicht rechtfertigen –, sondern auf den Schultern desjenigen, der dieses Streben einschränken will. Es geht nicht darum zu zeigen, dass dieses Streben an sich schlecht ist, sondern dass es gefährlich werden kann. Aber gleichzeitig muss gezeigt werden, dass es Mittel gibt, um diesen Gefahren entgegen zu wirken, so dass der demokratische Mensch nicht vor der Wahl steht, sein Streben nach Wohlergehen oder seinen Wunsch nach Freiheit zu opfern. Es ist eines der Ziele der von Tocqueville angekündigten neuen politischen Wissenschaft, die Möglichkeit einer solchen Versöhnung aufzuzeigen. In Amerika hat der Katholizismus die Notwendigkeit einer solchen Versöhnung verstanden. Er ruft die Gläubigen nämlich nicht mehr dazu auf, von allen sinnlichen Freuden abzusehen, um sich ganz der Sorge um ihr ewiges Seelenheil hinzugeben. Man kann das ewige Seelenheil auch noch dann erlangen, wenn man einen Großteil seines Lebens damit verbringt, nach materiellem Reichtum zu streben. In einem demokratischen Zeitalter kann eine Religion nur dann darauf hoffen, von der Mehrheit akzeptiert zu werden, wenn sie die Suche nach materiellem Glück und Wohlstand nicht verurteilt. In einem nicht für die Endfassung der zweiten Démocratie zurückbehaltenen Text, schreibt Tocqueville in diesem Kontext: „In den demokratischen Jahrhunderten braucht die Religion die Mehrheit, und um diese Mehrheit zu gewinnen, darf ihr Genius dem demokratischen Genius nicht widersprechen“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 752 Fußnote j).126 Will die Religion von der Mehrheit akzeptiert werden, dann muss sie sich dieser Mehrheit anpassen und ihr eine Sprache sprechen, die sie versteht. Sie muss auch einen Kompromiss mit den Werten dieser Mehrheit eingehen, ohne sich aber ganz diesen Werten zu unterwerfen. Weder offene Konfrontation, noch Kapitulation, sondern unauffällige Beeinflussung. Und dies nicht, um die Menschen näher zum ewigen Seelenheil zu bringen, sondern um ihnen die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu bewahren. Eine der Hauptaufgaben der Religionen in der Demokratie, so Tocqueville, besteht darin, die Leidenschaft nach materiellem Wohlstand zu reinigen und zu regeln: „Es wird ihnen nicht gelingen, die Menschen von der Liebe zum Reichtum abzubringen, aber sie können sie noch davon überzeugen, sich nicht auf unehrliche Weise zu bereichern“ (Tocqueville OC I, 2, I, 5, S. 33).127 Die Religionen können somit keinen entscheidenden Einfluss mehr auf die letzten Ziele des menschlichen Handelns haben, aber es besteht noch die Hoffnung, dass sie einen Einfluss auf die Wahl der Mittel haben können. Sie können nichts daran ändern, dass die demokrati126 Aus seinen Gesprächen mit Kergorlay und Tocqueville hat William Nassau Senior u. a. Folgendes zurück behalten: „Kergorlay betrachtete die Demokratie als Feind, dem man widerstehen und den man, falls möglich, niederschlagen sollte; Tocqueville betrachtete sie wie einen Souverän, den man fürchten, vielleicht nicht lieben, aber dem man gehorchen sollte“ (Tocqueville OC VI, 2, S. 504–505). Insofern Tocqueville mit den Gedanken Bacons vertraut war, findet man hier vielleicht ein Echo der berühmten Aussage Bacons: „Die Herrschaft der Menschen über die Dinge gründet allein auf den Künsten und Wissenschaften, denn der Natur wird man nur befehlen können, wenn man ihr gehorcht“ (Bacon o. D., S. 370). 127 In einem Gespräch mit William Nassau Senior hatte Tocqueville gesagt: „[D]ie Leidenschaften die uns zum Genuss treiben sid so stark, dass es mir nicht Leid tut, dass unsere Religion uns ein gewisses Maß an Abstinenz eintrichtert“ (Tocqueville OC VI, S. 363).

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schen Menschen Materialisten sind, aber sie können noch ihren Teil dazu beitragen, dass sie ehrliche Materialisten bleiben und nicht zu Verbrechern entarten. Sie können, anders gesagt, die Menschen nicht mehr zu Heiligen machen, aber sie können sie noch vor der absoluten Verrohung bewahren. Würden die Religionen nur diese Aufgabe einer Verhinderung der Verrohung des demokratischen Menschen erfüllen, so wären sie lediglich Garantinnen der Gerechtigkeit im elementarsten Sinn des Wortes: ius suum cuique tribuere – jedem das Seine geben (und dementsprechend auch lassen). Dass eine bloß auf der Gerechtigkeit beruhende Gesellschaft funktionieren kann, hatte schon Adam Smith behauptet. Dieser hatte aber zugleich darauf hingewiesen, dass die bloß gerechte Gesellschaft nicht die beste Gesellschaft ist, und dass es den Menschen besser gehen würde, wenn sie nicht nur einander gegenüber nicht nur gerecht wären, sondern auch wohlwollend. Eine bloß gerechte Gesellschaft verlangt nicht die Überwindung des Egoismus, sondern sie verlangt nur, dass der Egoismus aufgeklärt ist, so dass jeder einsieht, dass es auch in seinem Interesse ist, gerecht zu sein. Eine auf dem Gefühl des Wohlwollens gegründete Gesellschaft verlangt ihrerseits die Überwindung des Egoismus und ist dementsprechend schwerer zu verwirklichen.128 Aber in ihr ist das Leben angenehmer. Bei Tocqueville geht es nicht um die Alternative „Bloß Gerechtigkeit oder auch Wohlwollen?“, sondern um die Alternative „Leidenschaftliches Streben nach bloß materiellen Gütern oder auch Streben nach immateriellen Gütern?“. Oder um es noch anders zu formulieren: „Bloßes Streben nach der Befriedigung sinnlicher Begierden oder auch Streben nach der Befriedigung der Begierden nach immateriellen Gütern?“. Soll der Mensch ganz im Hedonismus aufgehen, oder soll er an etwas glauben, das ihn zu einem Wesen macht, dessen letzter Zweck im Leben nicht nur das hedonistisch verstandene Glück ist? Der demokratische Mensch neigt dazu, sich im Streben nach materiellen Gütern zu erschöpfen bzw. sein Handeln nur im Lichte eines solchen Strebens zu konzipieren. Darin zeigt er, laut Tocqueville, seine Ähnlichkeit mit den Tieren. Aber diese Ähnlichkeit sollte uns nicht den Blick auf eine wesentliche Unähnlichkeit verdecken: „Die Tiere haben dieselben Sinne wie wir und ungefähr dieselben Begierden: Es gibt keine materiellen Leidenschaften die ihnen und uns nicht gemeinsam wären und deren Keim sich nicht sowohl in einem Hund als auch in uns befindet. Was uns in dieser Hinsicht über die Tiere erhebt, ist die Tatsache, dass wir unsere Seele dazu gebrauchen, jene materiellen Güter zu finden, auf die sie der Instinkt hinlenkt. Beim Menschen unterrichtet der Engel dem Tier die Kunst, sich zu befriedigen“ (Tocqueville OC I, 2, II, 16, S. 154). Tier, Mensch, Engel: Der demokratische Mensch kann sich zwar nicht ganz zum Engel erheben, aber er kann doch in die Tierheit verfallen. Nicht in die wilde Tierheit des Raubtiers, wohl aber in die friedliche Tierheit des zahmen Herdentiers. In einem demokratischen Zeitalter geht es nicht primär darum, sich vor der „wilden 128 Man findet die Stelle in Smith 1982, S. 85–86. Eine bloß auf dem Prinzip der Gerechtigkeit beruhende Gesellschaft bezeichnet Smith als eine Gesellschaft von Händlern. Der Autor beschreibt sie in seinem ökonomischen Hauptwerk The Wealth of Nations.

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Bestie“ Mensch zu schützen, sondern vor dem allgemeinen Abgleiten in das „Herdentiertum“. Wer sein Leben damit verbringt, bloß nach der Befriedigung seiner materiellen Begierden zu streben, unterscheidet sich nicht wesentlich von einem Tier. Doch wenn er sich in seinem Handeln nicht wesentlich von einem Tier unterscheidet, warum sollte man ihn dann anders behandeln als ein Tier?129 Wer sich nicht zu schade ist, sich selbst wie ein Tier zu verhalten, wer sich also selbst auf den Rang eines Tieres reduziert, kann sich nicht darüber beklagen, wenn andere ihn auch wie ein Tier behandeln. Denn außer seinem Verhalten haben diese anderen keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass er kein Tier ist. Sein bloßes Aussehen genügt noch nicht, um den normativ relevanten Unterschied zwischen Mensch und Tier zu begründen. Der Mensch unterscheidet sich nicht wesentlich dadurch vom Tier, dass er anders aussieht, sondern der wesentliche Unterschied besteht in den jeweiligen Fähigkeiten: Der Mensch hat Fähigkeiten, die das Tier nicht besitzt, und es sind diese Fähigkeiten, die seine Größe und seine Würde, und dementsprechend auch seine Respektwürdigkeit begründen. Diese Fähigkeiten verweisen auf etwas im Menschen, was ihn nicht nur gänzlich aus der Tierwelt heraushebt, sondern aus der materiellen Welt schlechthin. Eine dieser spezifischen Fähigkeiten besteht darin, dass der Mensch „sich über die Güter des Körpers erheben, und selbst den Tod missachten kann, wovon die Tiere nicht einmal den Gedanken haben“ (Tocqueville OC I, 2, II, 16, S. 154).130 Bei Hegel unterscheidet sich der Herr dadurch vom Knecht, dass er bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, womit er zeigt, dass er den Tod missachtet und sich über die Güter des Körpers erhebt. Der Knecht seinerseits ist nicht bereit, bis zum Tod zu kämpfen und unterwirft sich dem Herrn.131 Tocquevilles demokratischer Mensch gleicht in dieser Hinsicht dem Knecht, denn das Leben ist für ihn der höchste Wert. Allerdings erscheint er bei Tocqueville nicht als ein Knecht, der, weil er die Natur bearbeitet, sich schließlich in dieser wiedererkennt und schlussendlich als Sieger hervorgeht. Tocquevilles demokratischer Mensch läuft Gefahr, unter das Joch des demokratischen Despotismus zu fallen und damit in seinem Knecht-Zustand zu verbleiben. Ihn interessiert nicht die Freiheit, sondern das materielle Wohlergehen. Und solange der Despot ihm dieses garantieren kann, verzichtet er gern auf seine 129 Umgekehrt kann man natürlich auch fragen: Wenn Tier und Mensch sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden, wieso sollte man dann Tiere nicht ähnlich behandeln wie Menschen? 130 Spricht man den Tieren jeden Gedanken ab, so wird man ihnen auch den Gedanken des Todes oder der Missachtung des Todes absprechen müssen. Kann man aber behaupten, dass individuelle Tiere nie den Tod missachten bzw. ein Verhalten an den Tag legen, das eine solche Missachtung vermuten lässt? Die Ethologie hat uns gelehrt, dass ein Opferverhalten auch in der Tierwelt vorkommen kann, dass also auch Tiere sich opfern können, damit ihre Speziesangehörigen überleben können. Dieses Opferverhalten ist selbstverständlich kein bewusstes – beruht also nicht auf einer Entscheidung des Tieres –, sondern ist genetisch bedingt. Tiergruppen in denen einige Tiere ein – genetisch bedingtes – Verhalten an den Tag legten, durch welches sie zu Opfern wurden, während die anderen Tiere flüchten konnten, haben als Gruppen besser überlebt als Gruppen, in denen ein solches Verhalten nicht vorzufinden war. Siehe hierzu u. a. Wilson 1993. 131 Siehe Hegel 1981, S. 145 ff. Bei Hegel sind Herr und Knecht zwei Gestalten des Bewusstseins.

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Freiheit und auf die Ausübung seiner höheren Fähigkeiten. Und wenn er nach mehreren Generationen die Freiheit gänzlich vergessen hat und seine höheren Fähigkeiten verkümmert sind, wird er weder die Kraft noch den Willen haben, sich zu widersetzen, wenn man ihm auch seine materiellen Güter wegnimmt. Dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, „sich über die Güter des Körpers [zu] erheben“, heißt noch nicht, dass er sich (a) dieser Fähigkeit auch bewusst ist und (b) gemäß dieser Fähigkeit handeln wird. Im Falle des demokratischen Menschen könnte es ganz gut sein, dass er nicht nur nicht bereit ist, sein Leben zu opfern, sondern dass ihm nicht einmal bewusst ist, dass dies eine Möglichkeit ist, und dass er sich gerade durch die Aktualisierung dieser Fähigkeit, wenn man Tocqueville folgt, von den Tieren unterscheidet.132 Der Materialismus, von dem vorhin die Rede war, kann in einem doppelten Sinn verstanden werden. Wenn man das Wort „Materialist“ in alltäglichen Kontexten verwendet, so meint man damit gewöhnlich eine Person, der es im Leben ausschließlich um materielle Werte geht, die also z. B. keinen Sinn für Schönheit, also für ästhetische Werte hat. Für einen Materialisten hat alles nur einen materiellen Wert, was u. a. auch bedeutet, dass für ihn auch alles einen Preis hat. Spricht man aber in einem philosophischen Kontext von einem Materialisten, so ist damit ein Anhänger der philosophischen Theorie des Materialismus gemeint. Dieser Theorie zu Folge ist alles Sein materieller Natur und der Mensch unterscheidet sich nur dadurch vom Stein, dass die materiellen Grundelemente aus denen sie beide bestehen, anders angeordnet sind. Einen wesentlichen qualitativen Unterschied gibt es nicht, so dass der Mensch, wenn er stirbt, sich in seine materiellen Grundelemente auflöst, genauso wie der Stein, wenn man ihn thermisch oder chemisch behandelt. Bewusstseinsphänomene lassen sich laut dem Materialismus auf materielle Prozesse zurückführen, deren bloße Epiphänomene sie sind. Eine eigenständige, irreduzible ontologische Identität besitzen sie nicht. Im Gegensatz zum Stein, kann der Mensch zwar Lust und Schmerz empfinden, aber diese Gefühle sind nicht Anzeichen dafür, dass der Mensch mehr ist als nur Materie. Dem philosophischen Materialismus zu Folge, ist der Mensch also lediglich Materie, und der materielle Körper enthält keine immaterielle Seele, die unabhängig vom Körper existieren bzw. unabhängig von ihm gedacht werden könnte.133 132 Ich werde im nächsten Kapitel genauer auf die Opferbereitschaft eingehen. 133 Die bekannteste materialistische Schrift des XVIII. Jahrhunderts ist La Mettries L’Homme ma­ chine. Descartes’ Gedanken aufgreifend, dass der menschliche Körper als Maschine betrachtet werden kann, geht La Mettrie über seinen Vorgänger hinaus und verwirft dessen These, dass sich, zumindest im Falle des Menschen, eine immaterielle Seele in diesem Körper befindet. Wir sind, so La Mettrie, lediglich Maschinen. Allerdings sind wir Menschen denkende und fühlende Maschine. Auch wenn wir uns also nicht grundsätzlich von den Tieren unterscheiden, so erheben wir uns doch etwas über sie, insofern wir denkende Materie sind. Interessant ist zu bemerken, dass La Mettrie die Möglichkeit einer ewig lebenden bzw. funktionierenden Maschine nicht ausschließt. Mit anderen Worten: Es könnte durchaus der Fall sein, dass der als bloße Maschine gedachte Mensch nach seinem Tod auf irgendeine Art und Weise weiterbesteht. Hier müssen wir, so der Autor, unser Unwissen eingestehen (La Mettrie 1981, S. 150). In La Mettries materialistischer Theorie gibt es somit zumindest Platz für die Möglichkeit eines individuellen Weiterbestehens, genauso wie es in dieser Theorie auch einen Platz für Schönheit

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Tocqueville bringt den Alltagsbegriff des Materialismus mit dem philosophischen Begriff in Verbindung und zeigt deren Zusammenhang: „Die Demokratie begünstigt den Geschmack für materielle Lüste. Dieser Geschmack, wenn er übermäßig wird, neigt bald die Menschen dazu zu glauben, dass alles nur Materie ist […]“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 151). Der Materialismus, das Wort hier im alltäglichen Sinne verstanden, erscheint somit als Ursache für das Aufkommen oder die Verbreitung der philosophischen Theorie des Materialismus. Das seinsmäßige materielle Streben des demokratischen Menschen bestimmt sein Bewusstsein und lässt dort eine philosophische Theorie entstehen, die das soziale Sein widerspiegelt. Menschen die ausschließlich nach materiellem Wohlergehen streben werden sich mit der Zeit nur noch als rein materielle Wesen betrachten. Einige Jahre bevor Marx Hegel vom Kopf auf die Füße stellte und das Primat des Seins vor dem Bewusstsein behauptete, hat Tocqueville schon gezeigt, wie das Sein des Menschen dessen Bewusstsein bestimmen kann. Im ausgelassenen Teil der eben zitierten Stelle lässt Tocqueville allerdings durchblicken, dass das Bewusstsein auch auf das Sein zurückwirken kann – was, nebenbei bemerkt, auch Marx nicht absolut leugnet: Je mehr die Menschen sich als bloße Materie verstehen, umso mehr verfolgen sie rein materielle Ziele. Somit entsteht ein „tödlicher Kreis, in den die demokratischen Nationen gestoßen werden“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 151). Der soziale Zustand der Gleichheit nährt den Materialismus im alltäglichen Wortsinn. Von diesem ausgehend entwerfen die Philosophen eine allgemeine Theorie des Seins, in deren Rahmen die Menschen nur Materie sind. Derart konzipierte Menschen werden sich nicht mehr als Wesen sehen, die auch nach immateriellen Werten streben können, zumal wenn die materialistische Theorie die Existenz solcher Werte leugnet. Insofern werden sie ihr gesamtes Streben auf das Materielle richten, was den Materialismus im alltäglichen Wortsinn fördern wird. Für Tocqueville sind Materie und Geist aber getrennt und, wie es in einem Brief an Madame de Circourt aus dem Jahr 1853 heißt, „die Regeln der Mechanik lassen sich nicht auf unsere Seelen anwenden“ (Tocqueville OC XVIII, S. 116). Diesem „tödliche[n] Kreis“ kann man nicht mehr dadurch entkommen, dass man den Demokratisierungsprozess stoppt oder rückgängig macht. Die soziale Wurzel des Übels wird als unausreißbar gedacht, und die Aufgabe kann nur darin bestehen, im Rahmen der demokratischen Gesellschaft nach einer Lösung zu suchen. Diese Lösung kann auch nicht darin bestehen, wie schon gesagt, dass man die Menschen ganz vom Streben nach materiellen Gütern abbringt. Sie lassen sich nicht davon abbringen, und wer sie davon abzubringen versucht, wird im besten Fall überhört oder es kann ihm schlimmstenfalls so ergehen wie dem Gefangenen und Tugend gibt. Trotz seiner materialistischen Prämissen, hält La Mettrie noch an Elementen fest, mittels derer man die menschliche Würde begründen kann. Wie sehr La Mettrie sich auch gegen die metaphysischen Systeme seiner Zeit erhebt, bleibt auch er in der Metaphysik stecken, etwa wenn er schreibt, die Natur habe uns „alle geschaffen, nur damit wir glücklich werden, vom kriechenden Wurm bis zum Adler, der sich im Himmel verliert“ (La Mettrie 1981, S. 125) – und den Menschen muss man sich zwischen Erdboden und Himmel denken. Ein konsequenter Materialist schreibt der Natur keine Absichten zu.

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in Platons Höhlengleichnis, der, nachdem er die Ideen angeschaut hat, in die Höhle zurückkehrt und dort versucht, seine Mitmenschen davon abzubringen, die Schatten an der Wand für die Wirklichkeit zu halten. Am Anfang macht man sich über ihn lustig, aber am Schluss wird er – wie Sokrates – getötet. Wenn überhaupt, dann muss die Lösung auf der philosophischen Ebene ansetzen, und d. h., dass man dem materialistischen Menschenbild ein anderes Menschenbild entgegensetzen muss, ein Menschenbild, in dem der Mensch nicht nur als ein rein materielles Wesen erscheint. Man muss den Menschen beibringen, sich anders anzusehen, nicht als reine Engel, aber als eine Mischung aus Tier, Mensch und Engel. Das für die Bewahrung der Freiheit in einem demokratischen Zeitalter angemessene Menschenbild ist ein solches, in welchem materialistische und spiritualistische Elemente zusammenfließen. Und die Religion, so denkt Tocqueville, kann diese spiritualistischen Elemente liefern. Tocqueville bezeichnet die philosophischen Materialisten als die „natürlichen Feinde jenes [demokratischen – N. C.] Volkes“, zumindest insofern sie versuchen, ihre Theorie im Volk zu verbreiten (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 151). Dabei lässt er durchblicken, dass ihre Theorie einen Nutzen haben könnte, nämlich den, im Menschen ein Gefühl der Demut hervorzurufen. Hier denkt Tocqueville wahrscheinlich an die demiurgischen Projekte aller jener Revolutionäre, die die soziale Welt von Grund auf neu aufbauen wollten, und sich anmaßten, den Himmel auf Erden zu schaffen. Wird der Mensch sich bewusst, dass er letzten Endes nur Materie und nicht Gott ist, dann wird er solche wahnsinnigen Projekte unterlassen. Doch, so Tocqueville weiter, nicht einmal diesen Nutzen kann man dem philosophischen Materialismus zuerkennen, denn die materialistischen Philosophen setzen die Menschen zunächst auf den Rang von Tieren herab, und zeigen sich dann „so stolz, als hätten sie bewiesen, dass sie Götter sind“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 151). Weit davon entfernt, eine Welt ohne Götter zu entwerfen, produziert der Materialismus den Menschen als neuen Gott. Und dieser neue Gott neigt dazu, keine ihm übergeordnete Normativität mehr anzuerkennen – als Gott braucht er dies nicht zu tun, denn welche Normativitätsquelle könnte noch über ihm stehen? Fehlt ihm aber eine solche Richtschnur, dann fällt er auf seine Begierden und Leidenschaften zurück. Und da es sich bei diesen Begierden und Leidenschaften um solche eines materiellen Wesens handelt, können sie keinen anderen Inhalt als materielle Güter haben. Unter diesen Umständen tragen die materialistischen Philosophen nicht dazu bei, das Volk zu erheben, sondern sie tragen vielmehr zu seiner Erniedrigung bei. Und ein solcherart erniedrigtes Volk wird sich nicht mehr gegen den Despotismus wehren wollen, solange dieser ihm die Befriedigung seiner materiellen Begierden und Leidenschaften verspricht. Insofern der philosophische Materialismus das Terrain für den Despotismus vorbereitet, kann Tocqueville die Materialisten als Feinde des Volkes bezeichnen. Wären sie nämlich Freunde des Volkes, so würden sie ein Menschenbild im Volk verbreiten, das als Grundlage für den Widerstand gegen den Despotismus dienen kann. Dazu müssten sie aber aufhören, Materialisten zu sein. Tocqueville geht hier nicht auf die Frage nach der Wahrheit oder der Falschheit des philosophischen Materialismus ein. Man sucht bei ihm vergeblich nach einer

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philosophischen bzw. theoretischen Widerlegung der Thesen der Materialisten. Tocqueville glaubt sicherlich, dass der Materialismus falsch ist, aber mehr noch als seine Falschheit, interessiert ihn seine Gefährlichkeit. Dem politischen Schriftsteller geht es nicht darum, alle falschen Theorien zu widerlegen, damit sich wahre Theorien etablieren können, sondern er will gefährliche durch nützliche Theorien ersetzen. Man findet bei Tocqueville einerseits eine soziologische Erklärung – der philosophische Materialismus entspricht den demokratischen Gesellschaften. Dies erklärt, wieso man ihn vor allem dort findet und es erklärt auch, wieso er sich dort gut ausbreiten kann –, und andererseits eine Warnung vor der Gefährlichkeit des Materialismus: Lässt man den Materialismus sich frei entfalten und verbreiten, so werden die Menschen sich nur noch als Tiere, oder gar als bloße Materie betrachten und sie werden dementsprechend alles aus den Augen verlieren, was sich nicht auf das Sinnliche oder Materielle reduzieren lässt. Und da die menschliche Würde sich nicht auf das Sinnliche und das Materielle reduzieren lässt bzw. sich nicht im Bereich des Materiellen oder Sinnlichen finden lässt, ist der philosophische Materialismus gefährlich für die Menschenwürde. Und was dem Einfluss des Materialismus Einhalt gebieten und ihm entgegenwirken kann, ist dann so gut wie automatisch der Menschenwürde förderlich. Der Kampf gegen den Materialismus ist somit gleichzeitig ein Kampf für die menschliche Würde und der Kampf für die menschliche Würde ist ein Kampf für eine liberale politische Gemeinschaft, innerhalb derer allein es einen angemessenen Platz für diese Würde und diesen Respekt geben kann. Im Rahmen seiner Warnung gegen den Materialismus erwähnt Tocqueville die Religionen, wovon die meisten „nur allgemeine, einfache und praktische Mittel sind, um den Menschen die Unsterblichkeit der Seele beizubringen“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 151). In dieser Belehrung sieht Tocqueville den „größten Vorteil“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 151)134, den der religiöse Glauben einem demokratischen Volk bringen kann. Und weil ein solches Volk mehr als andere Völker der Gefahr ausgesetzt ist, in den Materialismus zu verfallen, hat ein solches Volk es weit mehr als andere Völker nötig, dass man den religiösen Glauben in ihm aufrecht erhält. Wenn die Menschen keinen religiösen Glauben mehr haben, fehlt ihnen auch der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. Fehlt ihnen der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, dann haben sie keinen Grund mehr, sich als besondere Wesen zu betrachten.135 Haben die Menschen keinen Grund mehr, sich als besondere Wesen zu betrachten, dann verlieren sie auch das Gefühl, eine Würde zu haben. Verlieren sie das Gefühl, eine Würde zu haben, dann verlieren sie auch den Glauben an den Wert ihrer Freiheit. Verlieren sie den Glauben an den Wert ihrer Freiheit, dann wer134 Man sollte allerdings beim Tocquevilleschen Gebrauch solcher emphatischer Begriffe vorsichtig sein. Vieles stellt er als „das Größte“ oder das „das Einzige“ dar. 135 Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele wird hier nicht, oder doch nicht vorwiegend, als Vorbedingung für die Furcht vor jenseitigen Strafen gedacht. Molinari hatte darauf hingewiesen, dass die göttlichen Gesetze besser respektiert werden, wenn die Menschen an die Unsterblichkeit der Seele glauben (Molinari 1892, S. 31). Jules Simon erinnert daran, dass Robespierre einen Gesetzesvorschlag unterbreitet hatte, in dem festgehalten wurde, dass das französische Volk die Unsterblichkeit der Seele anerkennt (Simon 1867, S. 213).

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den sie diese Freiheit leicht aufgeben. Geben sie ihre Freiheit auf, dann werden sie nicht mehr wie Menschen leben, sondern wie Tiere. Jede Nation wird dann zu einer „Herde von scheuen und arbeitsamen Tieren, deren Hirte die Regierung ist“ (Tocqueville OC I, 2, IV, 7, S. 325). Solche Menschen „fallen nach und nach unter das Niveau der Menschheit“ (Tocqueville OC I, 2, IV, 7, S. 326). Es geht Tocqueville also letzten Endes darum, die Menschheit der Menschen, und dann auch ein allgemeines Bewusstsein dieser Menschheit unter demokratischen Lebensbedingungen zu bewahren.136 Bei seinem Vergleich zwischen der Theorie der Seelenwanderung und dem Materialismus gibt Tocqueville implizit zu verstehen, dass letzterer nicht nur nicht unsere liberalen Gefühle und Leidenschaften befriedigen kann, sondern dass er auch der Vernunft widerstrebt. Der Glaube an die Seelenwanderung, so nämlich Tocqueville, „ist nicht vernünftiger als der Materialismus“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 151). Es geht hier keineswegs darum zu sagen, dass der Glaube an die Seelenwanderung vernünftig ist, bloß eben nicht vernünftiger als der Glaube an den Materialismus. Es wird im Gegenteil vorausgesetzt, dass der Glaube an die Seelenwanderung unvernünftig ist. Und da dieser Glaube nicht vernünftiger ist als der Glaube an den Materialismus, wird dieser auch als unvernünftig präsentiert. Beide Lehren sind unvernünftig. Tocqueville sagt allerdings nicht, inwiefern der Materialismus unvernünftig ist bzw. inwiefern der Glaube an den ausschließlich materiellen Charakter allen Seins sich auf keine vernünftigeren oder plausibleren Gründe stützen kann als die Lehre der Seelenwanderung. Tocqueville geht es aber letzten Endes nicht um die Frage nach der Vernünftigkeit. Angenommen die Lehre der Seelenwanderung und die Lehre des Materialismus würden sich, was die theoretischen Argumente betrifft, die Waage halten. Was könnte dann den Ausschlag geben, wenn man zwischen den beiden zu wählen hätte? Tocqueville meint, dass eine solche Wahl zu Gunsten der Lehre der Seelenwanderung ausfallen muss, denn die Bürger „laufen weniger Gefahr, sich zu verrohen, wenn sie glauben, dass ihre Seele in den Körper eines Schweins wandern wird, als wenn sie glauben, dass sie nichts ist“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 152). Der absurdeste Spiritualismus ist in den Augen Tocquevilles immer noch besser als der vernünftigste Materialismus.137 Besser nicht in einem theoretischen Sinn, sondern besser dazu geeignet, jenen Glauben in den Menschen aufrecht zu erhalten, ohne den sie Gefahr laufen, unter das Niveau der Menschheit zu fallen.138 136 Tocqueville meint auch, dass der Materialismus zum Rassismus führt: „Diese Idee eines unsichtbaren Einflusses der Rasse ist eine wesentlich materialistische Idee“ (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 695 Fußnote m). 137 In einem auf den 28. September 1834 datierten Brief an Louis de Kergorlay, erwägt Tocqueville die Gründung einer Zeitschrift, deren Hauptanliegen die Rehabilitierung des Spiritualismus in der Politik sein sollte (Tocqueville OC XIII, 1, S. 361). Allerdings warnt Tocqueville vor einem extremen Spiritualismus, der die körperliche Dimension des Menschen ganz vernachlässigt, ja den Körper sogar peinigt. Sein Anliegen ist es, eine via media, einen vernünftigen Mittelweg zu finden (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 960 Fußnote j). 138 „Gebt ihnen den Himmel zu sehen, und sei es durch die schlechtesten Instrumente“, heißt es in einer nicht veröffentlichten Passage des Manuskripts der Démocratie (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 924 Fußnote n).

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In seinen Aufzeichnungen über Indien und den Hinduismus, hat Tocqueville festgehalten, dass sich hinter den in seinen Augen rohen und lächerlichen Praktiken des Hinduismus eine Idee manifestiert, nämlich „die reine und transzendentale Idee der Spiritualität der Seele und ihres gegenüber der Materie übergeordneten Platzes“ (Tocqueville OC III, 1, S. 546). Die Religion der Brahmanen erscheint ihm als eine „Mischung aus sublimen philosophischen Begriffen und Praktiken des niederen Volkes“ (Tocqueville OC III, 1, S. 547). Mag auch der Vergleich gewagt sein139, so scheint mir die Behauptung doch nicht ganz falsch zu sein, dass man eine ähnliche Situation in den Vereinigten Staaten vorfindet, bloß dass es sich bei den Praktiken des amerikanischen Volkes nicht um religiöse oder abergläubische Praktiken handelt, sondern um das Streben nach materiellem Gewinn. In Amerika entfaltet sich dieses, aus der Perspektive Tocquevilles betrachtet, niedere Streben vor dem Hintergrund eines Glaubens an eine immaterielle Seele. Oder anders gesagt: Der alltägliche Materialismus ist in ein noch zum Teil spiritualistisches Weltbild eingebettet. Und solange dies der Fall sein wird, wird der Mensch sich seines Wertes bewusst werden – und dies obwohl er sich in seiner alltäglichen Praxis erniedrigt. Im Hinblick auf die Entwicklung des Hinduismus ist Tocqueville allerdings pessimistisch, schreibt er doch: „Fast alle Religionen haben den Weg der Verfeinerung und der Aufklärung eingeschlagen. Diese [scil. der Hinduismus – N. C.] zeigt an ihrem Ursprung eine Lichtquelle, die sich dann aber allmählich verfinstert“ (Tocqueville OC III, 1, S. 548). Auch hier ließe sich ein Vergleich mit den demokratischen Gesellschaften anstellen: Am Ursprung dieser Gesellschaften steht der große Gedanke einer ursprünglichen Gleichheit aller Menschen, wobei dieser Gedanke zunächst als Gedanke einer gleichen – und vor allem gleich hohen – Würde aller Menschen gedeutet werden kann. Im Laufe der Zeit reduziert sich der Gedanke der Gleichheit aber auf den Gedanken einer gleichen Bereicherungschance: In einer demokratischen Gesellschaft haben alle Menschen eine gleiche Chance, ihr Streben nach materiellem Wohlergehen zu befriedigen. Indem die Religionen die Menschen daran erinnern, dass sie eine unsterbliche und vom Körper unterschiedene Seele haben, erinnern sie sie auch daran, dass sie mehr sind als bloße Tiere. Und indem sie dies tun, erinnern sie den Menschen da-

139 So gewagt dürfte der Vergleich doch nicht sein. So stellt Tocqueville eine große Mobilität der Reichtümer in Indien fest (Tocqueville OC III, 1, S. 539), eine Situation, die auch die demokratischen Gesellschaften kennzeichnet. In seinen Überlegungen zum Überleben des Christentums in Amerika und vor allem zur Bewahrung seines Einflusses auf die Amerikaner, hatte Tocqueville festgehalten, dass die christliche Religion sich den demokratischen Leidenschaften anpassen und dementsprechend auch dem Streben nach materiellem Wohlergehen einen Platz einräumen musste. Über den Hinduismus schreibt Tocqueville: „Keine Religion hat den Menschen je dermaßen in Anspruch genommen, aber um diesen Einfluss auf alle Handlungen des Menschen zu bekommen und zu halten, musste er große Zugeständnisse an mehrere Leidenschaften oder Laster des menschlichen Herzens machen“ (Tocqueville OC III, 1, S. 544). Eine Religion, so könnte man allgemein festhalten, wird das menschliche Leben nur dann beeinflussen können, wenn sie zu Kompromissen mit der menschlichen Natur bereit ist.

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ran, dass er eine Würde besitzt.140 Und weil er diese Würde besitzt, ist es seinen Mitmenschen und dem Staat nicht erlaubt, ihn wie ein Tier zu behandeln. Will der Staat die Rolle des Hirten übernehmen und die Bürger zu einer Herde scheuer arbeitsamer Tiere verkommen lassen, deren höchstes Gut der materielle Wohlstand ist, dann hat er ein großes Interesse daran, den Einfluss der Religionen zu verringern oder die Religionen verschwinden oder verkommen zu lassen. Ist es jedoch sein Ziel aber, eine Gesellschaft zu errichten oder zu bewahren, in welcher die Menschen ein Gefühl ihrer Würde haben, dann steht er vor der Frage, ob er, wenn er den Zweck will, auch die Bereitstellung der Mittel zur Erreichung des Zwecks wollen soll oder wollen darf. Mit anderen Worten: Wenn dem liberalen Staat die Würde des Menschen am Herzen liegt und wenn nur, wie Tocqueville denkt, der religiöse Glaube es erlaubt, den Gedanken der Würde zu bewahren, dann wird ein solcher Staat sich fragen müssen, ob und inwiefern er dazu beitragen soll, den religiösen Glauben zu fördern. Indem er den religiösen Glauben fördert, fördert er zugleich ein bestimmtes Menschenbild, nämlich jenes Menschenbild, das, aus der Sicht Tocquevilles, allein in der Lage ist, die Individuen vor einer Reduzierung ihres Seins auf dasjenige einer materielle Güter konsumierenden Masse zu reduzieren. Wenn der Staat sich für die Förderung der Religionen entscheidet, dann wird er sich auch mit dem Inhalt der betreffenden Religionen befassen müssen. Allerdings wird er dies nicht tun, um die wahre von den falschen Religionen, sondern um die nützlichen von den nutzlosen oder gar gefährlichen Religionen zu unterscheiden. Unabhängig von der Frage nach der Wahrheit, steht die Frage nach dem Beitrag der Religionen zur Förderung eines dem Liberalismus angemessenen Menschenbildes im Mittelpunkt. Eine der soeben erwähnten gefährlichen Religionen ist der Pantheismus, der zu Tocquevilles Zeit eine große Verbreitung kannte (Tocqueville OC I, 2, I, 7, S. 37). Den Grundgedanken des Pantheismus hat Spinoza141 prägnant in seiner berühmten Formel: Deus sive natura – Gott oder (anders gesagt) die Natur – formuliert.142 Während viele Religionen Gott als ein über der Natur stehendes Wesen

140 „Die Religion gibt dem Menschen das Bewusstsein seiner Würde“, fasst Friedo Ricken es kurz in einem rezent erschienenen Aufsatzband zusammen (Ricken 2013, S. 166). Die Frage ist allerdings, ob nur die Religion in der Lage ist, dem Menschen das Bewusstsein seiner Würde zu geben. 141 In der Démocratie wird Spinoza einmal erwähnt, wobei Tocqueville im ursprünglichen Manuskript Voltaire statt Spinoza nennt (Tocqueville/Nolla 2009b, S. 477 Fußnote n). In der betreffenden Passage stellt Tocqueville fest, dass viele Menschen die Amerikaner wegen des bei ihnen herrschenden religiösen Geistes bedauern. Ihnen zufolge könnten die Amerikaner glücklich sein, wenn sie sich zum Materialismus eines Cabanis oder zu Spinozas These der Ewigkeit der Welt bekehren würden. Wer das behauptet, so Tocqueville, war noch nie in Amerika und hat weder ein religiöses noch ein freies Volk gesehen (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 307). 142 Ich will mich hier nicht auf eine detaillierte Diskussion der These Spinozas einlassen. Will Spinoza sagen, dass Gott nichts anderes als das physikalische Universum ist? Oder will er sagen, dass das physikalische Universum nur die körperliche Dimension Gottes darstellt, der aber, als unendliches Wesen, viele anderen Dimensionen besitzt?

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konzipieren143, begreift der Pantheismus ihn als in der Natur seiend oder sogar als mit der Natur identisch: Gott ist die Natur und die Natur ist Gott. Damit wird der Unterschied zwischen Transzendenz und Immanenz aufgehoben, wobei man dies entweder – sozusagen positiv – als eine Vergöttlichung des Immanenten oder – eher negativ – als eine Naturalisierung des Transzendenten deuten kann. Genauso wie der Materialismus, kommt auch der Pantheismus dem Selbstverständnis des demokratischen Menschen entgegen. In einer demokratischen Gesellschaft verschwinden bekanntlich die naturgegebenen Rangunterschiede und die Menschen sehen sich demnach alle als Gleiche an – die bestehenden sozialen Unterschiede werden dabei als rein oberflächlich betrachtet und betreffen nicht die Gleichheit im Wesen. Die Individuen bilden somit eine gleichartige Masse, und da sie sich nicht mehr wesentlich voneinander unterscheiden, sehen sie sich nicht mehr als Individuen bzw. als Individuen die, auf Grund ihrer jeweiligen Unterschiede aus, der Masse herausragen, sondern sie sehen nur noch die Masse. Die Individualität löst sich im Ganzen auf bzw., wie Tocqueville es ausdrückt, wird die menschliche Individualität zerstört (Tocqueville OC I, 2, I, 7, S. 38). Der Gedanke der Einheit spielt insofern eine große Rolle bei einem demokratischen Volk, und genau diese Einheit ist es auch, die wir im Pantheismus wiederfinden. Dieser hebt alle Differenzen auf und denkt sich das All nur noch als Einheit: Gott ist alles und alles ist (in) Gott. Im Falle der Demokratie ist die Masse alles und alle Individuen sind in der Masse. Die Menschen konzipieren sich nicht mehr als handlungsmächtige Individualitäten, sondern als „unterschiedliche Teile eines überragenden Ganzen, das allein ewig währt inmitten des ständigen Wechsels und der unaufhörlichen Änderungen von allem dem, aus dem es besteht“ (Tocqueville OC I, 2, I, 7, S. 38). Die Individuen vergehen, während die Gesellschaft bleibt. Und da, wie es schon Parmenides und nach ihm auch Platon lehrten, nur das Bleibende wirklich ist – ein Sein, das zugleich als einzig wertvolles, weil einzig wirkliches Sein gedacht wird –, wird das vergängliche Individuum entwertet. In Gegensatz zu anderen Religionen trägt, laut Tocqueville, der Pantheismus nicht dazu bei, den Gedanken der individuellen Würde zu fördern, sondern er untergräbt diese vielmehr, da er die individuelle Dimension der Würde hinter ihre kollektive Dimension stellt: Wenn überhaupt, dann tendiert die Demokratie dazu, kollektive Wesen, wie etwa die Gesellschaft, mit Würde zu versehen. Insofern ist zu befürchten, dass der sich in einem demokratischen Zeitalter verbreitende Pantheismus gefährlich für den liberalen Gedanken werden kann bzw. die liberale Gestaltung der demokratischen Gesellschaft erschwert oder gar unmöglich macht. In einem Brief an Reeve aus dem Jahr 1840, dem Erscheinungsjahr des zweiten Bandes der Démo­ cratie, teilt Tocqueville seinem Korrespondenten mit, dass der Grundgedanke des Bandes eigentlich in der Warnung vor dem, wie wir heute sagen würden, Holismus besteht: „Die große Gefahr der demokratischen Epochen, dessen können sie sicher sein, ist die Zerstörung oder die übertriebene Abschwächung der Teile des sozialen Körpers im Vergleich zum Ganzen. Alles was in unseren Tagen den Gedanken des Individuums erhöht, ist gesund. Alles was der Spezies eine abgesonderte Existenz 143 Wobei es unterschiedliche Grade der Transzendenz geben kann.

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gibt und den Begriff der Gattung erhöht, ist gefährlich. Der Geist unserer Zeitgenossen läuft von selbst in diese [letztgenannte] Richtung“ (Tocqueville OC VI, 1, 52). Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, wenn Tocqueville meint, dass sich alle diejenigen gegen den Pantheismus vereinigen müssen, „die leidenschaftlich an der wirklichen Größe des Menschen festhalten“ (Tocqueville OC I, 2, I, 7, S. 38). Denn als wirklich groß kann der Mensch nur dann gedacht werden, wenn die Größe im individuellen Menschen liegt, und nicht in der Gesellschaft.144 Es geht hier um die Frage, was als letzten Bezugspunkt zu gelten hat, das Individuum oder die Gesellschaft, und damit auch um die Frage, ob die Gesellschaft da ist, um dem Individuum zu ermöglichen, seine Zwecke zu erreichen, oder ob nicht vielmehr das Individuum nur ein Instrument im Dienste einer Gesellschaft ist. Insofern die demokratischen Menschen dazu tendieren, sich voneinander abzusondern und keine kollektiven Unternehmungen mehr durchzuführen, entsteht in ihnen ein Gefühl der individuellen Ohnmacht. Diese persönliche Ohnmacht lässt sie dann die Gesellschaft als etwas Mächtiges sehen. Und auf diese Weise entsteht dann der Eindruck, dass sie nichts und die Gesellschaft alles ist, ein Eindruck, dem der Pantheismus einen allgemeinen metaphysischen Ausdruck oder Anstrich verleiht. Die Menschen erfahren sich nicht nur als absolut gleichwertige Teile eines ihnen übergeordneten Ganzen, sondern sie denken sich auch als solche Teile. Tocqueville befindet sich diesbezüglich in einer spannungsgeladenen Lage. Denn indem er den demokratischen Individualismus verurteilt, kann ihm angelastet werden, genau jenes zu tun, was er in der zitierten Stelle aus dem Brief an Reeve brandmarkt, nämlich den Gedanken des Teils abzuschwächen und dadurch den Gedanken des Ganzen zu stärken oder zu erhöhen. Dieser Vorwurf greift allerdings zu kurz und übersieht die Tatsache, dass eine bestimmte Form des Individualismus, weit davon entfernt, dem Holismus entgegenzuwirken, dessen Herkunft vorbereitet. Genauso wenig wie er das kritische Denken der Aufklärung in toto ablehnt, lehnt Tocqueville das sich behauptende Individuum der Moderne in toto ab. Das Individuum darf weder als ein solches gedacht werden, das sich gänzlich isoliert, noch als ein solches, das gänzlich im Ganzen aufgeht. Es soll vielmehr als ein solches gedacht werden, das sein Recht auf die Gestaltung des Ganzen geltend macht, eines Ganzen, dem es sich aber niemals vollständig unterordnen wird. Genauso wie Constant die Freiheit der Alten nicht in toto verurteilte, noch die Freiheit der Modernen unkritisch guthieß, sondern beide zu einem für das liberale Denken annehmbaren Kompromiss zu vereinigen suchte, strebt auch Tocqueville nach einer Art Synthese des holistisch orientierten Denkens der Alten mit dem individualistisch orientierten Denken der Modernen. Die von ihm gepriesenen Vereinigungen der 144 In den Yale-Manuskripten findet man eine Stelle, an der Tocqueville auf den Universalienstreit eingeht. Bei diesem Streit, der eine der zentralen Episoden der Philosophie des Mittelalters ist, standen sich Realisten und Nominalisten gegenüber. Während die Nominalisten die Wirklichkeit der Individuen behaupteten und in den abstrakten Begriffen lediglich Namen sahen, denen keine eigenständige Wirklichkeit entsprach, vertraten die Realisten die These, dass die abstrakten Begriffe eine eigenständige Wirklichkeit bezeichneten und dass die Individuen nur Kraft ihrer Teilnahme an dieser abstrakten Wirklichkeit Konsistenz hatten. Die Demokratie, so Tocqueville, neigt zum Realismus (Tocqueville/Nolla 2009c, S. 718 Fußnote m).

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politischen und gesellschaftlichen Sphäre können als konkrete Ausdrücke dieser Synthese angesehen werden. So wird dann auch verständlich, wieso Tocqueville in der Kunst der Bildung von Vereinigungen145 jene Kunst sieht, die für die Bewahrung der Freiheit in der Demokratie unentbehrlich ist.146 In De la religion hatte auch Constant darauf hingewiesen, dass der Pantheismus – den er als Rivalen des Atheismus’ bezeichnet147 – eine gewisse Anziehungskraft auf den Menschen ausübt – ohne allerdings damit spezifisch den demokratischen Menschen zu meinen. Einerseits gibt der Pantheismus einem dumpfen Gefühl der Einheit alles Bestehenden Ausdruck. Constant spricht von einer „geheimnisvollen Übereinstimmung“ (Constant 1999, S. 257), die es zwischen uns und der Welt um uns zu geben scheint, so dass wir dazu geneigt sind, die Unterschiede als oberflächlich zu deuten und die Einheit alles Seienden als wesentlich. Dies zeigt sich u. a. in den fernöstlichen Religionen, die Constant als beispielhaft für den Pantheismus anführt. Der Pantheismus kommt einer Tendenz unseres Geistes entgegen. Und Constants Prognose hierzu lautet: „[M]an sollte sich nichts vormachen [:L]ässt man das religiöse Gefühl beiseite, so ist der Pantheismus der Endpunkt aller Lehren“ (Constant 1999, S. 772). Der Pantheismus und das religiöse Gefühl scheinen demnach ganz nahe beieinander zu liegen. Diese Entsprechung mit einer bestimmten Tendenz des menschlichen Geistes ist aber nur ein Grund, wieso der Pantheismus den Menschen anzieht. Als zweiten Grund erwähnt Constant die Tatsache, dass der Pantheismus uns von „dieser Individualität [befreit – N. C.], die uns eine Last ist“ (Constant 1999, S. 257). Ohne dass er genauer auf diesen Gedanken eingeht, drückt Constant hier schon eine der Hauptlasten des modernen Menschen aus, ein Punkt, auf den vor allem Tocqueville eingehen wird. Weit davon entfernt, nur positive Seiten zu haben, stellt der Individualisierungsprozess den Menschen vor seine eigene Verantwortung und zwingt ihm demnach eigene Entscheidungen auf. Der Mensch wird zwar noch immer in eine bestehende Lebenswelt hineingeboren, aber diese Lebenswelt mit ihren Regeln, Hierarchien, usw. erscheint ihm nicht mehr als ein unabwendbares Schicksal, sondern als ein von ihm mitzugestaltender Raum des gemeinsamen Zusammenseins. Die Tradition wird nicht mehr als etwas Unabänderliches betrachtet, sondern sie erscheint dem Menschen als etwas, für dessen Weiterbestehen er selbst verantwortlich ist. Damit steht der Mensch vor der Wahl und wird sich seiner selbst als eines Wesens bewusst, das Entscheidungen treffen muss und das als entscheidendes Wesen aus dem Bereich des Faktischen herausragt.

145 Der Begriff Kunst ist hier in seiner ganzen Bedeutungsvielfalt zu nehmen. Insofern der demokratische Mensch seiner Natur nach zur Isolierung neigt, sind Vereinigungen nicht natürlich, sondern künstlich. Und insofern es nicht einfach ist, eine Vereinigung zu bilden, die (a) nicht auseinanderbricht, weil niemand sie am Leben halten will oder (b) zu einem Holismus „im Kleinen“ entartet, ist eine gewisse Kunstfertigkeit von Nöten, um Vereinigungen zu bilden, die die Freiheit in der Gesellschaft, aber auch intern fördern. 146 Über die Rolle der Vereinigungen für die Bewahrung der Freiheit, siehe Tocqueville OC I, 1, II, 4 und Tocqueville OC I, 2, II, 5. 147 Dem Pantheisten Spinoza wurde oft Atheismus vorgeworfen.

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In seinem berühmten und die Hauptgedanken des Existentialismus zusammenfassenden Essai L’humanisme est un existentialisme, bringt Jean-Paul Sartre den Gedanken auf den Punkt: Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein (Sartre 1996, S. 39). Damit will Sartre ausdrücken, dass der Mensch die Freiheit nicht frei gewählt hat, sondern dass er sie als etwas ursprünglich Gegebenes vorfindet, aber ein Gegebenes, dessen er sich nicht entledigen kann. Mit dem Gedanken der Verurteilung will Sartre aber auch nahelegen, dass der Mensch die Freiheit nicht so sehr als ein Geschenk, sondern vielmehr als eine Last oder eine Bürde empfindet. Und wie Constant weist auch Sartre darauf hin, dass viele Menschen versuchen, sich dieser Last zu entziehen, indem sie ihre persönliche Verantwortung leugnen und auf Befehle, usw. hinweisen, die sie befolgt haben. Diese Menschen leugnen demnach ihre Spontaneität und damit sich selbst als ursprünglich handlungsmächtige Wesen und sie wollen nur noch bloße Ausführer sein. Nicht sie tragen dann die Verantwortung für eine Handlung, sondern derjenige, der ihnen den Befehl erteilt hat, sie auszuführen, oder aber ihre Leidenschaften, durch die sie überwältigt wurden, usw. Die Menschen fügen sich in einen gegebenen Rahmen ein und dieser bildet für sie die ganze Wirklichkeit. Sartre verurteilt diese, wie er sie nennt, mauvaise foi und erinnert den Menschen daran, dass jedes Befolgen eines Befehls eine persönliche Entscheidung voraussetzt, diesem Befehl zu folgen, genauso wie auch jeder Mensch dazu befähigt ist, sich der Macht seiner Leidenschaften zu entziehen bzw. Widerstand zu leisten. Im Gegensatz zu Tocqueville, der seine Mitmenschen dazu aufruft, den Pantheismus zu bekämpfen, glaubt Constant, dass das wirksamste Gegenmittel gegen den Pantheismus in uns selbst liegt. Dieses Gegenmittel ist das religiöse Gefühl. Der Pantheismus zerstört nämlich alles, was das religiöse Gefühl befriedigen kann: Die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpfen, die verteilende Gerechtigkeit, die moralischen Erwartungen, usw. (Constant 1999, S. 252). Insofern man voraussetzt, dass das religiöse Gefühl letztendlich immer triumphieren wird, ist ein endgültiger Sieg des Pantheismus ausgeschlossen. Wie eine jede andere positive religiöse Lehre, ist auch der Pantheismus dazu verdammt, der kritischen Kraft des religiösen Gefühls anheim zu fallen. Für Constant ist der Kampf gegen den Pantheismus dementsprechend nicht so wichtig wie für Tocqueville. Ungefähr zur selben Zeit als Tocquevilles und Constants Kritiken am Pantheismus erscheinen, wird dieser in Deutschland von Heinrich Heine gelobt. In seiner 1835 fertiggestellten Studie Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland148 bestreitet Heine, dass der Pantheismus den Menschen zur Gleichgültigkeit und zur Zurückgezogenheit führt: „Im Gegenteil, das Bewusstsein seiner Göttlichkeit wird den Menschen auch zur Kundgebung derselben begeistern, und jetzt erst werden die wahren Großtaten des wahren Heroentums diese Erde verherrlichen“ (Heine 2010, S. 68). Die sich am Pantheismus nährende Demokratie ist „eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter“, die nicht, wie die Französische Revolution, „die Menschenrechte des Volks“, sondern die „Gottesrechte des Menschen“ proklamiert (Heine 2010, S. 68). Der Panthe148 Ich danke meinem Kollegen Jochen Schaaf für den Hinweis auf dieses Werk Heines.

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ismus ist, so Heine weiter, „die Religion unserer größten Denker, unserer besten Künstler“, es ist die Religion all jener, die frei sind und „keines donnernden Tyrannen“, „keiner väterlichen Vorsorge“ bedürfen, die sich nicht als „Machwerke eines großen Mechanikus“ betrachten, und die im Deismus „eine Religion für Knechte, für Kinder, für Genfer, für Uhrmacher“ sehen (Heine 2010, S. 69). Während Tocqueville im Pantheismus eine Lehre sieht, die den Menschen entwürdigt, indem sie ihn nur noch als Teil eines allen Wert in sich konzentrierenden Ganzen betrachtet, sieht Heine in ihm vielmehr eine Lehre, die den Menschen zum Göttlichen erhebt und die als solche die Größe des Menschen postuliert. Was dem Deutschen Verherrlichung, Heiligung und Beseligung ist, ist dem Franzosen Entherrlichung, Entheiligung und Entseligung. Wo Heine wahre Heroen sieht, sieht Tocqueville Nietzsches Herdentier.149 Tocqueville stört sich an einer Vergöttlichung des Menschen, wie Heine sie für den Pantheismus beansprucht. Einerseits kann eine solche Vergöttlichung einen Allmächtigkeitswahn in den Menschen hervorrufen und sie demnach zu gefährlichen Handlungen verleiten. Denn wer sich selbst als Gott betrachtet, wird glauben, dass ihm alles erlaubt ist. Andererseits sieht Tocqueville die Schwäche des demokratischen Menschen: Auch wenn dieser Mensch wie Gott sein will, wird ihm dies nie gelingen. Die demokratische Gesellschaft ist keine Gesellschaft, in welcher es nur Heroen gibt – falls es denn in ihr überhaupt noch solche geben wird. Es ist nicht die Gesellschaft der Gleichherrlichkeit aller Individuen, sondern diejenige des gleichen Mittelmaßes. Die pyramidale Struktur der aristokratischen Gesellschaft wird nicht von der Basis auf die Spitze gestellt – sehr wenige ganz unten, sehr viele ganz oben –, sondern die Spitze wird abgestumpft, es bildet sich eine neue Spitze unten, und die Mehrheit der Menschen findet sich in der Mitte – aus der Pyramide wurde somit eine Art Raute. Aus der Sicht Tocquevilles gaukelt Heines Lobrede auf den Pantheismus den Menschen ein Ideal vor, das außerhalb ihrer Reichweite liegt. Es ist, könnte man sagen, eine reine Utopie, die die real-existierenden Menschen mit ihrem Streben nach materiellem Wohlergehen weitestgehend ignoriert und ein bestimmtes Idealbild auf alle Menschen projiziert. Tocqueville geht es nicht darum zu wissen, welche Wirkung der Pantheismus im Abstrakten haben kann, sondern er fragt sich nach der Wirkung des Pantheismus auf den Menschen in einer demokratischen Gesellschaft. Und in einer solchen Gesellschaft bewirkt er mehr Schaden als Gutes. In diesem Zusammenhang sollte auch das Kapitel der Démocratie erwähnt werden, in dem Tocqueville zwei Idealtypen des Historikers einander entgegen149 Lawler hat darauf hingewiesen, dass man zwischen dem demokratischen Pantheismus und dem Pantheismus der Junghegelianer unterscheiden sollte (Lawler 1991, S, 99). Während der erste davon ausgeht, dass die Einheit alles Seienden schon gegeben ist und es somit keinen Platz mehr für ein schöpferisches menschliches Handeln gibt, geht der zweite davon aus, dass die Einheit noch nicht existiert und dass sie erst durch den Menschen – durch sein Denken, aber auch durch sein Handeln – verwirklicht werden muss. Auch wenn diese zweite Form von Pantheismus Platz für das menschliche Handeln lässt, so orientiert er dieses Handeln doch auf ein Ziel hin, das in den Augen Tocquevilles problematisch ist, zumindest wenn die angestrebte Einheit alle Unterschiede vernichten soll.

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stellt. In einem aristokratischen Zeitalter streichen die Historiker die Wirkmächtigkeit bestimmter Individuen hervor und geben somit zu verstehen, dass Individuen den Kurs der Geschichte beeinflussen und demnach auch für ihn verantwortlich gemacht werden können. In einem demokratischen Zeitalter, hingegen, sprechen die Historiker nicht so sehr von der Rolle bestimmter Individuen, sondern sie sehen diese Individuen vielmehr als Werkzeuge ihnen übergeordneter anonymer Mächte. Von der Bewegung der Völker sprechend meint Tocqueville, dass man in einem demokratischen Zeitalter „geneigt ist zu glauben, dass diese Bewegung nicht einem freien Willen entspringt und dass die Gesellschaften, ohne es zu wissen, einer übergeordneten Macht gehorchen, die sie beherrscht“ (Tocqueville OC I, 2, I, 20, S. 91). Das Individuum erfährt sich als bloßer Teil einer historischen Bewegung und die Historiker bekräftigen es in diesem Glauben, insofern sie die Ereignisse nicht als Resultate bewussten und freiwilligen Handelns darstellen. Pantheismus und demokratische Geschichtsschreibung begegnen sich demnach in ihrer Entwertung des Individuums und seiner Rolle im Ganzen. Im Hinblick auf die historische Wirkmächtigkeit des Individuums, vertritt Tocqueville einen Standpunkt, der demjenigen Machiavellis ähnelt. In seinem Prin­ cipe hatte Machiavelli behauptet, dass er zwar anfänglich gemeint hatte, dass der Mensch gar keinen Einfluss auf die historischen Ereignisse nehmen konnte, dass er sich dann aber zum Glauben entschieden hat, dass wir durch unsere Entscheidungen sehr wohl auf den Gang der Ereignisse einwirken können. Die launenhafte Göttin Fortuna, so Machiavelli, lässt uns über die Hälfte unserer Handlungen entscheiden, während sie sich die andere Hälfte für sich reserviert.150 Auch wenn wir etwa die Flut nicht verhindern können, so können wir sie doch voraussehen und Dämme errichten, die uns vor ihr bzw. vor ihren Konsequenzen schützen.151 Diese Dämme errichten sich aber nicht von selbst, so dass der Mensch, wenn er die Ereignisse nicht einfach erleiden will, aktiv werden muss. Auch Tocqueville versucht, eine Zwischenposition zwischen absolutem Fatalismus und grenzenlosem Voluntarismus einzunehmen. Die demokratischen und die aristokratischen Historiker spiegeln somit beide einen Aspekt der Wirklichkeit zurück und ihr Fehler liegt jeweils darin, den Menschen nur unter einem Gesichtspunkt zu betrachten: Entweder als vollständig den Umständen unterworfen, so dass er dem Lauf der Dinge vollkommen ausgeliefert ist und demnach kein Bewusstsein seiner Wirkmächtigkeit erlangen kann, oder aber als absoluter Herr der Dinge, der den Lauf der Geschichte so lenken kann, wie er es für richtig hält und wie er sich es wünscht. Hierzu Tocqueville: „Was mich betrifft, so denke ich, dass es keine Epoche gibt, in welcher man einen Teil der Ereignisse dieser Welt nicht auf sehr allgemeine Tatsachen zurückführen sollte, und einen anderen Teil auf sehr partikulare Einflüsse“ (Tocqueville OC I, 2, S. 90). 150 Machiavelli 1992, S. 295. 151 Dazu ist zu bemerken, dass wir nie eine absolute Garantie haben werden, da wir nicht im Voraus wissen können, welches Ausmaß die Flut haben wird. Wir können uns demnach vor normal zu erwartenden Fluten schützen – und eventuell vor Fluten, die diese Normalität leicht überschreiten –, aber wir werden uns nicht vor der größtmöglichen Flut schützen können, da wir u. a. nicht wissen, was wir uns genau darunter vorstellen sollen.

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In demokratischen Zeitaltern spielen die allgemeinen, überindividuellen Einflüsse eine größere Rolle, wohingegen in aristokratischen Zeitaltern die partikularen, individuellen Einflüsse eine größere Rolle spielen. Tocqueville macht hier einen Unterschied, den Machiavelli nicht macht, und bringt die Wirkmächtigkeit des Individuums in Verbindung mit der Gesellschaftsform. Insofern in einem demokratischen Zeitalter die Tendenz besteht, die Wirkmächtigkeit des Individuums zu leugnen, ist es besonders in solchen Epochen wichtig, auf die Wirkmächtigkeit des Menschen aufmerksam zu machen, um auf diese Weise zu verhindern, dass die Individuen, von ihrer angeblichen Ohnmacht überzeugt, sich nicht mehr um die Gestaltung ihres Gemeinwesens kümmern. Allerdings darf man aus dem Vorherrschen der allgemeinen Einflüsse in demokratischen Zeitaltern nicht schließen, dass das Individuum hier ganz in den Hintergrund tritt und sich einfach vom Strom der Geschichte mitreißen lässt, ohne diesen Strom im Geringsten beeinflussen zu können. Die demokratischen Historiker, so Tocqueville, „irren sich, wenn sie das partikulare Handeln der Individuen gänzlich leugnen“ (Tocqueville OC I, 2, I, 20, S. 90). Aus der Tatsache, dass man dieses Handeln in einer demokratischen Gesellschaft nicht so gut sieht wie in einer aristokratischen Gemeinschaft, darf nicht gefolgert werden, dass es dieses Handeln nicht gibt. Auch in einer demokratischen Gesellschaft existieren die Menschen als wirkmächtige Wesen, und selbst wenn sie den Gang der Demokratie, also die sich überall behauptende Angleichung der sozialen Verhältnisse, nicht ganz aufhalten oder umkehren können, so können sie doch, ähnlich den bei Machiavelli beschriebenen Menschen, Dämme errichten, die die Freiheit vor dem Despotismus bewahren können. In einem in der Endfassung nicht zurückbehaltenen Textauszug vergleicht Tocqueville den Fortschritt der Demokratie mit einer Flutwelle: „Die Demokratie! Fällt euch nicht auf, dass es die Gewässer der Sintflut sind?“. Diesen Gewässern kann man nicht mehr entkommen, und für Tocqueville bleibt den Menschen nur eine Möglichkeit offen: „Anstatt machtlose Dämme errichten zu wollen, sollten wir viel eher versuchen, die heilige [Variante: schützende] Arche zu bauen, die das Menschengeschlecht auf diesem Ozean ohne Strände tragen soll“ (Tocqueville/Nolla 2009a, S. 12 – Fußnote r). Im Gegensatz zu Machiavelli scheint Tocqueville hier zu meinen, dass die beste Vorsorge gegen eine Flutwelle im Bau eines Schiffes und nicht im Errichten von Dämmen besteht. Ich denke allerdings, dass Tocqueville hier vergisst, dass man Dämme nicht nur errichten kann, um ein Gewässer gänzlich zu stoppen, sondern dass Dämme auch eine kanalisierende Funktion haben können. Die von Machiavelli erwähnten Dämme sollen die Menschen vor den Konsequenzen einer Flut schützen, ohne aber die Gewässer daran zu hindern, weiter zu fließen. Insofern kann man Tocquevilles Démocratie durchaus als ein Werk betrachten, in welchem den Menschen gesagt wird, welche Art von Dämmen am besten dazu geeignet sind, die Demokratie zu kanalisieren, so dass sie nicht alles, und vor allem nicht die Freiheit, zerstört. Auch wenn im Falle Noahs kein Damm genügt hätte, um die Sintflut aufzuhalten und nur ein Schiff das Überleben der menschlichen Spezies garantieren konnte, lässt sich doch im Fall der Demokratie auch das Bild des Dammes bemühen.

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Um solche Dämme zu errichten, genügt es aber nicht, dass die Menschen daran glauben, dass sie sie errichten können und dass sie eine gewisse Wirksamkeit haben. Die Menschen müssen auch glauben dass das, was durch diese Dämme geschützt werden soll, einen Wert besitzt. Diesen Glauben werden sie aber, Tocqueville zu Folge, nur dann haben, wenn sie sich als Wesen betrachten, deren höchste Bestimmung nicht der Konsum materieller Güter oder das Schwelgen im rein körperlichen Wohlergehen ist. Das setzt aber voraus, dass sie an eine vom Körper unterschiedene Seele glauben. Der Besitz einer solchen Seele lässt sie über die Sphäre des an sich würdelosen Materiellen herausragen und bildet somit, in den Augen Tocquevilles, die Bedingung der Möglichkeit für den Besitz von Würde. Nur wenn die Menschen glauben, dass jeder von ihnen eine individuelle immaterielle Seele hat, die den Besitz einer mit ihr einher gehenden individuellen Würde begründet, werden sie sich nicht als bloße Elemente der Masse betrachten und sie werden auch nicht die Gesellschaft als ein ihnen gegenüber absolut Wertvolles sehen, das alle Rechte besitzt, während sie höchstens nur Pflichten haben. Gleichzeitig wird die Verankerung des Individuums im Transzendenten der Gefahr einer normativen Anarchie vorbeugen: Würde besitzt der Mensch nicht, weil er einer wilden Freiheit fähig ist, sondern weil er einer nach allgemeingültigen Gesetzen geordneten Freiheit – die in den Augen der hier behandelten Autoren allein den Namen Freiheit verdient – fähig ist. In seinem Buch La loi de Dieu stellt Rémi Brague fest, dass „die zeitgenössische Ideologie der ‚Menschenrechte‘ […] sich umso mehr einer sakralisierenden Rhetorik bedient, als sie es unterlässt darüber nachzudenken, was dem ‚Menschen‘ jene Menschheit [humanité] gibt, die ihn befähigt, Rechte zu haben“ (Brague 2005, S. 290). Bei den klassischen liberalen Denkern ist es die eben erwähnte Verankerung des Individuums in etwas Transzendentem. Sie bedienen sich nicht nur einer sakralisierenden Rhetorik, sondern sie sehen das Sakrale im Menschen. Für sie hat der Mensch etwas Göttliches in sich, und gerade weil er dieses Göttliche in sich trägt, besitzt er Würde. Diese Würde muss unbedingt geschützt werden – gegen äußere Gewalt, aber auch gegen das Individuum selbst. Bei Constant, um nur ein Beispiel zu nennen, ist der sakralisierende Diskurs – auf den etwa Barberis aufmerksam gemacht hat (Barberis 1988, S. 290) – in eine bestimmte Metaphysik eingebettet. Die Menschenrechte kommen einem Wesen zu, das dieser Rechte bedarf, um seinen Beitrag zur moralischen und intellektuellen Entwicklung der Spezies Mensch zu leisten. Diese Entwicklung ist ein der Menschheit vorgegebenes Ziel. Keine politische Macht hat ein Recht, sich der Verfolgung dieses Ziels in den Weg zu stellen. Auch wenn wir Menschen nicht wissen, warum Gott unsere Vervollkommnung will, so müssen wir doch davon ausgehen, dass er sie will. Und es ist letztendlich diese Voraussetzung, die das ganze Gebäude trägt: Der Mensch soll die Freiheit des Menschen achten, weil die Freiheit des Menschen ein notwendiges Mittel zur Vervollkommnung der menschlichen Spezies ist und Gott diese Vervollkommnung will.

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KAPITEL 4: DIE OPFERBEREITSCHAFT In seinem Aufsatz „Is Patriotism a Virtue?“, behauptet Alasdair MacIntyre u. a., dass jede politische Gemeinschaft, wenn sie auf ihre Sicherheit Rücksicht nehmen will, Streitkräfte benötigt, und dass die in diesen Streitkräften engagierten Soldaten gegebenenfalls bereit sein müssen, „ihr Leben für die Sicherheit der Gemeinschaft zu riskieren“ (MacIntyre 1993, S. 100). Diese Soldaten sollten auch, zumindest „in bestimmten Fällen“, davon absehen, ob die Sache, für die sie kämpfen müssen, „richtig oder falsch ist“ (MacIntyre 1993, S. 100). Der Patriotismus um den es MacIntyre hier geht, setzt also voraus, dass man dem Prinzip „Right or wrong, my country“ zumindest in bestimmten Fällen folgt, und dass man auch bereit ist, sein Leben für das Vaterland zu riskieren. Der Patriot hinterfragt nicht immer, ob die Sache seines Landes die richtige ist, noch fragt er sich, was es ihm eigentlich persönlich bringt, sein Leben in einem Krieg zu riskieren, oder ob ein solches Risiko überhaupt rational zu vertreten ist, sondern er folgt dem Appell des Vaterlandes und verteidigt es. Der wahre Patriot rechnet nicht, sondern fühlt und handelt. Gleich daran anschließend liest man: „Und dies heißt, dass gute Soldaten kaum Liberale sein dürften, und dass in ihren Handlungen zumindest ein gewisses Maß der Moral des Patriotismus vorhanden sein muss. So hinge denn das politische Überleben eines Staatswesens, in der sich der (sic) die liberale Moral einer breiten Zustimmung versichern konnte, davon ab, dass es genügend junge Männer und Frauen gibt, die die liberale Moral zurückweisen“ (MacIntyre 1993, S. 100). Insofern die liberale Moral, wie sie MacIntyre in seinem Aufsatz darstellt, Neutralität verlangt und nicht Stellung bezüglich der Frage nach dem guten Leben bezieht, ist sie mit dem Patriotismus unvereinbar. Gute Liberale, so das Fazit, sind keine guten Patrioten und können es auch nicht werden. Und weil sie keine guten Patrioten sind, sind sie auch keine guten Soldaten. Und weil sie keine guten Soldaten sind, steht die Sicherheit eines liberalen Gemeinwesens auf wackligen Füßen. Mit der Sicherheit des liberalen Gemeinwesens steht aber auch die Freiheit auf wackligen Füßen, so dass sich die paradoxale Situation ergibt, dass der Liberalismus die Bedingungen der Möglichkeit seines eigenen Fortbestandes unterhöhlt. Man hätte also sozusagen eine Art Dialektik des Liberalismus. Eine solche Kritik am sich selbst unterhöhlenden Liberalismus ist nicht neu. In der Götzendämmerung erläutert Nietzsche seinen Begriff der Freiheit. Er geht dabei auch auf die liberalen Institutionen ein. Diese Institutionen, so Nietzsche, „hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind: es giebt später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit, als liberale Institutionen“ (Nietzsche 1999b, S. 139).152 Den Liberalismus identifiziert Nietzsche im selben Text mit der 152 In einer Passage die ihren Eingang nicht in die endgültige Fassung von L’Ancien Régime et la Révolution gefunden hat, heißt es bei Tocqueville: „Wie schade!, dass diejenigen, die am Ende einer langen Revolution kommen, nur wenig denjenigen gleichen, die sie beginnen“ (Tocqueville OC II, 2, S. 39). Am Anfang der Revolution, so Tocqueville, befassten die Menschen sich mit großen Fragen; am Ende dachten sie nur noch an ihr Essen und an ihr gemütliches Bett nach einem langen Arbeitstag. Peter Lawler hat darauf hingewiesen, wie Tocqueville sich durch den

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„Heerden­Verthierung“, eine den Willen zur Macht unterminierende „Nivellirung von Berg und Tal“ (Nietzsche 1999b, S. 139). Allerdings gesteht er den liberalen Institutionen, oder genauer gesagt den als Ziel des Handelns gesetzten liberalen Institutionen, zu, dass sie, „so lange sie noch erkämpft werden“ (Nietzsche 1999b, S. 139), die Freiheit in dem von ihm – Nietzsche – verstandenen Sinn fördern. Der deutsche Philosoph macht dementsprechend einen Unterschied zwischen den Liberalen im Augenblick des Kampfes für die liberalen Institutionen und den Liberalen nach dem Sieg und der Errichtung derselben. Umgeben von Feinden die ihn bedrohen oder ihn daran hindern, seine Ideale und Werte zu verwirklichen, ist der Liberale zur Freiheit fähig. Verschwinden diese Feinde oder Hindernisse, verschwindet gleichzeitig die Freiheit. Die Freiheit im Sinne Nietzsches impliziert – oder bedeutet sogar, je nachdem, wie man die Textstelle interpretiert – „[d]ass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird[, d]ass man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet“ (Nietzsche 1999b, S. 139).153 Sie bedeutet auch, dass „die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des Glücks“ oder des Wohlbefindens, die Nietzsche bei den „Krämer[n], Christen, Kühe[n], Weiber[n], Engländer[n] und andre[n] Demokraten“ diagnostiziert, und auf die er mit Verachtung herabblickt, da sie den Menschen „klein, feige und genüsslich“ machen (Nietzsche 1999b, S. 139). Wer nur an den Genuss denkt, ist nicht mehr bereit, Mühsal und andere Entbehrungen auf sich zu nehmen. Er ist dementsprechend auch nicht mehr zur Freiheit fähig. Die Liberalen, so lassen sich die eben vorgestellten Äußerungen MacIntyres und Nietzsches zusammenfassen und auf den Punkt bringen, sind nicht bereit, Opfer zu bringen. Sie sind nicht bereit, ihren sich am Universalismus orientierenden und alles hinterfragenden Vernunftgebrauch zu opfern, um bestimmte Fakten als für sie verbindlich zu betrachten – wie etwa das Faktum, einer bestimmten Gemeinschaft mit einer ihr spezifischen Identität anzugehören –, sie sind auch nicht bereit – zumindest solange sie ihr Ziel nicht erreicht haben –, ihr Wohlbefinden zu opfern, und sie sind nicht bereit, das Leben anderer, geschweige denn ihr eigenes Leben zu opfern. Liberalismus und Opferbereitschaft schließen sich aus wie Feuer und Wasser. Gedanken der Revolutionen angezogen fühlte. Revolutionen erlauben es nämlich den Menschen, aus ihrem tristen Alltag zu entkommen und geben ihnen die Möglichkeit, Großes zu vollbringen (Lawler 1992c, S. 364). So schreibt Tocqueville etwa in einem Brief an Gustave de Beaumont: „Die revolutionären Zeiten haben das Gute an sich, dass sie die Gleichgültigkeit und den Egoismus in der Politik nicht zulassen“ (Tocqueville OC VIII, 2, S. 274). Auf die vielen Affinitäten zwischen Nietzsche und Tocqueville will ich hier nicht eingehen. Siehe dazu etwa Boesche 1992 und Hidalgo 2006. 153 Nietzsche erwähnt hier zunächst das Opfer anderer, um erst anschließend das Opfer seiner selbst zu nennen. In seinem Buch Le feu sacré, schreibt Régis Debray: „Das Säugetier, das sich selbst opfern kann, ist ipso facto auch bereit, den anderen zu ermorden“ (Debray 2003, S. 180). Auch wenn das nicht unbedingt für jedes Individuum der Spezies der Fall sein muss, so weist Debray doch hier auf ein ernst zu nehmendes Problem hin. Indem die klassischen Liberalen, wie wir noch genauer sehen werden, die Opferbereitschaft fordern, fördern sie auch zugleich, wenn Debray recht hat, die Bereitschaft, politische Feinde zu ermorden.

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Wie steht es in dieser Hinsicht mit dem Christentum? Denkt man an die ersten christlichen Märtyrer zurück, dann wird man wohl behaupten dürfen, dass sich das Christentum und die Opferbereitschaft nicht ausschließen. Viele Christen haben im Laufe der ersten zwei oder drei Jahrhunderte Mühsale im Namen ihrer Religion auf sich genommen. Viele sind auch für ihren Glauben gestorben, und viele waren später, als das Christentum die Macht auf seiner Seite hatte, auch bereit, andere Menschen im Namen des Glaubens und des einen wahren Gottes zu töten oder zu quälen. Der am Kreuz hängende Christus kann in einem gewissen Sinne als Ausdruck des engen Zusammenhangs zwischen Christentum und Opferbereitschaft betrachtet werden. Christus hat sich geopfert bzw. Gott hat seinen Sohn geopfert, damit die Menschheit erlöst werde. Aus rein politischer Sicht betrachtet, ist die Opferbereitschaft eines Christen für seine Religion nur insofern von Bedeutung, als sie das Erreichen bestimmter politischer Ziele erleichtern oder erschweren kann. Der politische Schriftsteller fragt sich nicht, ob und inwiefern die Opferbereitschaft die Erlangung des ewigen Seelenheils erleichtert. Die christlichen Legionäre Roms waren zwar durchaus bereit, in den Reihen Roms zu kämpfen, aber sie wollten nicht den Kaiser als Gott ansehen und waren sogar bereit, diese Ablehnung mit dem Tode zu bezahlen. Sie waren bereit, ihr irdisches Leben für Rom zu opfern, aber sie waren nicht bereit, ihr jenseitiges Heil zu opfern. Für den politischen Schriftsteller ist die Bereitschaft, das irdische Leben zu opfern, an sich positiv, da die Verteidigung bestimmter politischer Werte eine solche Opferbereitschaft voraussetzt. Doch kann man aus überzeugten Christen wirklich gute Soldaten machen, die bereit sind, für ihr Vaterland zu sterben?154 In seinen Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio vergleicht Machiavelli die Religion der Alten mit dem Christentum der – zu seiner Zeit – Modernen. Er stellt dabei fest, dass das Christentum, insofern es das ewige Seelenheil als höchstes Ziel für das individuelle Handeln setzt, das Erlangen irdischer Ehre geringschätzt. Die Religion der Modernen wendet also den Blick der Gläubigen von den diesseitigen Gütern ab, und damit auch von den Tugenden, die notwendig sind, um zu diesen Gütern zu gelangen. Die Tugenden des Staatsbürgers werden somit durch die Tugenden des Christen ersetzt. Im Gegensatz zu den Heiden werden die Christen demnach nicht bereit sein, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um dadurch irdische Ehre zu erlangen oder um ihrem Vaterland eine solche Ehre zu erkämpfen (Machiavelli 1992a, S. 149).155 154 „Von Machiavelli über Hobbes bis Rousseau“, so Hennis in einem Aufsatz über Tocqueville, „ist die Relation zwischen dem Glauben an Gott und dem Patriotismus das Kernproblem der modernen politischen Theorie“ (Hennis 1992, S. 80). Im Gegensatz zu Hennis möchte ich behaupten, dass es sich hier lediglich um einen, wenn auch sehr wichtigen, Nebenkampfplatz handelt. Das Kernproblem der modernen politischen Theorie – und dieses Kernproblem wird erst bei Constant und Tocqueville ausdrücklich thematisiert –, ist die Relation zwischen dem Glauben an einen die kontingente Immanenz des Individuums transzendierenden Wert – mag dieser Wert Gott, das Vaterland oder, wie im Liberalismus, die Freiheit oder Würde bzw. Vollkommenheit des Menschen sein – und den unmittelbar gegebenen, auf das kontingente Individuum bezogenen Interessen. 155 Man findet das Argument noch bei Marat, zur Zeit der Französischen Revolution. Der französische Revolutionär schreibt nämlich „Die menschlichen Einrichtungen sind alle auf den

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Das Christentum, so Machiavelli weiter, hat die Menschen schwach gemacht, und dadurch sind sie unter die Herrschaft böser Menschen geraten. Anstatt sich gegen diese Menschen zu erheben und sie zu bekämpfen, haben sie ihre Herrschaft ertragen, womöglich noch als von Gott gewollt. Und insofern sie die irdischen Dinge geringschätzten, war auch das Vaterland für sie von geringer Bedeutung und rechtfertigte nicht, dass man bloß seinetwegen andere Menschen umbringt und sein eigenes Leben opfert. Ein Christ würde in dem berühmten „Dulce et decorum est pro patria mori“ das „pro patria“ durch ein „pro religione“ oder „pro Deo“ ersetzen. Während Machiavelli in seinen Ausführungen nicht dem Christentum als solchen, sondern lediglich einer falschen Interpretation der christlichen Lehre die Schuld für die Vernachlässigung des Vaterlandes zuschreibt (Machiavelli 1992a, S. 149), hat es Pierre Bayle auf das Christentum als solches abgesehen. Im „Anderes Paradox von Bayle“ überschriebenen sechsten Kapitel des XXIV. Buches von De l’esprit des lois, spricht Montesquieu Bayles These an, in der behauptet wird, dass ein aus wahren, streng nach dem Evangelium lebenden Christen bestehendes politisches Gemeinwesen nicht bestehen könnte (Montesquieu EL XXIV, 6, S. 719). Solche Christen, so wird man vermuten können, werden, wie Machiavelli es in den Discorsi beschreibt, demütig und mild sein (Machiavelli 1992a, S. 149), was u. a. bedeutet, dass sie sich nicht gegen äußere Angreifer zur Wehr setzen werden. Und selbst wenn wir ihnen den Willen zuschreiben, sich zu wehren, so wird ihre bis dahin kontemplative Lebensweise sie für den Krieg unfähig gemacht haben. Liberale sind, so Nietzsches vorhin angeführte These, sobald sie die von ihnen gewollten Institutionen haben und sobald auch diese Institutionen den neuen liberalen Menschen prägen, nicht mehr bereit, sich für irgendetwas zu opfern bzw. ihr auf das rein empirische und materielle Dasein und Wohlsein gerichtete Interesse aufzugeben, um sich einem dieses Interesse transzendierenden – gegebenenfalls spirituellen – Interesse hinzugeben. Christen sind zwar bereit, sich für ihre Religion oder für ihren Gott zu opfern, aber sie sind nicht bereit, ihr ewiges Seelenheil oder ihre moralische Integrität für einen sonstigen Wert zu opfern. Für den Liberalen, so wie Nietzsche ihn nach dem Sieg des Liberalismus darstellt, ist die Freiheit zwar wichtig, aber er ist nicht mehr bereit, sich für sie zu opfern. Auf der einen Seite haben wir also den religiösen Menschen der bereit ist, sich zu opfern, aber nicht für die Freiheit – oder wenn, dann vielleicht nur für die Freiheit, seine eigene Religion praktizieren zu dürfen. Und auf der anderen Seite haben wir den liberalen Menmenschlichen Leidenschaften aufgebaut, & sie werden auch nur durch sie gestützt; die Liebe zur Freiheit ist an diejenige zum Wohlergehen gebunden, zu den irdischen Gütern; aber das Christentum flößt uns nur Entfernung von diesen Gütern ein, & und tut nichts anderes, als diese Leidenschaften zu bekämpfen“ (Marat 1972, S. 165). Für Marat ist eine Religion nur dann legitim, wenn sie aus uns bessere Staatsbürger macht. Constant und Tocqueville hätten hier die Prämisse in Frage gestellt, die die Liebe zur Freiheit an die Liebe zum Wohlergehen bindet. In ihren Augen kann eine übertriebene Liebe zum irdischen Wohlergehen die Liebe zur Freiheit in uns zum Schweigen bringen bzw. übertönen. Und für sie soll die Religion dies gerade verhindern, indem sie uns daran erinnert, dass die Freiheit ein Gut ist, das über allen irdischen – hier im Sinne von materiellen – Gütern steht.

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schen, der nur noch an sein materielles Wohlergehen denkt und zu keinem Opfer mehr bereit ist – oder wenn, dann nur wenn das jetzige Opfer ihm einen späteren Gewinn bringen wird, der das Opfer überwiegt. Doch wie wäre es, wenn man dem liberalen Menschen jene Religiosität einflößen würde, die der religiöse Mensch hat und die mit seiner Opferbereitschaft verbunden ist, ja sogar den Boden bildet, auf dem sie wächst und gedeiht? Ein religiöser Liberaler wäre demnach, als religiöser Mensch, bereit, sich zu opfern, und als Liberaler wäre er bereit, sich für die Freiheit zu opfern. Wenn die Freiheit Opfer voraussetzt, und wenn die Opferbereitschaft Religiosität voraussetzt, dann setzt auch Freiheit Religiosität voraus. Die Religion, so soll hier gezeigt werden, hat für viele klassische liberale Denker den Nutzen, die Opferbereitschaft der Individuen zu erhalten und zu fördern. Indem sie das Individuum dazu bringt, über seine materiellen Interessen hinauszusehen und damit den Wert seiner empirischen und kontingenten Individualität zu relativieren, schafft die Religion eine Bedingung für die Opferbereitschaft. Das Individuum wird sein Leben nämlich nur dann für die Freiheit opfern, wenn es der Freiheit einen größeren Wert zuschreibt als seinem individuellen Leben. Wenn das biologische Leben das ist, was der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat, und wenn die Freiheit dasjenige ist, was ihn als Mensch auszeichnet und ihn, könnte man fast sagen, mit dem Göttlichen in Verbindung bringt, dann kann er seine Erhabenheit über das Tierische dadurch zeigen, dass er sein biologisches Leben für die Freiheit opfert. Ein klassischer liberaler Autor, in dessen Schriften der Diskurs der Opferbereitschaft einen großen Platz einnimmt, ist Benjamin Constant.156 So heißt es etwa in seiner Studie über die Religion, eine Studie, an welcher er sein ganzes Leben lang gearbeitet hat: „Die Institutionen sind bloße Formen, wenn niemand sich für die Institutionen opfern will. […] Die Freiheit nährt sich von Opfern. Man gebe der

156 Während Jahrzehnten wurde Constant, im Anschluss an die Lektüre, die Marx von ihm machte, als paradigmatischer Vertreter der sich dem Streben nach materiellem Wohlergehen hingebenden Bourgeoisie gesehen. Noch Lamberti begeht den Fehler, zwischen dem bourgeoisen Individualismus Constants und der „moralischen und spirituellen Dimension von Tocquevilles Humanismus“ zu unterscheiden (Lamberti 1983, S. 106). Auch Bedeschi liegt falsch, wenn er von der „Distanz zwischen dem ‚kommunitaristischen‘ Liberalismus Tocquevilles und dem individualistischen Liberalismus Constants“ spricht (Bedeschi 1996, S. 39). Liest man Constant genau – aber eine oberflächliche Lektüre würde schon genügen –, so findet man auch bei ihm eine ausgeprägte moralische und spirituelle Dimension wieder, was sich u. a. in den vielen Hinweisen auf die Opferbereitschaft und in der schonungslosen Kritik der Lehre des wohlverstandenen Eigeninteresses zeigt. Gegen Lamberti ließe sich sogar behaupten, dass Tocqueville manchmal näher am bourgeoisen Individualismus ist als Constant – nicht, weil er dessen Werte teilt, sondern weil in seinen Augen der Vormarsch dieses Individualismus ein unabänderliches Faktum ist und man demnach versuchen sollte, ihn von innen her zu mäßigen, was u. a. bedeutet, dass man die Lehre des wohlverstandenen Eigeninteresses als Ausgangsbasis akzeptiert. Tocqueville sieht die Notwendigkeit eines Kompromisses mit dem bourgeoisen Individualismus, wo Constant jeden solchen Kompromiss ausschließt.

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energielosen157 Rasse die Fähigkeit zum Opfer zurück, die sie verloren hat. Die Freiheit will immer Bürger, manchmal Helden“ (Constant 1999, S. 34).158 Diese paar Zeilen könnten – sowohl von den in ihnen formulierten Gedanken159 als auch von der sprachlichen Formulierung her gesehen – durchaus aus einem Werk Nietzsches stammen.160 Sie erinnern ganz stark an die vorhin zitierten Auszüge aus der Götzendämmerung. Ähnlich wie Nietzsche es nach ihm tun wird, bringt auch Constant die Freiheit mit der Opferbereitschaft in Verbindung – ohne dass aber ihr Verständnis der Freiheit das gleiche wäre. Wie wichtig auch immer liberale Institutionen sein mögen – und Constant betont in vielen seiner Schriften die Wichtigkeit freiheitsschützender Institutionen und des Respektes dieser Institutionen161 –, so kann man doch nicht davon ausgehen, dass sie von sich aus, d. h. ohne menschliches Zutun, die Freiheit auf Dauer garantieren können. Das quis custodet custodies lässt sich auch hier anwenden: Institutionen bewahren die Freiheit, aber wer bewahrt die Institutionen? Dazu Constant: „Der Respekt der Macht gegenüber den Institutionen hängt weit mehr von der Kraft der öffentlichen Meinung als von den ausdrücklichen Vereinbarungen ab, die die Macht eingegangen ist […] Wenn das Volk nicht über seine Garantien wacht, darf es nicht glauben, dass Versprechen seine Sorglosigkeit kompensieren und das schützen werden, was es zu schützen vernachlässigt“ (Constant 1996, S. 64–5). Genauso wie Hobbes, aber in einem etwas anderen Kontext, gemeint hatte, dass Versprechen ohne das Schwert leere Worte sind, deutet Constant hier an, dass liberale Institutionen ohne sie schützende Bürger leere Hülsen sind. 157 Constant spricht von einer „race énervée“, also wortwörtlich von einer entnervten Rasse. Im heutigen Französischen bedeutet „énervé“ soviel wie „genervt“. Wenn Constant von der „race énervée“ spricht, will er von Menschen sprechen, die sozusagen nicht mehr angespannt sind, sondern die sich einfach gehen lassen. Will man die Menschen wieder dazu bringen, Großes zu tun, so muss man ihre Triebfeder wieder aufziehen. 158 Solche Helden wird es laut Constant immer geben, denn es wird immer Menschen geben, die über die Willkür empört sind, und „für die die Gerechtigkeit eine Leidenschaft, die Verteidigung des Schwachen ein Bedürfnis ist“ (Constant 1997, S. 95). 159 Der Begriff der Freiheit hat allerdings bei Constant eine andere Bedeutung als bei Nietzsche. Und es ist auch unwahrscheinlich, dass Nietzsche dem Bürgersein einen großen Wert zuerkannt hätte. 160 Nietzsche zitiert Constant an einigen – seltenen – Stellen seiner Schriften. Allerdings ist es entweder im Zusammenhang mit der Liebe als einer egoistischen Leidenschaft oder im Zusammenhang mit dem Problem des Lügenverbots – das am Ende des XVIII. Jahrhunderts zu einer Kontroverse zwischen Kant und Constant Anlass gegeben hatte. Es scheint unwahrscheinlich zu sein, dass Nietzsche mit Constants religionsphilosophischen oder mit seinen politischen Schriften vertraut war. 161 Constant betont immer wieder die Notwendigkeit, die „Formen“ zu achten (z. B. Constant 1998, S. 101), auch wenn eine solche Achtung lästig erscheint und die Handlungsfähigkeit der Regierung zu lähmen scheint. Erlaubt man der Regierung, im Namen der Wirksamkeit, die Gesetze zu missachten, dann sind der Willkür Tür und Tor geöffnet und die Individuen leben nicht mehr in Sicherheit. Constant ist in dieser Hinsicht viel strikter als z. B. Locke, der den Rückgriff auf die sogenannte Prärogative nicht ausschließt und damit ein extralegales Handeln der exekutiven Gewalt zulässt (dazu Campagna 2001a). Im Hinblick auf die Moral zeigt Constant sich aber durchaus kulanter, wie seine Polemik mit dem strikten Deontologen Kant zeigt (dazu Campagna 2013b).

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Auch Tocqueville wird den von Constant geäußerten Gedanken in seinem Essai Etat social et politique de la France avant et depuis 1789 aufgreifen. Die Formen, und dazu gehören für Tocqueville auch die freien Institutionen, „erlauben es den Menschen, zeitweilig ihren Geschmack für die Freiheit zu verlieren, ohne dass sie sie verlieren“ (Tocqueville OC II, 1, S. 64). Die freien Institutionen erlauben es also z. B. einem Volk, sich dem Streben nach Bereicherung oder Wohlbefinden hinzugeben, ohne dadurch gleich seine Freiheit zu verlieren. Hat ein Volk gute und stabile Institutionen, kann es sich zeitweilig unter diesen Institutionen sicher fühlen. Liberale Institutionen befreien ein Volk von der Last, sich ständig um die Bewahrung der Freiheit zu kümmern, d. h. sie erlauben es ihm, zeitweilig bestimmte Opfer nicht bringen bzw. Unannehmlichkeiten auf sich nehmen zu müssen.162 Wenn etwa ein Verfassungsgericht darüber wacht, dass das Parlament keine rechtskräftigen verfassungswidrigen Gesetze erlässt, dann brauchen die Bürger sich nicht öffentlich zu mobilisieren, um sich einer Verletzung der Verfassung durch das Parlament zu widersetzen. Die rechtsstaatlichen Institutionen sollen die bürgerliche Mobilisation ersetzen, und dadurch gleichzeitig für einen friedlicheren Ablauf der Konflikte sorgen. Durch die Institutionen werden die Menschen von der Last befreit, sich selbst um den Schutz ihrer Freiheit zu kümmern. Man könnte die von Tocqueville erwähnte Situation mit derjenigen eines Flugzeugpiloten vergleichen, der sein Flugzeug auf Autopilot setzt, um sich einer anderen, für ihn wichtigeren oder spannenderen Aktivität hinzugeben. Das Flugzeug wird bei der Schaltung auf Autopilot nicht gleich abstürzen, sondern es wird seinen Flug fortsetzen. Allerdings wird es dies nur für eine begrenzte Zeit tun, und sobald der Treibstoff knapp wird, muss der Pilot sich um die Maschine kümmern und irgendwo mit ihr landen, damit er sie wieder auftanken kann. Tut er das nicht und vertraut er nur auf den Autopiloten, dann wird das Flugzeug früher oder später abstürzen. Und wenn es nicht wegen eines Mangels an Treibstoff abstürzt, dann kann sein Absturz durch eine Panne oder durch ungewöhnliche Turbulenzen bewirkt werden, auf die der Autopilot nicht eingestellt ist. Der Autopilot ist gut für ein unter normalen Bedingungen fliegendes Flugzeug, nicht aber für ein Flugzeug, das sich in einer schlimmen Turbulenzzone befindet. In einem heiteren Himmel kann der Pilot das Flugzeug sich selbst überlassen bzw. kann er dem Computerprogramm 162 Der Grundgedanke ist nicht neu, schreibt doch schon der Kyniker Antisthenes: „Ferner brauchen die Menschen dank der gesetzlichen Ordnung ihre Zeit nicht unproduktiv der Politik zu widmen, sondern können sich ihren privaten Geschäften widmen. Dank der gesetzlichen Ordnung sind die Menschen von den unangenehmsten Anliegen befreit und können sich mit den angenehmsten befassen. Denn Politik ist das unangenehmste Anliegen“ (in: Luck 2002, S. 54). In einer Nomokratie herrscht das Gesetz, und die Menschen brauchen sich nicht mehr mit Politik zu befassen. In eiem Brief an William Nassau Senior aus dem Jahr 1836 stellt Tocqueville mit Verdruss fest: „Die fast fieberhafte Aktivität, die uns zu jeder Zeit kennzeichnete, verlässt die Politik, um sich dem materiellen Wohlergehen zuzuwenden“ (Tocqueville OC VI, 2, S. 77). Auch für Tocquevilles Zeitgenossen scheint die Politik eine unangenehme Angelegenheit zu sein, die einen daran hindert, nach materiellem Wohlergehen zu streben. Tocqueville sieht aber, im Gegensatz zu Antisthenes, dass ein solches Sich-Abwenden von der Politik negative Konsequenzen für die Freiheit hat und meint dementsprechend, dass man sich nicht darüber freuen sollte, dass die Menschen sich nicht mehr um Politik zu kümmern brauchen.

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vertrauen, das den Autopiloten steuert. Ändern sich aber die Wetterbedingungen drastisch, dann ist es ratsam, dass der Pilot sich jener Tätigkeit zuwendet, die seine eigentliche Tätigkeit als Pilot ist, nämlich der Steuerung des Flugzeugs. Unter einem heiteren politischen Himmel kann man sich auch ganz auf freie Institutionen verlassen. Wenn niemand sich der freiheitlichen Institutionen bemächtigen will oder sich ihrer schon bemächtigt hat, um sie von innen her zu unterhöhlen und damit auch die Freiheit zu untergraben, bedürfen sie keines besonderen Schutzes. Ganz anders ist es aber, wenn es Mächte gibt, die entweder die freien Institutionen frontal angreifen und explizit ihre Abschaffung verlangen, oder sich ihrer auf legalem Weg, und ohne sie explizit in Frage zu stellen, bemächtigen wollen, um sie dann von innen zu unterhöhlen. „Wenn ein Volk entschieden in die Sklaverei fallen will“, so Tocqueville, „kann man es nicht daran hindern“. Die freien Institutionen sind lediglich Mittel, „es während einer gewissen Zeit in der Unabhängigkeit zu erhalten, ohne dass es sich selbst dabei hilft“ (Tocqueville OC II, 1, S. 64). Auch wenn freie Institutionen dem Volk die Last nehmen, sich ständig selbst bei der Bewahrung der Freiheit zu helfen, so kommen doch immer wieder Augenblicke im Leben eines Volkes vor, in denen es sich selbst helfen muss bzw. in denen es den freien Institutionen helfen muss, damit diese erhalten bleiben und die Freiheit auch in Zukunft schützen können. Wo es nicht bereit ist, die freiheitlichen Institutionen zu schützen, wird es in die Sklaverei verfallen. Wenn ein Volk demnach nicht in die Sklaverei verfallen will, muss es stets bereit sein, die Institutionen der Freiheit zu schützen. Diese Bereitschaft kann aber nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern sie muss vielmehr geschaffen und unterhalten werden. Freiheitliche Institutionen schützen die Freiheit. Das ist ihr eigentlicher Sinn und Zweck. Solche Institutionen können sich aber auf Dauer nicht selbst schützen. Also können Institutionen allein auch nicht auf Dauer die Freiheit schützen. Sowohl die Institutionen als auch die Freiheit bedürfen des Schutzes durch die Bürger bzw. muss ihr Schutz immer als ein solcher verstanden werden, der irgendwann den Einsatz der Bürger voraussetzen kann. Wenn die institutionellen Mechanismen nicht mehr in der Lage sind, ihre schützende Aufgabe zu erfüllen, müssen die Bürger sich wieder mobilisieren, und das bedeutet, dass sie bereit sein müssen, auf bestimmte Aktivitäten und Güter zu verzichten. Die Qualität der Institutionen kann nicht auf Dauer die „Qualität der Bürgerschaft“ (Siedentop 1994, S. 157) ersetzen. Der Einsatz für freie Institutionen setzt bestimmte Opfer, oder zumindest die Bereitschaft zum Opfer, voraus. Die Freiheit, hatte Constant behauptet, verlangt immer Bürger. Tocqueville geht nicht so weit: Die Freiheit verlangt manchmal Bürger bzw. verlangt sie, dass man sich periodisch, aber nicht unbedingt immer, als Bürger betätigt. Man kann es sich manchmal leisten, den einen Bürger im wahrsten Sinn des Wortes kennzeichnenden Geschmack für die Freiheit zu verlieren, ohne dass dadurch gleich auch die Freiheit verloren geht. In einer wahrscheinlich aus dem Jahr 1847 stammenden Notiz schreibt Tocqueville, er verlange nicht, „dass die Bürger bewaffnet auf den öffentlichen Platz laufen“, sondern nur, dass „sie sich mit den öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen, dass sie daran denken, und da-

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bei ihre besonderen Angelegenheiten manchmal vergessen“ (Tocqueville OC III, 2, S. 721 – Hervorhebung N. C.). Der Bürger (citoyen) wird hier im Gegensatz zur Privatperson verstanden: Während die Privatperson sich nur um ihre rein privaten Interessen, und in allererster Linie um ihr persönliches Wohlbefinden, kümmert – ohne dabei unbedingt dem Wohlbefinden der anderen schaden zu wollen –, orientiert sich der Bürger an überindividuellen oder politischen Werten. Der Bürger ist notfalls dazu bereit, sein Wohlbefinden, oder gar sein Leben, zu opfern, um einen solchen überindividuellen Wert zu verteidigen. Die Privatperson wird, wenn es sein muss, die Freiheit auf dem Altar des Wohlbefindens opfern. Der Bürger wird hingegen bereit sein, sein Wohlbefinden oder gar sein Leben auf dem Altar der Freiheit zu opfern. Für den Liberalismus stellt sich in diesem Zusammenhang das Problem, wie man den Bürger in der Privatperson manchmal wieder wachrütteln kann. Die Institutionen, folgt man Tocqueville, lösen das Problem, wie man die Freiheit schützen kann, ohne dass die Menschen sich ständig als Bürger betätigen. Sie lösen aber nicht das Problem, wie man die Freiheit ständig schützen kann, ohne dass die Menschen sich überhaupt als Bürger betätigen. Würde man davon ausgehen können, dass die Menschen sich ständig als Bürger betätigen, dann wäre das Problem der ständigen Bewahrung der Freiheit automatisch gelöst. Allerdings kann man nicht mehr vom modernen Menschen erwarten, dass er sich ständig als Bürger betätigt. Der moderne Mensch tendiert eher dazu, sich niemals als Bürger zu betätigen, so dass sich bezüglich seiner das Problem stellt, wie man ihn manchmal dazu bringen kann, sich als Bürger zu betätigen. Benjamin Constants berühmte Rede aus dem Jahr 1819, in welcher er die Freiheit der Alten mit der Freiheit der Modernen vergleicht, geht von der Feststellung aus, dass der moderne Mensch nicht mehr bereit ist, seine Identität als Privatperson seiner Identität als Staatsbürger gänzlich unterzuordnen (Constant 1980c). Die Freiheit der Modernen betrifft in erster Linie die bürgerlichen, nicht die politischen Freiheiten. Letztere tauchen zwar noch bei der Beschreibung der Freiheit der Modernen auf, aber an untergeordneter Stelle bzw. sind sie nicht mehr an sich wertvoll, sondern höchstens noch als Mittel zur Bewahrung der bürgerlichen Freiheiten.163 Der moderne Mensch sucht den höchsten Ausdruck seiner Persönlichkeit nicht in der Beteiligung am Leben der polis, sondern in seinem Privatleben. Die normativ relevante Definition seiner menschlichen Identität geschieht in der Privatsphäre und nicht in der öffentlichen Sphäre. Deshalb ist es auch für ihn wichtig, dieses Privatleben vor Eingriffen der öffentlichen Macht abzusichern. Darin unterscheidet der moderne Mensch sich vom antiken Menschen, dem es in erster Linie darum ging, politisch mit zu entscheiden und damit das Schicksal seines Gemeinwesens mit zu gestalten. Das Schicksal dieses Gemeinwesens war ihm wichtiger als sein persönliches Schicksal. Insofern war das Wohl des Einzelnen auch dem Wohl des Gemeinwesens untergeordnet. Der Einzelne konnte keine 163 Constant sieht in den politischen Rechten nicht primär einen Schutz, sondern vielmehr eine Macht. Deshalb lehnt er es auch ab, den Nicht-Besitzern solche Rechte zuzusprechen, da diese sie benutzen könnten, um das Eigentum neu zu verteilen (Constant 1997, S. 179).

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subjektiven Rechte geltend machen, um sich vor politischen Entscheidungen zu schützen. Wichtig war nur, dass er selbst am politischen Entscheidungsprozess teilnehmen konnte. Dass damit große Gefahren verbunden sind, liegt auf der Hand und ist auch ein Grund, wieso Constant eindringlich vor Versuchen warnt, die Freiheit der Alten wieder einzuführen – einmal abgesehen davon, dass ein modernes Volk diese Freiheit nicht mehr will und sie ihm höchstens nur mit Gewalt aufgezwungen werden kann, wie man es, letztendlich vergeblich, während der Terreur versuchte. Am Schluss seiner Rede weist Constant allerdings auch auf die möglichen Gefahren eines Rückzugs in das Privatleben hin. Und diese Gefahren sind umso größer, wenn die Menschen auch noch davon überzeugt sind, dass ihr individuelles materielles Glück und Wohlbefinden das höchste Gut auf Erden darstellt. Sie werden dann nämlich bereit sein, auf alle ihre politischen Rechte und auch auf die diese Rechte schützenden Institutionen zu verzichten, wenn man ihnen Glück und Wohlbefinden verspricht bzw. werden sie sich keine Gedanken um die Zukunft ihrer politischen Rechte und der freien Institutionen machen, solange wie man sie mittels „Brot und Spiele“, wie es die römischen Kaiser taten, zufriedenstellt. Wenn die politischen Freiheiten lediglich als Mittel konzipiert werden, dann wird man nur solange an ihnen festhalten, wie sie den Charakter notwendiger Mittel haben. Wer glaubt, dass sein materielles Wohlergehen auch abgesichert werden kann, wenn er sich nicht politisch betätigt, wird auf eine solche Betätigung – wenn sie lediglich als Mittel zum Zweck betrachtet wird – verzichten, da sie von ihm verlangt, einen Teil seiner Zeit und Energie zu opfern, die er der Suche nach materiellem Wohlergehen widmen könnte. Für Constant besteht das Problem darin, wie man in den modernen Menschen die Bereitschaft erzeugen kann, ihr persönliches Glück und Wohlbefinden gegebenenfalls zu opfern, wenn die Bewahrung der Freiheit dies von ihnen verlangt. Constant kann es nicht zulassen, dass sich der moderne Mensch zum bloßen Hedonisten entwickelt, für den es kein höheres Gut als sein individuelles Glück gibt.164 Und zwar kann er es nicht zulassen, weil der Mensch sich dadurch von dem Weg entfernt, auf dem die Menschheit sich als Ganzes befindet. Constant vertritt nämlich die These, dass die Individuen nicht geschaffen wurden bzw. nicht existieren, um glücklich zu werden. Der Mensch existiert vielmehr als ein Wesen, das sich in einem indefiniten Prozess intellektuell und moralisch vervollkommnen soll (Constant 1980d, S. 549), und die Vervollkommnung des Gattungswesens Mensch ist dem Glücksstreben der menschlichen Individuen übergeordnet. Die Freiheit ist dabei ein Mittel, aber letztendlich immer ein Mittel im Dienste der Spezies und nicht des Individuums. Insofern hat das Individuum kein – moralisches – Recht, auf seine Freiheit zu verzichten, da ein solcher Verzicht ihm die Möglichkeit nimmt, an der

164 Indem sie materialistische und hedonistische Züge annimmt, gefährdet die Zivilisation sowohl den individuellen als auch den öffentlichen Mut (Constant 1980d, S. 548). Man darf aber nicht das Kind mit dem Badewasser ausschütten, sondern man muss „die Zivilisation selbst vor den Gefahren schützen, die sich aus ihrer eigenen Tendenz ergibt“ (Constant 1980d, S. 547). Wie Tocqueville nach ihm, geht es auch Constant darum, im Rahmen der Moderne nach Lösungen auf die durch eben diese Moderne geschaffenen Probleme zu finden.

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Vervollkommnung des Menschengeschlechts teilzunehmen. Die menschliche Freiheit erscheint somit bei Constant nicht nur als Gegenstand eines Rechts, sondern immer auch als Gegenstand einer Pflicht. Constant ist sich der Tatsache bewusst, dass man das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen kann und dass die Kleider des antiken Bürgers dem modernen Menschen nicht mehr passen, so dass dieser sich dagegen sträuben wird, sie zu tragen.165 Selbst der Terrorherrschaft der sich an den Abbé de Mably und an Rousseau orientierenden französischen Revolutionäre ist es nicht gelungen, aus einem modernen Volk wieder ein antikes zu machen. Die Freiheit der Alten spricht die Modernen einfach nicht mehr an. Constant nimmt dieses Faktum zur Kenntnis und macht es zum Ausgangspunkt seiner weiteren Überlegungen. Dabei gibt er sich nicht damit zufrieden, das unaufgeklärte Eigeninteresse durch das aufgeklärte oder wohlverstandene Eigeninteresse zu ersetzen. Das wohlverstandene Eigeninteresse sagt dem Individuum, dass es an sich töricht ist, sein Wohlbefinden oder gar sein Leben zu Gunsten der Freiheit zu opfern. Insofern kann man es nicht als hinreichenden Schutz der Freiheit betrachten. Das wohlverstandene Eigeninteresse mag zwar das Individuum dazu motivieren, sich nicht selbst am Umsturz der freiheitlichen Institutionen zu beteiligen, aber es wird ihn nicht dazu motivieren können, seinem eigenen Leben einen geringeren Wert zuzuschreiben als den Institutionen und der durch sie garantierten Freiheit. Das wohlverstandene Eigeninteresse wendet den Blick des Individuums nicht von ihm selbst ab, sondern bewirkt nur, dass dieser Blick fortan ein aufgeklärter sein wird, der als solcher zur Einsicht führen wird, dass das individuelle Wohl mit dem Wohl der anderen verknüpft ist und dass es demnach im Interesse des Individuums ist, auf manche Dinge zu verzichten, die ihm unmittelbar von Vorteil sein oder ihm eine unmittelbare Befriedigung bringen können, langfristig aber Nachteile bringen werden. Für Constant kann es letztlich nicht darum gehen, dass die Menschen besser „rechnen“, sondern sie müssen davon abgebracht werden, nur zu rechnen, d. h. sich nur an einer Kosten-Nutzen-Denkweise zu orientieren.166 Das aufgeklärte Eigeninteresse kann zwar als funktionales Äquivalent zur Hobbes’schen Angst betrachtet 165 So heißt es an einer Stelle: „Wenn das Menschengeschlecht einem unwandelbaren Gang folgt, dann muss man sich ihm unterwerfen“ (Constant 1980d, S. 603). 166 In seiner Jugend war Constant ein Anhänger der utilitaristischen Moral, wie er sie u. a. bei Helvétius finden konnte. Er wandte sich aber von dieser Moral ab, wahrscheinlich – auch – unter dem Einfluss von Madame de Staël, deren Denken seinerseits von ihrem Vater, Jacques Necker, beeinflusst wurde. So erwähnt Necker etwa das Gräuel einer Gesellschaft, in welcher nur das wohlverstandene Eigeninteresse regiert und jeder Mensch somit zum letzten Richter wird (Necker 1788, S. 53). Glaubt man Necker, so leiten uns Gefühle besser als komplizierte Rechnungen (Necker 1788, S. 54). Außerdem, so Necker, stimmt es nicht, dass Individualinteresse und Allgemeinwohl immer miteinander übereinstimmen, so dass ich, wenn ich das Allgemeinwohl verfolge, auch immer im Sinne meines wohlverstandenen Eigeninteresses handle (Necker 1788, S. 29). Und hier ist es für Necker wichtig, dass die Religion eingreift: Wer bei der Verwirklichung des Allgemeinwohls auf der Strecke bleibt, obwohl er zu dieser Verwirklichung beigetragen hat, muss sich die Hoffnung auf einen Platz im Paradies machen können (Necker 1788, S. 34). Die Religion, so Necker, ist umso nötiger, als die Steuern hoch sind und man in der Armut lebt (Necker 1788, S. 49).

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werden – und ist vielleicht sogar noch wirksamer als diese –, aber man kann in ihm keineswegs ein funktionales Äquivalent zur republikanischen Tugend sehen.167 Die Aufklärung des Eigeninteresses kann insofern nicht mit einer Moralisierung des Individuums und dementsprechend auch nicht mit einer Moralisierung der modernen Gesellschaften gleichgesetzt werden. Von einer solchen Moralisierung – die für Constant notwendig ist, will man die Freiheit bewahren – kann nur dann die Rede sein, wenn das Individuum sich zeitweise vergisst.168 Für Constant besteht das wesentliche Problem also nicht darin, das Eigeninteresse der modernen Individuen aufzuklären – worauf Tocqueville, wie schon gesehen, gepocht hat169 –, sondern dieses Eigeninteresse, zumindest zeitweise, zum Schweigen zu bringen. Den Alten war dies gelungen, aber die Situation der Modernen ist nicht dieselbe wie die der Alten. Die modernen Großstaaten erlauben es nicht mehr, alle Bürger am politischen Entscheidungsfindungsprozess teilnehmen zu lassen, so dass jeder Bürger sich als ein Wesen erfahren kann, dessen Identität als abgesonderte Privatperson vor seiner Identität als Mitglied eines Kollektivs zurücktreten muss. Constant macht sich für eine Situation stark, in welcher das Individuum weder, wie es bei den Alten der Fall war, vollständig ausgeklammert wird,

167 Stephen Kautz spricht von der „liberalen Idee, dass das aufgeklärte Eigeninteresse irgendwie die Arbeit der republikanischen Tugend oder Hobbes’schen Angst erledigen kann“ (Kautz 1997, S. 62). Diese Idee findet man zum Teil bei Tocqueville, aber nicht bei Constant. 168 Schleifer findet den letzten Ursprung der amerikanischen Lehre des wohlverstandenen Eigeninteresses in der puritanischen Idee des Bundes. Es ist diese Idee, so Schleifer, die der betroffenen Lehre eine moralische Dimension verleiht, da sie auf einer geteilten Verantwortung beruht (Schleifer 2014, S. 71). Insofern Constant die Lehre des wohlverstandenen Eigeninteresses mit den französischen Materialisten und den Utilitaristen in Verbindung bringt und den Gedanken eines die Gesellschaft schaffenden Vertrags verwirft oder zumindest nicht als Modell benutzt, betrachtet er die Lehre des wohlverstandenen Eigeninteresses unabhängig von ihren möglichen religiösen Wurzeln – im Gegensatz zu Tocqueville, der sowohl das Beispiel der Puritaner als auch dasjenige der französischen Materialisten vor Augen hat. Winthrop ihrerseits führt die von Tocqueville beschriebene amerikanische Lehre des wohlverstandenen Eigeninteresses auf die protestantischen Naturrechtstheoretiker zurück (Winthrop 1991, S. 413). Hancock streicht hervor, dass Tocqueville eine Sicht des Eigeninteresses vertritt, „die reicher ist als diejenige des aufklärerischen mainstream“ (Hancock 1992, S. 150–151). Unabhängig von der Frage nach dem möglichen Ursprung dieser Idee im Denken Tocquevilles, sollte betont werden, dass Tocqueville kein Theoretiker des wohlverstandenen Eigeninteresses ist. Er führt das wohlverstandene Eigeninteresse nur als Triebfeder an, weil er scheinbar keine andere Triebfeder mehr findet, die stark genug wäre, um den Menschen dazu zu bringen, sich neben der Sorge um die Gleichheit, auch Sorgen um die Freiheit zu machen. 169 Doch gilt es festzustellen, dass Tocqueville am Ende seines Lebens die Grenzen des wohlverstandenen Eigeninteresses erkannt hat: „Das Interesse wird niemals dauerhaft und sichtbar genug sein, um das Herz der Menschen bei der Liebe zur Freiheit zu bewahren, wenn nicht der Geschmack sie an diese Liebe bindet …“ (Tocqueville OC II, 2, S. 345). Das freie Leben muss etwas werden, an das sich der Mensch gewöhnt und an dem er Geschmack findet. Insofern genügt es nicht, den Menschen den Zusammenhang zwischen Freiheit und Interessenbefriedigung zu zeigen. Man muss die Menschen vielmehr frei handeln lassen, damit sie dieses Handeln lieben lernen – und zwar auch dann noch, wenn es ihnen nichts bringt oder gar wenn es mit Unannehmlichkeiten verbunden ist.

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noch, wie es bei den Modernen geschehen könnte, nur noch sich selbst sieht und aus seinem kontingenten Selbst den höchsten Wert macht. Constants Lösung dieses Problems besteht im Hinweis auf das religiöse Gefühl. Es handelt sich dabei um eine „Fähigkeit [der Seele – N. C.], unterjocht, beherrscht, erhoben zu werden, unabhängig und sogar im Gegensatz zu seinem Interesse“170 (Constant 1999, S. 30). Doch inwiefern kann die Seele gleichzeitig unterjocht und erhoben werden? Setzt Beherrschung nicht Erniedrigung voraus und stehen Erniedrigung und Erhebung nicht in einem unauflösbaren Widerspruch zueinander? Will man hier den Widerspruch vermeiden, so muss man Constants Behauptung wie folgt deuten: Der auf Glück und Wohlbefinden orientierte Teil der Seele wird beherrscht und unterjocht, und dies erlaubt es dem auf überindividuelle Werte orientierten Teil, sich aus seiner bisherigen Erniedrigung zu befreien und sich über den anderen Seelenteil zu erheben. Das religiöse Gefühl erlaubt es dem Menschen, sich von seiner konkreten Individualität zu befreien und sich als Teil eines größeren Ganzen zu erfahren. Dadurch wird der Wert, den man seiner konkreten empirischen Individualität zuschreibt, relativiert bzw. erweist diese sich sogar als Illusion, während das über die konkrete empirische Individualität Hinausweisende nun als wertvoll, wenn nicht sogar als das Wertvollste angesehen wird. Wichtig ist für das einzelne Individuum nicht mehr sein rein persönliches Wohlbefinden, sondern die Vervollkommnung des Menschengeschlechts. In seinem gegen Napoleon gerichteten Traktat De l’esprit de conquête et d’usurpation, kennzeichnet Constant sein Jahrhundert als ein Jahrhundert des Nutzens (Constant 1980b, S. 120). Daraus folgt, dass das Ziel moderner Kriege nur die Befriedigung sinnlicher, auf das Materielle gerichteter Begierden ist (Constant 1980b, S. 122). In einer Armee von Egoisten, so Constant, gäbe es keinen Platz für ein höheres Gefühl (Constant 1980b, S. 123). Eine Konsequenz hiervon wäre, so immer noch Constant, dass eine Armee von Egoisten unmenschlich und grausam im Sieg sein wird, während sie sich in der Niederlage als feige entpuppen würde (Constant 1980b, S. 124). Wo der individuelle Nutzen die Oberhand hat, ist kein Platz mehr für Moral. Und dort ist auch kein Platz mehr für Patriotismus, denn dieser setzt ein starkes Bindungsgefühl voraus, und zwar ein Gefühl der Bindung an die Interessen, an die Sitten und an die Gewohnheiten eines Ortes (Constant 1980b, S. 147). In diesem Patriotismus sieht Constant eine Widerstandskraft gegen den Despotismus und demnach ein Instrument der Freiheit (Constant 1980b, S. 148). Dieser Patriotismus erhebt das Individuum aber zugleich über seine eigenen egoistischen Interessen. Eine patriotische Armee, so könnte man dann schließen, würde menschlich im Sieg und mutig in der Niederlage sein, d. h. ihre Soldaten würden lieber ehrenhaft sterben als ehrlos überleben. Wenn der Preis für das bloß physische Überleben die Unterjochung wäre, dann wären sie nicht bereit, diesen Preis zu zahlen, denn das physische Überleben hat für sie nur dann einen Wert, wenn es ein Überleben in der Freiheit ist. Die liberalen Werte können nicht durch eine Armee von Individuen verteidigt werden, die nicht bereit sind, ihr Leben für diese Werte zu opfern.171 170 Gemeint ist das Interesse des Individuums, das das religiöse Gefühl empfindet. 171 Constant verurteilt den Krieg nicht als solchen, behauptet er doch, dass er nicht immer ein Übel ist und in manchen Epochen zu einer Erhebung des Menschen und zu einer Entwicklung großer

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Diese Dimension des Opfers ist auch, wie schon angedeutet, bei Tocqueville präsent. In einem Brief an Gustave de Beaumont vom 14. September 1851, teilt Tocqueville seinem Freund mit, dass es in der politischen Krise, die sein Land kennt, nur eine Alternative gibt, und zwar den Sieg der Freiheit zu fördern, oder mit der Freiheit unterzugehen (Tocqueville OC VIII, 2, S. 408). Tocqueville ist also bereit, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, wenn die Bewahrung der Freiheit dieses Opfer von ihm verlangt. Sein eigenes Leben wird zur Nebensache, wenn die Bewahrung der Freiheit auf dem Spiel steht.172 Damit ist implizit gesagt, dass auch alle anderen Güter zur Nebensache werden bzw. werden sollten. Die Freiheit ist ein Gut, das manchmal Opfer verlangt, und wer demnach die Freiheit ernst nimmt – und ein Liberaler definiert sich gerade dadurch, dass er die Freiheit ernst, wenn nicht sogar als die ernste aller ernsten Sachen auffasst –, muss auch bereit sein, Opfer für sie zu bringen. Für einen überzeugten Liberalen wie Tocqueville ist das Leben nur dann wert, gelebt zu werden, wenn es ein Leben in der Freiheit ist. Im zweiten Band der Démocratie vergleicht Tocqueville ein aristokratisches mit einem demokratischen Heer. Bei Kriegsbeginn stehen die Karten schlecht für das zweite. Ein Grund hierfür ist die Tatsache – auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll –, dass ein solches Heer aus alten Offizieren und ganz jungen Soldaten bestehen wird, also einerseits aus Menschen, die keine Kraft mehr haben, und andererseits aus solchen, die noch keine Erfahrung haben. Wichtiger als dieser erste ist für unsere Überlegungen der zweite von Tocqueville erwähnte Grund. Dieser betrifft vor allem eine Gesellschaft, die während längerer Zeit im Frieden gelebt hat und deshalb an keine Anstrengungen und Kraftakte mehr gewöhnt ist. In einer solchen Gesellschaft, so Tocqueville, tragen die Menschen die, wie man sagen könnte, friedliche und unheroische Lebensweise der bürgerlichen Gesellschaft in das militärische Leben hinein (Tocqueville OC I, 2, III, 24, S. 282). Wird eine Fähigkeiten führen kann (Constant 1980b, S. 115). Im XVIII. Jahrhundert hat der Krieg aber erstens seine Nützlichkeit, und zweitens seinen Charme verloren (Constant 1980b, S. 119). Einerseits hat sich der Handel als ein nützlicheres Instrument entpuppt, seine Ziele zu verfolgen und zu erreichen, und andererseits hat die Entwicklung der Waffen dazu beigetragen, dass man sich nicht mehr in Zweikämpfen auf dem Schlachtfeld auszeichnen kann. 172 Tocqueville gebraucht auch manchmal einen Diskurs, der an den von Viroli thematisierten christlichen Republikanismus erinnert. So etwa an folgender Stelle: „Die erste aller Pflichten eines Menschen, menschlich und religiös gesprochen, schien mir immer [die Pflicht] gegenüber seinem Vaterland zu sein“ (Tocqueville OC XIV, S. 207). Die Pflicht, sich für sein Vaterland einzusetzen, ist somit nicht nur menschlich, sondern auch religiös begründet: Gott will, dass wir unserem Vaterland dienen und dass diese Pflicht den Vorrang vor allen anderen Pflichten haben soll. Tocqueville macht allerdings darauf aufmerksam, dass das Christentum in dieser Hinsicht problematisch ist. In einer kurzen Studie, die den Titel „Sur la morale“ trägt, stellt Tocqueville die christliche und die, wie er sie nennt, moderne Moral einander gegenüber und bemängelt an Ersterer, dass sie öffentlichen Tugenden und die Pflichten des Bürgers seinem Vaterland gegenüber vernachlässigt (Tocqueville OC IX, S. 46). Die christliche Moral kennzeichnet sich auch dadurch, dass sie den sanften Tugenden den Vorrang gibt und dementsprechend eine Moral der Nächstenliebe ist, die vor der Gewaltanwendung zurückschreckt, wenn sie sie nicht sogar verurteilt (Tocqueville OC IX, S. 45). Die moderne Moral, die sich an der christlichen Moral inspiriert, gibt den öffentlichen Tugenden den ihnen gebührenden Platz wieder.

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solche Gesellschaft angegriffen, kann sie sich nicht angemessen verteidigen, da es an moralischer Kraft fehlt. Die Bürger legen größeren Wert auf die Verfolgung ihrer materiellen Interessen und sind nicht bereit, sich für höhere Werte zu opfern. Hier finden wir das von Constant erwähnte Element der Feigheit wieder, wobei diese Feigheit sich bei Tocqueville mit Behaglichkeit paart: Man will seine friedlichen Gewohnheiten und seine Gemütlichkeit nicht aufgeben, um sich den Strapazen des Krieges zu unterwerfen. Aber, so Tocqueville weiter, wenn der Krieg sich in die Länge zieht, wenn also, trotz ungünstiger Ausgangsbedingungen, es der demokratischen Gesellschaft gelingt, nicht gleich unterzugehen, dann kann sich die Situation radikal ändern. Denn wenn die Menschen nämlich, bedingt durch den Krieg, ihren „friedlichen Tätigkeiten“ nicht mehr nachgehen können und wenn alle ihre „kleinen Unternehmen“ scheitern, wenn sie also keine Befriedigung mehr im bürgerlichen Leben finden, dann kann es vorkommen, dass ihre Leidenschaften sich den Waffen zuwenden (Tocqueville OC I, 2, III, 24, S. 283). Wenn die Menschen also keine Möglichkeit mehr haben, sich den friedlichen bürgerlichen Tätigkeiten zu widmen, dann können sie laut Tocqueville zu leidenschaftlichen Kriegern werden. Damit ist aber noch nicht sichergestellt, dass diese Menschen für Ideale kämpfen werden, die ihre Eigeninteressen radikal übersteigen. Wie Tocqueville nämlich feststellt, werden sie oft durch eine brennende Ruhmbegierde getrieben (Tocqueville OC I, 2, III, 24, S. 283), und anstatt dass sie sich auf dem Gebiet der Ökonomie über ihre Mitmenschen erheben, tun sie es auf dem Gebiet des Krieges. Auf diese Weise kann der Krieg außergewöhnliche Persönlichkeiten hervorbringen bzw. kann er das in vielen – auf den ersten Blick gewöhnlichen – Menschen schlummernde Außergewöhnliche zum Vorschein kommen lassen (Tocqueville OC I, 2, III, 24, S. 284).173 Tocqueville sieht im Krieg ein Ereignis, das einen „versteckten Zusammenhang“ zwischen den militärischen und den demokratischen Sitten zum Vorschein kommen lässt (Tocqueville OC I, 2, III, 24, S. 284). Der demokratische Mensch, so behauptet Tocqueville, hat weniger Angst vor dem Tod als vor der Anstrengung. Wenn er arbeitet, dann will er so schnell wie möglich die Frucht seiner Arbeit genießen. Auch wenn das erste Streben des demokratischen Menschen dem Glück gilt, so will er sich so wenig wie möglich für dieses Glück anstrengen – was auch erklärt, wieso dieser Mensch so leicht seine Freiheit aufgibt, wenn ihm der Staat verspricht, ihn glücklich zu machen. Was den demokratischen Menschen also am meisten stört, ist der Gedanke, dass er sich sein Glück durch seine eigene Anstrengung erkämpfen muss. Auf den Krieg bezogen bedeutet das, dass der demokratische Mensch sich vom militärischen Glanz angezogen fühlt, von jener „glänzenden und plötzlichen Größe, die man ohne Arbeit erlangt, indem man nur sein Leben wagt“ (Tocqueville OC I, 2, III, 24, S. 284). Die demokratischen Bürger, so Tocque173 Für einige klassische liberale Autoren war der Krieg, trotz seiner negativen Konsequenzen, trotzdem in einer bestimmten Hinsicht positiv. Er erlaubte nämlich den Ausdruck bestimmter Tugenden, wie etwa Mut oder Ausdauer. Allerdings war der Krieg im XIX. Jahrhundert nicht mehr das, was er noch in vorigen Jahrhunderten war, nämlich eine Gelegenheit, sich in einem Zweikampf gegen einen gleichwertigen Feind zu bewähren.

Kapitel 5: Die Begrenzung der politischen Macht

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ville schlussfolgernd, „werden leicht zu guten Soldaten, sobald man sie von ihren Geschäften und ihrem Wohlergehen losgerissen hat“ (Tocqueville OC I, 2, III, 24, S. 284). Man muss sie aber zunächst davon losreißen. Für die hier behandelten Autoren stellt sich eben genau die Frage, wie man die Menschen dazu bringen kann, sich von ihren privaten Geschäften loszureißen. Sie begnügen sich nicht einfach, wie Stephen Holmes es tut, mit der Feststellung, dass Liberale bereit sein können, „für universalistische Werte [zu sterben], wie etwa individuelle Freiheit und Würde, Gleichheit vor dem Gesetz, und demokratische Selbstgesetzgebung“ (Holmes 1996, S. 264). Aus der Tatsache, dass Liberale diese Bereitschaft jetzt noch zeigen, folgt nicht, dass sie sie auch in einigen Jahrzehnten zeigen werden. Constant und Tocqueville geht es nicht nur darum zu wissen, wozu der liberale Mensch jetzt noch bereit ist, sondern sie stellen sich die Frage nach den hinter der jetzigen Bereitschaft liegenden Motiven oder Gründen bzw. nach den Motiven und Gründen, die hinter dieser Bereitschaft liegen sollten, wenn man dauerhaft auf sie zählen sollen kann. Und für sie gibt es hier nur eine Antwort: Der Mensch muss sich religiös begreifen, er muss sein kontingentes empirisches Sein als Teil eines größeren Ganzen betrachten. Nur wenn das Individuum seine Individualität in Gedanken aufhebt, wird es auch bereit sein, diese Individualität physisch zu opfern. Und die Aufhebung der Individualität in Gedanken ist ihnen zu Folge nur im Rahmen einer religiösen Auffassung möglich. Diese Aufhebung sollte allerdings in einem Hegelianischen Sinn verstanden werden: Das Individuum soll sich nicht ganz in seinem Opfer verlieren, sondern es soll in dem durch sein Opfer zu erreichendes Ziel die Verwirklichung des Wertes der Freiheit sehen, also jenes Wertes, das der liberale Mensch immer als den prioritären Wert zu betrachten hat. KAPITEL 5: DIE BEGRENZUNG DER POLITISCHEN MACHT Eine der Grundsorgen des politischen Liberalismus ist die Begrenzung der politischen Macht. Im Gegensatz zum Anarchismus, der die Notwendigkeit einer politischen Macht, welche sie auch sein mag, radikal leugnet und auf die freie Kooperation der Individuen setzt, behauptet der politische Liberalismus, dass keine menschliche Gesellschaft ohne eine politische Macht auskommt. In jeder etwas größeren menschlichen Gemeinschaft bedarf es einer Instanz, die allgemeinverbindliche Gesetze festlegt und den Respekt dieser Gesetze notfalls mit Gewalt durchsetzt. Diese Gesetze begrenzen zwar die Freiheit, aber diese Begrenzung ist notwendig, um die Freiheit zu erhalten. Die Begrenzung der menschlichen Freiheit verfolgt also keinen der Freiheit äußeren Zweck, sondern sie geschieht im Namen der Freiheit. Letztere besteht nicht darin, alles zu tun, was man tun will, sondern vor willkürlichen Eingriffen geschützt zu sein. Damit ist aber gleichzeitig auch gesagt, dass Gesetze nur insofern legitim sind, als sie notwendig und zweckdienlich sind. Die menschliche Freiheit darf nur dort oder dann eingeschränkt werden, wo bzw. wenn ihr Gebrauch eine Gefahr für die Freiheit selbst darstellt. Wenn meine Freiheit dort aufhört, wo die Freiheit des an-

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deren beginnt, dann darf die Wirksamkeit des Gesetzes auch nur dort beginnen, wo meine Freiheit die Freiheit des anderen gefährdet. Das Gesetz setzt meiner Freiheit Grenzen, damit ich die Freiheit meiner Mitmenschen nicht gefährde. Während der Anarchismus glaubt, dass eine menschliche Gemeinschaft möglich ist, in welcher es keine Versuchung mehr geben wird, die Freiheit des anderen zu gefährden, so dass es dementsprechend auch keine Notwendigkeit mehr geben wird, dieser Versuchung durch eine Strafandrohung entgegenzuwirken174, nimmt der politische Liberalismus eine realistischere Position ein und geht von der Notwendigkeit aus, die Mitglieder einer Gemeinschaft bestimmten Gesetzen zu unterwerfen. Der klassische politische Liberalismus beruht auf einem bestimmten, und zwar auf einem zum Teil negativen Menschenbild: Weit davon entfernt, von Natur aus gut und einsichtig zu sein, ist der Mensch ein egoistisches Wesen, das ganz oft nur kurzfristig denkt, und dessen Egoismus dementsprechend nicht aufgeklärt ist und sich nicht selbst begrenzt. Wer nur den kurzfristigen Vorteil eines Eingriffs in die Freiheitssphäre des anderen sieht, wird in diese Freiheitssphäre eingreifen und ihm etwa sein Eigentum rauben. Wenn sich aber ein Individuum dazu berechtigt denkt, einen Eingriff in die Freiheitssphäre seiner Mitmenschen zu tätigen, dann muss ein solches Recht jedem Individuum zugestanden werden, denn es besteht kein Grund zur Annahme, dass die anderen von Natur aus weniger Rechte besitzen. Dadurch entsteht aber eine Situation, die Hobbes als Krieg aller gegen alle bzw. eines jeden gegen einen jeden bezeichnet hat. Will man unter unaufgeklärten, kurzfristig denkenden Egoisten ein friedliches Zusammenleben garantieren, so muss man eine politische Macht errichten, deren Hauptaufgabe darin liegt, die Menschen voreinander zu schützen. Es müssen, anders gesagt, einige Menschen das Recht erhalten, Regeln aufzustellen, die für alle Mitglieder einer Gemeinschaft gelten und deren Einhaltung gegebenenfalls durch Anwendung von Gewalt garantiert werden kann. Diese Menschen werden ein Recht besitzen, den ihre Mitmenschen nicht – mehr – besitzen, aber sie besitzen dieses Recht nur, damit ihre Mitmenschen im Frieden und in Sicherheit von ihren Rechten profitieren können. Das Recht, Gesetze aufzustellen und diese Gesetze mittels Gewalt durchzusetzen, ist an die Pflicht gebunden, durch diese Gesetze und durch die Gewaltanwendung das friedliche und gesicherte Zusammenleben der Bürger zu schützen. Die Inhaber der politischen Macht besitzen, wie Max Weber es klassisch formuliert hat, das Monopol der legitimen Gewaltanwendung. Sie sind zwar nicht die Einzigen, die Regeln aufstellen können, die das Leben ihrer Mitmenschen gestalten und somit deren Freiheit beschneiden, aber sie sind die Einzigen, die auf Gewalt zurückgreifen dürfen, um die Einhaltung der Regeln zu gewährleisten. Ein Sportverein darf Regeln aufstellen, die für seine Mitglieder verbindlich sind, aber er darf ihren Respekt nicht durch physische Gewalt erzwingen. Die schlimmste Strafe ist 174 Anarchisten weisen auch darauf hin, dass man die traditionellen Strafandrohungen durch Ausschließungsandrohungen ersetzen kann: Wer sich nicht an die Spielregeln hält, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Da die Menschen aber wissen, dass sie ohne Kooperation mit ihren Mitmenschen keine Chance haben, zu überleben, werden sie von selbst einsehen, dass es in ihrem Interesse liegt, zu kooperieren.

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der Ausschluss aus dem Verein.175 Will das ausgeschlossene Mitglied den Verein nicht verlassen und taucht es uneingeladen auf dem Spielfeld auf, kann der Verein sich an die Ordnungskräfte wenden, um das ausgeschlossene Mitglied manu mili­ tari vom Spielfeld zu entfernen. Insofern der politische Liberalismus den Menschen als ein von Natur aus freies Wesen ansieht, das sein Leben selbst gestalten soll und das selbst zu entscheiden hat, auf welche Fassong es glücklich werden will, oder das sich von sich aus, ohne äußeren Zwang, zu dem entwickeln soll, was es seiner Natur gemäß sein kann176, ist die Existenz einer politischen Macht nicht unproblematisch. Denn auch wenn der politische Liberalismus die Existenz einer solchen Macht nur dadurch rechtfertigt, dass sie die Bedingungen garantieren soll, unter denen jeder ungehindert durch die Gewalt anderer sein persönliches Glück oder seine Vollkommenheit suchen kann – das Zusammenbestehen der individuellen Freiheiten in einem geordneten Gemeinwesen –, so besteht die Gefahr, dass die Inhaber der politischen Macht diese Macht falsch gebrauchen oder gar missbrauchen. Ein falscher Gebrauch kann etwa vorliegen, wenn die Inhaber der politischen Macht fälschlicherweise glauben, dass bestimmte Eingriffe in die individuelle Handlungssphäre der Bürger der Freiheit aller Bürger zu Gute kommen. Ein Missbrauch liegt vor, wenn die Inhaber der politischen Macht diese gänzlich zweckentfremden und nur ihre eigenen Interessen fördern. Im ersten dieser beiden Fälle liegt das Problem nicht auf der Ebene der Motive, sondern auf derjenigen der Kompetenz: Es genügt nicht, die Freiheit der Bürger schützen zu wollen, sondern man muss auch wissen, wie man sie am besten schützen kann. Es gibt aber keine Garantie, sich nie zu irren. Im Fall des Missbrauchs liegt das Problem auf der Ebene der Absichten: Auch wenn man vielleicht sehr gut weiß, durch welche Gesetze man die Freiheit der Bürger bewahren und sogar fördern kann, so wird man diese Gesetze nicht erlassen, da man die Freiheit der Bürger nicht bewahren, sondern sie vielmehr unterhöhlen will. Der politische Liberalismus löst das Problem des die Freiheit begünstigenden friedlichen Zusammenlebens dadurch, dass er eine dieses Zusammenleben regelnde und garantierende politische Macht einführt. Dadurch ist er aber mit einem neuen Problem konfrontiert: Wie kann man sicherstellen, dass die Inhaber dieser politischen Macht nur das tun, wofür ihnen die politische Macht anvertraut wurde? Galt es zunächst, die Privatindividuen voreinander zu schützen, so gilt es jetzt, die Privatindividuen vor den Machtinhabern zu schützen. Insofern die Machtinhaber auch nur Menschen sind, kann man nicht davon ausgehen, dass sie sich von sich aus anders verhalten werden als ihre Mitmenschen. Und d. h., dass man damit rechnen 175 Vereine können ihren Spielern natürlich auch Geldstrafen auferlegen – z. B. wegen eines unentschuldigten Fernbleibens vom Training. Solche Geldstrafen werden dann aber durch den Vertrag vorgesehen, den der Verein mit dem Spieler geschlossen hat. Wenn es zu einem Konflikt zwischen dem Spieler und seinem Verein kommt, dann wird dieser durch die staatlichen Gerichte entschieden. 176 Man kann ideengeschichtlich zwischen einem hedonistischen und einem perfektionistischen Liberalismus unterscheiden. Der erste setzt das individuelle, hedonistisch verstandene Glück als höchstes Gut, wohingegen der zweite in der Vervollkommnung das höchste Gut sieht.

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muss, dass auch die Inhaber der politischen Macht manchmal oder gar oft egoistisch und nur mit Blick auf ihre kurzfristigen Interessen handeln werden. Die eben gestellte Frage lässt sich dementsprechend wie folgt neu formulieren: Wie kann man sicherstellen, dass die Inhaber der politischen Macht nicht egoistisch und nicht nur mit Blick auf ihre kurzfristigen Interessen handeln werden? Oder noch anders ausgedrückt: Wie kann man sicherstellen, dass die Bürger keinen Gesetzen unterworfen werden, die nicht notwendig für das friedliche Zusammenleben sind, die aber notwendig für die Förderung der egoistischen Interessen der Gesetzgeber sein können? Denn dass die individuelle Freiheit eingeschränkt werden darf, um das friedliche Zusammenleben zu garantieren, wird, wie schon angedeutet, nicht vom politischen Liberalismus bestritten. Bestritten wird nur, dass sie auch eingeschränkt werden darf, wenn diese Einschränkung nicht zum friedlichen Zusammenleben beiträgt. Die ideale Lösung wäre eine politische Gemeinschaft, in welcher ein Gesetz nur dann Gültigkeit erlangt, wenn alle Betroffenen ihm unmittelbar und frei, also ohne äußeren Zwang und ohne Beeinflussung, zugestimmt haben. Insofern man davon ausgehen kann, dass niemand sich selbst ein Unrecht zufügen kann – volenti non fit iniuria –, wäre in einer solchen Gemeinschaft jedes Gesetz gerecht und entspräche dem Willen aller Mitglieder. Allerdings stellt sich die Frage, was geschehen soll, wenn ein Betroffener nach einer bestimmten Zeit seine Ansicht ändert. Kann diese Person dann eine erneute Abstimmung verlangen? Oder soll man voraussetzen, dass der ursprüngliche Wille der eigentliche Wille der betroffenen Person war, so dass der jetzige Wille, wenn er nicht mit dem ursprünglichen Willen übereinstimmt, automatisch jeden Anspruch auf Berücksichtigung verliert? Doch warum sollte ich meine Meinung nicht ändern dürfen? Schließlich war ich nicht allwissend, als ich der ursprünglichen Freiheitseinschränkung zugestimmt habe. In seinem Contrat social hat Jean-Jacques Rousseau die Ansicht vertreten, dass mein ursprünglicher Wille meinem jetzigen Willen normativ vorgeordnet werden muss, so dass, in einem Konfliktfall, mein jetziger Wille übergangen werden kann und muss. Die den Gesellschaftsvertrag schließenden Individuen handeln, so könnte man Rousseaus Hintergrundannahme zusammenfassen, in einem normativen Vakuum177, und die für sie verbindlichen Normen entstehen nur durch ihre je individuellen Willensentscheidungen. Diese bringen einen sowohl vom Individual- als auch vom Kollektivwillen unterschiedenen Allgemeinwillen hervor. Dieser Allgemeinwille ist fortan der höchste normative Referenzpunkt.178 Er definiert 177 Es ist natürlich kein absolutes normatives Vakuum, denn die Gleichheitsnorm wird vorausgesetzt, ebenso wie die Einhelligkeitsnorm: Jeder muss mit abstimmen dürfen und alle müssen einverstanden sein. Wer nicht zur Abstimmung zugelassen wird oder wer nicht einverstanden ist, kann nicht gezwungen werden, sich an die Vertragsklauseln zu halten. Er verbleibt im Naturzustand. Problematisch ist allerdings, wer zu den Gleichen gehören soll. Wer verfügt über das Recht zu entscheiden, dass man etwa erst ab achtzehn Jahren mit abstimmen darf? Oder dass z. B. Frauen nicht mit abstimmen dürfen – alles deutet darauf hin, dass beim Abschluss des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags die Frauen nicht mit dabei waren. 178 Autoren denen der voluntaristische Ansatz Rousseaus nicht gefällt, ersetzen den Allgemeinwillen durch die öffentliche Vernunft. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz hat David Enoch solche rationalistischen Ansätze kritisiert, u. a. mit dem Hinweis, dass man in modernen Gesell-

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die Freiheit der Individuen, und sollte der individuelle Wille eines Individuums in Gegensatz zum Allgemeinwillen treten, dann wird man dieses Individuum „zwingen […], frei zu sein“, wie es in einer auf den ersten Blick paradoxen Formulierung Rousseaus heißt (Rousseau 1974, S. 48).179 Wie das zweite Kapitel des vierten Buches des Contrat social zeigt, ist Rousseau sich durchaus der Probleme bewusst, die seine Theorie hervorruft. So lässt er einen fiktiven Opponenten die Frage stellen, wie man noch von Freiheit sprechen kann, wenn ein Mensch dazu gezwungen wird, sich Willensentscheidungen anzupassen, die ihm nicht als die seinigen erscheinen (Rousseau 1974, S. 151). Rousseau antwortet, dass durch die freie Zustimmung zum ursprünglichen Vertrag jedes Individuum sich dazu verpflichtet hat, sich dem sich in einer Abstimmung kund gebenden Willen der Mehrheit zu unterwerfen. Bei einer Abstimmung, so Rousseau, fragt man die Abstimmenden nicht, ob sie den Gesetzesvorschlag gut finden oder nicht, sondern ob er dem Gemeinwillen entspricht oder nicht. Es sind also nicht die partikularen Vorlieben der abstimmenden Individuen, die ihre Abstimmung bestimmen, sondern der Gemeinwille. Die Frage ist nicht, ob ich das Gesetz will, sondern ob der Allgemeinwille es will. Die abstimmenden Individuen müssen demnach immer den Standpunkt des Allgemeinwillens einnehmen und ihre Partikularinteressen vergessen. Indem jeder den allgemeinen Standpunkt einnimmt, nimmt jedes Individuum den Standpunkt eines jeden anderen Individuums ein. Wenn es unter diesen Umständen zu unterschiedlichen Abstimmungen kommt, wenn also bestimmte Individuen den Gesetzesvorschlag ablehnen, während andere ihm zustimmen, dann bedeutet das, dass zumindest ein Teil der Abstimmenden sich irrt, denn ein und derselbe Gesetzesvorschlag kann nicht gleichzeitig mit dem Allgemeinwillen übereinstimmen und nicht übereinstimmen. Rousseau, der den Allgemeinwillen vom Mehrheitswillen konzeptuell unterscheidet, scheint hier kein anderes brauchbares Kriterium zu haben, als das der Mehrheit: Man sollte von der Vermutung ausgehen, dass die Mehrheit immer recht hat.180 Wenn ich demnach in der Minderheit bin, dann habe ich mich geirrt. Mein irrender Wille kann aber nicht für sich beanspruchen, gesetzgebend zu sein. Dies kann nur mein im Allgemeinwillen enthaltener Wille tun. Diesen Willen hat aber die Mehrheit ausgedrückt, so dass ich mich, wenn ich mich dem Willen der Mehrheit unterwerfe, nur meinem eigenen Willen unterwerfe. Dies setzt allerdings voraus, schreibt Rousseau, „dass alle Merkmale des Allgemeinwillens noch in der Pluralität vorhanden sind: Wenn sie aufhören, dort vorhanden zu sein, dann gibt es keine Freiheit mehr, welche Partei man auch ergreift“ (Rousseau 1974, S. 152). schaften niemals etwas finden wird, worüber sich alle einigen können bzw. das allen Betroffenen als gerechtfertigt erscheinen kann (Enoch 2015). Auch wenn man Enoch in vielen Punkten zustimmen kann, so sollte man doch, was er nicht tut, zwischen einem konstitutiven und einem regulativen Gebrauch der Idee einer öffentlichen Vernunft unterscheiden. Den absoluten Konsens wird es sicherlich nie geben. Aber man sollte trotzdem so tun, als würde man ihn anstreben. 179 Zu dieser Formel, siehe etwa Plamenatz 2000. 180 Der belgische Karikaturist Philippe Gelück lässt seinen Chat – eine anthromorphisierte Katze – in einer Karikatur sagen: „Die Mehrheit hat immer recht. Und wenn sie unrecht hat, dann hat sie recht, unrecht zu haben“.

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Obwohl Rousseau sich in vielen Hinsichten von den klassischen liberalen Denkern unterscheidet181, so teilt er doch mit ihnen die Sorge, das Individuum vor der Willkür seinesgleichen zu schützen, mag es die Willkür von Privatpersonen, die Willkür der gesetzgebenden Mehrheit oder die Willkür der sich nicht auf eine Mehrheitsentscheidungen stützenden Regierenden sein. Der Allgemeinwille dient ihm dabei als Gegenpol zur Willkür. Solange die Menschen darum bemüht sind, den Standpunkt des Allgemeinwillens einzunehmen und dieses der Mehrheit auch gelingt182, dann ist niemals jemand der Willkür seinesgleichen unterworfen. Dann kann auch von jedem behauptet werden, dass er frei ist – mag man ihn auch zu dieser Freiheit zwingen. Für die allermeisten politischen Denker vor Rousseau, war nicht der Allgemeinwille der objektive, sich der individuellen Willkür entgegenstellende normative Referenzpunkt, sondern dieser Referenzpunkt waren die natürlichen und göttlichen Gesetze. Für die vorrousseauchen Denker – aber auch noch für viele Denker nach Rousseau – war die Frage demnach, wie man die Inhaber der politischen Macht dazu bringen konnte, sich an die natürlichen und göttlichen Gesetze zu halten bzw. nur Gesetze zu erlassen, die den natürlichen und göttlichen Gesetzen entsprachen oder ihnen zumindest nicht widersprachen. Für viele dieser Denker war das politische Gemeinwesen darüber hinaus auch gottgewollt. Dabei strichen liberale Denker wie Locke hervor, dass Gott der weltlichen Autorität im politischen Gemeinwesen keinen anderen Zweck zuschreiben wollte, als nur für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Der Kirche oblag es, sich des übernatürlichen Wohls anzunehmen, der Staat sollte seine Aufgabe auf das rein irdische Wohl beschränken. Aus der Tatsache, dass die politische Gemeinschaft und der Staat gottgewollt sind, folgt noch nicht automatisch, dass sich die politische Gemeinschaft und der Staat um die Erreichung jenseitiger Zwecke kümmern sollen. Wenn von der Legitimierung der politischen Macht durch Rückgriff auf Gott gesprochen wird, denken viele nur an den Aspekt der Legitimierung gegenüber den Untertanen: Wenn die politische Macht gottgewollt ist, dann darf kein Untertan sich gegen sie auflehnen oder ihr widerstehen, da dies einem Widerstand gegen Gott gleichkäme. Das politische Verbrechen der Revolte ist dann zugleich auch ein religiöses, und die sich Auflehnenden müssen nicht nur mit einer irdischen, sondern auch mit einer jenseitigen Sanktion rechnen. In dieser Hinsicht kann eine religiöse Rechtfertigung der politischen Macht zu deren Sakralisierung und damit auch zu deren Festigung führen. Während die Regierenden die Religion schützten, schützte die Religion die Regierenden.

181 Und einige von ihnen, wie etwa Constant, werden in der Rousseauschen Demokratie nicht das Vorbild eines liberalen, sondern vielmehr eines absoluten Staates sehen, mag es sich auch um eine absolute Demokratie handeln. Der Fehler Rousseaus war es, so Constant, von einem gänzlichen Verzicht der individuellen Rechte zu Gunsten der Gemeinschaft gesprochen zu haben (Constant 1997, S. 49). Der Allgemeinwille ist zwar sicherlich eine notwendige, aber er ist dafür noch keine hinreichende Legitimitätsbedingung (Constant 1997, S. 51). 182 Wobei die Mehrheit aber kein von ihrer faktischen Existenz als Mehrheit unabhängiges Kriterium hat, um festzustellen, dass ihr Wille dem Allgemeinwillen entspricht.

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Man sollte aber nicht übersehen, dass eine religiöse Rechtfertigung der politischen Macht diese in einen normativen Rahmen setzt, durch den ihr Grenzen gesetzt sind. Der Träger der politischen Macht hat unter diesen Umständen nicht nur Rechte, sondern er hat auch Pflichten. Und unabhängig von der Frage, ob man diese Pflichten als unmittelbare Pflichten gegen die Untertanen oder nur als Pflichten gegen Gott in Ansehung der Untertanen betrachtet, so obliegt es dem Inhaber der politischen Macht, diese Pflichten zu erfüllen, und er wird sich dafür vor Gott rechtfertigen müssen. Mag auch keine irdische Instanz dazu befugt sein, den seine politische Pflicht nicht erfüllenden oder ihr gar zuwider handelnden Herrscher zu bestrafen, so besitzt Gott, als oberster Inhaber der politischen Souveränität – deren Ausübung er höchstens an den irdischen Herrscher delegiert hat, ohne je gänzlich auf sie zu verzichten – das Recht, die politischen Herrscher zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Aussicht, sich eines Tages vor Gott rechtfertigen zu müssen, wurde während Jahrhunderten als ein Motiv angeführt, durch das sich die Regierenden bei der Ausübung der ihnen anvertrauten politischen Macht leiten lassen sollten. Gott wollte, dass die Menschen im Sinne des Gemeinwohls geleitet werden, und die politische Macht war das Mittel, durch das dieses Ziel in einer unvollkommenen Welt verfolgt werden konnte. Mussten die Untertanen vornehmlich durch die Angst vor irdischen Sanktionen auf dieses Allgemeinwohl hin orientiert werden, so musste der Herrscher sein Handeln, wenn nicht schon, wie es der Idealfall hätte sein sollen, durch die Achtung vor Gott, auf dieses Ziel orientieren, so doch zumindest durch die Angst vor einer göttlichen Sanktion. Hatte der Fürst also auch, wie es der Absolutismus noch einmal und mit aller Klarheit im XVII. Jahrhundert betonen sollte, keine irdische Macht über sich stehen183, die ihn wegen des Missbrauchs seiner politischen Macht hätte bestrafen können, so stand doch Gott über ihm, und ein Missbrauch der den Menschen von Gott anvertrauten politischen Macht konnte durch eine göttliche Strafe geahndet werden. Die Bestrafung des tyrannischen Fürsten muss dabei nicht erst im Jenseits erfolgen. Prinzipiell lässt sich auch die Möglichkeit einer irdischen Strafe denken. Insofern Gott, direkt oder indirekt, in das irdische Geschehen eingreift, kann er die Projekte eines tyrannischen Fürsten unmittelbar vereiteln, oder er kann sich eines Individuums oder einer großen Menge bedienen, um den Tyrannen zu stürzen. Denn auch wenn es den Individuen untersagt ist, sich gegen ihren weltlichen Herrscher aufzulehnen, ist eine solche Auflehnung, wenn Gott sie ausdrücklich befiehlt oder erlaubt, keine bloß menschliche Handlung mehr, sondern eine Handlung, bei welcher das menschliche Individuum – oder die Menge – sich sozusagen in ein Instrument Gottes verwandelt.184 183 Im ausgehenden Mittelalter versuchten zwar einige Päpste – genannt seien hier nur Innozenz III. und Bonifaz VIII. –, ihre Souveränität über die weltlichen Herrscher auch in weltlichen Angelegenheiten zu behaupten, aber es gelang ihnen nicht, diesen Souveränitätsanspruch durchzusetzen. Siehe hierzu allgemein, mit zahlreichen Quellentexten, Tierney 1964; zu Innozenz III, Powell 1994; zu Bonifaz VIII. und seinem Konflikt mit Philipp dem Schönen, Scholz 1903 und Campagna (im Erscheinen). 184 So schreibt etwa Jean Calvin einerseits, dass es kein Widerstandsrecht gibt und dass Gott den Menschen befohlen hat, sich einer jeden irdischen Macht zu unterwerfen, wie tyrannisch diese

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In seinem Second Treatise greift John Locke den Gedanken eines „appeal to Heaven“ auf (Locke 1993, S. 282) und lässt dabei den mittelalterlichen Gedanken des Gottesurteils wieder aufleben.185 Wenn derjenige, dem das Volk die politische Macht anvertraut hat, diese Macht missbraucht, wenn er also eine gottgewollte und durch Gott geheiligte Funktion nicht so erfüllt, wie Gott sie erfüllt wissen wollte, dann darf das Volk sich gegen diese Person auflehnen. Die bewaffnete Revolution gleicht dann einer Art Zweikampf zwischen zwei Lagern, die keinen irdischen Richter über sich anerkennen. Der einzige Richter kann dann nur Gott sein, und von diesem Richter ist zu erwarten, dass er derjenigen Seite zum Sieg verhelfen wird, die für die Gerechtigkeit kämpft. Wenn man davon ausgeht, dass Gott die Menschen dazu bestimmt hat, freie Wesen zu sein, dass also die Freiheit ein Geschenk Gottes an den Menschen ist, und zwar ein Geschenk, auf das kein Mensch verzichten darf, dann ist diese Freiheit nicht bloß im konkreten, stets änderbaren Willen der Individuen verankert. Ob die Freiheit einen Wert hat oder nicht, hängt dann nicht mehr nur davon ab, ob der Mensch sie als einen Wert anerkennt. Insofern sie an sich einen Wert besitzt, muss der Mensch sie als wertvoll achten, und zwar sowohl in sich selbst als auch in den anderen. Wer unter diesen Umständen die Freiheit seiner Mitmenschen einschränkt, um dadurch seine eigenen Interessen zu fördern, vergeht sich nicht nur an seinen Mitmenschen, sondern zeigt zugleich, dass er Gott missachtet. Genauso wie man seit Jahrhunderten die politische Macht der Regierenden sakralisierte, um sie gegen mögliche Angriffe seitens der Untertanen zu schützen, wird nun die Freiheit sakralisiert. Die Bewahrung der Freiheit ist dann nicht nur etwas, was die Menschen wollen, sondern es ist etwas von dem Gott will, dass die Menschen es wollen.186 Der Mensch hat nicht das Recht, die Achtung seiner Freiheit zu verlangen, sondern auch sein mag (Calvin 2009, S. 1426), meint aber andererseits, dass es vorkommen kann, dass Gott, wie es der Fall bei Moses war, einige seiner Diener ausersucht, um sie zu Instrumenten seines Zorn zu machen und durch sie einen Tyrannen zu stürzen (Calvin 2009, S. 1429). Über diese Spannung in Calvins Denken, siehe u. a. Muller 2001, bes. S. 74. Auf diese Problematik bin ich in einem noch unveröffentlichten Vortrag anlässlich eines Kolloquims zum Lutherjahr eingegangen (N. Campagna, ‚La question de la résistance active à l’oppression dans la pensée politique de la Réforme‘). 185 Wenn die menschlichen Richter nicht ausmachen konnten, wer sich eines Verbrechens oder Vergehens schuldig gemacht hatte, wurde die Entscheidung Gott überlassen. Die am Streit beteiligten Parteien mussten sich dann – gegebenenfalls durch Stellvertreter, wenn eine Frau impliziert war – einen Zweikampf liefern, und es wurde angenommen, dass Gott die sich im Recht befindliche Partei siegen lassen würde. Es wurde dafür gesorgt, dass beide Parteien genau dieselben Waffen hatten. Der Grundgedanke war dabei folgender: Wenn A und B in allen relevanten Hinsichten gleich sind, so dass der Sieg des einen über den anderen nicht durch den Besitz besserer Waffen oder ähnliches erklärt werden konnte, dann blieb nur eine Möglichkeit, diesen Sieg zu erklären, nämlich durch die Beihilfe Gottes, der sich auf die Seite des Siegers gestellt und dadurch gezeigt hatte, wo das Recht lag. Im ausgehenden Mittelalter hat die Kirche den Rückgriff auf solche Kämpfe verboten. 186 Ottavio Sammarco hatte schon in einem zuerst 1629 auf Italienisch verfassten Werk darauf hingewiesen, dass es sehr gefährlich für die Fürsten ist, wenn ihre Untertanen eine – von der ihrigen verschiedene – Religion haben, vor allem wenn sie auch noch „voller republikanischer Ideen ist“ (Sammarco 1731, S. 169).

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er hat auch die Pflicht, sie zu verlangen. Wer aus der Freiheit ein anvertrautes und kein bloß subjektiv angestrebtes Gut macht, legt demjenigen, dem dieses Gut anvertraut wurde, die Pflicht auf, es in seiner Integrität zu bewahren. Er ist dann nicht als absoluter Eigentümer des Gutes zu sehen, sondern als Nutznießer.187 Wenn man des Weiteren davon ausgeht, dass die Regierenden an Gott glauben und u. a. von ihm glauben, dass er diejenigen nicht unbestraft lassen wird, die ihre politische Macht missbrauchen, indem sie die fundamentalen Freiheitsrechte der ihnen unterworfenen Menschen missachten, dann wird man annehmen können, dass die Regierenden ein hinreichendes Motiv haben, von einem Machtmissbrauch abzusehen, zumindest insofern sie über die Grenzen ihres bloß irdischen Lebens hinausdenken. Der Gedanke, dass der Glaube an Gott nicht nur ein Instrument ist, das die Herrschenden einsetzen können, um in ihren Untertanen jeglichen Widerstand zu unterbinden, sondern auch als ein Instrument benutzt werden kann, mit dem man die Herrschenden davon abhalten kann, ihre gesetzgebende Macht zur Erreichung rein egoistischer oder doch zumindest partieller, dem Allgemeinwohl widerstreitender Zwecke zu benutzen, wurde von vielen liberalen Autoren formuliert. So vergleicht etwa Montesquieu den religiösen Glauben mit einer Kette, die den Fürsten, den der Autor mit einem Löwen vergleicht, im Zaume hält und ihn daran hindert, seine faktische Macht auf eine zerstörerische Weise zu gebrauchen: „Ein Fürst, der die Religion liebt und der sie gleichzeitig fürchtet, ist ein Löwe, der der Hand nachgibt, die ihn streichelt, oder der Stimme, die ihn beruhigt; derjenige, der sie fürchtet und der sie gleichzeitig hasst, ist wie die wilden Bestien, die die Kette beißen die sie davon abhält, sich auf diejenigen zu werfen, die vorbeigehen; derjenige aber, der gar keine Religion hat, ist jenes schreckliche Tier, das seine Freiheit nur dann fühlt, wenn es zerreißt und auffrisst“ (Montesquieu EL XXIV, 2, S. 715–6). Montesquieu unterscheidet hier drei Fälle, und zwar: (a) ein Fürst der Gott liebt und ihn fürchtet (b) ein Fürst der Gott hasst und ihn fürchtet (c) ein Fürst der nicht an Gott glaubt

In dieser Aufzählung fehlt der Fall eines Fürsten, der Gott liebt und allein schon aus dieser Liebe heraus die göttlichen Gesetze respektiert. Montesquieu dachte vielleicht, dass ein solcher Fürst gar nicht existiert, so dass es müßig ist, ihn zu berücksichtigen. Somit behält er nur drei Fälle zurück, von denen die beiden ersten das Motiv der Furcht erwähnen, während beim dritten, weil in ihm der Glaube an Gott fehlt, auch die Furcht vor Gott nicht vorkommt. Während in den beiden ersten Fällen der Fürst durch die Furcht davon abgehalten wird, seinen Mitmenschen zu schaden, fehlt dieses Motiv im dritten Fall, und der dort erwähnte Fürst ist dem wilden Tier vergleichbar, das, nachdem es sich von seiner Kette befreit hat, die Menschen angreift und tötet. Der Idealfall ist der erste, da hier beim Wegfallen der Furcht immer noch das Motiv der Liebe übrigbleibt. Fällt beim zweiten Fall das

187 So wird auch oft behauptet, dass die Natur dem Menschen nur anvertraut wurde und dass er sich nicht als deren Eigentümer, ausgestattet mit einem ius utendi et abutendi, ansehen sollte.

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Motiv der Furcht weg, so kann der Hass, weit davon entfernt, den Fürst vor kriminellen Handlungen zu bewahren, ein Ansporn für solche Handlungen sein. Der schrecklichste Fall ist in Montesquieus Augen aber der dritte. Montesquieu sieht im religiösen Glauben die einzige Bremse, die auf diejenigen wirken kann, die keine Angst vor den menschlichen Gesetzen zu haben brauchen – wie es bei absoluten Fürsten der Fall ist – und denen auch keine furchterregende irdische Macht gegenüber steht. Während die Untertanen durch die Angst vor einer Bestrafung durch den Fürsten im Zaume gehalten werden, braucht der Fürst keine irdische Bestrafung zu befürchten, da er derjenige ist, der allein das Recht hat, hier auf Erden zu bestrafen. Wenn man unter diesen Umständen davon ausgeht, dass der Mensch sich nur durch die Furcht vor einer möglichen Bestrafung davon abhalten lässt, seinen Begierden und Leidenschaften nachzugehen und den Menschen dabei Böses zuzufügen, dann scheint es der Fall zu sein, dass nur die Furcht vor einer göttlichen Bestrafung den Fürsten dazu motivieren kann, seine Begierden und Leidenschaften zu zähmen. Wem rein eigennützige Motive nicht edel genug sind, kann sie durch den Respekt vor Gott und seiner Vollkommenheit ersetzen bzw. durch das Motiv der Liebe, das ja auch bei Montesquieu genannt wird. Wer an Gott glaubt, respektiert ihn als vollkommenes Wesen. Insofern dieses vollkommene Wesen den Menschen die Freiheit geschenkt hat, ist auch die Freiheit respektwürdig. Wenn der Herrscher demnach Gott respektieren will, dann muss er auch die menschliche Freiheit respektieren. Dieser Respekt braucht sich nicht unbedingt auf die Furcht vor einer göttlichen Bestrafung zu stützen, sondern kann auch ein unmittelbarer Ausfluss der menschlichen Liebe Gott gegenüber sein. Aus dem was Montesquieu sagt, kann man schließen, dass es für die Untertanen besser ist, wenn der über sie herrschende Fürst an Gott glaubt. In einer Erbmonarchie haben die Untertanen keinen Einfluss auf die Bestimmung des Herrschers und somit auch nicht auf dessen religiösen Glauben. Anders sieht es in einem Staat aus, in welchem der oder die Herrschenden vom Volk gewählt werden – wobei es keine Rolle spielt, ob es sich um eine Wahlmonarchie oder eine Republik handelt. Hier liegt es in der Hand der wählenden Bürger, ob ihre Herrscher religiös sein werden oder nicht. Dies setzt allerdings voraus, dass sie eine Möglichkeit haben, sich des religiösen Glaubens der Kandidaten zu vergewissern. Die Frage nach einem religiösen Test für diejenigen, die die öffentlichen Angelegenheiten führen sollten, wurde im Rahmen der Debatten um die Annahme der amerikanischen Verfassung aufgeworfen. Einen solchen Test gab es in England, jenem Land also, das die Puritaner im XVII. Jahrhundert verlassen hatten und das für die Amerikaner des ausgehenden XVIII. Jahrhunderts nicht nur mit politischer Unterdrückung der Kolonien, sondern auch mit religiöser Intoleranz assoziiert war. Die Verfassungskonvention in Philadelphia hatte den Gedanken eines religiösen Tests für die Kandidaten für öffentliche Ämter abgelehnt, vor allem weil ein solcher Test für viele Mitglieder der Konvention die Gefahr der religiösen Intoleranz oder doch, wie wir heute sagen würden, der religiösen Diskriminierung in sich trug.

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Aber, so Luther Martin188, der selbst an den Debatten teilgenommen hatte und sich insofern in seiner Aussage mitmeint, „es gab einige Mitglieder, die so unmodisch (unfashionable) waren, dass sie dachten, der Glaube an die Existenz eines Gottes und an einen Zustand zukünftiger Belohnungen und Bestrafungen würde eine Art Garantie für ein gutes Benehmen unserer Herrscher sein“ (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 382). Luther Martin zu Folge kann man nur einer Person politische Macht anvertrauen, von der man soweit wie möglich sicher sein kann, dass sie diese Macht nicht missbrauchen wird. Die in seinen Augen beste Garantie gegen einen solchen Machtmissbrauch bietet die Gottesfurcht, also die Furcht vor zukünftigen jenseitigen Bestrafungen bzw. die Hoffnung auf zukünftige Belohnungen. Also ist es im Interesse eines politischen Gemeinwesens das seine Freiheit bewahren will, einen religiösen Test von den Kandidaten zu verlangen. Dieser religiöse Test sollte aber eine Minimalform annehmen, d. h. es sollte nicht vom Herrscher verlangt werden, sich zu den Dogmen einer bestimmten Variante des Christentums zu bekennen – wie es der Fall in England war –, sondern es genügte, dass er behauptete, an ein zukünftiges Leben und an einen bestrafenden und belohnenden Gott zu glauben. Ein anderer Antiföderalist weist darauf hin, dass ein Mensch, der nicht an Gott und nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt, die menschlichen Gesetze weniger achten wird als ein Mensch, der diesen Glauben hat (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 383). Ein liberales Gemeinwesen setzt aber die strikte Achtung der Gesetze voraus und erhebt die Herrschaft des Gesetzes – im Gegensatz zur Herrschaft der Willkür – zum Prinzip. Und es geht in einem nach den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit funktionierenden Gemeinwesen nicht nur darum, dass die einfachen Bürger sich an die Gesetze halten, sondern auch und vor allem, dass die politischen Mandatsträger dies tun. Und diese sollen sich nicht bloß an diejenigen Gesetze halten, an die sich auch die einfachen Bürger halten – etwa an die Straßenverkehrsordnung –, sondern auch und vor allem an diejenigen Gesetze, die das Funktionieren der Institutionen regeln – also an den Kern des öffentlichen Rechts. Will man also, dass die politischen Mandatsträger und ihre Beamten die Gesetze achten, so wird man von ihnen verlangen müssen, dass sie an Gott glauben, da die Angst vor einer göttlichen Bestrafung sie dann davon abhalten wird, das gesetzmäßige durch ein rein willkürliches Handeln zu ersetzen. Und nur wenn man kein willkürliches Handeln seitens der politischen Macht zu befürchten hat, kann man behaupten, in einem freien Staat zu leben. Oder noch anders formuliert: Wenn man, wie Montesquieu, davon ausgeht, dass die Freiheit in der Meinung besteht, die man von seiner Sicherheit hat, dann wird die Meinung, dass die Regierenden an einen belohnenden und bestrafenden Gott glauben, die Meinung betreffend die eigene Sicherheit, und damit auch die Freiheit, unterstützen. Und was kann besser als ein religiöser Test die Meinung begründen, dass die Regierenden bzw. die Kandidaten für öffentliche Ämter an einen solchen Gott glauben? Der religiöse Test wird hier nicht mehr als ein Mittel 188 Luther Martin war einer der Hauptexponenten der sogenannten Antiföderalisten. Für die Antiföderalisten verlieh der in Philadelphia ausgearbeitete Verfassungsentwurf dem Zentralstaat eine zu starke Macht gegenüber den die zukünftige Föderation ausmachenden Einzelstaaten. In ihren Augen sollte Amerika sich nicht von der englischen Monarchie befreien, um sich einer amerikanischen Monarchie zu unterwerfen.

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konzipiert, die Mitglieder bestimmter Religionen zu diskriminieren, sondern die Freiheit aller Bürger zu garantieren. Sollte eine Diskriminierung stattfinden, so ist sie nicht als Zweck gewollt, sondern wird als nicht beabsichtigte Nebenwirkung in Kauf genommen. Es ist interessant zu sehen, dass auch die Gegner eines religiösen Tests dem Gottesglauben der Regierenden eine wichtige Funktion zuweisen. Ihre Zurückweisung eines religiösen Tests beruht u. a. auf der Möglichkeit einer Täuschung seitens der Deklaranten189, und nicht auf der Prämisse, dass der Glaube der Herrschenden an einen belohnenden und bestrafenden Gott völlig irrelevant ist für das politische Leben. Wer, so ihre Überlegung, nicht an Gott glaubt, kann trotzdem so tun, als glaube er an Gott, zumal wenn er sich dadurch einen persönlichen Vorteil verschaffen und einen wichtigen politischen Posten bekleiden kann. Und da er nicht an einen strafenden Gott glaubt, glaubt er auch nicht, dass er für seinen vorgetäuschten Glauben im Jenseits bestraft werden wird. Ein religiöser Test ist insofern kein zuverlässiges Instrument und er bietet nicht die von ihm erwartete Garantie. Iredell will keinen religiösen Test und appelliert an das wohlverstandene Interesse seiner Landsleute bei der Wahl: „Aber man wird nie annehmen dürfen, dass das amerikanische Volk die Rechte, die es am meisten schätzt, an Personen übertragen wird, die gar keine Religion haben oder eine Religion, die sich in substantieller Weise von ihrer Religion unterscheidet“ (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 395).190 Das setzt natürlich voraus, dass die Wähler über den religiösen Glauben der Kandidaten informiert sind. Wenn ein religiöser Test nicht in Frage kommt, um ihnen diese Information zu liefern, dann werden sie die Lebensweise des Kandidaten, seine öffentlichen Aussagen, usw. als Informationsquelle benutzen müssen. Thomas Jefferson wird einige Jahre später, als er sich für das Präsidentenamt bewirbt, zur Zielscheibe einer religiös motivierten Kritik. Ein gewisser William Linn veröffentlicht im Jahre 1800 ein ‚Serious Considerations on the Election of a President: Adressed to the Citizens of the United States‘ überschriebenes Pamphlet, in dem er verlangt, dass die amerikanischen Bürger sich von Jefferson abwenden: „Weil er nicht an die Heiligen Schriften glaubt und wegen seiner Versuche, ein schlechtes Licht auf sie zu werfen, sollte man ihn von der Präsidentschaft ausschließen“(in: Dreisbach and Hall 2009, S. 480). Eine Karikatur aus derselben Zeit zeigt einen Adler, der Jefferson die amerikanische Verfassung aus den Händen reißt, bevor dieser sie auf dem „Altar to Gallic Despotism“ opfern kann (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 487). Als Deist und als jemand, der Sympathien für die Französische Revolution hatte, war Thomas Jefferson in doppelter Hinsicht suspekt. Insofern der Deismus einen Gott postuliert, der die Welt am Anfang in Gang gesetzt hat, sich danach aber nicht mehr um sie kümmert, und dementsprechend auch nicht mit jenseitigen Strafen gedroht hat, kann er seine Anhänger nicht durch die Angst vor einer jenseitigen Bestrafung dazu motivieren, die in der Verfassung festgehaltenen Rechte und Freiheiten zu respektieren. Der Deist, genauso wie der 189 So Oliver Ellsworth im Connecticut Courant (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 378). Derselbe Ellsworth verlangt auch, dass man den Atheismus bekämpfen soll. 190 Iredell spricht von „a religion materially different“. Damit meint er sicherlich eine Religion, in der es keinen nach den Prinzipien der Gerechtigkeit strafenden und belohnenden Gott gibt.

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Atheist, sind somit beide eine Gefahr für die Freiheit. Die Freiheit, so das Argument, kann nur dann als wirksam gesichert gelten, wenn die Herrschenden zumindest an Belohnungen und Bestrafungen nach dem Tod glauben und diese von den Handlungen abhängig machen, die sie zu Gunsten oder zum Schaden der Freiheit ausgeführt haben. Es genügt nicht zu glauben – wie es die Deisten durchaus tun können –, dass Gott dem Menschen unveräußerliche Rechte verliehen hat, unter ihnen das Recht, in Freiheit zu leben, sondern man muss auch glauben, dass Gott die Menschen für ihren Umgang mit diesen Rechten zur Rechenschaft ziehen wird. In den hier vorgestellten Fällen geht es nur indirekt um das ewige Seelenheil des Herrschenden. Dieser soll nicht an einen seinen Machtmissbrauch strafenden Gott glauben und dementsprechend von einem solchen Machtmissbrauch absehen, weil er dadurch das ewige Seelenheil erlangen wird. Die Sorge um das ewige Seelenheil der Herrschenden erhält Relevanz nur vor dem Hintergrund der Sorge um die irdische Freiheit der Bürger. Diese Freiheit ist am besten dort garantiert, wo die Herrschenden sich um ihr ewiges Seelenheil sorgen, also dort, wo sie an einen belohnenden und bestrafenden Gott glauben. Während der politische Absolutismus vor allem den Nutzen des religiösen Glaubens des Volkes für die Bewahrung der politischen Macht hervorgestrichen hatte, streicht der politische Liberalismus in erster Linie den Nutzen des religiösen Glaubens der Regierenden für die Bewahrung der Freiheit der Bürger hervor. Wurde der religiöse Glaube bislang primär als ein Instrument der politischen Herrschaft konzipiert, so wird er fortan als ein Instrument des Schutzes gegen diese politische Macht, und damit als Instrument zum Schutz und zur Förderung der politischen Freiheit, gedacht. Mag es auch noch immer wichtig sein, dass das Volk an Gott glaubt, so ist es genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger, dass die Herrschenden an Gott glauben. Tocqueville hat in diesem Zusammenhang die amerikanischen mit den – allerdings ohne sie zu nennen – französischen Revolutionären kontrastiert. In Amerika, so Tocqueville, findet man keinen Revolutionär, der die These vertritt, dass im Interesse der Gesellschaft alles erlaubt ist, also auch die Verletzung der elementarsten moralischen Regeln. Und Tocqueville fährt fort: „So ergibt sich, dass in demselben Zeitpunkt, in dem das Gesetz dem amerikanischen Volk erlaubt, alles zu tun, die Religion es daran hindert, sich alles vorzustellen, und sie verbietet ihm, alles zu tun“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 306). Hier ist nicht klar, inwiefern Tocqueville behaupten kann, dass das Gesetz dem amerikanischen Volk alles erlaubt. Die Behauptung ergibt nur dann einen Sinn, wenn wir voraussetzen, dass das Verb „erlauben“ nicht in einem normativen Sinn zu verstehen ist, sondern im Sinne von „faktisch ermöglichen“. Tocqueville könnte dann sagen wollen, dass das bloße menschliche Gesetz, und sei es auch die Verfassung, das amerikanische Volk nicht davon abhält, es zu verletzen. Es sorgt nicht für seine eigene Einhaltung. Wenn demnach eine große Mehrheit des amerikanischen Volkes eine Minderheit unterdrücken wollte, dann könnte die Verfassung sie nicht daran hindern, und es gäbe auch keine Macht auf Erden, die sich ihr in den Weg

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stellen könnte.191 In dem Sinne ist die Demokratie allmächtig und sie kann alles tun.192 Aber die Religion, und das ist der Punkt, auf den Tocqueville hinauswill, hält die demokratische Mehrheit davor zurück, ihre faktische Macht auszuüben und die Minderheit zu unterdrücken. Es gibt bestimmte Dinge, so Tocqueville, die sich eine gläubige Mehrheit nicht einmal vorstellen kann. Und selbst wenn sie sich diese Dinge vorstellen könnte, so würde sie davon absehen, sie in die Praxis umzusetzen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es der Respekt vor Gott oder die Angst vor ihm ist, die sie zurückhält. Wichtig ist nur, dass die Religion dem politischen Handeln einen Rahmen setzt, den es nicht überschreiten darf. Indem sie das tut, garantiert sie die menschliche Freiheit vor dem willkürlichen Handeln der Herrschenden, auch dort, wo nicht einzelne Menschen herrschen, sondern die Mehrheit bzw. einzelne Menschen im Auftrag oder im Namen der Mehrheit. Während ein absoluter Fürst die Mehrheit seines Volkes gegen sich haben kann und schon allein aus Angst vor dieser Mehrheit davon absieht, tyrannisch zu herrschen, kann in einer Demokratie nicht mit der Angst vor der Mehrheit gerechnet werden, da in der Demokratie die Mehrheit bestimmend ist und die Mehrheit nur selten Angst vor sich selbst hat. Gesetze und sonstige Institutionen können dieser Mehrheit zwar Grenzen setzen, aber diese Grenzen können die Mehrheit nicht aufhalten, wenn sie sich über sie hinwegsetzen will. Wenn man demnach davon überzeugt ist, wie es für Tocqueville der Fall ist, dass dem Willen der Mehrheit Grenzen gesetzt werden müssen, wenn man des Weiteren davon überzeugt ist, dass diese Grenzen nicht einfach institutioneller Natur sein können, und wenn man drittens die Möglichkeit ausschließt, dass ein internationales Gremium darüber wacht, dass die dem Willen und Handeln der Mehrheit gesetzten Grenzen eingehalten werden, dann scheint man nur noch eine Möglichkeit zu haben, wirksame Grenzen für diesen Willen zu konzipieren, nämlich religiöse Grenzen, verbunden mit dem Gedanken eines über die Einhaltung dieser Grenzen wachenden Gottes.193 Die Religion setzt also dem menschlichen Denken einen Rahmen, innerhalb dessen sich bestimmte Dinge einfach nicht vorstellen lassen. Wer in der Freiheit ein Geschenk Gottes sieht – und an Gott glaubt –, wird nicht einmal auf den Gedanken kommen, diese Freiheit zu verletzen. Auch wenn es prinzipiell eine Unendlichkeit von Handlungsoptionen gibt, so wird sich jeder Mensch immer nur einer Teilmenge dieser Optionen bewusst, und es ist jeweils sein Weltbild das darüber bestimmt, 191 Das Oberste Gericht könnte sicherlich ein mehrheitlich verabschiedetes Gesetz für verfassungswidrig erklären, aber es besitzt nicht die faktische Macht, die Mehrheit des Volkes dazu zu zwingen, sein Urteil auch zu respektieren. Seine Macht reicht eigentlich nicht weiter als der Respekt, den man ihm entgegenbringt. 192 Vom englischen Parlament hieß es, es könne alles tun, nur nicht, einen Mann in eine Frau verwandeln. Konnten die drei das Parlament bildenden Elemente – König, Adlige und Klerus, Vertreter des Bürgertums – sich gegenseitig neutralisieren, so gab es keine Macht, die sich gegen ihren geeinten Willen behaupten konnte. 193 Dort wo die Souveränität in den Händen des Volkes liegt, so John Witherspoon in einer Predigt aus dem Jahr 1782, kann die bürgerliche Freiheit nicht lange ohne die Tugend bewahrt werden, und ohne die Religion kann die Tugend nicht bewahrt werden (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 289).

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welche Teilmenge ihm bewusst wird. Insofern schränkt die Religion unsere Denkund Willensfreiheit ein, und zwar nicht durch explizite Verbote, sondern dadurch, dass bestimmte Dinge einfach nicht konzipiert oder gedacht werden können. Die Religion sticht dem Volk insofern einen Denkraum ab. Und wenn die Freiheit einen zentralen Platz in diesem Denkraum einnimmt, dann wird es schwer sein, an Maßnahmen zu denken, die diese Freiheit verletzen oder gar zerstören. Wer innerhalb eines bestimmten Rahmens denkt, kommt oft nicht einmal auf den Gedanken, etwas Bestimmtes zu tun, weil dieser Gedanke im Widerspruch mit den zentralen Annahmen seines Denkrahmens steht. Doch kann man wirklich mit der Religion rechnen? Kann man wirklich noch davon ausgehen, dass die herrschende Mehrheit davon ablassen wird, die Rechte der Minderheit zu verletzen, weil sie in den individuellen Freiheitsrechten ein göttliches Geschenk sieht? Wird die – tatsächliche oder selbsternannte – Mehrheit ihr politisches Recht, das sie auf Grund des Dogmas der Souveränität des Volkes besitzt und das keine irdische Macht ihr streitig machen kann, nicht missbrauchen und sich über die Rechte der Minderheit hinwegsetzen, wie es die Revolutionäre in Frankreich zur Zeit der Terreur taten? An einer Stelle der Démocratie stellt Tocqueville fest, dass die Religionen sich abschwächen und dass auch die göttliche Auffassung der Rechte dabei ist, zu verschwinden. Die moralische Auffassung der Rechte, d. h. die Verankerung der Rechte in einer bestimmten Lebensweise, tendiert ebenfalls dazu, zu verschwinden. Angesichts dieser Situation schreibt Tocqueville: „Seht ihr nicht, wie auf allen Seiten der Glaube den Räsonnements Platz macht, und die Gefühle dem Kalkül? Wenn es euch mitten in dieser allgemeinen Erschütterung nicht gelingt, die Idee der Rechte mit dem persönlichen Interesse zu verknüpfen, das sich noch als einziger unbeweglicher Punkt im menschlichen Herzen anbietet, was wird euch dann noch übrig bleiben, um die Welt zu regieren, wenn nicht die Angst?“ (Tocqueville OC I, 1, II, 4, S. 249). Wovor kann aber das Volk oder die überwältigende Mehrheit des Volkes in einer Demokratie Angst haben? Von ihm gilt die Passage aus dem Buch Hiob, die auf der Titelseite von Hobbes’ Leviathan steht, weit mehr als von den absoluten Königen: „Es gibt keine Macht auf Erden, mit welcher man die seinige vergleichen kann“. Wenn nun dieses Volk die Angst – oder den Respekt – vor einem allmächtigen Gott verliert, weil es nicht mehr an einen solchen Gott und an eine mögliche Bestrafung glaubt, und wenn es darüber hinaus nicht mehr aus Respekt für deren intrinsischen Wert die Rechte der Minderheit unverletzt lässt, dann scheint wirklich nur noch der Appell an das wohlverstandene Interesse übrig zu bleiben. Das Volk bzw. die Mehrheit des Volkes muss also einsehen, dass es nicht in seinem bzw. ihrem Interesse ist, die Rechte der Minderheit zu verletzen. Oder genauer ausgedrückt, jedes Mitglied der Mehrheit muss dies einsehen, so dass sich erst gar keine Mehrheit bilden kann, die eine Rechtsverletzung gutheißt. In seinem Aufsatz ‚Braucht Deutschland ein neues Religionsverfassungsrecht?‘, schreibt Schnabel, die Präsenz Gottes in der Präambel des Deutschen Grundgesetzes sei als eine Leerstelle zu betrachten, „um jedwedem Absolutheitsanspruch staatlicher Ordnung eine Grenze zu ziehen“ (Schnabel 2015, S. 133).

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Teil III: Die Religion im Dienst des Liberalismus

Gott, so könnte man sagen, fungiert hier als politischer Grenzbegriff, durch den verhindert werden soll, dass aus der bloß regulativen Idee der Volkssouveränität eine konstitutive Idee wird. Es geht nicht darum, dem Volk als solchen das Recht abzusprechen, souverän über sich selbst zu entscheiden, sondern jedes bestimmte, empirisch gegebene Volk soll daran erinnert werden, dass es sich nicht mit dem Volk identifizieren darf. Dass die Leerstelle mit dem Begriff Gottes besetzt wird, hat kulturelle Gründe. Anstatt diesen Begriff ontologisch zu deuten, sollte man ihn vielmehr, so meine These, funktionalistisch interpretieren. Die Verfassungspräambel sollte also nicht so interpretiert werden, dass sie die Existenz Gottes behauptet, sondern in dem Sinne, dass sie das Volk daran erinnert, dass es sich niemals selbst als Gott betrachten darf. Keine auch noch so große Mehrheit kann für sich das Recht beanspruchen, allmächtig zu sein. Damit wird zwar anscheinend das Grundprinzip der Demokratie oder der Volkssouveränität verletzt, aber dies ist m. E. nur ein Schein: Die ersten großen Denker der Volkssouveränität dachten diese immer vor dem Hintergrund eines natürlichen oder göttlichen Gesetzes, durch das der Macht des Volkes Grenzen gesetzt wurden. Das Volk war souverän, aber immer nur unter Gott. Gott steht dabei für den Gedanken einer Transzendenz, einer Instanz, die dem immer nur empirisch gegebenen Willen des Volkes oder der Mehrheit übergeordnet ist. In den Vereinigten Staaten, so Tocqueville, „herrscht das Volk über die amerikanische politische Welt wie Gott über das Universum. Es ist die Ursache und der Zweck aller Dinge; alles geht aus ihm hervor und geht in es zurück“ (OC I, 1, I, 4, S. 56). Aber das Volk oder die Mehrheit des Volkes ist nicht Gott und die Souveränität des Volkes unterscheidet sich insofern von der Souveränität Gottes, dass es eine Appellinstanz gegen Entscheidungen des Volkes gibt: „Wenn ich es ablehne, einem ungerechten Gesetz zu gehorchen, leugne ich der Mehrheit nicht das Recht zu befehlen ab; ich appelliere nur von der Souveränität des Volkes an die Souveränität des menschlichen Geschlechts“ (OC I, 1, II, 7, S. 262). Wie mächtig das Volk auch immer sein mag, so darf es doch niemanden jener Rechte berauben, die mit seiner Menschheit oder seinem Menschsein verbunden sind.

TEIL IV: DER LIBERALE STAAT UND DIE RELIGION

EINLEITUNG Wenn die Religion, wie im vorigen Teil gezeigt wurde, dem Liberalismus in seinem Versuch, ein liberales politisches Gemeinwesen zu errichten, dienlich sein kann, wenn nicht sogar unabdingbar ist, sollte der liberale Staat dann auch der Religion dienlich sein und ihr entgegenkommen? Und wenn ja, wie weit sollte er es tun? Sollte sich zwischen beiden eine Art Symbiose etablieren: Wenn jeder den anderen braucht, sollten sie dann nicht miteinander kooperieren? Aber braucht die Religion den Staat überhaupt, um sich zu erhalten?1 Angenommen sie braucht ihn, wie sollte dann eine solche Kooperation, wenn sie zustande kommt, konkret aussehen? Vor allem: Wie sollte der liberale Staat sich gegenüber der Religion verhalten? Wie sollte er sie unterstützen, wenn sie seine Unterstützung braucht? Dass er sie nicht angreifen sollte, wird man leicht zugeben können. Der liberale Staat darf zwar die von ihm verkörperten Werte gegenüber Angriffen seitens bestimmter Religionsgemeinschaften schützen – gegebenenfalls mit Gewalt, wenn die betreffenden Religionsgemeinschaften auf Gewalt zurückgreifen sollten und nur der Gebrauch von Gewalt diese Gewalt unterdrücken kann –, aber es steht ihm nicht zu, offen die Wahrheit oder Falschheit eines bestimmten religiösen Glaubens zu behaupten bzw. Gewalt gegenüber bestimmten Religionsgemeinschaften zu gebrauchen, weil diesen Religionsgemeinschaften vorgeworfen wird, einen falschen Glauben zu predigen. Insofern es um die rein religiöse oder theologische Wahrheit einer Religion geht, also darum, ob und inwiefern die sich auf eine transzendente Sphäre des Seins beziehenden Aussagen einer Religion wahr oder falsch sind – und dazu gehören etwa Aussagen, in denen das ewige Seelenheil der Individuen thematisiert wird –, muss der liberale Staat sich neutral verhalten, und zwar neutral in dem Sinn, dass er sein Verhalten gegenüber den Religionsgemeinschaften nicht durch den Hinweis auf die Wahrheit oder Falschheit des Glaubens begründet. Es obliegt demnach nicht dem Staat, darüber zu entscheiden, welche Religion den Bürgern das ewige Seelenheil garantieren kann, so dass es im Interesse aller Bürger wäre, sich zu dieser Religion zu bekehren. Der Staat hat hier einfach nicht die Möglichkeit, ein fundiertes Urteil zu fällen. Und es ist letztlich auch nicht seine Aufgabe darü1

Godwin meint hierzu: „Wenn der öffentliche Gottesdienst der Vernunft entspricht, dann wird sonder Zweifel die Vernunft in der Lage sein, ihn zu verteidigen und zu unterstützen. Wenn er von Gott kommt, dann ist es eine Gotteslästerung, sich vorzustellen, dass er eine Allianz mit dem Staat nötig hat“ (Godwin 1971, S. 228). Aus Godwins Perspektive kann eine vernünftige – und insofern wahre – Religion sich allein mit vernünftigen Mitteln und ohne staatliche Unterstützung durchsetzen. Und eine der Vernunft nicht zugängliche Religion, die aber göttlichen Ursprungs – und insofern wahr – ist, braucht weder die Vernunft, noch den Staat, da Gott selbst schon dafür sorgen wird, dass sie sich durchsetzt. Es ist dies eine Argumentationsfigur, die man bei vielen Autoren wiederfindet, die sich gegen eine Allianz zwischen dem Staat und der Religion aussprechen. Man könnte sie übrigens auch umkehren: Ein Staat, dessen Politik den wahren Interessen seiner Bevölkerung entspricht und der sich die Mühe gibt, diese Politik angemessen zu erklären, kann seinerseits ohne die Religion auskommen.

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

ber zu entscheiden, welches persönliche Gut seine Bürger als das höchste für sich betrachten sollten. Der liberale Staat überlässt es jedem einzelnen Bürger selbst, zu entscheiden, ob er den Weg der ewigen Verdammnis oder denjenigen des ewigen Seelenheils gehen wird. Er sieht es nicht als seine Aufgabe an, die Bürger vor rein religiösen Irrtümern und deren möglichen weitreichenden Konsequenzen zu schützen, indem er etwa bestimmte Religionen verbietet oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion zur Pflicht macht. Der liberale Staat ist hinsichtlich der Frage nach dem höchsten Gut neutral: Es ist nicht an ihm zu entscheiden, ob das ewige Seelenheil ein höheres Gut ist als alle irdischen Güter. Und er ist ebenfalls neutral hinsichtlich der Frage nach dem geeignetsten Weg zum ewigen Seelenheil: Es ist nicht an ihm zu bestimmen, wie man am besten das ewige Seelenheil erlangt. Aber impliziert diese Neutralität, dass er seine Bürger vor einer Erziehung schützen sollte, durch die sie eventuell dazu geführt werden könnten, die Falschheit einer Religion zu behaupten? Die Ausbildung der Vernunft muss zwar nicht unbedingt dazu führen, dass man in der Religion eine bloße Illusion sieht, aber eine solche Gefahr kann nicht ausgeschlossen werden. Und sie ist umso größer im Falle von Religionen, die sich nicht damit zufrieden geben, Aussagen über eine transzendente Sphäre des Seins zu machen, sondern auch Aussagen über die den Naturwissenschaften zugängliche Sphäre des Seins. Die wissenschaftliche Unhaltbarkeit solcher sich auf die empirische Sphäre beziehender Aussagen kann dann ganz leicht dazu führen, dass man die betreffende Religion in toto verwirft.2 Wenn also erstens eine Religion Aussagen über Transzendentes und Immanentes macht und diese beiden Arten von Aussagen zu einem konstitutiven Teil ihrer selbst macht, und wenn zweitens der Staat in seinem Erziehungssystem wissenschaftliche Theorien lehrt, die den sich auf die immanente Sphäre des Seins beziehenden Aussagen der Religion widersprechen, dann kann dies von den Mitgliedern der betreffenden Religionsgemeinschaft als ein Angriff auf ihre Religion angesehen werden, und es kann bei ihnen der Eindruck entstehen, dass der Staat sich nicht wirklich neutral verhält. Der liberale Staat, so eine Vermutung, will in Wirklichkeit das Verschwinden der Religionen, um auf diese Weise den Weg für den Triumph der individuellen Begierden zu öffnen. Insofern der liberale Staat sich den Idealen der Aufklärung verschreibt, kann er sich nicht neutral gegenüber der Vernunft und ihrer Ausbildung zeigen. Es obliegt nicht dem Staat, darüber zu urteilen, ob Gott existiert oder nicht, so dass in öffentlichen Schulen weder die Aussage „Gott existiert“, noch die Aussage „Gott existiert nicht“ als Wahrheit gelehrt werden soll.3 Aber der Staat hat durchaus das Recht, an 2

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Man findet bei einigen Denkern die Überlegung, dass man Religion und Politik voneinander trenne sollte, weil sonst die Gefahr besteht, dass mit der Kritik an einer bestimmten Politik auch die Religion kritisiert wird. Ganz ähnlich könnte man davor warnen, Religion und Naturlehre zu eng miteinander zu verbinden, da im Falle eines Paradigmawechsels in der Naturlehre die Religion mit verschwinden könnte. Das offizielle Festhalten der katholischen Kirche am geozentrischen Weltbild oder an der Schöpfungslehre hat nicht nur ihr, sondern auch dem Christentum – das viele Menschen mit ihr identifizierten – geschadet. Problematischer ist es hinsichtlich der Aussage, dass man nicht wissen kann, ob Gott existiert. Diese Aussage betrifft nämlich auf den ersten Blick nur unser Wissen. Allerdings hängt das, was über unser Wissen bzw. dessen Möglichkeit gesagt wird, mit einer Auffassung über Gott

Einleitung

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öffentlichen Schulen die Aussage „Das Universum, in dem wir leben, entstand vor etwa 13 Milliarden Jahren“ als Wahrheit zu lehren, auch wenn dadurch implizit behauptet wird, dass die Aussage „Gott erschuf das Universum vor sechstausend Jahren“ falsch ist, zumindest wenn sie in einem rein faktischen Sinn verstanden wird. Wenn demnach von einer Kooperation zwischen dem liberalen Staat und der Religion bzw. den Religionsgemeinschaften die Rede sein soll, dann kann diese sich nicht so weit erstrecken, dass der liberale Staat bestimmten Religionsgemeinschaften die Möglichkeit geben sollte, ihre den Naturwissenschaften widersprechenden Aussagen über die Natur zu verbreiten und die Aussagen der Naturwissenschaften in toto zu verwerfen. Wie aus diesen paar Zeilen ersichtlich wird, und wie auch die Geschichte lehrt, ist es alles andere als einfach, ein allgemein zufriedenstellendes Verhältnis zwischen Staat und Religion bzw. Religionsgemeinschaften zu definieren. Unterschiedliche Ansichten hierüber gibt es nicht nur zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen oder zwischen Gläubigen unterschiedlicher Religionen, sondern man findet sie auch innerhalb einer und derselben Religion wieder. Auch wenn vor dem XVIII. Jahrhundert viele Christen meinten, der Staat solle die christliche Religion schützen, unterstützen und fördern – wie er es seit Konstantin gemacht hat und wie es zahlreiche Päpste immer wieder betont haben –, so werden vor allem im XIX. Jahrhundert immer mehr Stimmen laut, die von einer solchen Unterstützung seitens des Staates abraten. Die Vergangenheit hat sie gelehrt, dass eine staatliche Unterstützung (a) die Religion mit der sie unterstützenden Regierung ins Kreuzfeuer der Kritik geraten lassen kann, so dass das Schicksal der Religion mit demjenigen der Regierung verbunden ist, (b) die Religion sich derart auf die staatliche Hilfe verlässt, dass die Gläubigen ihre Religion nicht mehr selbst am Leben halten und die Religion somit untergehen wird, wenn die staatliche Unterstützung wegfällt, und (c) die Religion ihre Reinheit dann am besten behält, wenn sie keine Kompromisse mit dem Staat einzugehen braucht – was nur dann der Fall ist, wenn sie von ihm getrennt ist und seiner nicht bedarf, um sich zu erhalten oder sich durchzusetzen. In diesem vierten Teil unserer Untersuchung werden wir uns zunächst, im ersten Kapitel, ganz allgemein mit dem Thema der Trennung von Kirche und Staat befassen. Was ist unter einer solchen Trennung zu verstehen? Wie radikal sollte eine solche Trennung sein? Bedeutet es z. B., dass jede Religionsgemeinschaft ihr eigenes Feuerwehrkorps haben soll, da die „öffentliche“ Feuerwehr im Rahmen der Trennung von Kirche und Staat nicht dafür zuständig ist, einen Kirchen-, Tempel-, Synagogen- oder Moscheenbrand zu löschen?4 Oder ist damit gemeint, dass kein

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zusammen. Wer glaubt, dass Gott sich den Menschen offenbaren kann, wird nicht behaupten, dass wir nicht wissen können, ob Gott existiert. Für ihn können wir das wissen, sobald sich Gott uns offenbart hat. Hier ist ein anderes Beispiel. Im kommunalen Nachrichtenheft meiner – französischen – Wohngemeinde ist eine Rubrik für die Vorstellung der Aktivitäten der lokalen Vereine vorgesehen. Ein radikaler Anhänger des Laizismus und des Gesetzes von 1905 hat sich darüber aufgeregt, dass ein katholischer Verein seine Aktivitäten in der Rubrik vorstellen darf. In seinen Augen schließt der Laizismus aus, dass eine Gemeinde religiösen Gruppen eine Plattform liefert, um über sich selbst zu sprechen.

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

Geistlicher, als Geistlicher, politische Ämter bekleiden darf? Oder ist noch damit gemeint, dass der Staat die Religionsgemeinschaften nicht finanziell unterstützen darf, etwa indem er ihre Priester, usw. besoldet? Dem Thema der Priesterbesoldung soll ein eigenes Kapitel dieses vierten Teils gewidmet werden. Viele klassische liberale Denker haben dazu Stellung bezogen. Auch wenn die Tendenz im Allgemeinen dahin geht, auf eine öffentliche Besoldung zu verzichten, so findet sich der eine oder andere Versuch, eine solche Besoldung zu verteidigen – etwa bei Benjamin Constant. Die beiden weiteren Kapitel dieses vierten Teils befassen sich mit dem Problem der Toleranz. Das dritte Kapitel behandelt in erster Linie die Toleranz gegenüber Religionsgemeinschaften. Vor allem zur Zeit der europäischen Religionskriege wurde oft behauptet, dass religiöse Toleranz gefährlich sei, da die Präsenz unterschiedlicher Religionsgemeinschaften auf einem Nationalterritorium zu Konflikten zwischen diesen Gemeinschaften führen könnte. Der religiöse Pluralismus erschien somit als gefährlich, und die Toleranz wurde höchstens oft nur als ein notwendiges Übel betrachtet: Wenn der Staat zu schwach ist, um die Mitglieder einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu verbannen oder zur Konvertierung zu zwingen, sollte er sie auf seinem Territorium dulden. Im ausgehenden XVIII. Jahrhundert änderte sich diese Sicht der Dinge aber, und die Existenz vieler kleiner Religionsgemeinschaften erschien als eine Garantie gegen jene Übel, die man in der Vergangenheit befürchtete. Die religiöse Freiheit stand somit nicht nur im Dienste des Individuums, sondern auch im Dienste der politischen Gemeinschaft – und, wie wir sehen werden, auch im Dienste der Religion selbst. Das vierte und letzte Kapitel befasst sich mit dem Problem der Toleranz gegenüber dem Atheismus. Der Atheist ist nicht jemand, der an einen anderen Gott glaubt, noch jemand, der zwar an denselben Gott glaubt, diesen aber auf eine andere Art und Weise anbetet und ehrt, sondern jeemand, der an keinen Gott glaubt. Wenn nun aber, wie viele klassische liberale Denker behaupten, der Glaube an einen Gott notwendig ist, um die liberale Identität eines liberalen politischen Gemeinwesens zu bewahren, dann scheint der Atheist die größte Gefahr darzustellen. Und insofern stellt sich die Frage, wie man dieser Gefahr begegnen sollte. Ist diese Gefahr so groß, und vor allem so akut, dass man ihr nur mit einer Politik der Intoleranz entgegenwirken kann, auch dann, wenn der Atheist absolut gewaltfrei handelt und nur seine Lehre in Schriften kund tut? Wie wir sehen werden, besteht eine Möglichkeit, das Problem des Atheismus im Rahmen der liberalen Werteordnung zu lösen darin, den akuten Charakter des Problems zu leugnen und zu behaupten, dass dieses Problem sich sozusagen schon von selbst lösen wird. Das dem Menschen innewohnende religiöse Bedürfnis, so die These vieler klassischer liberaler Autoren, ist derart stark, dass der Atheismus die Religion nie endgültig besiegen wird.

Kapitel 1: Die Trennung von Kirche und Staat

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KAPITEL 1: DIE TRENNUNG VON KIRCHE UND STAAT Für das klassische, aber ebenso für das zeitgenössische liberale Denken, ist die Trennung von Kirche und Staat eine der zentralen religionspolitischen Fragen. Der Staat, so die liberale These, darf keine Kirche als Staatskirche anerkennen und dementsprechend auch keine religiöse Gemeinschaft qua religiöse Gemeinschaft fördern bzw. keine religiöse Gemeinschaft auf Grund eines Glaubens an die Wahrheit der betreffenden Religion fördern. Insofern verwirft der Liberalismus ein Modell, das in der westlichen Welt durch den römischen Kaiser Konstantin eingeführt wurde, als er das Christentum zur Staatsreligion erhob und ihm dadurch den Schutz des Staates gewährte. Ebenso verwirft er das byzantinische Modell des Cäsaropapismus, in welchem Staat und Religion sozusagen eins sind und die weltliche Macht nicht nur die weltlichen Gesetze erlässt, sondern auch die Dogmen der Kirche festlegt. Dem Liberalismus zu Folge soll der Staat sich darauf beschränken, Gesetze zu erlassen, die dem weltlichen Wohl der Menschen dienen, und er soll sich nicht in die Festlegung jener Glaubenssätze einmischen, die dem Menschen den Weg zur Erlangung des ewigen Wohls anzeigen. Umgekehrt soll die Kirche sich nicht in die tagespolitischen Geschäfte einmischen, sondern sich auf die ihr eigene Aufgabe konzentrieren: Den Menschen den Weg zum ewigen Heil zeigen. Dass es dabei manchmal zu Überschneidungen kommen kann, soll nicht bestritten werden. Diese Tatsache ist auch ein Grund für die Probleme, mit denen der Liberalismus sich in dieser Hinsicht konfrontiert sieht. Bestimmte moralische Normen dienen sowohl dem friedlichen Zusammenleben, als auch dem Erlangen des ewigen Seelenheils. Wer nicht lügt und immer die Wahrheit sagt, legt ein Handeln an den Tag, das eine Bedingung für die Erlangung des ewigen Seelenheils ist – zumindest insofern man sich an den Zehn Geboten orientiert – und das zugleich auch zweckdienlich für das gute Ablaufen des sozialen Lebens ist. Dabei gibt es allerdings einen wesentlichen Unterschied: Während die Gesetze des Staates sich nur auf das äußerliche Handeln der Menschen beziehen, beziehen die religiösen Normen sich auch auf das Innere. Der Staat schreibt dem Menschen nur vor, wie er handeln soll, die Religion schreibt ihm auch vor, wie er sein soll und aus welchem Grund er auf eine bestimmte Art und Weise handeln soll. Durch die Trennung von Kirche und Staat soll u. a. auch sichergestellt werden, dass der Staat sich nicht in das Innere des Menschen einmischt und neben den Handlungen auch ihr Gewissen kontrolliert bzw. sich ihrer Ängste bezüglich übernatürlicher Mächte bedient, um sie zum Gehorsam zu zwingen. Wenn überhaupt die Angst als Motiv mobilisiert werden soll, dann soll einzig und allein die Angst vor einer weltlichen Strafe die Menschen davon abhalten, Verbrechen zu begehen. Andererseits soll aber auch sichergestellt werden, dass die Kirche sich nur spiritueller Sanktionsandrohungen bedient und nicht gleichzeitig mit dem Gebrauch jener physischen Gewalt droht5, der allein dem Staat zur Verfolgung weltlicher Zwecke 5

Eine physische Gewalt, die sie selbst nicht anwenden darf, zu dessen Anwendung sie aber den Staat anrufen kann.

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zukommt. Die Kirche darf den Ungläubigen oder Abtrünnigen mit ewigen Höllenstrafen drohen, sie darf ihnen aber keine physische Gewalt zufügen. Die Trennung von Kirche und Staat wirft auch die Frage nach dem Platz der religiösen Erziehung in einem öffentlichen Schulsystem auf. Inwiefern darf der Staat es religiösen Gemeinschaften erlauben, an öffentlichen Schulen zu unterrichten?6 Und wenn er dies einer bestimmten religiösen Gemeinschaft erlaubt, muss er es dann allen religiösen Gemeinschaften erlauben? Denn warum sollte bestimmten religiösen Gemeinschaften in dieser Hinsicht ein Vorrecht gewährt werden? Und wenn bestimmten von ihnen ein solches Vorrecht gewährt wird, wer wird dann darüber entscheiden, welche religiösen Gemeinschaften in den Genuss des Vorrechts kommen sollen? Ein in religiöser Hinsicht neutraler Staat kann nicht die – angebliche – Wahrheit einer Religion als Maßstab benutzen. Die eben erwähnte Frage ist nicht gleichbedeutend mit der Frage, ob der Staat es Gläubigen erlauben soll, an öffentlichen Schulen zu unterrichten. Der religiöse Glaube eines beamteten Lehrers geht den Staat prinzipiell nichts an. Erst wenn dieser Lehrer seinen Glauben an der Schule und unter seinen Schülern verbreiten will, wenn er also seine staatliche Funktion ausnutzt, um eine religiöse Aufgabe zu erfüllen, kann der Staat eingreifen. Solange der gläubige Lehrer während seiner Arbeit für den Staat keinen religiösen Proselytismus betreibt, muss der Staat seinen religiösen Glauben ignorieren, und zwar im Namen des Prinzips der Trennung von Kirche und Staat. Wenn die Zugehörigkeit zu einer Kirche nicht mit der Ausführung einer öffentlich-weltlichen Aufgabe interferiert, darf der Staat sich auch nicht um die Zugehörigkeit der betreffenden Person zu einer religiösen Gemeinschaft kümmern.7 Komplizierter wird die Sache, wenn Politiker sich auf Grund ihres religiösen Glaubens entscheiden. Als vor etlichen Jahren das Luxemburger Parlament ein Gesetz guthieß, das die aktive Euthanasie – wie in Belgien und den Niederlanden – unter bestimmten Bedingungen von strafrechtlichen Verfolgungen freistellte, weigerte sich Großherzog Henri aus religiösen Gründen, das Gesetz zu unterschreiben. Ohne seine Unterschrift konnte das in einer demokratischen Abstimmung mehrheitlich – wenn auch mit einer knappen Mehrheit – angenommene Gesetz aber keine Rechtsgültigkeit erlangen. Hätte der Großherzog sich hier über die Stimme seines Ge-

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Zu erwähnen ist auch die Frage nach den Zulassungsbedingungen für konfessionelle Schulen und nach der Kontrolle und Unterstützung dieser Schulen durch den Staat. Soll diesen Schulen die Freiheit gelassen werden, ihre Programme selbst festzulegen, so dass man in ihnen etwa die Schöpfungsgeschichte im Biologieunterricht lehrt? Natürlich unter der Voraussetzung, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gemeinschaft nicht in anderen Hinsichten Probleme aufwirft. Wenn etwa ein Lehrer einer religiösen Gemeinschaft angehört, deren Glaubenssätze verlangen, dass Zwölfjährige mit einem Erwachsenen oralen Sexualverkehr haben sollen, um durch die Spermaaufnahme zugleich das kosmische Vitalprinzip in sich aufzunehmen und dadurch zu Erwachsenen zu werden, dann wird auch ein liberaler Staat sich nicht damit zufriedengeben können, dass der Lehrer davon ablässt, solchen Geschlechtsverkehr mit seinen Schülern zu haben oder ihnen davon zu erzählen. Er muss auch der Besorgnis der Eltern Rechnung tragen, die, und sei es auch fälschlicher Weise, Angst um ihre Kinder haben.

Kapitel 1: Die Trennung von Kirche und Staat

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wissens hinwegsetzen sollen?8 Um das Problem zu lösen, wurde schleunigst eine Verfassungsrevision vorgenommen, so dass der einschlägige Verfassungsartikel nicht mehr verlangt, wie es bis dahin der Fall war, dass der Großherzog die Gesetze gutheißen und unterschreiben soll, sondern lediglich, dass er seine Unterschrift darunter setzt. Mit seiner Unterschrift drückt das Staatsoberhaupt nicht mehr aus, dass er den Inhalt des Gesetzes auch gutheißt, sondern es handelt sich bei der Unterschrift um einen rein formalen Akt, mit dem der Großherzog lediglich kundtut, dass ein von der Abgeordnetenkammer gestimmter Text fortan Gesetzescharakter haben soll. Die Frage, ob und inwiefern religiös geprägte Argumente oder in einer religiösen Sprache formulierte Argumente den öffentlichen, und vor allem den politischen, Diskurs beeinflussen dürfen oder sollen, ist heute noch weit davon entfernt, eine allgemein akzeptierte Antwort gefunden zu haben. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass der Staat seine gesetzgeberische Aktivität auf Gebiete erweitert hat, die bislang durch religiöse Normen geregelt wurden. Der Liberalismus, so stellt etwa Stephen Carter fest, war zunächst eine Theorie, die eine bestimmte Organisation der staatlichen Mächte verteidigte, wurde dann aber zu einer Theorie, die sich mit der „organization of everything“ befasst.9 Und genau hierin sieht Carter die Wurzel, oder eine der Hauptwurzeln, des Konflikts zwischen dem Liberalismus und der Religion (Carter 2000, S. 26). Während die christliche Religion ihren Anspruch aufgab, die richtige Organisation des Staates zu definieren und sich darauf beschränkte, Normen für das individuelle und soziale Leben festzulegen, erweiterte der Liberalismus seinen Anspruch, und wurde zu einer Theorie, die, neben der Organisation des Staates, auch die Organisation der Gesellschaft bestimmen wollte – und im Staat ein Instrument dieser Organisation sah. Die Religion überließ dem Kaiser, was ihm zukam, aber der Kaiser nahm sich darüber hinaus noch etwas, was ihm eigentlich nicht hätte zukommen sollen. Man vergaß sozusagen, dass es neben Gott und dem Kaiser auch noch den Menschen gab, der eine Sphäre für sich beanspruchen konnte, aus der sich sowohl Gott bzw. die in seinem Namen sprechende Kirche, als auch der Kaiser heraushalten sollten.

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Die Abgeordneten brauchten es nicht, da die Parteiführungen den sogenannten Fraktionszwang – alle Abgeordneten einer politischen Fraktion müssen so abstimmen, wie es die leitenden Gremien der Partei bzw. der Fraktion vorschreiben – aufgehoben hatten, so dass dementsprechend jede Abgeordnete und jeder Abgeordneter sich frei entscheiden konnte – was dann schließlich dazu führte, dass bei dieser Frage die parlamentarische Mehrheit in Minderheit versetzt wurde. Wie schon an früherer Stelle festgehalten, macht auch Marcel Gauchet darauf aufmerksam, dass die Befreiung der Individuen aus traditionellen Bindungen und Kontexten zu einer erhöhten Präsenz – die aber nicht immer bemerkt wird – des Staates oder anderer öffentlicher Gremien in der Organisation des öffentlichen Lebens führt. Die Kleider die ich trage, das Auto mit dem ich fahre, der Computer mit dem ich schreibe, die Nahrungsmittel die ich zu mir nehme, die Seife mit der ich mich wasche, … – alle diese Dinge unterliegen bestimmten nationalen oder EU-Normen.

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

Wenn der Staat sich privater Angelegenheiten annimmt und sie gerade dadurch zu öffentlichen und politischen werden lässt10, dann, so scheint Carter sagen zu wollen, sollte man sich nicht darüber wundern, wenn auch die Religion den Bereich des Privaten verlässt, um den des Öffentlichen zu betreten. Für viele Religionen sollte die Antwort auf die Frage, wie man sterben darf, nicht der individuellen Willkür oder staatlichen Gesetzen überlassen bleiben, sondern der Mensch sollte sich hier den göttlichen Normen unterwerfen. Indem der Staat aber durch seine Zulassung der aktiven Euthanasie zu verstehen gibt, dass die Bürger sich nicht an die göttlichen Normen zu halten brauchen und dass es genügt, dass sie sich an die staatlichen Gesetze halten, disqualifiziert er diese Normen in einem gewissen Sinn bzw. er gibt zu verstehen, dass er sich über sie hinwegsetzen darf bzw. dass er sie außer Kraft setzen kann, oder seinen Bürgern erlauben darf, sich nicht an sie zu halten. In diesem Sinne stellt er sich gegen Gott, und es verwundert insofern nicht, wenn der liberale Staat heute von bestimmten Gläubigen als antireligiös oder sogar als atheistisch bezeichnet wird. Dass der Staat sich auf diese Gebiete erstreckt, ist zu einem großen Teil dadurch bedingt, dass es ihm nicht mehr nur, oder gar primär, um die Förderung des Allgemeinwohls geht, sondern auch, und vielleicht vor allem, um die gesetzliche Anerkennung und Durchsetzung individueller Rechte. Die Debatten um die Anerkennung der Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren sind hier ein gutes Beispiel. Bislang hatte die Kirche das Monopol für sich beansprucht, die legitimen Formen der Ehe zu bestimmen, und der Staat hatte sich größtenteils an diesen religiösen Bestimmungen orientiert. Die Religion legte fest, dass eine Ehe nur zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts stattfinden konnte, und der Staat akzeptierte diese Festlegung. Seit einigen Jahren erkennen aber immer mehr Staaten die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Personen an. Und hinsichtlich der staatlichen Anerkennung dieser Ehegemeinschaften entbrennen ähnlich heftige Diskussionen wie hinsichtlich der staatlichen Anerkennung der Scheidung. Von kirchlicher Seite wird moniert, dass der Staat sich in Angelegenheiten einmischt, die nicht in seinen Kompetenzbereich fallen, dass er sich zum Instrument individueller Wünsche und Begierden macht, die, wenn man sie auch vielleicht verstehen kann, trotzdem gegen die natürliche Ordnung verstoßen. Insofern, so ließe sich das Argument weiter entwickeln, eine Gesellschaft zu Grunde geht, wenn sie ihre natürlichen Fundamente in Frage stellt, muss sich dem Staat widersetzt werden, wenn er gleichgeschlechtliche Ehen zulässt. Während der Staat auf die Anerkennung der individuellen Rechte hinweist, weisen die Kirchen auf die Bewahrung der Gesellschaft hin. Wo der Staat auf seine Pflicht verweist, die Minderheiten zu schützen und Diskriminierungen ihnen gegenüber aufzuheben, weisen die Kirchen auf ihre Pflicht hin, die Mehrheit vor einer Tyrannei der Minderheiten zu bewahren. Der Kirche geht es somit nicht nur darum, dass das individuelle Seelenheil gefährdet wird – der Staat zwingt ja niemanden zu einer gleichgeschlechtlichen Ehe –, sondern dass das geordnete ge10

Erwähnen wir noch einmal den Fall der Euthanasie. Indem der Staat ein Euthanasiegesetz erlässt, erklärt er sich zumindest implizit dafür befugt, über das Leben und den Tod des Einzelnen zu bestimmen. Er legt nämlich die Bedingungen fest, unter denen der Einzelne fragen kann, dass seinem Leben ein Ende gesetzt wird und wer diesem Leben ein Ende setzen darf.

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sellschaftliche Zusammenleben und die sich in ihm ausdrückenden Werte auf dem Altar der individuellen Willkür geopfert werden. Es werden also politische Argumente angeführt – die letzten Endes aber auf theologischen und auf nicht immer ganz überzeugenden empirischen Prämissen beruhen. Der amerikanische Philosoph Robert Audi unterscheidet drei mögliche Prinzipien, nach denen man die Trennung von Kirche und Staat konzipieren kann: Das libertäre, das egalitaristische und das Neutralitätsprinzip (Audi 2000, S. 32–33). Das libertäre Prinzip verlangt, dass der Staat jede Religion zulässt und dass er sich somit nicht in religiöse Angelegenheiten einmischt. Wer eine Religionsgemeinschaft gründen will, kann dies tun, er muss sich nur an jenen allgemeinen Normen orientieren, die für die Gründung irgendeiner Vereinigung relevant sind. Das egalitaristische Prinzip verlangt, dass der Staat keine Religion bevorzugt, ihr also Privilegien gewährt, die er anderen Religionen nicht gewährt. Das schließt nicht aus, dass der Staat alle Religionen verbietet. Und das Neutralitätsprinzip geht davon aus, dass der Staat nicht nur keine Religion gegenüber anderen Religionen bevorzugen darf, sondern dass er auch nicht das Nicht-Religiöse gegenüber dem Religiösen, und selbstverständlich auch umgekehrt, bevorzugen darf. Legt man das dritte Prinzip zu Grunde, dann muss der Staat auch religiöse Argumente im öffentlichen, und speziell im politischen, Raum zulassen, und er muss diesen Argumenten prinzipiell dasselbe Gewicht zuerkennen, das er nichtreligiösen Argumenten zuerkennt. Wer seine Ablehnung der Abtreibung einzig und allein mit dem Argument begründet, dass Gott sie verboten hat, darf nicht aus dem öffentlichen politischen Diskurs ausgeschlossen werden, da ein solcher Ausschluss gleichbedeutend mit einer Bevorzugung nicht-religiöser gegenüber rein religiöser Argumente ist. Das Neutralitätsprinzip soll aber gerade eine solche Bevorzugung ausschließen. Die Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion wirft auch die fundamentale Frage auf, wer letztendlich darüber entscheiden soll, was wem gehört bzw. was in wessen Kompetenzbereich fällt. Der liberale Staat bekennt sich zum Prinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wie soll er mit einer Religion umgehen, in welcher diese Gleichberechtigung nicht anerkannt wird, weil angeblich Gott erklärt hat, dass die Frau dem Mann untertan sein soll, vor allem wenn diese Religion auch noch versucht, ihre Ansichten in der Gesellschaft durchzusetzen? Wenn es den Frauen in einem Privatbetrieb durch die internen Funktionsnormen des Betriebs unmöglich gemacht wird, in der Hierarchie des Betriebs aufzusteigen, kann derselbe Betrieb wegen Diskriminierung verklagt werden. Nicht aber die katholische Kirche, wenn sie es Frauen verwehrt, zu Päpstinnen, Bischöfinnen oder auch nur zu Priesterinnen zu werden. Warum geht die Diskriminierung der Frauen in einem Privatbetrieb den Staat etwas an, während die Diskriminierung in der katholischen Kirche ihn nichts angeht? Dies wirft die Frage auf, wie weit der Staat sich in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften einmischen darf. Wer behauptet, dass er sich gar nicht in diese Angelegenheiten einmischen darf, sollte sich vor Augen führen, dass der Staat direkt oder indirekt in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften eingreifen darf, genauso wie er prinzipiell in die Angelegenheiten einer je-

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den Gemeinschaft oder Vereinigung eingreifen darf. Die Statuten einer Vereinigung müssen etwa gesetzeskonform sein. Sind sie es nicht, wird der Staat die Vereinigung nicht als eine konstituierte Körperschaft anerkennen. Dadurch können dieser Vereinigung bestimmte Vorteile entgehen, auf die anerkannte Körperschaften einen Anspruch haben. Man sollte in diesem Zusammenhang immer bedenken, dass die Angelegenheiten einer religiösen Gemeinschaft vielfältiger Natur sind. Eine Religionsgemeinschaft verwaltet nicht nur das Wort Gottes bzw. dessen Bewahrung und Verbreitung, sondern oft auch große Geldsummen und sonstige Vermögenswerte. Wenn staatliche Gesetze einen Rahmen für das Verwalten von Geldern durch Vereinigungen festlegen und wenn religiöse Vereinigungen Gelder verwalten, dann kann es einer religiösen Vereinigung letztendlich nicht gleichgültig sein, wie die staatlichen Gesetze aussehen. Der Staat mischt sich in ihre Angelegenheiten ein. Warum sollte sie sich dann zumindest nicht auch in jene staatlichen Angelegenheiten einmischen dürfen, die sie betreffen? Viele klassische Liberale waren der Überzeugung, in den Vereinigten Staaten von Amerika das Land gefunden zu haben, in dem das Modell der Trennung von Kirche und Staat seine bestmögliche Ausprägung gefunden hatte. Interessant an dem amerikanischen Modell war u. a., dass in ihm zwar der Staat und die Kirchen voneinander getrennt waren, dass diese Trennung aber nicht gleichzeitig auch eine Trennung der Gesellschaft von der Religion war. Der amerikanische Staat mischte sich nicht in religiöse Angelegenheiten ein und der Klerus der Religionsgemeinschaften hielt sich vom politischen Leben fern. Aber die Religion hatte trotzdem – oder, wie einige sagen werden, gerade deswegen – einen enormen Einfluss auf das soziale Leben der Amerikaner. Was damals in Europa noch wie die Quadratur des Kreises erscheinen konnte, war anscheinend in Amerika ein gelöstes Problem. In einem Brief vom 1. Januar 1802 an drei Vorstandsmitglieder der Danbury Baptist Association, hat Jefferson eine Formulierung gebraucht, die er zwar nicht erfunden hat, die aber in den US-amerikanischen Diskussionen zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat meistens mit seinem Namen assoziiert wird. Am 7. Oktober des Jahres 1801 hatten diese drei Mitglieder, im Namen ihrer Vereinigung, Jefferson für seine Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten beglückwünscht und ihm gleichzeitig mitgeteilt, dass sie hofften, er werde sich für die religiöse Freiheit einsetzen, glaubten sie doch, dass es Gott war, der Jefferson zum Sieg verholfen hatte, damit er sich um das Wohl der Amerikaner kümmere. Die Autoren des Briefes, die einer minoritären Kirche angehörten, wollten Jefferson an die Wichtigkeit der Religionsfreiheit erinnern (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 526). In seiner Antwort erklärt Jefferson, er teile die Ansicht der Komiteemitglieder hinsichtlich der religiösen Freiheit und er zitiert die Worte des Ersten Zusatzes zur Verfassung, in welchem u. a. gesagt wird, der amerikanische Kongress werde niemals ein Gesetz erlassen, durch welches eine Religion als Staatsreligion „etabliert“ würde – die sogenannte non­establishment clause. Dieser Verfassungsartikel, so Jefferson, habe eine „wall of separation“, also eine Trennungsmauer zwischen Kirche und Staat errichtet (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 528). Der Staat wird sich nie mit einer Kirche vereinigen, um als Staat-Kirche-Konglomerat über die amerikanische Gesellschaft zu herrschen.

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Einen der ersten Gebräuche, wenn nicht sogar den ersten Gebrauch, der Metapher der Trennungsmauer, findet man in Richard Hookers Buch Of the Laws of Ec­ clesiastical Policy. Hooker, wie es auch viele andere Autoren vor ihm getan hatten, macht zunächst darauf aufmerksam, dass es zwei unterschiedene Gesellschaften gibt: Die Kirche und den Staat. Beiden Gesellschaften, so Hooker, ist die Sorge um die Religion gemeinsam (Hooker 1997, S. 129), so dass also auch der politischen Gemeinschaft, neben ihren weltlichen Aufgaben, eine religiöse Aufgabe zukommt. Während aber von Kirche im eigentlichen Sinn des Wortes nur dort gesprochen werden kann, wo sie eine in ihren Augen wahre Religion fördert, ist es beim Staat gleichgültig, ob er eine wahre oder eine falsche Religion fördert (Hooker 1997, S. 130). Mit anderen Worten: Eine Kirche fördert eine Religion nur insofern, als sie diese Religion auch als wahr betrachtet. Der Staat setzt sich über die Wahrheitsfrage hinweg und kann eine Religion auch aus reinen Nützlichkeitsgründen fördern, ohne dadurch aufzuhören, Staat zu sein. Hooker operiert hier mit der Unterscheidung zwischen religiöser Wahrheit und politischer Nützlichkeit, die wir im zweiten Teil behandelt haben. Für Hooker stellt sich die Frage, ob jemand gleichzeitig Mitglieder beider Gesellschaften sein kann. Zwei Argumente könnten gegen eine solche gleichzeitige Mitgliedschaft sprechen. Ein erstes Argument geht davon aus, dass man als Mitglied der Kirche niemals am Kultus einer falschen Religion teilnehmen kann. Ist man aber Mitglied eines Staates der sich zu einer falschen Religion bekennt, dann wird man auch am falschen Kultus teilnehmen müssen. Also sollte man davon ausgehen, dass man niemals gleichzeitig Mitglied beider Gemeinschaften sein kann. Das zweite Argument baut auf dem Unterschied zwischen religiösen und politischen Angelegenheiten auf. Insofern diese Angelegenheiten voneinander unterschieden sind, sollte auch das Personal, das sich um sie kümmert, voneinander unterschieden sein. Es sollte also eine, um Hookers Formulierung zu gebrauchen, „personal separation“ (Hooker 1997, S. 131), eine Trennung auf der Ebene des Personals, bestehen. Hooker weist die eben erwähnten Argumente zurück, und bezeichnet die These der Notwendigkeit einer Trennung hinsichtlich des Personals als einen Fehler (Hooker 1997, S. 131). Er verwirft damit die These derjenigen die behaupten, dass man eine ewige Trennungswand zwischen beiden Sphären aufrecht erhalten sollte (Hooker 1997, S. 131). Man kann demnach Mitglied beider Gesellschaften sein, und Geistliche können dementsprechend auch Mitglieder der staatlichen Gesellschaft sein. Während Jefferson die Errichtung einer Trennungsmauer befürwortet bzw. gutheißt, wird sie von Hooker verworfen. Allerdings geht es Hooker in erster Linie um eine Frage der persönlichen Teilnahme: Einem Mitglied der Kirche sollte nicht, bloß weil es Mitglied der Kirche ist, untersagt werden, an der Gestaltung des politischen Gemeinwesens teilzunehmen, und einem Mitglied des Staates sollte nicht, bloß weil es Mitglied des Staates ist, untersagt werden, an der Gestaltung des religiösen Gemeinwesens teilzunehmen. Eine und dieselbe Person, so Hooker, darf in beiden Gesellschaften mitbestimmend sein (Hooker 1997, S. 131). Hookers Standpunkt scheint, auf den ersten Blick zumindest, unproblematisch zu sein. Wenn wir nämlich an der Unterscheidung zwischen Staat und Kirche fest-

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halten und wenn wir annehmen, dass alle auf einem Staatsgebiet lebenden Individuen sich zur wahren Religion bekennen und somit Mitglieder der Kirche sind, dann könnte es hier keinen Staat und auch keine staatlichen Gesetze geben, wenn man nicht gleichzeitig Mitglied beider Gemeinschaften sein könnte. Die Voraussetzung der absoluten religiösen Homogenität ist allerdings problematisch. In so gut wie allen real existierenden politischen Gemeinschaften gibt es unterschiedliche Religionsgemeinschaften, deren Mitglieder oft glauben, dass nur sie im Besitz der allein selig machenden Wahrheit sind. Hier taucht dann die Frage auf, ob und inwiefern die Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft im Allgemeinen, und die Mitglieder des Klerus im Besonderen, einen Einfluss auf die Politik und damit auf die Aufstellung der Gesetze ausüben sollten. Sollte man in einer solchen Gemeinschaft jeden Klerus politisch mitbestimmen lassen, und wenn ja, nach welchem Prinzip? Und sozusagen als Kehrseite dieser Frage stellt sich die Frage nach dem Recht einer weltlichen Regierung, den Inhalt rein religiöser Glaubenssätze mitzubestimmen und den Respekt dieses Inhaltes durch weltliche Sanktionsandrohungen zu garantieren. Inwiefern und unter welcher Form darf der Klerus einen Einfluss auf die weltliche Gesetzgebung und auf deren Respekt in der Gesellschaft nehmen, und inwiefern und gegebenenfalls unter welcher Form darf der Gesetzgeber einen Einfluss auf die kirchliche Dogmensetzung und deren Befolgung in der Gesellschaft nehmen? Den machtpolitischen Hintergrund dieser beiden Fragen bildet die Tatsache, dass während Jahrhunderten der Klerus von der weltlichen Macht, und die weltliche Macht vom Klerus profitiert hat. Jede der beiden Seiten glaubte, durch eine Zusammenarbeit mit der anderen ihre eigenen Interessen zu fördern, wobei diese Zusammenarbeit die Form einer reinen Instrumentalisierung annehmen konnte. Da der Klerus als solcher keine Macht über die Körper der Menschen hatte, sondern höchstens nur über ihre Seelen, war er auf den Staat angewiesen, da dieser Macht über die Körper hatte. Und da der Staat als solcher keine Macht über die Seelen der Menschen hatte, sondern nur über ihre Körper, war er auf den Klerus angewiesen, da dieser Macht über die Seelen hatte. Die Allianz zwischen dem Staat und dem Klerus bzw. der Kirche verfolgte das Ziel, Macht sowohl über die Körper als auch über die Seelen auszuüben, und auf diese Weise den ganzen Menschen zu kontrollieren. Jede der beiden Instanzen – Staat und Kirche – glaubte, dass sie durch eine Allianz mit der anderen ihre Interessen besser durchsetzen konnte. Um einer solchen Allianz vorzubeugen, und vor allem um zu verhindern, dass eine bestimmte Religionsgemeinschaft eine Allianz mit dem Staat einging, um sich dadurch Vorteile gegenüber ihren Konkurrentinnen zu verschaffen, betonten Menschen wie Jefferson die Notwendigkeit einer Trennungsmauer. Wer über die Gesetze im Allgemeinen mitbestimmen kann, wird u. a. auch über Gesetze mitbestimmen können, die die finanzielle Unterstützung der Religionsgemeinschaften durch den Staat regeln. Er wird auch darüber mitbestimmen können, was an den Schulen unterrichtet wird. Jeffersons Trennungswand soll vor allem verhindern, dass die partikularen Interessen einer bestimmten Religionsgemeinschaft und ihrer Mitglieder den Platz einnehmen, den allein das Allgemeininteresse einnehmen sollte. Jefferson will eine klare Trennung der Interessensphären des Staates und der Kirchen.

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Es ist interessant zu bemerken, dass Jefferson nicht von einer Trennungswand zwischen dem Staat und der Religion, sondern von einer Trennungswand zwischen dem Staat und der Kirche spricht. Insofern allerdings Religionen, wenn nicht immer, so doch meistens, einen „Träger“ haben und somit als die Religion einer bestimmten organisierten menschlichen Gemeinschaft – die man gewöhnlich als „Kirche“ bezeichnet – auftreten, läuft das Prinzip einer Trennung de facto auch auf die Trennung des Staates von der Religion hinaus. Das schließt nicht aus, dass etwa der Präsident Mitglied einer bestimmten Religionsgemeinschaft sein darf. Es schließt aber aus, dass der Präsident während seines Amtes die Interessen dieser Religionsgemeinschaft fördert. Wer ein politisches Amt übernimmt, muss, im Rahmen seines politischen Handelns, den Standpunkt der Unparteilichkeit gegenüber allen Religionsgemeinschaften einnehmen. Er darf sicherlich noch an den Gottesdiensten seiner Religionsgemeinschaft teilnehmen, aber diese Teilnahme darf ihn nicht dazu verleiten, mittels staatlicher Gelder nur diejenige Kirche renovieren zu lassen, in welcher er die Gottesdienste besucht. Die Trennung zwischen Kirche und Staat war der Gegenstand hitziger Debatten zur Zeit der Gründung der Vereinigten Staaten und in den darauf folgenden Jahrzehnten – und bleibt auch heute noch ein solcher Gegenstand. Die Amerikaner waren einerseits ein religiöses Volk und sie legten einen großen Wert auf die Religion, aber sie wussten andererseits auch, dass Menschen, die einen sehr großen Wert auf die Religion legten, diesen Wert meistens nur auf ihre eigene Religion legten und dementsprechend dazu neigten, ihre eigene Religion zu fördern und die anderen Religionen entweder zu vernachlässigen oder sie gar zu bekämpfen. Das Problem bestand also für die Amerikaner darin, die Präsenz der Religion im öffentlichen Raum zu bewahren und gleichzeitig den öffentlichen Einfluss der Religionsgemeinschaften auf den Staat einzudämmen. Die Religion sollte weiterhin die Gesellschaft, nicht aber die Politik bestimmen.11 In den Jahren 1787/88 drehte sich eine zentrale Frage darum, ob die Verfassung Gott explizit erwähnen sollte oder ob man seinen Namen unerwähnt lassen sollte. In einem Brief aus dem Jahr 1788 verlangt ein gewisser William Williams, Gott solle ausdrücklich in der Verfassungspräambel erwähnt werden. Dadurch würden die Amerikaner zeigen, dass sie sich als ein Volk betrachten, dessen Schicksal letztendlich von Gott abhängt (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 351). Diese Abhängigkeit wird übrigens ausdrücklich von James Madison und Benjamin Franklin anerkannt. Es ist also nicht so, als ob hier ein Konflikt bestünde hinsichtlich dessen, was die führenden Persönlichkeiten über die Abhängigkeit von Gott denken. Auf die theologische Frage geben so gut wie alle dieselbe Antwort: Es gibt einen Gott, dieser Gott ist dem amerikanischen Volk wohlgesinnt, und dieses Volk sollte ihm deshalb Respekt erweisen und sich bei ihm bedanken. Es geht vielmehr darum zu wissen, ob die theologische Antwort auf die theologische Frage ihren Ausdruck in der Verfassung finden sollte.

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Siehe hierzu etwa Kramnick/Moore 2005, S. 13. Die Gründerväter, so beide Autoren, wollten eine gottfreie Verfassung und ein gottfürchtiges Volk.

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Madison behauptet zum Beispiel, dass es allein Gottes Hilfe zu verdanken ist, dass die Amerikaner sich auf einen Verfassungstext einigen konnten (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 351). Ohne Gottes Hilfe hätten sich die manchmal scheinbar nur um Details streitenden Teilnehmer an der Konvention von Philadelphia nie einigen können. Und Benjamin Franklin, den man sicherlich nicht als Bigotten bezeichnen kann, rief im Jahre 1787 zu einem Gebet auf, damit Gott die Teilnehmer am Verfassungskonvent erleuchte. Gott, so Franklin, regiert alle menschlichen Angelegenheiten (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 349). Will man demnach einer derart wichtigen Angelegenheit wie dem Aufstellen einer neuen Verfassung den erhofften Erfolg sichern, so ist man gut beraten, Gottes Hilfe anzurufen. Beide glauben aber nicht, dass Gott in der Verfassung erwähnt oder gar angerufen werden sollte. Im definitiven Verfassungstext ist Gott abwesend. Für viele, wie es etwa Timothy Dwight Jr. im Jahr 1812 ausdrückt, haben die Amerikaner einen großen Fehler gemacht, als sie eine Verfassung guthießen, in welcher Gott nicht erwähnt wird (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 358). Und ein Jahr später schreibt derselbe Autor sogar, Gott werde die Amerikaner für ihren Mangel an Respekt ihm gegenüber bestrafen (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 359). Eine Bestrafung, die umso schwerer ausfallen dürfte, als es sich nicht nur, wie Alexander M’Leod im Jahr 1815 bemerkt, um ein unabsichtliches Vergessen handelt. Die Verfassungsväter, so James Willson 1832, haben Gott bewusst und formell verworfen (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 363). Dass es nicht ein Mangel an Respekt Gott gegenüber war, der die Abwesenheit Gottes in der amerikanischen Verfassung erklärt, sondern dass viel trivialere Gründe hinter dieser Abwesenheit stehen, gibt James Bayard zu verstehen: Die Uneinigkeit zwischen den im Verfassungskonvent vertretenen Mitgliedern unterschiedlicher Religionsgemeinschaften war so groß, dass man sich einfach nicht auf eine Formulierung einigen konnte, die alle zufriedenstellte (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 364). Man unterließ es dementsprechend, Gott auf irgendwelche Art und Weise zu erwähnen, um somit nicht den Eindruck zu erwecken, die Verfassung bevorzuge bestimmte Religionsgemeinschaften gegenüber anderen. Insofern nicht jede Religionsgemeinschaft ähnlich über die Gott spricht, scheint es also ratsamer, gar nicht über ihn zu sprechen, und nicht einmal seinen Namen zu erwähnen.12 Was die Verfassung nicht wollen kann, darf auch der Präsident nicht wollen. In einem Brief aus dem Jahr 1808 stellt Thomas Jefferson klar, dass die Verfassung ihm nicht das Recht eingeräumt hat, religiöse Handlungen vorzuschreiben (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 530). Schon drei Jahre zuvor, im Kontext seiner zweiten Antrittsrede, hatte er darauf hingewiesen, dass die Verfassung ihn nicht dazu berechtigt, einen nationalen Thanksgiving Day auszurufen (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 530). Jefferson zu Folge, sollte das Ausrufen religiöser Feiertage am besten den religiösen Autoritäten überlassen bleiben. Allerdings schließt er nicht aus, dass auch die weltlichen Autoritäten der Bundesstaaten religiöse Feiertage ausrufen 12

Ein gewisser Elihu führt noch zwei weitere Gründe an, Gott nicht zu erwähnen. Erstens glaube jeder Mensch mit einem Minimum an gesundem Menschenverstand an ihn, und zweitens sollte Gott nicht in einem rein menschlichen Werk, wie es die Verfassung ist, erwähnt werden (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 353).

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dürfen – die dann aber selbstverständlich nur für die Einwohner der betreffenden Staaten gelten. Ausgeschlossen ist nur ein landesweiter Ausruf seitens des Präsidenten oder einer sonstigen nationalen weltlichen Autorität. An dieser Stelle zeigt sich, dass es den Amerikanern primär darum ging, eine Trennung zwischen dem Nationalstaat und den Kirchen zu behaupten. Die Verfassung verbietet es dem amerikanischen Kongress, eine Kirche als Staatskirche zu etablieren, aber man findet in ihr kein ausdrückliches Verbot, das sich an die einzelnen Bundesstaaten richten würde. Insofern kann man nicht behaupten, dass die Amerikaner sich für eine radikale Trennung des Politischen vom Religiösen ausgesprochen haben. Ihre Priorität galt vielmehr der Bewahrung der religiösen Selbstbestimmung der einzelnen Bundesstaaten, und die sogenannte non­establish­ ment clause des ersten Verfassungszusatzes ist in diesem Sinne auch im Kontext der Debatte um die Bewahrung möglichst großer Souveränitätsbereiche der Teile gegenüber dem Ganzen zu sehen. Die Trennung von Kirche und Staat sollte dafür sorgen, dass der Nationalstaat sich nicht in die religiösen Angelegenheiten eines Bundesstaates einmischt, und dass er eine solche Einmischung den weltlichen Autoritäten des jeweiligen Bundesstaates überlässt. Im Laufe der Geschichte der Vereinigten Staaten wurde die Frage nach der angemessenen Interpretation – und manchmal sogar der Brauchbarkeit – der Trennungsmetapher immer wieder aufgeworfen, ohne dass es gelungen wäre, diesbezüglich einen allgemeingültigen Konsens zu finden. Den Amerikanern geht es dabei nicht primär darum, den politischen Einfluss des Klerus zu bändigen, also jene „personal separation“ zu behaupten, von der Hooker gesprochen und die er abgelehnt hatte. Die Frage des Klerus beschäftige aber die europäischen Autoren, wie z. B. Benjamin Constant. Benjamin Constant hat u. a. in seiner Studie über die Religion den Klerus und dessen oft freiheitsfeindlichen Tendenzen angegriffen. Dieser Angriff findet vor dem Hintergrund der bei Constant wesentlichen Unterscheidung zwischen dem religiösen Gefühl und den positiven Religionen statt. Letztere sind – immer unvollkommene – Versuche, dem religiösen Gefühl eine Form zu geben, es in einer Lehre zu artikulieren und ihm in Ritualen Ausdruck zu verleihen. Da die Menschheit sich, laut Constant, ständig intellektuell entwickelt, sind alle diese Formgebungen dazu verdammt, eines Tages obsolet zu werden, da sie ab einem bestimmten Punkt nicht mehr der intellektuellen Entwicklung der Menschheit entsprechen. Die positiven Religionen sind sozusagen ein sich stets wandelbarer Überbau, und die Entwicklung dieser Religionen ist als ein nie endender Versuch zu sehen, eine Adäquation zwischen dem Inhalt des religiösen Gefühls und seiner allgemein zugänglichen begrifflichen Artikulation zu finden. Rein theoretisch gesehen, könnte es nur das religiöse Gefühl geben, d. h. dieses Gefühl bedarf keiner Form, um zu existieren. Allerdings hat der Mensch das Bedürfnis, „die Kommunikationsmittel, die er angeblich entdeckt hat, regelmäßig und dauerhaft zu gestalten“ (Constant 1999, S. 52).13 Dem bloß subjektiven und 13

Einen impliziten Hinweis auf ein solches Bedürfnis findet man auch bei Tocqueville: „Je mehr ich lebe, umso weniger sehe ich, dass die Völker ohne eine positive Religion leben können“

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nicht immer präsenten Gefühl einer Kommunikation mit den unsichtbaren Mächten soll ein objektiver und dauerhafter Ausdruck gegeben werden. Dadurch wird die zunächst rein subjektive Erfahrung mitteilbar. Sobald sich das religiöse Gefühl in einem Korpus von Sätzen und Ritualen objektiviert hat, bildet sich eine diesen Korpus und diese Rituale verwaltende Körperschaft heraus, ein Klerus. Wie einerseits das religiöse Gefühl nämlich nur dadurch Dauerhaftigkeit erlangen kann, dass es sich objektiviert, kann die Objektivierung des religiösen Gefühls nur dadurch Dauerhaftigkeit erlangen, dass sich Menschen um ihre Bewahrung und Weiterreichung kümmern. Insofern Constant davon ausgeht, dass es im Menschen eine natürliche Tendenz gibt, sich über das rein Empirische zu erheben, um sich mit unsichtbaren Mächten in Kontakt zu setzen, und insofern es vielen Menschen nicht gelingt, ein wahres religiöses Erlebnis zu haben, also unmittelbar mit dem Unsichtbaren in Kontakt zu treten, wird die Mehrheit der Menschen sich an die Bewahrer der Objektivierung wenden, darauf vertrauend, dass diese ihnen dabei behilflich sein werden, den Kontakt zu den unsichtbaren Mächten herzustellen. Für Constant ist die Bildung eines Klerus nicht zu verhindern14, so wie man es auch nicht verhindern kann, dass dieser Klerus eine separate Körperschaft mit eigenen Interessen bildet (Constant 1999, S. 126).15 Der Mensch will das religiöse Gefühl festhalten und der Mensch ist – auch – ein egoistisches und machtgieriges Wesen. Auch wenn das einzige legitime Interesse des Klerus darin bestehen müsste, den Menschen dabei zu helfen, den Weg zu den unsichtbaren Mächten zu finden, dieser Klerus also kein anderes Interesse haben müsste, als das, das auch die Menschen haben, die ihm vertrauen, merken die Mitglieder des Klerus sehr bald, dass sie eine bestimmte Macht über ihre Mitmenschen haben und dass diese Macht ihnen Vorteile verschaffen kann, Vorteile, die der Machtausübung intrinsisch sind und solche, die aus der Machtausübung folgen. Mögen sie fortan auch noch weiterhin den Gläubigen die Kommunikation mit den unsichtbaren Mächten ermöglichen oder erleichtern, so werden sie zugleich versuchen, solange wie möglich ihre Machtposition zu behalten und von den damit verbundenen Vorteilen zu profitieren. Aus dieser Situation können alle Profit ziehen, d. h. es sieht wie eine win­win Situation aus: Die Gläubigen können mit den unsichtbaren Mächten kommunizieren, und der Klerus kann ein angenehmes Leben führen. Denkt man sich den Extremfall, dann wird der Klerus seine religiöse Funktion instrumentalisieren, um seine Machtgier zu befriedigen: „Der Priester, der von der Religion Mittel erwartet, mit denen er über das Menschengeschlecht herrschen kann, untersucht, wie er die Wesen malen soll, in deren Namen er regieren will“ (Constant 1999, S. 94). Von der Religion sollte man eigentlich nur Mittel erwarten,

14 15

(Tocqueville OC IX, S. 58). Diese Aussage ist einem Brief an Gobineau aus dem Jahr 1843 entnommen. An einer Stelle schreibt er, dass je unaufgeklärter ein Volk ist, umso mehr wird es eines Klerus’ bedürfen (Constant 1999, S. 137). Auch Tocqueville führt die Herrschaftsinstinkte des katholischen Klerus auf die Tatsache zurück, dass er eine Körperschaft mit eigenen Interessen bildet und diese Interessen gegenüber anderen Körperschaften oder sonstigen Instanzen behaupten will (Tocqueville OC II, 2, S. 347).

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mit den unsichtbaren Wesen in Kontakt zu treten, d. h. die Religion sollte nichts anderes sein als ein objektiviertes Mittel, Kontakt mit dem Übernatürlichen aufzunehmen. Der von Constant im Zitat beschriebene Priester pervertiert die Religion, indem er aus ihr ein Mittel macht, um über die Menschen zu herrschen. Und damit er sie als ein solches Mittel gebrauchen kann, muss er die unsichtbaren Mächte so darstellen, dass die Menschen sich vor ihnen fürchten, wobei er sich selbst als jemanden darstellt, der auf die Handlungen der unsichtbaren Wesen einwirken kann. Er schürt demnach eine Angst, die er dann selbst wieder zur Ruhe bringen kann. Die Priester, so Constant an einer anderen Stelle, nutzen die interessierte Seite der menschlichen Natur aus (Constant 1999, S. 133): Weil der Mensch sich von den unsichtbaren Mächten erwartet, dass sie sich ihm gegenüber wohlwollend zeigen, wird er die Macht derjenigen akzeptieren, die ihm dieses Wohlwollen in Aussicht stellen und die behaupten, auf Gott oder die Götter einwirken zu können. Die Macht der Priester hängt somit eng mit dem Bedürfnis der Menschen zusammen, dass es ihnen gut geht, sowie mit dem Glauben, dass (a) die unsichtbaren Mächte einen Einfluss auf dieses Wohlergehen haben und dass (b) der Klerus einen Einfluss auf diesen Einfluss haben kann. Wären die Menschen weniger an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert, dann würde auch die Macht der Priester über sie abnehmen. Was hier über die Priester und ihre Macht gesagt wird, gilt mutatis mutandis auch für den Staat: Wären die Menschen weniger an ihrem materiellen Wohlergehen interessiert, dann würden sie weniger an den Staat appellieren und sie würden somit den Einflussbereich des Staates auf ihr Leben, und damit auch die Macht des Staates, beschränken. Der Kampf gegen die Macht der Priester und der Kampf gegen die Macht des Staates berufen sich demnach auf eine und dieselbe Einsicht: Je mehr Wert das Individuum auf sein persönliches Wohlergehen legt, umso größer wird die Gefahr, dass er sich einer Macht unterwirft, die, unter dem Vorwand, diesem Wohlergehen zu dienen – was sie gegebenenfalls auch tatsächlich tut16 –, sich zunächst und vor allem um ihre eigenen Interessen sorgt. Wie vorhin gesagt wurde, ist die Objektivierung aber nie vollkommen adäquat, und mit der Entwicklung der menschlichen Intelligenz hört sie irgendwann einmal auf, befriedigend zu sein, so dass die Menschen sich nach einer anderen Objektivierung umsehen. Die alte Religion entspricht dann nicht mehr den Erwartungen der Menschen, während eine neue Religion diesen Erwartungen besser gerecht werden kann. Hätte der Klerus der alten Religion, als Körperschaft, keine Partikularinteressen entwickelt, dann würde er sich spontan auflösen oder sich zur neuen Religion bekehren. Das tut er aber nicht, da er dadurch auf die Befriedigung seiner Partikularinteressen verzichten müsste. Er wird demnach alles unternehmen, um sich weiterhin zu behaupten und seine Macht über die Menschen zu behalten. Hier ist dann der Punkt erreicht, an dem der Klerus sich an die weltliche Autorität wendet, damit diese sich dem Aufkommen und der Ausbreitung einer neuen religiösen Form entgegensetzt. Dabei will der Klerus nicht so sehr die alte religiöse Form um ihrer selbst willen bewahren bzw. weil er in ihr den angemessensten Ausdruck des 16

Zumindest muss sie den Glauben fördern, dass sie es tut.

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religiösen Gefühls findet, sondern weil seine eigene Macht mit ihr verbunden ist. Der alte oder etablierte Klerus steht und fällt mit der alten oder etablierten positiven Religion. Das Schicksal beider ist unzertrennlich. Wenden die Menschen sich von dieser alten religiösen Form ab, etwa weil sie aufgeklärter geworden sind, dann wenden sie sich automatisch auch von der mit dieser Form verbundenen klerikalen Macht ab. Der Klerus verlangt demnach nicht so sehr nach dem Schutz der religiösen Form als solchen durch den Staat, als vielmehr nach dem Schutz seiner eigenen Macht. Insofern der Klerus nicht befugt ist, auf Gewalt zurückzugreifen oder unmittelbar mit ihr zu drohen17, und insofern die aufgeklärteren Menschen auch nicht mehr durch die Geschichten der alten Religion eingeschüchtert werden können, bleibt dem Klerus der alten Religion keine andere Wahl mehr, als an die Macht des Staates zu appellieren, um seine eigene wankende Macht zu stützen. Mit dem Wegfall der ‚ideologischen‘ Stütze wird eine materielle Stütze notwendig, wenn dem Machtuntergang entgegengewirkt werden soll. Wenn die Menschen sich nicht mehr vor den Strafen des Gottes der alten Religion fürchten, dann sollen sie sich vor den Strafen des Staates fürchten. Wenn es dem Klerus der alten Religion gelingt, den Staat auf seine Seite zu bringen, dann verfügt er wieder über ein Mittel, um seine Macht über die Menschen auszuüben. Die Grundlogik bleibt aber immer dieselbe: Wer nicht hören will, muss fühlen – diesmal nicht erst im Jenseits, sondern schon im Diesseits. In der ersten Fassung der Principes de politique hatte Constant darauf hingewiesen, dass eine durch den Staat geschützte Religion sich letztendlich diesem unterwirft: „Scheue Sklavin, bescheidene Abhängige, sie beugt sich vor der Macht, beobachtet deren Bewegungen, fragt nach ihren Befehlen, schmeichelt jener Instanz, die sie missachtet und unterrichtet den Völkern ewige Wahrheiten nur unter dem Wohlwollen der Autorität“ (Constant 1997, S. 154). Um seine Macht über das Volk zu behalten, unterwirft sich der Klerus also der weltlichen Autorität. Diese Unterwerfung ist der Preis, den er zahlen muss, um seine Macht zu behalten. Sie impliziert auch, dass der Klerus fortan die weltliche Macht unterstützt. Diese Unterstützung ist aber mit gleichzeitiger Missachtung verbunden, wobei es sich um die Missachtung des Schwachen gegenüber dem Starken handelt, eines Schwachen, der die Position des Starken für sich beansprucht und sich nur wider Willen unterwirft. Die „Ehe“ zwischen Kirche und Staat ähnelt demnach einer Vernunft- und nicht einer Liebesehe. Wo die Religion schwach und der Staat stark ist, ist die erste auf den zweiten angewiesen, und dieser kann sie instrumentalisieren.18 Wo hingegen die Religion stark und der Staat schwach ist, ist der zweite auf die erste angewiesen, und diese 17 18

Theologische Begründung: Christus hat Petrus aufgefordert, sein Schwert wieder einzustecken (Matth. 26, 52). Politische Begründung: das Gewaltmonopol liegt einzig und allein bei der weltlichen Autorität. Tocqueville befürchtet eine solche Instrumentalisierung weit mehr als die Instrumentalisierung des Staates durch den Klerus: „[D]ie wirkliche Gefahr besteht darin, dass die Regierung zu seinem Profit das Erwachen des religiösen Glaubens ausbeuten will, dass er sich des Klerus bemächtigen will, indem er seinen Leidenschaften und Interessen schmeichelt, dass er aus ihm ein Regierungsinstrument macht“ (Tocqueville OC III, 2, S. 590).

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kann ihn instrumentalisieren. Und wo beide gleichstark sind, aber keiner der beiden stark genug ist, um allein seine Machtstellung zu behaupten, kann eine Allianz beiden etwas bringen, zumindest kurzfristig. Mittel- oder langfristig kann diese Allianz allerdings beiden schaden. Hierauf hat besonders Tocqueville aufmerksam gemacht, wobei es ihm vor allem darum ging, auf den Schaden hinzuweisen, den die Religion durch eine solche Allianz erleiden kann – ein Kollateralschaden, der die Religion trifft, während der direkte Schaden den Staat trifft. Auch wenn er nicht, wie Constant, die Französische Revolution unmittelbar miterlebt hat, so haben einerseits seine Forschungen, andererseits aber sicherlich auch die Gespräche in seinem engen Familienkreis, ihm den antireligiösen Charakter der Revolution vor Augen geführt, auf den er u. a. in L’Ancien Régime et la Révolution hinweist (Tocqueville OC II, 2, S. 239). Wenn die Revolutionäre sich gegen den Staat und gegen die Religion erhoben haben, dann war dies in seinen Augen nicht auf irgendwelche intrinsischen Eigenschaften der Religion zurückzuführen, sondern auf das Verhalten eines bestimmten Teils des französischen Klerus. Was als Aufstand gegen einen Teil des religiösen Ganzen legitimierbar war, verwandelte sich in einen unberechtigten Aufstand gegen die Religion als solche. Man kann Tocquevilles Erklärung dieses Phänomens wie folgt zusammenfassen. Ein einflussreicher Teil des katholischen Klerus war unter dem Alten Regime eine Allianz mit dem Königtum eingegangen, um auf diese Weise seine eigenen, u. a. materiellen, Interessen zu fördern. Wie Constant, weist auch Tocqueville darauf hin, dass der Klerus immer eine Körperschaft bildet, und dass besonders der katholische Klerus Herrschaftsinstinkte besitzt (Tocqueville OC II, 2, S. 347). Dadurch, dass er sich auf eine Allianz mit dem Königtum eingelassen hatte, konnte er diese Instinkte befriedigen. Die weltliche Macht gab ihm den notwendigen Schutz und die notwendige Unterstützung, während der Klerus den Gedanken an den göttlichen Ursprung der weltlichen Macht und den damit verbundenen Gedanken an den sündhaften Charakter eines jeden Aufstandes gegen diese Macht verbreitete. Der Klerus hat, so Tocqueville in einem Brief an Jean-Jacques Ampère vom 14. März 1857, an moralischer Kraft verloren, dass er sich darum bemüht hat, „um jeden Preis politische Macht und Geld zu gewinnen“ (Tocqueville OC XI, S. 371). Je mehr sich der Klerus der Erlangung rein weltlicher Güter zuwandte, umso mehr schwand seine moralische Autorität. Im Revolutionsjahr 1789, aber auch schon in den Vorbereitungsjahren des revolutionären Ereignisses, geschah dies um den Preis einer verbreiteten Feindschaft der Religion gegenüber. Die Religion wurde nämlich mit dem Klerus identifiziert, und der Klerus wurde mit dem Königtum identifiziert. Insofern viele Franzosen sich des Königtums entledigen wollten, wandten sie sich auch gegen den Klerus, der die Monarchie unterstützt hatte. Und viele von ihnen wandten sich auch gegen die Religion, deren Sprachrohr der Klerus war. Die Abschaffung der Monarchie führte somit nicht nur dazu, dass der Klerus weniger Macht über die Menschen hatte, sondern sie führte auch dazu, dass die Religion an Macht über die menschlichen Geister verlor. Das Kind, wie es das Sprichwort sagt, wurde mit dem Badewasser ausgeschüttet. Dies hätte aber vermieden werden können, wenn der Klerus keine Allianz mit der politischen Macht eingegangen wäre.

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Der Klerus trägt demnach mit Schuld an der antireligiösen Haltung vieler Zeitgenossen der Französischen Revolution. In den Vereinigten Staaten von Amerika, die Tocqueville in den 30er Jahre besuchte und als Vorbild für eine sinnvolle Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften nahm, war eine solche Allianz durch den ersten Verfassungszusatz ausgeschlossen – zumindest auf nationaler Ebene, da der erste Verfassungszusatz, nimmt man ihn wörtlich, nur dem Kongress, also dem nationalen Gesetzesgeber, verbietet, eine bestimmte Religion als Staatsreligion zu etablieren. Ursprünglich sollten die Gesetzgeber der dreizehn Gründerstaaten nämlich ihr Recht behalten, sich hinsichtlich der Religion und der Kirche so zu verhalten, wie sie es für richtig hielten.19 Ein establishment auf subnationaler Ebene war somit nicht ausgeschlossen. Um eine bestimmte Kirche zu schützen oder zu fördern bzw. um eine bestimmte religiöse Homogenität zu bewahren, war es den Staaten des Bundes nicht formell untersagt, Gesetze zu machen, die, wären sie vom nationalen Gesetzgeber für das gesamte Amerika gemacht worden, verfassungswidrig gewesen wären. Die Kompetenz, über religiöse Angelegenheiten zu entscheiden, war keine nationale Kompetenz, und die sich zu den Vereinigten Staaten zusammensetzenden Gründerstaaten hatten ihre – beanspruchte – Kompetenz in solchen Sachen nicht an den Zentralstaat abgetreten. In Amerika ist es vor allem der Deist Thomas Jefferson gewesen, der den negativen, die Freiheit gefährdenden Einfluss der Priester aufs Schärfste verurteilte. So schreibt er 1814, dass überall und immer die Priester der Freiheit gegenüber feindlich gesinnt waren, und dass sie auch überall und immer eine Allianz mit dem Despotismus eingingen: Sie rechtfertigten oder duldeten die Machtmissbräuche des Despoten und erwarteten dessen Schutz als Gegenleistung (in: Brenner 2004, S. 224). Ein Jahr früher hatte er schon gemeint, die gesamte Geschichte liefere kein einziges Beispiel eines Landes, in dem man gleichzeitig eine starke Priesterkaste und eine freie Regierung findet (in: Brenner 2004, S. 215). Beide scheinen sich also auszuschließen, so dass die Freiheit nur dort gedeihen kann, wo der Klerus schwach oder gar inexistent ist. Schon 1785, also im Vorfeld der Debatten um die Verfassung und die Verfassungszusätze, hatte Jefferson darauf hingewiesen, dass die Klasse der Priester einen Körperschaftsgeist entwickelt, der sie gefährlich macht. Ein solcher Körperschaftsgeist impliziert nämlich Partikularinteressen, die sich dem Gemeinwohl entgegenstellen können. Man sollte die Priester deshalb aus der legislativen Körperschaft ausschließen, da sonst die Gefahr besteht, dass die gewählten Priester sich zu einer einheitlichen politischen Gruppe zusammenschließen und die Mehrheit der Abgeordneten bilden (in: Brenner 2004, S. 75). Und sollten sie eines Tages die Mehrheit der Abgeordneten bilden, dann werden sie ihre Macht benutzen, um ihrer Körperschaft Sonderrechte zu verschaffen, die im Widerspruch zum Allgemeinwohl stehen. Jefferson spricht hier das zentrale Problem einer direkten Einflussnahme des Klerus auf die Gesetzgebung an, und zwar in der Form einer Art Priesterfraktion 19

1940 wurde der Erste Verfassungszusatz auch als für die einzelnen Staaten verbindlich erklärt (Witte 2005, S. xix).

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im Abgeordnetenhaus. Die Mitglieder dieser Fraktion würden sich nur an ihrem gemeinsamen religiösen Interessen orientieren und nicht unmittelbar an den weltlichen und sozusagen bundestaatlich orientierten Interessen ihrer Wähler. Für die Mitglieder dieser Fraktion stehen also die Interessen des Klerus über den konfligierenden Interessen der einzelnen Bundesstaaten. Während seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten von Amerika, hatte Tocqueville die Gelegenheit, die Situation des amerikanischen Klerus zu untersuchen, und besonders dessen Rolle im politischen Leben der Nation. In Amerika, so eine der zentralen Behauptungen Tocquevilles, übt der Klerus keinen direkten Einfluss auf das nationale politische Leben aus. Die amerikanischen Priester „sind darum besorgt, sich von den [politischen – N. C.] Angelegenheiten fernzuhalten und sich nicht in die Parteikombinationen einzumischen“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 305). Der amerikanische Klerus, gleich welcher Glaubensrichtung, akzeptiert das soziale und politische System der Demokratie und lässt die Parteien sich über die tagespolitischen Fragen streiten. Er sieht es nicht als seine Aufgabe an, Stellung zu rein politischen Fragen zu beziehen. Insofern besteht auch kein Risiko, dass sich eine Priesterpartei gründet, oder dass die von Jefferson befürchtete parlamentarische Priesterfraktion entsteht. Weil er sich derart aus der Politik heraushält, übt der amerikanische Klerus, so Tocqueville, keinen Einfluss auf die Gesetze und auf die Einzelheiten der politischen Meinungen aus (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 305). In dieser Hinsicht besteht also eine Trennung zwischen den Kirchen und dem Staat und zwischen den Kirchen und den um die politische Macht ringenden Parteien. Tocqueville ist ganz besonders darum bemüht zu zeigen, dass die Kirchen in Amerika der Demokratie gegenüber wohl gesinnt sind bzw. dass sie sie zumindest akzeptieren. Der christliche Glaube der Pilgerväter wird von ihm als demokratisch und republikanisch bezeichnet (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 301). Ihr Puritanismus war zugleich eine religiöse und eine politische Lehre (Tocqueville OC I, 1, I, 2, S. 31). Insofern sie von der religiösen Idee ausgingen, dass alle Menschen vor Gott gleich sind, akzeptierten sie auch die politische Idee, dass alle Menschen sich ebenfalls im politischen Bereich als Gleiche betrachten sollten und dass insofern kein Mensch dazu berechtigt war, den anderen seinen eigenen Willen aufzudrängen und seine Herrschaft über sie zu etablieren. Die politische Demokratie der Amerikaner findet somit, laut Tocqueville, ihren Ursprung im religiösen Glauben der Pilgerväter. Politik und Religion sprechen insofern keine zwei einander entgegensetzte Sprachen, sondern dieselbe, und zwar die Sprache der Freiheit. Doch in Amerika leben nicht nur Puritaner oder, allgemeiner, Protestanten, sondern im Laufe der ungefähr zwei Jahrhunderte, die die Ankunft der ersten Pilgerväter von Tocquevilles Amerikareise trennen, haben auch viele Katholiken den Atlantik überquert, um sich in Amerika zu etablieren. Die amerikanischen Katholiken, so Tocqueville, „bilden die in höchstem Maße republikanische und demokratische Klasse“ in den Vereinigten Staaten (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 301). Diese von ihm selbst als überraschend bezeichnete Tatsache erklärt Tocqueville sich dadurch, dass es im Katholizismus eine grundsätzliche Gleichheit aller Gläubigen gibt – nur die Kleriker stechen aus dem Volk der Gläubigen heraus. Und selbst hier gilt, dass die Kleriker, wie das Volk der Gläubigen, letztendlich dem Papst unterworfen sind.

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Insofern kann Tocqueville den Katholizismus mit einer absoluten Monarchie vergleichen (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 302), also mit jener Regierungsform, die das Aufkommen der Demokratie vorbereitet hat, indem sie die Macht der Aristokratie zerstörte.20 In der Einleitung zum ersten Band der Démocratie hatte Tocqueville auf die, so könnte man sagen, gleichmacherische Rolle des Absolutismus hingewiesen (Tocqueville OC I, 1, S. 2). Was auf den ersten Blick wie ein Paradox erscheint – ein die Demokratie fördernder Absolutismus –, verliert diesen paradoxalen Charakter, sobald man eine dynamische Perspektive einnimmt und den Gedanken akzeptiert, dass es eine Art List der Geschichte gibt. Tocqueville ist sich vollends bewusst, dass die französischen Monarchen keineswegs das Projekt verfolgten, eine demokratische Gesellschaft vorzubereiten. Diese hat sich durch ihr Handeln, aber ohne ihren Willen und auch gegen ihren Willen, aus der aristokratischen Gesellschaft entwickelt. Dabei hatte die Kirche auch eine wichtige Rolle gespielt, denn sie hat nämlich viele Kleriker aus den unteren Gesellschaftsrängen rekrutiert: „Aber auf einmal sieht man die politische Macht des Klerus, die sich ausbildet und verbreitet. Der Klerus öffnet einem jeden seine Ränge, dem Armen wie dem Reichen, dem NichtAdligen wie dem Feudalherren; durch die Kirche hindurch beginnt die Gleichheit sich inmitten der Regierung zu etablieren, und wer als Leibeigener in einer ewigen Sklaverei dahin vegetiert hätte, nimmt seinen Platz als Priester unter den Adligen ein, und setzt sich oft über die Könige“ (Tocqueville OC I, 1, S. 2). In Frankreich hat der Klerus also, wenngleich ungewollt bzw. unbeabsichtigt, zum Vormarsch der Demokratie beigetragen. Das Ziel der Kirche war es nie, die Monarchie abzuschaffen und eine Gesellschaft von Gleichen zu etablieren. Die Demokratisierung der Gesellschaft war also nie ihr direktes und offen proklamiertes Ziel. Wäre sie das gewesen, so hätten die Monarchie und der Adel sich wahrscheinlich gegen sie gewendet. Diese Demokratisierung war aber in Frankreich auch nicht das indirekte Ziel der Kirche. Es war vielmehr eine unvorhersehbare Konsequenz bestimmter Entscheidungen. Bei seiner Analyse des amerikanischen Klerus macht Tocqueville einen Unterschied zwischen einem direkten und einem indirekten Einfluss. Gerade dadurch, so die These des Autors, dass er darauf verzichtet, einen direkten Einfluss auf das politische Tagesgeschehen auszuüben, kann der Klerus einen erheblichen indirek­ ten Einfluss auf das politische Leben der Nation ausüben.21 Amerika ist zugleich das Land, in dem der Klerus sich am fernsten von der politischen Sphäre weghält, 20

21

In einem anderen Text spricht Tocqueville von zwei Formen der Unterwerfung der Kirche (Tocqueville OC VI, 1, S. 200). Auf der einen Seite haben wir eine Kirche, die dem Papst vollkommen unterworfen ist, und auf der anderen Seite haben wir eine Kirche, die der Regierung als Herrschaftsinstrument dient. Auch wenn Tocqueville dem nationalen Klerus eine bestimmte Unabhängigkeit Rom gegenüber zuerkennen will, warnt er davor, dass man diese Unabhängigkeit mit dem Preis der Abhängigkeit von der nationalen Regierung bezahlt. In den Augen Tocquevilles besteht ein Unterschied zwischen der Demokratie und dem Sozialismus darin, dass erstere indirekt auf die Gesellschaft einwirkt, während der Sozialismus es direkt tut (Tocqueville OC III, 3, S. 189).

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und in dem die Religion den größten Einfluss auf die öffentliche Meinung hat. Tocqueville macht es sich zur Aufgabe, das Problem zu lösen, „wie es geschehen kann, dass man, indem man die scheinbare Macht einer Religion verringert, ihre wirkliche Macht vergrößert“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 310). Borgt sich die Religion die Macht beim Staat, dann muss diese Macht als eine scheinbare betrachtet werden. Es ist nämlich nicht die Macht der Religion selbst. Will man diese sehen, so muss man die Religion sich selbst überlassen. Wer demnach wissen will, wie stark eine Religion noch bei einem bestimmten Volk ist, sollte sich nicht nach der staatlichen Unterstützung der Religion orientieren22, sondern er sollte sehen, was die Religion ohne staatliche Unterstützung kann. Und Amerika ist ein Land, in dem man Letzteres unter optimalen Bedingungen beobachten kann. In der ersten Démocratie weist Tocqueville darauf hin, dass alle seine Gesprächspartner in Amerika der Auffassung waren, dass es die vollständige Trennung von Kirche und Staat war, die es der Religion erlaubt hat, eine friedliche Herrschaft auszuüben (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 309). Das Gesetz in einigen Staaten, die öffentliche Meinung in den anderen, aber auch ein gewisser Eigendünkel haben dazu beitragen, dass diese Trennung sich faktisch etabliert hat und dass man demnach keine Mitglieder des Klerus in den politischen Gremien Amerikas findet: „Ich sah, wie sie sich sorgsam von allen Parteien trennten und mit allem Eifer des persönlichen Interesses vor deren Kontakt flüchteten“ (Tocqueville OC I, 1, II, S. 310). Die amerikanischen Priester waren, so Tocqueville, allen anderen Priestern eine wichtige Einsicht voraus: „Sie haben gesehen, dass sie auf den religiösen Einfluss verzichten mussten, wenn sie eine politische Macht erlangen wollten, und sie haben es vorgezogen, die Unterstützung der politischen Macht zu verlieren, als die sie treffenden Schicksalsschläge zu teilen“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 312). Mit dem ersten Teil dieser Behauptung meint Tocqueville, dass die amerikanischen Priester darauf verzichtet haben, einen direkten religiösen Einfluss auf die institutionelle politische Sphäre auszuüben, dass sie also nicht den Weg des langen Gangs durch die Institutionen gegangen sind, um dann mittels dieser Institutionen ihren Glauben zu verbreiten. Indem der Klerus sich von den politischen Angelegenheiten fern hält und nicht diese oder jene politische Partei unterstützt23, entzieht er sich einerseits den politischen Streitereien und dem wechselnden Schicksal der Parteien, und andererseits dem Vorwurf, sich der politischen Macht bedienen zu wollen, um seine eigenen Interessen zu fördern. Ein Klerus, der sich nicht an der Eroberung der politischen Macht interessiert zeigt, zeigt damit zugleich, dass er nicht durch Machtinstinkte getrieben wird. Und ein Klerus den man nicht wegen seines vermuteten oder wirk22 23

Er sollte also nicht, wie Stalin es bezüglich des Vatikans getan hatte, fragen, wie viele bewaffnete Divisionen die Religion mobilisieren kann, sprich auf welche staatliche Zwangsmechanismen sie zurückgreifen kann. Es geht nicht darum, dass der Klerus sich jeder politischen Aussage enthalten soll. Robert Audi hat m. E. die Sache richtig erfasst wenn er schreibt, dass die Kirche durchaus das Recht hat, ganz allgemein auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen, dass es aber nicht ihre Rolle sein, konkrete politische Lösungen vorzuschlagen (Audi 2000, S. 48). Wo sie letzteres tut, steigt sie in die Arena der Parteipolitik und kann dadurch auch zum Gegenstand parteipolitischer Kritik werden.

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lichen Machtstrebens befürchtet, bekämpft man nicht. Je weiter sich der Klerus von der politischen Macht fern hält, umso weniger gefährlich erscheint er, und je weniger gefährlich er erscheint, umso mehr wird man ihm vertrauen. Und je mehr man ihm vertraut, umso mehr wird man ihm zuhören und gegebenenfalls auf ihn hören. Der Klerus wird also nicht umso mehr gehört, als der Staat ihm Gehör verschafft, sondern das Gegenteil ist der Fall. Es ist also falsch zu glauben, dass die Trennung von Kirche und Staat zu einer Schwächung der Religion führen wird. Amerika beweist genau das Gegenteil: Je weniger die Kirche sich unmittelbar in politische Gelegenheiten einmischt und die Entscheidungen des Staates mit zu bestimmen versucht, umso größer ist ihr Einfluss auf das Volk. Und da in einer Demokratie die Politik letztendlich vom Volk bestimmt wird, übt der Klerus einen Einfluss auf die Politik aus. In der zweiten Démocratie erwähnt Tocqueville ausdrücklich die Frage, „wie diejenigen, die über demokratische Völker herrschen, sich anlegen müssen, um dort [spirituellen Meinungen] zur Herrschaft zu verhelfen“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 152). Von Staatsreligionen glaubt er, dass sie kurzfristig den politischen Machthabern dienen können, dass sie aber langfristig den Staatskirchen schaden. In seinen Augen sollte man den Priestern auch nicht indirekt einen politischen Einfluss geben (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 153). „Indirekt“ ist hier im Sinne von „extralegal“ zu verstehen: Das Gesetz sieht zwar nicht ausdrücklich vor – verbietet allerdings auch nicht ausdrücklich –, dass eine bestimmte Religion die Gunst des Staates genießt, aber die Regierenden bevorteilen eine bestimmte Religion und zeigen sich offen für die Belange des betreffenden Kultus. Und es heißt dann weiter: „Ich bin dermaßen von den fast unausweichlichen Gefahren durchdrungen, die der religiöse Glaube läuft, wenn seine Interpreten sich um öffentliche Angelegenheiten kümmern, und ich bin in solchem Maße davon überzeugt, dass man um jeden Preis das Christentum in den modernen Demokratien erhalten muss, dass ich am liebsten die Priester in ihren heiligen Stätten anketten würde, als sie von dort raus zu lassen“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 153). In einem Brief an Clamorgan aus dem Jahr 1837 heißt es in demselben Sinn: „Ich ehre den Priester in der Kirche, aber ich werde ihn immer außerhalb der Regierung setzen, wenn ich irgendeinen Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten habe“ (Tocqueville OC X, S. 106).24 Die Aufgabe des Klerus besteht nicht darin, sich um das alltägliche Funktionieren der Demokratie zu kümmern, sondern die Bedingungen der Möglichkeit eines liberalen Funktionierens der Demokratie zu gewährleisten. Ihm obliegt es nicht, sich über tagespolitische Angelegenheiten auszusprechen, sondern er muss dafür sorgen, dass der Rahmen, innerhalb dessen diese Angelegenheiten von anderen behandelt werden, Platz lässt für die Anerkennung der menschlichen Würde. Die Kleriker sollen den Politikern nicht vorschreiben, was diese zu tun haben, sondern sie sollen die Bürger daran erinnern, dass sie nicht alles mit sich tun lassen sollten, dass sie sich stets daran erinnern sollten, dass sie eine Würde haben, dass diese ihren Wert ausmacht, und dass sie dementsprechend auf keinen Fall geopfert werden sollte. 24

In einem Brief aus dem Jahr 1851 meint Tocqueville, es sei nichts gefährlicher als ein Eingriff des Klerus in die Politik (Tocqueville OC XV, 2, S. 50).

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Der direkte Einfluss schließt, wie schon angesprochen, den indirekten nicht unbedingt aus – wobei „indirekt“ hier nicht in dem Sinne zu verstehen ist, wie Tocqueville das Wort in dem vorigen Zitat benutzt hat.25 Der hier gemeinte indirekte Einfluss beruht u. a. auf der Kontrolle der Religion über die Frauen. In Amerika, so Tocqueville, beherrschen die Männer die politische Sphäre, während die Frauen die private Sphäre beherrschen. Und wenn es der Religion auch nicht gelingt, die Männer im Zaum zu halten, so kontrolliert sie die Frauen. Und da die Frauen das Leben im trauten Heim kontrollieren, übt die Religion trotzdem auch eine indirekte Kontrolle über die Männer aus, und damit auch eine indirekte Kontrolle über das politische Leben.26 In diesem Zusammenhang stellt Tocqueville Europa und die Vereinigten Staaten einander gegenüber (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 305). In Europa herrscht Unordnung in der häuslichen Sphäre, da die europäischen Frauen freiere Sitten als die amerikanischen haben.27 Diese Unordnung im Privaten wirkt sich auf die Öffentlichkeit aus, da die europäischen Männer keine Gelegenheit haben, irgendwo einen gesitteten Umgang zu erlernen und sich auch nirgendwo vom politischen Kampf erholen können. In Amerika, hingegen, erklärt sich die relative Ordnung im politischen Leben durch die Ordnung im Haushalt. Wenn der Amerikaner nach Hause kommt, „begegnet er sofort dem Bild der Ordnung und des Friedens“ (Tocqueville OC I, 1, II, 9, S. 305).28 Der Klerus braucht also den amerikanischen Politikern nicht direkt und ausdrücklich zu sagen, wie sie sich verhalten sollen. Es genügt, dass er auf die Frauen einwirkt. Die Frauen bestimmen nämlich die privaten Sitten, und die privaten Sitten bestimmen die öffentlichen Sitten. Und die öffentlichen Sitten bestimmen den Gang des politischen Lebens. Auf diese Weise bestimmt der Klerus das politische Leben, ohne dass gesagt werden kann, dass er es direkt beeinflusst. Staat und Kirche wurden also in Amerika offiziell getrennt, aber ohne dass es auch gleichzeitig 25

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In einem Text aus dem Jahr 1844 schreibt Tocqueville: „Die Religion allein kann es tun [scil. unseren Geist auf Höheres richten – N. C.]; und man muss auch zugeben, dass sie allein einen dauerhaften und wirksamen Einfluss auf die Regelhaftigkeit der privaten Sitten ausüben kann, und damit kann sie auf eine mächtige, wenn auch indirekte Weise die gute Führung der öffentlichen Angelegenheiten besorgen“ (Tocqueville OC III, 2, S. 519). Man erzieht die Frauen so, dass sie sich der Religion unterwerfen. Man erzieht sie aber auch so, dass sie sich, als Ehefrauen, den Männern unterwerfen. Aber während die erste Unterwerfung nicht dazu führt, dass die Frauen die Religion kontrollieren, führt die zweite dazu, dass sie die Männer kontrollieren. In diesem Kontext schreibt Kristol: „Wie die Ehefrau die sich ihrem Ehemann unterwirft, unterwirft sich Tocqueville der Demokratie um sie zu erziehen und ihre Sitten zu formen“ (Kristol 1991, S. 494). Man könnte auch von der Religion sagen, dass sie die Demokratie nur dann erziehen kann, wenn sie sich ihr unterwirft – aber immer nur bis zu einem gewissen Punkt. Im zweiten Band der Démocratie geht Tocqueville genauer auf die Situation der Frau ein. Während die unverheirateten jungen Mädchen dort eine große Freiheit genießen und sogar selbst über ihre Heirat entscheiden können, leben die verheirateten Frauen „wie in einem Kloster“ (Tocqueville OC I, 2, III, 10, S. 209). Bloom hat auf die Gegenüberstellung von erotischer und ökonomischer Beziehung hingewiesen. In der Familie und in ihren Liebesbeziehungen kann der demokratische Mensch sich noch als ein gebundenes Wesen erleben (Bloom 1992, S. 238).

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zu einer Trennung von politischem Leben und Religion gekommen wäre. Der Klerus mischt sich nicht in die Lösung der tagespolitischen Probleme ein, aber er beeinflusst den Rahmen, innerhalb dessen diese Probleme gelöst werden. Auch wenn die Frauen und der Klerus de iure nicht in das politische Leben eingreifen dürfen, findet doch de facto ein Eingriff statt, und dieser de facto Eingriff wird umso besser akzeptiert und ist umso wirksamer, als er nicht die Form eines Rechts annimmt, und im Geheimen bleibt.29 Die Regierenden30 können aber, so Tocqueville, einen Einfluss auf die religiösen Ansichten bzw. die allgemeine religiöse Perspektive ihrer Untertanen ausüben. Wir hatten schon die Stelle erwähnt, an der Tocqueville den Regierenden sagt, dass sie die Menschen dadurch zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele führen bzw. diesen Glauben in ihnen aufrecht erhalten können, indem sie selbst so tun, als glaubten sie daran, wenn ihr äußerliches Handeln also als ein solches erscheint, das den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele ausdrückt (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 153). An einer anderen Stelle spricht Tocqueville von der Zukunftsorientierung bzw. vom Blick auf die Zukunft. Die Regierenden, so Tocqueville, müssen die Menschen dazu bringen zu glauben, dass man keine Vorteile ohne Mühe erringen kann. Der Blick der Menschen soll von den jetzigen Mühen auf die zukünftigen Vorteile gerichtet werden, was gleichzeitig bedeutet, dass sie von den sich unmittelbar anbietenden Genüssen weggelenkt werden müssen. Die Menschen sollen also dazu gebracht werden, wieder langfristig zu denken. Während Jahrhunderten hatte die Religion ihnen eine solche langfristige Denkart beigebracht, indem sie in ihnen die Sorge um das ewige Seelenheil aufrecht erhielt. Das Leben in einer demokratischen Gesellschaft tendiert aber dazu, das kurzfristige Denken zu begünstigen. Dieser Tendenz muss entgegengewirkt werden. Und die Regierungen müssen alles daran setzen, „den Menschen jenen Geschmack für die Zukunft zu geben, der nicht mehr durch die Religion oder den sozialen Zustand eingeflößt wird“, und sie müssen, „ohne es zu sagen“, die Menschen lehren, dass man nichts ohne harte Arbeit erlangen kann (Tocqueville OC I, 2, II, 17, S. 157). Wenn die Menschen auf diese Weise gelernt haben, bezüglich der Erlangung irdischer Güter in eine ferne Zukunft zu schauen, „wird es ihnen schwer fallen, ihren Geist immer an den genauen Grenzen 29

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In seinem Buch über Montesquieu und Blackstone hat Carrese gezeigt, dass beim Erstgenannten die richterliche Macht einen umso bedeutenderen Einfluss auf die Reform der Gesetze hat, als sie im Verborgenen bleibt und nicht ostentativ als Mitgesetzgeber auftritt. Carrese spricht von einem „cloaking of power“, also einer Verkleidung, und damit Verbergung der Macht (Carrese 2003). Man könnte eine solche Verbergung der Macht auch beim amerikanischen Klerus am Werk sehen. Für diesen Klerus kann die Religion nur dann auf das öffentliche Leben und Politik einwirken, wenn er, der Klerus, sich nicht direkt an der Politik beteiligt. Und wie es bei Welch heißt: „Tocqueville schreibt für die hypothetischen Bürger-Gesetzgeber die sowohl die Zerstörung als auch das Elend erben werden, die ihnen die historischen Kämpfe zurückgelassen haben“ (Welch 2011, S. 30–31). Diese neuen Regierenden stehen vor einer Situation, in der die Religion benötigt wird, in welcher es aber nicht unbedingt gut um sie steht, da die Menschen nicht mehr wie früher glauben. Sie müssen demnach nach neuen Modalitäten des Glaubens suchen, falls sie ihr Ziel, die Bewahrung der Freiheit unter Bedingungen der Gleichheit, erreichen wollen.

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des Lebens Halt machen zu lassen, und es fehlt nicht viel, diese Grenzen zu überschreiten, um ihre Blicke jenseits zu werfen. / Ich zweifle also nicht daran, dass man die Bürger, indem man sie daran gewöhnt, an die Zukunft in dieser Welt zu denken, Schritt für Schritt an den religiösen Glauben heranführt, ohne dass sie es selbst wissen. / So zeigt sich, dass das Mittel, das es den Menschen erlaubt, bis zu einem gewissen Punkt ohne Religion auszukommen31, insgesamt gesehen das einzige ist, das uns bleibt, um das Menschengeschlecht, durch einen langen Umweg, wieder zum Glauben zu bringen“ (Tocqueville OC I, 2, II, 17, S. 157). Die Religion bringt den Menschen dazu, eine langfristige Perspektive einzunehmen. Tut sie das nicht mehr, dann muss die Regierung diese Aufgabe übernehmen, und sie kann es, indem sie das Eigeninteresse der Menschen aufklärt, indem sie sie also dazu bringt einzusehen, dass ein jetziges Opfer sich langfristig als rentabel erweisen kann. Indem die Regierung die Menschen aber dazu bringt, den Blick vom Hier und Jetzt abzuwenden und auf die Zukunft hinzuwenden, kann sie dazu beitragen, dass die Menschen auch wieder an ihr ewiges Seelenheil denken. Dabei geht es dem politischen Schriftsteller Tocqueville aber nicht, oder nicht hauptsächlich, um das ewige Seelenheil der Individuen, sondern darum, dass die langfristige Perspektive, wie die Religion sie uns einzunehmen zwingt, auch förderlich für die Freiheit ist. Um noch einmal Tocqueville zu zitieren: „Es stellte sich heraus, dass [die religiösen Völker – N. C.], indem sie sich um die andere Welt kümmerten, das große Geheimnis gefunden hatten, um in dieser erfolgreich zu sein“ (Tocqueville OC I, 2, II, 17, S. 155). Nicht die Erlangung des ewigen Seelenheils ist ein Geheimnis, sondern vielmehr der Zusammenhang zwischen der Sorge um das ewige Seelenheil und derjenigen um das Gedeihen der Freiheit und des Wohlergehens in dieser Welt. Als politischer Schriftsteller, der eine neue politische Wissenschaft entwickeln will, lüftet Tocqueville hier eines der großen Prinzipien dieser Wissenschaft: Die beste Art und Weise, in dieser Welt erfolgreich zu sein, besteht darin, nach einem bestimmten religiösen Geist zu leben. Insofern es der Regierung durchaus obliegen kann, die Bedingungen der Möglichkeit eines erfolgreichen Lebens in dieser Welt zu bewahren oder herzustellen, kann es der Regierung nicht gleichgültig sein, ob die Menschen an eine jenseitige Welt glauben und sich um ihr Wohl in dieser Welt kümmern. Der demokratische Mensch hat es nötig, daran erinnert zu werden, dass er mehr ist als bloße Materie. In Amerika geschieht diese Erinnerung jeden Sonntag32: „In den Vereinigten Staaten, wenn der siebte Tag kommt, scheint das geschäftliche und industrielle Leben der Nation wie in der Luft zu hängen; aller Lärm hört auf“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 149). Unter diesen Umständen kann die Seele sich auf sich zurückbesinnen und sich aus ihrer Einbettung in das materielle Leben befreien. Der Mensch verlässt die Welt seiner „vorübergehenden Interessen“ und betritt eine „ideale Welt, in welcher alles groß, rein, ewig ist“ (Tocqueville OC I, 2, II, 15, S. 149). 31 32

Gemeint ist hier das wohlverstandene Eigeninteresse. Der zweite Band der Démocratie erscheint 1840. Zwei Jahre vorher, also 1838, hatte die Akademie von Besançon folgendes Thema ausgeschrieben: Vom Nutzen der Sonntagsfeier, unter dem Gesichtspunkt der öffentliche Hygiene, der Moral, der familiären und politischen Beziehungen.

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

Tocqueville geht an dieser Stelle nicht auf die Frage ein, ob die Regierung die Sonntagsarbeit verbieten sollte. Er dachte sicherlich, dass der Druck der öffentlichen Meinung schon stark genug wäre, um zu verhindern, dass jemand sich traut, am „siebten Tag“ zu arbeiten.33 Im Jahr 1786 wurde in Virginia ein von Thomas Jefferson – der als Präsident auf eine größtmögliche Trennung von Kirche und Staat pochen wird – verfasster Gesetzesentwurf angenommen, der den Titel trug: A Bill for Punishing Disturbers of Religious Worship and Sabbath Breakers. Hier geht es also nicht nur darum, dass Menschen untersagt werden soll, den Gottesdienst zu stören, sondern es gilt auch, ihnen die Sonntagsarbeit zu untersagen, mit Ausnahme des alltäglichen Haushalts (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 251). Auch wenn der Grund für dieses Verbot sicherlich im göttlichen Verbot der Sonntagsarbeit liegt, und im Wunsch, die Menschen ein den göttlichen Geboten und Verboten konformes Leben führen zu lassen, würde Tocqueville doch wahrscheinlich darauf hinweisen, dass die Sorge der Regierung Virginias um das ewige Seelenheil seiner Bürger und um deren den göttlichen Geboten konformes Leben, letztendlich doch auch positiv für das Diesseits war.34 Auch wenn er also davor warnt, den Priestern die Möglichkeit zu geben, direkt auf die politischen Entscheidungen einzuwirken, versperrt Tocqueville sich keineswegs einer Politik, die bestimmte Denkweisen fördert, die zur Religion führen können, oder bestimmte Praktiken untersagt, die nicht mit den göttlichen Geboten

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Wettergreen meint, Tocqueville habe die amerikanischen Gesetze bewundert, durch welche die Sonntagsarbeit untersagt wird (Wettergreen 1991, S. 215). Man sollte aber hinzufügen, dass er sie nicht bewundert hat, weil sie dem göttlichen Willen entsprachen oder das ewige Seelenheil der Menschen förderten, sondern weil sie ein Selbstverständnis förderten, das der Verwirklichung der politischen Freiheit entgegenkam. Indem sie sich dem religiösen Joch unterwarfen, wurden die Menschen – zumindest sonntags – vom ökonomischen Joch befreit, und diese Befreiung vom ökonomischen Joch war notwendig, um die Bedingungen der Möglichkeit des politischen Handelns und damit auch der politischen Freiheit zu erhalten. Catherine Zuckert hat darauf hingewiesen, dass die Wirkung der Gesetze nicht so sehr darin besteht, dass sie uns davon abhalten oder dazu anhalten, bestimmte Handlungen auszuführen, sondern „Gesetze funktionieren noch wirksamer dadurch, dass sie die Erfahrungen der Menschen strukturieren und auf diese Weise die Meinungen und Gefühle beeinflussen […]“ (Zuckert 2014, S. 175). Das primäre Ziel des gesetzlichen Verbots der Sonntagsarbeit wäre dementsprechend nicht, dass die Menschen nicht am Sonntag arbeiten, sondern dass sie sich als Wesen wahrnehmen und denken, die nicht ganz in einer auf rein materielle Güter gerichteten Begierde aufgehen. Für Zuckert legt Tocqueville einen großen Wert auf diese mentalitätsändernde Funktion der Gesetze. Banfield entdeckt in diesem Kontext einen Widerspruch bei Tocqueville, denn während er einerseits die Physiokraten verurteilt, die der Regierung die Aufgabe zuschrieben, die Mentalität der Menschen zu formen, macht Tocqueville sich andererseits für ein Programm stark, durch welches Individuen in Bürger verwandelt werden sollten (Banfield 1991, S. 244). Der Widerspruch existiert in der Tat bei Tocqueville, und Tocqueville war sich des Widerspruchs auch voll und ganz bewusst. Für ihn war die Frage nicht so sehr, ob man auf die Mentalität des Menschen einwirken sollte, sondern wie man auf sie einwirken sollte, und das bedeutet hier, welches Endziel man sich setzen sollte. Insofern man den Menschen Gefühle, Meinungen, usw. vermittelt, die sich positiv auf die Erhaltung oder die Förderung der Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit auswirken, ist ein solches Einflößen für Tocqueville erlaubt. Wo das aber nicht der Fall ist, muss es verurteilt werden.

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konform sind. Er tut es aber immer nur mit Blick auf die diesseitigen Vorteile bzw. sind es diese Vorteile, die ihn in erster Linie interessieren. Ein Aspekt, den man hier noch erwähnen kann, betrifft die Existenz eines für den Kultus zuständigen Ministeriums. Vor etwas mehr als 200 Jahren schrieb JeanBaptiste Say hierzu: „Wenn es einen Staat gäbe, wo man ein Kultus- und ein Handelsministerium hätte, könnte man behaupten, ohne mehr darüber zu wissen, dass dieser Staat schlecht verwaltet ist“ (Say 2003, S. 348).35 Say sagt hier nicht, ob die Existenz solcher Ministerien die Ursache für die schlechte Verwaltung ist, oder ob es sich um eine Konsequenz einer schlechten Verwaltung handelt. Es scheint aber so zu sein, als ob das erste gemeint ist: Als liberaler Wirtschaftswissenschaftler geht Say davon aus, dass das wirtschaftliche Leben dann am besten verwaltet ist, wenn der Staat sich nicht einmischt und wenn er demnach die wirtschaftlichen Akteure selbst gewähren lässt. Ähnlich könnte es dann für den Fall der Religion sein: Die Religion gedeiht dann am besten, wenn der Staat sich nicht in religiöse Angelegenheiten einmischt. Wenn er es tut, wird er meistens parteiisch sein, und diese Parteilichkeit wird dazu führen, dass bestimmte Religionsgemeinschaften, die sich benachteiligt fühlen, für Unordnung im Staat sorgen werden. Anstatt das Leben der religiösen Gemeinschaften nach seinen Vorstellungen regeln zu wollen, sollte der Staat sie sich selbst überlassen, genauso wie er die ökonomischen Akteure sich selbst überlässt. Wie viele andere Vertreter des ökonomischen Liberalismus, glaubt auch Say an eine natürliche Ordnung der Dinge, und daran, dass die Menschen sich dieser natürlichen Ordnung der Dinge fügen müssen, anstatt eine aus ihren willkürlichen Gedanken entsprungene Ordnung an deren Stelle zu setzen. Und genauso wie kein Handelsministerium durch menschliche Gesetze in die natürlichen Gesetze des Handels eingreifen sollte, sollte auch ein Kultusministerium davon absehen, durch menschliche Gesetze in die natürlichen Gesetze der Entwicklung des religiösen Glaubens einzugreifen. Solche Ministerien können die natürliche Ordnung nur stören, und wo sie mit dem Anspruch auftreten, die gestörte natürliche Ordnung wieder herzustellen, ersetzen sie eigentlich nur eine menschlich definierte Ordnung durch eine andere, und die natürliche Ordnung bleibt gestört. Das Fazit lautet also, dass ein Kultusministerium, ebenso wie ein Handelsministerium, gefährlich und unnötig sind. Heute gibt es in sehr vielen Staaten ein Handelsministerium, und auch ein Kultusministerium ist keine Seltenheit. Das Handelsministerium hat als Aufgabe, den Handel und damit die Produktion von Reichtum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern. Die Aufgaben des Kultusministeriums sind u. a. bestimmt durch die politisch-religiöse Situation, so dass das Kultusministerium in einem Land mit einer Staatskirche ganz andere Aufgaben hat als ein Kultusministerium in einem Land wie Frankreich, wo Staat und Kirchen voneinander getrennt sind. Doch warum hat Frankreich ein Kultusministerium – das dem Innenministerium angeschlossen ist? Verstößt die Existenz eines solchen Ministeriums nicht ge35

Mohl ist hier nuancierter. Ihm zu Folge spielt nämlich die Größe des Staates eine Rolle: ab einer bestimmten Größe wird ein abgesondertes Kultusministerium notwendig. In kleineren Staaten sollte das Innenministerium sich der religiösen Angelegenheiten annehmen (Mohl 1862, S. 269).

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

gen die Trennung von Kirche und Staat? Besteht hier nicht die Gefahr einer Einmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten? Was könnten die Aufgaben eines Kultusministeriums sein, die nicht gegen das Trennungsprinzip verstoßen? Könnte man sich in einem Land mit Trennung von Kirche und Staat vorstellen, dass das Kultusministerium die religiösen Gemeinschaften oder die Religion in demselben Sinn fördert, wie das Sportsministerium die Sportsverbände, oder das Kulturministerium die einzelnen Künstler oder die Kunst im Allgemeinen?36 Dass also der Kultusminister sich dafür einsetzt, dass mit staatlichen Geldern ein Gotteshaus gebaut wird, so wie der Sportminister sich dafür einsetzt, dass mit staatlichen Geldern ein Fußballstadion gebaut wird oder der Kulturminister dafür, dass ein Theater gebaut wird? Würde der von den Kirchen getrennte Staat sich hier nicht zu weit hinauswagen und die Religionen in einer Weise unterstützen, die zu weit geht? Und wie steht es schließlich um die mögliche Besoldung der Priester durch den Staat? Auf diese Frage wollen wir im nächsten Kapitel eingehen und belassen es hier bei diesen kurzen Bemerkungen zur Frage nach Sinn und Zweck eines Kultusministeriums. KAPITEL 2: DIE BESOLDUNG DER PRIESTER Selbst wenn eine Religion prinzipiell auch ohne einen etablierten Klerus auskommen kann, also ohne eine Gruppe von Menschen, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, die religiöse Botschaft zu verbreiten und für die Durchführung der religiösen Riten zu sorgen, so findet man doch einen solchen – eventuell hierarchisierten – Klerus in allen großen Religionen wieder. Die Ausbildung einer Priesterklasse drückt sozusagen einen Aspekt der Arbeitsteilung aus: Während die Mehrzahl der Menschen sich mit diesseitigen Geschäften abgeben, wendet sich eine bestimmte Gruppe ausschließlich – oder fast ausschließlich, bedenkt man, dass sich etwa Mitglieder bestimmter religiöser Orden auch mit diesseitigen Geschäften befassen – den jenseitigen Geschäften zu. Die Kleriker sind gewissermaßen die Vermittler zwischen Gott bzw. den Göttern und den Menschen. Insofern nicht alle Menschen über ein hinreichendes Wissen darüber verfügen, was Gott oder die Götter von ihnen verlangen und wie sie 36

Hier stellt sich natürlich die Frage, warum der Staat den Sport unterstützt. Wenn wir einmal von möglichen Prestigegründen absehen, kann er sich auf Gründe des öffentlichen Wohls berufen: Sport ist gut für die Gesundheit und er bringt die Menschen zusammen und fördert somit Solidarität – was allerdings nicht ausschließt, dass er auch die gegenteiligen Wirkungen haben kann. Dabei ist zu bemerken, dass es nicht der Staat ist, der den Menschen sagt, welchen Sport sie ausüben sollen. Er geht einfach von den existenten Vorlieben aus und orientiert seine Investitionen nach ihnen. Das bedeutet u. a., dass er von der Frage nach der „besten“ Sportart absieht, genauso wie er in religiösen Angelegenheiten von der Frage nach der „wahren“ Religion absehen sollte. In diesem Absehen drückt sich das Trennungsprinzip aus, während sich in der Unterstützung das Verbindungsprinzip ausdrückt. Lammert lädt zu der Suche nach „eine[r] sorgfältige[n] Trennung und zugleich […] eine[r] intelligente[n] Verbindung von Politik und Religion“ ein (Lammert 2015, S. 67).

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ihre religiösen Pflichten ausführen sollen bzw. insofern ihnen die Zeit fehlt, sich angemessen um den Kultus und alles was mit seiner Organisation zusammenhängt zu kümmern, entsteht eine abgesonderte Gruppe von Menschen, die sich spezifisch um den Kultus kümmern.37 Um für ihr physisches Leben zu sorgen, bedürfen die Mitglieder des Klerus bestimmter Güter. Wie alle Menschen, müssen auch sie essen und trinken, sich kleiden, usw. Diese Güter können die Mitglieder des Klerus sich etwa bei den Gläubigen erbetteln, wie es bei buddhistischen Mönchen der Fall ist. Sie können auch auf die freiwilligen Gaben der Gläubigen zurückgreifen, wie es zum Beispiel in der katholischen Kirche geschieht, wenn die Kirchenbesucher Münzen oder Scheine in den Opferstock werfen. Insofern die Religionsgemeinschaft über eigene Güter verfügt, die ihr Geld einbringen – etwa durch die Verpachtung von Ländereien oder durch den Verkauf von Produkten dieser Ländereien –, kann sie ihrem Klerus einen Teil dieser Einnahmen als Lohn zukommen lassen. Des Weiteren kann der Unterhalt des Klerus durch aufgezwungene Abgaben bestritten werden, wie etwa durch eine Kirchensteuer, die entweder alle Steuerzahler entrichten müssen, oder nur diejenigen, die sich zu der betreffenden Religion bekennen. Es kann selbstverständlich auch auf mehrere dieser Einnahmequellen zugleich zurückgegriffen werden. Wie viel Geld eine Religionsgemeinschaft braucht, um ihren Klerus zu bezahlen und um sonstige anfallende Ausgaben – man denke an den Unterhalt der Gotteshäuser oder das Erfüllen bestimmter sozialer Aufgaben, die als religiöse Pflichten gedacht werden (Armenhilfe, usw.)38 – zu decken, hängt von vielen Faktoren ab – von der Zahl der Gotteshäuser, von den Preisen für Güter, vom Lebensstandard, zu dem sich die Mitglieder des Klerus berechtigt fühlen, usw. Auch die Höhe der Einnahmen hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab – von der Bereitschaft der Gläubigen, auf bestimmte materielle Güter zu verzichten, von den Ressourcen, über die die Gläubigen verfügen, usw. Prinzipiell gilt aber auch für eine Religionsgemeinschaft das Prinzip, dass die Ausgaben nicht höher sein sollen als die Einnahmen.39 Mag auch Jesus die Brote in Kana vermehrt haben, die Kirche kann nicht ohne Weiteres den ihr zur Verfügung stehenden Besitzstand vermehren. 37 38

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Erinnert sei hier etwa an die Dreiteilung der mittelalterlichen Gesellschaft in laboratores, bellatores und oratores. Die beiden ersten Gruppen waren hauptsächlich für den Schutz des physischen Lebens zuständig, während die dritte Gruppe sich um das Seelenheil kümmerte. Interessant hier Says Bemerkung, dass die Religion, anstatt die Pflicht der Armenhilfe zu predigen, vielmehr den Widerstand jene Regierungen predigen sollte, die die Armut provozieren (Say 2003, S. 520). Damit meint Say allerdings nicht solche Regierungen, die den Markt vollständig entregulieren, sondern ganz im Gegenteil solche Regierungen, die das wirtschaftliche Leben regulieren wollen und der Eigeninitiative skeptisch, wenn nicht sogar feindlich gegenüberstehen. Der britische Nationalökonom William Petty rät etwa den Kirchen in seinem zuerst 1662 veröffentlichten Treatise of Taxes & Contributions, dass sie nicht mehr Kirchenleute ausbilden sollten, als es zu besetzende Posten gibt – und als man demnach auch tatsächlich zahlen kann. Wenn es etwa, um Pettys eigenes Beispiel zu nehmen, nur 12000 Posten gibt, dann sollte man keine 24000 Kleriker ausbilden (Petty 1986, S. 79). Es besteht nämlich die Gefahr, so Petty, dass die 12000 die keinen Posten bekommen, die 12000 anderen als schlechte Kleriker brandmarken, die den Menschen nicht den Weg in den Himmel, sondern vielmehr den Weg zur Hölle

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

Wenn eine Religionsgemeinschaft vor der Situation steht, in welcher ersichtlich ist, dass sie ihren Klerus nicht mehr mit eigenen bzw. mit eigen erwirtschafteten Mitteln bezahlen kann, und wenn auch keine Aussicht darauf besteht, dass die Gläubigen von sich aus mehr Geld für ihren Klerus ausgeben werden, so dass die Gefahr besteht, dass der Klerus nicht mehr unterhalten werden kann, was dann eventuell zum Untergang der betreffenden Religionsgemeinschaft führen wird, wenn sie für ihr Überleben auf einen Klerus angewiesen ist40, kann in einigen Köpfen der Gedanke aufkommen, nach einer Besoldung des Klerus durch öffentliche Gelder zu verlangen. Fehlt der Kirche Geld, so wird der Staat einspringen und bestimmte Ausgaben, wie etwa die Besoldung der Priester, übernehmen. Ein Argument, das ein solches Einspringen des Staates untermauern kann, scheint dabei auf der Hand zu liegen. Die Religion spielt eine wichtige soziale Rolle, und das Geld, das man für sie ausgibt, spart man an anderer Stelle wieder ein. Indem sie viele Menschen davon abhält, Verbrechen zu begehen, erspart sie dem Staat Ausgaben in den Bereichen der Polizei, der Justiz und des Strafvollzugs.41 Indem sie vielen Menschen Hoffnung gibt und sie davor bewahrt, depressiv zu werden, erspart sie dem Staat Ausgaben im Bereich der Krankenversorgung. Indem sie die Gläubigen zur Nächstenliebe und zum Spenden aufruft, erspart sie dem Staat Ausgaben im Bereich der sozialen Fürsorge. Indem sie eigene Schulen unterhält, erspart sie dem Staat Ausgaben im Erziehungsbereich. Man könnte diese Liste vielleicht noch fortsetzen, aber schon jetzt scheint festzustehen, dass die Finanzierung der Religion aus öffentlichen Geldern den Staat letztendlich vielleicht weniger kosten wird, als ein Verzicht auf eine solche Finanzierung. Sieht der Staat also von ideologischen Gründen ab und stützt er seine Entscheidungen nur auf ökonomische Erwägungen, dann müsste er – stimmen die eben angeführten Behauptungen über die Vorteile, die eine Religion der Gesellschaft bringt – den Klerus besolden, um auf diese Weise die Verbreitung der Religion und den Erhalt der religiösen Institutionen zu fördern. Man könnte in diesem Kontext noch ein anderes Argument vorbringen, das sich aus dem vorigen ergibt. Indem die Religion die eben genannten positiven Konsequenzen für die Staatsfinanzen hat, trägt sie dazu bei, dass der Staat sich nicht zu stark in bestimmte Bereiche einmischen muss. Wenn etwa die Kirche sich um die Armenhilfe kümmert, dann wird dadurch verhindert, dass der Staat den Armen Geld geben muss, dessen Gebrauch durch die Armen er wahrscheinlich kontrollie-

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öffnen. Und damit löst man dann einen Streit zwischen Klerikern aus, der auf lange Sicht der Religion nur schaden kann. Gäbe es im Christentum keinen Klerus mehr, so könnten die Menschen zwar noch weiterhin die Bibel lesen und sich an der Bibel orientieren, aber es könnte niemand mehr getauft werden und seine Kommunion und Konfirmation machen. Hier ist der Klerus notwendig, damit es überhaupt noch Mitglieder der betreffenden Religionsgemeinschaft geben kann. Genauso wie manchmal behauptet wird, dass der Bau und der Unterhalt von Schulen mitsamt dem ihnen zugeordneten Personal den Bau und den Unterhalt von Gefängnissen unnötig macht, könnte man auch behaupten, dass der Bau und der Unterhalt von Kirchen mitsamt dem ihnen zugeordneten Personal Gefängnisse unnötig macht.

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ren wird.42 Die Religion und der sie predigende Klerus, aber auch die Gläubigen, die sich solidarisch mit ihren Mitmenschen zeigen, tragen somit dazu bei, die Macht des Staates zu begrenzen. Und indem sie dazu beitragen, die Macht des Staates zu begrenzen, tragen sie auch dazu bei, die Gefährdung der Freiheit durch einen allzu starken oder sich allzu sehr ins Privatleben der Menschen einmischenden Staat zu minimieren.43 Die öffentliche Finanzierung der Religion erscheint somit als ein Preis, den man nicht nur aus rein finanzpolitischen Gründen zu zahlen bereit sein sollte, sondern auch als ein Preis, durch den eine liberale Gesellschaft sich die Bewahrung der Freiheit – verstanden als Freiheit von staatlichen Eingriffen in die bzw. von einer Kontrolle der Privatsphäre – erkaufen kann. Während das erste der vorgebrachten Argumente für eine staatliche Finanzierung der Religionsgemeinschaften dazu gedacht ist, den liberalen Nationalökonomen zu überzeugen, wendet sich das zweite an den liberalen Politiker. Doch was sagt die klassische Nationalökonomie tatsächlich zu einer staatlichen Finanzierung der Religion? Jean-Baptiste Say hat sich im 37. Kapitel seiner Poli­ tique pratique kurz mit der Frage der staatlichen Finanzierung des Kultus befasst. Er erwähnt dabei den an die Nationalökonomie gerichteten Vorwurf, sie betrachte die für den Kultus getätigten Ausgaben als überflüssig, als eine Verschwendung öffentlicher Gelder (Say 2003, S. 683). James Steuart, ein anderer Klassiker der Nationalökonomie, hatte ein gutes Jahrhundert früher von Klöstern gesprochen, die, wären sie von Fürsten – und d. h. mittels öffentlicher Gelder – gebaut worden, als Beispiele unerhörter Verschwendung in die Geschichte eingegangen wären (Steuart 1767, S. 468). Bei Steuart findet man also auch den Gedanken, dass das für religiöse Zwecke ausgegebene öffentliche Geld – ich gehe einmal davon aus, dass der von Steuart erwähnte Fürst Staatsgelder benutzt hat – eine Verschwendung darstellt. Beide eben zitierten Autoren wehren sich allerdings gegen den Gedanken, die Nationalökonomie würde den Gebrauch öffentlicher Gelder zum Zweck der Unterstützung des Kultus unter allen Umständen verurteilen. Steuart weist darauf hin, dass der Bau eines Klosters dazu beiträgt, die arbeitenden Armen zu ernähren und die liberalen Künste zu fördern. Des Weiteren trägt die Ästhetik des Baus auch dazu bei, dass der Geschmack der Bevölkerung verbessert wird und dass viele Ausländer das Land besuchen, um sich das Kloster anzusehen (Steuart 1767, S. 468). Was aus nationalökonomischer Sicht zunächst als Verschwendung aussah, erweist sich somit, immer noch aus nationalökonomischer Sicht, als Gewinn. Man muss lediglich die kurzfristige durch eine langfristige Perspektive ersetzen.44 Wichtig ist, dass die 42

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Keslassy diagnostiziert bei Tocqueville die Furcht, dass der Staat den Platz einnimmt, den die gesellschaftlichen Solidarstrukturen in der alten Gesellschaftsordnung besetzt hatten und die dem um sich grassierenden Individualismus der neuen Gesellschaftsordnung zum Opfer gefallen sind (Keslassy 2000, S. 181). Dabei sollte allerdings nicht verschwiegen werden, dass eine Kontrolle des Privatlebens durch den Klerus nicht ausgeschlossen werden kann und dass diese genauso invasiv sein kann wie eine staatliche Kontrolle. Steuart sagt kein Wort über einen möglichen sozialen Nutzen der im Kloster lebenden Mönche. Ganz anders sein Landsmann Richard Cantillon, auch ein Klassiker der Nationalökonomie, der meint, dass Mönche hier auf Erden nutzlos sind und nicht einmal etwas zur Verschönerung des irdischen Lebens beitragen (Cantillon 1755, S. 124). Cantillon stellt sie den seigneurs entge-

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

investierten Gelder zwar in religiöse Gebäulichkeiten investiert werden, dass dies aber nicht aus religiösen Motiven geschieht. Steuart sagt nicht, dass durch den Bau eines Klosters und durch das Predigen die Seelen der arbeitenden Armen gerettet werden können. Für ihn zählen nur die diesseitigen Vorteile eines solchen Baus für die Armen. Say schreibt seinerseits: „Ein falscher Kultus, der den Menschen nicht die Vorteile bringen würde, die er ihnen verspricht, ein Kultus, der ihre Seelen mit nutzlosen Ängsten füllen würde, der ihre Urteilskraft verderben und die Menschen erniedrigen würde, wäre wahrlich eine Ausgabe, die nichts rechtfertigen könnte; aber ein Kultus mittels dessen alle Menschen als Brüder leben, sich nicht gegenseitig irreführen, sich nicht gegenseitig plagen würden, könnte reichlich bezahlt werden, ohne zu teuer zu sein, vorausgesetzt, dieselben Vorteile ließen sich nur um diesen Preis bekommen“ (Say 2003, S. 683). Say macht hier den Unterschied zwischen einem nutzlosen und einem nützlichen Kultus, wobei er zunächst den Eindruck erweckt, als ob der Nutzen mit der Wahrheit zusammenhängt. Allerdings glaube ich nicht, dass Say die religiöse Wahrheit eines Kultus als Kriterium benutzt. Wenn er von den versprochenen Vorteilen spricht, so meint er nicht das ewige Seelenheil – denn wie sollte man feststellen, ob jemand dies wirklich erlangt? –, sondern, wie es der zweite Teil seines Satzes zeigt, die irdischen Güter, wie etwa das friedliche und freundschaftliche Zusammenleben der Menschen. Was der Staat für den Kultus ausgibt, erspart er um das Mehrfache auf dem Gebiet der Ausgaben zur Sicherung des öffentlichen Friedens und der öffentlichen Ruhe. Wenn alle Menschen Brüder sind und es keine Verbrechen mehr gibt, braucht man keine Polizei, keine Gefängnisse und keine Gefängniswächter mehr. Wenn die Religion für den öffentlichen Frieden und die öffentliche Ordnung sorgt, dann braucht der Staat es nicht mehr zu tun. Und wenn die Religion diese Aufgabe genauso gut erfüllt, aber zu einem geringeren Preis, dann besteht eigentlich kein Grund, wieso man nicht den Religionsgemeinschaften, anstatt dem Staat, diese Aufgabe anvertrauen sollte, wobei man dann selbstverständlich öffentliche Gelder benutzen würde, um den Klerus zu bezahlen. Im revolutionären Frankreich wurde die Debatte um die öffentliche Finanzierung des Klerus vor dem Hintergrund der Enteignung des Klerus und der Umwandlung seines Besitzes in Nationaleigentum geführt. Für viele galt, dass die öffentliche Besoldung des Klerus als eine Art Entschädigung für die verloren gegangenen Kirchengüter zu betrachten war.45 Mit der Verwandlung des Eigentums der Kirche in Nationaleigentum, hatte man dem Klerus die Mittel weggenommen, sich selbst finanziell zu erhalten. Konnte er früher von den Einnahmen seiner Ländereien, usw. leben, so war dies fortan nicht mehr der Fall. Wenn man demnach einen Klerus

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gen, die dem Land nicht nur in Kriegszeiten, sondern auch in Friedenszeiten nützlich sind, wenn sie etwa dazu beitragen, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Eine solche Entschädigung war aber nur denkbar, wenn das vor 1789 in den Händen des Klerus befindliche Eigentum auf eine legitime Weise erlangt wurde. Es entstand somit eine Debatte darüber, ob das Eigentum des Klerus legitim war, oder ob man es als Produkt der Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung durch den Klerus betrachten sollte.

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beibehalten wollte, musste man ihm jenen Unterhalt garantieren, den er fortan nicht mehr selbst garantieren konnte. In den ersten Revolutionsjahren erfolgte in dieser Hinsicht nichts, und ein entsprechender Gesetzesentwurf wurde von der Nationalversammlung abgelehnt.46 Der französische Klerus musste auf das am 15. Juli 1801 zwischen den Vertretern Napoleons und des Papstes Pius VII. unterschriebene Konkordat warten, bevor er in den Genuss einer öffentlichen Besoldung kam. Das Konkordat beginnt mit der Feststellung, dass die Regierung der Republik die katholische Religion als die Religion der großen Mehrheit der französischen Bürger anerkennt. Im XIII. Artikel verpflichtet sich der damalige Papst – eine Verpflichtung, die auch für seine Nachfolger gilt –, jeden Anspruch auf die Rückerstattung des zu Nationaleigentum erklärten früheren Eigentums der Kirche aufzugeben. In Artikel XIV heißt es dann, dass die Regierung den Bischöfen und Priestern einen angemessenen Lohn sichern wird. Die Artikel LXV und LXVI der das Konkordat ergänzenden Organischen Artikel legen den Lohn der Bischöfe auf 10 000 und denjenigen der Priester, die in zwei Klassen aufgeteilt werden, auf 1500 bzw. 1000 Franken fest. Fast ein halbes Jahrhundert später, wird die Verfassung von 1848 in ihrem siebten Artikel festhalten, dass die Priester der schon anerkannten Religionsgemeinschaften ein Recht darauf geltend machen können, vom Staat bezahlt zu werden. In den Genuss dieses Rechtes kann aber prinzipiell jede Religionsgemeinschaft kommen, vorausgesetzt, der Staat erkennt sie an. Damit obliegt es also dem Staat, darüber zu entscheiden, welche Religionsgemeinschaften er finanziell unterstützen wird und welche nicht. Kriterien werden nicht festgelegt und die Entscheidung wird der Willkür der Regierung überlassen. Zwischen dem Konkordat und der Verfassung von 1848 liegt die Charta von 1814. Sie bildet den Hintergrund für Constants Verteidigung der staatlichen Besoldung des Klerus. In der späten Fassung der Principes de politique – durch die er seinen Verfassungsentwurf (die sogenannte Constantine) für den aus dem Exil auf Elba zurückgekehrten Napoleon zu rechtfertigen versucht47 –, findet sich eine Stelle, wo Constant, von dem man eher erwartet hätte, dass er sich gegen eine finanzielle Unterstützung des Kultus aus öffentlichen Geldern ausspricht, die Besoldung der Priester bestimmter Religionsgemeinschaften ausdrücklich befürwortet. Es sieht so aus, als ob Constant nicht daran vorbei kam, eine Rechtfertigung für die im Konkordat festgehaltene Regelung zu finden, da das Konkordat weder vom zurückge46 47

Er wurde am 29. Oktober 1790 von Ramond eingebracht und verlangte, dass die Priester aller Glaubensgemeinschaften vom Staat bezahlt werden. In diesem Zusammenhang wurde Constant oft Opportunismus vorgeworfen. Er, der nach der ersten Niederlage Napoleons und dessen Rückzug auf die Insel Elba öffentlich und vehement den napoleonischen Despotismus verurteilt hatte, schließt sich dem zurück nach Paris gekehrten Napoleon an und ist sogar bereit, eine Verfassung für ihn zu redigieren. Dabei sollte man allerdings bedenken, dass Napoleon Constant darum gebeten hatte, eine liberale Verfassung zu entwerfen. Constant war es eigentlich gleichgültig, für wen er eine solche Verfassung redigierte. Hauptsache war, dass die französischen Bürger vor dem Staat geschützt wurden. Wenn man Constant etwas vorwerfen kann, dann eventuell eine gewisse Dosis Naivität, also der Glaube, dass Napoleon, sobald er seine Macht wieder gefestigt hätte, sich tatsächlich an die liberale Verfassung halten würde.

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kehrten Napoleon – der es ausgehandelt hatte –, noch von der vor dieser Rückkehr wieder etablierten und durch sie wieder abgeschafften Monarchie in Frage gestellt wurde. Die Besoldung der Priester war ein gegebenes Faktum, und der politische Philosoph Constant musste nun versuchen, dieses Faktum zu rechtfertigen, ohne sich dabei zu sehr von seinen liberalen Prämissen zu entfernen. Soweit mir bekannt ist, hat Constant an keiner früheren Stelle seiner Schriften die Besoldung des Klerus durch öffentliche Gelder verteidigt48, so dass behauptet werden kann, dass wir es hier mit einer Pflichtübung zu tun haben, bei welcher das zu erreichende Ziel schon vorgegeben war (Rechtfertigung der Besoldung), und Constant einen – auch – für das liberale Denken gangbaren Weg finden musste. Insofern aus liberaler Sicht der Staat zur religiösen Neutralität hinsichtlich der Wahrheitsfrage verpflichtet ist, kann er nicht diejenige Religion finanziell unterstützen, die er als die wahre identifiziert hat, selbst dann nicht, wenn wir voraussetzen, dass er sich bei dieser Identifizierung nicht geirrt hat. Andererseits ist es aber auch schwer denkbar, dass der Staat einfach alle Religionsgemeinschaften finanziell unterstützt und die Geistlichen aller religiösen Gemeinschaften besoldet. Dem Staat stehen immer nur begrenzte finanzielle Ressourcen zur Verfügung, während der religiösen Phantasie der Menschen kaum Grenzen gezogen sind. Wenn nun der Staat religiöse Gemeinschaften finanziell unterstützen will, er dabei aber nicht alle finanziell unterstützen kann, und wenn dabei nicht auf die Wahrheit als Kriterium zurückgegriffen, noch einfach aufs Geratewohl entschieden werden kann, dann muss man sich ein allgemein akzeptierbares Unterscheidungskriterium einfallen lassen, will man sich nicht dem Vorwurf einer ungerechten oder diskriminatorischen Behandlung bestimmter Religionsgemeinschaften aussetzen. Insofern qualitative Kriterien – etwa Wahrheit, Erhabenheit, … – problematisch sind, bietet sich ein quantitatives Kriterium als möglicher Kandidat an. So meint Constant, dass der Staat nur den Klerus der großen bzw. der etwas größeren religiösen Gemeinschaften – „un peu nombreuses“, wie es im Original heißt – besolden sollte (Constant 1980a, S. 407). Ab wann eine religiöse Gemeinschaft als groß genug anzusehen ist, um finanzierungswürdig zu sein, sagt Constant nicht. Eine religiöse Gemeinschaft, der nur zehn Mitglieder angehören, ist sicherlich zu klein, und eine Gemeinschaft, der zehn Millionen Mitglieder angehören, ist sicherlich groß genug. Doch wo liegt die Grenze? Bei 10 000? Bei 100 000? Bei 500 000?49 Um solchen Problemen aus dem Weg zu gehen, könnte der Staat festlegen, dass er jeweils immer nur die fünf größten Religionsgemeinschaften des Landes finan48

49

In einer 1821 vor der Abgeordnetenkammer gehaltenen Rede wird Constant allerdings noch einmal für eine solche Besoldung der Priester der „ein wenig zahlreichen“ – „un peu nombreuses“ – Religionsgemeinschaften eintreten (zitiert in Gougelot 1942, S. 245, Fußnote 5). Die Rede wurde im Kontext der Abstimmung einer Gesetzesvorlage zur Rente der Kleriker und zur Frage der Bischofssitze gehalten. In Belgien müssen es „mehrere Zehntausende“ sein, und die Religionsgemeinschaft muss auch seit „mehreren Jahrzehnten“ auf dem Staatsterritorium präsent gewesen sein (Franken 2016, S. 150). In einem relativ kleinen Land wie Belgien macht es allerdings einen relativ großen Unterschied aus, ob man mit „mehreren Zehntausend“ dreißigtausend oder achtzigtausend Anhänger meint. Und es macht auch einen großen Unterschied, ob unter „mehreren Jahrzehnten“ nur 30 oder aber 80 Jahre gemeint sind.

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ziell unterstützen wird. Anstatt eine absolute Mitgliederzahl zu wählen, begnügt man sich sozusagen mit relativen Zahlen. Dadurch wird zwar einerseits der Mitgliederzahl Rechnung getragen, aber andererseits steht man nicht mehr vor dem Problem, eine notgedrungen immer willkürlich festgesetzte Mitgliederzahl festlegen zu müssen. Aber man ist trotzdem nicht von allen Problemen befreit, weil man jetzt rechtfertigen muss, warum man nur die fünf größten Religionsgemeinschaften finanziell unterstützen will, und nicht etwa die sechs oder die zehn oder vielleicht nur die drei größten. Hier könnte der Verdacht aufkommen, dass man zunächst sieht, welche Religionsgemeinschaften man auf jeden Fall finanziell unterstützen will, und dass man dann eine Zahl derart festlegt, dass die gewünschten Religionsgemeinschaften finanziert werden – auch wenn das bedeutet, dass man vielleicht eine Religionsgemeinschaft finanzieren muss, die man ursprünglich nicht finanzieren wollte. Doch angenommen man hätte die eben genannten Zahlenprobleme gelöst, so entsteht gleich ein weiteres Problem, für welches uns Constant auch keine Lösung gibt: An welcher Zahl wird man sich orientieren? An der Zahl der Getauften bzw. der sonstwie in eine bestimmte religiöse Gemeinschaft Aufgenommenen, oder an der Zahl derjenigen, die sich regelmäßig an den Riten einer Religionsgemeinschaft beteiligen?50 Im letzteren Fall müsste man bestimmen, was unter regelmäßig zu verstehen ist, und man müsste außerdem entscheiden, welche Riten man berücksichtigt. Wird man, was z. B. den Katholizismus betrifft, nur die Zahl derjenigen berücksichtigen, die regelmäßig am Sonntagsgottesdienst teilnehmen, oder wird man auch berücksichtigen, wer am Karfreitag kein Fleisch isst oder wer am 24. Dezember an der Mitternachtsmesse teilnimmt? Und wie ist es mit ganz kleinen Kindern, die eigentlich noch nicht an diesen Riten teilnehmen können? Wird man sie trotzdem mitrechnen und davon ausgehen, dass ihre Eltern stellvertretend für sie teilnehmen? Will man diesen Problemen aus dem Weg gehen, so kann man sich für die erste Möglichkeit entscheiden und sich an der Zahl der offiziell in eine Religionsgemeinschaft Aufgenommenen orientieren, mögen diese an den Riten teilnehmen oder nicht bzw. überhaupt noch den religiösen Glauben derjenigen Gemeinschaft haben, in die sie aufgenommen wurden, oder gar überhaupt noch einen religiösen Glauben tout court. Aber die Tatsache, dass jemand einige Tage nach seiner Geburt getauft und im Kindesalter seine Kommunion gemacht hat und konfirmiert wurde, bedeutet noch nicht, dass er sich als Erwachsener auch zu dem Glauben bekennt, in den seine Eltern ihn einführen wollten. Viele Katholiken sind dies nur noch bloß dem Namen nach und auf Grund einer Entscheidung ihrer Eltern, eine Entscheidung, 50

Folgende Behauptung Tempermans kann auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden: „[S]taatliche Unterstützung, wenn sie stattfindet, sollte so weit wie möglich die tatsächliche Anhängerschaft (actual adherence) widerspiegeln“ (Temperman 2010, S. 227). Ab wann ist man „tatsächlich“ Katholik, Protestant, Muslim, Jude, usw.? Misst man die tatsächliche Anhängerschaft an einem objektiv zugänglichen Kriterium – Zahl der offiziell in die Religionsgemeinschaft Aufgenommenen (was voraussetzt, dass es überhaupt Aufnahmerituale und eine aktenkundliche Dokumentierung davon gibt) – oder misst man sie am subjektiven und persönlichen Kriterium des tatsächlichen Glaubens oder gar an der Intensität des Glaubens? Letzteres wäre sicherlich wünschenswerter, lässt sich aber aus unterschiedlichen Gründen nicht machen.

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die sie zwar rückgängig machen könnten – der Austritt aus der katholischen Kirche ist durchaus möglich, und man riskiert auch keine, zumindest irdischen, Nachteile dadurch zu erleiden51 –, die sie aber aus unterschiedlichen Gründen – viele, weil sie überhaupt nicht daran denken oder die Prozedur zu lästig finden – nicht rückgängig machen.52 Wählt man diese zweite Möglichkeit, so besteht die Gefahr, dass manche Religionsgemeinschaften sich nur noch darum bemühen werden, viele Mitglieder zu haben, anstatt, wie es doch eigentlich der Fall sein sollte, ehrliche oder vom Glauben überzeugte Mitglieder. Der rein quantitative Aspekt wird dann die Überhand über den qualitativen nehmen, und viele Gläubige werden es nur dem Namen nach sein, und nicht dem Glauben nach. Auf alle eben gestellten Fragen gibt Constant keine Antwort, und wir müssen uns mit seinem Hinweis begnügen, dass der Staat diejenigen religiösen Gemeinschaften finanziell unterstützen soll, die „ein wenig zahlreich“ sind. Diese Formulierung lässt übrigens auch offen, ob man sich an absoluten Zahlen oder an Prozentzahlen orientieren soll. Eine Million Mitglieder ist eine große Zahl bei einer Bevölkerung von 5 Millionen, aber bei einer Bevölkerung von 500 Millionen sind es nur 0,2 % der Gesamtbevölkerung und damit an und für sich eine kleine Zahl. Constant sagt auch nicht, ob man nur die Mitglieder zählen soll, die im betroffenen Land leben, oder ob man alle Mitglieder der Religionsgemeinschaft berücksichtigen sollte. Eine Religionsgemeinschaft kann weltweit 1 Milliarde Mitglieder zählen, in einem bestimmten Land aber nur tausend, die vielleicht 0,001 % der Bevölkerung dieses Landes ausmachen. Man könnte jetzt einwenden, dass alles bisher Gesagte eigentlich nur nebensächlich ist, und dass es nicht darauf ankommt zu wissen, wie man die zu berücksichtigende Mitgliederzahl berechnet, sondern darauf, ob ein rein quantitativ definiertes Kriterium es uns erlaubt, jene Probleme zu umgehen, die mit einem qualitativen, vor allem die Wahrheit einer bestimmten Religion voraussetzenden Kriterium verbunden sind. Mögen die Probleme der Operationalisierung des Kriteriums auch unüberwindlich sein, so kann man sie ignorieren, wenn man sich auf einer ganz abstrakten Ebene mit dem Problem der Legitimität befasst. Angenommen die Frage wäre also nicht, ob Constants Vorschlag überhaupt realisierbar ist, sondern ob er, wenn man sich ihn als realisierbar denkt, in den Rahmen einer liberalen Politik passt. Constant selbst ist der Überzeugung, dass eine öffentliche finanzielle Unterstützung des Kultus, und u. a. auch eine offizielle Besoldung des Klerus, den „wah51 52

Wer heute aus der katholischen Kirche austritt, wird nicht mehr sozial geächtet. Bei einigen Religionen kann der Austritt aber problematischer und riskierter sein. Ein pensionierter Kollege von mir wurde, wird es damals üblich war, gleich nach seiner Geburt getauft, ist aber heute ein überzeugter Atheist. Auf die Frage, warum er nicht aus der Kirche austritt, gibt er die Antwort, dass ein Austrittsgesuch seinerseits einer Anerkennung der Kirche als einer über seine Identität entscheidenden Instanz gleichkäme. Er lehnt eine solche Anerkennung aber ab. Man könnte dies mit der Situation einer Geisel vergleichen, die den Geiselnehmer darum bittet, wieder frei sein zu dürfen. Insofern der Geiselnehmer kein Recht hat, jemanden als Geisel zu nehmen, braucht eine Geisel auch nicht zu warten, bis der Geiselnehmer ihr die Erlaubnis gibt, sich wieder frei zu bewegen.

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ren Prinzipien“ einer liberalen Politik nicht unbedingt widersprechen muss. In diesem Kontext sollte man vor allem zwei Prinzipien berücksichtigen, und zwar das Trennungsprinzip einerseits, und das Gerechtigkeitsprinzip andererseits. Das Trennungsprinzip verlangt, dass Staat und Kirche klar voneinander getrennt sein sollen, so dass weder der Staat sich in kirchliche Angelegenheiten einmischt – und etwa Glaubenssätze festlegt –, noch die Kirche in staatliche Angelegenheiten – indem sie etwa Gesetzestexte beeinflusst. Das Gerechtigkeitsprinzip verlangt, dass der Staat, wenn er A und B unterschiedlich behandelt, dies nicht auf Grund normativ irrelevanter Faktoren tut. Wenn A und B unterschiedlich behandelt werden, dann muss diese unterschiedliche Behandlung sich durch Gründe rechtfertigen lassen, die beide Parteien prinzipiell als gerechtfertigt einsehen, und die sie demnach auch beide prinzipiell akzeptieren können. Wo dies nicht der Fall ist, wird eine der beiden Parteien sich als ungerecht behandelt fühlen, was sie dazu veranlassen kann, die Legitimität des Staates – oder zumindest der im Namen des Staates handelnden Regierung – in Frage zu stellen.53 Constant ist der Überzeugung, dass das Trennungsprinzip nicht durch eine öffentliche finanzielle Unterstützung des Klerus in Frage gestellt wird. In seinen Augen verlangt das Trennungsprinzip nur – beschränkt man sich auf die Seite des Staates –, dass der Staat keinen Kultus gebietet und keinen Kultus verbietet, dass der Staat also jedem seiner Bürger die Freiheit lässt, zu glauben oder nicht zu glauben, religiöse Handlungen auszuführen oder nicht auszuführen und, wenn er solche Handlungen ausführt, diejenigen auszuführen, von denen er glaubt, sie seien die richtigen. Aus diesem Verbot eines staatlichen Gebietens und Verbietens folgt nicht, so Constant, dass der Staat keinen Kultus finanziell unterstützen darf. Es ist in seinen Augen nämlich etwas ganz anderes, ob man einem Kultus finanziell unter die Arme greift, oder man den Menschen verbietet bzw. gebietet, sich zu einem bestimmten Kultus zu bekennen und an den Riten dieses Kultus teilzunehmen. Die Tatsache, dass der Staat einen bestimmten Kultus finanziell unterstützt, nimmt den Anhängern anderer Religionen nicht das Recht weg, sich weiterhin ihrem Kultus zu widmen, noch ändert sich irgendetwas für die Atheisten oder Agnostiker.54 Was man also dem einem gibt, nimmt man keinem anderen weg. 53

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Die Legitimität einer Regierung reduziert sich nicht bloß darauf, aus demokratischen Wahlen hervorgegangen zu sein. Wie man im Mittelalter zwischen dem Tyrannen ab origine und dem Tyrannen ab exercitu unterschieden hat, sollte man auch heute die Legitimität einer Regierung wieder vom dem Hintergrund ihrer tatsächlichen Machtausübung betrachten. Eine aus demokratischen Wahlen hervorgegangen Regierung kann ihre Legitimität ab origine verspielen, indem sie jene Prinzipien verletzt, die aus demokratischen Wahlen einen Legitimitätsgrund machen. Und zu diesen Prinzipien zählt das Gerechtigkeitsprinzip, da die demokratischen Wahlen ihre legitimierende Kraft u. a. darin schöpfen, dass bei ihnen niemand aus nicht allgemein nachvollziehbaren Gründen ausgeschlossen wird. Daunou unterscheidet drei mögliche Gesetzessysteme. Das erste erkennt eine für alle Bürger obligatorische Staatsreligion an. Das dritte überlässt alle Religionsgemeinschaften sich selbst. Daunou ist entschieden gegen das erste System und sieht im dritten das anzustrebende Ideal. Er meint allerdings, dass man neben diesen beiden Systemen noch ein drittes findet, das, obwohl es nicht ideal ist, trotzdem mit der Freiheit vereinbar ist. In diesem System gibt es eine vom

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Wenn Constant auch recht haben mag mit seiner Behauptung, dass die Finanzierung einer Glaubensgemeinschaft keine Einschränkung der Freiheit der anderen Glaubensgemeinschaften und deren Mitglieder mit sich bringt, so darf man sich doch fragen, ob das Trennungsprinzip oder das für viele Autoren mit ihm gleiche Prinzip der religiösen Freiheit, nur als ein Verbot des Gebietens und Verbietens zu interpretieren ist. Man könnte es nämlich auch als ein absolutes Nichteinmischungsprinzip interpretieren. Dabei wird man allerdings präzisieren müssen, dass der Staat sich sehr wohl aus Gründen der öffentlichen Sicherheit in die Angelegenheiten der religiösen Gemeinschaften einmischen darf. Eine Einmischung darf etwa dann geschehen, wenn Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft von anderen Mitgliedern bedroht werden. Sie kann auch dann geschehen, wenn z. B. eine Kirche baufällig ist und der Bürgermeister oder eine andere für die öffentliche Sicherheit zuständige Instanz die Benutzung der Kirche aus Gründen der öffentlichen Sicherheit verbietet und gegebenenfalls den sofortigen Abriss der Kirche anordnet, da sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Diese Einmischungen geschehen aber nicht aus religiösen Gründen. Die Kirche wird nicht geschlossen oder abgerissen, weil in ihr der falsche Gott angebetet wird und somit das ewige Seelenheil der an den Gottesdiensten Teilnehmenden gefährdet ist, sondern sie wird geschlossen oder abgerissen, weil die körperliche Integrität der Gläubigen – aber auch der Nichtgläubigen, die an der Kirche vorbeigehen – gefährdet ist. Insofern die Kirche wirklich baufällig ist und nur eine Schließung oder ein Abriss einer Gefährdung vorbeugen können, werden auch die kirchlichen Autoritäten der Schließung oder dem Abriss zustimmen. Der Staat, könnte man sagen, greift hier bloß akzidentell in eine kirchliche Angelegenheit ein. Constant glaubt also nicht, dass das Trennungsprinzip mit einem absoluten Nichteinmischungsprinzip gleichzusetzen ist, so dass eine Besoldung der Priester aus öffentlichen Geldern nicht unbedingt mit einer Verletzung des Trennungsprinzips gleichgesetzt werden kann. Es ist interessant zu sehen, wie Constant seine Einmischungserlaubnis begründet. Hier der Wortlaut dieser Begründung: „Es ist nicht gut, wenn man im Menschen die Religion und das finanzielle Interesse in Konkurrenz zueinander treten lässt. Den Bürger dazu zwingen, unmittelbar denjenigen zu bezahlen, der in einem gewissen Sinn sein Interpret bei dem Gott ist, den er anbetet, läuft darauf hinaus ihm anzubieten, einen unmittelbaren Profit zu erzielen, wenn er seinen Glauben aufgibt; es heißt, ihm Gefühle kostspielig zu machen, die die Ablenkungen der Welt bei den einen und die Arbeit bei den anderen schon genügend bekämpfen“ (Constant 1980a, S. 407).

Staat finanzierte Staatsreligion und neben ihr können andere Religionen frei bestehen. Dass auch Nicht-Anhänger diese Staatreligion mitfinanzieren müssen, stellt für Daunou keinen Eingriff in ihre Religionsfreiheit dar, da diese erst dann verletzt sein würde, wenn die Nicht-Anhänger sich in ihrem Handeln an den Riten, Feiertagen, usw. der offiziellen Religion orientieren müssten (Daunou 2000, S. 124). Eine Staatsreligion ist in Daunous Augen aber höchstens nur dort akzeptabel, wo man es mit einer Religion zu tun hat, die seit Jahrhunderten von der Mehrzahl der Bevölkerung geteilt wird (Daunou 2000, S. 123).

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Hier ist zuerst zu bemerken, dass nicht alle Religionen einen vollberuflichen Interpreten brauchen. Man kann sich durchaus eine Religion vorstellen, in welcher die Gläubigen turnusmäßig die vorgeschriebenen Riten vollziehen, auch gemeinsam das religiöse Leben der Gemeinschaft organisieren, und sich über die korrekte Interpretation der Glaubenssätze verständigen. Eine solche religiöse Gemeinschaft hat das Prinzip der Arbeitsteilung nicht auf die Religion angewandt und in ihr gibt es keinen Klerus, den man bezahlen müsste. Aber könnte eine solche Gemeinschaft nicht verlangen, dass auch ihr eine bestimmte Geldsumme zur Verfügung gestellt wird? Denn warum sollte sie finanziell benachteiligt werden, bloß weil sie keinen Klerus hat? Sollte die finanzielle Unterstützung etwa dem Prinzip „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ folgen? Aber was wäre, wenn sich dann eine Religionsgemeinschaft bilden würde und „un peu nombreuse“ werden würde, die sehr viele Ausgaben religiöser Natur tätigt, und deren Gott etwa verlangt, dass nicht mehr als ein Priester für zehn Gläubige zuständig sein darf, ansonsten er sich nicht angemessen um die Gläubigen kümmern kann? Ein anderer Punkt betrifft das von Constant erwähnte Aufgeben des religiösen Glaubens. Es ist an sich nicht einsichtig, dass man unbedingt seinen Glauben aufgeben muss, wenn man aufhört, einen Priester zu bezahlen. Wenn es keine katholischen Priester und Kleriker im Allgemeinen mehr geben würde, dann könnte trotzdem noch jeder weiter an den Gott des Katholizismus glauben. Nicht der Glaube als solcher wird aufgegeben, sondern nur das Praktizieren bestimmter Riten – derjenigen, die einen Klerus zu ihrem Vollzug voraussetzen. Der Protestantismus hat gezeigt, dass man keinen besonderen Interpreten braucht, sondern dass im Prinzip jeder Gläubige die Verantwortung für die Interpretation des göttlichen Worts übernehmen kann.55 Man könnte aber noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass die natürliche Entwicklungstendenz der Religionen darauf hinausläuft, alle Interpreten zwischen den Menschen und der Gottheit abzuschaffen. In seinem großen religionsphilosophischen Werk schreibt Constant: „[J]e weniger aufgeklärt ein Volk ist, umso untrennbarer ist der Klerus von der Religion“ (Constant 1999, S. 137). Geht man, wie Constant es tut, von einer optimistischen Geschichtsphilosophie aus, laut welcher die Menschheit sich einer immer größeren geistigen Vollkommenheit annähert, also immer aufgeklärter wird, dann wird man gleichzeitig annehmen müssen, dass der Klerus sozusagen immer trennbarer von der Religion wird, so dass die Entwicklung zu „klerikerfreien“ Formen der Religiosität der – auch bei Constant gottgewollten – natürlichen Entwicklung des Menschengeschlechts entspricht. Wenn demnach der Staat die Priester besoldet, dann unterstützt er religiöse Formen, die nicht im Einklang mit der natürlichen Entwicklung sind. Damit stellt sich der Staat also der natürlichen Entwicklung der religiösen Formen – die eigentlich nur die natürliche Entwicklung des menschlichen Geistes zu einer immer 55

Es entstünde aber ein Problem, wenn man den Klerus für die Taufe, die Kommunion und die Konfirmation braucht. Gäbe es keinen katholischen Klerus mehr, so könnten zwar noch alle Menschen an die katholische Interpretation der Heiligen Schrift glauben, aber es gäbe keine Mitglieder der katholischen Kirche mehr.

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höheren Vollkommenheit widerspiegeln – entgegen. Und das bedeutet, dass er das Prinzip des Respekts der freien Entwicklung der Kräfte des menschlichen Geistes verletzt. Das obige Zitat aus den Principes de politique legt nahe, dass Constant in erster Linie befürchtet, dass die Gläubigen ihr Geld lieber ganz für sich behalten – und es für ganz andere als religiöse Zwecke ausgeben –, als dass sie einen Teil davon für die Bezahlung des Klerus ausgeben. Wie der Schluss des Zitates zeigt, glaubt Constant, dass es schon genügend Faktoren gibt, die die Menschen, welcher sozialen Klasse sie auch angehören mögen, von der Religion fernhalten. Die wohlhabenderen Klassen ziehen es vor, an mondänen Veranstaltungen teilzunehmen, anstatt an religiösen Riten, und die unteren Klassen der Gesellschaft sind zur ständigen Arbeit verdammt, um überhaupt das Lebensnotwendige besorgen zu können. Von diesen letztgenannten Menschen kann man kaum erwarten, dass sie einen Teil des Wenigen, das sie haben, für religiöse Zwecke ausgeben. Wie Tocqueville in einem seiner Briefe von jenem Menschen schreibt, der jeden Tag bereit ist, mehrere Kilometer zurückzulegen, um arbeiten und Geld verdienen zu gehen, es aber unterlässt, alle paar Jahre einige Minuten für die Teilnahme an den Wahlen zu opfern, so könnte Constant von Menschen sprechen, die – was die Reichen betrifft – viel Zeit und Geld aufwenden, um den irdischen Genüssen zu frönen und – was die Armen betrifft – viel Zeit und Energie opfern, um die elementaren materiellen Bedürfnisse auch nur annähernd zu befriedigen, und es dabei unterlassen, sich um ihr ewiges Seelenheil zu sorgen bzw. jenem Teil ihrer menschlichen Natur Ausdruck zu verleihen, der sie über das rein Materielle erhebt und letztendlich der Grund ihrer Würde ist. Wenn die Gläubigen ihren Klerus unmittelbar selbst bezahlen müssten, dann hätten die Reichen weniger Geld zur Verfügung, um sich zu amüsieren, und die Armen hätten vielleicht nicht mehr genügend Geld zur Verfügung, um sich und ihre Familien zu ernähren. Wenn die bloße Teilnahme an religiösen Riten beide Gesellschaftsgruppen davon abhält, Aktivitäten nachzugehen, die in ihren Augen wichtiger sind, so würde die unmittelbare Besoldung des Klerus ihnen noch eine zusätzliche Last auferlegen, so dass sie einen Grund mehr hätten, sich von der Religion abzuwenden. Kann der Staat sie schon nicht von der ersten Last befreien56, so sollte er zumindest dafür sorgen, dass die Religionsausübung nicht noch mit einer zweiten Last verbunden ist. Wenn die Gläubigen ihren Klerus nicht mehr unmittelbar bezahlen, dann werden sie es aber trotzdem noch mittelbar tun, wenn sich der Staat um die Besoldung kümmert. Denn der Staat ist die politisch organisierte Gemeinschaft der Bürger, und die dem Staat zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel stammen zum allergrößten Teil von den Abgaben der steuerzahlenden Bürger. Anstatt dass also jeder Bürger eine Summe X unmittelbar für den Klerus zahlt, wird er diese Summe X 56

Ein liberaler Staat wird den Wohlhabenden nicht verbieten, sich durch allerlei mondäne Aktivitäten von der Religion ablenken zu lassen. Mag Constant auch ein Protestant sein, so dient ihm Calvins Genf nicht als Modell. Ein liberaler Staat, zumindest so wie Constant ihn versteht, wird sich auch nicht in das ökonomische Leben einmischen und eine Reduzierung der Arbeitszeit mitsamt einer Verbesserung der Löhne auf dem Weg des Gesetzes durchsetzen.

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als Teil einer viel größeren Summe Y an den Staat zahlen, und dieser wird dann mit Hilfe der Teilsumme X den Klerus finanzieren, während er den Rest für andere Ausgaben – Polizei, Gerichtswesen, Heer, Infrastrukturprojekte – benutzen wird. Insofern davon auszugehen ist, dass nicht alle Bürger Steuern zahlen57, könnte dem einzelnen steuerzahlenden Bürger die finanzielle Unterstützung des Klerus durch den Staat mehr kosten, als wenn tatsächlich jeder freiwillig und unmittelbar bezahlen würde. Allerdings ist es andererseits aber auch so, dass jeder Steuerzahler seinen Teil für die Besoldung des Klerus beisteuert. Im Falle einer freiwilligen und unmittelbaren privaten Besoldung hätten viele ihren Obolus nicht beigesteuert, was zur Folge gehabt hätte, dass einige Individuen größere Summen hätten ausgeben müssen, wenn sie weiter einen Klerus gewollt hätten. Durch die Besoldung der Priester der einigermaßen zahlreichen religiösen Gemeinschaften gibt der Staat, Constant zu Folge, auch zu verstehen, dass „diese Kommunikation [scil. des Menschen mit Gott – N. C.] nicht unterbrochen ist, und dass die Erde den Himmel nicht verleugnet hat“ (Constant 1980a, S. 407). Die Besoldung der Priester hat demnach auch eine symbolische Funktion, und der Staat erinnert mit ihr sozusagen daran, dass der Mensch nicht ganz in der Immanenz aufgeht, sondern dass seine Existenz auch auf eine Transzendenz hin orientiert ist. Wir hatten oben gesehen, dass der Staat nicht alle religiösen Gemeinschaften finanziell unterstützen kann, da ihm hierfür die Geldmittel fehlen würden, und dass er dementsprechend, wenn er nicht ganz auf eine finanzielle Unterstützung verzichten will, eine Auswahl treffen muss. Laut Constant sollen dabei die „ein wenig zahlreichen“ Religionsgemeinschaften eine finanzielle Unterstützung durch den Staat bekommen, so dass deren Mitglieder sich nicht mehr unmittelbar um die Besoldung des Klerus zu kümmern haben. Religionsgemeinschaften die dem quantitativen Kriterium nicht genügen, könnten hierin eine Ungerechtigkeit sehen, da in ihren Augen die bloße Mitgliederzahl kein normativ relevantes Kriterium darstellt. Kann Constant diesen möglichen Einwand entkräften? Ein Gegenargument Constants ist folgendes: „Die im Geburtsprozess befindlichen Sekten haben es nicht nötig, dass die Gesellschaft sich des Unterhalts ihrer Priester annimmt. Sie befinden sich im Fieber einer beginnenden Meinung und einer tiefen Überzeugung“ (Constant 1980a, S. 407). Constant geht demnach davon aus, dass die Gläubigen etablierter Religionen keinen derart tiefen oder enthusiastischen Glauben mehr haben, so dass er sich gegen die finanziellen Interessen der Gläubigen durchsetzen könnte, während man dies von den Gläubigen neu entstehender, und demnach zahlenmäßig noch kleinen religiösen Gemeinschaften erwarten kann. Was sich noch selbst und allein am Leben halten kann, sollte nicht von außen am Leben gehalten werden, während das, was sich nicht mehr von selbst am Leben halten kann, von außen am Leben gehalten werden darf. Wer tief von der Wahrheit seiner Sache überzeugt ist, wird Opfer bringen, die man nicht mehr von jemandem erwarten kann, der nur eine laue Meinung hat. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Auszug aus Adam Smiths nationalökonomischem Standardwerk. Smith bemerkt zunächst, dass der Klerus einer 57

Diese Bemerkung bezieht sich auf die Gesellschaft, in welcher Constant lebte.

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bestimmten Religion entweder erstens von den freiwilligen Abgaben der Gläubigen, zweitens von den Einnahmen aus dem Grundeigentum, oder drittens von einem durch die öffentliche Hand ausgezahlten Lohn leben kann. Welche dieser Möglichkeiten ist die beste für die Religion? Smith behauptet, dass der Einsatz der Priester für die Religion umso größer ist, als sie nicht mit einem sicheren Einkommen rechnen können, sondern auf die freiwilligen Abgaben der Gläubigen angewiesen sind (Smith 1999, S. 375–6). Sobald die Priester eine sichere Einkommensquelle haben, mag es sich dabei um ein festes Einkommen aus Grundsteuern oder um einen vertraglich festgelegten Lohn handeln, dann verschwindet ihr Eifer, da sie sowieso wissen, dass sie das für ihren Lebensunterhalt nötige Geld bekommen werden. Wer sich eines sicheren Einkommens gewiss ist, wird nichts mehr tun, um den religiösen Glauben zu verbreiten, da sein Einkommen unabhängig von der Zahl der Gläubigen ist. Wo aber das Einkommen von der Zahl der Gläubigen abhängt, wird man sich darum bemühen, diese Zahl zu vergrößern und sich demnach viel stärker für die Verbreitung des Glaubens einsetzen. Hieraus könnte man die Schlussfolgerung ziehen, dass eine Religion die engagierte Priester haben will, für diese lieber keine sichere Einkommensquelle vorsehen sollte, da sie sich dadurch selbst schaden könnte. Und insofern Smith andeutet, dass schlappe Priester auch nur schlappe Gläubige produzieren können, wäre es auch im Interesse des lebendigen Glaubens der Gläubigen, und damit sicherlich auch im Interesse der Religion als solchen, wenn die Priester nur von den freiwilligen Abgaben der Gläubigen leben würden. Für Constant ist eine öffentliche Besoldung des Klerus bei größeren, seit Jahrhunderten etablierten Religionsgemeinschaften notwendig, will man verhindern, dass diese Gemeinschaften sich auflösen, aber sie ist nicht nötig bei neu entstehenden Religionsgemeinschaften. Vom Durchschnittsmitglied einer etablierten, zahlenmäßig starken Religionsgemeinschaft ist zu erwarten, dass er, wenn er eine bestimmte Geldsumme zur Verfügung hat, diese lieber für rein private Zwecke ausgibt, anstatt sie als Beitrag zur Finanzierung des Klerus zur Verfügung zu stellen. Wahrscheinlich denkt er, dass sich angesichts der Größe der Religionsgemeinschaft genügend andere Gläubige finden werden, die einen Teil ihres Geldes für die Finanzierung des Klerus bereitstellen werden. In einer größeren Religionsgemeinschaft lässt sich das Trittbrettfahrertum leichter erfolgreich praktizieren als in einer kleineren Gemeinschaft, in welcher man auf den Beitrag eines jeden angewiesen ist. Die Diskriminierung zwischen den mit öffentlichen Geldern finanzierten und den nicht mit solchen Geldern finanzierten Religionsgemeinschaften beruht demnach letzten Endes auf einer Art Bedürfnisprinzip der Gerechtigkeit. Laut diesem Prinzip ist eine Verteilung bestimmter Güter dann gerecht, wenn sie den Bedürfnissen derjenigen entspricht, unter denen die Güter verteilt werden. Und sie ist ungerecht, wenn nicht jeder das bekommt, was er unbedingt braucht, um seine Bedürfnisse zu decken.58 Eine Religionsgemeinschaft, die ihren Klerus ohne staatliche 58

Man sollte allerdings berücksichtigen, dass es nicht nur das religiöse Bedürfnis der Anhänger einer bestimmten Religionsgemeinschaft gibt, sondern dass dieses Bedürfnis mit anderen Bedürfnissen um seine Befriedigung konkurriert, so dass sich die Frage stellt, welches der vielfältigen Bedürfnisse einen Prioritätsanspruch erheben kann. Mohl schreibt hierzu: „Ein Anspruch an den Staat, somit auf Unterstützung aus allgemeinen Mitteln, kann nur unter den Vorausset-

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Unterstützung unterhalten kann, braucht keine staatliche Unterstützung, und man behandelt sie dementsprechend nicht ungerecht, wenn man ihren Klerus nicht mit öffentlichen Geldern finanziert. Und eine Religionsgemeinschaft, die ihren Klerus nicht ohne staatliche Finanzhilfe unterhalten kann, darf eine solche Unterstützung erhalten.59 Und um zu bestimmen, ob eine Religionsgemeinschaft ihre Priester ohne staatliche Unterstützung unterhalten kann, wird einfach die Zahl der Mitglieder und das Alter der Religionsgemeinschaft betrachtet, wobei man vom psychologischen Prinzip ausgeht, dass, je kleiner die Gemeinschaft, umso wärmer der Glaube, und je wärmer der Glaube, umso größer die Bereitschaft der Mitglieder, ihren Klerus freiwillig und unmittelbar finanziell zu unterstützen – und von diesem Klerus wird man annehmen können, dass er, selbst vom Enthusiasmus ergriffen, keine großen finanziellen Ansprüche haben wird. Was Constant hier vollkommen zu übersehen scheint ist, dass große religiöse Gemeinschaften durchaus Geldeinnahmequellen haben können, die ganz unabhängig von den Beiträgen der einzelnen Gläubigen sind. Solche Beiträge der Gläubigen waren vielleicht am Anfang dringend nötig, um Ländereien, Gebäude, usw. zu kaufen, aber sobald eine religiöse Gemeinschaft über genügend derartige Einnahmequellen verfügt, kann sie sich prinzipiell zu einem großen Teil daraus finanzieren und ist demnach auch weniger auf die freiwilligen Beiträge der Gläubigen angewiesen. Mag man demnach auch Constants Ansicht teilen, dass man einen Unterschied machen kann zwischen religiösen Gemeinschaften, die eine Finanzierung brauchen, und solchen, die keine Finanzierung nötig haben, so hat man doch gute Gründe, sein Kriterium in Frage zu stellen. Es wäre angemessener, vorausgesetzt, man tritt überhaupt für eine sich an den Bedürfnissen orientierende finanzielle Unterstützung des Klerus durch den Staat ein, wenn der Staat sich am tatsächlichen Reichtum der religiösen Gemeinschaften ausrichten würde und dementsprechend nur den Klerus derjenigen religiösen Gemeinschaften finanzieren würde, die tatsächlich nicht über die finanziellen Mittel verfügen, dies selbst zu tun.60

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zungen gemacht werden, welche überhaupt zu einer solchen Nachhilfe bei einzelnen Lebenszwecken des Volkes berechtigen; also, wenn erwiesenermassen die Mittel zu einem allgemeinerem nützlichen Zwecke von den Betheiligten selbst nicht beigebracht werden können, und wenn keine noch dringenderen Bedürfnisse unbefriedigt vorliegen“ (Mohl 1862, S. 235). Über die Dringlichkeit entscheidet einzig und allein der Staat und seine Entscheidung kann nicht im Namen Gottes angefochten werden, denn, so noch Mohl, „[d]er Satz: dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen, hat für den Staat keine rechtliche Bedeutung“ (Mohl 1862, S. 247). Und eine Religionsgemeinschaft die keinen Klerus und keine Gotteshäuser hat und die mit sehr wenig Geld zurecht kommt, wird nicht ungerecht behandelt, wenn sie keine öffentliche finanzielle Unterstützung bekommt, während eine andere Religionsgemeinschaft die einen großen Klerus und prächtige Gotteshäuser braucht mehrere Millionen bekommt. Das würde natürlich voraussetzen, dass die Religionsgemeinschaften ihre Konten offenlegen. Es würde auch voraussetzen, dass ein Kontrollorgan darüber bestimmt, welche Ausgaben wirklich notwendig sind. Die Entscheidung über die Notwendigkeit einer Ausgabe kann der Staat nicht den Religionsgemeinschaften selbst überlassen, da die Gefahr besteht, dass diese, um in den Genuss einer staatlichen Hilfe zu kommen, ihre Ausgaben absichtlich erhöhen. Jules Simon bemerkt in diesem Zusammenhang, dass bestimmte Religionsgemeinschaften viel fordern, während andere wenig oder sogar nichts verlangen (Simon 1867, S. 327).

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Des Weiteren müsste auch festgelegt werden, was überhaupt als ein dezenter Lohn für die Kleriker anzusehen wäre. Das Konkordat sah 10 000 Franken für die Bischöfe und 1500 bzw. 1000 Franken für die Priester vor. Ob eine bestimmte Religionsgemeinschaft ihren Klerus aus eigenen Mitteln und damit ohne staatliche Unterstützung finanzieren kann, hängt zum Teil auch davon ab, wie hoch die Löhne der Kleriker sind. Auch diesen Aspekt lässt Constant ganz außer Betracht. M. E. ist das von Constant angeführte quantitative Unterscheidungskriterium nur dadurch zu erklären, dass er, wenn er auch schon nicht verhindern kann, dass der Staat den Klerus finanziell unterstützt, so doch zumindest verhindern will, dass irgendjemand eine Religion gründet, sich als Priester dieser Religion ausgibt, und dann vom Staat besoldet werden will. Um die staatliche Finanzierung bestimmter Kulte zu rechtfertigen, hatte Constant darauf hingewiesen, dass man den Glauben nicht mit dem finanziellen Interesse in Konkurrenz setzen sollte. Um die staatliche Finanzierung bloß bestimmter Kulte, und zwar der ein wenig zahlreichen, zu rechtfertigen, hätte er darauf hinweisen können, dass man keine Situation entstehen lassen sollte, in welcher der Glaube als Vorwand genommen wird, um finanzielle Interessen zu befriedigen. Jules Simon hat ausdrücklich auf diese Gefahr hingewiesen: Wenn geldgierige Menschen wissen, dass der Staat Religionsgemeinschaften finanziell unterstützt, dann werden diese Menschen eine Religionsgemeinschaft gründen, um die staatliche Unterstützung zu erhalten (Simon 1867, S. 330).61 Und in Godwins Enquiry Concerning Political Justice – ein Buch, das Constant aus dem Englischen übersetzt hat – heißt es: „Wo auch immer der Staat einen Teil seiner Einnahmen für die Unterstützung der Religion bei Seite legt, wird es notgedrungen den Anhängern bestimmter Meinungen zugeteilt werden, und funktioniert dann, so wie Preisgelder, um die Menschen dazu zu bringen, diese Meinungen anzunehmen und zu verkünden“ (Godwin 1971, S. 227). Jules Simon hat in diesem Kontext auf ein weiteres, für den Liberalismus gravierendes Problem hingewiesen. Dabei geht es nicht so sehr um den zahlenmäßigen Aspekt der Frage – ab wie vielen Mitgliedern wird eine Religionsgemeinschaft finanzierungswürdig? –, als vielmehr um den religiösen Aspekt. Wenn man nämlich davon ausgeht, so Simon, dass der Staat die Religionsgemeinschaften finanziert, dann wird man dem Staat auch die Entscheidungsmacht zugestehen müssen, den tatsächlichen religiösen Charakter einer sich als religiös ausgebenden Gemeinschaft zu kontrollieren (Simon 1867, S. 275).62 Unter diesen Umständen bestimmt also der Staat, was eine Religion ist und was nicht. Bilden die Buddhisten eine reli­ giöse Gemeinschaft? Und die Taoisten? Und die Anhänger der Scientology Church? 61

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Man kann sich auch vorstellen, dass geldgierige Menschen die spirituellen Bedürfnisse anderer Menschen ausnutzen, um sich selbst zu bereichern. Man denke etwa hier an bestimmte religiöse Gemeinschaften die von ihren Mitgliedern verlangen, ihr gesamtes Vermögen an die Gemeinschaft abzugeben. Simon weist in demselben Zusammenhang darauf hin, dass der Staat sich dann auch um den moralischen Charakter der religiösen Gemeinschaft kümmern sowie einen Blick auf die Mitgliederzahl werfen muss. Mit anderen Worten: Wenn der Staat nicht einfach alle Religionsgemeinschaften finanziert, die von sich behaupten, Religionsgemeinschaften zu sein, muss er Kriterien einführen und das Einhalten dieser Kriterien kontrollieren. Unter diesen Umständen kann die Religionsgemeinschaft aber nicht mehr als frei angesehen werden.

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Damit sieht sich der Staat aber gezwungen, in theologische oder religionsphilosophische Debatten einzugreifen, aus denen er sich heraus halten sollte, da sie seinen Kompetenzbereich bei weitem übersteigen.63 Als Schlussüberlegung seiner Ausführungen zur Frage nach der Religion in den Principes de politique schreibt Constant: „Es ist mit der Religion wie mit den großen Straßen bestellt: Ich mag es, wenn der Staat sie unterhält, vorausgesetzt, er lässt jedem die Freiheit, die Pfade vorzuziehen“ (Constant 1980a, S. 407). Große Straßen werden vom Staat finanziert, und zwar mittels Steuergelder. Jeder Steuerzahler trägt demnach zu ihrer Finanzierung bei, unabhängig davon, ob er diese Straßen benutzt oder nicht, und sogar unabhängig davon, ob er indirekt von diesen Straßen profitiert oder nicht.64 Selbst ein radikaler Gegner großer Straßen finanziert durch seine Steuergelder den Bau solcher Straßen, und er kann nicht verlangen, dass der Teil seiner Steuern, der für den Straßenbau gebraucht wird – ein wahrscheinlich sehr geringer Teil –, für andere Zwecke benutzt wird. Als Liberaler hat Constant keine prinzipiellen Einwände gegen eine staatliche Finanzierung großer Infrastrukturprojekte, da er weiß, dass solche Projekte – zumindest zu seiner Zeit – kaum durch den privaten Sektor finanziert werden würden. Insofern solche Projekte notwendig sind und der nationalen Wirtschaft, und damit allen Staatsbürgern, zu Gute kommen, dürfen sie unter der Regie des Staates unternommen werden. Es muss nur garantiert werden, dass niemand dazu gezwungen wird, sie zu benutzen.65 63

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René Rémond hat auf dieses Paradox hingewiesen (Rémond 1998, S. 11). Das Problem stellt sich natürlich nicht nur hinsichtlich der Religionsgemeinschaften. Kürzlich hörte ich im Radio, dass man in den höchsten internationalen sportlichen Gremien darüber diskutierte, ob man ein Kartenspiel – Bridge, glaube ich – als olympische Disziplin zulassen und damit als Sport anerkennen sollte. Dabei ging es nicht nur, und vielleicht sogar nicht primär, um eine rein begriffliche Frage, sondern von der Entscheidung hing es auch ab, ob die nationalen Bridgeföderationen einen Anspruch auf finanzielle Hilfe durch den Staat stellen konnten, wie ihn etwa eine Fußball- oder eine Leichtathletikföderation erheben. Die Frage, ob Bridge – oder Schach, Cluedo, Monopoly, … – als Sport zu betrachten ist, ist genauso schwierig zu beantworten wie die Frage, ob die Anhänger der Gemeinschaft des grünen Spaghettimonsters eine Religionsgemeinschaft bilden oder nicht bzw. ob der Staat sie als solche anerkennen sollte oder nicht. Robert von Mohl meint hierzu, der Staat könne nicht jedes „Conventikel einiger Schwärmer und Schwätzer“ als Religionsgemeinschaft anerkennen (Mohl 1862, S. 190). Sind hier alle Wörter gleich wichtig? Wie steht es um den Fall, wenn der Staat es mit einer sehr zahlreichen Gemeinschaft von „Schwärmer[n] und Schwätzer[n]“ zu tun hat? Oder umgekehrt: Er hat es mit einem „Conventikel einiger“ äußerst aufgeklärter und gemeinwohlorientierter Anhänger einer minoritären Glaubensgemeinschaft zu tun. Es könnte etwa jemand von den Produkten profitieren, deren Transport die Existenz großer Verkehrswege voraussetzt, ohne dass er selbst diese Wege direkt benutzt. Eine ähnliche Position hat Leni Franken kürzlich verteidigt – ohne sich allerdings auf Constant zu berufen. Sie schreibt: „[W]enn eine Unterstützungspolitik einige Bürger benachteiligt (z. B. weil sie Steuern für religiöse Erziehung zahlen müssen) ohne ihre Grundrechte und ihre Möglichkeit, autonome Entscheidungen zu treffen, einzuschränken, dann sollte der Vorteil einer staatlichen Unterstützung (gleicher Zugang zur Autonomie) immer substantieller sein als der erlittene Schaden (Steuern für religiöse Erziehung zahlen)“ (Franken 2016, S. 112). Franken scheint hier zu übersehen, dass es nicht um die paar Euros Steuergelder geht bzw. um den Schaden, der entsteht, wenn jemandem 100 Euros genommen werden. Der militante Atheist denkt nicht an den Schaden, der für ihn entsteht bzw. nicht an das Opfer, das er bringen muss.

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Doch was bedeutet es genau, jedem die Freiheit zu lassen, die Pfade vorzuziehen und nicht dazu gezwungen zu sein, die großen Verkehrswege zu benutzen? Dass damit gemeint ist, dass niemand, wenn es große Verkehrswege und Pfade zugleich gibt, physisch und gegebenenfalls mit Gewalt dazu gezwungen werden kann, Erstere zu benutzen, wenn er den Gebrauch Letzterer vorzieht, steht außer Zweifel. Aber kann die Förderung der großen Verkehrswege nicht zum Verschwinden der kleinen Pfade beitragen? Bevor die Hochgeschwindigkeitslinie zwischen Metz und Paris in Betrieb genommen wurde, gab es herkömmliche Züge zwischen den beiden Städten.66 Nach der Inbetriebnahme verschwanden diese herkömmlichen Züge, so dass man heute gezwungen ist, auf den TGV zurückzugreifen, wenn man per Zug nach Paris fahren will.67 Durch den Bau der Hochgeschwindigkeitslinie und dem Einstellen der traditionellen Züge haben die Reisenden in einem bestimmten Sinne die Freiheit verloren, die althergebrachten Züge für ihre Reise nach Paris vorzuziehen.68 Die Option, mit einem normalen Zug nach Paris zu fahren, ist für sie weggefallen, und wenn sie die TGV-Option nicht wählen wollen – was sie durchaus immer noch tun können –, bleibt ihnen nur die Wahl, zu Hause zu bleiben oder auf ein anderes Transportmittel zurückzugreifen. In seinem polemischen Text L’Église et la république aus dem Jahr 1904, nimmt Anatole France, ein radikaler Gegner der Kirchen und des Klerus, nicht die großen Verkehrswege als Vergleichsgegenstand, sondern das Theater. Aber was er zum Theater sagt, lässt sich auch auf die großen Verkehrswege übertragen (France 1964, S. 119). Der Staat, so Anatole France, subventioniert das Theater, obwohl viele Menschen nicht ins Theater gehen und das Theater sie nicht interessiert. Insofern diese Menschen aber Steuern zahlen und der Staat das Theater mittels Steuergelder finanziert, unterstützen diese nicht am Theater interessierten Menschen das Theater trotzdem. Von sich aus würden sie kein Geld für Theater ausgeben, aber der Staat zwingt sie gewissermaßen dazu, einen Teil ihres Geldes dafür auszugeben.69

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Ihn stört vielmehr, dass der Staat einen Irrglauben finanziell unterstützt und dass er und andere gezwungen werden, diesen Irrglauben auch zu unterstützen von dem er meint, er sei schädlich. Anders gesagt: Für den Atheisten ist der Schaden relevant, den die Gemeinschaft erleidet, wenn Religionen weiter – künstlich – am Leben gehalten werden. Faguet vergleicht die Kirchen mit Eisenbahngesellschaften (Faguet, S. 76). Die Eisenbahngesellschaften beginnen mit dem Bau großer Linien und gehen dann von diesen Linien aus, um das Netz zu erweitern und auch kleinere Städte zu erreichen. Die Kirchen entstehen zuerst in großen Städten und fassen dann Fuß im ganzen Land. Große Linien und große Städte ermöglichen es, das nötige Kapital anzusammeln, um sich dann weiter zu entfalten. Der Preis für die Reise ist auch wesentlich teurer geworden. Es ist sicherlich auch noch heute möglich, auf einer anderen als einer Hochgeschwindigkeitslinie nach Paris zu kommen. Aber diese Reise wird dann sehr lange dauern und man wird mehrmals umsteigen müssen. Einen Vergleich der Kirchen mit den Theatern finden wir auch bei dem Liberalen Emile Faguet. Laut Faguet sollte der Staat mit den Kirchen so umgehen, wie er mit den Theatern umgeht, d. h. er sollte sie weder finanziell unterstützen, noch über sie bestimmen, noch irgendeine Zensur ausüben. Seine einzige Aufgabe besteht darin, bei Unruhen einzugreifen, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen (Faguet, S. 73). Faguet plädiert in diesem Sinne für eine absolute oder radikale Trennung von Kirche und Staat und sieht in ihr die einzige liberale, vernünftige und praktische Lösung des Problems. Und was die kirchlichen Finanzen betrifft, so gibt es laut

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Sie werden demnach gezwungen für eine Institution Geld auszugeben, die sie nicht in Anspruch nehmen und an deren Existenz ihnen vielleicht sogar überhaupt nichts liegt. Und niemand scheint daran Anstoß zu nehmen. Sollte der Staat dementsprechend nicht auch die Religionen subventionieren dürfen, obwohl viele Menschen nicht glauben, nicht in die Kirche gehen und dementsprechend die Dienste des Klerus nicht in Anspruch nehmen? Warum wird gegen die Subventionierung der Religion aus öffentlichen Steuergeldern protestiert, nicht aber gegen die Subventionierung des Theaters? Warum verlangt man nach einer – sozusagen auch finanziellen – Trennung von Kirche und Staat, nicht aber von Theater und Staat? Für Anatole France besteht ein erheblicher Unterschied zwischen dem Theater und der Religion. Es ist nämlich nicht dasselbe, ob man mit seinen Steuern zu etwas beiträgt, was man einfach nicht mag oder was einen nicht im Geringsten interessiert, oder ob man damit zu etwas beiträgt, woran man nicht glaubt oder das man gar als einen konsequenzträchtigen Irrtum betrachtet. Im Falle des Theaters handelt es sich in den Augen von Anatole France um eine bloße Geschmackssache70, im Falle der Religion handelt es sich um eine Gewissenssache. Mag der Staat auch das Recht haben, die Menschen dazu zu zwingen, Dinge zu unterstützen, die ihrem Geschmack widersprechen oder die sie zumindest nicht interessieren, so hat er doch kein Recht, sie zu Dingen zu zwingen, die womöglich ihrem Gewissen widersprechen und die in ihren Augen ein intrinsisches Übel sind.71 Auch bei den großen Verkehrswegen scheint man es eher mit einer Geschmackssache als mit einer Gewissenssache zu tun zu haben. Manche Menschen ziehen kleinere Straßen oder gar Wege den Autobahnen oder größeren Straßen

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Faguet nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Staat finanziert die Glaubensgemeinschaften, oder man gesteht den Glaubensgemeinschaften das Recht zu, Güter zu besitzen, durch die sie sich selbst finanzieren können (Faguet, S. 74). Dabei hat der Staat das Recht, das Grundeigentum der Glaubensgemeinschaften, wie jedes andere Grundeigentum auch, zu besteuern (Faguet, S. 77). Wenn man einer Religion angehört, die im Theater etwas Teuflisches sieht, ist die Situation aber eine andere. Man denke hier an Rousseaus Diatribe gegen das Theater in Genf (Rousseau 1967). Auch Vinet scheint dieses Problem zu übersehen, wenn er, im Zusammenhang mit einer Besoldung der Priester aus öffentlichen Geldern – sprich: aus Steuergeldern – schreibt: „Dass ich einen écu für Bedürfnisse ausgebe, die ich nicht verspüre, für eine Institution, die mir gleichgültig ist, das Übel scheint doch nicht so groß zu sein“ (Vinet 1831, S. 39). Rein finanziell gesehen ist das Übel sicherlich nicht groß, d. h. das wenige Geld das man mir für die Kirche abverlangt, stellt kein nennenswertes finanzielles Opfer dar. Aber das ist nicht das Wesentliche. Vinet macht sich die Aufgabe leicht, wenn er von Gleichgültigkeit spricht. Er scheint dabei zu ignorieren, dass es in Religionssachen nicht nur Gleichgültige gibt, sondern auch solche Menschen, die der Institution Kirche kritisch, wenn nicht sogar feindlich gegenüberstehen. Wesentlich für sie ist nicht, dass sie auf eine minimale Summe Geld verzichten müssen, sondern dass sie mit diesem Geld eine Institution finanzieren, die sie manchmal bekämpfen. Was würde der Bürger eines Staates A sagen, wenn man von ihm eine Summe von einem Euro verlangen würde, um damit das Militär des Staates B zu finanzieren, mit dem der Staat A auf Kriegsfuß steht? Die Summe ist hier zweitrangig, während die Bestimmung des Geldes ausschlaggebend ist. In einem Gesetz des Staates Virginia aus dem Jahr 1779 heißt es, es sei tyrannisch jemanden für etwas bezahlen zu lassen, woran er nicht gaubt (in: Dreibach and Hall 2009, S. 250).

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vor – weil es dort ruhiger ist, weil die Landschaften schöner sind, usw. –, und für sie besteht demnach kein Bedürfnis, große Verkehrswege zu bauen. Insofern sehen sie nicht ein, wieso man auch von ihnen einen Beitrag zum Bau eines solchen Weges verlangt, d. h. wieso auch ein Teil der von ihnen bezahlten Steuern für den Bau einer solchen Straße benutzt wird. Es wäre ihnen lieber, wenn die Finanzierung des Baus ausschließlich durch diejenigen geschehen würde, die diese Straßen tatsächlich benutzen wollen oder ihren Bau als notwendig ansehen. Doch auch wenn sie dies lieber hätten, so haben sie doch nicht den Eindruck, sie seien das Opfer einer schreienden Ungerechtigkeit, wenn man sie über Steuergelder jene Straßen mitfinanzieren lässt, die sie nie gebrauchen. Constant würde diesen Leuten wahrscheinlich sagen, dass es wichtig ist, dass niemand sie dazu zwingt, die großen Verkehrswege zu benutzen. Und im Falle der Religion würde dasselbe gelten: Hauptsache ist, dass niemand dazu gezwungen wird, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, die er durch seine Steuergelder mitfinanziert. Die Menschen sollen akzeptieren, dass ein Teil ihrer Steuergelder für einen Zweck gebraucht wird, von dem viele andere Leute profitieren können – und vielleicht auch eines Tages sie selbst, wenn sie sich zu einer finanzierten Religion bekehren. Die Sache wird allerdings komplizierter, wenn die eben angesprochene Straßenführung ein schönes Naturgebiet zerstört. Und sie wird sicherlich noch komplizierter, wenn sie durch ein Gebiet führt, das die Mitglieder einer bestimmten Religionsgemeinschaft als heilig ansehen. Hier haben wir es nicht mehr mit einer bloßen Geschmackssache zu tun, sondern mit einem reellen Konflikt zwischen zwei Wertordnungen. Dieser letzterwähnte Fall ähnelt dem der durch die öffentliche Krankenkasse zurückerstatteten Ausgaben für eine Abtreibung. Eine radikale Gegnerin der Abtreibung wird sich wohl kaum mit dem Hinweis zufriedengeben, dass man ihr durchaus die Freiheit lässt, abzutreiben oder nicht, genauso wie man ihr auch die Freiheit lässt, wenn sie denn abtreiben sollte, von der Rückzahlung durch die Krankenkasse zu profitieren.72 Hier geht es nicht bloß um persönliche Entscheidungen oder um Geschmackssachen, sondern um Gewissensfragen. Und diese Gewissensfragen werden nicht nur als solche angesehen, die lediglich das Individuum betreffen, sondern als Fragen, die eine gesamtgesellschaftliche Relevanz haben. Radikale Abtreibungsgegnerinnen verlangen nicht nur, dass man sie nicht dazu zwingt73, abzutreiben, sondern sie wollen, dass Abtreibung verboten wird. Sie wollen nicht nur nicht dazu gezwungen werden, in einer Gesellschaft zu leben, in welcher Frauen 72 73

Gesetzt den Fall, dass sie zunächst das Geld aus der eigenen Tasche zahlt und dann die Rechnung bei der Krankenkasse einreicht, damit man sie zurückzahlt. Wie bei dem vorhin erwähnten Beispiel der Züge, muss man auch hier zwischen zwei Formen des Zwangs unterscheiden. Eine Abtreibung kann nämlich einerseits durch einen anderen Menschen erzwungen und durchgeführt werden, ohne dass die Frau sich gegen den Eingriff wehren kann – sie ist etwa gefesselt. Aber man kann sich auch eine Situation vorstellen, in welcher eine Frau auf Grund ihrer Situation keine Möglichkeit sieht, dem nasciturus die geringste Chance auf ein zufriedenes Leben zu geben – sie und ihr Kind werden keine staatliche Unterstützung erhalten, obwohl sie eine solche dringend brauchen, usw.

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ein Recht auf Abtreibung haben, sondern sie wollen auch nicht dazu gezwungen werden, in einer Gesellschaft zu leben, in welcher man Abtreibungen dadurch erleichtert, dass man sie mit öffentlichen Geldern finanziert. Und sie wollen a fortiori nicht in einer Gesellschaft leben, in welcher sie indirekt diese Abtreibungen mitfinanzieren. Der Fall der Religion ist also ganz anderer Natur als der Fall der Theater oder der großen Verkehrswege. Wenn man schon einen Vergleich machen will, dann wäre es sicherlich angemessener, einen Vergleich mit der öffentlichen Finanzierung des Heeres zu ziehen. Radikalpazifisten lehnen das Heer aus Gewissensgründen ab, und sie lehnen es demnach auch ab, dass ein Teil ihrer Steuern ins Heer fließt und für militärische Zwecke ausgegeben wird. Sie würden es vorziehen, den für das Heer bestimmten Teil ihrer Steuern einer wohltätigen Vereinigung zufließen zu lassen. Es geht ihnen also nicht darum, den betreffenden Steuerteil für sich selbst zu behalten – sie haben also keine egoistische Motivation für ihre Ablehnung –, sondern sie wollen einfach nicht zur Erhaltung des Heeres beitragen. Allerdings wird man hier darauf hinweisen, dass die Radikalpazifisten vom Schutz profitieren, den ein großes und gut organisiertes Heer der Bevölkerung bieten kann.74 Im Fall der großen Verkehrswege kann man sich frei entscheiden, ob man sie benutzen wird oder nicht.75 Aber wenn das Heer das Land an den Grenzen verteidigt, dann ist schwer zu sehen, welche Form ein opting out annehmen könnte.76 Jemand wie Constant könnte eine ähnliche Überlegung bezüglich der Religion anstellen. Auch die Atheisten profitieren davon, dass die Religionen den Glauben an die Menschenwürde fördern.77 Man könnte sogar behaupten, dass man sie frei ihren Unglauben hegen lässt, weil man ihre Würde anerkennt. Oder anders gesagt: Tolerante Religionen – das Epitheton ist hier sehr wichtig – bilden eine wichtige Bedingung der Möglichkeit für die Freiheit der Atheisten, zu keinem religiösen Glauben bzw. zur Teilnahme an keinen religiösen Handlungen gezwungen zu werden. Weil der religiöse Mensch in jedem Menschen ein Wesen mit einer unver74 75 76

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Ich sehe hier davon ab, dass manche Radikalpazifisten die Ansichten vertreten, dass Heere nutzlos sind. Es ist allerdings äußerst schwer, sich dafür zu entscheiden, keine Produkte mehr zu kaufen, die auf Straßen transportiert wurden. Auch wenn man nicht direkt von den Straßen profitiert, indem man sie selbst benutzt, so profitiert man doch immer indirekt von ihnen. Der Radikalpazifist hat natürlich immer die Möglichkeit, im Kriegsfall auszuwandern. Aber wie, wenn der Kriegsfall nicht eintritt, weil die Existenz eines starken Heers jeden Feind von einem Angriff abhält? Auch dann kann er auswandern. Aber es stellt sich dann die Frage für ihn, wohin er auswandern wird. Heere gibt es in jedem Land der Welt. Dröge sieht in der evangelischen Kirche einen Partner des Staates, „mit dem sie gemeinsam gegen Meinungen, Gruppierungen und Aktivitäten, die die Menschenwürde bedrohen, zu kämpfen hat“ (Dröge 2015, S. 49). Ein Problem ist hier, dass manche religiöse Gruppen der Auffassung sind, dass der Atheismus zu den Bedrohungen der Menschenwürde gehört bzw. dass er ein Terrain schafft, auf dem sich die Menschenwürde nicht mehr wirksam bekämpfen lässt, da man ihr im Rahmen eines atheistischen Weltbildes das theoretische Fundament nimmt. Umgekehrt gilt aber auch, dass viele Atheisten die Auffassung vertreten, dass Religion und Menschenwürde nicht Hand in Hand gehen können, da die Religion, indem sie den Menschen Gott unterwirft, die Würde des Menschen leugnet.

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lierbaren Würde sieht, und weil es zum Respekt dieser Würde gehört, dass man jedem Menschen die Freiheit lassen sollte, nur seinem eigenen Gewissen und seiner eigenen Vernunft in Religionssachen zu folgen, sieht der religiöse Mensch auch im Atheisten jemand, den man nicht wegen seines Unglaubens belästigen sollte – selbst dann nicht, wenn man fest davon überzeugt ist, dass er sich irrt. Insofern liegt es letztendlich im Interesse der Atheisten selbst, dass der religiöse Glaube erhalten bleibt. Wenn demnach die vom Atheisten gezahlten Steuern unmittelbar zur Besoldung der Priester benutzt werden, dann werden sie doch mittelbar zum Schutz seiner Würde und seines Atheismus benutzt. Und mit einer ähnlichen Überlegung könnte man auch möglichen Vorwürfen seitens der Mitglieder kleinerer religiöser Gemeinschaften begegnen, die noch nicht die alles entscheidende Mitgliederzahl erreicht haben. Ob der Atheist oder die Mitglieder kleiner Religionsgemeinschaften sich durch solche Überlegungen überzeugen lassen werden, sei dahingestellt. Es ist davon auszugehen, dass der Atheist nicht nur bestreiten wird, dass die Religion einen sozialen Nutzen hat, sondern dass er darüber hinaus behaupten wird, dass die Religion, und vor allem der Klerus, eine für die Freiheit gefährliche Institution darstellen. Würde man demnach den Atheisten dazu zwingen, den Klerus bestimmter Religionsgemeinschaften mitzufinanzieren, dann würde man ihn dazu zwingen, eine Institution mitzufinanzieren, in welcher er eine Gefahr für seine Freiheit sieht. Doch nehmen wir einen Augenblick an, es gäbe genug Atheisten, um die von Constant festgelegte Bedingung zu erfüllen. Die Atheisten sind also „ein wenig zahlreich“ und schließen sich zu einer Gemeinschaft zusammen, die sich zu der vom Atheisten Auguste Comte entworfenen – und von John Stuart Mill aufgegriffenen – religion de l’humanité bekennt. Wenn man ihre Vereinigung als religiöse Gemeinschaft betrachtet, dann müssten sie gemäß Constant auch in den Genuss der Besoldung ihrer Priester kommen.78 Wie schon gesagt wurde, sind Constants Überlegung zur Finanzierungsfrage durch die Tatsache beeinflusst, dass er eine bestehende Finanzierungspraxis rechtfertigen musste. Und zwar handelt es dabei um eine Praxis, die nur schwer mit liberalen Prämissen zu vereinbaren ist. Auch wenn er versucht, Argumente zu finden, die für einen Liberalen akzeptierbar sind, gelingt es seinen Argumenten doch nicht, grundsätzliche Bedenken aus dem Weg zu räumen. Constant ist nicht der einzige klassische liberale Denker der sich mit der Frage der Besoldung der Priester mittels öffentlicher Gelder befasst hat. Tocqueville und Laboulaye gehen auch auf die Frage ein, sind dabei aber wesentlich kritischer gegenüber der Besoldung der Priester, als Constant es ist.

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Hier stellt sich das schon im ersten Teil angesprochene Problem, wie man den Begriff der Religion zu verstehen hat. Wenn man ihn für den Glauben an persönliche Gottheiten reserviert, dann kann es keine Menschheitsreligion geben. Wenn man aber jeden Glauben an eine die Individuen transzendierende Entität als Religion bezeichnet, dann kann es eine Menschheitsreligion geben, genauso wie es eine Staatsreligion, eine Rassereligion, oder was sonst immer geben kann. Man kann sehr wohl in der Menschheit, im Staat, usw. ein funktionales Äquivalent zu Gott sehen.

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In einem Brief an Jared Sparks aus dem Jahr 1831, wundert Tocqueville sich darüber, dass im US Staat Massachusetts anscheinend jede Gemeinde dazu verpflichtet ist, einen protestantischen Pfarrer zu unterhalten. Tut sie es nicht, so kann sie vor Gericht zu einem Bußgeld verklagt werden. Auch wenn es sich hier nicht um eine staatliche Finanzierung des Klerus handelt, liegt doch eine Finanzierung mittels öffentlicher Gelder vor. Tocqueville zeigt sich über eine solche Finanzierung besorgt: „Dies scheint mir bis zu einem gewissen Punkt, eine Staatsreligion zu etablieren, und aus der Politik und der Religion eine Mischung zu machen, die man doch eigentlich in Amerika vermeiden wollte“ (Tocqueville OC VII, S. 37). Aus diesem Zitat geht nicht ganz klar hervor, ob Tocqueville sich nur daran stört, dass jede Gemeinde dazu verpflichtet wird, einen protestantischen Pastor zu unterhalten, oder ob seine Sorge prinzipieller Natur ist und die Finanzierung des Klerus aus öffentlichen Geldern überhaupt betrifft. Es ist aber zu vermuten, dass er sich am Prinzip einer öffentlichen Finanzierung stört. Als liberaler Denker geht er vom Prinzip aus, dass die Vereinigungen der Zivilgesellschaft soweit wie möglich unabhängig vom Staat funktionieren sollten, da sie nur so ihre Unabhängigkeit vom Staat behalten und auch ihre kritische Funktion gegenüber dem Staat ausüben können. Ein vom Staat finanzierter Klerus wäre vom Staat abhängig und seine Mitglieder würden sich eventuell nicht trauen, kritisch gegenüber bestimmten Entwicklungstendenzen des Staates zu sein. In einem 1869 veröffentlichten Aufsatz zur Frage nach der Trennung von Kirche und Staat, spricht sich Edouard Laboulaye ausdrücklich gegen eine staatliche Finanzierung des Klerus aus. Dass das Konkordat eine solche Finanzierung vorsieht, ist für ihn kein überzeugendes prinzipielles Argument, da das Konkordat ein zwischenstaatlicher Vertrag ist, der, wie alle anderen zwischenstaatlichen Verträge, gekündigt werden kann (Laboulaye 1872, S. 429). Das Konkordat bindet Frankreich nur solange, wie es gebunden sein will. Die staatliche Souveränität steht über dem Konkordat. Wenn der französische Staat den Klerus nicht mehr finanziert, dann fließen die – laut Laboulayes Angaben – 46 Millionen Franken, die bis dahin in die Kassen der Kirche geflossen sind, wieder in die Taschen der Steuerzahler bzw. werden sie diesen Taschen nicht über den Weg der Steuern entnommen (Laboulaye 1872, S. 430). Das Geld verschwindet also nicht, sondern es steht noch immer zur Verfügung. Die Frage ist nur, was die Katholiken – Laboulaye spricht in diesem Kontext nur von ihnen – damit machen werden. Niemand, so Laboulaye, hindert sie daran, dem Klerus unmittelbar zu geben, was sie ihm mittelbar zukommen ließen. Dadurch, dass man die Katholiken nicht mehr dazu zwingt, ihren Klerus durch die Steuern zu finanzieren, nimmt man ihnen keineswegs das Recht weg, ihn weiter über den Weg freiwilliger Abgaben zu finanzieren.79 Laboulaye antwortet dann auf den schon bei Constant angetroffenen Einwand, dass die Menschen, wenn man sie frei darüber entscheiden lässt, ob sie den Klerus 79

Pernessin meint hierzu: „Wir haben gesehen, dass es lediglich darum geht, bei den Protestanten 3 oder gar vielleicht nur 2 francs pro Kopf zu finden. Ist das viel, um die Religion zu unterstützen, wenn wir heute 70 francs pro Kopf zahlen, um den Staat zu unterstützen?“ (Pernessin s. d., S. 25).

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finanzieren werden, ihr Geld lieber für rein private Zwecke ausgeben. Sollten sie tatsächlich kein Geld mehr für den katholischen Klerus ausgeben, dann, so Laboulaye, sollte das als Beweis dafür dienen, dass sich die Franzosen vom Katholizismus abgewendet haben oder dass er ihnen gleichgültig geworden ist. Unter diesen Umständen, so Laboulaye weiter, wäre es komisch, wenn der Staat die Franzosen dazu zwingen würde, Geld für eine Religion auszugeben, die ihnen gleichgültig ist und zu der sie sich nicht mehr bekennen (Laboulaye 1872, S. 430). Wenn die Franzosen also noch wirklich katholisch sind, dann werden sie freiwillig einen Teil ihres Geldes für den Unterhalt des Klerus bereit stellen. Tun sie es nicht, dann sind sie keine wirklichen Katholiken mehr, und wenn sie es nicht mehr sind, dann ist nicht einzusehen, warum man noch einen katholischen Klerus finanzieren soll. Wenn die Menschen einer Religion bedürfen, dann werden sie sie am Leben erhalten. Wenn sie ihrer nicht mehr bedürfen, dann hat die Religion keine Daseinsberechtigung mehr und man sollte sie sozusagen nicht künstlich am Leben erhalten.80 Auch in seiner programmatischen Schrift Le parti libéral, son programme et son avenir aus dem Jahr 1863, geht Laboulaye auf die Problematik der staatlichen Finanzierung des Klerus ein, auf „das Brot von vierzigtausend Priestern“ (Laboulaye 1863, S. 43). Und auch dort brandmarkt er das Konkordat, das aus dem Priester einen „öffentlichen Beamten“ macht, und ihn dadurch sozusagen versklavt (Laboulaye 1863, S. 49). Sein Argument für die Abschaffung einer Finanzierung des Klerus durch den Staat, wie sie das Konkordat vorsieht, beruft sich auf die Notwendigkeit eines unabhängigen Klerus: „Man hängt immer mehr oder weniger von der Hand ab, die bezahlt, diese Abhängigkeit muss man abschaffen“ (Laboulaye 1863, S. 50). Auf diese Abhängigkeit hatte einige Jahrzehnte zuvor auch Edmund Burke hingewiesen, und auch er hatte gegen eine staatliche Finanzierung des Klerus plädiert. Die Engländer, so Burke, werden nicht zulassen, dass das Schicksal ihrer Kirche von den Zufällen der Steuereinnahmen abhängt – auf die Gefahr hin, dass man aus rein politischen Motiven Schwierigkeiten bei den Steuereinnahmen vortäuscht. Und Burke weiter: „Das englische Volk denkt, dass es sowohl konstitutionelle, als auch religiöse Motive hat, sich gegen jedes Projekt zu wenden, das aus ihrem unabhängigen Klerus kirchliche Pensionäre des Staates macht“ (Burke 1982, S. 199). Sobald der Klerus sein Geld vom Staat bekommt, hängt er vom Willen des Staates ab, und wird dementsprechend zögern, staatliche Entscheidungen zu kritisieren, auch wenn sie aus einer religiösen Perspektive in Frage gestellt werden müssen. Zumindest wird der Klerus sich dann in einer unangenehmen Situation befinden: Übt er keine Kritik aus, verrät er seine Religion; übt er jedoch welche aus, kann 80

Benjamin Franklin argumentiert wie folgt: „Wenn eine Religion gut ist, dann denke ich, dass sie sich selbst erhält; und wenn sie sich nicht selbst erhalten kann und wenn Gott sich nicht um ihre Erhaltung bekümmert, so dass ihre Vertreter gezwungen sind, bei der zivilen Macht um Hilfe anzurufen, dann ist das ein Zeichen, wie ich befürchte, dass es sich um eine schlechte handelt“ (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 368). Franklin erwägt hier drei Instanzen, die eine Religion erhalten können: Gott, die Gläubigen, der Staat. Sein Fazit lautet, dass eine gute Religion den Staat nicht braucht, da entweder Gott oder die Gläubigen ihre Erhaltung garantieren können.

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ihm sein Lebensunterhalt entzogen werden, und damit auch die Möglichkeit, weiter die Religion zu predigen. Im einen wie im anderen Fall, scheint die Religion leiden zu müssen. Dieser Situation kann man nur dadurch entgehen, so Burke, aber auch Laboulaye nach ihm, dass man sich für die finanzielle Unabhängigkeit des Klerus vom Staat einsetzt. Je unabhängiger der Klerus vom Staat ist, umso größer die Chancen, dass er sich dem Staat widersetzt. Und je größer die Wahrscheinlichkeit, dass er sich dem Staat überhaupt widersetzt, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass er sich ihm widersetzt, wenn er die menschliche Freiheit gefährdet. Und da der Klerus vom Staat unbhängig ist und nicht auf dessen Macht zurückgreifen kann, ist das Risiko klein, dass er zu einer Gefährdung der menschlichen Freiheit wird. Ein vom Staat unabhängiger Klerus ist somit ein Schutzwall gegen den Staat als auch gegen sich selbst. Laboulaye zeigt sich aber insofern konziliant, als er nicht verlangt, dass die staatliche Finanzierung des Klerus von einem Tag auf den anderen vollständig abgeschafft wird. Man sollte sich zehn Jahre geben, um vom alten zum neuen System überzugehen, einem System, in dem die Kirche sich selbst finanziell unterhält. Wenn die religiösen Gemeinschaften sich selbst finanzieren müssen und nicht mehr auf die Hilfe des Staates zählen können, dann wird dies eine positive Wirkung auf die Gläubigen haben, da diese sich dann automatisch mehr investieren müssen. Wenn man weiß, dass der Staat sich ohnehin um das Funktionieren der Kirche kümmern wird, dann wird man es nicht mehr als nötig ansehen, sich selbst darum zu kümmern, was als Folge eine Erstarrung des religiösen Lebens der Gläubigen haben wird. Zieht der Staat sich aber zurück, dann wird wieder Leben in die religiöse Gemeinschaft kommen (Laboulaye 1863, S. 51). Genauso wie Burke es vor ihm getan hatte, plädiert auch Laboulaye dafür, dass man den religiösen Gemeinschaften erlaubt, Grundeigentum zu besitzen, aus welchem sie einen Teil ihrer Ausgaben finanzieren können, während der andere Teil dieser Ausgaben über die freiwilligen Beiträge der Gläubigen finanziert wird. Der Reichtum der Kirche muss vom Reichtum des Staates unabhängig sein. Insofern ihr Klerus leben können muss, muss man einer religiösen Gemeinschaft die Möglichkeit lassen, über finanzielle Ressourcen zu verfügen. Es ist hier interessant zu sehen, dass Laboulaye einige Jahre zuvor eine ganz andere Position vertreten hatte, indem er behauptete, der Staat müsse die Existenz der Kirchen gegen den Egoismus und den Geiz schützen (Laboulaye 1858, S. 68). Mit dramatischen Begriffen zeichnet Laboulaye die möglichen Konsequenzen eines derart gegenüber der Existenz der Kirchen – und der Schulen81 – gleichgültigen Geizes. Man muss unbedingt verhindern, dass „der Egoismus und der Geiz, die neuen Generationen der Barbarei ausliefern und die Gesellschaft bedrohen. Der Respekt der Freiheit kann nicht bis zu dem Punkt reichen, an dem man dem Individuum erlaubt, die Zukunft zu zerstören“ (Laboulaye 1858, S. 68). 81

Die Schulen und die öffentliche Bildung sind äußerst wichtig für Laboulaye, und es wäre schön, wenn zeitgenössische Politiker – und besonders liberale Erziehungsminister – über folgenden Satz von Laboulaye nachdenken würden: „In einem freien Land ist der größte Budgetposten derjenige der Schulen, denn es ist der Budgetposten des Reichtums und der Zivilisation“ (Laboulaye 1863, S. 156).

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

Der liberale Staat kann sich demnach nicht damit begnügen, jetzige Rechtsverletzungen zu ahnden und die Menschen dazu anzuhalten, das Leben, die körperliche Integrität und den Besitz ihrer Mitmenschen nicht zu verletzen. Er muss auch auf die Zukunft blicken. Und wenn sich zeigt, dass die Existenz der Kirchen bzw. der Religionsgemeinschaften, und vielleicht sogar der Religion als solchen, bedroht ist, dann muss der Staat dieser Bedrohung entgegenwirken, denn diese Bedrohung ist zugleich eine Bedrohung der Gesellschaft. Insofern eine geordnete und befriedete Gesellschaft aber die Bedingung der Möglichkeit des Genusses der individuellen Freiheit ist, und der Staat die Aufgabe hat, diese Freiheit und ihren Genuss zu schützen, muss der Staat die Gesellschaft schützen. Und die Gesellschaft kann er laut Laboulaye nur schützen, wenn er auch die Religion schützt. Also muss der Staat die Religion schützen, auch wenn er dabei das Eigentumsrecht der Individuen – ein Recht, das für einen Liberalen wie Laboulaye ganz hoch oben auf der Rechteskala steht – verletzen muss, indem er über die Besteuerung Geld von ihnen verlangt. Laboulaye lehnt in diesem Kontext das amerikanische System ab, in welchem die Gläubigen unmittelbar ihren Priester bezahlen und er plädiert für ein System, in dem die Gehälter des Klerus aus öffentlichen Geldern finanziert werden. Der Idealfall wäre, die Gemeinden dazu zu verpflichten, die Priester zu bezahlen. Die Einführung eines solchen Systems wäre, so Laboulaye, eine äußerst nützliche und christliche Reform, würde sie doch die Gläubigen unmittelbar an ihre Pflichten erinnern In Erwartung einer solchen Reform und angesichts der Nachteile des amerikanischen Systems, plädiert Laboulaye für die konkordatäre Lösung, die dem Staat die Pflicht zuweist, den Klerus zu bezahlen. „Wenn der Staat die Gehälter des Kultus bezahlt“, so Laboulaye, „dann ist er nur das Zwischenglied und der Kassierer der Gläubigen“ (Laboulaye 1858, S. 67). Der Staat verlangt von allen seinen Bürgern, dass sie über den Umweg der Steuern einen Teil ihres Geldes für die Bezahlung der Priester zur Verfügung stellen. Anstatt dass jeder Bürger dem Priester unmittelbar eine Summe auszahlt, zahlt jeder Bürger diese Summe an den Staat, der sie abzweigt und an die Priester auszahlt. Laboulaye stellt sich in diesem Zusammenhang nicht die Frage, ob ein solches System von denjenigen als gerecht empfunden wird, die sich zu keiner der finanzierten Religionen bekennen, die aber trotzdem in die Kasse zahlen müssen, aus welcher der Staat später den Klerus finanzieren wird. An keiner Stelle erwähnt Laboulaye die Möglichkeit einer Kirchensteuer nach deutschem Modell. Wenn man jedem Bürger die Möglichkeit ließe, frei darüber zu bestimmen, wozu X % seiner Steuern dienen sollen, ohne ihm aber die Möglichkeit zu geben, diese X % für sich zu behalten, dann besteht die Gefahr nicht mehr, dass der Egoismus und der Geiz zum Untergang der Kirchen beitragen. Wenn etwas zu ihrem Untergang beiträgt, dann ist es der fehlende Glaube. Ein solches Modell ist auch keine Zumutung für Atheisten, da man diesen die Möglichkeit gibt, die X % für jenen Zweck zu bestimmen, den sie für richtig halten – und dies kann durchaus die Finanzierung einer gemeinnützigen atheistischen Vereinigung sein. Laboulaye zu Folge, werden die Priester auf diese Weise keine Staatsbeamten (Laboulaye 1858, S. 58). Würden sie nämlich zu Staatsbeamten, dann wäre das

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Prinzip der Trennung von Kirche und Staat in Frage gestellt. Und an diesem Prinzip – interpretiert im Sinne des Verbots einer Staatskirche – will Laboulaye festhalten. Aus der Tatsache, dass jemand sein Geld vom Staat ausbezahlt bekommt, kann man nicht schließen, dass diese Person auch im Dienste des Staates steht. Wie Laboulaye geschrieben hatte, handelt der Staat immer nur als Zwischenglied oder Kassierer. Der Priester erhält seinen Lohn vom Staat bzw. wird dieser ihm vom Staat übergeben, er arbeitet aber nicht für den Staat. Der Priester „unterrichtet im Namen einer Autorität, die höher steht als die des Staates“ (Laboulaye 1858, S. 67). Der unmittelbare Arbeitgeber des Priesters sind die Mitglieder seiner Religionsgemeinschaft, derjenige, der ihm seinen monatlichen Lohn auszahlt, ist der Staat, und die allerhöchste hierarchische Autorität, welcher er untersteht, ist Gott. Der Staat zahlt also einen monatlichen Lohn an Leute aus, die seine letztinstanzliche Souveränität nicht anerkennen. Eine solche Anerkennung ist aber für einen Staatsbeamten notwendig und drückt sich durch den Verfassungseid aus. Insofern kann man die Priester nicht als Staatsbeamten ansehen. Und auch die Tatsache, dass der Priester eine Arbeit ausübt, aus der der Staat einen Nutzen ziehen kann, macht noch nicht aus dem Priester einen Staatsbeamten. Ich will hier nicht der Frage nachgehen, wieso Laboulaye diese frühe Auffassung aufgegeben hat, um in seinen späteren Schriften den Staat ganz aus dem Spiel zu lassen. Wichtig ist hier nur festzuhalten, dass in dieser frühen Auffassung der Staat eigentlich nur aus praktischen Zwecken eingeführt wird, also um die Besoldung der Priester zu vereinfachen oder effizienter zu gestalten. Laboulaye hat demnach nicht seine prinzipielle Einstellung geändert: Der Klerus muss unabhängig vom Staat bleiben und die Priester dürfen nicht zu Staatsbeamten werden. Die Bedenken der klassischen liberalen Autoren gegenüber einer finanziellen Unterstützung des Klerus durch den Staat unterscheiden sich, hinsichtlich ihrer Motivation, von den diesbezüglichen Bedenken zahlreicher zeitgenössischer liberaler Politiker. Diese letztgenannten Politiker gehen davon aus, dass die Religion eine reine Privatsache ist und dass sie demnach nicht vom Staat finanziert werden sollte. Für die klassischen Autoren ist die Religion zwar auch eine Privatsache, aber sie ist bei weitem nicht nur eine Privatsache bzw. sie ist eine Privatsache mit einer großen gesellschaftlichen Relevanz. Wegen dieser sozialen Relevanz könnte es auf den ersten Blick richtig erscheinen, sie mittels staatlicher Gelder am Leben zu halten. Das Problem ist allerdings, dass eine solche staatliche Finanzierung genau das Gegenteil vom dem bewirken kann, was sie beabsichtigt. Denn letzten Endes geht es nicht darum, den Klerus am Leben zu halten, sondern den religiösen Glauben. Wenn demnach die staatliche Finanzierung des Klerus die Lebendigkeit des Glaubens bedroht, dann sollte sie abgelehnt werden. Oder noch anders gesagt: Die Ablehnung der Finanzierung des Klerus durch öffentliche Gelder wird von ihnen nicht als etwas konzipiert, das zum Untergang der Religion beitragen kann, sondern ganz im Gegenteil als ein Mittel, das es den Religionen erlauben soll, zu neuem Leben zu erwecken. Dabei setzen sie implizit voraus, dass der religiöse Glaube in der Natur des Menschen verankert ist und dass die Religion der Gegenstand eines starken menschlichen Bedürfnisses ist. Für sie kann man es sich erlauben, auf die öffentliche Finanzierung der Religion zu verzichten, weil man immer genügend

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

Gläubige finden wird, die bereit sein werden, ihre Religion zu finanzieren. Und sind sie nicht mehr dazu bereit, dann werden sie eine neue Religion finanzieren, die ihrem religiösen Bedürfnis besser entspricht. KAPITEL 3: DIE TOLERANZ UND IHRE GRENZEN Die meisten Staaten lassen heute zu, dass man sich mit Alkohol berauscht, aber nur ganz wenige lassen es zu, dass man sich mit Drogen berauscht, wobei mit dem Wort „Drogen“ hier Produkte gemeint sind wie Cannabis, Heroin, Kokain, usw. Diesem Unterschied zwischen Alkohol- und Drogenkonsum entspricht in gewissem Maße im Bereich des Religiösen der Unterschied zwischen den anerkannten Religionsgemeinschaften und den sogenannten Sekten. Das Wort „Sekte“, wie das Wort „Droge“, wird heute fast nur noch in einem negativen Sinne gebraucht, obwohl es ursprünglich nur eine sich von einer etablierten religiösen Gemeinschaft abspaltende bzw. abschneidende Gruppe bezeichnete – und die Vokabel „Droge“ bezeichnete ursprünglich getrocknete Substanzen, die man in einer Drogerie kaufen konnte. Im ersten Jahrhundert war das Christentum in diesem Sinne eine jüdische Sekte. Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet das Wort eher eine ihre Mitglieder manipulierende und ausbeutende Gruppe, die vorgibt, das spirituelle Wohl der Menschen zu fördern. Das Verbieten bestimmter Sekten – die sogenannte Scien­ tology Church ist hier ein gutes Beispiel – wurde schon in bestimmten Ländern erwogen bzw. wurden schon einige Sekten verboten. Solche Verbotsversuche scheitern oft am Prinzip der Glaubens- und Religionsfreiheit, einem Prinzip, das der liberale Staat nicht aufgeben kann, ohne sich selbst zu verleugnen. Denn wenn es eine Freiheit gibt, die der liberale Staat nicht gefährden darf, dann ist es die Glaubens- und Religionsfreiheit. Hier geht es nämlich um das ewige Wohl der Menschen, und auch wenn man davon überzeugt ist, dass es kein solches ewiges Wohl gibt, da es keine Seele gibt, die den Tod des Körpers überlebt, so darf sich doch niemand anmaßen, einem anderen zu verbieten, an ein solches ewige Wohl zu glauben82 und solche Handlungen auszuführen, die in seinen Augen zu diesem Wohl führen werden. Wenn der liberale Staat jedem Individuum die Freiheit gewähren muss, sein irdisches Glück auf seine eigene Art und Weise zu suchen, vorausgesetzt, er gefährdet dabei nicht andere Individuen, dann muss er ihm auch die Freiheit gewähren, sein ewiges Glück – das in den Augen des Gläubigen einen absolut übergeordneten Wert besitzt – auf seine eigene Art und Weise zu suchen. Und auch hier gilt, dass dabei andere Individuen nicht gefährdet werden dürfen.

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Den Glauben als solchen kann man sowieso nicht sinnvoll verbieten, da man ihn nicht abstellen kann, wie man etwa mit einem bestimmten Handeln aufhören kann. Der Gläubige kann durch Angst vor einer Bestrafung dazu gebracht werden, mit dem Beten aufzuhören, nicht aber mit dem Glauben.

Kapitel 3: Die Toleranz und ihre Grenzen

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Insofern der liberale Staat die Wahrheitsfrage ausklammert, kann die Toleranzgrenze nicht zwischen wahrer Religion und falschen Religionen liegen.83 Und insofern die Kriterien allgemein nachvollziehbar und nicht der Ausdruck bloßer Willkür sein sollen, kann der liberale Staat auch nicht einen rein quantitativen Standpunkt einnehmen: Toleranz nur gegenüber jenen Religionsgemeinschaften, die eine bestimmte Anhängerschaft besitzen. Und auch die Dauer einer Praxis kann nicht als Kriterium dienen, d. h. man kann eine bestimmte Religion nicht allein schon deshalb tolerieren, weil sie seit Jahrhunderten auf dem Staatsterritorium praktiziert und gepredigt wird.84 Ein liberaler Staat kann seine Toleranzpolitik gegenüber Religionen und d. h. das Ziehen einer Toleranzgrenze nur durch liberale Prinzipien begründen.85 Dabei gilt es, zwei Dimensionen des Problems zu unterscheiden, und zwar die Kosten- und die Nutzendimension. Auf der einen Seite ist zu fragen, welche Kosten für die liberale Gemeinschaft das Tolerieren der Religion überhaupt bzw. bestimmter Religionen haben kann. Wo diese Kosten derart hoch sind, dass die liberale Gemeinschaft dadurch ernsthaft gefährdet werden kann, kann eine Politik der Intoleranz gerechtfertigt werden. Auf der anderen Seite muss aber auch gefragt werden, welcher Nutzen die religiöse Toleranz für eine liberale Gemeinschaft haben kann. Denn auch wenn das Zulassen der Religion oder bestimmter Religionen negative Konsequenzen haben kann, müssen diese negativen Konsequenzen mit den positiven Konsequenzen aufgewogen werden. Im Folgenden sollen beide Aspekte diskutiert werden, um zu sehen, wie einige der großen klassischen liberalen Denker sich zum Problem des religiösen Pluralismus positioniert haben. In mehreren seiner Schriften hat sich John Locke für die – wenn auch, wie noch zu sehen sein wird, begrenzte – Religionsfreiheit und damit auch Toleranz eingesetzt.86 Für viele gilt er als einer der großen Verfechter der religiösen Toleranz, genauso wie er als einer der großen Vordenker des konstitutionellen Rechtsstaates gilt. 83

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Der deutsche Liberale Robert von Mohl hat dies prägnant formuliert: „Der Staat gewährt jeder religiösen Überzeugung eine freie Stätte, und behält weder sich selbst ein Urtheil über die Wahrheit und Vernünftigkeit einer neuen Lehre vor, noch gestattet er den älteren Kirchen eine andere Bekämpfung, als eine sich auf rein geistigem Gebiete haltende“ (Mohl 1862, S. 210). Im Bereich der Drogen scheint ein solches Prinzip zu gelten. Insofern Alkohol und Tabak seit Jahrhunderten und in großem Maße konsumiert werden, ist ein Verbot undenkbar. Ein fragliches Kriterium ist die Treue zum Staat als solchen. Henri Martin verlangt, dass man nicht mehr im Namen des Staates diejenigen Priester besolden soll, denen von Rom gesagt wird, sie sollten den Staat kritisieren (Martin 1865, S. 23). Man sollte hier klar unterscheiden zwischen (a) der Kritik an der Institution Staat, unabhängig von der Form, die diese Institution annimmt, (b) der Kritik an einer bestimmten Form des Staates, wie z. B. an der Monarchie, der Aristokratie, der Despotie, usw., (c) der Kritik an den durch einen bestimmten Staat verköperten oder verteidigten Werte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, usw.), (d) der Kritik an einer konkreten, diese Werte verwirklichenden oder verteidigenden Politik und (e) der Kritik an den Personen, die diese Politik durchsetzen. Locke, so Jean-Fabien Spitz, ist in religiösen Angelegenheiten „unendlich weniger liberal, als wir es manchmal glauben möchten“ (Spitz 2002, S. 150). Man muss aber betonen, dass Lockes Intoleranz politisch bedingt ist.

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

In seinen Four Letters on Toleration legt Locke einen sehr großen Wert darauf, ganz klar zwischen den Aufgaben der weltlichen Regierung und denjenigen der Religion zu unterscheiden (Locke 1870, S. 5). Eine solche Unterscheidung bzw. die möglichst genaue Festlegung dieser Unterscheidung, ist schon deshalb wichtig, weil sowohl der Staat als auch die Kirche auf den göttlichen Willen verweisen, und somit die Gefahr besteht, dem Staat und der Religion bzw. den Kirchen dieselben Aufgaben zuzuweisen. Gleich hier zeigt sich, dass Locke den Staat keineswegs außerhalb eines allgemeinen religiösen Rahmens denkt – und dies, obgleich er ihn als Produkt eines Vertrages zwischen freien Individuen betrachtet. Aber dass der Staat innerhalb eines solchen religiösen Rahmens gedacht wird, dass er also Teil eines ihm vorausgehenden und von ihm unabhängigen religiös bestimmten Heilsplans ist, heißt noch nicht, dass man seine Aufgaben nicht unabhängig von den Aufgaben der religiösen Gemeinschaft, wie etwa der Kirche, denken kann und auch denken sollte. Der Staat trägt zwar zur Verwirklichung des religiösen Heilsplans bei, aber er darf den ihm zugedachten Beitrag nur innerhalb der ihm zukommenden Sphäre leisten. Gott, so Locke, will einerseits, dass die Menschen in Frieden zusammenleben und somit hier auf Erden glücklich werden, und er will andererseits, dass die Menschen ihr ewiges Seelenheil erlangen (Locke 1870, S. 350). Wer mit seinen Mitmenschen nicht friedlich zusammenleben will, und wer sich nicht um sein ewiges Seelenheil kümmert, stellt sich dem göttlichen Willen entgegen, zerstört oder vernachlässigt Werte, deren Verwirklichung Gott will. Er ist, könnte man sagen, ein Rebell gegen Gott. Aber folgt daraus, dass man beide Fälle gleich behandeln sollte, dass man in beiden Fällen Gewalt anwenden darf, um die Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was Gott von ihnen will bzw. wozu er sie bestimmt hat? Ein Staat toleriert nicht denjenigen, der durch seine hetzerischen Parolen den gesellschaftlichen Frieden und das geordnete Zusammenleben in Gefahr bringt. Sollte er auch intolerant gegenüber demjenigen sein, der durch seine häretischen Parolen das Seelenheil seiner Mitmenschen gefährdet – falls diese sich durch diese Parolen bekehren lassen sollten? Ist der Staat ebenso für die religiöse Ordnung zuständig, wie er es für die weltliche ist? Will Gott nicht beide Ordnungen, und muss der Staat demnach nicht, weil er Teil des göttlichen Heilplans ist, auch beide Ordnungen wollen? Und nicht nur beide wollen, sondern auch für das Zustandekommen beider sorgen? Auch wenn für Locke klar ist, dass der göttliche Wille immer befolgt werden soll, so schließt er daraus nicht, dass man in allen Fällen dieselben Mittel benutzen darf, um die Menschen zur Befolgung des göttlichen Willens zu bringen. Eines seiner Hauptargumente ist, dass einem bei der Bewahrung des öffentlichen Friedens ganz oft kein anderes Mittel als die Gewalt zur Verfügung steht, während solche Mittel im Fall der Bekehrung zur wahren, das Seelenheil bewahrenden Religion existieren (Locke 1870, S. 350). Dies ist allerdings ein schwaches, oder doch nicht ganz zufriedenstellendes, Argument. Die Frage sollte nämlich nicht sein, welche Mittel überhaupt zur Verfügung stehen, sondern welche Mittel angewandt werden dürfen.87 87

Für eine Kritik an Lockes Argumentation, siehe Waldron 1993a.

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Es ist in dieser Hinsicht überzeugender zu behaupten, dass das ewige Seelenheil seiner Bürger den Staat nichts angeht, und dass nur der Staat ein Gewaltmonopol besitzt. Selbst wenn man im Fall der Religion kein anderes Mittel als die Gewalt zur Verfügung hätte, um jemanden zu bekehren – und vorausgesetzt, eine gewaltsame Bekehrung ließe sich durchführen und hätte denselben Wert für die Erlangung des ewigen Seelenheils wie eine freiwillige, nicht durch Gewalt herbeigeführte Bekehrung88 – wäre eine solche Gewaltanwendung trotzdem noch immer illegitim. Die Menschen, so Locke – der hier den Blick über den Rand der bloßen Nützlichkeitsperspektive hinaus wirft –, dürfen nicht in Glaubenssachen gezwungen werden, selbst dann nicht, wenn der Zwang nützlich wäre und tatsächlich zu einer Bekehrung führen würde (Locke 1870, S. 53). Der einzige Kandidat für eine solche Zwangsausübung wäre der Staat, da der Staat durch den Gesellschaftsvertrag über das Monopol des legitimen Gewaltgebrauchs verfügt. Wenn dem Staat die Sorge um das ewige Seelenheil anvertraut worden wäre – durch Gott oder durch die Vertragsschließenden selbst –, dann könnte er in Glaubenssachen zwingen. Aber diese Sorge wurde dem Staat niemals und durch niemanden, sprich durch keine allein dazu legitimierte Autorität, anvertraut. Ergo besitzt er sie auch nicht. Wir haben also eine Situation, in welcher jene Instanz, die allein Gewalt anwenden darf, nicht für das ewige Seelenheil zuständig ist, und in welcher jene Instanz, die allein für das ewige Seelenheil zuständig ist, keine Gewalt anwenden darf. Der Staat hat sich nur um das Leben, die Freiheit, die Gesundheit, die körperliche Integrität und das Eigentum seiner Mitglieder zu kümmern89, und zwar in dem Sinne, dass er dafür sorgt, dass (a) kein Mitglied die eben genannten Güter eines anderen Mitglieds verletzt, und (b) er selbst diese Güter nicht verletzt, es sei denn, eine solche Verletzung sei notwendig, um jemanden davon abzuhalten, dieselben Güter eines anderen absichtlich zu verletzen.90 Die von Locke genannten Güter sind rein irdische Güter und sie betreffen das konkrete materielle bzw. körperliche Individuum – und dessen Ausweitung in der Form des Eigentums. Es obliegt dem Staat nicht, sich um das seelische Leben, die seelische Freiheit, die seelische Gesundheit, die seelische Integrität oder – wenn das überhaupt etwas bedeutet – das seelische Eigentum der Menschen zu kümmern. Zumindest obliegt ihm dies solange nicht, wie man annimmt, und dies scheint Locke zu tun, dass es eine seelische Dimension oder ein seelisches Wohl gibt, die sich völlig losgelöst von der körperlichen Dimension oder dem körperlichen Wohl denken lassen. Die Religion schreibt dem Menschen vor, wie er sich verhalten soll, um das ewige seelische Wohl zu erreichen, und die Kirche ist das Organ, durch das die Re88 89

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Zwei Voraussetzungen, deren Wahrheit sehr fraglich ist, die aber hier argumentationshalber einfach angenommen werden sollen. In einem ‚Civil and Ecclesiastical Power‘ überschriebenen Essay aus dem Jahr 1674 bestimmt Locke den Zweck der bürgerlichen Gesellschaft als „den jetzigen Genuss dessen, was diese Welt uns anbietet“, während die kirchliche Gesellschaft die „zukünftige Erwartung dessen, was man in der anderen Welt bekommen kann“ hat (Locke 1997, S. 217). Der Staat steht dabei im Dienst der bürgerlichen Gesellschaft, indem er den „jetzigen Genuss“ der irdischen Güter absichert. Die Polizei darf die körperliche Integrität eines Individuums verletzen, das wild auf der Straße um sich schießt und dadurch die körperliche Integrität seiner Mitmenschen zu verletzen droht.

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

ligion und die religiösen Normen den Menschen vermittelt werden – vergleichbar dem Staat, der durch seine positiven Gesetze den Menschen den Inhalt der natürlichen Gesetze vermittelt. Dabei gibt es allerdings einen wesentlichen Unterschied: Während der Staat auf Gewalt bzw. Gewaltandrohung zurückgreifen darf, um seine Gesetze durchzusetzen und den Individuen dadurch den Schutz ihrer irdischen Güter zu garantieren, ist der Gewaltgebrauch und sogar die Androhung von Gewalt im Fall der Religion untersagt. Eine Kirche darf einen religiösen Glauben zwar als den allein selig machenden verkünden, sie darf ihn aber niemandem aufzwingen. Genauso wie der Staat, muss auch sie zulassen, dass man denjenigen Weg zum ewigen Heil wählt, den man persönlich als den richtigen betrachtet, mögen auch alle anderen diesen Weg als völlig falsch ansehen. Wie verheerend auch die Folgen eines falschen religiösen Glaubens für das ewige Seelenheil des Gläubigen sein mögen, so muss ihm trotzdem das Recht zugestanden werden, sich auch zu einem – aus der Sicht der Anhänger einer anderen Religion – falschen religiösen Glauben zu bekennen. Es gibt diesbezüglich allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen der Kirche und dem Staat. Während nämlich der Staat niemanden ausschließen darf, bloß weil er einen bestimmten religiösen Glauben hat, so darf eine Religionsgemeinschaft dies tun. Aber der Ausschluss gilt dann nur für die betreffende Religionsgemeinschaft und nicht für die politische Gemeinschaft schlechthin. Der Häretiker darf aus der Kirche verwiesen werden, nicht aber aus dem Staatsterritorium. Er hört auf, Mitglieder einer bestimmten Kirche zu sein, nicht aber Mitglied eines bestimmten Staates. Man toleriert seine Präsenz nicht mehr dort, wo die Gläubigen diejenigen Handlungen ausführen, von denen sie glauben, dass sie zum ewigen Seelenheil führen werden, aber er wird weiterhin dort toleriert, wo Bürger diejenigen Handlungen ausführen, von denen sie glauben, dass sie zu ihrem gemeinsamen irdischen Glück führen werden. Lockes Argument beruht auf der skeptischen Prämisse, dass es uns nie möglich sein wird zu wissen, welche Religion die wahre ist und an welche wir demnach glauben sollen, wenn wir das ewige Seelenheil erlangen wollen (Locke 1870. S. 276). Auch wenn die natürliche Vernunft uns, laut Locke, lehrt, dass es einen Gott gibt und dass dieser Gott sich um die menschlichen Angelegenheiten kümmert91, so lehrt uns diese natürliche Vernunft nicht, auf welche Weise wir diesen Gott zu verehren haben, d. h. unter welcher Form der Gottesdienst stattfinden soll. Außerdem lehrt sie uns jene Dinge nicht, über die seit Jahrhunderten unter Theologen diskutiert wird, die zu wissen aber, so Locke, nicht unbedingt für die Erlangung des ewigen Seelenheils notwendig ist. An einer Stelle schreibt Locke, dass die einzig wahre Religion diejenige sei, die nur diejenigen Wahrheiten enthält, an die zu glauben für das ewige Seelenheil unabdingbar ist (Locke 1870, S. 224). Wenn der Zweck einer Religion darin besteht, uns den Weg zum ewigen Seelenheil zu zeigen, und wenn eine Religion uns nur jene Glaubensartikel oder Riten vorschreiben sollte, die notwendig sind, um zum ewigen Seelenheil zu führen, dann wird man eine Religion als falsch ansehen müssen, die uns auch noch andere 91

Locke 1975, S. 89.

Kapitel 3: Die Toleranz und ihre Grenzen

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Glaubensartikel oder Riten vorschreibt. Sie mag wohl die wahren Glaubensartikel enthalten, aber indem sie noch andere hinzufügt und es zur Vorschrift macht, an sie zu glauben, muss sie, insgesamt betrachtet, als falsch betrachtet werden. Allerdings wird eine in diesem Sinne falsche Religion die Erlangung des ewigen Seelenheils nicht gefährden, enthält sie doch auch diejenigen Glaubenssätze und Riten die zum ewigen Seelenheil führen. Eine solche Religion gefährdet demnach nicht die Erlangung des ewigen Seelenheils, wohl aber den öffentlichen Frieden und die Rechte der Andersgläubigen. In seinem dritten Brief schließt Locke aus, dass wir jemals mit Recht behaupten können zu wissen, welche Wahrheiten uns das ewige Seelenheil bringen können (Locke 1870, S. 95). Demnach muss auch bei Locke das Wissen dem Glauben Platz machen, und weil dem so ist, muss auch jedem das Recht zugestanden werden, sich zu dem Glauben zu bekennen, den er für richtig hält und von dem er glaubt, dass er ihn zum ewigen Glück führen wird. Denn sein Glaube könnte durchaus der wahre sein. Und wenn es der wahre Glaube ist, dann tun wir ihm wahrscheinlich das größte Unrecht an, wenn wir ihn dazu zwingen, sich zu einem anderen Glauben zu bekehren und damit sein ewiges Seelenheil aufs Spiel zu setzen. Weil jeder Mensch ein Recht hat, das ewige Seelenheil zu erlangen92 und weil kein Mensch mit absoluter Sicherheit weiß und auch niemand je wissen kann, wie man das ewige Seelenheil erreichen kann, muss jedem das Recht zugestanden werden, sich zu derjenigen Religion zu bekennen, von der er glaubt, sie sei die einzig wahre. Lockes philosophisches Argument für die religiöse Toleranz beruht einerseits auf der skeptischen Prämisse, dass niemand weiß, welche Religion die wahre ist, und andererseits auf der – impliziten – Annahme eines Rechts auf das ewige Seelenheil. Lässt man die skeptische Prämisse fallen und nimmt man an, dass bestimmte Menschen im starken Sinn des Wortes wissen, welche Religion die wahre ist und zum ewigen Seelenheil führt, dann besteht die Gefahr, dass diese Menschen im Namen des Rechts auf das ewige Seelenheil Andersgläubige mit Zwang zu bekehren versuchen. Schließlich könnten sie behaupten, dass dieser Zwang dem Recht auf das ewige Seelenheil entgegenkommt, so dass, wer ein solches Recht für sich beansprucht, eigentlich damit einverstanden sein muss, dass man ihn zum wahren Glauben zwingt. Wie Rousseau im Contrat social schreiben konnte, dass man die Menschen dazu zwingen kann, frei zu sein, würde man sie hier zu ihrem ewigen Seelenheil zwingen, also zu dem zwingen, was sie eigentlich wollen. Doch zwingt man jemandem zu dem, was er will, so kann man kaum noch wirklich von Zwang sprechen, sondern eher von Gegenzwang: Man zwingt eigentlich nur das „falsche“ Selbst dazu, das zu wollen, was das „wahre“ Selbst immer schon gewollt hat. Locke ist aber nicht Rousseau und der Lockesche Fürst ist auch nicht der Rousseausche Souverän. Als sie sich zu einem politischen Gemeinwesen zusammen92

Locke spricht nicht ausdrücklich von einem solchen Recht, aber ich denke nicht, dass er sich gegen seine Annahme ausgesprochen hätte. Es handelt sich natürlich um ein Recht, das man nur gegenüber anderen Menschen, nicht aber Gott gegenüber geltend machen kann. Außerdem sollte es als negatives Recht konstruiert werden. Der Staat und die anderen Menschen erkennen dieses Recht schon dann an, wenn sie mich nicht dazu zwingen, auf einem von ihnen definierten Weg das ewige Seelenheil zu suchen.

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

schlossen, haben die Individuen bei Rousseau dem Souverän – den sie selbst bilden – das Recht übertragen, ihr unveräußerliches Recht auf Freiheit zu schützen. Die Lockeschen Individuen haben aber niemandem das Recht übertragen, ihr Recht auf das ewige Seelenheil zu verwirklichen. Und sie haben es nicht getan, so kann man vermuten, nicht nur weil sie davon ausgingen, dass niemand wissen kann, welche die wahre Religion ist, sondern auch weil sie zusätzlich davon ausgingen, dass niemand wissen kann, wer mit Recht von sich beanspruchen kann zu wissen, welche die wahre Religion ist. A mag zwar wissen, welche die wahre Religion ist, aber wenn B nicht wissen kann, ob A tatsächlich weiß, dann wird B bezweifeln dürfen, ob As Zwang ihm wirklich den Weg zum ewigen Seelenheil öffnet. Insofern wird B niemandem das Recht übertragen wollen, ihn zum wahren Glauben zu bekehren. Sollte B aber wissen, dass A weiß, welche Religion die wahre ist, dann weiß auch B, welche Religion die wahre ist. Und wenn B dies weiß, braucht er nicht mehr bekehrt zu werden, weder mit noch ohne Zwang. Insofern die Religion nur im Hinblick auf das Erreichen des ewigen Seelenheils konzipiert wird, und insofern das Erreichen des ewigen Seelenheils keine Konsequenzen für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen hier auf Erden hat, muss der Staat jedem das Recht lassen, an das zu glauben, wovon er meint, dass es ihm das ewige Seelenheil bringen wird. In ihrer auf das ewige Seelenheil gerichteten Dimension, betrifft die Religion nur Gott und den einzelnen Gläubigen. Der Staat muss zulassen, dass jeder sich in dieser Dimension so verhält, wie er es für richtig hält. Denn beim Jüngsten Gericht wird jeder sich selbst vor Gott verantworten müssen. Wenn jeder sich derart für seinen eigenen Glauben wird verantworten müssen, dann kann Gott den Regierenden nicht den Vorwurf machen, ihre Bürger nicht mit Zwang bekehrt zu haben. Und wie Locke selbst in dem zweiten Brief über Toleranz festhält, hat die Heilige Schrift es an keiner Stelle zur Pflicht gemacht, jemanden mit Zwang zu bekehren (Locke 1870, S. 54).93 Hätte sie es getan, so Locke weiter, dann wäre der Zwang in Glaubenssachen gerechtfertigt gewesen. Und wie Locke einige Seiten vorher festgehalten hatte, kann Gott durchaus bewirken, dass der Zwang zu einer tatsächlichen Bekehrung – und nicht nur zu einem nach außen hin konformen religiösen Handeln – führt (Locke 1870, S. 44). Das menschliche Gewissen ist demnach gegenüber rein menschlichem Zwang geschützt, aber nicht vor einem durch Gott zur Pflicht gemachten. Wenn Gott den Zwang in Glaubenssachen zur Vorschrift macht und wenn er die Wirksamkeit dieses Zwangs garantiert – und er muss diese Wirksamkeit garantieren, wenn er den Zwang zur Vorschrift 93

Locke begibt sich hier auf vermintes Gelände, bedenkt man die Debatten um das „compelle eos intrare“, aus dem einige Autoren geschlossen haben, dass Zwang benutzt werden darf, ja vielleicht sogar muss, um jemanden zur wahren Religion zu bekehren. Man beachte auch, dass Locke nur behauptet, dass die Heilige Schrift an keiner Stelle Zwang vorschreibt. Doch aus der Tatsache, dass dem Staat nicht vorgeschrieben wird, auf Zwang zurückzugreifen, folgt noch nicht, dass er kein Recht hat, auf Zwang zurückzugreifen. Man kann davon ausgehen, dass beim Vertragsschluss die Vertragsschließenden sich nicht damit begnügt haben, dem Staat nicht vorzuschreiben, Zwang zu gebrauchen, sondern dass sie ihm auch das Recht des Zwangsgebrauchs in Glaubenssachen nicht übertragen haben.

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macht –, dann ist der Zwang gerechtfertigt. Gegenüber Gott, ihrem Schöpfer, haben die Menschen keine Rechte bzw. können sie ihm gegenüber keine Rechte geltend machen. Da Gott aber an keiner Stelle den Zwang vorgeschrieben hat, dürfen die Menschen auch nicht auf ihn zurückgreifen. Insofern darf der Staat auch nicht mit Zwang gegen diejenigen vorgehen, die einen anderen als etwa den mehrheitlich vertretenen religiösen Glauben haben. Ein Staat, der eine rein politische Perspektive einnimmt, interessiert sich nicht für das ewige Seelenheil der Gläubigen, sondern höchstens nur für den Glauben der Menschen an das ewige Seelenheil und für die Auswirkungen dieses Glaubens auf ihr Zusammenleben und auf die in diesem und durch dieses Zusammenleben zu fördernden Werte. Die Frage, ob ein bestimmter religiöser Glaube das ewige Seelenheil des Gläubigen fördert oder gefährdet, wird hier ganz ausgeklammert. Wenn der Staat bestimmte Religionen toleriert, dann ist es nicht nur, weil man nicht wissen kann, welche davon die wahre ist, und man niemandem durch ein Verbot die Möglichkeit nehmen will, sein ewiges Seelenheil zu erreichen, sondern er toleriert sie auch, insofern sie keine Gefahr darstellen oder weil sie sogar das gesellschaftliche Zusammenleben und bestimmte Werte fördern können. Und umgekehrt gilt auch: Wenn der Staat bestimmte Religionen verbietet bzw. die Vertreter dieser Religionen aus dem Land verweist, dann tut er es nicht, weil die Regierenden wissen, dass diese Religionen nicht zum ewigen Seelenheil, sondern zur ewigen Verdammnis führen, sondern sie werden verboten, weil sie das gesellschaftliche Zusammenleben und bestimmte für dieses Zusammenleben grundlegende Werte gefährden.94 Eine rein politische Betrachtung der Toleranzfrage wird das Argument nicht gelten lassen, dass man durch die Toleranz falscher Religionen Gott erzürnt, und dieser sich am toleranten Gemeinwesen rächen wird. Sie wird höchstens nur das Argument gelten lassen, dass durch eine zu große Toleranz viele Gläubige glauben werden, dass Gott zornig werden wird und sich am Gemeinwesen rächen wird, und dass dieser Glaube die Gläubigen dazu verleiten wird, sich gegen den toleranten Staat zu wenden, um ihn auf diese Weise von seiner toleranten Politik abzubringen, um dann so – wie sie glauben – den Zorn Gottes abzuwenden. Wer Religionen nicht toleriert, weil er glaubt, dass diese Toleranz Gott erzürnen und dieser Zorn zu einer Bestrafung des Gemeinwesens führen wird, gebraucht zwar anscheinend ein politisches Argument – denn es geht ihm um die Bewahrung des Gemeinwesens –, aber dieses politische Argument beruht letztendlich auf einer theologischen Prämisse, oder sogar auf einer Mehrzahl religiöser Prämissen (Gott existiert, Toleranz gegenüber falschen Religionen erzürnt Gott, Gott bestraft, wenn er zornig ist, usw.). 94

So wurden schon zum Beispiel in Frankreich bestimmte Imame wegen ihrer Hasspredigten des Landes verwiesen. Der Vorwurf gegen sie war nicht, dass sie eine falsche Interpretation des Korans gaben, sondern dass ihre Interpretation eine gefährliche war und dass somit auch sie, als Personen, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellten. Die französischen Autoritäten wollen nicht die wahre Interpretation des Korans fördern, indem sie falsche Interpretationen bekämpfen. Ihnen geht es lediglich darum, dass auf dem französischen Territorium nur ungefährliche Interpretationen zirkulieren. Es obliegt nicht dem Staat, sondern den muslimischen Theologen, darüber zu bestimmen, was die wahre und was die falsche Interpretation des Korans ist.

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Ein liberaler Staat kann aber keine dieser Prämissen als Grundlage für die Bestimmung seiner Toleranzpolitik benutzen. Er mag zwar den Gedanken akzeptieren, dass man keine Religion tolerieren sollte, durch die das Gemeinwesen ernsthaft bedroht werden kann, aber er wird nur die Gefahr betrachten, die unmittelbar von den Vertretern der betreffenden Religion ausgehen, nicht aber die Gefahr, die von einem zornigen Gott ausgehen könnte. Ein liberaler Staat wird demnach mit der Gefahr leben müssen, dass Gott – wenn es ihn gibt, wenn Toleranz ihn zornig machen kann und wenn dieser Zorn sich in einer Bestrafung äußert – das Gemeinwesen bestraft und es wegen seiner zu weiten Toleranz untergehen lässt. Die Toleranzpolitik eines liberalen politischen Gemeinwesens sollte vom Prinzip ausgehen, dass man einen religiösen Glauben unabhängig von seiner Wahrheit oder Falschheit zulassen sollte. Allein eine auf diesem Prinzip aufbauende Toleranzpolitik kommt dem individuellen Recht auf ewiges Seelenheil entgegen und vermeidet somit, dass die durch eine Politik der religiösen Intoleranz in ihrem Recht auf ewiges Seelenheil verletzten Individuen sich gegen den Staat wenden. In einem liberalen Staat kann es keine religiöse, sondern nur eine politische Intoleranz geben, d. h. Intoleranz in religiöser Hinsicht ist immer höchstens nur Intoleranz gegenüber einer Religion95 und nie Intoleranz wegen einer Religion. Mit vielleicht etwas zu großem Optimismus hält Locke fest, dass es nicht die Religion als solche ist, die für Tumulte sorgt, sondern die Unterdrückung der Religion (Locke 1870, S. 32). Wer daran gehindert wird, auf die in seinen Augen richtige Weise nach dem – auch wieder – in seinen Augen höchsten Gut zu streben, der wird den gesellschaftlichen Frieden und sein eigenes irdisches Leben aufs Spiel setzen, um die Möglichkeit zu haben, so nach dem ewigen Seelenheil zu streben, wie er es für richtig hält. Man sollte demnach jedem die Möglichkeit lassen, seinen eigenen Weg zum ewigen Seelenheil zu gehen, dabei aber niemandem erlauben, auf diesem Weg, die für die politische Gemeinschaft fundamentalen politischen Werte zu zerstören. Auch wenn Locke zum Teil ehrlich ist, wenn er in seinem zweiten Brief über Toleranz darauf hinweist, dass seine Verteidigung der Toleranz nicht auf einem ökonomischen Argument fußt (Locke 1870, S. 41), so tritt doch in seinem ersten Brief ein verstecktes ökonomisches Argument auf, das dem prinzipiellen Argument ein zusätzliches Gewicht gibt. Im ersten Brief hatte Locke nämlich geschrieben, dass durch eine tolerante Politik die religiösen Gemeinschaften sich in dem Staat wohlfühlen, der sie toleriert, und wenn diese Toleranz größer ist als in allen anderen Staaten, dann werden die Mitglieder der betreffenden Religionsgemeinschaften keinen Grund haben, etwas an ihrer Situation zu ändern (Locke 1870, S. 34), sei es, indem sie einen Aufstand gegen den Staat unternehmen, oder indem sie in einen Staat auswandern, der ihnen eine größere Freiheit in der Ausübung ihrer Religion gewährt. Mag eine zu große Toleranz den Zorn Gottes hervorrufen, so droht eine zu große Intoleranz, den Zorn der unter ihr leidenden Menschen zu provozieren. 95

U. a. gegenüber einer Religion, die keine andere Religion neben sich dulden will. Wie Benner festhält: „[I]n modernen demokratischen Gesellschaften ist […] die Legitimität der öffentlichen Präsenz von Religion daran zurückgebunden, dass Religionen miteinander kommunizieren und darauf verzichten, Staatsreligion sein oder werden zu wollen“ (Benner 2015, S. 105).

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Wo diese Menschen zahlreich sind und auch stark genug, werden sie zu den Waffen greifen und einen Bürgerkrieg auslösen. Wo sie eine Minorität bilden oder zu schwach sind, werden sie von jenem Recht Gebrauch, auf das Locke einen großen Wert legt, nämlich das Auswanderungsrecht. Das Beispiel der Hugenotten in Frankreich und der Juden und Muslime in Spanien hat gezeigt, dass die religiöse Intoleranz zu dramatischen ökonomischen Konsequenzen führen kann. Nach dem Erlass von Fointainebleau, welcher der, ganz relativen, Toleranzpolitik des berühmten Édit de Nantes ein Ende setzte, verließen viele Hugenotten Frankreich. Insofern die Hugenotten aber eine große Rolle für die französische Wirtschaft spielten, erwies sich die Entscheidung Ludwig XIV. als ökonomisch kontraproduktiv. Für Spanien stellte sich die Frage mehrmals, und zwischen 1492 – als Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon einen ersten großen Christianisierungsschub einläuteten – und 1609 – als Philip III. entschied, die Mauren des Landes zu verweisen, wächst der Widerstand des Adels und der ökonomisch dominanten Gruppen gegen eine solche Ausweisung.96 Dieser Widerstand erwuchs nicht aus der Tatsache, dass diese gesellschaftlichen Gruppen die Mauren als solche schätzten, sondern er findet seine Erklärung in der Tatsache, dass sie von der Arbeit der Mauren auf den Gebieten der Landwirtschaft und des Handels profitierten. Und im Fall der Adligen kam noch hinzu, dass sie einen großen Teil ihrer Vasallen verloren. Dominierte zur Zeit der reyes catholicos noch der Gedanke, dass die religiöse Einheit im Rahmen der einzig wahren Religion – und es handelte sich dabei um den Katholizismus – alle anderen Werte übertraf97 und demnach die Toleranz gegenüber allen anderen Religionen nicht in Frage kommen konnte, so hatte sich im XVII. Jahrhundert ein, so könnte man sagen, pragmatischeres Denken gebildet, das im Namen der Förderung bestimmter rein irdischer Werte bereit war, religiöse Werte zu ignorieren bzw. sie in der Hierarchie der Werte zurückzustellen. Ökonomisch geprägte Argumente zu Gunsten der Toleranz wird man auch noch zur Zeit des amerikanischen Befreiungskrieges finden. Im ‚Memorial of the Presbitary of Hanover, Virginia‘ aus dem Jahr 1776, weisen die Autoren darauf hin, dass der Staat Virginia an der Spitze Amerikas hätte stehen können, wenn er keine intolerante Politik getrieben und keine Staatskirche anerkannt hätte. Religiöse In96

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Dazu etwa Kamen 1995, S. 355. Tocqueville erwähnt an einer Stelle der Yale-Manuskripte die Vertreibung der Mauren durch Isabella und Ferdinand, und meint dazu, dass das Herrscherpaar zur Verarmung des Landes beigetragen hat und dem ökonomischen Leben einen Schlag gab, von dem es sich nie wieder erholen sollte (Tocqueville/Nolla 2009b, S. 287, Fußnote h). Dadurch hätten sie einen hohen Preis für den sozialen Frieden gezahlt. Tocqueville vergleicht dabei die Politik des katholischen Königspaars mit der Politik der Partei der Demokraten in Amerika: Diese Partei hat sich aller Machthebel bemächtigt und dann die Sitten und Gesetze homogenisiert. So weist Saavedra Fajardo 1640 darauf hin, dass Spanien in der Vergangenheit immer „el honor y la gloria de Diós“, die Ehre und den Ruhm Gottes, an erste Stelle gesetzt hat (Saavedra Fajardo 1999, S. 391). So hätten die Spanier durchaus die Möglichkeit gehabt, die Niederlande zu behalten und sich die enormen Kosten des Krieges gegen die Vereinten Provinzen zu ersparen. Dazu hätte es genügt, den dortigen Einwohnern die Gewissensfreiheit zu lassen und d. h., den Protestantismus zu tolerieren. Für sie waren aber Gott und die wahre Religion wichtiger als alle irdischen Güter.

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toleranz, so die Autoren, hat einen negativen Einfluss auf die Entwicklung der Bevölkerung, und damit auch auf die Entwicklung im Bereich der liberalen Künste, der Wissenschaften und der Manufakturen (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 270). Wer die religiöse Toleranz rechtfertigen will, kann dies entweder durch prinzipielle Argumente tun, oder dann aber durch Nützlichkeitsargumente. Prinzipielle Argumente stützen sich einerseits auf ein Recht des Gläubigen, in religiösen Sachen nur seinem eigenen Gewissen zu folgen, da er sich letztendlich persönlich vor Gott für seinen Glauben rechtfertigen muss. Hiermit hängt der Gedanke zusammen, dass es nicht die Aufgabe des Staates ist, seine Bürger zum ewigen Seelenheil zu führen. Andererseits stützen sie sich auf die Tatsache, dass niemand mit absoluter Gewissheit wissen kann, welche Religion die wahre ist, und dass nur eine solche absolute Gewissheit, wenn überhaupt, dem Staat ein Recht geben kann, den religiösen Glauben seiner Bürger zu bestimmen. Nützlichkeitsargumente können, wie das eben erwähnte, auf den ökonomischen Nutzen der religiösen Toleranz eingehen – profitieren dann aber eventuell nur jenen Religionsgemeinschaften, deren Mitglieder zur Förderung des nationalen Reichtums beitragen –, sie können aber auch, wie es bei manchen Autoren der Fall ist, auf ihren politischen Nutzen eingehen. Der Grundgedanke ist hier folgender: Je mehr religiöse Gruppen es in einem politischen Gemeinwesen gibt, umso geringer ist die Gefahr, dass eine dieser Gruppen eine derart große Anhängerschar gewinnen wird, dass sie die Macht erlangen kann. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, findet hier ein wahrer Paradigmenwechsel statt: Hatte man nämlich bislang geglaubt, dass nur eine größtmögliche Homogenität ein wirksamer Stabilitätsfaktor und damit eine Garantie für den öffentlichen Frieden sein konnte – was zu einer Politik der religiösen Intoleranz geführt hatte –, so macht sich ab der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts der Gedanke breit, dass diese Stabilität und dieser öffentliche Frieden genauso, wenn nicht sogar besser, dort garantiert werden können, wo es mehrere religiöse Gemeinschaften gibt. Im zehnten Beitrag der Federalist Papers hatte James Madison diesen Grundgedanken im Zusammenhang mit den sogenannten politischen factions, also den politischen Parteien oder Parteiungen entwickelt (Madison 1978, S. 41 ff.). Er geht dabei auch auf die religiösen Sekten ein und interessiert sich vor allem für ihre Umwandlung in politische Gruppierungen. Madison weiß, dass eine zunächst rein religiöse Gruppierung sich durchaus in eine Gruppe verwandeln kann, die, um ihre Interessen durchzusetzen, auf den Erwerb der politischen Macht schielt. Wer nicht von außen auf die politischen Mandatsträger einwirken kann, um seine Interessen zu behaupten, wird leicht zur Schlussfolgerung kommen, dass er, will er seine Interessen durchgesetzt sehen, sich am besten selbst für ein politisches Mandat bewerben sollte. Wo aber die Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft die Führungspositionen in einem Staat übernehmen, kann es zu einem Konflikt mit anderen religiösen Gruppierungen kommen, die sich in Gefahr wähnen, und die dadurch auch dazu verleitet werden können, nach der politischen Macht zu greifen. Und da religiöse Leidenschaften mit zu den stärksten Leidenschaften gehören, können religiöse Teilgruppierungen, wenn sie in die politische Arena steigen, gefährlich für den sozialen Frieden werden.

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Jean-Jacques Rousseau hat in seiner Schrift Du contrat social die These vertreten, dass es in einem politischen Gemeinwesen keine Gruppierungen geben sollte, die ein vom Allgemeininteresse unterschiedenes Teilinteresse vertreten. Eine politische Gemeinschaft sollte homogen sein, und jeder Schritt weg von dieser substantiellen Homogenität war ein Schritt in Richtung Bürgerkrieg oder Auflösung der politischen Gemeinschaft. Im rein religiösen Bereich drückte dieser Gedanke sich in der berühmten Formel des Augsburger Religionsfriedens aus: Cuius regio eius religio. Das Volk sollte keine andere Religion als die seines Herrschers haben. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass das Volk aus religiösen Gründen den Gehorsam verweigert oder sich gar gegen die weltliche Gewalt im Namen Gottes auflehnt. Wollte man religiös begründete Bürgerkriege verhindern – wie sie etwa Frankreich in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts gekannt hatte –, dann musste man die religiöse Homogenität im Volk und zwischen dem Volk und seinem Herrscher bewahren. Man findet diesen Gedanken besonders bei katholischen Denkern wieder, wie zum Beispiel bei dem spanischen Theologen Juan de Mariana. Der Frieden, so Mariana, ist das höchste irdische Gut, dessen ein politisches Gemeinwesen teilhaftig werden kann. Eine der größten Gefahren für diesen Frieden ist die Präsenz einer Vielzahl religiöser Gemeinschaften auf dem Staatsgebiet (Mariana 1961b, S. 192 f.). Insofern Gläubige nämlich ihre Religion mehr lieben, als alles andere – denn diese Religion zeigt ihnen den Weg zum, in ihren Augen, höchsten Gut überhaupt (das ewige Seelenheil) –, hassen sie alle diejenigen, die dieser Religion nicht angehören. Damit ist nicht nur die Gefahr interreligiöser Gewalt auf dem Staatsgebiet gegeben, sondern auch, sozusagen als eine Konsequenz davon, die Gefahr, dass eine fremde Macht von den religiösen Konflikten profitiert, um das Staatsgebiet zu erobern und es sich einzuverleiben. Daraus ergibt sich für Mariana, wie er es schon an einer anderen Stelle seines Hauptwerkes festgehalten hatte, dass ein politisches Gemeinwesen nur dann florieren kann, wenn es alle Ungläubigen – und gemeint sind hier alle Nicht-Katholiken – verjagt hat, und somit die Homogenität des katholischen Glaubens hergestellt worden ist (Mariana 1961a, S. 302).98 In seinem Buch De l’esprit des lois, sieht auch ein liberaler Denker wie Montesquieu in der religiösen Homogenität den besten oder idealen Zustand für ein politisches Gemeinwesen. Das Grundprinzip einer jeden Religionspolitik sollte es sein, keine neue Religion in einem Staat zuzulassen (Montesquieu EL XXV, 10, S. 744). In dem Satz, der vor diesem Grundprinzip steht, hatte Montesquieu etwas nuancierter gesagt, dass es ein gutes bürgerliches Gesetz sei, keine andere Religion 98

Mariana erwähnt aber auch die Möglichkeit, dass der christliche Fürst den Irrglauben nicht, wie er es eigentlich tun sollte, mit Gewalt bekämpft, sondern ihn toleriert. Allerdings toleriert er ihn dann nur, um ihn durch List zu bekämpfen (Mariana 1961b, S. 200). Wir haben es hier sozusagen mit einer rein strategischen Toleranz zu tun. Wenn man die Un- oder Irrgläubigen mit Gewalt bekämpft und verjagt – vor allem, wenn sie zahlreich sind –, dann verliert man einen womöglich ökonomisch wichtigen Teil seiner Bevölkerung. In einem solchen Fall ist es besser, pragmatisch vorzugehen. Der Jesuit Mariana zeigt hier, dass er Cicero und vor allem Machiavelli kennt: Manchmal ist es besser, mit den Waffen des Fuchses als mit denjenigen des Löwen zu kämpfen.

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zuzulassen, „wenn der Staat mit der schon etablierten zufrieden ist“ (Montesquieu EL XXV, 10, S. 744). Hier wird also die Möglichkeit angedeutet, eine neue Religion zuzulassen, wenn die etablierte den Staat nicht zufriedenstellt. Wie er es selbst zu Beginn seiner Diskussion noch einmal klargestellt hatte, spricht Montesquieu als Politiker, nicht als Theologe. Die eben zitierte Passage bedeutet also nicht, dass der Staat eine neue Religion zulassen soll, wenn die etablierte Religion falsch ist, und der Herrscher von der neuen glaubt, dass sie wahr ist. Insofern er sich nur nach politischen Kriterien richtet, muss der Herrscher lediglich den politischen Nutzen einer Religion betrachten. Erfüllt sie diesen Nutzen, dann kann er mit ihr zufrieden sein und sollte keine neue Religion zulassen.99 Dabei macht Montesquieu auch darauf aufmerksam, dass man Toleranz nicht mit Akzeptanz gleichsetzen sollte. Dass ein Fürst eine Religion toleriert, bedeutet demnach nicht unbedingt, dass er sie auch gutheißt bzw. sie als wahr ansieht. Und umgekehrt gilt auch: Wenn ein Fürst eine Religion als wahr ansieht, so ist das noch kein Grund, diese Religion auch zu tolerieren. Es ist die Rolle des Individuums als Fürsten, die Frage zu beantworten, ob eine Religion toleriert werden soll oder nicht, und es ist die Rolle des Individuums als Gläubigen, oder nach dem Glauben Suchenden, die Frage zu beantworten, ob es eine Religion als oberste Anleitung für sein auf die Erlangung des ewigen Seelenheils ausgerichtetes Handeln akzeptieren soll und kann. Das Zulassen, oder gar die Etablierung, einer neuer Religion als Staatsreligion hat, so Montesquieu, viele Nachteile. Wie er richtig bemerkt, existiert eine Religion nicht als isoliertes Element, sondern sie ist mit vielen Elementen des sozialen und politischen Lebens verknüpft. Sie ist, könnte man sagen, Teil einer Lebenswelt, auf welche sie direkt oder indirekt einwirkt. Wer demnach eine etablierte Religion durch eine neue ersetzt, bringt das mit der Zeit entstandene soziale Geflecht völlig durcheinander und, so Montesquieu, „gibt dem Staat, für eine gewisse Zeit, sowohl schlechte Bürger als auch schlechte Gläubige“ (Montesquieu EL XXV, 11, S. 745). Das eben erwähnte Grundprinzip gilt allerdings nur insofern, als man die Etablierung einer neuen Religion noch verhindern kann. Wo dies nicht mehr möglich ist, wo also schon zahlreiche Religionen innerhalb eines Gemeinwesens existieren, muss man diese Religionen tolerieren. Die Toleranz ist in einem solchen Fall nicht so sehr durch eine moralische Norm motiviert, als vielmehr durch den politischen Realismus. Eine Politik der religiösen Intoleranz würde unter den gegebenen Umständen nämlich mehr negative als positive Konsequenzen für das Gemeinwesen nach sich ziehen. Solange die Religionen sich friedlich zueinander verhalten und auch keine unmittelbare Gefahr für den Staat darstellen, sollte man sich mit dem 99

In einer Fußnote weist Montesquieu darauf hin, dass er in seinen Kapiteln zur Toleranz nicht von der christlichen Religion spricht, denn „die christliche Religion ist das erste unter allen Gütern“ (Montesquieu EL XXV, 10, S. 744, Fußnote). Diese Fußnote sollte zunächst als Element einer defensiven Strategie gelesen werden: Montesquieu will möglichen Angriffen gegen sein Buch seitens der Katholiken vorbeugen. Insofern ist es für ihn ratsam zu behaupten, dass sein Grundprinzip – „Keine neue Religion zulassen“ – für andere als für die christliche Religion gilt. Man beachte aber, dass Montesquieu an keiner Stelle ausdrücklich sagt, dass ein Fürst die christliche Religion zulassen sollte.

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religiösen Pluralismus abfinden und keine religiösen Unruhen durch eine Politik der religiösen Unterdrückung entstehen lassen. Diese politisch motivierte Toleranz ist, wie eben angeklungen, nicht bedingungslos. Bei Montesquieu ist der Gedanke einer Pluralität von Religionen auf einem und demselben Staatsgebiet immer noch mit der Angst vor interreligiösen Konflikten verbunden. Solche Konflikte kann man ihm zu Folge nur dadurch verhindern, dass man die Religionen dazu zwingt, sich gegenseitig zu tolerieren (Montesquieu EL XXV, 9, S. 744). Das wiederum heißt u. a., dass der Herrscher seine Machtfunktion nicht dazu ausnutzen sollte, um andere Religionen als die seinige zu unterdrücken. Wo das nämlich geschieht, erscheint die Religion des Herrschers nicht mehr nur als Religion, sondern auch und vor allem als Tyrannis (Montesquieu EL XXV, 9, S. 744). Und in einem solchen Fall wird man die herrschende Religion nicht mehr nur mit friedlichen Mitteln bekämpfen, sondern auch mit Gewalt. Als politischer Denker ist Montesquieu darauf aus, die Bedingungen der Möglichkeit des sozialen Friedens zu bewahren. Intolerante Religionen gefährden diesen Frieden, zumindest wenn sie anderen Religionen begegnen. Insofern sollte ein politisch vorsichtiger Fürst es tunlichst vermeiden, es zu einer solchen Begegnung kommen zu lassen. Dies kann er dadurch tun, dass er jeder fremden Religion bzw. den Vertretern einer solchen Religion, den Zugang zum Staatsgebiet verwehrt. Wo er dies nicht mehr tun kann, muss er den Religionen die gegenseitige Toleranz aufzwingen, was u. a. bedeutet, dass er intolerant gegenüber intoleranten Religionen sein muss. Diese Intoleranz findet ihren Grund aber nicht in der Falschheit der intoleranten Religion, sondern in ihrer Gefährlichkeit. Dem Fürsten geht es nicht darum zu wissen, ob der Gott der betreffenden Religion seinen Anhängern tatsächlich befohlen hat, intolerant gegenüber allen anderen Religionen zu sein. Die Aufgabe des Fürsten ist es nicht, das politische Gemeinwesen so zu gestalten, wie Gott es – angeblich – will, sondern so, dass die Menschen friedlich miteinander zusammenleben können. Wo die Toleranz diesem friedlichen Zusammenleben entgegenwirkt, darf sie nicht praktiziert werden. In den Federalist Papers leugnet James Madison keineswegs, dass Teilgruppierungen, wie er sie befürwortet, durchaus negative Konsequenzen auf das Leben der Gemeinschaft haben können. Er sieht in ihnen sogar eine tödliche Krankheit aller Staaten – eine Art Krebs, um einen heute üblichen pathologisch besetzten Vergleich zu gebrauchen –, die auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhen. Das Volk ist nämlich meistens keine homogene Masse, sondern es setzt sich aus zahlreichen Individuen zusammen, die oft ganz unterschiedliche Vorstellungen über das gute irdische Leben, die optimale Gestaltung des Gemeinwesens oder noch den richtigen Weg zum ewigen Seelenheil haben. Insofern diese Individuen in einer Demokratie – die Staatsform, die das Prinzip der Volkssouveränität verwirklicht – darüber bestimmen, wer die politische Macht ausüben soll, wird dieser Machthaber immer als der Vertreter einer bestimmten Gruppe angesehen werden. Mag diese Gruppe auch die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, und mag der Gewählte dementsprechend den Willen der Mehrheit ausdrücken, so gibt es doch immer noch Minderheiten, die für einen anderen Kandidaten gewählt haben und die sich nicht in dem Willen der Mehrheit wiederfinden. Insofern besteht stets die Gefahr, dass

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diese Minderheiten sich dem Willen der Mehrheit mit Gewalt widersetzen. Heterogenität verweist immer auf das Risiko des Konflikts. Aber Madison meint, dass diese Heterogenität und das Bestehen von Teilgruppierungen der Preis der Freiheit sind. Dort, wo man den Menschen die Möglichkeit gibt, ihr Leben frei zu gestalten, werden sich Teilgruppierungen bilden, da die Menschen von Natur aus verschieden sind und unterschiedliche Interessen und Meinungen haben. Wer die negativen Konsequenzen der Teilgruppierungen durch die Einwirkung auf ihre Ursachen abwenden will, muss entweder die Freiheit abschaffen, oder Homogenität herstellen. Da in den Augen Madisons die Homogeneisierung der Interessen auf Grund der Vielfältigkeit der menschlichen Interessen, usw. unmöglich ist, und da eine Abschaffung der Freiheit kein gangbarer Weg für ein liberales politisches Gemeinwesen ist – abgesehen davon, dass mit der Abschaffung der Freiheit auch viele Vorteile der Freiheit gleichzeitig mit abgeschafft werden –100, sollte man sich, statt mit den Ursachen der Teilgruppierungen, direkt mit den Konsequenzen befassen, und sich die Frage stellen, wie man diese negativen Konsequenzen abschwächen kann. Und hier lautet Madisons Antwort, dass man dies am besten dadurch erreicht, dass man soviele Teilgruppen wie nur möglich entstehen lässt. Die Abwendung der Gefahren der Heterogenität sollte also nicht durch eine unmögliche und, selbst wenn möglich, unerwünschte Rückkehr zur Homogenität geschehen, sondern durch ein konsequentes Einschlagen des Weges der Heterogenität bzw. durch ein konsequentes Fortschreiten auf diesem Weg. Durch die möglichst große Aufsplitterung, so Madisons Gedanke, wird keine der Teilgruppen mächtig genug sein, um sich gegen alle anderen durchzusetzen und sie zu unterdrücken. Auch wird sie nie mächtig genug werden, um sich gegen den Staat durchzusetzen bzw. um die Staatsmacht zu erobern. Wir haben es hier nicht mit der klassischen Politik des „Divide et impera“ zu tun101, sondern höchstens mit einer Politik des „Divide ut non imperarent“. Die Zersplitterung ist nicht gewünscht, damit besser über die zersplitterten Gruppen geherrscht werden kann, sondern damit keine der bestehenden Gruppen die Möglichkeit hat, über die anderen zu herrschen. Und da diese Teilgruppen ganz unterschiedliche Interessen 100 Um Madisons Vergleich zu zitieren: „Die Freiheit ist für die Teilgruppierungen, was die Luft für das Feuer ist, ein Nahrungsmittel, ohne das es sogleich erlischt. Aber es wäre ebenso töricht, die Freiheit abzuschaffen, die für das politische Leben notwendig ist, weil sie die Bildung von Teilgruppierungen nährt, als sich die Zerstörung der Luft, die notwendig für das animalische Leben ist, zu wünschen, weil sie dem Feuer das gibt, was es braucht, um seine zerstörerische Kraft zu entfalten“ (Madison 1978, S. 42). 101 In einem Brief an Thomas Jefferson aus dem Jahr 1787, schreibt Madison: „Divide et impera, das verabscheute Axiom der Tyrannei, ist, unter bestimmten Bedingungen, die einzige Politik, durch die eine Republik nach gerechten Prinzipien verwaltet werden kann“ (Madison 1999, S. 155). Und eine Politik hat desto mehr Aussicht auf Erfolg, als der Staat größer und dadurch die Interessen vielfältiger sind. In Wirklichkeit geht es aber nicht darum, zu teilen, um zu herrschen, sondern durch das Zulassen von Teilungen soll eine mögliche Tyrannei gerade vermieden werden. Man könnte höchstens von einer Begünstigung der Spaltungen sprechen, die dadurch geschieht, dass man die Republik ausweitet – und in Amerika bot der Westen dazu die Gelegenheit (auf Kosten der Indianer, gegenüber denen man das Axiom der Tyrannei in seinem ursprünglichen Sinne anwendete).

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und Meinungen vertreten, ist auch nicht zu erwarten, dass einige unter ihnen sich zusammentun, um die anderen zu unterdrücken. Ein solches Bündnis würde wahrscheinlich schnell wieder auseinanderbrechen.102 Madison will hier keineswegs behaupten, dass der Staat die Spaltungen fördern soll, dass er also zum Beispiel die Bildung von „Sekten“ innerhalb der etablierten Religionsgemeinschaften unterstützen soll. Vom Staat wird nur verlangt, dass er jedem Menschen die Freiheit garantiert, seine eigene politische Partei oder seine eigene Religionsgemeinschaft zu gründen. Keine Religionsgemeinschaft kann vom Staat verlangen, dass er diejenigen mit Zwang zurückbringt, die die Religionsgemeinschaft verlassen haben. Und keine Religionsgemeinschaft kann ein solches Zwangsrecht für sich beanspruchen. Auch wenn eine Religionsgemeinschaft es nicht gutheißen muss, dass einer ihrer Anhänger sie verlässt, auch wenn sie ihm die schlimmsten göttlichen Strafen in Aussicht stellt, so muss sie die Aufkündigung der Zugehörigkeit tolerieren, genauso wie sie es tolerieren muss, dass die betroffene Person sich einer anderen Religionsgemeinschaft anschließt – womit auch die Toleranz gegenüber dieser anderen Religionsgemeinschaft impliziert ist. Der Staat ist dabei der Garant dieser Toleranz. Und als solcher Garant darf auch er sie nicht gefährden. Solange wie sich die alten und neugebildeten Religionsgemeinschaften an die gesetzliche Ordnung halten, muss der Staat sie tolerieren, und er muss sie dazu zwingen, sich gegenseitig zu tolerieren. Und wo sie sich nicht an diese Ordnung halten, muss er gegen sie vorgehen. Damit zeigt er sich aber nicht intolerant gegenüber einer religiösen Meinung, sondern lediglich gegenüber einem gesetzwidrigen Handeln. Und auch wenn dieses gesetzwidrige Handeln im Namen einer religiösen Meinung ausgeführt wurde – „Gott hat mir befohlen, diesen Ungläubigen umzubringen“ –, geht der Staat nicht auf die Frage ein, ob Gott die Handlung tatsächlich befohlen hat oder nicht, sondern er betrachtet die Handlung als rein innerweltliches gesetzwidriges Geschehen. Der Staat muss von seinen Bürgern erwarten können, dass sie von Handlungen ablassen, die das friedliche Zusammenleben gefährden, auch wenn diese Bürger davon überzeugt sind, dass ihr Gott ihnen diese Handlungen befohlen hat und sie bestrafen wird, wenn sie sie nicht ausführen. Etwa ein Jahrzehnt bevor Madison die eben diskutierten Gedanken zu Papier brachte, hatte schon Adam Smith sich für die Aufsplitterung der großen Religionsgemeinschaften stark gemacht, und die Toleranz als ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieses Ziels bezeichnet. Wo der Staat keine Religionsgemeinschaft schützt und jeder seine eigene gründen darf, wird es „eine große Vielzahl an religiösen Sekten“ geben, und keine dieser Sekten wird „sehr groß“ sein (Smith 1999, S. 380). Und Smith weiter: „Der interessierte und aktive Eifer der religiösen Lehrer kann nur dort gefährlich und störend sein, wo man bloß eine Sekte in der Gesellschaft toleriert, oder wo die gesamte Gesellschaft in zwei oder drei große Sekten aufgeteilt 102 Mably macht auf die Gefahr aufmerksam, dass Politiker vom religiösen Pluralismus und den damit verbundenen Streitereien zwischen den Religionsgemeinschaften profitieren könnten, um ihre Macht zu etablieren (Mably 1789, S. 349). Je schwächer jede einzelne Religionsgemeinschaft wird und je größer die Unterschiede zwischen diesen Gemeinschaften, umso unwahrscheinlicher wird es, dass ein angehender Tyrann sich mit einer wirksamen religiös bestimmten Opposition konfrontiert sieht.

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ist; und die Lehrer einer jeden zusammen, im Einklang untereinander und unter einer festen Disziplin und Unterordnung handeln. Aber dieser Eifer wird ganz unschuldig sein, wo die Gesellschaft in zwei- oder dreihundert, oder vielleicht sogar in tausende kleine Sekten aufgeteilt ist, von denen keine groß genug ist, um die gesellschaftliche Ruhe zu stören“ (Smith 1999, S. 380). In einer solchen Situation haben die religiösen Gemeinschaften keine andere Wahl, als friedlich miteinander zusammenzuleben, da keine von ihnen sich Hoffnung darauf machen kann, die Macht zu ergreifen, und alle anderen zu unterdrücken. Es ist im Interesse einer jeden von ihnen, nicht als gefährlich für alle anderen zu erscheinen, da sie dann bei ihnen auf Widerstand stoßen kann. Wo unzählige Religionsgemeinschaften sind, sieht jede „mehr Gegner als Freunde“ um sich herum (Smith 1999, S. 380), und man kann es als im Interesse einer jeden sehen, diese Gegner nicht zu Feinden werden zu lassen. Smith hat auch die Hoffnung, dass das friedliche Zusammenleben vieler Religionsgemeinschaften zu einer Konvergenz hinsichtlich der Glaubensinhalte führen wird, und dass sich mit der Zeit „jene reine und rationale Religion“ durchsetzen wird, auf welche die weisen Menschen seit jeher warten (Smith 1999, S. 380–381). Eine Politik der religiösen Toleranz hat somit nicht nur Vorteile für das politische Gemeinwesen, das keine Religionskriege mehr zu befürchten hat, sondern auch für die Religion selbst. Und diese Vorteile für die Religion, so könnte man sagen, erzeugen ihrerseits wieder Vorteile für das politische Gemeinwesen. Denn eine „reine und rationale Religion“ ist weit weniger für die öffentliche Ruhe und Sicherheit gefährlich – wenn sie es überhaupt noch ist –, als eine Religion, die aus „Absurditäten, Verstellung oder Fanatismus“ besteht (Smith 1999, S. 381). Ungefähr zur selben Zeit wie Smith, wirft der Abbé de Mably den Amerikanern vor, zu tolerant gewesen zu sein. Ein ideales Amerika wäre für Mably ein solches gewesen, in welchem jeder Staat seine eigene eigene Religion gehabt hätte (Mably 1789, S. 344). Dieses Ideal lässt sich aber nicht mehr herstellen, so dass die Staaten mit dem Faktum der religiösen Pluralität leben müssen. Allerdings, so Mably, haben sie immer noch die Möglichkeit, sich einer Ausweitung dieser Pluralität entgegenzusetzen, indem sie es einer neuen Religionsgemeinschaft verbieten, sich auf dem Staatsterritorium niederzulassen. Wie Montesquieu, bringt auch Mably den religiösen Pluralismus mit der Gefahr eines religiös bedingten Bürgerkriegs in Verbindung. Seine Intoleranz folgt somit nicht einer religiösen, sondern einer politischen Logik: Es geht ihm nicht darum, die Etablierung einer falschen Religion zu verhindern, sondern er will verhindern, dass eine Art kritischer Masse sich bildet und dass auf einmal ein religiöser Bürgerkrieg ausbricht. Der soziale Frieden verlangt die Intoleranz, aber nur eine Intoleranz gegenüber Religionen, die sich neu etablieren wollen. Hinsichtlich der schon fest etablierten Religionen, verlangt der soziale Frieden die Toleranz. Oder anders formuliert: Der Staat soll einerseits verhindern, dass durch die Etablierung einer neuen Religionsgemeinschaft das Risiko eines Bürgerkrieges zunimmt, und er soll andererseits nicht selbst einen religiösen oder religiös bedingten Bürgerkrieg provozieren, indem er eine schon etablierte Religionsgemeinschaft verbietet. Im Gegensatz – auch hier – zu Mably, spricht Benjamin Constant sich für die religiöse Freiheit, und damit auch für die Toleranz aus, wobei es ihm nicht nur

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darum geht, die Vorteile dieser Toleranz für die politische Gemeinschaft hervorzuheben, sondern auch, wie schon Smith es getan hatte, die Vorteile für die Religion selbst. Diese Vorteile für die Religion sind aber auch indirekt Vorteile für das politische Gemeinwesen. In der zweiten Fassung seiner Principes de politiques behauptet er, dass es hinsichtlich der Religion nur eine einzige vernünftige Politik gibt, und zwar „die Kultusfreiheit, ohne Einschränkung, ohne Privileg“103 (Constant 1980a, S. 391). Dabei verurteilt er sowohl die religiöse Intoleranz, als auch die bürgerliche, wie man sie, auf Rousseau und seinen Gedanken einer religion civile gestützt, in Frankreich einführen wollte.104 Solange das Individuum sich an die Gesetze hält, so Constant, soll ihm freistehen, ob es an ein höchstes Wesen glaubt oder nicht, und gegebenenfalls auch, an welches höchste Wesen es glaubt. Es sollte niemand dazu gezwungen werden, ein Glaubensbekenntnis abzulegen, das seinem Gewissen widerspricht. Auf den politischen Nutzen der religiösen Toleranz geht Constant erst am Schluss seiner Überlegungen ein. Er greift dabei Argumente auf, die schon Madison gebraucht hatte: „Wenn die Sekten sehr zahlreich in einem Land sind, halten sie sich gegenseitig in Schach, und der Souverän braucht sich nicht mit ihnen abzugeben“ (Constant 1980a, S. 404). Weit davon entfernt, sich gegenseitig zu bekriegen, wie es noch Montesquieu glaubte oder befürchtete, werden sehr zahlreiche Sekten friedlich zusammenleben, nicht unbedingt nur, weil sie in einem solchen Zusammenleben ein Ideal sehen, sondern auch, weil sie keine andere Wahl haben. Eine kleine Sekte – und wenn es sehr viele Sekten gibt, ist davon auszugehen, dass alle relativ klein sein werden – kann sich keine Hoffnung darauf machen, sich mittels Gewalt durchzusetzen. Im Gegenteil, der Rückgriff auf Gewalt wird zu einer Reaktion seitens des Staates führen, und da die Sekte klein ist, wird es ihr nicht gelingen, sich gegen den Staat zu behaupten. In einem im Moniteur erschienenen Artikel aus dem Jahr 1796, schreibt Constant: „Um die Freiheit der Kulte zu gewährleisten, muss man sie vermehren; ihre Zahl muss derart sein, dass da, wo einer von ihnen die öffentliche Sicherheit in Gefahr bringt, alle anderen ihn unterdrücken werden“ (Constant 1978, S. 39). Wo es zahlreiche kleine Sekten gibt, ist die gegenseitige Toleranz sozusagen eine Überlebensnotwendigkeit. Indem sie viele andere Sekten toleriert, lässt eine Sekte zwar auf der einen Seite viele Konkurrenten zu, die ihr eventuell Gläubige abwerben können, aber sie bewahrt sich andererseits vor dem Aufkommen einer großen und mächtigen Sekte, die sie selbst in Gefahr bringen kann. Constant hat auch die Nuance gesehen, auf die schon vorher aufmerksam gemacht wurde: „Eine einzige Sekte ist immer eine gefährliche Rivalin. Zwei feindliche Sekten sind zwei unter den Waffen stehende Lager. Teilt den Bergbach, oder besser gesagt, lasst ihn sich in tausend Bächlein teilen. Sie werden das Land befruchten, das der Bergbach zerstört hätte“ (Constant 1999, S. 577). Es wird nicht vom Staat erwartet, dass er selbst den Bergbach teilt, dass er also aktiv die Gründung neuer Religionsgemeinschaften fördert, sondern es wird nur von ihm erwar103 Wie im zweiten Kapitel dieses Teils gezeigt wurde, lässt Constant ein zahlenmäßig bestimmtes Privileg zu: bestimmte religiöse Gemeinschaften werden vom Staat besoldet. 104 Siehe hierzu Comtesse, im Erscheinen.

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tet, dass er einer solchen Teilung keine Hindernisse in den Weg stellt, dass er die Teilung also nicht erschwert. Konkret bedeutet das etwa, dass er die Gründung neuer Religionsgemeinschaften nicht durch abschreckende bürokratische Prozeduren erschwert. In einem solchen Fall würde er zwar nicht die Gründung neuer Religionsgemeinschaften verbieten, aber vom Praktischen her gesehen, könnten diese Prozeduren fast dieselben Konsequenzen haben wie ein Verbot. Prinzipiell sollten für die Gründung religiöser Vereinigungen dieselben Rechtsnormen gelten wie für die Gründung anderer Vereinigungen. Insofern die Hindernisse ihren Ursprung im Staat selbst haben, also die Form von Gesetzen annehmen, ist es am Staat, sie zu entfernen. Doch sollte der Staat auch eine noch nicht durch ihn geprägte Landschaft bearbeiten, so dass das Wasser des Bergbaches sich in schon vorbereitete Bachbette ausbreiten kann? Insofern diese Vorbereitung die Form von Gesetzen annimmt, kann sie zulässig sein. Sie ist gewissermaßen die andere Seite der Abschaffung von Gesetzen. Wenn der Staat ein Gesetz erlässt, in welchem er eine vereinfachte Form der Anerkennung von Vereinigungen einführt, hat er die eben erwähnten Bachbette geschaffen. An dem Tag, an dem der Gebirgsbach aus seinem Bett bricht, wird er schon vorbereitete neue Wege finden. Die Kultusfreiheit soll, so Constant, unbeschränkt sein – das Bild der „tausend Bächlein“ bringt dies zum Ausdruck105 –, d. h. der Staat soll jeder Religionsgemeinschaft das Recht geben, ihren Glauben zu praktizieren, welcher dieser auch sein mag, aber selbstverständlich immer nur im Rahmen der geltenden Gesetze. Der Staat kann sich nicht damit zufrieden geben, seine Bürger lediglich zwischen einer bestimmten Zahl von Religionen wählen zu lassen, die er selbst bestimmt. Eine solche Situation, schreibt Constant, ähnelt derjenigen des Franzosen, der in eine deutsche Stadt kam, deren Einwohner Italienisch lernen wollten, und der ihnen daraufhin die Freiheit ließ, zwischen dem Erlernen des Baskischen und des Niederbretonischen zu wählen (Constant 1980a, S. 402–3). Die Religionsfreiheit sollte sich nicht nach dem richten, was die Herrschenden als zulässige Religionen bestimmen, sondern sie sollte offen für jeden möglichen religiösen Glauben sein, vorausgesetzt, wie schon gesagt, er führt nicht zu gesetzeswidrigen Handlungen. Nur ganz am Rande, und sozusagen indirekt, erwähnt Constant mögliche Gefahren bzw. die Angst vor möglichen Gefahren der religiösen Toleranz: „Diese Vielheit von Sekten, vor der man in Schrecken gerät, ist das, was der Religion am Günstigsten ist […]“ (Constant 1980a, S. 403). Constant scheint den angesprochenen Schrecken nicht zu teilen. Für ihn ist die religiöse Vielfalt nicht unbedingt gleichbedeutend mit interreligiösen Konflikten und der Gefährdung des sozialen Friedens. Er ist natürlich nicht so naiv, diese Gefahr völlig zu ignorieren. Aber in seinen Augen sollte man den Blick viel mehr auf die Vorteile richten, die mit der religiösen Toleranz verbunden sind, und zwar zunächst und vor allem auch auf die unmittelbaren Vorteile für die Religion.

105 Tocqueville, dies sei hier kurz angemerkt, glaubte nicht, dass sich die Bildung von Sekten ins Unendliche steigern kann (Tocqueville OC XIII, 1, S. 228).

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Das Werfen eines solchen Blicks ist aber, so muss hier gesagt werden, nur für den möglich, der davon ausgeht, dass es eine dauernde Entwicklung der religiösen Formen gibt, und dass somit keine dieser Formen – also keine positive Religion – jemals in der Lage sein wird, dem religiösen Gefühl angemessen Ausdruck zu verleihen. Wer davon überzeugt ist, dass seine positive Religion sozusagen das letzte religiöse Wort darstellt, wird den Gedanken eines weiteren Fortschritts in religiösen Angelegenheiten ablehnen. Constants Verteidigung der religiösen Toleranz – zumindest was das hier besprochene Argument für diese Verteidigung betrifft – setzt die Unterscheidung zwischen religiösem Gefühl und religiöser Form voraus. Die Vielheit der Sekten bewirkt nämlich, „dass die Religion nicht aufhört, ein Gefühl zu sein, um eine bloße Form zu werden, eine fast mechanische Gewohnheit, die sich mit allen Lastern verbinden lässt, und manchmal mit allen Verbrechen“ (Constant 1980a, S. 403). Wer die religiöse Einheit im Glauben will, muss den Menschen verbieten, über ihre Religion nachzudenken und sich mit ihr auseinanderzusetzen. D. h. dann aber, so Constant, dass den Menschen der Inhalt der Religion gleichgültig werden muss. Auf diese Weise wird die Religion auf das Äußerliche reduziert, „alles muss ohne Überprüfung geschehen; und bald macht alles sich deshalb ohne Interesse und ohne Aufmerksamkeit“ (Constant 1980a, S. 403).106 Der Mensch hört auf, sich mit der Religion bzw. mit dem, was für die Religion wesentlich ist, zu identifizieren. Unter solchen Umständen kann es keine Entwicklung mehr geben. Und wo es keine Entwicklung mehr gibt, existiert Religion eigentlich nur noch als eine tote und leere Hülse. Will man die Religion demnach am Leben halten, will man, dass auch weiterhin die religiösen Formen sich entwickeln, um dem religiösen Gefühl immer angemessener zu werden – auch wenn an eine absolute Angemessenheit nicht gedacht werden kann –, dann muss man den Religionen die größtmögliche Freiheit lassen. Und d. h. auch, dass man den Menschen die größtmögliche Freiheit lassen muss, die Religionen zu überprüfen, zu hinterfragen und gegebenenfalls deren Inhalt zu revidieren. Und wo eine solche Revision des Inhalts zum Ausschluss des Individuums aus einer bestehenden Religionsgemeinschaft führt, muss das vom Ausschluss betroffene Individuum das Recht haben, eine neue Religionsgemeinschaft zu gründen. Der Staat darf weder eine solche Neugründung verbieten, um dadurch der alten Religionsgemeinschaft einen gefährlichen Konkurrenten vom Hals zu halten, noch darf er zulassen, dass Mitglieder der alten Religionsgemeinschaft selbst gegen den „Häretiker“ vorgehen, um die Verbreitung des „Irrglaubens“ zu verhindern. Insofern der Staat hier nicht eingreift, um den alten Glauben zu schützen, begünstigt er in einem gewissen Sinne die Entwicklung der religiösen Ideen und 106 Die Anerkennung eines Rechts auf Überprüfung genügt aber noch nicht, wie der Protestant Constant in dieser für seine eigene Religion kritische Passage andeutet: „Wenn die katholische Religion den Menschen sagt: Denkt wie wir, und untersucht nicht: sagt ihnen die protestantische Religion: Untersucht, vorausgesetzt, ihr denkt wie wir“ (Constant 1970b, S. 141). Die wahre Toleranz bedeutet also nicht nur das Recht, über Glaubensartikel nachdenken und sie diskutieren zu dürfen, sondern es impliziert auch, nicht mit ihnen einverstanden zu sein und damit auch das Recht, eine bestimmte Religionsgemeinschaft zu verlassen, deren Glaubensartikel man verworfen hat.

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damit auch deren Verbreitung. Und je mehr Anhänger die neuen religiösen Ideen gewinnen, umso weniger Anhänger werden die alten religiösen Ideen haben. Hier könnte jemand einwenden, dass eine solche Begünstigung nicht mit der staatlichen Neutralität kompatibel ist. Als religiös neutral, so der Einwand weiter, kann ein Staat nur dann gelten, wenn er keine Religion begünstigt. Die angebliche religiöse Neutralität würde sich so als das entpuppen, was sie in Wirklichkeit ist: Ein Instrument zur Zerstörung der alten Religionen. Dem ist entgegenzuhalten, dass ein Staat, der nicht eingreift, keineswegs eine bewusste Politik der Zerstörung alter Religionen verfolgen muss und sich auch nicht unbedingt über das Verschwinden alter Religionen freuen muss. Sind auch die Auswirkungen einer unbeschränkten Toleranzpolitik nicht neutral – nicht in der Hinsicht neutral, dass diese Politik keinen Impakt auf die religiöse Situation hätte –, so können doch die Absichten des Staates durchaus neutral sein – in der Hinsicht neutral, dass der Staat keine bestimmte Neuordnung der religiösen Situation anstrebt bzw. seine Toleranzpolitik nicht dadurch rechtfertigt ist, dass er die alten Religionen ausmerzen will, um den neuen Platz zu machen. Was zählt, so könnte man sagen, ist die Neutralität in den Absichten, nicht die Neutralität hinsichtlich der Konsequenzen.107 Der Staat lässt einfach gewähren, da er sich nicht dazu verpflichtet sieht, eine dahinsterbene Religion am Leben zu halten, oder ihr gar neues Leben einzuflößen. Hier ist die Tatsache zu beachten, dass Constant, wie schon bemerkt wurde, von einer bestimmten, optimistischen Geschichtsphilosophie ausgeht.108 Insofern die Geschichte sich in eine bestimmte Richtung entwickelt, kann man a priori sagen, welche Auswirkungen eine uneingeschränkte Toleranzpolitik haben wird: Sie wird dazu führen, dass jene Religionen sich verbreiten, die der Entwicklung des menschlichen Geistes angepasst sind, und dass jene verschwinden, die dieser Entwicklung nicht, oder nicht mehr, angepasst sind. Indem der Staat sich tolerant zeigt, lässt er also die in der Geschichte wirksamen Gesetzmäßigkeiten gewähren. Er könnte sich diesen Gesetzmäßigkeiten zwar widersetzen, aber dieser Widerstand könnte die Gesetzmäßigkeiten nicht außer Kraft setzen. Die Frage ist also nicht, ob die alte Religion verschwinden wird oder nicht, sondern wann sie bzw. wie schnell, und 107 Neutralität, so auch Brian Barry – der von Gerechtigkeitstheorien spricht –, bedeutet nicht, „dass jeder gleich zufrieden ist mit dem Ergebnis“. Eine solche Auffassung der Neutralität bezeichnet er als „absurd“ (Barry 1996, S. 123). Auch Greenawalt meint: „Von der Regierung zu verlangen, dass die Wirkungen ihrer Handlungen sich vollkommen neutral auf die unterschiedlichen religiösen Gruppen auswirken, bedeutet, in der Fantasie zu schwelgen“ (Greenawalt 2009, S. 61). Die Entscheidung des Staates, die Öffnung der Geschäfte an Sonntagen zu erlauben, wirkt sich nicht gleich auf eine christliche und eine muslimische Glaubensgemeinschaft aus. 108 Constant, so Jennifer Pitts, „stützt sich in Schlüsselmomenten auf einen Glauben an die Bewegung der Geschichte hin auf Zwecke, die gleichzeitig sonder Zweifel als wünschenswert, aber doch auch als unerreichbar erschienen“ (Pitts 2009, S. 145). Hofmann interpretiert Constants Aussagen vor dem Hintergrund eines diskursstrategischen Kontextes: Wenn Constant sich an die Konservativen wendet, erweckt er den Eindruck, als sei der Fortschritt unausweichlich; wenn er sich an die Fortschrittlichen richtet, hebt er jene Güter hervor die durch den Fortschritt gefährdet werden könnten (Hofmann 2009, S. 268).

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unter welchen Umständen, sie verschwinden wird. Eine Politik der Intoleranz gegenüber neuen religiösen Ideen kann den Augenblick des Verschwindens der alten religiösen Ideen nur hinauszögern, verhindern kann sie dieses Verschwinden aber nicht. Mag auch die staatliche Toleranzpolitik zu diesem Verschwinden geführt haben, so kann sie doch nicht als dessen letzte Ursache betrachtet werden. Sie hat lediglich günstige Bedingungen für etwas geschaffen, was sich sowieso ereignet hätte. Und sie hat vor allem dazu beigetragen, dass keine Menschen wegen ihrer heterodoxen religiösen Ideen zu leiden hatten. Die religiöse Toleranzpolitik begünstigt aber nicht nur die Entwicklung der positiven Religionen im Hinblick auf deren rein religiösen Gehalt, etwa unter der Form einer Verfeinerung ihres Gottesbildes, sondern von ihr lassen sich auch Vorteile auf moralischem Gebiet erwarten: „Alle neu entstehenden Sekten neigen dazu, sich durch eine strengere Moral von ihrer Stammreligion zu unterscheiden, und man bemerkt auch oft, dass eine Sekte, die innerhalb ihrer selbst eine neue Spaltung sich vollziehen sieht, von einem zu empfehlenden Eifer ergriffen wird, und den Neuerern in dieser Hinsicht nicht nachstehen will“ (Constant 1980a, S. 403). So hat etwa, um das Beispiel Constants aufzugreifen, das Aufkommen des Protestantismus dazu geführt, dass der katholische Klerus seine Sitten reformiert hat.109 Constant scheint hier davon auszugehen, dass das Volk nicht so sehr nach den Subtilitäten der theologischen Lehren urteilt, als vielmehr nach der Moralität, nach dem beobachtbaren moralischen Verhalten des Klerus. Die Reinheit der Sitten, schreibt Constant, wird zum Beweis für die Güte der Lehre (Constant 1980a, S. 404). Will demnach eine religiöse Gemeinschaft die Bevölkerung von der Güte ihrer religiösen Lehre überzeugen, dann gibt es für ihren Klerus kein besseres Mittel, als eine strenge Moral zu applizieren. Die „ehrenwerte Rivalität“ (Constant 1980a, S. 404) zwischen religiösen Gemeinschaften wird sich demnach vor allem auf dem Boden der Moral manifestieren. Und je mehr Konkurrenten es gibt, umso strenger wird die Moralität werden, da jede neue religiöse Gemeinschaft, will sie im Wettkampf mithalten und sich gegebenenfalls durchsetzen, eine noch strengere Lebensführung vorschreiben muss, als die schon präsenten Rivalinnen. Ein solcher offener Wettkampf ist aber nur dort möglich, wo der Staat sich tolerant gegenüber religiösen Gemeinschaften zeigt. Diese größere Reinheit der Sitten wird übrigens auch dem Staat zu Gute kommen, da der Staat bei einem Volk mit reinen Sitten weniger repressive Mittel einsetzen muss.

109 Mably sieht die Sache ganz anders. Für ihn führt der religiöse Pluralismus zur religiösen Gleichgültigkeit, die ihrerseits in den Atheismus mündet, der seinerseits zum Verderben der Sitten führt (Mably 1789, S. 346). Während Constant den Pluralismus aus der Sicht der überzeugten Gläubigen betrachtet, scheint Mably hier eher den Standpunkt der ‚lauen‘ Gläubigen oder der Nichtgläubigen einzunehmen. Wenn diese sehen, dass Dutzende Religionsgemeinschaften um ihr Gunst werben, können sie eventuell leicht auf den Gedanken kommen, dass diese alle gleichwertig sind. Das könnte dann zur von Mably erwähnten Gleichgültigkeit führen. Hinsichtlich der Vermehrung der politischen Parteien spricht Tocqueville nicht nur von Gleichgültigkeit, sondern sogar von einem Ekel der Freiheit gegenüber (Tocqueville OC XVI, S. 260).

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Mit Constant wird der Wettkampf der Religionen mit dem ökonomischen Wettkampf in Verbindung gebracht. Genauso wie die Produzenten, mit ihren Produkten, um Konsumenten werben, werben auch religiöse Gemeinschaften, mit ihren Glaubensartikeln und den damit zusammenhängenden moralischen Vorstellungen, um Gläubige. Und genauso wie der Staat davon absehen soll, in den Konkurrenzkampf der Produzenten einzugreifen, soll er auch davon absehen, in den Konkurrenzkampf der religiösen Gemeinschaften einzugreifen. Die Gesellschaft, so schreibt Constant, hat kein Recht, in die industrielle Freiheit einzugreifen, es sei denn, man wende Gewalt oder absichtliche Täuschung an (Constant 1997, S. 241). Auch sollte der Staat es unterlassen, monopolistische Handelsgesellschaften zu bilden (Constant 1997, S. 243). Was hier von der industriellen Freiheit gesagt wird, gilt auch für die religiöse: Jeder soll seine Religionsgemeinschaft gründen dürfen, und jedem soll das Recht zugestanden werden, nach Menschen zu suchen, die seiner Gemeinschaft beitreten wollen. Untersagt sind lediglich die Anwendung von Gewalt und die absichtliche Täuschung. Und den monopolistischen Handelsgesellschaften würden die exklusiven Staatsreligionen ähneln: Es ist nicht die Aufgabe des Staates, seinen Bürgern keine andere Möglichkeit zu lassen, als einer bestimmten, durch ihn geschützten und von ihm geförderten Religionsgemeinschaft beizutreten und an den Riten dieser Religionsgemeinschaft teilzunehmen. Constant macht übrigens selbst ausdrücklich den Vergleich zwischen der Ökonomie und der Religion: „Jede Manufaktur, wie jede zur Welt kommende Religion, verlangt die Freiheit. Jede Manufaktur, wie jede etablierte Religion, predigt die Unterdrückung“ (Constant 1997, S. 267). Wer in einer Position der Schwäche ist, verlangt nach Toleranz, da nur sie bzw. das durch sie ermöglichte freie Handeln es ihm erlauben kann, schnell und ohne Widerstand zu wachsen. Befindet man sich aber einmal in einer Position der Stärke, so wird man verhindern wollen, dass es einem genauso ergeht, wie den Konkurrenten, die man besiegt hat. Und dies will man dadurch verhindern, dass man keine Konkurrenten aufkommen lässt, also durch eine Politik der Intoleranz, der Monopolisierung des öffentlichen Raums. An einer vorigen Stelle der ersten Fassung der Principes de politiques hatte Constant geschrieben: „Tun lassen ist alles, was man braucht, um den Handel zum höchsten Punkt der Prosperität zu bringen; schreiben lassen ist alles, was man braucht, damit der menschliche Geist den höchsten Punkt der Aktivität, der Tiefgründigkeit und der Richtigkeit erreicht“ (Constant 1997, S. 127). Man könnte im Geiste Constants hinzufügen: Glauben und predigen lassen ist alles, was man braucht, damit das religiöse Gefühl sich auf eine immer feinere Art ausdrückt. Einen Vergleich zwischen dem Ökonomischen und dem Religiösen findet man auch in Molinaris Schrift Religion wieder. Molinari, der selbst zahlreiche Werke zur Nationalökonomie verfasst hat, weist darauf hin, dass die Religion, ebenso wie die Industrie, sich nur dann entwickeln kann, wenn eine freie Konkurrenz herrscht (Molinari 1892, S. 61). Wo sich eine bestimmte Religion eine Monopolposition erringen konnte, stellt man fest, dass dies, wie schon Constant gesagt hatte, zur leblosen Routine führt. Dadurch werden die religiösen Aufgaben vernachlässigt, da man weiß, dass sowieso kein Konkurrent auftreten wird, der sie besser erfüllen

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kann. Und, schreibt Molinari, es ist mit einer Verteuerung der religiösen Dienste zu rechnen, da man, wenn kein Konkurrent da ist, den Preis fragen kann, den man will (Molinari 1892, S. 48).110 Aber Molinari erwähnt noch ein weiteres Argument, das gegen die Monopolstellung spricht. Dieses Argument wird vor allem dann relevant, wenn die nach einer Monopolstellung strebende Religion schwach ist, während die weltliche Macht stark ist. In einer solchen Situation ist damit zu rechnen, dass die Garantie der Monopolstellung durch den Staat die Religionsgemeinschaft dazu zwingen wird, die Bedingungen des Staates zu akzeptieren, und das bedeutet, dass die Unabhängigkeit der Preis ist, den die Religion für ihre Monopolstellung bezahlen muss (Molinari 1892, S. 84). Wie Molinari an einer Stelle schreibt, ist die Tendenz zur Monopolisierung eine in der menschlichen Natur verankerte Tendenz (Molinari 1892, S. 149). Wer sich neue Vorteile verschaffen, oder bereits erworbene Vorteile dadurch absichern kann, dass er die Konkurrenz ausschaltet, oder gar nicht aufkommen lässt, wird dazu geneigt sein, dies auch zu tun. Und zwar gilt dies für alle Bereiche des menschlichen Handelns. Die Religion macht hier keine Ausnahme. Aber wie für andere Bereiche auch, werden die eventuellen kurzfristigen Vorteile der Einführung eines Monopols durch mittel- und langfristige Nachteile bezahlt, die die anfänglichen Vorteile überwiegen. Im Fall der Religion könnte man sagen, dass die kurzfristigen Vorteile für die Inhaber der religiösen Macht sich als mittel- und langfristige Nachteile für die durch das Monopol geschützte Religion erweisen werden. Hier gilt es demnach zu entscheiden, was wichtiger ist: Die eigenen Interessen oder die Interessen der Religion. Sieht man sich die Entwicklung der Gedanken von 1500 bis 1900 an, so merkt man, dass eine als im Interesse der Religion und des Staates gedachte Intoleranz einer im Interesse der Religion und des Staates gedachte Toleranz Platz gemacht hat. Eine Politik der Toleranz zwingt die Religionen, lebendig zu bleiben, wenn sie im Konkurrenzkampf überleben wollen. Dieser Konkurrenzkampf geschieht nämlich nicht vor einem stagnierenden intellektuellen und kulturellen Hintergrund. Der menschliche Geist entwickelt sich ständig, und wenn eine Religion attraktiv bleiben will, muss auch sie sich entwickeln und sich verändern. Das wird sie aber nur tun, wenn sie dazu gezwungen ist. Und diesen Zwang wird es nur geben, wo sie sich der Konkurrenz ausgesetzt sieht.111 Doch gilt das, was hier vom Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Religionen gesagt wurde, auch für den Konkurrenzkampf zwischen der Religion und der Religionslosigkeit, zwischen dem religiösen Glauben und dem Unglauben, also dem Atheismus. Eine Sache ist es nämlich zu behaupten, dass man tolerant gegenüber unterschiedlichen Formen des religiösen Glaubens und der mit diesem Glau-

110 Zu den rein menschlichen Faktoren, die den Übergang vom römischen Polytheismus zum Christentum begünstigt haben, zählt Molinari die Tatsache, dass Letzteres, zumindest in seiner Anfangsphase, billiger war als der Polytheismus (Molinari 1892, S. 60). 111 Man findet auch bei Madison den Gedanken, dass die freie Konkurrenz der Religionen deren moralische Lehren nur verbessern kann (in: Brenner 2004, S. 368).

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ben zusammen hängenden Praktiken sein sollte, eine ganz andere Sache scheint es zu sein, auch tolerant gegenüber dem Atheismus zu sein. Viele Autoren, die im XVII. und XVIII. Jahrhundert die religiöse Toleranz predigten, dehnten diese Toleranzpolitik nicht auf den Atheismus aus. Man war bereit mit Menschen zusammenzuleben, die Gott auf eine andere Weise verehrten, oder sie vielleicht sogar einen anderen Gott hatten, aber man war nicht bereit mit Menschen zusammenzuleben, die an keinen Gott glaubten. Im nächsten Kapitel wollen wir uns genauer ansehen, wie einige Vertreter des klassischen politischen Liberalismus sich im Hinblick auf die Frage nach der Toleranz gegenüber dem Atheismus positioniert haben. KAPITEL 4: DER STAAT UND DER ATHEISMUS Im Gegensatz zum Agnostizismus, der sich einer Antwort auf die Frage nach der Existenz Gottes enthält, und damit als religionsphilosophische Variante des Skeptizismus betrachtet werden kann, behauptet der Atheismus, dass es keinen Gott gibt, und dass dementsprechend alle Religionen – insofern sie die Existenz eines Gottes voraussetzen – falsch sind.112 Für manche Autoren ist allerdings sogar der Glaube an einen Gott noch nicht hinreichend, um dem Atheismusvorwurf zu entgehen. So schreibt etwa Richard Cumberland in seinem 1672 zuerst auf Latein erschienenen Treatise of the Laws of Nature, dass, zumindest in seinen Augen, jeder als Atheist zu gelten hat, der sich nicht als Mitglied eines Gemeinwesens betrachtet, an dessen Spitze Gott steht (Cumberland 2005, S. 26). Diese Definition des Atheismus erklärt, wieso man etwa Epikur und seine Anhänger oft als Atheisten bezeichnet hat, obwohl sie die Existenz von Göttern annehmen.113 Die Götter Epikurs, abgesehen davon, dass auch sie, wie alles Existierende, aus Atomen bestehen, kümmern sich nicht um menschliche Angelegenheiten und betrachten sich demnach nicht als Haupt der menschlichen Gesellschaft, so dass auch die Menschen sie nicht als solche Häupter zu betrachten haben. Dies bedeutet u. a., dass sie es nicht als ihre Aufgabe ansehen, den Menschen Gesetze vorzuschrei-

112 Agnostizismus und Atheismus setzen voraus, dass man eine Idee von Gott hat und dass man sich die Frage nach der Existenz eines objektiven Korrelats dieser Idee gestellt hat. Der Agnostiker behauptet nicht zu wissen, ob es ein solches objektives Korrelat gibt. Der Atheist behauptet zu wissen, dass es kein solches objektives Korrelat gibt. Der Gläubige glaubt, dass es ein solches objektives Korrelat gibt. Manche – man könnte sie Dogmatiker nennen – behaupten zu wissen, dass es ein solches objektives Korrelat gibt. Es kann aber auch Menschen geben, die (noch) keine Idee von Gott haben. Sie fallen in keine der hier aufgezählten Gruppen. Voltaire vergleicht die Völker, die noch nie etwas über Religion gehört haben, mit Kindern. Und Kinder, so Voltaire, sind weder Atheisten, noch Theisten, noch sonst irgendetwas. Kinder haben noch keine religiös bestimmte Identität, sondern sie sind erst auf dem Weg zu einer solchen (Voltaire 1964, S. 57). 113 Folgt man Locke in seinen Essays on the Laws of Nature, so ist auch der Polytheismus nichts anderes als eine versteckte Form von Atheismus. Die ihn kennzeichnende, wenn man so sagen kann, Götterinflation kommt einer Entwertung des Göttlichen gleich (Locke 1997b, S. 114).

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ben und sie bei Missachtung dieser Gesetze zu bestrafen. Daraus folgt für Epikur, dass die Menschen keinen Grund haben, sich vor den Göttern zu fürchten.114 Neben Epikur, könnte man hier eventuell auch die Deisten erwähnen, für die Gott zwar die Welt mit ihren Naturgesetzen geschaffen hat, um sich dann aber ganz aus ihr zurückzuziehen und sie sich selbst zu überlassen. Der Gott des Deismus ist der große Uhrmacher, dessen Existenz man voraussetzen muss, um die Entstehung des Universums mit seinen Gesetzen zu erklären, auf den man dann aber verzichtet. Für Cumberland beginnt der Atheismus schon, sobald die Furcht vor Gott oder den Göttern endet bzw. wo die Souveränität Gottes über die Menschen geleugnet wird, so dass in seinen Augen auch der Deismus als eine Form von Atheismus zu betrachten ist. Insofern der Glaube an einen Gott oder an Götter als eine wichtige Stütze für das friedliche und geordnete Zusammenleben der Menschen angesehen wird, stellt der Atheismus nicht nur eine mögliche Gefahr für das ewige Seelenheil des Atheisten dar, sondern er gefährdet auch das soziale Leben der Menschen. Insofern kann er der für die Bewahrung eines geordneten gesellschaftlichen Zusammenlebens zuständigen politischen Autorität nicht vollkommen gleichgültig sein. Ein kurzer Rückblick in die Geschichte zeigt, dass die politischen Autoritäten den Atheismus, oder das, was sie für eine Form von Atheismus hielten, oft bekämpft haben. Sokrates, mag er auch an seinen persönlichen daimon geglaubt haben, stellte die Existenz der griechischen Götter in Frage bzw. leugnete er deren Existenz. Dies war, folgt man der offiziellen Doxa, auch einer der Gründe dafür, wieso er von seiner Heimatstadt zu Tode verurteilt wurde. Die athenische polis konnte niemanden dulden, der die Existenz der Götter leugnete oder einen kritischen Denkprozess in Gang setzte, der zu einer solchen Leugnung führen konnte. Die griechischen Götter waren sozusagen Teil der Sozialstruktur, und wer sie leugnete, griff damit diese Sozialstruktur an. Mögen auch viele gebildete Athener selbst nicht an die Existenz ihrer Götter geglaubt haben, so war doch für sie evident, dass dieser Unglaube geheim gehalten werden musste. Das Volk musste weiterhin an die Götter und an ihren Einfluss auf die menschlichen Angelegenheiten glauben. Vor allem im christlichen Europa wurden die Atheisten im Laufe der Jahrhunderte sowohl von den religiösen, als auch von den politischen Autoritäten verfolgt. Der Atheist wurde nicht nur als jemand betrachtet, der Gott den Krieg erklärt hatte, sondern auch als jemand, der der Gesellschaft und der gesamten Menschheit diesen Krieg erklärt hatte, und den man deshalb sozusagen als ein Feind des Menschengeschlechts anzusehen hatte.115 Und mochte er diesen Krieg gegen die Gesellschaft 114 Epikur wollte die Menschen von zwei Ängsten befreien, die sie daran hindern, ein glückliches Leben zu führen: Die Angst vor den Göttern bzw. der Bestrafung durch die Götter, und die Angst vor dem Tod. Indem Epikur zeigt, dass die menschliche Seele sich nach dem Tod auflöst und kein empfindungsfähiges Subjekt mehr gegeben ist, spielt es keine Rolle, ob die Götter im Jenseits bestrafen oder nicht, denn es gibt niemanden mehr, den sie nach dem Tod bestrafen könnten. 115 Auf diesen Feind macht auch Tocqueville aufmerksam: „Der Feind der vor unseren Türen steht, seht er nicht, dass es der Unglaube ist, der absolute Unglaube, die vollständige Negation nicht nur des Katholizismus unter einer Form, sondern des Katholizismus unter allen Formen, nicht nur des Katholizismus, sondern des Christentums, nicht nur des Christentums, sondern des

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auch nicht mit materiellen Waffen führen, so waren die von ihm gebrauchten intellektuellen Waffen weit gefährlicher, da sie die Basis angriffen, auf denen die Gesellschaft beruhte. Er zerstörte nicht nur eine bestimmte, real existierende soziale Ordnung, sondern die Bedingung der Möglichkeit einer jeden möglichen gesellschaftlichen Ordnung, oder was man dafür hielt. Auch wenn der Vergleich mit äußerster Vorsicht zu genießen ist, so könnte man die Figur des Atheisten im Europa der Frühen Neuzeit mit der heutigen Figur des islamistischen Terroristen vergleichen. Der islamistische Terrorist erscheint uns nicht nur als jemand, der Menschen tötet, sondern darüber hinaus als jemand, der jene Werte grundsätzlich in Frage stellt, von denen wir glauben, dass sie allein die Basis für ein zivilisiertes Zusammenleben darstellen. Die Jihadisten des Islamischen Staates töten nicht nur Menschen, sondern sie inszenieren deren Tötung auch auf eine allen unseren moralischen Vorstellungen zuwiderlaufende Art und Weise und glorifizieren darüber hinaus ihre Handlungen. Es ist nicht nur das Leben konkreter Menschen, das zerstört werden soll, sondern gleichzeitig auch das Bild, das wir uns vom Menschen und seiner Würde machen. Wie gesagt, sollte der Vergleich zwischen dem Bild des Atheisten in der Frühen Neuzeit und dem Bild des IS-Anhängers mit Vorsicht genossen werden. Der Vergleich kann aber erklären, wieso man in der Frühen Neuzeit eine solche Angst vor den Atheisten hatte, und warum die politischen Autoritäten den Atheismus fast schon als ein Staatsverbrechen betrachteten. Der Atheismus war nicht nur ein Verbrechen gegen den Menschen, sondern auch gegen Gott, und damit gegen den höchsten Souverän. Insofern kann Cumberland schreiben, dass derjenige, der die göttliche Ehre verletzt, ein größeres Übel begeht, als wer nur ein Menschenleben zerstört (Cumberland 2005, S. 546). Ein Atheist begeht dementsprechend ein größeres oder schlimmeres Verbrechen als ein Mörder, da die Ehre Gottes einen unendlichen größeren Wert hat als ein menschliches Leben. Die Schrecklichkeit des Verbrechens wird dabei nicht am Leiden des Opfers gemessen – Gott kann nicht leiden –, sondern an der Natur des verletzten Wertes. Ein Vorwurf, der bei vielen Autoren wiederkommt, betrifft die Zuverlässigkeit eines von einem Atheisten abgegebenen Versprechens. Versprechen, mögen sie bloß mündlich sein oder auch schriftlich unter der Form eines Vertrags existieren, sind ein wichtiges Element des gesellschaftlichen Zusammenlebens, und ihre Rolle bei der Gestaltung dieses Zusammenlebens nimmt mit seiner Komplexität zu. Versprechen setzen aber Vertrauen voraus. In seinem Leviathan hatte Hobbes behauptet, dass Verträge ohne das Schwert bloß leere Worte seien (Hobbes 1996, S. 117). Wer etwas verspricht, und dabei weiß, dass er im Falle einer Nichterfüllung keine negativen Konsequenzen erleiden muss, wird das Versprechen nicht erfüllen. Wenn aber gewusst ist, dass niemand seine Versprechen erfüllen wird, dann wird die Praxis des Versprechens verschwinden. Dieses Verschwinden wird seinerseits zu einem Zusammenbruch des menschlichen Zusammenlebens und aller mit ihm verbundeSpiritualismus selbst“ (Tocqueville OC III, 2, S. 605–606). Es ist dies ein Feind der Freiheit, und damit dessen, was dem Menschen einen Wert und eine Würde gibt. Insofern ist er auch ein Feind des Menschen.

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nen Vorteile führen. Will man demnach diese Vorteile bewahren, dann muss man ein Mittel finden, um die Menschen dazu zu motivieren, ihre Versprechen einzuhalten. Für Hobbes war dieses Mittel der Staat, der mit seinen Sanktionsandrohungen sowohl den ursprünglichen Gesellschaftsvertrag, als auch alle im Gefolge davon abgeschlossenen Verträge schützt. Aus der Sicht vieler liberaler Denker genügte die Angst vor dem Staat allerdings nicht, um die Einhaltung der Verträge und der Versprechen zu garantieren. Denn einerseits nahmen nicht alle Versprechen eine offizielle, vertragliche Form an, und zweitens war es auch für den Staat unmöglich, über alle in einer Gesellschaft abgegebenen Verträge zu wachen. Die Einhaltung des pacta sunt servanda Prinzips musste folglich noch anders abgesichert werden. Die Angst vor dem Staat musste durch die Angst vor einer göttlichen Sanktion ergänzt werden. Und da Gott, im Gegensatz zum Staat, alles weiß, wird ihm kein Vertragsbruch und keine Nichteinhaltung eines Versprechens entgehen. Dieses Denkmodell, das weit älter ist als der politische Liberalismus, wird von vielen Liberalen übernommen. John Locke kann hier als paradigmatisches Beispiel angeführt werden. Im ersten seiner vier Briefe über Toleranz, bricht er zwar eine Lanze für religiöse Toleranz, zählt aber gegen Ende des Werkes vier Gruppen auf, die der Staat nicht tolerieren soll. Die Atheisten bilden die an vierter Stelle genannte Gruppe (Locke 1870, S. 31). Lockes Begründung nimmt die soeben skizzierte klassische Form an: Die Gesellschaft beruht auf Versprechen. Versprechen setzen Vertrauen voraus. Einem Atheisten kann man nicht vertrauen. Also trägt der Atheismus zur Auflösung der Gesellschaft bei. Wenn es aber die Aufgabe des Gesetzgebers ist, die Gesellschaft zu schützen, dann muss er sie auch vor der Gefahr des Atheismus schützen. Und er schützt sie am besten vor dieser Gefahr, wenn er die Atheisten verbannt. Locke geht es hier nicht um die Frage der Wahrheit oder der Falschheit des Atheismus, sondern um seine Gefährlichkeit. Dabei setzt er die psychologische These voraus, dass die Angst vor einer übergeordneten Macht allein als sicheres und vertrauenswürdiges Motiv für die Einhaltung der Verträge fungieren kann. Auch am Ende des XVIII. Jahrhunderts, im Rahmen der amerikanischen Diskussionen um die religiöse Toleranz in der neu zu gründenden Republik, taucht der Hinweis auf die Versprechen und auf die Gefahr des Atheismus für die Praxis des Versprechens wieder auf. So schreibt etwa ein unter dem Namen Worcestriensis unterzeichnender Autor, dass Versprechen das stärkste Band einer Gesellschaft sind, und dass durch sie allein die Gesetze aufrecht erhalten werden können. Er gibt aber auch gleichzeitig zu verstehen, dass nur derjenige, der an Gott glaubt, auch an die Heiligkeit der Versprechen glauben, und sie demnach unter allen Umständen einhalten wird (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 275). Daraus folgt, dass man keine Atheisten dulden kann, da man dadurch den Respekt für die Gesetze untergräbt. Wenn der Atheismus derart schlimme Konsequenzen für die Gesellschaft haben kann, wenn er nicht nur zur Auflösung der liberalen Gesellschaft, sondern zur Auflösung einer jeden Gesellschaft überhaupt beiträgt, wie sollte dann ein liberaler Staat mit ihm umgehen? Sollte auch er sich jener Mittel bedienen, auf die man im absolutistischen Europa zurückgriff, d. h. sollte auch er die Atheisten verfolgen und gegebenenfalls hinrichten? Oder kann er sich damit begnügen, sie zu verbannen?

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Doch was wird man mit ihnen machen, wenn es keinen Ort mehr gibt, von dem sie nicht verbannt werden? Heben wir hier hervor, dass aus liberaler Sicht der Atheismus nicht wegen seiner Falschheit bekämpft werden muss, noch weil Gott eine Gesellschaft bestrafen wird, die Menschen duldet, die seine Existenz leugnen, sondern er wird wegen seiner unmittelbaren Gefährlichkeit für ein geregeltes, friedliches und freies Zusammenleben der Menschen untereinander bekämpft. Würde der Atheismus nicht die Grundfesten der Gesellschaft bedrohen, könnte er dem liberalen Staat gleichgültig sein. Der wesentliche Punkt ist demnach, ob der Atheismus tatsächlich so gefährlich ist, wie man ihn darstellt. Führt der Atheismus tatsächlich wieder in den Naturzustand, von dem uns höchstens ein Hobbes’scher Leviathan befreien kann? Kann es noch einen liberalen Staat in einer Gesellschaft von Atheisten geben, oder kann eine solche Gesellschaft nur durch einen despotischen Staat zusammengehalten werden? Genauer gesehen, sollte man hier zwei Probleme voneinander unterscheiden. Das erste betrifft die Gefährlichkeit des Atheismus als solchen, während das zweite die Gefahr einer Verbreitung des Atheismus betrifft. Aus der Tatsache, dass der Atheismus in abstracto gefährlich ist, folgt noch nicht zwingend, dass diese abstrakte Gefahr sich jemals in concreto manifestieren wird. Angenommen es sei unmöglich, das nach Gesetzen geregelte friedliche Zusammenleben der Menschen aufrecht zu erhalten, wenn alle, oder doch viele, Gesellschaftsmitglieder Atheisten werden. Muss man eine solche Massenbekehrung zum Atheismus wirklich befürchten? Ist es überhaupt wahrscheinlich, dass der größte Teil einer Gesellschaft sich durch einige wenige Atheisten beeinflussen lassen wird? Ein möglicher Ausweg für den Liberalen könnte hier folgender sein: Wenn eine Gesellschaft mit einigen Atheisten in ihrer Mitte bestehen kann, und wenn keine Gefahr besteht, dass sich der Atheismus verbreitet, dann kann die liberale Gesellschaft die Atheisten dulden. Das Dilemma „Verletzung des Toleranzgebots oder Verletzung der Bewahrungspflicht der Gesellschaft“ verschwindet dann für den liberalen Staat. Dieser kann tolerant gegenüber dem Atheismus sein, ohne das Weiterbestehen der Gesellschaft und der Freiheit aufs Spiel zu setzen. Alles hängt also davon ab, ob die Tendenz zum religiösen Glauben im Menschen derart stark ist, dass sie einer Massenbekehrung zum Atheismus entgegenwirkt. Vielleicht wird es dann einige Atheisten geben, aber diese wenigen Atheisten werden nicht in der Lage sein, ihre Mitmenschen dauerhaft zum Atheismus zu bekehren. Benjamin Constant hat sich an mehreren Stellen seiner Schriften mit der Frage befasst, wie ein liberaler Staat mit dem Atheismus und den Atheisten umgehen sollte. In den Augen Constants impliziert die Neutralitätspflicht des Staates in Sachen Religion nicht nur, dass der Staat niemanden bloß wegen der Falschheit seines religiösen Glaubens benachteiligen, oder wegen der Wahrheit dieses Glaubens bevorzugen darf, sondern sie impliziert auch, dass der Staat niemanden wegen der eventuellen Falschheit seines Unglaubens benachteiligen, oder wegen dessen eventueller Wahrheit bevorzugen darf. Der Staat darf demnach seine Macht nicht in den Dienst einer Religionsgemeinschaft stellen, deren religiöser Glaube für die Atheisten, neben den göttlichen, auch noch weltliche Strafen vorsieht, genauso we-

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nig wie er einer Religionsgemeinschaft das Recht anerkennen darf, selbst weltliche Strafen über Atheisten zu verhängen und diese Strafen dann auch auszuführen.116 Genauso wie er die Ausübung ihrer jeweiligen Religion durch die religiösen Menschen garantieren muss – solange sie sich im Rahmen der durch allgemeine Gesetze garantierten öffentlichen Ordnung bewegen –, muss der Staat auch das Recht der Atheisten garantieren, ihren Atheismus zu leben und gegebenenfalls zu propagieren. Wie falsch der Atheismus auch sein mag – und aus der Sicht Constants ist er offensichtlich falsch bzw. sollte er als falsch betrachtet werden –, ihm gebührt trotzdem derselbe Schutz wie der wahrsten aller Religionen. Der Staat schützt nicht die Wahrheit des Glaubens oder (Un)glaubens, sondern den Glauben oder Unglauben als solchen, d. h. den individuellen geistigen Akt, und damit auch die Freiheit, diesen Akt zu vollziehen. Oder noch anders ausgedrückt: Der Staat schützt nicht bestimmte Glaubensinhalte, sondern er schützt primär die Menschen, die dies oder jenes glauben bzw. nicht glauben. Und er schützt sie nicht vor einem möglichen Irrtum, sondern er schützt sie in ihrem Recht, sich gegebenenfalls auch irren zu dürfen.117 Jeder Mensch soll in seiner Freiheit geschützt werden, jenen Evidenzen zu folgen, die sich ihm aufdrängen, auch wenn seine Evidenzen nicht mit denjenigen der anderen übereinstimmen. Aber droht dadurch nicht die Gefahr, dass sich der Atheismus ausbreitet, und dass somit das religiöse Gefühl zum Schweigen gebracht wird, so dass es dann auch schlecht um alle jene Werte stehen wird, die ganz eng mit dem religiösen Gefühl 116 Religionsgemeinschaften dürfen selbstverständlich, wie jeder Verein, Mitglieder ausschließen, falls diese bestimmte Bedingungen nicht mehr erfüllen. Dieser Ausschluss ist aber die höchste Strafe, die eine Religionsgemeinschaft verhängen darf. So dürfen die dafür zuständigen religiösen Autoritäten der katholischen Kirche jemanden exkommunizieren, von dem sie glauben, dass er zum Atheisten geworden ist. Dieser Exkommunizierung bedeutet aber nur den Ausschluss aus der katholischen Kirche und nicht den Ausschluss aus der Gesellschaft. Der Exkommunizierte verliert seine Rechte als Katholik, nicht aber seine Rechte als Staatsbürger. 117 Neben dem „right to do wrong“ (Waldron 1993, S. 63 ff.), also dem Recht, falsch zu handeln, wird man auch ein „right to err“, ein Recht, falsch zu entscheiden, anerkennen müssen. Allerdings ist es fraglich, ob und inwiefern man auch jedem ein Recht zugestehen sollte, sich nicht angemessen vor einer Entscheidung zu informieren. Tocqueville erkennt übrigens auch so etwas wie ein „right to do wrong“ an. In einer parlamentarischen Intervention aus dem Jahr 1844, meint er nämlich: „In der freien Gesellschaft hat das Gesetz nicht das Recht, die Menschen daran zu hindern, das Böse zu tun, sich zu verderben. Wieso? Weil der Mensch in der freien Gesellschaft zwischen dem Guten und dem Bösen wählen kann; das Böse ist auf der einen Seite, das Gute auf der anderen; die Tugend ist hier, das Laster ist dort. Der Mensch hat von Gott die Fähigkeit und das Recht bekommen, zwischen dem einen und dem anderen zu wählen“ (Tocqueville OC IV, 2, S. 244–245). Was allerdings innerhalb der „freien Gesellschaft“ gilt, gilt nicht innerhalb des Gefängnisses. Dort sitzen Menschen, die schon verdorben sind, und weit davon entfernt, sie noch tiefer in das Verderben gleiten zu lassen, sollte das Gefängnis ihnen vielmehr die Möglichkeit geben, wieder den richtigen Weg zu finden. Um jedem Missverständnis vorzubeugen, sei hier betont, dass mit dem Recht, das Böse zu wählen, keineswegs ein Recht behauptet wird, kriminelle Handlungen auszuführen. Tocqueville will lediglich sagen, dass die Gesellschaft durchaus das Recht hat, böse Handlungen zu verhindern, vor allem dann, wenn den Mitmenschen durch diese Handlungen ein Schaden zugefügt wird, dass sie aber kein Recht hat, die Ausbildung eines bösen Charakters dadurch zu verhindern, dass sie den Besitz eines solchen Charakters unter Strafe stellt.

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verbunden sind, wie es etwa für die Menschenwürde der Fall ist?118 Wenn, wie es das deutsche Grundgesetz formuliert, die Würde des Menschen unantastbar ist, und wenn, wie heute in den westlichen Demokratien allgemein angenommen wird, der Staat die Würde des Menschen schützen muss, dann scheint es nahe zu liegen, dem Staat das Recht zu geben, den Atheismus zu bekämpfen – falls angenommen wird, dass der Atheismus die Bedingungen der Möglichkeit der Bewahrung des Respektes der Menschenwürde untergräbt. Er muss dies nicht unbedingt über den Weg des Strafgesetzes tun, sondern er könnte es etwa über den Weg der Erziehungspolitik tun, oder indem er für das Bekleiden öffentlicher Ämter einen Schwur auf die Bibel – oder auf ein anderes heiliges Buch – verlangt. Die Frage ist also, ob, angesichts der möglichen Gefahr des Atheismus für das geordnete gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen, ein liberaler Staat Maßnahmen ergreifen darf, durch die er die Gefahr des Atheismus für die Gesellschaft neutralisiert, und zwar Maßnahmen, durch die scheinbar oder sogar wirklich die Rechtegleichheit zwischen Atheisten und religiösen Menschen in Frage gestellt oder aufgehoben wird. Sollen die Atheisten wegen der potentiellen Gefährlichkeit des Atheismus weniger Rechte genießen als Gläubige, oder sollte der liberale Staat dem Prinzip der Gleichberechtigung absolute Priorität geben, auf die Gefahr hin, dass er dadurch das Zusammenbrechen der Gesellschaft – und damit auch der liberalen Gesellschaft – vorbereiten kann? Constant ist sich der Tatsache bewusst, dass der Atheismus im Prinzip eine Gefahr für ein liberales Gemeinwesen sein kann, aber er ist sich ebenfalls der Tatsache bewusst, dass ein Eingreifen des Staates gegen die Atheisten – abgesehen von der Frage der Legitimität eines solchen Eingriffs – nicht nur gefährlich sein kann, sondern darüberhinaus auch kontraproduktiv, und dass man also durch ein solches Eingreifen, vor allem wenn es sich gewalttätiger Mittel bedient, genau das Gegenteil von dem erreichen kann, was man erreichen wollte. Die Verfolgung durch den Staat oder durch die religiösen Autoritäten, oder gar durch beide, lenkt, so Constant, den Atheisten davon ab, sich mit sich selbst und mit seinem Unglauben zu befassen. Anstatt sich mit der, wie Constant meint, geistigen Leere seines Unglaubens auseinanderzusetzen, diese Leere einzusehen und sich in der Folge vom Atheismus abzuwenden, identifiziert der Atheist sich umso stärker mit seinem Atheismus, da er mit der Verteidigung dieses Unglaubens gleichzeitig seine Freiheit119, und vielleicht sogar sein Leben verteidigt. Daraus könnte man schließen, dass der Staat, wenn er den Atheismus bekämpfen will, auf jeden Fall davon ablassen sollte, die Atheisten zu bekämpfen. Die Atheisten sollten weder 118 Am 18. Februar 1804 macht Constant folgenden Eintrag in seinen Journal: „Der dogmatische Atheismus ist der Feind alles dessen, was schön ist; das Positive in der Religion, von allem was schön ist und von allem was frei ist“ (Constant 1957, S. 269–270). 119 In dieser Verteidigung der Gedankenfreiheit durch den Ungläubigen sieht Constant eine Art Reverenz des Unglaubens gegenüber dem religiösen Gefühl, da der Ungläubige mit seiner bis zur Selbstaufopferung gehenden Verteidigung zeigt, dass es in ihm etwas gibt, das das rein Materielle transzendiert (Constant 1999, S. 63). Mag der Atheist also auch die Existenz Gottes leugnen, so leugnet er damit nicht gleichzeitig den Vorrang des Geistigen über das rein Materielle.

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verfolgt, noch sollten sie gegenüber ihren Mitbürgern diskriminiert werden. Der Staat sollte vermeiden, den Atheisten auch nur den geringsten Grund zu liefern, sich gegen ihn aufzulehnen. Denn indem er ihnen einen solchen Grund gibt, finden die Atheisten einen Sinn in ihrem Leben, nämlich die Verteidigung des Atheismus und auch ihrer Glaubensfreiheit. Und sobald sie einen solchen Sinn gefunden haben, werden sie davon abgelenkt, die mit dem Atheismus verbundene Sinnlosigkeit einzusehen. Durch die staatliche Repression werden die Atheisten also dazu gebracht, einen Sinn in der Verteidigung einer, in den Augen Constants, die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz implizierenden Lehre zu finden. Ließe der Staat sie in Ruhe, so würden sie die Sinnlosigkeit des Atheismus einsehen und, so zumindest Constants Hoffnung, von ihm ablassen und wieder auf das religiöse Gefühl in ihnen hören. Constant erwähnt noch ein anderes Risiko, dem man sich aussetzt, wenn man die Atheisten verfolgt. Das allgemeine Publikum könnte sich, so Constant, mit den durch den Staat verfolgten, gefolterten und vielleicht sogar hingerichteten Atheisten identifizieren, und eine gewisse Sympathie für sie aufbringen. Vielleicht könnte dieses Publikum sich auch zum Gedanken verleiten lassen, dass, wenn schon bestimmte Leute bereit sind, für den Atheismus zu sterben bzw. lieber sterben, als ihren Atheismus zu verleugnen, etwas Richtiges am Atheismus sein muss. Die Verfolgung des Atheismus könnte, anders gesagt, ein Interesse für den Atheismus wecken.120 An einer Stelle hatte Constant geschrieben, dass das religiöse Gefühl und die Vernunft sich auf die Seite des Klerus stellen werden, wenn dieser durch die Regierung angriffen wird (Constant 1999, S. 197). Das religiöse Gefühl und die Vernunft tun dies nicht unbedingt, weil der Klerus und die von ihm verteidigte Religion als solche sie anziehen, weil sie also die Wahrheit der betroffenen Religion einsehen, sondern religiöses Gefühl und Vernunft tun es, weil sie immer zu jener Instanz hin tendieren, die der Macht am wenigsten ähnelt. Das religiöse Gefühl und die Vernunft tendieren also immer dazu, sich auf die Seite des Schwachen oder des Opfers zu stellen. Wenn demnach die Atheisten der repressiven Macht des Staates ausgeliefert sind, dann kann es durchaus vorkommen, dass sowohl die Vernunft als auch das religiöse Gefühl sich auf die Seite der Atheisten stellen, so dass der Staat an Ansehen und Autorität einbüßen wird. Dementsprechend meint Constant, dass der Staat die Atheisten in Ruhe lassen, und dass er sie unter keinen Umständen strafrechtlich verfolgen sollte. Sie werden dann Zeit haben, einen Blick nach innen zu werfen. Dort werden sie dann der Leere gewahr, die ein Leben ohne jedweden religiösen Glauben begleitet: „Wer spürt nicht, dass der Atheismus, wenn er nicht auf die Intoleranz gestoßen wäre, durch alles, was in diesem System als entmutigend wirkt, auf die Seele seiner Anhänger 120 Vinet spricht sich auch gegen eine Verfolgung der Atheisten aus, wobei er einerseits festhält, dass ihre Lehre derart widerwärtig ist, dass sie kaum jemanden anziehen wird, und andererseits, dass man den Atheismus nicht dadurch ehren sollte, dass man ihn verfolgt (Vinet 1826, S. 51). Wer den Atheismus verfolgt, erweckt den Eindruck, dass es sich bei ihm um eine Lehre handelt, die es wert ist, verfolgt zu werden. Für Vinet sollte man den Atheismus am besten ignorieren, um dadurch zu zeigen, dass er wertlos ist.

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gewirkt hätte, so dass sie in der allgemeinen Gleichgültigkeit, der Apathie und dem Schweigen geblieben wären“ (Constant 1997, S. 144). Der Atheist, so Constant, lebt in einer sinnleeren Welt, und weil er in einer sinnleeren Welt lebt, gibt es nichts für ihn, wofür er kämpfen und sich einsetzen kann, denn der kämpferische Einsatz setzt immer sinnvolle Ideale voraus, für die man kämpfen und sich gegebenenfalls opfern kann. Durch die Verfolgung weckt der Staat die Atheisten aber aus ihrer Apathie und macht sie zu seinen Feinden. Anstatt sie dem inneren Kampf mit sich selbst zu überlassen, verstrickt er sie in einen Kampf mit sich. Der militante Atheismus erscheint somit als ein Produkt der staatlichen Verfolgung. In diesem Sinne hatte schon Voltaire in seinem Dictionnaire philosophique geschrieben: „Wem sollte man vorwerfen, dass es Atheisten gibt, wenn nicht den Tyrannen, jenen Söldnern der Seelen, die, indem sie uns durch ihre Listen empören, einige schwache Geister dazu zwingen, jenen Gott zu leugnen, den jene Ungeheuer entehren“ (Voltaire 1964, S. 57).121 Mit Carl Schmitt gesprochen, könnte man behaupten, dass die Freund-Feind Unterscheidung zwischen dem Staat bzw. einer etablierten Religion und dem Atheismus genau dann entsteht, wenn der Staat oder die etablierte Religion die Existenz der Atheisten bedroht, wenn die Atheisten also den Eindruck gewinnen, dass man sie nicht mehr als Atheisten frei leben lassen will. Erst in dem Augenblick sind sie dann auch dazu bereit, gegebenenfalls für ihren Unglauben zu sterben. Um Constant zu zitieren: „Die Verfolgung ruft den Widerstand hervor. […] Es gibt im Menschen ein Prinzip der Revolte gegen jeden intellektuellen Zwang. Dieses Prinzip kann bis zur Raserei führen. Es kann die Ursachen vieler Verbrechen sein. Aber es hängt mit dem Edelsten zusammen, das im Tiefsten unserer Seele verborgen ist“ (Constant 1997, S. 143). Dieses Edelste ist das religiöse Gefühl, das sich dementsprechend auch dort manifestieren kann, wo man es am wenigsten erwartet hätte, nämlich im Atheisten. Indem sich der Atheist gegen den intellektuellen Zwang erhebt, den man ihm antut, bringt er zum Ausdruck, dass die Gedanken- und Ausdrucksfreiheit für ihn einen Wert darstellt, für den er bereit ist, sein Leben und das Leben anderer Menschen zu opfern, falls diese ihn behelligen oder gar verfolgen. Man könnte in einem gewissen Sinn sagen, dass der Atheist sich eigentlich nicht für den Atheismus opfert – da dieser in den Augen Constants keinen Grund liefert, sich für ihn zu opfern –, sondern dass er sich für die Bewahrung der Gedanken- und Ausdrucksfreiheit opfert. Der Atheismus ist in den Augen Constants etwas Wertloses, aber der Glaube an den Atheismus ist etwas Wertvolles, nicht weil es ein Glaube an die Wahrheit des Athe­ ismus ist, sondern weil es ein Glaube ist. Insofern für Constant die Gedanken- und Ausdrucksfreiheit aber nur dann als Wert angesehen werden kann, wenn man sie als Mittel zur Vervollkommnung der 121 Eine Parallele mit einem heutigen Diskurstyp betreffend die islamistische Radikalisierung scheint mir hier angebracht. Die von Voltaire angesprochenen „schwachen Geister“ wären die Jugendlichen, die den Westen und seine Werte – „Gott“, bei Voltaire – leugnen, weil westliche Länder – die „Tyrannen“ – jene Werte entehren, und durch die oft auch Frauen und Kinder treffenden Militäreinsätze in Afghanistan, im Irak oder in Syrien – die „Listen“ bei Voltaire – für Empörung sorgen.

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Menschheit ansieht, bringt der sich gegen den intellektuellen Zwang erhebende Atheist implizit zum Ausdruck, dass er diese Vervollkommnung auch als Ziel des Menschengeschlechts anerkennt. Und dann unterscheidet ihn vom Gläubigen nur noch ein Punkt: Während der Gläubige dieses Ziel als ein durch die göttliche Vorsehung gewolltes Ziel ansieht, sieht der Atheist es als ein von den Menschen gesetztes. Indem der Staat also intolerant gegenüber den Atheisten ist, kann er diese zum Fanatismus verleiten. Und falls der Staat diesen Kampf gegen den Atheismus im Namen einer bestimmten Religion führt, kann sich der Fanatismus der Atheisten nicht nur gegen diese Religion, sondern gegen die Religion schlechthin wenden. Und die Atheisten werden diesen Kampf im Namen eines Ideals führen, dessen Urgrund das religiöse Gefühl ist. Constant spricht in diesem Zusammenhang von einer „edlen Inkonsequenz“: „[D]ie Freunde der Freiheit können zu Ungläubigen werden, und diese Ungläubigen sind dann Helden und Märtyrer; aber ihre Tugenden selbst sind die Erinnerungen an eine andere Lehre. Es handelt sich um eine edle Inkonsequenz in ihrem System, es ist eine Erbschaft des religiösen Gefühls“ (Constant 1999, S. 63).122 Um eine Inkonsequenz handelt es sich insofern, als der Atheist zwar einerseits jede Transzendenz leugnet, andererseits aber in seinem Helden- und Märtyrertum einen impliziten Glauben an eine Transzendenz voraussetzt. Denn als Märtyrer, so scheint Constant zu glauben, stirbt man nur, wenn man über seine kontingente und empirische Identität hinaussieht und sich als Teil von etwas Größerem oder Höherem – eben Transzendentem – begreift. Und edel ist diese Inkonsequenz, weil sie eben durch die, wenn auch implizite, Annahme von etwas Transzendentem bedingt ist. In den Augen Constants täte der Staat also besser daran, nicht gegen die Atheisten vorzugehen, da ein in Ruhe gelassener Atheist sich nicht in die Verbreitung des Atheismus investieren wird. Der Atheismus liefert als solcher keinen Grund, seine Zeit und seine Energie für ihn einzusetzen. Der Atheismus ist als solcher wertlos. Denn was bringt der Atheismus den Menschen? Nichts, laut Constant, außer vielleicht einem depressiven Zustand. Doch wer in einem solchen Zustand ist, wird nicht mehr handlungsfähig sein. Doch nehmen wir argumentationshalber an, dass der Atheist doch versucht, seine Mitmenschen zum Atheismus zu bekehren, und dass er auch keine Mühen scheut, um dies zu bewerkstelligen. Er verfasst und verbreitet Schriften, in denen er zeigt, dass der Atheismus wahr ist. Er versucht die Kinder davon zu überzeugen, dass sie zu Atheisten werden sollen. Wir wollen annehmen, dass er dies alles tut, ohne die Rechte seiner Mitmenschen zu verletzen, ohne also jemandem ein unmit122 Constant hatte hier vielleicht folgende Passage aus Bayles Pensées diverses sur la comète vor dem geistigen oder sogar physischen Auge: „Wenn ich in Betracht ziehe, dass der Atheismus Märtyrer hatte, zweifle ich nicht mehr daran, dass sich die Atheisten eine Idee des Ehrbaren machen, die in ihrem Geist wirksamer ist als die Idee des Nützlichen und Angenehmen“ (Bayle 2007, S. 383). Constant würde vielleicht präzisieren, dass es nicht so sehr der Atheismus ist, der Märtyrer hatte, als die Freiheit, Atheist zu sein und seine atheistischen Gedanken in der Öffentlichkeit ausdrücken zu dürfen.

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telbares Unrecht zuzufügen. Ein Eingriff des Staates gegen den Atheisten lässt sich demnach nicht durch den unmittelbaren Schutz individueller Rechte rechtfertigen. Sollte der Staat hier nicht vorbeugend eingreifen? Wenn es den Atheisten gelingen sollte, ihre Mitmenschen zu bekehren, dann geht mit dem religiösen Glauben, folgt man Constant, auch die Freiheit verloren. Muss der Staat nicht die Religion retten, wenn die Gefahr besteht, dass sie verschwinden wird? Kann der Staat sich damit begnügen, nur unmittelbare Rechtsverletzungen zu ahnden? Kann er sich damit begnügen, meine Freiheit hier und jetzt zu schützen, nicht aber die Bedingungen unter denen allein, so wollen wir annehmen, meine Freiheit auch in Zukunft möglich sein wird? Ein kurzer Vergleich mit dem Umweltschutz ist hier angebracht. Als die Menschen in den 1970er Jahren CFC-Gase benutzten, schadeten sie nicht unmittelbar der Gesundheit ihrer Mitmenschen. Insofern gab es auf den ersten Blick keinen Grund, den Gebrauch oder Einsatz von solchen Gasen zu verbieten. Als aber entdeckt wurde, dass die CFC-Gase mittelfristig zu einer Zerstörung der Ozonschicht führten, und damit eine Bedingung der Möglichkeit der Bewahrung der Gesundheit123 bedrohten, griffen die Staaten ein. Sollen die Staaten, einer ähnlichen präventiven Logik folgend, nicht auch im Falle des militanten Atheisten eingreifen? Auch wenn er unmittelbar die Rechte von niemandem verletzt, und auch wenn man im Augenblick seiner Propaganda keinen unmittelbar dadurch verursachten Schaden an der Grundstruktur der Gesellschaft feststellen kann, so kann man doch nicht die Augen vor seinen möglichen mittel- und langfristigen Konsequenzen schließen. Mit der Zeit könnte die atheistische Propaganda ihre Früchte tragen, die Menschen könnten sich, aus welchen Gründen auch immer, zum Atheismus bekehren. Und wenn die große Masse sich zum Atheismus bekehrt haben wird, dann wird es keinen Platz mehr für die Freiheit geben. Geht man davon aus, dass die Menschen in einem liberalen Staat dem Staat gegenüber ein Recht auf Freiheit geltend machen können, und geht man ferner davon aus, dass dieses Recht auf Freiheit auch ein Recht auf die Bewahrung der Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit beinhaltet, so dass der Staat also auch dafür sorgen muss, dass diese Menschen noch in zwanzig oder fünfzig Jahren bzw. dass ihre Kinder die Freiheit genießen können, und geht man drittens auch noch davon aus, dass der religiöse Glaube zu diesen Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit gehört, und zwar als notwendiges Ingredienz, dann muss der liberale Staat den militanten Atheisten als Gefahr für die Freiheit ansehen, untergräbt er doch den religiösen Glauben. Und wenn er eine Gefahr für die Freiheit und das Recht der Bürger auf ein Leben in Freiheit ist, muss der Staat ihn dann nicht bekämpfen oder ihn zumindest des Landes verweisen?124

123 Die Ozonschicht schützt uns zum Teil vor den UV-Strahlen und damit zum Teil vor dem Risiko, an Hautkrebs zu erkranken. Insofern kann sie als eine Bedingung der Möglichkeit der Bewahrung unserer Gesundheit – bzw. einer bestimmten Dimension unserer Gesundheit – angesehen werden. 124 Dagger entwickelt ein ähnliches Argument im Zusammenhang mit der Wahlpflicht: „[E]in republikanischer Liberaler kann argumentieren, dass Leute, die es vernachlässigen, ihren Teil

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Hier könnte es so aussehen, als ob Constant in einer Zwickmühle wäre. Wenn der Staat den Atheismus und die militanten Atheisten nicht bekämpft, dann besteht die Gefahr, dass die Menschen sich zum Atheismus bekehren. Wenn er aber die militanten Atheismus bekämpft, und zwar mit repressiven Mitteln, dann besteht die Gefahr, wie wir oben gesehen haben, dass die Menschen sich mit den verfolgten Atheisten identifizieren. Constant hatte diese Zwickmühle zunächst dadurch vermieden, dass er das Auftreten des militanten Atheisten von der Existenz der staatlichen Verfolgung abhängig gemacht hatte. Lässt man die Atheisten in Ruhe, dann bleiben sie ruhig in ihrer Ecke sitzen. Wir waren dann aber von der Hypothese ausgegangen, dass der Atheist Constant diese Freude nicht macht, ruhig in seiner Ecke sitzen zu bleiben, und somit dem liberalen Staat die Frage zu ersparen, ob er, um der Bewahrung der Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit willen, intolerant gegenüber Atheisten sein darf, und somit einen wichtigen liberalen Wert, nämlich den Wert der Ausdrucksfreiheit, verletzen darf. Hat Constant eine Antwort auf die Frage, wie ein liberaler Staat mit militanten Atheisten umgehen soll, die die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit gefährden? Was auf den ersten Blick wie eine Gefahr aussieht, ist in Wirklichkeit keine solche, zumindest dann nicht, wenn man Constants Geschichtsphilosophie voraussetzt. Wenn es einen von der Vorsehung125 gewollten Fortschritt des Menschen und der geistigen Produktionen des Menschen gibt – und die Religionen gehören zu den geistigen Produktionen –, dann können auch militante Atheisten keinen entscheidenden Einfluss auf diesen Fortschritt ausüben, sondern höchstens einen bremsenden. Es besteht, anders gesagt, keine Gefahr, dass die militanten Atheisten jemals, und während längerer Zeit, mit ihrer atheistischen Propaganda erfolgreich sein werden. Constant sieht den Atheismus nicht als das Produkt einer verfeinerten Vernunft an, so dass er mit seiner Voraussetzung, dass sich die Vernunft der Menschheit konstant verfeinert, auch keine Angst haben muss, dass der Atheismus – wenn er schon nicht die menschlichen Hoffnungen nährt – vielleicht doch die menschliche Vernunft ansprechen könnte. Constant könnte mit Voltaire sagen, dass die Atheisten in ihrer Mehrzahl „tollkühne und verirrte Wissenschaftler [sind], die schlecht räsonieren“ (Voltaire 1964, S. 56). Ein rechter Gebrauch der Vernunft führt nicht zum Atheismus, sondern zur Annahme, dass es einen Gott geben muss. Und Constants optimistische Geschichtsphilosophie geht davon aus, dass die Menschen einen immer besseren Gebrauch ihrer Vernunft machen. Des Weiteren meint Constant, dass das Menschengeschlecht nie, oder zumindest nie über einen längeren Zeitraum, ohne die Idee Gottes auskommen wird (Constant 1997, S. 143), wobei es ihm hier nicht nur darum geht zu behaupten, dass die zum guten Funktionieren des Wahlsystems ihres politischen Gemeinwesens beizutragen, die Rechte ihrer Mitbürger verletzen“ (Dagger 1997, S. 148). 125 Während Hofmann eine Säkularisierung der Vorsehungslehre bei Constant vermutet (Hofmann 2099, S. 256), schreibt Dickey – und sie hat m. E. recht –, dass die Rolle der Vorsehung bei der Erziehung des menschlichen Geschlechts darin besteht, dass durch sie der religiöse und der moralische Fortschritt mit Gott verbunden werden (Dickey 2009, S. 336). Die Vorsehung wird somit immer in einem religiösen Kontext verstanden.

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Menschheit immer eine Idee Gottes haben wird – eine solche Idee hat schließlich auch der Atheist, wenn er sinnvollerweise die Existenz Gottes leugnet126 –, sondern darüberhinaus auch, dass die große Mehrheit der Menschen immer an die Existenz übernatürlicher Mächte glauben wird, auch wenn dieser Glaube sporadisch vielleicht zum Schweigen gebracht werden kann. Der Unglaube, so Constant, passt einfach nicht zur menschlichen Natur: „Die Abwesenheit einer jeden Vermutung, eines jeden Gefühls, aller religiösen Hoffnung, der dogmatische Unglaube, sind also unmöglich für die Masse der Menschheit“ (Constant 1999, S. 566).127 Mit dem hier angesprochenen dogmatischen Unglauben ist sonder Zweifel der Atheismus gemeint. Atheismus und religiöses Gefühl können, so Constant, nicht zusammen in einer Seele bestehen. Insofern Constant voraussetzt, dass das religiöse Gefühl unserer menschlichen Natur inhärent ist, dass wir also mit diesem Gefühl von Gott geschaffen wurden128, wird es dem Atheismus nie gelingen, sich in der großen Masse der Bevölkerung durchzusetzen. Der Atheismus ist „unmöglich für die Masse der Menschheit“. Aber wenn der Atheismus unmöglich für die Masse der Menschheit ist, und wenn nur ein massiv verbreiteter Atheismus eine Gefahr für die Religion als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit darstellt, dann es ist nicht möglich, dass der Atheismus eine Gefahr für die Freiheit darstellt. Und wenn es unmöglich ist, dass der Atheismus eine Gefahr für die Freiheit darstellt, dann es ist für den Staat unnötig, repressiv gegen die militanten Atheisten vorzugehen. Der liberale Staat braucht dementsprechend den liberalen Wert der Ausdrucksfreiheit nicht zu verletzen, um die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu schützen. Dabei schließt Constant nicht aus, dass das religiöse Gefühl und der Zweifel in einer und derselben Brust wohnen können.129 Das religiöse Gefühl kann uns 126 Wer um subtile philosophische Unterschiede bemüht ist – und eine solche Bemühung ist nicht immer zu verurteilen –, wird hier einen Unterschied zwischen einem begrifflichen und einem ontologischen Atheismus machen. Der ontologische Atheist behauptet, dass es Gott nicht gibt. Der begriffliche Atheist behauptet, dass es keinen sinnvollen Begriff Gottes gibt – es mag zwar das Wort „Gott“ oder sein Äquivalent in anderen Sprachen geben, aber dieses Wort lässt sich in keinem klaren Begriff fassen, so dass also nicht klar gesagt werden kann, was mit dem Wort gemeint ist. Während eine negative Theologie – die ebenfalls behauptet, dass es den Menschen niemals möglich sein wird zu sagen, was Gott ist (sondern immer nur, was er nicht ist) – weiterhin am Gottesbegriff festhält, verwirft ein begrifflicher Atheismus den Begriff Gott. 127 Wie Constant an einer anderen Stelle festgehalten hatte: „Die Gesellschaft, die Sprache, die Religion sind dem Menschen inhärent: Die Formen ändern“ (Constant 1999, S. 46). Genauso wie es für den Menschen normal ist, in Gesellschaften zu leben oder zu sprechen, ist es auch der Glaube für ihn normal. Und genauso wie sich im Laufe der Jahrhunderte die Gesellschaftsformen und die Sprachen verändert haben, haben sich auch die Religionen verändert. Die jeweilige Funktion, könnte man sagen, ist dem Menschen angeboren, und es ändert sich immer nur ihre Verwirklichung oder ihr Ausdruck. 128 Constant wäre in diesem Sinne mit Paul Veynes Behauptung einverstanden gewesen, das religiöse Gefühl müsse als etwas Ursprüngliches im Menschen angesehen werden, was u. a. bedeutet, dass man es nicht aus bestimmten psychologischen oder sonstigen Bedürfnissen ableiten kann (Veyne 2007, S. 55–56). 129 In einem Tagebucheintrag vom 19. November 1804 schreibt Constant, das religiöse Gefühl passe besser mit dem Zweifel zusammen als mit dieser oder jener Religion“ (Constant 1957, S. 412). Während positive Religionen dem religiösen Gefühl einen starren Ausdruck verleihen, in welchem dieses Gefühl sich nach einer bestimmten Zeit nicht mehr wiedererkennen kann,

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die Würde des Menschen empfinden lassen, während die Vernunft Zweifel an der Existenz dieser Würde hegt. Die Gegenstände des religiösen Gefühls liegen jenseits dessen, was die Vernunft mit ihren eigenen Mitteln, oder indem sie sich auf die Sinne stützt, erkennen kann. Das bedeutet nicht, dass das religiöse Gefühl und die Vernunft im Konflikt miteinander stehen müssen, sondern nur, dass jedes dieser Vermögen seinen begrenzten Bereich erkennen und akzeptieren muss. Constant macht hier einen klaren Unterschied zwischen der Vernunft und dem Gefühl, und er könnte, sich an Pascal inspirierend, sagen, dass das religiöse Gefühl uns Inhalte liefert, deren Evidenz der Zweifel der Vernunft nicht umstoßen kann. Constant löst das Problem des Atheismus und des Umgangs eines liberalen Staates mit den Atheisten dadurch, dass er einerseits die Religion in der menschlichen Natur verankert, und andererseits einen kontinuierlichen Fortschritt der Vernunft postuliert, gekoppelt an die These, dass eine fortgeschrittene Vernunft nicht zur Einsicht oder Schlussfolgerung kommen kann, dass der Atheismus wahr ist. Im Gegensatz zu Locke, der die Atheisten verjagen will, weil man ihnen nicht vertrauen kann, so dass die Versprechen und Verträge zu riskanten Angelegenheiten werden, wenn sie mit Atheisten geschlossen werden, geht es Constant eher um das Problem der Lebendigkeit bzw. – und das Wort scheint mir hier gut zu passen – des Enthusiasmus der Menschen. Der Atheismus schafft immer nur schwache Menschen, die sich für nichts engagieren, da ihr Atheismus ihnen jede Perspektive auf eine Transzendenz versperrt. Aber nur eine solche Perspektive eröffnet die Möglichkeit eines sinnvollen Engagements. Eine atheistische Gesellschaft wäre für Constant die Gesellschaft der „letzten Menschen“, wie sie Nietzsche in seinem Zarathustra darstellt. Werfen wir, um dieses Kapitel abzuschließen, noch einen kurzen Blick auf die Behandlung des Atheismus bei Montesquieu, da dieser u. a. die Frage aufwirft, wie der Atheismus im Vergleich zum Aberglauben einzustufen ist. In De l’esprit des lois setzt sich Montesquieu nämlich mit Pierre Bayles These auseinander, der Aberglaube sei besser als der Atheismus. In Anlehnung an Plutarch, hatte Bayle diese These in seinen Pensées diverses sur la comète verteidigt (Bayle 2007, S. 257 ff.). Bayle hatte dort u. a. behauptet, dass der Anhänger eines Aberglaubens, der Verbrechen im Namen seiner falschen Gottheit begeht, schlimmer ist als ein Atheist, der nur aus rein menschlichen Gründen und Ursachen Verbrechen begeht, dass also, um es mit heutigen Begriffen zu beschreiben, auf religiösem Fanatismus beruhende Verbrechen schlimmer sind als – rein materiell gesehen – ähnliche Verbrechen, die dem Egoismus entspringen. Derjenige, der einen Menschen umbringt, weil Gott es ihm befohlen hat, ist schlimmer, böser oder gefährlicher als derjenige, der einen Menschen umbringt, weil er ihn ausrauben will. Bayle scheint hier davon lässt der Zweifel dem religiösen Gefühl freien Lauf. Man könnte auch sagen, dass der Zweifel dem religiösen Gefühl hilft, die Unangemessenheit der positiven Religionen in Frage zu stellen. Insofern Constant die Religion über das Gefühl definiert, kann der von der Vernunft kommende Zweifel der in diesem Sinne definierten Religion nichts antun. Man könnte hier einen Vergleich mit Hume machen: auch wenn die Vernunft niemals die Existenz der Kausalität nachweisen kann, werden wir doch, auf Grund unserer natürlichen, vorrationalen Tendenz, an ihre Existenz glauben.

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Teil IV: Der liberale Staat und die Religion

auszugehen, dass man Menschen durch Androhung menschlicher Strafen davon abhalten kann, rein egoistisch motivierte Verbrechen zu begehen, dass einem das aber nicht gelingen wird, wenn man es mit religiösen Fanatikern zu tun hat. Der religiöse Fanatiker hat nämlich eine größere Angst vor seinem Gott als vor dem Staat. Bayle hatte ebenfalls den Gedanken vertreten, dass es schwieriger sei, einen Abergläubigen als einen Atheisten zum wahren Glauben zu konvertieren. Constant könnte dieser Behauptung zustimmen. Insofern der abergläubige Mensch eine positive Religion hat, und demnach oft auch weltliche Interessen, die mit dieser Religion zusammenhängen, wird er schwerer von seiner Religion abzubringen sein als ein Atheist, der, glaubt man Constant, nichts zu verlieren hat, wenn er seinen Atheismus aufgibt. Aus diesen und ähnlichen Argumenten leitet Bayle die vorhin schon erwähnte These ab, dass man den Atheismus dem Aberglauben vorziehen sollte. Damit wollte er den politischen Autoritäten zu verstehen geben, dass sie, wenn sie schon bestimmte Formen des Aberglaubens dulden, a fortiori auch den Atheismus dulden sollten, da dieser weniger gefährlich ist als der Aberglaube. Genau dieser letzte Punkt wird von Montesquieu in Frage gestellt (Montesquieu EL, XXIV, 2, S. 715). Er greift dabei eine Aussage Bayles auf, der behauptet hatte, er würde es vorziehen, man glaube nicht an seine Existenz, als dass man sich ihn als einen bösen Menschen vorstelle. Montesquieu sieht hierin einen Sophismus. Es geht nicht darum, so Montesquieu, ob man an die Existenz eines bestimmten Menschen glaubt oder nicht glaubt, sondern es geht um die Frage nach der Existenz Gottes. Der Glaube an die Existenz eines bestimmten Menschen hat keinen Nutzen für das Menschengeschlecht, wohl aber der Glaube an die Existenz Gottes: „Aus der Idee, dass er nicht ist, folgt die Idee unserer Unabhängigkeit; oder, wenn wir diese Idee nicht haben können, diejenige unserer Revolte“ (Montesquieu EL, XXIV, 2, S. 715). Montesquieu geht hier davon aus, dass Menschen, die nicht an einen Gott glauben, sich gegen jede Ordnung erheben und dementsprechend die Gesellschaft ins Chaos stürzen werden. Der Atheismus führt mithin zum Chaos. Der Aberglaube mag zwar auch zum Chaos führen, aber nicht notgedrungen. Genauso wie Hobbes jede Form von Staat dem Naturzustand vorgezogen hat, zieht Montesquieu anscheinend jede Form von Aberglauben dem Atheismus vor. Und genauso wie Hobbes hätte sagen können, dass man schlecht räsoniert, wenn man bei der Aufzählung der durch den Staat hervorgebrachten Übel stehen bleibt, und nicht auch die zivilisatorische Rolle des Staates erwähnt, schreibt Montesquieu, dass man schlecht räsoniert, wenn man „in einem dicken Werk eine lange Liste der Übel macht, die sie [scil. die Religion – N. C.] hervorgebracht hat, und man nicht dasselbe mit den Gütern macht, die sie erzeugt hat“ (Montesquieu EL, XXIV, 2, S. 715). Wie groß auch immer die Übel sein mögen, die der Aberglaube hervorgebracht hat, so kann er doch, als zumindest potentiell ordnungsstiftende Kraft, auch sozial wichtige Güter hervorbringen. Beim Atheismus ist dies nicht der Fall. Und deshalb ist der Atheismus in den Augen Montesquieus weitaus schlimmer als der Aberglaube.

Kapitel 4: Der Staat und der Atheismus

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Constant gibt ihm in dieser Hinsicht Recht, wenn er schreibt, dass „im Hinblick auf das religiöse Gefühl, der Irrtum unseres Erachtens besser ist als die Abwesenheit“ (Constant 1999, S. 28). Es ist demnach besser, wenn das religiöse Gefühl die Menschen täuscht, als wenn sie kein solches Gefühl haben. Oder anders formuliert: Ein Mensch, der das Gefühl der Existenz einer ihn transzendierenden Wirklichkeit hat, obwohl es eine solche Wirklichkeit nicht gibt, ist einem Menschen vorzuziehen, der kein solches Gefühl hat, und der demnach nicht durch ein solches Gefühl getäuscht wird. Mag also auch der Atheismus wahr sein, so sollte man doch nicht wollen, dass er sich durchsetzt, denn mit ihm, so die Ansicht solcher Denker wie Montesquieu, Constant oder auch Tocqueville – man erinnere sich an dessen Kritik des philosophischen Materialismus –, wird sich entweder die Anarchie oder der Despotismus behaupten. Locke wollte deshalb die Atheisten aus dem politischen Gemeinwesen verjagen. Diese Politik der Intoleranz gegenüber dem Atheismus setzt voraus, dass dieser tatsächlich gefährlich für das Gemeinwesen werden kann. Um der Lockeschen Politik der Intoleranz zu entgehen, eine Politik, die einem Liberalen schlecht zu Gesicht steht, stellt Constant die Lockesche Voraussetzung in Frage bzw. verwirft diese Voraussetzung und geht davon aus, dass kein ernsthaftes Risiko besteht, dass die Menschen sich jemals massenweise zum Atheismus bekehren werden. Der Atheismus ist nämlich nicht in der Lage, grundlegende psychologische Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, und es ist nicht anzunehmen, dass die Menschen sich massenweise einer Lehre hinwenden werden, die sie psychologisch unbefriedigt lässt. Insofern ist die Verbreitung des Atheismus nicht zu befürchten. Und mit dieser Befürchtung verschwindet auch der Grund, Atheisten gegenüber intolerant zu sein. Bei Constant beruht also die Toleranz den Atheisten gegenüber auf einer psychologischen Prämisse. Ohne diese Prämisse stünde Constant vor einem Dilemma, das Locke durch eine Zwischen-Klammern-Setzung eines zentralen liberalen Werts gelöst hatte. Wo Constant die tatsächliche Gefährlichkeit des Atheismus leugnet – es wird nie ein Volk von Atheisten geben –, ohne jedoch seine theoretische Gefährlichkeit in Frage zu stellen – ein Volk von Atheisten könnte kein freies Volk sein –, wird man heute eher dazu neigen, die theoretische Gefährlichkeit des Atheismus in Frage zu stellen. Atheisten, so wird man behaupten, können durchaus das Gefühl einer kategorischen Verbindlichkeit von Verträgen haben, und es kann nicht a priori ausgeschlossen werden, dass auch Atheisten sich für die Freiheit opfern. Aus der Tatsache, dass man die Existenz eines Gottes leugnet, folgt noch nicht, dass man auch die Existenz von Werten leugnen muss, die die kontingente Individualität transzendieren und deren egoistischen Begierden eine Verpflichtung entgegensetzen.

TEIL V: DER KLASSISCHE LIBERALISMUS UND DER ISLAM

EINLEITUNG Bis in die 80er oder 90er Jahre des XX. Jahrhunderts, gab es kein erkennbares „muslimisches Problem“ in den westlichen, liberalen Gesellschaften, und dies obwohl in ihnen schon zahlreiche Muslime lebten – vorwiegend Algerier in Frankreich, Marokkaner in Belgien, Türken in Deutschland, Pakistaner in England, usw. Der Islam war vor den 80er Jahren noch kein Fokus für identitäre Forderungen und niemand störte sich an der Tatsache, dass muslimische Frauen sich gemäß den Vorschriften ihrer Religion anzogen.1 Heute, etwa vierzig Jahre später, sieht die Situation ganz anders aus, und der Islam bzw. eine bestimmte Interpretation des Islams und das damit zusammen hängende Verhalten bestimmter Muslime und Musliminnen, stellt die liberalen Gesellschaften vor Probleme, die diese Gesellschaften dazu zwingen, sich mit ihrem Selbstverständnis zu befassen und somit über ihre eigene Identität nachzudenken und sich mit den diese Identität konstituierenden Grundwerte zu befassen. Dabei stehen besonders zwei Fragen auf der Tagesordnung, deren erste den liberalen Grundwert der Toleranz und deren andere den liberalen Grundwert der Rechtssicherheit bzw. der Beschränkung der exekutiven Macht betrifft. Wie weit sollen liberale Gesellschaften in ihrer Toleranz gegenüber bestimmten angeblich religiösen oder angeblich religiös begründeten Praktiken der Musliminnen und Muslime gehen – und eventuell sogar bestimmten Forderungen entgegen kommen, zum Beispiel durch das Angebot von hallal-Menüs in öffentlichen Kantinen? Und wie weit sollen liberale Gesellschaften beim Schutz ihrer Bürger gegen mögliche islamistische Terroranschläge gehen, vor allem wenn man weiß, dass solche Anschläge mit relativ primitiven Mitteln, und damit auch von jederman, ausgeführt werden können? Die erste dieser beiden Fragen taucht seit den 90er Jahren vor allem im Zusammenhang mit der Bekleidung auf. In vielen Ländern ist der Gesetzgeber mit der Frage konfrontiert, ob er das Tragen bestimmter Kleidungsstücke im öffentlichen Raum untersagen soll – und darf – oder nicht. Ging es am Anfang zunächst nur um die Bedeckung des Kopfes – der sogenannte islamische Schal –, die u. a. der französische Gesetzgeber an öffentlichen Schulen untersagte, so geht es heute um das Tragen einer Burka und damit um die Verschleierung des Gesichts im öffentlichen Raum. Soll der liberale Staat es den auf seinem Territorium lebenden Menschen verbieten, sich permanent mit einer Ganzverschleierung im öffentlichen Raum zu bewegen? Ist ein sogenanntes Burkaverbot mit den Grundwerten des liberalen Staates vereinbar? 1

Der vor allem in Frankreich umstrittene Tariq Ramadan legt den Finger auf einen der wunden Punkte, wenn er behauptet, dass „die Muslime, mehr als die einfachen Gläubigen einer anderen Religion, eine Identität offenbarten, die sich, auf eine fast natürliche Weise, im sozialen Raum ausdrückte“ (Ramadan 1998, S. 72).

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Teil V: Der klassische Liberalismus und der Islam

Im Sommer 2016 erweiterte sich das Burkaproblem zu einem Burkiniproblem, als nämlich mehrere französische Gemeinden das Tragen des burkini2 auf Stränden oder in öffentlichen Schwimmbädern verboten haben. Am Radio hat ein Bürgermeister gemeint, die Frauen sollten am Strand alle einen – dixit – „republikanischen Badeanzug“ tragen3 –, wobei sie aber die Wahl zwischen einem zweiteiligen Bikini (das sogenannte „Monokini“ wurde nicht erwähnt) und einem einteiligen Badeanzug haben sollten.4 Was an der Burka oder am Burkini stört, ist nicht in allererster Linie die Tatsache, dass das Gesicht nicht sichtbar ist – im Prinzip bleibt es sichtbar – oder der Körper ganz bedeckt ist – im letzten Fall müsste man auch die Neoprenanzüge der Taucher verbieten. An und für sich unterscheidet ein burkini sich nämlich nicht wesentlich vom Neoprenanzug einer Taucherin. Während aber der Neoprenanzug den Zweck hat, die Haut der Taucherin vor dem direkten Kontakt mit dem kalten Wasser zu schützen, um ihr somit zu erlauben, überhaupt in tieferem Wasser zu tauchen und sich längere Zeit dort aufzuhalten, gilt das Tragen des burkini vielen als religiös-identitäre Provokation bzw. als Versuch der Wiedereroberung eines als säkular gedachten öffentlichen Raumes durch die Religion, oder noch als Symbol der Unterdrückung der Frau im Islam. Und eine ähnliche Bemerkung gilt für die Burka und jede andere Bekleidung der Frau, die in Zusammenhang mit dem Islam oder seinen Interpretationen gebracht wird. Würde der Islam den Frauen vorschreiben, einen meterhohen Hut zu tragen, würde die Debatte sich wahrscheinlich um das Tragen dieses Hutes drehen, mag die Frau auch ansonsten ähnlich gekleidet sein wie nicht-muslimische Frauen. Für einzelne Burkagegner geht es somit darum, den liberalen Wert der Gleichheit zwischen Mann und Frau zu verteidigen, sowie die Selbstbestimmung der Frau. Denn, so das Argument, viele, wenn nicht sogar alle muslimische Frauen, tragen eine Ganzkörperverschleierung nur deshalb, weil ihr Mann oder eine durch die Männer bestimmte muslimische öffentliche Meinung innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft dies von ihnen verlangt. Die Frau wird somit als willensloses Opfer eines patriarchalen Obskurantismus dargestellt.5 Und das Gesetz, durch das Frauen 2 3

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Ein burkini ist, um es ganz einfach zu sagen, eine zum Baden geeignete burqa (burkini = burqa + bikini). Das burkini unterscheidet sich hauptsächlich darin von der burqa, dass es ziemlich eng anliegt und somit den Frauen erlaubt, im Wasser zu schwimmen. Dabei dürfte ein Badeanzug gemeint sein, der die Einheit des französischen Volkes nicht gefährdet. Für die Franzosen ist die Religion ein solcher die Einheit des Volkes gefährdender Faktor. Insofern gilt ein Badeanzug, dessen Aussehen durch religiöse Normen bestimmt wird, als antirepublikanisch. In der Revue, einer luxemburgischen Wochenzeitschrift, erschien in diesem Kontext eine schöne Karikatur. Auf dem ersten Bild, das eine Szene aus den 70er Jahren darstellt, sieht man ein älteres Paar am Strand, das auf eine Frau schaut. Die Frau spaziert nackt auf dem Strand, während das ältere Paar ganz angezogen ist – die Frau trägt sogar einen Schal auf dem Kopf. Kommentar des Paares beim Anblick der nackten Frau: Skandalös. Auf dem zweiten Bild sieht man wieder ein Paar am Strand, aber im Jahr 2016. Diesmal ist das Paar nackt und die spazierende Frau trägt einen Burkini. Kommentar des Paares beim Anblick der Frau: Skandalös. An dieser Stelle sei mir erlaubt, eine erlebte Szene zu schildern. Im Juli 2017 besuchten wir während unseres Urlaubs das BMW-Museum in München. Dort konnte ich eine von Kopf bis Fuß – es war nur ein kleiner Schlitz für die Augen da – verschleierte Muslimin beobachten, die

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das Tragen einer Burka im öffentlichen Raum verboten wird, wird seinerseits als Befreiungsinstrument gesehen. Will der liberale Staat seinen Grundprinzipien so treu wie möglich bleiben, so muss er davon absehen, religionsspezifische Gesetze zu machen. Insofern darf es kein spezifisches Burkaverbot geben. Aber nichts spricht gegen ein Gesetz, das vorschreibt, dass kein sich im öffentlichen Raum bewegendes Individuum Kleider tragen darf, die permanent und ohne zwingenden Grund das Gesicht verstecken. Solche zwingenden Gründe können etwa klimatischer Natur sein – wenn man sich im Winter vor dem eisigen Wind schützen will –, oder sie können berufsbedingt sein – etwa eine Person die auf den Straßen Werbung für Disneyland macht und dabei die Maske einer Comicfigur trägt. Und selbst für diese Personen sollte die Regel gelten, dass sie ihr Gesicht im öffentlichen Raum zeigen müssen, wenn sie von Beamten der öffentlichen Macht dazu aufgefordert werden. Ein solches allgemeines Gesetz verstößt m. E. nicht gegen das Recht auf freie Religionsausübung, da die heiligen Texte des Islams an keiner Stelle vorschreiben, dass eine Frau sich ganz verschleiern muss. Das Tragen einer Burka ist demnach keine strenge religiöse Pflicht für Musliminnen. Und nur ein Gesetz, das die Ausübung einer religiösen Pflicht verbietet, kann in einen ernsthaften Konflikt mit dem Recht auf freie Religionsausübung treten. Das Problem der Bekleidung ist aber nur eines von vielen Problemen, die das Leben von Musliminnen und Muslimen in liberalen Gesellschaften aufwirft. Es ist auch, wie schon angeklungen, das Symptom für das tiefer liegende Problem der Gleichheit von Mann und Frau. Dieses Problem existiert natürlich auch für das Christentum bzw. für eine bestimmte Interpretation des Christentums. Aber in liberalen Staaten haben die Christen in ihrer großen Mehrheit darauf verzichtet, in der Frau ein Wesen zu sehen, das dem Mann untertänig sein muss, so wie Gott es Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies befohlen hatte.6 Ganz allgemein stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie der liberale Staat mit einer Religion umgesehen soll, in der sich Äußerungen finden, die, nimmt man sie wortwörtlich, gegen grundlegende liberale Werte verstoßen. Und vor allem: Wie soll ein solcher Staat mit Menschen umgehen, die eine wortwörtliche Auslegung zur Grundlage ihres Handelns machen und gegebenenfalls sogar vom Staat verlangen, dass er es den Mitgliedern ihrer Religionsgemeinschaft erlauben soll, nach den Gesetzen dieser Religion zu leben – und etwa bis zu vier Ehefrauen zu haben?

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mit einem der neuesten Handy- oder I-Phone Modelle den BMW fotografierte, den Elvis Presley fuhr, als er seinen Militärdienst in Deutschland absolvierte. Sie hatte außerdem einen schon professionell anmutenden Reflexfotoapparat um den Hals hängen. Ihr Mann, der Shorts und ein sommerlich anmutendes leichtes Hemd trug, war bei ihr und drückte den Kinderwagen durch die Ausstellungsräume des Museums. Wenn ich über diese Szene nachdenke, stelle ich mir die Frage, ob diese Frau tatsächlich das Opfer eines obskurantistischen Patriarchalismus war. Im Katholizismus stellt sich allerdings die Frage, ob die Tatsache, dass es Frauen nicht erlaubt ist, kirchliche Ämter zu bekleiden, als ungerechtfertigte Diskriminierung bzw. als Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgesetz angesehen werden muss.

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Teil V: Der klassische Liberalismus und der Islam

Es ist hier nicht der Ort, um eine detaillierte Antwort auf diese Frage zu geben. Es sei nur so viel gesagt: Der liberale Staat sollte die durch die Forderungen und das Verhalten bestimmter Musliminnen und Muslimen entstandenen Probleme nutzen, um sich selbst in Frage zu stellen. Damit meine ich, dass der liberale Staat, oder besser gesagt die Bürgerinnen und Bürger eines liberalen Staates die Gelegenheit nutzen sollten, um, wie es Humboldt formulieren würde, über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates nachzudenken. Dass der Staat etwa dafür zu sorgen hat, dass niemand zur Ehe gezwungen wird und dass keiner der Ehepartner der Gewalt des anderen ausgesetzt ist, scheint aus liberaler Perspektive außer Frage zu stehen. Aber gehört es unbedingt auch zu seinen Aufgaben festzulegen, mit wie vielen Personen jemand verheiratet ist? Das Stellen der Frage soll hier keine Antwort andeuten – es ist also keine rhetorische Frage. Es soll nur darauf hingewiesen werden, dass durch den Islam – aber nicht nur durch ihn – Fragen aufgeworfen werden, die Anlass zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit unserem liberalen Selbstverständnis führen sollten. Denn es könnte ganz gut sein, dass wir nicht nur nicht wissen, wie der liberale Staat auf die sich neu stellenden Probleme reagieren soll, sondern dass wir darüber hinaus vergessen haben, was eigentlich das Wesen des Liberalismus ausmacht. Und dies haben wir vergessen, weil wir nicht mehr wissen, was der Begriff Freiheit eigentlich bedeutet. Solange uns ein normativer Begriff der Freiheit fehlen wird, dessen Kern die rationale Autonomie des Individuums ist, werden wir nicht in der Lage sein, dem liberalen Staat einen klaren Kurs anzubieten. Die Freiheit wird dann für jeden das sein, was er unter Freiheit versteht. Ein solcher klarer Kurs fehlt dem liberalen Staat auch bei der Frage nach dem Umgang mit der durch den islamistischen Terror provozierten allgemeinen Unsicherheit. Um dieser Unsicherheit zu begegnen, sind einige Länder auf den Weg, wenn nicht einer Beschneidung der Grundrechte, so doch einer Verstärkung der exekutiven Macht und damit einer erhöhten Gefährdung der Grundrechte gegangen. Die Verhängung eines Notzustandes ist hierfür symptomatisch. Im Frühling 2017 wurde im luxemburgischen Parlament darüber debattiert, dass der Regierung in einer Krisensituation bestimmte Vollmachten gegeben werden sollten, damit sie angemessen auf eine solche Situation reagieren kann. Einzelne Gegner dieser Vollmachten entwickelten in der Diskussion Szenarien, bei denen die Regierung ihr nicht geheuere Abgeordnete verhaften ließ, worauf die Befürworter des neuen Gesetzes ihnen unbegründete Panikmache vorwarfen. Wer sich nicht prinzipiell mit solchen Fragen befassen will, wird Zuflucht bei der Behauptung suchen, dass so gut wie alle vom Staat getroffenen Maßnahmen nutzlos sind: Der Notzustand konnte in Frankreich das blutige Attentat von Nizza sowie auch andere Attentate nicht verhindern. Dem werden die Befürworter des Notzustandes entgegen halten, dass man zwar eine vollständige Liste der verübten, nicht aber eine vollständige Liste der verhinderten Attentate aufstellen kann. Ich will hier nicht auf diese faktische Frage eingehen, sondern kurz die grundsätzliche Frage andiskutieren, wie weit der liberale Staat bei der Verhinderung von

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Attentaten gehen darf.7 Für viele Menschenrechtsaktivisten steuern wir auf eine Situation zu, in welcher der liberale Staat sich in einen absolutistischen, wenn nicht sogar einen totalitären Staat verwandelt, der, unter dem Vorwand einer besseren Garantie der Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger, deren Rechtsgarantien unterhöhlt und deren Privatsphäre kontrolliert. Notstandsmaßnahmen sollen, wie es etwa in Frankreich vorgesehen ist, zu einem Bestandteil der normalen Gesetzgebung werden, so dass also davon ausgegangen wird, dass die liberalen Gesellschaften wegen der islamistischen Terrorgefahr in einem ständigen Ausnahmezustand leben. Die Macht der Richter als Beschützer der individuellen Rechte wird dabei immer abgeschwächt und immer mehr Überwachungskameras werden an immer mehr Orten aufgestellt. Gleichzeitig, und dieses Element sollte auf keinen Fall übersehen werden, wächst das Misstrauen gegenüber der Politik und den Politikern. Wir scheinen uns demnach in einer Situation zu befinden, in welcher wir die Wahl zwischen der durch die Terroristen und der durch die Politiker provozierten Unsicherheit haben. Die Terroristen bedrohen unser Leben und unsere Freiheit, die Politiker bedrohen unsere Freiheit – und wir lassen sie gewähren, da sie ja dadurch angeblich unser Leben schützen wollen.8 Auch hier scheint es mir wichtig zu sein, uns auf das zurückzubesinnen, was wir unter Freiheit verstehen. Und vor allem sollten wir uns auf unsere Rolle als Bürgerinnen und Bürger zurückbesinnen. Die Sicherheit, von der wir profitieren wollen, sollte nicht als eine Art Konsumgut betrachtet werden, die der Staat uns zur Verfügung stellt und die wir mittels unserer Steuergelder bezahlen. Sie sollte vielmehr als ein Gut betrachtet werden, um das wir uns auch kümmern müssen – allerdings nicht in dem Sinn, dass wir, wie manche es vorgeschlagen haben, alle eine Schutzwaffe besitzen sollten. Die Bürgerinnen und Bürger einer liberalen Demokratie schützen sich dadurch am besten, dass sie u. a. dafür sorgen, dass niemand ausgegrenzt wird und somit leicht manipuliert werden kann. Die Bürgerinnen und Bürger einer liberalen Demokratie sind dazu verpflichtet, Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen jeder ein positives Selbstwertgefühl entwickeln kann. Der Hass vieler junger Muslime auf die westliche Gesellschaft entspringt dem Gefühl, dass diese Gesellschaft sie am Rande liegen gelassen hat. Damit ist selbstverständlich noch nicht das Problem des Islam oder des Islamismus als solchen geregelt. Problematisch ist nämlich nicht nur das Verhalten bestimmter Menschen, die sich auf den Islam berufen, sondern auch, und in erster Linie, die religiösen Texte, auf welche diese Menschen sich berufen. Gäbe es nicht den Koran, die Hadithe und die Rechtsprechung, dann gäbe es auch kein „islamisches Problem“ – aber vielleicht ein anderes. Tatsache ist, dass der Koran und andere für den Gläubigen verbindliche Texte Vorschriften enthalten, deren Befolgung ein liberaler Staat nicht dulden kann. Es sind dies etwa Vorschriften bezüglich des 7 8

Ich werde hier von militärischen Angriffen im Ausland, wie etwa die Bombardierung von ISPositionen im Irak oder Syrien durch französische oder sonstige Kampfflugzeuge absehen. Man sollte zwar nicht Totenanzahlen miteinander vergleichen. Aber trotzdem: Auch wenn terroristische Anschläge jedes Jahr 10 000 Tote in Europa verursachen würden, so wäre man damit noch sehr weit weg von der Totenanzahl, den eine sich den Interessen der Industrie unterwerfende Umwelt- und Konsumentenschutzpolitik mitverursacht.

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Teil V: Der klassische Liberalismus und der Islam

Umgangs mit Ungläubigen. Der Islam akzeptiert nur die sogenannten Religionen des Buches – Islam, Judentum, Christentum und Zoroastrismus –, und ist intolerant gegenüber allen anderen Religionen sowie gegenüber dem Atheismus. Außerdem macht sich ein Moslem eines Kapitalverbrechens schuldig, wenn er sich vom Islam abwendet und zu einer anderen Religion konvertiert bzw. jeden religiösen Glauben aufgibt. Problematisch sind in den religiösen Referenztexten auch die für bestimmte gesetzwidrige Handlungen vorgesehenen Strafen und, dem noch vorhergehend, die Bestimmung gesetzwidriger Handlungen. Auch wenn der liberale Staat seinen Bürgern nicht verbieten kann, außerehelichen Geschlechtsverkehr als unmoralisch zu betrachten, so dürften doch die allermeisten dieser Bürger der Überzeugung sein, dass man es hier, wenn überhaupt, bei der moralischen Verurteilung belassen sollte und dass aus solchen Akten keine Vergehen oder Verbrechen gemacht werden sollten, die mit Peitschenhieben, wenn nicht sogar mit dem Tod bestraft werden. Wie irrational auch immer viele Ausdrücke der Islamophobie sind, so kann man doch die Angst desjenigen nachvollziehen, der sich schon jetzt als Mitglied einer Gesellschaft sieht, in welcher die eben erwähnten Passagen des Koran konkrete Wirklichkeit geworden sind – genauso wie man die Angst desjenigen nachvollziehen kann, der das Inkrafttreten bestimmter Normen des Alten Testaments (und einzelne dieser Normen wurden bloß vom Islam übernommen) als konkrete Möglichkeit sieht. Die Bürger einer liberalen Gesellschaft haben das Recht, nicht in einer Gesellschaft leben zu wollen, in welcher viele der im Koran enthaltenen Normen Rechtskraft haben. Und sie haben auch das Recht – wenn nicht sogar, ihren Mitbürgern gegenüber, die Pflicht –, sich gegen diejenigen Gruppen zur Wehr zu setzen, die solchen Normen Rechtskraft verleihen wollen. Dabei sollten sie bedenken, dass es auch innerhalb des Islam Menschen gibt, die sich einer solchen Inkraftsetzung widersetzen und für die der Koran keine Blaupause für ein ewig gültiges Straf- und Bürgerliches Gesetzesbuch ist, sondern vielmehr ein Text, der einerseits überzeitlich relevante rein spirituelle Elemente enthält, und andererseits bestimmte Anweisungen, die zwar vielleicht im Arabien des VII. Jahrhunderts sinn- und zweckvoll waren, deren Gültigkeit für die heutige Zeit aber durchaus in Frage gestellt werden kann und soll. Man sollte demnach nicht davon ausgehen, dass es a priori unmöglich ist, einen Platz für den Islam in einer liberalen Gesellschaft zu finden.9 Charles Kurzman beginnt die Einführung zu einer von ihm unter dem Titel Liberal Islam herausgegebenen Textsammlung mit der Behauptung, der Ausdruck „liberal Islam“ könne vielen Menschen als eine contradictio in adiecto erscheinen (Kurzman 1998, S. 3), hat man sich doch im Westen während Jahrhunderten daran gewöhnt, den Islam mit dem orientalischen Despotismus gleichzusetzen. Der Islam, so scheint es vielen, kann sich nicht modernisieren. Dieser Glaube, so Kurzman weiter, wird durch all jene Muslime unterstützt, die sich einer Moder9

Cardinis historische Perspektive sollte uns hier zu denken geben. Im XIII. und XIV. Jahrhundert, schreibt Cardini, wurden die Muslime als Philosophen par excellence betrachtet und mit Skeptizismus und Unglaube in Verbindung gebracht. Heute wird die gesamte muslimische Kultur als eine durch Fundamentalismus und Fanatismus geprägte Kultur gesehen (Cardini 2002, S. 155 f.).

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nisierung des Islam widersetzen und die zum Islam der Ursprünge zurückkehren wollen, also zu jenem reinen Islam, der noch nicht durch seine Vermischung mit lokalen Traditionen der eroberten Gebiete zu etwas geworden ist, das eher einem Aberglauben als einer Religion ähnelt.10 Aus der Sicht vieler Menschen im Westen scheint der Islam sich auf zwei Formen zu reduzieren: Der mit oft rückständigen lokalen Traditionen gemischte Islam einerseits, und der sich auf das goldene Zeitalter der vier ersten Kalifen berufende Islam andererseits, wobei vor allem letztere Form heute militante, und manchmal sogar gewalttätige Formen angenommen hat. Die von Kurzmann veröffentlichten Texte sollen zeigen, dass man den Islam nicht auf diese beiden Formen reduzieren kann und dass es auch islamische Denker gibt, die – oft unter Lebensgefahr – eine liberale Variante des Islams entwickeln bzw. die versuchen zu zeigen, dass ein liberaler Islam genauso wenig dazu verdammt ist, ein hölzernes Eisen zu sein, wie etwa ein liberales Christentum oder ein liberales Judentum. Zu diesen Denkern gehört Al Saïd Al-Ashmawy. In einem zuerst 1987 in Kairo erschienenen und schon zwei Jahre später auf Französisch übersetzten Buch, behauptet der ägyptische Gelehrte und Richter Al-Ashmawy, der Islam sei „eine der größten liberalen Revolutionen der Geschichte“ gewesen, und die Sharia enthalte nichts weniger als „den schönsten Appell zur Demokratie, den es gibt“ (Al-Ashmawy 1989, S. 61–62). In diesem Buch geht es dem Autor darum zu zeigen, dass, im Gegensatz zu dem, was diejenigen behaupten, die sich im Namen des Islams der Verbreitung der sogenannten westlichen Werte bzw. der diese Werte stützenden politischen Theorien – zu denen der Liberalismus und die Demokratie gehören – widersetzen, der Islam nicht nur offen für diese Werte und Theorien ist, sondern dass man sie schon in ihm findet, und dass man sie sogar in einem überragenden Sinn darin findet – die Sharia ist, wie gesagt, der „schönste“ Appell zur Demokratie. Diesen Behauptungen Al-Ashmawys müssen die ihnen widersprechenden Behauptungen Al-Zawahiris11 entgegengestellt werden. Dieser behauptet, die Demokratie seine eine neue Religion, die die göttliche Souveränität und Gesetzgebung durch die Souveränität des Menschen und dessen Gesetzgebung ersetzt. Dies laufe aber, so Zawahiri, auf eine Vergöttlichung des Volkes hinaus. Insofern ist die Demokratie nicht mit dem Islam vereinbar, da dieser einen strikten Monotheismus vertritt. Wer demnach die Souveränität Gottes anerkennt, kann nicht gleichzeitig die Souveränität des Volkes anerkennen. Muslime sollten sich dementsprechend nicht an Parlamentswahlen beteiligen, da diese auf dem Prinzip der Souveränität des Volkes beruhen (Al-Zawahiri 2008, S. 267). Und auch der politische Liberalismus, u. a. mit seiner Anerkennung der Legitimität unterschiedlicher Lebensweisen und des Prinzips der Religionsfreiheit, ist aus der Sicht von sogenannten muslimischen Integristen – worunter man Muslime verstehen kann, die die Integrität oder 10

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Genau dieses Ziel verfolgt der Wahabismus und der seine Wurzeln in ihm findende Fundamentalismus bzw. Salafismus. Letzterer verlangt nach einer Nachahmung der Lebensweise der ersten Muslime in Medina. Islamische Fundamentalisten müssen allerdings nicht unbedingt Terroristen sein oder den im Namen des Islam ausgeübten Terrorismus gutheißen. Als Bin Laden an der Spitze der Organisation stand, war Al-Zawahiri die Nummer 2 von AlQaida.

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Reinheit des Islam gegen fremdartige, allen voran westliche, Einflüsse schützen wollen12 – nicht mit dem Islam zu vereinbaren. Für diese Muslime gibt es ein unwandelbares göttliches Gesetz, dem sich alle Menschen unterwerfen müssen und das ihnen eine für sie geeignete Lebensweise vorschreibt. Insofern Gott als oberster Gesetzgeber angesehen wird, kann der Islam in ihren Augen nur als Theokratie gedacht werden13, und er schließt demnach jede Demokratie aus. Innerhalb des zeitgenössischen Islams spielt sich ein Kampf zwischen den Alten und den Modernen ab, wobei aber nicht immer klar ist, wer die „Guten“ und wer die „Bösen“ sind bzw. wie man die Lehren der Alten und der Modernen auffassen soll. In den Augen der Integristen oder Fundamentalisten ist der alte Islam, der Islam der Ursprünge, der einzig legitime, und diese Integristen sehen sich als die Neubeleber dieses alten Islam. Ihr Islam ist dieser alte Islam, und der Islam ihrer Gegner ist ein moderner Islam, der mit dem alten Islam nur noch höchstens den Namen gemeinsam hat. Doch Abdelwahab Meddeb, der einen liberalen Islam vertritt, setzt dem „alten, intelligenten und freundlichen Islam“, die „dummen und verabscheuungswürdigen politischen Formen des zeitgenössischen Islam“ entgegen (Meddeb 2002, S. 155). In seinen Augen hat der Islam der Integristen also nichts mit dem alten Islam gemeinsam, und weit davon entfernt, den alten Islam wieder herzustellen, ist der politische Islam bzw. der zu politischen Zwecken instrumentalisierte Islam, als eine Pathologie des Islam zu betrachten, als eine Krankheit, die uns nicht veranlassen sollte, den Patienten – hier also den Islam – umzubringen, so als ob man nur auf diese Weise die Krankheit bekämpfen könnte. Wie Burhan Ghalioun aber festhält, findet man auch in dem politisch instrumentalisierten Islam oft den Ruf nach Gerechtigkeit, Gleichheit und politischer Ethik (Ghalioun 1997, S. 113). Die Massen, an welche die Fundamentalisten appellieren, bestehen aus Menschen, die feststellen mussten, dass die ‚Verwestlichung‘ ihrer Nationen nicht wirklich zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und politischer Ethik geführt hat. Der Erfolg oder doch zumindest der Vormarsch der Fundamentalisten erklärt sich aus dem Misserfolg der Modernisierung: Die mit dem Westen assoziierte Moderne hat ihre Versprechen nicht eingehalten. Die Fundamentalisten greifen diese Versprechen wieder auf, aber interpretieren sie auf ihre Weise bzw. denken sie vor dem Hintergrund ihres Welt- und Menschenbildes. Die eben erwähnten und zitierten Autoren zeigen, dass die Frage nach der Kompatibilität zwischen Islam und Liberalismus alles andere als leicht oder ein12 13

Aber man will auch, wie vorhin bemerkt wurde, den Islam von allen Elementen befreien, die er im Laufe der Jahrhunderte dadurch in sich aufgenommen hat, dass er sich mit lokalen Traditionen, usw. vermischt hat. Aus der Tatsache, dass in einer Theokratie Gott der Souverän ist, folgt noch nicht, dass dort auch die Kleriker die politische Macht ausüben. Man kann sich durchaus ein politisches Gemeinwesen denken, dessen Staatsform die Theokratie und dessen Regierungsform die Demokratie ist – gegebenenfalls sogar die direkte Demokratie. Geht man davon aus, dass Mohammed niemals explizit gesagt hat, wer seine Nachfolge antreten oder wie man einen Nachfolger bestimmen sollte, dann lässt sich argumentieren – und mit der Praxis der ursprünglichen umma sogar bekräftigen –, dass diese Bestimmung durch die umma geschehen sollte, so dass also die Glaubensgemeinschaft als delegierte Inhaberin der Souveränität angesehen werden kann.

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deutig zu beantworten ist. Fest steht aber, dass man in der islamischen Welt Tendenzen finden kann, die die Möglichkeit einer positiven Antwort auf die Frage nicht a priori ausschließen. Der Liberalismus sollte sich tiefer und vorurteilsfreier mit seiner Geschichte befassen, und der Islam sollte es auch tun. Gleichzeitig sollte der Liberalismus einen Blick auf seine Behandlung des Islam in den vergangenen Jahrhunderten werfen. Es ist genau dieser Blick – wobei es sich allerdings nur um einen relativ flüchtigen Blick handelt, der weitere Untersuchungen anspornen soll –, den wir in diesem fünften und letzten Teil werfen wollen. Was haben die großen Denker der liberalen Tradition über den Islam gesagt? Standen sie auch vor einem „islamischen Problem“, und wenn ja, war es dasselbe Problem wie dasjenige, vor dem wir heute stehen – oder zu stehen glauben? Und warum sprachen sie überhaupt über den Islam? Im ersten Kapitel werden wir uns den Schriften Montesquieus zuwenden. Hinweise auf den Islam finden sich nicht nur in den frühen Lettres persanes, in denen sich der zu Beginn des XVIII. Jahrhunderts ausbreitende Orientalismus manifestierte, sondern auch in Montestquieus Hauptwerk De l’esprit des lois. Für Montesquieu gehen der Islam und der orientalische Despotismus Hand in Hand, und Montesquieu lässt an keiner Stelle durchblicken, dass der Islam mit einer gemäßigten Monarchie nach englischem Modell – geht man davon aus, dass dieses Modell die Gunst Montesquieus hat – vereinbar ist. Allerdings gibt Montesquieu zu, dass der Islam dem Despotismus bestimmte Schranken setzt, so dass man, hat man nur die Wahl zwischen einem atheistischen und einem mohammedanischen Despotismus, Letzterem den Vorzug geben sollte. Auch Alexis de Tocqueville hat sich mit dem Islam befasst, wobei sein Interesse für die Religion Mohammeds in direktem Zusammenhang mit der französischen Kolonisierung Algeriens stand. Wenn man sich ein muslimisches Volk unterwerfen will, muss man sich zuerst mit dessen Religion auseinandersetzen, um auch die Mentalität dieses Volkes zu verstehen und um sich vor kontraproduktiven Entscheidungen zu bewahren. Auch wenn Tocqueville den Islam in vielen Punkten kritisiert, sieht er doch, dass es in muslimischen Gesellschaften ein aufklärerisches Potential gegeben hat und dass diese Gesellschaften demnach dem Aufklärungsprozess nicht ganz verschlossen bleiben müssen. Problematisch am Islam erscheint ihm aber dessen Anspruch, dem Menschen auf allen Gebieten – des Handelns wie des Wissens – unbezweifelbare Wahrheiten zu liefern. Tocqueville scheint nicht zu glauben, dass man den Islam so reformieren kann, wie man ihm zu Folge das Christentum reformieren konnte. Denn während das Christentum von Hause aus keine wissenschaftlichen, politischen oder rechtlichen Theorien enthält, sondern diese ihm im Laufe der Jahrhunderte beigefügt wurden, findet man, so Tocqueville, solche Theorien im Koran wieder, d. h. sie sind konstitutive Elemente des Islams. Das dritte Kapitel geht global auf den anglophonen Liberalismus ein und behandelt sowohl Lockes Aussagen über den Islam und die Muslime, als auch die Erwähnung des Islam und der Muslime in den Vereinigten Staaten von Amerika in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach der Gründung der neuen Republik. Während Locke den Islam und die Muslime hauptsächlich als Beispiel oder Illustration im Kontext seiner Verteidigung der religiösen Toleranz erwähnt, stellen sich für die

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Amerikaner ganz konkrete Fragen, wie etwa die, ob man mit islamischen Staaten Handelsbeziehungen aufnehmen soll. KAPITEL 1: MONTESQUIEU UND DER ISLAM In seinem Frühwerk, den anonym erschienenen Lettres persanes, greift Montesquieu auf den Islam zurück, um die französische Gesellschaft und den sich u. a. unter Ludwig XIV. etablierten Absolutismus und die mit ihm zusammen hängende Hofgesellschaft zu kritisieren.14 Man sollte das Werk allerdings nicht nur als eine zeitbedingte Kritik einer bestimmten Gesellschaft betrachten, sondern es sollte vielmehr in einen allgemeinen Rahmen gestellt werden: Montesquieu verurteilt jede Religion und jede Politik, die der menschlichen Natur und den sie regierenden ewigen Gesetzen widerspricht. Der Harem ist dabei der paradigmatische Ort eines solchen Widerspruchs, und Roxane, die im Harem eingesperrt ist und diese Situation nicht mehr aushält, wird am Schluss auf den Selbstmord zurückgreifen, um dadurch ihre Freiheit zu behaupten. Wo Politik und Religion den ewigen Gesetzen der menschlichen Natur nicht entsprechen, ist mit einer Revolte zu rechnen, die entweder zu einer Änderung der politischen und religiösen Gesetze führen wird, oder aber, wenn das sich revoltierende Subjekt zu schwach ist, um die bestehenden Bedingungen zu ändern, mit dem Tod dieses Subjekts. Montesquieu, so könnte man sagen, warnt hier alle absoluten Herrscher: Weit davon entfernt, ein Stablisierungsfaktor zu sein, und weit davon entfernt, die Garantie ihrer Selbstbewahrung zu liefern, steht eine absolut schrankenlose Macht immer vor dem Abgrund und vor der Selbstzerstörung. Während der Islam in den Lettres persanes als Chiffre für den französischen Absolutismus angesehen werden kann und in dieser Hinsicht den Hintergrund des Werkes bildet, begnügt sich Montesquieu in seinem Hauptwerk De l’esprit des lois mit einigen Hinweisen auf den Islam, wobei in einigen Passagen der Islam als eine Religion betrachtet wird, die dem politischen Absolutismus Grenzen setzt. Die Hinweise auf den Islam können in dieser Hinsicht als Teil einer allgemeinen Reflexion über den möglichen anti-absolutistischen Gebrauch der Religion betrachtet werden. Dieser Spur soll in diesem Kapitel gefolgt werden. In De l’esprit des lois entwickelt Montesquieu eine Typologie der Staatsformen und der ihnen zu Grunde liegenden Prinzipien. Auch wenn diese Typologie sich an gängigen Typologien wie sie seit Platon und Aristoteles vorliegen orientiert, trägt sie doch auch einige besondere Züge. So unterscheidet Montesquieu zwischen drei Staatsformen. Die Monarchie zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr die Souveränität in den Händen einer Person, dem Monarchen, liegt, diese Person aber gemäß etablierten Gesetzen – in Frankreich handelt es sich um die sogenannten lois fondamen­ tales du royaume, von denen es hieß, dass nicht der König sie, sondern sie allererst 14

Persien ist, so Effi Böhlke, der „Idealtyp des despotischen Staates“ und der „Harem avanciert zum Sinnbild despotischer Regime“ (Böhlke 2010, S. 233).

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den König machen – regiert. Die Republik, die zweite der drei Staatsformen, präsentiert sich unter zwei Formen. In der aristokratischen Republik liegt die höchste Macht in den Händen einer beschränkten Zahl von gleichgestellten Adligen – ein Beispiel wäre hier die venezianische Republik –, während in der demokratischen Republik das Volk die höchste Macht besitzt – wobei Gesetze festlegen, wer zum Volk gehört und dementsprechend mitentscheiden darf. Als dritte Staatsform nennt Montesquieu dann die Despotie. Mit der Monarchie hat sie gemeinsam, dass in ihr die höchste Macht in den Händen einer einzigen Person liegt, aber sie unterscheidet sich dadurch von der Monarchie, dass in ihr der Inhaber der höchsten Macht an keine Gesetze gebunden ist, sondern gemäß seiner bloßen Willkür herrschen kann. Diesen drei Staatsformen entsprechen drei Prinzipien, worunter Montesquieu Handlungsmotive der Individuen versteht. Die Funktion dieser Handlungsmotive ist es, die jeweilige Staatsform zu erhalten. Für Montesquieu erhält eine Staatsform sich nämlich nicht allein durch bestimmte Institutionen und eine äußere Verfassung, sondern die innere Verfassung der Individuen spielt dabei auch eine wichtige Rolle. Im Falle der Monarchie ist die Ehre das Prinzip, wobei der König die Ehre oder die Ehrentitel verteilen kann. Bei der Republik fungiert die Tugend als Prinzip. Damit ist nicht, wie schon im zweiten Teil dieses Buches gezeigt wurde, die christliche Tugend gemeint, sondern die Tugend im Sinne der Vaterlandsliebe, deren höchster Ausdruck darin besteht, dass man die Erhaltung des Vaterlandes über die eigene Erhaltung stellt. Was schließlich die Despotie betrifft, so beruht sie auf dem Prinzip der Furcht: Eine Despotie wird solange bestehen bleiben, wie sich die Untertanen vor dem Despoten fürchten. Das bringt mit sich, dass der Despot stets über die Mittel verfügen muss, um ein allgemeines Klima der Furcht aufrecht zu erhalten. Allerdings ist auch der Despot nicht frei von Furcht: Insofern in einer Despotie niemand dem anderen vertrauen kann, lebt auch der Despot in ständiger Furcht vor einem Staatsstreich bzw. vor einer Palastrevolution.15 Mag auch der Despot eine persönliche Wache haben, die ihn vor seinen Untertanen schützt, so ist er nicht vor einem Anschlag auf sein Leben durch diese persönliche Wache geschützt. Er kann nur hoffen, sie durch ein gemeinsames Interesse an sich zu binden. Montesquieu verbindet die eben genannten Staatsformen mit bestimmten äußeren Bedingungen, wie etwa dem Klima oder der Größe des Staatsterritoriums. Alle diese Bedingungen zusammen genommen, erlauben es zu verstehen, wieso bestimmte Gesetze in einem Land walten, und sie sind es, die den Geist der Gesetze bestimmen. Was auf den ersten Blick wie ein absurdes oder vielleicht sogar unmenschliches Gesetz erscheint, wird erklärbar, sobald man die Bedingungen betrachtet, unter denen die diesen Gesetzen unterworfenen Menschen leben. Gesetze 15

Montesquieu macht auf das Dilemma des Despotismus aufmerksam: „Insofern die Kraft nicht im Staate ist, sondern in der Armee, die ihn gegründet hat, müsste man, um den Staat zu verteidigen, die Armee beibehalten; aber sie erregt die Furcht des Fürsten. Wie soll man also die Sicherheit des Staates mit der Sicherheit des Fürsten in Einklang bringen?“ (Montesquieu EL V, 14, S. 294). In einem Brief an Gustave de Beaumont aus dem Jahre 1828, vertritt Tocqueville die These, dass man weniger Furcht vor einem Despoten als vor einem absoluten Herrscher haben muss, der sich nach dem Gesetz richtet. Denn, so die Begründung, der Despot wird wenigstens noch durch die Furcht zurückgehalten (Tocqueville OC VIII, 1, S. 68).

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müssen, so Montesquieus Grundgedanke, immer im Kontext der Gesellschaft gesehen werden, für welche sie gedacht sind. Nicht die abstrakte Güte eines Gesetzes sollte ausschlaggebend sein, sondern seine Angemessenheit. Das Reich der Ottomanen ist für Montesquieu ein typischer despotischer Staat.16 In mehreren Passagen von De l’esprit des lois geht er auf den Einfluss des Islams auf die Regierung der ottomanischen Fürsten ein und untersucht dabei einerseits, wie der Islam dieser Regierung förderlich ist, und andererseits, wie er den Untertanen förderlich sein kann und ihnen einen bestimmten Freiheitsraum öffnet. Weit davon entfernt, nur ein Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument in den Händen eines Despoten zu sein, erscheint der Islam auch als ein, vielleicht sogar das einzige, Instrument, das den Willen des Despoten normativ einschränken kann. In einem despotischen Staat, behauptet Montesquieu, „hat die Religion einen größeren Einfluss als in irgendeinem anderen; sie ist eine Furcht die der Furcht hinzugefügt wird“ (Montesquieu EL V, 14, S. 294). Wir wollen es dahin gestellt lassen, ob sich daraus ein allgemeines Gesetz folgern lässt, dem zu Folge der Einfluss der Religion geringer wird, je mehr man sich vom Despotismus entfernt, so dass vielleicht an irgendeinem Punkt der Einfluss der Religion gänzlich verschwindet, um eventuell gänzlich durch etwas anderes, wie etwa die Ehre oder die Tugend, ersetzt zu werden, ohne dass diese beiden Prinzipien in einen religiösen Kontext gesetzt werden – man sucht nicht nur Ehre vor den Augen seiner Mitmenschen, sondern auch vor den Augen Gottes bzw. man liebt sein Vaterland, weil Gott diejenigen liebt, die ihr Vaterland lieben. Begnügen wir uns damit zu verstehen, wieso die Religion in despotischen Staaten einen größeren Einfluss auf die Menschen hat. Montesquieu scheint sagen zu wollen, dass in einer Despotie die vom Despoten und seinem Herrschafts- und Unterdrückungsapparat ausgehende Furcht nicht genügt, um dem Regime ein hinreichend solides Fundament zu geben. Insofern in einer Despotie keines der beiden anderen Prinzipien wirksam werden kann (Montesquieu EL V, 14, S. 294) – die Ehre nicht, weil Menschen, die dem Willen eines Despoten ausgesetzt sind, einfach kein Gefühl ihrer persönlichen Ehre haben; die Tugend nicht, weil man einen despotischen Staat oder den Despoten nicht derart lieben kann, dass man sich für ihn opfert –, und insofern man, wie Montesquieu es tut, voraussetzt, dass es nur drei Prinzipien gibt, kann nur die Furcht der Furcht beigesetzt werden. Und da es keine dem Despoten übergeordnete irdische Macht

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Es ist selbstverständlich nicht das einzige Beispiel. Montesquieu erwähnt z. B. noch das russische Zarenreich, wobei er aber interessanter Weise bemerkt, dass in Russland die Regierung selbst versucht, dem Despotismus zu entkommen, da er noch mehr auf ihr als auf den Untertanen lastet. Allerdings lässt der Autor anklingen, „dass es besondere Ursachen gibt, die sie vielleicht zum Unheil führen werden, vor dem sie flüchten wollte“ (Montesquieu EL V, 14, S. 294). Es ist dies eine von vielen Passagen in denen die Problematik zum Vorschein kommt, ob ein bestimmtes Volk auf Grund der objektiven Gegebenheiten zum Despotismus verdammt ist, oder ob es sich, trotz dieser Bedingungen, vom Despotismus befreien kann. Das im ersten Teil dieses Buches erwähnte Beispiel der Äthiopier unterhält die Hoffnung, dass eventuell ein bestimmter religiöser Glaube vor einem durch die objektiven Bedingungen quasi sich aufdrängenden Despotismus bewahren kann.

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gibt, vor der man sich noch mehr fürchten würde als vor ihm17, muss die Potenzierung der Furcht vor dem irdischen Despoten durch Rückgriff auf eine himmlische Entität, einem belohnenden, und vor allem bestrafenden Gott bewirkt werden. Die Menschen haben demnach nicht nur Angst vor dem menschlichen Despoten, der ihr irdisches Wohl verhindern kann, sondern sie haben auch Angst vor einem zum großen Teil nach dem Modell des irdischen Despoten gedachten Gottes, der ihr jenseitiges – aber auch schon vielleicht ihr diesseitiges – Wohl negativ beeinflussen kann. In diesem Zusammenhang, und unter direkter Anspielung auf die Situation in islamischen Ländern, spricht Montesquieu auch die Heiligung der politischen Macht bzw. des politischen Machthabers an: „In den mohammedanischen Reichen ziehen die Völker jenen erstaunlichen Respekt, den sie für ihren Fürsten haben, zum Teil aus der Religion“ (Montesquieu EL V, 14, S. 294).18 Erstaunlich ist der Respekt insofern, als der despotische Fürst, zumindest in den Augen Montesquieus, alles andere als respektwürdig ist. Dieser Fürst, so Montesquieu, kann keine Größe verleihen, da er selbst keine Größe hat (Montesquieu EL V, 12, S. 292). Ein solcher Fürst, so Montesquieu weiter, „hat so viele Schwächen, dass man sich davor scheuen müsste, seine natürliche Dummheit ans Licht der Welt zu bringen“ (Montesquieu EL V, 14, S. 293). Unter diesen Umständen kann nur die Religion helfen, wie es etwa in der „türkischen Verfassung“19 geschieht: „Die Untertanen, die nicht durch die Ehre an den Ruhm und an die Größe des Staates gebunden sind, sind es durch die Kraft und das Prinzip der Religion“ (Montesquieu EL V, 14, S. 294). Das hier angesprochene Prinzip der Religion ist die Furcht, und es ist die durch die Religion in den Menschen hervorgerufene Furcht vor einer göttlichen Bestrafung, die sie dazu bringt, den Staat zu verteidigen. Insofern kann man behaupten, dass der Islam die despotischen mohammedanischen Reiche unterstützt und sie vor dem Untergang bewahrt. Er gibt diesen Staaten jenes staatsbewahrende Element, das sie brauchen, um die Furcht vor dem auf seine bloß menschliche Dimension reduzierten Fürsten zu ergänzen und zu verstärken. Insofern erfüllt der Islam eine wichtige politische Funktion. Im dritten Kapitel des XXIV. Buches von De l’esprit des lois – ein Buch, in dem der Autor sich ausschließlich mit dem politischen Aspekt der Religionen befasst – vergleicht Montesquieu den Islam mit dem Christentum und gelangt dabei zur in der Überschrift des Kapitels formulierten Behauptung, „[d]ass die gemäßigte Regierung besser zur christlichen Religion passt, und die despotische Regierung 17 18

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Hier ist nicht nur der Despot als einzelne Person gemeint, sondern auch der ihm unterstehenden und seinen Befehlen folgende Staatsapparat. Insofern Montesquieu hier von den mohammedanischen Reichen im Plural spricht, bringt er zum Ausdruck, dass das ihnen allen Gemeinsame – also die muslimische Religion – und nicht irgendwelche Besonderheit es ist, die den Respekt hervorbringt. Der Islam wird also als der – womöglich einzige – ausschlaggebende Faktor betrachtet. Unter „Verfassung“ darf hier nicht eine geschriebene Verfassung verstanden werden, sondern das Wort ist im Sinne einer faktischen Verfasstheit zu verstehen, bezeichnet also die Art und Weise, wie der türkische Staat faktisch funktioniert.

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besser zur mohammedanischen“ (Montesquieu EL XXIV, 3, S. 716). Auf der einen Seite haben wir das Christentum und die gemäßigte Regierungsform: In beiden herrscht ein Geist der Milde, so dass sie gut zusammen passen. Auf der anderen Seite haben wir den Islam und die despotische Regierungsform: In beiden herrscht ein Geist der Grausamkeit, so dass auch sie gut zusammen passen. Bestimmte religiöse Vorschriften des Christentums sorgen dafür, dass der Fürst sich um das Wohl seiner Untertanen kümmert und sich selbst in seinem Handeln durch Gesetze einschränkt. Eine dieser Vorschriften ist die Monogamie, die Montesquieu mit der Polygamie im Islam, und vor allem mit dem System des Harems in den muslimischen Ländern, kontrastiert. In diesen Ländern verbringt der Fürst einen großen Teil seiner Zeit mit den ihm zur Verfügung stehenden Frauen und kümmert sich dementsprechend nicht um das Wohl seiner Untertanen. Und insofern diese Frauen ihm gehören und er mit ihnen machen kann, was er will, glaubt er, dass jeder Mensch sich seinem Willen unterwerfen muss. Insofern kann der Islam als eine Religion betrachtet werden, die die Willkürherrschaft fördert. Im XVI. Buch hat Montesquieu zu erklären versucht, wieso der Islam sich in den asiatischen Ländern schneller ausbreitet als es das Christentum tut (Montesquieu EL XVI., 2, S. 509–510). In diesen Ländern herrscht ein heißes Klima und dieses Klima bedingt, dass die Mädchen früher geschlechtsreif, gleichzeitig aber auch früher alt und hässlich werden. Daraus folgt, dass die Männer – die anscheinend nicht so schnell altern – sich nach jüngeren Frauen umsehen, wenn ihre erste Frau ihnen nicht mehr gefällt. Und diese Männer, so Montesquieu, werden sich eher einer Religion anschließen, die die Polygamie zulässt als einer Religion, die für die strikte Monogamie eintritt. In Ländern mit gemäßigtem Klima ist es anders: Hier altern Männer und Frauen zusammen, und die Frau kann auch noch in einem fortgeschrittenen Alter den Mann durch ihre Reize binden. Hier drängt sich die Polygamie demnach nicht auf, und die Männer begnügen sich mit einer monogamen Ehe, wie sie auch vom Christentum vorgeschrieben wird. Aus diesen Erklärungen geht hervor, dass für Montesquieu das Klima einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Ausbreitung einer Religion hat. Die Menschen machen nicht was sie wollen, sondern sind immer jener „höchsten Ursache“ unterworfen, „die alles macht, was sie will, und sich alles bedient, wessen sie will“ (Montesquieu EL XVI., 2, S. 510). Es ist unwahrscheinlich, dass mit der „höchsten Ursache“ der christliche Gott gemeint ist, denn dieser Gott würde dann nämlich verursachen oder zumindest begünstigen, dass die asiatischen Männer sich einer anderen Religion als der seinigen zuwenden.20 Im XXV. Buch kommt er im Schlusskapitel noch einmal auf diesen Punkt zurück und behauptet dort, dass, „menschlich gesprochen“, das Klima es ist, das „der christlichen und der mohammedanischen Religion Grenzen vorgeschrieben hat“ (Montesquieu EL XXV, 26, S. 734). Als politischer Schriftsteller will Montesquieu nicht auf die Frage eingehen, was Gott alles bewirken kann, gegebenenfalls – aber das ist unwahrscheinlich – im Widerspruch zu dem, was sich aus einer Betrachtung 20

Der Montesquieusche Gott ist selbst den unabänderlichen und notwendigen Gesetzen des Seins unterworfen und kann demnach nicht als willkürlicher Gesetzgeber betrachtet werden.

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der Wirkungen der „höchsten Ursache“ ergibt. Lässt man einen möglichen Eingriff Gottes außer Betracht – mag dieser Gott der christliche oder der muslimische sein –, so drängt sich laut Montesquieu die Feststellung auf, dass der Ausbreitung einer Religion natürliche Grenzen gezogen sind. Im vorliegenden konkreten Fall des Islams würde dies bedeuten, zieht man die Konsequenzen aus den Aussagen Montesquieus, dass die Einwohner eines Landes mit gemäßigtem Klima kaum zu befürchten haben, dass sich der Islam bei ihnen ausbreitet. Umgekehrt gilt aber auch, dass die Christen sich kaum Hoffnung darauf machen sollten, dass das Christentum sich jemals in einem Land mit einem sehr heißen Klima etabliert. Das vierte Kapitel des XXIV. Buches zieht die, wie es in der Überschrift heißt, „Konsequenzen des Charakters der christlichen und der mohammedanischen Religion“ (Montesquieu EL XXIV, 4, S. 717). Für Montesquieu steht ganz klar fest, dass man sich für das Christentum und gegen den Islam entscheiden soll – wenn man überhaupt die Möglichkeit einer solchen Entscheidung hat. Wer genau mit dem „man“ gemeint ist, wird nicht explizit gesagt. Aus der Begründung geht aber hervor, dass die Menschen als solche damit gemeint sind. Montesquieu ist nämlich der Auffassung, dass es bei einer Religion viel mehr darauf aufkommt, dass sie die menschlichen Sitten sanfter macht, als dass sie – in einem theologischen Sinn – wahr ist, also die übernatürliche Welt widerspiegelt. Und da im dritten Kapitel die Milde des Christentums gegenüber der Grausamkeit des Islams hervorgehoben wurde, folgt die These, dass die Menschen sich – aus politischen Gründen – für das Christentum entscheiden müssen. Dem Islam wird vorgeworfen, eine Religion des Schwertes zu sein, die ein Eroberer und seine Nachfolger den von ihnen eroberten Völkern im Laufe der Jahrhunderte aufgezwungen haben. Im XXI. Buch erklärt Montesquieu, dass die Araber ursprünglich von Natur aus zum Handel bestimmt waren. Zu einem kriegerischen Volk wurden sie, als sie sich im Grenzgebiet zwischen dem Reich der Römer und dem Reich der Parther befanden und von beiden Heeren als Hilfstruppen benutzt wurden. Als Mohammed einige Jahrhunderte später erschien, fand er demnach ein für den Krieg geeignetes Volk vor: „[E]r gab ihnen Enthusiasmus, und sie wurden Eroberer“ (Montesquieu EL XXI, 16, S. 634).21 Der Geist des Islam ist für Montesquieu ein „zerstörerischer Geist“ (Montesquieu XXIV., 4, S. 718), und der französische Denker scheint nicht zu glauben, dass es dem Islam jemals möglich sein wird, sich von diesem Geist zu befreien. Dieser zerstörerische Geist traf im VII. Jahrhundert auf ein Volk, den die Geschichte – und nicht unbedingt sein ursprüngliches Naturell – für sein Aufnehmen rezeptiv gemacht hatte. Dieser Geist diente fortan nicht mehr einer dem arabischen Volk fremden causa, sondern dieses Volk identifizierte sich mit dem Islam und wollte diesen über die ganze Welt ausbreiten. Ohne die Parthen und die Römer, so könnte man Montesquieus Gedanken zusammenfassen, wären die Araber ein Volk von Händlern geblieben und Mohammed hätte keine für ihn kämpfende Anhängerschaft gefunden. 21

Erinnern wir hier daran, dass das Wort „Enthusiasmus“ aus dem Griechischen stammt und mittels des griechischen Wortes „theos“ (Gott) gebildet wurde. Der Enthusiast ist, wörtlich, derjenige, den Gott in Besitz genommen hat.

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Von den Muslimen heißt es bei Montesquieu auch, dass die Wahrheit der Religion ihnen nicht in dem Sinne gleichgültig ist, dass sie es Menschen erlauben würden, eine andere Religion zu praktizieren (Montesquieu EL XXV, 15, S. 749). Die Muslime sind also intolerant, aber sie sind es nicht aus politischen, sondern aus religiösen Gründen. Sie bekämpfen andere Religionen nicht, weil diese eine Gefahr für die öffentliche Ruhe und den öffentlichen Frieden darstellen, sondern weil sie in ihren Augen falsch sind. Im XXV. Buch geht Montesquieu auch der Frage nach, was die Muslime so stark an ihre Religion bindet, was also bewirkt, dass, wie er es formuliert, die „Mohammedaner […] so gute Muslime sind“ (Montesquieu EL XXV, 2, S. 736). Es ist dies einerseits von der Tatsache ab, dass es Götzenanbeter und Christen gibt, denen gegenüber die Muslime sich als die einzigen wahren Diener des einen wahren Gottes betrachten können, die, weil sie solche Diener sind, auch die einzigen sind, die in der Gunst dieses Gottes stehen. Die Intensität des religiösen Glaubens der Muslime hängt demnach von der Existenz Andersgläubiger ab. Was hier von den Muslimen gesagt wird, gilt allerdings auch für andere Religionen. Der zweite Grund für die „Hartnäckigkeit“ (Montesquieu EL XXV, 2, S. 736) mit welcher die Muslime an ihrer Religion halten, trifft ebenfalls auf andere Religionen zu – und Montesquieu erwähnt in diesem Zusammenhang auch das Judentum. Dieser zweite Grund sind die Praktiken: Je mehr Rituale eine Religion ihren Gläubigen aufzwingt und je mehr diese Gläubigen diese Rituale vollziehen, umso größer wird das Gefühl der Verbundenheit sein, denn, so Montesquieu „man hält an den Dingen fest, mit denen man sich ständig abgibt“ (Montesquieu EL XXV, 2, S. 736). Insofern der Islam den Gläubigen vielerlei religiöse Pflichten auferlegt – von den fünf täglichen Gebeten bis zum Ramadan, nicht zu sprechen von den eher als Ratschlägen denn als strenge religiöse Pflichten aufzufassenden Handlungsanleitungen die man in den Schriften der Rechtsgelehrten findet –, bindet er sie fest an sich. Er wird, würde man heute sagen, zu einer das alltägliche Leben, und damit auch die persönliche Identität, strukturierende Religion. Die Muslime halten am Islam fest, weil der Islam sozusagen ein Teil ihrer selbst geworden ist. In seiner Kritik am Islam geht Montesquieu auch auf dessen theologisch-philosophische Dimension ein. Hinsichtlich der Frage nach der menschlichen Freiheit ist der Koran, euphemistisch gesagt, nicht deutlich.22 Während einige Passagen die Möglichkeit durchschimmern lassen, dass der Mensch ein freies Wesen ist, dessen Handeln den Lauf der Dinge zumindest mitbestimmen kann, legen andere Passagen nahe, dass Allah schon von aller Ewigkeit her alles bestimmt hat, so dass der Mensch eigentlich nur nach einem Szenario handelt, das er nicht mehr ändern kann. Ganz früh schon hat es in der muslimischen Welt hierüber Debatten gegeben, und auch wenn einige Denkrichtungen – wie etwa die Mutaziliten – der menschlichen 22

In den Pensées liefert Montesquieu erste Elemente einer historisch-kritischen Betrachtung des Korans, indem er etwa darauf hinweist, dass Mohammed die einzelnen Kapitel des Korans nach seinen eigenen Bedürfnissen vom Erzengel Gabriel, „der ihm treu zu Dienste stand“ diktieren ließ (Montesquieu P. 181). Diese Entstehungsprozedur erklärt auch, Montesquieu zu Folge, wieso derart viele Widersprüche im Koran zu finden sind, „so dass seine Sektierer zugeben, dass es deren fast 158 gibt, die man streichen müsste“ (Montesquieu P. 181).

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Freiheit einen Platz einräumten, blieben doch die eine solche Freiheit ausschließenden Richtungen in der islamischen Welt dominant.23 Sie prägten dementsprechend auch das Bild des Islams, das sich im XVIII. Jahrhundert in Europa durchsetzte. Im Islam, so die allgemein für wahr gehaltene These, geschieht alles nach dem Willen Gottes, und es bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Was demnach kommen muss, wird kommen, was auch immer die Menschen dagegen tun mögen – und selbst ihr, wenn man so sagen kann, Dagegentun ist von Gott gewollt, so dass sie nicht einmal die Möglichkeit haben, autonom zu bestimmen, wie sie sich verhalten werden. Eine fatalistische Weltsicht war natürlich nicht nur im Islam zu finden, sondern auch im Stoizismus und, in einem gewissen Maße auch im Christentum – dort vor allem im Protestantismus. Leibniz hat hierauf hingewiesen, um aber gleich diese drei verschiedenen Formen des Fatalismus bzw. die Konsequenzen die die Anhänger der betreffenden Denkrichtungen daraus ziehen voneinander zu unterscheiden (Leibniz 1969, S. 30 f.). Die Muslime, so Leibniz in den Essais de théodicée, tun überhaupt nichts und lassen die Dinge einfach geschehen. Da Gott ein- für allemal festgelegt hat, was geschehen wird, kann menschliches Handeln nichts auswirken. Also hat es ihnen zu Folge auch keinen Sinn, überhaupt zu handeln. Bei den Stoikern hingegen, handelt der Mensch trotz des Fatums bzw. trotz seines Glaubens an das alles bestimmende Fatum. Und das gilt auch für die Christen: Der Christ erfüllt seine Pflicht und stellt das Resultat Gott anheim. Auch wenn der Christ weiß, dass letztendlich Gott und nicht sein Handeln das Weltgeschehen bestimmt, so handelt er trotzdem, und zwar weil es seine Pflicht ist, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Den „faulen“ Muslimen werden bei Leibniz die „aktiven“ Stoiker und Christen entgegengestellt. Nachdem De l’esprit des lois heftig in den jansenitischen Nouvelles Ecclésias­ tiques angegriffen worden war, verfasste Montesquieu eine Verteidigung seines Hauptwerkes. Ein Angriffspunkt war der vermeintliche Fatalismus, den der Kritiker in einigen Aussagen Montesquieus wiederzufinden glaubte. Sprach Montesquieu nicht von unabänderlichen Gesetzen? Und war damit nicht gesagt, dass der Mensch nichts am Laufe der Dinge ändern kann, dass alles so sein musste, wie es war? Und roch das nicht nach Spinozismus? Montesquieu wird sich in der ‚Défense de l’esprit des lois gegen diese Angriffe wehren und den Vorwurf des Spinozismus – der damals insofern gefährlich war, als er einem Vorwurf des Atheismus gleichkam – verwerfen. Es wurde Montesquieu aber auch vorgeworfen, den Stoizismus gelobt zu haben. Da nun der Stoizismus aber eine fatalistische Weltsicht enthält, sieht Montesquieu sich auch mit dem Vorwurf konfrontiert, den Fatalismus gelobt zu haben. Dem hält Montesquieu entgegen, dass er nur die stoische Moral gelobt hat, da es sich um eine Moral handelt, aus 23

Zu dieser Frage, siehe die ausführliche Diskussion bei Bouamrane 1978. Während Bouamrane der Komplexität der Debatte und der sich entgegenstehenden Positionen gerecht wird, ohne ein eindeutiges Urteil über die Stellung des Islams zur Frage zu beziehen, behauptet Gardet, der Islam sei nicht fatalistisch (Gardet 1967, S. 40). Dabei muss man allerdings beachten, dass Gardet seine Aussage zunächst auf Gott selbst bezieht: Gott ist keinem außer ihm liegenden oder über ihm stehenden Fatum unterworfen, sondern ist als frei schaffendes Wesen zu denken.

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welcher viele Völker große Vorteile gezogen haben (Montesquieu EL, Défense I, II, 1, S. 1128–1129).24 Montesquieu hat also nur einen Teil des Stoizismus und nicht die ganze stoische Weltsicht gelobt, und er hat diesen Teil nicht wegen seiner intrinsischen Wahrheit gelobt, sondern wegen seiner nützlichen sozialen und politischen Konsequenzen. Und wie Montesquieu dann noch hinzufügt, hat er den Fatalismus der Stoiker gleich auf der ersten Seite seines Werkes verurteilt. Auf dieser ersten Seite hatte Montesquieu es als eine „große Absurdität“ beschrieben, von der Welt zu behaupten, sie sei nichts anderes als die Wirkung eines „blinden Schicksals“ (Montesquieu EL I, 1, S. 232). Ein solches blinde Schicksal könne nämlich keine intelligenten Wesen hervorbringen. Die Existenz intelligenter Wesen widerlegt somit die These eines blinden Schicksals. Von den Stoikern ist hier allerdings keine Rede und Montesquieu bleibt es seinen Lesern auf dieser ersten Seite schuldig zu sagen, wer die Denker sind, deren These er angreift, indem er sie als absurd bezeichnet. Ein Blick auf das schon dem Ursprungstext hinzugefügte Stichwortverzeichnis gibt uns aber Aufschluss, denn dort steht nicht nur das Stichwort „fatalité“, sondern „Fatalité des matérialistes“, und es folgt ein Hinweis auf Buch I, Kapitel 1, also genau auf die Passage, die in der Verteidigung als eine Verurteilung des Fatalismus der Stoiker bezeichnet wird. Montesquieus Angriff gilt übrigens eher der durch das Adjektiv als der durch das Substantiv bezeichneten Wirklichkeit, d. h. er legt mehr Wert darauf, den Charakter der Blindheit – der aus dem Materialismus folgt – als den der Schicksalhaftigkeit – die auch unabhängig von materialistischen Prämissen gedacht werden kann – zu bestreiten. Da die Stoiker keine Materialisten waren, kann Montesquieu demnach nicht behaupten, wie er es in der Verteidigung seines Werkes tut, er habe den Fatalismus der Stoiker gleich auf der ersten Seite verurteilt und widerlegt. Dort hat er lediglich den Materialismus und dessen Fatalismus angegriffen – wobei man fragen muss, ob man im Kontext des Materialismus nicht eher von einem Determinismus als von einem Fatalismus sprechen sollte. Wer die Stoiker liest, wird übrigens schnell feststellen, dass bei ihnen das Fatum nicht blind ist. Eine Stelle aus Marc Aurels Selbstbetrachtungen soll uns hier als Beweis genügen: „Wenn die Götter über mich und mein Geschick etwas beschlossen haben, so haben sie Gutes beschlossen; denn ein ratloser Gott ist nicht leicht denkbar; aus welchem Grund aber sollten sie mir weh tun wollen? Denn was könnte für sie oder für das Ganze, für das sie doch vorzüglich sorgen, dabei herauskommen? Wenn sie aber über mich im einzelnen nichts beschlossen haben, so haben sie zum mindesten über das Ganze im allgemeinen etwas beschlossen, und ich muss darum auch mein darausfolgendes Geschick willkommen heißen und liebgewinnen“ (Marc Aurel 1995, S. 77). Das Universum der Stoiker – zumindest der Stoiker aus der römischen Kaiserzeit – ist ein rationales Universum, eine durch die göttliche Vernunft geordnete Kosmopolis. Das Fatum der Muslime ist ebenso wenig blind wie dasjenige der Stoiker, bloß dass bei ihnen nicht die ratio summi Iovis das Schicksal der Individuen oder des 24

Ein ausführliches Lob der stoischen Moral findet sich übrigens im 10. Kapitel des XXIV. Buches.

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Ganzen bestimmt, sondern der Wille Allahs – wobei unter Theologen darüber gestritten wird, ob und inwiefern dieser Wille der Vernunft entspricht. Von den Muslimen wird verlangt, dass sie auf Allah vertrauen und dass sie demnach ihr Schicksal, wie es Marc Aurel formuliert hatte, „willkommen heißen und liebgewinnen“ sollen. Leibniz hatte, wie wir gesehen haben, darauf hingewiesen, dass die Stoiker trotz der Schicksalhaftigkeit ihre Pflicht taten, während die Muslime zur Faulheit neigten. Einen solchen Hang zur Faulheit der Muslime erwähnt auch Montesquieu: „Aus der Faulheit der Seele wird das mohammedanische Dogma der Vorherbestimmung geboren; und aus dem Dogma dieser Vorherbestimmung entsteht die Faulheit der Seele. Man hat gesagt: Das entspricht den göttlichen Dekreten, man soll also inaktiv bleiben“ (Montesquieu EL XXIV, 14, S. 724). Im vierzehnten Buch hatte Montesquieu schon diesbezüglich ein konkretes Beispiel gegeben, und er hatte dabei die Haltung der Christen mit derjenigen der Muslime kontrastiert (Montesquieu EL XIV, 11, S. 485). Montesquieu untersucht dort, wie christliche und muslimische Gemeinwesen auf die Pest reagieren. Die christlichen Nationen, so Montesquieu, machen Gesetze, um sich vor einer Ausbreitung der Pest zu schützen. Wenn nötig, stellen sie Truppen um ein betroffenes bzw. gefährdetes Land auf, so dass der Verkehr, und damit auch die Verbreitung der Krankheit, unterbunden werden. In ihren Augen ist die Ausbreitung der Pest also nicht unabwendbar. Ganz anders die Türken, die, so Montesquieu, nichts unternehmen, um der Ausbreitung entgegen zu wirken, da sie für sie unabwendbar ist: „Sie kaufen die Kleider der durch die Pest infizierten, ziehen diese Kleider an, und führen ihr normales Leben weiter. Die Lehre eines rigiden Schicksals, das alles regelt, macht aus dem Magistraten einen gelassenen Zuschauer: er denkt, dass Gott schon alles getan hat, und dass er nichts zu tun hat“ (Montesquieu EL XIV, 11, S. 485). Die „Faulheit“ findet sich also auf allen Ebenen wieder: Auf der Ebenen der Privatpersonen, die ihr Leben weiterleben, und auf der Ebene der politisch Verantwortlichen, die keine Maßnahmen treffen, die eine Ausbreitung der Pest verhindern könnten. Wenn Allah bestimmt hat, wann, wo und wie ein Individuum sterben wird, dann ist es an sich gleichgültig, ob man dieses Individuum Kleider mit Läusen tragen lässt, deren Bisse die Pest verbreiten können. Hat Allah bestimmt, dass das Individuum während der Pestepidemie sterben wird, dann wird es während der Pestepidemie sterben, welche Vorsichtsmaßnahmen man auch immer nehmen mag: Wenn es nicht durch die Pest stirbt, dann wird es durch etwas anderes sterben. Im großen Buch Allahs steht die Todesstunde eines jeden Menschen geschrieben, und keine menschliche Handlung kann auf den Inhalt dieses Buches wirken. Wenn das aber der Fall ist, dann wird der Magistrat davon absehen, irgendwelche Maßnahmen zu treffen, da diese absolut keinen Einfluss auf das Schicksal der Individuen haben werden.25 Hier wird ersichtlich, dass es Montesquieu nicht so sehr um die Wahrheit oder Falschheit der Schicksalslehre geht, sondern um ihre gesellschaftlichen Konsequenzen. Wer, wie die Muslime, an ein unabwendbares Schicksal glaubt – und hier 25

Hier wird man natürlich darauf hinweisen müssen, dass, wenn wirklich alles vorherbestimmt ist, der Magistrat eigentlich nichts anderes tun kann als das, was er tut.

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spielt es keine Rolle, ob man dieses Schicksal als blindes sieht oder nicht –, der wird sich mit allem abfinden, da es sowie müßig wäre Handlungen auszuführen, durch die man das Schicksal von sich abzuwenden hofft. Im XXIV. Buch hatte Montesquieu auf einen Teufelskreis hingewiesen: Aus der – etwa klimabedingten – Faulheit der Seele entspringt die Schicksalslehre, und der Glaube an diese Lehre bekräftigt die Seele in ihrer Faulheit.26 Um dem entgegenzuwirken, sind strenge Gesetze notwendig, d. h. Gesetze, die harte Strafen vorsehen: „Wenn die Religion das Dogma der Notwendigkeit der menschlichen Handlungen etabliert, dann müssen die gesetzlichen Strafen härter sein und die Polizei wachsamer“ (Montesquieu EL XXIV, 14, S. 724).27 Das sind aber Elemente, die viel eher zu einem despotischen als zu einem freien Staat passen. Insofern zeigt Montesquieu an dieser Stelle, dass der Islam, der, in seinen Augen zumindest, die Menschen zur Faulheit neigt, dem Despotismus förderlich ist. Für Montesquieu ist nicht nur das Klima Schuld an der Faulheit der Muslime: „Die Mohammedaner haben jeden Tag Beispiele so unerwarteter Ereignisse, so außergewöhnlicher Tatsachen und und von Wirkungen der willkürlichen Macht vor Augen, dass sie auf eine natürliche Weise dazu gebracht werden, an die Lehre eines rigiden Schicksals zu glauben, das alles lenkt. Unter unseren Klimas, wo die Macht gemäßigt ist, sind die Handlungen gewöhnlich den Regeln der Vorsicht unterworfen und was uns im Guten oder Schlechten geschieht, ist gewöhnlich die Wirkung unserer Weisheit. Wir haben also nicht den Gedanken eines blinden Fatums“ (Montesquieu P. 2157). Wo die Menschen der Willkür des Despoten ausgesetzt sind, wo sie überhaupt nicht voraussagen können, wie der Despot entscheiden und handeln wird, wo sie keine rationalen Erwartungen hegen können, weil immer das Risiko besteht, dass eine willkürliche Entscheidung des Despoten, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, diese Erwartungen durchkreuzt, verlieren die Menschen den Glauben an ihre Wirkmächtigkeit, und zwar nicht nur an ihre soziale oder politische Wirkmächtigkeit, sondern auch an ihre ontologische oder metaphysische Wirkmächtigkeit.28 Sie kommen somit zum Glauben, dass sie nichts am Gang der Dinge ändern können. Auch hier scheint Montesquieu keinen Wert auf den Unterschied zwischen dem absolut blinden Schicksal und dem durch einen Gott bestimmten Schicksal zu machen. Zu seiner Entlastung kann man eventuell sagen, dass wenn Gott gemäß voluntaristischen Prämissen gedacht wird – und Montesquieu scheint, und er hat nicht ganz Unrecht, vorauszusetzen, dass er im Islam so gedacht wird –, der Unter26

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Montesquieu hätte sich zumindest die Frage stellen, wieso die ersten Muslime ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um mit dem Schwert den Islam zu verbreiten. Wenn auch sie an das Fatum geglaubt hätten, hätten auch sie einfach gewartet: Hat Allah beschlossen, dass der Islam sich ausbreiten soll, dann wird er sich ausbreiten, ob man für ihn kämpft oder nicht; und hat Allah beschlossen, dass der Islam sich nicht ausbreiten wird, dann wird auch der Kampf für die Ausbreitung des Islams nichts am göttlichen Beschluss ändern können. Es muss aber vorausgesetzt werden, dass der Gesetzgeber anders denkt als der von Montesquieu eingeführte Magistrat, der die Pest als Schicksal hinnimmt und nicht handelt. Nur wer daran glaubt, dass man mittels Androhung harter Strafen auf das menschliche Handeln einwirken kann, wird Gesetze erlassen, die solche Strafen vorsehen. Siehe hierzu Campagna 2002.

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schied zwischen einem blinden und einem gottgewollten Schicksal so gut wie ganz verschwindet. Zwischen einem willkürlich handelnden Gott und einem willkürlich handelnden menschlichen Despoten gibt es dann keinen wirklichen Unterschied mehr. Der eine wie auch der andere kann bestrafen und belohnen, wen er will und wann oder warum er will, so dass es eigentlich keine Möglichkeit mehr für ein zweckrationales Handeln gibt. Wenn Gott willkürlich bestimmt hat, wen er belohnen wird, dann kann es gleichgültig sein, ob jemand die koranischen Gebote einhält oder nicht, denn sein Handeln kann keine Auswirkungen auf sein Schicksal im Jenseits haben. Ersetzt man allerdings die voluntaristische durch eine rationalistische Prämisse, dann kann das Schicksal nicht mehr als ein blindes bezeichnet werden. Aber es bleibt immer noch Schicksal und es ist nicht ersichtlich, wieso der Glaube an eine wohlwollende Vorsehung uns dazu bringen sollte, uns als metaphysisch freie Menschen zu denken. Wenn Gott mich zum Instrument seiner rational einsehbaren Zwecke macht, bleibe ich sein Instrument und mache das, wofür er mich bestimmt hat. Und wenn die Welt nach den zumindest prinzipiell durch die Vernunft einsehbaren göttlichen Zwecke geleitet wird und wenn im Voraus bestimmt ist, dass diese Zwecke sich auch verwirklichen werden, dann wird mein Handeln nichts an der Verwirklichung dieser Zwecke ändern können. Wenn Gott bestimmt hat, dass die Pest sich ausbreitet, weil er etwa die Menschen wegen ihrer Sünde bestrafen will – ein prinzipiell durch die Vernunft einsehbarer Zweck –, dann werden auch die besten Vorsichtsmaßnahmen nichts an der Ausbreitung der Pest ändern können und die Christen werden ebenso wenig Grund haben, solche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und für ihre Einhaltung zu sorgen, als die Muslime von denen bei Montesquieu die Rede ist. Man findet bei Montesquieu allerdings nicht nur negative Aussagen über den Islam. In den Pensées weist er darauf hin – und es wird bis zum XX. Jahrhundert dauern, bis die Gelehrten dieser Tatsache den ihr gebührenden Platz einräumen werden –, dass es die spanischen Mauren, also Muslime, waren, die das antike Wissen nach Europa brachten.29 Im Mittelalter war die islamische Welt der christlichen in wissenschaftlicher und intellektueller Hinsicht voraus. Der Kalif Harun al-Rashid, so Parrinder in einem eindrucksvollen, aber vielleicht doch etwas übertriebenen Vergleich, „studierte persische und indische Philosophie, während Karl der Große, sein Zeitgenosse im Westen, dabei war, seinen eigenen Namen schreiben zu lernen“ (Parrinder 1996, S. 166).30 Montesquieu hebt die Rolle hervor, die der Kalif Al-Mamun bei der Rezeption der Antike in der frühmuslimischen Welt gespielt hat. Dabei scheint er es aber zu 29

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Zu Rolle der Muslime für die Erhaltung des klassischen Erbes, siehe etwa d’Ancona Costa 1996. Kritisch Stellung zur These der Überlieferung durch die Mauren nimmt Gougenheim in einem Buch, das bei seinem Erscheinen zu einer hitzigen Debatte führte. Ohne zu leugnen, dass die Mauren an der Vermittlung des antiken Wissens beteiligt waren, vertritt Gougenheim die These, dass ihre Rolle nicht ausschlaggebend war und dass man keineswegs behaupten kann, die Mauren hätten dem christlichen Westen willen- und wissentlich das antike Erbe vermittelt. Meddeb übertreibt allerdings wenn er schreibt, der Islam sei „an den am nächsten gelegenen Rand des Kartesianiasmus, des Keplerismus, des Kopernikanismus, des Galileismus“ gekommen (Medded 2002, S. 30).

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bedauern, dass die Muslime „nie wieder das zurück nehmen wollten, das sie euch [sic !] gegeben haben“ (Montesquieu P 723).31 Er führt den Untergang der Wissenschaften in der muslimischen Welt auf den Untergang des Kalifats zurück.32 Dieser fand im XIII. Jahrhundert statt, als die Mongolen unter Dschingis Khan Bagdad eroberten und ihre Herrschaft über die östliche Welt des Islams etablierten – im Westen hatte die reconquista schon ihre ersten Teilerfolge zu verzeichnen. Montesquieu lässt hier die Frage offen, ob das Weiterbestehen des Kalifats den aufklärerischen Tendenzen in der muslimischen Welt die Möglichkeit hätte geben können, sich mit der Zeit durchzusetzen. Das Frankreich Ludwigs XIV. war für ihn ein Beispiel eines absolutistischen Staates, der die Wissenschaften und die Kultur im Allgemeinen unterstützte. Im XXIV. Buch geht Montesquieu der Frage nach, „wie die Gesetze der Religion die Defekte der politischen Verfassung verbessern“ (Montesquieu EL XXIV, 16, S. 726). So hat der Islam den arabischen Stämmen jedes Jahr eine viermonatige Waffenpause auferlegt – ähnlich dem Gottesfrieden im Christentum (Montesquieu EL XXIV, 16, S. 727). Montesquieu zitiert in diesem Zusammenhang auch eine Stelle aus dem Koran, in welcher der Prophet demjenigen ewige Qualen verspricht, der, nachdem er von einem Verbrecher eine Genugtuung für das erlittene Übel erhalten hat, diesem Verbrecher Gewalt antut (Montesquieu EL XXIV, 17, S. 727). Weit davon entfernt, nur ein Aufruf zur Gewalt oder zur Grausamkeit zu sein, ist der Koran auch ein Aufruf zur „Versöhnung“ (Montesquieu EL XXIV, 17, S. 727). Die vorislamische politische Verfassung der Araber33 war durch ungeordnete Gewalt gekennzeichnet. Die Religion brachte Ordnungselemente und legte dem willkürlichen Gebrauch von Gewalt Schranken auf. Man sollte dabei zwei Dinge voneinander unterscheiden, nämlich die Willkür und die Grausamkeit. Mögen auch viele Aspekte des islamischen Strafrechts uns – zu Recht – als grausam erscheinen, so sollte diese Grausamkeit nicht nur mit der – relativen – Milde unseres heutigen westlichen Strafrechts verglichen werden, sondern auch mit einem willkürlichen Strafrecht – falls eine willkürliche Strafpraxis es überhaupt noch verdient, als Recht bezeichnet zu werden. Das muslimische Strafrecht sieht zwar das Abschneiden der Hand im Falle eines Diebstahls vor, aber indem es diese Strafe vorsieht, schließt es jede andere Form von Gewalt gegenüber

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Es ist nicht ersichtlich, wieso „vous“ und nicht „nous“ im Text steht. Die Mongoleninvasion zieht eigentlich nur den Schlussstrich unter einen schon fast dreihundertjährigen Prozess. Dieser beginnt mit der Aufsplitterung des Kalifats ab dem IX. Jahrhundert: fortan gibt es nicht mehr nur das Kalifat der Abbassiden in Badgad, sondern auch dasjenige der Ommeyaden in Al-Andalus und dasjenige der Fatimiden in Ägypten. Und auch das Kalifat in Bagdad wird sich gegen Ende des IX. Jahrhunderts in ein Regime verwandeln, in dem der Kalif nur noch den Schein der Macht besitzt, während sie in Wirklichkeit in den Händen der Palastgarde liegt. Und der Begriff der politischen Verfassung ist hier wieder in einem rein faktischen Sinn aufzufassen, also etwa im Sinne von: die Art und Weise, wie die arabischen Stämme gewohnt waren, miteinander umzugehen bzw. die Art und Weise wie die Mitglieder eines solchen Stammes gewohnt waren, miteinander umzugehen.

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dem Verbrecher aus.34 Es obliegt demnach nicht der menschlichen Willkür zu entscheiden, wie man mit dem Verbrecher umgehen soll und welches Leiden man ihm zufügen wird, sondern die Höchststrafe, also die höchst zuzufügende Form von Leid, wird genau festgelegt. Insofern ist das islamische Strafrecht zwar grausam, aber es wirkt der menschlichen Willkür und dem spontanen Ausdruck der Leidenschaften, allen voran des Hasses, entgegen. Im dritten Buch von De l’esprit des lois schreibt Montesquieu in diesem Kontext: „Über das Volk muss gemäß den Gesetzen geurteilt werden, und über die Großen gemäß der Fantasie des Fürsten; das Haupt des letzten Untertanen soll in Sicherheit, das der Bachas soll stets ausgesetzt sein“ (Montesquieu EL III, 9, S. 259).35 Die Gesetze, auch wenn sie grausam sind, bieten dem Volk Sicherheit, und wenn man, wie Montesquieu es tut, die Sicherheit mit der Freiheit gleichsetzt, so wird man behaupten können, dass diese Gesetze dem Volk auch Freiheit geben. Diese Sicherheit genießen die Großen nicht.36 Dabei muss beachtet werden, dass die Untertanen und die Großen unterschiedliche Verbrechen begehen. Die möglichen Verbrechen der Untertanen werden im Koran aufgelistet und es wird jeweils eine bestimmte Strafe für das Begehen eines solchen Verbrechens festgelegt.37 Der Koran äußert sich aber nicht über das mögliche Komplottieren der Großen. Die Untertanen stellen keine unmittelbare Gefahr für den Kalifen dar, so dass er gemäß dem Gesetz über sie urteilen lassen kann. Die Großen stellen hingegen eine unmittelbare Gefahr für ihn dar, und dieser Gefahr kann er nur dadurch entgegenwirken, dass er nicht nur grausame Strafen für ein treuloses Handeln vorsieht, sondern auch willkürliche Strafen oder, allgemeiner, Maßnahmen. Das Volk muss sich nur vor dem Gesetz fürchten, weil der Kalif sich nicht vor dem Volk zu fürchten braucht. Die Großen müssen sich vor dem Kalifen fürchten, weil er sich auch vor ihnen fürchtet. Und damit sie sich mehr vor ihm fürchten als er vor ihnen, darf sein strafendes Handeln keiner Norm unterworfen sein, so dass, wie Montesquieu es erwähnt, einige Kadis gemeint haben, ein muslimischer Fürst nicht durch seine Versprechen gebunden sei, falls dadurch seine Autorität eingeschränkt würde.38 34 35

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Das sogenannte ius talionis entspricht einem Geist der Mäßigung im Strafen: Die Strafe darf keinen höheren Schaden zufügen als das Verbrechen. Die Strafe wird somit als Ausgleich verstanden. Im sechsten Buch behauptet Montesquieu, es gäbe kein Gesetz in den despotischen Staaten, so dass der Richter sich hier selbst die Regel gibt (Montesquieu EL VI, 3, S. 311). Montesquieu spricht hier vom Idealtyp des despotischen Staates und sieht davon ab, dass es in einem solchen Staat ein Gesetz geben kann, das den menschlichen Willen bindet und als Regel für den Richter fungiert. Ein bekanntes Beispiel ist hier die Hinrichtung des Ministers Jafar und seiner Familie durch den Kalifen Harun al Rashid im VIII. Jahrhundert. Zu dieser Thematik siehe Dakhlia 2005. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass die Richter sich auch so verhalten werden, wie sie sich verhalten sollten. So bemerkt Montesquieu, dass in der Türkei aufs Geratewohl geurteilt und bestraft wird, Hauptsache, der Prozess kommt zu einem Ende (Montesquieu EL VI, 2, S. 310). Diese Aussagen über den Islam müssen immer vor dem Hintergrund der Situation Frankreichs gesehen werden, u. a. vor dem Hintergrund des Konfliktes zwischen dem König und den Par­ lements. Befand sich der König in einer Situation der Schwäche, rangen ihm die Parlements einige Rechte ab. Befand der sich wieder in einer Situation der Stärke, behauptete er seine absolute Autorität und bestrafte manchmal sogar widerspenstige Mitglieder der Parlements. Aus

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Es gibt noch andere Stellen in seinem Hauptwerk, in denen Montesquieu auf die positive Rolle der Religion in einem despotischen Staat und spezifischer auf die Rolle des Islams in einem muslimischen despotischen Staat eingeht. So etwa im zweiten Buch, wo er implizit eine funktionale Äquivalenz zwischen der Religion in einem despotischen Staat und den Parlamenten des monarchischen Ancien Régime herstellt. Genauso wie die Parlamente Orte der Bewahrung der Gesetze und damit gleichzeitig Orte der Bewahrung einer bestimmten Stabilität und Dauerhaftigkeit sind, ist auch die Religion „eine Art Aufbewahrungsort“ (Montesquieu EL II, 4, S. 249). Da die französische Monarchie die Generalstände seit 1614 nicht mehr zusammenrief und das Volk somit keine Möglichkeit mehr hatte, im Rahmen der Institutionen auf die Politik einzuwirken, sahen sich die Magistraten der Parlamente als Hüter der Verfassung, d. h. der seit alters her anerkannten Freiheiten und Privilegien der Franzosen, die durch keine königliche Verordnung tangiert werden durften.39 Da es in einem despotischen Staat keine solchen Körperschaften gibt, die dem Willen des Herrschers nicht ihren eigenen Willen, sondern die über ihnen allen stehende Verfassung des Reiches entgegensetzen können, tritt die Religion mit ihren ewigen Wahrheiten an die Stelle der Verfassung. Ihre Sätze bilden den unabänderlichen Pol, den in der französischen Monarchie die Fundamentalgesetze des Königreiches bilden. Der religiöse Kode, so Montesquieu an einer anderen Stelle, ersetzt in einem despotischen Staat auch ein bürgerliches Gesetzbuch (code civil) (EL XII, 29, S. 456).40 Insofern man in einem idealtypischen despotischen Staat kein Gesetzesbuch findet, gibt es in ihm prinzipiell nichts, an dem die Menschen sich in ihrem alltäglichen Leben orientieren könnten und das ihnen dabei behilflich sein würde, ihre Rechte und Pflichten zu erkennen.41 Insofern der Wille des Despoten von einer Sekunde zur nächsten ändern kann, ist er als Maßstab nutzlos. Unter diesen

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der Sicht eines Ludwig XIV. oder eines Ludwig XV. waren die Parlements nur Rechtssprechungsorgane und es gebührte ihnen nicht, sich der königlichen Macht zu widersetzen oder ihr Grenzen zu setzen. Hinter der auf den ersten Blick demokratischen oder liberalen Rhetorik, verstecken sich die Interessen der sogenannten noblesse de robe, die ihre Privilegien verteidigen will. Vikor hat im Koran 350 Verse (von insgesamt 6200) identifiziert, die sich mit einer rechtsrelevanten Materie befassen und insofern als bürgerliches Gesetzbuch fungieren können. Von diesen 350 Versen regelt fast ein Drittel (140) rituale Fragen, ein Fünftel (70) befasst sich mit Heirat und Erbschaft und ebenfalls ein Fünftel (70) mit Verträgen und damit verbundenen Fragen. Es kommen dann 30 Verse, die sich mit Schuld und Strafe befassen, und weitere 30 in denen es um Gerechtigkeit, Zeugenaussagen und Rechte und Pflichten der Bürger geht. Die zehn Verse die noch übrig bleiben gehen auf ökonomische und soziale Fragen ein. Mehr als die Hälfte (180) dieser 350 Verse stehen nicht zur Diskussion, d. h. ihre Aussage wird als klar betrachtet und kann dementsprechend nicht interpretiert werden (Vikor 2005, S. 33). Charnay meint allerdings, dass es keine klaren Kriterien dafür gibt, welche Vorschriften des Korans man wortwörtlich anwenden muss, und welche interpretierbar sind (Charnay 2001, S. 64). Souverän wäre in einem solchen Kontext jene Instanz, welche die Unterscheidung zwischen Normen macht, für die eine Interpretation ausgeschlossen ist, und solchen bei denen eine Interpretation zulässig ist. Im Falle der rein moralischen Rechte und Pflichten, könnte man die natürliche Vernunft als Richtschnur nehmen.

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Umständen kann es nützlich sein, eine religiöses Gesetzbuch zu haben, das diese Rechte und Pflichten festhält: „Es ziemt sich, dass es irgendein heiliges Buch gibt, das als Regel gilt, wie der Koran bei den Arabern, die Bücher des Zarathustra bei den Persern, die Veden bei den Indern, die klassischen Büchern bei den Chinesen“ (Montesquieu EL XII, 29, S. 456). Nicht jeder religiöse Kode ist allerdings in der Lage, ein bürgerliches Gesetzbuch zu ersetzen. Das Alte Testament oder der sich stark an das Alte Testament orientierende Koran taugen viel eher dazu, als etwa das Neue Testament. Auch wenn man im Koran vergeblich nach verfassungsrechtlichen Normen sucht, so wird man dort fündig, wenn man nach straf-, ehe- oder vertragsrechtlichen Normen sucht, bzw. nach Normen, die für das Straf-, Ehe-, oder Vertragsrecht relevant sein können. Es sind diese Normen, die die Sharia bilden, und an sie ist auch der despotische Fürst gebunden.42 An und für sich ist der idealtypische Despot zwar von jeder normativen Bindung frei, aber diese absolute Freiheit, so Montesquieu, ist zugleich auch der ihm innewohnende Grund für seinen Untergang. Während Monarchien und Republiken nicht durch eine ihnen wesentliche Schwäche untergehen, sondern durch akzidentelle Ursachen, leidet der Despotismus an einer ihm wesentlichen Schwäche und kann nur durch akzidentelle Ursachen überleben. Dazu gehören „Umstände die aus dem Klima, der Religion, der Lage oder dem Genie des Volkes fließen, und die ihn dazu zwingen, irgendeiner Ordnung zu folgen und irgendeine Regel zu erleiden“ (Montesquieu VIII, 10, S. 357). Eine Entität, welche es auch immer sein mag, kann sich nur dann auf Dauer bewahren, wenn sie nach einer Regel handelt, was nichts anderes heißt, als dass sie ein Maß anerkennt, mag dieses auch ein Mindestmaß sein. Der muslimische Despot muss, als muslimischer Despot, den Koran anerkennen und er muss die im Koran enthaltenen Rechtsgrundsätze respektieren. Der Koran ist seiner Willkür entzogen und bindet diese Willkür an bestimmte Regeln.43 Lässt man den Gedanken fallen, dass der Kalif der unmittelbarer Vertreter Gottes ist und ebenso unmittelbar von Gott inspiriert wird, so entsteht ein vakanter Platz neben der Autorität des Kalifen. Diesen Platz haben die Rechtsgelehrten, die Ule­ mas, für sich beansprucht. Die Sunna (Koran und Hadithe), so Crone und Hinds, können in dieser Hinsicht als eine dreifache Untergrabung der kalifalen Autorität betrachtet werden (Crone/Hinds 2003, S. 58). Erstens etablieren sich die Ulemas gegenüber dem Kalifen als rechtmäßige Ausleger der Sunna. Zweitens beinhaltet die Sunna eine beträchtliche Anzahl konkreter Normen, die den Kalifen weitaus stärker binden als allgemeine Floskeln. Und drittens steht die Sunna dem Kalifen nicht zur Verfügung, d. h. er darf sie nicht ändern.44 Ein sic volo, sic jubeo, stat pro ratione voluntas ist also hier nicht denkbar, zumindest nicht in einem absoluten 42 43 44

Rémy Brague meint sogar, dass die Sharia den Kalifen als Gesetzgeber in religiösen Angelegenheiten nutzlos gemacht hat (Brague 2005, S. 310). Der Kalif, so Lewis, ist der Beschützer und Bewahrer des Gesetzes, und er ist diesem Gesetz „nicht weniger unterworfen als der kleinste seiner Untertanen“ (Lewis 1988, S. 54). Die Sunna könnte in dieser Hinsicht mit den Ewigkeitsnormen des Deutschen Grundgesetzes verglichen werden.

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Sinn. Der Wille des Kalifen kann sich nur über das erstrecken, worüber die Sunna keine klaren Anweisungen gibt.45 Im 25. Buch kommt Montesquieu noch einmal auf die Problematik der Gebundenheit des Kalifen zurück und bemerkt dort zunächst, dass in einer Monarchie die weltliche und die geistliche Macht voneinander getrennt sein sollten (Montesquieu EL XXV, 8, S. 743). Die Notwendigkeit einer solchen Trennung gilt aber nicht für einen despotischen Staat. Zur Idee eines solchen Staates gehört nämlich, dass die gesamte Macht in den Händen des Despoten konzentriert ist, so dass der Despot also zugleich der Inhaber der weltlichen und der religiösen Macht ist. Aber, sagt Montesquieu, „in einem solchen Fall könnte es vorkommen, dass der Fürst die Religion als seine eigenen Gesetze ansieht, als Wirkungen seines Willens“ (Montesquieu EL XXV, 8, S. 743). Wäre dies der Fall, dann könnte die Religion ihre die Willkür des Despoten beschränkende Rolle nicht mehr spielen. Soll sie diese Rolle noch weiter spielen, dann muss es „Monumente der Religion [geben]; z. B. heilige Bücher die sie festlegen und etablieren. Der König von Persien ist der Chef der Religion, aber der Koran regelt die Religion; der Kaiser von China ist der höchste Pontifex, aber es gibt Bücher, die sich in den Händen aller befinden, denen er selbst sich anpassen muss. In einem vergeblichen Versuch wollte ein Kaiser sie abschaffen, sie triumphierten über die Tyrannei“ (Montesquieu EL XXV, 8, S. 743).46 Montesquieu ist selbstverständlich nicht derart naiv, dass er glaubt, es seien es im wahrsten Sinn des Wortes die Bücher gewesen, die über die Tyrannei triumphierten. Es waren vielmehr die Gläubigen, die sich auf diese Bücher beriefen und die sich dem Despoten widersetzten, als dieser jene Normen abschaffen wollten, die wie eine Insel der Dauerhaftigkeit aus einem Ozean der Wechselhaftigkeit herausragten und damit zugleich auch eine gewisse Sicherheit in einer ansonsten absolut unsicheren Welt lieferten. Die Gläubigen setzten den Gehorsam gegenüber Gott über den Gehorsam gegenüber dem Fürsten47 und gaben letzteren auf, sobald der Fürst sich das Recht nehmen wollte, etwas an der Religion zu ändern bzw. sie sogar ganz abzuschaffen.48 45

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Verschiedene Autoren wollen ihn noch weiter binden. So meint etwa der frühislamische Jurist al-Mawardi, „der Souverän [habe] kein Recht, die wohlüberlegten Entscheidungen seiner Vorgänger außer Kraft zu setzen“ (al-Mawardi 2000, S. 193). An einer anderen Stelle meint alMawardi sogar, der Souverän habe nicht das Recht, bestimmte Entscheidungen seiner Minister außer Kraft zu setzen (al-Mawardi 2000, S. 27). Zu dieser Problematik, siehe auch Pangle 2010, S. 34 ff. Eine Ansicht die man auch in Europa zur Zeit der Reformation fand. Im Kontext der – zum Teil auch – durch die Reformation hervorgerufenen bzw. in ihrem Kontext ausgebrochenen Religionskriege entstand dann in Europa, vornehmlich in Frankreich, die Lehre des politischen Absolutismus, der einen Widerstand der Untertanen kategorisch ausschloss. Man findet einen solchen Übergang auch im Islam, vor allem ab dem XIV. Jahrhundert, als der Islam nur noch von seiner einstigen Größe träumen konnte und nicht noch weiter auf dem Weg des Untergangs – der u. a. durch interne Kriege und Rivalitäten gekennzeichnet war – schreiten wollte. Dazu Abbès 2009, S. 164 f.). Ein solcher Widerstand lässt sich allerdings nicht mehr, oder zumindest nicht mehr so leicht, legitimieren, wenn der Fürst seine politische Autorität als göttliche Delegation rechtfertigte, wie es, laut Lambton, die ersten Abbassiden taten (Lambton 1981, S. 309). Die theoretische Grundlage hierfür wurde u. a. von Ibn al-Muqaffa ausgearbeitet (Al-Jabri 2007, S. 289). Doch

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Wenn Montesquieu demnach behauptet, dass der Fürst auch der pontifex maxi­ mus ist, so bedeutet das nicht, dass jeder Widerstand gegen ihn ausgeschlossen ist und dass ihm das Recht zugestanden wird, die Religion nach seinem eigenen Willen zu gestalten. Eine Religion wie der Islam, d. h. eine Religion mit einem Buch in dem verbindliche Normen enthalten sind, von denen behauptet wird, dass Gott sie selbst erlassen hat, steht dem Fürsten nicht zur Verfügung. In diesem Sinne impliziert der Islam eine Theokratie, eine Staatsform, in der Gott allein die souveräne gesetzgebende Macht zukommt.49 Das schließt nicht aus, dass auch die Menschen Gesetze machen dürfen, aber die gesetzgebende Macht der Menschen darf nie in Widerspruch zu den göttlichen Gesetzen treten. In dieser Hinsicht muss man den Islam vom Katholizismus unterscheiden. Im Gegensatz zum Katholizismus kennt der Islam – nach dem Tod des Propheten – keine unfehlbare interpretatorische irdische Instanz, der nicht widersprochen werden darf.50 Wenn also auch der muslimische Despot der Chef, wie Montesquieu sagt, der Religion ist, so ist er doch nicht dessen alleiniger und höchster Interpret.51 Hätte Montesquieu sich mit den Debatten in der islamischen Welt um die erste Jahrtausendwende befassen können, dann hätte er festgestellt, dass dort heftig um den Besitz der rechtlich-religiösen Macht gestritten wurde. Wie Ibish schreibt: „Wenn

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auch Ibn al-Muqaffa behauptet in einer im VIII. Jahrhundert verfassten Risala, dass man ein Recht zum Ungehorsam hat, wenn der Imam etwa das Beten verbietet (al-Muqaffa 1976, S. 26). Ein Teil der Debatte drehte sich darum, ob man die Kalifen als Vertreter des Propheten oder als Vertreter Gottes betrachten sollte. Im ersten Fall standen sie unmittelbar mit Gott in Verbindung und besaßen grundsätzlich dieselbe Autorität wie der Prophet. Im zweiten Fall standen sie nicht mit Gott in Verbindung und unterstanden den göttlichen Gesetzen (dazu Crone 2004). Die Theorie des Imam-Propheten findet man etwa bei Al-Farabi (dazu Campagna 2010a). Zur Entwicklung der Fürstenspiegelliteratur im frühen Islam, siehe Campagna 2012b. Wenn Mozzafari behauptet, der Schiismus trete für eine Theokratie ein, die durch den Respekt des Korans und der Sunna gemäßigt wird (Mozzafari 1998, S. 307), so verwechselt er einerseits Theokratie und Klerokratie und andererseits Staatsform und Regierungsform. Im schiitischen Iran spielt der Klerus eine wichtige politische Rolle und stellt u. a. den Staatspräsidenten, aber dieser Klerus muss sich an den Koran und die Sunna halten. Der Iran ist von der Staatsform her eine Theokratie, von der Regierungsform her eine Art gemäßigter Klerokratie. Auch Rosenthals Gegenüberstellung von Theokratie und Nomokratie muss nuanciert werden. Rosenthal zu Folge sehen die orthodoxen Muslime die Theokratie als ideale Staatsform, wohingegen die Philosophen die Nomokratie als ideale Staatsform betrachten (Rosenthal 1971, S. 25). Insofern Gott das Gesetz ist, kann diese Gegenüberstellung nicht mehr gemacht werden. Wie Mozzafari, scheint auch Rosenthal Staatsform und Regierungsform miteinander zu verwechseln. Die Nomokratie ist der Klerokratie gegenüber zu stellen, nicht der Theokratie. Finer trifft den Nagel auf den Kopf und zeigt auch mit dem Finger auf das Problem: „Im Prinzip sollte die islamische Gemeinschaft nichts anderes als eine Nomokratie sein – eine Regierung durch die (göttlichen) Gesetze und nicht durch die Menschen […] Da der göttliche Nomos nicht spricht, fiel es einer menschlichen Instanz zu, genau zu sagen, was es sagte; und es war wiederum eine menschliche Instanz, die ihm Wirksamkeit geben musste“ (Finer 1997, S. 685). Die Rede von der Herrschaft des Gesetzes – oder auch der Herrschaft Gottes durch seine Gesetze – verbirgt die Tatsache, dass das Gesetz und Gott immer Menschen brauchen, die in ihrem Namen sprechen. Insofern ist jede Herrschaft letztendlich eine Herrschaft von Menschen über Menschen. Der schiitische Islam hat allerdings einen Platz für die Unfehlbarkeit des obersten Imam. Der Kalif, so Arnold, hat keine spirituelle Macht, die ihn von allen anderen Gläubigen unterscheidet und ihn über sie setzt (Arnold 2006, S. 17).

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die Buwaihiden das Schwert hielten und von ihren Truppen unterstützt wurden, hielten die Kadis die Sharia und wurden durch die Massen unterstützt“ (Ibish 1966, S. 50).52 Und wie es an einer anderen Stelle des Buches heißt: „Obwohl man dem Imam gehorchte, so galt doch der letzte Gehorsam des Muslims der Sharia“ (Ibish 1966, S. 147).53 Wenn aber die Kadis die Sharia hielten, dann galt der letzte Gehorsam der Muslime den Kadis.54 Und um noch einmal Ibish zu zitieren: „Sollte [der Imam] abweichen, wird die Umma ihn von seinem Irrtum abwenden und ihn an das richtige Verhalten erinnern. Aber wenn er Handlungen ausführt die seine Absetzung notwendig machen, wird er abgesetzt und man unterwirft sich einem anderen“ (Ibish 1966, S. 99).55 Mikhail hat in dieser Hinsicht nicht ganz Recht, wenn er behauptet, das religiöse Gesetz erlaube keine Kritik der Politik, da in der Sharia nichts über die Regierung steht (Mikhail 1995, S. 46). Recht hat Mikhail mit dem zweiten Teil der Behauptung: Die Sharia enthält keinerlei Anweisungen über die beste Regierungsform und sie sagt auch nichts aus über irgendwelche Prozeduren zur Erlangung der politischen Macht.56 Aber insofern die Sharia ein göttliches Gesetz ist und göttliche Gesetze für alle Menschen verbindlich sind, kann man prinzipiell anhand der Sharia eine muslimische Regierung kritisieren, welche sich über die Gebote und Verbote der Sharia hinwegsetzt.57 Wie Boulaabi festhält, legten die muslimischen Theologen immer weniger Wert auf die Erlangung der politischen Macht bzw. auf das Befolgen bestimmter gesetzlicher Prozeduren für die legitime Erlangung dieser macht, und sie gaben sich damit zufrieden, dass der Herrscher – mag er auch durch Gewalt an die Macht gekommen sein – die Sharia achtete und den Jihad praktizierte (Boulaabi 2005, S. 247). Es war dies eine sozusagen pragmatische Lösung durch die man sich erhoffte, unendlichen Machtkämpfen zu entkommen, wie man sie um 650 gekannt

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Die Buwaihiden kontrollierten ab dem ausgehenden X. Jahrhundert das Kalifat von Bagdad. Die Kalifen waren lediglich Marionetten in den Händen der – schiitischen – buwaihidischen Palastgarde. Dazu etwa Halm 1995, S. 55. Im heutigen Sprachgebrauch ist der Imam lediglich ein Gebetsvorsteher. In der frühislamischen Zeit – und auch noch im schiitischen Islam – bezeichnete das Wort „Imam“ auch den politischen Herrscher. Die Kadis sind religiöse Richter die das göttliche Gesetz repräsentieren. Sie fällen ihre Urteile in der Moschee. Neben dem Kadi gibt es aber noch den Sahib al­Mazalim. Dieser ist ein weltlicher Richter der das Gesetz des Kalifen anwendet, aber ohne dabei gegen die Sharia zu verstoßen (Coulson 1995, S. 126). Die Ulemas, so Safran, respektierten zwar den Kalifen, erinnerten ihn aber zugleich daran, dass die Sharia souverän ist und dass er ihnen in allen religiösen Angelegenheiten zuhören sollte (Safran 2000, S. 44–45). Laut al-Satibi, einem muslimischen Gelehrten des XIV. Jahrhunderts, schützt die Sharia fünf Grundgüter: Religion, Leben, Nachwuchs, Eigentum, Verstand (Rohe 2009, S. 16). Zu diesen geschützten Grundgütern, siehe auch Ferjani 2005. Man hat ebenfalls versucht, völkerrechtliche Elemente – Umgang mit nicht-islamischen Gemeinschaften des Buches, Behandlung der Kriegsgefangenen, … – in die Sharia zu integrieren (dazu Khadduri 1984, S. 164). Für einen guten Überblick über – vornehmlich zeitgenössische – Staatsverständnisse in der arabischen Welt, siehe Zapf 2016.

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hatte, als Ali und Muawwya sich um das Kalifat zerstritten und zu einer Spaltung des Islams in Sunniten und Schiiten führten. Will man dem von Montesquieu noch kurz angedeuteten und nie gründlich durchdiskutierten Problem der antidespotischen Tendenzen im Islam gerecht werden, muss man den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten beachten. Man findet nämlich, so Campanini, „eine gewisse Tendenz des schiitischen Establishment, eine Art von ‚Klerus‘ zu bilden, von privilegierter Klasse der eine große Macht zugestanden wird, sich in religiöse und dann vor allem in staatliche Angelegenheiten einzumischen“ (Campanini 1999, S. 102). Solange Mohammed lebte, gab es im Islam keinen Konflikt zwischen religiöser und politischer Autorität, da Mohammed das Beispiel des idealen Herrschers war, eines Herrschers, der mit Gott in Verbindung stand. Die Offenbarung hat aber mit Mohammed aufgehört, und für den Islam stellte sich die Frage, wer oder was die Rolle Mohammeds übernehmen sollte. Für den sunnitischen Islam, so Sachedina, konnte es nur das schon geoffenbarte Wort sein, also der Koran, für den schiitischen Islam kamen aber neben dem Koran auch die Schriftgelehrten in Frage (Sachedina 1988, S. 34). Es genügt offenbar nicht, die Souveränität des Korans zu behaupten und dann so zu tun, als ob man das Problem eines radikal maßlosen, und dadurch sich selbst zerstörenden Despotismus gelöst hätte. Mag der Koran – und die Hadithe – auch das Maß liefern, so bedarf es einer Instanz, welche dieses Maß anlegt, das Ergebnis prüft, dieses Ergebnis kundtut, und dann gegebenenfalls Konsequenzen zieht. Wer diese Instanz sein soll, ist alles andere als klar. Klar scheint nur zu sein, dass man sich nicht damit abfinden kann, den Gemessenen zur messenden Instanz zu machen, den weltlichen Herrscher also selbst darüber entscheiden zu lassen, was göttliches Recht ist und wie dieses Recht ausgelegt und angewendet werden soll. Wenn wir am Schluss dieser Ausführungen noch einmal auf Montesquieu zurückkommen, so lässt sich sagen, dass er erkannt hat, dass eine Religion wie der Islam, insofern dieser an Normen festhält, die dem menschlichen Gesetzgeber entzogen sind und die ihn binden – so dass er sie weder außer Kraft setzen, noch abschaffen, noch interpretieren, noch ihnen zuwiderhandeln kann –, einen Raum für persönliche Sicherheit und damit auch für Freiheit schafft. Allerdings ist dieser Raum relativ klein und außerdem rein theoretisch. Zumindest bleibt er theoretisch, solange nicht gesagt wird, welche irdische Instanz dafür zuständig ist, den Respekt der Normen zu bewirken und damit die Untertanen vor der Willkür zu schützen. KAPITEL 2: TOCQUEVILLE UND DER ISLAM Als Tocqueville 1835 seinen ersten Band der Démocratie en Amérique veröffentlicht und sich damit u. a. den Weg zu einer politischen Karriere ebnet, sind es knapp acht Jahre her, dass der Dey von Algiers einen Vertreter der französischen Regierung geschlagen, und somit Frankreich den Anlass gegeben hat, seinen Machtbereich in Richtung Süden zu erweitern und, wie Großbritannien es damals schon längst war, zu einer Kolonialmacht zu werden. 1830 fällt Algiers in die Hände der

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Franzosen. In dem folgenden Jahrzehnt debattiert man in Frankreich darüber, ob man sich mit der Besetzung der Küstengebiete zufrieden geben, oder ob man auch den Rest des Landes erobern sollte. Vor allem nachdem Abd-el-Kader sich an die Spitze einer organisierten bewaffneten Gegenmacht gestellt hat, bleibt den Franzosen nichts anderes übrig, als auch das Hinterland, von dem aus die Einheimischen operieren, zu besetzen. Auch das gebirgige Kabylien fällt unter französische Herrschaft. Frankreich erstreckt sich nun, und wird es über ein Jahrhundert lang tun, von Dunkerque an der Nordseeküste bis nach Tamanrasset, im äußersten Süden Algeriens. Frankreich hat damit eine Kolonie in Nordafrika, von welcher aus es andere Gebiete Afrikas kolonisieren kann. Als Tocqueville seine politische Karriere in der zweiten Hälfte des dritten Jahrzehnts des XIX. Jahrhunderts beginnt, ist die Situation Algeriens ein in Frankreich heiß umstrittenes Thema, und der Autor der Démocratie wird sich an dieser regen Diskussion beteiligen und einer ihrer Hauptakteure sein. Auf seine zwei Briefe über Algerien aus dem Jahr 1837, folgen, zehn Jahre später, mehrere Berichte über Algerien, die u. a. auf zahlreichen Notizen beruhen, die Tocqueville in den Jahren zwischen der Niederschrift dieser Texte zu Papier gebracht hat. In der Abgeordnetenkammer greift er außerdem mehrmals in die Debatten um außerordentliche Kredite für Algerien ein. Algerien war ein Thema, das ihm am Herzen lag, vor allem weil es, als französische Kolonie, ein sichtbares Symbol der Größe der grande nation war, aber auch weil sich im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung zeigen konnte, wie eine moderne, den Werten des Republikanismus verschriebene Nation, mit Menschen umging, die zwar einer anderen Religion und Kultur angehörten, die aber trotzdem zu Frankreich gehörten. Tocqueville wird mehrere Wochen in Algerien verbringen und sich dort ein genaues Bild der Situation machen können. Die Kolonisierung Algeriens durch Frankreich stellt er in keinem Augenblick in Frage. Vielmehr legitimiert er sie im Namen der Interessen und des Ruhmes Frankreichs. Die einheimische Bevölkerung ist in seinen Augen noch kaum zivilisiert und kann in dieser Hinsicht nur von der Präsenz der Franzosen profitieren, bringen diese doch die Früchte einer großen Zivilisation. Die Politik der verbrannten Erde, mit welcher die Franzosen auf den Widerstand Abd-el-Kaders reagieren, ist für ihn, trotz ihrer Grausamkeit, auch berechtigt. Tocqueville spricht sich auch für den Versuch aus, verschiedene Stämme die Abd-el-Kader noch treu sind durch Versprechen zu gewinnen und damit den Gegner zu schwächen. Im Kampf gegen die Feinde Frankreichs ist jedes Mittel gerechtfertigt, und man sucht bei Tocqueville vergeblich nach einer entschiedenen moralischen Verurteilung der französischen Kriegsführung. Tocquevilles Auseinandersetzung mit dem Islam steht in Zusammenhang mit seinem Interesse für die Kolonisierung Algeriens durch die Franzosen.58 Für Tocqueville steht fest, dass die Kolonisierung eines muslimischen Landes nur dann langfristig erfolgreich sein kann, wenn man die Muslime versteht. Und die Muslime wird man nur dann verstehen können, wenn man, soweit das für einen Nicht58

In einem Brief an Gobineau vom 22. Oktober 1843 sagt er selbst, dass sein Studium des Korans „vor allem unserer Position gegenüber den muslimischen Bevölkerungen Algeriens und im gesamten Orient“ zu verdanken sei (Tocqueville OC IX, S. 69).

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Muslimen möglich ist, in ihre geistige Welt eintaucht. Letztere ist wiederum weitgehend durch den Koran bestimmt. Tocquevilles Koran-Lektüre entstammt somit keinem rein akademischen, sondern einem primär politischen Interesse. In einem Brief vom 22. April 1838 teilt Tocqueville seinem Freund Gustave de Beaumont mit, dass er den Koran gelesen hat (Tocqueville OC VIII, 1, S. 193). Schon einen Monat früher hatte er Louis de Kergorlay in einem Brief mitgeteilt, er sei seit einigen Tagen dabei, ein Buch über das Leben Mohammeds sowie den Koran zu lesen (Tocqueville OC XIII, 2, S. 28). Bei dieser Lektüre hat Tocqueville die wichtigsten Ideen des Korans in einer Art Zusammenfassung festgehalten, wobei seine Notizen nur einen kleinen Teil des zweiten Bandes der von ihm benutzten zweibändigen Übersetzung des Korans umfassen. Die Notizen brechen beim Kapitel, d. h. der Sure, XIX ab (Tocqueville OC III, 1, S. 154–162). Es ist nicht auszumachen, ob Tocqueville lediglich aufgehört hat, Notizen zu machen, oder ob er auch an diesem Punkt seine Lektüre des Korans abgebrochen hat. Wie kein anderer, hat Tocqueville den Nutzen gesehen, den Abd-el-Kader aus dem religiösen Glauben seiner Landsleute ziehen konnte und den er auch tatsächlich daraus gezogen hat: „In all seinen äußeren Taten zeigt sich der Fürst weit weniger als der Heilige: Er versteckt sich andauernd hinter dem Interesse der Religion für welche er, so sagt er, handelt; er befiehlt und verurteilt als Interpret des Korans und mit dem Koran in der Hand; er predigt die Reform ebenso wie den Gehorsam; seine Demut wächst mit seiner Macht. Der religiöse Hass, den wir einflößen, hat ihn geschaffen, hat ihn wachsen lassen, hält ihn an der Macht; ihn zu löschen hieße, auf seine Macht zu verzichten“ (Tocqueville OC III, 1, S. 220). Abd-el-Kader, so Tocqueville, ist ein „muslimischer Cromwell“, eine Mischung aus „ehrlichem Enthusiasmus und vorgegaukeltem Enthusiasmus“ (Tocqueville OC III, 1, S. 220). Man könnte diese letzte Bemerkung so verstehen, dass Abd-el-Kader ein ehrlicher nationalistischer59 Enthusiast ist und ein vorgegaukelter religiöser Enthusiast. Für seine Landsleute ist Abd-el-Kader ein Verteidiger der Religion, ein Heiliger, der sich selbst so darstellt, als stehe sein gesamtes Handeln einzig und allein im Dienste der Religion. Für Tocqueville ist dies allerdings nur alles vorgespielt. Abd-el-Kader hat eingesehen, dass die vielen einheimischen Stämme nur eines gemeinsam haben: Die Religion des Islam. Will man demnach diese Stämme für eine gemeinsame Aktion gewinnen, muss man auf die Religion zurückgreifen. Und da die Franzosen Christen sind, fällt es Abd-el-Kader leicht, die religiösen Leidenschaften der Einheimischen zu wecken. Wenn man ihnen zeigen kann, dass die Franzosen den Islam zerstören wollen, dann werden sie sich zu seiner Verteidigung zusammenschließen. Die Macht Abd-el-Kaders beruht, wie Tocqueville es sagt, allein auf dem religiösen Hass der algerischen Muslime gegenüber den französischen Christen, so dass die Franzosen gut daran täten, diesen religiös bedingten 59

Damit soll nicht gesagt werden, dass Abd-el-Kader sich zum Gedanken einer algerischen Nation bekannte, die es im Kampf gegen Frankreich zu verteidigen galt. Abd-el-Kader geht es lediglich darum, die Franzosen zu vertreiben – und sich im Anschluss daran als legitimer Herrscher über die zahlreichen Stämme anerkennen zu lassen. Neben dem Enthusiasmus findet man auch eine gute Portion Machtwillen.

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Hass nicht noch weiter zu schüren. Wie Tocqueville in seinem zweiten Brief über Algerien aus dem Jahr 1837 durchblicken lässt: „Es ist uns also erlaubt zu glauben, dass wenn es uns immer besser gelingen wird zu beweisen, dass unter unserer Herrschaft oder in unserer Nachbarschaft der Islamismus60 nicht in Gefahr ist, dann werden die religiösen Leidenschaften ganz erlöschen und wir werden in Afrika nur politische Gegner haben“ (Tocqueville OC III, 1, S. 152). Mit religiös motivierten Gegnern ist kein Kompromiss möglich, da absolute Werte, wie sie für die Religion kennzeichnend sind, nicht verhandelbar sind. Ein Krieg gegen solche Gegner kann nur die Form eines absoluten, keiner Norm unterworfenen Krieges annehmen. Der religiöse Gegner ist immer Gegenstand des Hasses. Und dieser Hass kennt keine moralischen Grenzen.61 Unter diesen Umständen müssen die Franzosen sich einer jeden Handlung enthalten, die von den Muslimen als islamfeindlich angesehen werden könnte, da man mit solchen Handlungen Abd-el-Kader in die Hände spielt. Die französische Politik muss derart gestaltet sein, dass die algerische Bevölkerung in keinem Augenblick den Eindruck bekommt, es ginge den Franzosen darum, den Islam auszumerzen und aus Algerien ein christliches Land zu machen. Die algerische Bevölkerung wird sich, so scheint Tocqueville vorauszusetzen, eines Tages mit dem Gedanken abfinden, dass Algerien eine französische Kolonie ist. Aber die Aussicht, dass der Islam eines Tages dem Christentum weichen wird, ist für sie inakzeptabel. Die religiöse Identität sitzt hier viel tiefer als eine nur ansatzweise, wenn überhaupt, vorhandene nationale Identität. In diesem Zusammenhang verurteilt Tocqueville im Rahmen einer 1847 gehaltenen Rede vor der Abgeordnetenkammer einen Aspekt der französischen Politik in Algerien und spricht von einer „ungerechten und unpolitischen“ Maßnahme (Tocqueville OC III, 1, S. 421). Unter dem Vorwand, die Ausgaben der muslimischen Stiftungen zu kontrollieren und deren finanzielle Verwaltung rationaler zu gestalten, hatte die französische Kolonialregierung entschieden, das Eigentum dieser Stiftungen zu verwalten und sie somit aus den Händen der Muslime zu nehmen. Dies sollte aber im Interesse der Muslime selbst sein, so wurde zumindest von der Regierung argumentiert. Die Muslime, so der Gedanke, seien nicht in der Lage, ihr Geld angemessen zu verwalten, so dass man es an ihrer Stelle verwalten müsse. Dem hält Tocqueville entgegen, dass ein großer Teil des Geldes dieser Stiftungen tatsächlich in die Kassen der Kolonialregierung fließt, so dass die Muslime, für die es eigentlich gedacht war, nicht davon profitieren. Unter dem Vorwand, die finanziellen Ressourcen der muslimischen Stiftungen zum Wohle der Muslime zu 60 61

Tocqueville verwendet das Wort gleichbedeutend mit „Islam“ und es sollte auf keinen Fall so verstanden werden, wie es heute meistens gebraucht wird, also für Salafisten, Fundamentalisten und Neofundamentalisten (dazu Ayubi 1996, S. 105). Aus der Epoche Ludwig XIV. datiert eine Episode, die zeigt, dass ein Ignorieren der Religiosität dramatische Konsequenzen haben kann. Damals befanden sich französische Truppen in Nordafrika, um den Einfluss der Ottomanen einzudämmen. Die lokale Bevölkerung lebte ihr Leben abseits des Konflikts weiter. Doch eines Tages benutzten die Franzosen muslimische Grabsteine, um ihre angeschlagenen Festungsanlage zu reparieren. Aus der Sicht der Militärführer waren diese Grabsteine nur Steine. Die Einheimischen sahen die Sache allerdings nicht so und verbündeten sich mit den Türken zu einem Massaker der Franzosen.

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optimisieren, habe sich die Kolonialregierung lediglich eine neue Einnahmequelle gesichert. Dieser eben genannte Punkt zeigt die Ungerechtigkeit der Maßnahme. In den Augen Tocquevilles sind die muslimischen Stiftungen die legitimen Besitzerinnen ihrer finanziellen Ressourcen, und was die Kolonialregierung tut, entspricht einem Diebstahl und widerspricht somit der elementaren Gerechtigkeit. Diese Ungerechtigkeit ist ein Grund, die Maßnahme auch als unpolitisch zu bezeichnen, also als eine Maßnahme, die nicht im Interesse der Franzosen ist. Das Ungerechtigkeitsgefühl der Muslime wird sich nämlich gegen die Franzosen wenden, und insofern die Ungerechtigkeit die religiöse Sphäre betrifft, wird der Widerstand der Muslime sich aus ihrer religiösen Leidenschaft nähren. Und diese ist, unter allen Leidenschaften, die stärkste, und damit auch diejenige, die ein Staat an allererster Stelle kontrollieren oder neutralisieren soll – zumindest dann, wenn sie durch Werte motiviert wird, die denen des Staates fremd sind. Der Islam gehört zu jenen Religionen, die eine „heilige Wut“ gegen ihre Gegner hervorbringen können, und je größer diese Wut ist, umso schwieriger wird es sein, gegen sie zu besiegen.62 Unpolitisch ist die vorhin genannte Maßnahme der, wie man es heute wahrscheinlich bezeichnen würde, Veruntreuung der finanziellen Ressourcen der muslimischen Stiftungen, aber auch noch aus einem anderen Grund. Das Geld der Stiftungen wurde zum Teil für die Ausbildung des Klerus und für die religiösen Schulen benutzt. Fällt nun ein großer Teil des Geldes weg, dann wird dies negative Konsequenzen für den Klerus und für die Schulen haben. Man vernichtet „alle Monumente, die den schon von ihnen erreichten Stand der Aufklärung bewahren konnten“ (Tocqueville OC III, 1, S. 422). In seinem ersten Bericht über Algerien aus dem Jahr 1847, hatte Tocqueville geschrieben: „Der Islamismus ist der Aufklärung nicht gänzlich verschlossen; er hat oft bestimmte Wissenschaften und bestimmte Künste zugelassen. Warum sollten wir nicht versuchen, diese unter unserer Herrschaft florieren zu lassen? Zwingen wir die Einheimischen nicht, in unsere Schulen zu kommen, sondern helfen wir ihnen, ihre eigenen Schulen wieder aufzurichten, diejenigen zu vermehren, die in ihnen unterrichten, Gesetzeskundige und Religionskundige auszubilden, auf welche die muslimische Zivilisation ebenso wenig verzichten kann, wie die unsrige“ (Tocqueville OC III, 1, S. 325). Die islamische Welt hat tatsächlich zwischen, grob gesehen, dem neunten und dem zwölften Jahrhundert eine Art Aufklärung gekannt. Diese betraf allerdings nur einen kleinen Kreis von Gebildeten und nicht eine größere gesellschaftliche Gruppe – vergleichbar der Bourgeoisie im aufgeklärten Europa. Insofern blieb der von Philosophen wie al-Kindi, al-Farabi, Avicenna oder Averroes unternommene Versuch, den Geist des griechischen Rationalismus mit dem Islam als Offenbarungsreligion zu versöhnen, erfolglos bzw. konnte er die Gesamtgesellschaft nicht prägen. Es darf bezweifelt werden, ob Tocqueville die eben genannten Denker kannte, geschweige denn gelesen hatte. Aber die Tatsache, dass sich Wissenschaf62

In seinen Aufzeichnungen zu Indien stellt Tocqueville beiläufig fest, dass der Hinduismus – der prinzipiell kein Problem mit anderen Göttern hat – „nicht jenes einzige Gut hervorgebracht hat, den man auch von den schlechtesten Religionen erwarten darf“, nämlich jene „heilige Wut“ die sich einem Eroberer mit einer fremden Religion widersetzt (Tocqueville OC III, 1, S. 449).

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ten und Künste in der islamischen Welt entwickeln konnten, ist für ihn ein Zeichen dafür, dass der Islam den Weg der Aufklärung durchaus beschreiten kann. Allerdings muss man ihn auf diesem Weg begleiten und man darf ihn vor allem nicht zurückwerfen. Doch genau eine solche Verkümmerung der bestehenden Zivilisationsansätze bewirkt die französische Kolonialregierung mit ihrer Politik. Dabei schadet sie nicht nur den Muslimen, sondern sie schadet auch sich selbst. Will man die französische Präsenz in Algerien dauerhaft festigen, dann muss man die Aufklärung der muslimischen Bevölkerung vorantreiben, ohne allerdings diese Aufklärung an ein Aufgeben des Islams zu knüpfen. Wie aus den eben zitierten Stellen hervorgeht, war Tocqueville der Überzeugung, dass eine islamische Gesellschaft durchaus in der Lage ist, aufklärerische Ressourcen aus sich selbst bzw. aus ihrer eigenen Vergangenheit zu schöpfen. Die Muslime brauchen also nicht zwischen der Aufklärung und dem Islam zu wählen, sondern sie können durchaus beides haben. Aber es hängt zu einem großen Teil von den Franzosen ab, ob die weitere Aufklärung stattfinden kann. Tocqueville zeigt sich besonders um die schwindende Rolle der etablierten und anerkannten religiösen Autoritäten besorgt: „Lasst die natürlichen und offiziellen63 Interpreten der Religion verschwinden, so werdet ihr trotzdem nicht die religiösen Leidenschaften ausmerzen, ihr werdet sie nur in die Hände von Rasenden und Schwindlern fallen lassen. Man weiß heute, dass es fanatische Bettler sind, Angehörige geheimer Gesellschaften, eine Art von unregelmäßigem und unwissendem Klerus, die den Geist der Bevölkerung anlässlich des letzten Aufstandes in Brand gesetzt und den Krieg herbeigeführt haben“ (Tocqueville OC III, 1, S. 326). Lässt man die religiösen Erziehungsanstalten verkümmern, in der Hoffnung, dadurch den Glauben als solchen zum Verschwinden zu bringen, so setzt man sich der Gefahr aus, dass die Gläubigen den Predigten von unwissenden Fanatikern ausgesetzt sind, die – mögen sie auch selbst gläubig sein – die religiösen Leidenschaften ihrer Mitgläubigen manipulieren, um Macht zu erlangen. Ist das Ideal – das Verschwinden eines potentiell gefährlichen Glaubens und seine Ersetzung durch einen weniger gefährlichen – nicht zu erreichen, dann sollte man sich für das geringere Übel entscheiden, und das sind in Tocquevilles Augen offizielle religiöse Autoritäten. Tocqueville geht es hier um die Frage, ob man die Verbreitung des religiösen Glaubens den „Rasenden und Schwindlern“ überlassen sollte, oder man nicht vielmehr dafür sorgen sollte, dass gebildete Menschen ihren Mitgläubigen die koranische Botschaft verkünden. Diese Frage ist immer noch aktuell, auch und vor allem in Tocquevilles Heimatland Frankreich. Für den französischen Staat ist es wichtig, eine Kontrolle darüber zu haben, was in den zahlreichen Moscheen Frankreichs gepredigt wird. Durch die enge Zusammenarbeit mit dem Rat des islamischen Kultus in Frankreich – der direkte Ansprechpartner der Regierung – wird versucht, einen offenen und toleranten „islam de France“ von all jenen Ausdrücken des Islams abzugrenzen, die, wie Tocqueville es formulieren würde, von „Rasenden“ – und gegebenenfalls „Schwindlern“ – verbreitet werden, und die es zu bekämpfen gilt. 63

Tocqueville spricht von „interprètes naturels et réguliers“.

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Tocqueville kann sich nicht so richtig entscheiden, ob es im Islam einen Klerus gibt oder nicht. Die kurz vorhin zitierte Stelle deutet darauf hin, dass es für ihn einen solchen gibt und dass die entscheidende Frage lautet, ob man nicht lieber den offiziellen und sichtbaren Klerus fördern sollte, um keinen inoffiziellen, geheimen und gefährlichen Klerus aufkommen zu lassen. In Aufzeichnungen, die er Ende der 30er Jahre gemacht hatte und die also etwa zehn Jahre älter sind als die vorhin zitierte Stelle – und noch vor der Reise nach Algerien verfasst wurden –, meint Tocqueville, dass es im Islam keine eigentliche Priesterklasse gibt: „Das Wort Klerus existiert als solches nicht im Arabischen“ (Tocqueville OC III, 1, S. 174). Dies erklärt er sich durch die Tatsache, dass im Islam das Religiöse und das Politische eine Einheit bilden, wobei das religiöse Gesetz allerdings der oberste Leitfaden ist.64 Die Abwesenheit einer abgesonderten Priesterklasse sieht er dabei als einen positiven Aspekt, denn „wenn die Religion ohne ein solches Mittel mächtig sein kann, sollte man dies begrüßen“ (Tocqueville OC III, 1, S. 174). Allerdings hat dieser Umstand auch eine Kehrseite, denn die Abwesenheit einer abgesonderten Priesterklasse erklärt sich im Islam durch die eben erwähnte Abwesenheit einer Unterscheidung zwischen dem politischen und dem religiösen Bereich. Die islamische Welt kennt zwar nicht den Despotismus einer Priesterklasse, aber sie kennt den politisch-religiösen Despotismus des Kalifen oder Sultans. Eine Sonderstelle nehmen im Islam die sogenannten marabouts ein. Es handelt sich dabei um Menschen, die wegen ihrer „magischen“ Fähigkeiten als Heilige verehrt werden und die ein großes Ansehen beim Volk genießen. Während der Türkenherrschaft in Algerien, so Tocqueville, wurden die marabouts von der Politik ferngehalten. Nach dem Abzug der Türken, wuchs ihr Einfluss aber wieder, und Tocqueville kann von ihnen schreiben, sie würden die Politik „im Geheimen“ lenken, denn sie sind „die einflussreichsten Mitglieder der arabischen Gesellschaft“ (Tocqueville OC III, 1, S. 134).65 Für Tocqueville bilden sie eine Aristokratie, und insofern die Franzosen dieser Aristokratie die Möglichkeit gegeben haben, ihren sozialen Stand zu halten, „bleibt uns sonst nichts anderes mehr übrig, als sich ihrer zu bedienen“ (Tocqueville OC III, 1, S. 143). Wollen die Franzosen demnach über den Weg der Religion die algerische Bevölkerung kontrollieren, dann müssen sie eine Zusammenarbeit mit den marabouts anstreben. Aus allem bisher Gesagten wird deutlich, dass der französische Staat, will er verhindern, dass Abd-el-Kader sich der religiösen Leidenschaften seiner Landsleute bedient, Kontrolle über diese Leidenschaften gewinnen muss. Diese Kontrolle kann er nur dadurch gewinnen, dass er einen konzilianten Kurs gegenüber den offiziellen religiösen Autoritäten des Islams einschlägt. Dabei sollte der französische 64

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Einen mit dem katholischen Klerus vergleichbaren islamischen Klerus gibt es im Islam nicht. Es gibt vielmehr nur Schriftgelehrte, deren Auslegung des Korans eine bestimmte Autorität hat, die aber nicht jeder Muslim akzeptieren muss. Und auch die Funktion des Vorbeters kann nicht mit der Funktion des Priesters in der katholischen Religion verglichen werden. Versteht man demnach das Wort „Klerus „ so, wie man es im Katholizismus versteht, dann kennt der Islam tatsächlich keinen Klerus. Will Tocqueville hier nur eine Tatsache beschreiben, oder will er implizit suggerieren, dass die christliche Religion und vor allem der Klerus es ähnlich in der Demokratie versuchen könnte?

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Staat vor allem darauf bedacht sein, solche Autoritäten bestehen zu lassen bzw. ihr Weiterbestehen nicht zu untergraben. Der französische Staat sollte also auf keinen Fall eine Situation entstehen lassen oder gar fördern, in welcher auf der einen Seite Abd-el-Kader und seinesgleichen stehen – also, aus der Sicht Tocquevilles, zur Gewalt bereite Fanatiker –, und auf der anderen Seite die Masse der einfachen, ungebildeten Muslime, ohne irgendeine Körperschaft zwischen ihnen. Nur durch die Existenz einer solchen Körperschaft kann verhindert werden, dass Abd-el-Kader die Massen zu seinen Gunsten manipuliert. Genauso wie in einer Demokratie die aristokratische Körperschaft der Juristen „im Geheimen“ das Rechtsleben lenkt, soll in der algerischen Gesellschaft die aristokratische Körperschaft der marabouts das religiöse Leben lenken. Der Manipulationsgefahr durch die Fanatiker soll durch die Manipulation durch besonnenere Muslime begegnet werden. Diesem eben erwähnten konzilianten Kurs können allerdings weder ein gemeinsamer Glaube, noch gemeinsame Sitten zu Grunde liegen. Dafür unterscheiden sich das christliche und moderne Frankreich und das muslimische und vormoderne Algerien zu stark. Aber die Abwesenheit einer solchen kulturellen Gemeinsamkeit bedeutet nicht, dass man keine anderen Gemeinsamkeiten entdecken kann. So schreibt Tocqueville im Jahre 1847: „Der Europäer braucht den Araber66, um von seinen Ländereien zu profitieren; der Araber braucht den Europäer, um einen hohen Lohn zu verdienen. Auf diese Weise bringt das Interesse auf natürlichem Weg zwei Menschen auf demselben Feld näher und vereint sie notgedrungen in demselben Gedanken, wobei die Erziehung und der Ursprung diese zwei Menschen weit voneinander setzte“ (Tocqueville OC III, 1, S. 329). Anstatt die Einheimischen von ihrem Glauben abbringen zu wollen, um aus ihnen Christen zu machen, und anstatt sie dazu zu zwingen, die europäischen Sitten anzunehmen, sollte man vielmehr versuchen, ihr wohlverstandenes Eigeninteresse anzusprechen und ihnen dabei zeigen, dass sie nichts von der Kolonisation zu befürchten haben, sondern dass Letztere nur von Vorteil für sie sein kann. Auf diese Weise kann man hoffen, wie Tocqueville es 1837 andeutete, dass sie bald die Lebensweise der Europäer annehmen (Tocqueville OC III, 1, S. 152). Befürchtete Tocqueville, dass die Demokratie einem sanften Despotismus zum Opfer falle, scheint er hier zu Gunsten eines sanften Kolonialismus zu argumentieren – der, das wird man zugeben müssen, dem brachialen Kolonialismus sicherlich vorzuziehen ist. Die Möglichkeit, ganz auf den Kolonialismus zu verzichten, kommt für Tocqueville nicht in Frage. Frankreich ist eine „grande nation“ und als solche muss es Kolonien haben. Tocqueville geht es also keineswegs um die Bewahrung der islamischen Lebensweise und Religion um ihrer selbst willen. Für Tocqueville ist der Islam kein Wert an sich. Wenn man ihn erhalten soll, dann nur, weil er nützlich sein kann. Und 66

Tocqueville gebraucht das Substantiv „Arabes“ auf eine zwar gängige, an sich aber geographisch unkorrekte Weise. Geographisch gesehen sind die Algerier keine Araber, sondern höchstens die Nachkommen jener Araber – und waren es eigentlich nur Araber? – die im 7. Jahrhundert Nordafrika eroberten. Man kann das Wort „Arabes“ allerdings in einem kulturellen Sinn verstehen, so dass man alle jene Menschen als Araber bezeichnt, die an jener Kultur teilhaben, deren Ursprung Saudi-Arabien und die Abbasidendynastie ist.

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von seiner Zerstörung sollte man absehen, weil sie unmöglich ist und Versuche der Zerstörung nur dazu führen werden, die Anhänger zu fanatisieren. In Aufzeichnungen die er über die indische Religion und Gesellschaft gemacht hat, spricht Tocqueville von Religionen die, wie der Hinduismus, ihre Gesetzgebung einem heiligen Buch entnehmen, so dass die Gesetze nicht geändert werden können. Wo dies der Fall ist, gibt es seiner Ansicht nach nur zwei Möglichkeiten: Entweder muss der Glaube der Zivilisation weichen, oder die Zivilisation muss dem Glauben weichen (Tocqueville OC III, 1, S. 509). Insofern auch der Islam seine Gesetzgebung unmittelbar aus dem Koran und den hadiths ableitet, kann diese Bemerkung ebenfalls für ihn gelten. Doch was meint man genau mit Zivilisation? In seinen zwei Briefen über Algerien geht Tocqueville auf die Kabylen ein. Diese sind zwar Muslime wie die Araber, aber haben kein besonders enges Verhältnis zu ihrer Religion und interessieren sich weitaus mehr für das Diesseits als für das Jenseits (Tocqueville OC III, 1, S. 132). Auch mit dieser Bemerkung will Tocqueville keine bloß ethnologisch relevante und interessante Tatsache zu Papier bringen, sondern er möchte den Weg zeigen, auf dem man die Kabylen besiegen kann: „Die große Leidenschaft des Kabylen ist die Liebe zu den materiellen Freuden, und es ist hier, wo man ihn fassen kann und soll“ (Tocqueville OC III, 1, S. 146). In dieser Hinsicht ähneln die Kabylen dem demokratischen Menschen, und wenn Tocqueville schreibt, dass die Kabylen den Menschen ähnlich sind, die Rousseau sich erträumt hat, so hätte er genauso gut schreiben können, dass sie den Menschen ähneln, die er, Tocqueville, im ersten Band der Démocratie beschrieben hatte und gerade dabei war, noch genauer im zweiten Band zu beschreiben. Man soll, so Tocqueville, Handel mit den Kabylen treiben, ihnen jene Güter verkaufen, die ihre materiellen Lüste befriedigen. Dann wird man sehen, wie die Sitten und Gedanken der Kabylen „ohne dass sie es merken“ (Tocqueville OC III, 1, S. 147) sich ändern werden. Aus einem Volk, das aristokratische Züge trug, wird dann ein Volk, das man leicht beherrschen kann. Während es Tocqueville in der Démocratie darum geht, vor den Gefahren des Verfallens an die materiellen Freuden zu warnen, zeigt er in seinen dem französischen Kolonialismus dienenden Schriften, wie man Vorteile aus der Tatsache ziehen kann, dass ein Volk den materiellen Freuden verfallen ist. Während der laue Glaube der „zivilisierten“ Völker den um das Schicksal der Freiheit in der Demokratie besorgten Tocqueville in Angst versetzt, so kommt dem sich um die Kolonisierung Algeriens besorgten Tocqueville der laue Glaube der Kabylen gelegen. Damit ist nicht unbedingt nur der religiöse Glaube gemeint, sondern allgemeiner noch der Glaube an überindividuelle Werte. Die Araber mögen zwar, wie die Kabylen, eine große Liebe für die sinnlichen Freuden zeigen, aber sie bilden eine Rasse „welche die Freiheit über alle Genüsse stellt“ (Tocqueville OC III, 1, S. 135), und die deshalb nicht so leicht zu erobern ist. Insofern zeigen sie einen aristokratischen Geist, der bei den Kabylen verloren geht. Die Kabylen haben somit mehr Ähnlichkeit mit dem demokratischen Menschen als die Araber. Sind die Kabylen in dieser Hinsicht die Demokraten Algeriens, so sind die Araber deren Aristokraten.

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Teil V: Der klassische Liberalismus und der Islam

Dass die Araber die Genüsse lieben, geht, so Tocqueville, aus dem Koran hervor. In seiner Zusammenfassung der Hauptgedanken des Korans erwähnt Tocqueville das muslimische Paradies bzw. dessen sinnliche Beschreibung: „Gärten die durch Flüsse bewässert werden und Houris“ (Tocqueville OC III, 1, S. 155). Im Koran sieht er „einen ziemlich geschickten Kompromiss zwischen dem Materialismus und dem Spiritualismus“ (Tocqueville OC XIII, 2, S. 28). Dort findet er „wunderbare Beschreibungen Gottes“ (Tocqueville OC III, 1, S. 154) und auch den Aufruf zum Heiligen Krieg, und damit den Aufruf zur Bereitschaft, sein irdisches Leben für den Islam zu opfern. Dies sind Beispiele für spiritualistische Elemente, die gleichzeitig durch eine „materialistische“, sprich auf sinnliche Genüsse zentrierte, Beschreibung des Paradieses ergänzt werden. Die im Namen des Spiritualismus geforderten materiellen Opfer auf Erden werden durch sinnlich definierte Belohnungen im Jenseits kompensiert. Es wird also nicht vom Gläubigen verlangt, dass er gänzlich auf sinnliche Freuden verzichtet, sondern der Verzicht auf diesseitige sinnliche Freuden wird sozusagen durch den Gewinn jenseitiger sinnlicher Freuden kompensiert. Mohammed wusste, so Tocqueville, wie er die Menschen seiner Zeit zu Großem bewegen konnte. Er hatte eingesehen, dass man bei der großen ungebildeten Masse das Spirituelle nicht vom Materiellen losbinden konnte, wenn man den Einfluss des ersten absichern wollte. Auf diese Weise ist es Mohammed gelungen, „eine immense Macht über das menschliche Geschlecht auszuüben“, wobei Tocqueville aber vermutet, dass sie der Menschheit mehr geschadet hat, als dass sie ihr von Vorteil gewesen wäre (Tocqueville OC IX, 2, S. 29). Problematisch ist allerdings, ob und inwiefern diese von Mohammed errichtete Macht erhalten werden kann. Tocqueville kritisierte den Hinduismus, weil er in seinen heiligen Schriften Normen für fast alle Bereiche des menschlichen Lebens aufstellt, genau so wie auch der Islam es tut. In der zweiten Démocratie wird dies ausdrücklich gesagt: „Mohammed hat nicht nur religiöse Doktrinen vom Himmel herabsteigen lassen und in den Koran gesetzt, sondern auch politische Maximen, bürgerliche Gesetze und Strafgesetze, wissenschaftliche Theorien“ (Tocqueville OC I, 2, S. 30).67 Darin unterscheidet der Koran sich von den Evangelien – nicht aber vom Alten Testament –, die sich damit begnügen, allgemeine Aussagen über das Verhältnis der Menschen untereinander und zu Gott aufzustellen. Diese Aussagen sind zeitlos gültig und damit sind auch die Evangelien zeitlos gültig. Der Koran, hingegen „kann nicht lange in aufgeklärten Zeiten herrschen“ (Tocqueville OC I, 2, S. 30). Wenn man das Christentum auf die Evangelien reduziert und das Alte Testament vergisst, könnte man den Aussagen Tocquevilles zustimmen, sieht man einmal davon ab, dass das Neue Testament mit den Wundern, der Auferstehung nach dem Tode und der Himmelfahrt Elemente enthält die, liest man sie als historische Berichte, nicht mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. mit einem wissenschaftlichen Weltbild kompatibel sind. Doch das Christentum wurde während Jahr67

Mit den „wissenschaftlichen Theorien“ meint Tocqueville Aussagen über die Welt bzw. das Universum, also Aussagen über jene Gebiete, mit denen sich die Naturwissenschaften befassen. Tocqueville will keineswegs behaupten, dass die Aussagen des Korans über die Entstehung der Welt einen im engen Sinn des Wortes wissenschaftlichen Charakter haben.

Kapitel 2: Tocqueville und der Islam

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hunderten auch immer mit dem Alten Testament assoziiert, und der Schöpfungsbericht wurde noch zu Tocquevilles Zeit von vielen Christen als eine wahre Beschreibung der Entstehung der Welt betrachtet. Will man demnach dem Christentum eine Chance geben, in einem aufgeklärten Zeitalter zu überleben, dann muss man es von allen jenen Elementen befreien, denen aufgeklärte Menschen keinen Glauben mehr schenken, indem sie ihnen mit Skepsis begegnen oder geradewegs als falsch verwerfen. Insofern der Islam eine totale oder allumfassende Religion ist, die sich auf als ewiggültig angesehene praktische und theoretische Sätze stützt, wird er sich nicht in einem aufgeklärten demokratischen Zeitalter behaupten können. Und trotzdem muss Tocqueville konzedieren, dass einige seiner Zeitgenossen, darunter durchaus aufgeklärte Geister, sich zum Islam hingezogen fühlen. So etwa Arthur de Gobineau, dem Tocqueville in einem Brief vom 22. Oktober 1843 vorwirft, „ein gewisses faible für den Islamismus zu haben“ (Tocqueville OC IX, S. 68), und dem er bereit ist zu beweisen, dass der Islam die Hauptursache der Dekadenz der muslimischen Völker ist, gesetzt den Fall, ein solcher Beweis würde sich als notwendig ergeben, wenn Gobineau „die schlechte Idee“ in den Sinn käme, sich beschneiden zu lassen, also zum Islam zu konvertieren (Tocqueville OC IX, S. 69). Und an derselben Stelle dieses Briefes an Gobineau erwähnt Tocqueville einen Freund, den er auf seiner Algerienreise wiedergesehen hat, und der sich tatsächlich zum Islam bekehrt hatte. Ein Jahr später, in einem Brief vom 29. Mai 1844 an Monckton Milnes, wirft Tocqueville seinem Korrespondenten vor, von seiner Orientreise „ein bisschen mehr Moslem, als es sich passt“ zurückgekehrt zu sein, und er fügt gleich hinzu: „Ich weiß nicht, wieso heutzutage mehrere hervorragende Geister diese Tendenz zeigen“, also die Tendenz, sich derart für den Islam zu interessieren, dass sie sich zu ihm bekehren (Tocqueville OC VI, 3, S. 86). Tocqueville steht hier vor einem Rätsel, wenn nicht sogar vor einem Widerspruch: Aufgeklärte Geister fühlen sich von einer Religion angezogen, die dem Geist der Aufklärung in vielen, wenn auch nicht in allen, Punkten widerspricht. Dabei kann man jemandem wie Milnes nicht vorwerfen, den Islam nicht genügend zu kennen, um ihn angemessen beurteilen zu können. Der Engländer hatte nicht nur den Koran gelesen, sondern er war auch längere Zeit in der Türkei und in Ägypten, und hatte somit durchaus die Gelegenheit, sich mit der Situation in muslimischen Ländern vertraut zu machen und den Islam nicht nur von den Büchern her zu kennen, sondern auch vom alltäglichen Leben her. Wie Tocqueville zu seiner Zeit, kann man sich auch heute die Frage stellen, wieso sich „mehrere hervorragende Geister“ vom Islam angezogen fühlen und sich sogar manchmal zu ihm bekehren.68 Was hat der Islam einem heutigen Europäer zu bieten, was ihm eine andere Religion nicht bieten kann? Sind diese Bekehrungen 68

In Frankreich wäre zum Beispiel Roger Garaudy zu nennen, der vom atheistischen Marxisten zum gläubigen Moslem wurde. Ein amerikanisches Beispiel wäre der Sänger Cat Stevens. Für Luxemburg wäre Jean-Michel Treinen zu nennen, ein brillanter Satiriker und Musiker, der vom vehementen Religionskritiker – seine bissigen Kritiken galten vor allem dem Katholizismus – zum bekennenden Moslem wurde.

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lediglich ein Modephänomen, vergleichbar dem Interesse für fernöstliche Weisheitslehren in den 1960er Jahren? Ist es die „Sprachgewalt“ des Korans, der viele Leute nicht widerstehen können, so dass sie in ihren Bann gezogen werden? Ist es der Wunsch von Menschen, die in einer Welt leben, in der sich alles ändert, endlich wieder Fixpunkte zu haben, an denen, weil sie von Gott selbst gesetzt wurden, nicht gerüttelt werden darf? Ist das Christentum diesen Menschen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu liberal geworden? Und man könnte ebenfalls fragen, was bislang nicht praktizierende Muslime dazu bringt, die religiösen Praktiken wieder Vorfahren aufzunehmen? Spielt hier die Identitätssuche eine Rolle? Können sie sich nicht mehr mit einer Gesellschaft identifizieren, die ihnen eigentlich keine klare Identität mehr bietet und aus der sie sich ausgeschlossen fühlen? Oder will man sich dadurch der als dekadent empfundenen westlichen Welt entgegensetzen? Letzteres ist sicherlich bei vielen der Fall, und es mutet in diesem Kontext schon paradox an, dass jene Religion, in welcher Tocqueville die Ursache der Dekadenz der muslimischen Gesellschaften gesehen hat, heute von vielen als Bollwerk gegen die Dekadenz der westlichen, säkularen Gesellschaften angesehen wird. Für das liberale politische Denken stellt sich hier auf jeden Fall die Frage, wieso der Triumph des Liberalismus bei vielen Menschen einen Widerstand gegen den triumphierenden Liberalismus erzeugt. Liegt der Grund im Liberalismus selbst, oder sollte man diesen Grund nur in einer falschen oder verkürzten Interpretation liberaler Gedanken suchen? Tocqueville, aber auch Constant und viele andere der in diesem Buch erwähnten klassischen liberalen Denker, würden sicherlich behaupten, dass es die Ausklammerung der religiösen Dimension ist, die für den jetzigen Zustand verantwortlich ist. Um diesen Teil des Kapitels abzuschließen, soll noch eine letzte Kritik Tocquevilles am Islam vorgestellt werden. Legt Tocqueville einerseits einen großen Wert darauf, zu zeigen, dass der Islam auf die Dauer keine Chance hat, sich in einem demokratischen und aufgeklärten Zeitalter zu erhalten, so weist er andererseits auch auf die Gefahr hin die entstehen könnte, wenn sich eine demokratische Gesellschaft tatsächlich zum Islam bekehren würde bzw. wenn wesentliche Glaubenssätze des Islam das Denken der demokratischen Menschen prägen würden. Auch wenn der Islam dem aufgeklärten Geist des demokratischen Menschen widerspricht, so kommt er doch einem wichtigen Element des Selbstbewusstseins des demokratischen Menschen entgegen, nämlich sich nicht mehr als wirkmächtiger Akteur des geschichtlichen Prozesses zu begreifen. Die eben erwähnte Kritik befindet sich in einem der wichtigsten Kapitel der zweiten Démocratie. In diesem Kapitel vergleicht Tocqueville die demokratischen mit den aristokratischen Historikern. Während letztere die Wirkmächtigkeit des Individuums hervorheben und zeigen, wie große Persönlichkeiten den Lauf der Geschichte bestimmt haben, sehen die ersten in der Geschichte anonyme Kräfte am Werk und sprechen dem Individuum so gut wie jede Möglichkeit ab, bestimmend in den Lauf der Geschichte eingreifen zu können. Die Geschichte wäre dann wie ein Schicksal, dem der Mensch ausgeliefert ist und das er nicht mitgestalten kann. Der Bezug zum Islam wird erst ganz zum Schluss des Kapitels hergestellt. Tocqueville erwägt dort die Möglichkeit, dass der fatalistische Geist der demokrati-

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schen Historiker auf deren Leser und auf die große Masse übergeht. Dies hätte eine Lähmung der Bewegung der neuen Gesellschaften zur Folge, und würde, so Tocqueville, „die Christen zu Türken“ machen (Tocqueville OC I, 2, S. 92). Auch wenn zu Tocquevilles Lebenszeit das Schicksal des Ottomanischen Reichs noch nicht endgültig besiegelt war, so manifestierten sich doch schon die ersten Anzeichen seines Untergangs. In den Augen Tocquevilles hatten die Türken den religiösen Eifer verloren und nur noch den Despotismus behalten. Es war jedoch der religiöse Eifer gewesen, der sie zu ihren Eroberungen geführt hatte, und dieser Eifer ist schwer mit dem fatalistischen Glauben vereinbar, dass alles schon im Voraus bestimmt ist. Denn wenn nämlich alles schon bestimmt ist und wenn Allah beschlossen hat, dass bestimmte Gebiete unter die Herrschaft der Türken fallen sollen, dann werden diese Gebiete unter ihre Herrschaft fallen, mögen sie dafür kämpfen oder nicht. Wenn alles von aller Ewigkeit her bestimmt ist, dann ist jede Form von Eifer überflüssig. Wer an den Fatalismus glaubt, so scheint Tocqueville vorauszusetzen, wird alles geschehen lassen, da er sowieso weiß, dass er nichts an dem ändern kann, was seit jeher geschrieben steht. Für Tocqueville ist der Glaube an den Fatalismus eine der größten Gefahren für die demokratischen Gesellschaften. Denn auch wenn Tocqueville davon überzeugt ist, dass der universelle Sieg der Demokratie feststeht – hier verfällt Tocqueville selbst in eine Art Fatalismus –, so ist er doch davon überzeugt, dass es vom politischen Engagement der Menschen abhängt, ob die Demokratie eine liberale oder eine despotische Form annehmen wird. Die europäischen, allen voran die französischen Christen mögen zwar nicht mehr verhindern können, demokratische Menschen zu werden, aber es liegt durchaus in ihrer Hand, ob sie, wenn man so sagen darf, „Amerikaner“ oder „Türken“ werden, d. h. ob sie als freie Menschen in einer freien Gesellschaft leben werden, oder ob sie die Gleichheit als Untertanen eines – wenngleich gutwilligen und gutmütigen – Despoten erleben werden. In seinem Briefwechsel mit Gobineau verurteilt Tocqueville dessen Rassefatalismus (Tocqueville OC IX, S. 199), ohne aber zugleich auch die freundschaftliche Beziehung abzubrechen. Gobineau, der wesentlich dazu beitragen kann, dem Rassismus einen pseudowissenschaftlichen Flair zu geben, vertritt die These, dass die Rassenzugehörigkeit ein unüberwindliches Hindernis für das Erreichen bestimmter Ziele darstellt, so dass also zum Beispiel die Angehörigen bestimmter Rassen, bloß weil diesen Rassen angehören, sich keine Hoffnung auf das Erlangen der Freiheit machen sollten. Ihre Rassenzugehörigkeit macht sie einfach für die Freiheit unfähig. Die Sklaverei wird somit zum einzig möglichen Schicksal dieser Völker, und weder sie noch andere sollten versuchen, sie aus der Sklaverei zu befreien. Hierzu merkt Tocqueville an, dass es gleichgültig ist, ob man den Fatalismus im menschlichen Körper oder im göttlichen Willen verankert. Der Fatalismus führt nämlich immer und unter allen seinen Formen „zu einer sehr großen Verengung, wenn nicht sogar einer völligen Abschaffung der menschlichen Freiheit“ (Tocqueville OC IX, S. 202). Legt man die Gobineausche Rassenprämisse zu Grunde, so Tocqueville weiter, dann verlieren bestimmte Völker den Willen, sich oder ihr Schicksal zu verbessern. Es ist nun aber „das Schicksal des Menschen, sei es als

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Individuum, sei es als Nation, das mit ihm [scil. seinem/ihrem Schicksal] zu tun, was es oder sie will“ (Tocqueville OC IX, S. 203).69 Tocqueville bringt hier seine Kritik am Islam und an Gobineaus Rassenlehre auf einen Nenner: Der Fatalismus beider führt zum politischen und gesellschaftlichen Quietismus. Der Mensch begreift sich nicht mehr als Gestalter seiner Geschichte, sondern als das Spielzeug eines ihm übergeordneten Schicksals. Dadurch geht ihm dann aber, so Tocqueville, das Bewusstsein seiner Würde verloren. Ohne ein solches Bewusstsein ist aber eine liberale Gesellschaft nicht möglich. Damit ist nicht nur klar gesagt, dass Fatalismus und Liberalismus sich ausschließen, sondern auch, der Liberalismus nicht mit dem Rassismus zu vereinbaren ist. Doch auch wenn Tocqueville kein Rassist war, vertrat er doch die These, dass die Kulturvölker den, wie wir heute sagen würden, unterentwickelten Völkern überlegen sind und dass sie ein Recht haben, Letztere zu kolonisieren. Tocqueville war zwar ein Liberaler, aber er vergaß nie, dass er ein französischer Liberaler war bzw. sah er sich manchmal als einen liberalen Franzosen, dessen französische Identität die Überhand über seine liberale Identität nahm. KAPITEL 3: DER ISLAM IM KLASSISCHEN ANGELSÄCHSISCHEN LIBERALISMUS Während Montesquieu und Tocqueville sich relativ eingehend mit dem Islam, und u. a. mit der Frage nach seiner möglichen Nützlichkeit für die Förderung der Freiheit befasst haben, so findet man, im Vergleich dazu, nur wenige Bemerkungen zur muslimischen Religion bei den klassischen angelsächsischen Autoren. Ein Grund hierfür mag der sein, dass der Orientalismus im England des XVII. Jahrhunderts nicht denselben Impakt hatte wie im Frankreich Montesquieus. Ein anderer Grund könnte sein, dass England, im Gegensatz zum Frankreich Tocquevilles, keine Kolonien hatte, deren Bevölkerung hauptsächlich aus Muslimen bestand. Doch auch wenn die angelsächsischen Autoren sich – aus den eben erwähnten oder noch aus anderen möglichen Gründen – nur am Rande mit dem Islam befasst haben, so findet man doch bei ihnen einige diskussionswerte Aussagen. Auf sie soll in diesem Kapitelteil eingegangen werden. Ich werde mich dabei vor allem mit Locke und den Amerikanern um das Jahr 1800 befassen. Schon in seinem noch Hobbesianisch gefärbten First Tract on Government70, erwähnt John Locke die Muslime an einigen Stellen. Der Text befasst sich mit der 69

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Hier gebraucht Tocqueville wieder eine Ausdrucksweise, die über ihr intendiertes Ziel hinwegschießt. Tocqueville glaubt nicht, dass die Menschen, ob als Individuen oder als Nationen, tatsächlich alles tun können, was sie wollen. Aber unter bestimmten Umständen, nämlich wenn sie einem tatenlosen politischen Quietismus zum Opfer gefallen sind, kann es angebracht sein, sie dadurch wieder zum Handeln zu motivieren, dass man ihnen quasi demiurgische Kräfte zuschreibt. Der Text stammt aus dem Jahr 1660 und darf nicht mit dem First Treatise on Civil Government verwechselt werden, den Locke zwanzig Jahre später als Antwort auf Filmers Patriarcha verfasst. Im Vergleich zu den späteren Texten, haben die zwei frühen Traktate noch einen relativ unliberalen Charakter.

Kapitel 3: Der Islam im klassischen angelsächsischen Liberalismus

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Frage, ob und inwiefern die weltliche Autorität über sogenannte adiaphora bestimmen kann, also über jene Angelegenheiten, die nicht Gegenstand einer klaren religiösen Vorschrift sind und von denen man dementsprechend annehmen kann, dass Gott es den Menschen überlassen hat, sie so zu regeln, wie sie es für angemessen halten. Im Gegensatz zu den von Gott selbst geregelten Vorschriften, haben die adiaphora keinen Bezug zur Erlangung des ewigen Seelenheils. Es ist dementsprechend – religiös gesehen – gleichgültig, wie der Gesetzgeber die adiophara regelt und es können bezüglich ihrer keine Gewissensgründe angeführt werden. In seiner eben genannten Schrift vertritt der frühe Locke die These, dass die weltliche Autorität über solche adiaphora bestimmen kann. Der erste Hinweis auf die Muslime erfolgt im Rahmen der Widerlegung seines Gegners, ein gewisser Edgar Bagshaw, der behauptet hatte, dass allgemein angenommen wird, der Staat besitze kein Recht, die Religionsfreiheit der Juden und Muslime zu beschränken. Daraus hatte Bagshaw gefolgert, dass der Staat auch kein Recht hat, die adiaphora der Christen zu regeln. Ohne die Prämisse an sich in Frage zu stellen, leugnet Locke die Wahrheit der aus ihr gezogenen Schlussfolgerung und behauptet somit ein non sequitur (Locke 1997a, S. 13). Insofern die adiaphora keine von Gott auferlegte Pflicht involvieren, besitzen die Menschen das Recht, sie zu regeln, und insofern die Individuen ein solches Recht besitzen, können sie es der politischen Autorität übertragen. Somit kann also die politische Autorität über solche Angelegenheiten bestimmen. Wie Locke andeutet, gilt dies nicht nur hinsichtlich der christlichen Religion, sondern auch hinsichtlich des Islams (Locke 1997a, S. 15). Wenn der Koran, so Locke, keine Angaben darüber macht, wann, wo oder wie ein Muslime seinen Gott zu ehren hat, dann darf die weltliche Autorität durchaus hierüber Vorschriften erlassen. Sollte aber der Koran solche Angaben enthalten, dann haben wir es nicht mehr mit einer gleichgültigen Sache zu tun und dem Staat wird das Recht abgesprochen, Vorschriften zu erlassen, zumindest insofern diese staatlichen Vorschriften Aspekte betreffen, die vom Koran geregelt werden. Locke geht es hier im Wesentlichen darum, die Gleichbehandlung aller Religionen zu verlangen. Was die adiaphora betrifft, soll das Recht des Souveräns hinsichtlich der Muslime und deren Religion genauso und nur so weit reichen wie hinsichtlich der Christen und deren Religion. Und hinsichtlich derjenigen Angelegenheiten, die von Gott selbst vorgeschrieben sind, soll auch kein Unterschied gemacht werden. So gilt zum Beispiel – und die Beispiele sind von Locke –, dass der Staat den Muslimen nicht die Beschneidung und den Christen nicht die Taufe verbieten darf, da es sich hier um Angelegenheiten handelt, die von Gott selbst verlangt werden. Sie sind nicht optional, d. h. sie sind nicht gleichgültig, sofern die Erlangung des ewigen Seelenheils angestrebt wird. In diesem Kontext geht Locke nicht auf das Problem ein, dass im Islam durchaus mehr Angelegenheiten durch den Koran geregelt werden als im Christentum durch das Neue Testament. Der Islam will den Menschen nicht nur auf das Himmelreich vorbereiten, sondern er regelt auch sein diesseitiges Leben in ziemlich vielen Hinsichten und einige dieser Vorschriften sind göttliche Gebote. Sollte der Staat es deshalb den Muslimen erlauben, den Dieben die Hand abzuhaken, da dies

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Teil V: Der klassische Liberalismus und der Islam

im Koran als Strafe vorgesehen ist?71 Hierauf geht Locke nicht ein, da es nicht sein Ziel ist, den Islam als solchen zu diskutieren. Wenn Locke den Islam im First Tract erwähnt, dann nur, weil sein Gegner ihn auch erwähnt hatte. Ganz am Ende des ersten seiner vier Briefe über Toleranz, spricht sich Locke dafür aus, die Heiden, Juden und Muslime ihre jeweilige Religion frei ausüben zu lassen (Locke 1870, S. 35). Dieser Aufruf zur Toleranz geschieht im Rahmen einer Argumentation die zeigen soll, dass gesellschaftliche Unruhen nicht unmittelbar durch die unterschiedlichen Religionen hervorgerufen werden, sondern durch die Intoleranz der religiösen und der sie unterstützenden weltlichen Autoritäten. Die Religionskriege sind demnach nicht den Religionen als solchen anzukreiden, sondern den weltlichen Autoritäten, die sich in den Dienst einer Religion stellen und dabei andere Religionen unterdrücken. Will man demnach verhindern, dass die Muslime oder die Anhänger einer anderen Religionsgemeinschaft Unordnung in der Gesellschaft stiften, so sollte man ihnen Religionsfreiheit gewähren. Auf diese Weise erreicht man auch, dass sie das Land nicht verlassen und durch ihre beruflichen Aktivitäten zum ökonomischen Fortschritt beitragen. Das Argument setzt natürlich voraus, dass die Muslime sich von sich aus friedlich verhalten und die anderen Religionsgemeinschaften genauso tolerieren, wie man sie toleriert. Das bedeutet u. a., dass sie keine religiösen Vorrechte für sich beanspruchen dürfen. In diesem Aufruf zur Toleranz gegenüber den Muslimen stellt Locke allerdings auch klar, dass man einen Muslimen oder ein Mitglied einer der anderen genannten religiösen Gemeinschaften nicht „wegen seiner Religion“ aus dem politischen Gemeinwesen ausgeschließen darf (Locke 1870, S. 35). Um die Tragweite dieser drei kleinen Wörter zu verstehen, muss man sich eine Passage vergegenwärtigen, die sich nur einige Seiten vorher findet (Locke 1870, S. 31). Dort hatte er nämlich den Fall eines Individuums erwähnt, das sich erstens in religiösen Sachen zum Islam bekennt, das sich zweitens in allen nicht-religiösen Angelegenheiten dem christlichen Herrscher seines Heimatlandes unterwirft, und das sich drittens blind dem Mufti von Konstantinopel unterwirft, der selbst dem ottomanischen Sultan und dessen willkürlicher Deutung der religiösen Vorschriften des Islams unterworfen ist. Locke sagt hier nicht ausdrücklich, dass der Muslim sich dem Mufti unterwerfen muss, dass also seine Religion dies von ihm verlangt. Er will nur andeuten, dass man nicht gleichzeitig zwei weltlichen Herren dienen kann. Solange der Muslim sich in allen nicht-religiösen Angelegenheiten dem christlichen Herrscher seines Heimatlandes unterwirft, soll er toleriert werden. Erst wenn er einen anderen Herrscher als weltlichen Oberherrscher anerkennt und dementsprechend die Pflicht diesem Herrscher gegenüber der Pflicht seinem nationalen Herrscher gegenüber voranstellt, muss er damit rechnen, dass ihm die Toleranz verweigert wird. Diese wird ihm dann aber nicht aus religiösen Gründen verweigert – also weil er sich zu einer falschen Religion bekennt –, sondern aus politischen Gründen – weil er sich einem ausländischen Souverän unterwirft. Darin unterscheidet er sich nicht vom Katholiken, dem die Toleranz auch nur deshalb verweigert wird, weil er die 71

Dass die zur Zeit Lockes angewandten Strafen für Diebstahl „humaner“ waren, soll hier nicht behauptet oder auch nur suggeriert werden.

Kapitel 3: Der Islam im klassischen angelsächsischen Liberalismus

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Entscheidungen des Papstes über diejenigen seines nationalen Herrschers stellt. In einem christlichen Staat wird man keinen muslimischen Türken tolerieren, aber es scheint a priori keinen Grund zu bestehen, wieso man in England keinen muslimischen Engländer tolerieren sollte. Wichtig ist nicht, welcher Religionsgemeinschaft man angehört, sondern welchem Herrscher man in letzter Instanz gehorcht. Dies setzt allerdings voraus, und das wurde schon vorhin kurz erwähnt, dass man im Islam die religiösen und die politischen Aspekte deutlich voneinander trennen kann. Insofern der Islam eine alle menschlichen Lebensbereiche umfassende Religion ist, ist eine solche Trennung problematisch, wie es die gegenwärtigen Debatten in vielen europäischen Staaten zeigen. Auch wenn die allermeisten dort lebenden Muslime sich nicht zum sogenannten „Islamischen Staat“ bekennen, so gibt es doch eine Reihe von ihnen, die für sich das Recht beanspruchen, nach dem islamischen Gesetz, der Scharia, zu leben. Insofern die Scharia nicht nur religiöse Kulthandlungen umfasst, sondern auch strafrechtliche Sanktionen enthält, kann es hier zu einem Widerspruch mit den Gesetzen westlicher Staaten kommen. Wer es als seine religiöse Pflicht ansieht, eine Ehebrecherin auszupeitschen oder gar zu steinigen, wird es als eine Form religiöser Intoleranz ansehen, wenn man ihm das vermeintliche Recht verweigert, die in der Scharia vorgesehenen Sanktionen anzuwenden – und sei es auch nur gegenüber den Mitgliedern seiner eigenen Religionsgemeinschaft. Und eine ähnliche Bemerkung gilt hinsichtlich der Kleidung: Wer heute ein Gesetz macht, welches u. a. das Tragen der burqa verbietet, sieht sich schnell dem Vorwurf der Islamophobie ausgesetzt und das Gesetz wird als Zeichen religiöser Intoleranz interpretiert. Im dritten Brief erwähnt Locke noch einmal die „Türken“, wobei er die Muslime in ihrer Gesamtheit meint (Locke 1870, S. 203). In diesem Brief schreibt er, dass auch Muslime ehrliche religiöse Wahrheitssucher sein können, also Menschen, die darum bemüht sind, nach der religiösen Wahrheit zu suchen. Solche Muslime gehen davon aus, dass der Koran göttlichen Ursprungs ist und diese Voraussetzung wird nicht von ihnen hinterfragt. Indem sie diese Voraussetzung machen, ist es ihnen dann unmöglich, das Christentum als wahre Religion anzuerkennen, welche Beweise man ihnen auch zu Gunsten der christlichen Religion vorbringt. Locke fügt aber gleich hinzu, dass solche Menschen Opfer eines Vorurteils sind. Locke glaubt keinen Augenblick daran, dass der Koran eine göttliche Offenbarung ist und er scheint auch vorauszusetzen, dass man mittels der Vernunft beweisen kann, dass er nur Menschenwerk ist. Insofern die Muslime allerdings den göttlichen Ursprung des Korans als unhinterfragtes Grundpostulat voraussetzen, schließen sie sich von Anfang an jedem möglichen Beweis seines menschlichen Ursprungs. Diese Muslime suchen dementsprechend ehrlich nach der religiösen Wahrheit, aber nur innerhalb des durch den Koran vorgezeichneten Rahmens. Das ihr Denkhorizont, wie wir heute sagen würden, durch ein bestimmtes Paradigma eingeschränkt ist, ist in Lockes Augen nicht mit einer ehrlichen Suche nach der religiösen Wahrheit unvereinbar. Wenn Locke in diesem Zusammenhang bemerkt, dass auch viele Christen ihre Religion lediglich im Modus des unhinterfragten Vorurteils akzeptieren, geht er doch implizit davon aus, dass das Christentum, im Gegensatz zum Islam, mit Hilfe

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Teil V: Der klassische Liberalismus und der Islam

der Vernunft bewiesen werden kann, zumindest was dessen Grundwahrheiten betrifft. So zweifelt Locke keinen Augenblick daran, dass das Neue Testament, im Gegensatz zum Koran, göttlichen Ursprungs ist. Vieles von dem, was das Neue Testament vorschreibt, ist mit Hilfe der natürlichen Vernunft einzusehen. Dass es trotzdem durch Jesus geoffenbart werden musste, hängt in Lockes Augen mit der Schwäche der menschlichen Vernunft zusammen. Die Mehrheit der Menschen ist nicht in der Lage, einer strengen Beweisführung zu folgen. Somit kann der Großteil der Menschheit nicht wissen, sondern er muss sich mit dem Glauben zufrieden geben (Locke 1958, S. 66). Locke, so können wir schlussfolgernd festhalten, hat sich nicht systematisch mit dem Islam als solchen befasst, und schon gar nicht mit dessen unmittelbarer politischen Relevanz. Vom Islam spricht er nur, weil er in seine Argumentation passt bzw. weil seine Gegner ihn als Beispiel benutzt haben und Locke sie mit Hilfe ihres eigenen Beispiels widerlegen will. Es steht außer Zweifel, dass in den Augen des Christen Locke der Islam falsch war und dass man dementsprechend nicht das ewige Seelenheil erlangen konnte, wenn man dem Islam treu blieb. Aus rein politischer Sicht ist allerdings ein Punkt interessant, nämlich dass für Locke ein Muslim, der sich einer fremden muslimischen weltlichen Autorität den Vorrang vor der weltlichen Autorität seines eigenen Heimatlandes gibt, nicht länger als Bürger geduldet werden kann. Der Muslim muss, wie jeder andere Bürger, nur die weltliche Autorität seines Heimatlandes als höchste Autorität in weltlichen Angelegenheiten anerkennen. Diese Autorität muss aber sein Recht respektieren, seinen Gott so zu ehren, wie dieser es ihm vorgeschrieben hat – soweit dies mit der öffentlichen Sicherheit, dem öffentlichen Frieden und der öffentlichen Ordnung vereinbar ist. Wie das von Locke selbst erwähnte Beispiel der Beschneidung zeigt, muss der in religiöser Hinsicht tolerante Staat, zumindest wie Locke ihn sich denkt, auch vorgeschriebene religiöse Praktiken zulassen, die eine Verletzung der körperlichen Integrität bedeuten – zumindest insofern diese Praktiken erstens von Gott selbst vorgeschrieben wurden und zweitens entweder auf Freiwilligkeit beruhen oder sich in ihnen das Recht der Eltern ausdrückt, über ihre Kinder zu bestimmen.72 Das gilt aber nicht nur für die Mulsime, sondern für jede Religionsgemeinschaft. Locke, so das Fazit das wir hier ziehen können, ist bereit, jede Religion zu tolerieren, die einerseits einen Gott anerkennt, der die Menschen im Falle eines Meineids bestrafen wird, und die andererseits die nationale politische Autorität als die höchste politische Autorität anerkennt. Und wie Ian Harris schreibt: „Die Juden, die Muslime und sogar die theistischen Heiden genügten den Kriterien Lockes“ (Harris 2002, S. 216). Wenden wir uns jetzt den amerikanischen Debatten zu, wie sie im ausgehenden XVIII. Jahrhundert ausgetragen wurden. Auch hier findet man keine systematische Auseinandersetzung mit dem Islam, aber auch hier tauchen einzelne Bemerkungen auf, denen man durchaus einige Zeilen widmen kann, da sie die Sphäre des Politischen tangieren.

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Ein Recht das, zu Lockes Zeit, viel weiter reichte, als dies heute der Fall ist.

Kapitel 3: Der Islam im klassischen angelsächsischen Liberalismus

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In seinem 1788 veröffentlichten Essay on the Influence of Religion in Civil Society, einem Text, in welchem er dem Staat das Recht einräumt, seinen Bürgern die Wahrheiten des Christentums beizubringen, beschreibt Thomas Reese, Grotius zitierend, den Islam als eine blutige Religion und setzt ihm das Christentum als Religion der Nächstenliebe gegenüber. Dabei leugnet Reese nicht, dass in der Vergangenheit christliche Nationen nicht immer das beste Beispiel für diese Nächstenliebe lieferten (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 321). Aber die unreine Praxis christlicher Nationen sollte nicht, suggeriert Reese, die Reinheit des Christentums in Frage stellen. Der Hinweis auf den Islam ist bei Reese Teil eines Vergleichs vieler Religionen hinsichtlich ihrer Güte, und das Ziel des Vergleichs ist es, die christliche Religion als die beste darzustellen. Die Frage, ob und inwiefern der Islam auch einen politischen Nutzen für die Freiheit haben kann, wird nicht von Reese behandelt. Insofern er aber als eine blutige Religion dargestellt wird, wird man seine Vereinbarkeit mit einem freiheitlichen Gemeinwesen in Zweifel ziehen können. Den Hinweis auf einen solchen politischen Nutzen des Islams finden wir allerdings in der Schrift The Government of Nature Delineated; or An Exact Picture of the New Federal Constitution. Der Autor dieses ebenfalls aus dem Jahr 1788 stammenden Traktats gehört dem antiföderalistischen Lager an und hat seinen Text unter dem Pseudonym Aristocrotis veröffentlicht. In seinem Traktat geht der Autor u. a. auf die Frage ein, ob und inwiefern die Religion ein Hindernis für eine Regierung und deren Machtausübung sein kann. Als Antiföderalist tritt Aristocrotis für eine Abschwächung der Zentralregierung ein, und sein Interesse für die Religion ist demnach ein vorrangig politisches. In diesem Kontext erwähnt er auch den Koran und zitiert einen Text in dem behauptet wird, dass dort, wo der Koran etwas festgelegt hat – ein religiöses Ritual, eine moralische Pflicht, usw. –, der Sultan, trotz seiner absoluten Macht, nichts daran ändern kann (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 385). Die politische Autorität muss demnach eine Normativitätsquelle anerkennen, die ihr übergeordnet ist. Wie wir vorhin gesehen hatten, war dies ein Punkt, den auch Montesquieu hervorgehoben hatte. Aristocrotis macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Anerkennung einer solchen transzendenten Normativitätsquelle besonders dann wichtig ist, wenn die politische Autorität sich nicht vor dem Volkswillen zu verantworten hat, überall dort also, wo nicht das Prinzip der Volkssouveränität herrscht. Aristocrotis will dabei in keiner Weise den Islam als angemessene Religion für Amerika vorschreiben, genauso wie Montesquieu ihn als angemessene Religion für Frankreich vorschreiben wollte. Doch beide Autoren sehen im Islam eine mögliche Begrenzung der despotischen Macht. Eine solche despotische Macht gibt es nicht in Amerika, einer Nation, in welcher das Volk sich seine eigenen Gesetze gibt und mittels freier Wahlen in das politische Leben eingreifen kann. Amerika braucht dementsprechend keine Religion, die die politische Macht begrenzt. Als die Vereinigten Staaten von Amerika eine unabhängige Nation geworden waren und als eigenständiger Akteur auf der internationalen Bühne auftraten, schlossen sie Verträge mit anderen Nationen. Am 26. Mai 1797 unterbreitete der damalige Präsident John Adams dem Senat einen Friedens- und Freundschaftsvertrag, der einige Monate zuvor mit dem Bey von Tripoli vereinbart wurde. Im zweiten

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Teil V: Der klassische Liberalismus und der Islam

Artikel des Vertrags wird ausdrücklich festgehalten, dass die amerikanische Regierung keine christliche Regierung ist, woraus dann gefolgert wird, dass es auch keine Feindschaft zwischen dieser Regierung und einer muslimischen Regierung geben kann. Dies sei umso mehr der Fall, als Amerika auch noch niemals einer muslimischen Regierung oder einem muslimischen Staat auf irgendeine Weise geschadet habe (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 476). Was für die christlichen Nationen Europas während Jahrhunderten eine ernsthafte Frage war, nämlich ob man Verträge mit den Muslimen eingehen sollte oder sich gar mit ihnen verbünden sollte, um gegen eine andere christliche Nation zu kämpfen73, ist für Amerika keine Frage mehr, wenn es denn überhaupt je eine war: Insofern die amerikanische Regierung keine religiösen Interessen vertritt, kann sie mit allen Nationen, was auch immer ihre Religion sein mag, Verträge schließen und Bündnisse eingehen. Und diese Bündnisse sind bindend, was auch immer Theologen darüber sagen mögen. Um diesen kurzen Überblick über die Diskussionen in Amerika abzuschließen, soll noch kurz eine Urteilsbegründung aus dem Jahr 1837 erwähnt werden. Der Prozess fand im Bundesstaat Delaware statt und es ging dabei um einen Fall von Gotteslästerung. Für unsere Erkenntnisinteressen ist folgende Passage aus dem Urteil wichtig: „Wenn im Staate Delaware das Volk die jüdische oder die muslimische Religion annehmen sollte, wozu es ein nicht hinterfragbares Recht hat, wenn es einer dieser beiden Religionen den Vorzug geben sollte, dann ist dieser Gerichtshof dazu verpflichtet, diese Religion als die seinige anzusehen und sie dementsprechend zu respektieren“ (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 576). Für das Gericht entscheidet demnach in letzter Instanz immer das Volk, welche Religion in einem bestimmten Bundesstaat als die herrschende gilt, und das Gericht sieht sich nicht als Bewahrer einer bestimmten Religion. Denn wie es ausdrücklich in der Urteilsbegründung heißt: Es ist nicht die Aufgabe des Gerichts, eine Religion im Hinblick auf deren Wahrheit zu schützen. Richter schützen eine Religion gegen Angriffe, weil solche Angriffe zu öffentlichen Unruhen führen können, nicht weil solche Angriffe der möglichen Wahrheit einer Religion oder der Ausbreitung dieser Religion schaden könnten (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 582). Wenn demnach Angriffe gegen den Islam zu öffentlichen Unruhen führen würden und ein fehlender Schutz durch die öffentliche Hand die Muslime dazu motivieren könnte, ihren Schutz selbst in die Hand zu nehmen, dann ist es die Aufgabe der Gerichte, dieser Rückkehr zum Naturzustand entgegenzuwirken und die Anhänger der angegriffenen Religion zu schützen. Dabei urteilen die Richter nicht darüber, welche Religion am besten geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu fördern (in: Dreisbach and Hall 2009, S. 582). Sie schützen die angegriffene Religion nicht, weil sie richtig oder wahr ist, sondern weil die Anhänger dieser Religion, wie jeder Bürger, welcher Religion er angehören mag, das Recht auf Schutz besitzt und dieses Recht gegen den Staat geltend machen kann. Dabei sollte man allerdings vorsichtig sein: Ein Staat darf sich nicht durch die bloße Angst vor Unruhen beeinflussen lassen. Es bestünde dann nämlich die Gefahr, dass jene Religionen am besten geschützt werden, deren Mitglieder be73

Eine Frage die meistens im Sinne der Staatsräson beantwortet wurde.

Kapitel 3: Der Islam im klassischen angelsächsischen Liberalismus

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reit sind, auf Gewalt zurückzugreifen. Der Staat würde dann z. B. Kritik am Islam verbieten – weil radikale Muslime mit Gewalt auf solche Kritik reagieren könnten –, aber Kritik an den Quäkern zulassen – weil diese Religionsgemeinschaft sich friedlich verhält, auch wenn ihr Glaube Gegenstand der Kritik ist. Hier würde der Schutz zwar auch nicht von der Wahrheit der geschützten Religion abhängig sein, so dass man dem Staat keine direkte Verletzung seiner Neutralitätspflicht vorwerfen könnte, aber die Unterscheidung zwischen geschützten und nicht geschützten Religion beruht doch auf einem unzulässigen Kriterium. Der Unterschied zwischen einem verbalen Angriff auf die religiösen Inhalte und einem physischen Angriff auf die Gläubigen ist hier wichtig. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Kritik an religiösen Inhalten zu unterbinden, selbst dann nicht, wenn eine solche Kritik im Lager der kritisierten Religion zu Gewalttaten führen kann. Der Staat sollte sich darauf beschränken, physische Gewalt zu unterbinden. Wo die verbale Kritik an einer Religion Gewalt hervorruft, muss der Staat demnach diese Gewalt eindämmen, und nicht die Kritik. Werfen wir, um dieses Kapitel abzuschließen, noch einen kurzen Blick auf John Stuart Mills Schriften. Auch wenn Mill sich nicht systematisch mit dem Islam auseinandersetzt, findet man die eine oder andere Stelle, die aus der hier eingenommenen Perspektive von Interesse ist. So etwa in seiner Diskussion des Comteschen Positivismus. Hier geht Mill auf den Begriff der Theokratie ein und spricht die muslimischen Gesellschaften vom Vorwurf der Theokratie frei. Er bezeichnet sie sogar als „das absolute Gegenteil der Theokratie“ (Mill 2006a, S. 319). Auch wenn in muslimischen Gesellschaften die „Priester“ als oberste Interpreten des durch Gott erlassenen Zivil- und Strafrechts fungieren, so befinden sie sich doch nicht im Besitz der weltlichen Macht. Von einer Theokratie kann nämlich nur dort gesprochen werden, wo der Klerus die staatliche Macht ausübt bzw. unmittelbar über die Ausübung dieser Macht bestimmt. In seinen Ausführungen spricht Mill nicht nur die muslimischen Gesellschaften vom Theokratievorwurf frei, sondern er zweifelt daran, ob es überhaupt jemals eine Gesellschaft gegeben hat, in welcher eine Theokratie existierte. Wie andere Autoren auch, macht Mill hier nicht den Unterschied zwischen einer Theokratie und einer Hierokratie, also zwischen einer Gesellschaft, in welcher Gott als Souverän anerkannt wird, und einer Gesellschaft, in welcher der Klerus die souveräne Macht besitzt. Islamische Gesellschaften sind in diesem Sinne Theokratien, aber, von den schiitischen Gesellschaften abgesehen, sind sie keine Hierokratien. In einem Hinweis auf Comtes Wohlwollen gegenüber den orientalischen Theokratien, bringt Mill sein partielles Einverständnis mit diesem Wohlwollen zum Ausdruck: Mögen sie auch, wie Comte es selbst zugibt, mit der Zeit unterdrückerisch geworden sein, so muss man den Theokratien doch gutschreiben, dass sie einen Beitrag zur Entwicklung der Intellekts und der Zivilisation geleistet haben. Sie halfen der „Errichtung einer regulären Regierungsausübung“ (Mill 2006, S. 361). Selbst wenn Mill die Bezeichnung „Theokratie“ nicht oder nur ganz bedingt als Beschreibung für die orientalischen Gesellschaften gelten lässt, so stimmt er doch mit Comte darüber überein, dass die Geistlichkeit in diesen Gesellschaften eine po-

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sitive politische Rolle gespielt hat. Und insofern die islamischen Gesellschaften zu den hier angesprochenen orientalischen Gesellschaften gehören, kommt auch ihm eine Rolle bei der Etablierung einer geordneten Ausübung der Regierungsmacht zu. Mill vertieft den Gedanken nicht, aber man kann davon ausgehen, dass auch er, wie Montesquieu, auf die Rolle der unabänderlichen göttlichen Gesetze aufmerksam machen will, durch die der Willkür des Despoten eine Grenze gezogen wird. Eine interessante, den Umgang mit dem Islam betreffende Passage, ist in einer Fußnote von Mills Freiheitsschrift enthalten. Genauso wie die Franzosen in Algerien, standen die Engländer in Indien vor der Frage, wie sie sich gegenüber dem Islam und den Muslimen verhalten sollten. In der eben erwähnten Fußnote prangert Mill das „törichte Schauspiel“ (Mill 1980, S. 92) eines britischen Unterstaatssekretärs an, der sich in seinem Wahlbezirk gegen die Toleranz gegenüber den Hindus und Muslimen in Indien ausgesprochen hatte. Genauso wie durch diese Rede, die das Weiterbestehen der religiösen Intoleranz offenbart, ist Mill durch das Gebahren und die Forderungen der Anführer des Evangelical Party in Rage versetzt. Diese Verlangen nämlich, dass in Indien fortan nur noch solche Schulen öffentliche Gelder erhalten sollen, in denen man die Bibel unterrichtet, und dass auch bei den Einstellungen nur noch solche Kandidaten berücksichtigt werden sollen, die sich zum Christentum bekennen. Abgesehen davon, dass eine solche Politik der religiösen Unterdrückung notgedrungen zu Aufständen führen wird – Mill erwähnt den sogenannten Sepoy-Aufstand –, widerspricht sie auch den Grundprinzipien des Liberalismus. Mag Mill auch der Meinung sein, dass die Engländer das Recht haben, Indien zu kolonisieren, um dessen Einwohnern die Zivilisation zu bringen, so identifiziert er doch keineswegs das Christentum mit der Zivilisation. Es kann demnach nicht behauptet werden, dass die englischen Christen ein Recht haben, den Hindus und Muslimen Indiens das Christentum aufzudrängen oder diese Hindus und Muslime zu benachteiligen, bloß weil sie keine Christen sind. Dass eine liberale Regierung, wie sie damals in England an der Macht war, eine Politik der Intoleranz unterstützt, spricht demnach nicht gegen den Liberalismus, sondern gegen den Anspruch dieser Regierung, eine liberale zu sein. An einer anderen Stelle von On Liberty erwähnt Mill den Islam im Kontext der Polygamie, wobei aber die Mormonen den eigentlichen Grund für das Anschneiden der Problematik liefern (Mill 1980, S. 148). Mill wundert sich dabei über die Tatsache, dass die Polygamie der Mormonen weit mehr Aufsehen erregt als die Polygamie der Hindus, Muslime oder Chinesen. Er erklärt sie sich durch die Tatsache, dass die Mormonen Englisch sprechen und sich zum Christentum bekennen, also in zwei wesentlichen Hinsichten denjenigen ähneln, die ihre ehelichen Praktiken verurteilen und für eine Politik der Intoleranz plädieren. Mill selbst gibt unumwunden zu, dass er die Polygamie der Mormonen aus moralischen Gründen ablehnt, selbst dann, wenn die Frauen der Heirat zugestimmt haben. Was Mill stört, ist die Tatsache, dass den Frauen implizit angedeutet wird, dass ihre natürliche Bestimmung die Ehe ist und dass es für sie besser ist, eine Ehefrau unter mehreren zu sein, als nicht verheiratet zu sein. Mill sieht also in der Polygamie bzw., um genau zu sein, in der Polygynie, eine strukturelle Form der

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Unterdrückung der Frauen. Aus seiner Sicht ist kein Staat dazu verpflichtet, diese Form der Ehe anzuerkennen, noch sie seinen Bürgern gesetzlich zu erlauben. Für Mill steht demnach die Freiheit der Frau – zumindest so, wie er sie sieht – über der Anerkennung bestimmter kultureller oder religiöser Praktiken. Aber, so Mill weiter, wenn die Anhänger der Polygynie sich aus der restlichen Gesellschaft zurückgezogen haben, wenn sie ihre eigene politische Gemeinschaft gegründet haben, wo sie nach ihren Prinzipien leben, hat niemand das Recht, in die Angelegenheiten dieser Gemeinschaft einzugreifen, „so lange die Opfer der schlechten Gesetze nicht um Hilfe seitens anderer Gemeinschaften bitten“ (Mill 1980, S. 148). Wendet man diese Gedanken Mills auf die heutige Welt an, in denen nicht mehr die Mormonen, sondern die Muslime als Problem empfunden werden, so folgt, dass kein Staat dazu verpflichtet ist, seinen muslimischen Einwohnern die Polygynie zu erlauben oder diese anzuerkennen. Und es folgt auch, dass westliche Länder sich nur dann ernsthaft um die Situation der Frauen in muslimischen Ländern kümmern sollten, wenn diese Frauen um Hilfe bitten. Wie Mill sagt, wenn die Betroffenen mit der Situation zufrieden „scheinen“ (Mill 1980, S. 148), sollte man von einem Eingriff absehen, wie skandalös uns die Situation auch erscheinen mag. Mit diesen Überlegungen Mills beenden wir diesen Teil über den Islam aus der Sicht der klassischen liberalen Denker und kommen zu den Schlussbetrachtungen des Buches.

SCHLUSSBETRACHTUNGEN Kann die Freiheit in einer Gesellschaft bestehen oder gar gedeihen, in welcher jeder nur sich selbst sieht und seine eigenen Interessen verfolgt, in welcher also niemand ein Gut anerkennt, das seine rein persönlichen Interessen transzendiert und niemand etwas anderes als die bloße Befriedigung seiner Interessen sucht? In welcher also, anders gesagt, niemand die Freiheit als solche – unabhängig von dem, was sie ihm unmittelbar selbst bringen kann – will? Und zwar in dem Sinne will, dass er bereit ist, andere Güter und somit die Befriedigung seiner Interessen um der Freiheit willen zu opfern? Wenn man an die Existenz einer unsichtbaren Hand glaubt, wird man vielleicht eine positive Antwort auf diese Frage geben – zumindest wenn man auch noch voraussetzt, dass diese unsichtbare das Ziel verfolgt, die Freiheit in der Gesellschaft gedeihen zu lassen. Beide Prämissen – es gibt eine unsichtbare Hand und diese unsichtbare Hand will die menschliche Freiheit – scheinen mir höchst problematisch zu sein bzw. scheint es mir gewagt, sie als Rahmen für das eigene Handeln zu setzen. Vielleicht sind sie wahr. Empirisch beweisen lassen sie sich aber nicht. Wer sie akzeptiert oder verwirft, tut dies nicht auf Grund einer Einsicht der Vernunft in ihre Wahrheit oder Falschheit, sondern aus andersweitigen Gründen oder sogar Ursachen. Manche werden sagen, dass die Wahrheit oder Falschheit dieser Prämissen einem gleichgültig sein können und dass ein politischer Liberalismus sich nicht auf das minierte Feld der Metaphysik begeben sollte, da hier keine Hoffnung auf Konsens besteht. Man sollte sich vielmehr damit begnügen, an der Errichtung einer liberalen Gesellschaft mitzuarbeiten. Wer dies allerdings sagt, hat dadurch aber schon implizit zu verstehen gegeben, dass es in seinen Augen keine unsichtbare Hand gibt. Der Glaube an die Wirksamkeit der Tugenden der Institutionen ersetzt nicht nur den Glauben an die Wirksamkeit der individuellen Tugenden, sondern er verneint implizit auch den Glauben an die Wirksamkeit einer unsichtbaren ordnenden Hand, die aus vielen unkoordinierten individuellen Handlungen ein geordnetes Ganzes entstehen lässt, ohne dass die Individuen sich im Geringsten um eine Koordination zu kümmern hätten. Als Theorie des politischen Handelns setzt der politische Liberalismus immer voraus, dass die Freiheit nicht ohne den menschlichen Willen entsteht und sich nicht ohne den menschlichen Willen erhält. Die Freiheit ist demnach ein Gut, um das wir Menschen uns bemühen müssen, ein Gut, das nicht spontan entsteht, sondern für dessen Verwirklichung wir selbst sorgen müssen. Wer die Freiheit haben will, muss die Freiheit wollen und glauben, dass die Verwirklichung der Freiheit von seinem Handeln abhängt. Doch was bedeutet in diesem Zusammenhang überhaupt „Freiheit“? Für die klassischen Liberalen steht die Freiheit im Gegensatz zur Willkür und die Willkür wird ihrerseits im Gegensatz zur Vernunft definiert, so dass Freiheit und Vernunft aufeinander verweisen. Die „liberté“ ist nicht mit der „licence“ zu verwechseln,

Schlussbetrachtungen

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um den Gegensatz in der klassischen französischen Terminologie zu formulieren.1 Die „liberté“ besteht darin, das zu tun, was der Vernunft entspricht, wohingegen die „licence“ darin besteht, das zu tun, was man zufälliger Weise will. Die Freiheit verweist immer auf ein Gesetz, wohingegen der Willkür diese Anbindung an ein Gesetz fehlt. Insofern die Freiheit auf ein Gesetz verweist, transzendiert sie die Dimension der kontingenten empirischen Individualität und konfrontiert das Individuum mit einem Sollen. Das Individuum soll so handeln, wie es ihm seine Vernunft vorschreibt bzw. darf es nur solche Handlungen ausführen, die seine Vernunft ihm nicht verbietet. In einer idealen liberalen Gesellschaft führen die Individuen nur solche Handlungen aus, die nicht von der Vernunft verboten werden. Und sie führen diese Handlungen aus, weil sie einsehen, dass sie es tun sollen und weil diese Einsicht für sie intrinsisch motivierend ist. In einer solchen idealen Gesellschaft bedarf es prinzipiell keines Herrn. In einem Brief an Sedgwick aus dem Jahr 1853 bedauert Tocqueville, dass in Europa die freien Institutionen tot sind und dass die Zivilisation, „anstatt die Menschen darauf vorzubereiten, ohne einen anderen Herrn als sie selbst zu leben, anscheinend nur dazu gedient hat, ihre Unterwerfung zu vergolden und zu legitimieren“ (Tocqueville OC VII, S. 156–157). In einer freien Gesellschaft ist jeder sein eigener Herr. Das bedeutet nicht nur, dass er der Willkür keines anderen Individuums unterworfen ist, sondern es bedeutet auch, dass er nicht der Sklave seiner eigenen Willkür und der diese Willkür bestimmenden Begierden ist. Die innere Freiheit des Menschen ist der Garant für die äußere Freiheit und die Aufgabe der Zivilisation besteht darin, diese innere Freiheit zu ermöglichen. Reale Gesellschaften sind natürlich noch meilenweit von einer idealen liberalen Gesellschaft entfernt. Viele Menschen unterlassen es, überhaupt nach dem zu fragen, was die Vernunft von ihnen verlangt. Andere mögen zwar wissen – oder sie sagen, sie wüssten es –, was die Vernunft von ihnen verlangt, richten ihr Handeln aber nicht danach, weil in ihnen die Stimme der Vernunft durch eine andere Stimme übertönt wird. Sie sehen das Richtige, tun es aber nicht. Noch andere richten zwar ihr Handeln nach dem, was die Vernunft von ihnen verlangt, tun es aber nicht, weil die Vernunft ein solches Handeln von ihnen verlangt, sondern weil ein der Vernunft gemäßes Handeln sich ihnen zugleich als ein Handeln präsentiert, das ihren persönlichen Interessen dient. Und dann gibt es schließlich solche Menschen, die durchaus bereit wären, ihr Handeln nach dem auszurichten, was die Vernunft von ihnen verlangt, und es sogar zu tun, weil die Vernunft es von ihnen verlangt, die aber auch nach langen Überlegungen nicht wissen, was die Vernunft wirklich von ihnen verlangt. Sie wissen um ihre prinzipielle Fehlbarkeit und sie wissen auch um die Fehlbarkeit ihrer Mitmenschen. Wenn nun aber jeder Mensch fehlbar ist, dann wird man nie mit absoluter Gewissheit wissen können, was die Vernunft von einem verlangt. 1

Madison hat allerdings davor dieser Unterscheidung – er spricht von „liberty“ und „licentiousness“ – gewarnt, indem er darauf hinwies, dass es ein leichtes Spiel ist, jemandem eine Freiheit unter dem Vorwand abzusprechen, es sei nur den Gebrauch der Willkür, den man ihm abspricht (in: Brenner 2004, S. 147).

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Schlussbetrachtungen

Die Aufklärung wollte die Vernunft zur einzigen Richtschnur des menschlichen Handelns machen und dadurch den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien, wie es Kant in seiner klassischen Definition formuliert hat. Der klassische Liberalismus wollte das vernünftige Individuum zum normativen Referenzpunkt des politischen Handelns machen, so dass dieses Individuum erstens als politisches Subjekt, d. h. als aktiver Bürger an der Mitgestaltung des politischen Gemeinwesens wirken konnte, und zweitens als passiver Bürger, d. h. als ein den Gesetzen unterworfenes Wesen, nur solchen Gesetzen unterworfen war, die der Vernunft entsprachen. Indem man sich dem Gesetz unterwarf, unterwarf man sich nicht der Willkür der anderen, sondern der gemeinsamen Vernunft. Und wenn jemand den Gesetzen zuwider handelte, so rechtfertigte man dieses Zuwiderhandeln nicht, indem man auf den willkürlichen Charakter der Gesetze verwies, sondern man erklärte es durch den Hinweis auf die Schwäche der menschlichen Natur. Oder man entschuldigte es durch einen Mangel an Vernunft oder durch Verweis auf eine nicht genügend ausgebildete Vernunft. In diesem letzten Fall musste man dann aber erklären, wieso die Vernunft nicht genügend ausgebildet war – war es, weil das Individuum noch ein Kind war, oder hing es mit einem mangelhaften Bildungssystem zusammen? Was soll man tun, wenn man kein im vollen Sinn vernünftiges Individuum in der geschichtlichen Wirklichkeit findet oder wenn im vollen Sinn vernünftige Individuen nur eine äußerst kleine Minderheit ausmachen? Hobbes lieferte eine auf den ersten Blick plausible und klare Antwort: Man unterwirft die Individuen einer absoluten Macht und verbietet es ihnen, sich gegen diese Macht aufzulehnen. Und wenn man diesem letzten Verbot ein möglichst großes Abschreckungspotential verleihen wollte, stellte man den Rebellen nicht nur eine irdische, sondern zugleich auch eine göttliche Strafe in Aussicht. Genau diese Überlegungen stellten die klassischen liberalen Denker in Frage. Einerseits wollten sie die Menschen keiner absoluten irdischen Macht unterwerfen, und zweitens wollten sie keiner politischen Macht das Recht zugestehen, mit göttlichen Strafen zu drohen, um sich auf diese Weise besser abzusichern. Sie sahen aber durchaus das Problem, auf das Hobbes eine Antwort gegeben hatte. Um die Hobbes’sche Antwort zu umgehen, griffen sie u. a. auf die Religion zurück, ohne diese aber als ein instrumentum regni zu empfehlen. Die Religion erlaubte es ihnen auf der einen Seite, an dem Gedanken einer absoluten, unanfechtbaren gesetzgebenden Macht festzuhalten, bloß dass diese Macht nicht mehr in den Händen von Menschen lag, sondern mit Gott identifiziert wurde. Insofern dieser Gott als ein notwendig wohlwollendes Wesen gedacht wurde – das Wohlwollen war ein definitorisches Merkmal Gottes, d. h. es gehörte zu seiner Natur –, und dieses Wohlwollen auch notwendig immer der Vernunft entsprach – denn Gott war auch von Natur her ein absolut vernünftiges Wesen –, waren die göttlichen Gesetze kein Produkt der Willkür. Und wenn sie kein Produkt der Willkür waren, dann behielten die Menschen ihre Freiheit, wenn sie ihnen gemäß handelten und sie zur Richtschnur ihres Handelns machten. Und sogar noch weiter: Die Konformität mit den göttlichen Gesetzen machte das Handeln erst zu einem freien Handeln. Oder noch anders formuliert: Nur derjenige der weiß, dass sein Handeln den göttlichen Ge-

Schlussbetrachtungen

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setzen konform ist, kann wissen, dass er frei handelt, dass er sich nicht irgendeiner Willkür unterwirft. Gleichzeitig wurde behauptet, dass Gott die menschliche Freiheit will. Weit davon entfernt, die Unterwerfung der Menschen unter eine absolute irdische Macht zu wollen, will Gott vielmehr, dass die Menschen sich von allen durch die Willkür bestimmten Unterwerfungsverhältnisse befreien. Gott hat den Menschen als ein freies Wesen geschaffen und die Freiheit ist demnach ein göttliches Geschenk, das man nicht nur zu gebrauchen berechtigt ist, sondern zu dessen vernünftigem Gebrauch man verpflichtet ist. Die menschliche Freiheit wird so zu einem gottgewollten telos und die Revolutionen im Namen dieser Freiheit können, wie bei Locke, als einen Appell an den Himmel gedeutet werden: Die Menschen rufen Gott an, damit er ihnen bei der Verwirklichung seiner Pläne beisteht. Die Revolution gegen die absolute Macht der Fürsten ist dann kein Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung, sondern genau das Gegenteil: Ein Beitrag zur Verwirklichung dieser göttlichen Ordnung. Revolutionen im Namen der Freiheit zerstören nicht die Ordnung, sondern sie tragen vielmehr dazu bei, die einzige legitime Ordnung herzustellen. Der klassische politische Liberalismus ersetzt somit eine politische Theologie der Unterwerfung unter die absolute Macht des irdischen Souveräns durch eine politische Theologie der Befreiung von der absoluten Macht des irdischen Souveräns. Im Gegensatz zur politischen Theologie der Unterwerfung verlangt diese neue politische Theologie aber von den Individuen, dass sie zu Menschen werden, die ohne die absolute Macht eines irdischen Souveräns leben können. Dabei wird vorausgesetzt, dass sie zu solchen Menschen werden können. Die neue politische Theologie geht somit Hand in Hand mit einer neuen politischen Anthropologie, wobei aber diese politische Anthropologie immer die politische Theologie voraussetzt. Die neue politische Anthropologie glaubt an die Freiheit des Menschen, sie kann diese Freiheit aber nur im Rahmen einer politischen Theologie denken. Tocqueville hat es unphilosophischer ausgedrückt: „[I]ch bin geneigt zu denken, dass er, wenn er keinen Glauben hat, dienen muss, und, wenn er frei ist, glauben muss“ (Tocqueville OC I, 2, S. 29). Der von Gott zur Freiheit bestimmte Mensch kann nur dann in den Genuss dieser Freiheit kommen und diesen Genuss langfristig absichern, wenn er sich als einen durch Gott zur Freiheit bestimmten Menschen betrachtet. Die aus unserer Sicht zentrale Frage ist, ob man in diesem letzten Satz vier Wörter streichen kann, und zwar einerseits das Wortpaar „von Gott“ und andererseits das Wortpaar „durch Gott“, ob also folgender Satz als wahr bzw. als einen im Modus des Als-ob wahren Satz angesehen werden kann: Der zur Freiheit bestimmte Mensch kann nur dann in den Genuss dieser Freiheit kommen und diesen Genuss langfristig absichern, wenn er sich als einen zur Freiheit bestimmten Menschen betrachtet. Eigentlich haben wir es hier nicht mit einer, sondern mit mehreren Fragen zu tun. Die erste Frage betrifft die Bestimmung zur Freiheit: Sind wir Menschen wirklich zur Freiheit bestimmt, und wenn ja, wodurch? Wer den Menschen im Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes denkt, wird dort bestenfalls Freiheit, aber keine Bestimmung zur Freiheit finden. Schlimmstenfalls wird er nicht einmal Frei-

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Schlussbetrachtungen

heit finden, sondern höchstens die auf der Unkenntnis der neurologischen Vorgänge im Gehirn fundierte Illusion der Freiheit. Eine zweite Frage betrifft den Zusammenhang zwischen dem Genuss der Freiheit und dem Glauben an die Bestimmung zur Freiheit. Ist es wirklich so, dass wir an die Bestimmung zur Freiheit glauben müssen, um frei zu sein bzw. um langfristig frei zu bleiben? Genügt es, wenn wir dem argwöhnisch auf unsere Freiheit schielenden Staat entgegenhalten, dass wir frei sein wollen und dass er uns deshalb diese Freiheit nicht wegnehmen darf? Welchen normativen Wert hat ein rein subjektives Wollen, mag dieses Wollen auch das Wollen einer großen Mehrheit sein? Muss dieses subjektive Wollen sich nicht als im Einklang mit einer objektiven Ordnung darstellen? Als Luther vor dem Kaiser Karl V. stand, sagte er nicht „Hier steh ich nun und will nicht anders“, sondern „Hier steh ich nun und kann nicht anders“. Dem Kaiser sollte klar gemacht werden, dass er es nicht mit dem bloßen Wollen des Individuums Martin Luther zu tun hatte, sondern mit einem sich in diesem Individuum inkarnierenden objektiven Sollen. Muss man dementsprechend nicht auch dem vorhin erwähnten Staat etwas anderes als das bloße Wollen oder, noch trivialer, eine bloße individuelle Vorliebe entgegen halten? Muss man nicht die Freiheit als dasjenige betrachten, wozu der Mensch bestimmt ist, mag er diese Freiheit de facto wollen oder nicht? Warum sollte der Staat den individuellen Vorlieben einen normativen, sein Handeln einschränkenden Status zuerkennen? Wo ich dem Willen des Staates nur meinen kontingenten individuellen Willen entgegensetzen kann, stehen zwei Willen sich einander gegenüber und es ist nicht einzusehen, wieso der Staat meinen Willen respektieren sollte und nicht ich den seinigen. Vielleicht liegen die Neurowissenschaften richtig, wenn sie behaupten, dass der Mensch nicht frei ist. Und vielleicht liegen die Soziologie und die Psychologie auch richtig, wenn sie behaupten, dass der Mensch, mag er auch frei sein, trotzdem nicht frei sein will bzw. Probleme mit der Freiheit hat. Hier sollte man allerdings auf den Ausdruck „der Mensch“ aufpassen. Die Aussage der Neurowissenschaften bezieht sich prinzipiell auf jedes einzelne Individuum, wohingegen die Aussage der Soziologie und Psychologie sich auf den Durchschnittsmenschen bezieht und demnach so zu verstehen ist, dass der Mensch, der der statistischen Norm entspricht, die Freiheit nicht will. Wo die Soziologie sich meistens damit begnügt, die statistische Norm zu errechnen, sucht die Psychologie auch nach Ursachen und versucht demnach zu erklären, wieso der Mensch nicht frei sein will, wieso er sich also in seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit wohl fühlt. Kant führte diese selbstverschuldete Unmündigkeit zum Teil auf eine dem Menschen innewohnende Faulheit zurück, schloss aber nicht aus, dass sie auch durch die Angst bedingt sein könne – deshalb das sapere aude, also der Aufruf, Mut zu zeigen und keine Angst vor dem eigenen Vernunftgebrauch zu haben. Für Kant, der in der Kritik der reinen Vernunft den metaphysischen Rahmen schuf, um die menschliche Freiheit zu denken, bevor er in seinen moralphilosophischen Schriften – zuerst in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dann in der Kritik der praktischen Vernunft – den kategorischen Imperativ als Zeichen unserer Freiheit sah, war der Mensch ein zur Freiheit bestimmtes Wesen. Kant wollte die traditionelle Sicht der Dinge wegschieben, um der Freiheit Platz zu machen, wobei

Schlussbetrachtungen

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er diese Freiheit allerdings nicht in einem leeren Raum stehen lässt, sondern sie als Teil einer neuen Weltsicht konzipiert. Und diese neue Weltsicht erlaubt es ihm, Freiheit und Determinismus gleichzeitig zu denken. Es soll dahin gestellt bleiben, ob der für die Rettung der menschlichen Freiheit gezahlte Preis – die Verdopplung der Welt in eine Welt an sich und eine Welt für uns – nicht vielleicht doch zu hoch ist. Uns interessiert hier nur die Ansicht Kants, dass man die Freiheit nicht einfach als ein zufälliger Gegenstand des menschlichen Wollens betrachten kann, sondern dass man sie vielmehr als die Natur des Menschen, insofern er ein vernünftiges Wesen ist, betrachten muss. Will das vernünftige Wesen Mensch ein seiner Natur gemäßes Leben führen, so kann dieses Leben nur ein an der Vernunft orientiertes Leben sein. Und ein sich an der Vernunft leitendes Leben ist ein freies Leben. Für Kant soll der Mensch als vernünftiges Leben die Freiheit wollen. Und das bedeutet nicht, dass er ein Leben wollen soll, in dem er nach Lust und Laune handeln kann, sondern das gewollte Leben soll ein solches sein, das auch allen anderen erlaubt, ein vernünftiges Leben zu führen. Die Freiheit ist immer nur als kollektive Freiheit möglich und das Reich der Zwecke ist ein solches, in welchem kein Handelnder die Bedingungen der Möglichkeit eines vernünftigen, und d. h. freien, Lebens durch sein Handeln (oder seine Handlungsunterlassungen) gefährdet. Bei Kant steht somit nicht meine Freiheit im Zentrum bzw. steht sie nicht allein im Zentrum, sondern es geht immer um das System der Freiheit(en). Dieses System der Freiheit(en) ist etwas an sich Wertvolles, und gerade weil es etwas an sich Wertvolles ist, verpflichtet es mich zu seiner Verwirklichung, oder zumindest doch dazu, es nicht zu gefährden. Ich muss die Integrität des Systems der Freiheit(en) wollen, wobei meine Freiheit Teil dieses Systems ist. Es geht also nicht darum, dass ich meine Freiheit um des Ganzen willen opfere, sondern dass ich mich für die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Verwirklichung einsetze.2 Gehen wir einmal davon aus, dass der Mensch frei ist und auch zur Freiheit bestimmt ist. Dann stellt sich die dritte der vorhin erwähnten Fragen: Muss der Mensch seine Freiheit und seine Bestimmung zur Freiheit mit einer religiös bestimmten Transzendenz in Verbindung bringen? Oder noch anders formuliert: Muss der Mensch glauben, dass (a) Gott will, dass er frei sei, und (b) die Grenze seiner Freiheit oder genauer noch die Grenze zwischen Freiheit und Willkür von Gott

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Trotz der riesigen Unterschiede, die es zwischen ihren jeweiligen Systemen gibt, kann man dennoch eine wichtige Ähnlichkeit zwischen Hobbes und Kant beobachten. Hobbes geht es darum ein System zu schaffen, in dem die Bedingungen der Möglichkeit eines (ungefährlichen) Handelns gemäß den natürlichen Gesetzen existieren, so dass also, ganz vereinfacht ausgedrückt, der Ehrliche nicht der Dumme ist. Bei Kant geht es darum, ein System zu schaffen, in dem die Bedingungen der Möglichkeit eines (ungefährlichen) gemäß den vernünftigen Gesetzen existieren, so dass also niemand unvernünftig handelt. Ein Unterschied zwischen beiden Denkern ist allerdings, dass bei Kant die Pflicht zum vernunftgemäßen Handeln auch dann noch besteht, wenn ein solches Handeln gefährlich ist, wohingegen bei Hobbes die NichtExistenz der Bedingungen der Möglichkeit eines ungefährlichen Handelns impliziert, dass jedes Individuum auf sein natürliches Recht zurückgreifen kann. Nota bene: Ich bin mir bewusst, dass dieser Vergleich gewagt ist und dass er vor allem nicht von allen Kantianern akzeptiert werden wird.

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Schlussbetrachtungen

gezogen wird? Hier stoßen wir auf das Problem nach der Relevanz der Religion für das Problem der menschlichen Freiheit. Für klassische liberale Denker wie Constant und Tocqueville war die Antwort auf diese beiden Fragen positiv. Zumindest waren sie der Überzeugung, dass für die große Mehrheit der Menschen eine solche Verbindung nötig war, da diese große Mehrheit nicht in der Lage war, sich an der reinen Philosophie zu orientieren. Wenn die Menschen alle Philosophen wären, bräuchten sie keinen religiösen Glauben, um ihre Freiheit zu begründen, da die Vernunft allein dazu in der Lage wäre. Aber da die allermeisten Menschen keine Philosophen sind, müssen sie durch den Glauben an einen die menschliche Freiheit wollenden Gott geleitet werden, genauso wie die Menschen während Jahrhunderten durch den Glauben an einen die absolute Herrschaft eines Königs wollenden Gott dazu geführt wurden, sich einer solchen Herrschaft zu unterwerfen.3 Die Liberalen, so könnte man noch hinzufügen, wollen, vereinfacht gesagt, die Absolutisten mit deren eigener Waffe schlagen: Wenn dem religiös begründeten Absolutismus die Möglichkeit genommen werden sollte, den Liberalismus als gottlos zu bezeichnen, dann musste der Liberalismus seinen Wert der Freiheit mit Gott in Verbindung bringen. Ein Gottesgnadentum musste durch ein anderes ersetzt werden: Der Herrscher von Gottes Gnaden musste durch den freien Menschen von Gottes Gnaden ersetzt werden. Das legte einerseits dem freien Menschen die Bürde auf, seiner gottgewollten Freiheit gerecht zu werden, d. h. ein Verhalten an den Tag zu legen, das dieser Freiheit würdig war – wenn Gott dem Menschen die Freiheit verliehen hatte, dann nicht, damit er sie missbraucht, sondern damit er sie auf eine vernünftige Weise gebraucht4 –, bedeutete aber andererseits für die Herrschenden, dass sie die Freiheit ihrer Bürger respektieren mussten. Das Band, das Gott und den freien Menschen verband, wurde somit als Bedingung der Möglichkeit des Respekts der Freiheit des freien Menschen gedacht, genauso wie vorher während Jahrhunderten das Band, das Gott mit dem von Gott gewollten Herrscher verband als Bedingung der Möglichkeit des Respekts der politischen Autorität des Herrschers gedacht wurde. Die Respektwürdigkeit der politischen Autorität und die Respektwürdigkeit der menschlichen Freiheit hingen somit in letzter Instanz von ihrer Verbindung mit einem Wesen ab, das als letzte Quelle jedes möglichen Respekts angesehen wurde. Wenn es Gott nicht gäbe, so der Gedanke, dann wäre alles erlaubt, und wenn alles erlaubt wäre, dann gäbe es nichts mehr, das man respektieren müsste. Spätestens mit der französischen Revolution wurde die Theorie des Gottesgnadentums in die berühmte Rumpelkammer der Geschichte gestellt.5 Das sich eine Verfassung gebende französische Volk wollte auf seinen eigenen Füßen stehen und 3 4 5

Hobbes hat gezeigt, dass auch die natürliche Vernunft bzw. der kalkulierende Verstand die Individuen dazu bringen kann, sich einer absoluten Macht zu unterwerfen. Genauso hatten auch die Absolutisten argumentiert: Wenn Gott den Herrschern eine absolute Macht gegeben hatte, dann nicht, damit sie sie missbrauchen, sondern damit sie sie zur Verwirklichung der von Gott gewollten Gerechtigkeit einsetzen. Was nicht bedeutet, dass alle Spuren überall verschwunden sind. Noch im Jahr 1997 wurde mir ein Dokument ausgehändigt – meine Nominierung an das Lycée de Garçons Esch –, das mit

Schlussbetrachtungen

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es wollte seine Verfassung nicht an eine ihm und seinem Willen transzendente Ordnung anbinden. Es sah sich als Ursprungsquelle der Souveränität und nicht bloß als die delegierende Quelle einer Souveränität, die ihm selbst vorher delegiert worden war. Der Hinweis auf das verfassungsgebende Volk sollte dieselbe Rolle spielen wie vorher der Hinweis auf Gott: Den Respekt gegenüber der Verfassung und damit auch gegenüber allen durch diese Verfassung definierten oder ins Leben gerufenen Formen der politischen Autorität erzeugen. Gleichzeitig mit der Abwendung von der Theorie des Gottesgnadentums bezüglich der politischen Autorität wurde sich auch von der Theorie des Gottesgnadentums bezüglich der Freiheit abgewendet. Problematisch dabei war aber, dass das Volk, auf das man sich berief, genauso wenig als Bestandteil der empirischen Welt existierte als der Gott, auf den man sich vorher berufen hatte.6 Auch wenn die Behauptung, die Theokratie sei durch die Demokratie ersetzt worden, an sich stimmt, so muss man doch gleich hinzufügen, dass der Gott der Theokratie und das Volk der Demokratie nicht als historische Größen gedacht werden können, sondern als Grenzbegriffe, was u. a. bedeutet, dass keine als historische Größe existierende Instanz sich jemals als letzten Interpreten des Willens Gottes oder des Volkes darstellen kann. Insofern das Repräsentierte nicht in der Geschichte existiert, kann kein historisch existierender Repräsentant es vollkommen oder adäquat repräsentieren.7 Ich will hier nicht bestimmen, welcher der beiden eben genannten Grenzbegriffe absolut gesehen der beste oder der richtigste ist. Eigentlich müsste man die beiden noch durch einen dritten ergänzen, nämlich den der Menschheit. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang vor allem zu sein, dass es überhaupt einen Grenzbegriff gibt, einen Begriff, um mit Kant zu reden, von dem man keinen kon­ stitutiven Gebrauch machen darf, den man aber durchaus als regulativ gebrauchen kann und soll. Ein Liberalismus der auf jeden Grenzbegriff verzichtet, der, wie man es ihm oft vorwirft, nur noch das konkrete sinnlich erfassbare Individuum mit seinen unmittelbaren Begierden sieht und dieses Individuum dann quasi vergöttert – aber als ein Gott, dessen Reich schon auf dieser Erde ist –, verrät eigentlich die ursprünglichen Grundintentionen des klassischen Liberalismus, wie man ihn

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den Worten beginnt: „Nous Jean, par la grâce de Dieu, Grand-Duc de Luxembourg, Duc de Nassau“. Und wer sollte eigentlich zum Volk gehören? Nur die Staatsbürger die einen bestimmten Zensus zahlten? Alle Staatsbürger? Die Staatsbürger und die Staatsbürgerinnen? Die Einwohner? Diese Fragen sind heute aktueller denn je und legen die Frage nahe, was die Kategorie des Volkes bzw. des demos im Rahmen einer der heutigen Umständen angepassten politischen Theorie leisten kann (siehe Colliot-Thélène 2011). Kenner der französischen politischen Philosophie werden hier eine Andeutung auf Claude Leforts These der Leerstelle erkennen. Besonders empfehlenswert ist die Lektüre von Leforts kleinem Aufsatz ‚La révolution comme religion nouvelle‘ (Lefort 1992). Nabila Abbas situiert Leforts politisches Denken „zwischen Totalitarismus und Demokratie“ (Abbas 2015, S. 131). Sie hat sicherlich recht mit dieser These. Aber m. E. steht das zeitgenössische politische Denken nicht vor der Wahl zwischen Totalitarismus und Demokratie, sondern vor der Wahl zwischen einer totalitären und einer nicht-totalitären Form der Demokratie. Ich denke, dass Lefort diese Beschreibung wahrscheinlich nicht abgelehnt hätte.

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bei Locke, Montesquieu, Constant, Tocqueville oder noch Mill, um nur die ganz Großen zu nennen, findet. Die Gefahr für eine liberale Gesellschaft kommt nicht nur vom Holismus, der das Individuum vollends in der Gesellschaft aufgehen lässt, sondern auch vom radikalen Individualismus, der das Individuum von jeder Form von Transzendenz abschneidet. Auch wenn eine liberale Gesellschaft ohne Religion im engen Sinn des Wortes bestehen kann, d. h. ohne den Glauben ihrer Mitglieder an einen Gott, so kann sie doch m. E. nicht ohne den Glauben an eine Transzendenz bestehen. Diese Transzendenz muss aber als prinzipiell unrepräsentierbar gedacht werden. Insofern kann keine Instanz den Anspruch erheben, allein in ihrem Namen zu sprechen. Gleichzeitig gilt aber, dass die Menschen ihr Zusammenleben unter Gesetzen ordnen müssen. Im Idealfall sollten diese Gesetze jene sein, die Gott, das Volk oder die Menschheit wollen. Da Gott, das Volk und die Menschheit aber unrepräsentierbar sind, können keine menschlichen Gesetze einen Anspruch auf absolute Gültigkeit geltend machen. Oder genauer gesagt: Nur solche menschlichen Gesetze können einen Anspruch auf Gültigkeit erheben, die die Bedingungen ihrer eigenen möglichen Infragestellung durch alle Betroffenen nicht gefährden. Diese Gesetze werden nämlich allein der Tatsache gerecht, dass die Souveränität unrepräsentierbar ist. Der Tatsache? Sollten wir hier nicht lieber von einem Dogma sprechen? Ich ziehe es vor, von einem Postulat der liberalen Vernunft zu sprechen: Um die menschliche Freiheit angemessen denken zu können, muss man die Souveränität als unrepräsentierbar denken. Wenn hier ein Dogma im Spiel ist, dann ist es das Dogma der Freiheit bzw. das Dogma der Bestimmung des Menschens zur Freiheit. Dieses Dogma ist für den politischen Liberalismus konstitutiv. Der politische Liberalismus kann nicht beweisen und auch nicht wissen, dass der Mensch zur Freiheit bestimmt ist und er kann sich auch nicht mit der Feststellung begnügen, dass die empirisch existierenden Menschen die Freiheit wollen. Wie sollte der liberale Staat sich in diesem Zusammenhang verhalten? Er steht schließlich vor der Gretchenfrage, die man nicht nur als Frage nach dem Verhältnis des liberalen Staates zur Religion, sondern auch als Frage nach seinem Verhältnis zur Freiheit interpretieren sollte. Als Staat stellt er sicherlich, wie jeder Staat, eine Bedrohung für die individuelle Freiheit dar. Aber als liberaler Staat ist er dazu verpflichtet, die Freiheit und darüber hinaus auch die Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zu erhalten. Dieser letzte Punkt scheint mir hier der wichtigste und zugleich auch der problematischste zu sein. Man wird leicht zugeben können, dass es die Aufgabe des liberalen Staates ist, zu verhindern, dass andere Menschen in meine legitime Freiheitssphäre eingreifen und man wird auch von ihm verlangen, dass er davon absieht, willkürlich in diese Sphäre einzugreifen. Doch wird man vielleicht nicht mehr so leicht zugeben, dass es auch die Aufgabe des Staates sein kann, jene Bedingungen aufrecht zu erhalten, die solche Freiheitssphären allererst ermöglichen. Und zu diesen Bedingungen gehört der Wille der Individuen, frei zu sein. Stellen wir dem liberalen Staat die Gretchenfrage demnach wie folgt: „Wie hälst Du es mit dem Willen der Individuen, frei zu sein?“. Solange es diesen Willen gibt, stellt sich für den Staat höchstens die Frage, ob und inwiefern er ihm entgegen-

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kommen soll. Die menschliche Geschichte war bislang vor allem eine Geschichte eines sich gegen den Freiheitswillen seiner Untertanen wendenden Staates. Auf der einen Seite gab es die Individuen, die frei sein wollten. Auf der anderen der Staat, der in der individuellen Freiheit eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung sah. Die gewollte Freiheit wurde aber nicht immer, wenn nicht sogar ganz selten, als eine allgemeine Freiheit gedacht. Der Adel wollte seine mit der Freiheit identifizierten Privilegien gegenüber der Krone verteidigen, dachte aber keinen Augenblick daran, auch dem niederen Volk Privilegien zu gewähren. Die erwachsenen Männer der unteren Klassen beanspruchten ihre mit dem allgemeinen Wahlrecht identifizierte Freiheit gegenüber den Besitzern, dachten aber kaum oder selten daran – John Stuart Mill ist eine der wenigen Ausnahmen –, auch den Frauen das Wahlrecht zu gewähren. Die Ausweitung der Freiheit wurde immer oder oft als Gefahr für die öffentliche Ordnung gesehen. Korrekter hätte es heißen müssen: Für eine öffentliche Ordnung. Doch für viele war das Verschwinden einer bestimmten Verwirklichung öffentlicher Ordnung gleichbedeutend mit dem Verschwinden der öffentlichen Ordnung schlechthin. Für sie war eine ihren Interessen entsprechende öffentliche Ordnung immer die einzig denkbare öffentliche Ordnung. Oft war es denn auch diese Angst um die Zerstörung der öffentlichen Ordnung, die dazu führte, dass man bereit war, auf die Freiheit zu verzichten und sich einem diese Ordnung angeblich schützenden providentiellen Herrscher zu unterwerfen. Und wo es nicht diese Angst war, war es die Angst, sein Leben im Kampf um die Freiheit zu verlieren. In beiden Fällen aber wurde die Freiheit nicht mehr als das höchste Gut gesehen, oder auch nur als jenes Gut, ohne die der Genuss aller übrigen Güter an Wert verliert oder gar mit der Zeit unmöglich wird. Wenn man demnach auch in der Geschichte immer wieder Zeitalter findet, in denen die Menschen nach Freiheit verlangen, so findet man doch umkehrt auch immer wieder Zeitalter, in denen die Menschen die Freiheit nicht wollen und ihr, bestenfalls, gleichgültig, schlimmstenfalls sogar feindlich gesinnt gegenüberstehen. Wie sollte der Staat aber reagieren, wenn er feststellt, dass die Individuen nicht mehr frei sein wollen, wenn sie ihre Freiheit sogar als eine Last empfinden? Soll er den Freiheitswillen dann fördern? Soll er sich dann ebenso um die Voraussetzungen dieses Willens kümmern, wie er sich heute um die Natur, als Voraussetzung des menschlichen Lebens, kümmert? Und wie sollte der Staat sich hinsichtlich des Erlernens und der Verwirklichung eines vernünftigen Gebrauchs der Freiheit verhalten? Soll der Staat einen solchen vernünftigen Gebrauch definieren oder sollte er sich damit begnügen, die Bürger in die Lage zu versetzen, vernünftig über einen vernünftigen Gebrauch der Freiheit beraten zu können – womit er natürlich schon einen Begriff der vernünftigen Beratung voraussetzt? In seinen Vorarbeiten für die durch seinen frühzeitigen Tod leider nicht mehr erschienenen Fortsetzung von L’Ancien Régime et la Révolution, schreibt Tocqueville über die Situation in Frankreich: „Hohe Klassen, die der Freiheit gegenüber feindlich gesinnt sind, niedere Klassen, die Freundinnen der Willkür sind, das ist Frankreich“ (Tocqueville OC II, 2, S. 331). Das ideale Frankreich Tocquevilles wäre ein solches, in dem die niederen und die höheren Klassen (a) Freundinnen der

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Freiheit und (b) Feindinnen der Willkür wären. Damit die höheren Klassen aufhören, die Ausweitung der Freiheit zu fürchten, müssen die niederen Klassen lernen, vernünftig mit der Freiheit umzugehen. Die höheren Klassen müssen Einschränkungen ihrer Privilegien, und die niederen Klassen müssen Einschränkugen ihrer Begierden akzeptieren. Alle Mitglieder einer Gesellschaft müssen eine vernünftige Freiheit akzeptieren und wollen. Vor allem müssen sie die Freiheit und die mit ihr zusammenhängende menschliche Würde lieben. In einem Brief an Reeve aus dem Jahr 1837 sagt Tocqueville, er habe eine große Leidenschaft: Die Liebe zur Freiheit und zur menschlichen Würde (Tocqueville OC VI, 1, S. 37).8 Was kann der Staat tun, um diese Liebe in allen, oder doch in möglichst vielen, Mitgliedern der Gesellschaft zu fördern? Was kann und darf ein liberaler Staat tun, um die Menschen dazu zu bringen, die Freiheit zu wollen, oder sie gar nur dazu zu bringen, dass sie einsehen, dass sie die Freiheit als eine existentielle Möglichkeit wollen können? Oder noch anders gefragt: Was kann und darf der Staat tun, um zu verhindern, dass die Menschen der Freiheit gegenüber gleichgültig sind? Was kann und darf er tun, damit sie sich für die Erhaltung der Freiheit interessieren oder dass sie gar die Freiheit lieben? Es kann keine Rede davon sein, dass der Staat, und schon gar nicht der liberale Staat, die Menschen dazu zwingen sollte, frei sein zu wollen – ganz abgesehen davon, dass ein solcher Zwang zum Wollen der Freiheit ein begriffliches Unding ist. Aber aus der Tatsache, dass der Staat den Menschen nicht zum Wollen der Freiheit zwingen darf, folgt noch nicht, dass er ihn nicht zur Freiheit bzw. zum Willen zur Freiheit hinführen darf. Es hängt immer letzten Endes von uns ab, ob wir die Freiheit wollen, und es sollte auch immer nur von uns selbst abhängen. Aber bestimmte objektive Bedingungen machen die Erscheinung eines solchen Willens wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher als andere. Und auf diese Bedingungen hat der Staat einen Einfluss. Der Wille zur Freiheit kann nur in Menschen entstehen und bestehen, die sich ihrer unaufgebbaren Würde bewusst sind. Somit sollte der liberale Staat es als seine Aufgabe ansehen, das Aufkommen von Situationen zu verhindern, in denen Menschen das Bewusstsein ihrer Würde verlieren bzw. sollte er Situationen fördern, in denen die Menschen ein Bewusstsein ihrer Würde erlangen können. Wenn die Menschen sich tatsächlich ihrer Würde bewusst sind, dann werden sie auch die Freiheit wollen, denn nur die Freiheit ist der Würde angemessen bzw. nur ein Leben in der Freiheit kann als ein Leben in Würde betrachtet werden. Umgekehrt gilt aber auch, dass ein Leben in der Freiheit dazu beitragen kann, dass die Menschen sich ihrer Würde bewusst werden. 8

Tocqueville liebt Freiheit und menschliche Würde, obwohl er nicht mehr glaubt. Allerdings ist er überzeugt, dass in den meisten Menschen diese Liebe nicht unabhängig vom religiösen Glauben aufrecht erhalten werden kann. Insofern stellt sich Tocqueville keineswegs als Beispiel dar, sondern, wie Oliver Hidalgo schreibt, es „war ihm gelegen, möglichst viele davon abzuhalten, seinem individuellen Beispiel zu folgen“ (Hidalgo 2017). Dem sollte man allerdings hinzufügen, dass Tocqueville sich Zeit seines Lebens wie ein religiöser Mensch verhalten hat. Insofern sollten zumindest die Herrschenden seinem Beispiel folgen und einen fehlenden Glauben in der Öffentlichkeit vorheucheln.

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In den Augen Tocquevilles genügt es nicht, große Reden über die menschliche Würde zu halten, sondern die betroffenen Menschen müssen sich auch in ihrem alltäglichen Leben als mit einer Würde ausgestattete Wesen erfahren und ihr allgemeines Weltbild, der Sinnhorizont ihrer konkreten Erfahrungen, muss ein solches sein, in dem es einen Platz für die Würde gibt. Freiheit und Würde müssen einen Platz in den „Sitten“ eines Volkes finden. Erst dann werden sie zu Gegenständen, die man liebt. Einen solchen Platz finden sie einerseits dadurch, dass die Regierung die politischen Rechte ausdehnt, um auf diese Weise so viele Menschen wie möglich für die öffentlichen Angelegenheiten zu interessieren. Während seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten erlebte Tocqueville die kommunale Demokratie hautnah und sah in ihr eine Art Schule der Demokratie, d. h. einen Ort, an dem der demokratische Mensch lernte, mit seiner Freiheit umzugehen, wobei ihm diese Freiheit nicht nur als Gegenstand eines Rechts, sondern auch als Quelle bestimmter Pflichten erschien: „Das amerikanische System, das die kommunale Macht unter eine große Zahl von Bürgern verteilt, schreckt zur gleichen Zeit nicht davor zurück, die kommunalen Pflichten zu vermehren. In den Vereinigten Staaten ist man, zu recht, der Überzeugung, dass die Liebe zum Vaterland eine Art Kultus ist, an den sich die Menschen durch Praktiken binden“ (Tocqueville OC I, 1, I, 5, S. 66–67). Indem der Mensch seine Freiheit jeden Tag erfährt, wird sie ihm zur zweiten Natur. Und um diese Erfahrung soweit wie möglich zu garantieren, genügt es nicht, dem Menschen nur Rechte zu geben, deren Ausübung optional ist, sondern man muss ihm auch Pflichten auferlegen, deren Ausübung verbindlich ist. Die Amerikaner haben somit nicht nur ein Recht auf ein freies Leben, sondern auch eine Pflicht zu einem freien Leben. Diese Pflicht kann den Betroffenen als Zwang erscheinen. Allerdings handelt es sich lediglich um einen Zwang zu bestimmten Handlungen und nicht zu einem bestimmten Wollen. Durch die Zwangsgesetze kann der Staat nämlich immer nur auf die Handlungen der Menschen einwirken, nicht auf ihr Wollen. Insofern diese Pflicht aber mit der Zeit in die Sitten eingeht, erscheint sie ihnen nicht mehr als etwas, das ihnen von außen aufgezwungen wird, sondern sie identifizieren sich mit ihr. Und allein eine solche Identifikation kann der Tendenz entgegenwirken, die Freiheit dem Eigeninteresse zu opfern. Dabei muss allerdings sichergestellt werden, dass die Ausübung der Pflicht zur Teilnahme am öffentlichen Leben dem Menschen als etwas erscheint, durch das er seine unmittelbare Umwelt beeinflussen kann. Und hier liegt sicherlich eines der zentralen Probleme der heutigen Zeit. Wenn die Menschen sich weitaus eher für Kommunal- als für Nationalwahlen mobilisieren, dann ist das zum größten Teil nur deshalb der Fall, weil ihre persönliche Stimme bei Kommunalwahlen ein größeres Gewicht hat. In der modernen Welt erfährt das konkrete Individuum sich immer weniger als wirkmächtiges Subjekt und tendiert so zu einer immer größeren Gleichgültigkeit. Bewegungen wie Podemos versuchen zwar dieser Gleichgültigkeit entgegenzuwirken, aber sie bilden nur eine Minderheit und ihr begrenzter Erfolg zeigt, dass der Trend eher in die andere Richtung geht.

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Schlussbetrachtungen

Wenn die politischen Strukturen und Institutionen dem individuellen Menschen immer weniger das Bewusstsein seiner Würde und der damit zusammenhängenden Freiheit vermitteln, wenn also der demokratische Mensch sich nicht mehr konkret als freier Mensch in seinem alltäglichen Leben erfahren kann, ist es wichtig, dass es andere Dispositive gibt, die ihm ein Bewusstsein seiner Würde vermitteln können und ihn durch dieses Bewusstsein dazu bringen können, jene gesellschaftlichen Erfahrungsräume wiederzuerlangen, die verloren gegangen sind, oder gar erst solche Erfahrungsräume für sich zu beanspruchen. Zu diesen Dispositiven zählt die Religion. Sie ist, mit der Malerei, der Literatur, der Musik, usw. eines jener Mittel, die den Menschen mit seiner spirituellen Dimension konfrontieren und seinen Blick somit auf jene Dimension richtet, in welcher allein Platz ist für den Gedanken der Würde. Alles was dazu beiträgt, dem Menschen ein Gefühl seiner Würde zu geben, kommt seiner Freiheit entgegen und damit auch der Verwirklichung einer liberalen Gesellschaft. Und wenn diese liberale Gesellschaft zugleich eine demokratische sein soll, genügt es nicht, wenn nur einige Menschen ein Gefühl ihrer Würde haben, sondern dieses Gefühl sollten alle Menschen haben. Insofern steht ein liberaler Staat nicht unbedingt im Widerspruch mit sich selbst, wenn er einen Religionskurs an öffentlichen Schulen veranstaltet, zumindest insofern in einem solchen Kurs das spirituelle Element der Religionen im Vordergrund steht, die Religion als eines unter vielen „Dispositiven der Transzendenz“, um noch einmal Agnès Antoine zu zitieren, angesehen und kein religiöser Proselytismus betrieben wird, die Schüler also frei sind, zu glauben oder nicht zu glauben. Es soll nicht darum gehen, den Menschen religiös zu machen, sondern ihn zu einer Auseinandersetzung mit dem Religiösen, und damit mit einer bestimmten Form der Transzendenz, zu bringen. In seiner bekanntesten politischen Schrift meint Wilhelm von Humboldt: „Wegräumung der Hindernisse, mit Religionsideen vertraut zu werden, und Begünstigung des freien Untersuchungsgeistes sind folglich die einzigen Mittel, deren der Gesetzgeber sich bedienen darf; geht er weiter, sucht er die Religiosität direkt zu befördern, oder zu leiten, oder nimmt er gar gewisse bestimmte Ideen in Schuz, fordert er, statt wahrer Ueberzeugung, Glauben auf Autorität; so hindert er das Aufstreben des Geistes, die Entwiklung der Seelenkräfte […] (Humboldt 1980a, S. 121–122). Humboldt hebt hier einen wichtigen Punkt hervor: Religion oder Religiosität kann nur dann wirksam sein, wenn man wahrhaft überzeugt ist. Eine solche wahrhafte Überzeugung kann aber nicht durch Zwang hervorgerufen werden und sollte es auch nicht. Doch auch wenn Humboldt in dieser Hinsicht recht hat, so hat doch unrecht, wenn er nur zwei Mittel nennt, deren sich der Staat bedienen darf. M. E. ist der Staat auch dazu befugt, eine obligatorische Auseinandersetzung mit dem religiösen Phänomen – und zwar sowohl mit der Religiosität als auch mit den positiven Religionen9 – in den Schulen zu verlangen. Auch wenn Humboldt dem sicherlich widersprochen hätte, könnte man eine solche Auseinandersetzung – die in 9

Humboldt macht diesen Unterschied, merkt aber an, dass man die Beförderung der Religiosität im Allgemeinen und die Beförderung einer bestimmten Religion nicht immer klar voneinander trennen kann (Humboldt 1980a, S. 111).

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vielen Familien nicht mehr stattfindet – unter die Kategorie der „Wegräumung der Hindernisse“ subsumieren. Wenn die Areligiosität der Gesellschaft nicht mehr allen Kindern ermöglicht, sich „mit Religionsideen vertraut“ zu machen, kann die Schule diesem Hindernis entgegenwirken. Allerdings sollte dabei gleichzeitig immer Platz für den freien Untersuchungsgeist sein. Auch wenn ein liberaler Staat einen obligatorischen Religionskurs an öffentlichen Schulen veranstalten darf, so sollte er doch davon absehen, den Klerus einer, mehrerer oder aller Religionsgemeinschaften zu finanzieren. Abgesehen von der Frage, nach welchen Kriterien entschieden werden sollte, welche Religionsgemeinschaft in den Genuss einer staatlichen Finanzierung kommen soll, stellt sich das in diesem Buch angesprochene Problem der erzwungenen Unterstützung. Es sprechen allerdings keine kategorischen Argumente gegen das Modell einer freiwilligen Kirchensteuer, bei welcher der Staat den Steuerzahlern die Möglichkeit gibt, selbst über die Bestimmung eines Teils der von ihnen gezahlten Steuern zu entscheiden. Auch wenn das Weiterbestehen der Religionsgemeinschaften dem liberalen Staat nicht vollkommen gleichgültig sein kann, so ist es doch nicht seine Aufgabe, dieses Weiterbestehen zu garantieren. Er sollte sich allerdings stets der Tatsache bewusst sein, dass das Verschwinden der Religionsgemeinschaften und bestimmter durch sie vermittelten Praktiken und tradierter Glaubenssätze, auch Konsequenzen für die Freiheit haben kann. Insofern sollte der liberale Staat sich stets die Frage stellen, wodurch er den Verlust der freiheitserhaltenden oder -fördernden Elemente der Religionen kompensieren kann. Der liberale Staat ist nicht nur dafür verantwortlich, dass seine Bürgerinnen und Bürger überleben. Er ist auch nicht nur dafür verantwortlich, dass seine Bürgerinnen und Bürger im Wohlstand leben. Er muss es auch, und vielleicht vornehmlich, als seine Verantwortung ansehen, dass seine Bürgerinnen und Bürger in Freiheit leben. Das Problem ist heute, dass der Staat ganz vielen Menschen kein Leben im Wohlstand mehr garantieren kann und dass auch das bloße Überleben vieler Menschen immer prekärer wird. Dabei denke ich nicht nur an das Risiko, Opfer eines Attentats oder einer Gewalthandlung zu werden, sondern auch und vor allem an all jene Menschen, die auch in unseren Gesellschaften an Kälte, mangelnder medizinischer Versorgung, usw. sterben. Die klassischen liberalen Autoren machen uns auf die spirituellen Voraussetzungen einer liberalen Gesellschaft aufmerksam. Diese Autoren zeigen uns, dass politische und rechtliche Institutionen zwar wichtig sind, dass diese Institutionen aber immer Menschen voraussetzen und dass Institutionen nur solange die Freiheit bewahren können, wie Menschen sie in ihrer freiheitsbewahrenden Funktion unterstützen und, könnte man sagen, beseelen. Die Seele dieser Menschen muss ihrerseits noch Platz haben für etwas anderes, als für das wohlverstandene Eigeninteresse. Dieses Andere ist der Gedanke oder das Gefühl der Würde. In diesem Buch wurde eine Dimension des Problems ausgeklammert, nämlich die ökonomische. Wie wichtig die eben genannten institutionellen und motivationellen Voraussetzungen auch sein mögen, so sollten sie uns nicht den Blick auf die materiellen Voraussetzungen versperren. Man sollte nicht bei der Frage stehen bleiben, wie es der sich um die Freiheit und Würde seiner Bürger sorgende liberale

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Staat mit der Religion hält, sondern man sollte ihn auch fragen, wie er es mit der Ökonomie hält. Denn wenn es in unseren modernen Demokratien eine Dimension des menschlichen Seins gibt, in welcher der Gedanke oder das Gefühl der Würde bedroht sind, dann ist es sicherlich die ökonomische.

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Aus der Sicht des politischen Liberalismus sind die individuellen Freiheiten das höchste Gut. Diese Freiheiten sind aber keine Selbstverständlichkeit, so dass man immer nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit fragen muss. Politische und rechtliche Institutionen gehören zu diesen Bedingungen – wie aber lässt sich ihr Funktionieren sicherstellen? Eine von vielen klassischen Liberalen gegebene Antwort verweist auf die inneren Handlungsmotive der Menschen und besonders auf die Reli-

gion. Der religiöse Glaube, so ihre These, kann allein sicherstellen, dass ein freies Volk auch weiterhin frei bleibt. Norbert Campagna untersucht in diesem Band, wie im klassischen Liberalismus die Religion als ein Mittel zur Bewahrung und Förderung der Freiheit gedacht wurde. Er geht dabei auch auf die Rolle des liberalen Staates bei der Förderung und Bewahrung der Religion ein. Das Buch enthält ebenfalls ein Kapitel über das Verhältnis des klassischen Liberalismus zum Islam.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12006-7

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