Liberalismus und Antiliberalismus: Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 9783666359958, 9783647359953, 3525359950, 9783525359952

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Liberalismus und Antiliberalismus: Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
 9783666359958, 9783647359953, 3525359950, 9783525359952

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K R I T I S C H E Z U R

S T U D I E N

G E S C H I C H T S W I S S E N S C H A F T

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler

Band 38 Heinrich August Winkler Liberalismus und Antiliberalismus

GÖTTINGEN • VANDENHOECK & R U P R E C H T • 1979 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

L i b e r a l i s m u s u n d

A n t i l i b e r a l i s m u s

Studien z u r politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

von HEINRICH AUGUST WINKLER

G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T • 1979 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Winkler, Heinrich August: [Sammlung] Liberalismus und Antiliberalismus: Studien zur polit. Sozialgeschichte d. 19. u. 20. Jh. / von Heinrich August Winkler. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1979. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 38) ISBN 3-525-35995-0 © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. - Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

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Hans Rosenberg z u m 75. Geburtstag a m 2 6 . F e b r u a r 1979 in F r e u n d s c h a f t u n d D a n k b a r k e i t gewidmet

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Inhalt

Vorwort

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I. Liberalismus und Nationalismus 1. Liberalismus: Zur historischen Bedeutung eines politischen Begriffs .. 2. Zum Dilemma des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert 3. Bürgerliche Emanzipation und nationale Einigung: Zur Entstehung des Nationalliberalismus in Preußen 4. Vom linken zum rechten Nationalismus: Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79 5. Der Nationalismus und seine Funktionen

IL Zwischen Panik und Prosperität: Der politische Weg des gewerblichen Mittelstandes vom Kaiserreich zur Bundesrepublik

11 13 20 24 36 52

81

6. Der rückversicherte Mittelstand: Die Interessenverbände von Hand83 werk und Kleinhandel im deutschen Kaiserreich 7. Vom Protest zur Panik: Der gewerbliche Mittelstand in der Weimarer Republik 99 8. Der entbehrliche Stand: Zur Mittelstandspolitik im „Dritten Reich" . 110 9. Stabilisierung durch Schrumpfung: Der gewerbliche Mittelstand in der Bundesrepublik 145

IUI. Interessen und Ideologien 10. Pluralismus oder Protektionismus? Verfassungspolitische Probleme des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich 11. Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus 12. Unternehmer und Wirtschaftsdemokratie in der Weimarer Republik . 13. Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung 14. Die Anti-New-Deal-Bewegungen: Politik und Ideologie der Opposition gegen Präsident F. D. Roosevelt

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IV. Theorie und Geschichte 15. Gesellschaftsform und Außenpolitik: Eine Theorie Lorenz von Steins in zeitgeschichtlicher Perspektive 16. Zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus 17. Organisierter Kapitalismus: Zwischenbilanz einer Diskussion 18. Organisierter Kapitalismus? Versuch eines Fazits 19. Vom Syndikalismus zum Faschismus: Robert Michels 20. Wieviel Wirklichkeit gehört zur Geschichte? Standortbestimmung einer Wissenschaft

8

233 235 252 259 264 272 281

Anmerkungen

289

Abkürzungsverzeichnis

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Personenregister

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Vorwort Der vorliegende Band enthält Arbeiten, die in den zehn Jahren von 1968 bis 1978 entstanden sind. Einige dieser Aufsätze werden hier erstmals veröffentlicht. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den historischen Ursachen und Folgen dessen, was in der Literatur meist als „deutsche Sonderentwicklung" oder, präziser, als ,,deutsche Abweichung vom Westen" bezeichnet wird. Warum gab es in Deutschland, im Unterschied zu den großen westlichen Demokratien, politisch gesehen keine Epoche des Liberalismus? Weshalb konnte der Nationalismus, ursprünglich eine Waffe des liberalen Bürgertums, in Deutschland konsequenter als irgendwo sonst ein Instrument des Antiliberalismus werden? Warum fiel dem Staat bei der Organisation wirtschaftlicher Interessen in Deutschland, anders als in den angelsächsischen Ländern, eine Schlüsselrolle zu? Weshalb vermochte sich aus den Mittelschichten, die bis in die 1860er Jahre noch überwiegend Bannerträger liberaldemokratischer Ideen gewesen waren, schließlich die Massenbasis einer militant illiberalen und antidemokratischen Bewegung - des Nationalsozialismus - zu rekrutieren? Worin bestanden die politischen Hypotheken, die das Kaiserreich der Weimarer Republik hinterließ? Welche Rolle spielte die „Machtelite", vor allem das industrielle Unternehmertum, bei der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie? Inwiefern bedeutet das Jahr 1945 eine sozialgeschichtliche Zäsur? Das sind einige der Probleme, in die sich die übergeordnete Frage nach dem Verhältnis von Liberalismus und Antiliberalismus in der neueren deutschen Geschichte auffächert. Daß eine solche Fragestellung der vergleichenden Perspektive bedarf, versteht sich ebenso von selbst wie die Notwendigkeit, sich über die normativen Maßstäbe klar zu werden, ohne die ein solches Thema nicht sinnvoll erörtert werden kann. Daher enthält dieser Band auch eine Studie über amerikanische Varianten des Illiberalismus und einige Aufsätze zu theoretischen Aspekten der Geschichtswissenschaft. Der zuletzt genannten Themengruppe ist auch der abschließende Text „Wieviel Wirklichkeit gehört zur Geschichte?" zugeordnet, in dem ich den eigenen Ansatz zusammenfassend darzulegen versuche und die Frage erörtere, was der Historiker von den systematischen Sozialwissenschaften lernen kann. Alle Aufsätze lassen sich auch als Teilantworten auf diese Frage lesen. Nicht aufgenommen habe ich in diesen Band einige Arbeiten, die entweder den thematischen Rahmen gesprengt hätten1 oder sich mit hier abgedruckten Aufsätzen inhaltlich teilweise überschneiden2. Daß die drei Beiträge, die 1978 unter dem Titel „Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Historischen Materialismus" in der Kleinen Vandenhoeck-Reihe erschienen sind, hier nicht nochmals vorgelegt werden, bedarf keiner besonderen Begründung. Am Text der hier vorgelegten Arbeiten habe ich, außer wo es um kleinere sachliche Richtigstellungen und Ergänzungen oder um stilistische Verbesserungen ging, nichts geändert. Der Aufsatz „Unternehmer9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

verbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus" (1969) wird in der leicht überarbeiteten Version abgedruckt, die 1973 in dem von H.-J. Varain herausgegebenen Band „Interessenverbände in Deutschland" erschienen ist. Soweit mir ein Urteil der Korrektur zu bedürfen scheint, habe ich das in den Anmerkungen jeweils ausdrücklich dargelegt. Im Hinblick auf ein Thema, Hilferdings Theorie des ,,Organisierten Kapitalismus", hat sich meine Position erheblich geändert- im Sinne wachsender Skepsis gegenüber der historischen Aussagekraft dieses Begriffs. Die Gründe hierfür habe ich in einem besonderen Aufsatz („Organisierter Kapitalismus? Versuch eines Fazits") behandelt. Literatur, die seit der ersten Veröffentlichung erschienen ist, habe ich in den Anmerkungen dann aufgeführt, wenn ich das von der Sache her für notwendig hielt. Pie Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antiliberalismus zielt nicht nur auf die Vergangenheit. Die rechten und linken Ausprägungen dieses Phänomens sind für die Bundesrepublik auch, wiewohl in ungleich geringerem Ausmaß als für Weimar, politische Probleme. Mit beiden Spielarten von Illiberalität befassen sich die hier vorgelegten Arbeiten. Dem Leser wird dabei nicht entgehen, daß der zeitgeschichtliche Hintergrund, vor dem die Aufsätze entstanden sind, indirekt immer auch ihr Gegenstand ist. Für das Mitlesen der Korrekturen danke ich meinen Mitarbeitern Frau Christa Metzger, Herrn Thomas Schnabel und Herrn Wolfgang Zollitsch. Freiburg im Breisgau, im Dezember 1978

Heinrich August Winkler

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I. Liberalismus u n d N a t i o n a l i s m u s

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

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1. L i b e r a l i s m u s : Z u r historischen B e d e u t u n g eines p o l i t i s c h e n Begriffs Der Liberalismus ist als breite politische Bewegung eine nachrevolutionäre Erscheinung. Er setzt die historische Erfahrung einer revolutionären Kraftprobe zwischen dem aufstrebenden Bürgertum und den Kräften des Ancien régime bereits voraus. Der entwickelte Liberalismus ist durch eine doppelte Frontstellung gekennzeichnet: durch seine Gegnerschaft zu allen Formen des absoluten Staates wie zu radikaldemokratischen Bewegungen, die sich auf das Prinzip unmittelbarer Volksherrschaft berufen. Diesem Zweifrontenkampf liegt die Einsicht zugrunde, daß die Gefahren, die staatliche Machtkonzentration für den Einzelnen wie für die Gesellschaft insgesamt heraufbeschwört, nicht an eine bestimmte historische Konstellation, etwa den fürstlichen Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts, gebunden sind, sondern beim Wegfall entsprechender institutioneller Sicherungen jederzeit wieder auftreten können. Die Abwehr von politischer Omnipotenz ist daher zum Hauptmerkmal aller Spielarten des Liberalismus geworden. Seine historisch früheste Ausprägung hat der Liberalismus im England des 17. Jahrhunderts erhalten. Die Verteidigung von „life, liberty and property" (John Locke, The Second Treatise of Government, 1689) gegenüber den Machtansprüchen des absoluten Staates, den auf der britischen Insel die Glorious Revolution von 1688 überwunden hat, wird zu einer programmatischen Formel nicht nur der englischen „Whigs", der Vorläufer der Liberalen, sondern auch der Unabhängigkeitsbewegung in den nordamerikanischen Kolonien Englands. Von Anfang an ist der Kampf für die Freiheit des Glaubens, der Meinungsäußerung und der Vereinigung und für einen umfassenden Rechtsschutz des Individuums unlösbar verknüpft mit dem Anspruch des Bürgertums auf eine angemessene Rolle im politischen Entscheidungsprozeß und die freie Entfaltung der Einzelpersönlichkeit (Individualismus) auch im wirtschaftlichen Bereich. Indem der Liberalismus dem Einzelmenschen gewisse unveräußerliche und natürliche Rechte zuspricht, verallgemeinert und verweltlicht er zugleich jene partielle Befreiung von überkommenen Autoritäten, die die Reformation des 16. Jahrhunderts bewirkt hat. Die englische Bill of rights von 1689, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung am 26. August 1789 sind bis heute die klassischen Formulierungen der individuellen Grundrechte geblieben. Die elementaren Freiheiten des einzelnen werden zu Schranken der öffentlichen Gewalt: Die staatliche Eingriffsverwaltung - das Verwaltungshandeln, das in Rechte und Eigentum der Bürger eingreift - ist strikt an allgemeine Gesetze gebunden und bleibt gerichtlich nachprüfbar (due process of law). Die Sicherung von Grundrechten durch eine unabhängige richterliche Gewalt und einen umfassenden Rechtsweganspruch des Bürgers macht das Wesen des liberalen Rechtsstaates aus. Die Unabhängigkeit der 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Rechtsprechung bildet ihrerseits einen integralen Bestandteil des liberalen, auf Locke und Montesquieu (Esprit des Lois, 1748) zurückgehenden Prinzips der Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender, ausübender und richterlicher Gewalt, durch das eine unkontrollierbare Konzentration der Staatsmacht nach Art des Absolutismus für immer ausgeschlossen werden soll. Das Recht zur Teilnahme an der Wahl von Vertretungskörperschaften (Parlamente) und von einzelnen Amtsinhabern wird bis in das 20. Jahrhundert oft an bestimmte Merkmale gebunden, die große Teile der Bevölkerung vom aktiven Staatsbürgertum ausschließen. Die häufigsten Wahlrechtsbeschränkungen bilden solche des Geschlechts und des Besitzes: In den meisten Staaten mit freigewählten Parlamenten erhalten die Frauen erst nach dem Ersten Weltkrieg das Wahlrecht, während besitzmäßige Schranken vielfach bereits während des 19. Jahrhunderts abgebaut werden. Für den Liberalismus insgesamt ist von entscheidender Bedeutung, daß die Parlamentarier Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen ihrer Wähler nicht gebunden sind. Dieses Grundprinzip der repräsentativen Demokratie steht im Widerspruch zu dem erstmals von Jean Jacques Rossseau und in seiner Nachfolge auch von sozialistischen Theoretikern wie Karl Marx gerechtfertigten „imperativen Mandat", der Bindung der Volksvertreter an Direktiven der Urwählerschaft. Die politische Theorie des Liberalismus (Federalist Papers, 1787; Walter Bagehot, The English Constitution, 1867) sieht in der zeitlich befristeten relativen Unabhängigkeit der Vertretungsorgane die Grundbedingung einer funktionsfähigen Demokratie in größeren Flächenstaaten und verweist auf die mit einer plebiszitären Willensbildung verbundenen Gefahren einer Emotionalisierung der Massen. Die besitzbürgerlichen Interessen, die in die frühen Begründungen repräsentativer Herrschaft eingeflossen sind, sind offenkundig. Da jedoch nach allen historischen Erfahrungen eine politische Dauermobilisierung von Massen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht erreichbar ist, bleibt das Argument stichhaltig, daß die Forderung nach einer ständigen Kontrolle der Repräsentanten durch die „Basis" leicht nur den Machtansprüchen zeitlich abkömmlicher und insoweit privilegierter Minderheiten dient. Der wirtschaftliche Liberalismus, der seine klassische Begründung durch Adam Smith (An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776) erhalten hat, geht von der anthropologischen Annahme aus, daß der Egoismus eine angeborene Eigenschaft jedes Menschen ist, durch freien Wettbewerb jedoch zum Nutzen der ganzen Volkswirtschaft ausschlägt. Das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage erzwingt eine Preisbildung in der Nähe der Produktionskosten und dient daher dem Interesse des Verbrauchers. Staatseingriffe, wie sie für den Merkantilismus typisch waren, lehnt der wirtschaftliche oder „Manchester-Liberalismus" strikt ab (Prinzip des „laisser-faire"). Die künstlichen Produktionsbeschränkungen, die das Zunftsystem kennzeichnen, gelten ebenso als Fessel des Fortschritts wie Zollbarrieren zwischen den Ländern. Gewerbefreiheit und Freihandel sind daher die wichtigsten Postulate des frühen Wirtschaftsliberalismus. Das Gebot der Nichteinmischung des Staates gilt prinzipiell auch für die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern. Die „soziale Frage" kann nach Auffassung auch noch des klassischen Liberalismus nur durch Selbsthilfe der Betroffenen und durch eine Verbesserung des Bil14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

dungswesens erreicht werden. Das Gesellschaftsmodell, an dem sich der Liberalismus lange Zeit orientiert hat, ist das einer vorindustriellen Gemeinschaft selbständiger Kleinproduzenten. Das von der Aufklärungsphilosophie geprägte Streben des Liberalismus nach umfassender Emanzipation des Menschen macht ihn notwendigerweise zum Gegner traditionaler Autorität auch auf dem Gebiet der Religion. Der von Deutschland ausgehende ,,theologische Liberalismus" (Friedrich Schleiermacher, David Friedrich Strauß, später Adolf v. Harnack) legt den Grund für ein auf strenger Textkritik beruhendes neues Bibelverständnis. Der Widerstand der mit dem deutschen Obrigkeitsstaat eng verbundenen lutherischen Orthodoxie gegen den „theologischen Liberalismus" ist auch politisch motiviert: Sie sieht in ihm einen zumindest indirekten Angriff auf die Einheit von „Thron und Altar". Auf Grund der engen Bindung der katholischen Kirche an das französische Ançien régime und ihrer grundsätzlichen Gegnerschaft zur Aufklärung ist das Verhältnis des Liberalismus zum Katholizismus während des 19. Jahrhunderts ein überwiegend feindseliges geblieben. Die Trennung von Staat und Kirche, in Frankreich von 1795 bis 1801 und erneut 1905 eingeführt, ist der institutionalisierte Ausdruck dieses Gegensatzes und ein Triumph der laizistischen Staatsauffassung. Der auf liberales Drängen begonnene und mit illiberalen Mitteln geführte Kulturkampf im Deutschland der 1870er Jahre endet dagegen mit einem für die katholische Kirche insgesamt günstigen Kompromiß. Der politische Liberalismus ist entstanden als die politische Weltanschauung des aufstrebenden Bürgertums, das seinen Anspruch, der „allgemeine Stand" (E. Sieyès, Qu'est-ce que le tiers état?, 1789) zu sein, mit relativem Recht gegenüber anderen sozialen Gruppen behaupten kann: gegenüber dem Feudaladel, weil dieser keine wesentlichen gesellschaftlichen Funktionen mehr ausübt, die nicht der „Dritte Stand" wirksamer ausfüllen könnte, und gegenüber den besitzlosen Unterschichten, die sich noch nicht organisiert haben und ihre Forderungen noch nicht selbständig artikulieren können. Die Begriffe „Liberalismus" und „liberal" haben sich während der Restaurationszeit von 1814 bis 1830 in Kontinentaleuropa eingebürgert zur Charakterisierung von Bewegungen, deren negatives Merkmal die Opposition gegen die Wiederherstellung der vorrevolutionären Gesellschafts- und Machtverhältnisse einerseits, gegen eine Erschütterung der bürgerlichen Eigentumsordnung durch radikaldemokratische und frühsozialistische Kräfte andererseits bildet und die sich positiv zu einem konstitutionellen System bekennen, in dem bürgerliche Freiheiten und bürgerliche Machtteilhabe wirksam gesichert sind. Der Begriff „liberales" taucht erstmals im Jahre 1812 auf als Bezeichnung der Verfassungsbewegung in Spanien, die sich gegen eine Rückkehr zum absolutistischen Regime wendet. Die französische Bourgeoisie, die ihre 1789 revolutionär erworbene gesellschaftliche Führungsstellung durch die bourbonische Restaurationspolitik wieder bedroht sieht, kann sich durch die Julirevolution von 1830 zur politisch herrschenden Klasse aufschwingen und das Programm des Liberalismus verwirklichen. Die sozialen Unruhen im Verlauf der bereits wesentlich von Arbeitern getragenen Revolution von 1848 fördern eine Abkehr großer Teile der Bourgeoisie vom Liberalismus. Das Gros des Bürgertums ist schließlich bereit, seine gesellschaftlichen Interessen auch mit den 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Mitteln einer neuen, von ihm nicht mehr kontrollierten bonapartistischen Diktatur sichern zu lassen. In England beginnt 1846 mit der Abschaffung der Kornzölle die klassische Zeit des Wirtschaftsliberalismus. Schrittweise Wahlrechtserweiterungen (1832, 1867, 1884) vergrößern den Einfluß der städtischen Mittelklasse auf die Politik des Landes. Die Katholikenemanzipation (1829) stellt die politische Gleichberechtigung der Konfessionen in England und Schottland her. Die Abwesenheit eines staatlichen Machtapparates kontinentaler Prägung erleichtert die Integration der Arbeiterschaft in ein sich allmählich demokratisierendes System. Das Musterland des europäischen Liberalismus wird jedoch das 1830 proklamierte Königreich Belgien: die Verfassung von 1831 beruht auf dem Grundsatz der Volkssouveränität, gibt der Legislative Vorrang vor der Exekutive und enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog. Anders als in Frankreich und in England findet in Deutschland und Italien das Bürgertum nicht schon den Nationalstaat vor, in dem es den Kampf um sein politisches Übergewicht führen kann. Die mit der Herstellung eines deutschen Nationalstaates verknüpften außenpolitischen Probleme (Krieg mit Dänemark) sind ein Grund für das Scheitern der Revolution von 1848/49, in der erstmals das Bürgertum selbst - und nicht wie in der preußischen Reformära nach 1808 die Bürokratie - als Träger liberaler Forderungen auftritt. Ein anderer Faktor, der das liberale Bürgertum von der revolutionären Verfolgung seiner Ziele abbringt und einer friedlichen Verständigung mit dem Ancien régime geneigt macht, ist die mit der Entstehung eines Industrieproletariats verbundene Furcht vor der sozialen Radikalisierung der Revolution. Die materiellen und ideellen Gewinne, die sich das Bürgertum von einer nationalstaatlichen Einigung verspricht, lassen 1866 die Mehrheit der preußischen Liberalen, den rechten Flügel der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei um Karl Twesten, Eduard Lasker und Max von Forckenbeck, in Bismarcks „Revolution von oben" einwilligen und eine nationale Einigung ohne die gleichzeitige Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems akzeptieren. In Österreich können die liberalen Gruppen zwar ähnlich wie in Preußen-Deutschland in den 1860er Jahren eine parlamentarische Vormachtstellung erringen, aber auf die Außenpolitik haben sie kaum größeren Einfluß als die Nationalliberalen im Reichstag des Bismarckreichs. Italien, das seine nationale Einigung in den Jahren 1859 bis 1861 überwiegend ebenfalls einer „Revolution von oben" verdankt, führt zwar ein parlamentarisches Regierungssystem ein; die soziale Basis des italienischen Honoratiorenliberalismus bleibt jedoch labil. Die Machtstellung des Feudaladels im südlichen Italien ist ungebrochen. Mehr noch als in Italien ist auf der iberischen und auf der Balkanhalbinsel sowie in Osteuropa die strukturelle Unterentwicklung des Bürgertums der Hauptgrund für die Schwäche der liberalen Bewegung. Im 20. Jahrhundert haben dann die Erfahrungen vieler Länder der „Dritten Welt" nochmals deutlich gezeigt, daß die liberale Demokratie auf bestimmten sozioökonomischen und kulturellen Voraussetzungen beruht, die zunächst nur in den entwickelten Gesellschaften des Okzidents vorlagen und sich daher als bloß bedingt „exportfähig" erwiesen haben. Der Anspruch des Bürgertums, die Gesellschaft insgesamt zu vertreten, wirkt nach in der „Klassenlosigkeit" der liberalen Theorie. Die Fiktion des „allgemeinen Stan16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

des" hat die soziale Öffnung des Liberalismus in Richtung auf das industrielle Proletariat in dem Maße erschwert, als dieses seiner eigenen Interessen bewußt wird und sich selbständig zu organisieren beginnt. Zum Teil sind es konservative Sozialkritiker und der Versuch konservativer Parteien, ihre Wählerbasis unter den Arbeitern zu verbreitern, die eine allmähliche Neuorientierung im Liberalismus herbeiführen. In England, wo der liberale Theoretiker John Stuart Mill die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe zugunsten der Industriearbeiterschaft frühzeitig erkannt hat, macht sich die Liberale Partei unter Gladstone zum Sprachrohr sozialpolitischer Forderungen der Gewerkschaften. In Deutschland finden die Bemühungen von Hermann Schulze-Delitzsch, die Arbeiterschaft für die von ihm inspirierte Genossenschaftsbewegung zu gewinnen, wegen seines Beharrens auf dem Prinzip ausschließlicher Selbsthilfe keine nachhaltige Resonanz. Die 1868 gegründeten „Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine", der liberale Flügel der deutschen Arbeiterbewegung, bleiben an politischem Gewicht bald hinter den sozialistischen und katholischen Gewerkschaften zurück. Der staatlichen Sozialpolitik, die Bismarck in den 1880er Jahren einleitet, wird gerade vom Linksliberalismus um Eugen Richter und Ludwig Bamberger prinzipieller Widerstand entgegengesetzt. Erst im folgenden Jahrzehnt versuchen die Wortführer einer neuen sozialliberalen Richtung, Friedrich Naumann und Theodor Barth, wenn auch ohne nennenswerten Erfolg, mit Hilfe sozialer Reformforderungen die immer mehr zur Sozialdemokratie abwandernde Arbeiterschaft für das liberale Lager zurückzugewinnen. Der Aufstieg der Sozialdemokratischen Partei bildet nicht die einzige Herausforderung an den Anspruch des deutschen Liberalismus, nicht nur eine bürgerliche Klassenpartei, sondern die Volksbewegung schlechthin zu sein. Der Kulturkampf ist, etwa in Baden, auch eine Reaktion der Liberalen darauf, daß der Klerus große Teile der katholischen Bevölkerung im Zeichen der Verteidigung des überkommenen Glaubens hinter sich zu sammeln beginnt. Die „Große Depression" der Jahre 1873 bis 1896 verstärkt dann die Neigung des gewerblichen Mittelstandes, konservativen Parolen zu folgen, die die Gewerbefreiheit für den angeblich unaufhaltsamen Niedergang von Handwerk und Kleinhandel verantwortlich machen. Hat der südwestdeutsche Liberalismus (Rotteck, Welcker) schon im Vormärz aus Rücksicht auf zünftlerische Strömungen in seiner Anhängerschaft die Einführung der Gewerbefreiheit erst gar nicht gefordert, so ist die Folge der neuen konservativen Agitation eine schrittweise Annäherung der Nationalliberalen und auch der südwestdeutschen Linksliberalen an eine protektionistische Mittelstandspolitik (Warenhaussteuern, Wiedereinführung von Innungen). In Frankreich, wo die größte liberale Gruppierung, die Radikale Partei, das Gros ihrer Anhänger im Kleinbürgertum hat, wird schon seit den 1840er Jahren ein ähnlicher Weg beschritten, ohne daß wie in Deutschland das konservativ-agrarische Lager sich als schlagkräftigster Verbündeter des selbständigen Mittelstandes ausgeben kann. Die „Große Depression", wie die 1873 beginnende, über zwei Jahrzehnte währende Periode verminderter Wachstumsraten gelegentlich genannt wird, hat in ganz Europa den optimistischen Glauben an die selbsttätige Wirtschaftsregulierung durch die „unsichtbare Hand" (A. Smith), die Grundannahme des ökonomischen Libera17

2 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

lismus, langfristig erschüttert. Die Einführung von Schutzzöllen durch das Deutsche Reich im Jahre 1879 leitet jene Ära des Staatsinterventionismus, der Kartellierung und Konzentration ein, die der sozialistische Theoretiker Rudolf Hilferding 1915 als Epoche des „Organisierten Kapitalismus" bezeichnet hat. Die neue Welle kolonialer Expansion der europäischen Mächte, die vielfach auch als Auskunftsmittel gegen Konjunkturschwankungen verstanden wird, findet im liberalen Lager starke Unterstützung (Lord Rosebury, Max Weber, Friedrich Naumann). Die nationale Parole, die in Deutschland bis in die 1860er Jahre ein Ausdruck des bürgerlichen Emanzipationsstrebens ist und insoweit eine antifeudale Stoßrichtung hat, wird seit den späten 1870er Jahren immer mehr zum Vehikel einer konservativen Sammlungsbewegung gegen die „internationalen" Tendenzen in Linksliberalismus und Sozialdemokratie. Die anhaltenden Stimmenverluste, die die liberalen Parteien bald nach der Gründung der Weimarer Republik - zuerst zugunsten der Deutschnationalen, dann mittelständischer Splittergruppen und schließlich der Nationalsozialisten - hinnehmen müssen, sind in gewisser Weise symptomatisch für eine allgemeine Krise des Liberalismus. Wo die liberalen Parteien in der Vergangenheit Arbeiter für sich haben gewinnen können, müssen sie sie - in England verstärkt erst nach dem Ersten Weltkrieg - an die aufsteigenden Arbeiterparteien abgeben. Die selbständigen Mittelschichten, die ursprüngliche Massenbasis der liberalen Parteien, erweisen sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in zunehmendem Maß anfällig für sozialprotektionistische Versprechungen, was vielfach konservativen Bewegungen zugute kommt. Die liberalen Parteien büßen unter dem Einfluß dieser Faktoren in allen europäischen Ländern große Teile ihrer Wählerschaft ein. Allerdings ist der Übergang zu faschistischen Bewegungen nur dort auf breiter Front erfolgt, wo - wie in Deutschland und Italien - die liberalen und demokratischen Traditionen des Bürgertums nur schwach entwickelt sind und die Gesellschaft noch durch starke vorindustrielle Herrschaftsträger (Adel, Kirche, Militär) geprägt ist. Soweit die liberalen Parteien in der jüngsten Zeit (wie etwa in der Bundesrepublik Deutschland) ihre Stellung in gewissem Umfang wieder haben stabilisieren können, bilden offensichtlich soziale Aufsteigergruppen der „Dienstleistungsklasse" (R. Dahrendorf), vor allem Angestellte und Angehörige freier Berufe, das entscheidende Stimmenreservoir. In dieser langfristigen soziologischen Verschiebung vom „alten" zum „neuen Mittelstand" dürfte auch die gegenwärtige Renaissance des Sozialliberalismus ihre strukturellen Gründe haben: Die Bereitschaft zur Kooperation mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung scheint verbunden zu sein mit dem relativen Gewichtsverlust des sozialprotektionistischen Elements in der liberalen Wählerschaft und dem zahlenmäßigen Rückgang des „alten Mittelstandes" allgemein. Viele der ursprünglichen Forderungen des politischen Liberalismus sind inzwischen längst von konservativen und sozialdemokratischen Parteien übernommen worden. Das gilt für die liberalen Grundrechte ebenso wie für die Organisationsprinzipien des Rechtsstaates und der repräsentativen Demokratie. Der Begriff „liberal" selbst hat, vor allem unter amerikanischem Einfluß, eine neue Bedeutung angenommein: In den Vereinigten Staaten, wo es eine liberale Partei im europäischen Sinn ebensowenig gegeben hat wie eine konservative, versteht man unter „liberal" seit dem 18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

„progressive movement" des frühen 20. Jahrhunderts das Engagement für die Achtung und Ausweitung von Bürgerrechten, für die öffentliche Kontrolle wirtschaftlicher Macht und die Verbesserung sozialer Fürsorgeleistungen. Während der amerikanische Konservativismus anders als der europäische überwiegend antietatistische Züge trägt, bejaht der moderne amerikanische Liberalismus - ebenfalls im Gegensatz zu seinem klassischen europäischen Pendant- die wirtschaftliche und soziale Staatsintervention. Damit geht diese Erscheinungsform des Liberalismus noch erheblich über den deutschen Neoliberalismus der Freiburger Schule um Walter Eucken hinaus, die dem Staat die Aufgabe zuerkennt, die Rahmenbedingungen eines funktionsfähigen Wettbewerbs zu schaffen und durch eine aktive Antimonopolpolitik die Aufrechterhaltung der Marktwirtschaft zu gewährleisten. Das Problem der Machtkontrolle, von dem der Liberalismus historisch seinen Ausgang genommen hat, ist damit gewissermaßen auf die Gesellschaft selbst zurückgefallen: Während der frühe Liberalismus sich damit begnügen konnte, die Kontrolle der Staatsmacht durch die Gesellschaft zu fordern, bedarf es heute einer demokratisch legitimierten Staatsmacht, um gesellschaftliche Machtkonzentration zu kontrollieren. Von der Lösung dieses Strukturproblems wird die Zukunft der liberalen Demokratie um so mehr abhängen, als zwei andere für ihre Stabilität bisher wichtige Faktoren keineswegs auf Dauer gesichert scheinen: ein ständiges Wirtschaftswachstum, das Einkommensverbesserungen von Selbständigen und abhängig Beschäftigten erlaubt, und das Bewußtsein, daß die sozialen Kosten einer Diktatur in der Regel höher sind als die eines demokratischen Regierungssystems.

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2. Z u m D i l e m m a des d e u t s c h e n L i b e r a l i s m u s i m 19. J a h r h u n d e r t Der westeuropäische Liberalismus ist, soweit darunter eine breite politische Bewegung und nicht nur eine ideengeschichtliche Erscheinung verstanden werden soll, ein postrevolutionäres Phänomen. Er setzt eine grundsätzliche Klärung der Machtfrage zwischen dem Dritten Stand und dem Ancien régime bereits voraus. Das Dilemma des deutschen Liberalismus liegt demgegenüber in dem Widerspruch zwischen einer (in diesem Sinne) postrevolutionären Ideologie und einer vorrevolutionären Umwelt begründet. Lothar Galls Hinweis auf vorindustrielle Elemente im Gesellschaftsbild des deutschen Frühliberalismus widerspricht dieser These nicht; für den westeuropäischen und namentlich den amerikanischen Frühliberalismus ließe sich im übrigen Ähnliches feststellen. Vorindustriell und vorrevolutionär sind eben keineswegs Synonyme. Vielmehr haben alle gelungenen demokratischen Revolutionen vor der Industriellen Revolution stattgefunden - und es spricht vieles dafür, daß ebendies die Bedingung der Möglichkeit ihres Erfolges war. Eine radikale Auswechslung von Führungsgruppen ist um so schwieriger, je komplexer eine Gesellschaft ist. Die „deutsche Verspätung" läßt sich auch als Illustration dieses Zusammenhangs beschreiben1. Was das deutsche vom westeuropäischen Bürgertum unterscheidet, scheint mir vor allem das Fehlen eines gesamtbürgerlichen Bewußtseins zu sein - eines Bewußtseins, wie es in Frankreich aus der Auseinandersetzung mit den Trägern des Ancien régime erwachsen war und soziale Differenzierungen innerhalb des Dritten Standes zeitweilig überlagert hat. In Deutschland ging mitten durch das Bürgertum die in diesem Land geradezu klassische Linie der Klassentrennung: der Gegensatz zwischen den „Gebildeten" und dem „Volk", der aus der ständisch verfaßten Gesellschaft herrührte, sie aber lang überdauert hat. Die Spaltung des liberalen Lagers in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel - eine Spaltung, die bis in den Vormärz zurückreicht - hat hier ihre tieferen Ursachen. Gewiß war der Unterschied zwischen Kleinbürgern einerseits, den Schichten von Besitz und Bildung andererseits keine spezifisch deutsche Erscheinung. Aber nirgendwo hat dieser Gegensatz dieselben politischen und ideologischen Dimensionen gehabt wie in Deutschland und zumal in Preußen, wo die sozialen Gegensätze, auch innerhalb des Bürgertums, sich schärfer ausgeprägt hatten als etwa in dem vergleichsweise homogeneren (wenn man so will: „bürgerlicheren") Südwestdeutschland. Und wenn auch die Sprecher der kleinbürgerlichen Demokraten selbst meist Akademiker waren, so besteht doch kein Zweifel, daß sie nicht die typischen Vertreter der bürgerlichen Oberschicht waren2. Seit den frühen Arbeiten von Hans Rosenberg3 wissen wir, wie lange sich in Teilen des deutschen Kleinbürgertums ein naturrechtlich argumentierender Vulgärrationalismus behauptet hat, während das Gros der Bildungsschichten längst die Wendung zum Historismus vollzogen hatte. Die ideologischen Differenzen zwischen „Libera20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

len" und „Demokraten" spiegelten bis in die 1860er Jahre diese „Ungleichzeitigkeit" wider. An keiner Frage wurde die politische Bedeutung dieses perspektivischen Gegensatzes so deutlich wie am Streit um den Vorrang von „Einheit" oder „Freiheit" während des preußischen Verfassungskonfliktes der Jahre 1862 bis 1866. Die ideologischen Prädispositionen spielten dabei wohl eine noch größere Rolle als wirtschaftspolitische Streitpunkte. Karl-Georg Fabers Hinweis, daß die Debatte um den preußisch-französischen Handelsvertrag und die damit verbundene wirtschaftspolitische Präjudizierung der kleindeutschen Lösung den preußischen Liberalismus nicht gespalten hat, ist zutreffend. Aber es gab bei Demokraten und Liberalen im engeren Sinn einen unterschiedlichen Grad der wirtschaftlichen Interessiertheit an der deutschen Einigung. Die Kaufleute, Industriellen, liberalen Großgrundbesitzer und ihre politisch-publizistischen Wortführer sahen in der politischen Organisation des nationalen Marktes ein spezifisch bürgerliches Interesse. In die gleiche Richtung zielte das militärsoziologische Argument: die Erwartung, daß Preußen durch die Schaffung eines deutschen Nationalstaates von seinen überproportionalen Militärlasten befreit werde und ebendies den bürgerlichen Kräften langfristig Auftrieb geben müsse. In beiden Punkten unterschied sich der linke vom rechten Flügel des preußischen Liberalismus: Für die kleinbürgerlichen Anhänger der Fortschrittspartei und ihre Sprecher waren die unmittelbaren Vorteile einer nationalen Einigung weniger einsichtig als für die liberalen Geschäftskreise. Das gleiche gilt für die erwarteten gesellschaftlichen Rückwirkungen verminderter preußischer Militärlasten. Erst recht blieb ein drittes, kultursoziologisches Argument zugunsten der deutschen Einheit den Ideologen des rechten Flügels vorbehalten: die These, daß das protestantische Preußen gegenüber dem katholischen Österreich in jedem Fall und unabhängig von seiner Regierungsform das Prinzip des Fortschritts verkörpere, eine Einigung Deutschlands unter preußischer Führung also eo ipso ein liberales Werk sei. Unter solchen Vorzeichen konnte es für die gemäßigten Liberalen zwischen „Einheit" und „Freiheit" kein antagonistisches Verhältnis geben, sondern nur ein dialektisches - oder, wenn man will, ein historistisch harmonisiertes. Und je geringer die Erfolgsaussichten der Liberalen wurden, den Verfassungskonflikt zu gewinnen, desto mehr setzten sie auf die nationale Karte. Die Hoffnung, Preußen werde sich auf dem Umweg über Deutschland verbürgerlichen, verlieh dem rechtsliberalen Nationalismus frühzeitig kompensatorische Züge4. Die Vertagung von Forderungen, die auf eine Art von de-facto-parlamentarischem System hinausgelaufen wären, durch den rechten Flügel der preußischen Fortschrittspartei war insoweit keine Kapitulation des Liberalismus5. Vielmehr steht die innenpolitische Weichenstellung von 1866 in der Kontinuität jenes „verzerrten Verhältnisses des deutschen Liberalismus zum Obrigkeitsstaat" (Faber), dessen Grund im Zeitalter der Reformation gelegt worden ist (ein in der sonst so scharfsinnigen Untersuchung Leonard Kriegers auffällig verkannter Zusammenhang)6. Die kulturkämpferische, sozusagen „schmalkaldische" Perspektive, in die der rechte Fortschrittsliberalismus den deutschen Krieg von 1866 rückte, war die säkularisierte Variante einer ursprünglich religiösen Bindung an den Landesherrn, den Beschützer des neuen Glaubens. Für das Bildungsbürgertum hat diese Bindung eine ähnliche Bedeu21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

tung gehabt wie die staatliche Wahrnehmung bürgerlicher Wirtschaftsinteressen für die frühindustriellen Unternehmer. Die Wirkung bestand in einer weitgehenden politischen Neutralisierung der bürgerlichen Führungsgruppen. Die Furcht vor der sozialen Revolution mußte diesen Effekt noch verstärken. Für den linken Flügel des Liberalismus war die Forderung nach nationaler Einigung die logische Verlängerung seines Strebens nach innerstaatlicher Freiheit, und von daher ergab sich auch der Vorrang der Freiheit vor der Einheit. Das nationale Postulat hatte für die Demokraten in erster Linie eine antidynastische Stoßrichtung. Aber ihre Politik reflektierte die Tradition des Obrigkeitsstaates nicht minder als die der gemäßigten Liberalen. Sie blieb abstraktes Raisonnement ohne wirklichen Willen zur Veränderung; sie trug dogmatische Züge im Verhältnis nicht nur zu ihrem erklärten politischen Kontrahenten, dem konservativen Lager, sondern auch zu ihrem potentiellen Verbündeten, der Arbeiterschaft. Anders als Lothar Gall möchte ich dies auch für Schulze-Delitzsch gelten lassen, dessen Genossenschaftsbewegung auf dem Prinzip der selbständigen Kapitalbeschaffung beruhte und damit vorläufig nur für Kleingewerbetreibende, nicht für Arbeiter in Frage kam. Eine soziale Öffnung des Liberalismus war von diesem Ansatz aus nicht zu erreichen7. Die soziale Basis des Linksliberalismus in den Schichten der kleinen Selbständigen scheint in den 1860er Jahren durch die konservative Mittelstandspropaganda noch nicht ernsthaft erschüttert worden zu sein. Eine im ganzen günstige Konjunkturentwicklung nahm den Angriffen auf die Gewerbefreiheit viel von ihrer Wirkung. Das änderte sich nach dem Beginn der „Großen Depression" im Jahre 1873. Den Konservativen und den Antisemitenparteien gelangen in der Folgezeit größere Einbrüche in städtische Wahlkreise; die Nationalliberalen gaben dem sozialprotektionistischen Druck von Handwerk und Kleinhandel zunehmend nach; und die Freisinnigen verdankten ihre Mandate ihrer Rolle als bürgerliche Protestpartei und nicht ihrem doktrinären Wirtschaftsliberalismus. Schon 1848/49 hatte sich gezeigt, daß im Kleinbürgertum politischer Radikalismus und sozialer Konservatismus leicht zusammengehen konnten. Die ,,Große Depression" machte deutlich, daß der Inhalt des Radikalismus je nach der Richtung wechselte, aus der sich die Kleingewerbetreibenden bedroht sahen. War der Hauptfeind in den vierziger Jahren der bürokratische Reformabsolutismus gewesen, so waren es in den siebziger Jahren das internationale Börsenkapital und die internationale Arbeiterbewegung. Gegen den Gegner von einst hatte man noch mit demokratischem Pathos zu Felde ziehen können; gegen die vermeintliche Phalanx neuer Feinde wurde die nationale Parole mobilisiert8. Die nationale Parole hatte in den sechziger Jahren noch einen antifeudalen Akzent getragen. Der Adel galt als Inkarnation der partikularstaatlichen Zersplitterung; Bürgertum und Nation wurden dagegen im liberalen Selbstverständnis als Synonyme begriffen. Der Funktionswandel der nationalen Parole vollzog sich erst in den siebziger Jahren unter den Vorzeichen des Kampfes gegen die „Reichsfeinde" und des „Schutzes der nationalen Arbeit": Aus dem Kampfruf der bürgerlichen Emanzipation wurde das ideologische Vehikel einer Sammlungsbewegung gegen Linksliberalismus und Sozialdemokratie. Daß die Nationalliberalen sich mehrheitlich an dieser Bewegung 22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

beteiligten, daß sie dem Freihandel ebenso abschworen wie der Verteidigung der Vereins- und Versammlungsfreiheit, das war die wirkliche Kapitulation des deutschen Nationalliberalismus9. Von einem Bürgertum, das sich selbst vom Proletariat bedroht sah, war die Bereitschaft zu einer revolutionären Kraftprobe mit dem Obrigkeitsstaat füglich nicht mehr zu erwarten. Der Selbstaufgabe des rechten Flügels des Liberalismus aber haftet nichts Zwangsläufiges und nichts Tragisches an. Die Minderheit, die sich 1880 von den Nationalliberalen trennte, macht deutlich, daß es für den bürgerlichen Liberalismus im Kaiserreich auch andere Optionen gab als die Politik der opportunistischen Anpassung an das konservative Lager oder den sterilen Dogmatismus Eugen Richters. Es war diese Gruppe der ,,permanenten Sezessionisten", aus der später die entschiedensten Vertreter einer „sozialen Öffnung" des Liberalismus hervorgingen. Eine Chance, bestimmenden Einfluß auf die deutsche Politik auszuüben, hat diese - im Sinne Galls „revisionistische" - Richtung freilich schon ihrer geringen zahlenmäßigen Stärke wegen nie erlangt. Das Problem des deutschen Liberalismus war das Problem der „verspäteten Nation" 10 . In der Zeit, als das Bürgertum sich noch mit einem wenigstens relativen Recht als den „allgemeinen Stand" bezeichnen konnte, war es in territoriale Segmente gespalten und schon deshalb in seiner politischen Handlungsfähigkeit stark beschränkt. Als die nationale Einheit durch den historischen Staat Preußen hergestellt war, konnte das Bürgertum einen gesellschaftlichen Alleinvertretungsanspruch nicht mehr erheben. Der Funktionswandel der nationalen Parole - vom Postulat der bürgerlichen Emanzipation zum Schlachtruf einer Sammlungsbewegung gegen Linksliberalismus und Sozialismus - war keine spezifisch deutsche Erscheinung; er war allgemein ein ideologischer Reflex des Übergangs vom Manchester-Liberalismus zum „Organisierten Kapitalismus" (R. Hilferding)11. Aber der Übergang zum integralen Nationalismus erfolgte in Deutschland, ohne daß naturrechtlich-humanitäre Traditionen als immanentes Korrektiv nationaler Machtpolitik fortgewirkt hätten. Eine solche Entwicklung war nur möglich in einem Land, in dem es, politisch gesehen, eine „Epoche des Liberalismus" nie gegeben hat.

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3. Bürgerliche Emanzipation und nationale Einigung: Z u r E n t s t e h u n g des N a t i o n a l l i b e r a l i s m u s in P r e u ß e n In der historischen Beurteilung des innenpolitischen Umbruchs von 1866 hat lange Zeit eine Auffassung dominiert, die unter dem Eindruck der Reichsgründung und der Kanzlerschaft Bismarcks stand und der zufolge die Hinwendung eines Teiles der deutschen Liberalen zur Politik des leitenden Staatsmanns ein Sieg des Staatsbewußtseins über den Parteigeist, der nationalen Verantwortung über egoistische Interessen war. Insbesondere die Abkehr der Nationalliberalen von der Propagierung eines zumindest de facto - parlamentarischen Systems erschien späteren Betrachtern als eine Rückbesinnung sowohl auf die besseren Traditionen des Liberalismus wie auf die eigentümlichen Gesetze deutscher Staatlichkeit überhaupt1. Vor dem Hintergrund der deutschen Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 scheint das Pendel neuerdings in die andere Richtung auszuschlagen: Das Einlenken der gemäßigten Oppositionellen in die Geleise der Bismarckschen Politik wird heute von manchen Historikern als eine Kapitulation des Liberalismus angesehen. In dem Konflikt zwischen Recht und Macht haben nach ihrer Ansicht die späteren Nationalliberalen für die Macht votiert und damit die weitere Entwicklung des politischen Lebens in Deutschland in verhängnisvolle Bahnen gelenkt. Die Unterlegenen von damals aber, die konsequent auf dem Rechtsstandpunkt beharrten und sich von den Erfolgen der Machtpolitik nicht berauschen ließen, sind nach dieser Auffassung inzwischen durch die Geschichte nachdrücklich bestätigt worden2. So diametral diese Thesen einander gegenüberstehen, so haben sie doch zumindest ein Merkmal gemeinsam: Beide werden der komplexen Problematik des deutschen Liberalismus nicht gerecht. Während die ältere Schule unter Vernachlässigung des gesamteuropäischen Vergleichshorizonts die Wandlungen des Jahres 1866 ausschließlich aus der innerdeutschen Perspektive beurteilte, ignoriert die neuere Richtung die spezifischen Bedingungen des Liberalismus in Deutschland und mißt diesen, bewußt oder unbewußt, ausschließlich an dem westeuropäischen oder amerikanischen Modell. Will man dem besonderen Dilemma des deutschen und insbesondere des preußischen Liberalismus im Jahre 1866 Rechnung tragen, so muß das Verhältnis zwischen dem Streben des Bürgertums nach politisch-sozialer Emanzipation und seiner Forderung nach dem nationalen Zusammenschluß Deutschlands, die Relation von „Freiheit" und „Einheit" also, in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Beide Postulate standen während des preußischen Verfassungskonflikts niemals unvermittelt nebeneinander. Nicht nur die Opposition gegen die Heeresreform, auch das nationalpolitische Programm der „entschiedenen Liberalen" war vielmehr eine Äußerung des bürgerlichen Aufstiegsstrebens und ein Reflex jener konkreten gesellschaftlichen Bedin24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

gungen, unter denen sich die Auseinandersetzung zwischen dem Tiers etat und dem historischen Staat in Preußen vollzog. Daß der preußische Verfassungsstreit letztlich in einem sozialen Konflikt wurzelte, dem „Kampf des Bürgertums gegen das mit den absolutistischen Tendenzen verbündete Junkertum", war dem Liberalismus von Anfang an deutlich bewußt3. Besonders bei dem entschiedensten Teil der liberalen Bewegung, der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei, wurde die Ansicht vertreten, daß (wie Karl Twesten es unter Berufung auf Comte formulierte) die „gesellschaftlich vorwiegenden Klassen . . . unwandelbar auch die politisch herrschenden" werden müßten4. Die mannigfachen Widerstände jedoch, auf die die bürgerliche Emanzipation in Preußen stieß, waren den meisten Führern der Fortschrittspartei nicht verborgen. Wie siegesgewiß und klassenkämpferisch sie sich auch gaben, eine neuerliche revolutionäre Kraftprobe mit den alten Gewalten wünschte nach den Erfahrungen von 1848/49 niemand. Die Hoffnung, durch beharrliche parlamentarische Verteidigung der Volksrechte die Krone schließlich zur Aufkündigung ihres Bündnisses mit dem Junkertum und zur Verständigung mit dem bürgerlichen Liberalismus bewegen zu können, entsprang der nüchternen Einsicht, daß der Fortschrittsliberalismus - dem äußeren Anschein zum Trotz - „auf keiner soliden gesellschaftlichen Grundlage" stand5. Jene Identifikation des dritten Standes mit der gesamten nichtfeudalen Gesellschaft, an der die Fortschrittler theoretisch und agitatorisch festhielten, erschien vielen von ihnen bei näherem Zusehen problematisch. Nicht nur, daß die namentlich von Schulze-Delitzsch umworbenen Arbeiter Forderungen zu vertreten begannen, die über die liberalen Programme weit hinaus gingen und daher geeignet waren, die bürgerliche Klassenbasis des Liberalismus zu enthüllen und die proletarische von der bürgerlichen Demokratie zu trennen6; nicht nur, daß die ländliche Bevölkerung der ostelbischen Gebiete feudalen Einflüssen unterworfen und von den politischen Bestrebungen der liberalen Parlamentarier weithin unberührt blieb7 - selbst auf ihr originäres gesellschaftliches Bollwerk, das städtische Bürgertum, konnte die Fortschrittspartei nicht vorbehaltlos rechnen. Ihre parlamentarischen Vorkämpfer waren nicht zufällig meist Angehörige der bürgerlichen Bildungsschicht-namentlich Justiz- und Staatsbeamte - , die in ihrer überwältigenden Mehrheit sorgfältig darauf achteten, die Grenze ihres „Radikalismus" da zu ziehen, „wo sich die besitzenden Klassen noch nicht von uns trennen"8. Die industrielle Bourgeoisie hielt sich von öffentlich-politischer Betätigung weitgehend fern; ihr Gros hatte längst schon Frieden mit dem obrigkeitsstaatlichen System geschlossen, das den Kapitalisten die politische Führungsrolle zwar verweigerte, dafür aber ökonomischen Fortschritt und Sicherheit vor den Gefahren einer Sozialrevolutionären Bewegung zu garantieren schien9. Angesichts der vielfach zu belegenden Parallelität von optimistischem Fortschrittsglauben und skeptischer Einsicht in die Realitäten der innerpreußischen Machtverhältnisse drängt sich die Frage auf, ob denn der strikte Legalismus wirklich das letzte Wort der entschiedenen Liberalen war. In der Tat: Die Hoffnungen auf einen Sieg des Bürgertums über die feudale Reaktion gründeten sich auf Erwägungen, die über die preußische Gegenwart hinauswiesen. Die liberale Zukunft wurde vermittelt durch das Hinzutreten eines neuen Moments: der Einigung Deutschlands. Auf der nationa25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

len Ebene erst ließ sich der Widerspruch der Gegenwart, der Konflikt zwischen Macht und Recht, aufheben. Zugunsten dieser Theorie, in der freilich neue Widersprüche und Konflikte von vornherein angelegt waren, ließ sich vor allem ein Argument geltend machen. Die chronische Überbürdung des preußischen Staates mit Militärlasten, wie sie seit den Tagen des Soldatenkönigs der preußischen Gesellschaft ihr besonderes Gepräge gegeben hatte10, war nach Auffassung der Liberalen die Hauptursache der politischen Frustration des preußischen Bürgertums. Wenn fortwährend der kriegerische Beruf des Staates als der dringendste und höchste gelte, so argumentierte etwa die „NationalZeitung", gewinne weder das preußische Volk noch seine Volksvertretung an Freiheit. ,,Es kommt dahin, daß alle, welche für die bürgerlichen Aufgaben des Staates Sinn behalten, den Ehrentitel von ,Schwätzern' empfangen, und nur die Leistung und der Gehorsam des Soldaten heißen nützlich für den Staat . . ." 11 . Mit dem Hinweis auf die militärische Überlastung Preußens wurde nun aber zugleich auch die nationale Frage berührt - waren doch die Rüstungsleistungen des größten deutschen Staates, wie die Liberalen immer wieder betonten, in erster Linie durch seine exponierte geographische Lage bedingt und dadurch mit den Problemen der staatlichen Organisation des gesamten Deutschland verknüpft. Bei der unzureichenden Verteidigungsfähigkeit des Deutschen Bundes hing die Sicherheit des außerösterreichischen Deutschland nämlich in hohem Maß von den militärischen Anstrengungen der norddeutschen Führungsmacht ab. Obwohl Preußen mit drei Vierteln seines Gebietes zum Bund gehörte, hatte die Bundeskriegsverfassung vom 8. April 1821, um den bloßen ,,Schein von Suprematie eines Bundesstaates über den anderen" zu vermeiden (Artikel VIII), den größten deutschen Staat lediglich mit drei Armeekorps am Bundesheer teilnehmen lassen. Da Preußen nun aus Gründen seiner Sicherheit sechs weitere Armeekorps unterhalten zu müssen glaubte und man im übrigen Deutschland hoffte, daß die norddeutsche Führungsmacht wie schon 1813/15 so auch in Zukunft ihr ganzes Heer zur Verteidigung Deutschlands aufbieten würde, hatte sich in den Mittel- und Kleinstaaten immer mehr die Tendenz durchgesetzt, die eigenen Leistungen so bescheiden wie möglich zu halten12. An ebendiesem Punkt setzte der Fortschrittsliberalismus den Hebel seiner Kritik an. Der preußische Staat, so wurde etwa in einem von Twesten verfaßten Kommissionsbericht des Abgeordnetenhauses moniert, habe für Deutschland Aufgaben zu erfüllen, denen seine Kräfte nicht gewachsen seien, deren Bewältigung vielmehr das Potential des ganzen Deutschland erfordere13. Auf was diese Forderung hinauslief, sprach unverhohlen der Abgeordnete Löwe-Calbe aus. Die preußische Regierung, erklärte er, bedürfe der Armee ,,nicht sowohl für preußische Zwecke, sondern um ihrer Aufgabe als deutsche Großmacht nach außen zu genügen. Die Regierung verlangt also Mittel für ihre Aufgabe als deutsche Großmacht lediglich von Preußen, während es ihre Aufgabe wäre, dieselben von Deutschland zu verlangen und nur für die Leistung des Preußen selbst treffenden Anteils zu sorgen."14 Noch schärfer formulierte Forckenbeck: ,,Ohne eine andere Gestaltung der deutschen Verhältnisse ist m(eo) v(oto) für die Dauer auch die Existenz einer vernünftigen und freien Verfassung Preu26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

ßens eine Unmöglichkeit. Bleiben die deutschen Verhältnisse so, wie sie sind, so wird und muß in Preußen nur der Militärstaat weiter ausgebildet werden . . .". 15 Schon diese Zeugnisse machen deutlich, welches Gewicht der Errichtung eines deutschen Nationalstaates vor dem Hintergrund der preußischen Militärfrage in liberaler Sicht zukam: Wurden jene deutschen Verteidigungslasten, die bisher hauptsächlich von Preußen getragen wurden, aber auch dem übrigen Deutschland zugute gekommen waren, gleichmäßig auf alle Teile eines geeinten Deutschland umverteilt, so konnte man sich davon in dem größten deutschen Staat mittelbar auch liberalisierende Rückwirkungen versprechen. Dieses Argument war gewiß nicht das einzige, das sich zugunsten der nationalen Einigung anführen ließ, aber es war doch das spezifisch preußische. Es trat hinzu zu den ökonomischen und kultursoziologischen Gründen, die das deutsche Bürgertum für seine Einheitsforderung ins Spiel bringen konnte- Gründen, die Twesten in dem erwähnten Kommissionsbericht prägnant zusammenfaßte, wenn er schrieb, nur die nationale Einheit könne „dem deutschen Volk eine seiner geistigen und materiellen Entwicklung würdige Machtstellung, eine genügende Vertretung seiner realen Interessen, ein Gefühl der Sicherheit gegen ausländische Einmischungen oder Beraubungen gewähren". Nur sie könne „wirtschaftliche Maßnahmen in dem notwendigen Umfang auf einem großen Gebiet in das Leben führen" und ,,durch eine zusammenfassende Organisation die Lasten erleichtern, durch welche in der jetzigen Zersplitterung die Volkskräfte übermäßig in Anspruch genommen und zum Teil nutzlos, ja widersinnig vergeudet werden"16. Freilich, nicht alle Führer des entschiedenen Liberalismus plädierten in dieser konkret-historischen Weise für die Einheit Deutschlands. Die Fortschrittspartei war ja, woran hier zu erinnern ist, keine homogene Gruppe, sondern eine „Koalitionspartei", zu der sich der aktivere Teil des bildungs- und besitzbürgerlichen Liberalismus und die kleinbürgerliche Demokratie zusammengeschlossen hatten. Dilatorische Formelkompromisse überdeckten tiefgreifende Interessendivergenzen zwischen diesen Gruppen namentlich in der Wahlrechtsfrage17 - aber auch auf nationalpolitischem Feld sollten bald fundamentale Unterschiede sichtbar werden. Für die Demokraten um Waldeck und Schulze-Delitzsch - der Abgeordnete Löwe-Calbe bildete eine Ausnahme - ergab sich die Forderung nach der deutschen Einheit primär aus dem als kontradiktorisch verstandenen Gegensatz zwischen „Volk" und „Dynastien". Das Streben nach dem nationalen Zusammenschluß war für sie nur die logische gesamtdeutsche Verlängerung des Kampfes gegen die jeweilige dynastische Gewalt des Einzelstaates, ein anderer Ausdruck also des Gedankens der Volkssouveränität18. Als Sprecher des Kleinbürgertums hatten sie keine zwingenden materiellen Interessen in die Waagschale der deutschen Einheit zu werfen19; sie argumentierten naturrechtlich und nicht historisch. Verstand sich daher für die Demokraten der absolute Primat der Freiheit vor der Einheit von selbst, so lagen die Dinge für die Liberalen im engeren Sinn komplizierter. Wohl gingen auch sie gemeinhin davon aus, daß die nationale Einheit das bürgerliche Gegenprinzip zur feudalstaatlichen Zersplitterung sei20, daß erfolgversprechende nationalpolitische Initiativen dementsprechend nur von einer liberal gesinnten preußi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

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schen Regierung zu erwarten seien. Aber schon vor dem Ausbruch des Verfassungskonflikts erkannte Twesten eine relative Autonomie des nationalen Problems an. Die Lösung der deutschen Frage, so erklärte er im Februar 1862, hänge mehr von dem energischen Charakter der äußeren Politik als von der inneren Entwicklung Preußens ab 21 . Damit deutete sich bereits jener innerparteiliche Konflikt an, der schließlich 1866 zum Bruch in der Fortschrittspartei führte. Wie sich die oppositionellen Liberalen entscheiden würden, wenn während des Verfassungskampfes im Zuge einer außenpolitischen Krise ihre Einheits- und Freiheitsforderungen zu kollidieren drohten, das mußte davon abhängen, welchen Stellenwert sie der nationalen Einheit innerhalb ihres politischen Gesamtkonzepts einräumten. Sieht man von den mehr theoretischen Debatten über das Polenproblem im Februar 1863 ab, so war es seit dem November desselben Jahres die schleswig-holsteinische Krise, die den Liberalen die außenpolitische Komponente ihres nationalen Programms erstmals drastisch vor Augen führte und sie zwang, ihre harmonisierenden Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Einheit und Freiheit zu überprüfen. Ein von 115 liberalen Abgeordneten aller Richtungen eingebrachter Antrag, der die Regierung praktisch zur Übernahme der von der nationalen Bewegung angestrebten Ziele, das heißt namentlich der Anerkennung der augustenburgischen Erbansprüche, aufforderte, führte Anfang Dezember 1863 zu ersten parlamentarischen Kontroversen zwischen den divergierenden Gruppen der Fortschrittspartei. Während Twesten als Kommissionsreferent die „Integrität des Vaterlandes" allen innenpolitischen Konflikten überordnete und einer national handelnden Regierung auch die Bewilligung der nötigen Mittel in Aussicht stellte22, lehnte Waldeck eine solche Maßnahme mit dem Hinweis darauf ab, daß Preußen für Deutschlands Freiheit und Einheit so lange nichts tun könne, „solange es nicht innerlich zur Freiheit gelangt ist"23. Andere Demokraten, wie Schulze-Delitzsch und Jacoby, plädierten wohl für den Antrag, hielten das Ersuchen an die Regierung aber für eine bloße Sympathiekundgebung zugunsten der Schleswig-Holsteiner und seine Verwirklichung seitens des Ministeriums wie sich zeigen sollte: zu Recht - für ausgeschlossen24. Die siegreiche Beendigung des Krieges durch Preußen und Österreich bedeutete keineswegs auch das Ende der innerliberalen Meinungsverschiedenheiten in der schleswig-holsteinischen Sache. Die Frage nach dem künftigen rechtlichen Status der Herzogtümer vertiefte vielmehr die Kluft zwischen rechtem und linkem Flügel. Wenige Tage nach Beginn der Wiener Friedensverhandlungen bereits leitete die „National-Zeitung", das Organ der rechten Fortschrittsliberalen, ihre Abkehr vom augustenburgischen Programm der deutschen Nationalbewegung ein und deutete an, daß Preußen als Anerkennung für seine Verdienste um die Befreiung Schleswig-Holsteins auch in Zukunft gewisse Rechte in den Herzogtümern behalten müsse. Konkret hieß das: militärischer und maritimer Anschluß an die norddeutsche Führungsmacht. Die Argumente für diese Lösung ließen die materiellen Interessen des preußischen Bürgertums deutlich werden. In den Kleinstaaten, wo man die Preußen offenbar für die „Spartaner Deutschlands" halte, mute man, so kritisierte das Blatt, dem größten deutschen Staat einerseits das Unmögliche zu, er solle beständig „zum Besten 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Deutschlands im Kriegsharnisch einhergehen", andererseits sehe man es dort für „wahres Deutschtum" an, wenn „man dem preußischen Staat jede Unterstützung mit den deutschen Kräften verweigert und jeden Machtzuwachs mißgönnt und verbietet". Auf ewige Zeit aber könnten nicht 18 Millionen Deutsche, welche im preußischen Staat vereinigt seien, unter allen Wechselfällen die Verteidigung von 35 Millionen leisten und die gesamte deutsche Interessenvertretung übernehmen. „Kein Volk hat die Bestimmung, lediglich oder hauptsächlich Soldat zu sein, jedes hat vor allen anderen Zwecken dem bürgerlichen Fortschritt, der Bildung und der Freiheit zu huldigen, aber auch keines ist lediglich zu persönlichem Wohlstand und sanftem Lebensgenuß berufen, keines darf die Leistungen und Opfer zu seiner Verteidigung gegen Feinde ablehnen." Daß Preußen „eine Kaserne sein soll und Schleswig-Holstein ein friedlicher Meierhof, das ist uns zu ausschließend, ist eine zu ungleiche Verteilung von Licht und Schatten, von Genuß und Plage" 25 . Die bürgerliche Freiheit könne in Deutschland sehr wohl eine Stätte haben, „wenn dieses große und volkreiche Land in seinem ganzen Umfang eine gute Verfassung hätte - eine Verfassung, welche dem Machtbedürfnis Genüge tun konnte, ohne die Volksfreiheit zu mindern". Daraus ergebe sich zwangsläufig, daß „jeder Fortschritt in der Gewinnung der notwendigen deutschen Macht . . . zugleich ein Fortschritt im freiheitlichen Leben" sei, während umgekehrt die „verlängerte Verwahrlosung der zur Erhaltung der Nation unentbehrlichen Macht" immer tiefer in die Unfreiheit hineinführe26. Die Machterweiterung Preußens als Mittel zum Zweck seiner Liberalisierung - das war eine These, die, wenn sie zu Ende gedacht wurde, weitreichende Folgen für die Politik der liberalen Opposition haben mußte. Daß Recht ohne Macht - wie das Sprachrohr des rechten Fortschrittsflügels meinte - bloßer Anspruch und Wunsch sei und das Recht darum mit der Macht sich in Einklang setzen müsse27, das war ein Standpunkt, der sich schwerlich auf das Selbstbestimmungsrecht anderer - hier der Schleswig-Holsteiner - beschränken ließ, sondern eines Tages auf die preußische Opposition selbst zurückschlagen mußte. In der Tat wurde bald nach diesem publizistischen Vorstoß bei einigen führenden Parlamentariern des nationalen Fortschrittsliberalismus eine veränderte Beurteilung des Ministeriums Bismarck erkennbar. Wohl forderte auch der Demokrat Waldeck als engagierter Gegner des Partikularismus eine Annexion der Eibherzogtümer durch Preußen28, aber mit den „Augustenburgern" um Schulze-Delitzsch und Virchow war er sich darin einig, daß durch ein reaktionäres Ministerium kein nationales Problem Deutschlands zufriedenstellend gelöst werden könne und daß darum die von der Regierung erbetene nachträgliche Bewilligung der Kosten des dänischen Krieges abgelehnt werden müsse. Zunehmende Kräfte des rechten Flügels hingegen waren nunmehr durchaus bereit, aus ihrer mehr oder minder annexionistischen Position Konsequenzen für ihr Verhalten gegenüber dem Konfliktsministerium zu ziehen, dessen nationalpolitische Erfolge anzuerkennen und unter bestimmten Voraussetzungen durch eine Geldbewilligung zu honorieren. Sie kamen zu dem Schluß, daß in der Außenpolitik die verschiedensten Parteien einig sein konnten29; ja, sie versprachen sich von einer dynamischen Außenpolitik sogar neuen Elan für ihren innerpolitischen Kampf30. 29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Wie für die Revolution von 1848/49 bedeutete die schleswig-holsteinische Krise also auch für den Verfassungskonflikt einen Wendepunkt. Hatte damals das Unvermögen der Paulskirche, die preußische Regierung zur Fortführung des Krieges mit Dänemark zu zwingen, die Ohnmacht der liberalen Bewegung gegenüber den bestehenden Gewalten dokumentiert, so erwies nun der militärische Sieg der Preußen und Österreicher die ungebrochene Kraft des historischen Staates. 1848 wie 1864 führte somit der Verlauf der Auseinandersetzungen um Schleswig-Holstein zu einer Konfrontation mit den tatsächlichen Machtverhältnissen - einer Konfrontation, auf die die gemäßigten und die radikalen Kräfte sehr unterschiedlich reagierten. Die fortschreitende Auseinanderentwicklung von Demokraten und Liberalen im engeren Sinn war beide Male eine unmittelbare Folge dieses Ereignisses. Der weitere Fortgang der schleswig-holsteinischen Sache war mit dem schwierigsten jener ungelösten nationalen Probleme von 1848/49 verknüpft, die während des Verfassungskonfliktes erneut zur Debatte standen: dem Dualismus zwischen Preußen und Österreich. Immer noch war die Frage nicht entschieden, ob schließlich einer der beiden Großmächte die Vorherrschaft in Deutschland zufallen und bis zu welchen Grenzen hin ein künftiger deutscher Nationalstaat sich gegebenenfalls erstrecken würde. Für den preußischen Liberalismus gab es hinsichtlich der Vormachtsfrage keine ernsthaften Meinungsverschiedenheiten: Der Staat, der von der Geschichte dazu ausersehen war, die Führung im neuen Deutschland zu übernehmen, war Preußen. Was den Umfang des angestrebten deutschen Reiches betraf, so waren während der sechziger Jahre nur noch wenige konsequente Demokraten wie Waldeck und Jacoby der Meinung, ein Ausschluß der Deutsch-Österreicher bilde eine unzulässige, die Integrität des deutschen Volkes verletzende Rücksichtnahme auf dynastische Interessen. Das Gros der Fortschrittspartei war, ohne daß sich im Verlauf der Konfliktszeit an dieser Haltung etwas geändert hätte, „kleindeutsch" eingestellt und einer Verabsolutierung des Volksgedankens im Sinne der objektiv-kulturellen Idee der Nationalität abhold31. Auch die kleindeutsche Position ließ indes sehr unterschiedliche Motivationen zu. Man konnte kleindeutsch einmal aus realpolitischen Erwägungen sein und den Verzicht auf eine Eingliederung Österreichs in einen deutschen Nationalstaat lediglich als Zwangslösung betrachten. In diesem Sinn sprach Hoverbeck von der „traurigen Notwendigkeit", daß bei der Begründung eines deutschen Bundesstaates die Deutsch-Österreicher „unter Vorbehalt der Rechte der deutschen Nation an dieselben" ausgeschlossen blieben, solange nicht ,,die Fessel der Gesamtverfassung, welche diesen deutschen Stamm an eine Mehrheit von fremden Nationalitäten kettet", gelöst werde32. Neben dieser notgedrungen kleindeutschen Haltung gab es noch eine andere, pointiertere Form des Kleindeutschtums. Sie differenzierte nicht zwischen Volk und Staat in den deutschsprachigen Gebieten der Habsburger Monarchie, sondern betrachtete Österreich schlechthin als den Gegner aller fortschrittlichen Bewegung, als einen Hort der Reaktion. Diese Auffassung der deutschen Frage, die vor allem in der liberalen Publizistik mit stark kulturkämpferischen Akzenten vorgetragen wurde, fand ihren Ausdruck beispielsweise in der 1865 erhobenen Forderung des Abgeordneten Michaelis, des Wirtschaftsredakteurs der „National-Zeitung" und 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

eines der führenden Volkswirte der Fortschrittspartei, Preußen und Deutschland müßten, um ein „ideales Ziel" zu haben, das Banner gegen Österreich ergreifen33. Daß diese zweite Form des kleindeutschen Denkens vor allem auf dem rechten Fortschrittsflügel Anhänger besaß, während die erste fast nur von der Linken vertreten wurde, war durchaus kein Zufall. Das reale Interesse des Besitzbürgertums an einem Ausschluß Österreichs aus dem künftigen Deutschland und die ideologische Rechtfertigung, die es durch die bildungsbürgerliche Gleichsetzung der protestantisch geprägten Kultur Norddeutschlands mit dem allgemeinen politischen Fortschritt erfuhr, differierten mit der Interessenlage der kleinbürgerlichen Massen. Deutlich wurde dieser Tatbestand vor allem während der 1862 beginnenden parlamentarischen Verhandlungen über den Freihandelsvertrag mit Frankreich, der der führenden Macht des Zollvereins den Anschluß an das System des westeuropäischen Wirtschaftsliberalismus ermöglichte. An ihm waren die Getreide exportierenden Ostprovinzen und der gesamte Handel so vital interessiert, daß die Opposition seitens der Eisen- und Textilindustrie zum Scheitern verurteilt war. Daß der Handelsvertrag mit Frankreich den 1853 vereinbarten Verhandlungen über eine mögliche Angleichung oder Gleichstellung der Tarife des Zollvereins und Österreichs praktisch einen Riegel vorschob, war diesen Interessengruppen willkommen. Der Kaiserstaat sah sich im Gegensatz zu dem wirtschaftlich fortgeschrittenen Preußen nämlich nicht in der Lage, mit der französischen Industrie in freien Wettbewerb zu treten, und suchte sich daher durch hohe Schutzzölle zu sichern. Der Konflikt zwischen Freihändlern und Schutzzöllnern war daher die wirtschaftspolitische Seite im Kampf um die deutsche Hegemonie: Entschied sich die Mehrheit der Zollvereinsstaaten für den preußischfranzösischen Handelsvertrag, so war dies eine gewichtige Vorentscheidung für Kleindeutschland34. Im Abgeordnetenhaus wurde dieser Standpunkt vor allem von den Volkswirten der Fortschrittspartei - Mitgliedern des 1858 gegründeten „Kongresses deutscher Volkswirte" und Repräsentanten der städtischen Handelskreise-vertreten, während sich die Demokraten außer den an Wirtschaftsfragen sachlich oder persönlich besonders interessierten Abgeordneten Schulze-Delitzsch und Löwe-Calbe im allgemeinen zurückhielten; Waldeck nannte es sogar - in unüberhörbarem Gegensatz zu den Volkswirten seiner Partei - ein „wahres und richtiges Verlangen", den Zollverein auch auf Österreich auszudehnen35. Die Übereinstimmung zwischen dem bürgerlichen Liberalismus und der Regierung in der Handelspolitik hat für den Verlauf des Verfassungskampfes eine kaum zu überschätzende Bedeutung gehabt. Sie nahm den verfassungspolitischen Auseinandersetzungen ihren wirtschaftlichen Stachel und war die unabdingbare sozial-ökonomische Voraussetzung für den 1866 besiegelten, cäsaristisch verbrämten Kompromiß zwischen dem Bürgertum und den feudal-bürokratischen Führungsschichten. Nur vor diesem Hintergrund ist die Annäherung des rechten Liberalismus an die konservative Staatsführung zu verstehen: Sie entsprach den Interessen eines Großbürgertums, das angesichts der politischen Verselbständigung des „vierten Standes" und der Lethargie der Landbevölkerung eine Revolution nicht wagen und auf Grund der Befriedigung seiner wirtschaftspolitischen Bedürfnisse durch den preußi31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

schen Ressortliberalismus auch nicht mehr wünschen konnte36. Die Verschärfung des Gegensatzes zwischen dem rechten Flügel des preußischen Liberalismus einerseits und den kleinbürgerlichen Demokraten innerhalb und außerhalb Preußens andererseits, zu der es im Zuge der öffentlichen Debatten über die Zukunft der Eibherzogtümer während des Jahres 1865 und des Frühjahrs 1866 kam, illustriert diesen Prozeß37. Wenn die schleswig-holsteinische Krise dazu geführt hatte, daß die rechten Fortschrittler die außenpolitischen Verdienste des Ministerpräsidenten erkannten und diesen Standpunkt auch gegenüber der Linken vertraten, so waren doch noch keineswegs alle Widerstände gegen Person und Politik Bismarcks überwunden. Das wurde deutlich, als sich im Frühjahr 1866 das Verhältnis der beiden deutschen Großmächte rapide verschlechterte und ein militärischer Konflikt mit Österreich immer mehr in den Bereich des Möglichen rückte. Lasker hielt einen Krieg für ausgeschlossen, da „unser gutes Verhältnis mit Österreich . . . den Feudalen über alles" gehe, selbst über den Besitz der Herzogtümer38. Twesten sprach von der Gefahr eines „unnützen und frivolen Krieges"39. Immerhin: Während die demokratische ,,Volkszeitung" einen Krieg mit Österreich als „Bruderkrieg", als „Katastrophe" und ein „nationales Unglück" bezeichnete40, hielt die „National-Zeitung" den militärischen Konflikt mit dem Habsburgerreich auf längere Sicht für unvermeidbar. Wegen Schleswig-Holstein aber, so schränkte sie ein, sei er nicht erforderlich, und er benötige auch die Sympathien ganz Deutschlands - was unter Bismarck nicht zu erreichen sei41. Als der Ministerpräsident zum Zweck der politischen und psychologischen Vorbereitung des Waffenganges am 4. April dem Bundestag den Vorschlag unterbreitete, ein aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorgehendes Parlament zu berufen, welches über die Vorlagen der Regierungen zur Reform der Bundesverfassung beraten solle, nahm dies im Fortschrittslager kaum jemand ernst42. Zu sehr hatte Bismarck sich als Konfliktsminister in den Augen der Liberalen kompromittiert, als daß man ihm den Willen zu einem gesamtdeutschen Parlament hätte abnehmen können. Ja, Twesten fürchtete, nicht die Errichtung eines deutschen Nationalstaates sei das Ziel des Ministerpräsidenten, sondern lediglich die Etablierung der preußischen Hegemonie nordwärts der Mainlinie und damit die Verewigung des deutschen Dualismus43. Mit der Eröffnung der Feindseligkeiten aber sah sich der preußische Liberalismus einer veränderten Situation gegenüber. Der Krieg war jetzt eine vollendete Tatsache, und auch daran zweifelte bald niemand mehr, daß es bei diesem Konflikt um nichts Geringeres als um die künftige Herrschaft in Deutschland ging. Daß man im liberalen Lager diesen Entscheidungskampf nicht unter konservativen Vorzeichen hatte führen wollen, verlor demgegenüber an Gewicht. Die finanziellen Voraussetzungen für den Krieg waren durch eine Transaktion Bleichröders und Hansemanns, den parlamentarisch nicht bewilligten Verkauf der im Staatsbesitz befindlichen Stammaktien der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft, geschaffen worden44 - ein Umstand, der Löwe-Calbe zu der Anklage veranlaßte, gerade die „Hochbesitzenden" hätten das gegenwärtige Regiment möglich gemacht45. Nach Kriegsausbruch ließ auch die ideologische Rechtfertigung nicht auf sich warten. „Wenn wir auch", so schrieb das Organ des rechten Fortschrittsflügels, „kein volksfreundliches Ministerium bei uns am Ruder haben, den Österreichern gegenüber ver32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

tritt Preußen dennoch die deutsche Volksfreiheit, gleich wie im Dreißigjährigen Krieg die starren Lutheraner und Reformierten die Geistesfreiheit vertraten und retteten."46 Und auf einer Berliner Wahlmännerversammlung erklärte im gleichen Sinn ein liberaler Redner, ein Sieg Preußens bedeute „auf alle Fälle den Sieg der bürgerlichen und kirchlichen Freiheit . . . , die Bewahrung Norddeutschlands auf geistigem Gebiet vor den Jesuiten, auf materiellem vor finanziellem und volkswirtschaftlichem Ruin" 47 . Der 3. Juli 1866 ist in zweifacher Hinsicht ein historisches Datum für den preußischen Liberalismus: An demselben Tag, an dem Österreich bei Königgrätz vernichtend geschlagen wurde, erlitt auch die Fortschrittspartei eine schwere Niederlage. Die preußischen Landtagswahlen reduzierten die Zahl ihrer Sitze von 143 auf 83. Auf drastische Weise verdeutlichte dieser Wahlausgang, wie labil das Wählerreservoir des preußischen Liberalismus vor allem auf dem flachen Lande war. Die massive patriotische Propaganda der Regierung und die Weigerung der Opposition, für den Krieg mit Österreich irgendwelche Gelder zu bewilligen, hatten offensichtlich Wirkungen gezeitigt, die nur wenige Liberale erwartet hatten48. Wäre bei diesen Wahlen nicht nach dem besitzfreundlichen Dreiklassenwahlrecht, sondern nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gewählt worden - bei der noch immer überwiegend agrarischen Struktur Preußens hätten sich die Gewichte aller Wahrscheinlichkeit nach sogar noch sehr viel stärker zugunsten des Konservativismus verschoben49. Der offene Bruch in der Fortschrittspartei war seit Königgrätz nur noch eine Frage der Zeit. Die letzten Etappen auf dem Wege zur Abspaltung des rechten Flügels von der Fortschrittspartei und zur Gründung der Nationalliberalen Partei sind hier nicht nachzuzeichnen50. Vielmehr geht es darum, die Ursachen und Wirkungen der hier verfolgten Entwicklung zusammenfassend zu würdigen. Wenn die Demokraten ihre Opposition gegen das Ministerium Bismarck unbeirrt fortzusetzen entschlossen waren und darum die Erteilung der Indemnität verweigerten, so drückte sich darin wiederum das - verglichen mit den rechten Fortschrittlern - geringere Interesse an der nationalen Einigung Deutschlands aus51. Ihre Warnungen vor Machtrausch und „Götzendienst des Erfolgs" waren vollauf berechtigt und verrieten jene Einsicht in die Gefahren einer Verabsolutierung nationalpolitischer Belange, die die gleichzeitigen Stellungnahmen der rechten Fortschrittsführung durchwegs vermissen ließen. Gleichwohl können die Rechtsverwahrungen der unnachgiebigen Oppositionellen von 1866 nicht in eine wirkliche Alternative zu den dominierenden Tendenzen umstilisiert werden. Die Demokraten verzichteten auf jede Abwägung ihrer Erfolgsaussichten und entbehrten der leidenschaftlichen Entschlossenheit zur revolutionären Veränderung der angeprangerten Zustände. Ihr gesinnungsethischer Verbalradikalismus bedeutete auf seine Weise eine Anerkennung, ja eine nahezu fatalistische Hinnahme der bestehenden Machtverhältnisse. Eine Befriedigung des objektiven Bedürfnisses einer nationalstaatlichen Organisation Deutschlands, das aus der Industriellen Revolution resultierte, war von ihrer Politik nicht zu erwarten. Subjektiv lag ohne Zweifel bei den späteren Nationalliberalen ein stärkerer evolutionärer Elan vor. Die Erkenntnis, daß die Kräfte des preußischen Bürgertums zu einer Liberalisierung des größten deutschen Staates nicht ausreichten, entsprach der Realität - nach Düppel und Königgrätz mehr als jemals zuvor. Je geringer die Chan33

3 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

cen für eine Durchsetzung der konstitutionellen Forderungen im preußischen Partikularstaat wurden, desto mehr erhob sich daher der nationale Gedanke zum Inbegriff des allgemeinen Fortschritts. So paradox es klingt: Das Denken in machtstaatlichen Kategorien war ein Ausdruck der innenpolitischen Ohnmacht des preußischen Bürgertums, das nationale Pathos ein Reflex seiner gesellschaftlichen Insuffizienz, Einzig in einem deutschen Nationalstaat glaubte es die nötige Kraft finden zu können, um seinem Anspruch auf die Ablösung der traditionellen Führungsschichten Geltung zu verschaffen. Doch die Nationalliberalen gaben sich einer Illusion hin: Sie übersahen, daß die von ihnen angestrebte militärische Entlastung Preußens gleichzeitig zu einer Militarisierung des übrigen Deutschland führen und die Stellung der alten Gewalten insgesamt eher stärken mußte. Wenn sie glaubten, mit der „Vertagung" ihres Verlangens nach Parlamentarisierung nur eine taktische Schwenkung vollzogen zu haben, so sollte sich herausstellen, daß damit verfassungspolitisch die Weichen für ein halbes Jahrhundert gestellt waren52. Man muß den ehemaligen preußischen Konfliktsliberalen zugute halten, daß sie nicht die kompromißbereiteste Gruppe der Nationalliberalen stellten, daß sie ihre im Herbst 1866 angekündigte „loyale Opposition" in der Innenpolitik nicht ohne Erfolg beizubehalten versuchten und im Jahre 1880 an der Rückkehr des linken Flügels der Nationalliberalen in das oppositionelle Lager einen hervorragenden Anteil hatten. Doch die von Twesten und Unruh gefeierte Revolution von oben53 entwickelte ihre Eigengesetzlichkeit. Bei einem großen Teil des Bürgertums dominierte schon bald nach 1866 eine opportunistische Anpassung an die siegreichen Gewalten, die sich vor allem in Form einer forcierten gesellschaftlichen Angleichung an die traditionellen Führungsschichten, in einer ,,Verjunkerung der Bourgeoisie"54, äußerte. Sie wurde verstärkt durch jenes wirtschaftliche Arrangement zwischen Schwerindustrie und Großgrundbesitz, zu dem es im Zeichen der Schutzzollgesetzgebung kam. Die Zunahme der sozialdemokratischen Stimmen von Wahl zu Wahl förderte die antidemokratischen Tendenzen im Bürgertum: Angesichts der Gefahren, die den besitzenden Schichten von einer wachsenden Sozialrevolutionären Bewegung drohten, verlangten große Teile des Liberalismus die Einsetzung staatlicher Zwangsmittel zur Unterdrükkung der sozialistischen Agitation. Daß die nationale Parole, die in den sechziger Jahren noch eine antifeudale und somit sozial progressive Funktion gehabt hatte, nunmehr immer stärker eine sozial konservative und repressive Rolle spielte, war ein Reflex der veränderten Interessenlage des Bürgertums55. Die Federführung in Sachen Demokratisierung lag während des Kaiserreiches nicht mehr in seinen Händen, sondern in denen der Arbeiterbewegung. Vor dem Hintergrund der inneren Entwicklung der großen westeuropäischen Nationen nahm Deutschland daher auch weiterhin eine Sonderstellung ein. Während sich dort das parlamentarische System mehr oder minder fest etabliert hatte, dominierten hier die obrigkeitsstaatlichen Elemente. Das Fernbleiben der Gesellschaft von der politischen Verantwortung, wie es zwangsläufig der Kluft zwischen Regierung und Parlament entsprang, bedeutete eine Vorbelastung jeder, auf die Dauer unvermeidbaren Parlamentarisierung56. Sowenig die konkrete Situation von 1866 dem bürgerlichen Liberalismus noch eine Alternative ließ und sowenig ihm darum eine pau34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

schale Verurteilung gerecht wird, das Dilemma der „verspäteten Nation" verträgt umgekehrt auch keine idealisierende Überhöhung57. Die Ideologie des deutschen Sonderwegs ist von der Geschichte desavouiert worden. Hundert Jahre nach der Konfliktszeit kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß die Abweichung Deutschlands von dem säkularen und normativen Prozeß der Demokratisierung mit den Grund zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelegt hat.

35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

4. Vom linken z u m rechten Nationalismus: D e r d e u t s c h e L i b e r a l i s m u s i n der Krise v o n 1878/79 I. Wer heute in der westlichen Welt sich selbst als „national" oder gar als „Nationalist" bezeichnet, der wird sich im Zweifel eher der politischen Rechten als der Linken zurechnen. „Nationale Kreise": Das war schon im wilhelminischen Deutschland zu einem Synonym konservativer Gesinnung geworden, auch wenn sich diese durchaus mit einem nationalliberalen Parteibuch vertrug. Aber die Gleichsetzung der Begriffe „national" und „rechts" versteht sich nicht von selbst. Sie ist vielmehr das Ergebnis eines Funktionswandels der nationalen Parole, den der freisinnige Reichstagsabgeordnete Ludwig Bamberger im Jahre 1888 plastisch beschrieben hat: „Das nationale Banner in der Hand der preußischen Ultras und der sächsischen Zünftler ist die Karikatur dessen, was es einst bedeutet hat, und diese Karikatur ist ganz einfach so zustande gekommen, daß die überwundenen Gegner sich das abgelegte Gewand des Siegers angeeignet und dasselbe nach ihrer Fasson gewendet, aufgefärbt und zurechtgestutzt haben, um als die lachenden Erben der nationalen Bewegung darin einherstolzieren zu können."1 Der Prozeß, den Bamberger mit diesen Worten umriß - die Umwandlung des Nationalismus von einer „linken" in eine „rechte" Integrationsideologie -, läßt sich zeitlich einigermaßen genau bestimmen. Er fällt in die zweite Hälfte der 1870er Jahre. Vom Vormärz bis in die Reichsgründungszeit war die nationale Parole in erster Linie ein Ausdruck bürgerlicher Emanziationsbestrebungen gewesen. Die Forderung nach nationaler Einheit richtete sich gegen den landsässigen Adel als den Träger der partikularstaatlichen Zersplitterung. Das Bürgertum dagegen begriff sich selbst als die gesellschaftliche Verkörperung der deutschen Einheit, wobei die Bildungsschicht stärker auf die vor allem von ihr hervorgebrachte deutsche Nationalkultur hinwies, während die industriellen und kommerziellen Unternehmer die politische Einigung Deutschlands primär aus den Notwendigkeiten eines nationalen Marktes ableiteten. Das zweite Argument trat im Zuge der Industrialisierung immer mehr in den Vordergrund, und es erscheint insofern berechtigt, eine von Robert M. Berdahl für den Vormärz aufgestellte These auch auf die Reichsgründungszeit auszudehnen: Der deutsche Nationalismus war bis in die frühen 1870er Jahre hinein ein Vehikel der gesellschaftlichen Modernisierung2. Die Gleichsetzung von „bürgerlich", „liberal" und „national" ging soweit, daß 1861 der Demokrat Hermann Schulze-Delitzsch der neugegründeten Partei der „entschiedenen Liberalen", der Deutschen Fortschrittspartei, am liebsten den Namen „Nationale Partei" gegeben hätte, „weil dies nicht bloß die deutsche Politik, sondern die ganzen übrigen Tendenzen der Partei gegenüber der dynastischen" ein36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

schließe. Zur gleichen Zeit bezeichnete die Berliner „National-Zeitung", das Organ des rechten Flügels der Fortschrittspartei, die territoriale Zersplitterung Deutschlands als eine Folge der „Grundlagen des feudalen Staatswesens", während „im deutschen Bürgertum" „die Spaltung der Nation überwunden" sei. „Wir sprechen hier", fügte das liberale Blatt hinzu, „vom Bürgertum und nicht vom Volk überhaupt, um die soziale Seite des Kampfes, welche die politische Doktrin oft zu sehr aus den Augen verloren hat, schärfer zu betonen"3. Das Jahr 1866 bedeutet, was die bürgerliche Konzeption von der Nation angeht, keinen Bruch. Der Teil des „entschiedenen Liberalismus", der sich mit Bismarck arrangierte, gab keines seiner bisherigen Prinzipien auf. Bereits auf dem Höhepunkt des preußischen Verfassungskonflikts, nach den Siegen der Preußen und Österreicher im Krieg gegen Dänemark im Jahre 1864, hatten einige Vertreter des rechten Fortschrittsflügels die Möglichkeit anerkannt, daß „Einheit" und „Freiheit" nicht unbedingt gleichzeitig errungen würden. Sie gestanden zu, daß auch ein reaktionäres Ministerium Schritte auf dem Weg zur Einheit Deutschlands tun könne. Kein Repräsentant der Fortschrittspartei war aber bereit, denjenigen Forderungen abzuschwören, die im Ruf nach „Freiheit" zusammengefaßt wurden. Darunter wurde nicht verstanden eine formelle Parlamentarisierung Preußens in dem Sinne, daß der Ministerpräsident ein Exponent der jeweiligen Mehrheit im Abgeordnetenhaus sein mußte. Eine solche Lösung hätte eine Verfassungsänderung erfordert, und die wäre allenfalls mit revolutionären Mitteln zu erzwingen gewesen. Vor einer Revolution aber scheute nach den Erfahrungen von 1848/49 das liberale Bürgertum zurück. Der in der Geschichtsschreibung meistgenannte Grund dieses bewußten Verzichts, die Furcht vor dem Umschlag einer bürgerlichen in eine proletarische Revolution, spielte in der Tat eine erhebliche Rolle, aber eine noch größere Bedeutung kam der Sorge zu, daß die feudale Reaktion die Bevölkerung des platten Landes für sich mobilisieren könne. Das bürgerliche Lager selbst war in sich gespalten: Die industriellen Führungsgruppen an Rhein und Ruhr etwa konnten, je länger der Konflikt dauerte, desto weniger als feste Stützen der Kammeropposition gelten. Angesichts solcher Perspektiven gab es für die „entschiedenen Liberalen" keinen Zweifel, daß sie einem Ministerium, das die Verfassung brach, nur als Verfassungspartei ohne Wenn und Aber gegenübertreten konnten. Auf gesetzlichem Wege wollten sie eine Machtverlagerung von der Exekutive zur Legislative herbeiführen. Der fortschrittliche Abgeordnete Rudolf Virchow erklärte noch am 30. August 1866, also nach Königgrätz, in der Anleihekommission des Abgeordnetenhauses, „eine konstitutionelle Regierung müsse zurücktreten, wenn sie sich der Zustimmung der Landesvertretung nicht erfreue". Karl Twesten, der sich nach Königgrätz von der Fortschrittspartei trennte, hielt in seinem Entwurf für das Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei ebenfalls an der Erwartung fest, das „Bedürfnis wirklicher Eintracht zwischen Volk und Regierung" werde „schließlich die letztere in die vom Volk verlangten Bahnen lenken". Die langfristigen Zielvorstellungen der „entschiedenen Liberalen", ob sie in der Fortschrittspartei blieben oder sich der neuen Nationalliberalen Partei anschlossen, liefen vor wie nach 1866 auf ein System hinaus, das man als quasiparlamentarisch bezeichnen kann: Die Regierung sollte auf das Vertrauen der parlamentarischen Mehrheit angewiesen sein. Das 37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Budgetrecht vor allem war das Instrument, das diese Abhängigkeit gewährleisten sollte4. Die nationale Parole gehörte für die „entschiedenen Liberalen" Preußens nicht nur aus jenen ökonomischen und kultursoziologischen Gründen zu ihrem Programm, die das liberale Bürgertum in ganz Deutschland zugunsten der Einheitsforderung geltend machte. Es gab vielmehr einen zusätzlichen, spezifisch preußischen Faktor im nationalpolitischen Kalkül des „entschiedenen Liberalismus": Erst ein deutscher Nationalstaat würde die Überbürdung Preußens mit Militärlasten beenden, die die Entfaltung der bürgerlichen Kräfte im größten deutschen Staat hemmte. Die Einigung Deutschlands mußte die strukturelle Diskriminierung überwinden, der sich das preußische Bürgertum ausgesetzt sah, solange die norddeutsche Führungsmacht zugunsten des übrigen nichtösterreichischen Deutschland als „Bundesschwert" fungierte. Auch von daher versteht sich Ludwig Bambergers, des Wahlpreußen, rhetorische Frage vom Dezember 1866: „Ist denn die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit?" Weil die Einheit langfristig der Freiheit, dem politischen Machtgewinn des Bürgertums, zu dienen versprach, unterstützte der rechte Flügel der ehemaligen Fortschrittspartei jenes Arrangement mit Bismarck, das von 1866 bis 1878/79 die deutsche Innenpolitik bestimmen sollte. Soziologisch gesehen repräsentierten die aus der Fortschrittspartei hervorgegangenen Nationalliberalen vor allem das Bildungsbürgertum und die Handelsbourgeoisie der altpreußischen Provinzen, während die in der Fortschrittspartei verbleibenden Demokraten sich eher an kleinbürgerliche Schichten anlehnten5. Die vom Gros der preußischen Nationalliberalen vertretene dynamische Konzeption des Verhältnisses von „Einheit" und „Freiheit" war allerdings schon vor der Reichsgründung umstritten. Der optimistischen Erwartung, daß die Einigung Deutschlands - und das hieß für das protestantische Besitz- und Bildungsbürgertum: die Einigung des nichtösterreichischen Deutschland - die Liberalisierung unweigerlich zur Folge haben werde, widersprachen nicht nur die Demokraten, die 1866 faktisch die innenpolitische Kapitulation des außenpolitischen Siegers, Bismarck, verlangten. Widerspruch kam vielmehr auch aus dem Lager der Altliberalen, die den Zeitpunkt für gekommen hielten, parlamentarischen Illusionen endgültig den Abschied zu geben - Illusionen, die sie im Grunde nie geteilt hatten. Treitschke hat dem 1869 in seiner Schritt „Das konstitutionelle Königtum in Deutschland", einer Kampfansage an die ehemaligen preußischen Konfliktsliberalen, die jetzt den linken Flügel der Nationalliberalen bildeten, klassischen Ausdruck verliehen. Den Liberalen wurde die Regierungsfähigkeit nunmehr schlankweg abgesprochen. Die Fortschritte auf dem Weg zur deutschen Einheit hätten nur von oben, durch die preußische Krone, erreicht werden können. Es gebe keine dem englischen Parlamentarismus vergleichbare liberale Mehrheitspartei in Deutschland. Klerikale und feudale Parteien gefährdeten, unter den Vorzeichen des allgemeinen Wahlrechts, die politischen Chancen des liberalen Bürgertums; dazu komme der „erbitternde und vergiftende" Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Eine Parlamentarisierung Deutschlands war, so gesehen, nicht ratsam. Ein königliches Veto gegen parlamentarische Mehrheitswünsche mußte möglich bleiben: „Ein starkes Königtum, das über den sozialen Gegensätzen 38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

steht, ist uns unentbehrlich, um den Frieden in der Gesellschaft zu wahren und zu festigen, die gewaltigen Probleme, welche die rasch anwachsende Volkswirtschaft noch aufwerfen wird, unbefangen zu lösen". Mit ähnlichen Argumenten hatte Heinrich von Sybel schon 1847, noch im Vormärz also, die Verständigung zwischen liberalem Bürgertum und historischem Staat proklamiert. Mit demselben Tenor hatte 1866 Hermann Baumgarten den deutschen Liberalismus einer massiven „Selbstkritik" unterzogen. In der Ende 1866 gegründeten Nationalliberalen Partei bildete diese Richtung des bürgerlichen Liberalismus den rechten Flügel: Ihre Wortführer setzten nicht mehr auf eine politische Entmachtung des Feudaladels, sondern empfahlen dem Bürgertum die Erhaltung des Erreichten. Zwischen dieser Position, die in der industriellen Bourgeoisie der preußischen Westprovinzen einen starken Rückhalt fand, und jener der „entschiedenen Liberalen" war eine Kraftprobe unausweichlich. Die innenpolitische Wende von 1878/79 hat eine lange Vorgeschichte6. Daß der preußische Verfassungsstreit in einem sozialen Konflikt seinen Ursprung hatte - dem „Kampf des Bürgertums gegen das mit den absolutistischen Tendenzen verbündete Junkertum"7 - war der liberalen Opposition stets deutlich bewußt gewesen. Das Arrangement mit Bismarck, das sie nach Königgrätz trafen, erschien den preußischen Nationalliberalen jedoch keineswegs als Klassenkompromiß mit dem Feudaladel. Wenn sie dem außenpolitisch erfolgreichen Ministerpräsidenten in der nationalen Politik ihre Unterstützung zusagten und gleichzeitig fortfuhren, die konservativen Kabinettsmitglieder zu bekämpfen, so stellte sich ihnen dieser Kurswechsel lediglich als Anerkenntnis einer relativen Autonomie der von Bismarck repräsentierten preußischen Staatsgewalt dar. Wenn der leitende Staatsmann Preußens sich anschickte, mit geradezu revolutionären Mitteln eine klassisch bürgerliche Forderung, die nationale Einigung Deutschlands, zu verwirklichen, konnte er nicht mehr bloß als Landjunker, als Exekutor bornierter Standesinteressen, betrachtet werden. Mit einer Staatsgewalt, die sich, wie es schien, aus ihrer sozialen Befangenheit löste, einen Kompromiß einzugehen, war demnach keine Kapitulation des Liberalismus, sondern der Versuch, eine neue Grundlage für die Vertretung bürgerlicher Interessen zu schaffen. An der Erwartung, daß das Bürgertum als aufsteigende Klasse „über kurz oder lang auch in unserem Staat die politische Gewalt in Händen haben" werde (so Karl Twesten im Februar 1866) - an dieser fast kautskyanisch anmutenden teleologischen Annahme änderte auch die Billigung der Indemnitätsvorlage nichts8. Wer im Verfassungskonflikt Sieger und Besiegter war, ist bekanntlich bis heute umstritten. Die plausibelste Antwort dürfte sein, daß objektiv beide Konfliktsparteien Vorteile aus der Beilegung des Streits zogen: Dem Prestigeerfolg des preußischen Ancien régime standen verbesserte materielle Chancen des Bürgertums gegenüber. Preußens territoriale Expansion erlaubte eine Lösung des innenpolitischen Disputs, die nicht als Nullsummenspiel zu beschreiben ist. Stellt man auf die Selbsteinschätzung der Betroffenen ab, so gilt für den Zeitraum der Jahre 1866 bis 1878, daß sich das liberale Bürgertum und nicht die konservative Aristokratie als politischer Sieger fühlte. Diese Selbsteinschätzung gründete sich auf reale Entwicklungen. Obwohl die Verfassungen des Norddeutschen Bundes von 1867 und des Deutschen Reiches von 1871 weit weniger parlamentarische Kontrollrechte enthielten, als die Liberalen gefordert 39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

hatten, trug die Gesetzgebung der ersten zwölf Jahre nach dem Ende des Verfassungskonflikts eine überwiegend liberale Handschrift. Eduard Lasker hat im März 1880, als er die „Sezession" von den Nationalliberalen einleitete, zu den Erfolgen der Zusammenarbeit mit Bismarck rückblickend u. a. gerechnet: „die Justizgesetze, die Münzreform, die einheitliche Ordnung des Bankwesens, die Gesetze über das Heimatwesen und den Gewerbebetrieb, die gesetzliche Ordnung des Kriegsdienstes und der Heeresverfassung, die Zivilehe und (das) Zivilstandsregister". Der Kulturkampf, oft als Manöver Bismarcks beschrieben, das die Liberalen von ihrem Drängen nach schrittweiser Parlamentarisierung ablenken sollte, war tatsächlich wohl weniger Ausdruck einer vom Kanzler kunstvoll gesteuerten „sekundären Integration" als der Versuch der Nationalliberalen, den gesamtbürgerlichen, ja letztlich gesamtgesellschaftlichen Alleinvertretungsanspruch des Liberalismus nicht durch eine konkurrierende Volksbewegung gefährden zu lassen. Die Nationalliberalen sahen sich in den 1870er Jahren als Regierungspartei und das parlamentarische System in Deutschland als schon weithin verwirklicht an. „Nicht darauf kommt es an", schrieb die ,,NationalZeitung" im Oktober 1877, „die parlamentarische Regierung zu begründen, das ist geschehen durch die Vorschriften der Verfassung, welche nicht nur in der Gesetzgebung, sondern in allen positiv schaffenden Akten die Verwaltung an die Zustimmung der Landesvertretung bindet, sondern darauf, dieser an sich notwendigen Regierungsform ihre nationale Basis in einer festen, geschlossenen Mehrheit zu geben, welche sich mit der Regierung durch ein volles, aus dem Bewußtsein der Gemeinschaft praktischer Ziele entspringendes Vertrauen verbunden fühlt". Der Reichskanzler seinerseits sei „turmhoch über die Partei hinausgewachsen, aus welcher er vor einem Menschenalter hervorging". Wer heute davon spreche, eine repräsentative Regierung herzustellen, denke nicht weiter, „als daß Fürst Bismarck sich einer solchen Vereinigung von Staatsmännern zugeselle, die im Stande sind, ihm eine sichere Mehrheit zuzuführen"9. Die nationale Parole hat für den Nationalliberalismus in den Jahren zwischen 1871 und 1878 vor allem eine Funktion gehabt: Sie diente der Absicherung des eigenen Anspruchs, die legitime Mehrheit zu sein. Sie war das ideologische Vehikel eines Bürgertums, das eines seiner beiden Hauptziele, die nationale Einheit, zwar prinzipiell erreicht hatte, aber die Einheit weiterhin von innen bedroht sah und nur durch die Abwehr dieser (vermeintlichen oder wirklichen) Gefahren seinen politischen Einfluß erweitern zu können meinte. Die innenpolitische Stoßrichtung des liberalen Nationalismus war zu dieser Zeit eine dreifache: Er wandte sich einmal gegen die feudalen Trägerschichten des „spezifischen Preußentums" und die übrigen „Partikularisten", zum anderen gegen die „Ultramontanen" und schließlich gegen die Sozialisten. Den konservativen preußischen Agrariern, die Bismarcks Einigungspolitik großteils mit erheblichen Reserven gegenübergestanden hatten und ihm seine Abhängigkeit vom parlamentarischen Liberalismus anlasteten, warf man vor, sich zu Unrecht noch als die staatstragende Schicht schlechthin zu gerieren. Der Grund und Boden sei zwar unzweifelhaft ein unentbehrliches Fundament jedes Staates, schrieb im Juni 1876 die ,,National-Zeitung"; „die Interessen des Grundbesitzes hören aber in dem Maß auf, das herrschende Prinzip im Staate zu sein, als die Industrie sich entwickelt". Gegen die 40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

katholische Partei führte dasselbe Blatt bereits eine weit schärfere Sprache: „Deutschland hat den Kampf gegen die schwarze Schar der vaterlandslosen Römlinge aufgenommen, wohl wissend, daß dieser Kampf schwerer und langwieriger sein würde als der gegen den Erbfeind jenseits des Rheins." Mit den ,,Ultramontanen" hatten die anderen „Hauptfeinde unseres Reiches", die Sozialisten, zumindest das eine gemeinsam, daß sie nicht allein Deutschland bedrohten: ,,Sie sind, überall auf dem Erdboden, die Gegner der bestehenden bürgerlichen Ordnung. Die Kirche wie der Sozialismus greifen nicht sowohl einen besonderen Staat, eine besondere Verfassung, als vielmehr die Grundlagen eines jeden Staates und jeder Gesellschaft an." 10 Zu dem traditionellen antifeudalen Moment im liberalen Nationalismus waren im Zeichen des Kulturkampfes die antiklerikale und unter dem Eindruck der Pariser Kommune die antisozialistische Komponente getreten. Während die antifeudale Stoßrichtung noch mit Modernisierungstendenzen verbunden war, spiegelte die antisozialistische Begründung der nationalen Parole bereits das bürgerliche Interesse an der Erhaltung des gesellschaftlichen status quo wider. Eine Zwischenstellung nahm der Antiklerikalismus ein. Er stand einerseits in der Tradition liberalen Aufklärungsund Fortschrittsdenkens und wurde subjektiv als Kampf gegen mittelalterliche Rückständigkeit empfunden11. Andererseits desavouierten die Machtmittel, mit denen der politische Katholizismus bekämpft wurde, gerade die liberalen Prinzipien, mit denen der Kampf begründet wurde. Insofern präludiert der Kulturkampf durchaus der Unterdrückung der sozialdemokratischen Bewegung nach 1878. Da das antiklerikale Element im bürgerlichen Nationalismus zwischen 1870 und 1878 eindeutig im Vordergrund stand, kann man die These von der historischen Ambivalenz des liberalen Antiklerikalismus auf den liberalen Nationalismus jener Jahre insgesamt übertragen. Dieser Nationalismus trug wohl noch die Züge einer Modernisierungsideologie, aber zugleich war er bereits in einem solchen Maß von Majorisierungsängsten geprägt, daß er partiell im Illiberalismus umschlug.

II. Der von Bamberger skizzierte Funktionswandel des Nationalismus hat sich beschleunigt in den Jahren 1878/79 vollzogen. Er wurde unmittelbar ausgelöst durch einen Kurswechsel der Bismarckschen Politik. Es ist heute kaum noch umstritten, daß nicht nur das Sozialistengesetz, sondern auch der Übergang zum Schutzzoll für den Reichskanzler primär Mittel waren, um das bisherige Übergewicht des Liberalismus zu brechen und das Gewicht der konservativen Kräfte zu stärken. Alle Versuche der Nationalliberalen, ihren Einfluß auf die Reichspolitik zu verstärken - sei es durch die Beanspruchung von preußischen Ministerposten (nicht nur für den vom Kanzler als ministrabel angesehenen Bennigsen, sondern auch für Exponenten des linken Parteiflügels wie Forckenberg und Stauffenberg), sei es durch das Drängen auf eine Erweiterung des parlamentarischen Budgetrechts, sei es durch den Vorschlag, den Bundesrat auf die Rolle eines Oberhauses nach englischem Muster zu beschränken - alle diese Versuche, die im Endeffekt darauf hinausliefen, den Reichstag zum dominierenden 41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

politischen Faktor zu machen, waren für Bismarck systemgefährdende Tendenzen. Das galt insbesondere dann, wenn man die Perspektive eines Thronwechsels, die Möglichkeit einer „liberalen Ära" unter Kaiser Friedrich, in das politische Kalkül einbezog. Da Bismarck eine solche Entwicklung zunehmend als Gefahr für die innere und äußere Sicherheit des Reiches ansah, versuchte er alles, um die Nationalliberale Partei in Regierungsfreunde und Regierungsgegner zu spalten und eine alternative Mehrheit aus Deutschkonservativen, Freikonservativen und rechten Nationalliberalen zu bilden. Der politische Kurswechsel von 1878/79 war allerdings nur möglich, weil wirtschaftliche Faktoren ihm vorgearbeitet hatten. Gleichviel ob man im Börsenkrach von 1873 den Beginn einer bis 1896 währenden „Großen Depression" sieht oder, wofür vieles spricht, nur den Anfang einer Periode außergewöhnlicher Geldverknappung und häufiger Konkunkturkrisen: Die 70er Jahre waren gekennzeichnet von einem stark verminderten Wirtschaftswachstum und einer vorwiegend pessimistischen Wirtschaftsmentalität. Auf diesem Hintergrund gediehen sowohl die Furcht vor der sozialen Revolution als auch die Neigung zum Protektionismus. Eine wachsende Mißstimmung gegen den Liberalismus, den breite Kreise für die ökonomische Krise verantwortlich machten, bildete die wesentlichste Disposition für den Erfolg der Bismarckschen Wendung nach rechts12. Die treibenden gesellschaftlichen Kräfte des Umschwungs von 1878/79 waren bekanntlich schutzzöllnerische Industrielle, vor allem aus der Montan- und Textilbranche, und, allerdings sehr viel weniger einmütig und mit geringerem Nachdruck, jene Gruppe, die im nachhinein als die Hauptgewinnerin der Schutzzollpolitik erscheint und dieser in der Tat die Erhaltung ihrer sozialen Machtposition bis weit in das 20. Jahrhundert hinein verdankt: die preußischen Großagrarier. Im Bereich der ostelbischen, vor allem der nordostdeutschen Landwirtschaft gab es auch noch Ende der 70er Jahre zahlreiche Anhänger des Freihandels, die - trotz der wachsenden russischen und amerikanischen Konkurrenz - ihre wirtschaftliche Zukunft im Getreideexport wie in der Veredelung importierten Getreides sahen. Selbst die „Kreuz-Zeitung", das offizielle Organ der preußischen Konservativen, griff auf dem Höhepunkt der Schutzzollagitation den wirtschaftlichen Liberalismus nicht des Freihandels wegen an, dem die gesamte ostelbische Landwirtschaft bis zur Agrarkrise von 1875 aus einleuchtendem Eigeninteresse angehangen hatte, sondern aus binnenwirtschaftlichen Gründen: In der Gewerbefreiheit erblickte der preußische Konservativismus um 1878/79 eine größere Gefahr für seine ökonomische Position als im Freihandel, und anders als in den Zolldebatten waren sich die Konservativen im Kampf gegen den binnenwirtschaftlichen Liberalismus einig. Gewerbefreiheit bedeutete fortschreitende Industrialisierung, und in der entschlossenen Opposition hiergegen lag zugleich die Chance für das, was Hans Rosenberg die „Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse" genannt hat: die Mobilisierung von Bauern, Handwerkern und Kleinhändlern gegen den Liberalismus als den Motor der gesellschaftlichen Modernisierung. Eng verbunden mit der Agitation gegen die Gewerbefreiheit war der Schlachtruf gegen die „internationale Spekulation", der sich seit Mitte der 70er Jahre immer deutlicher gegen die Juden, die angeblichen Schuldigen des Börsenkrachs, richtete13. Der Nationalismus der konservativen Agrarier war von Anfang an Antiliberalis42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

mus, Anti-Internationalismus und Antisemitismus. „Die ,Verjudung' macht reißende Fortschritte", schrieb die „Kreuz-Zeitung" im August 1878, „und der Liberalismus ist es, der dieselbe fördert." Mehr und mehr komme „unser Volk in die Abhängigkeit von Geldleuten, und das sind leider meist Juden". Der Liberalismus schädige „unser Volk geistig und materiell. Und daß hierdurch die nationale Kraft Deutschlands Schaden leidet, kann nicht geleugnet werden." Wie immer sie zur Frage „Freihandel oder Schutzzoll" standen, Bismarcks Wendung gegen den Liberalismus eröffnete den Vertretern des ostelbischen Grundadels erstmals seit 1866 wieder die Möglichkeit, „Regierungspartei" zu werden. Das in den eigenen Reihen umstrittene Zusammengehen mit den industriellen Schutzzöllnern war der Preis, den die Deutschkonservative Partei für die Entmachtung des Liberalismus zahlen mußte. Die Rezeption und Umfunktionierung des Nationalismus diente ihr als Mittel zum Zweck: Sie wollte sich auf diese Weise eine breitere soziale Basis geben und die Nationalliberalen als die führende Volkspartei ablösen14. Die industrielle Schutzzollagitation, vom 1876 gegründeten „Centralverband Deutscher Industrieller" wirkungsvoll in das Parlament hineingetragen, war für den Nationalliberalismus deshalb gefährlicher als die agrarische, weil sie von Teilen der eigenen Partei unterstützt wurde. Die traditionelle Standardformel der Freihandelsgegner, der „Schutz der nationalen Arbeit", suggerierte eine Interessenidentität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gegenüber der Konkurrenz des Auslandes und rückte das Interesse von weiterverarbeitenden Industrien und Verbrauchern an billigen Produkten in die Nähe vaterlandsloser Gesinnung. Das war keine deutsche Besonderheit. Zwischen den Argumenten etwa der Schutzzollbewegung in der Habsburgermonarchie und derjenigen in Deutschland gab es, wie die „National-Zeitung" im November 1877 feststellte, bemerkenswerte Parallelen. „Denn der tiefe Brustton der nationalen Begeisterung, mit welchem die Fabrikherren und ihre Agenten zum Himmel rufen, daß endlich der österreichische Patriotismus sich wiedergefunden habe und das teure Vaterland auf seine eigenen Füße gestellt werden solle - dieser klangvolle Biedermannsbaß, welcher direkt aus dem Kassenschrank hervortönt, hat auch bei uns schon oft sich vernehmen lassen, und eben wieder stimmt er seine Leier zu neuen Gesängen." Noch allerdings, meinte das liberale Blatt, seien im Deutschen Reich Regierung und Volksvertretung „entfernt nicht in dem Maße mit den Herren von der Bank und Industrie so verschwägert wie jenseits unserer östlichen Grenzen" und darum sei eine Abkehr vom Freihandel in Deutschland vorerst nicht zu erwarten. Im Jahr darauf jedoch traten Ereignisse ein, die Bismarck die ersehnte Gelegenheit boten, die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse in seinem Sinne zu korrigieren: die beiden Attentate auf Kaiser Wilhelm L, die der Kanzler sogleich für eine Generalabrechnung mit seinen Kontrahenten im nationalliberalen Lager zu nutzen beschloß15. Die Attentate vom Mai und Juni 1878 waren in dreifacher Hinsicht langfristig folgenreich. Erstens waren sie der unmittelbare Anlaß einer Ausnahmegesetzgebung, die den Prinzipien eines liberalen Rechtsstaates strikt widersprach. Die Zustimmung der Nationalliberalen zum Sozialistengesetz bedeutete ein Stück „Kapitulation des Liberalismus" vor Bismarck sowohl wie vor dem von ihm entfesselten plebiszitären Druck 43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

von unten. Zweitens diente die Empörung über die Attentate dazu, bei den Reichstagswahlen vom 30. Juli 1878 einen Rechtsruck herbeizuführen, der dem Kanzler eine parlamentarische Mehrheit für seine Zoll- und Finanzreform sicherte. Erst der neugewählte Reichstag ermöglichte mit der Einführung von Getreide- und Eisenzöllen jene Koalition zwischen „Rittergut" und „Hochofen", die sowohl den Übergang vom Agrar- zum Industriestaat als auch den Strukturwandel innerhalb der Industrie, vom „alten" Montansektor zu den „neuen" Branchen der Elektrotechnik und Chemie, verzögerte und erschwerte. Die Allianz zwischen Agrariern und Zechenherren diente über das Ende des Kaiserreiches hinaus allen antidemokratischen Bestrebungen als fester sozioökonomischer Rückhalt. Wenngleich Interessengegensätze zwischen Schwerindustrie und Großgrundbesitz die Zusammenarbeit immer wieder gefährdeten, war in Krisenzeiten das Gefühl gemeinsamer Bedrohung doch regelmäßig stark genug, um die Konstellation von 1879 zu reaktivieren. Drittens ist die Furcht vor Sozialismus und Revolution in den Jahren 1878/79 endgültig zum integrierenden Bestandteil eines spezifisch „rechten" Nationalismus geworden, der sich primär gegen den wirklichen oder vermeintlichen Internationalismus in Linksliberalismus und Sozialdemokratie richtete. Die sozialen Träger dieses Nationalismus waren zum Teil Gruppen, die der nationalen Bewegung bisher eher fern gestanden hatten - neben den preußischen Agrariern wettbewerbsmüde Handwerker und Kleinhändler - , zum anderen Gruppen, die angesichts der wirtschaftlichen Krise und aus Angst vor sozialen Unruhen ihrem liberalen Credo abschworen und mit der militärisch-feudalen Machtelite Preußens eine Art gesellschaftlichen Rückversicherungsvertrag schlossen. Zu den letztgenannten Gruppen gehörten neben den schutzzöllnerischen Industriellen erhebliche Teile des deutschen Bildungsbürgertums. Der Sieg des „rechten" über den „linken" Nationalismus war der ideologische Ausdruck des Umschwungs von 1878/79 und zugleich sein bleibendes Ergebnis. Die Macht, die der neue Nationalismus über das Bewußtsein von Massen wie von Führungsschichten ausübte, überdauerte die wirtschaftliche Krise, aus der er ursprünglich hervorgegangen war. Das anfängliche Widerstreben der Nationalliberalen, der Regierung Sondervollmachten gegen die Sozialisten einzuräumen, genügte der von Bismarck inspirierten Presse bereits, den Liberalen eine moralische Mitschuld an den Mordanschlägen auf den Monarchen zu geben. Die Reichstagsauflösung nach dem zweiten Attentat sollte in erster Linie die Nationalliberalen treffen, die dem Staat die geforderten Machtmittel versagt hatten. Der anschließende Wahlkampf wurde von der Regierung als nationalpsychologische Mobilmachung aufgezogen: Sie rief über die offiziöse „Provinzialkorrespondenz" die „patriotisch gesinnten Wähler" auf, sich „vollzählig um das kaiserliche Banner zu sammeln" und sich darüber zu informieren, „inwieweit die verschiedenen Parteien und Wahlkandidaten genügend Bürgschaften für die Unterstützung der Regierung in der Lösung ihrer großen Aufgaben gewähren". Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung", Bismarcks Hausorgan, wollte nur solche Kandidaten gewählt sehen, von denen man überzeugt sein könne, „daß sie dem Kaiser und seinen Räten eine zuverlässige, nur auf nationale, nicht auf private und Parteiinteressen bedachte Stütze sein werden". Die „Kreuz-Zeitung" schließlich wurde noch deutlicher und nannte den Sozialismus die „konsequente Fortbildung des Liberalismus". Wer 44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

also den Sozialismus bekämpfen wolle, müsse beim Liberalismus den Anfang machen16. Der Appell an die nationalen Instinkte war erfolgreich. Die Nationalliberalen, die von ihren bisher 127 Reichstagssitzen 29 verloren, waren angesichts ihrer abbrökkelnden Basis nun bereit, ein Sondergesetz gegen die Sozialdemokratie anzunehmen. Auf ihrem äußersten rechten Flügel gab es sogar Stimmen, die gegen die zeitliche Befristung eines solchen Gesetzes sprachen. In den „Grenzboten" sah ein anonymer Autor die Mehrheitsverhältnisse in künftigen Reichstagen für so unsicher an, daß man jetzt die Gelegenheit nutzen müsse, „die Sozialdemokratie für immer von den Marken unseres Reiches fern zu halten. Mit dieser Notwendigkeit ist ein befristetes Gesetz unvereinbar. Was dem Jesuiten recht ist, ist dem Sozialisten billig". Treitschke hatte schon im Juni 1878 an seinem Votum keinen Zweifel gelassen. In den „Preußischen Jahrbüchern" nannte er die Sozialdemokratie „eine Schule des Verbrechens" und zitierte einen Mann, der liberaler denke als er selbst: „Wichtiger als der Bestand irgendeiner Fraktion ist uns der Bestand der bürgerlichen Gesellschaft." Die rechtsstaatlichen Kamelen, um die sich insbesondere Lasker mit gewissem Erfolg bemühte, änderten nichts daran, daß die Nationalliberale Partei mit der Annahme des Sozialistengesetzes den Rubikon, wenn auch in umgekehrter Richtung, überschritten hatte. Sie war von dem liberalen Axiom, individuelle Schuld nur nach allgemeinen Strafgesetzen zu ahnden, abgewichen und hatte damit ein Stück politischer Glaubwürdigkeit verloren17. Die Hinwendung zu Schutzzöllen hatten die Nationalliberalen schon dadurch erleichtert, daß sie sich in ihrem Wahlmanifest vom Juni 1878 weder auf den Freihandel noch auf seine Abschaffung festlegten. Im neuen Reichstag schlossen sich 27 Nationalliberale der protektionistischen „Freien Volkswirtschaftlichen Vereinigung" an, einer losen interfraktionellen Arbeitsgemeinschaft von 204 Abgeordneten, deren Hauptstützen das Zentrum und die beiden konservativen Parteien bildeten. Zwar versuchten die Freihändler, sich der Verdächtigung zu erwehren, „es fehle ihnen an patriotischer Gesinnung", und den Spieß umzudrehen: Bamberger etwa erklärte im Reichstag, die nationale Arbeit schädige gerade derjenige, „welcher die ganze nationale Wirtschaft belastet dadurch, daß er sie zwingt, unwirtschaftlich zu arbeiten, indem er ihr gewisse Dinge verteuert." Aber ein derart nüchternes Argument verschlug nichts gegen Bismarcks sachlich unhaltbare Behauptung, Deutschland sei zur „Ablagerungsstätte aller Überproduktion des Auslandes geworden" und seiner niedrigen Zölle wegen in „einem Verblutungsprozeß begriffen". Bei der Schlußabstimmung über die Zoll- und Finanzreform am 12. Juli 1879 kam es auf die Haltung der zerstrittenen Nationalliberalen schon gar nicht mehr an. Das „Gespenst einer konservativklerikalen Koalition", von dem die „National-Zeitung" am 17. Mai 1879 gesprochen hatte, war, vorübergehend jedenfalls, durchaus aus Fleisch und Blut. Für das spätere konservativ-nationalliberale Bündnis, wie es im „Kartell" von 1887 Gestalt annahm, wurden 1879 die materiellen Fundamente gelegt. Die „liberale Ära" der Bismarckschen Regierungszeit war endgültig zu Ende18. Wieweit der Bedeutungswandel des Begriffs „national" in den späten 70er Jahren ging, erhellt die Bemerkung der „Grenzboten", „nationaler Liberalismus" sei eine 45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

„contradictio in adjecto". „Es muß bei uns dahin kommen", schrieb das Blatt, „daß eine nationale Partei sich bildet, als die einzig regierungsfähige, welche mit denjenigen Parteien, die nicht unbedingt antinational, aber auch nicht nur bedingt national sind, bald zu diesem, bald zu jenem Zweck, der auf dem Wege des nationalen Gedankens liegt, vorübergehend zusammenwirkt." Daß die Freihändler nicht mehr zu den ,,nationalen" Kräften zu rechnen waren, machte das Blatt wenig später vollends klar. „Der manchesterliche Radikalismus ist gleich dem ultramontanen und sozialen antinational. Sein Wahn ist die kosmopolitische Freihandelsgesellschaft, der atomistische Weltnebel, der in der englischen Kapitalmacht eine Art Kern erhält, welcher ihn vor völliger Zerfließung bewahrt"19. Die Protektionisten ihrerseits vertraten einen zunehmend offensiven Nationalismus, der auch Ende der 70er Jahre bereits ein Ausgreifen nach Übersee einschloß. Die Notwendigkeit, dem Deutschen Reich Kolonien zu erwerben, wurde weniger mit rein wirtschaftlichen als mit gesellschaftspolitischen Argumenten begründet. Deutschland brauchte nach Meinung der „Volkswirtschaftlichen Correspondenz", des Organs der Schutzzöllner, Kolonien sogar „unendlich viel nötiger als andere Länder, welche reichlich damit gesegnet sind. Schon als Sicherheitsventil für den grollenden Vulkan der sozialen Frage ist kein Land der Welt eines national organisierten Auswanderungswesens so bedürftig wie Deutschland". Ein „geschätzter Mitarbeiter" der „Grenzboten" stellte im Sommer 1878 ebenfalls einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen sozialdemokratischer Bewegung und Kolonialerwerb her. Der wahre Grund der „sozialistischen Umtriebe" sei die Übervölkerung Deutschlands. Überseeische Pflanzstätten könnten in dieser Situation als „Abzugskanäle" dienen und dem Deutschen Reich helfen, sich „seiner mißratenen Söhne zu entledigen". „Der Staat, welcher Ruhe als die erste Bürgerpflicht betrachtet, gewinnt entschieden dadurch, daß die unruhigen Geister, welche zu Hause nicht gut tun, außer Landes gehen."20 Bezeichnenderweise fühlten sich die Freihändler, die ein deutsches „informal empire" dem formellen Besitz von Überseegebieten vorzogen, von der frühen Kolonialagitation sogleich unter nationalen Legitimationszwang gesetzt. Die „National-Zeitung" empfahl als Alternative zur überseeischen Expansion die „deutsche Kolonisation" im überwiegend polnisch besiedelten Gebiet des Reiches. Die „Verdeutschung Posens" sei keine Härte für die Betroffenen, sondern eine „Wohltat für Polen wie Deutsche". Der deutsche Osten vertrage noch eine beträchtliche Menge von Arbeitskräften und bedürfe ihrer. „So lockend Bilder von blühenden Faktoreien in Afrika oder Amerika sein mögen, so geben wir den Vorzug doch weniger glänzenden, aber sicheren und für Deutschland nützlicheren Unternehmungen, die an der Peripherie unseres Volksgebietes selbst den kolonialen Meißel ansetzen wollten. Solange wir daheim noch nicht voll und ganz auf eigenem deutschen Boden stehen, sehen wir weder den Nutzen noch die Berechtigung zu der Forderung nach nationalem, deutschem Boden in anderen Weltteilen." Für die Nationalliberalen des rechten Flügels waren jedoch Germanisierung im Osten und Kolonialpolitik keine Gegensätze. Auch die „Preußischen Jahrbücher" plädierten dafür, die Einwanderung deutscher Bauern nach Posen zu fördern, um dieses Gebiet auf friedlichem Wege zu verdeutschen. „In 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der Tat . . . ist der Osten das Land der Verheißung für uns gewesen, so lange wir eine deutsche Geschichte haben." Generell gaben sich die Protektionisten besorgt, daß, wie es in den „Grenzboten" hieß, „bei der Schwäche der zentralen Aktionsmittel und bei der Abhängigkeit des deutschen Nahrungsstandes von den auswärtigen Nationen, sowohl in der Industrie als im Handel und in der Landwirtschaft . . . die politische Unabhängigkeit Deutschlands innerhalb eines absehbaren Zeitraums ein Ende nehmen" müsse, wenn der Wirtschaftsliberalismus fortdauere. Diese Gefahr zu bannen, sei der wahre Zweck jener „inneren Gründung des deutschen Reiches", zu der sich Bismarck entschlossen habe: „Er will einer in ihren Folgen unabsehbaren Verschiebung der Verhältnisse des Welthandels gegenüber der deutschen Nation ihre eigene Industrie und die eigene Produktion der elementaren Nahrungsstoffe sichern und will damit die auf diese Arbeiten gebauten Stände als gesunde nationale Elemente erhalten."21 Die außenpolitische Stoßrichtung des „rechten" Nationalismus ging ganz überwiegend gegen England, das den Freihandel nur als Trick benutze, um andere Länder von sich abhängig zu machen und schließlich, wie schon Friedrich List vorhergesagt hatte, die „Manufaktur- und Handelsstadt der ganzen Welt" zu werden, um die herum „alle übrigen Staaten gleichsam das dazu gehörige platte Land bilden". Aber auch überzeugte Freihändler sahen schon während des Orientkrieges 1877 England in der Rolle der Macht, die „die ganze Erde in der Gewalt" habe und Deutschland von Helgoland her bedrohe. Die Antwort darauf, daß England „die Ausbreitung europäischen Wesens für sich monopolisierte", war bei den Freihändlern indes kein Appell an den Staat, sondern an den „deutschen Handelsstand": Dieser müsse sich über die Mittel klar werden, mit denen er erkannten eigenen Mängeln beikommen könne22. Gegen einen vermeintlichen inneren Feind richtete sich der Antisemitismus, der in den späten 70er Jahren auch im Bildungsbürgertum salonfähig wurde. Zwar distanzierten sich seine Wortführer von der vulgären Judenfeindschaft der Bauern und Kleinbürger, aber sie empfanden wie Treitschke die antijüdische Bewegung doch als „sehr tief und stark":, ,Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück." Selbst im Reichstag konnte der nationalliberale Abgeordnete Alexander Mosle aus Bremen die Hoffnung äußern, der Schutzzoll werde die „internationale Tendenz" und den „semitischen Geist" verschwinden lassen, die sich unleugbar im Handel breitgemacht und eingefilzt hätten. Der „liberale" Antisemitismus zeigte besonders eindringlich, wie weit sich der Nationalismus von seinen Ursprüngen als bürgerliche Emanzipationsideologie entfernt hatte. Mit der Verneinung der jüdischen Emanzipation (und darauf lief trotz aller verbalen Vorbehalte die antisemitische Agitation der rechtsliberalen Nationalisten hinaus) wandte sich ein repräsentativer Teil des gebildeten und besitzenden Bürgertums gegen die humanitären Ansprüche, in deren Zeichen es seinen Kampf gegen das Ancien régime einst geführt hatte. Treitschkes Polemik gegen die „weichliche Philanthropie unseres Zeitalters" war eine authentische Selbstanzeige des neuen Nationalismus23. 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

III. Für die Nationalliberalen des linken Flügels, in ihrer Mehrheit Vertreter des Bankund Handelskapitals sowie von Teilen des Bildungsbürgertums der altpreußischen Provinzen, wurde es seit dem Sommer 1879 immer deutlicher, daß sich der Liberalismus durch neue Kompromisse mit dem Kanzler nur noch weiter kompromittieren konnte. Eduard Lasker sprach als erster offen aus, daß der Platz der Liberalen fortan nur noch in der Opposition sein konnte. Mit seinem Austritt aus der nationalliberalen Reichstagsfraktion im März 1880 begann die „Sezession" der „entschiedenen Liberalen" 24 . 1866, als die Kooperation mit Bismarck begann, hatte es keine realistische Alternative zum Kurs der Twesten, Bamberger und Lasker gegeben. Hätten sie wie der Rest der alten Fortschrittspartei in bedingungsloser Opposition zum Sieger von Königgrätz verharrt, wären die Strukturen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches wohl autoritärer und nicht liberaler geworden. Aber die innenpolitischen Kompromisse der Jahre 1866 bis 1871 waren unter Bedingungen geschlossen worden, die sich nicht als dauerhaft erwiesen. Die Reichsgründungszeit fiel zusammen mit einem Stadium der Hochkonjunktur, die den Interessenausgleich zwischen Industrie und Landwirtschaft erleichterte und die „soziale Frage" langfristig zu entschärfen versprach. Das nationale Prestigebedürfnis war durch den Sieg über Frankreich und die Schaffung des Deutschen Reiches fürs erste befriedigt. Die 1873 einsetzende Wirtschaftskrise änderte die Situation zwar nicht schlagartig, aber doch nachhaltig. In dem Maß, wie die soziale Unzufriedenheit wuchs, sank das Interesse des Bürgertums an einer allmählichen Parlamentarisierung. Während die Nationalliberalen noch „konstitutionelle Garantien", d. h. eine Erweiterung der Kontrollrechte des Reichstages forderten, mehrten sich in der ihnen nahestehenden Publizistik die Stimmen, die das parlamentarische System als für Deutschland gänzlich ungeeignet bezeichneten. Immer wieder wurde als Argument ins Feld geführt, daß die Liberalen der parlamentarischen Mehrheit keineswegs sicher sein konnten. In der Tat hatten sie die katholische Bevölkerung nie hinter sich gehabt, und ihre Arbeiterwähler verloren sie zunehmend an die Sozialdemokraten. Dazu kam das verstärkte Liebeswerben der Konservativen um die Bauern und den gewerblichen Mittelstand. Die Reichstagswahlen von 1878 zeigten, wie labil die Wählerbasis der Nationalliberalen tatsächlich war. Bismarcks „cauchemar des revolutions" (Th. Schieder), unzweifelhaft ein wesentliches Motiv seiner Abwendung vom Liberalismus, wurde offensichtlich von breiten bürgerlichen Schichten geteilt. Die Rückwendung zu einer autoritären Regierungsweise war prinzipiell jederzeit möglich, solange der Obrigkeitsstaat sein Fundament in der preußischen Grund- und Militäraristokratie besaß. Bismarcks „appel au peuple" gab der Rückwärtsrevision der Verfassungswirklichkeit die plebiszitäre Legitimation. Der Reichskanzler, so kommentierte die „National-Zeitung" im Februar 1879 die verstärkte Anwendung bonapartistischer Herrschaftstechniken, versuche „eine Stütze für seine Absichten zu gewinnen nicht bei dem besonnenen Urteil der Gewählten, sondern bei der großen, unklaren Regungen zugänglichen Menge. Auf diese Weise gewinnt man vielleicht Majoritäten, aber man schafft nicht eine Partei, welche zu dau48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

ernder fruchtbarer Arbeit für das Vaterland befähigt ist". Der Reichstagsabgeordnete Albert Hänel von der Fortschrittspartei sprach im Juli 1879 davon, „daß der Herr Reichskanzler zu einer Höhe ministerieller Diktatur gelangt ist, neben welcher in der Tat alles parlamentarische Leben Scheinleben wird . . . Mit diesem Reichskanzler ist eben jede konstitutionelle Versammlung mehr oder weniger ein Ornament, ein Schaustück, es ist weiter nichts, als daß der Herr Reichskanzler das konstitutionelle System benutzt, um sich für seine diktatorischen Pläne einigermaßen der Verantwortlichkeit zu entziehen."25 Ein erheblicher Teil des deutschen Bürgertums hieß die Entliberalisierung des politischen Systems jedoch ausdrücklich gut. Treitschke sprach von der „unmäßig gesteigenen Tätigkeit des deutschen Parlamentarismus, die der Nation zum Ekel wird". Die „Grenzboten", die freilich seit 1879 von Bismarcks Intimus Moritz Busch redigiert und aus dem ,,Reptilienfonds" gespeist wurden, forderten die Nationalliberalen auf, nicht länger „die Arbeit eines auserwählten Menschen (gemeint war Bismarck) zu stören, deren Früchte man erben muß, wenn man die Erbschaft nicht zerstört oder durch Versuch der Zerstörung sich jedes Anrechtes auf dieselbe beraubt". Aber auch in der „National-Zeitung", die auf freihändlerischem Kurs lag, spiegelte sich die zunehmend konservative Mentalität von Besitz- und Bildungsschichten. Anläßlich eines Attentats auf den italienischen König feierte das Blatt im November 1878 die soziale Bedeutung der Monarchie. „In der Brandung der sozialdemokratischen Hochflut ist das Königtum unser am weistesten vorgeschobenes, unser stärkstes Bollwerk; über alle Formen, in denen es seine Macht zur Geltung zu bringen hat, mag der Streit der Parteien, der die moderne Geschichte ausmacht, gehen; darüber aber werden alle einig sein, daß seine Grundlagen zu untergraben, seine Würde anzutasten den Damm zerreißen heißt, der unseren Frieden und unser Recht, unser Eigentum und unsere Bildung vor der Sintflut der Barbarei schützt."26 Die Krise der späten 70er Jahre war nicht nur eine wirtschaftliche Konjunkturkrise. Sie zwar zugleich eine „Partizipationskrise": eine Krise des politischen Systems, hervorgerufen durch den Machtanspruch einer neuen sozialen Klasse, des industriellen Proletariats. In einem liberaldemokratischen System hätte dieser Anspruch graduell befriedigt, die Arbeiterschaft reformistisch integriert werden können. Im vordemokratischen deutschen Obrigkeitsstaat lagen andere Auskunftsmittel näher: die Unterdrückung der Arbeiterbewegung durch den staatlichen Machtapparat, eine in mancher Hinsicht patriarchalische, in anderer durchaus moderne Sozialpolitik und, nicht zuletzt, der Versuch der symbolischen Ersatzintegration durch einen forcierten Nationalismus. Gewiß haben auch andere Gesellschaften, etwa Frankreich, im späten 19. Jahrhundert einen Übergang vom linken zum rechten Nationalismus erlebt. Aber in Deutschland war, anders als in Frankreich, der ursprüngliche demokratische Gehalt des Nationalismus nicht stark genug, um sich neben seiner „integralen" Variante zu behaupten27. Auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums wuchs die Neigung, den Nationalismus in den Dienst einer antiliberalen und antisozialdemokratischen Sammlungsbewegung zu stellen, in dem Maß, wie das Bürgertum in wirtschaftliche Interessengruppen auseinanderfiel und seine Furcht vor einer schließlichen Majorisierung durch 49

4 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

die Arbeiterschaft zunahm. Es gehört in der Tat zu den langfristig fortwirkenden Ergebnissen der „inneren Reichsgründung" von 1879, daß der Nationalismus für breite Schichten als ein „gesteigertes psychisches Einkommen" („enhanced psychic income", D. Katz) fungierte: ein über kollektives Prestige vermittelter Ausgleich für materielle Verzichte. Das gilt, wie etwa die soziale Zusammensetzung des führenden imperialistischen Agitationsvereins, des Alldeutschen Verbandes, zeigt, insbesondere für die beamteten Akademiker. Die Bauern konnten, obwohl die wenigsten unter ihnen von den Getreidezöllen direkt profitierten, von den Großagrariern mit Erfolg als Träger der nationalen Nahrung angesprochen und in eine landwirtschaftliche Solidargemeinschaft eingefügt werden. Aus einem anderen Grund fühlten sich viele Handwerker und Kleinhändler dem unter nationalen Vorzeichen geführten Kampf gegen den Liberalismus verpflichtet: Der partielle Abbau der Gewerbefreiheit, der der Abschaffung des Freihandels auf dem Fuße folgte, besserte zwar nicht die wirtschaftliche Lage des Kleingewerbes, aber er bestätigte die vorindustriellen Wertvorstellungen und damit zugleich den Anspruch des „alten Mittelstandes", die gesellschaftliche Normalmoral zu verkörpern. Den Angestellten, der Kerngruppe des „neuen Mittelstandes", diente der Nationalismus vor allem zur Abgrenzung vom „internationalen" Proletariat, dem sie von ihren materiellen Lebensbedingungen her durchaus nicht fernstanden. In der Arbeiterschaft selbst erwuchs aus dem langandauernden Zusammenleben mit anderen sozialen Gruppen, aus gemeinsamer Sprache und kultureller Überlieferung, schließlich aus gemeinsamem politischem Schicksal ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, das dem theoretisch geforderten Internationalismus widersprach28. Das liberale Bürgertum, das für die nationale Parole das Erstgeburtsrecht geltend machen konnte, war nicht nur ein Opfer des Funktionswandels des Nationalismus; es stellte auch einen Teil der Koalition, die diesen Prozeß aktiv trug. Für die Nationalliberale Partei gewann die „nationale Idee" immer mehr auch an innerparteilicher Bedeutung. Die widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen, die seit den 70er Jahren ihren Einfluß auf die Parteien verstärkten, fanden in der liberalen Weltanschauung keinen gemeinsamen Nenner mehr. Eine Partei wie die nationalliberale, die zumindest auf Reichsebene den Charakter der Honoratiorenpartei allmählich aufgeben mußte, bedurfte anderer Integrationsmittel. Die Berufung auf das gemeinsame Wohl der Nation entsprang nicht zuletzt der Notwendigkeit, eine Ebene zu erreichen, auf der auseinanderstrebende materielle Interessen wenigstens scheinbar miteinander versöhnt werden konnten29. Die Erben des „entschiedenen Liberalismus", die seit Mitte der 90er Jahre durch die einsetzende Hochkonjunktur und das rapide Wachstum der neuen exportorientierten Industriebranchen wieder Auftrieb erhielten, wurden vom Funktionswandel des Nationalismus auf andere Weise erfaßt. So sehr sich die Linksliberalen mit dem historischen Fortschritt im Bunde fühlten, gegen die ungebrochene Macht der alten Herrschaftsschichten vermeinten sie mit rein binnenpolitischen Mitteln nicht aufkommen zu können. So wie einst 1865, im preußischen Verfassungskonflikt, der Abgeordnete Otto Michaelis seine liberalen Freunde aufgefordert hatte, „das Banner Preußens und Deutschlands gegen Österreich zu ergreifen", um dem innerstaatlichen 50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Machtkampf neue Dynamik zu verleihen, so glaubte dreißig Jahre später Max Weber, nur auf dem Weg über eine prestigeträchtige deutsche Weltpolitik seien die verkrusteten Strukturen des von den Junkern politisch dominierten Obrigkeitsstaates aufzubrechen. Nichts belegt die Selbstbehauptungskraft des deutschen Ancien régime schlagender als die Kampfmittel, zu denen seine „entschieden liberalen" Kritiker ihre Zuflucht nahmen30. Die Usurpation der nationalen Parole durch die konservativen Kräfte war mithin nur ein Aspekt des Funktionswandels des Nationalismus. Auch im bürgerlichen Liberalismus selbst änderte sich die Stoßrichtung der nationalen Ideologie. Für die Mehrheit der Nationalliberalen verlor der Nationalismus nach 1878/79 vollends seine emanzipatorischen Impulse. Ihre Identifikation mit der Nation schloß das grundsätzliche Ja zu einer Herrschaftsordnung in sich, die dem Bürgertum die politische Verantwortung vorenthielt. Ihr Liberalismus erschöpfte sich, sieht man vom linken Flügel der Partei ab, fast ganz in seinen kulturkämpferischen Elementen. Der Linksliberalismus wollte sich zwar mit den obrigkeitsstaatlichen Strukturen des Kaiserreiches nicht abfinden, suchte aber mit seinem Imperialismus die Rechte mitunter noch zu übertrumpfen. Ein Merkmal zumindest hatten die unterschiedlichen Richtungen des bürgerlichen Liberalismus im wilhelminischen Deutschland somit gemeinsam: Der nationale Machtstaat, zu dem sich die Liberalen bekannten, war immer zugleich auch eine Projektion ihrer eigenen politischen Machtlosigkeit.

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5. D e r N a t i o n a l i s m u s u n d seine F u n k t i o n e n I. Der Begriff „Nationalismus" ist einer der inhaltlich vieldeutigsten, die es im politischen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch gibt. Mit diesem Begriff kann das Programm einer Befreiungsbewegung ebenso gemeint sein wie die Bekämpfung und Unterdrückung fremder Völker; Nationalismus kann verbunden sein mit Imperialismus wie Anti-Imperialismus; er kann als „rechte" sowohl wie als „linke" Ideologie auftreten. Der Nationalismus erscheint mithin als eine coincidentia oppositorum, und erst im konkreten historischen Zusammenhang kann deutlich werden, wofür der Begriff jeweils steht oder stehen soll. Unter Historikern und Sozialwissenschaftlern ist sogar umstritten, seit wann es Nationalismus überhaupt gibt. Einige Autoren sprechen vom jüdischen Nationalismus in der Antike und von mittelalterlichem Nationalismus, während die herrschende Meinung die Entstehung des Nationalismus in die Zeit des revolutionären Umbruches in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts legt. Das Selbstbewußtsein des „auserwählten Volkes" der Juden trug durchaus Züge eines nationalen Messianismus und hob sich damit ab von dem rein kulturellen Nationalgefühl der Griechen und dem Universalismus des römischen Imperiums; das Bewußtsein von Eigenständigkeit dagegen, das die europäischen Völker im Mittelalter entwickelten, blieb ganz eingefügt in den überkommenen christlichen Universalismus einerseits und den Pluralismus regionaler und ständischer Gewalten andererseits. Das gilt auch noch für eine bereits mit nationalen Parolen geführte Auseinandersetzung wie die Hussitenkriege, in denen religiöse und ethnische Streitpunkte unauflösbar miteinander verflochten waren. Was sich während der Renaissance vorübergehend an weltlichem Nationalgefühl artikulierte, blieb - in Deutschland wie in Frankreich und Italien - auf humanistische Kreise beschränkt. In England wiederum ergriff der Nationalstolz seit der puritanischen Revolution des 17. Jahrhunderts zwar erstmals größere Teile der Bevölkerung; er knüpfte aber bewußt an ein alttestamentarisches Sendungsbewußtsein an und wurzelte somit weit stärker als der gleichzeitige Absolutismus des Kontinents in einer vorneuzeitlichen Vorstellungswelt. Erst die Französische Revolution brach konsequent mit den religiösen Begründungen nationaler Selbsteinschätzung. Zweierlei macht das spezifisch Neue aus, das das Nationalgefühl der Franzosen der Jahre nach 1789 von dem vergangener Epochen trennt: Ihr Nationalbewußtsein ist erstens rein säkular, und es ist zweitens gleichermaßen Ausdruck wie Instrument einer Mobilisierung von Massen. Mit der Französischen Revolution beginnt die wirkliche Geschichte des Nationalismus - oder, wie einige Autoren einschränkend formulieren, die Geschichte des modernen Nationalismus1. Die Entthronung des christlichen Universalismus schloß als radikale Konsequenz 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

die Umwandlung des Nationalismus in einen Religionsersatz in sich: Wenn die Loyalität gegenüber der Nation einen höheren Rang für sich beanspruchte als jede andere Bindung, dann kam der Nation eine geradezu transzendentale Qualität zu. Sie wurde an Stelle der Kirche zur verbindlichen Sinngebungs- und Rechtfertigungsinstanz des nachrevolutionären Menschen. Mit dem anderen neuen Merkmal des Nationalbewußtseins, der Mobilisierung von Massen, hob sich dieses ab vom traditionellen (und die Revolution überlebenden) Patriotismus, der sich als Bindung an das Land und gegebenenfalls auch an den Herrscher oder - um einen Ausdruck von Hans Kohn zu benutzen - als „rein vegetatives Gruppengefühl" interpretieren läßt. Es fehlt dem Patriotismus jene Komponente der individuellen Partizipation, die für den Nationalismus bezeichnend ist: ein Wechselverhältnis von Ansprüchen des Einzelnen an die Nation und der Nation an den Einzelnen. Und auch die offensive Haltung gegenüber der Außenwelt, die im Nationalismus angelegt ist, bildet kein Merkmal des Patriotismus2. Dem Begriff wie der Sache nach hat der Nationalismus sich nicht zufällig erst im ausgehenden 18. Jahrhundert herausgebildet3. Der Nationalismus war in mehr als einer Hinsicht ein Produkt der Krise: Er entstand als Ideologie des aufstrebenden Dritten Standes, der nach den klassischen Worten des Abbé Sieyès von 1789 alles war und nichts bedeutete. Die Herausforderung des Bürgertums galt einer funktionslos gewordenen herrschenden Klasse, die eben dieses Funktionsverlustes wegen begrifflich und bald auch praktisch aus der „Nation" ausgeschlossen wurde. Das Bürgertum sah sich als den allgemeinen Stand an und identifizierte sich als solcher mit der Nation. Der geistig und wirtschaftlich führende Stand wollte auch die politische Führung übernehmen, zu der das Ancien régime, getragen von einem weithin noch übernational empfindenden Hochadel, nicht länger fähig war. Die Stoßrichtung des französischen Nationalismus war also anfänglich eine innenpolitische und sein Inhalt eindeutig gesellschaftspolitischer Natur. Er zielte auf die Ablösung der ständischen durch eine staatsbürgerliche Gesellschaft. Frankreichs Bourgeoisie erhob ihren Herrschaftsanspruch zu einer Zeit, als die Industrielle Revolution den europäischen Kontinent noch nicht erreicht hatte. In England, das in denselben Jahren seinen „take-off" erlebte, waren einige der klassischen Forderungen des europäischen Bürgertums bereits verbriefte Rechte. Dieser Sachverhalt führt zu der grundsätzlichen Frage nach den Zusammenhängen zwischen Entwicklungsphasen des Nationalismus und solchen der Gesellschaft insgesamt. Es ist nicht leicht, in der historischen Forschung Antworten auf diese Frage zu finden. Ein Grund dafür ist, daß bisher weniger die Vorbedingungen und der Funktionswandel als vielmehr bestimmte Erscheinungsformen des Nationalismus im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben. II. Die wissenschaftliche Erforschung des Nationalismus hat auf breiter Front erst nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt. Das Nationale konnte sich nach 1918 nicht mehr in 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der gleichen Weise „von selbst" verstehen, wie das für die Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegolten hatte. Die Ursachen dieses Wandels sind offenkundig. Einmal konnte der Krieg selbst als Folge eines übersteigerten Nationalismus gedeutet werden, wobei es vom Standort des Betrachters abhing, ob er bei der isolierenden Feststellung der besondern nationalistischen Traditionen eines Volkes, meist nicht des eigenen, stehen blieb oder zum Vergleich von Strukturmerkmalen der streitenden Nationalismen fortschritt. Zum anderen ließ die widerspruchsvolle Anwendung, die das von den Westmächten, vor allem den Vereinigten Staaten, proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker in Ostmittel- und Südosteuropa fand, eine grundsätzliche Klärung unterschiedlicher Konzeptionen von Nation und Nationalismus dringlich erscheinen. Erst recht hat dann die Erfahrung der europäischen Faschismen und namentlich der nationalsozialistischen Volkstums- und Rassenpolitik zu einer ausgedehnten wissenschaftlichen Diskussion über die im Nationalismus (oder in bestimmten Formen des Nationalismus) zumindest potentiell angelegten Entwicklungen geführt. Einen ersten einflußreichen Versuch, die Erscheinungsformen des Nationalismus in einer historischen Typologie systematisch zu ordnen, unternahm 1931 der amerikanische Historiker Carlton J . H. Hayes. Er unterschied zwischen einem humanitären, jakobinischen, traditionalen, liberalen und integralen Nationalismus. Hayes' Differenzierungen haben wesentlich dazu beigetragen, den Nationalismus als das vielschichtige Phänomen zu begreifen, das er ist. Allerdings entging seine Darstellung nicht der für den geistesgeschichtlichen Ansatz typischen Gefahr, auch dort nur ideelle Zusammenhänge hervorzuheben, wo eine unterschiedliche Wirkungsgeschichte die Frage nach verschiedenartigen Ausgangspositionen nahelegt (wie im Fall des „humanitären Nationalismus" Rousseaus und Herders), und umgekehrt (etwa bei den „traditionalen" und „integralen" Varianten des gegenrevolutionären Nationalismus) vor lauter unterschiedlichen theoretischen Bäumen nicht mehr den Wald verwandter Interessen zu sehen4. Gegenüber Hayes' Auffächerung der Nationalismen bedeutete die vor allem von Hans Kohn vorgenommene Rückführung der nationalistischen Bewegungen auf zwei Grundtypen insofern einen Fortschritt, als sie einen realen und langfristig wirksamen Unterschied in der Entwicklung des europäischen Nationalismus begrifflich zu fassen versuchte. Kohn lehnte sich an Friedrich Meineckes ältere Unterscheidung zwischen „Staatsnation" und „Kulturnation" an, wenn er einen subjektiv-politischen oder westlichen von einem objektiv-kulturellen oder östlichen Begriff der Nation abhob. In Frankreich war es seit der Revolution von 1789, in der Theorie jedenfalls, eine politische Entscheidung des einzelnen, ob er Franzose sein wollte oder nicht. Das individuelle Bekenntnis zur „grande nation" konstituierte die Nation als politische Willensgemeinschaft. Ebendies war die Aussage der vielzitierten Worte Ernest Renans von 1882: „L'existence d'une nation est un plebiscite de tous les jours." In großen Teilen von Mittel- und Osteuropa dagegen war die Nationszugehörigkeit dem Belieben des Individuums weitgehend entzogen. Sie war durch objektive Faktoren wie blutmäßige Abstammung, Sprache und kulturelle Überlieferung bedingt. Einem voluntaristischen stand mithin ein deterministischer Begriff der Nation gegenüber5. 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Die Pointe der ,,Kohnschen Dichotomie", der in der westlichen Welt bis heute meistdiskutierten Interpretation des Nationalismus, liegt in den politischen Inhalten der beiden Nationsbegriffe. Die westliche Konzeption der Nation ist nach Kohn liberal und demokratisch, rational und zukunftsweisend; die östliche an der Vergangenheit orientiert und irrational, antiindividualistisch und - ganz im Widerspruch zu den humanitären Absichten Herders, des Schöpfers des kulturellen Konzepts der Nation - potentiell rassistisch, ja im Extremfall faschistisch. Gegen diese Zweiteilung sind eine Reihe von Einwänden vorgetragen worden, die in der Tat zu einer erheblichen Modifikation der Theorie zwingen. Zunächst ist die räumliche Zuordnung eines politisch-subjektiven Nationsbegriffs zum Westen und seines kulturell-objektiven Pendants zum Osten Europas nur mit Einschränkungen möglich. Es gibt, wenn man etwa an Belgien und Irland oder an die baskischen und katalanischen Autonomiebewegungen in Spanien denkt, einen kulturellen Nationalismus bzw. Regionalismus im westlichen Europa, so wie der Osten einen politischen Nationalismus kennt. Der bezeichnendste Fall ist Ungarn, wo die Magyaren nicht mit kulturell-sprachlichen, sondern mit historisch-staatlichen Argumenten die Einheit der Länder der Stephanskrone begründeten - ohne sich dabei freilich je der freien Entscheidung der nichtmagyarischen Bevölkerungsteile zu unterwerfen. Aber auch in Polen wurde gegenüber Lithauern und Ruthenen die Einheit der Nation mit historisch-staatlichen, nicht kulturellsprachlichen Argumenten vertreten. Polen zeigt im übrigen ebenso wie Irland, daß das Nationalgefühl sich dort nicht oder nur rudimentär säkularisieren konnte, wo das Streben nach nationaler Unabhängigkeit Kampf gegen eine andersgläubige Fremdherrschaft bedeutete - wo die nationale Selbstbehauptung von der religiösen mithin nicht zu trennen war. Der offizielle russische Nationalismus des Zarenreiches hatte im innerstaatlichen Bereich mit dem magyarischen den antivoluntaristischen Etatismus gemeinsam; daneben öffnete er sich seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend einer sowohl nach außen als auch nach innen gerichteten kulturell-panslawistischen Argumentation, die einerseits russische Hegemonieansprüche in Südosteuropa, andererseits die großrussische Vorherrschaft im Innern des Zarenreiches absichern sollte6. Von grundsätzlicher Bedeutung ist der Hinweis Kemiläinens, daß die Geburt der Nation aus dem Plebiszit meist ein Konstrukt war - auch in Frankreich, wo die politische Integration der Elsässer und Lothringer durch die revolutionären Errungenschaften von 1789 zwar erst ermöglicht, der politisch-subjektiven Entscheidung von „unten" aber mit flankierenden Staatsmaßnahmen, die auf sprachliche Assimilation zielten, von „oben" massiv nachgeholfen wurde. Umgekehrt können einer sprachlich und kulturell argumentierenden nationalen Bewegung nicht von vornherein antidemokratische Eigenschaften zugesprochen werden. Von der historischen Ungerechtigkeit abgesehen, die dadurch der Auflehnung gegen staatliche Unterdrückung widerfährt, sind auch die langfristigen Wirkungen des kulturellen Nationalismus politisch weniger eindeutig als Kohn meint: Die Beispiele der Tschechen und Finnen sprechen jedenfalls nicht dafür, daß die sprachliche Fundierung der Nationalität notwendig mit Demokratiefeindschaft verbunden ist. Wohl aber hat, worauf zurückzukommen ist, eine undifferenzierte Übertragung des politisch-subjektiven Prinzips auf nationale Mischungszonen zur Verschärfung der ethnischen Probleme geführt und au55 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

toritäre Entwicklungen begünstigt. Schließlich hat die Rechtfertigung der einen wie der anderen Konzeption der Nation auch ihre taktische Seite. Hans Rothfels hat bemerkt, daß in der Regel eine Nation, die selbst assimilierend gewirkt hat, dazu neigt, sich auf die politisch-subjektive Theorie zu berufen (so Preußen-Deutschland im Fall der Masuren), und die kulturell-objektive Konzeption da in Anspruch zu nehmen, wo Angehörige des eigenen Volkes der Assimilation ausgesetzt worden sind (so das Deutsche Reich im Hinblick auf Elsaß-Lothringen)7. An der vereinfachenden Kohnschen Dichotomie bleibt eines richtig: Anders als bei den Franzosen konnte sich das Nationalgefühl der Deutschen und der meisten Völker Ostmittel- und Südosteuropas nicht an einem historischen Nationalstaat orientieren. Es gab kein politisches und institutionelles Medium, das ihnen ein Bewußtsein von Gemeinsamkeit hätte vermitteln können, sondern nur ein kulturelles: die Sprache. Herders „Entdeckung" der Volkssprachen konnte jedoch auf das Selbstbewußtsein der Deutschen und der slawischen Völker nur deshalb eine revolutionierende Wirkung ausüben, weil sich bei ihnen - zu unterschiedlichen Zeiten - das Bedürfnis nach einem identitätsstiftenden Element bereits entwickelt hatte. Dieses Bedürfnis war weder nur ein Reflex jenes stimulierenden Vorbildes, das der neue französische Nationalstolz bot, noch bloß eine Reaktion auf napoleonische Fremdherrschaft und Hegemonie, sondern es mußten in jedem Land offenbar auch bestimmte strukturelle Bedingungen erfüllt sein, damit nationale Parolen und Mythen überhaupt rezipiert werden konnten. Dieser gesellschaftliche Hintergrund der frühen nationalen Bewegungen, den die historische Forschung lange vernachlässigt hat, wird uns noch eingehender beschäftigen; es genügt an dieser Stelle, auf die unterschiedlichen politischen Konsequenzen hinzuweisen, die die Kämpfe um die nationale Identität östlich des Rheins haben mußten. Hatten in Frankreich und England Revolutionen innerhalb eines bereits bestehenden Staates den modernen Nationalstaat gebildet und die Nation als Staatsbürgerschaft konstituiert, so entstanden in Deutschland und Italien die Nationalstaaten aus staatlich getrennten Nationsteilen, die eben diese Zerrissenheit überwinden wollten. Den nationalen Einheitsbewegungen erschien die Nation folglich „als eine vor dem Staat gegebene, entweder historisch oder kulturell oder als sozialer Verband begründete Größe" (Th. Schieder). Wieder anders lagen die Dinge in den großen dynastischen Reichsgebilden des östlichen Europa, wozu neben dem russischen, österreichischen und osmanischen in freilich sehr beschränkter Weise auch das preußische Staatswesen zu rechnen ist. Hier formten sich moderne Nationalstaaten nicht durch den Zusammenschluß getrennter Teile, sondern durch Abtrennung heraus. Theodor Schieder hat in diesem Zusammenhang von drei Etappen der europäischen Nationalbewegung gesprochen, die jeweils unterschiedliche Schauplätze hatten: Die erste Phase war die westeuropäische, die zweite die mitteleuropäische und die dritte die osteuropäische8. Die drei Phasen der Nationalstaatsbildung entsprechen drei unterschiedlichen Funktionen der nationalen Bewegungen in Europa. Es wäre freilich nicht möglich, eine Typologie der Nationalismen ausschließlich auf einer politisch-institutionellen Funktionsanalyse aufzubauen9. Weder die sozialen Grundlagen noch die sozialen Funktionen des Nationalismus - beides keine konstanten Größen - würden auf diese 56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Weise hinreichend ins Blickfeld treten, und auf der Ebene der Legitimationsmuster hebt das Dreiphasenschema die Kohnsche Dichotomie nicht auf. Aber Schieders Typologie des Nationalstaates lenkt den Blick zu Recht auf die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und damit auf jeweils spezifische „Hypotheken" des Nationalismus. Wo die gesellschaftlich vorwärtsdrängenden Kräfte einen Nationalstaat als institutionellen Rahmen bereits vorfanden, bedeutete dies eine entscheidende Erleichterung der staatsbürgerlichen Emanzipation. Insofern gibt es in der Tat eine historische Beziehung zwischen der politisch-subjektiven Spielart des Nationalismus und der liberalen Demokratie: Nur ein Nationalismus, der sich an den demokratischen Prinzipien von 1776 und 1789 orientierte, konnte überhaupt verallgemeinerbare Interessen geltend machen und Elemente jenes Kosmopolitismus in sich aufnehmen, der im 18. Jahrhundert noch ein geistiges Gemeingut der Gebildeten aller Stände gewesen war. Wo die Durchsetzung des modernen Nationalstaates nicht primär ein Kampf gegen andere Nationen war, gab es meist auch starke liberale Korrektive zur Xenophobie. Es ist wohl kein Zufall, daß in Großbritannien noch heute der Begriff „nationalism" zwar in Verbindung mit den Selbständigkeitsbewegungen von Iren, Schotten und Walisern benutzt, nicht aber auf England selbst bezogen wird. Die englische Erscheinungsform des Nationalismus, so kann man zugespitzt sagen, ist (oder war) der Imperialismus im Sinne einer Empire-Gesinnung; „Nationalismus" gibt es immer nur bei anderen. In den Vereinigten Staaten werden ebenfalls ethnische oder rassische Sonderbestrebungen im eigenen Land als „nationalistisch" bezeichnet („black nationalism"), daneben aber zielt der Begriff „nationalism" auch ohne abwertenden Unterton auf die als „normal" empfundene Bindung an die Nation. Diese Bindung kann in den USA, dem klassischen polyethnischen Einwandererland keine objektivsprachliche, sondern nur eine politisch-subjektive sein: Es ist der Glaube an die Allgemeingültigkeit der Ideale, in deren Zeichen sich Amerika einst von Europa emanzipiert hat10. In Gebieten, wo Nationalstaatsbildung vor allem Kampf mit anderen Nationen war, war die Stoßrichtung des Nationalismus zunächst eine außenpolitische. Ob eine Nationalbewegung das überkommene Mächtegleichgewicht in Frage stellte, ob die Forderung nach ethnischen Grenzen mit den tatsächlichen Staatsgrenzen in Konflikt geriet, ein rein innenpolitischer Kampf um den modernen Nationalstaat war östlich des Rheins noch weniger möglich als westlich davon. Im Fall der offenen Fremdherrschaft - etwa im Deutschland der napoleonischen Zeit - konnte Xenophobie gesellschaftspolitischen Reformwillen verdrängen, und ebendiese Wirkung hat der Franzosenhaß über das Jahr 1815 hinaus vielfach gehabt. Dazu kam in Ostmittel- wie in Südosteuropa eine nationale Gemengelage, die die Nationalstaatsforderung der einen Nationalität leicht zur Existenzbedrohung der anderen machte. Während der Revolutionen von 1848/49 ist diese Dialektik erstmals ins allgemeine Bewußtsein gehoben worden. An ihr zerbrach der vormärzliche Traum vom „Völkerfrühling", die Lieblingsidee der romantischen Nationalisten Mazzinischer Prägung. Nach 1918 ist dann aus den Problemen der nationalen Gemengelage wie aus der sozio-ökonomischen Unterentwicklung der Nachfolgestaaten der ehemaligen multinationalen Reiche die Strukturkrise des östlichen Mittel- und Südeuropa erwachsen. Aber es war, wie bereits an57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

gedeutet, nicht irgendeine innere Logik des kulturell-objektiven Prinzips, die zu ständigen nationalen Kollisionen führte, sondern die pauschale Übertragung des politisch-subjektiven Konzepts der Nation auf ein ethnisch heterogenes Milieu. Das Prinzip der demokratischen Mehrheitsentscheidungen, wie es dem Selbstbestimmungsrecht der Völker entsprach, schloß keinerlei Schutz für zahlenmäßig schwächere Nationalitäten innerhalb des Staatsverbandes ein; es konnte vielmehr durchaus eine Politik ethnischer Diskriminierung zur Folge haben und hat diese Wirkung auch oft genug gehabt11. Schon 1869 hatte der liberale deutsch-österreichische Publizist Adolph Fischhof das Dilemma klar erkannt, das aus der uneingeschränkten Einführung demokratischer Mehrheitsentscheidungen in ethnisch gemischten Gebieten erwachsen mußte: Das Verhältnis von parlamentarischer Mehrheit und Minderheit unterschied sich grundsätzlich von dem zwischen nationaler Majorität und Minorität; anders als die parlamentarische Minderheit konnte die nationale Minderheit von heute nicht die Mehrheit von morgen sein. Die Minderheitenschutzverträge, die auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 beraten und unterzeichnet wurden, hatten zwar den Zweck, die individuellen Rechte der Angehörigen nationaler Minderheiten in den neu errichteten Staaten zu sichern - aber schon der Begriff der „nationalen Minderheit" macht deutlich, daß nach dem Willen der Siegermächte der Nationalstaat westlicher Prägung fortan auch im ostmittel- und südosteuropäischen Raum die politische Norm sein sollte. Ethnische Minderheiten galten als Abweichungen von der Regel, und auf lange Sicht war „eine allgemeine politisch-nationale Assimilierung nach den Intentionen der Vertragsschöpfer das ideale Fernziel" (E. Viefhaus), dessen Verwirklichung durch die Minderheitenschutzverträge erleichtert werden sollte12. Die Hoffnung auf eine Harmonisierung der nationalen Gegensätze ist in der Zwischenkriegszeit fast ebenso ausnahmslos enttäuscht worden wie die Erwartung, das demokratische Regierungssystem werde sich auch im östlichen Europa durchsetzen. Die Minderheitenschutzverträge blieben weithin folgenlose Absichtserklärungen, und den vielversprechenden Ansätzen zu einer übernationalen Zusammenarbeit im Rahmen des europäischen Nationalitätenkongresses wurde durch den Nationalsozialismus ein Riegel vorgeschoben - soweit sie nicht in seinem Sinne umgepolt werden konnten. In der zeitgenössischen Literatur zum Nationalismusproblem findet sich die These, daß die westliche Demokratie sich durch ihr Scheitern in den ethnisch gemischten neuen Staaten Europas desavouiert habe13. Widerlegt worden ist indessen nur eine vulgärdemokratische Konzeption von Mehrheitsherrschaft, die selbst in national homogenen Nationen nicht funktionsfähig wäre und in den angelsächsischen Demokratien nie praktiziert worden ist. Es gehört zu den klassischen Regeln der repräsentativen Demokratie, daß sie bestimmten institutionellen und normativen Grundentscheidungen der Verfassung eine erhöhte Bestandsgarantie gibt. Daß in ethnisch heterogenen Staaten die kollektive Identität der Nationalitäten selbst ein solches besonders schutzwürdiges Gut war oder vielmehr hätte sein müssen, war in den Zwanzigerjahren keine neue Einsicht mehr. Als einer der ersten hatte um die Jahrhundertwende der österreichische Sozialist Karl Renner den Gedanken der Kulturautonomie theore58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

tisch begründet und damit eine Korrektur jener Fehleinschätzung, ja Mißachtung eingeleitet, die Marx und Engels gegenüber den vermeintlich konterrevolutionären „Völkerruinen" und „Völkerabfällen" an den Tag gelegt hatten. Renner wollte eine Entpolitisierung des Nationalismus dadurch herbeiführen, daß die kulturellen Angelegenheiten aus den gesamtstaatlichen Kompetenzen herausgelöst und den ethnischen Einheiten übertragen wurden, die dadurch selbst zu staatsrechtlichen Körperschaften geworden wären. Die Entscheidung für eine Nation blieb dem einzelnen überlassen. Diese - das subjektiv-politische und das objektiv-kulturelle Prinzip der Nationalität kombinierende - Lösung ist im „Mährischen Ausgleich" von 1905 und in der estländischen Kulturautonomie von 1925 ansatzweise verwirklicht worden. Es ist wohl richtig, daß ein auf Kulturautonomie beruhender Ausgleich zwischen unterschiedlichen Nationalitäten in einem noch überwiegend agrarischen und relativ statischen Sozialmilieu leichter zu bewerkstelligen ist als in einer industrialisierten und sozial mobilen Gesellschaft. Das Problem des wirtschaftlichen Nationalismus hat Renner sicherlich vernachlässigt. Man mag das aus einer gewissen deutsch-österreichischen Befangenheit heraus erklären, die Renner daran hinderte, den wachsenden Ansprüchen der nichtdeutschen Nationalitäten des Habsburgerreiches gerecht zu werden. Dennoch ist in der historischen Forschung mit Recht betont worden, daß Renners Konzept ausbaufähig war und eine für nationale Mischzonen zukunftsweisende Perspektive aufwies. Otto Bauers 1907 veröffentlichtes Plädoyer für „nationale Autonomie" war eine solche Fortentwicklung der Rennerschen Konzeption. Freilich kam auch die Anerkennung eines „innerstaatlichen Nationalitätsprinzips" für die Donaumonarchie zu spät. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker", wie Lenin und Stalin es schon vor 1914 scheinbar konsequent proklamierten, erwies sich als die bei weitem zugkräftigere Parole. Daß die Praxis nach der russischen Oktoberrevolution diesem Prinzip nicht entsprach, steht auf einem anderen Blatt14.

III. Im Unterschied zu den widerstreitenden Legitimationsmustern, mit denen der Nationalismus gerechtfertigt wird, sind die sozialen Vorbedingungen für die Entstehung des Nationalismus bisher sehr viel weniger intensiv erforscht worden. Eine Pionierstudie auf diesem Gebiet ist Miroslav Hrochs vergleichende Untersuchung über die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas - in Norwegen, Finnland, Flandern, im Baltikum wie in Böhmen und Mähren. Nach den methodisch abgesicherten Befunden des tschechoslowakischen Historikers hat es in dem von ihm erforschten Bereich drei Phasen der nationalen Bewegung gegeben. Am Beginn des „nationalen Erwachens" stand eine Gruppe von Intellektuellen, die sich intensiv der Sprache, Kultur und Geschichte des unterdrückten Volkes widmete, aber zunächst noch gesellschaftlich isoliert war. In die zweite Phase fällt die von breiteren intellektuellen Kreisen getragene patriotische Agitation, das „nationale Erwachen im eigentlichen Sinne des Wortes". Im dritten Stadium dringt das Nationalbewußtsein in die Massen ein: die nationale Bewegung wird zur Volksbewegung. Allgemein waren 59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

die stärker kommunizierenden sozialen Gruppen oder die mobileren Bestandteile dieser Gruppen patriotisch besonders aktiv. Die Schwerpunkte der nationalen Bewegung lagen nicht notwendigerweise in den industriell am weitesten fortgeschrittenen Regionen; eine wichtigere Rolle spielten Handels- und Dienstleistungszentren, die die relativ höchste Kommunikationsstufe (was immer auch heißt: einen hohen Grad der Alphabetisierung) aufwiesen. Der Anteil des industriell tätigen Bürgertums an der nationalen Bewegung war in den ersten beiden Phasen fast überall gering. Dennoch kann man generell davon ausgehen, daß das Nationalbewußtsein sich dort früher durchsetzte, wo die alte Mittelschicht am Ende der feudalen Epoche noch gewisse Aufstiegsmöglichkeiten hatte, und daß die Nationalbewegung dort, wo sie später einsetzte, auch stärker agrarisch geprägt war. Offen bleibt in Hrochs Studie, ob die Vorkämpfer der nationalen Bewegungen bei den kleinen Völkern eher als Traditionalisten oder als Modernisierer anzusehen sind. Erst die Verbindung des sozialgeschichtlichen Ansatzes mit der Programm- und Funktionsanalyse würde verbindliche Aussagen über den Charakter der frühen Nationalbewegungen erlauben15. Daß der Nationalismus verschiedene Phasen und damit zugleich einen sozialen Funktions wandel durchlaufen hat, ist in der historischen Forschung zwar des Öfteren festgestellt, aber noch kaum zum Ausgangspunkt vergleichender Untersuchungen gemacht worden. Eine bemerkenswerte Periodisierung hat 1945 Ε. Η. Carr vorge­ schlagen. Sie bezieht sich nicht auf den Nationalismus insgesamt, sondern nur auf seine west- und mitteleuropäischen Ausprägungen; sie zielt nicht auf Nationalismen, die erst im 20. Jahrhundert zu Staatsgründungen führten, sondern nur auf solche, die sich entweder in etablierten Nationalstaaten entwickelten oder im 19. Jahrhundert ihren staatlichen Rahmen fanden. Einer Phase der Herausbildung des modernen Nationalismus, die Carr in die Zeit vor 1789 legt, läßt er eine zweite, bis 1870 dauernde Etappe folgen, in der sich der konstruktive Prozeß des „nation-building" oder, wie er es auch nennt, die Demokratisierung der Nation vollzog. In die dritte Periode, die nach Carr in die Zeit zwischen 1870 und 1939 fällt, wurde die Nation ,,sozialisiert". Es ist das Stadium, in dessen Frühphase Deutschland mit der Einführung von Schutzzöllen dem ökonomischen Nationalismus endgültig zum Durchbruch verhalf (1879). Die Erhaltung eines bestimmten Lohn- und Beschäftigungsniveaus wurde zu einem Programmpunkt der nationalen Politik, der nur in offensiver Abgrenzung gegenüber anderen Ländern durchgesetzt werden konnte. Durch den ,,Schutz der nationalen Arbeit" wurde andererseits ein Interesse der Arbeiter an nationaler Machtpolitik begründet. „Die Sozialisierung der Nation fand ihre natürliche Entsprechung in der Nationalisierung des Sozialismus." Der soziale Nationalismus (oder nationale Sozialismus) der dritten Phase brachte in Carrs Sicht eine Akzentverschiebung von der Politik auf die Wirtschaft, eine Gewichtsverlagerung von den Mittelschichten auf die Massen und damit von der liberalen auf die Massendemokratie. Gleichzeitig habe die Entliberalisierung von Wirtschaft und Politik aber auch bereits totalitäre Tendenzen in sich geschlossen, die sich schließlich in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts entluden16. Carrs Analyse berührt sich partiell mit neueren Versuchen, die ,,Große Depression" (oder, wie man neuerdings präziser sagt: der „Großen Deflation") der Jahre 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

1873 bis 1896, eine Zeit mehrfacher scharfer Konjunktureinbrüche und überdurchschnittlichen Preisverfalls, als historische Wasserscheide zu begreifen. Die wachsende Kartellierung, Konzentration und verbandsmäßige Organisation der Wirtschaft, die zunehmenden, auf ökonomische und soziale Stabilisierung zielenden Staatsinterventionen - alle diese Tendenzen, die Rudolf Hilferding 1915 im Begriff des „Organisierten Kapitalismus" zusammengefaßt hat - verstärkten sich im Gefolge der krisenhaften Erschütterungen des späten 19. Jahrhunderts. In denselben historischen Zusammenhang gehören Versuche, koloniale Eroberungen als Sicherheitsventile gegen soziale Unzufriedenheit zu benutzen. Doch wird man sich vor exklusiv innenpolitischen Erklärungen der kolonialen Expansion hüten müssen. Der Übergang vom informellen (auf die direkte politische Beherrschung wirtschaftlich abhängiger Überseegebiete durch die Metropole verzichtenden) zum formellen (durch direkte Kolonialherrschaft gekennzeichneten) Imperialismus war auch eine Folge verschärfter internationaler Konkurrenz. Die Furcht von Wirtschaftsführern und Politikern, ohne Kolonialbesitz den nationalen Großmachtstatus entweder nicht zu erlangen oder wieder zu verlieren, hat, vor allem in der Phase des Hochimperialismus zwischen 1896 und 1914, geradezu panikartige Züge angenommen und die Gefahr militärischer Kollisionen erheblich vergrößert. Besondere Energie entfalteten auf diesem Feld jene Staaten, die erst spät in die Weltpolitik und/oder Weltwirtschaft eingetreten waren (Deutschland, Italien, Japan). Bei den traditionellen Großmächten war die Angst vor einem außenpolitischen Statusverlust dort besonders groß, wo soziale und nationale Spannungen zugleich den inneren Zusammenhalt gefährdeten (Rußland, Österreich-Ungarn)17. Der Funktionswandel der nationalen Parole, der durch die Krise der 1870er Jahre ausgelöst wurde, machte aus einer ehedem „linken" eine „rechte" Ideologie. In Deutschland hatte das liberale Bürgertum vom Vormärz bis zur Reichsgründungszeit den Adel als Träger der partikularstaatlichen Zersplitterung und sich selbst auf kulturellem wie auf wirtschaftlichem Gebiet als Verkörperung der Nation gesehen. Die nationale Agitation war in dieser Zeit vor allem ein Instrument der bürgerlichen Emanzipation und gesellschaftlichen Modernisierung. Die nationale Bewegung zielte darauf ab, die politischen Konsequenzen aus der Industrialisierung zu ziehen und den Binnenmarkt nationalstaatlich zu organisieren. Nichts gab dem Nationalismus größeren Auftrieb als die nach 1850 auch in Deutschland voll einsetzende Industrielle Revolution und die damit verbundene gesellschaftliche Aufwertung des Bürgertums. Das änderte sich, nachdem der deutsche „take-off" zu Beginn der 1870er Jahre von der „Großen Depression" abgelöst worden war. Im Zeichen des „Schutzes der nationalen Arbeit", der ideologischen Umschreibung der Schutzzollpolitik, und des Kampfes gegen die „Reichsfeinde" rezipierten nun auch die konservativen Kräfte, von den preußischen Junkern bis zu traditionalistischen Handwerksmeistern und Kleinhändlern, die nationale Idee. Seit den 1890er Jahren weitete sich dann das soziale Rekrutierungsfeld des „rechten Nationalismus" auch auf den „neuen Mittelstand" aus: Kaufmännische und industrielle Angestellte sahen im Bekenntnis zur nationalen Parole ein willkommenes Mittel zur ideologischen Abgrenzung von jenem „internationalen" Proletariat, dem sie objektiv, auf Grund ihrer materiellen Lebensverhältnisse, durchaus nahestanden. Die Mittelschichten waren in sich zu heterogen, um sich wie 61 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

die Arbeiter eine gemeinsame wirtschaftliche Interessenvertretung zu schaffen. Eben deshalb aber erwiesen sie sich in Krisenzeiten als besonders anfällig für militante Gemeinschaftsideologien. Der Nationalismus wurde zunehmend zum agitatorischen Vehikel einer Sammlungsbewegung gegen Linksliberalismus und Sozialdemokratie, gegen die „goldene Internationale" des Bankkapitals wie die „rote Internationale" der Marxisten. National sein heiß seit den späten 1870er Jahren weniger antifeudal als vielmehr anti-international- ja, im Extremfall, auch antisemitisch sein. Daneben lebte auch nach der „inneren Reichsgründung" die liberale Variante des Nationalismus fort, aber sie stand nun unter einem bisher ungekannten Legitimationsdruck von rechts18. Es gibt gewisse Parallelen zur deutschen Entwicklung in anderen Ländern. Die Krise veranlaßte Rußland (schon seit 1876), Italien (1878) und Frankreich (1881), Schutzzölle einzuführen oder, soweit sie schon bestanden, zu erhöhen. In allen Fällen begleitete eine forcierte nationalistische Agitation, die von den Interessenten und meist auch von den Regierungen ausging, die Wendung zum Protektionismus. Im Windschatten des ökonomischen Nationalismus konnten sich auch politische Bewegungen entfalten, deren Zielsetzungen nicht durchwegs wirtschaftlicher Natur waren, die aber ebenfalls auf eine allgemeine Kurskorrektur nach rechts drängten und sich vorzugsweise nationalistischer Parolen bedienten. Das gilt in Frankreich etwa für die Hauptströmung des Boulangismus und mehr noch für die rechte und offen antisemitische Sammlungsbewegung, die sich anläßlich der Dreyfus-Affäre formierte. Seit Mitte der 1880er Jahre war auch in Frankreich der Nationalismus aus einer ehedem „linken" zu einer vorwiegend „rechten" Ideologie geworden. Um die Jahrhundertwende erfolgte dann, von den radikalsten „Anti-Dreyfusards" theoretisch vorbereitet und nur vom aktivistischen Teil der Rechten mitvollzogen, der Umschlag in den „integralen Nationalismus" (Ch. Maurras): einen im magischen Kult der Erde und der Toten gipfelnden protofaschistischen Religionsersatz, in dessen Zeichen nunmehr auch die physische Gewaltanwendung gegenüber Andersdenkenden legitimiert wurde19. So radikal und umfassend wie in Deutschland war der Umschwung in Frankreich freilich nicht. Die revolutionäre Tradition wirkte noch stark genug nach, um ein kräftiges Gegengewicht gegen den rechten Radikalismus zu bilden und schließlich, in der Zwischenkriegszeit, sich gegenüber den faschistischen Bewegungen zu behaupten. So konservativ die Mentalität jener breiten bäuerlichen und kleinbürgerlichen Schichten geworden war, die einst die Massenbasis der Revolution von 1789 gestellt hatten, sie wurden - anders als in Deutschland - in ihrer großen Mehrheit nicht zum Einzugsfeld der Revolution von rechts. Die „Demokratisierung der Nation", von der Carr spricht, war in Frankreich und erst recht in England und den Vereinigten Staaten viel weiter fortgeschritten als etwa in Deutschland und Italien - von Rußland und den meisten anderen osteuropäischen Ländern, in denen es keine breite bürgerliche Schicht gab und folglich die gesellschaftlichen Voraussetzungen eines liberalen Nationalismus weithin fehlten, ganz zu schweigen. Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß der außenwirtschaftliche Protektionismus, der ja auch in den Vereinigten Staaten Triumphe feierte20, nur dort zum auslösenden Moment eines antidemokratischen Nationalis62 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

mus werden konnte, wo die Klassengegensätze eine hohe Intensität erreicht und damit ein Bedürfnis nach umfassenden Ablenkungs- und Abwehrideologien hervorgerufen hatten. Das war in Amerika nicht der Fall, wohl aber in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern. Eine Chance, zur Staatsideologie zu werden, hatte der integrale Nationalismus jedoch nur in solchen Gesellschaften, in denen die traditionellen vorindustriellen Eliten ihre Machtpositionen - nicht zuletzt dank agrarischer Schutzzölle - ungebrochen über die Industrialisierung hinwegretten und sich mit einem konservativ gewordenen Bürgertum zum Kampf gegen parlamentarische Demokratie und sozialistische Arbeiterbewegung verbünden konnten. Diese Konstellation lag besonders ausgeprägt in Deutschland, in gewisser Weise aber auch in dem industriell freilich viel weniger entwickelten Italien vor. In Rußland, wo ein Bürgertum im okzidentalen Sinn fehlte, mischten sich in der Zeit der forcierten, staatlich geförderten Industrialisierung vor 1914 die modernisierenden Momente des Nationalismus mit seinen konservativen, dem Schutz des sozialen status quo dienenden Elementen bis zur Ununterscheidbarkeit. Die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Funktionen des Nationalismus war ein Ausdruck relativer Unterentwicklung - ein Sachverhalt, zu dem es in Südeuropa (Italien) wie in den Ländern der „Dritten Welt" von heute bemerkenswerte Parallelen gibt. Der internationale Siegeszug des ökonomischen Nationalismus hatte sowohl internationale wie nationale Ursachen; der Protektionismus war eine Reaktion auf weit- und binnenwirtschaftliche Strukturveränderungen. Die unterschiedlichen politischen Wirkungen des ökonomischen Nationalismus in einzelnen Staaten aber lassen sich nur erklären, wenn man ihn im Zusammenhang mit den spezifischen sozialen und politischen Rahmenbedingungen jedes Landes sieht21. Die Funktion, als psychologisches Ventil für inneren Problemdruck zu dienen, hat der Nationalismus nicht erst seit dem späten 19. Jahrhundert gehabt. Bereits während der Französischen Revolution hofften die Girondisten, durch den Volkskrieg mit den konservativen Mächten eine soziale Radikalisierung in Frankreich aufhalten zu können. Die nationale Sammlungsideologie des französischen Liberalismus in der Restaurationszeit sollte in erster Linie den sozialen und politischen Differenzen im eigenen Lager entgegenwirken. Im preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre erhofften sich manche Liberalen vom Krieg gegen Österreich eine stimulierende Wirkung für ihren Kampf um die innerstaatliche Freiheit22. Aber in allen diesen Fällen stand die Auseinandersetzung mit dem Ancien régime im Vordergrund: Noch hatte die nationale Parole innenpolitisch primär eine antifeudale Stoßrichtung. Das gilt nicht mehr für jene Versuche der „sekundären Integration" (W. Sauer), die für die Innenpolitik des Bismarckreiches typisch wurden und die im wesentlichen darauf hinausliefen, durch einen Kampf gegen innere „Ersatzfeinde", in erster Linie die Sozialdemokraten, die auf innenpolitische Reformen drängenden liberalen Kräfte zu neutralisieren und so das bestehende Herrschaftssystem zu stabilisieren. Die politische Integration des Bürgertums ist auf diese Weise weitgehend gelungen. Dies eine „Sozialisierung der Nation" (Carr) zu nennen, wäre freilich ganz irreführend. Die langfristige Folge der Abkehr vom Liberalismus war in Deutschland nicht eine Massendemokratie, sondern die Immunisierung breiter Massen gegen die Demokratie. Richtig ist dagegen wohl, daß die Schutzzollpolitik einen gewissen integrierenden Effekt 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

auf Teile der Arbeiterschaft ausgeübt hat - in solchen Branchen nämlich, in denen ohne staatliche Schutzmaßnahmen die Arbeitsplätze bedroht schienen. Sicher ist, daß die staatliche Sozialpolitik - das die Peitsche der Sozialistengesetze ergänzende Zukkerbrot - langfristig integrative Wirkungen hatte. Rudolf Hilferding hat darauf hingewiesen, daß erst das Drängen und die Wahlerfolge der Arbeiterbewegung zu solchen Staatsaktivitäten führten, und diesen Sachverhalt in dem Paradoxon zusammengefaßt: ,,Die konterrevolutionären Wirkungen der Arbeiterbewegung haben die revolutionären Tendenzen des Kapitalismus geschwächt." Gunnar Myrdals apodiktische These hingegen, der Wohlfahrtsstaat sei nationalistisch weil protektionistisch, verkennt, daß die sozialstaatlichen Elemente des frühen Staatsinterventionismus keineswegs identisch waren mit den protektionistischen. Der außen- wie der binnen wirtschaftliche Protektionismus geht in der Regel ganz überwiegend auf Kosten von Arbeitnehmern und Verbrauchern: Er verhilft bestimmten Produzentengruppen zu einem höheren Anteil am Volkseinkommen, als ihnen nach ihrer tatsächlichen volkswirtschaftlichen Leistung zustünde. Massive nationalistische Indoktrination hatte den Zweck, die Einsicht in solche Zusammenhänge zu verhindern. Aber die staatsloyale Haltung der deutschen Arbeiterschaft beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges läßt sich nicht einfach mit dem Hinweis auf ein vom Klassenfeind verformtes „falsches Bewußtsein" erklären. Vielmehr haben auch bestimmte ideologische Hypotheken der Sozialdemokratie in der gleichen Richtung gewirkt. Hans Mommsen hat mit Recht geurteilt, das ,,Dilemma des orthodoxen Marxismus, dem integralen Nationalismus keine andere Alternative als einen hölzern gewordenen Internationalismus entgegensetzen zu können", habe nicht zuletzt auf der „Fehleinschätzung des Gewichts nationaler Traditionen durch Marx und Engels" beruht. Es gab offensichtlich, jenseits von Klasseninteressen und nationalistischer Agitation, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich aus der Erfahrung von langandauerndem Zusammenleben und gemeinsamem politischem Schicksal, aus gemeinsamen kulturellen Überlieferungen und einer gemeinsamen Sprache nährte - aus dem, was der Austromarxist Otto Bauer in den Begriffen „Verkehrs-", „Schicksals-" und „Kulturgemeinschaft" zusammengefaßt hat. Die theoretische Negation und Denunziation eines solchen Bewußtseins war die Leugnung eines Stücks sozialer Wirklichkeit. Der Kampf gegen den Mißbrauch von nationalem Bewußtsein im Dienste partikularer Klasseninteressen ist dadurch, vor wie nach 1914, erheblich erschwert worden23. Die unterschiedlichen sozialen Funktionen, die der Nationalismus im Laufe der Geschichte als Integrationsideologie ausgeübt hat, können nur einen Teil seiner historischen Wirksamkeit erklären. Denn der Nationalismus ging in diesen Funktionen nicht auf, sondern zeigte in höherem Maß, als dies auch für andere Ideologien gilt, eine Tendenz zur Verselbständigung gegenüber konkreten Interessenlagen. Dieser Prozeß, der im Extremfall des deutschen Nationalsozialismus in der nihilistischen Negation aller materiellen Interessen endete, ist selbst durchaus als sozialgeschichtlicher Vorgang zu beschreiben. Die Sammlungsfunktion, die die nationalistischen Parolen gegenüber der überaus heterogenen Anhänger- und Mitgliedschaft der nationalsozialistischen Bewegung hatten, war noch zweckrational. Auch die Devise Hitlers aus dem Jahr 1924 „Der marxistische Internationalismus wird nur gebrochen werden 64 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

durch einen fanatisch extremen Nationalismus von höchster sozialer Ethik und Moral" läßt sich „funktional" interpretieren. Hitlers radikale Judenfeindschaft und sein unbegrenzter Expansionswille sind dagegen nicht mehr aus konkreten Interessen, sondern nur noch aus Wahnvorstellungen zu erklären, die freilich auch milieubedingt waren. Es bedurfte einer hochgradigen Militarisierung der deutschen Gesellschaft durch den Ersten Weltkrieg, der als nationales Trauma nachwirkenden Niederlage von 1918, einer durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen „Panik im Mittelstand" (Th. Geiger), und des tradierten Antiliberalismus in den gesellschaftlichen Führungsgruppen, um die Nationalsozialisten an die Macht zu bringen. Und es bedurfte einer Gruppe „militärischer Desperados" (W. Sauer) - durch den Ersten Weltkrieg gesellschaftlich entwurzelter Existenzen, die zutiefst bürgerliche Ängste mit einer tiefen Verachtung des Bürgertums verbanden -, um den Nationalismus bis zur letzten denkbaren Konsequenz zu treiben. Am Ende des Zweiten Weltkrieges schien der Nationalismus schlechthin so diskreditiert, daß ihm viele Historiker keine Zukunft mehr zuerkennen wollten24.

IV. Die faschistischen Systeme haben mittelbar erheblich zu einem Prozeß beigetragen, der allen ihren Maximen, besonders der nationalsozialistischen Rassenlehre, strikt widersprach: der Befreiung der Kolonialvölker von der europäischen Herrschaft. Die materielle Schwächung der Kolonialmächte, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte, erwies sich als irreversibler Vorgang. Aus realistischer Einsicht in sein vermindertes weltpolitisches Gewicht machte England den Anfang mit dem Rückzug aus Asien und Afrika und gab damit jenen Kräften Auftrieb, die bereit waren, die Herrschaft auch der anderen europäischen Kolonialmächte notfalls mit Gewalt zu beenden. Eine vergleichbare Signalwirkung hatte die chinesische Revolution von 1949, deren Sieg zu einem guten Teil aus dem Kampf gegen die japanische Aggression erwuchs und somit ebenfalls mittelbar eine Folge des Zweiten Weltkrieges war25. Der Nationalismus der zweiten Nachkriegszeit bot infolgedessen ein widersprüchliches Bild. In Europa war die Krise des Nationalstaates evident. Die Loyalität gegenüber der Nation war durch die faschistischen Systeme so pervertiert worden, daß der normative Rang dieses Anspruchs grundsätzlich in Frage gestellt war. Die ideologischen Fronten des Zweiten Weltkrieges wie des Ost-West-Konflikts lenkten den Blick zurück auf die Bedeutung transnationaler, die staatlichen Grenzen übergreifender Loyalitäten, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein oft viel wirksamer gewesen waren als die Bindung an die Nation. Dazu kam die Erfahrung des Machtverlustes der europäischen Staaten und Europas insgesamt. Nur durch Souveränitätsverzichte, durch supranationale Integration im Zeichen gemeinsamer Interessen und Wertüberzeugungen, schien der Westen sich gegenüber der ideologischen und machtpolitischen Herausforderung durch den Kommunismus sowjetischer Prägung behaupten zu können. Die Historizität des souveränen Nationalstaates wurde neu entdeckt, und nirgendwo war dieses Bewußtsein stärker entwickelt als in Deutschland, wo der Na65

5 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

tionalismus bis zum Extrem gesteigert und eben deswegen die Einheit der Nation verspielt worden war26. Der Krise des Nationalismus in der alten Welt stand der Aufstieg des Nationalismus in der „Dritten Welt" gegenüber. Das Verlangen nach Unabhängigkeit von fremder Herrschaft konfrontierte Europa gewissermaßen mit seiner eigenen Vergangenheit. Es war offenkundig, daß man es in den formell oder informell abhängigen Überseegebieten und in den Metropolen mit jeweils unterschiedlichen Entwicklungsphasen und Funktionen des Nationalismus zu tun hatte. Die Ausgangslage oder, wie man angesichts der Vielfalt der Vorbedingungen genauer sagen muß, die Ausgangslagen der nationalen Bewegungen in der außereuropäischen Welt unterschieden sich jedoch fundamental von denen in Europa. Vergleichsweise einfach war die Identitätsfindung noch in den zumindest schriftsprachlich homogenen, bereits seit langem selbständigen lateinamerikanischen Republiken, die sich vielfach aus Verwaltungseinheiten des Kolonialzeitalters gebildet und schon vor der Gewinnung der Unabhängigkeit ansatzweise ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt hatten. Die lateinamerikanischen Nationalismen hatten überaus unterschiedliche Funktionen: Es gab und gibt, um nur einige Beispiele zu nennen, den Fall der innerstaatlichen Integrationsideologie (Brasilien, Mexiko), eines eher nach außen, teils gegen Nachbarstaaten, teils gegen „raumfremde" Industrieländer gerichteten offensiven Nationalgefühls (Chile, Bolivien), des auch vorkoloniale Traditionen miteinbeziehenden Traditionalismus (Peru) und die Verbindung von Nationalismus und urbanem Populismus (Argentinien). Der einzige gemeinsame Nenner der lateinamerikanischen Nationalismen ist im 20. Jahrhundert ein ökonomisch motivierter, gegen strukturelle Abhängigkeit - vor allem von den Vereinigten Staaten - gerichteter Anti-Imperialismus. Die Politik der USA gegenüber ihrem vermeintlichen lateinamerikanischen „Hinterhof", die bis in die unmittelbare Gegenwart hinein durch ein Kette offener und verdeckter Interventionen gekennzeichnet ist, hat dort eine anti-imperialistische Massenstimmung hervorgebracht. Allerdings ist auch diese Spielart des Nationalismus keineswegs dagegen gefeit, von den autochthonen Eliten als ein Mittel der Konsensstiftung eingesetzt zu werden, das primär den sozialen status quo sichern soll27. Während die lateinamerikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit schon in der ersten Phase des Dekolonisationsprozesses (1770-1825) erreicht haben und insoweit „alte Entwicklungsländer" sind, haben die afrikanischen und asiatischen Kolonialgebiete diesen Status erst nach 1945 erlangt. Der politische Inhalt des Nationalismus hängt in allen diesen Ländern von einer Vielzahl von Faktoren ab: von der Zusammensetzung der Eliten, den natürlichen Ressourcen, dem Grad von Industrialisierung und Urbanisierung, der Verteilung des Landbesitzes, der Entwicklung des Erziehungswesens, den religiösen Überlieferungen und nicht zuletzt der relativen Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von fremden Mächten. Zu einer intensiven Verbindung von Kommunismus und Nationalismus ist es vor allem dort gekommen, wo landlose oder landarme Bauern die Massenbasis der Befreiungsbewegung stellten, und die Landreform das soziale Fundament des Kampfes um nationale Unabhängigkeit bildete. Die „klassischen Fälle" sind das von den Franzosen im 19. Jahrhundert kolonialisierte 66 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Vietnam und China, das lange Zeit in einem Zustand halbkolonialer Abhängigkeit von den europäischen Großmächten, aber auch von den Vereinigten Staaten und Japan, lebte28. Zu den kulturell homogensten Staaten der ,,Dritten Welt" gehören die arabischen Länder. Sie sind mit den spanischsprachigen Republiken Lateinamerikas darin vergleichbar, daß sie über eine gemeinsame Schriftsprache verfügen. Da sie sich schon in der Zeit der türkischen Oberhoheit als quasistaatliche Gebilde herausgeformt haben, können sie auch kaum als „neue Nationen" gelten. Das Problem des arabischen Nationalismus erwächst einmal aus der Vielzahl der Loyalitätsebenen - der einzelstaatlichen, der panarabischen und der islamisch-religiösen -, zum anderen aus den gesellschaftspolitisch-ideologischen Gegensätzen innerhalb des arabischen Lagers. Immerhin ist der Panarabismus viel stärker als der Panafrikanismus über die Stufe verbaler Einheitsbeteuerungen hinausgediehen und er dient auch nicht wie einst der Panslawismus der Verschleierung der Hegemonieansprüche eines Landes. Im Unterschied zum Panafrikanismus verfügt der Panarabismus über eine reale Basis objektiv-kultureller Gemeinsamkeiten, wozu neben der Sprache auch die Religion gehört. Der Panarabismus nimmt historisch eine vermittelnde Stellung zwischen der traditionellen islamischen Gemeinschaft und dem Einzelstaat ein. Der über die arabische Welt hinausgreifende islamische Glaube hat sich seit der Auflehnung gegen die - gleichfalls islamische - türkische Oberherrschaft als ein für sich allein genommen schwaches Integrationsmoment erwiesen. An seiner Stelle hat der Panarabismus die Funktion einer „politischen Religion" übernommen (H. Pfaff). Der wichtigste politische Integrationsfaktor der arabischen Länder war lange Zeit der gemeinsame Gegensatz zu Israel - ein Gegensatz, der tiefe soziale und ideologische Differenzen überdeckte. Es spricht einiges für die Vermutung, daß der Modernitätsvorsprung Israels ein Ärgernis sowohl für die Traditionalisten als auch für die Modernisierer im arabischen Lager ist. Die Friedensinitiative gegenüber Israel, die der ägyptische Präsident Sadat Ende 1977 ergriffen hat, und die Ablehnung dieses Schritts durch die radikaleren arabischen Länder deuten auf einen fortschreitenden Zerfall der arabischen Einheit hin. Der Panarabismus scheint allmählich gegenüber der Bindung an den jeweiligen Einzelstaat an Gewicht zu verlieren29. Von den bisher erörterten Entwicklungsländern, die eine bestimmte historisch-kulturelle Homogenität aufweisen, unterscheiden sich jene, die als politische Einheiten im wesentlichen ein Produkt der Kolonialverwaltung sind. Das Spektrum reicht von soziokulturell so unterschiedlichen Ländern wie Indien und Indonesien bis zu den schwarz-afrikanischen Staaten (mit der Ausnahme Liberias und Äthiopiens). Für diese Staaten trat mit der Unabhängigkeit der Prozeß des „nation-building" in eine neue Phase: Es galt, aus einer sprachlich und kulturell oft extrem unterschiedlichen Bevölkerung eine nationale Einheit zu formen. Die einzigen Gemeinsamkeiten waren meist die Erfahrung der kolonialen Herrschaft und der Wille, die fremden Regime abzuschütteln. Der Nationalismus der neuen Nationen ist infolgedessen notwendig primär politisch-staatlicher (freilich kaum je, im westlichen Sinn, subjektivvoluntaristischer) Natur. Die Bemühungen um eine kulturelle Untermauerung des Nationalgefühls, durch Rückgriffe etwa auf vorkoloniale Traditionen, spielten und 67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

spielen eine zweitrangige Rolle gegenüber der Notwendigkeit eines funktionsfähigen Verwaltungs- und Wirtschaftssystems. Dazu gehört auch der Gebrauch der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht als „lingua franca" des neuen Staates30. Was Hroch für die kleineren europäischen Völker festgestellt hat, gilt auch für die neuen Staaten Asiens und Afrikas: Eine Schlüsselrolle in der Unabhängigkeitsbewegung spielten die Intellektuellen. Sie waren freilich nicht die ersten, die der Kolonialmacht entgegentraten. Vor allem in den vom Islam geprägten Teilen Asiens, aber nicht nur dort, hatte es schon im 19. Jahrhundert Revolten gegen die Fremdherrschaft gegeben, die von traditionellen Führungsgruppen ausgingen und in denen die Religion den wichtigsten Mobilisierungs- und Integrationsfaktor bildete. Die Kolonialmacht war regelmäßig in der Lage, diese - in ihren Zielsetzungen eher konservativen - Bewegungen zu unterdrücken. Mit der Opposition der Intellektuellen, die oft administrative Stellungen innehatten, fertig zu werden, war weit schwieriger. Die westlich erzogene geistige Elite war einerseits in der Lage, die Ursachen der kolonialen Diskriminierung und die Mittel zur Beseitigung dieses Zustandes zu erkennen. Andererseits hatte sie sich dem Gros der Bevölkerung durch ihre - oft in den Metropolen absolvierte - Ausbildung entfremdet. Wenn sich die der kolonialen Mittelklasse entstammenden Intellektuellen zu Sprechern unzufriedener Bauern und Arbeiter machten, lag eben darin eine Chance, ihre frustrierende Isolierung zu überwinden. Für die Massen bedeuteten die Rationalisierung und bessere Organisation eines zuvor oft in archaischen Formen geäußerten Protestes zugleich erhöhte Erfolgsaussichten. Die verwestlichte, durch das Erziehungssystem der Kolonialmacht geprägte Elite ihrerseits mußte, um sich verständlich zu machen, für ihre modernisierenden Zielsetzungen traditionelle Ausdrucksformen finden und sie konnte in der Tat oftmals das Erbe religiöser Bewegungen gegen die Kolonialherren antreten. Die Unterstützung, die sie aus ihrer engeren sozialen Umwelt erhielt, resultierte aus der gesellschaftlichen Diskriminierung der zahlenmäßig wachsenden einheimischen Mittelklasse: Diese mußte sich meist auf vergleichsweise subalterne wirtschaftliche Funktionen beschränken, während die größeren Unternehmungen im Besitz und unter der Leitung von Angehörigen der Kolonialmacht blieben. Derselbe Faktor ließ Klassenkonflikte im industriellen Bereich leicht in Rassenkonflikte umschlagen und machte die Gewerkschaften, soweit diese schon feste Organisationsformen gefunden hatten, in manchen Fällen zu den treibenden Kräften der Unabhängigkeitsbewegung. Für die bäuerliche Bevölkerung waren behördlich angeordnete Änderungen der Agrarstruktur, erhöhte Arbeitsanforderungen von seiten weißer Plantagenbesitzer und die Rekrutierung zur Industriearbeit die typischen Mobilisierungsfaktoren, die sie in das Einzugsfeld der antikolonialen Bewegung brachten. Wo immer der Unabhängigkeitskampf militärische Formen annahm, bildete die mobilisierte ländliche Bevölkerung den wichtigsten sozialen Rückhalt und die Basis der Guerilleros31. Die entscheidende soziale Funktion des Nationalismus bestand vor der Erlangung der Unabhängigkeit darin, das einigende Band einer heterogenen Koalition von Kräften zu bilden. W. F. Wertheim hat den Nationalismus als „quasi-universalistische Ideologie" bezeichnet, die den Trägerschichten antikolonialer Bewegungen die Befreiung nicht nur von Fremdherrschaft, sondern auch von den tradierten stammesmä68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

ßigen und lokalen Beengungen versprach. Diesem Ziel konnten sich Intellektuelle wie Kaufleute, Bauern wie Arbeiter verschreiben. Aber die Gefahr war abzusehen, daß der Konsens die Erreichung der Unabhängigkeit nicht lang überdauern würde. In der Tat fiel die Staatsgründung oft genug zusammen mit dem Beginn des offenen Disputs über die künftige innenpolitische Entwicklung und den außenpolitischen Kurs des Landes - eines Disputs, der nicht nur unterschiedliche Interessen von Mittelklasse, städtischem Proletariat und bäuerlichen Massen widerspiegelte, sondern häufig auch die politische Führungsgruppe im engeren Sinn spaltete. Welche Richtung sich auch durchsetzte - in den meisten der neuen Staaten hatte die unterlegene Gruppierung keine Chance, sich als parlamentarische Opposition zu etablieren. Franz Ansprenger hat im Hinblick auf Afrika bemerkt, für die neuen Regime habe von Anfang an die Stabilisierung ihrer Macht eine fast ebenso hohe Priorität gehabt wie die Aufgabe der Nationsbildung. Beide Ziele werden in der Tat kaum noch voneinander unterschieden. Die Konsolidierung des neuen Staates hat darum in den meisten Ländern der „Dritten Welt" vor dem gesellschaftlichen Wandel den Vorrang erhalten. Allerdings dürfte Konsolidierung ohne grundlegenden sozialen Wandel für ein Entwicklungsland kaum möglich sein. In jedem der neuen Staaten mußte ein umfassender Integrationsprozeß vorangetrieben werden, und in der Förderung ebendieses Prozesses besteht die offizielle Funktion des Nationalismus nach der Staatsgründung. Sowenig wie in Europa gab es in der „Dritten Welt" eine natürliche Evolution vom Stamm zur Nation; im westlichen Afrika haben die Stämme sogar schon vor fast einem Jahrtausend aufgehört, die dominante Form der politischen Organisation zu sein. Der äußere Rahmen, in dem die Vereinheitlichung oft sehr unterschiedlicher Lebensverhältnisse eingeleitet wurde, war den Vorkämpfern der Unabhängigkeit durch die Kolonialmacht vorgegeben; sie hatten dazu meist keine Alternative. Die willkürlichen Grenzziehungen der kolonialen Verwaltungen sind in der Regel bis heute beibehalten und gegen Sezessionsbestrebungen mehrfach mit Erfolg verteidigt worden: so im Konflikt zwischen der kongolesischen Zentralregierung und der rohstoffreichen Provinz Katanga wie auch im Krieg zwischen Nigeria und seiner abgespaltenen Erdölregion Biafra. In den genannten Fällen waren neben traditionellen Stammesgegensätzen die materiellen Interessen auf beiden Seiten evident, wobei den Sezessionisten auch die Rückendeckung durch ausländische Konzerne nicht zum Erfolg verhalf. Die Grenzziehungen der Kolonialmacht, so dysfunktional sie oft auch waren, haben ganz offensichtlich den Bewußtseins- und Erwartungshorizont ihrer politischen Erben geprägt und somit die „normative Kraft des Faktischen" bestätigt: Zu einer Verschlechterung des status quo durch Gebietsabtretungen ist bisher keine Zentralregierung bereit gewesen. Es war kaum ein Zufall, daß die äußerlich erfolgreiche Lostrennung Ostpakistans (Bangla Desh) von Westpakistan ein Staatsgebilde teilte, das in der Kolonialzeit niemals eine Verwaltungseinheit gebildet hatte. Viele der ethnisch heterogenen Staaten, die von Sezessionsbestrebungen bedroht sind, befinden sich in einer frühen Phase der Nationsbildung: Das Netz gemeinsamer Institutionen hat noch nicht jene Integrationskraft entwickelt, die einen Erfolg der auf Verselbständigung drängenden Kräfte von vorneherein ausschließen würde. Daher ist es nicht zu verwundern, daß Nationalismus sowohl als Vehikel zentrifugaler wie zentripetaler © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

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Bestrebungen dient, daß er von einer Zentralregierung als Integrationsmittel eingesetzt wie als Waffe dissentierender Kräfte an der Peripherie verwandt werden kann. Gemeinsam ist dem Nationalismus der „Dritten Welt" eine gewisse antiwestliche Stoßrichtung. Sie hat sich kollektiv erstmals 1955 auf der Konferenz asiatischer und afrikanischer Staaten in Bandung und seitdem immer wieder in den Vollversammlungen der Vereinten Nationen und den Welthandelskonferenzen manifestiert. Die Wendung gegen die kapitalistischen Industriestaaten ist nicht nur durch die koloniale Vergangenheit zu erklären, sondern auch durch die fortdauernde wirtschaftliche Abhängigkeit von den westlichen Rohstoffabnehmern. Auf diesem Hintergrund konnte jene Synthese zwischen Nationalismus und Sozialismus entstehen, die in vielen neuen Staaten zumindest verbal beschworen wird. Umfassende Rohstoffkartelle, die die Erlöse der Lieferstaaten stabilisieren sollen, würden vermutlich den „beati possidentes" unter den Entwicklungsländern und den rohstoffreichen Industriestaaten sehr viel mehr nützen als den am wenigsten entwickelten Ländern. Über wirksamere Mittel zur Überwindung der strukturellen Unterentwicklung gibt es zwischen den Industriestaaten und den unterindustrialisierten Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bisher keinen Konsens. Nur die erdölproduzierenden Staaten haben - zeitweilig - jenes Maß an Zusammenhalt erreicht, das sie zu einem weltwirtschaftlichen Machtfaktor gemacht hat. Damit ist aber zugleich fraglich geworden, ob es eine durch gemeinsame Interessen verbundene „Dritte Welt" überhaupt noch gibt. Für die Länder, die rohstoffarm sind oder deren Rohstofferlöse den Schwankungen des Weltmarktes schutzlos ausgesetzt sind, haben verbale Demonstrationen anti-imperialistischer Solidarität wenig Wert. Sie sind von den Preisbeschlüssen der Organisation erdölproduzierender Länder noch stärker betroffen als die europäischen Industriestaaten. Auch regionale Zusammenschlüsse von Entwicklungsländern wie die „Organisation für afrikanische Einheit" haben sich bisher nicht als aktionsfähig erwiesen: Zu der „Balkanisierung" des schwarzen Kontinents bildet der verbale „Pan-Afrikanismus" kein wirksames Gegengewicht. Die „Internationale der Nationalisten", wie man die vom „Geist von Bandung" geprägte Bewegung nennen kann, scheint überall bereits an ihren inneren Widersprüchen gescheitert zu sein. Zu diesen Widersprüchen gehören auch gegensätzliche weltpolitische Orientierungen. Seit sich einige afrikanische Staaten in massive materielle und militärische Abhängigkeit von der Sowjetunion - direkt oder vertreten durch Kuba - begeben haben, fühlen andere sich mehr noch als schon zuvor auf entsprechende Hilfeleistungen westlicher Mächte, insbesondere Frankreichs, angewiesen. Der Ost-West-Konflikt ist offenbar dabei, sich südwärts zu verlagern - in Bereiche, die von der Entspannungspolitik bisher ausgeklammert worden sind. Der Nationalismus der Entwicklungsländer erweist sich allgemein als ein ambivalentes Phänomen. Soweit er sich darauf richtet, die strukturelle Abhängigkeit von den Industriestaaten abzubauen, und sich in den Dienst der gesellschaftlichen Modernisierung stellt, trägt er noch immer Züge einer Befreiungsbewegung. Aber das sind meistens nicht seine einzigen Funktionen. Nationalismus kann auch die faktische Vorherrschaft einer ethnischen Gruppe über andere oder Privilegien neuer Führungsgruppen - etwa, besonders häufig, des Militärs - sichern helfen. Propagandakampag70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

nen gegen den Neokolonialismus oder gar militärische Offensiven gegen Nachbarstaaten können den vorrangigen Zweck haben, von ungelösten inneren Problemen und damit auch von den endogenen Ursachen gesellschaftlicher Rückständigkeit abzulenken. Klassische Beispiele für diesen manipulativen Gebrauch des Nationalismus sind die „Konfronationspolitik", die der indonesische Präsident Sukarno gegen „West-Iran" und Malaysia betrieben hat, die Annexion von Ost-Timor durch Sukarnos Nachfolger, Indiens Untersützung für die. Sezession von Bangla Desh und die „zivile" Invasion Marokkos in der (ehemals) spanischen Sahara, wobei im letzten Fall Bodenschätze in dem umstrittenen Gebiet auch einen wichtigen materiellen Expansionsanreiz bildeten. Eine Wiederholung des Funktionswandels, den der Nationalismus in Europa durchlaufen hat, in den Entwicklungsländern ist demnach möglich. Immerhin liegt es auch an den westlichen Industriestaaten, ob die strukturelle Unterentwicklung, die das zerstörerische Potential des Nationalismus erst hervorbringt, sich verschärft oder abgebaut wird32. In Europa hat der Nationalismus, seit das Gefühl unmittelbarer Bedrohung durch den Kommunismus nachgelassen hat, eine begrenzte Renaissance erlebt. Frankreich stand dabei, zumal in der Ära de Gaulle, aus mehreren Gründen in vorderster Front. Einmal war die „Krise des Nationalstaats" in Frankreich nie so drastisch empfunden worden wie im besiegten und geteilten Deutschland. Zum anderen benützte de Gaulle eine Politik der starren Souveränitätsbehauptung und des nationalen Prestiges auch als Mittel, um der Nation den Verlust des französischen Kolonialreiches psychologisch zu erleichtern. Ferner gab es strukturelle Faktoren, die einem traditionellen Nationalismus günstig waren und erhebliche Reserven gegenüber einer wirtschaftlichen Integration Westeuropas mitbedingten: das starke Gewicht der vorindustriellen Wirtschaftssektoren Landwirtschaft, Handwerk, Kleinhandel sowie der relativ geringe Konzentrationsgrad der französischen Industrie und, damit verbunden, ein gewisses Gefühl der Unterlegenheit gegenüber der Dynamik der westdeutschen Wirtschaft. Schließlich leitete sich ein Bedarf an nationalen Integrationswerten auch aus den starken sozialen und regionalen Gegensätzen ab, von denen Frankreich nach wie vor geprägt ist. Der westeuropäische Zusammenschluß ist zwar nach dem Abgang de Gaulies räumlich vorangeschritten - durch den Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks zum Gemeinsamen Markt -, aber die politische Integration hat seitdem an Intensität und Dynamik kaum gewonnen. Die unterschiedliche wirtschaftliche und politische Entwicklung der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft scheint in den zentralen Organen wenig mehr als Verwaltungsroutine zuzulassen. Die Übertragung wichtiger nationaler Kompetenzen auf eine supranationale Bürokratie hat im übrigen möglicherweise indirekt auch autonomistische Bewegungen in einigen europäischen Ländern - vor allem in Frankreich (Bretagne, Okzitanien, Korsika, Elsaß) und in Großbritannien (Schottland und Wales) - neu belebt. Die insgesamt nachlassende gesellschaftliche und ideologische Integrationskraft des Nationalstaats wird in Gebieten mit traditionellem Sonderbewußtsein naturgemäß besonders spürbar und dort durch Ungleichmäßigkeiten der strukturellen Entwicklung oft noch gefördert. Das gilt erst recht, wenn die Nationalstaaten straff zentralistisch organisiert sind. Die übernationalen Institutionen Europas haben bisher nicht durch eine erhöhte Aus71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Strahlungskraft das nationale Defizit ausgleichen können: Ein westeuropäisches Identitätsgefühl hat sich erst in Ansätzen entwickelt. Es wird sowohl einer effektiven Kontrolle der europäischen Organe durch ein direkt gewähltes Parlament als auch föderalistischer Korrektive innerhalb der Staaten bedürfen, wenn die Strukturschwächen nationaler Zentralisation langfristig überwunden werden sollen. Allen Rückschlägen und retardierenden Faktoren zum Trotz hat aber der Integrationsprozeß in Westeuropa die politische Szene bereits grundlegend verändert. Der Nationalismus spielt heute eine weitaus weniger brisante Rolle als in der Zwischenkriegszeit. Auf die Gründe dieser Differenz wird noch zurückzukommen sein33. Innerhalb des „sozialistischen Lagers" in Osteuropa haben sich Tendenzen zu größerer nationaler Selbständigkeit bisher nur in Rumänien offen durchgesetzt. Jugoslawien und Albanien bilden als blockfreie Länder Sonderfälle. Allerdings wird man aus dem Mangel an nationalen Artikulationschancen in den Staaten des Warschauer Paktes kaum schließen können, daß der Nationalismus zum ideologischen Überbau der kapitalistischen Gesellschaftsformation gehöre und eben darum im Kommunismus zum Absterben verurteilt sei. Zwar ist - in Reaktion auf die deutsche Rassen- und Vernichtungspolitik - die nationale Gemengelage Ostmitteleuropas 1945 mit dem Radikalmittel von Massenvertreibungen beseitigt und damit ein Schlußstrich unter die Geschichte deutsch-slawischer Nationalitätenkämpfe gezogen worden. Aber die Ausdehnung der formellen wie der informellen Herrschaft der Sowjetunion knüpft in vielerlei Hinsicht unverkennbar an nationale russische Großmachttraditionen an, und die nur oberflächlich gezähmten Nationalitätenprobleme in der Sowjetunion selbst können leicht ihre explosive Wirkung zurückgewinnen. Der „Sowjetpatriotismus", der in den Dreißigerjahren als Abwehr- und Integrationsideologie eingeführt wurde, hat daher seine politische Funktion bis heute nicht verloren34. V. Die systematischen Sozialwissenschaften haben den Nationalismus nicht erst in der Phase der Dekolonisation und der Nationsbildungen nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt, aber sicherlich hat dieser Prozeß das vergleichende Studium nationaler Bewegungen außerordentlich angeregt. Zu den Schwerpunkten der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung gehören - im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Stichwort „Nationsbildung" („nation-building") - die Voraussetzungen für die Entstehung des Nationalismus und die Funktionen, die dieser in seiner Frühphase ausübt35. Einig sind sich die meisten Autoren darin, daß es einen Zusammenhang zwischen Nationalismus einerseits und Modernisierung und Industrialisierung andererseits gibt. Ernest Gellner hat seine einschlägigen Beobachtungen auf die Formel gebracht, der Nationalismus sei weniger mit Industrialisierung und Modernisierung als solchen, sondern mit ihrer ungleichen Verbreitung verbunden. Vereinfacht ausgedrückt: Internationales Wohlstandsgefälle produziert Nationalismus; Nationalismus ist Reaktion auf Rückständigkeit. Ähnlich beschreibt Antony D. Smith den Nationalismus als 72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

„Mythos der historischen Erneuerung", der aus einer Krise traditionaler Autoritäten, Werte und Überzeugungen erwächst. Der Nationalismus entstehe als die Antwort von Intellektuellen auf den historischen Prozeß der Rationalisierung; er ist gewissermaßen die Resultante aus dem Wunsch nach Authentizität und Modernität. Am genauesten trifft Dieter Fröhlich die sozialpsychologische Disposition, die die Entstehung des Nationalismus ermöglicht. Der Nationalismus hat seiner Analyse zufolge vor allem die Aufgabe, die verlorengegangene Einheit des Normen- und Wertsystems wiederherzustellen. Er ist die „Ersatzkonstruktion gesellschaftlicher Einheit" und kann als solche beitragen zur Verminderung gesellschaftlicher Unsicherheit und emotionaler Spannungen, wie sie dem Verlust traditionalen Gemeinschaftsgefühls entspringen. Der Nationalismus entsteht nach Fröhlich in einem spezifischen sozio-ökonomischen Entwicklungsstadium der Gesellschaft. Durch soziale Arbeitsteilung, durch Berufsdifferenzierung und Spezialisierung in der arbeitsteiligen Gesellschaft, verlieren die Individuen das Gefühl für den Umfang, die Grenzen und die Einheit ihrer Gesellschaft. Sie nehmen an dieser Gesellschaft nur noch in ihrer Eigenschaft als Rollenträger und über vermittelnde Organisationen teil. Daraus resultiert eine erhebliche Unsicherheit im Verhältnis der Individuen zueinander. „Durch eine Ideologie der Verbundenheit aller Gesellschaftsmitglieder, den Nationalismus, und durch Konkretisierung, Verdinglichung dieser Ideologie in nationalen Symbolen (Flaggen, Hymnen, Denkmäler) wird diese Unsicherheit reduziert und die Einheit von Gesellschaft und Gemeinschaft wiederhergestellt"36. Die Versuche, die Anfänge des Nationalismus in den krisenhaften Übergang von einer „segmentären" in eine „komplexe Gesellschaft" einzuordnen, dürften sich für die historische Forschung als außerordentlich fruchtbar erweisen. Der frühe Nationalismus erscheint aus dieser Sicht als Produkt wie als Instrument eines universalen Modernisierungsprozesses. Er befriedigt einen Bedarf an kollektiver Identität, dem die traditionalen - geistlichen oder weltlichen - Loyalitäten nicht mehr genügen. Entstehungsbedingungen wie ursprüngliche Funktionen des Nationalismus lassen sich von einem solchen Ansatz aus in der Tat zutreffend umschreiben, und zwar für Europa ebenso wie für die außereuropäische Welt. Die differenzierteste und anregendste der modernisierungstheoretischen Deutungen des frühen Nationalismus stammt von Karl W. Deutsch, der hierbei an die von Otto Bauer entwickelte Theorie nationaler Gemeinschaftsformen anknüpft. Der historische Grundvorgang, der Nationalismus überhaupt erst möglich macht, wird mit den Begriffen „Mobilisierung", „Kommunikation" und „Komplementarität" umrissen. Wirtschaftliche, soziale und technologische Entwicklungen „mobilisieren" Individuen für intensivere „Kommunikation". Die gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit ist identisch mit der mobilisierten oder in die Phase der Massenkommunikation eingetretenen Bevölkerung. Die „Mobilitätsrate" einer Gesellschaft kann gemessen werden an der Zahl der Personen, die in Städten leben, die in nichtlandwirtschaftlichen Berufen arbeiten, die mindestens einmal wöchentlich eine Zeitung lesen oder direkte Steuern an die Zentralregierung zahlen. Unter den Vorzeichen beginnender sozialer Mobilisierung - ausgelöst durch die kommerzielle und weiter vorangetrieben durch die Industrielle Revolution - entsteht das Bedürfnis nach gesteigerter 73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

„Komplementarität oder kommunikativer Effizienz", nach besserer wechselseitiger Ergänzung der Individuen. Deutsch definiert „Volk" als eine größere Gruppe, die durch komplementäre Bräuche und Kommunikationsmöglichkeiten zusammengehalten wird. „Mitgliedschaft in einem Volk besteht wesentlich in einer weitgehenden Komplementarität der gesellschaftlichen Kommunikation. Sie besteht in der Fähigkeit, wirksamer zu kommunizieren, und zwar über eine Vielzahl von Gegenständen und mit Mitgliedern einer großen Gruppe mehr als mit Außenstehenden". In einer Zeit des Nationalismus meint „Nationalität" ein Volk, das danach drängt, ein gewisses Maß an effektiver Kontrolle über das Verhalten seiner Mitglieder zu gewinnen. Nationalitäten werden zu Nationen, wenn sie die Macht erlangen, ihre Bestrebungen durchzusetzen37. Die stark verkürzt wiedergegebene Theorie von Deutsch hat den großen Vorzug, daß sie „Nationen" als soziale Gebilde nicht einfach voraussetzt, sondern als Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung versteht. Sie deutet Nationswerdung als einen Prozeß, der von einer sozusagen naturwüchsigen zu einer bewußten und wirkungsvollen sozialen Komplementarität fortschreitet. Entsprechend ist Nationalismus eine Ideologie, die ebendiesen Prozeß durch Intensivierung von Kommunikation forcieren will. Es liegt wohl am persönlichen Ausgangspunkt der Nationalismusstudien von Deutsch - dem Verhältnis von Deutschen und Tschechen in Böhmen und Mähren -, daß er dabei auffallend stark am sprachlichen Kriterium von Nationalität fixiert bleibt. Problematischer noch ist, daß der soziale Funktionswandel des Nationalismus bei ihm als solcher nicht ins Blickfeld tritt. Zwar sieht er pathologische Entartungen des Nationalismus: Sie erwachsen daraus, daß aus der besonderen Intensität der Kommunikationskanäle, die für die Nation geradezu konstitutiv ist, ein Unvermögen wird, andere Völker zu verstehen. Aber die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen einer solchen „Entartung" bleiben unklar. In der mangelnden sozialen Spezifizierung der Träger des Nationalismus während seiner unterschiedlichen Entwicklungsphasen liegt eine Schwäche des formalen Funktionenmodells von Deutsch38. Während die bisher erörterten sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuche auf die Entstehung und die ursprünglichen Funktionen des Nationalismus abstellen, zielt der psychologische Ansatz auch und gerade auf jene Phase, in der der Nationalismus seine emanzipatorische Bedeutung bereits verloren hat. Als seine wichtigste Funktion für das Individuum hat Daniel Katz, dem wir eine der scharfsinnigsten Analysen des Nationalismus überhaupt verdanken, die Erweiterung des „ego" genannt. Der einzelne wird Teil einer größeren Welt: Der Nationalismus ermöglicht ihm ein „gesteigertes psychisches Einkommen" („enhanced psychic income"), was durchaus als Ausgleich verminderten materiellen Einkommens akzeptiert werden kann. Der Nationalismus erlaubt die Projektion von Haß und Feindschaft auf „out-groups"; er trägt dazu bei, persönliche Frustrationen durch kollektive Erfolgserlebnisse auszugleichen, und er hilft, libidinöse Wünsche auf Gruppensymbole zu übertragen39. Eine der wichtigsten Erkenntnisse von Katz liegt darin, daß unter spezifischen Bedingungen ein besonders starker Bedarf an Nationalismus besteht und umgekehrt Nationalismus unter anderen Bedingungen an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren kann: „Wenn die Menschen ein erfülltes und reiches Leben als Individuen führen 74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

könnten, würden sie ein geringeres Verlangen nach der Größe ihrer Gruppe habenn"40. Ein negatives Beispiel sind für Katz jene materiellen Frustrationen der ersten Nachweltkriegszeit, die psychologisch den Boden für den Erfolg des Nationalsozialismus bereitet haben. Damit ist zugleich die grundsätzliche Frage aufgeworfen, unter welchen Voraussetzungen Nationalismus als eine spezifische Form kollektiven Identitätsbewußtseins überflüssig werden könnte. Das Problem der historischen Bedingungen des Nationalismus, das wir bisher unter dem Aspekt seiner Entstehung und seines Funktionswandels diskutiert haben, stellt sich demnach auch als Frage nach seinem möglichen Funktionsverlust41. Die Entstehung des europäischen Nationalismus fällt in die Zeit vor der Industriellen Revolution. Der Übergang vom „linken" zum „rechten", vom liberalen zum protektionistischen Nationalismus ist in Europa auf breiter Front dagegen erst nach dem Durchbruch zur industriellen Produktionsweise erfolgt. Die Frage, ob der Nationalismus noch eine Funktion besitzt, stellt sich vor allem in den höchstentwickelten industriellen Gesellschaften. Von daher liegt es nahe, das Nationalismusproblem mit Phasen des wirtschaftlichen Wachstums zu verknüpfen. Die Entstehung des Nationalismus läßt sich in der Tat historisch in Verbindung bringen mit dem Aufstieg jener Schicht, die der soziale Träger der Industriellen Revolution wurde: des Bürgertums. Der Nationalismus war in seiner Anfangsphase zum einen der ideologische Ausdruck des gesellschaftlichen Alleinvertretungsanspruchs des Dritten Standes, also einer innenpolitischen Kampfansage an die alten Führungsschichten; zum anderen war er eine Reaktion der wirtschaftlichen Führungsgruppen des einen Landes auf den ökonomischen und politischen Vorsprung, den andere Länder - oder ein anderes Land - erzielt hatten. Beide Momente, die in unterschiedlichen Mischungen aufgetreten sind, standen nicht unvermittelt nebeneinander. So hatte in Frankreich im Zeitalter der Großen Revolution der Nationalismus eine zunächst überwiegend innenpolitische, antifeudale Stoßrichtung, erhielt aber bald darauf einen auch ökonomisch motivierten antienglischen Akzent. In Deutschland kam zum Kampf gegen die politische Hegemonie Frankreichs bald auch die Abwehr der wirtschaftlichen Hegemonie Englands, und beide zunächst außenpolitisch gerichteten Bewegungen verbanden sich mit dem innenpolitischen Aufstiegsstreben des Bürgertums. Zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Nationalismus gibt es mithin eine Wechselbeziehung: Das wirtschaftliche Wachstum des einen Landes löst im anderen Land einen „reaktiven Nationalismus" (Rostow) aus, der seinerseits als Instrument zur Steigerung wirtschaftlichen Wachstums dient42. Der Umschlag des liberalen in den reaktionären Nationalismus in Deutschland ist, wie wir gesehen haben, weithin eine Reaktion auf die erste große Krise nach der Industriellen Revolution gewesen. W. W. Rostow, einer der Klassiker der modernen Wachstumstheorie, hat die Periode der wirtschaftlichen Reife (econome maturity), die dem jeweiligen ,,take-off" in Abständen von unterschiedlicher Dauer (ζ. Β. in Frankreich: 1860-1910; in Deutschland: 1870-1910; in den USA: 1905-1920) zu fol­ gen pflegt, als eine Phase charakterisiert, in der die kritischen Entscheidungen über die künftige politische Richtung des Landes fallen: Je nach den besonderen sozialen und politischen Strukturen kann dies eine Entscheidung für territoriale Expansion, für den 75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

gehobenen privaten Konsum oder für eine wohlfahrtsstaatliche Entwicklung sein. In jedem Fall ist es eine Option für den bevorzugten Einsatz oder eine bestimmte Kombination von Mitteln, die erst infolge des wirtschaftlichen Wachstums nach dem „take-off" zur Verfügung stehen. An Rostows Periodisierung ist von Wirtschaftshistorikern vielfach Kritik geübt worden. Sie zielt vor allem auf die quantitativen Kriterien für die Messung des „takeoff", die es u. a. fraglich erscheinen lassen, ob es in Frankreich vor 1945 überhaupt einen „großen Spurt" gegeben hat. Dennoch sollte der heuristische Nutzen eines groben zeitlichen Orientierungsrasters, wie Rostow ihn anbietet, nicht gering veranschlagt werden. Eine schematische Kopplung von Wachstumsstufen und Phasen des Nationalismus würde allerdings in die Irre führen. Für Italien hat Wolfgang Schieder nachgewiesen, daß der Umschlag des liberalen („Risorgimento"-)Nationalismus in einen aggressiven Imperialismus in die Zeit zwischen 1903 und 1914 fiel, in der das Land seinen industriellen „take-off" erlebte. Daran läßt sich die verallgemeinernde These anknüpfen, daß analog dem technischen „know-how" auch ein bestimmtes politisches und ideologisches Instrumentarium, wenn es einmal unter spezifischen ökonomischen Voraussetzungen in einem Land entwickelt worden ist, in Länder mit einem unterschiedlichen Entwicklungsniveau exportiert werden kann. Auf den Nationalismus bezogen heißt das: Der Übergang zum integralen, aggressiven oder imperialistischen Nationalismus ist nicht unbedingt an die Erreichung der „wirtschaftlichen Reife" gebunden, sondern kann ihr vorausgehen. Es genügt, daß „wirtschaftliche Reife" modellhaft in einem Land die Transformation des Nationalismus ausgelöst hat43. Die Rezeption des für die „rechte" Phase des Nationalismus typischen Instrumentariums bleibt freilich an bestimmte strukturelle Voraussetzungen geknüpft. Es gibt offensichtlich gewisse Faktoren, die eine aggressive, gegen die Außenwelt gerichtete Politik besonders begünstigen. Das innenpolitische Gewicht des Militärs spielt dabei ebenso eine Rolle wie der jeweilige Grad individueller und kollektiver Freiheiten. In Gesellschaften, in denen es infolge einer breiten Streuung sozialer Chancen und politischer Rechte ein hohes Maß an realer Integration gibt, ist nach der Analyse von Katz die Disposition zur Ersatzintegration über nationalistische Ideologien relativ gering. Umgekehrt ist die Gefahr der Konfliktablenkung nach außen da besonders groß, wo es einerseits schon ein entwickeltes technisch-industrielles Potential und eine die überkommene Machtverteilung langfristig bedrohende Arbeiterschaft gibt, andererseits traditionelle Eliten nach wie vor entscheidend an der politischen Herrschaft beteiligt sind und das gesellschaftliche Normensystem wesentlich prägen. Der Pakt zwischen Agrariern und Schwerindustriellen war die klassische Konstellation, die sich im politischen Bereich als Begünstigung der konservativen Kräfte, im industriellen als Bonus zugunsten der Grundstoffbranchen auswirkte. Dem Anspruch der Arbeiterschaft auf politische Gleichberechtigung standen in Gesellschaften mit einem starken Machtanteil vorindustrieller Eliten massivere Hindernisse entgegen als in Gesellschaften, in denen die politische Macht in den Händen des Bürgertums lag. Im zweiten Fall war die schrittweise Integration der Arbeiter in das politische System und damit dessen fortschreitende Demokratisierung die Norm; im ersten Fall führte der Aufstieg 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der organisierten Arbeiterschaft zu einer schweren „Partizipationskrise". Stein Rokkan sieht in der „Partizipationskrise" die dritte große Krise im jahrhundertelangen Prozeß der Nationsbildung in Europa. Dieser Krise gehen regelmäßig voraus eine „Penetrationskrise", Kämpfe um die Durchsetzung des staatlichen Monopols legitimer Gewaltanwendung, und eine „Standardisierungskrise", Auseinandersetzungen um die Modernisierung von gesellschaftlicher Infrastruktur und politischen Institutionen. Die Penetrationskrise wird man vergröbernd als die Krise des Feudalismus bezeichnen dürfen, aus der der absolute Staat als Sieger hervorging; die Standardisierungskrise kann ebenso pauschal als Krise im Zuge des Übergangs von der ständischen zur Klassengesellschaft verstanden werden, in der der Nationalismus die Rolle einer bürgerlichen Modernisierungsideologie spielte. Der „Partizipationskrise", dem Konflikt um die politische Machtteilhabe neu mobilisierter Gesellschaftsschichten, folgt als viertes Stadium die „Redistributionskrise", worunter Kämpfe um die wirtschaftliche und soziale Besserstellung minderprivilegierter Schichten gemeint sind. In der Realität lassen sich freilich, wie Rokkan selbst bemerkt, die vier Krisen (und zumal die letzten beiden) oft nicht so eindeutig voneinander trennen wie im theoretischen Modell. In der historischen Wirklichkeit nachweisbar ist aber ein Zusammenhang zwischen „Partizipationskrise" und Funktionswandel des Nationalismus: „Je kürzer die Anlaufzeit für eine reformistische Integrationspolitik war, desto größer war die Gefahr, daß eine imperialistische Politik die Vollendung des Nationalstaates verhinderte" (Wolfgang Schieder). In Deutschland, Italien und Japan wurde diese Gefahr Wirklichkeit44. Als Extremfall gehört in diesem Zusammenhang auch die rassische Übersteigerung des Nationalismus: der Rückzug auf den vermeintlich letzten gemeinsamen Nenner einer durch Klassengegensätze gespaltenen Nation. Die scheinbare Aufhebung sozialer Gegensätze im Zeichen der Rasse und ihres „natürlichen" Herrschaftsanspruchs ist die, freilich nur unter spezifischen Voraussetzungen mögliche und Wirklichkeit gewordene, radikalste Konsequenz aus dem objektiven Prinzip der Nation. Die Entwicklung des Nationalismus zum Rassismus konnte sich nur dort durchsetzen, wo die wirtschaftliche Modernisierung nicht zu einer Abkehr von der institutionellen und normativen Ordnung der vorindustriellen Gesellschaft geführt hatte - wo, anders gewendet, die Aufklärung ohne politische Breitenwirkung geblieben war. Von den hochindustrialisierten Staaten Europas war Deutschland der einzige, wo diese Bedingung vorlag. Spätestens nach den Erfahrungen der zweiten Nachweltkriegszeit, in der sich Rostow zufolge der verspätete Eintritt Deutschlands und Frankreichs in die Phase des Massenkomsums („mass consumption") vollzog, ist nicht mehr zu bezweifeln, daß der Wohlstand einer Nation weniger eine Frage von territorialer Ausdehnung und Bodenschätzen als vielmehr der Qualität ihrer wirtschaftlichen Leistungen und ihrer Technologie ist. Die malthusianische Furcht vor der Überbevölkerung hat sich in Europa als vorindustrielles Vorurteil erwiesen. Die wenigsten Länder sind von ihrer geographischen Lage her imstande gewesen, ohne große internationale Risiken sich für ein expansives wirtschaftliches Wachstum zu entscheiden. Wo immer ein Land sich zu einem Programm räumlicher Expansion entschloß, obwohl seine objektiven Chancen nur in intensiven Wachstumsprozessen liegen konnten, hat es sich gegen die 77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Logik seiner Entwicklung gewandt und dafür bezahlt. Deutschland im 20. Jahrhundert ist der klassische Fall einer solchen „Daseinsverfehlung"45. Es hat offensichtlich nicht zuletzt mit Strukturveränderungen der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg und mit längerfristigen Konjunkturtrends zu tun, daß der Nationalismus im Bereich der industriell höchstentwickelten Länder nach 1945 eine weit weniger explosive Rolle gespielt hat als nach 1918. Sektorale Gewichtsverlagerungen von den eher protektionistischen Grundstoffindustrien zu den exportorientierten, technologisch fortgeschrittenen Branchen haben diese fundamentale politische Differenz mitbedingt46. Um Deutsch' Schlüsselbegriffe aufzunehmen: „Kommunikation" und „Komplementarität" sind weniger ausschließlich als vor 1945 nationale Kategorien. Die wirtschaftspolitische Integration Westeuropas und die „multinationalen Konzerne" sind der sinnfälligste Ausdruck dieses Sachverhaltes. Nationalistische Reaktionen auf den neuen „kapitalistischen Internationalismus" sind zwar nicht ausgeblieben; seinen Vormarsch haben sie aber allenfalls verlangsamen können. Noch unmittelbarere politische Rückwirkungen hat die langanhaltende Hochkonjunktur der zweiten Nachkriegszeit gehabt: In den am stärksten prosperierenden westlichen Gesellschaften, etwa in der Bundesrepublik Deutschland, hat sie dazu geführt, daß sich die Kämpfe um die Verteilung des Sozialprodukts, verglichen mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, erheblich entschärft und entideologisiert haben47. Die Integration der Arbeiter in das gesellschaftliche System der Bundesrepublik hat ihrerseits wesentlich dazu beigetragen, den Mittelschichten jene soziale Abstiegsfurcht zu nehmen, die sie in den Krisenjahren nach 1929 für den Nationalsozialismus anfällig gemacht hatte. Einer neuen nationalistischen Massenbewegung, der der Verlust der Ostgebiete, die Vertreibung der dort lebenden Deutschen und die Teilung Deutschlands durchaus hätte Auftrieb geben können, fehlte damit ein wichtiger Ansatzpunkt. Dazu kam ein politischer Faktor von grundlegender Bedeutung: Die Furcht vor dem Kommunismus, die primär außenpolitisch begründet war, verwies die Westdeutschen auf die Politik der Westintegration und gerade nicht auf nationale Alleingänge. Darin lag der Erfolg der Adenauerschen Politik begründet. Der Erfolg der Brandtschen Ostpolitik setzte ein Nachlassen der äußeren Kommunismusfurcht und das heißt: eine veränderte weltpolitische Konstellation — voraus. Diese Bedingung war zu Beginn der Siebzigerjahre gegeben. Nationalistische Parolen sind immer dann besonders erfolgreich gewesen, wenn sie an tiefsitzende soziale Ängste appellieren konnten. Es war das Fehlen eines solchen Resonanzbodens, das im Jahre 1972 die Kampagne gegen die Ostverträge scheitern ließ. Die verallgemeinernde Schlußfolgerung, die sich aus dem bundesdeutschen Beispiel ableiten läßt, liegt auf der Hand: Ein breiter politischer und sozialer Minimalkonsens innerhalb einer Gesellschaft mindert die Anziehungskraft des Nationalismus. Anders gewendet: Je befriedigender die Lösungen der Partizipations- und der Redistributionsprobleme in den Augen der Mitglieder einer Gesellschaft sind, desto weniger anfällig ist diese Gesellschaft für Nationalismus48. Mit der Feststellung, daß wirtschaftliches Wachstum in der Phase des Massenkonsums das Potential des Nationalismus geschwächt hat, ist freilich die Frage verbunden, ob nicht stark verminderte oder gar negative Wachstumsraten dem Nationalis78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

mus neue Chancen eröffnen würden. Interessenkonflikte zwischen der „nationalen Arbeiterschaft" und dem Subproletariat der Gastarbeiter können in den entwickelten westeuropäischen Industriegesellschaften in der Tat bei jeder Rezession beobachtet werden. Der Ruf nach protektionistischen Maßnahmen zugunsten gefährdeter Industriebranchen pflegt sich in solchen Perioden zu verstärken - und dasselbe ist bei einer länger andauernden Konfrontation zwischen den Rohstoffländern und den rohstoffarmen Industriestaaten Westeuropas zu gewärtigen. Aber an der langfristigen Obsoleszenz des Nationalismus ändert sich dadurch nichts: Die strukturellen Veränderungen seit 1945, zu denen neben der wirtschaftlichen Integration Westeuropas auch die militärischen Verflechtungen zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten gehören, dürften sich als irreversible Weichenstellungen erweisen. Einen einschneidenden Funktionsverlust des Nationalismus konstatieren heißt freilich nicht das Ende nationaler Identität behaupten. Ein Verlöschen dieser Identität wäre auch dann nicht zu erwarten, wenn ein Teil der staatsbürgerlichen Loyalität, die früher dem souveränen Staat entgegengebracht wurde, auf übergeordnete Einheiten wie die westeuropäische Gemeinschaft übertragen würde. Was nicht mehr wiederherstellbar ist, ist jene Exklusivität der Identifikation mit der Nation, wie sie den Nationalismus kennzeichnet. Der Anspruch der Nation auf Loyalität ist, was Europa angeht, relativiert worden. Die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Übersteigerung dieser Loyalität ermöglicht haben, hören in der westlichen Welt allmählich auf, die Gegenwart zu bestimmen. In den Ländern der „Dritten Welt" kann von einem Funktionsverlust des Nationalismus nicht die Rede sein. Vielmehr scheint sich in einer Reihe von Entwicklungsländern ansatz weise jener Funktionswandel des Nationalismus zu vollziehen, der in Europa seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu beobachten war: die Umwandlung einer Befreiungs- in eine Ablenkungsideologie. Rostows These, daß dieser Prozeß erst nach Erlangung der „wirtschaftlichen Reife" einzusetzen pflegt - eine These, die sich schon für Europa als korrekturbedürftig erwiesen hat -, trifft auf Länder der „Dritten Welt" nicht zu. Überhaupt ist es fraglich, ob Theorien des wirtschaftlichen Wachstums, die sich vor alllem an der Einkommensentwicklung orientieren, einem Hauptmerkmal struktureller Unterentwicklung, der doppelten Abhängigkeit von den (westlichen und östlichen) Industriestaaten und den erdölproduzierenden Ländern, gerecht werden können49. Es ist auch nicht anzunehmen, daß die von Stein Rokkan am Beispiel Europas skizzierten typischen ersten beiden Stadien der Nationsbildung, die Durchsetzung von Staatsgewalt überhaupt (penetration) und die Modernisierung der gesellschaftlichen Infrastruktur (standardization) abgeschlossen sein müssen, um einen expansiven Nationalismus hervorzubringen. Vielmehr könnten gerade Widerstände gegen „penetration" und „standardization" Ersatzformen der politischen Integration nahelegen. Wenn das erste Ziel der nationalen Unabhängigkeitsbewegung, die Staatsgründung, erreicht ist, und ein Überdruck innerer Probleme - etwa eine Kumulierung der vier Krisen im Sinne Rokkans - die Disposition für eine aggressive Politik nach außen schafft, liegt eine Nachahmung des Beispiels, das entwickelte Länder in vergleichsweise einfacheren Krisensituationen gegeben haben, im Bereich des Möglichen. 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

In jenen Gesellschaften schließlich, die sich ideologisch auf unterschiedliche Spielarten des Marxismus-Leninismus stützen, hat sich gezeigt, daß auch eine ursprünglich antinationalistische Weltanschauung in ihr Gegenteil umschlagen kann: Der Kommunismus hat nicht nur als Industrialisierungsideologie partiell durchaus ähnliche Funktionen erfüllt wie der bürgerliche Nationalismus in seiner ersten Entwicklungsphase, sondern er hat sich auch als innerstaatliche Integrationsideologie ausdrücklich nationalisiert. Dieser Prozeß ist in der Sowjetunion weiter fortgeschritten als in China, wo der Zielkonflikt zwischen wirtschaftlicher Modernisierung und gesellschaftlicher Utopie erst nach dem Tode Mao Tse-tungs zugunsten der ersteren entschieden worden ist. Die Attraktivität des sowjetischen „Modells" ist durch seine Nationalisierung, die sich auch in einer quasi-imperialistischen Großmachtpolitik äußert, sicherlich gemindert worden. Für Zwecke der inneren Machtbehauptung (und das heißt: für die Rechtfertigung eines fundamentalen Mangels an staatsbürgerlicher Partizipation) spielt die sowjetpatriotische Variante des Nationalismus jedoch eine weitaus größere Rolle, als es der vielbeschworene „proletarische Internationalismus" je vermochte. Die wichtigste Funktion des letzteren ist heute die ideologische Legitimation des Abhängigkeitsverhältnisses, in dem die übrigen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes zur Sowjetunion stehen - oder gehalten werden sollen. Der Nationalismus, ob er sich überwiegend kulturell oder politisch legitimiert und welche sozialen Funktionen er auch erfüllt, weist in einem wesentlichen Merkmal Kontinuität auf: Er bezweckt die Mobilisierung der mit der „Nation" gleichgesetzten Teile der Gesellschaft oder der als „Nation" konzipierten Großgruppe gegen innere und äußere Gegner und beansprucht für die Loyalität gegenüber der „Nation" absoluten Vorrang vor allen anderen Loyalitäten. Insofern ist der Nationalismus stets eine Integrationsideologie. Die Nation aber, in deren Zeichen die Integration erfolgt, ist mehr noch als die Klasse ein Symbol, das sich gegen seine Entschlüsselung wehrt50. Und in womöglich noch stärkerem Maß als der Sozialismus hat sich der Nationalismus als eine Ideologie erwiesen, die zur materiellen Gewalt wird, sobald sie die Massen ergreift. Seine historische Ambivalenz beruht darauf, daß er sowohl dem verbreiteten Bedürfnis entgegenkommt, sich über die eigenen Bedürfnisse zu erheben, wie dem, sich über sie zu täuschen. Beide Funktionen sind, wie die Erfahrung zeigt, letztlich voneinander nicht zu trennen. Das Interesse an Verhältnissen, in denen es keinen Bedarf an Nationalismus mehr gibt, wird mithin durch nichts stärker begründet als durch die Geschichte des Nationalismus selbst.

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II. Z w i s c h e n P a n i k u n d D e r politische W e g des

Prosperität: gewerblichen

Mittelstandes v o m Kaiserreich zur

Bundesrepublik

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6. D e r r ü c k v e r s i c h e r t e M i t t e l s t a n d : Die Interessenverbände von H a n d w e r k und Kleinhandel im d e u t s c h e n Kaiserreich

I. Soziologen, Ökonomen und Historiker haben seit langem ihre Aufmerksamkeit einer Form des sozialen Wandels zugewandt, die ihnen für das Deutschland des Bismarckreiches charakteristisch erschien und die vielfach als „Feudalisierung" des gehobenen Bürgertums beschrieben worden ist. Gemeint ist die forcierte gesellschaftliche Angleichung bürgerlicher Schichten an die traditionellen Führungsgruppen, die sich im Gefolge der militärischen Einigung Deutschlands durch Preußen, Bismarcks „Revolution von oben", vollzogen hat. In diesen Zusammenhang werden Erscheinungen gerückt, die zum Teil aus der vorindustriellen Zeit herrühren, im Kaiserreich aber verstärkenden Auftrieb erfuhren: die Militarisierung von Teilen der Bildungsschicht, die im Königlich Preußischen Reserveoffizier ihren bezeichnenden Ausdruck fand; die Übernahme eines ursprünglich adligen Ehrenkodex durch bürgerliche Akademiker; die Verbreitung des Titelwesens als einer Art von Ersatzadel in den Schichten von Besitz und Bildung; das Streben nach und die Vergabe von Adelsprädikaten; die Imitation seigneuraler Lebensformen durch Vertreter der bürgerlichen Geldaristokratie; die standesmäßige Absonderung der höheren Beamten und der Richter von der übrigen Gesellschaft1. Die Assimilation an Werthaltungen und Lebensformen der feudal-bürokratischen Führungsschicht, wie sie für die Kerngruppen des gehobenen Bürgertums in der Zeit des Kaiserreiches charakteristisch ist, kann in der Tat als „Feudalisierung" bezeichnet werden. Zu fragen ist indes, ob nicht auch in einem umfassenderen Zusammenhang von einer Restauration vorindustrieller Normen und Institutionen gesprochen werden kann. Die bisher erörterten Erscheinungsformen der „Feudalisierung" betreffen ausschließlich Besitz und Bildung. Beziehen wir die kleinbürgerlichen Schichten des Handwerks und Detailhandels in die Betrachtung ein, so kommen wir zu vergleichbaren Resultaten. Wir müssen an dieser Stelle darauf verzichten, der Forderung vor allem breiter Kreise des Handwerks nach der Wiederherstellung des Zunftwesens durch die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzugehen: Diese Forderung war so alt wie die Bemühungen des Staates um die Beseitigung der Zünfte. Wir setzen mit unserer Betrachtung vielmehr beim Ausbruch jener mit dem Börsenkrach von 1873 beginnenden Krisenperiode ein, die dem Wirtschaftsliberalismus der 1860er und frühen 1870er Jahre ein rigoroses Ende bereitete. Die neuere Forschung hat mit Recht den einschneidenden Charakter der sogenannten „Großen Depression" der Jahre 1873 bis 1896, einer Zeit außergewöhnlicher 83 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Geldverknappung und häufiger Konjunkturkrisen, herausgearbeitet: In diesen Jahren kristallisierten sich unter dem Eindruck rückläufiger Dividenden und bescheidener Aktienrenditen Mentalitäten heraus, die das 19. Jahrhundert überdauern sollten. Aus einem vorwiegend pessimistisch gestimmten Wirtschaftsgeist erwuchs gerade bei den sich zum Bürgertum rechnenden sozialen Gruppen eine Bewegung massenhafter Unzufriedenheit, gesteigerter ideologischer Dynamik und politischer Aggressivität2. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß die Abwendung vom Wirtschaftsliberalismus sich nicht auf den Außenhandel beschränkte, sondern auch auf den innerstaatlichen Bereich übergriff. Starke parlamentarische Kräfte - die Konservativen, das Zentrum und in begrenztem Umfang später auch die Nationalliberalen drängten auf eine Erfüllung von Wünschen, die ihnen in zahlreichen Petitionen aus den Kreisen des gewerblichen Mittelstandes vorgetragen wurden: Wünschen, die insgesamt auf eine radikale Revision der liberalen Gewerbeordnung von 1869 zielten. Da die Exekutive diesem Verlangen entgegenkam, konnten sich die sozialprotektionistischen Bestrebungen weithin durchsetzen. Durch eine Reihe von Novellen zur Gewerbeordnung wurden die Innungen restauriert und im Handwerkergesetz von 1897 schließlich neben öffentlich-rechtlichen Handwerkskammern auch „fakultative Zwangsinnungen" eingeführt: Stimmte die Mehrheit der Selbständigen eines bestimmten Handwerkszweiges zu, so wurde die Zugehörigkeit zur Innung obligatorisch. Ebenso konnte der Detailhandel scheinbare Erfolge verbuchen: Die Konkurrenz von Wandergewerbe und Konsumgenossenschaften wurde eingeschränkt; den Warenhäusern wurden von den wichtigsten Einzelstaaten Prohibitivsteuern auferlegt, um ihnen ihre Preisunterbietungen zu erschweren. Scheinbar waren diese „Erfolge", weil sie die wirtschaftlichen Probleme des gewerblichen Mittelstandes nicht lösten, ja zum Teil - wie die Warenhaussteuern - für die mittelständischen Lieferanten nachteilige Effekte hatten.

II. Die Mittelstandspolitik des Kaiserreiches war das Ergebnis des massiven Drucks von Interessenverbänden, denen neben dem direkten Appell an die Exekutive auch politische Parteien als Transmissionsriemen zur Verfügung standen. Ehe wir aber die gesellschaftspolitischen Motive und Auswirkungen dieser Politik einer kritischen Würdigung unterziehen, haben wir uns mit den Organisationen von Handwerk und Detailhandel und ihren Beiträgen zur Ausbildung einer Mittelstandsideologie zu befassen. Die Anfänge relativ dauerhafter, glaubhaft legitimierter und nach außen geschlossen auftretender Interessenverbände aus dem Bereich des gewerblichen Mittelstandes fallen in jene Zeit, die als die erste Hochzeit massenhafter wirtschaftspolitischer Verbandsbildung in Deutschland überhaupt angesprochen werden kann: die Periode des Übergangs vom Freihandel zum Schutzzoll im ersten Jahrzehnt des Bismarckreiches. Das Gefühl der materiellen Bedrohung durch den modernen Kapitalismus, das schon durch die gesetzliche Einführung der vollen Gewerbefreiheit bei breiten Schichten in 84 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Handwerk und Kleinhandel neue Nahrung erhalten hatte, wurde in der 1873 beginnenden Konjunkturperiode epidemisch. So unterschiedliche Interessen und Zielsetzungen die in den Folgejahren sich bildenden mittelständischen Verbände auch vertraten, in einer Forderung stimmten sie überein: Der Staat hatte die Pflicht, den gewerblichen Mittelstand insgesamt vor standesfremder Konkurrenz zu schützen und seinen einzelnen Gruppen die Möglichkeit zur brancheninternen Wettbewerbsbeschränkung zu geben. Der erste erfolgreiche Versuch, dem deutschen Handwerk zu einer wirksamen Interessenvertretung zu verhelfen, ist die Gründung des „Vereins selbständiger Handwerker und Fabrikanten" im Jahre 1873 zu Leipzig. Freie Innungen und Innungsverbände, Genossenschaften und Gewerbevereine unterstützten die neue Vereinigung beim Aufbau von Kreis- und Provinzialverbänden und förderten ihr Programm: Einführung von Gewerbe- oder Handwerkerkammern, gewerblichen Schiedsgerichten, obligatorischen Fortbildungsschulen und fachgewerblichen Korporationen; mittelstandsfreundliche Reformen auf dem Gebiet der Gefängnisarbeit, der Wanderlager, der Warenauktionen und des Hausierhandels. Die zünftlerische Tendenz, die schon in diesem Programm erkennbar war, verstärkte sich in der Folgezeit immer mehr und kam 1882 auf der von etwa 100 000 Handwerkern besuchten „Allgemeinen Deutschen Handwerkerversammlung" in Magdeburg zum vollen Durchbruch. Mit großer Mehrheit verlangten die dort versammelten Handwerker die Zwangsinnung und den Großen Befähigungsnachweis, der die Ausübung eines Handwerksberufs an die Meisterprüfung bindet. Auf demselben Kongreß vurde der „Allgemeine Deutsche Handwerkerbund" gegründet, in dem der ältere Verband aufging und der nun die Spitzenvertretung des freiorganisierten Handwerks bildete. Zwei Jahre später trat ihm, als Frucht der jüngsten Handwerksnovelle, der Zentralausschuß vereinigter Innungsverbände Deutschlands zur Seite. Im Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Charakter der in ihm repräsentierten Innungen suchte dieser Ausschuß zunächst offene Kontroversen mit den Regierungsinstanzen zu vermeiden und vertrat darum bis zu der Auseinandersetzung um die Novelle von 1897 - die Forderungen nach Zwangsinnung und Großem Befähigungsnachweis zurückhaltender als der freie Verband. Seine Bedeutung ging jedoch stark zurück, als 1900 mit dem Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag eine Dachorganisation für die neugeschaffenen Handwerkskammern gegründet wurde3. Bei weitem diffuser stellt sich die interessenpolitische Organisation des mittelständischen Einzelhandels dar. Anlaß zur Verbandsbildung gab auch hier ein Gefühl der Bedrohtheit durch großkapitalistische Handelsformen, das während der „Großen Depression" weite Verbreitung gefunden hatte. Seit Ende der 70er Jahre bildeten sich in fast allen größeren deutschen Städten örtliche Zusammenschlüsse von Kleinhändlern, die es sich zum Ziel setzten, einen wirksamen „Schutz des gewerblichen Mittelstandes und Detailhandels vor allem gegen die großkapitalistischen Zentralisationsbestrebungen durch Konsumvereine, Beamtenvereine und deren unberechtigte Steuerprivilegien, sowie gegen Warenhauskonzerne" zu erreichen. Im Jahre 1878 erfolgte in Berlin die Gründung eines überregionalen Verbandes: Auf Initiative des Vereins Berliner Kaufleute wurde ein „Zentralverband der Kaufleute Deutschlands" gebildet, 85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der sich jedoch keinen festen organisatorischen Unterbau zu geben vermochte und bereits zu Beginn der 80er Jahre wieder auflöste. Erfolgreicher war der „Deutsche Zentralverband für Handel und Gewerbe", der aus dem 1888 in Leipzig gegründeten „Zentralvorstand kaufmännischer Verbände und Vereine Deutschlands" erwuchs und nach der Fusion mit anderen Vereinigungen zu einer der größten und aktivsten Detailhandelsorganisationen wurde. Zusammen mit einigen regionalen Verbänden bildete er 1908 eine lose „Interessengemeinschaft großer deutscher Detaillistenverbände", die sich freilich nur selten zu einer einheitlichen Willensbildung durchringen konnte4. Gingen diese Schutzverbände, typische Produkte der Depressionsphase, vom Primat der Staatshilfe für den kaufmännischen Mittelstand aus, so stellten die nach der Jahrhundertwende sich ausbreitenden Einkaufsgenossenschaften des Lebensmitteleinzelhandels das Prinzip der Selbsthilfe in den Mittelpunkt ihrer Aktivität5. Ihre Verbandsorganisation schwächte die traditionellen Schutzverbände ebenso wie der 1902 in Hannover gegründete „Verband Deutscher Rabattsparvereine" (später: „Verband der Handelsschutzvereine Deutschlands, Vertretung für Handel und Gewerbe"), der sich sowohl zur Selbst- als auch zur Staatshilfe bekannte und damit in direkte Konkurrenz zum „Zentralverband" trat. Eine andere Richtung mittelständischer Interessenpolitik verkörperten die Fachverbände des Einzelhandels, die vor allem in der Konjunkturperiode nach 1896 die Bedeutung der Schutzverbände stark zu vermindern begannen: In ihrem Auftreten weniger agitatorisch als die Sammelvereinigungen, suchten sie die berufsspezifischen Belange der von ihnen vertretenen Branchengenossen gegenüber Parlament, Regierung und Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Insgesamt lassen sich somit zunächst zwei Haupttypen von Interessenverbänden im handwerklichen und kaufmännischen Mittelstand unterscheiden: Die quasi-ständischen Gesamtverbände des Handwerks und des Einzelhandels und die branchenspezifischen Fachverbände. Im Handwerk sind dem ersten Typ der Deutsche Handwerks- und Gewerbekammertag, der Zentralausschuß Vereinigter Innungsverbände und die freien Handwerkerbünde zuzurechnen, während die Zusammenschlüsse jeweils derselben Fachinnungen auf regionaler und Reichsebene dem zweiten Typ zuzuordnen sind. Infolge des öffentlich-rechtlichen Charakters der Innungen und der Innungsverbände spielten freie Fachverbände im Handwerk eine sehr viel geringere Rolle als im Einzelhandel. Keine reinen Handwerksorganisationen waren die „Gewerbevereine", die auch Kaufleute und Industrielle umfaßten. Sie hatten ihren regionalen Schwerpunkt vor allem in Süddeutschland, wo sie - anders als etwa in Preußen von den Regierungen stark gefördert wurden und die Ausbreitung des Innungswesens zeitweilig aufhielten. Wirtschaftspolitisch liberaler als die zünftlerisch eingestellten reinen Handwerkerverbände, fallen die Gewerbevereine und ihre Dachorganisation, der 1891 gegründete „Verband Deutscher Gewerbevereine", aus dem mittelständischen Verbandsschema ebenso heraus wie der gleichfalls „zwischenständische", noch ausführlicher zu erörternde Hansa-Bund. Die Gewerbevereine verloren freilich mit der allmählichen Ausbreitung des Innungswesens an Bedeutung und überließen nach 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

1900 auf Reichsebene dem „Deutschen Handwerks-und Gewerbekammertag" weitgehend die Funktion der handwerklichen Gesamtrepräsentation6. Im Einzelhandel ist die Zuordnung der Schutzverbände zum Typ der quasi-ständischen Gesamtverbände ebenso eindeutig wie die der Branchenvereinigungen zum Typ der Fachverbände. Dem rationaleren Organisationsprinzip der Fachverbände stehen als SpezialVereinigungen auch die Einkaufsgenossenschaften nahe. Die Rabattsparvereine dagegen beanspruchten nicht nur, eine „Vertretung für Handel und Gewerbe" zu sein, sondern neigten auch in ihrem Protektionismus eher dem ideologisch aggressiven Verhalten der Schutzverbände zu. Das Bedürfnis nach integralen Interessenverbänden des gewerblichen Mittelstandes - dem dritten, noch näher zu erörternden „pseudoständischen" Verbandstyp scheint bei den Einzelhandelsverbänden noch stärker entwickelt gewesen zu sein als bei den offiziellen Handwerksorganisationen. Der Grund dieser Differenz liegt darin, daß das Handwerk als relativ geschlossene und traditionsbewußte Gruppe immer noch leichter organisierbar war als der aus heterogenen Elementen zusammengesetzte Einzelhandel und in seinen öffentlich-rechtlichen Institutionen, den Innungen und Kammern, wirksame Instrumente standespolitischer Interessenvertretung besaß. Sein Bedarf an übergreifenden Mittelstandsorganisationen war darum notwendigerweise geringer als der des Einzelhandels, dessen einzige öffentlich-rechtliche Vertretung die für Industrie und Handel insgesamt zuständigen Handelskammern waren. Gemeinsame Interessen und ideologische Übereinstimmung freilich gab es bei den beiden Hauptgruppen des gewerblichen Mittelstandes durchaus. Die bemerkenswerte Kontinuität dieser Faktoren verlangt es, ihrer Entwicklung nachzugehen.

III. Wenn Ideologie den Entwurf einer rationalen und umfassenden Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse meint, die jeder Einzelerscheinung einen bestimmten Ort in einem gedachten oder tatsächlichen Gesamtzusammenhang zuweist, wäre eine „Mittelstandsideologie" ein Widerspruch in sich selbst. Eine Ideologiebildung großen Stils ist offenbar nur möglich, solange sich eine Klasse im Vorgriff auf die Zukunft mit der Gesamtgesellschaft bona fide identifizieren kann. Für das Bürgertum traf dies zu, als es der Vorkämpfer gegen überkommene ständische Privilegien und insoweit in der Tat der „allgemeine Stand" war. Der gewerbliche Mittelstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war per definitionem kein allgemeiner Stand, sondern eine Schicht zwischen den Fronten. Er sah sich nicht als aufsteigende Klasse, sondern als eine vom Großkapital und Proletariat bedrohte Minderheit. Er glaubte sich zum Untergang verurteilt, wenn nicht der Staat seine Existenz vor den ihn bedrängenden gesellschaftlichen Kräften sicherte. Diesen Anspruch stützte der gewerbliche Mittelstand auf die Überzeugung, daß er in toto eine gesellschaftliche Notwendigkeit sei. Die Begründungen, die seine Sprecher dafür vorbrachten, waren seine Ideologie: die Rechtfertigung eines besonderen als eines zugleich allgemeinen Interesses. Die Ansätze zur Überhöhung konkreter handwerklicher Einzelforderungen wie 87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der nach dem Befähigungsnachweis und der Zwangsinnung sind mit diesen Postulaten zugleich entstanden. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts identifizierten die Handwerker und ihre konservativen Verbündeten die Gewerbefreiheit mit einem allgemeinen Sittenverfall, während sie umgekehrt das Zunftwesen als Mittel zur Erhaltung der wirtschaftlichen Moral feierten. Einen systematischen Ausdruck erhielten die Bemühungen um eine eigene Handwerksideologie freilich erst im 20. Jahrhundert, als die berufsständischen Bestrebungen der Zwischenkriegszeit eine Möglichkeit zur Objektivierung gruppenspezifischer Belange zu bieten schienen. Der kleine Einzelhandel, der sich später als das Handwerk im Zeichen eines massiven Protektionismus organisierte, erhob nichtsdestoweniger schon frühzeitig und dezidierter als das Handwerk den Anspruch auf ein allgemeines gesellschaftspolitisches Mandat. Der Zentralverband der Kaufleute Deutschlands verband bereits 1878 seine eigenen Interessen geschickt mit verbreiteten Ressentiments, wenn er die Delegierten des Gründungskongresses zu Zeugen dafür aufrief, „wie die traurige Saat des Sozialismus die Verschiedenheit der Stände und Berufsklassen mehr und mehr zu überwuchern droht, daß dank der jetzt gültigen Zeitströmung und des Freizügigkeitsgesetzes, daß dank der Protektion, welche Konsum- und Beamten- und Hausfrauenvereine genießen, der Kleinhandel allmählich immer mehr in andere unberechtigte Hände übergeht"7. In dem Maß, wie die Großindustrie selbst unter der Konjunktur zu leiden hatte und darum dem Wirtschaftsliberalismus abschwor, richteten sich seit den 70er Jahren die Angriffe der Mittelständler vorzugsweise gegen das mobile Kapital oder, wie man es damals zu nennen begann, die „Goldene Internationale". Da das Bankkapital als der Hauptschuldige für die Wirtschaftskrise allgemein und die Bedrängnisse der Mittelschichten im besonderen galt, waren Handwerk und Kleinhandel für die in diese Richtung zielenden Attacken der konservativen „Steuer- und Wirtschaftsreformer" und der antisemitischen Agitation besonders anfällig8. Vor allem die Antisemiten betrieben mit Erfolg eine Gleichsetzung von Liberalismus, Finanzkapital und Judentum und führten die Gravamina der Gruppen mit mittelständischer Selbsteinschätzung auf eine letzte Ursache zurück: „Die sociale Frage ist wesentlich Judenfrage."9 Die Ressentiments der Handwerker und Kleinhändler, der kleinen Landwirte, unteren Beamten und kaufmännischen Gehilfen fanden in solchen Parolen einen gemeinsamen Nenner: Der Antisemitismus der Depressionszeit war der erste Versuch einer mittelständischen Integrationsideologie. Beim selbständigen Mittelstand und bei den Bauern erwies sich vor allem die Reduktion von „Wucherzinsen", Hausierhandel und großkapitalistischen Handelsformen wie Warenhäusern auf jüdische Machenschaften als wirksam. Das Judentum galt weiten Teilen dieser Schichten fortan als extremes Manchestertum und der politische Liberalismus als sein verlängerter Arm. Parteien, die sich - wie die Antisemiten, die Konservativen und zeitweilig auch das Zentrum diese Auffassung zu eigen machten, konnten um so mehr auf Zulauf aus Handwerkerund Kleinhändlerkreisen rechnen, als sie auch die protektionistischen Forderungen dieser Gruppen übernahmen. Für die Konservativen, die sich unter den Vorzeichen des allgemeinen Reichstagswahlrechts auf die Notwendigkeit verwiesen sahen, eine Massenbasis zu finden, erwuchsen aus der Unterstützung auch der extremsten Mittelstandsforderungen weder 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Interessen- noch ideologische Konflikte. Sie konnten bei Handwerk und Kleinhandel nicht nur mit beträchtlichem Erfolg um zusätzliche Stimmen werben, sondern auch auf eine tatsächliche Übereinstimmung der Interessen bauen: Großgrundbesitz und Kleingewerbe waren gleichermaßen Gegner einer fortschreitenden Industrialisierung, die ihren jeweiligen Einflußbereich gefährden mußte. Aus demselben Grund waren beide an der Aufrechterhaltung einer politischen Ordnung interessiert, die eine optimale Garantie gegen soziale Erschütterungen bot. Wenn die Konservativen den Mittelstand an jene Parteien zu binden suchten, die ,,die überkommene gesellschaftliche Staffelung erhalten wollen", wurde ihr eigenes Motiv auch in der ideologischen Verbrämung klar: „Reich und Monarchie stürzen zusammen, sobald es nur noch eine unbekümmerte Plutokratie und ein haßerfülltes Proletariat gibt, sobald der als Puffer und Ausgleicher dienende Mittelstand verschwunden ist". Über den von preußischen Großgrundbesitzern im Jahre 1893 gegründeten „Bund der Landwirte" nahm der Agrarkonservativismus tätigen Anteil sowohl an der Verbreitung einer traditionalistischen Mittelstandsideologie wie auch an der oganisatorischen Zusammenfassung der verschiedenen Gruppen des gewerblichen Mittelstandes10. Versuche, Handwerk und Kleinhandel zu einer geschlossenen Front zu vereinigen, hat es bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegeben. Soweit sie Parteiform annahmen wie die um 1895 in Halle gegründete „Mittelstandspartei", blieben sie erfolglos. Ebensowenig war den Bemühungen Dauer beschieden, nicht nur den gewerblichen Mittelstand, sondern auch Hausbesitzer, freie Berufe, Privatbeamte und Angestellte in einer Organisation zu vereinigen. Dieses Experiment unternahm erstmals 1903 die auf Initiative vor allem von Handwerkern und Detailhändlern gegründete „Mittelstandsvereinigung Hannover", aus der im folgenden Jahr die „Deutsche Mittelstandsvereinigung" erwuchs. Sie versuchte, die „Berufs- und Standesinteressen des deutschen Mittelstandes, vornehmlich bei den politischen und Gemeindewahlen, sei es innerhalb der bestehenden Parteien, sei es erforderlichenfalls neben diesen" wahrzunehmen. Sie zersplitterte jedoch bereits nach wenigen Jahren wegen der sozialen Heterogenität ihrer Mitgliedschaft und der zeitweiligen Annäherung an die konservative Partei, wogegen sich vor allem der zentrumsorientierte rheinisch-westfälische Landesverband wandte. Vergleichsweise erfolgreicher war eine andere Gründung, die unter erheblicher Mitwirkung des Bundes der Landwirte stattfand. Sie war weitgehend eine Reaktion auf den Versuch des 1909 gegründeten „Hansa-Bundes für Gewerbe, Handel und Industrie", die weitverbreitete Empörung über die Steuerpläne der Konservativen zur Sammlung von Industrie, Handel, mittelständischem Gewerbe und Angestellten im Zeichen einer antiagrarischen Sammlungsbewegung zu nutzen. Zur Speerspitze der konservativen Richtung innerhalb der Mittelstandsbewegung wurde die von dem prominenten Antisemiten Theodor Fritsch geführte „Mittelstandsvereinigung im Königreich Sachsen", die aus Protest gegen den Beitritt der Deutschen Mittelstandsvereinigung zum Hansa-Bund diese verließ und seitdem die Bildung eines neuen Verbandes betrieb. Ihre ideologische Ausrichtung entsprach ganz den konservativen Intentionen: Der Mittelstand bilde, so formulierte es einer ihrer Sprecher, „den Puffer zwischen der goldenen und der roten Internationale; wehe dem Staate, in dem dieser 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Puffer fehlt"11. Bei den Vorbereitungen zur Gründung eines „Reichsdeutschen Mittelstandsverbandes" als konservativer Konkurrenz zum Hansa-Bund erhielt die sächsische Mittelstandsvereinigung tatkräftige Unterstützung von Gustav Ruhland, einem der Ideologen des Bundes der Landwirte, und anderen Mitgliedern dieser Vereinigung. Die Interessengruppe, die im Reichsdeutschen Mittelstandsverband von Anfang an dominierte, war wiederum der Detailhandel mit seinen zahlreichen Verbänden. Korporativ traten ihm jedoch auch zahlreiche lokale Handwerkerverbände, Innungen, Hausbesitzervereine und Interessengruppen mit gemischter Zusammensetzung bei. Obgleich der Verband „Berufs- und Standesinteressen des gewerblichen Mittelstandes unter Ausschluß parteipolitischer Bestrebungen" zu vertreten vorgab, machte eine Einschränkung seines Programms den fiktiven Charakter dieser Überparteilichkeit deutlich: „Aufklärungen" über parlamentarische Verhandlungen, über Gesetzesvorlagen wirtschaftlicher Natur und über die Stellung der einzelnen Parteien dazu sollten nicht als parteipolitische Bestrebungen gelten. Als Feinde des Mittelstandes wurden auf dem Gründungskongreß am 24. September 1911 in Dresden wiederum die „goldene" und die „rote Internationale" bezeichnet, wobei die letztere jedoch als die bei weitem größere Gefahr geschildert wurde. „In einem muß (sic!) Großindustrie und Gewerbe unter allen Umständen zusammenstehen: In der Zurückweisung und Niederwerfung terroristischer Anmaßungen der Sozialdemokratie gegenüber." Der Mittelstand selbst wurde gefeiert als „des Volkes Rückgrat, auch im staatserhaltenden Sinne" und der Staat aufgefordert, „seinen Mittelstand deshalb zu schützen, denn im Mittelstand ist ein tüchtiger Kern königstreuer, vaterländischer Gesinnung enthalten, der als kräftiges Bollwerk allen Umsturzbewegungen sich entgegenstellt"12. Um sich die Dankbarkeit dieser wertvollen Schicht zu sichern, sollte der Staat den Zwangsinnungen das Preisfestsetzungsrecht zubilligen, gegen Warenhäuser, Konsumgenossenschaften und Beamtenwirtschaftsvereine, das Wandergewerbe, den heimlichen Warenhandel, das Sonderrabatt- und das Zugabewesen vorgehen, strafgesetzliche Regelungen gegen den „Boykott" einzelner Gewerbetreibender durch Arbeiterorganisationen vorbereiten und schließlich der „krankmachenden Sozialpolitik" abschwören. Nachdem sich der Reichsdeutsche Mittelstandsverband schon auf seinem Gründungskongreß so eindeutig als konservativer Kampfbund vorgestellt hatte, war es nicht verwunderlich, daß er die Sammlungsparole des Bundes der Landwirte aufgriff und sich in eine Front der antiliberalen und antisozialdemokratischen Kräfte einzureihen bereit war. Um die „immer höher steigende rote Flut" einzudämmen, arbeitete er - wie er am 19. Februar 1912 dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg mitteilte „in Gemeinschaft mit einem maßgebenden Industrieverbande an der Herbeiführung einer Interessengemeinschaft aller selbständigen produktiven Stände". Das Resultat dieser Bemühungen um eine „Sammlung aller staatserhaltenden Elemente" war jenes „Kartell der schaffenden Stände", das von seinen Gegnern alsbald in „Kartell der raffenden Hände" umgetauft wurde. Es wurde auf dem Dritten Reichsdeutschen Mittelstandstag in Leipzig im Jahre 1913 gebildet und umfaßte neben dem Reichsdeutschen Mittelstandsverband den Bund der Landwirte und den Centralverband Deutscher In90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

dustrieller. Seine Forderungen gipfelten in dem Ruf nach ,,Aufrechterhaltung der Autorität in allen wirtschaftlichen Betrieben", „Schutz der nationalen Arbeit, Sicherung angemessener Preise und Schutz der Arbeitswilligen" sowie der „Bekämpfung der Sozialdemokratie und sozialistischer Irrlehren"13. Seiner sozialen Struktur nach bildete das Kartell eine Koalition von schwerindustriellen Gruppen, Großgrundbesitz und Teilen des gewerblichen Mittelstandes. Es war eine Zusammenfassung jener Kräfte der deutschen Gesellschaft, die sich durch den freien Wettbewerb im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich besonders bedroht fühlten und darum an einem starken autoritären Staat als Stütze der bestehenden sozialen Ordnung interessiert waren. Die praktische Bedeutung des „Kartells der schaffenden Stände" war indes sehr gering: Der Widerstand der Textilindustriellen im Centralverband gegen einen Pakt mit den Großagrariern zwang die Verbandsführung, das Leipziger Bündnis nachträglich auf die Ebene bloßer Deklaration herunterzuspielen. Soweit die verhinderten Kartellpartner bei Kundgebungen allgemeinpolitischer Art später noch zusammen auftraten, taten sie es in breiterer Front - so etwa bei der Eingabe großer Wirtschaftsverbände vom 20. Mai 1915, in der sich neben dem Centralverband Deutscher Industrieller, dem Bund der Industriellen, dem Bund der Landwirte und anderen Agrariervereinigungen auch der Reichsdeutsche Mittelstandsverband für ein expansives militärisches Eroberungsprogramm aussprach14. Aber nicht nur das „Kartell der schaffenden Stände" scheiterte an inneren Interessengegensätzen. Auch der Reichsdeutsche Mittelstandsverband war in sich so heterogen und sein repräsentativer Charakter so zweifelhaft, daß die in dieser losen Dachorganisation vereinigten Gruppen des Einzelhandels, des Handwerks und des Hausbesitzes ihre spezifischen Interessen ebenfalls über ihre besonderen Organisationen durchzusetzen versuchten. Der Dachverband selbst trat vor allem als Veranstalter von drei „Reichsdeutschen Mittelstandstagen" in Erscheinung, beschränkte sich also im wesentlichen auf deklamatorische Akte. Im Hinblick auf diesen Tatbestand und die daraus resultierende Wirkungslosigkeit scheint es erlaubt, den Reichsdeutschen Mittelstandsverband und andere integrale Mittelstandsvereinigungen als „pseudoständischen" Verbandstyp anzusprechen: Die Übereinstimmung der in ihnen vertretenen Gruppen beruhte nicht wie beim Handwerk auf einer einheitlichen berufsständischen Tradition, sondern auf einer Reihe von Abwehrinteressen gegenüber der modernen Gesellschaft und auf der ideologischen Rechtfertigung dieser Forderungen. Die Bildung integraler Mittelstandsverbände, die die gemeinsamen Interessen von Handwerk, Detailhandel und Hausbesitz zu vertreten beanspruchten, fällt in die Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs nach 1896. Waren während der „Großen Depression" die Antisemitenparteien nach Programm und Anhängerschaft mittelständische Sammelbewegungen gewesen, so verlor im Zeichen der wirtschaftlichen Erholung der extrem emotionale Parteiantisemitismus allmählich an Resonanz15. Für die Wahrnehmung mittelständischer Belange gegenüber Regierungen und Parlamenten erschien es nun erfolgversprechender, auf diskreditierte Parolen tunlichst zu verzichten, sich auf der Basis ökonomischer Interessen zu organisieren und mit gesellschaftsfähigen politischen Kräften zu verbünden. Selbst engagierte Antisemiten wie Theodor Fritsch verzichteten bei offiziellen Anlässen wie dem Gründungskongreß des „Reichsdeut91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

schen Mittelstandsverbandes" auf antisemitische Äußerungen. Am stärksten hielten sich antisemitische Ressentiments beim mittelständischen Einzelhandel. Nicht wenige seiner Sprecher sahen vor allem in den Warenhäusern weiterhin eine spezifisch jüdische Konkurrenz am Werk und meinten darum gegen die „zersetzende Wühlarbeit eines undeutschen Volkes sowie die dadurch bedingten, alle Lebensgebiete treffenden schweren Schädigungen" protestieren zu müssen16. Die Mittelstandsbewegung bot im letzten Jahrfünft vor dem Ersten Weltkrieg ein uneinheitliches Bild. Ihren rechten Flügel verkörperte vor allem der Reichsdeutsche Mittelstandsverband, der politisch eindeutig zum konservativen Lager gehörte. Da er sich zum Ideal einer Gesellschaftsordnung bekannte, „in welcher alle Stände in Eintracht und Harmonie die gemeinsamen Aufgaben erfüllen und jedermanns Existenz gesichert ist"17, fühlte er sich auf der anderen Seite verpflichtet, ein hartes Durchgreifen gegen alle jene zu fordern, die den so verstandenen sozialen Frieden störten. Dazu gehörten nach Meinung der Kreise um den Reichsverband nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch die „verblendeten Mandatsträger der äußersten bürgerlichen Linken", von denen man mutmaßte, sie würden „trotz aller böser Erfahrungen auch in Zukunft der Sozialdemokratie bei der Demokratisierung unserer öffentlichen Einrichtungen behilflich sein und so ein Bollwerk des Bürgertums nach dem anderen der Partei des gewaltsamen Umsturzes leichtfertig ausliefern"18. Wiewohl der Reichsverband den Vorrang des „Gemeinschaftsgedankens" vor der „Selbstsucht" proklamierte19, glaubte er doch massiver staatlicher Hilfe nicht entraten zu können. Einen Widerspruch freilich zwischen einem protektionistischen Programm für das Kleingewerbe und dem Bekenntnis zum Primat des Gemeinwohls brauchte man dann nicht zuzugeben, wenn man „egoistische Rücksichtslosigkeit" mit dem „Moloch des Kapitals" identifizierte20 und einen „gesunden Mittelstand" als die wichtigste Kampftruppe gegen diejenigen ansah, „die die Arbeit gegen den Besitz auszuspielen" versuchten21. Als „linken" Flügel der Mittelstandsbewegung kann man jene Gruppen aus Handwerk und Kleinhandel ansprechen, die sich um den Hansa-Bund sammelten. Als Verband, der die gemeinsamen Interessen von Handel, Industrie und Gewerbe zu vertreten strebte, betonte er den Primat der Selbsthilfe und übernahm von den Mittelstandsforderungen vornehmlich solche, die gleichzeitig von der Gesamtunternehmerschaft gebilligt werden konnten. Es waren dies die Ausschaltung der Konkurrenz staatlicher und kommunaler Betriebe, eine Reform des Submissionswesens, die Beschränkung der Gefängnisarbeit und selbst Maßnahmen gegen Beamten- und Konsumvereine. Einer so zentralen Handwerksforderung wie der nach dem Preisfestsetzungsrecht der Zwangsinnungen schloß sich der Hansa-Bund jedoch nicht an, von der Ablehnung der Sondersteuern gegen die Warenhäuser und strafgesetzlichen Sanktionen gegen Boykottaktionen ganz zu schweigen. Obschon die Deutsche Mittelstandsvereinigung, die dem Hansa-Bund 1909 aus Protest gegen die Steuerpläne des Bundes der Landwirte beigetreten war, seit 1911 wieder mehr auf ihre frühere protektionistische Linie einschwenkte, blieben doch zahlreiche moderner eingestellte Handwerker und Detailhändler weiter in dem liberalen Verband22. Nicht nur im Bereich der Großwirtschaft also, wo liberale Exponenten aufstreben92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der Branchen der Fertigungsindustrie gegenüber der weiter rechts stehenden Schwerindustrie zunehmend an Einfluß gewonnen hatten, sondern auch im gewerblichen Mittelstand zeigten sich seit dem Ende der „Großen Depression" deutliche Differenzierungen23. Im Vergleich zum ausgehenden 19. Jahrhundert artikulierte sich, wie der Einbruch des Hansa-Bundes in mittelständische Schichten beweist, nach 1900 das liberale Element wieder stärker. Soweit der politische Liberalismus seinen Stimmenbestand stabilisieren konnte, geschah dies freilich nicht zuletzt auf Grund von Konzessionen an den Sozialprotektionismus. Innerhalb des Einzelhandels gewannen die im ganzen sachlich argumentierenden Fachverbände auf Kosten der konservativen Schutzverbände an Boden. Beim Handwerk bemühte sich der Deutsche Handwerksund Gewerbekammertag unter der Führung wissenschaftlich ausgebildeter Funktionäre nicht ohne Erfolg um eine gewisse Rationalisierung des traditionalistischen Handwerkerprogramms. Freilich mußte offenbleiben, ob die immer noch verbreitete protektionistische Stimmung bei Handwerkern und Einzelhändlern in neuen Krisensituationen nicht solche Versuche rasch desavouieren würde. Die Verstärkung der rationaleren Tendenzen im Kleingewerbe, die sich nach der Jahrhundertwende abzeichnete, änderte auch nichts an der - in einem weiteren Sinn konservativen Grundhaltung des gewerblichen Mittelstandes. Daß der Mittelstand eine ausgleichende Funktion zwischen Arbeit und Kapital ausübe, daß er eine besonders staatserhaltende Kraft sei und darum Förderung verdiene - das wurde dieser Schicht mit unterschiedlichen Formeln von fast allen bürgerlichen Parteien bescheinigt. Diese Parolen entsprachen ganz der mittelständischen Selbsteinschätzung. „Durch seine Schwächung", so heißt es etwa im Aufruf zum 1. Reichsdeutschen Mittelstandstag 1911, „verliert der Mittelstand die Kraft, in dem erbitterten Interessenkampf zwischen Kapital und Arbeit ausgleichend und versöhnend zu wirken." 24 Was die „Arbeit" betraf, war freilich nach Meinung zumindest der konservativen Mittelständler und der Rechtsparteien bis hin zu den Nationalliberalen eine Versöhnung erst nach einer erfolgreichen Bekämpfung der Sozialdemokratie möglich. „Der Mittelstand", erklärte der preußische Landtagsabgeordnete Schröder-Kassel auf dem nationalliberalen Parteitag von 1910, „ist das beste und stärkste Bollwerk gegen die rote Flut, und wer für den Mittelstand kämpft, kämpft gleichzeitig gegen den Umsturz" 25 . Die Schärfe, mit der die Sprecher des gewerblichen Mittelstandes gegen die Sozialdemokratie auftraten, erklärt sich nicht nur aus der Untergangsprognose, die Kommunistisches Manifest und Erfurter Programm dem Kleingewerbe gestellt hatten, und die darauf gegründete Weigerung der Sozialdemokraten, Schutzmaßnahmen zugunsten des Mittelstandes zu ergreifen. Sie ist auch darauf zurückzuführen, daß den Sozialdemokraten in der Tat erhebliche Einbrüche in das Kleingewerbe gelungen waren. Zumal bei den am stärksten proletarisierten Berufsgruppen der Schuhmacher, Weber, Zigarrenwickler, Sattler, Schneider, Drechsler und Gastwirte konnte sie eine große Zahl von selbständigen Meistern für sich gewinnen26. Als sich 1908 selbst der Wahlausschuß der Mittelstandsvereinigung Frankfurt am Main - offenbar im Sinne eines Protestvotums gegen den Linksliberalismus - dafür entschied, bei den Stichwahlen zur Stadtverordnetenversammlung in mehreren Bezirken nicht den bürgerlichen, sondern den sozialdemokratischen Kandidaten zu unterstützen, sah sich das Organ 93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der Deutschen Mittelstandsvereinigung trotz seiner Bedenken gegen die Freisinnigen zu der Feststellung genötigt: „Wo es sich darum handelt, die Sozialdemokratie, unsere schlimmste Feindin, niederzuringen, die dem Mittelstand nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch wegen seiner nationalen Gesinnung den Tod zugeschworen hat, da haben alle wirtschaftlichen Gegensätze Halt zu machen vor dem obersten Grundsatz: Über der Partei das Vaterland!"27 Das Vaterland, so wie es die Mittelstandler auffaßten, war das Land des Mittelstandsschutzes und der Sozialistengesetze. ,,Staat", „Vaterland", „Nation": dem Mittelstand waren diese Begriffe zu Synonymen für die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse geworden. Bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts hatte das liberale Bürgertum den Adel als Träger der partikularstaatlichen Zersplitterung und sich selbst als Verkörperung der Nation gesehen. Die nationale Parole war insoweit eine progressive Parole gewesen. Das änderte sich, seit im Zeichen des „Schutzes der nationalen Arbeit" und des Kampfes gegen die „Reichsfeinde" die konservativen Kräfte die nationale Idee rezipierten. Die Gleichsetzung seiner Interessen mit nationalen Bedürfnissen, die der gewerbliche Mittelstand und große Teile des gebildeten und besitzenden Bürgertums auch nach der „Großen Depression" vollzogen, konnte nun nicht mehr das Recht des gesellschaftlichen Fortschritts für sich in Anspruch nehmen - es war eine Ideologie zur Sicherung überkommener Macht- und Eigentumsverhältnisse. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn 1910 der Vorsitzende des Vereins zum Schutz von Handel und Gewerbe erklärte: „Es muß ausdrücklich betont werden, daß in den Konsumvereinen eine nationale Gefahr besteht."28

IV. Die Mittelstandspolitik des Kaiserreichs bestand aus einer Reihe von Versuchen, die Basis des überkommenen politischen und sozialen Systems zu erweitern und zu stabilisieren. Es waren, wie wir gesehen haben, nicht nur die Konservativen, die mit der Propagierung eines staatlichen Mittelstandsschutzes ihre Anhängerschaft zu vergrößern versuchten, sondern auch Zentrum und Nationalliberale. Den gemeinsamen Nenner, auf den die Bemühungen dieser Parteien und der staatlichen Instanzen gebracht werden können, findet man am treffendsten in einer Äußerung Miquels aus dem Jahre 1879: Die Vernachlässigung des Handwerks durch Regierung und herrschende Schichten müsse, so erklärt der nationalliberale Politiker, ein Ende finden, denn „dieser Zustand ist ein höchst gefährlicher, besonders gefährlich in Zeiten revolutionärer Agitation gegen die Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung"29. Der antirevolutionäre Konsensus der Sozialprotektionisten ließ freilich Differenzierungen zu, die die spezifischen Interessenlagen seiner Träger widerspiegelten. Waren die Konservativen bereit, auch solche Handwerksforderungen zu übernehmen, die mit der Wettbewerbsfreiheit radikal brachen, so zogen Nationalliberale und staatliche Bürokratie die Grenze ihres Protektionismus da, wo er mit den vitalen Bedürfnissen eines Industriestaates in Konflikt zu geraten drohte. Dies gilt nicht nur für die schließliche Ablehnung des allgemeinen Großen Befähigungsnachweises und der ob94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

ligatorischen Zwangsinnung, die beide eine erhebliche Behinderung der technologischen Innovation und der sozialen Rekrutierung des industriellen Unternehmertums bedeutet hätten - es gilt ebenso für die Entscheidung konkreter Streitfragen zwischen Handwerk und Industrie wie die Finanzierung der Lehrlingsausbildung. Die Forderungen des Handwerks, daß entweder alle Gewerbebetriebe zu den Gesamtkosten der Innungen und zu den Handwerkskammern überhaupt beitragspflichtig gemacht werden sollten oder doch wenigstens diejenigen Betriebe, die sich mit handwerksmäßigen Arbeiten abgeben, Arbeiter handwerksmäßig ausbilden und handwerksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigen, fanden keine Erfüllung. Nachdem 1911 und 1912 auf Konferenzen im Reichsamt des Innern Vertreter der Industrie den Handwerksforderungen energisch widersprochen hatten, vertröstete Staatssekretär von Delbrück das Handwerk mit der Ankündigung von Konsultationen, die seine Behörde mit den verbündeten Regierungen pflegen wolle. Diese könnten den regionalen und branchenbedingten Besonderheiten besser Rechnung tragen und unterschiedliche lokale Regelungen vorschlagen. Faktisch bedeutete das einen Sieg der Industrie über das Handwerk30. Generell läßt sich die These vertreten, daß die protektionistischen Forderungen des gewerblichen Mittelstandes bei der Exekutive auf prinzipiellen Widerstand nur da stießen, wo sie mit großindustriellen Interessen kollidierten, nicht jedoch, so weit sie die Interessen der Verbraucher und kommerziellen Außenseiter beeinträchtigten. Sondersteuern für - oder besser: gegen - die Warenhäuser wurden erhoben, obwohl damit nicht nur eine moderne Organisationsform des kapitalistischen Handels, sondern die Konsumenten schlechthin diskriminiert wurden. Eine allmähliche Abkehr von dieser besonders anfechtbaren „Schutzmaßnahme" erfolgte erst, nachdem ihre Erfolglosigkeit offenkundig geworden war und der 1903 gegründete „Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser" eine wirksame Agitation gegen die prohibitiven Ausnahmeregelungen begonnen hatte. Das Grundaxiom der Sammlungsbewegungen seit dem konservativ-nationalliberalen Kartell von 1887, eine „Koalition der produktiven Erwerbsschichten gegen das reine Verbraucherinteresse" (Herzfeld) zu schaffen31, und die an dieser Zielsetzung orientierte Mittelstandspolitik hatten indes den Erwartungshorizont großer Teile des gewerblichen Mittelstandes so nachhaltig bestimmt, daß sie den Anspruch auf staatliche Fürsorge als selbstverständlich auffaßten. Nicht Erwägungen gesamtwirtschaftlicher Rationalität, sondern sozialpolitische Forderungen charakterisieren daher die Aktivität der politisch ausgerichteten Interessenverbände des Mittelstandes. Sie forderten vom Staat eine Art Statusgarantie zugunsten der selbständigen Gewerbetreibenden, die nicht vor den dynamischen Bedürfnissen der Gesamtgesellschaft gerechtfertigt, sondern mit dem Selbstinteresse der Herrschenden begründet wurde: Der Mittelstand empfahl sich als Ordnungsfaktor. Konnte die industrielle Arbeitnehmerschaft staatliche Sozialleistungen zu Recht als Abschlagszahlungen aus vorenthaltenem Arbeitsentgelt begreifen, so fehlte dem Kleingewerbe eine derartige Rechtfertigung. Sein Anspruch auf staatlichen Schutz war, soweit er über die Sicherung einer formalen Chancengleichheit der Unternehmensformen hinausging, ein Anspruch auf Kosten der Gesellschaft. Eine Privilegierung partikularer Eigentümerinteressen waren aber nicht nur die 95 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

diskriminierenden Maßnahmen gegen die Konkurrenten des gewerblichen Mittelstandes, sondern auch die staatlichen Hilfeleistungen bei der Organisation des Handwerks. Was sich in abstracto als Übertragung des Selbstverwaltungsprinzips von Gebietskörperschaften auf gesellschaftliche Gruppen darstellt, war in concreto eine Staatsintervention zugunsten einer Partei in dem Konflikt zwischen abhängiger Arbeit und selbständigem Unternehmertum. Die Existenz von Gesellenausschüssen, die bei Handwerkskammern und Innungen eingerichtet wurden und ein Mitwirkungsrecht bei der Regelung des Lehrlingswesens, bei der Abgabe von Gutachten über Angelegenheiten der Lehrlinge und Gesellen sowie bei strittigen Prüfungsentscheiden hatten, ändert nichts an der Tatsache, daß in allen übrigen Bereichen den Selbständigen durch die Handwerksnovelle von 1897 ein Informations- und Konsultationsmonopol gegenüber den staatlichen Instanzen eingeräumt worden war. Insoweit waren auch die Kontrollfunktionen der Aufsichtsbehörde von vornherein begrenzt und nicht dazu angetan, den einseitig privilegierenden Charakter der öffentlich-rechtlichen Konstruktion der Handwerkskammern abzuschwächen32. Die staatlich verfügte Einrichtung und Privilegierung von Innungen und Handwerkskammern steht in einem historischen Zusammenhang, der mit einem gewissen Recht als „Refeudalisierung" bezeichnet werden kann33. Die Übertragung öffentlicher Kompetenzen auf - ihrer Interessenstruktur nach - private Körperschaften bedeutete tendenziell eine Rückwendung zu den Herrschaftsständen der Feudalzeit und insoweit eine Durchbrechung des Dualismus von Staat und Gesellschaft, der sich mit der Emanzipation des absoluten Staates aus der ständisch verfaßten Gesellschaft herausgebildet hatte. Die Monopolisierung der Hoheitsgewalt beim Staat als einer der ,,societas civilis" gegenüber eigenständigen Organisationsform (O. Brunner)34 wurde durch den interventionistischen Klassenstaat des ausgehenden 19. Jahrhunderts partiell rückgängig gemacht. Er systematisierte damit freilich nur Ansätze, die bis in die erste Jahrhunderthälfte zurückreichen und sich nicht auf Deutschland beschränken. Die Wiedereinrichtung der von der Republik abgeschafften französischen Handelskammern durch ein Konsulardekret Napoleon Bonapartes im Jahre 1802 hatte auch auf Deutschland Auswirkungen, da die unter der französischen Herrschaft im Rheinland gegründeten Handelskammern bestehen blieben. Andernorts wurde kaufmännischen Vertretungen ebenfalls der Kammerstatus verliehen. Diese Entwicklung wurde von der preußischen Regierung gefördert und mit der königlichen Verordnung vom 11. Februar 1848 endgültig sanktioniert: Öffentlich-rechtliche Handelskammern, die die vorgesetzten Behörden in Handels- und Gewerbeangelegenheiten beraten und Aufsichtsfunktionen über „öffentliche, dem Handel und Gewerbe dienende Anstalten" erhalten sollten, wurden für die ganze Monarchie vorgesehen, sofern ein örtliches Bedürfnis bestand35. Mochte eine solche Institution in der Frühphase der Industrialisierung noch primär als Mittel verbesserter staatlicher Informationsbeschaffung dienen und insoweit eine gesamtwirtschaftliche Rechtfertigung finden, so war angesichts der verschärften sozialen Konflikte zwischen Arbeit und Kapital in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jede Delegation staatlicher Befugnisse an Gruppen der Kapitaleigentümer eine Diskriminierung der Arbeitnehmerseite. Dies gilt für die 1894 geschaffenen preußischen Landwirtschaftskammern ebenso wie 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

für die Handwerkskammern. Beide Einrichtungen tragen deutlich die Signatur der Miquelschen „Sammlungspolitik", in deren Zeichen die Sozialdemokratie verschärftem Druck ausgesetzt war und der „Mittelstand in Stadt und Land" zum vorrangigen Adressaten einer Sozialpolitik besonderer Art wurde. Die Delegation staatlicher Kompetenzen an privatwirtschaftliche Körperschaften beinhaltet sowohl eine Ausdehnung der öffentlichen Autorität über private Bereiche wie eine Substitution staatlicher Gewalt durch gesellschaftliche. Insoweit ist es berechtigt, von der „Dialektik einer mit fortschreitender Verstaatlichung der Gesellschaft sich gleichzeitig durchsetzenden Vergesellschaftung des Staates" zu sprechen37. Die besondere deutsche Problematik freilich besteht darin, daß der absolutistische Dualismus von Staat und Gesellschaft nicht wie in den westeuropäischen Demokratien zugunsten der parlamentarischen Legitimation der Exekutivgewalt aufgegeben, sondern formell und ideologisch perpetuiert wurde. Was das System der Kompetenzdelegation in der konstitutionellen Monarchie des Deutschen Reiches charakterisiert, ist die Verflechtung eines sich überparteilich gebenden, nach der Verfassung von parlamentarischen Mehrheiten unabhängigen Staatsapparates mit privilegierten gesellschaftlichen Machtträgern. Diese Verflechtung schuf Interdependenzen, die in vieler Hinsicht als eine Vorform des „Organisierten Kapitalismus" erscheinen und damit die für die Gesellschaftspolitik des Bismarckreiches überhaupt bezeichnende Verquickung moderner und restaurativer Elemente widerspiegeln38. In das System wechselseitiger Rückversicherung der „staatserhaltenden Kräfte" gegenüber Sozialrevolutionären Erschütterungen und parlamentarischer Majorisierung wurde, wie wir gesehen haben, auch der gewerbliche Mittelstand integriert. Als „Feudalisierung" im engeren Sinn kann hierbei die Restauration ständischer Organisationsformen und Privilegien angesprochen werden, wie sie das Handwerk durchzusetzen vermochte. Im weiteren Sinn mag man unter diesem Begriff auch alle jene „unsichtbaren Subventionen" subsumieren, die Detailhandel und Handwerk - ebenso wie die Landwirtschaft - vom kapitalistischen Wettbewerb abschirmen sollten und damit die Konservierung einer vorindustriellen, an standesgemäßen Einkommen, dem „Recht auf Kundschaft" (Lederer) und dem „gerechten Preis" orientierten Wirtschaftsgesinnung ermöglichten. Die institutionellen und ideologischen Komponenten des Protektionismus verstärkten sich wechselseitig und prägten ein spezifisch mittelständisches Bewußtsein, das - jenseits wechselnder Parteiaffinitäten - konservativ und illiberal genannt werden muß. Hatte der integrale Nationalismus die Funktion, die Gesamtgesellschaft - einschließlich des „neuen Mittelstandes" und der Arbeiter - in die bestehende Ordnung ideologisch zu integrieren, so war die Feudalisierung primär ein Mittel, die besitzenden Schichten bis hin zum kleinsten Eigentümer an die gegebenen Machtverhältnisse zu binden39. Die Bedingung der Möglichkeit des innenpolitischen Rückversicherungssystems war die Fortdauer des deutschen Ancien régime bis ins 20. Jahrhunden. Das Fehlen einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution, die Grundtatsache der deutschen Geschichte, schlug sich sozial vor allem in der Behauptung der Machtpositionen des Großgrundbesitzes nieder. Mit den Junkern vermochte nicht nur die Schwerindustrie im Zeichen der Schutzzollgesetzgebung ein Partnerschaftsverhältnis zu begründen, 97

7 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

dessen politische und ideologische Auswirkungen spätere Zolldifferenzen überlebten; auch Bauern und städtische Gewerbetreibende fanden in den Agrarieren Fürsprecher ihrer protektionistischen Forderungen und gaben ihrerseits ein breites Reservoir für konservative und reaktionäre Bestrebungen ab. Die obrigkeitlichen Elemente im Verfassungssystem des Kaiserreiches boten überdies die Möglichkeit, eine Verschiebung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse nach links, wie sie sich vor allem seit den Reichstagswahlen von 1912 abzeichnete, in gewissem Umfang zu kompensieren. Die legislative Gleichberechtigung des Bundesrates, die formelle Unabhängigkeit des Reichskanzlers von parlamentarischen Mehrheiten und das preußische Dreiklassenwahlrecht konnten als Sicherheitsgarantie gegenüber einer drohenden Majorisierung durch Linksliberalismus und Sozialdemokratie ins Spiel gebracht werden. Wir brechen an dieser Stelle mit unserer Untersuchung ab. Die Auswirkungen, die der Sozialprotektionismus auf das politische Bewußtsein der Kleingewerbetreibenden während des Ersten Weltkrieges hatte, können hier nicht mehr erörtert werden40. Schon vor dem Krieg stand fest, daß die Anlehnung an den Machtapparat des Obrigkeitsstaates für das Gros der Mittelständler zur Gewohnheit geworden war. Die Sicherheit, die die Integration in die gesellschaftliche Ordnung des Kaiserreiches bot, sollte sich zwar als trügerisch erweisen: Mit der militärischen Niederlage brachen auch die Dämme gegen die politische Demokratisierung. Die Mentalität aber, die das protektionistische Rückversicherungssystem bei seinen Nutznießern bewirkt oder verstärkt hatte, überlebte die Revolution. Soviel ließ sich am Ende des Kaiserreiches unschwer vorhersagen: Der Mittelstand konnte nur solange staatserhaltend sein, wie der Staat mittelstandserhaltend war.

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7. V o m Protest z u r P a n i k : D e r g e w e r b l i c h e M i t t e l s t a n d in der W e i m a r e r R e p u b l i k I. Die Basis der Weimarer Demokratie, so hat Reinhard Rürup treffend bemerkt, sei nicht die Revolution von 1918/19 gewesen, sondern die der Revolution abgerungene Kontinuität1. Diese These gilt nicht nur für den staatlich-institutionellen Bereich, sondern auch auf dem Gebiet der Ideologien und des politischen Gruppenverhaltens. Im Hinblick auf die Schichten des Handwerks und Kleinhandels läßt sich dies folgendermaßen formulieren: Der gewerbliche Mittelstand blieb über das Ende des Kaiserreiches hinaus von der sozialprotektionistischen Politik des Obrigkeitsstaates geprägt und favorisierte während der Gesamtdauer der Weimarer Republik jeweils diejenige politische Gruppierung, von der er sich in der konkreten Situation ein Höchstmaß an Schutz vor den Ansprüchen der Arbeitnehmer und den sozialen Folgen einer Wettbewerbswirtschaft versprach. Die ungebrochene Fortdauer einer vorliberalen Mentalität des gewerblichen Mittelstandes schlug sich im häufigen Wechsel seiner Parteiaffinitäten nieder. Die massenhafte Abwanderung mittelständischer Wähler zum Nationalsozialismus, die 1929 einsetzte, war der vorläufige Endpunkt dieses Prozesses. Am Ende des Ersten Weltkrieges fanden sich die Kleingewerbetreibenden in einer nahezu vollständigen gesellschaftlichen Isolierung. Die Großagrarier, dank der Aktivität des Bundes der Landwirte vor 1914 der wichtigste ideologische Verbündete der konservativen Mittelständler, waren fürs erste aus ihrem Immediatverhältnis zur Staatsmacht entlassen. Ihr politischer Kurswert als Bündnispartner von Schwerindustrie und Kleingewerbe war dadurch erheblich gesunken. Die industriellen Großunternehmer, mit denen sich die Handwerksverbände unter den Vorzeichen der Kriegswirtschaft zeitweilig in einer Art Einheitsfront der selbständigen Produzenten zusammengefunden hatten, dachten realpolitisch genug, um in der Zeit der „Übergangswirtschaft" und erst recht des politischen Systemwechsels ihren eigentlichen Partner nicht bei Handwerk und Kleinhandel, sondern bei der organisierten Arbeitnehmerschaft zu suchen. Die „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände", der „Stinnes-Legien-Pakt" vom 15. November 1918, bildete ein gewerkschaftlich-großindustrielles Rückversicherungsabkommen auf Gegenseitigkeit, das gegenüber Rätebewegung, staatlicher Bürokratie und revolutionärer Regierung einen quasi-syndikalistischen Primat der Ökonomie proklamierte. Andererseits zeichneten sich im Bereich des „neuen Mittelstandes", bei den traditionell zu einer „bürgerlichen" Selbsteinschätzung neigenden industriellen und kaufmännischen Angestellten, seit dem Krieg Tendenzen zur Entfaltung eines Arbeitnehmerbewußtseins und zu einer organisatorischen Annäherung an die Arbeiterschaft ab. Der mittelständische Detailhandel, vor 1914 Hauptträger ei99 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

ner stark antisemitisch gefärbten Kampagne gegen die Warenhäuser, hatte sich während des Krieges mit seinen großkapitalistischen Widersachern in einer Abwehrfront gegen die befürchtete Ausschaltung des Zwischenhandels vereinigt; diese Allianz überdauerte in Form der am 13. März 1919 offiziell gegründeten Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels nicht nur die revolutionäre Umbruchszeit, sondern fast die gesamte Weimarer Republik. Was sich auf den ersten Blick als Gegenbeispiel zur These von der Isolierung des gewerblichen Mittelstandes anbietet, belegt jedoch gerade die fortdauernde Isolierung des gesamten Einzelhandels. Auf keinem Gebiet der Wirtschaftspolitik war die Kontinuität von Krieg und Nachkriegszeit so mit Händen zu greifen wie im Bereich der Güterverteilung. Die Debatten über die Kommunalisierung der Lebensmittelversorgung, das Höchstpreissystem und die Maßnahmen gegen Schleichhandel und Preistreiberei, die erst 1923 ihren Höhepunkt erreichten, illustrieren diesen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zeigte sich dann ganz deutlich, daß die Kooperation der mittelständischen Kaufleute mit dem großkapitalistischen Einzelhandel für sie lediglich eine Notlösung darstellte und keinen tiefgreifenden Bewußtseinswandel bewirkt hatte. Die Ressentiments gegen die Waren- und Kaufhäuser waren stärker als das Gefühl gemeinsamer Bedrohung durch mächtigere gesellschaftliche Kräfte2. Obwohl der gewerbliche Mittelstand vor 1914 immer wieder über angebliche Diskriminierungen Klage geführt und sich im Ersten Weltkrieg nicht zu Unrecht als eine besonders benachteiligte Schicht empfunden hatte, erschien ihm das Kaiserreich schon bald nach der Novemberrevolution in einem verklärten Licht. In der Zeit der Monarchie hatten die Handwerker in den Innungen und Kammern eine Öffentlichrechtliche Organisation bekommen, war der Meistertitel wieder mit gewissen Vorrechten ausgestattet und den Warenhäusern eine Sondersteuer auferlegt worden; das Kaiserreich hatte darüber hinaus, gerade weil es kein parlamentarisches Regierungssystem war, einen letztinstanzlichen Schutz vor einer politischen Majorisierung der „Produzenten" gewährt. Bei erheblichen Teilen des Kleingewerbes löste der Ruf nach einer Demokratisierung des Kaiserreiches nur Angst aus. Zahlreiche Sprecher von Handwerks- und Hausbesitzerorganisationen wandten sich noch im letzten Kriegsjahr gegen die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Preußen. Nichts spricht für die Vermutung Arthur Rosenbergs, der Mittelstand würde 1918 mit dem Proletariat zusammengegangen sein, wenn nur die Sozialisten den Aufbau einer neuen Gesellschaft entschlossener in Angriff genommen hätten3. Gewiß konnten die Mehrheitssozialdemokraten (und mancherorts auch die Unabhängigen) bei der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 die Stimmen pauperisierter Selbständiger für sich gewinnen; das Gros des gewerblichen Mittelstandes ging jedoch nicht zu den Arbeiterparteien über. Am stärksten kam das Votum der Mittelschichten bei dieser ersten Nachkriegswahl der Deutschen Demokratischen Partei zugute nicht weil sich die Massen der Handwerker und Kleinhändler plötzlich zum Linksliberalismus bekehrt hätten, sondern weil eine Stimmabgabe für den voraussichtlichen bürgerlichen Koalitionspartner der SPD am ehesten geeignet schien, sozialistische Experimente zu verhindern oder doch in erträglichen Grenzen zu halten4. Infolge seiner politischen Isolierung blieb dem gewerblichen Mittelstand nach der Novemberre100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

volution nichts anderes übrig, als sich „auf den Boden der durch die Ereignisse geschaffenen Verhältnisse" zu stellen5. In der Entstehungsphase der jungen Republik entsprach die Unterstützung der bürgerlichen Demokratie der Logik mittelständischer Interessen; aber es war unschwer vorherzusehen, daß diese Entscheidung nicht das letzte Wort des Kleingewerbes sein würde. Die politische Anpassungsfähigkeit des Handwerks äußerte sich in den ersten Monaten nach der Revolution nicht nur in seinem Wahlverhalten. Einige eher konservative Sprecher dieses Berufsstandes entwickelten bemerkenswerte Sympathien für ein Rätesystem. Wenn auch die selbständigen Unternehmer in einer solchen Ordnung Platz finden würden, erklärte etwa der Generalsekretär des Deutschen Handwerksund Gewerbekammertages, Dr. Hans Meusch, im April 1919, dann liege im Rätesystem vielleicht „der Keim für die Gesundung unserer politischen Verhältnisse im Sinne einer berufsständischen Vertretung des Volkes". Ähnliche Argumente trug der deutschnationale Abgeordnete Clemens von Delbrück in der Weimarer Nationalversammlung vor. Die dahinter liegende Absicht wurde offen ausgesprochen: Eine angemessen zusammengesetzte Ständekammer sollte die Macht des aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen politischen Parlaments beschränken und den Interessen der „Produzenten" zu stärkerer Geltung verhelfen6. Einen anderen Anknüpfungspunkt für die Handwerksforderungen bot das Schlagwort „Gemeinwirtschaft", das im Mai 1919 durch eine Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums offiziellen Charakter zu erlangen schien. In diesem Memorandum trug Unterstaatssekretär Wichard von Moellendorff seine bereits während des Krieges konzipierten Gedanken über eine an nationalen Zielen orientierte, planmäßig betriebene Selbstverwaltung der Wirtschaftsgruppen vor. Sprechern des Handwerks schien die Gemeinwirtschaftsidee nicht nur deswegen interessant, weil sie die Eigentumsverhältnisse unangetastet ließ und sich damit als annehmbare Alternative zur Sozialisierung erweisen mochte, sondern mehr noch, weil sie dem alten Ruf nach umfassender Pflichtorganisation eine zeitgemäße Legitimation verschaffte. Das Handwerksgesetz von 1897 hatte zwar das Institut der „fakultativen Zwangsinnung" geschaffen - stimmte in einem Handwerkskammerbezirk die Mehrheit der Selbständigen eines Berufszweiges zu, so wurde die Mitgliedschaft in der Innung obligatorisch -, aber eine „restlose Erfassung des gesamten Berufsstandes" war dadurch noch nicht gewährleistet. Die Parole einer „geregelten Berufsstandswirtschaft im Rahmen der Gemeinwirtschaft" diente nun dazu, das Prinzip der allgemeinen Zwangsinnung und ihres (durch die Gewerbeordnung bislang untersagten) Preisfestsetzungsrechtes zu rechtfertigen. Ziel war mithin die totale Kartellierung der kleingewerblichen Produktion7. Schwierigkeiten verursachte indessen das vom Reichswirtschaftsministerium postulierte Junktim von „Gemeinwirtschaft" und „Mitbestimmung". Das Handwerk konnte sich der Forderung nach einem institutionalisierten Mitspracherecht seiner Arbeitnehmer um so weniger entziehen, als der Grundsatz paritätischer Mitwirkung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern auch in der Weimarer Verfassung, im sogenannten „Räteartikel" 165, seinen Niederschlag fand. Wollte das Handwerk seine berufsständische Organisation gesetzlich sanktionieren lassen und in das von der Ver101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

fassung vorgesehene System von Wirtschaftsräten einbringen, kam es an irgendeiner Form der paritätischen Mitbestimmung nicht vorbei. Den Spitzenvertretungen des Handwerks, dem Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag (seit Dezember 1922 eine Anstalt des öffentlichen Rechts) und dem mit ihm durch eine gemeinsame Geschäftsführung verbundenen, seit Oktober 1919 bestehenden Reichsverband des deutschen Handwerks schien das Prinzip der Pflichtorganisation so wichtig, daß sie schließlich Anfang 1922 der von den Arbeitnehmern geforderten Umwandlung der Handwerkskammern in paritätisch besetzte Berufs- und Wirtschaftskammern zustimmten. Proteste aus den eigenen Reihen wie von Handel und Industrie, die in dieser Regelung ein Präjudiz für eine Umgestaltung der Industrie- und Handelskammern sahen, veranlaßten die Handwerksverbände jedoch bald, ihr Angebot wieder zurückzunehmen. Nunmehr sollten lediglich neu zu bildende Ausschüsse mit Gutachterfunktion und dem Recht zur Regelung des Lehrlingswesens paritätisch besetzt werden. Die Auseinandersetzungen um die Reichshandwerksordnung - denn um nichts Geringeres ging es den Spitzenverbänden - zogen sich bis 1926 hin. Interne und externe Widerstände gegen die ehrgeizigen Pläne der Verbandsführung brachten das Gesetzgebungsvorhaben schließlich zu Fall. Von den technisch fortgeschrittensten Handwerksbranchen, wie dem Elektroinstallations- und dem Baugewerbe, wurden Bedenken gegen eine umfassende Pflichtorganisation geltend gemacht. Konservative Handwerkspolitiker waren gegen jede Konzession an das von den Arbeitnehmern weiterhin verfochtene Prinzip der Parität; Industrie und Handel sträubten sich gegen die gesetzliche Anerkennung eines „Großhandwerks", weil sie das soziale Einzugsfeld der Industrie- und Handelskammern nicht verkleinern wollten; die Landwirtschaft fürchtete eine verstärkte Mitwirkung des Handwerks bei der Preisbildung im Nahrungsmittelsektor. Im April 1924 legte das Reichsfinanzministerium wegen der in der Reichshandwerksordnung offenkundig angestrebten Überorganisation und der daraus erwachsenden Kosten sein Veto gegen eine weitere Behandlung des ersten Regierungsentwurfs ein, und auch danach leistete es anhaltenden Widerstand gegen das Gesamtprojekt. Im Januar 1926 vereinbarte das Reichswirtschaftsministerium mit den Handwerksverbänden die vorläufige Zurückstellung des Vorhabens. Die Handwerksnovelle vom 3. Juli 1928, die ein Gewerberegister in Form der „Handwerksrolle" einführte und den Zusammenschluß von Landesverbänden der Innungen zu Reichsverbänden ermöglichte, war nur noch ein milder Abglanz dessen, was dem Handwerk ursprünglich vorgeschwebt hatte. Der Streit um die Reichshandwerksordnung ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für die gesellschaftspolitische Szene von Weimar. Dem gewerblichen Mittelstand war es nicht gelungen, seine Isolierung zu durchbrechen. Keine andere gesellschaftliche Gruppe mochte sich mit Plänen solidarisieren, die an irgendeinem Punkt die eigenen Interessen tangierten. Nur in einem war sich das Handwerk mit Industrie, Handel und Landwirtschaft einig: in der Ablehnung jenes Verfassungsauftrags, der die Gleichberechtigung der Arbeitnehmer verlangte. Die mangelnde Bereitschaft, dem Paritätsgedanken gerecht zu werden, trug nicht nur zum Scheitern der Reichshandwerksordnung bei; sie ließ auch alle Entwürfe eines Berufsausbildungsgesetzes 102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Makulatur werden. Überhaupt lag das einigende Band zwischen den Industriellen und Kaufleuten, Großgrundbesitzern und Kleingewerbetreibenden überwiegend in der Negation. Man stimmte im wesentlichen nur darin überein, daß der Ausbau der Republik zum Sozialstaat aufgehalten werden müsse, daß öffentliche Wirtschaftsbetätigung „kalte Sozialisierung" und darum zu bekämpfen sei, daß Mitbestimmung die Produktivität hemme. Soweit es in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre zu gemeinsamen Aktionen der Spitzenverbände der Privatwirtschaft kam, waren es Abwehrkundgebungen mit dieser Stoßrichtung. Die Spitzenverbände des Handwerks hatten ihre berufsständischen Reformpläne in ständigem direktem Kontakt mit dem Reichswirtschaftsministerium vorangetrieben, das als Aufsichtsbehörde des Kammertages ohnehin in die innerverbandliche Willensbildung eingeschaltet war. Der parlamentarischen Klaviatur bediente man sich allenfalls gelegentlich, um die baldige Vorlage des Gesetzentwurfes einer Reichshandwerksordnung anzumahnen. Die enge Kooperation zwischen Ministerialbürokratie und Interessenverbänden führte im Falle des Handwerks, und mit Sicherheit nicht nur dort, zu einer fast völligen Verwischung von privater und öffentlicher Sphäre. Die Mittelstandsreferenten des Reichswirtschaftsministeriums verhielten sich in der Regel weniger als Vertreter staatlicher Gesamtinteressen gegenüber Gruppenforderungen denn als Vertrauensleute des von ihnen „betreuten" Verbandes: eine Disposition, die durch den juristischen Januskopf der handwerklichen Spitzenvertretung noch verstärkt wurde. Im Zusammenspiel mit den Interessenvertretern des Handwerks agierten die Beamten des Wirtschaftsministeriums so, als ob die Verwirklichung kostspieliger Vorhaben weder von parlamentarischen Mehrheiten noch von der Zustimmung anderer Ressorts abhing. An der politischen Enttäuschung, die das unschwer vorherzusehende Scheitern der Reichshandwerksordnung bei den Betroffenen auslösen mußte, hatte dieser Ressortpartikularismus einen erheblichen Anteil8.

II. Daß das Handwerk sich mit seinen Wünschen stärker an die Exekutive als an die Parteien wandte, entsprach zunächst einmal der im kaiserlichen Obrigkeitsstaat eingeübten Verhaltensweise der meisten Interessenverbände. Zum anderen schlug sich darin aber auch ein spezifisch mittelständisches Unbehagen an den politischen Parteien, ja am parlamentarischen Regierungssystem nieder. Die bürgerlichen Parteien der Weimarer Nationalversammlung hatten, um sich die Sympathien des Kleingewerbes zu sichern, einen Artikel in die Reichsverfassung aufgenommen, dem zufolge „der selbständige Mittelstand in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel . . in Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegenüber Überlastung und Aufsaugung zu schützen" war (Artikel 164 WRV). Auf diese rein deklamatorische Bestimmung beriefen sich in der Folgezeit die mittelständischen Interessenverbände bei allen ihren Forderungen, ob diese auf die staatliche Beihilfe zur Organisation des eigenen Berufsstandes, den Abbau steuerlicher „Diskriminierungen" oder auf Maßnahmen gegen unliebsame Konkurrenten hinausliefen. Es half den bürgerlichen Parteien wenig, daß sie 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

sich bezüglich ihrer „Mittelstandsfreundlichkeit" gegenseitig verbal überboten und alle mit den Interessen anderer Wählerschichten gerade noch vereinbar erscheinenden Forderungen des Kleingewerbes annahmen: In den Augen der Mittelständler blieben solche Bemühungen allemal weit hinter einer Erfüllung des „Verfassungsauftrages" zurück. Es ist kaum zuviel gesagt, wenn man von einer „gesellschaftspolitischen Dolchstoßlegende" spricht, die sich an das uneingelöste (und faktisch uneinlösbare) Versprechen des Artikels 164 knüpfte. Die politische Entwicklung des gewerblichen Mittelstandes zwischen 1919 und 1924 läßt sich als kontinuierliche Rechtsbewegung bezeichnen. Hatten im Januar 1919 viele mittelständische Wähler eine Koalitionspartnerschaft von SPD und DDP für unabwendbar gehalten und darum den bürgerlichen Flügel dieses Bündnisses verstärkt, so ging bei der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 der Wunsch nach einer Regierung ohne Sozialdemokraten in Erfüllung: Die Weimarer Koalition verlor ihre parlamentarische Mehrheit. Die Deutsche Volkspartei verdankte ihre erheblichen Stimmengewinne offensichtlich im hohen Maß ehemaligen Wählern der DDP. Aber schon bald zeigten sich die Mittelschichten auch mit der DVP unzufrieden: Die Vorwürfe gegen ihre Abhängigkeit vom Großkapital nahmen zu, und die Inflationsgewinne des volksparteilichen Reichstagsabgeordneten Hugo Stinnes eigneten sich vorzüglich, um die ganze Partei in die Nähe des Spekulantentums zu rücken. Dazu kam, daß die Deutsche Volkspartei sich bei den Reichstagswahlen vom Mai 1924 über die Kandidatenwünsche des gewerblichen Mittelstandes hinwegsetzte und einen langjährigen Abgeordneten aus Handwerkskreisen an ungünstiger Stelle placierte. Die Deutschnationalen hingegen waren für entsprechende Wünsche sehr viel aufgeschlossener und übertrafen die DVP auch in ihrer Bereitschaft, protektionistische Forderungen des Kleingewerbes zu unterstützen. Der mit extrem nationalistischen und antisemitischen Parolen geführte Wahlkampf der DNVP zahlte sich aus. Zumal in Norddeutschland glich die Wählerwanderung von der DVP zu den Deutschnationalen vielfach einem politischen Erdrutsch. Da indes auch in der DNVP andere, insbesondere großagrarische Interessen einen massiveren Rückhalt hatten als diejenigen von Handwerk und Kleinhandel, wandten sich Teile des gewerblichen Mittelstandes von dieser Partei wieder ab. Zwischen 1924 und 1928 konnte eine ausgesprochene „Antipartei", die 1920 gegründete Wirtschaftspartei - seit 1925 nannte sie sich offiziell: Reichspartei des deutschen Mittelstandes - beachtliche Einbrüche in die Reihen vor allem des mittel- und nordwestdeutschen Handwerks erzielen. Die Wirtschaftspartei, die bei den Reichstagswahlen von 1928 auf 4,5 % der Stimmen kam, war ein typischer Ausdruck des mittelständischen Ressentiments gegenüber den politischen Parteien - und insoweit eine Vorfrucht des Nationalsozialismus. Was die Kleingewerbetreibenden nicht begreifen wollten, war der Kompromißzwang, dem jede potentielle oder tatsächliche Regierungspartei ausgesetzt ist. Gewöhnt an einen obrigkeitsstaatlichen Mittelstandsschutz, verfielen sie zunehmend einem interessenpolitischen Solipsismus. Andererseits unterließ es auch die Großindustrie, die durch dieselben vordemokratischen Herrschaftsverhältnisse geprägt war, sich systematisch um die politische Gewinnung 104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der Mittelschichten zu bemühen - was sie in einem traditionell parlamentarischen Staat hätte tun müssen9. Es ist bemerkenswert, daß die politische Isolierung des gewerblichen Mittelstandes ihren Höhepunkt in der Phase relativer Stabilität zwischen 1924 und 1928 erreichte. Die Erklärung ist schwerlich bei rein ökonomischen Faktoren zu suchen. Nicht die berufstätigen Gewerbetreibenden, sondern die reinen Kapitalrentner waren die eigentlichen Opfer der exzessiven Geldentwertung gewesen. Das Handwerk hatte, soweit es seinen Sachbesitz halten konnte, die Inflation ohne entscheidende Änderungen seiner Lebensverhältnisse überstanden: Der Verlust an Ersparnissen wurde vielfach durch Entschuldung ausgeglichen. Bei den Debatten über die Aufwertung von Schuldforderungen hielten sich die Handwerksverbände auffallend zurück. Die vier Jahre nach 1924 bildeten auch für das Handwerk eine Zeit verhältnismäßiger Prosperität. Es konnte seinen Umsatz in dieser Zeit um mehr als die Hälfte steigern. Es war jedoch gerade diese „Normalität", die dem gewerblichen Mittelstand die offenkundige Unabänderlichkeit der neuen gesellschaftlichen Machtverhältnisse vor Augen führte. Verglichen mit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft und der zunehmend konzentrierten Großindustrie fühlten sich die kleinen Selbständigen als Stand ohne Raum. Das Votum für die Wirtschaftspartei und andere Splittergruppen war vor allem ein Ausdruck der Ohnmacht-der Protest gegen ein System, in dem der gewerbliche Mittelstand keinen zuverlässigen Verbündeten mehr besaß, in dem er sich erstmals ganz auf sich allein gestellt sah. Die Bewegung gegen das überkommene Parteiensystem richtete sich mittelbar auch gegen die offiziellen Spitzenverbände des gewerblichen Mittelstandes. Die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels, die mit liberalen Argumenten für eine Beschränkung der Wirtschaftstätigkeit der Öffentlichen Hand und gegen die steuerliche Benachteiligung irgendeiner Handelssparte kämpfte, wurde in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wieder mit einer wachsenden Kampagne gegen die Waren- und Kaufhäuser konfrontiert. Die Spitzenvertretungen des Handwerks, die mit ihrem Eintreten für eine umfassende Pflichtorganisation auch eine Art Rationalisierung der Handwerkswirtschaft anstrebten und punktuelle Schutzmaßnahmen daneben für weitgehend entbehrlich hielten, mußten sich ebenfalls mit einer neuen Welle traditionell-protektionistischer Forderungen auseinandersetzen. Das 1928 gegründete Reichskartell des selbständigen Mittelstandes, mit der Führung der Wirtschaftspartei personell eng verbunden, organisierte über zahlreiche örtliche Mittelstandsvereinigungen Proteste gegen die steuerliche Begünstigung der „schlimmsten Konkurrenten des erwerbstätigen Mittelstandes", nämlich Konsumvereine, Beamtenwirtschaftsvereine, gemeinnützige Baugesellschaften, kommunale Anschaffungsämter und Fuhrbetriebe sowie öffentliche Kraftverkehrsgesellschaften. Darüber hinaus forderte die protektionistische Agitation Maßnahmen gegen das Wandergewerbe, ein Verbot der Gefängnisarbeit, die Auflösung der öffentlichen Regiebetriebe, die Unterbindung der Schwarzarbeit und die Abkehr von der „überspannten" Sozialpolitik. Diese Forderungen waren nicht neu. Sie stammten großenteils aus der Zeit des Kampfes gegen die Gewerbefreiheit, der sich durch das ganze 19. Jahrhundert hingezogen hatte. Sie wurden begleitet von dramatischen Schilderungen des unaufhaltsamen Niederganges 105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

des Mittelstandes. Die „Erziehungsarbeit" der Spitzenvertretungen, die aus gutem Grund eine Propaganda solcher Art stets abgelehnt hatten, war offenbar nicht allzu tief in das Bewußtsein von Handwerkern und Kleinhändlern eingedrungen10.

III. Eine umfassende mittelstandspolitische Konzeption hat keine der Regierungen der Weimarer Republik zwischen 1918 und 1930 gehabt. Die sozialprotektionistischen Forderungen der bürgerlichen Parteien stammten aus dem Kaiserreich; eine zugkräftige moderne Alternative wurde von keiner Richtung entwickelt. Die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse ließen weder eine globale Schutzpolitik im Sinne der Interessentenforderungen noch eine drastische Absage an die überkommene Mittelstandspolitik zu. Erst der Übergang zum System der Präsidialkabinette schuf die Voraussetzungen dafür, daß der Sozialprotektionismus einen Durchbruch auf breiter Front erzielen konnte. Reichskanzler Brüning mußte der Reichspartei des deutschen Mittelstandes, die in seinem ersten Kabinett den Justizminister stellte, sogleich Tribut zollen. Im Tausch gegen ihre Zustimmung zu den Schutzzollforderungen der Agrarier setzte die erstmals an einer Reichsregierung beteiligte Partei eine Sondersteuer für Warenhäuser und Konsumgenossenschaften durch. Diese Maßnahme war der Startschuß für eine Reihe protektionistischer Interventionen. Besonders tat sich hierbei die württembergische Landesregierung hervor. Der demokratische Wirtschaftsminister Reinhold Maier forderte und verwirklichte eine reichseinheitliche Einrichtungssperre für Einheitspreisgeschäfte in Städten bis zu 100 000 Einwohnern. Die Hoffnung freilich, durch gezielte Zugeständnisse an den wettbewerbsmüden Mittelstand dessen weitere Radikalisierung aufzuhalten, trog. Das Wechselbad von protektionistischen und belastenden Maßnahmen, dem die Handwerker und Kleinhändler durch Brünings Notverordnungen ausgesetzt waren, erhöhte nicht das Vertrauen in die Reichsführung. Der regierungsoffizielle Protektionismus auf Raten bestätigte dem Kleingewerbe nur die prinzipielle Berechtigung der eigenen Forderungen, und er trug dazu bei, die nationalsozialistische Agitation gegen die Gewerbefreiheit glaubwürdiger zu machen11. Für das Gros des gewerblichen Mittelstandes hatten die Nationalsozialisten vor 1930 nicht zu jenen politischen Kräften gehört, die man dem „bürgerlichen" Lager zurechnete. Zwar dominierte in der Mitgliedschaft auch der frühen NSDAP eindeutig das kleinbürgerliche Element; dennoch argwöhnten viele standesbewußte Handwerker, die Nationalsozialisten seien eine verkappte Linkspartei. Deren Parteiname mochte auf jene Angehörigen des „neuen Mittelstandes" werbend wirken, die sich als Arbeitnehmer fühlten, aber keineswegs zum „internationalen" Proletariat gezählt werden wollten; bei den meisten Kleineigentümern des alten Mittelstandes dagegen löste das Wort „sozialistisch" zunächst Abwehrreaktionen aus. Die NSDAP mußte ihren „Sozialismus" aus der Ökonomie in die Psychologie übersetzen; sie mußte klarstellen, daß es nicht um Eingriffe in die bestehenden Eigentumsverhältnisse ging (außer etwa bei jüdischem Besitz), sondern um einen neuen Wirtschaftsgeist, um die 106 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Verwirklichung des Grundsatzes „Gemeinnutz vor Eigennutz". Darunter mochte jede Gruppe sich etwas anderes vorstellen - das Wählerreservoir des Kleingewerbes konnten die Nationalsozialisten jedenfalls erst dann auszuschöpfen hoffen, wenn die Barriere der Enteignungsfurcht beiseite geräumt war. Es gibt Anzeichen dafür, daß dies bei dem notorisch unterorganisierten Kleinhandel früher gelang als beim Handwerk, das bei den Reichstagswahlen von 1930 noch zu erheblichen Teilen für die Wirtschaftspartei stimmte. Auch waren die kleinen Kaufleute für antisemitische Parolen von jeher noch anfälliger gewesen als die selbständigen Handwerker; die Anti-Warenhaus-Kampagnen, die die NSDAP in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre veranstaltete, fanden bei ihnen eine überwältigende Resonanz. Die Weltwirtschaftskrise wurde zum auslösenden Moment für die letzte parteipolitische Umorientierung des gewerblichen Mittelstandes in der Weimarer Republik. Das Kleingewerbe fühlte sich, seiner Neigung zur kollektiven Egozentrik entsprechend, als das Hauptopfer der Depression. Daß die Massen der Arbeitslosen viel größere Not litten, daß die für den „starren Bedarf" arbeitenden Kleinbetriebe sich als eher krisenfest erwiesen- das waren Argumente, die der „Panik im Mittelstand" keinen Einhalt mehr gebieten konnten. Für das politische Verhalten der kleinen Gewerbetreibenden waren ganz andere Überlegungen bestimmend: Es galt, mit einem politischen System radikal zu brechen, das die Interessen des Kleinbesitzes so wenig zu schützen verstand wie das von Weimar; es galt, die Arbeiterschaft ein für allemal in ihre Schranken zu verweisen und die Macht des anonymen Großkapitals zu zerschlagen; es galt, den „ruinösen" Wettbewerb zu beseitigen und zu einer geordneten Berufsstandswirtschaft zurückzukehren, in der jeder Selbständige sein Auskommen hatte. Die Nationalsozialisten waren die einzigen, die den Beschwerden des Mittelstandes konsequent abzuhelfen versprachen. Alle anderen Möglichkeiten waren bereits erprobt worden - und sie hatten enttäuscht. Feste Parteibindungen gab es beim selbständigen (wie auch beim unselbständigen) Mittelstand ohnehin weit weniger als bei den Arbeitern: Eine Schicht stand zur politischen Disposition. Die Vorbehalte der offiziellen Interessenvertretungen, ihre Warnungen vor den „staatssozialistischen" Plänen der nationalsozialistischen Führung, vermochten nichts gegen die rebellierende Basis. Die Handwerksorganisation wurde über die freien Handwerkerbünde aufgerollt, die in Norddeutschland seit langem einen militant-antiliberalen Kurs gesteuert hatten. Die nationalsozialistische Agitation bei den Einzelhändlern war so erfolgreich, daß sich im November 1932 eine Mitgliederversammlung der Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels mit Zweidrittelmehrheit für eine besondere Großbetriebsumsatzsteuer aussprach. Die Vertreter der Waren- und Kaufhäuser verließen daraufhin die Hauptgemeinschaft; ein Repräsentant des nationalsozialistischen „Kampfbundes gegen Warenhaus und Konsumverein" trat in die Geschäftsführung ein - ein Stück vorweggenommener Gleichschaltung12. Die Herrschaft des Nationalsozialismus brachte dem Kleingewerbe zwar die Erfüllung einiger langgehegter Wünsche wie die allgemeine Zwangsinnung und den Großen Befähigungsnachweis, der die Ausübung eines Handwerksberufs an die Meisterprüfung band, aber die mangelnde Konsequenz bei der Behandlung der Warenhaus107 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

frage - nationalsozialistischen Parteimitgliedern war es verboten, in Warenhäusern zu kaufen; andererseits wurde der „nichtarische" Konzern von Hermann Tietz mit Reichsmitteln saniert - zeigte schon frühzeitig, daß die nationalsozialistische Führung nicht gewillt war, sich ihre wirtschaftspolitischen Entscheidungen vom gewerblichen Mittelstand diktieren zu lassen. Andere Gruppen hatten von Anfang an einen sehr viel größeren Einfluß: allen voran diejenigen Industriebranchen, die für die langfristigen strategischen Zielsetzungen des neuen Regimes wichtig waren. So wiederholte sich für das Kleingewerbe jene Erfahrung, die es auf seiner Wanderung durch die politischen Parteien schon mehrfach hatte machen müssen: Die Freude über die vermeintliche neue politische Heimat wurde alsbald von der Entdeckung getrübt, daß die eigenen Wünsche auch dort hinter mächtigeren Interessen zurückzustehen hatten. Im Falle des Nationalsozialismus war das freilich ein Erlebnis, das im Prinzip keiner Gruppe erspart blieb. Der „Primat der Politik" wurde am Ende auf Kosten aller exekutiert. Der gewerbliche Mittelstand der Weimarer Republik gehörte zu jenen gesellschaftlichen Kräften, die ganz entscheidend durch vorindustrielle Traditionen geprägt waren. Das galt nicht nur überwiegend für seine Produktionsweise und Wirtschaftsmentalität, sondern auch für sein politisches Verhalten. Es blieb vordemokratisch und vorliberal; es orientierte sich am Wunschbild eines starken, vermeintlich überparteilichen Staates, wie ihn das Kaiserreich gekannt hatte. Schutz vor politischem und wirtschaftlichem Wettbewerb: das war die aus mittelalterlichem Zunftdenken herrührende Erwartung, an der das selbständige Kleingewerbe den Staat und die Parteien maß. Ein ähnliches Verhalten legten jene Gruppen an den Tag, die sich im Kaiserreich am meisten gegen Konkurrenzdruck hatten abschirmen können und in einer privilegierten Sonderbeziehung zum Staat standen: der Großgrundbesitz und die Schwerindustrie. Die Massen der Landbevölkerung schlossen sich der Führung der Großagrarier an, obwohl hohe Getreidezölle durchaus nicht immer in ihrem Interesse lagen. Eine prinzipielle Distanz zum liberalen Marktmodell gab es ferner überall dort, wo bürokratische Verhaltensmuster dominierten: bei den Beamten und bei den industriellen und kaufmännischen Angestellten, soweit diese sich bewußt oder unbewußt an den gesellschaftlichen Leitbildern des Beamtenstandes ausrichteten. Ständische Traditionen hatten in kaum einem Land die Industrielle Revolution so ungebrochen überlebt wie in Deutschland, und sie waren eine wesentliche Vorbedingung für die Ausbreitung jenes korporativen Antiparlamentarismus, in dem sich die herkömmliche Mittelstandsideologie und der Nationalsozialismus zumindest verbal trafen. Die faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit sind, entgegen den Simplifikationen des vulgärmarxistischen Dogmas, nur dort erfolgreich gewesen, wo das Bürgertum bei vorindustriellen Machtträgern einen Rückhalt gegenüber den sozialen und politischen Ansprüchen der Arbeiterschaft fand und wo die ländlichen und städtischen Mittelschichten selbst noch sc stark durch vorindustrielle Traditionen geprägt waren, daß sie zur Massenbasis eines militanten Konservativismus werden konnten. In Deutschland stehen die Erfolge, die der Bund der Landwirte und später die Deutschnationalen bei der Mobilisierung der Mittelschichten erringen konnten, für das Übergangsstadium eines durch großagrarische Interessen bestimmten nationa108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

listischen Vulgärkonservativismus. Im Bildungsbürgertum zeitigte der alldeutsche Imperialismus vergleichbare Wirkungen. So wenig gegenläufige Tendenzen im letzten Jahrfünft vor dem Ersten Weltkrieg zu übersehen sind: was sich zum Bürgertum rechnete, stand vor 1914 in der Mehrheit eher „rechts" als „links". Die politische Entwicklung, die der gewerbliche Mittelstand in der Folgezeit genommen hat, erweist sich damit als Aspekt zweier sehr viel umfassenderer Problembereiche: der Kontinuität der neueren deutschen Geschichte und des Verhältnisses von Faschismus und politisch-gesellschaftlicher Rückständigkeit.

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8. D e r e n t b e h r l i c h e S t a n d : Z u r M i t t e l s t a n d s p o l i t i k i m „Dritten R e i c h " Die Forschung zur Sozialgeschichte des „Dritten Reiches" steckt noch in den Anfängen. Dem anregenden Versuch David Schoenbaums, eine erste Schneise in das Dikkicht der gesellschaftlichen Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschland zu schlagen, ist bisher nur eine umfassende Einzeluntersuchung zur Lage einer sozialen Gruppierung in der Zeit zwischen „Machtergreifung" und Kriegsbeginn gefolgt: Timothy W. Masons „Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft". Über andere Klassen und Schichten liegen vergleichbare, ganz aus den Quellen schöpfende Darstellungen nicht vor. Das gilt auch für jene Gruppen, die das Gros der nationalsozialistischen Wählerbasis vor 1933 stellten: die städtischen und ländlichen Mittelschichten. Die vorliegende Studie zur Mittelstandspolitik des „Dritten Reiches" kann diesem Mangel nur innerhalb enger Grenzen abhelfen. Sie bietet keine Gesamtanalyse der Lage von Handwerk und Kleinhandel in den Jahren 1933 bis 1945, sondern widmet sich lediglich drei ausgewählten Aspekten dieser Thematik. Der erste Abschnitt behandelt das Spannungsverhältnis zwischen der mittelständischen Parteibasis und der politischen Führung in den Jahren 1933 bis 1936. Das Thema des zweiten Abschnitts sind jene Auseinandersetzungen zwischen Reichswirtschaftsministerium und Deutscher Arbeitsfront um die Berufsbildung, die ihren Höhepunkt im Sommer 1937 erreichten und ein symptomatisches Schlaglicht auf den gesellschaftlichen Hintergrund von Machtkämpfen im nationalsozialistischen Deutschland werfen. Der dritte Abschnitt befaßt sich mit Problemen, vor die der gewerbliche Mittelstand durch die Kriegswirtschaft gestellt wurde. Wenn im folgenden somit auch nur einzelne Fragen aus den Quellen beantwortet werden, so sind die Ergebnisse doch dazu angetan, gängige Meinungen über die soziale Basis der nationalsozialistischen Politik und das Verhältnis von Kleingewerbe und Großindustrie im „Dritten Reich" zu korrigieren1.

I. Im Verhältnis von nationalsozialistischem Regime und gewerblichem Mittelstand lassen sich grob drei Phasen unterscheiden: eine erste Phase von der Machtübernahme am 30. Januar 1933 bis zum Juli 1933, in der die Mittelstandsideologen der NSDAP und ihre Kampforganisationen das Bild bestimmten und kurz vor der Erfüllung ihrer Wünsche schienen; eine zweite Phase, die bis zur Verkündung des Vierjahresplanes im September 1936 dauerte und in der dem gewerblichen Mittelstand ein sozialer Schonraum zugebilligt wurde, ohne daß er seine Ordnungsvorstellungen der übrigen Gesellschaft hätte aufprägen können; eine dritte Phase bis zum Ende des „Dritten 110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Reiches", in der die Interessen des Kleingewerbes prinzipiell und mit wachsender Intensität kriegswirtschaftlichen Erfordernissen untergeordnet wurden2. Daß das Verhältnis der nationalsozialistischen Führung zu dem zahlenmäßig starken mittelständischen Element in der Wähler- und Mitgliedschaft der NSDAP überwiegend von taktischen Gesichtspunkten bestimmt wurde, war schon vor dem 30. Januar 1933 erkennbar gewesen. Einerseits hatte sich seit 1927/28 in der Parteileitung die durchaus realistische Meinung durchgesetzt, daß die Mittelschichten für den Nationalsozialismus sehr viel leichter mobilisierbar waren als die Industriearbeiter, und entsprechend wurden Bauern und selbständige Gewerbetreibende, Angestellte und Beamte von der NSDAP mit Parolen umworben, die ganz auf die traditionellen Schutzforderungen der jeweiligen Gruppe abgestellt waren. Andererseits durfte kurzfristige Wahltaktik nicht die Erfolgschancen der langfristigen Strategie gefährden. Die Gewinnung von „Lebensraum", zunächst im Osten Europas, machte eine forcierte Aufrüstung notwendig, und dafür war die Kooperation der Großindustrie wichtiger als die des Kleingewerbes. Zu dieser Überlegung kamen die finanzielle Förderung, die Hitler sich von den Industriellen erhoffte, und andere, eher informelle Dienste, die sie für seine Regierungsübernahme leisten konnten - etwa durch Interventionen beim Reichspräsidenten. Aus allen diesen Gründen konnten die massiven Bedenken, die führende Unternehmer und die gesamte industrielle Verbandspresse gegen die vagen wirtschaftspolitischen Aussagen der NSDAP im allgemeinen und die berufsständischen Versprechungen des Parteiprogramms und der Parteiideologen im besonderen äußerten, von Hitler nicht mit leichter Hand abgewiesen werden. Was weite Kreise der Unternehmerschaft von seiten der Nationalsozialisten befürchteten, war eine staatliche Gängelung der Produktion im Dienst mittelständischer und zu Lasten großindustrieller Bedürfnisse. Die eindringlichen Mahnungen aus Industriekreisen hatten schließlich Erfolg: Im September 1932 wurden die mittelständischen Parteiideologen der NSDAP von Hitler faktisch neutralisiert. Er gliederte die Wirtschaftspolitische Abteilung bei der Reichsleitung der NSDAP in eine Hauptabteilung IV Α für Staatswirtschaft unter Gottfried Feder und eine Hauptabteilung IV Β für Privatwirtschaft unter Walther Funk auf. Damit wurde ein Vertrauensmann der Großindustrie mit dem ständefreundlichen Wirtschaftsideologen der Partei auf eine Stufe gestellt. Der bisherige Leiter der Wirtschaftspolitischen Abteilung, Otto Wilhelm Wagener, an dessen perfektionistischen Entwürfen für einen ständischen Aufbau Handel und Industrie besonderen Anstoß genommen hatten, wurde von Hitler zur Aufgabe seiner Position gezwungen. Die öffentliche Propagierung korporativer Modelle war fortan untersagt; die letzte Entscheidung in Sachen ständischer Neuordnung behielt sich Hitler selbst vor. Im Dezember 1932 folgte eine Umorganisation der nationalsozialistischen Mittelstandsorganisation: Der neugebildete, von Adrian von Renteln geleitete Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes, die Nachfolgeorganisation der „Kampfgemeinschaft gegen Warenhaus und Konsumverein", wurde der Hauptabteilung IV Α unterstellt. Auch dieser Maßnahme lag offenkundig die Absicht zugrunde, der Parteiführung eine schärfere Kontrolle der Mittelstandspropaganda zu ermöglichen. Der Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes mußte Ende 1932 ausdrücklich klarlegen, daß der Na111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

tionalsozialismus „für einen einzelnen Berufsstand nur erstreben" könne, „was dem Gesamtvolk zum mindesten nicht schadet". Und während das im Reichstagswahlkampf vom Juli 1932 propagierte „Wirtschaftliche Sofortprogramm der NSDAP" noch einen langen Katalog von Mittelstandsforderungen enthielt, stellte das maßgeblich von Walther Funk mitverfaßte „Wirtschaftliche Aufbauprogramm" vom Herbst 1932 die Ankurbelung der industriellen Produktion und Schutzmaßnahmen für die Landwirtschaft in den Mittelpunkt. Von „gewerblicher Mittelstandspolitik" war nur einmal die Rede, und zwar bezeichnenderweise im Zusammenhang der „planmäßigen Umstellung der industriellen und gewerblichen Produktion unter Berücksichtigung der vom Staat kontrollierten Betriebe und der nationalpolitisch besonders wichtigen Industriezweige": Das Programm versprach die „Bereitstellung von Arbeitsbeschaffungsmitteln für die Erweiterung der deutschen Rohstoffgrundlage und für neue nationale Industrie- und Gewerbezweige sowie für technische und fabrikatorische Umstellung (gewerbliche Mittelstandspolitik)"3. Die Grenzen nationalsozialistischer Mittelstandsfreundlichkeit waren somit schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1932 erstmals sichtbar geworden: Die Interessen der kleinen Selbständigen und die Ideologeme ihrer Fürsprecher im Parteiapparat hatten im Zweifelsfall hinter den politischen Zielen der obersten Parteiführung zurückzutreten. Diesem Befund scheint es zu widersprechen, daß unmittelbar nach der Machtübernahme die mittelständischen Elemente der NSDAP nochmals die wirtschaftspolitische Szene beherrschten. Boykottdemonstrationen und Terroraktionen gegen Warenhäuser und jüdische Geschäfte waren Ausdruck der Siegesstimmung bei nationalsozialistischen Kleinhändlern und Handwerkern. Die Parteileitung scheint sich zwischen Februar und April 1933 darauf beschränkt zu haben, den Tatendrang ihrer Mittelstandsorganisation in die Richtung einer „Abwehraktion gegen die Juden" zu lenken. Den Druck der Basis zu ignorieren, war für Hitler jedenfalls unmöglich. Kompensationen dafür, daß sowohl das Reichswirtschaftsministerium als auch - trotz lebhafter Proteste nationalsozialistischer Handwerksfunktionäre - das diesem Ministerium nachgeordnete Amt des Reichskommissars für den Mittelstand dem deutschnationalen Koalitionspartner überlassen worden waren, erwiesen sich als unumgänglich4. Im April 1933 mußte Reichswirtschaftsminister Hugenberg Otto Wilhelm Wagener, der nach dem 30. Januar von Hitler wieder mit der Leitung der „Kommission für Wirtschaftspolitik" der NSDAP betraut worden war, als einen der beiden „Kommissare" für den nichtagrarischen Bereich der Wirtschaft einsetzen. Wagener seinerseits brachte den Führer des Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes, Renteln, an die Spitze der neugebildeten Reichsstände des deutschen Handwerks und des deutschen Handels sowie des Deutschen Industrie- und Handelstages. Damit schienen wichtige personelle Voraussetzungen für einen ständischen Umbau der Wirtschaft gegeben. Es war jedoch symptomatisch, daß eine entsprechend rigorose Gleichschaltung des Reichsverbandes der deutschen Industrie unterblieb. Großindustrie und hohe Bürokratie, die in einem wirtschaftspolitischen Machtgewinn von Parteifunktionären eine Gefährdung eigener Interessen erblicken mußten, widersetzten sich den berufsständischen Plänen Wageners und Renteins energisch. Auf dem Wege über den preußischen 112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Ministerpräsidenten Göring und Reichswirtschaftsminister Hugenberg gelang es Beamtenschaft und Industrie, die spontanen Gleichschaltungsmaßnahmen lokaler mittelständischer Kampfbünde abzublocken. In der zweiten Maihälfte löste Wagener alle wirtschaftlichen Kampfbünde mit Ausnahme des Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes auf. Der letztere mußte seine Funktionen neu interpretieren. Als positive Aufgaben nannte die Kampfbundleitung des Gaus München-Oberbayern solche, „die aus irgendwelchen Gründen auf gesetzlichem Wege nicht lösbar sind". Dazu sollten treten die Erziehung der Mitglieder zur nationalsozialistischen Weltanschauung, die laufende wirtschaftliche Information der Reichsführung des Kampfbundes sowie Propaganda für deutsche Waren und deutsche Arbeit. Verboten wurden ausdrücklich die „Behandlung wirtschaftspolitischer Fragen aller Art, vor allem die Vornahme von Gleichschaltungshandlungen in wirtschaftlichen Verbänden und Unternehmungen, sowie Eingriffe in das Geschäfts- und Wirtschaftsleben, sei es unmittelbar durch Erhebung von Forderungen insbesondere gegenüber Warenhäusern, Einheitspreisgeschäften und Großfilialbetrieben, oder sei es mittelbar auf dem Wege über die Erwirkung politischer Eingriffe auf Grund einer Gefährdung der Öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung". Anfang Juli 1933 untersagte auch der Oberste SAFührer den Einsatz von SA für wirtschaftliche Privatzwecke, wobei er ausdrücklich auf Beispiele für ein Zusammenwirken von SA und Kampfbund verwies5. Was sich zwischen Mai und August 1933 vollzog, war nichts Geringeres als eine Kehrtwende der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik. Die NSDAP schwor einigen der extrem protektionistischen Forderungen ab, die sie zum Teil bereits in ihrem Parteiprogramm von 1920 aufgestellt und mit deren Hilfe sie die Stimmen der Kleingewerbetreibenden gewonnen hatte. Besonders deutlich wurde die Kurskorrektur durch zwei Erlasse des „Stellvertreters des Führers", Rudolf Heß, vom 29. Juni und 7. Juli 1933. In der ersten Anordnung gab Heß bekannt, die Einstellung der NSDAP zur Frage der Konsumvereine sei zwar im Grundsätzlichen unverändert. Im Hinblick auf die allgemeine Wirtschaftslage halte die Partei jedoch „bis auf weiteres ein aktives Vorgehen mit dem Ziele, den Zusammenbruch der Konsumvereine herbeizuführen, nicht für geboten". Der zweiten Anordnung zufolge war die Einstellung der Partei auch zur „Warenhausfrage" zwar „im grundsätzlichen Sinne nach wie vor unverändert"; den Gliederungen der Partei aber wurde ein „aktives Vorgehen mit dem Ziele, Warenhäuser und warenhausähnliche Betriebe zum Erliegen zu bringen", untersagt. Die Begründung zeigte, welchen Zielen der Nationalsozialismus zunächst Priorität zuerkannte: In einer Zeit, da die nationalsozialistische Regierung ihre Hauptaufgabe darin sehe, möglichst zahlreichen Volksgenossen zu Arbeit und Brot zu verhelfen, dürfe die nationalsozialistische Bewegung dem nicht entgegenwirken, indem sie Hunderttausenden von Arbeitern und Angestellten in den Warenhäusern und den von ihnen abhängigen Betrieben die Arbeitsplätze nehme. Andererseits blieb es Mitgliedern der NDSAP auch weiterhin untersagt, für Warenhäuser und Konsumvereine zu werben6. Die beiden Heß-Erlasse wurden am 14. Juli 1933 durch eine einschneidende personelle Maßnahme ergänzt: Wagener verlor seine Position als Leiter der „Kommission für Wirtschaftspolitik" der NSDAP und als Wirtschaftskommissar. Wageners Ent113

8 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

machtung war ein Erfolg von Kurt Schmitt, dem bisherigen Generaldirekter der Allianz-Versicherung, der den am 27. Juli 1933 zurückgetretenen Hugenberg als Reichswirtschaftsminister abgelöst und damit ein auch von Wagener und Renteln angestrebtes Amt übernommen hatte. Schmitt, als Technokrat der mittelständischen Restaurationsromantik abhold, erklärte offiziell, die Notwendigkeiten der Arbeitsbeschaffung hätten Vorrang vor den Arbeiten am berufsständischen Aufbau. Heß untersagte die weitere Diskussion von korporativen Plänen und drohte disziplinarische Strafen für den Fall des Zuwiderhandelns an. Im August wurde der Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes aufgelöst. Seine Mitglieder wurden pauschal in die neugegründete N. S. Hago (Nationalsozialistische Handwerks-, Handels- und Gewerbeorganisation) aufgenommen, die ihrerseits einen Teil der von Robert Ley geführten Deutschen Arbeitsfront (DAF) bildete. Der Programmartikel in der ersten Folge der „Führerbriefe" der N. S Hago vom 1. September 1933 machte deutlich, daß in der Mittelstandspolitik, soweit es nach dem Willen der DAF und ihres Führers ging, künftig ein anderer Wind wehen sollte. Ein halbes Jahrhundert lang habe der Mittelstand für die Nöte des Arbeiters kein Verständnis aufgebracht. Als dann die Reihe an ihn gekommen sei und er begonnen habe, Not zu leiden, „wurde er zum Träger einer ebenso krassen wie lächerlich egoistischen Interessenpolitik". Die vornehmste Aufgabe der N. S. Hago sollte infolgedessen nicht die Wahrnehmung der Interessen des Kleingewerbes sein, sondern die nationalsozialistische Erziehung des Mittelstandes7. Die Deutsche Arbeitsfront, die sich als Gralshüter der nationalsozialistischen Ideologie der „Volksgemeinschaft" fühlte, hatte der traditionellen mittelständischen Mentalität damit formell den Fehdehandschuh zugeworfen. So wenig die Organisation Robert Leys eine Gewerkschaft war, so sehr bemühte sie sich doch, der politisch entmachteten Arbeiterklasse gewisse ideologische und materielle Kompensationen zu gewähren. Die Furcht vor massenhafter Unzufriedenheit unter den Arbeitern war von Beginn des „Dritten Reiches" an viel ausgeprägter als die Sorge, die Frustrationen der Kleingewerbetreibenden könten sich eines Tages gewaltsam entladen8. Aber die DAF war nur ein Faktor in der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik. Daneben gab es die im Mai 1933 gegründeten und von Renteln geleiteten „Reichsstände" des deutschen Handwerks und des deutschen Handels sowie, mit jeweils weitgehend identischen Vorständen, die traditionellen Spitzenverbände: den Reichsverband des deutschen Handwerks und den Deutschen Industrie- und Handelstag. Im Bereich des Handwerks kam, um das organisatorische Chaos zu vervollkommnen, als weiterer Spitzenverband noch der (personell mit der Spitze des Reichsverbandes des deutschen Handwerks verflochtene) Deutsche Handwerks- und Gewerbekammertag als Dachorganisation der Handwerkskammern hinzu. Erst am 1. Oktober 1933 wurde der Reichsverband des deutschen Handwerks aufgelöst. Der Reichsstand des deutschen Handwerks, seit Januar 1934 geleitet durch den „Reichshandwerksführer", wurde definitiv zum umfassenden Spitzenverband des Handwerks und bildete das organisatorische Dach über der „Reichsgruppe Handwerk" (bis November 1934: Gruppe der Reichsfachverbände), in der die Reichsinnungsverbände vereinigt waren, und dem Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag. Der Name „Reichsstand" blieb dem Handwerk - wohl aus Rücksicht auf seine starken berufsständischen Traditionen 114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

- über den Herbst 1934 hinaus erhalten, während in den übrigen Bereichen der „gewerblichen Wirtschaft" der Name „Reichsstand" durch den der „Reichsgruppe" ersetzt und damit auch terminologisch der Sieg der industriell-technokratischen über die mittelständisch-korporativen Interessen dokumentiert wurde9. Die Erben der traditionellen Selbstverwaltungsorgane von Handwerk und Einzelhandel widersetzten sich, ungeachtet aller personellen Gleichschaltungsmaßnahmen, den usurpatorischen Kompetenzansprüchen der Deutschen Arbeitsfront und versuchten, soweit es irgend ging, auch unter den veränderten politischen Verhältnissen konventionelle Interessenpolitik im Sinne ihrer Organisationen zu treiben. Diese Bestrebungen wurden dadurch erleichten, daß mit der Umorganisation der gewerblichen Wirtschaft im Jahr 1934 auch die interimistische Führung der mittelständischen Dachverbände und des Deutschen Industrie- und Handelstages durch Adrian von Renteln endete. Das Reichswirtschaftsministerium als Aufsichtsbehörde der Reichswirtschaftskammer, der Organisation der gewerblichen Wirtschaft auf Reichsebene, konnte kein Interesse daran haben, irgendwelche Kompetenzen an die Deutsche Arbeitsfront, eine Gliederung der NSDAP, zu verlieren. Das Wirtschaftsministerium wurde so zum eigentlichen Widerpart der Arbeitsfront und damit zum Verbündeten der gewerblichen Wirtschaft insgesamt. Ressortbürokratie und Unternehmerschaft hatten gemeinsame Interessen, soweit es um die Abwehr des von der Arbeitsfront proklamierten Primats der Politik ging. Am Beispiel der beruflichen Bildung wird diese Konfliktkonstellation noch ausführlich zu analysieren sein10. An der Mittelstandspolitik der ersten drei Jahre des „Dritten Reiches" lassen sich die unterschiedlichen Interessen ablesen, die auf die wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse einwirkten. Auf der einen Seite steht eine Reihe von sozialprotektionistischen Maßnahmen, die zum Teil unmittelbar an Notverordnungen der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher anknüpften. Das gilt namentlich für das Gesetz zum Schutz des Einzelhandels vom 12. Mai 1933, das eine allgemeine Einrichtungssperre für Einzelhandelsgeschäfte verhängte. Diese Sperre war zunächst bis zum 6. November des gleichen Jahres befristet, wurde aber immer wieder verlängert und am 1. Januar 1935 in eine allgemeine Konzessionierungspflicht umgewandelt. Für Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte wurde aufgrund desselben Gesetzes praktisch eine generelle Einrichtungs- und Erweiterungssperre erlassen, die bis zum Ende des „Dritten Reiches" dauerte. Dazu kamen ein uneingeschränktes Zugabeverbot und eine nahezu generelle Untersagung von „Sonderveranstaltungen" im Einzelhandel. In die zweite Phase der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik fiel die Einführung des „Sachkundenachweises" am 23. Juli 1934, der als Kriterium für die Bewilligung einer Ausnahmeerlaubnis zur Errichtung eines Geschäftes diente und damit eine Überfüllung der Einzelhandelsberufe verhindern sollte. Mit diesen Prohibitivmaßnahmen kam die Regierung Hitler einigen der Schutzforderungen des Kleingewerbes nach, denen seit 1930 alle Reichskabinette Zugeständnisse gemacht hatten. Die Diskriminierung von Kauf- und Warenhäusern stieß in der übrigen gewerblichen Wirtschaft kaum auf Widerstand. Die Großbetriebe des Einzelhandels galten in weiten Kreisen immer noch als kommerzielle Außenseiter, und die Großbetriebe der Industrie sahen keine Notwendigkeit, sich mit ihnen zu solidarisieren. Den deutschnatio115 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

nalen Verbündeten der NSDAP, die sich stets betont mittelstandsfreundlich gegeben hatten und in der ersten Phase der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik noch erheblichen wirtschaftspolitischen Einfluß besaßen, fiel der Abbau der Gewerbefreiheit nicht weniger leicht als den Nationalsozialisten11. Das Handwerk mußte zwar länger warten als der Kleinhandel, bis einige seiner traditionellen Forderungen verwirklicht wurden; dafür ging die Erfüllung seiner Wünsche aber weiter als im Fall der Detaillisten. Ein Antrag des Reichsstandes des deutschen Handwerks, entsprechend der Vorschrift des § 2 des Gesetzes zum Schutz des Einzelhandels ein Verbot für die Neuerrichtung auch von Handwerksbetrieben zu erlassen, wurde Anfang 1934 von Reichswirtschaftsminister Schmitt zunächst abgelehnt - offenbar, weil ein solcher Schritt von den Beamten des zuständigen Ressorts als produktivitätshemmend angesehen wurde. Eine andere Handwerksforderung wurde dagegen am 15. Juni 1934 Wirklichkeit: die Einführung von Pflichtinnungen. Bisher hatte es lediglich das Institut der „fakultativen Zwangsinnung" gegeben, das durch das Handwerkergesetz von 1897 eingeführt worden war: Die Zugehörigkeit zur Innung war obligatorisch, wenn sich in einem Handwerkskammerbezirk die Mehrheit der Selbständigen eines bestimmten Handwerkszweiges durch Abstimmung hierfür entschied. Die Erste Verordnung über den vorläufigen Aufbau des deutschen Handwerks vom 15. Juni 1934, die ihrerseits auf dem Gesetz über den vorläufigen Aufbau des deutschen Handwerks vom 29. November 1933 beruhte, kündigte diesen Kompromiß zwischen dem mittelständischen Protektionismus und dem Prinzip der Organisationsfreiheit auf. Die Einführung von Pflichtinnungen verdankte sich aber nicht dem Druck irgendeiner mittelständischen Parteiformation, sondern war Teil eines übergeordneten Programms zur Zwangsorganisation der gewerblichen Wirtschaft. Dieses Programm ging auf Reichswirtschaftsminister Schmitt zurück, der hierbei die nachdrückliche Unterstützung der Reichswehr hatte. Aus kriegswirtschaftlichen Erwägungen hatte sich das Reichswehrministerium bereits im Oktober 1933 für eine umfassende Pflichtorganisation aller Wirtschaftszweige eingesetzt; aber anders als bei der Industrie deckten sich beim Handwerk die Wünsche des Militärs, was ihre praktischen Folgen anlangte, mit denen der Betroffenen12. Eine andere traditionelle Handwerksforderung wurde nicht durch die „Partei", sondern durch einen „bürgerlichen" Bundesgenossen der Nationalsozialisten erfüllt: Den „Großen Befähigungsnachweis", der die Eröffnung eines Handwerksbetriebs an die bestandene Meisterprüfung knüpfte, führte Schmitts Nachfolger als Reichswirtschaftsminister, Hjalmar Schacht, am 18. Januar 1935 hauptsächlich deswegen ein, weil es möglich schien, auf diese Weise für einen wichtigen Bereich der ihm unterstellten gewerblichen Wirtschaft herkömmliche Ausbildungsstandards gegenüber dem von der Deutschen Arbeitsfront propagierten „nationalsozialistischen Leistungsprinzip" zu sichern. Eben darin lag ein gemeinsames Interesse von Handwerk und Industrie, und aus dieser Konstellation erklärt es sich, daß Schacht bei seinem Schritt vom Januar 1935 nicht mit massiver Opposition anderer Gruppen der gewerblichen Wirtschaft rechnen mußte. Dazu kam etwas anderes. In der Vergangenheit hatte die Industrie den Großen Befähigungsnachweis bekämpft, weil sie darin eine gravierende Einschränkung der beruflichen Mobilität und der technologischen Innovation sah. 116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Aber die Produktionsbereiche von Handwerk und Großindustrie hatten sich seit der Einführung der Gewerbefreiheit so weit auseinanderentwickelt, daß Beschränkungen derselben im Bereich des Kleingewerbes kaum noch vitale Interessen der Großunternehmer berührten. Der Widerspruch aus Handel und Industrie gegen Schachts Verordnung konzentrierte sich daher auf einen Bereich, in dem es nach wie vor Überlappungen zwischen ihnen und dem Handwerk gab: die handwerklichen Nebenbetriebe, die industriellen und kommerziellen Unternehmen angegliedert waren. Die ursprüngliche Bestimmung, wonach die Eigentümer solcher Betriebe die Meisterprüfung ablegen mußten, wurde wieder aufgehoben. Einer neuen Verordnung vom 22. Januar 1936 zufolge genügte es, wenn der tatsächliche Leiter des Nebenbetriebes diese Voraussetzung erfüllte. Im März 1937 schließlich wurde die Zahl der als handwerkliche Nebenbetriebe einzustufenden Werkstätten durch eine restriktive Definition außerordentlich eingeschränkt. In der alten Streitfrage der Abgrenzung zwischen Handwerk einerseits, Industrie und Handel andererseits - einer Frage, an deren Beantwortung die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen „Reichsgruppen" hing - setzten sich die Großbetriebe am Ende weitgehend durch13. Andere Niederlagen waren für den gewerblichen Mittelstand weitaus schmerzhafter. Mit den Heß-Erlassen vom Juni und Juli 1933 hatte die mittelständische Parteibasis zwar eine Schlacht verloren; aber die kleinen Selbständigen waren noch nicht neutralisiert, und sie hatten noch Verbündete. Zu diesen gehörte sicherlich Gottfried Feder, der - gewissermaßen als personeller Trostpreis für das Kleingewerbe - Anfang Juli 1933 zum Staatssekretär unter dem neuen Reichswirtschaftsminister Schmitt ernannt worden war. Aber eine seiner ersten Amtshandlungen enthüllte auf ironische Weise, wie wenig reale Macht dem gewerblichen Mittelstand verblieben war. Am 25. Juli mußte ausgerechnet Feder der Staatskanzlei des Freistaates Bayern mitteilen, daß das von ihr geforderte vollständige Verbot des Lebensmittelverkaufs in Warenhäusern nicht in Frage komme, weil in eingehender Prüfung festgestellt worden sei, „daß ein solches Verbot bei der Bedeutung, die der Lebensmittelhandel für die einzelnen Betriebe heute erreicht hat und bei der gegenwärtig teilweise sehr angespannten Lage der Warenhäuser zu Zusammenbrüchen führen müßte, deren Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft und den Arbeitsmarkt nicht übersehbar wären". Aus dem gleichen Grund erwirkte Reichswirtschaftsminister Schmitt kurz nach seiner Amtsübernahme bei Hitler sogar die Sanierung des „nichtarischen" Warenhauskonzerns Hermann Tietz mit Reichsmitteln14. Bei der Abwehr der mittelständischen Forderung nach einer Liquidation der Konsumvereine spielte das Arbeitsmarktargument ebenfalls eine wichtige Rolle - aber es war nicht das einzige. Robert Ley, dessen Aufsicht die Verbrauchergenossenschaften im Mai 1933 unterstellt worden waren, ließ sich bald davon überzeugen, daß eine Auflösung fatale gesamtwirtschaftliche Folgen haben würde. In einem im September 1933 publizierten Artikel nannte er jedoch noch einen weiteren Grund, der dagegen sprach, die Konsumvereine „rücksichtslos zu zerschlagen": Auf diese Weise hätte das Regime auch „einen großen Teil der deutschen Arbeiterschaft verärgert und verbittert" und sich „zu unerbittlichen Feinden gemacht". Ley kündigte zwar eine Zentralisierung der Eigentumsrechte an lokalen Konsumvereinen auf die neu zu schaffende 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Reichsverbrauchergenossenschaft und die Verpachtung der einzelnen Läden an den Mittelstand an; aber in der Praxis blieb die Gleichschaltung der Konsumvereine zunächst vergleichsweise oberflächlich. Der Verpachtungsgedanke wurde nicht verwirklicht; die nationalsozialistischen „Beauftragten" waren auf die Rolle von Befehlsübermittlern der Staatsführung beschränkt. Die starke personelle Kontinuität in der Leitung der Örtlichen Genossenschaften mußte auf die ehemaligen Mitglieder des Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes provozierend wirken. Im März 1934 stellte der Kreisschulungsleiter der N. S. Hago in Aschaffenburg eine völlige Umkehr des nationalsozialistischen „Kampfzieles" in bezug auf die Verbrauchergenossenschaften fest: ,,Statt daß der schwer um seine Existenz ringende Mittelstand eine Besserung verspüren könnte ist hier eine Verschlechterung zu verzeichnen und die Konsumvereine machen in einer Art und Weise Reklame und Propaganda die geradezu als jüdisch-marxistisch zu bezeichnen ist". Die früheren sozialdemokratischen Funktionäre des Konsumvereins spielten dort nach wie vor die maßgebende Rolle, und daher sei die „Erbitterung über all das in den weitesten Kreisen der Bevölkerung und natürlich hauptsächlich unter den Geschäftsleuten, die dadurch sehr geschädigt werden, die allergrößte". Der Partei werde mit Recht der Vorwurf gemacht, „daß es statt besser bedeutend schlechter geworden sei, denn heute dürften dieselben die uns früher bis aufs Blut bekämpft hätten machen was sie wollten und wir selbst müssen mit begründeter Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen und Strafen zusehen wie in den Konsumvereinen sich die alten roten Bonzen wieder einnisten und zum Schaden des gesamten Mittelstandes ihr Handwerk unter dem Schutz der Partei und ihrer Beauftragten wieder unbekümmert weitertrieben"15. Der Protestruf aus Aschaffenburg zeigt, daß die Umwandlung des Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes in die N. S. Hago bei den Kleingewerbetreibenden offenbar keine nachhaltige Bewußtseinsveränderung bewirkt hatte. Die Tatsache, daß die N. S. Hago der Deutschen Arbeitsfront unterstellt und ihr Leiter, Adrian von Renteln, auf die politische Linie Leys verpflichtet worden war, schlug an der Basis nicht durch. Es bedurfte daher immer wieder behördlicher Anordnungen und parteioffizieller Interventionen, um zu verhindern, daß untergeordnete Formationen der N. S. Hago den jeweiligen Direktiven von Staats- und Parteiführung zuwiderhandelten. So mußte die N. S. Hago Mainfranken ihren Kreisamtsleitungen anläßlich eines „Werbefeldzugs" im März 1934 eine Weisung des „Sekretariats des Führers" übermitteln, wonach für alle Plakattexte die Genehmigung der „Politischen Organisation" erforderlich war. Transparente mit der Aufschrift „Wer bei Juden kauft, ist ein Volksverräter", wie sie in einigen Städten angebracht worden seien, müßten entfernt werden; ein Zuwiderhandeln gegen diesen Befehl habe den Parteiausschluß zur Folge. Eine Mitteilung des Hessischen Staatspolizeiamtes an die örtlichen Dienststellen vom 29. März 1934 nennt einige der Instanzen, die an der Verhinderung spontaner Aktionen der nationalsozialistischen Mittelständler interessiert waren. Der Werbefeldzug der N. S. Hago dürfe, so heißt es dort, „nicht zu einem Boykott gegen Waren- und Kaufhäuser, Konsumvereine, Einheitspreis- und Filialgeschäfte und gegen jüdische Geschäfte führen. Eine solche planmäßige Boykottaktion, die sich insbesondere durch Flugblätter, Plakate, Transparente, Postenstehen, Kontrollen, Anprangerung 118 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

usw. kennzeichnet, darf nach übereinstimmender Meinung des Herrn Reichswirtschaftsministers, des Herrn Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda und des Herrn Reichsbankpräsidenten, die auch dem Leiter der N. S. Hago mitgeteilt wurde, nicht stattfinden"16. Die wirtschaftspolitischen Gründe gegen mittelständische Boykottdemonstrationen waren im Frühjahr 1934 dieselben wie im Sommer 1933. Solche Aktionen konnten auf Handel und Industrie nur beunruhigend wirken; sie gefährdeten überdies den Erfolg der Arbeitsbeschaffungspolitik. Für die politische Führung im engeren Sinn kamen noch andere Überlegungen hinzu: Einmal mußten die obersten Parteiinstanzen schon aus außenpolitischen Gründen darauf bestehen, Zeitplan und Dosierung antisemitischer Maßnahmen ausschließlich selbst zu bestimmen; zum anderen geboten die Priorität der Aufrüstung und die damit verbundene Abhängigkeit von der Reichswehrführung, alles zu vermeiden, was auch nur dem Anschein nach auf eine „zweite Revolution" hindeutete17. An den Konsumvereinen hatte die Reichswehrführung im übrigen auch ein unmittelbares Interesse. Reichswehrminister von Blomberg teilte dem Stellvertreter des Führers am 5. Januar 1935 mit, „aus wehrpolitischen Gründen" lege er auf die Erhaltung dieser „für die Lebensmittelversorgung des deutschen Volkes außerordentlich wertvollen Produktionsstätten" den größten Wert. Zusammen mit dem Reichswirtschaftsministerium widersetzten sich die Militärs dem Drängen der Reichsgruppe Handel, die Genossenschaften zu liquidieren, und einer Anordnung der Kommission für Wirtschaftspolitik bei der Reichsleitung der NSDAP vom 13. Dezember 1934, wonach die Werbung der Konsumvereine zu überwachen war. Die wirtschaftlichen Argumente der Fürsprecher des Mittelstandes hätten für sich allein keine Chancen gehabt, die wehrwirtschaftliche Logik außer Kraft zu setzen. Ein höheres Gewicht hatten die staatspolitischen Bedenken, die von den Gegnern der Konsumvereine geltend gemacht wurden. Zahlreiche örtliche Genossenschaften waren in der Tat zu Zentren sozialdemokratischen, teilweise auch kommunistischen Widerstandes geworden. Das Reichswirtschaftsministerium konnte solche Einwände nicht unbeachtet lassen, zumal auch Rudolf Heß in einem Schreiben an Schacht vom 7. Januar 1935 die oppositionelle Zellenbildung in den Konsumvereinen für gefährlich erklärte und die Überwachung der genossenschaftlichen Werbung erst dann wieder aufzuheben versprach, wenn zentrale Anordnungen der Konsumvereine jede politisch bedenkliche Werbung unmöglich machten. Am 22. Mai 1935 ließ sich Schacht durch ein Gesetz ermächtigen, wirtschaftlich gefährdete Verbrauchergenossenschaften aufzulösen. Für die Liquidation von 72 Genossenschaften in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 sind jedoch offenbar Gründe der „Staatssicherheit" maßgeblich gewesen: Es wurden alle großstädtischen Genossenschaften aufgelöst, in denen sich das Gros der Mitglieder aus der industriellen Arbeiterschaft rekrutierte. Aus den liquidierten Großgenossenschaften wurden „Auffanggesellschaften", die als Verteilungsstellen für die weiter existierenden Genossenschaften und die in Einzelhandelsunternehmungen umgewandelten Kleingenossenschaften fungierten. Das Ziel der vollständigen Zerschlagung der Konsumvereine hatten die nationalsozialistischen Mittelständler damit noch nicht erreicht. Es traf sich aber günstig, daß 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Robert Ley die vom Reichswirtschaftsministerium erreichte Kontrolle über die Konsumvereine als Herausforderung empfand. Unter Berufung auf die latente politische Gefahr, die von den Verbrauchergenossenschaften ausgehe, konnte Ley Anfang 1941 schließlich bei Hitler die Zustimmung zur Auflösung der Konsumvereine einholen. Reichswirtschaftsminister Funk, der Leys Ansprüchen auch sonst wenig Widerstand entgegensetzte, unterzeichnete am 18. Februar 1941 eine Verordnung, die der Auflösung der Konsumvereine den Anschein einer kriegswirtschaftlichen Maßnahme gab und die Deutsche Arbeitsfront damit beauftragte, die Liquidation durchzuführen. Das Vermögen der Verbrauchergenossenschaften ging an das „Gemeinschaftswerk der DAF" über. Im „Endziel" sollten die Verteilungsstellen selbständigen Einzelkaufleuten übergeben, die Betriebe und betrieblichen Einrichtungen im übrigen „unter Erhaltung des volks- und wehrwirtschaftlichen Leistungsvermögens im Interesse der nationalsozialistischen Wirtschaft" eingesetzt werden18. Im Hinblick auf die Waren- und Kaufhäuser wurde den Mittelständlern kein vergleichbarer Wechsel auf die Zukunft ausgestellt. Einige dieser Großbetriebe des Einzelhandels zeichnete die DAF sogar mit Gaudiplomen „für musterhafte soziale Einrichtung" aus. Am 1. April 1940 fiel die 1930 eingeführte diskriminierende Warenhaussteuer endgültig weg. Bei den noch näher zu erörternden Schließungsaktionen im Einzelhandel profitierten die Großbetriebe davon, daß sie sich als geradezu ideale Instrumente der Bewirtschaftung erwiesen. Einzelne Gauleiter sahen nichtsdestoweniger eine Chance gekommen, endlich den Punkt 16 des nationalsozialistischen Parteiprogramms zu verwirklichen. Besonders in Hessen und Mecklenburg wurde die „Auskämmaktion" im Jahre 1943 zum Vorwand für die Schließung von Warenhäusern und Kleinpreisgeschäften genommen19. Bereits in den ersten beiden Phasen der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik, also vor der Verkündung des Vierjahresplanes, war deutlich geworden, daß die wirtschaftspolitischen Forderungen des Kleingewerbes nicht zu den Prioritäten des Regimes zählten. Was der gewerbliche Mittelstand positiv erreichte, waren entwederwie das Einzelhandelsschutzgesetz vom Mai 1933 - Befriedungsmaßnahmen auf der Linie des schon von den Präsidialregierungen der Jahre 1930-1932 praktizierten Sozialprotektionismus oder Nebenprodukte wirtschaftspolitischer Grundsatzentscheidungen. Das letztere gilt sowohl für die primär rüstungswirtschaftlich begründete Einführung von Pflichtinnungen als auch für den Großen Befähigungsnachweis, mit dem Reichswirtschaftsminister Schacht einer Politisierung des gewerblichen Ausbildungswesens vorbeugen wollte. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 1933 verdankte sich keine der „Errungenschaften" des Kleingewerbes mehr dem Druck irgendwelcher Parteiformationen. Die meisten Maßnahmen zugunsten des Mittelstandes gingen vielmehr auf eher traditionelle Machtträger - die Reichswehr, die Ministerialbürokratie, Minister Schacht - zurück. Andererseits setzten diese Kräfte der Mittelstandsfreundlichkeit dort Grenzen, wo sie mit übergeordneten wirtschaftspolitischen Zielen zu kollidieren drohte. Das trifft für die restriktive Behandlung der handwerklichen Nebenbetriebe wie für die Erhaltung von Warenhäusern und Konsumvereinen zu. Bei den Verbrauchergenossenschaften gaben nicht wirtschafte-, sondern sicherheitspolitische Gründe den Ausschlag für den späten Entschluß zur Liquidation. Von 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

den nationalsozialistischen Instanzen im engeren Sinn hat letztlich nur die Deutsche Arbeitsfront kontinuierlich und aktiv Anteil an der Mittelstandspolitik genommen freilich gerade nicht im Sinne der traditionellen Forderungen des Kleingewerbes, sondern im Dienst der pseudoegalitären „Volksgemeinschaft" und damit einer Kampfansage an die Privilegierungswünsche von Handwerk und Kleinhandel. Hitler selbst hat dem Mittelstand keinerlei persönliches Interesse entgegengebracht. Seine Äußerungen gegenüber der Handwerksführung in den ersten Monaten nach der Machtübernahme ließen keinerlei Rückschlüsse auf irgendwelche konkreten mittelstandspolitischen Zielsetzungen zu. Vergeblich hat sich der Reichsstand des deutschen Handwerks darum bemüht, Hitler zu einer Rede an das deutsche Handwerk zu bewegen. Anders als die Bauern, die alljährlich auf dem Bückeberg der Ehre einer Führerrede teilhaftig wurden, hat das Handwerk sich mit einem einzigen schriftlichen Gruß des ersten Mannes des „Dritten Reiches" begnügen müssen. Anläßlich des Reichshandwerkertages in Frankfurt ließ Hitler im Juni 1935 wissen, es sei sein „Wunsch und Wille, daß das deutsche Handwerk, verwurzelt in ehrwürdiger Überlieferung, im Schutz von Volk und Staat einer neuen Blüte entgegensehe". In Ermangelung anderer Aussagen Hitlers hat dieses vielzitierte Führerwort bis zum Kriegsende dem deutschen Handwerk als Bestätigung höchsten Wohlwollens dienen müssen20. Manchen „alten Kämpfern" war jedoch schon in den ersten beiden Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft klar geworden, daß mittelständische Anliegen bei Hitler kein offenes Ohr fanden. Sie versuchten sich dies damit zu erklären, daß der „Führer" von falschen Beratern umgeben sei. Karl Zeleny, der Vizepräsident des Reichsstandes des deutschen Handwerks und einer der frühen Vorkämpfer des Nationalsozialismus im gewerblichen Mittelstand, ersuchte den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Lammers, am 11. August 1933 dringend, aber vergeblich um die Vermittlung eines Gesprächs bei Hitler. Als Grund seiner Bitte nannte er, daß er „immer wieder in weiten Kreisen unserer Stellen auf stärkste Unkenntnis der handwerklichen Mentalität" stoße. Am 20. Juli 1934 wandte sich der Geschäftsführer des Reichsverbandes des deutschen Einzelhandels mit Tabakwaren, G. A. Eppert, ein langjähriges Mitglied der NSDAP und der SA, an den Ministerialrat in der Reichskanzlei, Killy, um gegen die Freigabe des automatischen Verkaufs von Tabakwaren zu protestieren eine teilweise Umkehrung jener Maßnahmen, mit denen das Regime zunächst optische Erfolge bei der Arbeitsbeschaffung herbeigeführt hatte. Die Automatisierung des Tabakhandels, so führte Eppert aus, werde zahllose Familienexistenzen zugrunde richten. Wie der Tabakwarenhandel hätten auch das Handwerk, die Angestelltenschaft, die Zigarettenindustrie und die N. S. Hago die Meinung vertreten, daß die menschliche Verkaufskraft nicht durch eine maschinelle ersetzt werden dürfe. Leider habe man diese Organisationen nie angehört, sondern ihnen erst nach Erlaß des neuen Gesetzes die Möglichkeit gegeben, ihre Bedenken zu äußern. „Verehrter Parteigenosse Dr. Killy, als alter Nationalsozialist werden Sie mit mir empfinden, wie schwer mich, der ich Geschäftsführer des Reichsverbandes des deutschen Einzelhandels mit Tabakwaren bin, dieser Schlag der Automatenindustrie getroffen hat. Ich kann nicht begreifen, daß für Zigarrenherstellung ein Maschinenverbot erlassen wurde, während 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

im Vertrieb mit Tabakwaren die Maschine eingeführt werden soll [. . . ] " . Der Grund der neuen Maßnahme sei wohl eine einseitige Darstellung der damit verbundenen Fragen beim „Führer" und beim Reichswirtschaftsminister21. Die Klagen aus dem gewerblichen Mittelstand - ob sie Regiebetriebe der öffentlichen Hand, die angeblich ruinösen Wirkungen der Gefängnisarbeit, die Verweigerung von Preiserhöhungen oder ganz allgemein wirtschaftliche Sorgen einzelner Branchen betrafen - unterschieden sich während des „Dritten Reiches" kaum von den Gravamina, mit denen das Kleingewerbe die Regierungen des kaiserlichen Obrigkeitsstaates und der Weimarer Republik konfrontiert hatte. Damals hatten die Interessenvertretungen des Kleingewerbes freilich nicht nur in internen Eingaben, sondern auch öffentlich auf ihre Sorgen und Wünsche aufmerksam machen können. Im nationalsozialistischen Staat schwand diese Möglichkeit bald dahin. Der „Werbefeldzug" der N. S. Hago vom März 1934 war die letzte große öffentliche Aktion der parteioffiziellen Mittelstandsorganisation. In der Folgezeit wurde die N. S. Hago von der ihr übergeordneten DAF immer stärker an die Kette gelegt. Am 2. Dezember 1935 mußte Renteln, der Leiter des Hauptamtes für Handel und Gewerbe - der N. S. Hago-Spitze -, im Auftrag Leys den politischen Leitern seines Amtes untersagen, in „irgendwelche Personalfragen" einzugreifen, und sie auf die Aufgabe beschränken, die „Personalverhältnisse bei Handel und Handwerk" zu beobachten. Anfang 1936 ging die N. S. Hago ohne viel Aufhebens in den neugegründeten Reichsbetriebsgemeinschaften „Handel" und „Handwerk" der Deutschen Arbeitsfront auf. Eine eigene mittelstandspolitische Interessenvertretung innerhalb der Partei gab es seitdem nicht mehr. Die Schonfrist, die der gewerbliche Mittelstand bis zur Verkündung des Vierjahresplanes trotz aller Enttäuschungen noch genossen hatte, begann abzulaufen22.

IL Die Auseinandersetzungen um die Berufsbildung, deren Protagonisten auf dem Höhepunkt des Disputs Reichswirtschaftsminister Schacht und der Leiter der Deutschen Arbeitsfront, Ley, waren, sind in doppelter Hinsicht ein für das nationalsozialistische Regime symptomatischer Vorgang. Einmal illustrieren sie das generelle Phänomen ständiger Kompetenzstreitigkeiten, das dem Bild des monolithischen totalitären Staates augenfällig widerspricht und manche Beobachter geradezu von einer autoritären Anarchie hat sprechen lassen. Zum anderen ging es bei dem Kampf um die Kontrolle der Berufserziehung um eine spezifische Machtfrage, die sich grob als der Konflikt zwischen dem Primat der Ökonomie und dem der Politik bezeichnen läßt23. Daß Reichsbankpräsident Schacht am 2. August 1934 zunächst interimistisch und am 30. Januar 1935 dann endgültig, wenn formell auch immer noch kommissarisch die Nachfolge des schwer erkrankten Reichswirtschaftsministers Schmitt übernahm, war ein Erfolg der Großindustrie, die in dem von Schmitt im Februar 1934 eingeleiteten „organischen Aufbau der deutschen Wirtschaft" einen Anschlag auf ihre Selbstverwaltung sah. Im Zusammenhang mit dem Kampf gegen eine „zweite Revolution" 122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

stellte Hitler im Sommer 1934 die Weichen für ein neues Arrangement mit den alten Eliten in Reichswehr, Wirtschaft und Ministerialbürokratie, das seine Herrschaft stabilisieren und die Voraussetzungen dafür legen sollte, daß das Reich sobald wie möglich zur Führung eines Lebensraumkrieges in der Lage war. Schacht konnte sich zwar dem Wunsch der Reichswehr nach einer umfassenden Pflichtorganisation der Wirtschaft nicht widersetzen, aber er war, im Zusammenspiel mit den Militärs, in der Lage, „politische" Übergriffe auf die Organisation der gewerblichen Wirtschaft abzuwehren und der unternehmerischen Interessenvertretung einen erheblichen Spielraum zu sichern24. Im Bereich des Handwerks hatte der neue „Wirtschaftsdiktator", der in Personalunion Reichswirtschaftsminister und Reichsbankpräsident war und im Mai 1935 auch noch Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft wurde, schon im September 1934 Gelegenheit, eine Kraftprobe mit seinem schärfsten Rivalen, Ley, zu gewinnen. Im Januar 1934 hatte Schmitt den Wiesbadener Klempnermeister und „alten Kämpfer" W. G. Schmidt zum „Reichshandwerksführer" und damit zum Nachfolger Renteins in dessen Eigenschaft als Leiter des Reichsstandes des deutschen Handwerks und des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages ernannt. Im Juni 1934 übernahm Schmidt aber auch den Vorsitz der neugegründeten Reichsbetriebsgemeinschaft „Handwerk" in der DAF. In der ersten Funktion unterstand er dem Reichswirtschaftsminister, in der zweiten dem Reichsleiter Ley. Im Zuge der „Ersten Handwerksverordnung" vom 15. Juni 1934, die dem Handwerk neben der Pflichtinnung auch das „Führerprinzip" brachte, konnte Ley nun versuchen, über den Reichshandwerksführer den Reichsstand des deutschen Handwerks mit der „Arbeitsfront" gleichzuschalten. Schacht, der darin eine Schmälerung seines Einflusses sehen mußte, ging sofort auf Gegenkurs. Im September setzte er die Entlassung des Generalsekretärs des Reichsstandes des deutschen Handwerks und des Deutschen Handwerksund Gewerbekammertages, Heinrich Schild, durch, dem er vorwarf, die Deutsche Arbeitsfront gegen das Reichswirtschaftsministerium auszuspielen. Schild selbst räumte ein, er sei in dem „ewigen Dilemma zwischen Staatsführung und Parteiführung und Arbeitsfrontführung gestolpert", weil es ihm trotz aller Beweglichkeit nicht gelungen sei, „den Reichshandwerksführer durch die drei sich oftmals widersprechenden Befehlsquellen, deren Staats- und verwaltungsrechtliche Kompetenzen auf ganz verschiedenem Gebiet liegen, hindurchzulavieren". Auch Karl Zeleny, der Stellvertreter des Reichshandwerksführers, mußte seinen Posten räumen. Durch die Ernennung eines neuen Generalsekretärs, Felix Schüler, konnte Schacht die Kontrolle über die Reichsstandsführung verbessern. Gleichzeitig baute er die ministerielle Aufsicht über die Handwerkskammern und Innungen aus und nutzte das Instrument der handwerklichen Ehrengerichtsbarkeit, das ihm die Verordnung vom 15. Juni 1934 in die Hand gegeben hatte, um Amtspflichtverletzungen von Parteifunktionären entgegenzutreten25. Die Niederwerfung der angeblichen „zweiten Revolution" im Juli 1934 schwächte zwar die - auf durchaus gegensätzliche Weise - antikapitalistischen Elemente in SA, Nationalsozialistischer Betriebszellen-Organisation und N. S. Hago; aber es kann keine Rede davon sein, daß das „Dritte Reich" damit alle seine sozialen Konflikte 123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

eliminiert hätte. Leys DAF intensivierte vielmehr ihre Versuche, die Federführung in sämtlichen Fragen von gesellschaftspolitischer Bedeutung zu erlangen und den Gewinnern des sogenannten „Röhm-Putsches" im Namen des originären Nationalsozialismus Paroli zu bieten. Mit ihrer Spielart des „nationalen Sozialismus" trat die Arbeitsfront in gewisser Weise das ambivalente Erbe der nationalen Angestelltengewerkschaften der Weimarer Republik an, die sich einerseits subjektiv ehrlich gegen die „soziale Reaktion" der traditionellen Führungsschichten und ihrer Trabanten gewandt, andererseits sich als Elite der Arbeitnehmerschaft gefühlt und vom internationalen Proletariat scharf abgegrenzt hatten. Insoweit mag man auch die Kämpfe zwischen der DAF und der handwerklichen Standesvertretung als Ausdruck objektiver Spannungen zwischen „neuem" und „altem Mittelstand" ansehen. Am 24. Oktober 1934 schien Ley am Ziel seiner Wünsche. Auf dem Weg der Überrumpelung erhielt er Hitlers Unterschrift unter eine Verordnung über Wesen und Ziel der Deutschen Arbeitsfront. Die DAF war danach die „Organisation der schaffenden Deutschen der Stirn und der Faust" und hatte laut § 7 der Führer-Verordnung den Arbeitsfrieden zu sichern, indem sie „bei den Betriebsführern das Verständnis für die berechtigten Ansprüche ihrer Gefolgschaft, bei den Gefolgschaften das Verständnis für die Lage und die Möglichkeiten ihres Betriebes" schuf. Ihr fiel die Aufgabe zu, „zwischen den berechtigten Interessen aller Beteiligten jenen Ausgleich zu finden, der den nationalsozialistischen Grundsätzen entspricht und die Anzahl der Fälle einschränkt, die nach dem Gesetz vom 20. Januar 1934 [dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit] zur Entscheidung allein den zuständigen staatlichen Organen zu überweisen sind. Die für diesen Ausgleich notwendige Vertretung aller Beteiligten ist ausschließlich Sache der Deutschen Arbeitsfront. Die Bildung anderer Organisationen oder ihre Betätigung auf diesem Gebiet ist unzulässig"26. Die gesellschaftspolitische Allkompetenz, die Ley damit für die DAF in Anspruch nahm, war eine Herausforderung an alle, die sich mit dieser auch in der Form neuartigen Verordnung des Führers übergangen fühlen mußten - und das war neben den in erster Linie betroffenen Reichsministerien für Wirtschaft, Arbeit und des Innern auch der „Stellvertreter des Führers", Rudolf Heß. Nach langen heftigen Auseinandersetzungen, in denen sich vor allem Schacht als Gegner Leys exponierte, wurde schließlich im März 1935 jene „Leipziger Vereinbarung" zwischen Ley, Schacht und Reichsarbeitsminister Seldte getroffen, die einerseits paritätisch besetzte Ausschüsse von „Betriebsführern" und „Gefolgschaftsmitgliedern" auf Ortsebene vorsah, die wirklichen Entscheidungsbefugnisse andererseits aber den - der Dienstaufsicht des Reichsarbeitsministers unterstehenden- „Treuhändern der Arbeit" vorbehielt. Praktisch folgenlos blieb die weitergehende Bestimmung, daß auch auf Gau- und Reichsebene Arbeitsfront und Organisation der gewerblichen Wirtschaft durch paritätisch besetzte Arbeits- und Wirtschaftsräte verzahnt werden sollten27. Der Konflikt zwischen der DAF und den staatlichen Instanzen war mit der Leipziger Vereinbarung nicht beigelegt. Daß Schacht die Organisation der gewerblichen Wirtschaft korporativ der Arbeitsfront eingliederte, war kein Ausdruck der Unterwerfung, sondern sollte garantieren, daß die organisierte Wirtschaft nur als Gesamtheit mit der Arbeitsfront in Beziehung trat. Der Streit um die Kontrolle des Hand124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

werks zeigte, daß die Machtfrage zwischen Schacht und Ley weiterhin unentschieden war. Reichshandwerksführer Schmidt, der seit Oktober 1934 offiziell den Titel eines „Reichshandwerksmeisters" trug, hatte - offenbar um seine persönliche Stellung gegenüber Schacht und dessen Vertrauensleuten in der Reichsstandsführung zu stärken - Anfang 1935 Ley einen größeren Einfluß auf die Handwerksorganisation angeboten. Der Leiter der DAF meldete daraufhin sogleich seine Forderungen an: Auflösung der Innungen, Verantwortlichkeit der Arbeitsfront für das gesamte öffentliche Auftreten des Handwerks und die Lenkung der Berufserziehung durch die DAF. Die Unterstützung dieses Ansinnens hätte den Reichshandwerksmeister innerhalb des Reichsstandes vollständig isoliert; um sich gegenüber der DAF rückzuversichern, betrieb Schmidt, der selbst der SS angehörte, nun die Aufnahme des Führerkorps seiner Organisation in die SS. Ley ließ jedoch von seinen Forderungen nicht ab, inszenierte eine öffentliche Kampagne gegen den handwerklichen Traditionalismus und versuchte das System der Personalunion zwischen Funktionen im Reichsstand des deutschen Handwerks und der DAF auf allen Ebenen auszubauen. Schacht entschied sich daraufhin, Schmidt, den er des „Ausverkaufs" handwerklicher Rechte an die DAF bezichtigte, als Reichshandwerksmeister zu entlassen. Im November 1936 erhielt der Reichswirtschaftsminister hierfür Hitlers Billigung. Gegen den heftigen Widerstand Leys wurde im Januar 1938 der schleswig-holsteinische Landeshandwerksmeister Ferdinand Schramm, der Kandidat sowohl Schachts als auch seines interimistischen Nachfolgers Göring, zum Reichshandwerksmeister ernannt28. Hinter dem personalpolitischen Streit stand die alte Machtfrage: Sollte die überkommene Handwerksorganisation mit ihrer öffentlich-rechtlichen Bindung an ministerielle Aufsichtsbehörden, in letzter Instanz das Reichswirtschaftsministerium, erhalten bleiben, oder sollten wesentliche Teile der Handwerkswirtschaft aus diesem System herausgebrochen und der Kontrolle einer Parteiformation, der DAF, unterstellt werden? Wenn Ley auf die Abschaffung der Innungen drängte, die erst 1934 allgemein zu Zwangskörperschaften gemacht worden waren, konnte er an gewisse Ressentiments anknüpfen, die die nationalsozialistische Kampfgemeinschaft gegen Warenhaus und Konsumverein schon vor der Machtergreifung artikuliert hatte: Die Innungen wurden als Hort des handwerklichen Konservativismus angesehen. In seinem Appell an das Handwerk vom 20. Februar 1937 steigerte Ley den Vorwurf, die alten Handwerksbräuche widersprächen dem Geist des neuen Deutschland, bis zur Groteske: ,,Freimaurerische Gebräuche - wobei es vollkommen gleich ist, ob die Bundeslade zuerst bei den Freimaurern gewesen ist oder zuerst beim Handwerk, sicher ist, daß sie zuerst beim Juden Moses war - täuschten ein altes Brauchtum vor und die mehr oder minder geschmackvollen Innungsfahnen zeigten nichts anderes als die grenzenlose Zerrissenheit im Handwerk". Diese Fahnen seien verschwunden, und es gebe im Reiche Adolf Hitlers nur eine Fahne. Verschwinden müßten aber auch die klassenmäßig getrennten Organisationen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Handwerk. Die DAF werde daher „Gewerke" gründen, in denen Lehrlinge, Gesellen und Meister vereinigt würden; sie werde alle Handwerker darüber hinaus in Ortshandwerkerschaften unter einem „Ortshandwerkswalter" zusammenschließen und das handwerkliche Prüfungswesen in eigene Regie nehmen. Die 160 000 örtlichen In125 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

nungen, so erläuterte Ley seinen Vorstoß in einem Brief vom 4. Februar 1937 dem Reichswirtschaftsminister, stellten „nichts weiteres als Meckerer- und Nörglervereine" dar; sie seien „letzte Inseln [. . . ] , wo unsere Gegner, Kritiker und Nörgler ihre zersetzende Arbeit durchsetzen können". Leys Forderungen entsprachen seiner Diagnose: Die örtlichen Innungen sollten aufgelöst werden; die Organisation der gewerblichen Wirtschaft durfte erst oberhalb der Ortsebene ansetzen; die dem Reichswirtschaftsministerium unterstellte gewerbliche Wirtschaft war auf die wirtschaftliche Führung des Handwerks zu beschränken; für die politische Erziehung sollte fortan allein die DAF zuständig sein. „Überlassen Sie der Deutschen Arbeitsfront die Erziehung der schaffenden Menschen durch Versammlungstätigkeit, Schulung, Aufmärsche, Demonstrationen, Kundgebungen usw., führen Sie die gewerbliche Wirtschaft zu ihrer ureigensten Aufgabe, nämlich zur Wirtschaftlichkeit der Betriebe, zurück und wir werden keinerlei Differenzen mehr haben"29. Im Klartext hieß das: Das handwerkliche Ausbildungswesen, das bisher - über Innungen und Kammern - der Aufsicht des Reichswirtschaftsministers unterstanden hatte, sollte künftig der DAF unterstellt werden, wobei staatlichen Instanzen nur ein begrenztes Mitwirkungsrecht blieb. Ley berief sich bei seinen Forderungen auf Hitlers Verordnung vom 24. Oktober 1934, die in § 7 der Deutschen Arbeitsfront den Auftrage gegeben hatte, „für die Berufsschulung Sorge zu tragen". Seit Karl Arnhold, der Gründer des industrienahen Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung, Ende 1935 das Amt für Berufserziehung und Betriebsführung in der DAF übernommen hatte, wurde die Berufserziehung zum bevorzugten Vehikel für Leys Kompetenzexpansion. Arnholds Zielsetzung ließ sich auf die Formel bringen: Produktivitätssteigerung durch psychologische Anreize und nationalsozialistische Bewußtseinsschulung, wobei „Betriebsführer" und „Gefolgschaft" die Adressaten waren. Soweit die einschlägigen Aktivitäten der DAF überbetrieblich angelegt waren wie der gemeinsam mit der Hitler-Jugend veranstaltete jährliche „Reichsberufswettkampf" -, hatte die gewerbliche Wirtschaft dagegen nichts einzuwenden. Wogegen sie sich verwahrte, waren Eingriffe der DAF in die innerbetriebliche Entscheidungssphäre. Ein weitgehendes Mitspracherecht oder gar ein Monopol der Arbeitsfront in Fragen der Berufserziehung wäre ein solcher Eingriff in die vom Arbeitsordnungsgesetz verbrieften Unternehmerrechte gewesen. In diesem Punkt gab es zwischen Industrie und Handwerk keine Differenzen. Aber das Handwerk war von den berufspolitischen Aktivitäten der DAF noch viel stärker betroffen als die Großindustrie. Erstens waren Mitte der 30er Jahre über zwei Drittel aller Lehrlinge im Handwerk beschäftigt. Zweitens hatte Arnholds Strategie eine offen großindustrielle und handwerksfeindliche Tendenz. Die „endgültige Ausbildung" (im Unterschied zur polytechnischen „Einfachstschulung" und zur „Grundlehre") könne sich, so erklärte er im November 1936, selbstverständlich nur in „Lehrwerkstätten vollziehen, die mit den modernsten Maschinen und Arbeitsgeräten ausgerüstet sind". Drittens war das Handwerk, anders als die Industrie, durch ein System der Personalunion zwischen Funktionen im „Reichsstand" und in der „Reichsbetriebsgemeinschaft" bereits so stark in die Arbeitsfront integriert, daß Ley mit seinen Machtansprüchen hier ein vergleichsweise leichtes Spiel zu haben glaubte30. 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Schacht hatte sich bereits im Juni 1936 in einem Brief an Ley dagegen gewandt, daß die DAF mit ihren Forderungen zur Berufsbildung in gesetzliche Rechte des Handwerks eingreife und damit einen Anschlag auf die Organisation der gewerblichen Wirtschaft verübe. Die öffentliche Kampfansage Leys vom 20. Februar 1937 suchte Schacht mit der Aufhebung der Personalunion zwischen Ämtern in der Organisation der gewerblichen Wirtschaft und der Reichsbetriebsgemeinschaft Handwerk der DAF zu kontern. In einem Schreiben an Heß vom 24. Februar sprach er von der „außerordentlichen Beunruhigung des Gesamthandwerks im ganzen Reich", die durch Leys Schritte ausgelöst worden sei. Zahlreiche Handwerksmeister, zugleich seit Jahren treue Anhänger der Partei, seien in die schwersten Gewissenskonflikte versetzt worden, und es stehe zu befürchten, daß, wenn die Reichsregierung hier nicht mit fester Hand eingreife, „die Zersetzung der Autorität der Reichsregierung auf diesem Gebiet allein nicht halt machen wird". Um dieser Gefahr vorzubeugen, forderte Schacht am 3. März die Reichsstatthalter und Oberpräsidenten auf, „alle Versuche, die Gliederungen der Organisation der gewerblichen Wirtschaft an der Durchführung der ihnen übertragenen Aufgaben zu hindern, unter allen Umständen" zurückzuweisen. Getrennte Gespräche Hitlers mit Schacht sowie mit Ley und Heß am 11. März 1937 führten zu keinem Ergebnis. Schacht berichtete Hitler eine Woche danach von weiteren und verstärkten Eingriffen der DAF in den Aufbau und die Aufgaben der Organisation der gewerblichen Wirtschaft. Hitler sah sich nun zu einer Vorentscheidung gezwungen. Er ließ Schacht und Ley am 23. März durch Staatssekretär Lammers mitteilen, daß „die nach den Gesetzen und Verordnungen dem Herrn Reichswirtschaftsminister zustehenden Befugnisse diesem in keinem Fall entzogen werden dürfen". Im übrigen sollten Ley und Schacht sich alsbald über die strittigen Punkte aussprechen und einigen. Als Lösung empfahl er „eine strenge Trennung der Befehlsgewalten, damit die Befriedung vollständig und von Dauer ist"31. Das klang nach einer grundsätzlichen Bestätigung der Position Schachts, und in der Tat spricht vieles dafür, daß Hitler zu diesem Zeitpunkt eine Umorganisation im Bereich der Wirtschaft als Gefahr für die Kriegsvorbereitungen betrachtete und darum zu verhindern versuchte. Es mag dabei eine Rolle gespielt haben, daß die Argumente des Wehrwirtschaftsstabes in ebendiese Richtung zielten. Der Reichswirtschaftsminister verstand Hitlers Äußerungen jedenfalls als Unterstützung seiner grundsätzlichen Ansichten und pochte in einem Brief an Ley vom 25. März 1937 auf seine gesetzlichen Zuständigkeiten. Wenn Ley bestehende Gesetze ändern wolle, möge er sich an ihn, Schacht, wenden. Die „öffentliche Propaganda jedoch auf Abänderung geltender gesetzlicher Bestimmungen" widerspreche „den Grundsätzen des nationalsozialistischen totalitären Staates" und habe zu unterbleiben. Die künftige Arbeitsteilung der Rivalen skizzierte Schacht folgendermaßen: „Die DAF hat für eine weitere Stärkung des Gedankens der Betriebsgemeinschaft, für eine dauernde Festigung des Arbeitsfriedens und eine Steigerung des Leistungswillens der schaffenden Menschen durch weltanschaulich-politische Erziehung zu sorgen. Die Organisation der gewerblichen Wirtschaft hat die Wirtschaftspolitik der Reichsregierung durchzuführen und die Leistungsfähigkeit der gewerblichen Wirtschaft zu fördern, wozu in erster Linie die fachliche Berufsausbildung, insbesondere des Facharbeiternachwuchses durch geeignete 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Ausbildungs- und Prüfungseinrichtungen gehört". Entsprechend den „Wünschen des Führers und Reichskanzlers" forderte Schacht abschließend eine strikte Trennung der beiden Organisationen bis hinab in die Bezirke und die Unterlassung weiterer Eingriffe der DAF in die Zuständigkeiten der Organisation der gewerblichen Wirtschaft32. Ley sah die Dinge erwartungsgemäß anders. Nirgends und niemals habe er das Gesetz verletzt, so versicherte er Lammers am 2. April. „Ich behaupte ebenso, daß die Verfügung des Führers über das Wesen und Ziel der Deutschen Arbeitsfront vom 24. Oktober 1934 in gar keiner Weise im Widerspruch zum Gesetz steht; sonst hätte sie ja auch der Führer nicht unterschrieben". Falsche Gesetzesauslegungen und Amtsanmaßungen gebe es nur auf seiten des Reichswirtschaftsministeriums. Unter den zu klärenden Fragen sei auch die, wie „die Willensäußerung des Führers, die in der Verfügung vom 24. Oktober 1934 über Wesen und Ziel der Deutschen Arbeitsfront zum Ausdruck kommt, in Einklang mit den bestehenden Gesetzen zu bringen" sei. Dieser bemerkenswerten Interpretation des Grundwiderspruchs des „dual state", des Gegensatzes zwischen Gesetz und Maßnahme, folgte die Empfehlung, eine paritätische Kommission aus Experten der DAF und des Wirtschaftsministeriums unter Vorsitz von Lammers zu bilden. Als inhaltliche Vorgabe für die Kommission, mit deren Einberufung auch Schacht sich einverstanden erklärte, schickte Ley u. a. auch eine Kopie seiner bereits im Oktober 1936 gemachten Vorschläge. Danach sollte die DAF bei der Behandlung aller Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Handwerk ein Monopol haben. Das berufliche Prüfungswesen sollte zwar in die Kompetenz des Reichsstandes des deutschen Handwerks fallen; die DAF jedoch müsse dazu Vertreter entsenden können; in der Berufserziehung, namentlich bei den Meistervorbereitungskursen, sollten Reichsstand und DAF zusammenwirken33. Hitlers Empfehlung hatte also keine Lösung des Konflikts gebracht. Beide Seiten beharrten auf ihren Standpunkten, wobei Schacht, der Exponent der alten bürgerlichen Herrschaftselite, sich auf das „Gesetz" und Ley, der Vertreter der neuen politischen Klasse, auf eine „Maßnahme" des Führers berief. Ley behauptete die Gesetzlichkeit der Maßnahme, Schacht verteidigte die Gesetzlichkeit mit dem Prinzip des totalitären Staates. Eine Lösung des Widerspruchs, den Hitlers Verordnung vom 24. Oktober 1934 ermöglicht hatte, war nur durch eine neue Maßnahme des Führers zu erwarten. Am 26. April 1937 schien es, als ob diese Entscheidung gefallen sei-zugunsten Schachts. Auf dem Obersalzberg unterzeichnete Hitler einen Auftrag an den Reichswirtschaftsminister, „beschleunigt einen Gesetzentwurf über die Regelung der fachlichen und beruflichen Ausbildung im Handel und Gewerbe vorzulegen. An der Ausarbeitung sind der Stellvertreter des Führers, der Erziehungsminister und der Arbeitsminister zu beteiligen. Der Leiter der Reichswirtschaftskammer, der Leiter der Deutschen Arbeitsfront und der Reichsjugendführer sind beratend heranzuziehen. Bis zur Behandlung des Entwurfes im Reichskabinett haben alle öffentlichen Erörterungen des Gegenstandes und alle nicht auf den bestehenden Gesetzen beruhenden Aktionen zu unterbleiben"34. Aber so eindeutig Hitlers Sprache klang - der Konflikt zwischen Schacht und Ley war durch den Auftrag an den Wirtschaftsminister nicht beigelegt. Da Hitler seine 128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Verordnung vom 24. Oktober 1934 nicht aufgehoben hatte, konnten sich nun beide Rivalen auf direkte Weisungen des Führers berufen. Martin Bormann, Stabsleiter des Stellvertreters des Führers, der über Hitlers Entscheidung vom 26. April 1937 vier Tage später noch nicht informiert war, unterrichtete Staatssekretär Lammers am 30. April über eine „unerträgliche" Konsequenz des Streits zwischen Arbeitsfront und Wirtschaftsministerium. Die Gauleiter erhielten zur Zeit als Gauleiter und als Oberpräsidenten „zwei verschiedene Weisungen als Weisungen des Führers", und infolgedessen gingen an die Arbeitsfront und an die Organisationen des Handwerks verschieden lautende Weisungen des Führers hinaus. Zur Illustration fügte Bormann einen Beschwerdebrief des Gauleiters der Kurmark bei, in dem dieser es als „unvereinbar mit dem Prinzip einer autoritären Partei- und Reichsführung" bezeichnete, „daß einzelne Dienststellen ihre Meinungskämpfe und Zuständigkeitsauseinandersetzungen im Lande auf dem Rücken der Parteigenossenschaft und der Bevölkerung austragen". Die Parteibasis hatte in der Tat allen Anlaß, verwirrt zu sein. Der bayerische Landeshandwerksmeister, E. Maurice, der bereits im März 1937 in einem ausführlichen Schreiben an Ley vehement gegen die von diesem beabsichtigte Abschaffung handwerklicher Errungenschaften, von den Innungen bis zum Großen Befähigungsnachweis, protestiert hatte, sprach Ende Mai davon, daß „die Lage bei uns im Handwerk immer trostloser wird". Als jüngstes Beispiel führte er an, daß der kommissarische Kreisleiter von Garmisch gegenüber dem dortigen Kreishandwerksmeister, einem „alten Kämpfer" und Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP, erklärt habe, daß die Anordnungen und Wünsche Dr. Leys über jeder gesetzlichen Verordnung stünden35. Schacht hatte wohl vorhergesehen, daß Ley sich Anordnungen Hitlers nicht einfach fügen werde. Schon vor dem Führerauftrag vom 26. April hatte er sich zur Flucht in die Öffentlichkeit entschlossen und mit dem Reichsstand des deutschen Handwerks vereinbart, daß im Berliner Sportpalast Lehrlingsfreisprechungen im demonstrativen Rahmen einer öffentlichen Kundgebung mit dem Reichswirtschaftsminister erfolgen sollten. Ley versuchte vergeblich, ein Verbot der Kundgebung zu erreichen, und sprach dabei sogar von zu erwartenden Unruhen. Schacht konnte seinen Willen mit einer Rücktrittsdrohung durchsetzen und nutzte die Kundgebung vom 11. Mai zu scharfen Attacken auf „manche Eingriffe unzuständiger Stellen". Da aber die vom Führer erlassenen und gebilligten gesetzlichen Vorschriften des nationalsozialistischen Staates die Führung in der fachlichen und beruflichen Ausbildung des wirtschaftlichen Nachwuchses allein dem Reichswirtschaftsminister und den von ihm beauftragten Stellen zuwiesen, werde er keinerlei Konkurrenz in der Befehlsgewalt zulassen. Wenn „irgendjemand" eine Änderung bestehender Gesetze fordern zu müssen glaube, so dürfe dies „in unserem totalitären nationalsozialistischen Staat jedenfalls nicht mit den Methoden der Systemzeit, sondern muß innerhalb der staatlichen Ordnung erfolgen"36. Wenige Wochen nach Hitlers „Entscheidung" war kein Zweifel mehr daran möglich, daß, wie Bormann am 1. Juli fand, die dem Reichswirtschaftsminister und dem Reichsleiter Ley übermittelten Anweisungen des Führers, „leider nicht den gewünschten Erfolg gehabt" hatten. Schacht sagte auf das Drängen von Lammers hin 129

9 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

zwar die baldige Vorlage des gewünschten Gesetzentwurfs über die Regelung der fachlichen und beruflichen Ausbildung im Handel und Gewerbe zu, beklagte sich aber gleichzeitig, daß Ley weiterhin einen Führungsanspruch der Arbeitsfront in Sachen Berufserziehung proklamiere. Am 31. Juli 1937 sah sich Schacht zu einem ungewöhnlichen Schritt gezwungen. Er ersuchte den Reichstatthalter in Baden, die von der DAF angekündigten Gehilfenprüfungen zu untersagen, da sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehrten und gegen Hitlers Erlaß vom 26. April verstießen. Dennoch wurden derartige Prüfungen abgehalten und gegen nationalsozialistische Betriebsleiter, die unter Berufung auf die Anweisungen des Wirtschaftsministers die Teilnahme ablehnten, Parteiordnungsverfahren eröffnet. Auch auf anderem Wege versuchte Ley, Terrain zu gewinnen. Die von ihm verfügte Gestaltung der Reichsberufswettkämpfe und seine Richtlinien für die Ermittlung nationalsozialistischer Musterbetriebe griffen in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Betriebe ein und gingen damit nach Schachts Meinung weit über die von Hitler (in dem Erlaß vom 24. Oktober 1934) gewünschte weltanschaulich-politische Betriebsprüfung hinaus. Ley jedoch versuchte durch eine Politik der vollendeten Tatsachen den von Hitler angeforderten ministeriellen Gesetzentwurf von vornherein ad absurdum zu führen - auch wenn darüber, wie Bormann klagte, „die Verhältnisse im Lande ganz einfach untragbar" wurden. Am 30. August 1937 endlich legte der Reichswirtschaftsminister jenen Gesetzentwurf über die Berufsausbildung in Handel und Gewerbe vor, der die Streitfragen zwischen Arbeitsfront und gewerblicher Wirtschaft endgültig regeln sollte. Der Entwurf bekannte sich klar zum Vorrang der fachlichen vor der politischen Ausbildung. Deutsche Arbeit, so hieß es in der Einleitung, müsse hochwertige Facharbeit sein und bleiben. Kenntnisse könne nur vermitteln, wer in seinem Fach selbst Meister sei. „Planmäßige Ausbildung im Beruf setzt einheitliche Führung durch den Staat voraus. Sie muß den Stellen obliegen, die für die Wirtschaftspolitik verantwortlich sind. Denn mit der Berufsausbildung steht und fällt die deutsche Wirtschaft". Der Spielraum, der daneben für die ideologische Ausrichtung der Jugendlichen blieb, war eng begrenzt. Es sei die Aufgabe der nationalsozialistischen Bewegung, der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände, „in Erfüllung ihres Anspruchs auf die Menschenführung durch die weltanschaulich-politische Erziehung die charakterlichen Grundlagen für Meisterleistungen zu schaffen". Das sollte aber nicht während der Arbeitszeit geschehen. Der Unternehmer habe vielmehr, so präzisierte § 8 des Entwurfs, die von ihm beschäftigten Jugendlichen anzuhalten, „außerhalb der Arbeitszeit an Veranstaltungen teilzunehmen, die ihrer körperlichen und charakterlichen Stärkung dienen. Die Berufsausbildung und die Arbeitskraft der Jugendlichen dürfen daher nicht beeinträchtigt werden"37. Nach dem Vorangegangenen war kaum anzunehmen, daß Ley sich mit einer solchen Minderung seines Einflusses abfinden würde. Die Antwort des Arbeitsfrontleiters fiel in der Tat noch schroffer aus als seine bisherigen Stellungnahmen zum Komplex „Berufsbildung". Er müsse es ablehnen, schrieb er am 20. September 1937 an Schacht, dessen Entwurf „überhaupt als Diskussionsbasis über das betreffende Fachgebiet anzusehen". Der DAF werde alles genommen, was sie im Auftrag des Führers im Bereich von Berufsausbildung und Berufserziehung aufgebaut habe; die gewerbli130 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

rerseits wurden die Monopolansprüche der Arbeitsfront dadurch abgewehrt, daß die „Politische Organisation" selbst als Hüterin der nationalsozialistischen Weltanschauung auftrat und ihre Beteiligung an einer Reihe von bereits existierenden Gremien wie den Gewerbeaufsichtämtern und Prüfungsausschüssen und an zu schaffenden Organisationen wie einem „Reichsausschuß für Berufsausbildung in Handel und Gewerbe" forderte. Der Grund, weshalb die Dienststelle des Stellvertreters des Führers bei aller Betonung des Primats von Politik und Weltanschauung doch eher auf die Kooperation als auf die Kollision mit der gewerblichen Wirtschaft setzte, wurde am 15. Februar 1938 vollends deutlich. Nachdem Ley erneut Gesetzentwürfe vorgelegt hatte, die für die DAF eine gesellschaftspolitisch-ideologische Vorrangstellung anmeldeten, protestierte Bormann in einem Schreiben an Lammers dagegen, daß Ley mit seinem Entwurf für ein Gesetz über die Arbeitsfront „jene Stellung, die der Führer der NSDAP zugewiesen hat, der Deutschen Arbeitsfront" zuweise. „Nach dem Entwurf würde die Deutsche Arbeitsfront der ausschlaggebende Faktor im Leben der Nation wie im Leben des einzelnen Volksgenossen sein". Besonders zu beanstanden sei, daß Ley statt der freiwilligen eine Zwangsmitgliedschaft in der DAF vorsehe, und das nicht nur für Industrie, Handel und Handwerk, sondern für alle schaffenden Deutschen. Ausschlaggebende Teile der Aufgabe der Partei würden kurzerhand der DAF zugewiesen; der Leiter der DAF solle weder dem Beauftragten für den Vierjahresplan noch dem Stellvertreter des Führers unterstehen. „Eine derartige Regelung würde gänzlich untragbare Verhältnisse sowohl für den Stellvertreter des Führers als auch für alle Ministerien, für die Reichsleiter der Partei, d. h. für alle jene Stellen schaffen, die mit der DAF zu verkehren haben."39 Der nationalsozialistische Primat der Politik wurde mithin dadurch geschwächt, daß er einen weiteren ungelösten Primatsstreit in sich schloß: die Frage nämlich, welcher Teil der neuen politischen Klasse den Primat der Politik zu vertreten habe. Die wachsende Verselbständigung einer Parteigliederung, der Arbeitsfront, brachte die politische Organisation der Partei in eine taktische Allianz mit Vertretern der alten Machtelite. Nur so meinte die Dienststelle des Stellvertreters des Führers ihre Eigenständigkeit gegenüber der Leyschen Zuständigkeitsexpansion wahren zu können. Hitler hat die Gefahr einer Neutralisierung der „Bewegung" durch innere Konflikte im konkreten Fall offenbar erkannt. Am 13. April 1938 ließ Lammers die Reichsminister wissen, der Führer habe aus besonderem Anlaß nochmals ausdrücklich angeordnet, daß „Anregungen und Vorschläge aus der Partei, ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden für Regelungen, die im Wege der Gesetzgebung erfolgen sollen, nur über den Stellvertreter des Führers der NSDAP den zuständigen Ressortministern zugeleitet werden dürfen". Für die gewerbliche Wirtschaft war diese Klarstellung insofern von besonderer Bedeutung, als sie Ende November 1937 mit dem Rücktritt Schachts vom Amt des Reichswirtschaftsministers ihren bewährten Schirmherrn verloren hatte und - nach einem kurzen Zwischenspiel unter Göring als kommissarischem Behördenchef - im Februar 1938 Walther Funk als neuem Reichswirtschaftsminister unterstellt worden war, der auf enge Zusammenarbeit mit der Arbeitsfront Wert legte und in Ley vor allem einen Verbündeten gegen Göring als Beauftragten für den Vierjahresplan sah. Ein undatierter, offenbar kurz nach dem Amtsantritt Funks 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

che Wirtschaft werde mit Sozialaufgaben beauftragt, für die nach der Verfügung des Führers vom 24. Oktober 1934 allein die Arbeitsfront zuständig sei; weder Arbeiter noch Unternehmer könnten begreifen, weshalb die DAF als diejenige Einrichtung des neuen Deutschland, die für den sozialen Frieden verantwortlich sei, derartig nebensächlich behandelt werde. „Aus allen diesen Gründen muß ich den vorliegenden Entwurf als völlig undiskutierbar ablehnen". Ley fügte in der Anlage seinen Entwurf eines Berufsausbildungsgesetzes bei. Danach sollten die Jugendlichen künftig von ihrem Können nur noch in den von Arbeitsfront und Hitler-Jugend veranstalteten Reichsberufswettkämpfen Zeugnis ablegen. Durch mehrmalige Teilnahme am Reichsberufswettkampf war der Befähigungsnachweis zum Gesellen oder Gehilfen zu erbringen. Die Bestimmungen über die Meisterprüfung sollte zwar der Reichswirtschaftsminister im Einvernehmen mit dem Reichsarbeitsminister und dem Stellvertreter des Führers erlassen; die Zulassung zur Meisterprüfung setzte jedoch die mehrmalige erfolgreiche Teilnahme am Leistungswettkampf der Gesellen voraus. Die traditionelle Berufsausbildung wäre damit zu erheblichen Teilen der Organisation der gewerblichen Wirtschaft - d. h. sowohl den wirtschaftlichen Selbstverwaltungsorganen als auch der staatlichen Aufsicht - entzogen worden. Nur noch in der Schlußphase der Ausbildung hätte es ein staatliches Mitwirkungsrecht gegeben. Der dominante Faktor in Berufsausbildung und Berufserziehung wäre die Deutsche Arbeitsfront gewesen und damit jene Organisation, die einen klaren Vorrang der politisch-weltanschaulichen vor der fachlichen Schulung proklamierte38. Hitlers Reaktion auf die neue Kollision zwischen den Protagonisten des Primats der Politik und der Ökonomie war nicht etwa eine Entscheidung zwischen den beiden Positionen, sondern - der Verzicht auf jede Entscheidung. Nachdem Lammers ihm am 4. Oktober erneut in Sachen Berufsausbildung Bericht erstattet hatte, erklärte er sich nicht bereit, „einen sachlichen Vortrag über die beiden Gesetzentwürfe entgegenzunehmen. Er verlangt vielmehr zu gegebener Zeit den Vortrag eines Entwurfs als Ergebnis der von ihm gewünschten Verständigung zwischen den Beteiligten". Es war dieselbe Empfehlung, mit der Hitler den Konflikt zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Beauftragten für den Vierjahresplan, Göring, lösen wollte - den Konflikt, der den Rücktritt Schachts vom Amt des Reichswirtschaftsministers veranlaßte. Hitlers Wunsch kam dem Verlangen nach einer Quadratur des Kreises gleich. Vielleicht spiegelte sein Ratschlag die Einsicht wider, daß Schacht ohnehin zum Rücktritt entschlossen war; vielleicht hielt er mittlerweile den Bruch mit dem wilhelminischen Imperialisten für unvermeidbar, weil ihm dessen Warnungen vor einer überzogenen wirtschaftlichen Autarkie und einem Staatskapitalismus à la Hermann-Göring-Werke lästig wurden. Schachts Ministerialdirektor Wienbeck hielt jedenfalls eine Verfolgung des ministeriellen Gesetzentwurfes zur Berufserziehung „im Augenblick nicht für geboten". Anfang Dezember 1937 versuchte sich die Dienststelle des Stellvertreters des Führers an einem Kompromiß. Einerseits unterstrich der von ihr vorgelegte Gesetzentwurf die dienende Funktion der Wirtschaft im nationalsozialistischen Staat und übertrug der NSDAP und ihren Organisationen die Aufgabe der „zusätzlichen", über den speziellen Beruf hinausgehenden Fortbildung in Handel und Gewerbe sowie eine maßgebende Mitwirkung in allen weltanschaulichen und sozialen Fragen. Ande132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

von dem neuen Abteilungsleiter Schmeer, einem Vertrauensmann Leys, verfaßter Referentenentwurf eines Gesetzes über die Berufserziehung und Berufsausbildung in Handel und Gewerbe räumte jedenfalls der Deutschen Arbeitsfront so weitgehende Mitwirkungs- und Kontrollrechte ein, daß Ley damit erheblich zufriedener sein konnte als Heß. Eben deshalb vermutlich hat auch dieser Entwurf niemals Gesetzesreife erlangt40. Immerhin gelang es Ley während des Krieges doch noch, einen Teil seiner Vorstellungen zu verwirklichen. Widerstand aus dem Reichswirtschaftsministerium gegen Vorschläge der DAF gab es kaum noch, seitdem Funk das Ministerium übernommen hatte und namentlich nach Kriegsbeginn Carl Arnhold, dem bisherigen Leiter des Amtes für Berufserziehung und Betriebsführung in der DAF, die Sonderabteilung Berufserziehung und Leistungssteigerung im Reichswirtschaftsministerium unterstellt worden war. Ley konnte nun versuchen, durch Vereinbarungen mit der Reichswirtschaftskammer und ihren Teilkörperschaften zu erreichen, was - wegen des zu erwartenden Vetos von Heß - auf dem Gesetzgebungsweg nicht durchzusetzen war. Im August 1941 wurde eine Abmachung über ein „Berufserziehungswerk des Deutschen Handwerks" zwischen dem Reichsstand des deutschen Handwerks und der Deutschen Arbeitsfront abgeschlossen. Zweck des Berufserziehungswerks war es, alle „freiwilligen Berufsförderungsmaßnahmen für Gesellen und Meister einschließlich der Hilfskräfte durchzuführen". Aber auch die von einer Reichsbehörde den Organisationen des Handwerks aufgetragenen Pflichtveranstaltungen sollten im Rahmen des Berufserziehungswerks durchgeführt werden können. Leiter des Berufserziehungswerkes sollte Reichshandwerksmeister Schramm sein, seine Stellvertreter der Leiter des Fachamtes (der früheren Reichsbetriebsgemeinschaft) „Deutsches Handwerk" in der DAF, Sehnert, und der Leiter des Amtes für Berufserziehung und Betriebsführung in der DAF, Arnholds zeitweiliger Nachfolger Bremhorst. Das schien, verglichen mit den Maximalforderungen Leys in den Jahren 1936/1938, nur ein bescheidenes Restprogramm. Es war nicht mehr die Rede von der Abschaffung der Innungen, und vom Einfluß der DAF auf das handwerkliche Prüfungswesen wurde nur in einer verklausulierten Kannbestimmung gesprochen. Aber eine völlige Umorganisation des Prüfungswesens war während des Krieges ohnehin nicht möglich, und der DAF konnte es deshalb zunächst nur darum gehen, gewissermaßen einen Fuß in die Tür der gewerblichen Wirtschaft zu bekommen. Das gelang am 4. November 1943, trotz des hinhaltenden Widerstandes aus Unternehmerkreisen, auf breiter Front. Nach dem Vorbild des Berufserziehungswerkes für das deutsche Handwerk (und einer analogen Einrichtung für den Handel) schloß Arnhold, inzwischen auch wieder Leiter des Amtes für Berufserziehung und Betriebsführung der DAF, mit dem Präsidenten der Reichswirtschaftskammer, Albert Pietzsch, ein Abkommen über den Aufbau eines Deutschen Berufserziehungswerkes. Dieses Deutsche Berufserziehungswerk, das Arnhold seit vielen Jahren als Krönung seiner Pläne beschrieben hatte, sollte vom Führer eines nationalsozialistischen Musterbetriebes geleitet werden und paritätisch aus Vertretern der Arbeitsfront und der gewerblichen Wirtschaft zusammengesetzt sein. Eine ähnliche Konstruktion war für die Gauebene vorgesehen. Innerhalb des einzelnen Betriebes sollte das zu bildende Berufserziehungs133 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

werk dem Betriebsinhaber unterstehen, wobei ihm jedoch ein „Berufswalter" aus dem Stab des „Betriebsobmannes", also ein Funktionär der Arbeitsfront, beigegeben wurde. Das Deutsche Berufserziehungswerk, zuständig nicht nur für die politisch-ideologische Fortbildung, sondern auch für spezielle Kurse für Lehrlinge, Gesellen und Meister, sollte nach Arnholds Worten „die größte Schulungsorganisation darstellen, die es bisher auf der Welt gäbe"41. Daß die Reichswirtschaftskammer als Organisation der gewerblichen Wirtschaft dem Projekt des Deutschen Berufserziehungswerkes zustimmte, lag in erster Linie daran, daß die DAF zuvor bereits durch Sondervereinbarungen mit individuellen Betrieben, so etwa im November 1941 mit der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, betriebliche Berufserziehungswerke ins Leben gerufen hatte. Um wieder zu einer einheitlichen Unternehmerposition zu gelangen, schien es zweckmäßig, lieber ein Gesamtabkommen zwischen gewerblicher Wirtschaft und Arbeitsfront zu treffen, das den Einzelbetrieb im Rahmen des Möglichen vor politischen Eingriffen schützte. Ob freilich die Dienstaufsicht des Reichswirtschaftsministeriums das Deutsche Berufserziehungswerk im Sinne der Unternehmer würde beeinflussen können, war in der Ära Funk sehr fraglich. Die Ablösung Schachts als Reichswirtschaftsminister erwies sich im nachhinein als tiefe Zäsur. Sie war symptomatisch für die Aufkündigung jenes Paktes mit den alten Herrschaftsträgern, der die Politik des „Dritten Reiches" vom sogenannten Röhm-Putsch im Juli 1934 bis zur sogenannten Fritsch-Krise im Februar 1938 bestimmt hatte. Vom Februar 1938 ab dominierte auch in den obersten Führungspositionen von Wirtschaft und Militär die neue Klasse des nationalsozialistischen Regimes. Das Reichswirtschaftsministerium geriet einerseits immer mehr in Abhängigkeit von der Arbeitsfront und büßte andererseits, beginnend bereits mit Görings Ernennung zum Beauftragten für den Vierjahresplan im Oktober 1936 und dann mit wachsender Intensität während der Kriegsjahre, viele seiner Kompetenzen zugunsten neugeschaffener Sondergewalten ein. Hand in Hand damit ging der Einflußverlust der alten Ministerialbürokratie42. Vermutlich hätte die DAF sich mit ihren Forderungen hinsichtlich Federführung in Sachen Berufsausbildung schon vor dem Krieg durchgesetzt, wenn Ley Hitler davon überzeugt hätte, daß eine Verwirklichung seiner Pläne den Facharbeitermangel beheben und damit der Rüstungswirtschaft nützen würde. Ebendies gelang Ley offensichtlich nicht. Hitler scheint vielmehr davon ausgegangen zu sein, daß Unruhe im Bereich der gewerblichen Wirtschaft einer forcierten Rüstung nicht förderlich war. Sein, des „Führers", Primat der Politik ließ es zweckmäßig erscheinen, in der innerbetrieblichen Sphäre zunächst den Primat der Ökonomie fortdauern zu lassen. Von daher erklärt sich die bedingte Unterstützung, die Hitler im Streit um die Berufsausbildung zunächst Schacht zuteil werden ließ. Auf längere Sicht freilich band ihn nichts an jene traditionellen Vorstellungen von wirtschaftlicher Autonomie, die Schacht mit dem Gros der deutschen Unternehmer in Großindustrie, Handwerk und Handel teilte. Bereits die Aussicht auf einen ernsthaften Konflikt mit seinem alten Gefolgsmann Ley ließ Hitler zurückweichen. Er zog sich aus dem Streit durch Nichtentscheidung zurück und hoffte, daß die Angelegenheit sich gewissermaßen von selbst erledigen würde. Nach einem deutschen „Endsieg" wären einige der bisherigen Rücksichten 134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

auf die Repräsentanten der alten Gesellschaft wohl ohnehin überflüssig geworden. Weder der gewerbliche Mittelstand noch seine Verbündeten in der traditionellen Machtelite durften darauf rechnen, die ihnen verbliebenen Freiräume ungeschmälert über den Krieg hinwegzuretten oder verlorengegangene Freiräume nach dem Krieg wiederzugewinnen. Ebensowenig läßt sich aber übersehen, daß die neue politische Klasse der nationalsozialistischen Herrschaftsträger in sich uneins war - wobei der Dauerzwist zwischen der Arbeitsfront und der politischen Organisation der Partei nur eine Konfliktzone bildete und die Spannungen zwischen politischer Organisation und SS, die sich in den letzten Kriegsjahren deutlich abzeichneten, für die Zukunft des Regimes womöglich noch gefährlicher waren. Von daher wäre zu fragen, ob der Nationalsozialismus jenseits der totalitären Anstrengung, erst auf den Krieg hin und dann im Krieg, überhaupt auf lange Sicht lebensfähig war. Für Hitler waren die Details der Wirtschaftspolitik, ja letztlich die gesamte Innen- und Außenpolitik dem einen, dogmatisch festgehaltenen Ziel untergeordnet, Deutschland in den Rassenkampf um Lebensraum zu führen und es diesen Kampf gewinnen zu lassen. Diesem Ziel diente eine Außenpolitik, die das nationale Prestige wie das persönliche Prestige des „Führers" förderte und eine gewisse Kompensation für innenpolitische Entrechtung und materielle Enttäuschungen bot. Diesem Ziel dienten territoriale Eroberungen, die die wirtschaftlichen Ressourcen Deutschlands vergrößerten. Diesem Ziel dienten militärische Rüstung und wirtschaftliche Kriegsvorbereitung, Terror und Propaganda sowie, nicht zuletzt, eine noch näher zu erörternde - Strategie der sozialen Konfliktvermeidung. Zusammengenommen reichten diese Herrschaftsmittel aus, das System so lange aufrechtzuerhalten, bis es von außen durch jene Allianz niedergeworfen wurde, die es selbst gegen sich zusammengeschmiedet hatte43.

III. Die letzte „positive" mittelstandspolitische Tat des Nationalsozialismus war, wenn man einmal von der Schaffung der gesetzlichen Altersversorgung für das Handwerk im Dezember 1938 absieht, die Einführung des Großen Befähigungsnachweises im Januar 1935. Mit der Verkündung des Vierjahresplans im September 1936 endete die Schonzeit für den gewerblichen Mittelstand. Die Auseinandersetzungen zwischen Schacht und Ley um die berufliche Bildung waren bereits ein Ausdruck der Defensive, in die das Kleingewerbe seitdem immer mehr geriet44. Die wirtschaftliche Entwicklung des Handwerks im „Dritten Reich" bestätigt die These, daß dem gewerblichen Mittelstand vom nationalsozialistischen Regime keine besondere Bedeutung beigemessen wurde. In den ersten beiden Jahren der nationalsozialistischen Diktatur hatten dank der Instandsetzungsaktionen, von denen sich die Regierung optisch wirksame Erfolge im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit versprach, vor allem das Bauhandwerk und die Baunebengewerbe erhebliche Umsatzsteigerungen erzielt. Beim Bau der Reichsautobahnen fühlte sich das Handwerk nicht hinreichend herangezogen; die steuerliche Begünstigung der Anschaffung neuer und der 135 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Abmeldung alter Kraftfahrzeuge brachte dem Reparaturgewerbe zunächst wohl eher Einbußen, und auf einem anderen Gebiet hatte die Machtergreifung für den gewerblichen Mittelstand eindeutig negative wirtschaftliche Folgen: „Die Uniformierung der Gliederungen der NSDAP", so stellte im September 1934 das „Deutsche Handwerksblatt" fest, „hat zweifellos den Bedarf an Zivilkleidung zum Schaden der Bekleidungswerke vermindert". Im übrigen klagte das Handwerk über die durch die Devisenbewirtschaftung bewirkte Rohstoffknappheit und darüber, daß es bei der Kreditbeschaffung schlechter gestellt sei als die Großwirtschaft. Dennoch hat das Handwerk von dem primär rüstungsbedingten Aufschwung der Wirtschaft zunächst profitiert. Die Zahl der Handwerksbetriebe lag 1936 mit 1,653 Millionen erheblich über den Zahlen von 1933 (1,383 Millionen) und 1926 (1,308 Millionen). Bis 1939 sank dann die Zahl trotz der Vergrößerung des Territoriums durch den „Anschluß" Österreichs und der Sudetengebiete - auf 1,567 Millionen -, wobei ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige Grund die Einführung des Großen Befähigungsnachweises war, den Schacht im Januar 1935 als Maßnahme gegen die „Übersetzung und Verelendung vieler Handwerke" gerechtfertigt hatte. Die Zahl der Beschäftigten je Handwerksbetrieb war von 2,83 im Jahre 1926 während der Weltwirtschaftskrise auf 2,70 im Jahre 1931 gesunken; sie stieg bis 1936 auf 2,76 und auf 3,34 im Jahre 1939 an. Der Umsatz der Handwerkswirtschaft war von etwa 20 Milliarden RM im Jahre 1928 auf etwa 10 Milliarden RM im Jahre 1932 gefallen; bis 1938 wuchs er auf etwa 30 Milliarden RM an. Der Umsatz je Beschäftigten stieg von 5390 RM im Jahre 1926 auf 5730 RM im Jahre 1939. Diese Zahlen sprechen dafür, daß sich die wirtschaftliche Lage des Handwerks in den Vorkriegsjahren des „Dritten Reiches" insgesamt gebessert hat45. Doch schon lange vor Kriegsbeginn zeigte sich, daß die Entscheidung für den Vorrang der Aufrüstung eine Entscheidung gegen das Kleingewerbe war. Im Herbst 1937 berichtete der Stadtpräsident von Berlin, die „unumgängliche und begründete Bevorzugung wehrwichtiger Bauvorhaben mit der Belieferung von Eisen" werde seitens der Lieferanten häufig dazu ausgenutzt, „um Lieferungsbedingungen nach eigenem Geschmack und entgegen allen Abmachungen zu ändern. Für nicht wehrwirtschaftliche Bauten seinerzeit zurückgestellte Eisenmengen sind beim Lieferanten für angeblich ,militärische Zwecke' beschlagnahmt worden". Das kleine Elektrohandwerk stehe infolgedessen am Rande der Verzweiflung. Der Einzelhandel fühle sich noch immer von öffentlichen Vergebungen ausgeschaltet, obwohl die Steuerung der Wirtschaft zu seinen Gunsten durch entsprechende Lenkung und Unterverteilung öffentlicher Aufträge ohne weiteres möglich sei. Das Gefühl der Diskriminierung bei den Kleingewerbetreibenden unterstrich der Stadtpräsident noch mit dem Hinweis, daß öffentliche Aufträge mittelbar auch an jüdische Firmen ergingen. Im Herbst 1938 registrierte dieselbe Stelle fortdauernde Klagen aus dem Bauhandwerk über „mangelhafte Berücksichtigung der Kleinbetriebe und ihre besondere Schädigung durch den Abzug von Arbeitskräften nach dem Westen zugunsten von Großfirmen, über den Mangel an Kapitalkraft für die Übernahme größerer Bauvorhaben und über die Unsicherheit in der Preiskalkulation - verursacht durch die Unsicherheit und Unübersichtlichkeit der Baustoffbeschaffung". Als Beleg führte der Stadtpräsident einen Brief der Bauge136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

werksinnung Berlin vom 22. November 1938 an, in dem von „außerordentlicher Unruhe" unter den Mitgliedern die Rede ist- ausgelöst vor allem dadurch, daß der „gegenwärtige Kampf der Behörden untereinander, um ihre Bauvorhaben als dringlich und vordringlich bezeichnet zu erhalten, [. . .] ausschließlich auf dem Rücken der kleinen und kleinsten Baugeschäfte" ausgetragen werde. „Diesen wird die letzte Arbeitskraft fortgenommen, um bei irgendwelchen Bauvorhaben, die in der Nähe von Berlin als vordringlich anerkannt sind, eingesetzt zu werden"46. Das Lohngefälle in der gewerblichen Wirtschaft, eine Folge primär der forcierten Rüstung und (zumal in Berlin) der Hitlerschen Demonstativbauten, sekundär der Abwerbemethoden der hiervon profitierenden Großunternehmen, bewirkte nicht nur, daß Arbeiter ihre Branche oder ihren Betrieb wechselten, sondern auch, daß selbständige Handwerker in Facharbeiterstellen abwanderten. Neben der Handwerksverordnung vom Januar 1935, die alle nach dem 31. Dezember 1899 geborenen und nach dem 31. Dezember 1931 in die Handwerksrolle eingetragenen selbständigen Handwerker bei Strafe des Verlustes ihrer Selbständigkeit zwang, bis Ende 1939 die Meisterprüfung nachzuholen, waren es vor allem die großindustriellen Locklöhne, die die Zahl der Handwerksbetriebe von 1936 bis 1938 (im Gebiet des „Altreichs") um 104 000 sinken ließen. Dazu kamen seit 1939 offizielle „Auskämmaktionen" in Handel und Gewerbe. War das Handwerk seit 1936 zunächst aufgefordert worden, möglichst viele Lehrlinge in möglichst kurzer Zeit auszubilden, so kündigte Reichswirtschaftsminister Funk im Mai 1938 auf dem Reichshandwerkertag in Frankfurt sehr viel drastischere Schritte an, um dem immer bedrohlicher werdenden Facharbeitermangel abzuhelfen. Es sei nur im Interesse der Betroffenen, sagte er, „wenn die zuständigen Stellen sich bemühten, die nicht rentablen und ausgenutzten Handwerkerbetriebe zu veranlassen, sich als Facharbeiter zur Erfüllung des Vierjahresplanes zur Verfügung zu stellen". Beruhigend fügte er hinzu, niemand denke daran, „daß alle 600 000 Ein-Mann-Betriebe auf diese Weise beseitigt werden sollen". In der Präambel zur Verordnung über die Durchführung des Vierjahresplanes auf dem Gebiet der Handwerkswirtschaft vom 12. Februar 1939 machte Funk dann endgültig klar, daß an eine Schonung des Handwerks als Berufsstand nicht mehr zu denken war. Die Durchführung des Vierjahresplanes, so heißt es dort, erfordere die größtmögliche Kapazitätsausnutzung des Handwerks. Deshalb müßten „die nicht am richtigen Arbeitsplatz stehenden oder nur unvollständig mit ihrer Arbeitskraft in Anspruch genommenen Handwerker für einen zweckvolleren Arbeitseinsatz herangezogen werden". Das hieß konkret, daß fortan alle arbeitsfähigen Handwerker, deren Betriebe als nicht ordnungsgemäß geführt galten oder deren Tätigkeit nicht als kriegswirtschaftlich notwendig erachtet wurde, zur Stillegung ihres Betriebes gezwungen und zu abhängigen Arbeiten in der Rüstungsindustrie dienstverpflichtet werden konnten47. Der Reichsstand des deutschen Handwerks fügte sich in das Unvermeidliche. Reichshandwerksmeister Schramm erklärte auf einer wehrwirtschaftlichen Tagung seiner Organisation Anfang Dezember 1938, die „Übersetzung" im Handwerk sei eine Folge der „zügellosen Gewerbefreiheit". Inhaber unrentabler Betriebe könnten als „Gefolgschafter an wichtigeren Arbeitsplätzen ein auskömmliches und sicheres Brot finden und dann das Bewußtsein haben, eine für Deutschland notwendige und 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

nützliche Aufgabe zu leisten". Dem Reichsstand des deutschen Handwerks müsse es möglich sein, seine Handwerker dahin zu stellen, wohin sie gehörten. „Wir müssen sowohl den Einsatz der im Handwerk tätigen Menschen als auch die Betriebe selbst rationalisieren". Im April 1939 jedoch schien es dem offiziellen Organ des Reichsstandes angebracht, vor bleibenden Schäden der „Auskämmung" im Handwerk zu warnen. Es sei kaum tragbar, schrieb das „Deutsche Handwerk", daß die Industrie hier und dort ihren angelernten Kräften höhere Löhne zahlen könne als das Handwerk infolge des Preisstopps seinen Gesellen. „Man kann das Handwerk nicht von seinen Fachkräften entblößen, ohne damit zugleich seine Existenzgrundlage zu erschüttern und ihm die volkswirtschaftliche Aufgabe, vielseitig vorgebildete Fachkräfte für alle möglichen Bedarfsträger, Industrie, Wehrmacht, Reichsbahn, Reichspost usw. heranzubilden, zu erschweren oder unmöglich zu machen. Was dem Handwerk gegenwärtig entzogen wird, ist auf lange Jahre hinaus nicht zu ersetzen. Denn auch an eine Rückwanderung dieser Fachkräfte aus der Industrie ist zum mindesten für die Metall- und Holzverarbeitung nicht zu denken, weil in den Großbetrieben für den Einsatz dieser Kräfte die erforderlichen Investitionen gemacht worden sind". Das Handwerk müsse der Industrie ein „energisches Halt" zurufen, wenn diese darauf bestehe, daß ihr für die Erledigung ihrer dringlichen Arbeiten auch dann Fachkräfte zuzuweisen seien, wenn eine ausreichende Deckung des Leistungsbedarfs durch Handwerksbetriebe möglich sei. „Im Zeichen der Vollbeschäftigung dürfte ein Konkurrenzneid zwischen Handwerk und Industrie durchaus überflüssig sein, wenn der eine dem anderen den Lebensraum gönnt. Dies aber ist für alle leistungsfähigen Betriebe in ausreichendem Umfange vorhanden. Daher muß das Trennende fallen und das Gefühl der Verbundenheit in einer Leistungsgemeinschaft aufs stärkste wirksam werden"48. An die Angst des gewerblichen Mittelstandes, von den Großen verdrängt zu werden, hatten die Nationalsozialisten vor der Machtergreifung mit durchschlagendem Erfolg appelliert. Nun wurden sie mit ebendieser Angst neu konfrontiert, und die Angst war realer als jemals zuvor. Aber von einem Schutz des gewerblichen Mittelstandes sprach die nationalsozialistische Führung seit 1936 nicht mehr. „Mit Mittelstandsideologen kann man keine Volkswirtschaft, die die Wirtschaft des Volkes sein soll, aufbauen!" schrieb im Januar 1939 der Wirtschaftsredakteur und DAF-Funktionär Nonnenbruch im „Völkischen Beobachter". „Denn dieser durch die Mittelstandsideologie erstrebte extreme Schutz des Mittelstandes setzt erstens voraus, daß das Volk unfähig ist, immer wieder neu einen Mittelstand zu bilden. Wird ein vorhandener Mittelstand in extremer Weise geschützt, so heißt das, daß gegen alle die, die von unten in den Mittelstand aufsteigen wollen, eine unüberschreitbare Barriere errichtet wird. Und zweitens wollen die Vertreter der Mittelstandsideologie den Mittelstand nicht in den Dienst des Volkes, sondern das Volk in den Dienst des Mittelstandes stellen". „Wir treiben", so verkündete im Mai 1939 Reichswirtschaftsminister Funk dem Ersten Großdeutschen Handwerkertag, „keine spezifische Handwerkspolitik, ebenso wie wir keine spezifische Industrie- oder Landwirtschaftspolitik treiben, sondern wir haben eine nationalsozialistische Wirtschaftspolitik, die alle wirtschaftlichen Kräfte in gleicher Weise zu erfassen, zu betreuen und zum bestmöglichen Ein138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

satz zu bringen hat [. . .] Höchste Menschenökonomie ist deshalb das wichtigste Gebot". Hitler selbst räumte ein, daß die Nationalsozialisten eine Kehrtwende vollzogen hatten. Auf dem Nürnberger Parteitag im September 1939 erklärte er: „Wenn es am Beginn unseres Kampfes 1933 notwendig war, möglichst viele Deutsche in Arbeit, ganz gleich welcher Art, zu bringen, dann ist es heute notwendig, möglichst viel an primitiver Arbeit durch die Maschine zu ersetzen. Unser qualitativ so hochstehender Arbeiter wird dadurch allmählich immer mehr von der einfachen Beschäftigung weg zu einer für ihn geeigneteren höheren geführt"49. Jeder Appell des Handwerks an den guten Willen von Industrie und politischer Führung mußte unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft ins Leere gehen. Eine interne Statistik weist unter dem Stichtag des 1. Juni 1941 noch 1,185 Millionen arbeitende und 275 000 ruhende Handwerksbetriebe aus. Da es im April 1939 noch 1,567 Millionen Handwerksbetriebe gegeben hatte, dürfte das Minus von 107 000 Betrieben vor allem auf das Konto von „Auskämmungen" gehen. Im Reichswirtschaftsministerium gab es wohl noch einzelne Beamte, die die Dezimierung des Handwerks mit Sorge sahen. So mahnte im Januar 1940 ein Referent, „aus Gründen des sozialen Ausgleichs, einer gesunden Betriebsgrößenmischung und des Facharbeiternachwuchses" sollte die handwerkliche Erzeugung geschützt und erhalten werden, solange dies wehrwirtschaftlich nur irgend möglich sei; der Selbständigkeit beraubt, aus herkömmlichen Arbeitsbedingungen gelöst, leisteten die Handwerker weniger als im eigenen Betrieb mit gewohnten Arbeitsmitteln und Fertigungsverfahren. Aber solche Stimmen verhallten ungehört. Wenn die Betriebsschließungen auch weit hinter dem zurückblieben, was vor allem Wehrmacht und Rüstungsindustrie forderten, dann nicht aus mittelstandspolitischen Rücksichten, sondern wegen der Furcht Hitlers und der Partei, eine allzu drastische Drosselung der Konsumgüterproduktion könne innenpolitisch gefährliche Folgen haben. Was in den „Auskämmaktionen" geschah, war aber für die Betroffenen einschneidend genug. Die Schließungsaktionen im Kleingewerbe erreichten ihren Höhepunkt 1943, wobei freilich Zahlen über das tatsächliche Ausmaß fehlen. Stärker als das Handwerk war nun der Einzelhandel betroffen, der bisher von Stillegungen deswegen weniger erfaßt worden war, weil 90 Prozent aller in Einzelhandelsbetrieben Beschäftigten sich nicht als anderweitig einsatzfähig erwiesen hatten. Am 30. Januar 1943 ordnete jedoch ein Erlaß des Reichswirtschaftsministeriums die Schließung von Handelsbetrieben an, „die für die Erfüllung von Aufgaben der Kriegswirtschaft oder der Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung nicht unbedingt erforderlich sind. Ziel ist die Freisetzung möglichst vieler für die Kriegswirtschaft brauchbarer Arbeitskräfte, die Einsparung von Kohle, Energie, Dienstleistungen aller Art und die Verwendung der Räume für kriegswichtige Zwecke". Zwar versuchten, wie erwähnt, einige Gauleiter, diesen Erlaß vornehmlich gegen Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte anzuwenden. Aber die Hauptbetroffenen waren, einer weiteren Weisung Funks entsprechend, mittelständische Einzelhandelsgeschäfte. Zum Abschluß der „Stillegungsaktion in Handel, Handwerk, Fremdenverkehr und anderen Gewerben" erklärte das Reichswirtschaftsministerium am 21. Juli 1943, weshalb der Widerspruch zwischen Programm und Praxis des Nationalsozialismus unvermeidbar war: Die Stillegungsaktion sei al139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

lein von der harten Notwendigkeit des Krieges diktiert und keinesfalls als eine Maßnahme grundsätzlicher Art anzusehen. Sie ändere nichts an der nationalsozialistischen Auffassung, „daß Erhaltung und Förderung eines gesunden Mittelstandes das Kernstück unserer Wirtschaftspolitik sind. In Punkt 16 des Parteiprogramms ist das klar ausgesprochen und für alle Zeiten verankert [. . . ] . Nach dem Siege wird es daher mit zu den ersten Aufgaben der Staatsführung gehören, die dem Mittelstand durch sein Kriegsopfer entstandenen Schäden zu beseitigen und ihn seiner Bedeutung gemäß in die gewaltige Aufbauarbeit des Friedens einzuschalten"50. Das mittelständische Gewerbe wurde im Zweiten Weltkrieg ungleich härter behandelt als im Ersten. Aufgrund des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst von 1916 mußten Kleinbetriebe zwar Gehilfen an rüstungswichtige Industrien abgeben, staatliche Schließungsaktionen fanden zwischen 1914 und 1918 jedoch nicht statt. Auf der anderen Seite war die Lebensmittelversorgung der deutschen Bevölkerung zwischen 1939 und 1945 viel besser - wie denn das nationalsozialistische Regime überhaupt aus Furcht vor sozialen Unruhen eine Strategie der Konfliktvermeidung betrieben hat. Vor 1939 war das nur möglich im Vorgriff auf den materiellen Ertrag künftiger Eroberungen; während des Krieges geschah es auf der Grundlage der rücksichtslosen Ausbeutung der eroberten Gebiete und der aus ihnen ins Reich deportierten Zwangsarbeiter. In den meisten anderen kriegführenden Ländern waren die Entbehrungen der Gesamtbevölkerung in der Tat größer als in Deutschland. Auf dem Gebiet der Frauenarbeit läßt sich das besonders deutlich demonstrieren, wobei hier allerdings auch ideologische Vorurteile Hitlers die Verwirklichung der Parole vom „totalen Kriege" verhinderten. Neben dem allgegenwärtigen Terror war die Abwälzung sozialer Härten auf die Besiegten der Hauptgrund dafür, daß die deutsche Bevölkerung die Kriegsanstrengungen bis 1945 willig unterstützt hat. Das gilt auch für den gewerblichen Mittelstand, obwohl das Regime vielen seiner Angehörigen mit dem Verlust der Selbständigkeit etwas zumutete, was sie nur als sozialen Abstieg empfinden konnten. Die Drohung der „Proletarisierung" war für das Kleingewerbe noch niemals so real wie während des Zweiten Weltkrieges. Auf der anderen Seite führten die „Auskämmungen" insgesamt zu einer relativen Verbesserung der Ertragslage der verbleibenden Betriebe und insoweit langfristig vermutlich sogar zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung des gewerblichen Mittelstandes. Das war ein Beitrag zum sozialen Wandel und, wenn gewiß auch keine „soziale Revolution", so doch ein Stück Modernisierung der deutschen Gesellschaft wider Willen - ein Nebenergebnis des Krieges, mit dem der Nationalsozialismus Europa politisch und sozial von Grund auf verändern wollte51. Solange der Vormarsch der deutschen Truppen in der Sowjetunion andauerte, schien es, als könne die nationalsozialistische Führung den Kleingewerbetreibenden gewisse Kompensationen für ihre Kriegslasten anbieten. Nachdem Reichshandwerksmeister Schlamm dem „Reichsführer SS" im Frühherbst 1941 eine „Denkschrift zur Leistungssteigerung der handwerklichen Bauwirtschaft" vorgelegt hatte, in der lebhaft über den Konkurrenzkampf zwischen Bauindustrie und Bauhandwerk geklagt wurde, antwortete Heinrich Himmler am 21. Oktober, dieser Konkurrenzkampf sei gar nicht notwendig und infolgedessen bedürfe es auch nicht der vom 140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Handwerk geforderten staatlichen Eingriffe. „Die Entwicklung unseres Raumes im Osten wird diesen Kampf infolge des außerordentlichen Bedarfs an bauhandwerklichen und bauindustriellen Einrichtungen aller Art sowie insbesondere an Lehrbetrieben und an Lehrmeistern sowieso illusorisch machen. Eine der wichtigsten Aufgaben des deutschen Handwerks scheint mir demnach die Frage des Nachwuchses von selbständigen Jungmeistern, Lehrlingen usw. zu sein. Diesen ist im neuen Ostraum ein Betätigungsfeld gegeben, wie es für das deutsche Bauhandwerk größer und reizvoller in der deutschen Geschichte noch nicht gewesen ist. Der festgestellten Überalterung der Handwerksbetriebe im Altreich wird dadurch ein Riegel vorgeschoben werden können, daß die Handwerksbetriebe im Altreich gewissermaßen die Mutterbetriebe der Jungbetriebe in den neu erworbenen Gebieten des Ostens werden und somit ein ständiger Blutkreislauf zwischen Alt- und Jungbetrieben sichergestellt ist"52. Das nationalsozialistische „Lebensraum"-Programm hatte von Anfang an eine gesellschaftspolitische Dimension. Hitler hat bekanntlich schon in „Mein Kampf" die „Erwerbung von neuem Grund und Boden zur Ansiedlung der überlaufenden Volkszahl" gefordert und darin die Chance für die „Erhaltung eines gesunden Bauernstandes" gesehen. Viele der augenblicklichen Leiden seien nur die Folge des ungesunden Verhältnisses zwischen Land- und Stadtvolk. „Ein fester Stock kleiner und mittlerer Bauern war noch zu allen Zeiten der beste Schutz gegen soziale Erkrankungen, wie wir sie heute besitzen. Dies ist aber auch die einzige Lösung, die eine Nation das tägliche Brot im inneren Kreislauf einer Wirtschaft finden läßt. Industrie und Handel treten von ihrer ungesunden führenden Stellung zurück und gliedern sich in den allgemeinen Rahmen einer nationalen Bedarfs- und Ausgleichswirtschaft ein. Beide sind damit nicht mehr die Grundlage der Ernährung der Nation, sondern ein Hilfsmittel derselben. Indem sie nur mehr den Ausgleich zwischen eigener Produktion und Bedarf auf allen Gebieten zur Aufgabe haben, machen sie die gesamte Volksernährung mehr oder weniger unabhängig vom Auslande, helfen also mit, die Freiheit des Staates und die Unabhängigkeit der Nation, besonders in schweren Tagen, sicherzustellen". Himmler faßte sich fünfzehn Jahre später sehr viel kürzer. Nach einer Reise nach Kiew im August 1942 erklärte er, „daß man die soziale Frage nur dadurch lösen kann, daß man die anderen totschlägt, damit man ihre Äcker bekommt"53. Die Eroberung von Lebensraum im Osten schien den führenden Nationalsozialisten mithin aus einem doppelten Grund notwendig: Erstens war nur so das Ziel der Autarkie zu verwirklichen, und zweitens war anders jene Reagrarisierung der deutschen Gesellschaft unmöglich, die zugleich als Entproletarisierung gedacht war. Für die Eroberung von Lebensraum aber war höchste technische und industrielle Effizienz unabdingbar, und auch die aus dem Krieg hervorgehende autarke Gesellschaft bedurfte der Hilfsdienste von Technik und Industrie. Die subalternen Funktionen in dieser Gesellschaft könnten künftig von einer Sklavenschicht aus den besiegten Völkern, soweit sie als rassisch minderwertig galten, ausgeübt werden, während sich die neue Elite im Germanischen Reich deutscher Nation aus dem „Herrenvolk" rekrutieren würde. In einer solchen Gesellschaft mochten auch Junghandwerker ihren Platz finden, wenn sie bereit waren, ostwärts zu ziehen und mitzuwirken an der Gestaltung des neugewonnenen Lebensraums. Sowenig die rückwärtsgewandte Agrarutopie von 141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

vornherein dem gewerblichen Mittelstand eine spezifische Rolle zuerkannt hatte, sowenig schloß sie sie aus. Überdies gab es genügend taktische Gründe, die es geraten erscheinen ließen, das Kleingewerbe mit den unbegrenzten Möglichkeiten des weiten Ostens über seine kriegsbedingten Nöte hinwegzutrösten. Die Handwerksführung jedenfalls war für Himmlers Anregung dankbar. Schon bevor der „Reichsführer SS" offiziell die Denkschrift zur Lage des Bauhandwerks beantwortete, hatte er mit dem Reichsstand Gespräche über die Aufgaben des Handwerks im Osten geführt. Wie Schramm Ende September 1941 auf einer Arbeitstagung der niedersächsischen und nordmärkischen Handwerkskammern in Travemünde mitteilte, waren mit Himmler „für die volkspolitisch so wichtige Ansetzung von Handwerkern im befreiten Osten entsprechende Vereinbarungen getroffen" worden. „Gerade die ungeheuer große Siedlungsaufgabe des Ostens zeige, wie unentbehrlich das Handwerk nicht nur in volkswirtschaftlicher Hinsicht, sondern vor allem auch aus zwingenden völkisch-politischen Gründen sei". Der langjährige Referent des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, Wilhelm Wernet, sah im neuen östlichen Lebensraum geradezu die Chance für eine „Wiedergutmachung an denjenigen Wirtschaftsgruppen, die früher durch die Technik einseitig benachteiligt worden sind. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen allseitigen Aufschwung des Handwerks sind seit Jahrhunderten nicht so günstig gewesen wie jetzt. Es kommt alles darauf an,siepolitisch zu erfassen und nutzbar zu machen". Ein anderer Autor sah im „Osteinsatz des Handwerks" die Möglichkeit für eine soziale Führungsrolle neuer Art. „Die Handwerker, die im Osten zum Einsatz kommen, müssen daher nicht nur vorbildliche Deutsche im allgemeinen Sinne sein, sondern sie müssen auch vorbildliche Handwerker sein, Meister ihres Fachs, die imstande sind, die dort eingeborenen Handwerker durch ihr Vorbild und Beispiel auf eine höhere Stufe der Leistungsfähigkeit zu heben und ihnen zu beweisen, daß die Art und die Methoden deutscher Arbeit und deutscher Wirtschaft auch ihnen erst die volle Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit bringen"54. Der Wahn dauerte nicht lang. Mit den Niederlagen der deutschen Armeen endeten auch die Lebensraumträume der Handwerksführung. Die letzten Chancen, ihre Interessen geltend zu machen, verloren die Handwerker im Frühjahr 1943. Nachdem schon Anfang 1940 zwischen der Führung des Reichsstandes des deutschen Handwerks und des Fachamtes „Deutsches Handwerk" in der Deutschen Arbeitsfront eine Arbeitsgemeinschaft gegründet und damit die Autonomie der handwerklichen Standesvertretung zugunsten eines verstärkten Einflusses der DAF eingeschränkt worden war, büßte im März 1943 das Handwerk seine traditionellen Selbstverwaltungsorgane ein55. Im April 1942 hatte das Reichswirtschaftsministerium die Handwerksführung vertraulich davon unterrichtet, daß im Zuge einer Rationalisierung des Kammerwesens die Handwerkskammern aufgelöst und - zusammen mit den Industrie- und Handelskammern - in „Gauwirtschaftskammern" überführt würden. Die Maßnahme ging auf den Rüstungsminister und neuen „Wirtschaftsdiktator" Speer zurück, der sich damit ein wirksames kriegswirtschaftliches Lenkungsinstrument schaffen und den Einfluß der Gauleiter (in ihrer Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissare) eindämmen wollte. Die Handwerksführung versuchte sogleich, und 142 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

zwar mit Hilfe Leys, der seinen Einfluß auf das Handwerk gefährdet sah, die angekündigte Maßnahme zu verhindern. Reichshandwerksmeister Schramm erklärte am 15. Mai 1942, das Handwerk sehe „in der Überführung der Handwerkskammern, d. h. der Beseitigung seiner Selbstverwaltung, der Einführung seiner Einrichtungen aller Art, der Vermögensbestände der Handwerkskammern in die Einrichtungen der Industrie einen neuen Angriff auf seinen Bestand". Funk gegenüber sprach er von einer „unverkennbaren psychologischen Belastung im gegenwärtigen Zeitpunkt" eine Einschätzung, die der Sicherheitsdienst in seinen „Meldungen aus dem Reich" teilte. Der vielfältige Widerspruch blieb erfolglos. Die Verordnung über die Gau wirtschaftskammern wurde am 2. Juni 1942 im Reichsgesetzblatt verkündet. Funk begründete Lammers gegenüber den Schritt damit, die Zusammenfassung der Wirtschaftsorganisationen in der Mittelinstanz habe sich als notwendig erwiesen, „um auch hier eine Konzentration der Wirtschaft zum Zweck der Leistungssteigerung in den Rüstungsaufgaben durchzuführen". Die Satzung der neuen Kammern allerdings ließ auf sich warten. Erneute Versuche, die Auflösung der handwerklichen Selbstverwaltung zu verhindern - dieses Mal unter Einschaltung des bayerischen Ministerpräsidenten Siebert -, erwiesen sich als zwecklos. Am 23. Dezember 1942 veröffentlichte das Reichsgesetzblatt eine Verordnung über die Einrichtung von zunächst 29 Gauwirtschaftskammern und die damit verbundene Liquidation der betreffenden Industrie- und Handels- sowie Handwerkskammern. Am 27. März 1943 schließlich wurde die Auflösung des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages und seine Überführung als Abteilung in die Reichswirtschaftskammer verfügt; gleichzeitig verloren die Innungen und Kreishandwerkerschaften ihre Eigenschaft als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Der Reichshandwerksmeister behielt zwar seinen Titel, hatte aber fortan keinerlei politischen Einfluß mehr56. Die Zerschlagung der handwerklichen Selbstverwaltungsorgane im Jahre 1943 zeigte einmal mehr, wie wenig der gewerbliche Mittelstand, der in der „Kampfzeit" einen wesentlichen Teil der nationalsozialistischen Massenbasis gestellt hatte, im „Dritten Reich" galt. Handwerker und Kleinhändler verloren ihren Einfluß zunächst an die alten Eliten aus Industrie, Wehrmacht und Bürokratie; von der zweiten Hälfte des Jahres 1933 ab wurden Teile der nationalsozialistischen Bewegung selbst, zumal die Arbeitsfront, ihre Gegner, während sich ihre partiellen Verbündeten aus den alten Führungsschichten rekrutierten, die im Zuge der Niederschlagung des sogenannten „Röhm-Putsches" erneut an Einfluß gewannen, aber Anfang 1938 politisch entmachtet wurden. Der gewerbliche Mittelstand, bereits seit 1936 in die politische Defensive gedrängt, war seitdem gesellschaftlich isoliert. Als „Stand" büßte das Kleingewerbe immer mehr an Bedeutung ein. Gebraucht wurden nur noch die Kleinbetriebe, die kriegswirtschaftlich wichtige Funktionen erfüllten. Vor den Reaktionen einer unzufriedenen Arbeiterklasse haben sich die Nationalsozialisten stets gefürchtet. Handwerker und Kleinhändler dagegen verfügten über nichts, was das Regime das Fürchten hätte lehren können57. Die Großindustrie hat sich zwar einen größeren Handlungsspielraum bewahren können als das Kleingewerbe, aber die letzten politischen Entscheidungen wurden ohne sie getroffen. Das ,,Lebensraum"-Programm hatte, wie wir gesehen haben, 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

seine gesellschaftspolitische Seite, es war jedoch nicht Ausdruck konkreter ökonomischer Gruppeninteressen. Seine Ursprünge liegen vielmehr in einer archaischen Angst vor der Modernität, die als das Ende aller Sicherheit empfunden wurde. Die Weltwirtschaftskrise gab dieser Angst in vielen Ländern Auftrieb. Aber zum Exzeß steigern konnte sich die Angst vor der Modernität nur in einem Land, das binnen kurzer Zeit durchgreifend industrialisiert worden war, ohne zugleich seine Herrschaftsordnung und sein politisches Bewußtsein den veränderten Verhältnissen anzupassen. Die unbewältigte Industrialisierung war das Trauma des Mittelstandes wie der Nationalsozialisten, die aus dieser Schicht hervorgegangen waren. Aber manche führenden Nationalsozialisten, und vor allem Hitler selbst, waren durch den Ersten Weltkrieg so sehr aus allen konkreten sozialen Bezügen herauskatapultiert worden, daß sie mit den bürgerlichen Vorurteilen zugleich eine tiefe Verachtung des Bürgertums verbinden konnten. Ihre letzten Ziele waren nicht mehr materiell, sondern nur noch ideologisch milieubedingt. Der Versuch, diese Ziele zu verwirklichen, endete mit der Negation aller konkreten Interessen. Der gewerbliche Mittelstand mußte seine Illusionen teuer bezahlen58.

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9. Stabilisierung d u r c h S c h r u m p f u n g : D e r g e w e r b l i c h e M i t t e l s t a n d in d e r B u n d e s r e p u b l i k In seiner berühmt gewordenen Schrift „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes" hat Theodor Geiger 1932 den „alten Mittelstand", die selbständigen Kleinunternehmer in Handwerk, Einzelhandel und Landwirtschaft, das Beispiel einer „sozialgeschichtlichen Verwerfung" genannt: „Strukturen, die im sozialgeschichtlichen Nacheinander auftreten, finden sich im gesellschaftlichen Jetzt bei verschiedenen Bevölkerungsteilen im Nebeneinander. So wirken im alten Mittelstand die ständischen Schichtungen der frühkapitalistischen Epoche als Querdifferenzierungen nach; ständische Sitte und Lebensauffassung haben sich bewahrt und leisten der Durchsetzung des hochkapitalistischen Klassenprinzips zähen Widerstand". Der von Geiger skizzierte soziale Traditionalismus der kleinen Selbständigen bildete zugleich eine wesentliche Voraussetzung jener „Panik im Mittelstand", die nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise den Aufstieg des Nationalsozialismus zur Massenbewegung ermöglichte und die erste deutsche Republik zerstören half1. In der Bundesrepublik hat es bisher ein - Weimar vergleichbares - Mittelstandsproblem nicht gegeben. Auch in Perioden eines ausgeprägten konjunkturellen Abschwungs sind die selbständigen Mittelschichten nicht entfernt so stark radikalisiert worden wie nach 1929. Vielmehr scheint das Kleingewerbe insgesamt in die westdeutsche Gesellschaft relativ fest integriert zu sein. Die Frage, weshalb, auf den gewerblichen Mittelstand bezogen, Bonn nicht Weimar ist, verweist uns auf drei verschiedene Untersuchungsebenen. Erstens gilt es, die wirtschaftliche Entwicklung von Handwerkern und Kleinhändlern - den Kerngruppen des gewerblichen Mittelstandes nach 1945 zu skizzieren. Zweitens werden wir uns dem Problem zuzuwenden haben, inwieweit die Mittelstandspolitik der zweiten Nachweltkriegszeit an Traditionen aus der Zeit vor 1945 anknüpfte und inwieweit sie sich von ihnen unterscheidet. Drittens ist die Frage nach Bruch und Kontinuität im Hinblick auf das politische Verhalten und das Selbstverständnis des gewerblichen Mittelstandes zu stellen und einzuordnen in den umfassenderen Zusammenhang der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen diese Schicht sich nach 1945 entwickelt hat. I. Es gibt einige statistisch erfaßbare säkulare Trends, die eine erste grobe Orientierung über den Wandel der gesellschaftlichen Stellung des gewerblichen Mittelstandes erlauben. Da ist zunächst die nahezu kontinuierliche Abnahme des relativen Anteils der Selbständigen an der erwerbstätigen Bevölkerung. Waren es 1882 noch 26,1 %, so sank die Zahl bis 1925 auf 15,7 %. Die Weltwirtschaftskrise, während derer manche 145

10 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Arbeitslosen versuchten, sich durch die Eröffnung eines Geschäfts - etwa eines Tabakladens - über Wasser zu halten, ließ den Anteil der Selbständigen bis 1933 vorübergehend auf 16,1 % steigen. Im Zeichen der rüstungsbedingten Überbeschäftigung sank er dann wieder auf 14% im Jahr 1939. Auf etwa demselben Niveau begann die Bundesrepublik 1949 (14,9 % ) . Seither ist die Zahl der Selbständigen ständig zurückgegangen, wobei der Schrumpfungsprozeß in der Landwirtschaft die größte Rolle gespielt hat. Im Jahre 1975 gab es noch 2,51 Millionen Selbständige in der Bundesrepublik; das entspricht einem Anteil von 9,5 % an der erwerbstätigen Bevölkerung2. Dem generellen Trend bei den Selbständigen entsprechen im Bereich des Handwerks die sinkenden Zahlen der Betriebe und der Meister. Es gab in der Bundesrepublik 1975 noch 519 000 Handwerksbetriebe gegenüber 849 000 im Jahre 1949 (die letztere Zahl ohne Saarland und West-Berlin). Die Zahl der Beschäftigten je Betrieb stieg in der gleichen Zeit von 3,70 auf 7,07, der Umsatz je Beschäftigten von 9440 DM auf 65 260 DM. Der Anteil des Handwerks am Bruttoinlandsprodukt, der sich 1936 auf ein Zwölftel belief, bewegt sich seit den Mittfünfzigerjahren ziemlich kontinuierlich um ein Neuntel3. Schon diese Daten widerlegen die seit Mitte des 19. Jahrhunderts dem Handwerk immer wieder gestellte Untergangsprognose; vielmehr deuten sie auf eine Stabilisierung sowohl des einzelnen Handwerksbetriebs als auch der volkswirtschaftlichen Stellung des Handwerks insgesamt. Der allgemeine Trend Senkung der Zahl der Betriebe bei gleichzeitiger Steigerung der Zahl der Beschäftigten je Betrieb und des Umsatzes je Beschäftigten - ist in diesem Jahrhundert zweimal unterbrochen worden: einmal in der Zeit der Weltwirtschaftskrise - wobei der Grund die erwähnte „Flucht in die Selbständigkeit" war - und zum anderen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „Auskämmaktionen" während des Krieges, über die genaue Zahlen nicht vorliegen, hatten die Zahl der Handwerksbetriebe weiter verringert. In der Zeit zwischen Kriegsende und Währungsreform hat dann zunächst der Flüchtlingsstrom einen erheblichen Andrang zum Handwerk bewirkt; sodann erhöhte die in der zweiten Hälfte des Jahres 1948 verstärkt einsetzende Wiederbelebung der Wirtschaft die Chancen ökonomischer Selbständigkeit, namentlich im Bereich des Bauhandwerks und der Baunebengewerbe. Seit 1949 ist dagegen wieder der „normale" Trend zu beobachten4. Im Zeichen des Wiederaufbaus hat die Umsatzsteigerung des Handwerks zwischen 1949 und 1961 mit 330% die der Industrie sogar um 1 5 % übertroffen. Allerdings bedürfen diese makroökonomischen Daten der differenzierenden Erläuterung Nach dem Vorschlag von Theo Beckermann kann man unterscheiden zwischen Expansionshandwerken, deren Wachstum innerhalb eines gegebenen Zeitraums dasjenige des Gesamthandwerks um mindestens 30 % übersteigt, Wachstumshandwerken, deren Wachstum den Durchschnitt um weniger als 30 % über- oder unterschreitet, und Stagnationshandwerken mit Wachstumsraten, die diejenige des Gesamthandwerks um mindestens 30 % unterschreiten. Zu der ersten Gruppe gehörten zwischen 1955 und 1972 Radio- und Fernsehtechniker, Kraftfahrzeugmechaniker, Elektroinstallateure, Sanitär- und Heizungstechniker; zur zweiten u. a. Schmiede, Schlosser, Maschinenbauer, Dachdecker, Tischler, Straßenbauer, Maurer, Uhrmacher und Flei146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

scher; zur dritten Zimmerer, Maler, Friseure, Bäcker, Konditoren. Schließlich gibt es noch ausgesprochene Kontraktionshandwerke wie die Schuhmacher, die Damenund Herrenschneider. Die Gruppe der Expansionshandwerke setzt sich demnach vor allem aus modernen technischen Zweigen und Baubranchen zusammen, während die Wachstumshandwerke einen Querschnitt durch das Gesamthandwerk, allerdings ohne das Bekleidungsgewerbe, repräsentieren. Die stagnierenden Handwerke umfassen vor allem das Bekleidungs- und Nahrungsmittelgewerbe sowie einige Dienstleistungsberufe5. Vergröbernd läßt sich sagen, daß das Wachstum des Handwerks in besonderem Maß von jenen Branchen getragen wird, die erst durch die Industrialisierung entstanden sind und daß das wirtschaftliche Gewicht derjenigen alten Handwerkszweige, deren Tätigkeitsfeld auch durch großindustrielle Massenfertigung abgedeckt werden kann, beständig sinkt. Dazwischen rangieren Handwerkszweige, deren Arbeitsbereich zwar ursprünglich vorindustriell ist, aber von der Industrie nicht oder nicht voll übernommen werden kann. Allen Hinweisen auf eine langfristige Stabilisierung des Handwerks kann das Argument entgegengehalten werden, daß gleichzeitig die Abhängigkeit des Handwerks von der Industrie gewachsen ist. So hat ein Autor die Partnerschaft zwischen Industrie und Handwerk, die an die Stelle der alten Gegnerschaft getreten sei, als quasifeudal charakterisiert. „Kaum dem Buchstaben nach auf einem freien Vertrag beruhend", sei die Abhängigkeit des Handwerks von der Industrie „auf die Treue von Vasallen gegründet, die die große Industrie mit Schutz und Trutz honoriert"6. Für einen Teil des Handwerks trifft diese These zu. Es gibt nicht nur einen Strukturwandel des Handwerks insgesamt, sondern auch einen Funktionswandel bestimmter Handwerksbranchen. Die reinen Zulieferanten der Industrie haben sich eben wegen ihrer exklusiven Abhängigkeit von einzelnen Großunternehmen als besonders krisenanfällig erwiesen; dagegen sind die ,,Vorlieferanten", die in eigener Regie hergestellte Spezialprodukte anbieten, vergleichsweise krisenfest. Insgesamt hat die Abhängigkeit des Handwerks von der Industrie sicherlich zugenommen; sie ist die Bedingung seiner relativen Prosperität wie seiner potentiellen Labilität. Aber dieser Tatbestand wirkt nur dann dramatisch, wenn man von dem traditionellen mittelständischen Anspruch auf eine selbständige Mittlerrolle zwischen Kapital und Arbeit ausgeht und wenn man vergißt, daß die Zwischenkriegszeit, in der die Verflechtung zwischen Industrie und Handwerk viel schwächer ausgeprägt war als heute, zugleich konjunkturellen Schwankungen weit extremer ausgesetzt war als die zweite Nachweltkriegszeit. Im übrigen sieht es auch nicht so aus, als ob der Rückgang der Zahl der Handwerksbetriebe allmählich gegen Null tendieren würde. Nach dem „Mittelstandsbericht" der Bundesregierung vom Mai 1976 hat sich die Abnahme der Handwerksbetriebe seit 1970, also während des längsten und schwersten Konjunkturtiefs der Nachkriegszeit, verlangsamt. Im Jahre 1975 ging die Zahl der Betriebe nur noch um 1,7 % gegenüber dem Vorjahr zurück. Diese Quote war die niedrigste seit 1963. Aus dem Markt ausgeschieden sind vor allem Einmannbetriebe, wobei Nachfolgeprobleme und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit die Hauptursache bildeten. Vieles spricht für die These Bekkermanns, daß die fortschreitende Substitution des Faktors Arbeit durch den Faktor Kapital - ein Prozeß, der durch den technischen Fortschritt ebenso ausgelöst wurde 147 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

wie durch den Mangel an Arbeitskräften - die Fluktuation im Betriebsstand dämpft. Der verstärkte Mitteleinsatz ist offensichtlich ein Anreiz zur Erhaltung der Selbständigkeit7. Die Lage des mittelständischen Einzelhandels ist noch sehr viel uneinheitlicher als die des Handwerks. Die Zahl der Selbständigen im tertiären Sektor insgesamt hat sich, anders als im Handwerk, zwischen 1882 und 1939 (Gebietsstand vom 31. 12. 1937) erheblich erhöht - von 669 000 auf 1,17 Millionen - ; in der Bundesrepublik (ohne Saarland und West-Berlin) wuchs sie zwischen 1950 und 1961 von 942 000 auf 1,382 Millionen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Eröffnung eines selbständigen Unternehmens im Dienstleistungsbereich schon deswegen vergleichsweise einfach ist, als es hier keinen Großen Befähigungsnachweis gibt (wie er für das Handwerk 1935 und erneut 1953 eingeführt wurde). Die selbständige Ausübung eines Handwerksberufs erfordert aber auch unabhängig hiervon generell ein höheres Maß an Vorbildung und Kapital als die Eröffnung eines Einzelhandelsbetriebes, so daß die krisenbedingte „Flucht in die Selbständigkeit" das Handwerk weniger zu treffen pflegt als den ohnehin übersetzten Einzelhandel. Restriktive Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes - wie die im Mai 1933 verhängte Einrichtungssperre für Einzelhandelsgeschäfte - hatten zwar schon bis 1939 die Zahl der Betriebe in diesem Bereich des Dienstleistungssektors um 18% gesenkt, und durch die „Auskämmungen" während des Krieges war die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte weiter vermindert worden. Dennoch war - aus den gleichen Gründen, die auch im Handwerk zwischen 1945 und 1949 zu einer Vermehrung der Zahl der Betriebe führten - im Jahre 1950 die Zahl der Groß- und Einzelhandelsbetriebe in der Bundesrepublik (ohne Saarland und WestBerlin) mit etwas über 600 000 Betrieben um etwa 25 % höher als im entsprechenden Gebiet des Deutschen Reiches im Jahr 1939. Sie wuchs bis 1961 nochmals auf 763 000, um dann bis 1970 auf 503 000 abzusinken (beide Zahlen einschließlich Saarland und West-Berlin). Die Zahl der Einzelhandelsbetriebe fiel von 382 000 im Jahre 1970 auf 346 000 im Jahre 1975. In der gleichen Zeit stieg die Zahl der Beschäftigten je Einzelhandelsbetrieb von 5,68 auf 6,05 und der Umsatz (ohne Mehrwertsteuer) je Beschäftigten von 78 000 DM auf 123 000 DM. Diese Globalzahlen sagen aber über die Lage des mittelständischen Einzelhandels so gut wie nichts aus. Die Gewichtsverteilung innerhalb des Einzelhandels wird erst deutlich, wenn man Umsatzstruktur und Unternehmensgröße miteinander in Verbindung setzt. Die Gruppe der Einzelhandelsbetriebe mit einem Umsatz von weniger als 20 000 DM im Jahr umfaßte 1960 noch 9 % aller Betriebe und hatte einen Anteil am Gesamtumsatz des Einzelhandels von 0 , 8 % ; bis 1972 sank die Zahl dieser Betriebe auf 3,6 % und ihr Umsatzanteil auf 0,1 %. Die Großbetriebe mit einem Umsatz von über 10 Millionen DM im Jahr machten 1960 0,1 % und 1972 0,4 % aller Einzelhandelsbetriebe aus; ihr Umsatzanteil stieg in der gleichen Zeit von 26,4 % auf 36,8 %. Nach Berechnungen der Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels sank der Marktanteil der Ladengeschäfte des Facheinzelhandels (ohne die Lebensmittelfilialbetriebe) zwischen 1962 und 1974 von 84,4 % auf 68,2 % aller Ladengeschäfte des Einzelhandels (ohne Konsumgenossenschaften), während die traditionellen Warenhäuser ihren Anteil von 9,8 % auf 13,1 % steigern konnten. Die Selbstbedienungswarenhäuser, die erst um 1965/66 auf 148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

dem Markt Fuß faßten, erzielten 1974 bereits einen Umsatzanteil von 9,9%. Die Hauptbetroffenen dieser Entwicklung sind die „Tante-Emma-Läden", mittelständische Einzelhandelsbetriebe der Nahrungs- und Genußmittelbranche. Allgemein ist die Ertragssituation der Kleinbetriebe des Facheinzelhandels mit 2 bis 5 Beschäftigten kritisch; nach den Berechnungen einer Forschungsgruppe des Kölner Instituts für Mittelstandsforschung war bei diesen Geschäften das betriebswirtschaftliche Betriebsergebnis (das man erhält, wenn man vom steuerlichen Gewinn die kalkulatorischen Kosten - Unternehmerlohn und Zinsen für Eigenkapital - abzieht) negativ (1969: - 0,7 % des Umsatzes). Erst die mittelgroßen Unternehmungen mit zwischen 4 und 20 Beschäftigten weisen ein positives betriebswirtschaftliches Betriebsergebnis auf (+ 0,9 % ) , wenn es auch nur halb so gut ist wie das von Unternehmungen mit zwischen 6 und 50 Beschäftigten (+ 1,8 % ) 8 . Im Bereich der Kleinstbetriebe des Einzelhandels sind demnach die Gefahren, die der gewerbliche Mittelstand seit etwa achtzig Jahren immer wieder beschworen hat, heute durchaus real - so real, daß auch die Bundesregierung im Mai 1976 von der Möglichkeit eines „Verdrängungswettbewerbs" durch die Selbstbedienungs-Warenhäuser und Verbrauchermärkte sprechen konnte. Verallgemeinern laßt sich dieser Tatbestand aber nicht. Der leistungsfähige spezialisierte Fachhandel ist keineswegs vom Untergang bedroht, und der gewerbliche Mittelstand insgesamt ist heute in einer weitaus günstigeren wirtschaftlichen Position, als er es jemals in der Weimarer Republik war.

II. Das historische Novum des wirtschaftlichen Wiederaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg bestand nach Meinung Ralf Dahrendorfs darin, daß er sich in so liberalen Formen vollzog. Was die Mittelstandspolitik angeht, so spricht der erste Augenschein gegen diese These. Einer Welle der verordneten Liberalisierung in der amerikanischen Besatzungszone folgte nach 1950 eine teilweise Renaissance jenes Sozialprotektionismus, der die deutsche Mittelstandspolitik seit dem Kaiserreich geprägt hatte9. Einige Elemente des traditionellen deutschen Mittelstandsschutzes - wie namentlich diskriminierende Steuergesetze gegen die Warenhäuser - waren keine deutsche Erfindung. Frankreich hatte bereits 1844 Sonderabgaben für größere Einzelhandelsunternehmen eingeführt und ließ seit Ende des 19. Jahrhunderts weitere Maßnahmen dieser Kategorie folgen; die größeren deutschen Einzelstaaten belasteten die Warenhäuser seit der Jahrhundertwende mit Sondersteuern, und in den 1930er Jahren griffen u. a. Belgien und die Schweiz zu prohibitiven Vorkehrungen gegen Großbetriebe des Detailhandels. Was Deuschland auf dem Gebiet des Mittelstandsschutzes von anderen Ländern unterscheidet, ist einmal der Grad, bis zu dem eine andere Variante von Staatseingriffen - die öffentlich-rechtliche Organisation privater Interessen - perfektioniert wurde; zum anderen ist es der obrigkeitsstaatliche Kontext, dem sich der frühe Sozialprotektionismus verdankt. Eine deutsche Spezialität sind insbesondere die Handwerksinnungen, die 1881 wieder öffentlich-rechtliche Befugnisse-u. a. auf dem Gebiet der Lehrlingsausbildung - erhielten, was auf eine teilweise Rücknahme 149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der im Norddeutschen Bund 1869 eingeführten Gewerbefreiheit hinauslief. Durch das Handwerkergesetz von 1897 wurde das Institut der sog. fakultativen Zwangsinnung geschaffen: Die Zugehörigkeit zu einer Innung wurde obligatorisch, wenn sich die Mehrheit der Selbständigen eines bestimmten Handwerkszweiges in einem Handwerkskammerbezirk dafür entschied. Die Handwerkskammer als Körperschaft des öffentlichen Rechts wurde durch das gleiche Gesetz eingeführt. Öffentlich-rechtliche Unternehmerkammern konnten in der Frühphase der Industrialisierung noch primär als Mittel verbesserter staatlicher Informationsbeschaffung gesehen und somit gesamtwirtschaftlich gerechtfertigt werden. Das gilt etwa für die preußischen Handelskammern, die nach dem französischen Vorbild in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet worden waren. In dem Maß aber, wie sich die sozialen Konflikte zwischen Arbeit und Kapital zuspitzten, schloß jede Delegation staatlicher Befugnisse an Gruppen der Kapitaleigentümer notwendigerweise eine Diskriminierung der Arbeitnehmerseite ein: die wirtschaftspolitische Privilegierung der Selbständigen wurde zur gesellschaftspolitischen. Die neuen Öffentlich-rechtlichen Körperschaften, die in den 1890er Jahren geschaffen wurden - auf Reichsebene für das Handwerk, in Preußen in Form der Landwirtschaftskammern auch für die Agrarier - bedeuteten von vornherein eine institutionelle Begünstigung der Selbständigen auch im berufsständischen Binnenverhältnis. Der Staat wurde als Organisator privater Interessen tätig und verhalf damit einigen gesellschaftlichen Gruppen zu einer Artikulation ihrer Belange, zu der sie aus eigener Kraft offenbar nicht fähig gewesen wären10. Der öffentlich-rechtlichen Organisation privater Interessen, wie sie im Kaiserreich Gestalt annahm, haftete ein latent antiparlamentarischer Zug an. Bismarck hat bekanntlich seit den späten 1870er Jahren den Reichstag durch einen Volkswirtschaftsrat zunächst in seiner Macht einschränken, langfristig ersetzen wollen. Die späteren Kammern für Handwerk und Landwirtschaft blieben zwar weit hinter dieser Konzeption zurück, aber sie verfestigten doch jenes Immediatverhältnis zwischen organisierten Interessen und Bürokratie, das sich als eine der Hypotheken des deutschen Parlamentarismus erweisen sollte. Die öffentlich-rechtliche Verbandsorganisation war geeignet, den spontanen gesellschaftlichen Pluralismus zu neutralisieren. Durch die enge personelle Verflechtung von freien und halbstaatlichen Verbänden übertrug sich der gouvernementale Effekt der „Verkammerung" auch auf formal freie Vereinigungen. Die mit der institutionellen Privilegierung verbundene Domestizierung hat zwar bei einigen der Betroffenen - wie das Beispiel des Bundes der Landwirte zeigt auch antigouvernementale Bestrebungen, ja eine Art populistischer Überreaktion ausgelöst. Aber diese Tendenzen zielten auf ein Mehr an Privilegierung und nicht etwa auf eine Demokratisierung des kaiserlichen Obrigkeitsstaates. Das Kaiserreich förderte, indem es die Vertretung bestimmter Interessen partiell verstaatlichte, die soziale Segmentierung der deutschen Gesellschaft. Denselben Effekt hatte das deutsche Parteiensystem: Der Ausschluß von praktischer Regierungsverantwortung, der einerseits den Kompromißzwang zwischen den Parteien minderte, verstärkte andererseits die Bindungen zwischen den politischen Parteien und einem jeweils unterschiedlichen Sozialmilieu. Die Chancen einer gesellschaftlichen Integration durch parlamentarischen Kompromiß wurden auf diese Weise verringert. Die Verhaltensmuster, 150 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

die die deutschen Parteien im Kaiserreich eingeübt hatten, überlebten die Novemberrevolution und bedingten eine der fundamentalen Funktionsschwächen des demokratischen Systems von Weimar11. Der gewerbliche Mittelstand hat bald nach 1918 begonnen, die protektionistischen Maßnahmen der Kaiserzeit - ob es um die Warenhaussteuern oder staatliche Organisationsbeihilfen ging - dem Obrigkeitsstaat politisch gutzuschreiben. Was das politische System des Kaiserreichs in den Augen vieler Kleingewerbetreibender zumindest im nachhinein auszeichnete, war der letztinstanzliche Majorisierungsschutz, den es gegenüber Arbeitnehmern und Verbrauchern bot. Die Konservierung vorindustrieller Wirtschaftsformen und Werthaltungen im gewerblichen Mittelstand hatte im Interesse der preußischen Großgrundbesitzer gelegen, die sich als die effektivsten Verbündeten des zünftlerischen Handwerks und des schutzbedürftigen Kleinhandels erwiesen. Bei allen sozialprotektionistischen Forderungen waren die Konservativen die lautesten Rufer im Streit; und der Bund der Landwirte hatte bei der Herausbildung einer extrem antiliberalen, antisozialistischen und antisemitischen Mittelstandsideologie offiziell Pate gestanden. Neben dem Großgrundbesitz war auch die Schwerindustrie für die konservativen Kräfte im Kleingewerbe eingetreten, weil dies dem Aufbau einer gegen die Parlamentarisierung und die Sozialdemokratie gerichteten Sammlungsbewegung nur dienlich sein konnte. Beide Verbündeten fielen in der Weimarer Republik zunächst aus: die Schwerindustrie, weil ihr das Zusammenspiel mit den Gewerkschaften während des Umbruchs mit Recht wichtiger erschien als eine Allianz mit Handwerk und Kleinhandel, die Agrarier, weil sie aus ihrem traditionellen Immediatverhältnis zu den Spitzen der Exekutive (wie sich zeigen sollte: vorübergehend) entlassen waren. Die bürgerlichen Parteien mußten nach 1918 - schon des Machtgewinns der organisierten Arbeiterschaft wegen - auf ihre Arbeitnehmerflügel mehr Rücksicht nehmen als vor 1914. Für eine Erfüllung extremer Mittelstandsforderungen - wie der nach neuen Warenhaussteuern oder allgemeinen Zwangsinnungen - gab es keine parlamentarische Mehrheiten. Dies alles trug dazu bei, daß sich die antiparlamentarischen Tendenzen im gewerblichen Mittelstand verstärkten. Handwerker und Kleinhändler rückten, soweit sie nicht die katholischen Parteien unterstützten, bei den Wahlen zwischen 1919 und 1924 kontinuierlich nach rechts: von der Deutschen Demokratischen Partei, die als Partner der Sozialdemokraten zugleich einen gewissen Schutz vor Angriffen auf das Privateigentum zu bieten schien, über die gemäßigt monarchistische Deutsche Volkspartei bis zu den radikal antirepublikanischen Deutschnationalen. Als sich herausstellte, daß auch bei den bürgerlichen Rechtsparteien andere Interessen schwerer wogen als die des Kleingewerbes - bei der DVP großindustrielle, bei der DNVP großagrarische -, schwenkte ein Teil des gewerblichen Mittelstandes in das Lager einer reinen Interessenpartei ab: der Wirtschaftspartei oder, wie sie sich seit 1925 offiziell nannte, der Reichspartei des deutschen Mittelstandes. Mit ihrer Polemik gegen den Parteienstaat war die Wirtschaftspartei in gewisser Weise eine Vorfrucht jener Bewegung, die dann seit 1930 das Gros der protestantischen Mittelständler für sich gewinnen sollte: der Nationalsozialisten. Obwohl sie selbst über den Rang einer Splitterpartei kaum hinauskam - sie erreichte ihr bestes Ergebnis bei den Reichstagswahlen vom Mai 1928 mit 4,5 Prozent der Stimmen -, hat 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

die Wirtschaftspartei doch eine teilweise Rückkehr zum Sozialprotektionismus mitbewirkt. Das geschah nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, an dem das parlamentarische System von Weimar bereits in seine definitive Krise getreten war. Die Wirtschaftspartei band ihre Unterstützung für das erste Kabinett Brüning auf Erfolg an die Wiedereinführung einer Sondersteuer für Großbetriebe des Einzelhandels. Den Höhepunkt der Schutzmaßnahmen der Präsidialkabinette bildete eine befristete Einrichtungssperre für Einheitspreisgeschäfte. Sie wurde durch eine Notverordnung vom 23. Dezember 1932 verhängt - auf Druck vor allem der süddeutschen Regierungen12. Den Zulauf zum Nationalsozialismus konnten die offiziellen Konzessionen an den Mittelstandsprotektionismus nicht aufhalten. Im Gegenteil: die teilweise Abkehr von der Gewerbefreiheit gab dem radikalen Antiliberalismus der Nationalsozialisten nur noch eine zusätzliche Scheinlegitimation. Die NSDAP war für die Massen der Handwerker und Kleinhändler wählbar geworden, weil sie deutlich gemacht hatte, daß ihr „Sozialismus" nichts mit Enteignung zu tun hatte, und weil der Gesamtkatalog mittelständischer Schutzforderungen in ihre Wahlversprechungen eingegangen war. Die NSDAP wurde gewählt, weil das Kleingewerbe außer ihr keine Kraft mehr sah, die bereit war, alle Widerstände gegen die Verwirklichung mittelständischer Forderungen zu beseitigen. Nur der Nationalsozialismus versprach, das Übel an der Wurzel zu packen, die organisierte Arbeiterschaft und das anonyme Großkapital zu bändigen, Parlament und Parteien und damit die Gefahr der Majorisierung der Besitzinteressen endgültig auszuschalten, die „ruinöse" Gewerbefreiheit zugunsten einer geordneten und befriedeten Berufsstandswirtschaft aufzugeben. Die Praxis nach dem 30. Januar 1933 sah anders aus. Zwar schien es einige Monate lang, als seien die Mittelstandsideologen der Partei nun am Ziel ihrer Wünsche und eine an kleingewerblichen Interessen orientierte Wirtschaftsordnung nur noch eine Frage der Zeit. Aber bereits im Sommer 1933 wurden die Forderungen nach der Zerschlagung von Warenhäusern und Konsumgenossenschaften offiziell „vertagt" - aus Rücksicht auf den Arbeitsmarkt und, im Falle der Konsumvereine, auch auf die Arbeiterschaft. Die Schutzmaßnahmen zugunsten des Kleinhandels, die die Nationalsozialisten erließen - darunter eine befristete Einrichtungssperre für Einzelhandelsgeschäfte, die 1935 in eine allgemeine Konzessionierungspflicht umgewandelt wurde-, knüpften an die sozialprotektionistische Politik der Präsidialkabinette an. Was das Handwerk erreichen konnte, ging nicht auf den Druck irgendwelcher mittelständischen Parteiformationen zurück. Die allgemeinen Pflichtinnungen, die im Juni 1934 eingeführt wurden, waren Teil eines rüstungswirtschaftlich motivierten Programms zur umfassenden Zwangsorganisation der gewerblichen Wirtschaft, und nicht umsonst gehörte die Reichswehr zu den massivsten Förderern dieser alten Handwerksforderung. Den Großen Befähigungsnachweis, der die Eröffnung eines selbständigen Handwerksbetriebes an die bestandene Meisterprüfung knüpfte, erhielt das Handwerk im Januar 1935, weil Reichswirtschaftsminister Schacht - unter dem Beifall des Reichsstandes des deutschen Handwerks - die traditionellen Leistungsstandards gegen die von Arbeitsfrontführer Ley angestrebte Politisierung und Ideologisierung der Berufserziehung zu verteidigen wünschte. Als jedoch im September 1936 mit dem Vierjahresplan der ökonomischen Kriegsvorbereitung die unbedingte wirtschaftspo152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

litische Priorität zuerkannt wurde, war das Ende der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik gekommen. Seit 1938 wurden Handwerk und Kleinhandel „ausgekämmt": Betriebe, die nicht rentabel oder kriegswirtschaftlich entbehrlich waren, konnten geschlossen, ihre Inhaber und Beschäftigten in die Rüstungsindustrie dienstverpflichtet werden. Die letzten großen Stillegungsaktionen in Handwerk und Kleinhandel fanden 1943 statt. Im gleichen Jahr wurden die Handwerkskammern zusammen mit den Industrie- und Handelskammern in die neuen „Gauwirtschaftskammern" überführt und damit die selbständigen Handwerker um den Rest des ihnen verbliebenen Einflusses gebracht13. Anders als die Arbeiter konnte das Kleingewerbe der nationalsozialistischen Führung keine Furcht einflößen, und anders als die Bauern besaß es für sie auch keinen positiven „Gefühlswert". In der entproletarisierten Agrarutopie, die der neue osteuropäische Lebensraum ermöglichen sollte, wurde dem Handwerk von Himmler 1941 ein bescheidener Platz zugestanden. Hitler selbst hat, im bezeichnenden Unterschied wiederum zu Bauern und Arbeitern, das Handwerk während seiner ganzen Regierungszeit niemals auch nur einer einzigen Ansprache für würdig befunden. Von keiner sozialen Gruppe kann man mit solchem Recht sagen, sie sei von den Nationalsozialisten düpiert worden, wie von jenen Kleingewerbetreibenden, aus denen sich große Teile der Parteibasis und der Wählerschaft der NSDAP rekrutierten14. Die amerikanische Besatzungsmacht beseitigte durch eine Direktive vom 29. November 1948 nicht nur diejenigen Erscheinungsformen des deutschen Sozialprotektionismus, die - wie die allgemeine Zwangsinnung und der Große Befähigungsnachweis - als typisch nationalsozialistische „Errungenschaften" gelten konnten. Sie hob darüber hinaus die öffentlich-rechtliche Organisation privater Interessen auf, weil eine solche staatliche Präformierung des autonomen gesellschaftlichen Pluralismus mit dem amerikanischen Verständnis vom freien Spiel der Kräfte schlechterdings unvereinbar war. So wurden die Handwerks- wie die Industrie- und Handelskammern und die Innungen nur noch als privatrechtliche Vereinigungen zugelassen. Konsequenter ist die Gewerbefreiheit in Deutschland niemals verwirklicht worden - aber die Liberalisierung blieb auf eine Zone beschränkt und sie war nur von kurzer Dauer. Die Briten und die Franzosen brachen weder mit dem Prinzip der öffentlich-rechtlichen Interessenvertretung noch setzten sie die Zulassungsbeschränkungen in der gewerblichen Wirtschaft außer Kraft. Das kam den deutschen Wünschen sehr entgegen. Bereits im Juli 1948 hatte der Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes dem Großen Befähigungsnachweis im Handwerk und bestimmten Einschränkungen der Gewerbezulassung eine einheitliche neue Rechtsgrundlage geben wollen. Zwar scheiterte das Gesetz am Veto der Militärgouverneure, aber nach der Konstituierung der Bundesrepublik war eine - formal immer noch mögliche - alliierte Intervention gegen die Rückkehr zu den überlieferten Formen der Interessenvertretung und des Mittelstandsschutzes sehr unwahrscheinlich geworden - und es hat eine solche Intervention in der Tat nicht mehr gegeben15. Daß die Parteien der Regierungskoalition den Großen Befähigungsnachweis im gesamten Bundesgebiet wiedereinführen wollten, war angesichts ihrer mittelständischen Anhängerschaft viel weniger erstaunlich als das Einverständnis der sozialdemo153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

kratischen Opposition mit dieser Forderung. Der Abgeordnete Hermann Veit erklärte anläßlich der ersten Lesung des von CDU/CSU, FDP und DP eingebrachten Gesetzentwurfs einer Handwerksordnung am 26. Oktober 1950, die Sozialdemokraten stellten alle Bedenken wegen eines möglichen zünftlerischen Mißbrauchs zurück und bekennten sich zum Großen Befähigungsnachweis, „weil wir die Bedeutung des Handwerks für unser Volk und für unsere Volkswirtschaft erkennen. Das Handwerk muß durch die Erhaltung von Arbeits- und Produktionsstätten geschützt werden, in denen die Verbindung von Kapital und Arbeit in einer Person gegen die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus erhalten geblieben ist . . . Schließlich sehen wir in der Erhaltung des Handwerkerstandes . . . die gesunde Strukturierung unserer Volkswirtschaft gewährleistet". Mit den Stimmen der SPD nahm der Deutsche Bundestag schließlich am 26. März 1953 in dritter Lesung die Handwerksordnung an. Sie schuf eine bundeseinheitliche Rechtsgrundlage nicht nur für den Großen Befähigungsnachweis, sondern auch für die Handwerkskammern und Innungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Neu war einmal, daß die Mitgliedschaft in den Innungen auf Freiwilligkeit beruhte, zum anderen, daß die Gesellen in der Vollversammlung der Handwerkskammern ein Drittel der Mitglieder und einen der beiden Stellvertreter des Präsidenten stellten. Die neuartige Mitbestimmung der Gesellen, die unter gewerkschaftlichem und sozialdemokratischem Einfluß zuvor schon in der britischen Zone eingeführt worden war, erleichterte die Zustimmung der SPD; daß die Mitbestimmung nicht paritätisch sein konnte, wurde von Sprechern des Handwerks mit dem Hinweis auf die Alleinbetriebe begründet, aus denen das Handwerk 1949 noch zu etwa vierzig Prozent bestand16. Die Sozialdemokraten vollzogen mit ihrer Zustimmung zum Großen Befähigungsnachweis eine Kehrtwendung, die auf dem Hintergrund ihrer Geschichte geradezu dramatisch wirkt. Ihre Parteiprogramme von Erfurt (1891) und Heidelberg (1925) hatten - getreu der Marxschen Prognose - die Zurückdrängung des Kleinbetriebs als unaufhaltsam bezeichnet; Hilfsmaßnahmen zugunsten von Handwerk und Kleinhandel erschienen aus dieser Sicht als hoffnungsloser Versuch, den Gang der Entwicklung aufzuhalten. Erst die Erfahrung des Nationalsozialismus hat dann eine späte Revision des Verhältnisses der SPD zu den selbständigen Mittelschichten bewirkt. Die deutsche Zukunft hänge davon ab, so erklärte Kurt Schumacher im Sommer 1945, wie sich der Mittelstand zur Sozialdemokratie stelle. „Wenn es noch einmal geschieht, daß der gewerbliche und kaufmännische Mittelstand, daß der Angestellte und der Bauer sich in ihrem größeren Teil »bürgerlich', d. h. kapitalistisch, antidemokratisch und antisozialistisch, orientieren, dann gibt es keinen Aufstieg mehr für Deutschland." Die Übernahme klassischer Forderungen des Sozialprotektionismus und die rhetorische Reverenz vor der sozialen Mission des Handwerks sind vor diesem politischen Hintergrund zu sehen17. Es fragt sich freilich, ob die Sozialdemokraten des Notwendigen damit nicht zuviel taten. In der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion überwiegt die negative Einschätzung des Großen Befähigungsnachweises. Er ist, wie die Kritiker zu Recht monieren, eine Erhaltungsintervention zugunsten einer sozialen Gruppe und daher mit einer wirtschaftlichen Wettbewerbsordnung nicht vereinbar. Sachkenner verneinen 154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

überdies die Frage, ob der Befähigungsnachweis einen produktivitätssteigernden Effekt habe. Als monopolistische Produktionsbeschränkung bewirkt er, wie Christian Watrin bemerkt, keineswegs eine Erhöhung des Gesamtangebots, sondern eine abnehmende Marktversorgung zu steigenden Preisen. Gesamtwirtschaftlich gesehen bedeutet das höhere Kosten und niedrigere Durchschnittseinkommen. Wenn die Zahl der Betriebsgründungen nach der Einführung des gesetzlichen Befähigungsnachweises auch zurückging, so spricht doch vieles dafür, daß die Betriebsgrößenentwicklung im Handwerk ohne eine solche wettbewerbsbeschränkende Maßnahme langfristig eher noch günstiger verlaufen wäre18. Die obligatorische Meisterprüfung für selbständige Handwerker war nicht die einzige mittelstandspolitische Tat des Bundesgesetzgebers, die ganz aus sozialprotektionistischem Geist stammte. In noch höherem Maß war dies der Fall bei dem Gesetz über die Berufsausübung im Einzelhandel vom 5. August 1957, das im Bundestag eine Mehrheit aus CDU/CSU, DP und Teilen der FDP fand. In der Substanz knüpfte dieses Gesetz an den „Sachkundenachweis" an, der im Juli 1934 als Kriterium einer Ausnahmeerlaubnis zur Errichtung eines Einzelhandelsgeschäfts eingeführt worden war. Nach dem Gesetz von 1957 bedurfte die Eröffnung eines Unternehmens im Einzelhandel der Erlaubnis. Diese war zu versagen, wenn nicht die erforderliche Sachkunde nachgewiesen wurde oder wenn Tatsachen vorlagen, aus denen sich ein Mangel an Zuverlässigkeit ergab. Der Verstoß gegen die vom Grundgesetz garantierte Freiheit der Berufswahl war bei diesem Gesetz jedoch so eklatant, daß das Bundesverfassungsgericht am 14. Dezember 1965 den Sachkundenachweis im Einzelhandel für verfassungswidrig erklärte. Die persönliche Zuverlässigkeit bildet seitdem in den meisten Branchen die einzige Voraussetzung für die Erlaubnis zum Betrieb eines Einzelhandelsgeschäftes19. Den protektionistischen Mittelstandsgesetzen stehen legislative Taten und Unterlassungen gegenüber, die Dahrendorfs These vom liberalen Wiederaufbau eher recht geben. So unvollkommen das Kartellgesetz vom Juli 1957 war, es hat für den Kampf gegen wirtschaftliche Machtzusammenballungen wirksamere Waffen bereitgestellt, als die Weimarer Regierungen sie je besaßen. Die Novelle zum Kartellgesetz von 1973, die die Preisbindung der zweiten Hand zugunsten einer unverbindlichen Preisempfehlung beseitigte, hat mit einer vom kleinen Detailhandel zäh verteidigten Wettbewerbsbeschränkung gebrochen, wie denn überhaupt die Mittelstandspolitik der sozialliberalen Koalition der Vorstellung vom kleingewerblichen „Naturschutzpark" keinen Vorschub geleistet hat und statt der überkommenen „Erhaltungsinterventionen" vielmehr auf wettbewerbsfördernde „Anpassungsinterventionen" setzt. Solche extremen Maßnahmen wie Sondersteuern auf Großbetriebe des Einzelhandels sind in der Bundesrepublik vom Gesetzgeber niemals ernsthaft erwogen worden. Trotz der unbestreitbaren Kontinuität des Sozialprotektionismus, in der die Handwerks- und Einzelhandelsgesetze der Fünfzigerjahre stehen, ist die bisherige mittelstandspolitische Bilanz der Bundesrepublik erheblich liberaler als die von Weimar20.

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III. Im Bereich der „Mittelstandsideologie", wenn man einen derart anspruchsvollen Begriff für eine im Grunde anspruchslose Sache überhaupt benutzen will, ist es kaum schwerer, Kontinuitätslinien aufzuzeigen als auf dem Gebiet der Mittelstandspolitik. Die These etwa, daß das Handwerk „zum Ausgleich zwischen sozialen Gruppen beitragen möchte", daß es eben darin seinen historischen und sozialen Standort habe, wird von seinen Sprechern heute mit derselben Selbstverständlichkeit vertreten wie in Kaiserreich und Weimarer Republik. Damals wie heute wird der „Klassenkampf" als etwas abgelehnt, was ausschließlich von Gegnern des Privateigentums ausgeht, ja erfunden wird, um eine „saubere, offene, ideologiefreie Auseinandersetzung" zu verhindern21. Eine repräsentative Befragung von Schreinermeistern förderte noch zu Beginn der Sechzigerjahre erhebliche Vorbehalte gegenüber dem wirtschaftlichen Wettbewerb zutage. Ökonomisch weniger erfolgreiche Handwerker neigen nach derselben Untersuchung dazu, an dem historischen Vorbild der Berufsrolle geradezu zwanghaft festzuhalten und sich aus allen sozialen Bezügen zu lösen, die über den unmittelbaren Erfahrungsbereich hinausgehen. Einem realen wirtschaftlichen Funktionsverlust wird der Versuch entgegengesetzt, außerökonomische Funktionen als vorrangig anzusehen - etwa im Sinne einer besonderen ordnungsstiftenden und staatserhaltenden Rolle des gewerblichen Mittelstandes. Im Detailhandel sind solche Dispositionen eher noch stärker ausgeprägt als im Handwerk. In der Rezessionsperiode der Jahre 1966/67 erhob der Deutsche Gewerbeverband, der sich später in „Bundesverband der Selbständigen" umbenannte, wieder die alte Forderung, Großkaufhäuser, Versandhäuser und Großfilialbetriebe mit einer Sondersteuer zu belegen. Auch die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels, die die (traditionellen) Kauf- und Warenhäuser mitrepräsentiert und darum weniger radikal aufzutreten pflegt als rein mittelständische Interessenverbände, hat angesichts des Vordringens der Selbstbedienungs-Warenhäuser und Verbrauchermärkte neuerdings vor einer „ernsten Strukturkrise" im Einzelhandel gewarnt und staatliche Maßnahmen gefordert, um dem „Verdrängungswettbewerb" zu Lasten des Fachhandels entgegenzuwirken. Es erscheint im übrigen nicht ganz unbegründet, wenn die Hauptgemeinschaft von einer planlosen Ansiedlung von Einkaufszentren „auf der grünen Wiese" eine Entleerung und Zerstörung von Ortskernen befürchtet22. Allgemein sind die Inhaber der kleinsten Betriebe auch diejenigen, die ihre wirtschaftliche Lage am ungünstigsten einschätzen. Die politischen Auswirkungen dieser Lagebeurteilung sind freilich nicht eindeutig. Einerseits hat unter dem Eindruck der Rezession von 1966/67 die Nationaldemokratische Partei bei unzufriedenen Bauern, Kleinhändlern und Handwerkern eine gewisse Resonanz gefunden: So errang sie etwa bei den hessischen Landtagswahlen von 1966 in jenen Wahlkreisen die höchsten Stimmenanteile, in denen die Selbständigen 40 bis 50 Prozent der gesamten Bevölkerung ausmachten. Andererseits zeigen Umfragen aus der Mitte der Sechzigerjahre, daß bei Handwerkern mit wachsender allgemeiner Unzufriedenheit auch die Neigung zu den Sozialdemokraten als der damals gewissermaßen „legitimen" Oppositionspartei zunahm. Einem relativ hohen Maß an Zufriedenheit entsprach eine starke Anzie156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

hungskraft der CDU/CSU, die jedoch auch unter den am wenigsten zufriedenen Handwerkern weitaus mehr Anhänger hatte als alle anderen Parteien. Einem starken Fünftel der befragten Handwerker gefiel nach ihren Angaben keine Partei23. Blickt man auf die bisherige politische Entwicklung des gewerblichen Mittelstandes in der Bundesrepublik, so ist der dominierende Eindruck der eines systemkonformen Konservativismus. Das gilt von den Positionen, die die offiziellen Interessenvertretungen von Handwerk und Einzelhandel beziehen - im Streit etwa um Mitbestimmung und Berufserziehung - , und es gilt insgesamt auch für das Wahlverhalten der kleinen Selbständigen. Die Gruppe, die am ehesten zur Beunruhigung und Radikalität neigt - die Inhaber kleiner Geschäfte in der Nahrungs- und Genußmittelbranche -, ist objektiv durch den Konzentrationsprozeß im Einzelhandel am stärksten bedroht, aber sie ist nicht repräsentativ für das mittelständische Gewerbe. Die politische Radikalisierung, die in der Rezession von 1966/67 stattfand, hat sich während der tieferen Krise der Jahre 1974/75 nicht wiederholt. Offenbar kamen in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre einige Faktoren zusammen, die einem Wiederaufleben des Rechtsextremismus günstig waren: der Schock des ersten einschneidenden Konjunkturrückgangs nach einer eineinhalb Jahrzehnte währenden Boomperiode, das Erlebnis eines rapiden politischen Autoritätsverlusts drei Jahre nach dem Ende der Ära Adenauer, nach der Bildung der Großen Koalition dann das Fehlen einer breiten parlamentarischen Opposition und schließlich die durch die „Außerparlamentarische Opposition" von links ausgelöste Unruhe. Vor diesem Hintergrund konnten die Aktivisten einer damals noch breit gestreuten Generation ehemaliger Nationalsozialisten und Deutschnationaler mit vorübergehendem Erfolg das Gegenbild einer autoritären Antwort auf die wirtschaftliche und politische Krise beschwören. Daß diese Krise binnen kurzem doch von den demokratischen Parteien bewältigt wurde, hat die Anziehungskraft des rechten Radikalismus nachhaltig geschwächt. Je länger die Bundesrepublik existierte, desto mehr verbanden sich die Vorstellungen von Wohlstand und Sicherheit mit der Demokratie der zweiten Republik. Das langanhaltende Wirtschaftswachstum in der zweiten Nachweltkriegszeit ist eine Teilerklärung dafür, daß es nach 1945 keine „Panik im Mittelstand" mehr gegeben hat. Die Selbständigen haben am materiellen Wohlstand, nicht zuletzt dank einer Reihe steuerlicher Vergünstigungen, überproportional partizipiert: Das Durchschnittseinkommen ihrer Haushalte stieg zwischen 1950 und 1970 erheblich stärker als das der übrigen Gruppen. Die Hochkonjunktur beschleunigte zunächst im Handwerk und dann auch im Einzelhandel einen Strukturwandel, der sich insgesamt zugleich als ökonomische Stabilisierung beschreiben läßt: Die Ertragslage des einzelnen Unternehmens besserte sich, während die Zahl der Betriebe zurückging und die Zahl der Beschäftigten je Betrieb stieg. Es gibt in der Bundesrepublik wohl arme Mittelständler, aber keinen verarmen Mittelstand. Wer seine Selbständigkeit zugunsten einer unselbständigen Beschäftigung aufgibt, muß deswegen materiell nicht schlechter gestellt sein als vorher. Gestiegene Masseneinkommen und das vielzitierte „Netz der sozialen Sicherheit" haben der mittelständischen Proletarisierungsfurcht den Boden entzogen und die Arbeiterklasse selbst „entproletarisiert". Daß das politische und soziale System der Bundesrepublik anders als das Weimarer von den repräsentati157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

ven gesellschaftlichen Kräften akzeptiert wird, hat unmittelbare Wirkungen auf die „Mittelstandsideologie". Wie Rainer Lepsius dargelegt hat, gibt es eine schichtspezifische Disposition des Mittelstandes für Nationalismus. Die Neigung insbesondere der selbständigen Mittelschichten, ihre Ordnungsvorstellungen als gesellschaftliche Normalmoral zu betrachten, führt dazu, daß ,,jede Bedrohung der wirtschaftlichen Lage des Mittelstandes . . . zugleich als Bedrohung der gesellschaftlichen Moral" erscheint und „jeder Klassenkonflikt, in den der Mittelstand verwickelt wird, . . . sich für ihn in einen nationalen Notstand, in einen Angriff auf die Moral der Gesellschaft" verlängert. In dem Maß, wie die überkommene Wert- und Besitzordnung aufhörte, von innen her in Frage gestellt zu werden, schwand daher auch eine soziale Vorbedingung des mittelständischen Nationalismus. Niemals haben in der Tat mittelständische Wertvorstellungen so unbestritten die politische Kultur in Deutschland bestimmt wie in der Ära Adenauer. Die politischen Faktoren, die sehr wohl in Richtung eines radikalen Nationalismus hätten wirken können und zu Beginn der Fünfzigerjahre teilweise auch so gewirkt haben - die Teilung Deutschlands und der Verlust der Ostgebiete -, sind in derselben Zeit weitgehend neutralisiert worden. Die Furcht vor dem Kommunismus, die primär außen- und nicht innenpolitisch begründet war, verwies die Deutschen auf die Politik der Westintegration und gerade nicht auf nationale Alleingänge. Mit der Westintegration aber wurde auch eine andere nationalismusstiftende Disposition ausgeräumt: Anders als in Weimar ließ sich die Bonner Demokratie nicht mit Erfolg als Zwangsauflage der Sieger denunzieren, weil der Gegensatz zwischen Siegern und Besiegten in einem festen Bündnis aufgehoben wurde24. Im Kaiserreich und in der Spätphase der Weimarer Republik hatten die konservativen Kräfte des gewerblichen Mittelstandes einflußreiche Bundesgenossen in den preußischen Großgrundbesitzern und der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie gefunden. Der erste dieser Partner existiert seit 1945 nicht mehr; der zweite hat innerhalb der Industrie an wirtschaftlichem und politischem Gewicht zugunsten der verarbeitenden Branchen verloren. Der gewerbliche Mittelstand ist in dem Maß, wie er sich der wirtschaftlichen Dynamik der zweiten Nachkriegszeit anpaßte, in das Unternehmerlager integriert worden - viel fester, als dies je in Weimar der Fall war. Das gilt im Hinblick auf die Kooperation der Spitzenverbände wie auch in parteipolitischer Hinsicht: Die Unionsparteien haben eine Art Basiskompromiß zwischen den Unternehmern aller Größenordnungen vermittelt und, wie es scheint, dauerhaft institutionalisiert. Wie stark auch traditionalistische Elemente heute noch im Selbstverständnis der Kleingewerbetreibenden nachwirken, die spezifisch antikapitalistische Variante der wilhelminischen und Weimarer Mittelstandsideologie spielt in der Bundesrepublik kaum noch eine Rolle. Simultan damit hat der Begriff „Mittelstand" aufgehört, eine Einheit zwischen den Selbständigen und den Unselbständigen vorzuspiegeln, die es nicht ökonomisch, wohl aber ideologisch in Weimar bedingt gegeben hat: in der polemischen Abgrenzung gegenüber dem Proletariat und dem von ihm repräsentierten „internationalen Marxismus". Den politischen Abgrenzungszwang, dem sich der „neue Mittelstand" in der Weimarer Republik ausgesetzt fühlte, gibt es nicht mehr, seit sich die Arbeiter sozial und politisch in das bestehende System integriert haben und für die Sozialdemokratie die Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus weitaus 158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

existentieller geworden ist als die von den „bürgerlichen" Demokraten. Wahlsoziologische Untersuchungen haben gezeigt, daß erhebliche Teile des „neuen Mittelstandes" mit einer Hinwendung zur SPD (und seit 1969 auch zu ihrem freidemokratischen Koalitionspartner) die Tatsache honorierten, daß die SPD sich bewußt entdogmatisiert hatte und zur Reformpartei auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung geworden war. Auch vom Wahlverhalten her läßt sich also die These begründen, daß die Bundesrepublik sich amerikanischen Verhältnissen angenähert hat: Die politischen Trennlinien zwischen „white" und „blue collar" wie zwischen „big" und „small business" verlieren an Bedeutung, während die Unterschiede zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen wichtiger werden. Das Schlagwort von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" verdeckt diese Tendenzen, deren Eindeutigkeit man freilich auch nicht überschätzen sollte. Wenn die Angestellten und Teile der Beamten sich in der Bundesrepublik, vor allem in den Sechzigerjahren und zu Beginn der Siebzigerjahre politisch vom „alten Mittelstand" wegentwickelt haben, so trägt doch alles, was auf eine Redogmatisierung der SPD hindeutet, dazu bei, den sozialliberalen Trend im Mittelstand abzuschwächen oder gar umzukehren. Selbst Facharbeiter, die bisher sozialdemokratisch wählten, können keineswegs mehr unbedingt als Stammwähler der SPD gelten25. Für den gewerblichen Mittelstand läßt sich aus alledem ein paradox erscheinendes Fazit ziehen. Einerseits hat sich seine wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik stabilisiert, andererseits hat er an politischer Bedeutung verloren. Nicht nur die quantitative Abnahme der Selbständigen hat diesen politischen Gewichtsverlust bewirkt, sondern gerade ihr wirtschaftlicher Erfolg: Unzufriedenheit aktiviert mehr als Zufriedenheit. Manche Wertvorstellungen des alten Mittelstandes, vor allem seine Hochschätzung von persönlichem Eigentum, sind heute fast unangefochten. Von anderen traditionellen mittelständischen Normen, ob auf religiösem, sexuellem oder kulturellem Gebiet, gilt, daß sie ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit zunehmend eingebüßt haben. Der gewerbliche Mittelstand selbst hat sich weit mehr als in Weimar dem „Geist des Kapitalismus" geöffnet und seine materielle Lage in dem Maß verbessert, wie er dies tat. Weniger als in der Zwischenkriegszeit ist der gewerbliche Mittelstand heute ein Träger jener vorindustriellen Traditionen, die sich als fatale Hypotheken der deutschen Demokratie erwiesen haben. Die segmentierte Gesellschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik gehört der Vergangenheit an. Das ist kein unmittelbarer Erfolg der nationalsozialistischen Herrschaft, die gesellschaftlich insgesamt sehr viel weniger verändert hat, als es das Wort von der „sozialen Revolution" des „Dritten Reiches" suggeriert. Erst der totale Zusammenbruch des Nationalsozialismus im Jahre 1945 hat die strukturellen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß sich im Westen Deutschlands eine Gesellschaft entwickeln konnte, die von vormodernen Relikten vergleichsweise frei ist. Die „deutsche Abweichung" vom Westen, die im Nationalsozialismus kulminierte, ist insofern auch durch diesen selbst liquidiert worden26.

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III. Interessen u n d

Ideologien

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10. P l u r a l i s m u s o d e r P r o t e k t i o n i s m u s ? V e r f a s s u n g s p o l i t i s c h e P r o b l e m e des V e r b a n d s w e s e n s im Deutschen Kaiserreich

I. Mit dem Begriff der „pluralistischen Gesellschaft" verbinden wir heute meist die Idee eines vorstaatlichen Raumes, in dem eine Vielzahl autonomer Gruppen um soziale oder politische Geltung ringt. Es spricht jedoch einiges für die These, daß sich diese Vorstellung, bewußt oder unbewußt, eher auf angelsächsische als auf kontinentaleuropäische Traditionen stützt. In Deutschland sowohl wie in Frankreich gibt es ein Phänomen, das man als „staatlich gestifteten Pluralismus" bezeichnen kann. Das öffentlich-rechtliche Kammerwesen ist sein reinster Ausdruck, und es ist keineswegs eine periphere Erscheinungsform organisierter wirtschaftlicher Interessen. Vielmehr konstituiert die bloße Existenz von Kammern eine Art gesellschaftlichen Grenzwert: Der Wunsch nach staatlicher Anerkennung, wenn nicht gar nach einem öffentlichrechtlichen Status ist durch das 19. und 20. Jahrhundert hindurch ein kaum zu überschätzender Faktor der deutschen Verbandspolitik. Die Entwicklung der organisierten Interessen im Kaiserreich ist nur auf diesem Hintergrund zu verstehen. Wer die wesentlichen Unterschiede zwischen angelsächsischer und kontinentaleuropäischer Verbandsentwicklung auf ihre historischen Voraussetzungen hin befragt, muß indes noch weit hinter das 19. Jahrhundert zurückgehen. Nur dort, wo das römische Recht rezipiert wurde, konnte staatliche Anerkennung jemals eine Vorbedingung der Verbandsbildung werden. Der römisch-rechtliche Grundsatz der staatlichen Genehmigung von Vereinen hat sich im Zeitalter des Absolutismus durchgesetzt aber eben auch nur in jenen Staaten, die ein solches Regierungssystem gekannt haben. Im England der Nach-Stuart-Zeit und in Nordamerika ist die Vereins- und Versammlungsfreiheit niemals grundsätzlich in Frage gestellt worden. Die Organisation von Interessen blieb der gesellschaftlichen Spontaneität überlassen1. Weder die Vereinigten Staaten noch Großbritannien kennen infolgedessen auch jene öffentlich-rechtlichen Handelskammern, die während der napoleonischen Ära zuerst im französisch beherrschten Teil Europas errichtet wurden und zumindest formal an Einrichtungen der vorrevolutionären Zeit wie die „chambres de commerce", „Kommerzdeputationen" oder „Commerzkollegien" anknüpfen konnten. Das Konsulardekret Napoleon Bonapartes von 1802, das die von der Republik abgeschafften französischen Handelskammern wiederherstellte, hatte auf Deutschland insofern Auswirkungen, als die im ehemals französisch besetzten Rheinland gegründeten Handelskammern bestehen blieben. In anderen Provinzen Preußens wurde kaufmännischen Korporationen ein kammerähnlicher Status verliehen. Die königliche Ver163 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Ordnung vom 11. Februar 1848 sanktionierte diese Entwicklung endgültig. Öffentlich-rechtliche Handelskammern, die die vorgesetzten Behörden in Handels- und Gewerbeangelegenheiten beraten und Aufsichtsfunktionen über „öffentliche, dem Handel und Gewerbe dienende Anstalten" erhalten sollten, wurden für die ganze Monarchie vorgesehen, sofern ein örtliches Bedürfnis danach bestand2. Den Zeitgenossen ist die Übertragung des Selbstverwaltungsbegriffs von Gebietskörperschaften auf Vertretungsorgane von Partikularinteressen offenbar nicht als Problem erschienen. Lorenz von Stein zum Beispiel definierte die Selbstverwaltung zunächst als die „Teilnahme des Staatsbürgertums an der örtlichen Verwaltung, die als ein selbständiger Verwaltungsorganismus mit eigenem Inhalt, eigener Funktion und eigenem Recht ausgerüstet auftritt". Wenig später aber subsumierte er die Kammern unter denselben Begriff der Selbstverwaltung, obwohl sie doch eben gerade nicht Organe des allgemeinen „Staatsbürgertums", sondern Interessenvertretungen sind3. In der Frühphase der Industrialisierung konnte die Errichtung einer öffentlichrechtlichen Unternehmerkammer noch primär als Mittel verbesserter staatlicher Informationsbeschaffung gesehen und somit unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten gerechtfertigt werden. In dem Maß aber, wie sich die sozialen Konflikte zwischen Arbeit und Kapital zuspitzen, schließt jede Delegation staatlicher Befugnisse an Gruppen der Kapitaleigentümer notwendigerweise eine Diskriminierung der Arbeitnehmerseite ein. Die wirtschaftspolitische Privilegierung wird zur gesellschaftspolitischen. Prinzipiell bedeutet die Übertragung staatlicher Kompetenzen an Interessenvertretungen jedoch immer beides: eine Substitution staatlicher Gewalt durch gesellschaftliche und eine Expansion der öffentlichen Autorität über private Bereiche. Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von der „Dialektik einer mit fortschreitender Verstaatlichung der Gesellschaft sich gleichzeitig durchsetzenden Vergesellschaftung des Staates"4. Die Frage stellt sich, in welchem Verhältnis freie Verbände und öffentlich-rechtliche Organisationen zueinander standen und in welchen Sektoren der Gesellschaft die Tendenz zur teilweisen Verstaatlichung der Interessenvertretung überhaupt vorhanden war. Zunächst ist davon auszugehen, daß zwischen den Handelskammern und kaufmännischen Korporationen, die ja beide nicht nur den Handel, sondern auch Industrielle und Bankiers vertraten, einerseits und den späteren industriellen Interessenverbänden andererseits organisatorische Kontinuität besteht. Hartmut Kaelble hat kürzlich auf einige der Erscheinungsformen und Folgen dieses Zusammenhangs hingewiesen: Auch die Kammern trieben bereits eine spezifisch industrielle Interessenpolitik; der Übergang zu den Industrieverbänden war auch personell fließend, da die Handelskammern einen erheblichen Teil der korporativen Mitglieder der Spitzenverbände stellten; unter den Referenten namentlich des „Centralverbands Deutscher Industrieller" spielten die Handelskammersyndici eine wichtige Rolle5. Parallelen hierzu lassen sich für die Bereiche von Landwirtschaft und gewerblichem Mittelstand aufweisen. Durch das Regulativ vom 25. März 1842 war in Preußen ein „Landes-Ökonomie-Kollegium" ins Leben gerufen vorden, dem die typische Doppelfunktion einer halbstaatlichen Interessenvertretung eignete: Es sollte gleichzeitig 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

die Spitze des landwirtschaftlichen Vereinswesens und ein Regierungsbeirat sein. Neben den Delegierten der zahlreichen, aber nicht sehr bedeutsamen landwirtschaftlichen Vereine gehörten ihm ernannte Mitglieder, darunter Ministerialräte, Professoren und freie Agrarexperten, an. Im Jahre 1878 schuf ein weiteres Regulativ die Grundlage für eine neue Art der Verzahnung von staatlicher Verwaltung und agrarischer Interessenvertretung. Das Landes-Ökonomie-Kollegium verlor seine Funktion als Spitze der landwirtschaftlichen Vereine und wurde zur reinen Behörde. Mit der Dachorganisation der freien Verbände, dem seit 1872 bestehenden Deutschen Landwirtschaftsrat, wurde das Landes-Ökonomie-Kollegium dadurch verbunden, daß diejenigen seiner Mitglieder, die ihm nach wie vor als Deputierte der landwirtschaftlichen „Centralvereine" angehörten, zugleich Mitglieder des erstgenannten Gremiums wurden. Von einigen Centralvereinen gingen auch jene Anstöße zur Errichtung von öffentlich-rechtlichen Landwirtschaftskammern aus, die in Preußen 1894 Erfolg hatten. Das entsprechende Gesetz wies den neuen Kammern unter anderem die Aufgabe zu, „die weitere kooperative Organisation des Berufsstandes der Landwirte (zu) fördern". Gewählt wurden die Kammern durch ständisch zusammengesetzte Kreistage, und zwar nach Kriterien, die eine Majorisierung des Großgrundbesitzes von vornherein ausschlossen. In der Folgezeit traten die Landwirtschaftskammern, die ja nicht nur Körperschaften der agrarischen Selbstverwaltung, sondern auch Hilfsorgane der Staatsregierung sein sollten, immer mehr an die Stelle der bisherigen Provinzial- und Bezirksvereine. Das Landes-Ökonomie-Kollegium übernahm zusätzlich die Funktionen einer zentralen Landwirtschaftskammer für Preußen6. Das Handwerk hat sich, wie man weiß, nie mit dem Verlust seiner überkommenen Zunftorganisation abgefunden. Die Etappen der Auseinandersetzung zwischen Handwerk und Staat, die bis in die absolutistische Zeit zurückreichen, sind hier nicht nachzuzeichnen. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 schien dem Streit ein für allemal ein Ende zu setzen: Die Innungen verloren alle Vorrechte und wurden zu rein privatrechtlichen Organisationen. Der sofort einsetzende Kampf des Handwerks um die Wiederherstellung von Zwangsinnungen verschärfte sich unter dem Eindruck der „Großen Depression", und er war erfolgreich. 1881 wurden die Innungen wieder mit öffentlich-rechtlichen Befugnissen ausgestattet und mit besonderen Rechten hinsichtlich der Kontrolle der Lehrlingsausbildung versehen. Weitere Privilegien wurden durch andere Novellen zur Gewerbeordnung wiederhergestellt. Den krönenden Abschluß bildete das Handwerkergesetz von 1897. Es schuf Handwerkskammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts, die dem selbständigen Handwerk als Organe zur Wahrnehmung seiner Interessen dienen sollten. Dasselbe Gesetz führte das Institut der „fakultativen Zwangsinnung" ein: Die Zugehörigkeit zur Innung wurde obligatorisch, wenn sich in einem Handwerkskammerbezirk die Mehrheit der Selbständigen eines bestimmten Handwerkszweiges dafür entschied7. Die Tendenz zur öffentlich-rechtlichen Organisation partikularer Interessen griff also im Kaiserreich über das soziale Einzugsfeld der sozusagen klassischen Kammer weit hinaus. Es entstand eine Zwischenzone institutioneller Verzahnungen von „Staat" und „Gesellschaft", in der die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Interesse fast völlig verschwammen. Gab es einerseits in Gestalt des Deutschen Handelstages (1861), des Zentralausschusses vereinigter Innungsverbände Deutschlands (1884), des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages (1900) den Fall eines privatrechtlichen Daches über öffentlich-rechtlichen Körperschaften, so existierte auch das Umkehrbeispiel: Das Landes-Ökonomie-Kollegium war bis zum Regulativ von 1878 die öffentliche Spitze privater Vereinigungen. Während den öffentlichrechtlichen Körperschaften allgemeinpolitische Stellungnahmen nicht gestattet waren, beanspruchten die privatrechtlichen Dachverbände gelegentlich ein generelles politisches Mandat. So erließ der Zentralausschuß vereinigter Innungsverbände zur Reichstagswahl von 1907 einen Aufruf, der den Handwerkern zwar anheimstellte, welche der bürgerlichen Parteien sie wählen wollten, die Sozialdemokratie aber brandmarkte als den „gemeinsamen Feind, den gefährlichsten, den das Kleingewerbe hat". Im übrigen war es den Innungen in Preußen sogar gestattet, Arbeitgeberverbänden anzugehören8. Einer der wesentlichsten Gründe der verstärkten Verbandsbildung lag bekanntlich in der Tatsache, daß die „Große Depression" von 1873 bis 1896 den Kampf um den Anteil am Sozialprodukt schwerer gemacht hatte. Die partielle Verstaatlichung der Interessenorganisation war ebenfalls eine mittelbare Krisenfolge. Der ökonomische Liberalismus mußte erst eine vermeintlich eklatante Niederlage erleiden, ehe der Ruf nach umfassender Staatsintervention breite Resonanz finden konnte. Mit gutem Grund nannte daher Arnold Steinmann-Bucher, der Geschäftsführer des protektionistisch gesinnten „Vereins der Industriellen des Regierungsbezirks Köln", Mitte der 80er Jahre den „Schutzzoll die Vorbedingung und den Anfang der Reform". Mit „Reform" meinte er in letzter Instanz eine durchgreifende berufsständische Reorganisation der Gesellschaft9. Wo hat man die Anhänger einer Umgestaltung der wirtschaftlichen Interessenvertretung zu suchen? Was waren ihre Zielvorstellungen? Es erscheint sinnvoll, zunächst zwischen dem Bestreben nach einer öffentlich-rechtlichen Organisation des eigenen Berufsstandes und gesamtgesellschaftlichen Konzepten zu unterscheiden. Die gesellschaftliche Gruppe, die die stärkste berufsständische Tradition besaß, war ohne Zweifel das Handwerk. Sein Kampf um die Wiederherstellung einer umfassenden Zwangsorganisation war deswegen von beachtlichem Erfolg gekrönt, weil es einflußreiche Verbündete hatte. Dabei war eine Reichstagsmehrheit, bestehend aus Konservativen, Zentrum und Antisemiten, noch sehr viel „handwerksfreundlicher" eingestellt als die Exekutive. Die Forderung nach dem „Großen Befähigungsnachweis" das heißt: der Meisterprüfung als obligatorischer Voraussetzung für die Eröffnung eines Handwerksbetriebes -, die die Zustimmung des Reichstages gefunden hatte, stieß im Bundesrat auf Ablehnung. Das Handwerkergesetz von 1897 war insofern ein Kompromiß, als Preußen sich für die obligatorische Zwangsinnung eingesetzt hatte, aufgrund des Widerstandes der „Gewerbefreiheitsländer", vor allem Bayerns, im Bundesrat aber nur die fakultative Zwangsinnung durchsetzen konnte10. Für das Gros der Industrie scheint der Bedarf an einer öffentlich-rechtlichen Vertretung ihrer spezifischen Interessen durch die Handelskammern weithin gedeckt gewesen zu sein. Vorstöße in Richtung auf eine umfassende Zwangsorganisation aller 166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Industriezweige blieben ein Gedankenspiel von Geschäftsführern protektionistischer Branchen. Im Zuge der fortschreitenden Kartellierung konnten die am weitesten entwickelten Industrien ihre Organisationsprobleme auch ohne direkte staatliche Einwirkungen lösen11. Anders sah es auf höchster Ebene aus. Der Deutsche Handelstag, von 1878 bis 1890 praktisch eine Filiale des schutzzöllnerischen Centralverbandes Deutscher Industrieller, emanzipierte sich in den 1890er Jahren vom schwerindustriellen Einfluß und wurde wieder mehr zum Sprachrohr von Großhandel und Exportindustrie. Im Jahre 1902 unternahm die Dachorganisation der Handelskammern den Versuch, durch eine Änderung ihres Status den Centralverband auf den zweiten Platz unter den industriellen Spitzenorganisationen zu verweisen. Sie beantragte für sich die „Stellung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft und eines ständigen Beirats des Reichskanzlers, insbesondere des Reichsamts des Innern". Der Vorstoß hatte zwar keinen Erfolg; dem Centralverband gelang es aber andererseits auch nicht, seine frühere Machtstellung wiederherzustellen12. Auch in der Landwirtschaft kann während der Bismarckzeit noch kaum von einer breiten Bewegung für eine durchgreifende öffentlich-rechtliche Organisation des eigenen Berufsstandes gesprochen werden. Die Forderung, auch den Landwirten öffentlich-rechtliche Kammern als offizielle Interessenvertretung zuzugestehen, fällt bezeichnenderweise in die Ära Caprivi, in der das Immediatverhältnis zwischen Agrariern und Staatsmacht vorübergehend unterbrochen war und gleichzeitig damit ein vorher nicht gekannter Dualismus zwischen Preußen und Reich sich abzeichnete. Die Reliberalisierung des Außenhandels unter Caprivi bildet aber auch den aktuellen Hintergrund für die Entstehung eines Verbandes, der ungleich größere Bedeutung erlangt hat als die preußischen Landwirtschaftskammern von 1894. Der „Bund der Landwirte" war im Jahr zuvor nämlich gerade deswegen ins Leben gerufen worden, weil die Verzahnung der landwirtschaftlichen Spitzenvertretung mit der Staatsbürokratie eine massive Opposition gegen eine „antiagrarische" Regierungspolitik unmöglich machte. Als freier Verband war der Bund der Landwirte aller taktischen Rücksichtnahmen enthoben, die sich der Deutsche Landwirtschaftsrat als siamesischer Zwilling des Landes-Ökonomie-Kollegiums auferlegen zu müssen glaubte13. Wir werden auf die sich hier manifestierende Dialektik der öffentlich-rechtlichen Interessenorganisation und den daraus resultierenden Doppelcharakter des deutschen Verbandswesens noch zurückzukommen haben. Festzuhalten bleibt zunächst, daß die Landwirtschafts- und Handwerkskammern ebenso wie die fakultativen Zwangsinnungen von 1897 deutlich die Signatur der Miquelschen „Sammlungspolitik" tragen, in deren Zeichen der „Mittelstand in Stadt und Land" zum bevorzugten Adressaten einer Sozialpolitik besonderer Art wurde. Die neuen öffentlich-rechtlichen Körperschaften von Landwirtschaft und Handwerk implizierten nicht nur im berufsständischen Binnenverhältnis eine neue Privilegierung der Selbständigen auf Kosten der Arbeitnehmer, sie bildeten auch klare Fälle von organisatorischem Protektionismus. Zwei Berufsstände, die als staatspolitisch besonders wertvoll galten, wurden bei der Wahrnehmung ihrer Belange gegenüber anderen Interessengruppen bevorzugt. Sie erhielten Staatshilfe zu einer Artikulation ihrer Bedürfnisse, zu der sie aus eigener 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Kraft nicht fähig waren. Die Vernachlässigung des Handwerks, so hatte Miquel bereits 1879 erklärt, müsse ein Ende finden, denn „dieser Zustand ist ein höchst gefährlicher, besonders gefährlich in Zeiten revolutionärer Agitation gegen die Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung". Die Erweiterung und Stabilisierung der sozialen Basis des Obrigkeitsstaates war das ausschlaggebende Motiv hinter einer Entscheidung, die sich formell als Expansion der Selbstverwaltung legitimieren konnte14. Noch weiter ging diese Expansion, wenn man das Prinzip der berufsständischen Selbstverwaltung zur Legimationsbasis eines wie immer zusammengesetzten volkswirtschaftlichen Vertretungskörpers machte. Die Existenz solcher Konzeptionen ist sehr viel bekannter als ihr gesellschaftlicher Hintergrund. Man weiß, daß Bismarck seit Ende der 70er Jahre den Reichstag durch einen Volkswirtschaftsrat zunächst in seiner Macht beschränken, langfristig ersetzen wollte. Als Grundlage einer künftigen Volksvertretung schwebten ihm Berufsgenossenschaften vor, wie sie das Gesetz über die Unfallversicherung einführte. Der Reichstag hat sich bekanntlich dem Plan eines Reichsvolkswirtschaftsrates mit Erfolg widersetzt. Der 1880 ins Leben gerufene preußische Volkswirtschaftsrat führte kaum mehr als eine Kümmerexistenz, da sich selbst die Regierung an seinem Votum durchaus desinteressiert zeigte. Den preußischen Gewerbekammern von 1884, zusammengesetzt aus Vertretern der Landwirtschaft, des Handwerks, der Industrie und des Handels, ging es ebenso. Das wirkliche Leben, in dessen Namen den Parlamentariern „ohne Halm und Ar" der Kampf angesagt worden war, hatte offenbar keinen großen Bedarf an ständischen Gegenparlamenten15.

II. In der Tat hat sich während der Bismarckzeit noch keine Interessengruppe auf ein gesamtgesellschaftliches Korporativsystem festgelegt. Das Handwerk, das mit der sozialprotektionistischen Reichstagsmehrheit zufrieden sein konnte, enthielt sich aller staatspolitischen Entwürfe und beschränkte sich auf die Verfolgung berufsständischer Interessen. Der Deutsche Landwirtschaftsrat forderte zwar 1879 einen Volkswirtschaftlichen Senat, bestehend aus Vertretern von Industrie, Handel, Kleingewerbe und Landwirtschaft, der die Regierung in wirtschaftspolitischen Fragen beraten sollte. Aber hinter diesem Postulat standen eher aktuelle zoll- als prinzipielle verfassungspolitische Überlegungen. Bei der Industrie hat die Idee eines Volkswirtschaftlichen Senats lebhaftere Diskussionen ausgelöst. Bereits im November 1877 hatte der Elberfelder Kommerzienrat Meckel, ein engagierter Schutzzöllner, in einer Eingabe an den Reichskanzler eine solche Einrichtung gefordert, wobei er auf das Beispiel des französischen Conseil supérieur du commerce, de l'agriculture et de l'industrie von 1853 verwies und indirekt dem politischen Parlament mangelnden Sachverstand vorwarf. Der Deutsche Handelstag, dem Meckel seinen Antrag ebenfalls unterbreitet hatte, überwies den Vorschlag an eine Kommission, die ihn in Verbindung mit dem Centralverband Deutscher Industrieller beriet. Das Ergebnis war ein Votum zugunsten eines Volkswirt168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

schaftlichen Senats, der sich aus Delegierten des Handelstages, des Centralverbandes und des Landwirtschaftsrates zusammensetzen und die gemeinsamen Interessen dieser Organisationen vertreten sollte. Die Regierung wurde aufgefordert, die Existenz des Senats anzuerkennen und seine Arbeit tatkräftig zu unterstützen. Dem „Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen", dem Langnamverein, war das zu wenig. Er setzte sich dafür ein, „einen Beirat der Reichsregierung in wirtschaftlichen Fragen" zu schaffen, und zwar nicht, wie die Kommission vorschlug, als freie Vereinigung, sondern als Behörde. Ihre Mitglieder sollten zunächst durch kaiserliche Ernennung, später, aufgrund gesetzlicher Regelung, teils durch Ernennung, teils durch Wahlen bestellt werden. Neben Vertretern des Handels, der Industrie, der Gewerbe, der Landwirtschaft und des Verkehrswesens sollten dem Gremium auch höhere Beamte angehören. Nachdem eine Delegiertenversammlung des Centralverbandes sich im Dezember 1877 ausdrücklich für ein freies „Kollegium" an Stelle einer „Behörde" ausgesprochen hatte, unternahmen die Anhänger des Meckelschen Antrags aus dem Langnamverein, angeführt von seinem Generalsekretär, dem späteren Geschäftsführer des Centralverbandes, Henry Axel Bueck, einen neuen Vorstoß im Handelstag. Sie konnten sich durchsetzen und Ende Oktober 1878 eine knappe Mehrheit des Handelstages für eine Resolution gewinnen, die einen Volkswirtschaftlichen Senat als „begutachtenden, staatlich anerkannten Beirat der Reichsregierung in wirtschaftlichen Fragen" forderte. Die Abstimmungsfronten waren identisch mit der Scheidelinie zwischen Schutzzöllnern und Freihändlern16. Die Debatte um den Volkswirtschaftlichen Senat war damit fürs erste beendet. Nachdem die Schutzzölle eine parlamentarische Mehrheit gefunden hatten, verlor der Gedanke eines unternehmerfreundlichen Gegengewichts zum Reichstag für die protektionistischen Industriellen an Interesse. Bismarcks preußischer Volkswirtschaftsrat stieß bei der Industrie auf keine bemerkenswerte Resonanz. Nur vorübergehend lebte die Debatte um die angemessene Repräsentation wirtschaftlicher Interessen wieder auf, als 1882 der Centralverband Deutscher Industrieller einen Ausschuß, die sogenannte Eisenacher Kommission, einsetzte, um eine von der Handelskammer Osnabrück vorgeschlagene Ausweitung der Handelskammern erörtern zu lassen. Kontrovers an diesem Vorschlag war nicht die Einbeziehung des Kleingewerbes - sie war in den süddeutschen Ländern längst verwirklicht -, sondern die der Landwirtschaft. Der Langnamverein konnte sich mit seinem Widerstand gegen diesen Plan durchsetzen. Maßgeblich für die Entscheidung des Centralverbandes war die Furcht vor einem Machtverlust der Industrie. Der Vorschlag der Eisenacher Kommission, aus den reorganisierten „Handels- und Gewerbekammern", den freien wirtschaftlichen Vereinigungen und der „legalen Vertretung der Landwirtschaft teils durch Wahl, teils durch kaiserliche Ernennung einen Deutschen Volkswirtschafrstat zu bilden", trug kaum mehr als ornamentalen Charakter17. Auch in der Folgezeit konnten Pläne zur umfassenden Neuorganisation der wirtschaftlichen Interessenvertretung nicht den Anspruch erheben, Kundgebungen „der" Unternehmer zu sein. Als der eher exportorientierte „Bund der Industriellen" bei seiner Gründung 1895 eine gesetzliche Gesamtvertretung der Industrie forderte, 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

richtete sich dieser Vorstoß gegen die Privilegierung des eher protektionistischen Centralverbandes im „Wirtschaftspolitischen Ausschuß", dem zollpolitischen Beirat des Reichsamtes des Innern. Daß es daneben auch offen autoritäre und antiparlamentarische Tendenzen, zumal im Umkreis der Eisen- und Stahlindustriellen, gab, ist bekannt. Es entsprach durchaus der elitären Haltung vieler industrieller „Herren im Hause", wenn der erwähnte Kölner Verbandsfunktionär Steinmann-Bucher 1886 das allgemeine Stimmrecht ein „Scheinrecht" nannte, den Wähler in den Fängen unkontrollierter Mächte wähnte und das „Bild des Volkes, wie es sich in den Parlamenten widerspiegelt", als verfälscht bezeichnete18. Von antiparlamentarischen Ressentiments zu einer berufsständischen Ideologie war es jedoch noch ein weiter Schritt. Daß Steinmann-Bucher mit seinen ständestaatlichen Projekten für das Gros der Industrie repräsentativ war, ist ganz unwahrscheinlich. Auch in der Wilhelminischen Ära waren die ideologischen Elaborate von Verbandssyndici und Verbandspublizisten nicht notwendig Auftragsarbeiten oder gar offizielle Meinungsäußerungen der betreffenden Organisationen. Die Belege, die Dirk Stegmann unlängst für die Verbreitung berufsständischer Ideen im späten Kaiserreich beigesteuert hat, bedürfen in mehrfacher Hinsicht der Interpretation. Auch aus seiner Darstellung geht hervor, daß die treibenden Kräfte des traditionellen Korporativismus nicht in der Industrie zu suchen sind. Für den Bund der Landwirte hat Hans-Jürgen Puhle den engen Zusammenhang von mittelständischer und berufsständischer Ideologie dargelegt und gleichzeitig darauf hingewiesen, daß auch bei diesem Verband nicht eine Gesamtvertretung aller Stände im Vordergrund stand, sondern die korporative Organisation des je eigenen Standes im Rahmen eines autoritären Staates19. Bei der Industrie waren es vor allem mittlere Unternehmer und Schwerindustrielle, die berufsständischen Gedanken relativ aufgeschlossen gegenüberstanden. Im Falle mancher kleinerer Industriellen spielte hierbei neben handwerklichen Traditionen der Wunsch nach Zwangskartellierung eine Rolle. Die Schwerindustrie brauchte im Unterschied zu den meisten anderen Branchen nicht zu fürchten, in berufsständischen Organisationen durch mittlere und kleinere Betriebe beengt zu werden. Dazu kamen ihre Symbiose mit dem preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat und ein Betriebsklima, das ihr eine autoritär geführte Zwangsorganisation wohl weniger unerträglich erscheinen ließ als den jüngeren Wachstumsindustrien. Soweit die letzteren korporative Ideen rezipierten, waren es nicht solche romantisch-wirtschaftsständischer, sondern eher technokratischer Provenienz. Eine antiparlamentarische Stoßrichtung konnte freilich, wie sich in der Endphase der Weimarer Republik zeigte, auch diese Variante des Korporativismus gewinnen20. Die Ausbreitung antiparlamentarischer und korporativer Ideologien steht offenkundig in einem proportionalen Verhältnis zu den Stimmengewinnen der Sozialdemokraten. Gegenüber der These, daß sich Deutschland schon lange vor 1918 im Zuge eines stillen Verfassungswandels einem parlamentarischen Regime genähert und generell liberalisiert habe, ist daher in jüngster Zeit mit Recht auf die Stärke der gegenläufigen Tendenzen verwiesen worden. Am Vorabend des Weltkrieges war die Bereitschaft auch zur gewaltsamen Rücknahme demokratischer Rechte bei der politischen Rechten kräftiger ausgeprägt als jemals zuvor21. 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Während des Ersten Weltkrieges wurde noch einmal exemplarisch deutlich, welche soziale Funktion eine öffentlich-rechtliche Interessenvertretung in den Augen jener hatte, die sich vor einer allgemeinen Demokratisierung fürchten zu müssen meinten. Unter Berufung auf einen einschlägigen Beschluß des Abgeordnetenhauses forderte im November 1917 der preußische Landesverband der Haus- und Grundbesitzervereine die Errichtung von „Hausbesitzerkammern" als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Begründung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Bei den radikalen Strömungen der Zeit, die auf eine völlige Demokratisierung der politischen Rechte hinzielen, ist damit zu rechnen, daß das künftige Wahlrecht zum Landtag und zu den Gemeindevertretungen auf eine breitere Grundlage gestellt wird als bisher. Die natürliche Folge wird sein, daß die städtischen Hausbesitzer in noch geringerem Maße in den Parlamenten und in den kommunalen Körperschaften vertreten sein werden als bisher. Hiergegen muß bei der großen wirtschaftspolitischen Bedeutung und bei der Größe des in städtischen Grundstücken steckenden Kapitals unbedingt ein Gegengewicht geschaffen werden, wenn die private Wohnungsunternehmung und damit das gesamte Wohnungswesen überhaupt nicht schwere Erschütterungen erfahren soll." Der Antrag hatte keinen Erfolg. Der preußische Innenminister Bill Drews bedeutete den Hausbesitzern im Januar 1918, sie seien „kein Beruf, Gewerbe oder Stand". Seinen weiteren Einwand, Hausbesitzerkammern müßten Mieterkammern zur Folge haben, parierte ein Verbandssprecher mit der bezeichnenden Bemerkung, Kammern seien „nur für die produzierenden Stände" zu bilden22. In der Tat blieb das Kammerwesen für die Selbständigen reserviert. Weder erhielten die Arbeiter eigene Kammern, noch wurden Arbeitskammern errichtet, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer paritätisch vertreten waren. Bürokratische und industrielle Opposition brachte beide - jahrzehntelang diskutierten - Projekte zu Fall. Im übrigen hätten auch solche „sozialpolitischen" Kammern prinzipiell nichts an der Privilegierung geändert, die auf wirtschaftspolitischem Gebiet den Unternehmern durch ihre Kammern zuteil wurde. Mit Recht hatte daher schon 1881 die Fortschrittspartei, die die konservative Forderung nach Gewerbekammern für Handwerker und Kleinunternehmer prinzipiell ablehnte, das Postulat aufgestellt, wenn solche Kammern errichtet würden, müßten sie zu gleichen Teilen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzt sein23. III. Einige Zeitgenossen, neben anderen 1911 Gustav Schmoller in einem Beitrag für die dritte Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften, haben mit den „erneuten wirtschaftlichen Handels- und Rivalitätskämpfen der Staaten" seit 1875 eine wirtschaftspolitische Epoche einsetzen lassen, der sie den Namen „Neumerkantilismus" beilegten. Sie meinten damit die wirtschaftspolitischen Interventionen des Staates schlechthin, die der Ära des ökonomischen Liberalismus ein jähes Ende bereiteten. Sehr viel spezifischer bereits sah 1913 Siegfried Tschierschky, der Geschäftsführer der deutschen Textilveredelungsindustrie, in der Förderung der Organisation Wirtschaft 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

licher Interessen durch den Staat einen typisch neumerkantilistischen Geist am Werk. Und lange zuvor schon, im Jahre 1894, hatte Rudolf von Gneist angesichts der „Auflösung unserer Parlamente in gesonderte Besitz- und Erwerbsgruppen" die Gefahr erkannt, daß eine Abschließung dieser Gruppen „zu rechtlich gesonderten Korporationen das Staatswesen zum reinsten Absolutismus, daß die Neubildung eines corpus catholicorum und evangelicorum in das ganze Elend der alten Reichsverfassung zurückführen, daß das Zusammenstimmen der extremen Gegensätze in solcher Versammlung bei weiterem Zusammenwirken nur zum Versuch gegenseitiger Überlistung und Falschheit führen" müßte24. Der Rückgriff auf vorindustrielle Sozialmodelle, den die genannten Autoren feststellen zu können glaubten, war alles andere als eine bloße Gedankenspielerei. Die Möglichkeit, an spezifische Formen obrigkeitsstaatlicher Interessenorganisation anzuknüpfen, wurde besonders konkret bei der „Verkammerung" bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Es handelte sich dabei um eben jene anstaltliche Verbandsbildung, wie sie Otto von Gierke der genossenschaftlichen Organisation gegenüberstellte: ,,Die Verbandsgewalt stellt sich nicht mehr als Privatgewalt, sondern als öffentliche Gewalt mit obrigkeitlichem Charakter dar." 25 Wenn aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bei der Bildung von Handelskammern, das bürokratische Regulierungsbedürfnis sich in den Dienst der Industrialisierung stellte, so waren die Kammerbildungen der 1890er Jahre „unsichtbare Subventionen" zugunsten von Gruppen, die sich als Industrialisierungsopfer fühlten. Die Handwerks- und Landwirtschaftskammern waren somit soziale Erhaltungsinterventionen. Die Errichtung dieser Interessenvertretungen gehört zu denjenigen gesellschaftspolitischen Maßnahmen des Kaiserreichs, die kleinbürgerliche und bäuerliche Äquivalente zu der oft beschriebenen „Feudalisierung" des Großbürgertums schufen: Sie stabilisierten oder restaurierten vorindustrielle Werthaltungen und halfen eben dadurch, die überkommene gesellschaftliche Machtverteilung zu sichern26. Die „anstaltliche" Komponente der Interessenorganisation beschränkte sich indes nicht auf die öffentlich-rechtlichen Kammern. Freie Verbände und Kammern waren, wie schon angedeutet, vielfältig miteinander verbunden. So bestanden 1897 die Mitgliedsverbände des Centralverbandes Deutscher Industrieller zu fast einem Drittel aus Handelskammern; 1911 waren mindestens 31 der 53 Ausschußmitglieder des Deutschen Handelstages zugleich Mitglieder des „Hansa-Bundes für Gewerbe, Handel und Industrie", und umgekehrt waren über die Hälfte aller Handelskammern korporative Mitglieder des Hansa-Bundes27. Angesichts solcher Interdependenzen stellt sich die Frage, wie „frei" die „freien Verbände" in Deutschland eigentlich waren. Der rechtliche Doppelcharakter der Interessenvertretung wurde jedenfalls, ungeachtet gelegentlicher Rivalitäten zwischen freien und halbstaatlichen Organisationen, als vorteilhaft angesehen. Konnte man einerseits als freier Verband der Regierung notfalls offensiv gegenübertreten, so blieb andererseits, dank dem Kammerwesen, die Rückversicherung einer institutionalisierten Partnerschaft mit der Obrigkeit. Der Immediatzugang zur Exekutivgewalt prägte das politische Verhalten der deutschen Interessenverbände entscheidend. Zwar benutzte man stets auch die Parteien als politische Transmissionsriemen; als der eigentli172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

che Adressat und Partner der Sozialgruppen aber galt die Staatsverwaltung. Die Verschiebung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse nach links, wie sie sich seit der Reichstagswahl von 1912 abzeichnete, hat diese Tendenz noch verstärkt28. Die eine Folge des auf viele freien Verbände abfärbenden Gouvernementalismus der deutschen Unternehmerkammern war die umfassende Bürokratisierung der „pressure groups". Der Staatsbeamte war nicht nur, wie Jürgen Kocka gezeigt hat, die soziale Leitfigur der industriellen Angestellten, sondern auch der Verbandsfunktionäre29. Eine andere, sekundäre Folge der staatlichen Verbandsdomestizierung war jene plebiszitär-demagogische Überreaktion, für die der Bund der Landwirte das hervorstechendste Beispiel liefert: Formal die Methoden demokratischer Massenmobilisierung nutzend, mobilisierte dieser Verband in Wahrheit Massen gegen die Demokratisierung des überkommenen politischen Systems. Direkt oder indirekt trug die Gouvernementalisierung des deutschen Verbandswesens also dazu bei, das wenigstens latent demokratische Potential freier Vereinigungen zu schwächen. Die staatliche Interessenregulierung im Bismarckreich kann als eine Vorform dessen verstanden werden, was - mit einem Ausdruck Rudolf Hilferdings - seit den 1920er Jahren oft als „Organisierter Kapitalismus" bezeichnet wird. Gemeint ist damit in der Regel die Ablösung einer von Einzelunternehmern getragenen und gegen Staatseingriffe weitgehend abgeschirmten Wettbewerbswirtschaft durch eine hochgradig konzentrierte, innerlich bürokratisierte und verbandsmäßig organisierte Wirtschaftsordnung, deren Funktionsfähigkeit durch die staatliche Konjunktur-, Struktur- und Sozialpolitik gewährleistet wird. Die Abkehr vom freien Spiel der Marktkräfte mußte besonders leicht und frühzeitig in einem Land vonstatten gehen, in dem die Exekutive ihre unabhängige Stellung hatte behaupten können, die Bürokratie eine entscheidende Rolle im Industrialisierungsprozeß gespielt hatte und die politische Elite von patriarchalischen Sozialstaatsideen geprägt war. In Deutschland war dies alles in stärkerem Maß der Fall als irgendwo sonst, und man kann insoweit durchaus von einer historisch einzigartigen Verquickung restaurativer und moderner Elemente bei der Herausbildung des „Organisierten Kapitalismus" sprechen. Während des Ersten Weltkrieges hat dann die staatliche Regulierung von Produktion und Distribution bei allen Großmächten die tradierte Trennung von Staat und Gesellschaft vollends zur Fiktion werden lassen. Die Weltwirtschaftskrise hat diese Entwicklung weiter gefördert, und unter dem Eindruck dieses säkularen Ereignisses sahen sich auch die Vereinigten Staaten, das Land ohne feudale und absolutistische Tradition, gezwungen, ihren sozialstaatlichen Nachholbedarf in erheblichem Umfang auszugleichen30. Im deutschen Kaiserreich dienten freilich auch die zukunftsträchtigen Elemente des staatlichen Interventionismus zuerst und zuletzt der innenpolitischen Machtsicherung. Die sozialpolitischen Maßnahmen zugunsten der Arbeiterschaft ergänzten insoweit jene institutionellen Privilegierungen, deren die Industriellen, Kleingewerbetreibenden und Landwirte teilhaftig wurden. Die Übertragung hoheitlicher Rechte an - ihrer Interessenstruktur nach - private Vereinigungen führte zur engen Verflechtung eines sich überparteilich gebenden, nach der Verfassung von parlamentarischen Mehrheiten unabhängigen, autoritären Staatsapparates mit bevorrechteten gesell173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

schaftlichen Gruppen. Gewiß war die Selbstverwaltungskomponente im deutschen Kammerwesen stärker ausgeprägt als im französischen. Die Tatsache aber, daß, anders als in Deutschland, die Exekutivgewalt in Frankreich sich demokratisch legitimierte, muß den Aussagewert eines rein institutionellen Vergleichs entscheidend relativieren. Die These Ernst Rudolf Hubers, daß die deutschen Interessenverbände Faktoren der Demokratisierung gewesen seien und daß der deutsche Konstitutionalismus eine Verbände-Demokratie als Alternative zur Parlamentarisierung bewußt gefördert habe, läßt sich nach alledem nicht halten. Eine freiheitliche Demokratie ist sicherlich ohne freie Verbände nicht denkbar, aber die bloße Existenz von Verbänden sagt noch wenig über das demokratische Potential einer Gesellschaft aus. Die öffentlich-rechtliche Verbandsorganisation war geeignet, gesellschaftliche Spontaneität zu neutralisieren. Durch die Verflechtung von freien und halbstaatlichen Verbänden übertrug sich der gouvernementale Effekt auch auf formal freie Vereinigungen. Soweit die mit der institutionellen Privilegierung verbundene Domestizierung bei den Betroffenen antigouvernementale Bestrebungen auslöste, zielten diese auf ein Mehr an Privilegierung und nicht etwa auf eine Demokratisierung der deutschen Gesellschaft31. Das obrigkeitsstaatliche Regierungssystem förderte, indem es die Vertretung bestimmter Interessen partiell verstaatlichte, die soziale Segmentierung der deutschen Gesellschaft. In derselben Richtung wirkte sich das deutsche Parteiensystem aus: Ohne den Ausschluß von praktischer Regierungsverantwortung wären die Bindungen zwischen den politischen Parteien und einem jeweils unterschiedlichen Sozialmilieu schwerlich so eng gewesen, wie sie es tatsächlich, über das Kaiserreich hinaus, waren. Beide Faktoren verringerten die Chancen einer gesellschaftlichen Integration durch parlamentarischen Kompromiß. Sic trugen erheblich zu der Funktionsschwäche bei, an der das Regierungssystem der Weimarer Republik von Anfang an litt32. Die Kehrseite des obrigkeitlichen Organisationsprotektionismus war mithin ein Defizit an demokratischem Pluralismus. Ein korporativer Antiparlamentarismus konnte nur in einer politischen Kultur gedeihen, in der ständische und absolutistische Strukturen die Industrielle Revolution ungebrochen überdauert hatten. Die Eigenarten des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich erweisen sich damit als eine der wesentlichen Vorbelastungen der deutschen Demokratie überhaupt33.

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11. Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus

I. Die Beziehungen zwischen Unternehmerschaft und Nationalsozialismus vor 1933 haben sich der bisherigen Forschung nahezu ausschließlich als Probleme der Parteifinanzierung dargestellt1. Die tatsächliche Haltung der Wirtschaftsverbände gegenüber Parteien und Institutionen der Weimarer Republik und die Ideologien der „pressure groups" sind noch weithin unerforscht2, obwohl sich nur von einem solchen thematischen Ansatz aus verbindliche Erkenntnisse über die Rolle der Untenehmerschaft bei der Auflösung der Weimarer Republik gewinnen lassen. Im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen steht ein besonderer Aspekt dieses allgemeineren Problems: die Funktion berufsständischer und ständestaatlicher Ideen in dem Kräftedreieck von Spitzenverbänden der industriellen und gewerblichen Wirtschaft, Präsidialkabinetten und Nationalsozialisten. Es wird zu zeigen sein, daß der Korporativismus eine Schlüsselrolle in den verfassungs- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 1930 bis 1933 spielte und daß sich in den Stellungnahmen zu Fragen einer berufsständischen Ordnung zugleich auch die allgemeinpolitische Haltung und das Demokratieverständnis der Interessenverbände niederschlugen. Unser Thema hat somit einige der wesentlichen gesellschaftlichen Vorbedingungen der nationalsozialistischen Machtergreifung zum Gegenstand. Die theoretischen Diskussionen über eine berufsständische Gliederung der Gesellschaft zogen sich kontinuierlich durch die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik hin. Zu keinem Zeitpunkt aber schien die politische Situation einer praktischen Verwirklichung korporativer Ideen größere Chancen zu bieten als während der drei Jahre nach dem Bruch der Großen Koalition im März 1930, mit dem die Krise des parlamentarischen Systems manifest geworden war. Die Suche nach Alternativen zur parlamentarischen Demokratie, stimuliert durch die sich verschärfende ökonomische Krise3, mußte die Unternehmerverbände in demselben Maß zur Auseinandersetzung mit korporativen Entwürfen führen, wie diese von relevanten politischen Kräften vertreten wurden. Dem Modell einer korporativen Überwindung des Klassenkampfes, wie es insbesondere von dem Wiener Nationalökonomen Othmar Spann und seiner Schule entwickelt worden war4, wuchs damit unmittelbare politische Bedeutung zu. In welchem Umfang es von den Verbänden der Industrie, des Handels und des Handwerks rezipiert werden konnte, hing davon ab, inwieweit es ihren spezifischen Interessenlagen Rechnung trug. Bevor wir uns den korporativen Elementen in den verfassungs- und gesellschaftspolitischen Konzeptionen wirtschaftlicher Interessenverbände zuwenden, bedarf es 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

noch eines Blickes in die besonderen historischen Voraussetzungen der ständischen Ideologie in Deutschland. Die meisten korporativen Entwürfe knüpften ausdrücklich an eine Tradition an, die Jahrzehnte zuvor in Bismarcks Plan eines die „produktiven Stände" repräsentierenden Reichsvolkswirtschaftsrates kulminiert hatte5. Ob ein solches Wirtschaftsparlament neben das politische Parlament treten oder es ersetzen sollte: die Vorschläge, die in diese Richtung zielten, resultierten aus der Befürchtung, daß die Interessen der „staatstragenden Schichten" durch das allgemeine Wahlrecht gefährdet würden. Die Forderung nach einer Beschneidung der Parlamentsrechte zugunsten einer berufsständischen Vertretung trug insoweit eindeutig konservative Vorzeichen. Das gilt auch für die zahlreichen Versuche, bestimmte Elemente der Räteidee im traditionell-berufsständischen Sinn umzuinterpretieren. Ihre Intention verdeutlichte der deutschnationale Abgeordnete Clemens von Delbrück am 21. Juli 1919 anläßlich der Beratung des späteren Artikels 165 der Weimarer Verfassung, des „Räteartikels", in der Nationalversammlung. In der Räteidee, erklärte er, liege ein Gedanke, der auch bei seiner Partei Anklang gefunden habe. Es sei dies der Gedanke einer berufsständischen Kammer, in dem seine Freunde und er schon immer „ein Gegengewicht gegen die Überspannung des Parlamentarismus und gegen die Herrschaft des Parlaments" gesehen hätten6. Da die von der Weimarer Verfassung vorgesehene Beteiligung wirtschaftlicher Interessengruppen am Willensbildungsprozeß in dem Vorläufigen Reichswirtschaftsrat eine bloß provisorische Regelung gefunden hatte, lag es nahe, diesen unerfüllten Verfassungsauftrag in die Korporativismusdebatten der Jahre 1930-1933 einzubeziehen. Die Diskussionen um eine berufsständische Neuordnung mündeten damit in die allgemeinen Erörterungen einer Reichsreform, die zu jener Zeit ebenfalls ihre größte Intensität erreichten. Von allen gesellschaftlichen Gruppen ging das Handwerk am besten vorbereitet in die neue Phase der Debatten um den Korporativismus. Nirgendwo hatten sich ständische Organisationsformen und ständische Mentalität so gehalten wie hier: Der Kampf gegen die unbeschränkte Gewerbefreiheit und für die Wiedereinführung von Zwangsinnungen bildete ein Hauptthema der Handwerkerbewegung vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik. War das Kaiserreich in der Novelle zur Gewerbeordnung von 1897 den Bestrebungen der Handwerker insoweit entgegengekommen, als es Zwangsinnungen auf Antrag der Mehrheit der Innungsmitglieder ermöglichte, so schien es zeitweilig, als ob die weitergehenden Forderungen in der Weimarer Republik ihre Erfüllung finden könnten. Der Reichsverband des deutschen Handwerks legte 1921 den Entwurf einer Reichshandwerksordnung vor, der eine umfassende Pflichtorganisation des Handwerks von der Kreis- über die Landes- bis zur Reichsebene vorsah, den „fakultativen Zwangsinnungen" auch das bisher verwehrte Preisfestsetzungsrecht verlieh und sich zur „Gemeinschaftsarbeit" von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bekannte. Die ursprüngliche Bereitschaft des Reichswirtschaftsministeriums, diesen Wünschen weitgehend entgegenzukommen, vermochte jedoch weder die Einwände anderer Interessengruppen noch die Bedenken anderer Ressorts, vor allem des Reichsfinanzministeriums, zu überwinden. Das Projekt wurde 1926 zu 176 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

den Akten gelegt, nachdem der letzte Referentenentwurf auch im Handwerk selbst auf starken Widerstand gestoßen war7. Das Scheitern der Reichshandwerksordnung bedeutete keineswegs das Ende der berufsständischen Ideologie des Handwerks, wie sie die theoretische Begründung des Gesetzentwurfes geprägt hatte. Das wurde besonders deutlich, als im Juli 1930 durch das Votum von Nationalsozialisten, Deutschnationalen, Christlich-Nationalen und Kommunisten ein Gesetzentwurf über die Bildung des endgültigen Reichswirtschaftsrates im Reichstag nicht die notwendige verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erhielt. Die Spitzenverbände des Handwerks bezeichneten die Ablehnung dieser Vorlage, die „in sehr bescheidenem Maße endlich eine sachgemäße gutachtliche Mitwirkung aller Kreise der deutschen Wirtschaft an den Aufgaben der Gesetzgebung verwirklichen wollte, gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt der größten politischen Vertrauenskrise als eine schwere Zurücksetzung aller produktiven Kräfte der deutschen Volkswirtschaft". Das „Einkammersystem (sic!) in Deutschland, verbunden mit dem gegenwärtigen, die freie Willensbildung des deutschen Bürgers ausschließenden Proportionalwahlrecht" habe „in so hohem Maße versagt . . ., daß die Frage der Errichtung einer Zweiten Kammer durch organische Verbindung von Reichsrat und Reichswirtschaftsrat schleunigst zum Gegenstand ernsthafter Prüfung der deutschen Wirtschaft und der politischen Faktoren gemacht werden" müsse8. Die antiparlamentarische Tendenz, die sich in dieser Stellungnahme niederschlug, resultierte aus der Überzeugung, daß die Interessen des Handwerks in einem auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gewählten politischen Parlament zwangsläufig zu kurz kämen und daher das Gegengewicht eines die gewerbliche Wirtschaft besser repräsentierenden zweiten Gesetzgebungsorganes erforderten. Die „berufsständische Zersetzung des allgemeinen Parlaments", so kommentierte der Generalsekretär des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, Hans Meusch, das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 14. September 1930, werde sich fortsetzen, solange nicht den berufsständischen Bestrebungen - denen nach seiner Meinung die Zukunft gehöre - ein legaler Weg zur Mitarbeit in einer auf korporativer Grundlage gebildeten Zweiten Kammer eröffnet werde9. Die verfassungsmäßige Verankerung des Korporativismus war die wichtigste allgemein-politische Forderung des Handwerks. Die Errichtung eines „Ständestaates" im Sinne Spanns stand dagegen nicht auf dem Programm der handwerklichen Spitzenverbände. Das hatte zweifellos auch taktische Gründe: Der Deutsche Handwerksund Gewerbekammertag, seit 1922 eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, hätte sich eine radikale Verneinung des gesamten Verfassungsaufbaus von Weimar schwerlich leisten können. Darüber hinaus mochten Erwägungen über das mutmaßliche Übergewicht stärkerer ökonomischer Potenzen - wie der Industrie - in einem Ständestaat zu der Schlußfolgerung führen, daß die Berufsstände nicht geeignet seien, Träger des Staates zu sein und den Staat zu verkörpern. Eine „Trennung von Interessenvertretung und Staatsführung"10 schien so den handwerklichen Interessen am besten zu entsprechen - vorausgesetzt, die Staatsführung ließ der Wirtschaft freien Spielraum für den Aufbau einer korporativen Infrastruktur. Daß trotzdem von einer weitgehenden Rezeption der „universalistischen" Gesell12 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

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schaftslehre Spanns gesprochen werden kann, geht am eindringlichsten aus der Broschüre „Berufsstandsgedanke und Berufsstandspolitik des Handwerks" hervor, die Meusch 1931 im Auftrag des Vorstandes des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages herausgab und unter Mitwirkung von Wilhelm Wernet verfaßt hatte. Sie enthielt ein klares Bekenntnis zum „Universalismus", der als einzige Alternative zur „letzten Konsequenz des Individualismus", dem Bolschewismus, bezeichnet wird11. Das Postulat, „daß über den individualistisch-privatwirtschaftlichen Interessen des einzelnen Betriebes und des einzelnen Erwerbszweiges eine höhere selbsterzeugte Ordnungsgewalt den Prozeß der Gütererzeugung und -verteilung beeinflussen" müsse, mutet wie eine Paraphrase Spannscher Ideen an. Folgerichtig wird die gewerkschaftliche Forderung nach einer „Demokratisierung der Wirtschaft" abgelehnt, da nicht der „Gedanke beiderseitiger Verpflichtung gegenüber dem Volksganzen ihre tragende Grundlage bildet, sondern die Sicherung des Anspruches größtmöglicher Rechte". Alle Aktivität der einzelnen Erwerbsstände, Klassen und Parteien müsse, so meint Meusch, nur noch mehr zu einem Kampf der Interessengegensätze führen, solange nicht die „sittliche Einstellung der Menschen und ihrer Standesorganisationen zur deutschen Volksgemeinschaft eine andere" werde. Das soziale Substrat des mittelständischen Korporativismus wird deutlicher, wenn Meusch davon spricht, daß im Handwerk noch genügend sittliche Kräfte vorhanden seien, um den „Gedanken einer befriedeten und geordneten Berufsstandswirtschaft an Stelle einer brutal-egoistischen freien Wirtschaft und an Stelle des Klassenkampfes" zu setzen, und eine Austragung der Klasseninteressen unter dem „höheren Gesichtspunkt des Standes" und der „Standesinteressen unter dem Gesichtspunkt des Gesamtinteresses und des Gemeinwohles" fordert. Es entsprach in der Tat dem Selbstverständnis einer wettbewerbsmüden, an der bloßen Wahrung ihres Besitzstandes interessierten Schicht, Regelungen des Wirtschaftslebens zu finden, die soziale Konflikte zu verdrängen geeignet waren. Da das Handwerk jede paritätische Mitwirkung seiner Arbeitnehmer an der Produktion ablehnte, hieß dies: institutionalisierte Dominanz der Arbeitgeber. Da es ebenso die Konkurrenz zwischen den einzelnen Betrieben zugunsten einer koordinierenden Preisfestsetzung durch die Innungen zurückzudrängen versuchte, mündete seine ganze Ideologie schließlich in die Rechtfertigung eines Systems der konsequenten Kartellierung. Die von Meusch entworfene Ständegesellschaft bedarf, da sie die sozialen Konflikte nur repressiv beantworten kann, folgerichtig autoritärer Sicherungen. Die Selbstbestimmung, für die Massen ein „leeres Wort", hat zu einer „grauenhaften Entwurzelung des modernen Menschen, zur gänzlichen Formlosigkeit des sozialen Daseins geführt". Deshalb muß der Staat „herrschen" und „die wirtschaftliche Interessenvertretung aus dem unmittelbaren Zusammenhang der politischen Willensbildung herausgenommen" werden12. Dem entspricht die Forderung nach einer Ständekammer, in der sowohl die wirtschaftlichen Berufsstände als auch die anderen Stände vertreten sind, neben einer politischen Vertretung. Die Forderung, demokratische Willensbildung und Regelung des Wirtschaftsprozesses strikt zu trennen, war ein integrierender, wenn auch kein spezifischer Bestandteil der Ideologie des gewerblichen Mittelstandes. Sie bildet zugleich einen gemeinsa178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

men Nenner, auf den die verfassungspolitischen Vorstellungen der deutschen Wirtschaft insgesamt gebracht werden können. Das wird besonders in den Abhandlungen sichtbar, die der „Arbeitgeber", das Organ der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, dem Problem der Verfassungs- und Gesellschaftsreform widmete. Wenn die Schriften Spanns - neben denen Edgar Jungs - in den Spalten dieser Zeitung als Ansätze zu einer „neuen Unternehmerideologie" gefeiert wurden, so kann man darin nicht bloß die subjektive Meinungsäußerung eines ständisch orientierten Autors sehen13. Vielmehr konnte jede auf die Ausschaltung oder Eindämmung einer demokratisch legitimierten Volksvertretung gerichtete Doktrin auf die Aufmerksamkeit dieses Organs der Arbeitgeber rechnen14. Die mangelhafte Vertretung der Industrie in den Parlamenten, so wurde etwa argumentiert, verlange eine Änderung des gegenwärtigen Systems. Wohl sei eine Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts „politisch nicht ratsam", eine Zweite Kammer auf berufsständischer Grundlage mit voller Verantwortung und Gesetzgebungskraft hingegen sehr erwägenswert. „Eines ist durch das berufsständische Parlament neben dem des gleichen Wahlrechts zu erreichen, daß die Kräfte in ihm zum Zuge kommen, die in der von der Zahl nun einmal beherrschten Parteipolitik nicht voll zur Geltung kommen." Nur so könnten neben dem Massenwillen die Führer der Wirtschaft Einfluß erlangen. Der Industrielle sei der „Typ des Fachmanns, der Parlamentarier der gegensätzliche des auf allen Gebieten sich Tummelnden"15. Die Ablehnung des bestehenden parlamentarischen Systems tritt in der offiziellen Zeitschrift der Arbeitgeber so offen und so häufig zutage, daß Zweifel am repräsentativen Charakter dieser Äußerungen kaum erlaubt sind. Der Parlamentarismus, wie er sich in Deutschland herausgebildet habe, sei - so heißt es in einem der zahlreichen Artikel des Freiburger Philosophieprofessors Georg Mehlis - eine „Interessenvertretung schlimmster Art". Während die ursprüngliche Funktion des Parlaments eine „gesetzesberatende Tätigkeit, besonders in den Finanzvorlagen" gewesen sei, liege jetzt alle Macht in seiner Hand und speziell in den Händen der Parteien, die die Regierung bilden. Damit sei die Exekutive zur Parteiangelegenheit geworden. „Die Macht des Reichspräsidenten ist so beschränkt, daß er in der Hauptsache den Beschlüssen des Parlaments und den Parteiforderungen sich zu fügen hat, so daß man in Deutschland von einer unbedingten Parteiherrschaft sprechen kann. Diese wird aber de facto nur von einigen großen Parteiführern ausgeübt, die Mussolini nicht mit Unrecht mit den großen Baronen des Mittelalters verglichen hat." Wenn sich gegenüber dieser Auflösung der „organischen Einheit des Volkes" immer wieder der Gedanke des Ständestaates erhebe, so geschehe das vor allem in der Absicht, „den verschiedenen Berufsinteressen eine angemessene Vertretung zu geben, die in sachkundiger Weise auf ihr Wohl bedacht ist, und schließlich auch um die einseitige Parlamentsherrschaft mit ihren demagogischen Umtrieben zu beenden und eine neue Vertretung im Volk zu schaffen, die sehr viel mehr den inneren Bedürfnissen des Volkslebens entspricht". Ein Wirtschaftsparlament als organische Zusammenfassung der wirtschaftlichen Kräfte würde nicht bloß eine rein materielle Interessenvertretung sein, sondern „so etwas wie eine Führerversammlung". Es werde in viel stärkerem Maße den Charakter einer Volksvertretung haben als das jetzige Parlament, „das sich auf die Massen als 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

notwendiges Stimmenmaterial stützt und in dem die wichtigsten und wertvollsten Berufskreise nicht in angemessener Weise zum Ausdruck gelangen"16. Sowenig diese Konzeption aus dem Rahmen der Arbeitgeberideologien jener Zeit herausfällt, in einzelnen Punkten ist sie doch nur für bestimmte Richtungen innerhalb der Unternehmerschaft symptomatisch. Die lobenden Bemerkungen über das faschistische Italien, die sich nicht nur in den Artikeln von Mehlis finden17, spiegeln - wie zu zeigen sein wird - keineswegs uneingeschränkt die Auffassung der deutschen Unternehmerkreise wider. Dasselbe gilt für die Propagierung des Ständestaates: Die Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, die ja so unterschiedliche Interessengruppen wie Handwerk, mittelständische und Großindustrie umfaßte18, ließ in ihrem Publikationsorgan durchaus kontroverse Meinungen zu Wort kommen. Wenn Mehlis - trotz eines positiven Hinweises auf die „Carta del lavoro" - bezeichnenderweise nicht die berufsständische Gliederung der Wirtschaft, sondern die Bedeutung eines korporativen Gegengewichts zum politischen Parlament in den Mittelpunkt seines Plädoyers stellte, so propagierten Autoren wie Karl Vorwerck, Paul Karrenbrock und der Spann-Schüler Walter Heinrich den umfassenden korporativen Umbau von Staat und Gesellschaft19. Daneben waren jedoch auch andere Stimmen zu vernehmen. Heinz Brauweiler etwa bejahte zwar den solidarischen Berufsgedanken, kritisierte jedoch am Universalismus Spanns die fehlende Betonung des staatlich-politischen Primats20. Carl Düssel nannte den „korporativen Gedanken . . . in seiner Beziehung zum Unternehmertum durchaus nicht eindeutig", weil er ebenso den „Anmarschweg für proletarische Staatstrusts wie den Deckmantel für ein dichter an den Leib der Privatwirtschaft angeschmiegtes Präfektensystem abgeben" könne, „dessen Sinn und Handhabung völlig der Regierung anheimgegeben ist"21. Der Nationalökonom Carl Dunkmann schließlich warf Spann einen illusionären Glauben an die Möglichkeit sozialer Friedfertigkeit im Ständestaat vor22. Den Einwänden gegenüber der berufsständischen Idee, auf deren Ökonomischen Hintergrund noch zurückzukommen ist, stand keine vergleichbare Kritik an antiparlamentarischen Tendenzen gegenüber. Wenn Mehlis die Rolle des politischen Parlaments am liebsten auf Befugnisse reduziert hätte, die weit hinter den Rechten der Volksvertretung einer konstitutionellen Monarchie zurückblieben, so stand er damit nicht allein. Die soziale Funktion und die möglichen Konsequenzen dieses Antiparlamentarismus erhellen am besten aus dem frontalen Angriff, den August Heinrichsbauer kurz vor dem Bruch der Großen Koalition gegen das Verfassungssystem der Weimarer Republik richtete. Der Regierung wird vorgeworfen, daß sie nichts mehr ohne die Zustimmung des Parlaments unternehme, das sich seinerseits wieder stets auf den Willen der Wählerschaft zu berufen pflege, „Der Wettlauf der Parteien um die Gunst der großstädtischen Handarbeiter - das ist nämlich das ausschlaggebende Kennzeichen der deutschen Innenpolitik der Neuzeit - mußte eine Verantwortungslosigkeit bei den parlamentarischen Vertretungen der Massen mit Notwendigkeit erzeugen." Die Parteien sind so zu „Vertretern materieller Majoritätsinteressen" geworden, die sich „infolge des rein oberflächlichen Majoritätsprinzips zur tatsächlichen Herrschaft im Staat aufschwingen konnten". Infolgedessen ist die „Wirtschaftspolitik der Neuzeit . . . nichts anderes als die Stabilisierung der Diktatur der Politik 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

(mit stark parteipolitischem Einschlag) über die Wirtschaft". Sieht man als Endziel der Politik der nächsten Zeit aber die Sicherstellung der Wirtschaft um jeden Preis, so muß das System gestärkt werden, „in dem die Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg am ausgeprägtesten ist, nämlich die Idee der privatwirtschaftlichen eigenen Verantwortung". Dies kann nur erreicht werden, wenn auch die „politische Verantwortung der maßgebenden Stellen" wiederhergestellt wird: Die Regierung muß Handlungsfreiheit gewinnen, „losgelöst vom Wechselspiel des Parlamentarismus" und unter Umständen auch gegen den Willen des Parlaments. Die geschichtliche Situation glaubte Heinrichsbauer so charakterisieren zu können, daß sich die „Stände" heute dem parlamentarischen Staat und seinen übermäßigen Anforderungen gegenüber in derselben Minderheit befänden wie in früherer Zeit gegenüber dem absoluten Herrschertum. „Das Parlament wird sich freiwillig niemals der Erkenntnis beugen, daß auch Nichtkönnen verpflichtet, insofern, als der Nichtkönnende von Dingen, von denen er nichts versteht, sich fernhalten muß. Angesichts dieser Sachlage bleibt nichts anderes übrig, als daß man dem Parlament die Möglichkeit nimmt, sich an Objekten zu vergreifen, die seinen Eingriff gar nicht wollen und ihn mit Recht für verderblich halten."23 Heinrichsbauers Polemik war mehr als ein Plädoyer für ein Präsidialkabinett: Es war ein kaum noch verhüllter Aufruf zum Staatsstreich. Die parlamentarische Verfassung des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates sollte zugunsten eines diktatorischen Systems aufgegeben werden, weil nur so die auf dem Privateigentum beruhende Gesellschaftsordnung vor der Bedrohung durch die „großstädtischen Handarbeiter" bewahrt werden konnte. Im Namen der wirtschaftlichen Grundlagen des bürgerlichen Rechtsstaates wurde seinen politischen Institutionen die Loyalität aufgekündigt. Um die Frage zu beantworten, ob oder inwieweit die Schlußfolgerungen Heinrichsbauers für die deutsche Wirtschaft in der Endphase der Weimarer Republik typisch waren, wenden wir uns zunächst weiteren Beiträgen zur verfassungs- und gesellschaftspolitischen Diskussion jener Zeit zu und kehren damit gleichzeitig zur Erörterung des Korporativismus zurück. Bei der eigentlichen großindustriellen Unternehmerschaft fand der berufsständische Gedanke nur wenig Anklang. Fritz Thyssen, der von den Ideen Spanns beeindruckt war und dem italienischen Korporativsystem gute Erfolge bescheinigen zu können meinte, war in dieser Hinsicht nicht typisch. Wesentliche Änderungen der Betriebsverfassung hätte eine Ständeordnung, wie sie ihm vorschwebte, im übrigen nicht gebracht: Er wollte keine wie immer geartete Mitbestimmung der Arbeiter, sondern nur eine institutionalisierte Informationspflicht der Unternehmer gegenüber den Betriebsangehörigen24. Für das Gros der Industrie weitaus repräsentativer war die Position, die das Vorstandsmitglied des Reichsverbandes der deutschen Industrie, Clemens Lammers, am 24. Juni 1932 in einer Sitzung des Hauptausschusses seiner Vereinigung bezog: „Wir Industrielle haben Sorge, daß die berufsständische Planung in Staat und Wirtschaft zum Schematismus führt und eine nicht nur bedauerliche, sondern geradezu lebensgefährliche Erstarrung der deutschen Wirtschaft zur Folge haben würde." Wohl wird den Verfechtern des Ständegedankens bescheinigt, daß sie den Unternehmer nicht fesseln wollen wie der „extreme Sozialismus"; ja, Lammers 181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

hält es für möglich, daß die korporative Idee eine „unvergleichliche Großtat" vollbringen könnte, wenn sie das Wirtschaftsleben in ähnlichem Sinne inspirieren würde wie das „kollegiale Verhalten der Arbeiterschaft in vielen mir nahestehenden Betrieben anläßlich der notwendig gewordenen Arbeitsstreckungsmaßnahmen"25. Aber der zentrale Einwand gegen jede praktische Verwirklichung einer berufsständischen Ordnung bleibt, daß sie den Bewegungsspielraum der Großindustrie durch Rücksichtnahmen auf weniger leistungsfähige Unternehmen in unzumutbarer Weise einschränken würde. Dasselbe gilt für jede wirkliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer - zumal wenn sie paritätische Formen annehmen sollte. Die großindustrielle Argumentation wird e contrario durch einen Vertreter der mittelständischen Industrie bestätigt. Rudolf Görnandt, der Geschäftsführende Vorsitzende des Reichsbundes der Deutschen Metallwarenindustrie, setzte sich für eine ständische Verfassung ein, weil nur in einem solchen System der Staat „eine gesunde Verteilung der Betriebsgrößen" herbeiführen würde, „so daß in Landwirtschaft und Industrie der konjunkturfeste Mittelstand wieder zum Kernstück der Produktion wird". Ähnlich wie beim Handwerk steht bei ihm der Gedanke der Zwangsorganisation im Vordergrund-ein Problem, das sich der Großindustrie angesichts ihrer vielen formellen und informellen Kartelle nicht stellen konnte. Zwang wird so in der Sicht dieses Fertigwarenindustriellen zur „wirklichen und einzigen Voraussetzung der Freiheit", der Ständestaat zur „Synthese zwischen Individualismus und Sozialismus". Die verordnete Kartellierung gilt als legitime Waffe gegen das „raubritterliche Außenseitertum" mit seiner „systematischen Unterbietung"26. Eine effektive Mitwirkung der Arbeitnehmer ist in dem von Görnandt entwickelten Modell des Ständestaates nur in sozialpolitischen Fragen gewährleistet; „die Wirtschaftspolitik muß von denen gemacht werden, die die Wirtschaft verantwortlich führen. Deswegen verlegen wir die Wirtschaftspolitik in die Berufsstände der selbständig Tätigen."27 Während Lammers als langjähriger Reichstagsabgeordneter des Zentrums nur sehr zurückhaltend von einem „Mißbrauch" sprach, „den unser junger Parlamentarismus und unser Parteiwesen mit der Demokratie getrieben haben", und die fehlende „Unterordnung unter selbstgewählte Führer" beklagte28, nannte Görnandt den Ständestaat tiefer im Volk verwurzelt als den Parteienstaat. Er forderte die Einschränkung der Rechte des Reichstages zugunsten des Reichspräsidenten und einer Zweiten (oder Ersten) Kammer als Vertretung der Staaten, Bezirke und Stände - solange nicht auf den Reichstag gänzlich verzichtet werden könne. Fürs erste bleibe die Möglichkeit, daß „so wie in Italien eine große Partei entstanden ist, . . . schließlich auch das politische Übergewicht in Deutschland auf eine Partei oder eine Kombination von Parteien übergehen" würde29. In dieser Hinsicht vertrat Görnandt indessen keinen Standpunkt, der allein für die mittelständische Industrie repräsentativ genannt werden könnte. Auch Max Schlenker, Geschäftsführer des Langnamvereins und der Bezirksgruppe Nordwest des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Er forderte dazu auf, Mussolinis Versuch einer korporativen Neuordnung Aufmerksamkeit zu schenken und aus ihm zu lernen. Der bisherige Reichswirtschaftsrat habe nicht vermocht, der Übermacht von Parlament, Fraktionen und Parteien Fruchtbares entgegenzustellen. Der „Wirtschaftspolitik größerer Sach182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

lichkeit" sei man nicht um einen Schritt nähergekommen30. Deshalb sei die Verbindung von korporativen und föderalen Elementen in einer dem Reichstag gleichberechtigten Zweiten Kammer notwendig. „Die Parteien sind bei uns längst nicht mehr Sprachrohre des politischen Willens gegenüber der Regierung und nicht mehr unentbehrliche Überwachungsorgane für eine gesunde Regierungsführung . . . Es gilt nun Sicherungen dagegen zu schaffen, daß diese wenigstens im Augenblick überwundenen Zustände jemals wiederkehren . . . Regierungen, die eine Reichstags- und Parteiabhängigkeit im Sinne der verflossenen Jahre haben, dürfen wir jedenfalls unter keinen Umständen wiederbekommen . . . Sinn und Zweck . . . der Verfassungsreform ist schließlich die Sicherung einer machtvollen, von den Parteien unabhängigen Regierung."31 Die bisher erörterten Stellungnahmen aus Kreisen der Industrie versetzen uns noch nicht in die Lage, generalisierende Aussagen über die verfassungs- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen der deutschen Wirtschaft insgesamt zu machen. Wir haben uns zuvor Gruppen zuzuwenden, die traditionell „links" von der Schwerindustrie standen: den Interessenverbänden und Organisationen, in denen Exportindustrie, Handel und Banken eine gewichtige Rolle spielten. Zu ihnen gehörte insbesondere der Deutsche Industrie- und Handelstag, der an der Korporativismusdebatte der letzten Jahre der Weimarer Republik ein bemerkenswertes Interesse zeigte32. Die Stellung dieser Dachorganisation der Industrie- und Handelskammern zu einer berufsständischen Gliederung der Gesellschaft war eindeutig negativ. So bemängelte die „Deutsche Wirtschaftszeitung", das Organ des Deutschen Industrie- und Handelstages, am italienischen Korporativismus die Tatsache, daß er den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit nicht aufgehoben, sondern nur „lahmgelegt" habe33. Selbst wenn man dem Faschismus konzedieren müsse, daß er dazu beigetragen habe, einen „schädlichen Verschleiß von Kräften in sozialen Kämpfen zu vermeiden", so seien doch die wachsende Bürokratisierung und die dadurch verursachten finanziellen Belastungen von Staat und Wirtschaft alles andere als ermutigend. „Der faschistische Korporationsstaat kann . . . nicht als ein Musterbeispiel für wirtschaftspolitische Organisationspläne angesehen werden, die von der Auffassung ausgehen, daß durch paritätische Organe eine gemeinsame Willensbildung miteinander im Interessengegensatz stehender Bevölkerungsgruppen herbeigeführt werden könnte."34 Eine Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wurde für die deutschen Industrie- und Handelskammern als sinnlos abgelehnt, da es in ihnen weder Parteien gebe noch um Entscheidungen gehe. „Es hieße der deutschen Wirtschaftsorganisation ein welsches Gesicht geben, wollte man sie nach faschistischem Muster neu prägen." Jede vom Staat ausgehende Organisation der Wirtschaft würde die Wirtschaft zersplittern und-anstatt die Harmonie zu fördern-die Interessenkämpfe vermehren35. Dagegen sei eine gesetzlich verankerte Beratung der Exekutive durch die existierenden Unternehmerkammern und noch zu schaffende Arbeitnehmerkammern erwägenswert36. Die Gründe für diese Ablehnung einer berufsständischen Umformung der Wirtschaft erläuterte das Geschäftsführende Präsidialmitglied des Deutschen Industrie- und Handelstages, der frühere demokratische Reichswirtschaftsminister Eduard Hamm, indem er darauf hinwies, daß die Einheitlichkeit des Berufsstandes bei Handwerk und 183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Landwirtschaft stärker in natürlichen Gegebenheiten begründet sei als in anderen wirtschaftlichen Berufen. Zumal in Industrie und Handel begegne die Eingliederung des einzelnen größeren Schwierigkeiten, als eine Betrachtung von außen meine. In Zeiten einer dynamisch bewegten Wirtschaft müsse auch einer „Dynamik der persönlichen Kräfte" Raum gegeben werden. „Je mehr die berufsständischen Körperschaften über die Beratung gemeinsamer Angelegenheiten hinaus zu zwingenden planwirtschaftlichen Entscheidungen berufen werden, vollends zu solchen, die auch jenseits des eigenen Bereiches des Berufsstandes wichtige Lebensbereiche berühren, um so breiter kann allzu leicht die Straße werden, auf der hinter den berufsständischen Fahnen der Staat als Schlichter und Richter wieder einziehen wird." 37 Die antidirigistische Argumentation Hamms konnte zunächst den Eindruck erwecken, als ob Teile der Unternehmerschaft in Industrie, Handel und Bankgewerbe lediglich an einer Restauration des wirtschaftlichen Liberalismus, einer Abkehr vom „Organisierten Kapitalismus", interessiert gewesen wären38. In der Tat durchzieht der Ruf nach „Wiederherstellung der Entfaltungsmöglichkeiten freier Marktwirtschaft"39 alle Manifestationen von Großhandel und Großindustrie40. Wie wenig sich jedoch die Bestrebungen dieser Gruppen in einem solchen Appell erschöpften, geht aus der ständig wiederholten Forderung nach einer „Reichsreform" hervor41. In Übereinstimmung mit dem „Bund zur Erneuerung des Reiches" - einem für die Verflechtung der Machteliten der späten Weimarer Republik geradezu idealtypischen Gremium - verstand man darunter nicht nur eine Neuregelung des Verhältnisses von Reich, Ländern und Gemeinden, sondern namentlich auch eine Verstärkung der Präsidialgewalt und eine Minderung der Rechte des Reichstages zugunsten eines neuen korporativ-föderativen Verfassungsorgans, das den bisherigen Reichsrat und weithin auch den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat ersetzen sollte. Der Zustimmung dieser Kammer, des neuen Reichsrats, sollten nach Ansicht des Erneuerungsbundes insbesondere Reichstagsbeschlüsse über Ausgabenerhöhungen und Neuausgaben bedürfen, die gegen den Willen der Regierung gefaßt worden waren. Im übrigen war zur Aufhebung von Beschlüssen des neuen Reichsrats eine Zweidrittelmehrheit im Reichstag vorgesehen. Die vorgeschlagenen Modelle für die Zusammensetzung des neuen Reichsrats hätten in jedem Fall eine Majorisierung der Arbeitnehmerschaft bedeutet. Ebendies war der eigentliche Sinn der „konstitutionellen Demokratie", wie sie mit einer solchen Verfassungsreform erstrebt wurde. In der Sprache des Erneuerungsbundes hieß das: Um der „Vielgestaltigkeit und Gegensätzlichkeit des Parteiwesens" entgegenzuwirken, sei es notwendig, „ein die nationale Einheit in anderer Gestalt wirksam machendes Gegengewicht" zu schaffen. Diese Aufgabe könnten die „berufsständischen Kräfte", diese „starke Realität im deutschen Volksleben", erfüllen, weil allein sie zu „jener über den Parteien stehenden abgeklärten Beurteilung der Aufgaben und Zweifel des öffentlichen Lebens" in der Lage seien, „die bei den heutigen Gesetzgebern oft schmerzlich vermißt wird" 42 . Die Frage bleibt, bis zu welchen Konsequenzen und mit welchen Verbündeten die verschiedenen Wirtschaftskreise ihre Forderungen nach einer Verfassungsrevision zu verfechten gewillt waren. Je stärker die Aversion gegen das parlamentarische Repräsentativsystem im Unternehmerlager wuchs, desto mehr mußten politische Bewe184 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

gungen an Interesse gewinnen, die sich grundsätzlich zur Privatwirtschaft bekannten, gleichzeitig aber den Verfassungsaufbau von Weimar radikal in Frage stellten. Diese Bedingung wurde von den Nationalsozialisten erfüllt. Schwierigkeiten ergaben sich jedoch aus der Unbestimmtheit der wirtschaftspolitischen Vorstellungen der NSDAP im allgemeinen und ihrer Haltung zum Korporativismus im besonderen. II. Die tatsächliche Bedeutung ständischer Parolen in der Politik der Nationalsozialisten war für die Unternehmer nur schwer erkennbar43. Das Parteiprogramm vom 24. Februar 1920 forderte in Punkt 25 die „Bildung von Stände- und Berufskammern zur Durchführung der vom Reich erlassenen Rahmengesetze in den einzelnen Bundesstaaten"44. Hitler erwähnte Ständekammern in „Mein Kampf" im Zusammenhang mit der „Gewerkschaftsfrage": „Den Wirtschaftskammern selbst wird die Verpflichtung zur Inbetriebhaltung der nationalen Wirtschaft und zur Beseitigung von diesen schädigenden Mängeln und Fehlern obliegen. Was heute durch die Kämpfe von Millionen ausgefochten wird, muß dereinst in Ständekammern und im zentralen Wirtschaftsparlament seine Erledigung finden."45 Feder rühmte die „unübertreffliche Meisterschaft", mit der Othmar Spann „die soziologischen Grundlagen des heutigen individualistisch gebauten Staates im Gegensatz zu dem Hochziel der universalistischen Ordnung der Gesellschaft wissenschaftlich begründet" hat46. Eine Präzisierung von Funktion und Zusammensetzung der Stände im nationalsozialistischen Staat findet sich weder bei Hitler noch bei Feder. Auch Rosenberg erwähnte nur „dem organischen Leben entwachsene Ständekammern", die neben Volksvertretungen als Berater, „keineswegs als Beherrscher" der Zentralgewalt dienen sollten47. Gerade der vage und widersprüchliche Charakter der frühen parteioffiziellen Äußerungen zum Ständeproblem gab den nationalsozialistischen Interpreten des zweiten und dritten Gliedes einen weiten Spielraum für die gedankliche Ausfüllung. Hans Buchner, dessen Ausführungen als offiziös gelten können, grenzte sich im Jahre 1930 eindeutig vom Universalismus Spanns ab. Die Stände werden als „artgleiche Verrichtungsgruppen" bezeichnet, aus deren Stufenbau sich der Organismus der Volkswirtschaftsgesamtheit bildet. Ihre Aufgabe besteht in der „Schaffung, Ordnung und Absetzung aller lebensnotwendigen Kräfte und Energien im Dienste der raumwirtschaftlich organisierten, national-politisch umgrenzten Volksgemeinschaft". Auf keinen Fall dürfen sie die „politische Suprematie" gefährden; sie werden deshalb „in ein Organisationsnetz sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Arbeitsleistung unter der obrigkeitlichen Suprematie einer Regierung gespannt, welche die oberste Gerechtsame innehat und unbedingte Unterordnung unter die Interessen der Volksgemeinschaft fordert"48. In eine ähnliche Richtung zielt Frauendorfer, der nach der Machtergreifung mit der Leitung des Amtes für ständischen Aufbau in der Reichsleitung der NSDAP beauftragt wurde: Die Stände haben bei ihm ebenso wie bei Buchner die primäre Aufgabe, den Klassenkampf durch organisatorische Zusammenfassung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu überwinden, aber sie konstituieren keinen Stände185 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Staat. Mehr als ein Beratungs- und Antragsrecht steht den ständischen Kammern nicht zu, denn es muß dem Staat „möglich sein, auch den größten wirtschaftlichen Veränderungen durch rein organisatorische Maßnahmen gerecht zu werden"49. Soweit die Vorschläge Buchners und Frauendorfers organisatorische Details enthielten, blieben auch sie unverbindliche Ausarbeitungen ihrer Verfasser. Mit der Betonung des Primats der Politik und der Ablehnung einer staatsunabhängigen Wirtschaft50 gaben sie jedoch einer Forderung Ausdruck, die der späteren Praxis des Nationalsozialismus entsprach. Sie war mit dem Spannschen Universalismus unvereinbar und bedeutete darüber hinaus nicht nur eine Distanzierung von Feder, sondern auch von dem linken Flügel der NSDAP, der in starkem Maß korporativen Ideen verhaftet war51. Der letzteren Richtung war auch Otto Wilhelm Wagener, seit 1931 Leiter der Wirtschaftspolitischen Abteilung in der Reichsorganisationsleitung der NSDAP, zuzurechnen52. Seine Vorstellungen von ständischer Reform verdienen besondere Beachtung, weil sie für das Verhältnis von Wirtschaft und Nationalsozialismus nicht ohne Wirkung geblieben sind. Wagener entwarf ein Modell, das zwar ebenfalls den Vorrang der Politik vor der Wirtschaft gewährleistete, die Abgrenzung und Angleichung der gegenseitigen Interessen aber den „Führern der Wirtschaft und den Berufsständen weitestmöglich selbst überlassen" wollte. Nur da, wo die „gegenseitige Befriedigung nicht erreicht wird, oder wo lebenswichtige Interessen des Staates und des Volkes berührt werden, wird der Staat schlichtend oder gesetzgeberisch eingreifen". Der organisatorische Niederschlag dieser nationalsozialistischen Version des Subsidiaritätsprinzips sah folgendermaßen aus: Die „kooperative Wirtschaft" wird schon im einzelnen Betrieb praktiziert. Betriebsräte sichern die „Gemeinschaftsarbeit"; sie wirken vermittelnd bei der Regelung der gesamten Arbeitsbedingungen, der Lohn-, Gehalts- und Urlaubsfragen mit. Streik wird unter Strafe gestellt. Bei Tarifkonflikten und individuellen Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern entscheidet ein vom Staat ernannter Schlichter. Den Berufsverbänden der Unternehmer, Angestellten und Arbeiter fällt die Aufgabe zu, innerhalb ihres Bereiches die Grundzüge der Arbeitsbedingungen, Löhne und Gehälter gemeinsam festzusetzen. In den bezirklichen Wirtschaftskammern, die durch Ausbau der bereits bestehenden Industrie- und Handelskammern, Landwirtschaftskammern sowie Handwerks- und Gewerbekammern gebildet werden, sind auch die Arbeitnehmer vertreten - in welcher Quantität, bleibt offen. Die Kammern sind zuständig für alle Fragen, die die Bedingungen der Produktion und des Absatzes sowie das Verhältnis zu anderen Wirtschaftsbezirken und zum Staat betreffen. Der Präsident der Wirtschaftskammer wird vom nationalsozialistischen Staat ernannt und kann nur von ihm abgesetzt werden. Abstimmungen finden nicht statt: „Die Kammer berät, der Präsident beschließt." Zusammengefaßt werden die Wirtschaftskammern im Reichswirtschaftsrat - einem Organ des Reichswirtschaftsministeriums mit rein beratenden Funktionen. Daneben gibt es als „oberste Vertretung des schaffenden Volkes" ein Wirtschaftsparlament, das sich zum einen Teil aus Vertretern der Stände und Berufsverbände, zum anderen aus Vertretern der Wirtschaftskammern und des Reichswirtschaftsrates zusammensetzt. Abstimmungen finden auch hier nicht statt: „Beschlüsse faßt einzig und allein 186 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der verantwortliche Beauftragte des nationalsozialistischen Staates." Über dem Wirtschaftsparlament und dem - ebenfalls vorgesehenen - politischen Parlament steht als „oberster Wächter der res publica" ein Senat, „die höchste Institution des Volkes, die Vereinigung derjenigen Männer, die die letzte Verantwortung sowohl dem Staat und dem Oberhaupt des Staates gegenüber, sowie umgekehrt für den Staat dem Volk gegenüber tragen"53. Die Auseinandersetzungen um Wageners Vorschläge werden nur verständlich auf dem Hintergrund des allgemeinen Verhältnisses zwischen den einzelnen Wirtschaftsverbänden und dem Nationalsozialismus. Generell läßt sich sagen, daß das antikapitalistische Syndrom der nationalsozialistischen Ideologie beim größten Teil der Unternehmerschaft zunächst Abwehrreflexe hervorrief. Sie verloren freilich in demselben Maße an praktischer Bedeutung wie der „Antikapitalismus" der NSDAP selbst. Für einige der hier behandelten Interessengruppen waren aber nicht nur die vermeintlichen sozialistischen Elemente und die generelle wirtschaftliche Verschwommenheit der nationalsozialistischen Programmatik Gegenstand skeptischer Kommentare54, sondern ebenso die berufsständischen Ideen dieser Bewegung. Seit von einer dezidiert antikapitalistischen Politik zumindest der Führung der NSDAP nicht mehr die Rede sein konnte, bildete der Korporativismus eines der Hauptthemen in den Auseinandersetzungen zwischen Unternehmerverbänden und Nationalsozialisten. Für diejenigen Gruppen, die von ihrer Interessenlage her einer ständischen Wirtschaftsordnung keine Vorzüge abgewinnen konnten, waren die korporativen Elemente im Programm der NSDAP der eigentliche Anlaß zur kritischen Erörterung dieses Problems. Mißtrauen gegenüber angeblich nur verhüllten marxistischen Tendenzen bei Völkischen und Nationalsozialisten charakterisiert auch die Haltung des Handwerks vor der Weltwirtschaftskrise55. Meusch rechnete noch 1931 die Nationalsozialisten nicht zu den bürgerlichen Parteien, zog sie aber bereits als mögliche Vertreter handwerklicher Interessen in Betracht. Wohl sei „der universalistische, berufsständische Gedanke des Nationalsozialismus . . . stark mit politischen Momenten belastet"; es sei jedoch festzustellen, „daß mit der Ausbreitung des Nationalsozialismus ein starker Einbruch in das individualistische Zeitdenken, vornehmlich in den Bereich des Liberalismus, erfolgt ist. Im Gebiet der politischen Willensbildung ist den individualistischen Gruppen ein universalistischer Gegner erwachsen"56. Daß es bereits zu Beginn des Jahres 1931 zu Verhandlungen zwischen Vertretern der handwerklichen Spitzenverbände und dem Wirtschaftsreferenten der NSDAP, Wagener, kam, ist kaum erstaunlich. Der Ausgang dieser Unterredung scheint freilich für die Sprecher des Handwerks eher enttäuschend gewesen zu sein: Angesichts der heftigen internen Kritik an dem Münchener Gespräch meinte der Generalsekretär des Reichsverbandes des deutschen Handwerks, Hermann, das Gute daran sei gewesen, daß den Führern des Handwerks die Augen geöffnet worden seien über „die durch und durch staatssozialistischen Wirtschafts- und Finanzpläne der Nationalsozialisten"57. Mochte dies auch mehr eine taktische Absetzbewegung sein - die Bedenken der offiziellen Verbandsführung gegenüber der von den Nationalsozialisten verfochtenen „Suprematie der Politik" fanden auch weiterhin ihren publizistischen Niederschlag58. Die massenhafte Abwanderung der Handwerker zur NSDAP, gefördert durch die nationalistische 187 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Agitation der freien Handwerkerbünde, konnte dadurch freilich ebensowenig aufgehalten werden wie die sofortige totale Anpassung der Handwerkerverbände an die neuen Machthaber nach dem 30. Januar 1933. Übten die korporativen Tendenzen der NSDAP auf den gewerblichen Mittelstand eine gewisse Faszination aus59, so kann beim Gros der Industrie und des Handels davon keine Rede sein. Lammers gab einer weitverbreiteten Meinung Ausdruck, wenn er unter Hinweis auf „gewisse politische Bewegungen" davor warnte, ständische Ideen „mit einem Ruck - fast wie durch militärischen Befehl - in die volle Wirklichkeit" umzusetzen. Im Unterschied zu der von Spann und Heinrich initiierten und in sich problematischen „geistigen Bewegung" scheine der „Nationalsozialismus allerdings radikaler vorgehen zu wollen, indem er dasjenige weitgehend mißachtet, was andere schufen"60. Ähnlich begründete Hamm seine Kritik am Nationalsozialismus. Von der Staatsauffassung dieser Bewegung aus, ,,die im Grunde eben doch sich derjenigen des ,totalitären Staates' nähert", sei die wirtschaftliche Richter- und Schlichterfunktion des Staates gar nicht als Fehler anzusehen. Führerentscheide, auch wenn sie auf dem Rat von Sachverständigen beruhten, stellten aber kaum eine Regelung dar, die zur „Entlastung des Staates und zu einer Minderung der Bürokratie" führen würden. Überhaupt sei vor einer Überschätzung des Organisatorischen auf Kosten des Organischen zu warnen61. Wie stark die berufsständischen Ansätze in Programm und Propaganda der NSDAP führende Wirtschaftskreise beunruhigten, geht besonders deutlich aus den Reaktionen des Deutschen Industrie- und Handelstages hervor. Das Problem gewann im Jahre 1932 auch dadurch an Brisanz, daß den Nationalsozialisten einzelne Einbrüche in örtliche Industrie- und Handelskammern gelungen waren. Einer ihrer Exponenten, der Syndikus der Schwarzwälder Handelskammer in Villingen, Karl Jordan, hatte bereits im Januar für die „endgültige Auseinandersetzung mit dem Marxismus" plädiert und zu diesem Zweck die Abschaffung des parlamentarischen Systems gefordert. In der korporativen Ordnung, wie Jordan sie unter Berufung auf Spann skizzierte, sollte dann die Industrie in einen öffentlich-rechtlichen Rahmen gestellt werden. Das würde es ihr ermöglichen, „staatliches Subjekt zu werden und nicht nur ein Objekt des Staates zu sein, was auch der Kernpunkt der Sache ist . . ." 62 In einem Brief an Hamm vom 24. Juni 1932 wurde Jordan noch deutlicher: Das Unternehmertum habe sich von jeher alles aufzwingen lassen und seine staatspolitischen Aufgaben leider immer ganz und gar mißverstanden. „Erst der Nationalsozialismus gibt nun dem Unternehmertum als Teilganzem seine positive Bedeutung für den Staat."63 Um eine Übersicht über die nationalsozialistischen und sonstigen Bestrebungen in Richtung auf eine korporative Ordnung zu erhalten, setzte der Verfassungsausschuß des Deutschen Industrie- und Handelstages im Juni 1932 einen besonderen Arbeitsausschuß ein, der sich mit diesen Plänen und ihren möglicherweise schon bald zu erwartenden praktischen Auswirkungen auf die Handelskammerorganisation auseinandersetzen sollte64. Darüber hinaus versuchte man etwa durch Gespräche mit Wagener als Beauftragtem der Parteileitung, nähere Aufschlüsse über die ständischen Zielsetzungen der NSDAP zu erhalten65. Mit Erleichterung wurden im Spätsommer 1932 Anzeichen für eine zunehmende Zurückhaltung der Nationalsozialisten in der Stän188 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

defrage begrüßt. Die Haltung der NSDAP schien „unsicher" geworden66: Nachdem die Nationalsozialisten mit ihrem Wirtschaftsprogramm in der Wirtschaft „wenig Anklang" gefunden hatten, wollten sie offenbar „diese Kreise nicht weiter vergrämen" 67 . „Irgendeine ernsthafte Absicht", berufsständische Pläne weiter zu betreiben, sei, so versicherte der Bochumer Handelskammersyndikus und volksparteiliche Reichstagsabgeordnete Otto Hugo auf Grund „genauer Unterrichtung", innerhalb der NSDAP nicht vorhanden. „Mir hat einer der maßgebendsten Herren der nationalsozialistischen Partei persönlich gesagt, daß Herrn Dr. Wagener verboten worden sei, diese Frage der ständischen Verfassung noch weiter öffentlich zu behandeln. Durch eine übereifrige Behandlung der Frage von unserer Seite aus kann deshalb nur das öffentliche Interesse darauf gelenkt werden, der Lust der Gewerkschaften, uns wenigstens die paritätische Zusammensetzung aufzudrängen, eine neue Anregung zu geben."68 Tatsächlich neutralisierte Hitler im Interesse einer Entspannung des Verhältnisses von Großindustrie und Nationalsozialisten die Kontroverse um den Korporativismus dadurch, daß er am 17. September 1932 die Wirtschaftspolitische Abteilung der Reichsleitung der NSDAP in eine Hauptabteilung IV Α für Staatswirtschaft unter Gottfried Feder und eine Hauptabteilung IV Β für Privatwirtschaft unter Walther Funk aufgliederte69. Damit wurde ein Vertrauensmann großindustrieller Kreise dem ständefreundlichen Parteiideologen gleichgestellt und auch Wagener vorübergehend entmachtet70. Die letzte Entscheidung in Sachen ständische Ordnung blieb Hitler vorbehalten. Die kurze Renaissance korporativer Ideen nach der Machtergreifung und ihre formale Realisierung in „Reichsständen"71 ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß prinzipiell der mittelständische Korporativismus bereits im Jahre 1932 an dem massiven Gewicht industrieller Interessen und ihrer Bedeutung für die langfristigen außenpolitischen Ziele der nationalsozialistischen Führung gescheitert war. Mit der Neutralisierung der ständewirtschaftlichen Tendenzen im Nationalsozialismus war ein Faktor weitgehend ausgeschaltet, der bis dahin die Beziehungen zwischen den Verbänden der Großwirtschaft und der NSDAP belastet hatte. Damit ist nicht gesagt, daß die unterschiedlichen Haltungen der einzelnen Wirtschaftsgruppen zum Nationalsozialismus ihre Bedeutung verloren hätten: Es bleibt festzuhalten, daß die aktive finanzielle Unterstützung der NSDAP sich lange auf einige der führenden Kräfte der Schwerindustrie und Teile der mittelständischen Industrie beschränkte, während sich die exportorientierten Branchen der Chemie-, Elektro- und Verarbeitungsindustrie sowie der Ausfuhrhandel in besonderem Maß an der Respektabilität der jeweiligen deutschen Regierung interessiert zeigten und schon darum den Nationalsozialisten skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Vermutlich erst Ende 1932 beteiligten sich auch Teile der chemischen Industrie an der Finanzierung der NSDAP72. Die übergreifende Frage ist jedoch, ob es nicht jenseits der engeren Problematik der finanziellen Beziehungen zwischen Wirtschaftsverbänden und NSDAP generelle politische Dispositionen in der deutschen Unternehmerschaft gab, die das Scheitern des parlamentarischen Regierungssystems und den Übergang zur nationalsozialistischen Diktatur mitverursacht haben. 189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

III. Unsere bisherige Untersuchung über die gesellschaftlichen Grundlagen des Korporativismus hat zu dem Ergebnis geführt, daß nur das Handwerk, Teile der mittelständischen Industrie und einige Vertreter der Schwerindustrie an einer ständewirtschaftlichen Ordnung interessiert waren. Die Großunternehmer in Handel und Industrie opponierten in ihrer Mehrheit gegen jede Art von berufsständischer Wirtschaftsordnung, die ihnen Rücksichtnahmen auf weniger leistungsfähige Branchengenossen abverlangt hätten. Weder für den gewerblichen Mittelstand noch für die Großunternehmerschaft kam eine effektive, gar paritätische Mitwirkung der Arbeitnehmer bei produktionspolitischen Entscheidungen in Frage. Bestenfalls wurde eine Kooperation zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern für sinnvoll gehalten, um letztere zu „überzeugen und (zu) belehren"73. Für die meisten Großunternehmer waren korporative Ideen nur insoweit von Interesse, als sie sich zur Neutralisierung des politischen Parlamentes gebrauchen ließen. Die Einführung eines neuen, die Wirtschaftskreise wirksamer repräsentierenden Gesetzgebungsorgans war eine gemeinsame Forderung der mittelständisch-ständewirtschaftlichen und der großindustriell-technokratischen Variante des Korporativismus. Sie wurde im Verlauf der wirtschaftlichen Depression um so drängender vorgetragen, je kleiner der Spielraum wurde, den die Unternehmer gegenüber den Forderungen von Arbeitnehmern und Konsumenten noch zu haben meinten. Handwerk, Handel und Industrie waren sich darin einig, daß besonders in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen eine Reduzierung der Rechte der demokratisch legitimierten Volksvertretung notwendig sei. Diesem Ziel diente die Forderung nach einer neuen Zweiten (oder Ersten) Kammer mit starker Repräsentanz der Unternehmer. Gerechtfertigt wurde dieser Anspruch mit der Ideologie der Sachlichkeit: Im Unterschied zu den Parteien verkörperten die Unternehmerverbände, wie sie sich sahen, nicht beliebige subjektive Interessen, sondern einen am nationalen Wohl orientierten Sachverstand. Sie traten auf als Hüter der Objektivität vermeintlicher ökonomischer Sachzwänge, als Streiter wider den Egoismus lohnabhängiger Massen und ihrer politischen Exponenten, als Kämpfer für die eine und unteilbare wirtschaftliche Vernunft. Soweit Verständigung mit den Organisationen der Arbeitnehmer auf dem engeren Bereich der Tarifpolitik erforderlich war, sollte allenfalls eine „Arbeitsgemeinschaft der Führer" eingerichtet werden. Daneben gab es die vor allem von Kreisen der Schwerindustrie propagierte Ideologie der „Werksgemeinschaft": Von den Unternehmern abhängige wirtschaftsfriedliche Werksvereine sollten zu Tarifpartnern auf betrieblicher Ebene aufgewertet werden und damit die Allgemeinverbindlichkeit der mit den Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträge - eine der wichtigsten sozialen Errungenschaften der Novemberrevolution - unterlaufen74. Die Forderung nach einer Trennung von Wirtschaft und Politik, wie sie die Manifestationen der Unternehmerverbände durchzieht, beruhte auf einem vordemokratischen Verständnis von Staat und Gesellschaft. „Politik" wurde vielfach als bloßes Synonym für Unsachlichkeit verstanden, die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen oft nur als Störung der natürlichen Ordnung empfunden. In pointierter Form 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

verlieh 1924 der Schwerindustrielle Albert Vögler solchen Ansichten Ausdruck: „Der überparteiliche Staat gehört der Vergangenheit an. Hoffen wir, daß es uns gelingt, ihn für die Zukunft wiederzugewinnen."75 Es ging erheblichen Teilen der Unternehmerschaft in der Tat um die Wiederherstellung eines starken, die privatkapitalistische Wirtschaftsform garantierenden und die gesellschaftlichen Gegensätze domestizierenden Staates - eines Staates, der ähnlich wie das deutsche Kaiserreich vor 1914 seine vollziehende Gewalt soweit wie möglich parlamentarischen Einflußnahmen entziehen konnte. Einem solchen Staat hätten dann die Wirtschaftskreise den Vorwurf mangelnder „Neutralität" nicht mehr zu machen gehabt76. Die Neutralität des Staates war freilich nicht im Sinne einer Unentschiedenheit zwischen kapitalistischen und sozialistischen Bestrebungen gemeint. Vielmehr sollte die private Aneignung der Produktionsmittel vom Staat als zum „nichtkontroversen Sektor"77 des politischen Lebens gehörig sanktioniert werden: Die Neutralität des Staates setzte die Neutralisierung der gesellschaftlichen Konflikte voraus. Praktisch hieß das: prinzipielle Nichteinmischung des Staates in die Aktivitäten der Unternehmer und Einsatz seiner Machtmittel, wenn die Grundlagen der gegebenen Gesellschaftsordnung bedroht schienen. Präventiv sollte die gesellschaftliche Integration nach Meinung vor allem der Schwerindustrie durch nationalistische Indoktrination vermittelt werden78. Die praktischen Konsequenzen, die aus dem tradierten Selbstverständnis der Unternehmer für die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Präsidialkabinetten erwuchsen, können hier nur insoweit berührt werden, als sie auch für das Verständnis des Korporativismusproblems erheblich sind. Grundsätzlich entsprach die tendenzielle Verselbständigung der Exekutivgewalt, wie sie mit dem ersten Kabinett Brüning sich deutlicher denn je abzeichnete, den Intentionen der Arbeitgeber. Die wachsende Unabhängigkeit der Regierung von den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen und die Verschiebung der gouvernementalen Legitimationsbasis von der repräsentativen auf die plebiszitäre Komponente der Weimarer Verfassung79 kamen Forderungen aus Wirtschaftskreisen insofern entgegen, als man dort - namentlich in der konkreten geschichtlichen Situation nach 1925 - die konservativen Effekte dieser Konstruktion durchaus begriff und bejahte. Das bedeutete jedoch nicht, daß das Problem des Immediatzugangs zur staatlichen Macht in einer den Unternehmerinteressen entsprechenden Weise optimal gelöst war. Das Experiment des „Wirtschaftsbeirats" der Reichsregierung, der im Oktober 1931 vom Reichspräsidenten ernannt wurde80, verlief für weite Wirtschaftskreise enttäuschend: Bürokratische und interessenpolitische Konzeptionen von „Sachlichkeit" erwiesen sich als nicht notwendigerweise identisch. Gleichwohl fand der Ruf nach einer „nationalen", den Unternehmerinteressen gegenüber aufgeschlosseneren Regierung nicht den ungeteilten Beifall der Wirtschaft. Großhandel und Exportindustrie hielten - bei aller Kritik an Einzelheiten der Notverordnungsmaßnahmen - an der Politik der Regierung Brüning bis zu ihrem Ende fest81. Die Regierung Papen, vom Deutschen Industrie- und Handelstag zunächst mit Skepsis82, von den Spitzenvertretungen des Handwerks als erstes Weimarer Kabinett äußerst positiv aufgenommen83, wurde für die überwiegende Mehrheit der Unternehmerschaft bald zum populärsten Kabinett der Weimarer Republik. Das lag nicht 191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

nur an dem betont privatwirtschaftlich orientierten Kurs dieser von Parlament und Volk isolierten Präsidialregierung, sondern gerade auch an seinem antiparlamentarisch-autoritären Charakter. Die Tätigkeit dieses Kabinetts, so ließ etwa am 22. August 1932 der Arbeitgeberverband Paderborn und Umgebung Papen wissen, „genießt in Wirtschaftskreisen allgemein das größte Ansehen und erfährt überall Unterstützung und Anerkennung. Es ist allgemeiner Wunsch, daß die Arbeiten der Reichsregierung durch die Parteien nicht gestört und durch parteimäßig eingestellte Kabinette nicht unterbrochen werden"84. Und der Berliner Handelskammersyndikus Demuth meinte, die jetzige Regierung „als ein letzter und starker Versuch der Rettung des autoritären Staatsgedankens" werde kaum die vorhandenen Autoritäten, zu denen das freie Unternehmertum gehöre, zugunsten eines „undurchsichtigen berufsständischen Staates" beseitigen wollen85. Selbst der liberale „Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie" bejahte nicht nur den unternehmerfreundlichen Wirtschaftskurs Papens86, sondern auch die antiparlamentarische Ausrichtung seiner Regierung. Da eine „positiv aufbauende Mehrheit" im Reichstag nicht vorhanden sei, so sagte öffentlich der Verbandspräsident und langjährige demokratische Reichstagsabgeordnete Hermann Fischer, liege es im „wohlverstandenen Sinn der Verfassung, daß eine autoritäre Regierung die Macht rücksichtslos anwende"87. Der Direktor des Hansa-Bundes, Ernst Mosich, nannte in einem „streng vertraulichen" Bericht an die Mitglieder des Präsidiums die Papen-Regierung „das entscheidende Bollwerk gegen die Alleinherrschaft der NSDAP". Angesichts der „vielen Brücken zwischen dem Unternehmerlager und der NSDAP", die in letzter Zeit geschlagen worden seien, müsse vor der Unterschätzung des „Sozialistischen" dieser Partei zugunsten ihres Nationalismus gewarnt werden. „Man richtet sich sehr stark in vielen Teilen des Unternehmerlagers auf eine Zusammenarbeit mit der NSDAP ein, und wenn man die Propaganda ,Berufsstandspolitik', ,Ständestaat' und dergleichen und gegen die ,Gewerbefreiheit' innerhalb des Unternehmertums, getragen von allzu vielen Verbandsgeschäftsführern, beachtet, so sind deutlich die Verbindungen zwischen dem erwerbstätigen, selbständigen Bürgertum und den ,kollektivistischen Zeitströmungen' erkennbar."88 Die primär antinationalsozialistische Rechtfertigung der Regierung Papen war zu jener Zeit ebenso bereits eine „liberale" Minderheitsmeinung wie die für den HansaBund charakteristische Wendung gegen jede Spielart des Korporativismus. Wohl waren weite Kreise der Wirtschaft darüber beruhigt, daß das Kabinett Papen keine berufsständische Gliederung der Gesellschaft im Sinne der Mittelstandsideologen anstrebte89; die Pläne zur Entmachtung des Reichstages und zur Errichtung eines Oberhauses stießen aber nicht nur nicht auf Widerspruch in den Wirtschaftskreisen, sondern fanden ein zustimmendes Echo90. Im Sinne der Bemühungen des „Erneuerungsbundes" sah man jetzt die Zeit für die Schaffung einer solchen Institution gekommen: Ein vom Reichspräsidenten berufenes Oberhaus als „Kraft des Ausgleichs und der Ergänzung gegenüber dem politischen Parlament", das im Falle des Versagens der Volksvertretung diese auch ersetzen könne91, schien führenden Unternehmern das politische Gewicht der Arbeitnehmerschaft auf ein erträgliches Maß zu re192 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

duzieren. Die einzige Bedingung war, daß den Arbeitgebern „möglichst viel Vertreter" in der neuen Kammer zugestanden wurden92. Mit dem Sturz Papens schwanden auch die Aussichten, die Unternehmerinteressen unter den Vorzeichen einer konservativ-autoritären Diktatur abzusichern. Sein Nachfolger Schleicher wurde von der überwältigenden Mehrheit der Unternehmer nicht nur deshalb bekämpft, weil er die Arbeitsbeschaffung durch die öffentliche Hand in den Mittelpunkt seines Wirtschaftsprogramms rückte93, sondern auch weil man in seinen Kontakten zu den Gewerkschaften Ansätze zu einer Reparlamentarisierung des Regierungssystems sah. Mosich sprach von „Zugeständnissen an Forderungen aus dem Gebiet der parteipolitischen Propaganda" und bemängelte den wachsenden „Einfluß gewerkschaftlicher, planwirtschaftlicher und sozialistischer Kreise"94. Das Festhalten am „Kurs von Münster" - Papens unternehmerfreundlichem Wirtschaftsprogramm - war die Forderung des Tages95. Auch im Hinblick auf die Pläne zu einer Verfassungsreform fürchteten Wirtschaftskreise nun einen drohenden Machtzuwachs der Gewerkschaften, der mit Hilfe der Reichswehr staatlich sanktioniert werden könne96. Die massive Wirtschaftskampagne gegen die „Linksschwenkung" Schleichers drängt den Eindruck auf, daß um die Jahreswende 1932/33 weite Kreise der deutschen Unternehmerschaft bereit waren, jede Alternative zu diesem Kurs hinzunehmen, sofern sie nur ihren Interessen personell und sachlich Rechnung trug97. Da Papen weiterhin das Vertrauen der Mehrzahl der Unternehmer besaß, konnte seine Rolle bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch diese Lösung relativ akzeptabel erscheinen lassen98. Die Bereitschaft vieler Unternehmer, auf die nationalsozialistische Karte zu setzen, war die letzte Konsequenz einer Interessenpolitik, die sich nicht von der Vorstellungswelt des Obrigkeitsstaates hatte lösen können. Die Anlehnung an die Machtmittel einer feudal-bürokratischen Führungsschicht - für das deutsche Bürgertum bis zur Revolution von 1918 eine Art gesellschaftlicher Rückversicherung gegen die Emanzipationsbestrebungen der Industriearbeiterschaft - bewirkte eine Mentalität, die das Kaiserreich überlebte99. Niemals hatte das deutsche Bürgertum in einer erfolgreichen revolutionären Auseinandersetzung mit den traditionellen Führungsgruppen ein gesamtbürgerliches Bewußtsein entwickelt; niemals hatten seine eigenen Führungsschichten gelernt, um parlamentarische Mehrheiten zu kämpfen. Eine solche Notwendigkeit hätte vermutlich zu politischen Kompromissen mit den Mittelschichten und zur vorwiegend parlamentarischen Auseinandersetzung mit der Arbeiterschaft geführt. Dieser Erfahrung ungewohnt, ließ sich das deutsche Bürgertum durch autoritäre Wunschbilder daran hindern, soziale Konflikte als solche zu erkennen und auszutragen100. Auf eine nationalsozialistische Diktatur arbeiteten - durch finanzielle Unterstützung der NSDAP und Einflußnahme auf den Reichspräsidenten - vor dem 30. Januar 1933 gewiß nur einzelne Gruppen der Unternehmerschaft hin. Aber die von den meisten Spitzenverbänden der industriellen und gewerblichen Wirtschaft getragenen Pläne zur Entmachtung des demokratisch gewählten Parlaments liefen in praxi auf ein System mit unverkennbar autoritären Zügen hinaus101. In dieser Richtung wirkten in 193

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Deutschland Kräfte, die über die engere Anhängerschaft der Nationalsozialisten weit hinausreichten. Es gab sie nicht nur im Unternehmerlager, sondern auch im Großgrundbesitz und in der Bürokratie, in den bürgerlichen Parteien und in den Bildungsschichten. Ob sie sich darüber im klaren waren, daß die konsequente Loslösung der Exekutive von demokratisch-parlamentarischen Kontrollinstanzen und die Entmachtung der Arbeitnehmerorganisationen nur mit terroristischen Mitteln zu erreichen war oder nicht - objektiv haben diese Kräfte daran mitgewirkt, die Voraussetzungen für die Machtergreifung der Nationalsozialisten zu schaffen. Eben darin und nicht in der simplen Beauftragung Hitlers als eines Agenten des Großkapitals liegt auch der entscheidende Beitrag deutscher Unternehmer zur Zerstörung der Weimarer Republik102. Ständisch-autoritäre Bestrebungen beschränkten sich in den 20er und 30er Jahren nicht auf Deutschland103. In Italien und Österreich etwa, in Spanien und Portugal waren sie nicht weniger stark ausgeprägt und fanden dort ein höheres Maß an praktischer Verwirklichung als im nationalsozialistischen Reich. Sie entwickelten sich ebenso wie die faschistischen Massenbewegungen nicht zufällig besonders intensiv und erfolgreich in Gesellschaften, in denen das Bürgertum entweder nicht zur vollen sozialökonomischen Entfaltung gekommen war oder seine politische Emanzipation erst verspätet erreicht hatte - in Gesellschaften also, in denen demokratische Traditionen sich nicht dauerhaft hatten herausbilden können. Ihr generelles Problem blieb, daß aus der Sphäre des zwangsintegrierten Berufsstandes kein Weg in die Sphäre der allgemeinen Politik führte, die politische Macht sich demnach nicht korporativ legitimieren und Ständeparlamenten keine politische Entscheidungsbefugnis zukommen kann104. Mit den großindustriellen Bestrebungen, die sich korporativer Ideen nur als Mittel zur Schwächung des Parlaments bedienten, hatten die mittelständischen Berufsstandsideologien einige Merkmale gemeinsam. Beide Tendenzen richteten sich gegen die Interessen von Arbeitnehmern und Verbrauchern; beide waren nur durch die Preisgabe oder den Abbau demokratischer Einrichtungen zu verwirklichen; beide gerieten durch ihre Opposition zur parlamentarischen Repräsentativverfassung immer stärker in das Einzugsfeld faschistischer Bewegungen. So wurden schließlich beide zu Verbündeten jener eindeutig pronationalsozialistischen Kräfte, die die Normen und Institutionen des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates durch die Diktatur eines charismatisch legitimierten Führers abzulösen strebten, weil sie nur in einem solchen System die auf dem Privateigentum beruhende Gesellschaftsordnung vor dem Untergang bewahren zu können meinten105.

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12. U n t e r n e h m e r u n d W i r t s c h a f t s d e m o k r a t i e in d e r W e i m a r e r R e p u b l i k

I. Drei Gründe sprechen dafür, die Auseinandersetzungen um eine Demokratisierung der Wirtschaft während der Weimarer Republik in die Erörterung der gegenwärtigen Chancen und Probleme einer Wirtschaftsdemokratie einzubeziehen. Einmal gibt es eine bemerkenswerte Kontinuität in der Argumentation vor allem der Gegner einer Veränderung der bestehenden Eigentums- und Unternehmensverhältnisse. Zum anderen ist die Frage nach der Legitimation gesellschaftlicher Macht in der Weimarer Republik radikaler und umfassender gestellt worden als heute, so daß gerade die politologische Analyse auf die historische Dimension des Problems „Wirtschaftsdemokratie" verwiesen wird. Und schließlich bietet die Endphase der Weimarer Republik in mehr als einer Beziehung die Probe aufs Exempel: Die Auflösung der politischen Demokratie und das Scheitern der Pläne zur Demokratisierung der Wirtschaft müssen im Zusammenhang gesehen werden. Von einer ernsthaften Auseinandersetzung der Unternehmer mit der gewerkschaftlichen Konzeption einer Wirtschaftsdemokratie kann erst seit 1928 gesprochen werden. Wohl stand bereits auf dem Breslauer Kongreß des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes im Jahre 1925 die Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft im Mittelpunkt der Debatte1, aber in Teilen des Unternehmerlagers nahm man das offensichtlich für eine verbalradikale Eskapade. Ein Kommentar der „Deutschen Wirtschaftszeitung", des Organs des Deutschen Industrie- und Handelstages, fand in den konkreten gewerkschaftlichen Postulaten wenig mehr als das, ,, was in der bekannten Forderung vom 4. Februar 1890 durch Wilhelm II. schon den Arbeitern in Aussicht gestellt wurde", und beruhigte sich im übrigen mit der Feststellung, daß „in jeder Hinsicht der Gewerkschaftskongreß auf dem Boden gesetzmäßiger Entwicklung geblieben ist und keine Spur von irgendwelchen Sympathien mit Moskauer Methoden verriet, um ganz zu schweigen von etwaigen Empfehlungen, solche Methoden nachzuahmen"2. „Der Arbeitgeber", das Sprachrohr der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, fertigte die Entschließung des Breslauer Kongresses zur „Wirtschaftsdemokratie" mit einem - den Inhalt der Resolution referierenden - Satz ab, kam aber doch insgesamt zu dem Schluß, daß die Freien Gewerkschaften nicht länger eine wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiterschaft im berufsständischen Sinne seien, sondern im wesentlichen eine parteipolitisch eingestellte Kampforganisation, die „im Interesse der Klassenkampfidee ausschließlich das Trennende in den bewußt verschärften und entstellten Vordergrund" rücke und mit allen Mitteln den Arbeitnehmer dem Betrieb und der Wirtschaft noch mehr „entfremde"3. 195 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

In der Tat war das Programm der Wirtschaftsdemokratie ein wesentlicher Schritt hinaus über die Konzeption der „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände Deutschlands", den Stinnes-Legien-Pakt vom November 1918, der zwar eine Reihe von bedeutsamen sozialen Errungenschaften der Arbeiter kodifizierte, gleichzeitig jedoch den Verzicht auf eine Änderung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse bedeutete und letztlich die gemeinsame Furcht der etablierten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen vor der Rätebewegung widerspiegelte4. Das faktische Ende der Zentralarbeitsgemeinschaft im Jahre 1924, eine Folge sowohl der effizienteren Garantie der Unternehmerinteressen durch die nach rechts gerückte Exekutivgewalt wie innergewerkschaftlicher Opposition, machte es für die Freien Gewerkschaften notwendig, ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen neu zu formulieren. Erst das detaillierte Konzept der Idee der „Wirtschaftsdemokratie" jedoch, das Fritz Naphtali auf dem Hamburger Kongreß des ADGB 1928 vorlegte und in einer Broschüre unter demselben Titel ausführlich begründete5, vermochte die Unternehmer zur Diskussion über die gewerkschaftlichen Forderungen zu bewegen. Mit der wirtschaftsdemokratischen Konzeption Napthalis und seiner Mitarbeiter war die gesellschaftliche Machtfrage unüberhörbar gestellt: Die Freien Gewerkschaften gaben die Sozialpolitik der kleinen Schritte nicht auf, aber sie suchten sie in eine Strategie der qualitativen Veränderung der Sozialstruktur einzuordnen. Ausgehend von den immanenten Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Wirtschaft - Monopolisierung, Kartellierung, Vertrustung - und dem wachsenden wirtschaftlichen Einfluß der öffentlichen Hand, kamen die Gewerkschaftstheoretiker zu dem Ergebnis, daß das System des freien Wettbewerbs mehr und mehr zur bloßen Ideologie erstarrt und in Wirklichkeit längst durch den „Organisierten Kapitalismus" abgelöst worden war6. Wenn aber die Selbstregulierung des Marktes immer fiktivere Formen annahm, gewann die Frage nach der Kontrolle wirtschaftlicher Macht drängendere Aktualität als je zuvor. Die Gesellschaft selbst mußte die Wirtschaft in die Pflicht nehmen: Der Sozialismus bot sich als einzige Möglichkeit einer Aufhebung des Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis des bestehenden Systems an. Nicht als Alternative zum sozialistischen Endziel also, sondern als seine schrittweise Verwirklichung war die Demokratisierung der Wirtschaft konzipiert worden. Die Forderung nach der institutionalisierten Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft - namentlich in den marktbeherrschenden, Produktion, Preis und Absatz regulierenden Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft - hatte insoweit instrumentalen Charakter: Dem ADGB stellte sich „die Demokratisierung der Wirtschaft als ein Prozeß der Umwandlung des Wirtschaftssystems vom Kapitalismus zum Sozialismus" dar7. Indem Naphtali Konsumgenossenschaften und gewerkschaftliche Eigenbetriebe, die Demokratisierung des Arbeitsverhältnisses vom Sachenrecht über das Schuldrecht bis zum Arbeitsrecht und alle übrigen sozialen Errungenschaften der Arbeitnehmer funktional mit seiner Strategie systemüberwindender Reformen verknüpfte, leistete er den wichtigsten zeitgenössischen Beitrag zur Überbrückung der traditionellen Kluft zwischen revolutionärer Theorie und reformistischer Praxis in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Deutschlands8. 196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Gleichwohl ist zu fragen, ob nicht ein Kritiker der Rechten einen zentralen Punkt im Entwurf Naphtalis traf, wenn er ihm die These entgegenstellte: „Zwischen einer Unternehmerschaft, die, von der Inflation begünstigt und von dem Grundgedanken des liberalparlamentarischen Staates auch ideell gerechtfertigt, fast bedingungslos alle Freiheit wieder erobert hat, und einer jeglicher wirtschaftlichen Machtkonzentration ohne bestimmte Grenzen preisgegebenen Staatsführung bleibt die ,Wirtschaftsdemokratie' eine hoffnungslose Illusion."9 Ähnlich wie bei Bernstein, der freilich im Unterschied zu Naphtali das Endziel der sozialistischen Bewegung in die Sphäre des Unbestimmbaren rückte, bleibt auch bei den Theoretikern der Wirtschaftsdemokratie die Frage nach den Bedingungen und Grenzen der evolutionären Veränderung offen. So positiv sich die Betonung der politischen Demokratie als Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlicher Emanzipation vom abstrakt-revolutionären Dogmatismus des stalinisierten Parteikommunismus und vom revolutionären Voluntarismus marginaler Gruppen der Weimarer Zeit wie der Gegenwart unterscheidet - der Realitätsgehalt der politischen Demokratie selbst wurde Naphtali nicht zum Problem. Es bedarf nicht einmal des nachträglichen Blickes auf die tatsächliche Entwicklung in den viereinhalb Jahren zwischen dem Hamburger Gewerkschaftskongreß und der nationalsozialistischen Machtergreifung, um das Faktum zu registrieren, daß der Konzeption der „Wirtschaftsdemokratie" ein wesentliches Moment fehlte: die Diskussion jener Mittel, die es einzusetzen galt, wenn die fraglos akzeptierte Voraussetzung aller gewerkschaftlichen Aktionen - die politische Demokratie - bedroht war und eben dadurch ein gesellschaftlicher Umwandlungsprozeß im Sinne der Arbeitnehmerinteressen unmöglich wurde. Konkret hätte dies unter anderem eine Wiederaufnahme der Massenstreikdebatte des Jahrhundertanfangs bedeuten müssen10. Daß die gesellschaftlichen Grundlagen der politischen Demokratie von Weimar labil waren, ist keine historische Erkenntnis ex post. Die unmittelbaren sozialen Kontrahenten der Gewerkschaften etwa, die Unternehmer, bezogen dem neuen Staat gegenüber in den ersten Jahren der Republik eine „geschlossen ablehnende Haltung"11; und es spricht vieles dafür, daß Silverbergs Verdikt von 1926, das deutsche Unternehmertum stehe „restlos auf staatsbejahendem Standpunkt"12, auch in der Stabilisierungszeit zwischen 1924 und 1929 eine euphemistische Übertreibung bildete13. Einer vor allem für die Schwerindustrie typischen Gegenansicht verlieh auf einer gemeinsamen Tagung des Reichsverbandes der deutschen Industrie und der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände 1924 Albert Vogler Ausdruck: „Der überparteiliche Staat gehört der Vergangenheit an. Hoffen wir, daß es uns gelingt, ihn für die Zukunft wiederzugewinnen."14 Die Neutralität gegenüber dem republikanischen Staat, als die man die offizielle Haltung der Unternehmerverbände in der Zeit zwischen 1924 und 1929 ansprechen kann, verdeckte die fortdauernden Aversionen nur mühsam. Die Reaktionen der Unternehmer auf die gewerkschaftliche Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft sind nicht von dem jeweiligen allgemein-politischen Hintergrund zu lösen. Anders als 1925 waren zur Zeit des Hamburger Gewerkschaftskongresses die Sozialdemokraten an der Reichsregierung beteiligt. Sie stellten den Kanzler der Großen Koalition - und schon dieser Umstand genügte, um gewerk197 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

schaftlichen Kundgebungen gesteigerte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Die Chance, daß Forderungen der Arbeitnehmer bei der Exekutive Gehör finden würden, schien jetzt auf jeden Fall größer als unter den Vorzeichen einer bürgerlichen Rechtskoalition. So fand denn das wirtschaftsdemokratische Programm des ADGB von 1928 eine ungewöhnlich breite Resonanz bei den Unternehmern-eine Resonanz, die den sozialen und politischen Konflikten in der Endphase der Weimarer Republik ebenso präludiert wie den Mitbestimmungsdebatten der Gegenwart15.

II. Der gemeinsame Nenner, auf den die Reaktionen der Unternehmer gebracht werden können, heißt Ablehnung der Wirtschaftsdemokratie in dem von Naphtali gemeinten Sinn. Einer differenzierenden Betrachtung erschließen sich jedoch zwei Typen der Abwehr, die ihrerseits unterschiedlichen Phasen der Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zugeordnet werden können. In der ersten Phase, vom Hamburger Gewerkschaftskongreß bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise, vom September 1928 also bis zum Oktober 1929, dominiert eine im wesentlichen wirtschaftliche Argumentation. Im Zuge der sich verschärfenden Depression, der „Krise des Parteienstaates"16 und des Übergangs zum System der Präsidialkabinette (März 1930) politisiert sich die Haltung der Unternehmer: Die Abwehr der „Wirtschaftsdemokratie" schlägt um in den Versuch einer mehr oder minder weitgehenden Demontage der politischen Demokratie. Charakteristisch für die psychologische Defensivposition, in die sich Teile des Unternehmerlagers durch das Postulat der Wirtschaftsdemokratie zunächst gedrängt sehen, ist die häufig zu beobachtende Umfunktionalisierung des Begriffs. Auf einer Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der deutschen Industrie im September 1929 meinte einer der Referenten, daß der „Wirtschaftsdemokratie" freudig zugestimmt werden könne, wenn darunter „die Aufstiegsmöglichkeiten des Kleinsten zum ersten Posten verstanden wird" 17 . Formeln wie „Aufstieg . . . nur durch Tüchtigkeit und eigenes Streben"18, „Aufstieg aus allen Kreisen des Volkes in die höchsten Führerstellen der Wirtschaft, allerdings nicht durch Mehrheitsbeschluß, sondern nur durch persönliche Tüchtigkeit, Verantwortungsbewußtsein, Fleiß und Energie"19 sollen den Eindruck einer offenen Gesellschaft erwecken, in der die Rekrutierung auch der wirtschaftlichen Führungsschichten durch nichts mehr mit Privilegien und Ungleichheit der Startchancen verknüpft ist. Der Geschäftsführer der Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels, Tiburtius, stellte Naphtalis Forderung eine „Demokratisierung im Sinne eines Ausbaus autonomer Vertretungskörperschaften der Berufsgruppen auf den ihnen eigentümlichen Arbeitsgebieten" gegenüber, eine Entwicklung, die aber gestört werde, „wenn im Namen der Demokratie auch Übergriffe einzelner Gruppen auf natürliche Felder anderer gefordert und sanktioniert werden . . ." 20 . Und noch im Januar 1930 veröffentlichte der „Arbeitgeber" eine Abhandlung, die in der Trennung von „Wirtschaftsführer" und „Kapitalbesitzer" und in freien Zusammenschlüssen von Sparern, Verbrauchern und Arbeitnehmern 198 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

„Elemente demokratischer Organisation", nämlich „Führer und Masse" (sic!) sah - Elemente, für die man bei allen Vorbehalten den Begriff „Wirtschaftsdemokratie" verwenden könne21. Die Hauptlinie der Argumentation freilich läuft auf die These hinaus, daß die Regeln politischer Demokratie auf die Wirtschaft schlechterdings nicht übertragbar seien. Anbieter und Abnehmer konnten sich nicht gegenseitig vertreten, und nur, wo durch ein Vertretungssystem ein einheitlicher Handlungswille geschaffen werden soll, sei das demokratische System anwendbar22. Bei Duisberg verkehrt sich die tradierte Polarität von Unternehmerdynamik und statischem Gesetz sogar in ihr Gegenteil: Während der Staat seine Gesetzgebung je nach der augenblicklichen Notwendigkeit ändern und ausgestalten könne, ließen sich wirtschaftliche Grundsätze nicht beliebig ändern - auch nicht durch Mehrheitsbeschlüsse23. In der Tat hatte Naphtali den Modifikationen der demokratischen Willensbildung, die durch die gegenseitige Nichtvertretbarkeit mehrerer funktionaler Gruppen im Entscheidungsprozeß der Wirtschaftsplanung erforderlich werden, keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das lag nicht zuletzt an jener weitgehenden Ausklammerung der innerbetrieblichen Mitbestimmung, die für seine Konzeption von Wirtschaftsdemokratie kennzeichnend ist. Die Forderung nach einer paritätischen Besetzung der neu zu schaffenden und der bestehenden Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft - bis hin zu den Industrie- und Handelskammern, den Handwerks- und den Landwirtschaftskammern - durch Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber macht jedoch deutlich, daß die Demokratisierung der Wirtschaft eine gleichwertige Berücksichtigung der Faktoren Kapital und Arbeit und der sie repräsentierenden funktionalen Gruppen implizierte. Die Berechtigung ebendieses Anspruchs der Arbeitnehmer auf effektive Mitentscheidung in Produktion und Distribution stellten die Unternehmer in Abrede24. Fand schon das gewerkschaftliche Gegenwartsprogramm einer paritätischen überbetrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer keine Zustimmung bei den Arbeitgebern, so galt dies erst recht für die langfristige Zukunftsperspektive Naphtalis. Die prognostizierte Umwandlung des selbständigen Unternehmers in einen Treuhänder der Gesellschaft schreckte Industrie, Handwerk und Handel am meisten. Die von den Freien Gewerkschaften gutgeheißene Expansion des Staates auf wirtschaftlichem Gebiet stieß im Unternehmerlager ohnehin seit geraumer Zeit auf Opposition25. Die Furcht vor einer Verstärkung dieser Tendenz durch gewerkschaftlichen Druck führte zu neuen scharfen Protesten gegen die „sich immer weiter ausbreitende Verwischung von Staatswirtschaft und privater Wirtschaft"26, gegen „alle Experimente und verfehlten wirtschaftspolitischen Maßnahmen"27, gegen die „weitere Bürokratisierung unserer Wirtschaft"28. Hinsichtlich der Effizienz öffentlicher Unternehmungen bezweifelte man entweder, daß Privatunternehmungen nicht „die gleichen Leistungen zu gleichen Preisen" bieten könnten29, oder man argumentierte, daß der Erfolg öffentlich-rechtlicher Betriebe lediglich auf die Anwendung kapitalistischer Methoden zurückzuführen sei30. Dieselbe Ambivalenz zeigte sich in der Beurteilung der Konsumgenossenschaften31. Der Widerspruch zwischen beiden Positionen wurde nicht reflektiert-zu Ende gedacht, hätte er zur Anerkennung der Möglichkeit einer „sozia199 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

listischen Marktwirtschaft"32 führen müssen. Statt dessen hielt man an der Alternative „Wirtschaftsbeamter oder Unternehmer" fest, die Carl Düssel auf die Formel brachte: „Monopolistische Verwaltungswirtschaft oder unternehmerische Konkurrenzwirtschaft? Zuteilung der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel durch Marktwettbewerb oder durch Amtsauftrag und Amtskassenverrechnung?"33 Der Wirklichkeit freilich entsprach dieses Bild weithin nicht mehr: Die Tendenzen zur Konzentration und Monopolisierung, zum „Organisierten Kapitalismus"34, zur Bürokratisierung von Betrieb und Wirtschaft35 ließen die manchesterliche Selbsteinschätzung der Unternehmer36 nur zu oft als ideologischen Anachronismus erscheinen. Soweit indes Marktwettbewerb noch wirklich stattfand, war die Kritik an Naphtalis allzu globalem Konzept nicht unbegründet. Im Endergebnis waren sich die Unternehmer darin einig, daß „der Weg der neuzeitlichen Wirtschaftsdemokratie weit abliegt von dem Weg höchstmöglicher Steigerung der Produktivität der Arbeit und damit abseits von dem Weg der wohlverstandenen Interessen der Arbeiterschaft"37: ein Urteil, für das sie sich auf eine nationalökonomische Autorität vom Range Adolf Webers berufen konnten38. Sie stimmten darin überein, daß man für die „Erhaltung der Privatwirtschaft kämpfen" müsse - notfalls nach der Erkenntnis, daß „die Waffen des Gegners, mit gleicher Schärfe von den Arbeitgebern geführt, hier Wunder wirken" könnten39. Zu einer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Gewerkschaftsforderungen glaubten sie sich durch die Überzeugung berechtigt, daß sich „unser Wirtschaftssystem bewährt" hat: „Es ist doch jetzt weiß Gott nicht an der Zeit, kostspielige Versuche mit ungewissem Ausgang zu machen. Wir sollten uns auf das Bewährte beschränken und es in vertrauensvoller gemeinsamer Arbeit ausbauen"40. Einigen Ideologen des Unternehmerlagers schien die Politik bloßer Interessenbehauptung angesichts der ideologischen Offensive der Gewerkschaften jedoch nicht mehr ausreichend. Der „wirtschaftsdemokratischen Kundgebung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes" stehe, so meinte etwa Carl Düssel, „nichts gegenüber, was die Grundlagen und Zukunftsaufgaben deutscher Wirtschaft in knapper und gemeinverständlicher Form darstellte und zu einem Wirtschaftsbild zusammenfaßte, dahinter die Autorität und der Führungswille des Unternehmertums stünde"41. Der Ruf nach einer neuen Unternehmerideologie wurde laut, da die bisherige „den psychologischen und politischen Anforderungen der Jetztzeit" nicht mehr genüge: Sie sei, so formulierte der Herausgeber und Schriftleiter des „Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsdienstes", August Heinrichsbauer, „viel zu nüchtern und zu trokken, als daß sie irgendwelche Begeisterung erwecken könnte . . ." 42 . Der Hinweis auf die Ansätze zu einer solchen Unternehmerideologie in den Schriften von Edgar Jung und Othmar Spann macht die konservativ-autoritäre Richtung deutlich, in der Heinrichsbauer sich ihre Fortentwicklung dachte. Die zahlreichen Beiträge, die der „Arbeitgeber" seit 1930 zu Fragen einer ständischen Neuordnung der Gesellschaft veröffentlichte, belegen ebenfalls ein wachsendes Interesse an Alternativen zur parlamentarischen Demokratie. Die spezifische Berufsstandsideologie Spanns und seiner Schüler fand freilich nur beim Handwerk, bei Teilen der mittelständischen Industrie und bei einigen wenigen Vertretern schwerindustrieller Interessen Anklang. Ähnlich 200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

kontrovers verlief auch die Auseinandersetzung mit dem Wirtschafts- und Regierungssystem des faschistischen Italien, das vom „Arbeitgeber" seit Jahren positiv, von der „Deutschen Wirtschaftszeitung" hingegen überwiegend kritisch bewertet wurde 43 .

III. Die Versuche, eine zugkräftige neue Unternehmerideologie zu schaffen, sind - obschon sie angesichts der Interessendivergenzen im eigenen Lager zum Scheitern verurteilt waren - kennzeichnend für eine neue Phase offensiver Interessenpolitik der Arbeitgeber. Die Gewerkschaftsparole „Wirtschaftsdemokratie" wurde unter dem Eindruck der Wirtschafts- und Staatskrise in eine neue Perspektive gerückt: Sie galt vielen Unternehmern nur noch als ein Symptom bestimmter politischer Verhältnisse, auf die sich infolgedessen der Angriff konzentrieren mußte. Heinrichsbauer gab dieser Auffassung im Juli 1930 unverblümt Ausdruck: „Die wirtschafts- und sozialpolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart betreffen nur scheinbar Dinge, die nach außen hin zur Schau gestellt werden; letzten Endes drehen sie sich um weltanschauliche Fragen und um die künftige politische Gestaltung Deutschlands. Diese Feststellung trifft für kaum eine andere Frage in dem Maße zu wie für das Problem der ,Wirtschaftsdemokratie', das an die Entscheidung über die letzten Dinge rührt" 44 . Was der führende Publizist der Schwerindustrie unter der „künftigen politischen Gestaltung Deutschlands" verstand, geht aus einem wenige Monate zuvor veröffentlichten Artikel hervor. Die deutschen Regierungen der Nachkriegszeit, so klagte er, seien völlig vom Parlament abhängig geworden und diese wiederum vom Willen der Wählerschaft. Der „Wettlauf der Parteien um die Gunst der großstädtischen Handarbeiter" habe ein System der Verantwortungslosigkeit produziert, in dem sich die „Vertreter materieller Majoritätsinteressen . . . infolge des rein oberflächlichen Majoritätsprinzips zur tatsächlichen Herrschaft im Staat aufschwingen konnten". Da das Endziel der Politik der nächsten Zeit „um jeden Preis . . . die Sicherstellung der Wirtschaft und damit auch die Garantie des Staates" sein müsse, gelte es, die „politische Verantwortung der maßgebenden Stellen" wiederherzustellen. Nur so könne dasjenige System gestärkt werden, „in dem die Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg am ausgeprägtesten ist, nämlich die Idee der privatwirtschaftlichen eigenen Verantwortung". Die Loslösung der Regierung vom Wechselspiel des Parlamentarismus werde aber unter Umständen „auch gegen den Willen des Parlaments, das sich als absoluter Herrscher fühlt", zu erfolgen haben. „Das Parlament wird sich freiwillig niemals der Erkenntnis beugen, daß auch Nichtkönnen verpflichtet insofern, als der Nichtkönnende von Dingen, von denen er nichts versteht, sich fernhalten muß. Angesichts dieser Sachlage bleibt nichts anderes übrig, als daß man dem Parlament die Möglichkeit nimmt, sich an Objekten zu vergreifen, die seinen Eingriff gar nicht wollen und mit Recht für verderblich halten."45 Mit diesem Plädoyer für einen Staatsstreich im Interesse der „Wirtschaft" gab Heinrichsbauer, der in der Folgezeit zum Mittelsmann zwischen Schwerindustrie und 201 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

NSDAP avancierte46, der Meinung der Gesamtunternehmerschaft sicher ebensowenig Ausdruck wie mit seinem Eintreten für einen berufsständischen Aufbau der Gesellschaft47. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß die Neutralität gegenüber den Institutionen des parlamentarischen Staates, wie sie die Haltung der Unternehmer in der Stabilisierungsphase gekennzeichnet hatte, seit Ende des Jahres 1929 einer massiven Kritik wich. Zwar hatte die Industrie - unter Hinweis auf die Reparationslasten auch schon früher eine Beschneidung der parlamentarischen Finanzkompetenzen gefordert48 und während des Ruhreisenstreites 1928/29 den offenen Konflikt mit der Regierung nicht gescheut49; systematischen Charakter erhielten die Bestrebungen zur Entmachtung des Parlaments und zur Stärkung der Exekutivgewalt jedoch erst in der Zeit der Weltwirtschaftskrise50. Den offiziellen Auftakt zu der Kampagne gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen der Weimarer Republik bildete eine Denkschrift unter dem Titel „Aufstieg oder Niedergang?", die das Präsidium des Reichsverbandes der deutschen Industrie im Dezember 1929 veröffentlichte. Sie forderte eine Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit öffentlicher Körperschaften, eine Minderung der Sozialleistungen, die Einführung eines Vetorechts der Reichsregierung gegen ausgabenerhöhende Beschlüsse der Parlamente in Reich, Ländern und Gemeinden, eine stärkere Anspannung der indirekten Steuern zugunsten der direkten und eine zentrale Kontrolle der Anleihegebarung der öffentlichen Hand. Die Denkschrift gipfelte in einer Verurteilung der bisherigen „verkehrten Richtung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik" und einem Aufruf zur politischen Sammlung hinter den Forderungen der Industrie: „Der Reichsverband der Deutschen Industrie ruft alle aufbauenden Kräfte in Deutschland auf, sich in einer breiten und einheitlichen Abwehrfront gegen alle wirtschaftsfeindlichen Bestrebungen zur Wehr zu setzen."51 Neu an dem Appell des Reichsverbandes der deutschen Industrie sind nicht die einzelnen Forderungen, sondern die globale Form, in der er sich gegen den institutionalisierten Mehrheitswillen wendet. Er richtet sich nicht mehr primär gegen das Programm der Wirtschaftsdemokratie, sondern darüber hinaus gegen das Parlament und die in ihm repräsentierten Interessen von Arbeitnehmern und Verbrauchern52. In demselben Maß, wie bei den Gewerkschaften selbst alle weitergehenden gesellschaftspolitischen Konzeptionen hinter der unmittelbaren Bewältigung der Depressionsfolgen zurücktreten, verlagert sich bei den Unternehmern die Stoßrichtung ihrer Aktivität auf den Versuch, das Parlament zu neutralisieren. Einen Hebel hierzu boten die gleichzeitigen Bemühungen des „Bundes zur Erneuerung des Reiches", in dessen Vorstand neben Vertretern der bürgerlichen Parteien, hohen Beamten, Universitätsprofessoren und Rittergutsbesitzern auch zahlreiche Industrielle saßen53. Die Reichsreform im Sinne dieser Vereinigung zielte nicht nur auf eine Neuregelung des Verhältnisses von Reich, Ländern und Gemeinden im unitarischen Sinn, sondern auch auf eine Verstärkung der Präsidialgewalt und eine Reduzierung der Rechte des Reichstages zugunsten eines neuen korporativ-föderativen Verfassungsorgans, das den bisherigen Reichsrat und weitgehend auch den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat ersetzen sollte. Der Zustimmung dieser Kammer, in der die Arbeitnehmervertreter auf jeden Fall in der Minderheit geblieben wären, hätten nach 202 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

den Plänen des Erneuerungsbundes insbesondere Reichstagsbeschlüsse über Ausgabenerhöhungen und Neuausgaben bedurft, die nicht das Plazet der Reichsregierung fanden. Im übrigen sollte der Reichstag Beschlüsse dieses „neuen Reichsrates" nur mit Zweidrittelmehrheit aufheben können54. Daß Pläne dieser Art keine unverbindlichen Einzelaktionen darstellten, beweist unter anderem die „Gemeinsame Erklärung deutscher Wirtschaftsverbände zu den Erfordernissen deutscher Wirtschaftspolitik" vom 29. September 1931, in der die Interessengruppen des gesamten Unternehmertums nicht nur in äußerster Schärfe die „Verblendung der Politiker", ihr angebliches Hin- und Herschwanken zwischen Sozialismus und Kapitalismus, geißelten und wiederum eine Politik im Sinne der Industriedenkschrift vom Dezember 1929 forderten, sondern sich auch zu einem „entschlossenen Vorgehen" in Richtung auf die Reichsreform bekannten55. Wie ein ironischer Nachruf auf die Idee der Wirtschaftsdemokratie wirkt es, wenn auf dem Höhepunkt der Krise im Unternehmerlager die „formale Demokratie" als „Feind der Selbstverwaltung" bezeichnet wurde56 und eine Berücksichtigung korporativer Elemente im Gesetzgebungsverfahren verlangt wurde, die das Gegenteil der Gewerkschaftsforderung bezweckte: eine Stärkung des Gewichts des privaten Unternehmertums. Soweit die Erörterung berufsständischer Projekte bereits den Versuch markierte, sich rechtzeitig auf eine Herrschaft des Nationalsozialismus einzustellen, war man beim Gros von Industrie und Handel allerdings erleichtert, als die NSDAP im Sommer 1932 zu verstehen gab, daß sie nicht auf einen zünftlerischen Korporativismus mittelständischer Provenienz eingeschworen war57. Druch die „übereifrige Behandlung" der Probleme einer berufsständischen Ordnung, so meinte nach diesem Bescheid der Syndikus der Industrie- und Handelskammer Bochum, der volksparteiliche Reichstagsabgeordnete Otto Hugo, könne daher jetzt nur „das öffentliche Interesse darauf gelenkt werden, der Lust der Gewerkschaften, uns wenigstens die paritätische Zusammensetzung aufzudrängen, eine neue Anregung zu geben"58. Die tatsächliche Entmachtung des Reichstages durch das System der Präsidialkabinette hatte die Unternehmer ohnedies der Verwirklichung ihrer Forderungen ein gutes Stück nähergebracht59. Wie immer die unterschiedlichen Interessen der Banken, der exportorientierten Branchen und der Schwerindustrie sich in ihrem Verhältnis zu den Kabinetten Brüning, Papen und Schleicher und zur nationalsozialistischen Bewegung auswirkten60, die Tendenz zur Neutralisierung des politischen Parlaments ging durch die Verbände der Unternehmer quer hindurch61. Nicht allein die direkte Finanzierung der NSDAP durch einzelne Unternehmer und Industrievereinigungen, sondern ebenso auch diese Gesamthaltung gegenüber den Institutionen des Weimarer Staates ist zu berücksichtigen, wenn vom Anteil der Industrie an der Auflösung der ersten deutschen Republik die Rede ist. Die relative Verselbständigung der Exekutivgewalt und die Immediatisierung der Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staatsführung sind ein weder räumlich noch zeitlich auf das Deutschland der Weimarer Republik beschränktes Phänomen62. Spezifische Bedingungen verstärkten jedoch diese verbreiteten Tendenzen und begünstigten die Wendung zu einem faschistischen Regime. Die Rückversicherungsmentalität des deutschen Bürgertums, die im Staatsapparat wesentlich eine Garantie gegen 203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

soziale Erschütterungen sah63, hatte das Kaiserreich überlebt und wurde unter dem Eindruck der ökonomischen Krise erneut zum ausschlaggebenden politischen Faktor. Die Wendung der Unternehmer gegen die politische Demokratie war nicht eine Folge der Gewerkschaftsforderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft, sondern eher ihrer fehlenden Verwirklichung. Das grundsätzliche Problem, das die Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Wirtschaft in der Weimarer Republik der theoretischen wie der praktischen Politik stellt, ist von Hans Reupke, einem Mitglied der Geschäftsführung des Reichsverbandes der deutschen Industrie, 1931 auf die Formel gebracht worden: „Es ist auf die Dauer unmöglich, unter einer politischen Demokratie eine Betriebsautokratie bestehen zu lassen . . ." 64 Reupke folgerte aus dieser Erkenntnis, daß die politische Demokratie beseitigt und durch ein faschistisches Regime ersetzt werden müsse65. Die Auflösung der Weimarer Republik legt einen anderen Schluß nahe: Die politische Demokratie ist solange nicht dauerhaft gesichert, als unkontrollierter wirtschaftlicher Macht die Möglichkeit gegeben wird, auf ihre Deformation oder Abschaffung hinzuarbeiten. Die Demokratisierung der Wirtschaft gewinnt aus der Geschichte somit ihre entscheidende politische Begründung.

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13. E x t r e m i s m u s der M i t t e ? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung Aufmerksame Beobachter der deutschen Parteienlandschaft waren sich bereits um 1930 darüber im klaren, daß der Anspruch der Nationalsozialisten, eine Arbeiterpartei zu sein, von der Wirklichkeit kaum gestützt wurde. Was zahlreiche Analytiker vor allem aus den Lagern der bürgerlichen und sozialdemokratischen Linken - in den drei Jahren vor Hitlers Machtergreifung über die gesellschaftlichen Grundlagen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ermittelten, laßt sich knapp in den Worten eines späteren Autors, Seymour Martin Lipset, resumieren: „Im Jahre 1932 war der idealtypische Wähler der Nationalsozialistischen Partei ein selbständiger protestantischer Angehöriger des Mittelstandes, der entweder auf einem Hof oder in einer kleinen Ortschaft lebte und der früher für eine Partei der politischen Mitte oder für eine regionale Partei gestimmt hatte, die sich der Macht und dem Einfluß der Großindustrie und Gewerkschaften widersetzte."1 Lipsets These ist, sieht man von der angeblichen liberalen Industriefeindschaft ab, heute nicht mehr ernsthaft umstritten. Mit einer Folgerung jedoch, die er aus dieser These ableitet, wollen wir uns näher beschäftigen. Lipset bezeichnet den Nationalsozialismus wie die „klassischen faschistischen Bewegungen" überhaupt als einen „Extremismus der Mitte". Getragen von ehedem demokratischen Schichten, von Kleingewerbetreibenden, Angestellten und freien Berufen, unterschieden sich nach Lipset die Nationalsozialisten soziologisch eindeutig sowohl von der Sozialrevolutionären oder reformistischen Linken als auch von der traditionalistischen Rechten: Sie waren weder eine Partei von klassenbewußten Industriearbeitern noch eine Bewegung wohlsituierter Angehöriger der gesellschaftlichen Oberschicht. Auch auf ideologischem Gebiet findet Lipset Bestätigungen für seine Behauptung, daß der Nationalsozialismus ein Extremismus der Mitte war: „Wenn auch die faschistische Ideologie in ihrer Glorifizierung des Staates antiliberal ist, hat sie mit dem Liberalismus doch nicht nur die Opposition gegen die Großindustrie, die Gewerkschaften und den sozialistischen Staat gemeinsam, sondern auch die Feindschaft gegenüber der Religion und anderen Formen des Traditionalismus."2 Die These des amerikanischen Soziologen wirft eine Reihe von Fragen auf, von denen uns drei besonders wichtig erscheinen. Erstens: War die Wählerbewegung vom Liberalismus zum Nationalsozialismus so plötzlich und unvermittelt, wie Lipset annimmt? Zweitens: Gibt es wesentliche Momente im Bereich von Programmatik und Ideologie, die es erlauben, den Nationalsozialismus als „Extremismus der Mitte" zu bezeichnen? Drittens: Reichen Massenbasis, Wahlparolen und Parteiprogramm aus, um den politischen Standort des Nationalsozialismus bestimmen zu können? 205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Ι. Die massenhafte Abkehr von den liberalen Parteien fällt nach Lipset in die Zeit der Weltwirtschaftskrise: Alle seine Beobachtungen basieren auf Wahlstatistiken der Jahre 1928 bis 1932. Dieser Untersuchungszeitraum ist jedoch offenbar zu kurz bemessen. Bereits 1933 hat der sozialdemokratische Publizist Rudolf Küstermeier das Votum für die NSDAP als Abschluß eines längerfristigen Prozesses bezeichnet. Viele Wähler aus den Mittelschichten seien seit 1918 „von Partei zu Partei geirrt". Übte unmittelbar nach der Novemberrevolution die Deutsche Demokratische Partei eine besondere Anziehungskraft aus, so erwiesen sich 1920 die Deutsche Volkspartei und 1924 die Deutschnationale Volkspartei als die attraktivste Gruppierung. ,,1928 entschied sich die Mehrheit, enttäuscht, entmutigt, für die Partei der Nichtwähler. 1930 schließlich kam der Nationalsozialismus an die Reihe."3 Der allgemeine Trend ist, wenn man vom angeblichen Wahlboykott im Jahre 1928 absieht, von Küstermeier im großen und ganzen zutreffend analysiert worden. Um die wichtigsten Befunde knapp zu resumieren: Die linksliberale DDP, die bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 noch 18,55 % der Stimmen erhalten hatte, sank bei der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 auf 8,3 %, während die rechtsliberale DVP von 4,42 % auf 13,9 % stieg. Gewinn und Verlust der beiden Parteien hielten sich in etwa die Waage. Die naheliegende Vermutung, daß die neuen Wähler der Volkspartei größtenteils aus den Reihen der Demokraten kamen, ist durch die Untersuchung einzelner Wahlkreise erhärtet worden. Offensichtlich haben die bürgerkriegsähnlichen Unruhen der Jahre 1919/20, der Generalstreik nach dem Kapp-Putsch und die Aversionen gegen die einundeinhalb Jahre zuvor noch für opportun gehaltene Koalitionspartnerschaft von SPD und DDP breite bürgerliche Schichten auf die Wanderung nach rechts getrieben. Der demokratische Reichstagsabgeordnete Anton Erkelenz brachte den Umschwung im Wählerverhalten auf eine einprägsame Formel: 1919 habe eine Mitgliedskarte der DDP als „Lebensversicherungspolice bei der befürchteten Bartholomäusnacht" gegolten; 1920 hätten viele Leute in der Mitgliedskarte der DVP einen „Versicherungsschein gegen Aufteilung des Vermögens" gesehen4. Der Übergang von der DDP zur DVP ist nicht nur für eine Rechtsverschiebung innerhalb des liberalen Lagers symptomatisch. Das wurde am 20. Februar 1921 deutlich, als die Reichstagswahl in den drei Wahlkreisen Schleswig-Holstein, Ostpreußen und Oberschlesien nachgeholt wurde, wo sie wegen der noch ausstehenden Gebietsabstimmungen am 6. Juni 1920 nicht hatte durchgeführt werden können. Genauere Untersuchungen besitzen wir nur für Schleswig-Holstein. Hier gelang es den Deutschnationalen, ihren regionalen Stimmenanteil von 1919 fast zu verdreifachen ( 7 , 7 % : 20,5 % ) . Ihre Stimmengewinne kamen offensichtlich nicht zuletzt von ehedem linksliberalen Wählern5. Bei der Reichstagswahl vom 4. Mai 1924 zeigte sich, daß die Abwanderung liberaler Wähler zur DNVP kein regionales Phänomen war. Die Deutschnationalen erhielten mit einem Plus von 4,4 % oder 1,4 Millionen Stimmen gegenüber der Reichstagswahl von 1920 aber weniger, als die beiden liberalen Parteien verloren, nämlich 7,3 % oder 206 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

1,9 Millionen Summen (DVP: - 4,7% oder 1,2 Millionen Stimmen, D D P : - 2 , 6 % oder 0,68 Millionen Stimmen). Die Nationalsozialisten und Deutsch-Völkischen erhielten im Reichsdurchschnitt zusammen 6,5 % oder 1,9 Millionen Stimmen. Selbst wenn man von der fiktiven Annahme ausgeht, daß die extremen Rechtsparteien alle ehemaligen DNVP-Wähler zu sich herübergezogen haben und die DNVP ihrerseits von allen Wählern gewählt worden ist, die sich von DVP und DDP ab wandten, bleibt eine Differenz von 0,45 Millionen Stimmen zwischen nationalsozialistisch-deutschvölkischen Gewinnen und dem Überschuß von liberalen Verlusten über deutschnationale Gewinne. Tatsächlich muß in Rechnung gestellt werden, daß auch die 1,3 Millionen Stimmen, die im Mai 1924 von mittelständischen, agrarischen und völkischen Splitterparteien hinzugewonnen wurden, zu einem erheblichen Teil von früheren Wählern der liberalen Parteien kamen. Auf der anderen Seite waren die Gewinne der KPD bei der Reichstagswahl vom Mai 1924 (10,5 % oder 3,1 Millionen Stimmen) weitaus geringer als die Verluste von SPD und Rest-USPD (zusammen: - 18,3 % oder 4,9 Millionen Stimmen). Da die Wahlbeteiligung im Mai 1924 mit 77,4 % um 1,8 % niedriger lag als 1920, dürfte nur ein kleiner Teil der linken Verluste auf die politische Abstinenz ehemaliger Wähler der Arbeiterparteien zurückzuführen sein. Es muß vielmehr vermutet werden, daß es eine Abwanderung von früheren Linkswählern zu den Parteien der äußersten Rechten gegeben hat. Charles S. Maier hat diese Annahme durch die Untersuchung ausgewählter Stimmbezirke plausibel machen können6. Was die Mittelschichten angeht, so ist jedoch die Stärkung des konservativen auf Kosten des liberalen Lagers der beherrschende Vorgang der Maiwahlen von 1924. Untersucht man eine Reihe von Wahlkreisen, in denen 1920 die Deutsche Volkspartei noch über dem Reichsdurchschnitt gelegen hatte, so zeigt sich, daß die Deutschnationalen im Mai 1924 ihre Gewinne vor allem früheren liberalen Wählern verdankten. Soweit sie städtische Wähler anzogen, waren sie besonders erfolgreich in Gebieten überwiegend evangelischer Konfession, in denen die „übrigen Wirtschaftsabteilungen" (Handel, Verkehr, Verwaltung, freie Berufe) überproportional viele Personen beschäftigten, wo selbständige Handel- und Gewerbetreibende im Verhältnis zu den Arbeitern stark vertreten waren und wo der Anteil der Beamten und Angestellten an der Bevölkerung besonders hoch war. Damit wirkten sich für die DNVP dieselben Faktoren günstig aus, die vorher den liberalen Parteien und besonders der DVP zugute gekommen waren. In vielen Wahlbezirken, in denen einige oder alle dieser Voraussetzungen vorlagen, nahm der Wählerumschwung vom Mai 1924 das Ausmaß eines politischen Erdrutsches an: So sank im pommerschen Handelszentrum Stralsund (Anteil der „übrigen Wirtschaftsabteilungen" an der Wohnbevölkerung 46,8 % gegenüber einem Reichsdurchschnitt von 26,6 %) die DVP von 41,1 % im Jahre 1920 auf 8,3 %, die DDP von 8,8 % auf 2,7 %. Die Deutschnationalen kletterten von 14,6 % auf 41,6 %. In der alten Kaiserstadt Goslar, das eine ähnliche Sozialstruktur hatte wie Stralsund (Anteil der „übrigen Wirtschaftsabteilungen" an der Wohnbevölkerung 41,5%), stieg der deutschnationale Stimmenanteil von 17,3 % auf 37,6 %, während die DVP von 26 % auf 9,2 %, die DDP von 4,8 % auf 4,6 % sank. Im Berliner Bezirk Zehlendorf, 207 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

der einen außerordentlich hohen Anteil von Beamten und Angestellten an der Wohnbevölkerung aufweist (23,6 % gegenüber einem Reichsdurchschnitt von 11,3 %) sank die DVP von 41,7 % auf 17,8 %, die DDP von 10,8 % auf 8,7 %. Der Stimmenanteil der DNVP stieg von 20,4 % auf 34,9 %; die Deutschvölkische Freiheitspartei erhielt 9,7 %. Aber auch in einem rein ländlichen Gebiet, wo bäuerliche Mittelbetriebe überwogen, läßt sich der Umschwung von der DVP zur DNVP deutlich erkennen: In dem kleinen Amt Wildeshausen (Wahlkreis Weser-Ems) hatte die DVP 1920 53,4 % der Stimmen erhalten, die DDP 20,9 % und die DNVP 3 %. Im Mai 1924 veränderte sich das Bild radikal. Die Deutschnationalen erhielten 33,5 %, die DVP 23,4 % und die DDP 12,8 % 7 . Die Ergebnisse der Reichstagswahl von Mai 1924 zeigen, daß breite mittelständische Wählermassen sich schon lange vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus von den liberalen Parteien abgewandt haben. Unter dem Eindruck einer extremen ökonomischen und politischen Unsicherheit, der Inflation und der schweren Krisen des Jahres 1923, wandten sich große Teile des Bürgertums einer offen antirepublikanischen und nationalistischen Partei zu, die die Macht von „Marxisten" und Gewerkschaftsfunktionären zu brechen und einen starken „überparteilichen" Staat im Sinne des Kaiserreiches wiederherzustellen versprach. Vier Jahre später, als sich die politische und wirtschaftliche Lage erheblich gebessert hatte, mußten die Deutschnationalen bei einer neuen Reichstagswahl erhebliche Verluste hinnehmen. Sie erhielten 6,3 % oder 1,8 Millionen weniger Stimmen als bei der vorangegangenen Wahl vom 7. Dezember 1924. Die Regierungsbeteiligung der DNVP fand bei den Wählern keinen besonderen Anklang. Bemerkenswert ist jedoch, daß die Verluste der DNVP offenbar nicht den liberalen Parteien zugute kamen, die ihrerseits Stimmen einbüßten (DVP:- 1,4 % oder 0,4 Millionen; DDP:- 1,5 % oder 0,4 Millionen). Vielmehr scheinen Splitter- und Regionalparteien (ohne Bayerische Volkspartei: + 5,18 %) und vor allem die 1920 gegründete Wirtschaftspartei (seit 1926 offiziell: Reichspartei des deutschen Mittelstandes) von den Verlusten der übrigen bürgerlichen Parteien profitiert zu haben. Die Wirtschaftspartei, in der der mittelständische Hausbesitz ausschlaggebendes Gewicht besaß, erhielt 1928 4,5 % oder 1,4 Millionen der Stimmen und erzielte damit gegenüber der Wahl vom Dezember 1924 ein Plus von 1,2 % oder 0,4 Millionen Stimmen. Vor allem in Nordwestdeutschland gelangen ihr in den Jahren 1924 bis 1930 Einbrüche in das handwerkliche Organisationswesen, die auch bei Wahlen zu Buch schlugen. Der Geschäftsführer des Westfälisch-Lippischen Handwerkerbundes, Aßhoff, erklärte im Juli 1928 diese Entwicklung so: ,,Man hat unsere warnende Stimme nicht gehört und eine solche Wirtschaftspolitik getrieben, daß wegen wirtschaftlicher Verzweiflung große mittelständische Wählermassen aus den alten bürgerlich-politischen Parteien förmlich herausgedrängt wurden."8 Die Wirtschaftspartei war ein paradoxes Symptom des mittelständischen Parteienüberdrusses. In allgemeinpolitischen Fragen orientierungslos, machte sie ihr Votum meist von irgendwelchen Zugeständnissen auf dem Gebiet des Mittelstandsschutzes abhängig. Den prinzipienlosen „Kuhhandel", den sie den politischen Parteien vorwarf, erhob sie selbst zu ihrem obersten Prinzip. Sozialkonservativ und betont ,,na208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

tional", wie sie sich gab, war die Wirtschaftspartei nicht der politischen Mitte, sondern der Rechten zuzurechnen. Was die Mobilisierung von Ressentiments gegen die „Parteipolitik" betrifft, kann man sie durchaus als eine Vorfrucht nationalsozialistischer Erfolge bezeichnen9. Die Wahlergebnisse der Jahre 1928 bis 1932 sind in der zeitgenössischen Publizistik und in der späteren wissenschaftlichen Literatur so oft analysiert worden, daß hier ein Blick auf die wichtigsten Befunde genügen mag. Bisherige Nichtwähler trugen zu den Erfolgen der NSDAP bei, sie bildeten aber nicht ihr bedeutendstes Stimmenpotential10. In viel geringerem Ausmaß scheinen Wähler der Arbeiterparteien SPD und KPD und am allerwenigsten Wähler von Zentrum und Bayerischer Volkspartei an den Wahlerfolgen der Nationalsozialisten beteiligt gewesen zu sein. Die NSDAP profitierte vor allem von den Verlusten der bürgerlichen Parteien, der Mitte und der Rechten, deren Wähler meist evangelischer Konfession waren. Im Juli 1932 hatten gegenüber dem Stand vom Mai 1928 eingebüßt: die beiden liberalen Parteien 3,4 Millionen, die Deutschnationalen 2,2 Millionen, andere Rechtsparteien einschließlich der Wirtschaftspartei 3,1 Millionen Stimmen11. Wahlsoziologische Einzeluntersuchungen erlauben einige zusätzliche Annahmen. Zunächst ist davon auszugehen, daß die Deutschnationalen 1928 noch über ein beträchtliches Wählerreservoir in den städtischen Mittelschichten verfügten. In den Verlusten der DNVP von 1930 spiegelte sich aber auch das Faktum, daß die seit 1927 andauernde Agrarkrise der nationalsozialistischen Agitation unter der Landbevölkerung schon frühzeitig einen günstigen Boden verschafft hatte. Innerhalb des gewerblichen Mittelstandes glaubten zeitgenössische Beobachter eine Differenzierung aus der Tatsache ableiten zu können, daß die Wirtschaftspartei ihren Stimmenbestand zwischen 1928 und 1930 nahezu halten konnte. Da diese Partei in den vorausgegangenen Jahren zahlreiche Handwerker hatte an sich ziehen können und andererseits die Nationalsozialisten sich in derselben Zeit mehr auf den traditionsloseren Kleinhandel konzentriert hatten, schloß man, daß diese Gruppe in größerem Umfang zum Wahlerfolg der NSDAP im September 1930 beigetragen habe als das Handwerk. Kein Zweifel kann daran bestehen, daß das Wählerreservoir der Nationalsozialisten zum überwiegenden Teil aus Bauern, selbständigem Mittelstand sowie Angestellten und Beamten bestand. Positive Korrelationen zwischen der Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen und nationalsozialistischer Stimmabgabe sind mehrfach errechnet worden, wobei sie bei den Angehörigen des gewerblichen Mittelstandes noch höher liegen als bei den Festbesoldeten. Eine Aufschlüsselung der Berufszugehörigkeit der NSDAP-Mitglieder vom September 1930 zeigt ebenfalls, daß die Arbeiter in dieser Partei unterrepräsentiert waren, während Angestellte, Beamte, Bauern und Selbständige im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung überproportional vertreten waren. Die prozentualen Anteile der Berufsgruppen an der Mitgliedschaft der NSDAP betrugen (in Klammern jeweils die Anteile an der Gesamtbevölkerung): Arbeiter 26,3 (46,3), Angestellte 24 (12,5), Selbständige 18,9 (9,6), Beamte 7,7 (4,6), Bauern (selbständige Landwirte und mithelfende Familienangehörige) 13,2 (20,7), Sonstige 9,9 (6,6) 12 . 209

14 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

II. Um die Mitte der zwanziger Jahre hätte schwerlich irgendein Beobachter die Vorhersage gewagt, die Nationalsozialisten würden mit Hilfe der deutschen Mittelschichten zu einer Massenbewegung werden. Gewiß: schon vor dem Hitler-Putsch gehörten der NSDAP überproportional viele Handwerker und Kaufleute an13. Aber das öffentliche Image dieser Bewegung war doch ein revolutionäres, der Habitus ihrer Führer alles andere als „bürgerlich". Auf das Gros der standesbewußten Kleingewerbetreibenden wirkte schon der Name der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei nicht werbend, sondern abschreckend: Er trug dazu bei, daß man die Hitlerbewegung lange Zeit für eine verkappt marxistische Partei hielt. „Das Handwerk", so schrieb 1924 die rechtsstehende„ Nordwestdeutsche Handwerks-Zeitung", „hat von den Nationalsozialisten überhaupt nichts zu erwarten, im Gegenteil hat die Deutschvölkische Freiheitspartei ein Wirtschaftsprogramm aufgestellt, das eher wirtschaftshemmend als wirtschaftsfördernd ist . . . Das Handwerk wird sich dessen erinnern, daß Deutschvölkische niemals als Vertreter des gewerblichen Mittelstandes angesprochen werden können". Deutschvölkische und Nationalsozialisten seien eine „reine Arbeitnehmerbewegung", sie offerierten „bolschewistisches Gift in schwarz-weißroter Verpackung"14. Es bedurfte erheblicher Anstrengungen von seiten der nationalsozialistischen Führung, um solche Vorurteile abzubauen. Der „Sozialismus" mußte herabgespielt werden zu einem Synonym der unverbindlichen Parteiparole „Gemeinnutz vor Eigennutz"; der Enteignungsfurcht mußte der Boden entzogen, der Vorwurf der „Wirtschaftsfeindschaft" entkräftet werden. Das Ziel der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik sei, so glaubte noch im Dezember 1932 der neugebildete „Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes" versichern zu müssen, die „Entproletarisierung des deutschen Arbeiters. Sinn der sozialistischen Idee ist die Beeignung der Besitzlosen. Damit steht der Sozialismus Adolf Hitlers im schärfsten Gegensatz zu dem verlogenen Schein-Sozialismus der Marxisten, der sich die Enteignung der Besitzenden zum Ziel gesetzt hat"15. Wenn es Schichten gab, die einer - wie immer vagen - Verbindung von Nationalismus und Sozialismus zuneigten, so waren es jedenfalls nicht die selbständigen Handwerker, Kaufleute und Bauern. In Kreisen der bürgerlichen Intelligenz und in paramilitärischen Verbänden dagegen waren der Mythos der Schützengrabengemeinschaft, der Gedanke an eine Synthese von „Preußentum und Sozialismus", ja selbst „nationalbolschewistische" Ideen durchaus virulent16. Die Parole eines „nationalen Sozialismus" konnte darüber hinaus bei erheblichen Teilen des „neuen Mittelstandes" auf Resonanz rechnen, die einerseits sich als Arbeitnehmer fühlten, andererseits aber nicht ins Proletariat hinabsinken wollten. Der Nationalismus hatte für diese Schicht vor allem eine Abgrenzungsfunktion: Er erlaubte es, sich vom internationalen Marxismus und damit von den „roten" Arbeitern abzuheben. Der 1893 gegründete Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband, der sich während der Weimarer Republik zur größten Angestelltengewerkschaft entwickelte, versuchte eine Interessenpolitik im Sinne der von ihm repräsentierten Arbeitnehmergruppen mit völkischer 210 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Agitation zu verbinden. Im ideologischen Umkreis dieses Verbandes war ein national drapierter Antikapitalismus seit langem so verbreitet, daß die Nationalsozialisten nach Beginn der Weltwirtschaftskrise keine Mühe hatten, zahlreiche Angestellte hinter ihren Fahnen zu sammeln17. Bereits im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 traten die konkreten gesellschaftspolitischen Forderungen hinter extrem nationalistischen und antisemitischen Postulaten zurück. Die Gruppe, die als einzige ausdrücklich angesprochen wurde, war der gewerbliche Mittelstand. In Punkt 16 des Programms bekannte sich die Partei zur „Schaffung eines gesunden Mittelstandes und seiner Erhaltung". Sie forderte die „sofortige Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende, schärfste Berücksichtigung aller kleinen Gewerbetreibenden bei Lieferungen an den Staat, die Länder oder Gemeinden". Mit ihrem Eintreten für einen umfassenden Mittelstandsschutz knüpfte die NSDAP an den Sozialprotektionismus des Kaiserreichs an. Sie übernahm Forderungen, mit denen Handwerker und Kleinhändler seit je die Gewerbefreiheit bekämpft hatten-Forderungen, die vom politischen Konservativismus schon in der Revolution von 1848/49 unterstützt und während des Kaiserreiches zu erheblichen Teilen verwirklicht worden waren. Dem Kleinhandel versuchte man durch Maßnahmen gegen den „unlauteren Wettbewerb", das Wandergewerbe, die Konsumvereine und vor allem gegen die Warenhäuser entgegenzukommen. Letztere wurden seit Ende der 1890er Jahre von zahlreichen Einzelstaaten mit diskriminierenden Sondersteuern belegt. Dem Handwerk ermöglichte die Reichsgesetzgebung eine weitgehende Restauration des Zunftwesens. Während der 1880er Jahre stellte der Reichstag viele Privilegien der Innungen Schritt für Schritt wieder her, und 1897 führte eine Novelle zur Gewerbeordnung neben öffentlich-rechtlichen Handwerkskammern auch das Institut der fakultativen Zwangsinnung ein: Die Zugehörigkeit zur Innung wurde obligatorisch, wenn sich in einem Handwerkskammerbezirk die Mehrheit der Selbständigen eines bestimmten Handwerkszweiges durch Abstimmung dafür entschied. Die Konservativen, die neben dem Zentrum und den Antisemitenparteien die eigentlichen Wortführer des Sozialprotektionismus waren, konnten durch die Übernahme von Mittelstandsforderungen ihre gesellschaftliche Basis in den Städten beträchtlich erweitern. Darüber hinaus lösten sie im bürgerlichen Liberalismus Anpassungsprozesse aus, die auf eine allmähliche Abkehr von der Gewerbefreiheit hinausliefen. So stimmten beispielsweise 1908 die Nationalliberalen für die Einführung des „Kleinen Befähigungsnachweises", der das Recht zur Lehrlingsausbildung an die erfolgreiche Meisterprüfung band. Sechs Jahre zuvor schon hatte die Hälfte der Abgeordneten der linksliberalen Deutschen Volkspartei im württembergischen Landtag für eine Warenhaussteuer gestimmt18. Zugespitzt wird man sagen können, daß es während des Kaiserreichs nicht nur in den oberen Rängen des deutschen Bürgertums eine „Feudalisierung" gab - eine Anpassung an Werthaltungen der militärisch-feudalen Führungsschicht, die im Königlich Preußischen Reserveoffizier ihren wohl bezeichnendsten Ausdruck fand -, sondern auch im Bereich des gewerblichen Mittelstandes. Die gezielte Restauration vorindustrieller Normen und Institutionen trug dazu bei, breite Schichten der deutschen Gesellschaft an ein politisches System zu 211 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

binden, das dank seiner obrigkeitsstaatlichen Elemente eine wirksame Rückversicherung gegen eine Majorisierung der Besitzinteressen bildete. Gegen Ende des Kaiserreiches ließ sich unschwer vorhersehen, daß der Mittelstand nur solange staatserhaltend sein konnte, als der Staat mittelstandserhaltend war. Bei der Landbevölkerung zeitigte der Agrarprotektionismus ähnliche Wirkungen, obwohl hohe Getreidezölle primär dem ostelbischen Großgrundbesitz zugute kamen, die mittel- und kleinbäuerliche Vieh- und Veredelungswirtschaft aber gerade an der Einfuhr billigen Futtergetreides hätte interessiert sein müssen. Daß die Schutzzölle eine allgemeine Erhöhung der Bodenpreise und damit auch der Kreditfähigkeit der Landwirtschaft mit sich brachten, hat offenbar im Bewußtsein der Bauern keine entscheidende Rolle gespielt. Äußerst wirksam war dagegen die Idee einer agrarischen Einheitsfront gegenüber dem modernen Industrialismus. Diese Parole erwies sich als so zugkräftig, daß die meisten Bauern den großagrarisch geführten Bund der Landwirte als pressure group der Gesamtlandwirtschaft akzeptierten19. Eine vergleichbare Zurückstellung konkreter ökonomischer Interessen gegenüber vermeintlichen Standesinteressen gab es bei den Angestellten. Dem Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband schien die Zusammenarbeit mit dem Bund der Landwirte und einigen Kleinhändlerverbänden so wichtig, daß er um die Jahrhundertwende in zollpolitischen Fragen, beim Kampf um die Warenhaussteuern und dem Streit um Ladenschlußzeiten sich auch dann den Forderungen seiner Bündnispartner anschloß, wenn dies den Bedürfnissen der Verbandsmitglieder strikt widersprach. Agrarier, Detailhändler und kaufmännische Gehilfen trafen sich indes auf der Basis eines völkisch-antisemitischen Nationalismus, dem somit die Funktion einer mittelständischen Integrationsideologie zuwuchs. Den Angestellten diente, wie schon erwähnt, die nationale Parole vor allem dazu, sich von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung abzugrenzen. Derselbe Wunsch, sich vom Proletariat abzuheben, veranlaßte viele Angestellte, sich die Staatsbeamten als gesellschaftliches Leitbild zu wählen. Dieser Distanzierungsdrang wurde von den bürgerlichen Parteien - mit Ausnahme der linksliberalen - honoriert: Das Gesetz über die Angestelltenversicherung von 1911 brachte den oft verspotteten „Stehkragenproletariern" die erstrebte versicherungspolitische Absonderung von den Arbeitern20. Die Antworten, die der Nationalsozialismus auf das Schutzverlangen von Kleingewerbetreibenden und Bauern und auf die Proletarisierungsfurcht der Angestellten gab, waren mithin durchwegs „rechte" Antworten. Sie entstammten-ebenso wie jener ambivalente Antikapitalismus, der zwischen „raffendem" und „schaffendem" Kapital unterschied - der sozialkonservativen Bewegung des späten 19. Jahrhunderts. Freilich mußte unter dem Vorzeichen des allgemeinen Reichstagswahlrechts auch der Konservativismus sich „demokratisieren": Er bedurfte der Massenbasis und mußte daher vor allem jene Schichten zu mobilisieren versuchen, die ebenso wie die Agrarier von einer fortschreitenden Industrialisierung nur Nachteile zu befürchten hatten. Über den 1893 gegründeten Bund der Landwirte, den schlagkräftigsten Interessenverband des Kaiserreiches, wirkte der Vulgärkonservativismus auf breite bäuerliche und kleingewerbliche Schichten ein. Sozialprotektionismus und Antiparlamentarismus, Kampf gegen Liberalismus und Sozialdemokratie, Antisemitismus und Natio212 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

nalismus - in der Propaganda des Bundes der Landwirte und der mit ihm liierten Verbände vereinigten sich diese Elemente zu einem explosiven antidemokratischen Gemisch21. Was später als das Paradox der faschistischen Bewegungen erschien, die Mobilisierung von Massen zur Abwehr von „Massenherrschaft", ist schon im kaiserlichen Deutschland erfolgreich vorexerziert worden22.

III. Die These vom Nationalsozialismus als Extremismus der Mitte ist durch unsere bisherigen Überlegungen nicht bestätigt worden. Der Übergang von den liberalen Parteien zur NSDAP erfolgte weniger abrupt und unvermittelt, als Lipset annimmt. Für viele Wähler war das Votum für die Nationalsozialisten das Ende einer Wanderung, die sie schon 1924 in das Einzugsfeld der DNVP, einer wenn auch nicht totalitären, so doch zweifellos autoritären Rechtspartei geführt hatte. Aber auch auf dem rechten Flügel des bürgerlichen Liberalismus, bei der Deutschen Volkspartei, erhielten seit Ende der zwanziger Jahre die antiliberalen und antiparlamentarischen Tendenzen Auftrieb. Es erscheint daher fraglich, ob man die Fördererkreise, Mitglieder und Wähler der DVP uneingeschränkt als „liberal" einstufen kann23. Das gesellschaftspolitische Programm der Nationalsozialisten (sofern man von einem solchen überhaupt sprechen kann) stimmt zwar mit vielen sozialkonservativen Ideen des späten 19. Jahrhunderts überein, aber kaum mit Konzeptionen, die aus der Mitte des politischen Spektrums stammen. Auch der Versuch, die Arbeiter mit Hilfe nationaler Agitation dem Einfluß des „Marxismus" zu entreißen, steht in einer solchen „rechten" Tradition24. Die Frage bleibt indes, ob Massenbasis und offizielles Programm einer Bewegung für ihre politische Standortbestimmung hinreichen. Tatsächlich gibt es keine politische Bewegung, die sich einer ausschließlich soziologischen Betrachtungsweise in einem solchen Maß entzieht wie die faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit. Eine Analyse der Massenbasis dieser Bewegungen sagt noch wenig aus über ihre gesellschaftliche Funktion, und aus einer Analyse ihrer gesellschaftlichen Funktion läßt sich so gut wie nichts über die strategischen Zielsetzungen ihres Machtzentrums ermitteln. Die relativ große politische Autonomie dieses Machtzentrums scheint ein gemeinsames Merkmal der faschistischen Bewegungen zu sein, eine primär nach außen gewandte, nicht aus ökonomischen Interessen ableitbare nationale Aggressivität ein anderes. Begriffsbestimmungen des Faschismus müssen infolgedessen mehrschichtig sein: Sie haben seine soziale Basis, seine Funktion für das gesellschaftliche System, seine Herrschaftsmethoden und die langfristigen politischen Zielsetzungen seines Führungskerns zu berücksichtigen. Letztes Ziel der nationalsozialistischen Führung war die Gewinnung von Lebensraum für „die nordische Rasse", was prinzipiell unbegrenzte Expansion und Kampf gegen die jüdische „Gegenrasse" von Anfang in sich schloß. Dieses Ziel war kein soziales, es war in einem ebenso genauen wie umfassenden Sinn a-sozial. Eine a-soziale politische Strategie setzt als Ausgangsbasis ein Milieu voraus, das sich nicht unmittelbar oder nicht vorrangig an materiellen Interessen gebunden fühlt. Zu einem solchen 213 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Milieu gehörten jene zahlreichen Existenzen, die durch den Ersten Weltkrieg aus der Bahn geworfen worden waren und das Kriegserlebnis um jeden Preis zu verlängern strebten. Gesellschaftlich nicht wieder integrierte Kriegsteilnehmer bildeten nicht zufällig eine Kerngruppe faschistischer Bewegungen. Die Bedeutung, die die nationale Parole gerade für entwurzelte Militärs hatte, wird nur verständlich, wenn man sich den Funktionswandel vergegenwärtigt, den diese Parole schon vor Jahrzehnten durchlaufen hatte. In Deutschland hatte bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts das liberale Bürgertum den Adel als Träger der partikularstaatlichen Zersplitterung und sich selbst als Verkörperung der Nation gesehen. Im Zeichen des „Schutzes der nationalen Arbeit" und des Kampfes gegen die „Reichsfeinde" wandelt sich dann die Funktion der nationalen Parole: Aus einer bürgerlichen Emanzipationsforderung wird ein ideologisches Schlaginstrument gegen Sozialdemokratie und Linksliberalismus. Die sozialimperialistische Bewegung, die in den 1880er Jahren einsetzt, verstärkt die antidemokratischen Züge des Nationalismus: Koloniale Expansion soll von inneren Konflikten ablenken. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser „sekundären Integration" (Wolfgang Sauer) wird breiten Schichten immer weniger bewußt: „National" zu sein, versteht sich scheinbar von selbst. Die nationale Parole hat sich gegenüber konkreten sozialen Interessenlagen gewissermaßen verselbständigt. Der Erste Weltkrieg ist der vorläufige Höhepunkt dieser Erfahrung25. Für die Beurteilung des Nationalsozialismus ist die Erkenntnis seiner Endziele ausschlaggebend. An diesen Zielen orientierten sich seine Gegnerschaften und seine Bündnisse. Nützlich war, wer ihm zur Macht verhalf; privilegiert wurde, wer für die letzten Zielsetzungen seines Machtzentrums unentbehrlich war. Aus diesem Prinzip folgte die Umwerbung bestimmter Gruppen vor und ihre unterschiedliche Behandlung nach der Machtergreifung. Der Nationalsozialismus war mithin nicht ein Instrument in den Händen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe - etwa, wie die Komintern es sah, der „am meisten reaktionären und chauvinistischen imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" -, sondern ein weitgehend autonomer Faktor, der allerdings ohne die massive Unterstützung eindeutig identifizierbarer gesellschaftlicher Gruppen nicht an die Macht kommen und sich nicht an der Macht behaupten konnte26. Als Massenbasis kamen für die Nationalsozialisten, da sie aus der Arbeiterschaft nur verhältnismäßig wenige Anhänger gewinnen konnten, vor allem die Mittelschichten in Frage. An diese wandten sie sich mit gezielten Aktionen, seit Hitler nach 1924 auf die Linie legaler Machteroberung eingeschwenkt war und die antikapitalistische Rhetorik des linken NSDAP-Flügels zu dämpfen begonnen hatte. Die Kleinhändler beispielsweise wurden mit Kampagnen gegen jüdische Warenhäuser umworben; den Bauern versprach man, sie würden der erste Stand des Dritten Reiches werden; dem Handwerk wurde alles das zugesagt, was es in der Republik nicht hatte durchsetzen können: der „Große Befähigungsnachweis", der die Ausübung eines Handwerksberufs an den Meistertitel band, die allgemeine Zwangsinnung und vieles andere mehr. Seit sich bei Bauern und Kleingewerbetreibenden der Eindruck verfestigt hatte, daß der „Sozialismus" der NSDAP ihren Besitzstand nicht antasten würde, war diese Partei zumindest kein bedrohlicher Gegner mehr. Sie wurde wählbar, nachdem sie 214 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

sich praktisch den Gesamtkatalog mittelständischer und agrarischer Schutzforderungen zu eigen gemacht hatte. Und sie wurde gewählt, als die kleinen Selbständigen in Stadt und Land außer ihr keine politische Kraft mehr sahen, die ernst machen würde mit der radikalen Beseitigung aller Widerstände gegen die Verwirklichung der eigenen Wünsche. Dieses Empfinden war entscheidend: Nur der Nationalsozialismus versprach, das Übel bei der Wurzel zu packen, die organisierte Arbeiterschaft in ihre Schranken zu weisen, Parlament und Parteien und damit die Gefahr der Majorisierung der Besitzinteressen endgültig auszuschalten. Bei Angestellten und Beamten der einfachen und mittleren Ränge waren es ähnliche Statussorgen, die unter dem Eindruck der ökonomischen Krise immer schwerer drückten und die schließlich den Nationalsozialismus als Rettungsanker erscheinen ließen27. In den Führungsgruppen der deutschen Gesellschaft gingen die Meinungen über den Nationalsozialismus noch länger auseinander als in den Mittelschichten. Im Unternehmerlager stieß naturgemäß vor allem das verschwommene Wirtschaftsprogramm des Nationalsozialismus auf großes Mißtrauen. Das gilt nicht nur für die pseudosozialistischen Parolen der Partei, sondern auch und gerade für jene vagen Versprechungen einer berufsständischen Ordnung, die in den Mittelschichten eine gewisse Popularität besaßen. Außenhandel und Exportindustrie sahen in einer ständischen Neuordnung die Gefahr der wirtschaftlichen Stagnation und des staatlichen Dirigismus. Korporative Ideen schienen der Geschäftswelt nur insoweit akzeptabel, als sie geeignet waren, eine wirksame Vertretung der wirtschaftlichen Interessen gegenüber der Exekutive zu legitimieren und damit das politische Parlament zu neutralisieren. In eine ähnliche Richtung zielten die Pläne einer „Reichsreform", wie sie namentlich von Vertretern der hohen Bürokratie vorangetrieben wurden28. Positive Unterstützung fand der Nationalsozialismus vor allem bei Teilen der Schwerindustrie. Die Symbiose zwischen Ruhrindustriellen und Obrigkeitsstaat, historisch begründet im gemeinsamen Rüstungsinteresse, hatte bei den Unternehmern der Kohlen- und Eisenbranche eine Mentalität entstehen lassen, deren sinnfälligster Ausdruck nach dem Urteil des Ökonomen M. J . Bonn das „Ideal einer kundenfreien Wirtschaft" war29. Ein autoritäres Regime, das soziale Konflikte notfalls mit Gewalt unterdrückte, schien den Schwerindustriellen stets erstrebenswerter als eine liberale Demokratie. Den Standpunkt des Herrn im Hause hat außer dem Handwerk kein Segment der deutschen Gesellschaft so rigoros vertreten wie die Kohle- und Stahlindustriellen; beide Gruppen trafen sich auch in der Entschlossenheit, die sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik bei erster sich bietender Gelegenheit wieder zu beseitigen. Man kann geradezu von einer geheimen politischen und ideologischen Wahlverwandtschaft von Kleingewerbe und Schwerindustrie sprechen: Beide bewegten sich, wann immer sie sich kritischen Situationen gegenübersahen, nach rechts. Zumindest von Teilen der Schwerindustrie gilt, daß sie meist zur gleichen Zeit dieselbe Partei favorisierten wie der gewerbliche Mittelstand - nach der Deutschen Volkspartei die Deutschnationale Volkspartei und schließlich, großen Bedenken zum Trotz, die Nationalsozialisten. Die finanzielle Hilfe, die der Nationalsozialismus durch Schwerindustrielle erfuhr, hatte gewiß nicht denselben Stellenwert wie die massenhafte Unterstützung durch die 215 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Mittelschichten. In den entscheidenden drei Monaten vor dem 30. Januar 1933 trugen jedoch Unternehmer des Montansektors wesentlich dazu bei, der Wahlniederlage der NSDAP vom 6. November 1932 - sie verlor gegenüber dem 31. Juli 1932 über 2 Millionen Stimmen - ihren politischen Sinn zu nehmen und die letzte Alternative zur Diktatur Hitlers, das Regime des Generals von Schleicher, zu liquidieren: Franz von Papen konnte sich bei seinen Bemühungen, den Reichspräsidenten von Hindenburg von der Notwendigkeit einer Kombination Hitler-Papen zu überzeugen, auf das Einverständnis führender Männer der Schwerindustrie stützen, denen - wie dem Gros der Unternehmer überhaupt - der Kurs Schleichers als bei weitem zu arbeitnehmerfreundlich erschien. Noch massiver und direkter wirkte in derselben Phase ein anderer Gralshüter autoritärer Politik auf die nationalsozialistische Machtübernahme hin: der tief verschuldete ostelbische Großgrundbesitz. Die Furcht vor der Aufdeckung der Osthilfe-Skandale scheint das wesentliche Motiv jener Aktivitäten gewesen zu sein, die der Reichslandbund im Dezember 1932 und im Januar 1933 entfaltete, um eine Regierung der „nationalen Konzentration" ans Ruder zu bringen30. Es waren die konservativsten Kräfte der deutschen Gesellschaft, in den Mittelschichten wie unter den traditionellen Eliten, die den größten Anteil an der Machtergreifung Hitlers hatten31. Soweit sie früher zur liberalen Mitte gehört hatten, waren sie schon lange vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus nach rechts gerückt. Die Sehnsucht nach einem „überparteilichen" Staat, die breite Schichten der deutschen Gesellschaft - und nicht zuletzt auch das Bildungsbürgertum - mit der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft" sympathisieren ließ, nährte sich aus den Illusionen, die der kaiserliche Obrigkeitsstaat mit Bedacht gepflegt hatte. Mittelständischer und agrarischer Protest wurde nicht - wie in den Vereinigten Staaten oder Frankreich durch die nachwirkende Erinnerung an eine demokratische Revolution davor bewahrt, antidemokratisch zu werden. Es gab in Deutschland keine populistische Alternative zum populären Autoritarismus. Auf der anderen Seite war der Kapitalismus nie gezwungen gewesen, seine politischen Ansprüche demokratisch zu legitimieren. Die Chance der sozialen Rückversicherung, die ihm herrschaftsgewohnte vorkapitalistische Kräfte boten, ersparten ihm die Bewährung im offenen Konflikt. Die Vereinigten Staaten wurden von der Weltwirtschaftskrise auf vielen Gebieten noch härter getroffen als Deutschland. Daß sie die Krise politisch bewältigten, ohne ihre liberalen Errungenschaften und demokratischen Institutionen preiszugeben, paßt nicht in jene vulgärmarxistische Theorie, die im Faschismus den politischen Oberbau des Monopolkapitalismus sieht. Es ist in der Tat kein Zufall, daß faschistische Bewegungen nur in solchen Gesellschaften erfolgreich waren, in denen das Bürgertum sich nur unvollkommen von den Bindungen der ständischen Gesellschaft emanzipiert hatte. Der Feudalismus hat mit dem Faschismus mindestens ebensoviel zu tun wie der Kapitalismus. Der Nationalsozialismus knüpfte auf gesellschaftspolitischem Gebiet an „rechte" Traditionen an, ohne nach Ziel und Methode je mit der traditionellen Rechten identisch zu werden. Am ehesten noch berührten sich seine politischen Parolen mit denen des Vulgärkonservativismus der Wilhelminischen Ära - eines Konservativismus, der sich mit plebiszitären Mitteln und in antiliberaler Absicht eine Massenbasis geschaffen 216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

hatte. Daß diese Basis nur in den Mittelschichten gefunden werden konnte, war den Wortführern der Rechten niemals fraglich gewesen. Der Ausdruck „Extremismus der Mitte" erweckt den Eindruck, als hätte der Nationalsozialismus irgendwo in der Mitte zwischen links und rechts gestanden. In Wirklichkeit konnte er wie andere faschistische Bewegungen nur im Bunde mit der traditionellen Rechten an die Macht kommen, und er erhielt diese Unterstützung, weil sich seine Angriffe ganz überwiegend gegen die politische Linke richteten. Als totalitäre Bewegung konnte er freilich keinerlei Opposition gegen sich dulden, und soweit sich Teile der traditionellen Eliten seinem politischen Anspruch nicht beugten, wurden auch sie ausgeschaltet. Was egalitär, ja Sozialrevolutionär wirkte am Nationalsozialismus, war einmal ein Reflex seiner plebejischen Instinkte, zum anderen und weit mehr noch - eine notwendige Folge des von ihm gesetzten Primats des Krieges: Die Gesellschaftspolitik wurde immer mehr zur Fortsetzung der Außenpolitik mit anderen Mitteln. Am Ende stand die nihilistische Negation aller konkreten Interessen überhaupt. Es ist diese Wendung gegen das Soziale schlechthin, die den Nationalsozialismus zu einer extremen Erscheinungsform der politischen Rechten macht zur extremsten, die die Geschichte kennt.

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14. D i e A n t i - N e w - D e a l - B e w e g u n g e n : Politik u n d Ideologie der Opposition gegen Präsident F. D . Roosevelt

Im Jahre 1906 veröffentlichte der deutsche Nationalökonom Werner Sombart eine Broschüre unter der inzwischen schon fast klassisch gewordenen Titelfrage: „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?" Sombart untersuchte einen ins Auge springenden Unterschied zwischen der europäischen und der nordamerikanischen Sozialentwicklung und glaubte die wichtigste Ursache dieser Differenz darin zu finden, daß im „Kanaan des Kapitalismus" der Arbeiter jahrzehntelang zwischen unselbständiger und selbständiger Existenz habe wählen können: Die offene Grenze im Westen schien ein hohes Maß an sozialer Mobilität und damit eine die bestehende Gesellschaftsordnung prinzipiell bejahende Mentalität zu bewirken, die sich vom proletarischen Klassenbewußtsein europäischer Prägung scharf abhob1. Drei Jahrzehnte später hätten europäische Beobachter der amerikanischen Szene versucht sein können, Sombarts Frage zeitgemäß abzuwandeln: „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Faschismus?" Wenn die Zeit der Weltkriege die „Epoche des Faschismus" genannt werden kann, so bildete sie zugleich das letzte Kapitel der Weltgeschichte Europas2. Es waren die gemeinhin unter dem Begriff „Faschismus" zusammengefaßten Regime, die Ende der dreißiger Jahre in Kontinentaleuropa dominierten und durch die von Europa aus nochmals der übrigen Welt das Gesetz des Handelns aufgezwungen wurde. Im Rückblick erscheint es jedoch keineswegs selbstverständlich, daß die politische Entwicklung der Vereinigten Staaten in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gänzlich anders verlief als etwa diejenige Deutschlands. Die Weltwirtschaftkrise traf die USA insgesamt kaum weniger hart als Deutschland, und sie dauerte in Amerika sehr viel länger als in Mitteleuropa3. Die politische Reaktion auf die Krise war gleichwohl im einen Fall der Sieg des Nationalsozialismus, im anderen der New Deal. Schärfer und zugleich allgemeiner gewendet: Während die Stabilisierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Deutschland sich unter vollständiger Beseitigung der Errungenschaften und Institutionen des liberal-parlamentarischen Staates vollzog, wurde dieselbe Operation in Amerika unter prinzipieller Beibehaltung der überkommenen Gewaltenteilung und der individuellen Rechtssicherheit durchgeführt. Mit dieser Feststellung haben wir bereits eine Art definitorischer Vorentscheidung getroffen. In der zeitgenössischen Diskussion über den Faschismus gab es durchaus andere Meinungen, und es illustriert die Vieldeutigkeit dieses Begriffs, daß unter ihm sowohl der New Deal als auch die gegen die Wirtschaftspolitik F. D. Roosevelts gerichteten Bewegungen rubriziert wurden. Wir wollen das zweite Problem - die Beurteilung der Protestbewegung gegen Roosevelt - für einen Augenblick noch zurück218 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

stellen und uns zunächst der Interpretation des New Deal durch einzelne seiner Kritiker zuwenden. Wenn ein linksliberaler Publizist wie I. F. Stone bereits 1933 meinte, Roosevelts Politik werde als Ganzes nur unter der Hypothese verständlich, daß er sich auf den Faschismus zubewege, so zielte diese Befürchtung vor allem auf die staatlichen Eingriffe in die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wie sie die National Recovery Administration (NRA) in Form von Rahmenverträgen (codes) mit Mindestlohn- und Arbeitszeitbestimmungen vornahm. Dieselbe Tendenz sahen die amerikanischen Kommunisten am Werk: Der New Deal, so schrieb 1935 der „Daily Worker", strebe nach Faschismus und Krieg, um die Arbeiter in industrieller Sklaverei zu halten4. Aber auch bei Demokraten der alten Schule stieß die staatliche Wirtschaftssteuerung auf Faschismusverdacht. Sie bedauerten, wie es einer von ihnen- Senator Carter Glass von Virginia-formulierte, „die äußerst gefährliche Bemühung der Bundesregierung in Washington, den Hitlerismus in jeden Winkel des Landes zu verpflanzen"5. Was diese Kritiker an die Praktiken des faschistischen Italien und des nationalsozialistischen Deutschland erinnerte, war nicht nur die propagandistische Untermalung des Rooseveltschen Arbeitsbeschaffungsprogramms, sondern die Rolle des Staates bei der Lenkung der Wirtschaft überhaupt. Für einen Ökonomen wie Robert F. Brady zielte praktisch jeder staatliche Versuch, die Krise auf dem Boden der gegebenen Wirtschaftsordnung zu überwinden, die Überführung des liberalen Wettbewerbskapitalismus in den staatlich organisierten Kapitalismus also, in die Richtung des Faschismus. Er konnte darauf verweisen, daß es zahlreiche Kräfte in der amerikanischen Unternehmerschaft gab, die danach strebten, die Gewerkschaften als sozialen Kontrahenten auszuschalten und die Gesamtgesellschaft ideologisch auf die mit dem Gemeinwohl identifizierten Interessen von „big business" zu verpflichten6. Der erste Einwand, der sich gegen diese These erheben läßt, zielt auf die zugrunde liegende Begriffsbestimmung des Faschismus. So unbestreitbar es ist, daß italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus die auf dem Privateigentum beruhende Wirtschaftsordnung stabilisiert und die sie in Frage stellenden gesellschaftlichen Kräfte aus dem politischen Leben ausgeschaltet haben, so unleugbar ist es doch andererseits, daß dies nicht das strategische Ziel beider Regime, sondern nur die Vorbedingung der Verwirklichung ihrer politischen Programme war. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, an dieser Stelle eine umfassende Definition des Herrschaftstypus „Faschismus" vorzulegen. Das folgende wird man jedoch heute als gesichert ansehen dürfen: Die Machtzentren im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien waren nicht „Agenten des Monopolkapitals", sondern relativ autonome Faktoren; ihre letzten Zielsetzungen deckten sich nicht mit denen der industriellen Führungsgruppen; der Wille zum Krieg war nicht das logische Resultat ökonomischen Interessendrucks, sondern der ideologischen Prämissen, von denen die Regime ausgingen. Wenn man nicht einem inflationären Gebrauch des Begriffs „Faschismus" Vorschub leisten will, wird man festhalten müssen, daß die beiden Regime, auf die dieser Terminus am eindeutigsten anwendbar ist, charakterisiert waren durch eine vollständige Loslösung der Exekutivgewalt von parlamentarischer und richterlicher Kontrolle, durch die gewaltsame Unterdrückung eines autonomen ge219 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

seilschaftlichen Pluralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der auf dem Privateigentum beruhenden Sozialbeziehungen und - in Deutschland noch weit radikaler als in Italien - durch den Willen zu hegemonialer Expansion. Die Übereinstimmung zwischen wichtigen Teilen der Unternehmerschaft und dem Regime beruhte in beiden Fällen, wenn man von den direkten Nutznießern der Aufrüstung absieht, primär auf dem gemeinsamen Interesse an einer Neutralisierung von Parlament und Arbeitnehmerorganisationen7. Eine Verfassungsfeindschaft wie in Deutschland gab es unter den amerikanischen Unternehmern nicht. Die prinzipiell gewerkschaftsfeindlichen Tendenzen konnten sich unter der Roosevelt-Administration nicht durchsetzen. Das führt uns zu einem zweiten Einwand gegen die Argumentation Bradys, der die Wirtschaftspolitik im engeren Sinn, den Charakter des New Deal und die Stellung der Unternehmer zu ihm betrifft. Anders als in Deutschland brachte in den Vereinigten Staaten die Wiederankurbelung der Wirtschaft der Arbeiterschaft nicht die Liquidation ihrer Errungenschaften, sondern einen Gewinn an Rechten. Die Gewerkschaften wurden nicht ausgeschaltet; sie bildeten vielmehr, seit ihnen die Tarifvertragsfähigkeit und ein von den Arbeitgebern unbeschränktes Koalitionsrecht ausdrücklich bestätigt worden waren, eine der verläßlichsten Säulen der „Roosevelt Coalition". Durch den Social Security Act von 1935 wurden auf Bundesebene eine Arbeitslosenversicherung und - wenigstens für Teile der Arbeiterschaft - eine Altersversicherung eingeführt; beides Maßnahmen, mit denen ein elementarer sozialpolitischer Nachholbedarf gegenüber Europa befriedigt werden sollte. Der New Deal bildete das Begriffsdach über einer Vielzahl von Institutionen und Projekten, die sich keineswegs alle an einer einheitlichen Zielsetzung orientierten. Das entsprach der Heterogenität der Kräfte, die die Wirtschaftspolitik der Roosevelt-Administration formten. Neben Anhängern einer durchkartellierten, sich selbst verwaltenden Wirtschaft und Befürwortern einer quasi-korporativen Zusammenarbeit der Organisationen von Unternehmern und Arbeitern gab es Advokaten des unverfälschten Wettbewerbs, die die Tradition der „trust busters" des Jahrhundertanfangs fortsetzten. Die Konzentrationsgegner entfalteten - vor allem seit der neuerlichen Rezession von 1937 - eine bemerkenswerte propagandistische Aktivität. Die Kartellierungstendenzen, die durch die NRA, solange sie bestand, faktisch gefördert worden waren, konnte diese Gruppe freilich nicht aufhalten. Die Anerkennung des „collective bargaining" widersprach zwar der traditionell gewerkschaftsfeindlichen Haltung der meisten Unternehmer, erwies sich aber bald als eine der wirksamsten Sicherungen des gegebenen Wirtschaftssystems. Der Staat handelte in der New-DealPhase gewissermaßen als aufgeklärter Gesamtkapitalist. Er setzte die übergreifenden Interessen der individuellen Unternehmer auch gegen deren Widerstand durch. Die New Dealer glaubten, wie Arthur M. Schlesinger, Jr., bemerkt, an den Kapitalismus; sie wünschten das System zu reformieren, nicht zu zerstören8. In diesem Punkt trafen sie sich durchaus mit den europäischen Protagonisten eines „Organisierten Kapitalismus", deren Vorstellungen vom notwendigen Ausmaß staatlicher Wirtschaftssteuerung vielen Unternehmern zu weit gingen. Der Widerstand der deutschen Industrie gegen Schleichers Politik öffentlicher Arbeitsbeschaffung ist ein Beispiel dafür9. 220 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Wie in Deutschland und Italien stand auch in den Vereinigten Staaten die während des Ersten Weltkrieges erprobte staatliche Koordination der Wirtschaft Modell für die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise10. In den Vereinigten Staaten aber waren Arbeitsbeschaffungsprogramme, Bankenkontrolle und landwirtschaftliche Sanierung Mittel einer Wiederbelebung der Wirtschaft und nicht, wie im nationalsozialistischen Deutschland, Instrumente, die primär der Kriegsvorbereitung dienten. Die Mängel des New Deal waren offenkundig. Wie wenig ihm eine Gesamtkonzeption zugrunde lag, zeigte sich daran, daß einzelne seiner Maßnahmen sich strikt widersprachen. Dem Kleingewerbe etwa, das durch die arbeitsrechtlichen Rahmenregelungen der NRA zum Teil hart getroffen wurde, billigte der Robinson-Patman-Act von 1936 einen, allerdings nicht sehr wirksamen Schutzanspruch gegen Preisdiskriminierungen zu. Der erwähnten Konzentrationsförderung durch die NRA stand die Konzentrationsbekämpfung auf dem Gebiet der Energieversorgung gegenüber. Die Aktivitäten der NRA erwiesen sich wirtschaftspolitisch insgesamt als Fehlschlag: Die „codes" wirkten preissteigernd und kaufkraftmindernd. Soweit die Wirtschaft sich wieder erholte, war dies jedenfalls nicht eine Folge irgendwelcher organisatorischer Eingriffe. Auch auf dem Gebiet der Konjunkturpolitik war Roosevelt nicht konsequent. So hat zu der Rezession von 1937 vor allem der Umstand beigetragen, daß angesichts gewisser Symptome eines konjunkturellen Aufschwungs die staatlichen Ausgaben vorzeitig zurückgeschraubt worden waren. Finanzminister Morgenthau war grundsätzlich ein Anhänger des ausgeglichenen Budgets. Das „deficit spending" blieb bis 1937 so halbherzig, daß man den New Deal kaum als ein frühes Musterbeispiel des praktischen Keynesianismus bezeichnen kann. Überdies tat die Administration Roosevelts auch psychologisch nicht viel, um die Investitionsbereitschaft der Unternehmer zu steigern. Die von der öffentlichen Hand induzierte Konsumkonjunktur war darum nur bedingt ein Beitrag zur Überwindung der Depression. Wie immer man indes Mängel und Leistungen des New Deal bewertet - das Etikett „faschistisch" ist ein Zeichen von Begriffsverwirrung11. Seine entschiedensten Anhänger fand Roosevelts Wirtschaftspolitik bei Arbeitern, Angestellten in nicht-leitender Stellung, großen Teilen der Farmer und bestimmten ethnischen Gruppen mit meist geringem Einkommen wie Italienern und Polen. Dazu kamen die Neger. Obwohl Roosevelt mit Rücksicht auf die südstaatlichen Demokraten keinerlei Schritte zur Erweiterung der Bürgerrechte unternahm, bewirkten die sozialen Anstrengungen seiner Administration, daß die Neger erstmals 1936 sich von der Partei Abraham Lincolns, den Republikanern, abwandten und mehrheitlich die Demokratische Partei Franklin Delano Roosevelts unterstützten12. Der „Roosevelt Coalition" stand - nach einer kurzen Phase begrenzter Kooperation - seit 1934 als nahezu geschlossene Opposition „big business", an seiner Spitze die New Yorker Banken, gegenüber. Für das Gros der Industriellen und Bankiers signalisierte der New Deal einen Bruch mit der Tradition des „free enterprise", einen Angriff auf die überkommenen Wertvorstellungen des „rugged individualism" und den Vormarsch etatistischer, kollektivistischer und sozialistischer - kurz: unamerikanischer Tendenzen. Um eine Abwehrfront gegen diese Kräfte zu mobilisieren, wurde 221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

1934 unter ausschlaggebender Mitwirkung der Konzerne Du Pont und General Motors die „American Liberty League" ins Leben gerufen. Sie sollte die Lücke füllen, die die führer- und konzeptionslosen Republikaner 1933 hinterlassen hatten. Die neue Vereinigung beschwor den Geist der amerikanischen Verfassung, der allen ausländischen Regierungssystemen und Ideologien wie Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus weit überlegen sei. Es gelte, so erklärte ihr Vorsitzender, Jouett Shouse, im November 1934, gegenüber subversiven Theorien und fremdartigen Doktrinen den „fundamental Americanism" aufrechtzuerhalten. Gemeint war damit die freie, nicht von der staatlichen Bürokratie regulierte Unternehmerwirtschaft im Sinne des Manchesterkapitalismus - eine liberale Idylle, die angesichts der Weltwirtschaftskrise notwendigerweise reaktionäre Züge annahm. In der Tat schlug die American Liberty League ernsthaft vor, alle direkten Fürsorgefälle dem Roten Kreuz zu übertragen. Für die übrigen hieß das Allheilmittel „Selbsthilfe". In dem Maß, wie Roosevelt seit 1935 - im Zeichen des sogenannten „Zweiten New Deal" - nach links rückte und ein umfangreiches soziales Hilfsprogramm zu verwirklichen begann, spitzte sich die Polemik der Liberty League gegen den Präsidenten zu. Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1936 unterstützten die meisten ihrer führenden Mitglieder, darunter auch der ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidat Al Smith, den republikanischen Bewerber Alfred M. Landon. Roosevelts überwältigender Sieg - er gewann die Mehrheit in allen Staaten mit Ausnahme von Maine und Vermont und erhielt über 10 Millionen Stimmen mehr als sein wichtigster Gegenkandidat-bezeichnete zugleich den Anfang vom Ende der American Liberty League. Die Honoratiorenvereinigung des amerikanischen Konservativismus, die Roosevelts Mythos vom „forgotten man" keine überzeugende Alternative entgegenzusetzen vermocht hatte, konnte nach dieser Niederlage kaum noch mit öffentlichem Interesse rechnen. Im Jahre 1940 hörte sie zu bestehen auf13. Weitaus massiver als die Aktivität der American Liberty League war die Agitation des Pressekonzernherrn William Randolph Hearst, der sich 1933 binnen kurzem von einem Anhänger zu einem Gegner Roosevelts gewandelt hatte. Daß die Regierung sich in die Privatwirtschaft „einmischte", setzte sie bereits dem Verdacht aus, kommunistisch infiltriert zu sein. Gegen den Kommunismus aber mußte mit allen Mitteln vorgegangen werden und das in Europa getan zu haben, war das ausgiebig gewürdigte Verdienst Mussolinis und Hitlers. In den Vereinigten Staaten sah Hearst, wie er im November 1934 die Chefredakteure seiner etwa 30 Zeitungen und Zeitschriften wissen ließ, noch („as yet") keine wirkliche faschistische Bewegung am Werk. Für die Zukunft schloß er die Notwendigkeit einer solchen jedoch nicht aus. „Der Faschismus ist ganz eindeutig eine Bewegung mit dem Ziel, den Kommunismus zu bekämpfen und unschädlich zu machen, und so die am wenigsten fähige und glaubwürdige Klasse davon abzuhalten, die Kontrolle über dieses Land zu gewinnen. Der Faschismus wird in den Vereinigten Staaten erst entstehen, wenn eine solche Bewegung wirklich nötig wird, um uns vor dem Kommunismus zu bewahren." Für wünschenswert hielt Hearst diese Entwicklung nicht. Solange die bestehende Gesellschaftsordnung mit den traditionellen Mitteln aufrechtzuerhalten war, zeigte sich Hearst geneigt, dem amerikanischen Regierungssystem den Vorzug vor allen 222 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

„crazy isms" zu geben. Allerdings mußte man zu diesem Zweck bereit sein, gravierende Abstriche an durchaus nicht unamerikanischen Errungenschaften vorzunehmen. So erklärte die Hearst-Presse die akademische Freiheit für eine „Phrase, die von den radikalen Gruppen als eine neue Tarnung übernommen wurde, um uns fremdartige Doktrinen zu lehren". Im Herbst 1934, unmittelbar nach seiner Rückkehr von einem Besuch bei Hitler, organsierte Hearst eine Pressekampagne zur gewaltsamen Unterdrückung des Generalstreiks in San Francisco. Die Bewunderung für die faschistischen Regime Europas schlug zusehends um in die Propagierung einer Politik, die Amerika diesen Systemen angleichen mußte14. Von den Widerständen, auf die der New Deal innerhalb der Machtelite stieß, war indes nicht die demagogische Opposition Hearsts, sondern die legalistische des Supreme Court die effektivste. Aufgrund einer Verfassungsinterpretation, die in etwa der Philosophie der American Liberty League entsprach, erklärte er sieben von neun wichtigen New-Deal-Gesetzen für ungültig. Das richterliche Prüfungsrecht bewährte sich noch einmal als das konservative Korrektiv zur Gesetzgebung, als das es Alexander Hamilton einst im „Federalist" No. 78 konzipiert hatte. Folgerichtig feierten die Republikaner im Wahlkampf 1936 den Obersten Gerichtshof als diejenige Institution, die Amerika vor einer totalitären Diktatur bewahrt habe. Der Versuch des überlegenen Wahlsiegers Roosevelt, die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofes auf dem Gesetzesweg zu ändern, stieß indes auf heftigen Widerspruch auch seiner politischen Freunde. Erst der Gesinnungswandel eines Richters, dem bald der Rücktritt mehrerer seiner Kollegen folgte, änderte schließlich die Mehrheitsverhältnisse im Supreme Court und beseitigte damit den wirksamsten institutionellen Rückhalt der konservativen Opposition gegen die neue Wirtschaftspolitik15. Die Ablehnung einer staatlichen Steuerung des Produktionsprozesses war das gemeinsame Merkmal der konservativen Widerstände gegen den New Deal. In ebendiesem Punkt unterschieden sie sich deutlich von den auf Massenbasis beruhenden oppositionellen Strömungen, denen der New Deal in der Zähmung von „Wall Street" und in der Einkommensumverteilung nicht weit genug ging. Ihre Attacken auf das internationale Finanzkapital haben den Anti-New-Deal-Bewegungen zwei Etikettierungen eingetragen, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben: Zum einen sind sie als Erben des Populismus des späten 19. Jahrhunderts, zum anderen als die amerikanische Spielart des Faschismus bezeichnet worden16. Die „populists", eine hauptsächlich von Farmern des Mittelwestens, der nordwestlichen Zentralstaaten und des Südens getragene Bewegung, waren die erfolgreichsten aller „dritten Parteien", die außerhalb des hergebrachten Zweiparteienschemas Einfluß auf die Politik von Bund und Einzelstaaten zu nehmen suchten. Ihr Protest richtete sich vor allem gegen die für den Getreidetransport wichtigen Eisenbahn-Aktiengesellschaften, von denen sich die Farmer materiell übervorteilt fühlten, und gegen die deflationistische Währungspolitik der Regierung, als deren Hauptnutznießer die Banken galten. Positiv traten die Populisten vor allem für eine Verstärkung der plebiszitären Komponente im Willensbildungsprozeß ein - eine Zielsetzung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die gegen die industriellen Monopole gerichtete Bewegung des „progressivism" übernahm. Nicht zuletzt dieser Programmatik verdankten es die Populisten, daß sie lange Zeit als 223 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

eine fortschrittliche Bewegung und als Ausdruck einer „grass root democracy" angesehen wurden17. Unter dem Eindruck des McCarthyismus wurde in den fünziger Jahren dieses positive Bild namentlich von Richard Hofstadter in Frage gestellt, der der bisherigen Forschung eine Unterschätzung der agrarromantischen und antisemitischen Elemente des Populismus vorwarf18. Da man diese Momente verstärkt bei einigen der Anti-Roosevelt-Bewegungen fand und bei diesen unschwer Berührungspunkte mit dem deutschen Nationalsozialismus entdecken konnte, schienen die Zusammenhänge hinreichend geklärt. Neuere Untersuchungen sind inzwischen zu differenzierteren Ergebnissen gelangt. Kritiker Hofstadters haben die Existenz eines weitverbreiteten populistischen Antisemitismus in Abrede gestellt, die Rolle von Industriearbeitern als Verbündeten der Farmer betont und nachgewiesen, daß die rechtsradikale Bewegung des McCarthyismus den Kern ihrer Anhängerschaft nicht im ehedem populistischen Milieu, sondern bei der traditionell republikanischen Wählerschaft gehabt hat19. Zwischen Populismus und Protestbewegung gegen den New Deal ist dagegen zumindest in einem Fall ein wahlsoziologischer Zusammenhang schlüssig zu belegen: in Louisiana. Hier konnte der Gouverneur und spätere Senator Huey Long überall dort besonders große Wahlerfolge erringen, wo früher die Populisten stark gewesen waren. Long galt vielen Zeitgenossen als ein potentieller amerikanischer Hitler. Anlaß zu diesem Vergleich gab die persönliche Diktatur, die Long in dem traditionellen Einparteienstaat Louisiana errichtet hatte: Er kontrollierte die Verwaltung durch ein System perfektionierter Patronage, beherrschte die Legislative und die Justiz und hatte fast unbegrenzte Möglichkeiten zur Manipulation von Wahlergebnissen. Im Jahre 1928 als Kandidat der weißen Unterschichten - vor allem der ländlichen Distrikte - an die Macht gekommen, behandelte Long das traditionelle Honoratiorenregime der Plantagenbesitzer und der Standard Oil Company als Hauptgegner. Seine innenpolitischen Errungenschaften - eine armenfreundliche Steuergesetzgebung, umfangreiche Straßenbauarbeiten, die Einführung kostenloser Lernmittel an den Schulen - sicherten ihm eine breite populäre Resonanz nicht nur bei den weißen, sondern auch bei den in seine Wohlfahrtsmaßnahmen bewußt einbezogenen schwarzen Unterschichten. Obwohl Long die rassischen Vorurteile des durchschnittlichen Südstaatlers teilte, hat er doch nicht versucht, aus dem Ressentiment gegen die Neger politisches Kapital zu schlagen. Zu einem Faktor der nationalen Politik wurde Long erst, seit er sich in die Front der Gegner Roosevelts eingereiht und Präsidentschaftsaspirationen hatte durchblicken lassen. Die Initiative zum Bruch scheint von Roosevelt ausgegangen zu sein: Der Präsident sah in Long, der 1932 bei der Nominierung von F. D. R. auf dem demokratischen Parteikonvent eine Schlüsselrolle gespielt und den New Deal anfangs nachdrücklich unterstützt hatte, einen Demagogen und gefährlichen Rivalen. Die Entscheidung, Anhänger Longs von der präsidentiellen Ämterpatronage auszuschließen, gab den unmittelbaren Anstoß zum Konflikt. Wenig später leiteten die Bundesbehörden eine Untersuchung wegen vielfach behaupteter Unregelmäßigkeiten bei Longs Wahl zum Senator (1930) ein. Long seinerseits warf dem Präsidenten die Kürzung der Veteranenrenten, mangelnde Bereitschaft zur Umverteilung des Vermögens und 224 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

allgemein - eine wachsende Abhängigkeit von Banken und Konzernen vor. Die nationale Plattform Longs bildete seit 1932 das ,,Share-Our-Wealth"-Programm, eine Sammlung werbewirksamer wirtschaftspolitischer Leitsätze, deren Prämissen freilich nicht durchwegs von nationalökonomischem Sachverstand zeugten. Nach den Vorstellungen Longs sollte etwa jeder Familie ein schuldenfreies Mindestvermögen von 5000$ garantiert und, um dieses Ziel zu erreichen, eine obere Vermögensgrenze etwa bei 5 Millionen $ gezogen werden. Ferner sollten alle Personen über 60 Jahren eine monatliche Rente erhalten, jedermann ein jährliches Mindesteinkommen von 2000 $ gewährleistet, die Arbeitszeit verkürzt, die Agrarproduktion durch Regierungsankäufe ausbalanciert und begabten Kindern eine kostenlose College-Ausbildung gewährt werden. Angesichts der raschen Ausbreitung der „Share-Our-Wealth"-Clubs über das ganze Land - ihre Zahl betrug 1935 27 000 - und der erfolgreichen Werbefeldzüge Longs bei den Farmern des Mittelwestens nahm man im Weißen Haus die Ambitionen des Senators auf das höchste Amt der Vereinigten Staaten durchaus ernst. Zu einer Nominierung Longs als Präsidentschaftskandidat einer dritten Partei kam es jedoch nicht mehr: Long wurde im September 1935 von einem österreichischen Einwanderer ermordet. Die weitgehende Abschaffung aller für eine demokratische Repräsentativverfassung konstitutiven Elemente im Louisiana Huey Longs reicht kaum aus, sein Regime als faschistisch zu bezeichnen. Von den faschistischen Diktaturen Europas unterschied es sich vor allem darin, daß es nicht gegen die organisierte Arbeiterschaft gerichtet war. Indem Long die traditionelle Oberschicht aus ihrer politischen Führungsrolle verdrängte, blieb er vielmehr durchaus der populistischen Tradition treu. Sein Regime trug manche Züge einer Entwicklungsdiktatur. Damit ist zugleich angedeutet, daß man zwischen der regionalen und der nationalen Funktion Longs differenzieren muß. Die Herrschaftsmethoden, die in dem sozialökonomisch unterentwickelten Louisiana partiell als Vehikel des sozialen Wandels dienen mochten, wären auf Bundesebene ihrem Zweck völlig unangemessen gewesen. Betrachtet man die gesellschaftspolitischen Forderungen Longs isoliert, so waren sie innerhalb des politischen Panoramas der Vereinigten Staaten eher links als rechts von der Mitte einzuordnen. Zwar kann von einer besonders arbeiterfreundlichen Politik Longs ebensowenig die Rede sein wie von einer prinzipiell unternehmerfreundlichen; er tat nur wenig für die Arbeitslosen, und in seinen posthum erschienenen hypothetischen Memoiren „My First Days in the White Hose" ernannte Präsident Huey Long einige führende Bankiers und Industrielle zu Mitgliedern seines Kabinetts. Die Vermögensumschichtung zugunsten einkommensschwacher Gruppen aber, die Long beharrlich propagierte, ging weit über das hinaus, was aus den Kreisen der New Dealer bisher an Reformplänen vorgelegt worden war. Seine Anhänger fand Long, wie einige Meinungsumfragen aus dem Jahr 1935 zeigen, im tiefen Süden und in den alten Hochburgen des Populismus, dem mittleren Westen und den Rocky-Mountain-Staaten. Wähler, die früher „linke" Protestkandidaten unterstützt hatten, waren besonders geneigt, sich Long anzuschließen. Da Long - trotz der 7,7 Millionen eingetragener Interessenten seines Share-OurWealth-Movement - keinerlei Chance besaß, als Führer einer dritten Partei Präsident 225

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zu werden, hätte die von ihm angestrebte Kandidatur äußerstenfalls den Effekt haben können, die konservative Opposition der Republikaner wieder ins Weiße Haus zu bringen. Long kalkulierte diese Möglichkeit ein, ja er sah in ihr eine Voraussetzung für seinen Wahlsieg im Jahre 1940. Die stark subjektiven Elemente seines Kampfes gegen Roosevelt waren für die Protestbewegung gegen den New Deal typisch. Sie trugen mit dazu bei, daß diese Bewegung ihre Reformimpulse ebenso verlor wie ihren Massencharakter und in einzelnen Ausläufern auf dem äußersten rechten Rand des politischen Spektrums endete20. Diese Feststellung trifft in besonderem Maß auf einen Mann zu, den man sehr viel eindeutiger als Long den Exponenten eines amerikanischen Faschismus nennen kann: auf Father Charles Coughlin, einen katholischen Priester in Detroit, der mit seinen regelmäßigen Rundfunkansprachen zeitweilig ein Publikum von 40 Millionen erreichte. Wie Long hatte Coughlin als Anhänger Roosevelts und des New Deal begonnen, um dann seit 1934 eine immer schärfere Sprache gegenüber dem Präsidenten anzuschlagen. Von der mangelnden Würdigung seiner rhetorischen Hilfsdienste für Roosevelt enttäuscht, konzentrierte Coughlin seine Attacken auf das nach seiner Ansicht zu langsame Tempo des deficit spending, die nicht ausreichenden Schutzmaßnahmen für die Farmer und die unverändert große Macht des internationalen Finanzkapitals. Seine Agitation stellte er folgerichtig einmal auf das agrarische Amerika ab, das dem modernen Kapitalismus innerlich fremd gegenüberstand, zum anderen auf die städtische Unterschicht, soweit sie sich vom New Deal nicht hinlänglich berücksichtigt sah. In diesem Milieu fand Coughlin, als er sich 1934 in der „National Union for Social Justice" eine politische Plattform schuf, auch die meisten Anhänger: neben Farmern der westlichen Zentralstaaten insbesondere schlecht entlohnte Arbeiter und Arbeitslose im Nordosten, während „small business" weniger stark in Erscheinung trat. Das Programm der neuen Vereinigung forderte unter anderem einen gerechten Mindestlohn für jede Art von Arbeit, gerechte Preise für die Farmer, die ausschließliche Zuständigkeit des Kongresses für Fragen der monetären Politik, das Koalitionsrecht für die Arbeiter bei gleichzeitiger Pflicht des Staates, die Organisationen der Arbeiter vor den „vested interests of wealth and intellect" (!) zu schützen. Der radikalste Programmpunkt bestand in der Forderung nach einer Nationalisierung von solchen Wirtschaftssektoren, ,,die ihrer Natur nach zu wichtig sind, um von Privatpersonen kontrolliert zu werden" - gemeint waren Energieversorgung und Bodenschätze. In allen übrigen Bereichen sollte das Privateigentum unangetastet bleiben. Ihre regionalen Schwerpunkte hatte die National Union for Social Justice in katholischen Stadtbezirken der Staaten Massachusetts und New York, wo es 1935 viermal so viele lokale Untergruppen gab wie in den agrarisch-protestantisch geprägten Staaten Minnesota und Wisconsin. Coughlin griff damit über das Einzugsfeld des Populismus weit hinaus. Meinungsumfragen, die allerdings aus dem Jahre 1938 stammen, bestätigen, daß Coughlin in den einkommenssschwächsten Gruppen auf die stärksten Sympathien stieß. Unter den Protestanten, die sich im Durchschnitt zu Coughlin eher ablehnend als zustimmend verhielten, fand sich nur bei den Lutheranern eine relative Mehrheit 226 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

von Coughlin-Sympathisanten. Innerhalb gegebener religiöser und sozialer Gruppen stand die Bereitschaft, Coughlins Ansichten zu unterstützen, in einem Verhältnis umgekehrter Proportionalität zur Einkommenshöhe. Für die Zeit bis 1936 wird man von einer populistischen Phase Coughlins sprechen können. Seine das unverdorbene Volk gegen die korrupten Führungsschichten ausspielende Rhetorik, der Ruf nach einer Silberwährung - im Effekt einer Politik des leichten Geldes also - und die direkte Berufung auf Wortführer des Farmerprotestes des späten 19. Jahrhunderts machen deutlich, in welcher Tradition Coughlin sich selber sah. Obwohl extrem nationalistische, gewerkschaftsfeindliche und gelegentliche antisemitische Elemente in der Agitation Coughlins auch schon vor 1936 in Erscheinung traten, waren sie damals noch nicht das dominierende Merkmal seiner Bewegung. Das änderte sich nach den Präsidentschaftswahlen jenes Jahres. Coughlin, der sich als gebürtiger Kanadier nicht selbst um das höchste Amt der Vereinigten Staaten bewerben konnte, hatte zusammen mit Gerald L. K. Smith, dem Nachfolger Longs als Führer des Share-Our-Wealth-Movement, und dem kalifornischen Altersrentenreformer Dr. Peter Townsend eine neue Partei, die Union Party, gegründet und den Kongreßabgeordneten William Lemke aus North Dakota als Präsidentschaftskandidaten der neuen Gruppe unterstützt. Lemke sollte alle diejenigen hinter sich bringen, denen der New Deal nicht weit genug ging und die Republikaner zu konservativ waren. Bis auf die fehlende Nationalisierungsforderung war das Programm der Union Party mit dem der National Union for Social Justice nahezu identisch. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf. Roosevelt hatte rechtzeitig der Protestbewegung den Donner gestohlen, indem er den Arbeitslosen, den Farmern und den Alten effektive Hilfe zuteil werden ließ und große Einkommen sowie den Kapitalbesitz von Aktiengesellschaften einer verschärften Besteuerung unterwarf. Lemke erhielt im ganzen Land nicht einmal 900 000 Stimmen, die meisten davon in den Hochburgen der National Union of Social Justice. Dazu kamen einige Schwerpunkte der Townsend-Bewegung an der Westküste und Zentren des Farmerprotestes im mittleren Westen. Die Tatsache, daß unter den Anhängern Coughlins irische und deutsche Katholiken besonders stark vertreten waren, hat zu der Vermutung geführt, bereits 1936 habe sich im Votum für die Union Party ein isolationistisches Ressentiment gegen den englandfreundlichen „Internationalisten" Roosevelt artikuliert. Außenpolitische Gesichtspunkte haben indes bei der zweiten Wahl Roosevelts offensichtlich noch keine Rolle gespielt und sind auch von der Union Party nicht zum Wahlkampfthema gemacht worden. Daß Roosevelt als Vertreter der intellektuellen und anglophilen Elite der Ostküste auf Aversionen bei vielen irischen Katholiken und deutschen Farmern stieß, war ein unbezweifelbares, aber durchaus innenpolitisch zu erklärendes Faktum21. Der Mißerfolg der Anti-Roosevelt-Agitatoren war so eindeutig, daß Coughlin unmittelbar nach der Wahl erklärte, er werde seine Rundfunkreden nicht fortsetzen. Anstatt dieses Versprechen einzulösen, nahm er jedoch nach kurzer politischer Abstinenz seine Agitationstätigkeit wieder auf, wobei die Thematik seiner Reden und Artikel sich bemerkenswert verschob. Davon überzeugt, daß das System Roosevelt mit einem sozialen Reformprogramm nicht überwunden werden könne, bekannte er 227 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

sich seit 1938 offen als Antisemit, bezeichnete Kommunismus und internationales Finanzkapital als verschiedene Formen derselben jüdischen Weltverschwörung, stellte Gewerkschaftler und liberale Intellektuelle als Handlanger der Kommunisten hin und feierte Hitler, Mussolini und Franco als Retter der abendländischen Kultur. Eine neue Kampforganisation Coughlins, die „Christian Front", organisierte in mehreren Großstädten antisemitische Ausschreitungen. Gleichzeitig rückte die Außenpolitik in das Zentrum der Agitation. In Anknüpfung an die Tradition der Progressivisten und in Vorwegnahme der Aktivitäten des eher großkapitalistischen „America First Committee" versuchte Coughlin die Stimmung für eine isolationistische Politik zu mobilisieren. Das Paradox seiner Haltung war dabei offenkundig: Die Nichtintervention in Europa kam einer Intervention zugunsten der Achsenmächte gleich22. Coughlins Sympathien für den europäischen Faschismus gerieten nach Pearl Harbour immer mehr in die Nähe des Hochverrats und lösten strafrechtliche Sanktionen gegen sein Organ „Social Justice" aus. Sein endgültiger Rückzug aus der Politik im Jahre 1942 war ein Resultat kombinierten kirchlichen und staatlichen Drucks23. Wahrscheinlich waren die wirtschaftspolitischen Postulate des Father Coughlin nie mehr gewesen als auswechselbare Versatzstücke seines Bedürfnisses, öffentliche Aufmerksamkeit zu finden. Seine Äußerungen über den Kapitalismus waren durchaus ambivalent: Einmal sah er ihn zum Scheitern verurteilt und keines Rettungsversuches würdig, das andere Mal bekannte er sich emphatisch zum Privateigentum und warf der Regierung kommunistische Tendenzen vor. ,,Das System des Kapitalismus darf nicht zerstört werden", erklärte er Ende 1930. „Wir dürfen nicht der falschen Philosophie anhängen, die von modernen Sophisten erfunden wurde, daß nämlich der Mißbrauch einer Sache ihre Zerstörung rechtfertigt." Eine solche Ambivalenz gegenüber dem Kapitalismus kann man bei den meisten faschistischen Bewegungen vor allem in ihrer Frühphase finden. Unzutreffend aber wäre es, mit Lipset und Raab Coughlin in die Nähe des argentinischen Diktators Peron zu rücken - mit dem Argument, daß er seine soziale Basis vor allem in bestimmten Gruppen der Arbeiterschaft gefunden habe. Anders als Peron war Coughlin nämlich nicht gewerkschaftsfreundlich gesinnt. Die Formulierung des Programms der National Union for Social Justice von 1934, wonach die Gewerkschaften vom Staat gegen intellektuelle Einflüsse zu schützen seien, deutete bereits an, daß autonome Arbeitnehmerorganisationen nicht Couglins Ideal entsprachen. 1937 machte es der Pater dem Gouverneur von Michigan, Frank Murphy, zum Vorwurf, daß er kein Militär gegen die streikenden Arbeiter von General Motors eingesetzt habe. 1938 proklamierte er unter Berufung auf die päpstliche Enzyklika „Quadragesimo anno" den korporativen Staat, in dem freie Gewerkschaften keinen Platz mehr gehabt hätten24. Coughlins Verhältnis zum europäischen Faschismus war selbst nach 1936 weniger eindeutig als es auf den ersten Blick scheinen mag. Coughlin ließ in seinem Blatt „Social Justice" die „Protokolle der Weisen von Zion" und Reden von Joseph Goebbels abdrucken; er bezeichnete noch Mitte 1939 Deutschland als das Opfer eines Krieges, der ihm neun Jahre zuvor von den Juden erklärt worden sei; den deutschen Angriff auf die Sowjetunion feierte er als „ersten Schlag in dem heiligen Krieg gegen den Kommunismus". 1936 erklärte er in einem Interview, man stehe an einer Wegegabel. 228 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

„Ein Weg führt zum Faschismus, der andere zum Kommunismus. Ich beschreite den Weg zum Faschismus." Auf der anderen Seite kritisierte er die Behandlung der Kirchen im nationalsozialistischen Deutschland und proklamierte den „Kampf gegen Kommunismus, Faschismus und Antichristentum". Das Programm der „Christian Front" versprach, „niemals sich mit Kommunismus, Nazismus oder irgendeinem anderen System" einzulassen, „das darauf zielt, das repräsentative Regierungssystem zu zerstören". Allerdings fürchte sich die „Christian Front", die bewußt als GegenVolksfront gedacht war, auch nicht vor dem Etikett „faschistisch", da dieses Wort lediglich den Kommunisten als propagandistisches Schlagwort diene25. Wenn es irgendwelche Fixpunkte in den Ansichten Coughlins gab, waren es sein leidenschaftlicher Haß auf England, der durch seine irische Abkunft zu erklären ist, und eine ebenso emotionale Gegnerschaft zum Marxismus, in dem er wesentlich einen militanten Atheismus sah. Beide Faktoren ließen ihn gegenüber den faschistischen Regimen Europas eine zumindest apologetische Position einnehmen. Coughlin mochte Zweifel an der Übertragbarkeit eines faschistischen Systems haben - betrachtet man die Entwicklung seiner außen- und gesellschaftspolitischen Ansichten seit 1936 als Ganzes, so ist es dennoch legitim, ihn einen Klerikofaschisten zu nennen. In seinem ehemaligen Verbündeten, dem Reverend Gerald L. K. Smith, der sich seit 1936 ebenfalls mit zunehmender Offenheit als extremer Nationalist und Antisemit zu erkennen gab, fand er ein protestantisches Pendant von allerdings erheblich geringerer öffentlicher Wirkung. Wir haben damit einen Punkt erreicht, der uns ein erstes Resume erlaubt. Solange die Protestbewegung gegen Roosevelt primär gesellschaftspolitische Bestrebungen vertrat, war sie nicht faschistisch, sondern in Stil und Programmatik eher eine Fortsetzung des Populismus. Sie war, um einen Terminus Seymour Martin Lipsets aufzugreifen, eher ein Extremismus der Mitte als ein Extremismus der Rechten26. Sie geriet in eindeutig faschistisches Fahrwasser, nachdem sie als Anti-New-Deal-Bewegung gescheitert war und soweit sie sich zu einer An „nationaler Opposition" umzuwandeln versuchte. Hatte ihre „Weltanschauung" bisher im Bekenntnis zum simplen populistischen Dualismus von Volk und herrschenden Cliquen bestanden, so machte sie jetzt das „internationale Judentum" zur Schlüsselerklärung für alle Übelstände. Die irrationalen Momente der außerparlamentarischen Opposition gegen Roosevelt verstärkten sich derart, daß die Bewegung immer deutlicher sektiererische Züge annahm. Sie glich sich damit solchen obskuren Gebilden wie den freikorpsähnlichen „Silver Shirts" des Hitler-Bewunderers William Dudley Pelley und dem ebenfalls pronationalsozialistischen „German American Bund" an. Coughlin fand zwar Meinungsumfragen zufolge für seine Ansichten 1938 die Zustimmung von etwa 25, im Jahr darauf immerhin noch von 15 Prozent der amerikanischen Bevölkerung. Aber man kann mit guten Gründen vermuten, daß diese - tendenziell abnehmende - öffentliche Unterstützung eher den aktuellen und konkreten Ansatzpunkten seiner Kampagnen als seinem militanten Antisemitismus galt. Eine Billigung von Ansichten Coughlins bedeutete auch noch längst nicht, daß man seine jeweilige Organisation aktiv unterstützte. Noch weniger konnte der Pater die Wahlentscheidung breiter Massen wesentlich beeinflussen. Wenn er auf diesem Feld irgend etwas bewirkte, dann 229 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

war es höchstens ein Beitrag zur Stärkung der Republikanischen Partei in den Wahlen von 1938 und 194027. Das Scheitern der Kräfte, die man am ehesten als Vertreter eines amerikanischen Faschismus ansprechen kann, war keineswegs nur die Folge historischer Zufälle und persönlicher Unzulänglichkeiten. Der Publizist Raymond Gram Swing kam 1935 aufgrund einer intensiven Beschäftigung mit der jüngsten politischen Entwicklung Europas und Amerikas zu dem Ergebnis, daß für die Erfolge faschistischer Regime vier Bedingungen notwendig seien: erstens die Verarmung von Mittelschichten; zweitens ein Konjunkturrückgang und in seiner Folge Massenarbeitslosigkeit; drittens die Lahmlegung des demokratischen Regierungssystems; viertens das Vorhandensein einer starken kommunistischen Bewegung. Die ersten beiden Bedingungen waren in Amerika zweifellos gegeben. Den Machtzuwachs des Präsidenten sah Swing als Zeichen dafür an, daß auch in den Vereinigten Staaten die überkommene Gewaltenteilung bedroht war. Nur die vierte Voraussetzung fehlte nach seiner Ansicht völlig: eine starke, gegen das private Eigentum gerichtete Bewegung28. In der Tat war die bestehende Gesellschaftsordnung in Amerika auch während der Weltwirtschaftskrise niemals ernsthaft bedroht. Sombarts These hatte sich damit, was die sozialpsychologischen Effekte der offenen „frontier" angeht, nochmals bestätigt und zugleich ihren Autor widerlegt: Der deutsche Ökonom hatte damit gerechnet, daß sich eine sozialistische Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten entwickeln werde, nachdem die Westwanderung räumlich und zeitlich zu Ende gekommen war. Doch so paradox es klingt: Seit der Hoffnung auf soziale Verselbständigung der Boden entzogen war, zeigte sich, daß es eine Verselbständigung von Ideologien geben kann. Als Mythos überlebte die offene Gesellschaft die Wirklichkeit der offenen Grenze. Es bedurfte freilich keiner starken eigentumsfeindlichen Bewegung in Amerika, um einen teilweise irrationalen Antikommunismus zu einem Faktor der amerikanischen Politik zu machen. Diese Entwicklung hatte mit dem „Red Scare" von 1919/20, gipfelnd in der Verhaftung Tausender von angeblichen Revolutionären ausländischer Herkunft, den sogenannten „Palmer Raids", begonnen. Coughlins militante Kampagnen gegen den Marxismus und alles, was er für marxistisch hielt, bildeten (neben der Tätigkeit des 1938 vom Repräsentantenhaus eingesetzten „Dies-Kommittees" zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe) das historische Bindeglied zwischen dieser frühen Phase des „red baiting" und dem McCarthyismus der fünfziger Jahre 29 . Die Wortführer des Anti-Roosevelt-Protestes bekämpften stets nur bestimmte Erscheinungsformen des Kapitalismus, nie das System selbst. Nimmt man ihren ausgeprägten Antisozialismus hinzu, so mag man sich fragen, ob nicht die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen der „etablierten" und der „populistischen" Opposition gegen die Politik Roosevelts bestand. Über Verbindungen zwischen der American Liberty League und Huey Long und eine Unterstützung der Union Party durch dieselbe Vereinigung hat es zwar um 1935/1936 Gerüchte gegeben, erhärten lassen aber haben sich solche Vermutungen nicht. Insgesamt kann man davon ausgehen, daß für die konservative Geschäftswelt die Protestbewegung gegen den New Deal zu „radikal" war. Die „demagogues", wie man sie nannte, wollten auf ihre Weise mehr 230 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Staat, big business weniger. Schließlich fühlte sich die Geschäftswelt trotz aller Attakken auf die staatliche Wirtschaftspolitik vom New Deal nicht vital bedroht. Es gab daher keinen subjektiv zwingenden Grund, dem überkommenen politischen System die Loyalität aufzukündigen30. Anders als in Deutschland gab es in Amerika während der Weltwirtschaftskrise kein Machtvakuum, in das faschistische Massenbewegungen hätten stoßen können. Als die Krise ausbrach, stand keine organisierte Kraft bereit, die große Teile der Gesellschaft zum Kampf gegen das „System" hätte führen können. Es gab nicht jene extremen nationalistischen Ressentiments, wie sie nur aus einer gemeinsam erlebten traumatischen Erfahrung, einem verlorenen Krieg zumal, entstehen konnten. Politischer Wandel war innerhalb des überlieferten Systems möglich: Zu Hoover gab es die Alternative Roosevelt. Und Roosevelt verfügte - im Unterschied zu Heinrich Brüning - über ein persönliches Charisma, das auch seine radikalen Gegner nicht übertrumpfen konnten. Mindestens ebenso wichtig freilich war, daß Roosevelt nicht durch äußere Faktoren wie Reparationslasten daran gehindert wurde, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Nicht zuletzt darauf war es zurückzuführen, daß es auch bei jenen Gruppen nicht zu einer länger währenden, umfassenden Radikalisierung kam, die die klassische Basis faschistischer Bewegungen in Europa bildeten: bei der Landbevölkerung und den städtischen Mittelschichten. Die Protestbewegung unter den Farmern konnte Roosevelt durch seine Hilfsmaßnahmen weitgehend neutralisieren. Zum Mißerfolg der Union Party im Jahre 1936 trug denn auch nicht zuletzt der Umstand bei, daß sich ihr eine der wichtigsten agrarradikalen Vereinigungen, die ganz in der populistischen Tradition stehende „Farmers* Holiday Association", nicht anschloß. „Small business" war vor dem Zweiten Weltkrieg noch kaum organisiert: Es stand ideologisch dem übrigen Unternehmertum weitaus näher als irgendeiner anderen Gruppe und teilte mit ihm die Aversion gegen Staatsinterventionen. Sein politischer Standort war eher konservativ als radikal. Die Angestellten waren von den Arbeitern politisch und ideologisch weniger unterschieden als in Deutschland und tendierten ebenso wie diese zur Demokratischen Partei F. D. Roosevelts. Eine der wesentlichen Schwächen der Protestbewegungen gegen den New Deal lag mithin darin, daß sie keine einzelne soziale Gruppe ganz oder auch nur zu erheblichen Teilen für sich mobilisieren konnten. Daß Father Coughlin die Unterstützung von Teilen der Arbeiterschaft fand, deutet andererseits auf eine größere soziale Spannweite rechtsextremer Bewegungen in Amerika hin. Auf jeden Fall scheint die Arbeiterschaft - auch nach neueren Beobachtungen - in den Vereinigten Staaten konservativen und rechtsradikalen Parolen gegenüber anfälliger zu sein als in Europa31. Schließlich darf eine historische Grundbedingung nicht außer Betracht bleiben: Wenn die Krisenbewältigung ohne radikalen Bruch mit dem demokratischen Regierungssystem gelang, so war ein wesentlicher Grund hierfür die relative Stärke der demokratischen Tradition in der amerikanischen Gesellschaft jener Jahre. Weder eine Massenbewegung noch eine breite intellektuelle Fronde stellte die Grundlage der Verfassung in Frage. Wenn die Vereinigten Staaten - nach dem zutreffenden Urteil von Ernst Troeltsch - ihre Entstehung einer konservativen Revolution verdankten, so war 231 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

dieses Ereignis einschneidend genug, um ihnen eine „konservative Revolution" nach Art der rechten Opposition gegen Weimar zu ersparen. Historisch trifft cum grano salis zu, was Ernst Fraenkel so ausgedrückt hat: Es habe in den Vereinigten Staaten niemals ein antidemokratisches Ressentiment gegeben, weil der Sieg der Demokratie nicht mit der Niederlage einer Klasse verbunden war32. In Amerika fehlten jene feudalen und obrigkeitsstaatlichen Relikte, die in Kontinentaleuropa zum Erfolg faschistischer Bewegungen entscheidend beigetragen haben. In Italien und in Deutschland bildeten die konservativsten Kräfte im Staatsapparat und in der Landaristokratie sozusagen natürliche Bündnispartner für antidemokratische Bestrebungen in den Mittelschichten und im Unternehmerlager. In Amerika fehlten für eine solche systemsprengende Koalition die soziologischen Grundlagen. Neben Realität und Mythos der offenen Grenze ist es vor allem dieser Tatbestand, der Amerikas politische Entwicklung bis ins 20. Jahrhundert mit zu erklären vermag33. Für die Gegenwart sollten aus den Befunden der Zwischenkriegszeit allerdings keine voreiligen Schlußfolgerungen gezogen werden. Die gesellschaftliche und moralische Krise, in der sich die Weltmacht Amerika heute befindet, hat die Grundlagen des überlieferten Systems kaum weniger ernsthaft in Frage gestellt als die Weltwirtschaftskrise. Durch den Vietnamkrieg ist der nationale Konsens schwerer erschüttert worden als durch irgendein anderes Ereignis seit dem Bürgerkrieg. Das Gefühl der Entfremdung gegenüber den politischen Institutionen beschränkt sich längst nicht mehr auf den schwarzen Bevölkerungsteil. Die Renaissance des Populismus, deren Zeugen wir heute sind, äußert sich auf gegensätzliche Weise: Das Unbehagen an den etablierten Mächten kann offenbar durch rassistische Demagogen ebenso genutzt werden wie durch Wortführer der sozialen Reform. Noch immer verfügt Amerika über liberale Korrektive zu den Tendenzen ängstlicher Intoleranz und militanter Beharrung - Korrektive, die stark genug sein dürften, um die Machtergreifung einer faschistischen Bewegung unmöglich zu machen. Ob die Vereinigten Staaten freilich zu jenen tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen fähig sind, ohne die insbesondere die lang verschleppte „urban crisis" nicht überwunden werden kann, das ist eine offene Frage. Immerhin könnten die Erfahrungen der New-Deal-Periode europäische Beobachter davor bewahren, das Reformpotential Amerikas zu unterschätzen.

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IV. Theorie und Geschichte

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15. G e s e l l s c h a f t s f o r m u n d A u ß e n p o l i t i k : E i n e T h e o r i e L o r e n z v o n Steins in zeitgeschichtlicher Perspektive

I. Das Verhältnis von Gesellschaftsform und Außenpolitik ist eines der zentralen Themen der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung unserer Zeit. In diesem Interesse spiegeln sich konkrete historische Erfahrungen. Der Konflikt zwischen Ost und West, der in der zweiten Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts zur bestimmenden Konstellation der Weltpolitik wurde, hat Wirklichkeit und Selbstverständnis der europäischen Nationalstaaten radikal in Frage gestellt. Er hat den Glauben erschütten, daß der Ausschließlichkeitsanspruch der Nation universalhistorische Geltung besitze. Der Gegensatz zweier Gesellschaftssysteme überschattete alle rein nationalen Streitfragen und wurde zur Grundlage einer neuen Blockbildung. Wie nach der Französischen Revolution von 1789 gruppierten sich die Staaten wiederum um soziale Leitbilder: Verteidigung oder Umsturz der überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse schien bis weit in die Fünfzigerjahre hinein die alles überragende Alternative zu sein1. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich das Bild gewandelt. Der Gegensatz der beiden Supermächte, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, beherrscht die weltpolitische Szene weniger eindeutig als in der Ära des Kalten Krieges. Das faktische Duopol in Atomwaffen hat, wie das Teststopp-Abkommen von 1963 erstmals deutlich machte, eine begrenzte Interessensolidarität der Hegemonialmächte begründet. Das kommunistische China hat mit der Sowjetunion gebrochen und sich als potentielle neue Weltmacht etabliert. In der dritten Welt hat der Nationalismus revolutionäre Kraft entwickelt, und in beiden Teilen Europas haben Bestrebungen nach größerer nationaler Selbständigkeit zu einer Auflockerung der erstarrten Nachkriegsfronten geführt. Die klaren politischen Optionen, die der Kalte Krieg nahelegte, sind durch die partielle Entstalinisierung und durch Amerikas Krieg in Südostasien erschüttert worden: Der Ost-West-Konflikt läßt sich nicht mehr einfach als Gegensatz zwischen aggressivem Totalitarismus und verteidigungsbereiter Demokratie interpretieren. Auch der gesellschaftliche Dualismus scheint sich relativiert zu haben. Gewisse Entwicklungen im kommunistischen und im kapitalistischen Wirtschaftssystem haben manche westliche Beobachter von einer allmählichen, aber unaufhaltsamen Konvergenz beider Ordnungen sprechen lassen. Die Tendenzen zu verstärkter Planung und Staatsintervention im Westen und zur Anerkennung von marktwirtschaftlichen Spielregeln im Osten sind offensichtlich komplementärer Natur und müssen nach Ansicht einiger Theoretiker über kurz oder lang auch zu einer 235

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politischen Annäherung beider Systeme führen. Mit der strikten Bipolarität des internationalen Systems wäre demnach auch der rigorose Dualismus der Gesellschaftsformen hinfällig geworden2. Die Thesen von der neuen Multipolarität der Staatenwelt und der Konvergenz der unterschiedlichen politischen Systeme werden uns noch näher beschäftigen. Auch wenn sich beide in dieser simplen Form als unhaltbar erweisen, stützen sie sich offenkundig auf tatsächliche Entwicklungen. Der Vergleich mit der Auflösung der gesellschaftlichen und ideologischen Fronten, die sich nach 1789 gebildet hatten, liegt nahe. Hat sich nicht auch damals der Gegensatz zweier Gesellschaftsordnungen nur vorübergehend als Scheidelinie des internationalen Systems erwiesen? Gibt es einen immanenten Zwang zur Überwindung eines solchen Konflikts? Lassen sich Regelmäßigkeiten feststellen im zeitlichen Ablauf der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsformen? Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist ein bemerkenswerter Versuch unternommen worden, die hier gestellten Fragen zu beantworten. Er stammt von einem deutschen Gesellschaftswissenschaftler, der nach wie vor im Schatten seiner großen Zeitgenossen Karl Marx und Alexis de Tocqueville steht: Lorenz von Stein. Stellt man auf die theoretische Geschlossenheit des Systems oder auf die Beweiskraft rein induktiv gewonnener Forschungsergebnisse ab, so ist diese Einschätzung zweifellos berechtigt. Im begrifflichen Instrumentarium Steins, seiner Geschichtsphilosophie und seiner Konzeption vom Staat lassen sich bestimmte Optionen des deutschen Idealismus nachweisen, die der Analyse empirischer Befunde oft genug hinderlich im Wege stehen. Dies gilt in besonderem Maß für einen so programmatischen Bestandteil der Steinschen Gesellschaftslehre wie die Doktrin vom „sozialen Königtum". Sie ist ganz offensichtlich eine historisch fragwürdige Verallgemeinerung konkreter deutscher Erfahrungen mit dem preußischen Reformabsolutismus. Stein wollte die soziale Frage mit patriarchalischen Mitteln und in konservativer Absicht lösen: Die Erhaltung der auf dem privaten Eigentum beruhenden Gesellschaft und nicht die politische Emanzipation des Vierten Standes war der Zweck der von ihm vorgeschlagenen Reformen3. Solche Einschränkungen dürfen jedoch nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, daß Stein auf vielen Gebieten seiner Zeit weit voraus war. Dies trifft für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Verwaltungswissenschaft zu, und es gilt für seine historischen Analysen. Man darf mit Fug und Recht sagen, daß kein Historiker die soziale Wirklichkeit des frühen Industriezeitalters und die Bedeutung der Gesellschaft für die Geschichte schärfer erfaßt hat als Lorenz von Stein. Trotz allen idealistischen Beiwerks kann seine 1850 erschienene „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" als der Beginn moderner Sozialgeschichtsschreibung in Deutschland bezeichnet werden. Auf jeden Fall ist sie einer der originellsten Ansätze der geistigen Durchdringung der okzidentalen Revolution und der Versuch einer Ortsbestimmung seiner Gegenwart, dessen Scharfsinn in der Tat nur durch die Analysen von Marx und Tocqueville übertroffen wird. In einem Punkt aber hat Stein auch seinen berühmteren Zeitgenossen gegenüber einen Erkenntnisvorsprung erzielt: in eben jenen Reflexionen über den Zusammenhang von Gesellschaftsform und Außenpolitik, die man als einen einsamen 236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Beginn der sozialwissenschaftlichen Friedens- und Konfliktforschung bezeichnen kann. Seine Ausführungen zu diesem Gegensund sind der Versuch einer historischen Modellbildung. Sie beanspruchen allgemeine Gültigkeit unter der Zugrundelegung bestimmter geschichtlicher Bedingungen, und sie gewinnen gerade durch diese Beschränkung einen Aussagewert, der allen politischen und sozialen Theoremen notwendigerweise fehlt, die auf universalhistorische Geltung angelegt sind4. Den historischen Ausgangspunkt der Analyse bildet die Französische Revolution. Grundlegende Voraussetzung dafür, daß dieses Ereignis das übrige Europa elementar betreffen mußte, ist für Stein die „durchaus gleichartige Gestalt der Gesellschaft" in dem „ganzen germanischen Europa". Diese Homogenität ist gekennzeichnet durch den „Unterschied der Stände und Privilegien", für die das Fürstentum der feste Haltpunkt ist. Der Gedanke einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, den die Französische Revolution in die Völker hineinträgt, muß ein gewaltiges Echo finden. Denn „die übrigen Staaten fühlten, daß auch in ihnen die Elemente einer neuen Gesellschaft vorhanden und mächtig seien". Doch die „neuen Gedanken und Hoffnungen" sind nur der eine Strom, der von Frankreich in alle Länder des Westens hineinzieht; den anderen bilden die „Emigranten mit den alten Ansprüchen". Beide finden, wohin sie kommen, politische Verbündete. Damit aber wird klar, „daß es neben dem System des politischen Gleichgewichts für die Staaten noch ein zweites, vielleicht viel mächtigeres Band, eine gewaltige Solidarität gebe: die Gleichartigkeit der Gesellschaft in der europäisch-germanischen Welt". Die Sache der Emigranten wird zur Sache des Privilegiums in ganz Europa, die Sache des Tiers Etat zur Sache der unterdrückten Völker. „Die Geschichte Europas", so folgert Stein, „hatte in ihrer Bewegung endlich das Element ergriffen, durch welches sie die Gemeinschaft der Völker auf immer hervorrief - den Boden der gesellschaftlichen Zustände." Eben hierin und nicht etwa in „Kriegen, Siegen und Staatenänderungen" besteht der universalgeschichtliche Einschnitt des Revolutionszeitalters. Die Grundlage der kommenden europäischen Geschichte läßt sich fortan in dem einen Satz zusammenfassen, „daß die Geschichte und die Ordnung Europas und seiner Staaten künftighin durch die Gesellschaft so bedingt würde, daß fernerhin nicht mehr die materielle Macht, sondern die Gestalt der Gesellschaft in jedem einzelnen Staate demselben seine Stellung, seine Geltung und seine Aufgabe in dem neu aufkommenden Staatensystem zu geben bestimmt sei". Freundschaft und Feindschaft, Bündnis und Krieg, Ordnung und Friedensstörung unter den großen Staaten hängen nunmehr von ihrer gesellschaftlichen Ordnung ab. „Die Gesellschaft, die bis dahin nur die einzelnen Staaten beherrscht hatte, fing an, das ganze Leben des Staatensystems zu durchdringen und beherrschen."5 Schärfer und konzentrierter als hier ist der historische Bruch des Revolutionszeitalters von keinem anderen Geschichtsdenker des 19. Jahrhunderts beschrieben worden. Stein unterscheidet sich vom zeitgenössischen deutschen Historismus, und er nimmt wesentliche Einsichten der modernen strukturgeschichtlichen Forschung vorweg, wenn er mit der Revolution „eine ganz neue Geschichte beginnen", die „neueste Zeit sich von der früheren mit jenen Jahren" scheiden läßt. Bevor von notwendigen Einschränkungen der Thesen Steins die Rede ist, bleibt festzuhalten, daß es sein Verdienst 237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

war, den Zusammenhang von innerer gesellschaftlicher Ordnung und Staatensystem zu einem Zeitpunkt wiederentdeckt und neu durchdacht zu haben, als die meisten seiner politisch denkenden Zeitgenossen sich den pragmatischen Maximen der „Realpolitik" zuzuwenden begannen und ein Zeitalter übergreifender Solidaritäten endgültig von einer Ära souveräner, gegen ideologische Querströmungen immuner Nationalstaaten abgelöst zu werden schien6. Der Nachweis der sozialen Bedingtheit der außenpolitischen Blockbildungen nach 1789 ist die Basis der Steinschen Theorie des Zusammenhangs von Gesellschaftsform und Außenpolitik. Mit der Französischen Revolution hat ein einzelnes Land eine Störung im europäischen Staatensystem bewirkt, welches der Konservative Stein als Organismus begreift. Kein Organismus aber kann „ein Fremdartiges als sein Glied ertragen", und eben darum erzeugt er einen „Stoff der vereinten Kräfte gegen dies einzelne Land, um es dem allgemeinen Zustand wieder zu unterwerfen". Die besondere Lebensgestalt des einzelnen Teiles kann in dem daraus entstehenden Kampf nur siegen, wenn es ihm gelingt, „die Bedingungen, Bewegungen und Gesetze seiner besonderen Entwicklung zur allgemeinen" zu machen. „Bis das geschehen ist, zwingt die organische Natur der europäischen Verhältnisse dem ganzen Europa einen Kriegszustand auf, den zwar immer einzelne Gründe hervorzurufen und zu erneuern scheinen, der aber so tief in dem Wesen des europäischen Lebens selber begründet ist, daß keine Kunst und keine Gefahr ihn beseitigen können." Den Kriegszustand zwischen dem Teil und dem Ganzen glaubt Stein generell in zwei Phasen scheiden zu können. „Die erste ist die Bewegung des reinen Ausstoßens eines solchen in seiner inneren Natur umgestalteten Teiles aus dem Organismus, der reinen Bewältigung seiner Sonderelemente, der Unterwerfung unter das frühere Leben und seine Gesetze. Die zweite Epoche beginnt da, wo sich das neue Glied seine Anerkennung im System des Staatenlebens errungen hat." Diese Anerkennung ist jedoch als ein Zeichen dafür anzusehen, daß der neue Körper nicht bewältigt werden konnte. Dieser strebt weiter danach, eine „Gleichartigkeit der politischen und sozialen Existenz mit sich in den übrigen Teilen" zu erringen. Zu diesem Zweck muß er sich unter den veränderten Bedingungen der zweiten Epoche anders verhalten als in der ersten. Hatte er zunächst eine negative, nur abwehrende und abstoßende Rolle gespielt, so muß er sich nun „positiv, das ist schaffend und bildend, konstitutiv zu den übrigen verhalten". Abgeschlossen werden kann dieser Kampf erst, wenn der neue Körper „wirklich neben der Anerkennung seiner selbst als einer selbständigen Macht die Anerkennung und Gültigkeit seiner eigenen Lebensgesetze auch innerhalb der anderen Teile des Staatensystems" erreicht hat. Denn „erst alsdann ist die Bedingung des allgemeinen Friedens, die Gleichartigkeit der allgemeinen sozialen und politischen Zustände, wirklich vorhanden"7. Ehe wir uns der Frage nach der Tragfähigkeit der Phasentheorie Steins zuwenden, ist es erforderlich, einen Blick auf seine historische Beweisführung zu werfen. Die erste Phase der als Vorlage dienenden Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Europa ist für Stein die Zeit vom Beginn des Ersten Koalitionskrieges bis zum Auftreten Napoleons. Ihr Ergebnis, wie es der Friede von Amiens fixiert, ist die Anerkennung des Dualismus von staatsbürgerlichem Frankreich und feudalem Europa. 238 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Grundlage des europäischen Friedens ist mithin ein absoluter Widerspruch. Ein Wiederbeginn des Kampfes ist nötig; in dieser Phase tritt Frankreich als das konstituierende Moment in Europa auf. Nur äußerlich scheinen die Siege Napoleons Siege seiner Waffen; in Wahrheit sind sie Siege der französischen Gesellschaft über die des übrigen Europa. Darum sind auch die wahren Bundesgenossen Frankreichs diejenigen Staaten, welche „sich nicht so sehr der französischen Macht als vielmehr den gesellschaftlichen Prinzipien des neuen Frankreich" anschließen und eine diesen entsprechende Verfassung übernehmen. Napoleon erleichten dies, indem er etwa durch die Einführung eines kaiserlichen Adels Brücken von der Revolution in die vergangene Zeit baut. Auf der anderen Seite können die von ihm zertrümmerten Staaten nach der militärischen Peripetie einen Sieg über Napoleon nur zu erringen hoffen, „wenn sie die Elemente der neuen Gesellschaft aufrufen", ihren Völkern eine „staatsbürgerliche Gesellschaft - das Zugeständnis des öffentlichen Rechts der volkswirtschaftlichen Gesellschaft" versprechen. Für die deutschen Staaten bezeichnet die Proklamation von Kaiisch den „großen Akt" der Lossagung von der alten Gesellschaft; und die Charte von 1814 ist die „förmliche Anerkennung, daß Europa selber den Boden der feudalen Gesellschaft verlassen habe und im Begriff stehe, in die staatsbürgerliche Gesellschaft hineinzutreten". Als Kompromiß zwischen feudalen und staatsbürgerlichen Kräften trägt sie die Keime neuer gesellschaftlicher Machtkämpfe in sich. Aber sie ist doch die erste französische Verfassung, die von Europa nicht mehr als feindliches Element angesehen wird8. Die Interpretation, die Stein den internationalen Beziehungen zwischen dem Sturm auf die Bastille und der Proklamation der „Charte constitutionelle" widmet, wirft eine Reihe grundsätzlicher Probleme auf. Seine Geringschätzung von „Diplomatie und Machtverhältnissen" findet in dem tatsächlichen Ablauf der Geschichte keine Stütze. Nur zu Beginn des Ersten Koalitionskrieges gegen das revolutionäre Frankreich überwiegt das gesellschaftspolitische Moment alle anderen Erwägungen ganz eindeutig. Bereits der Sonderfriede von Basel aber, mit dem Preußen aus dem Kampf ausscheidet, läßt erkennen, daß eine traditionell verstandene Staatsräson den säkularen Umbruch erstaunlich gut überstanden hat. Die Deutung Napoleons setzt sich einem ähnlichen Widerspruch aus. Der Kampf des Korsen um die Beherrschung Europas und der Widerstand, den er hervorruft, können nichtpnmär aus gesellschaftspolitischen Gegensätzen abgeleitet werden. Stein vernachlässigt eine Folgeerscheinung der Französischen Revolution, die, obwohl selbst gesellschaftlich bedingt, der gesellschaftspolitischen Polarisierung der Staatenwelt entgegengewirkt hat: den modernen Nationalismus. Er unterschätzt die Eigendynamik des internationalen Systems, die sich in der Dialektik von Hegemonie und Gleichgewicht manifestiert. Er verkennt schließlich - Napoleon. Der Mann an der Spitze Frankreichs erscheint als Agent gesellschaftlicher Verhältnisse, als Vollstrecker objektiver Gesetze - kurz als ein wesentlich heteronomer Faktor des Geschehens. Daß die letzten Ziele Napoleons politischer und nicht sozialer Natur waren, daß sein entscheidendes Motiv in seinem Machtstreben lag, daß also ein subjektives Element historische Wirksamkeit von größtem Ausmaß entfalten konnte - das einzuräumen, paßt nicht in Steins Konzeption9. Auf der anderen Seite erkannte Stein klarer als irgendein Historiker seiner Zeit, daß 239 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

mit dem Hinzutreten des gesellschaftspolitischen Moments die internationalen Beziehungen eine neue Dimension erhalten hatten. Mochte sich auch die Möglichkeit einer Amalgamierung von traditionellem Großmachtinteresse und gesellschaftlich-ideologischer Parteinahme, das Problem der Kontinuität im internationalen System also, seiner Analyse entziehen, so hat er doch das Prinzip der neuen übernationalen Koalitionsbildung richtig erfaßt: In dem Maß, in dem die europäischen Mächte ihre gemeinsamen gesellschaftlichen Grundlagen bedroht fühlten, mußte die Verteidigung der bestehenden Ordnung zum Fundament ihrer Bündnispolitik werden. Wenn das Gefühl der Bedrohung nachließ oder eine einfache Eliminierung des Gefahrenherds sich als unmöglich erwies, so konnten freilich die individuellen Staatsinteressen schnell wieder das Übergewicht gewinnen. In der Abwehr der imperialen Expansion Napoleons gingen die besonderen und die gemeinsamen Bedürfnisse der europäischen Mächte eine Verbindung ein, wobei - wenn man so will - die Staatsräson die Gesellschaftsräson auf den zweiten Platz verwies. Der Primat des Politischen vor dem Sozialen ist aber ebenso auch ein Kennzeichen des napoleonischen Imperialismus. Stein hat mit ungewöhnlichem Scharfsinn die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Machtergreifung des Ersten Konsuls auf den Begriff gebracht, wenn er ihr das doppelte Interesse des Bürgertums an der Verhinderung einer feudalen Restauration und an der Abwehr einer Revolution der Unterschichten unterlegte. Er wies nach, „daß die Despotie des einzelnen ebenso notwendig durch die gesellschaftliche Bewegung bedingt wird, als jede andere Form der Verfassung". Die „Verselbständigung der Exekutivgewalt", von der wenig später Marx im Hinblick auf den „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" sprach, war allerdings zugleich eine Emanzipation des Politischen schlechthin. Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren eine Bedingung der Möglichkeit der bonapartistischen Diktatur, aber sie waren damit noch nicht die Ursache der napoleonischen Politik10. Die imperiale Expansion des napoleonischen Frankreich unterschied sich in ihrer tendenziellen Unbegrenztheit deutlich von aller früheren Großmachtpolitik der neueren Geschichte. Die Differenz lag in der Universalität der Ideen, deren sich Napoleon bedienen und für die er über nationale Grenzen hinweg Loyalität mobilisieren konnte. Die Ideen aber wurzelten ihrerseits in den neuen gesellschaftlichen Zuständen, die das französische Kaiserreich repräsentierte. Und sie zwangen, wie Stein mit Recht hervorhebt, die konservativen Mächte, sich anzupassen: Ohne politische und soziale Reformen ließ sich die ideologische Offensive Napoleons nicht aufhalten. Es setzt damit jene Konvergenz der Gesellschaftssysteme ein, für die das Empire mit seinen Brückenschlägen in die feudale Vergangenheit selbst den Grund gelegt hat. Der Zusammenhang von sozialen und politischen Elementen, von neuen und alten Interessen, von Bruch und Kontinuität war komplexer, als Stein es wahrhaben wollte. Daß es in letzter Instanz die gesellschaftlichen Verhältnisse waren, die die politichen Konflikte der Zeit bedingten, ist freilich kaum zu bestreiten. Und ebenso trifft zu, daß einer ersten Phase der versuchten Annihilation des revolutionären Störfaktors, die mit dem Ersten Koalitionskrieg zusammenfällt, eine zweite Phase der konservativen Defensive folgt, die in die Konvergenz zwischen alter und neuer Gesellschaftsform mündet. Eine Zwischenphase friedlicher Koexistenz hat es nur zwischen dem Frieden von 240 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Amiens im September 1802 und dem Mai 1803 gegeben, als Napoleon den Kampf gegen England wieder aufnahm. Das Prinzip einer neuen sozialen Homogenität der Staatenwelt mag man in der Tat in jener Charte von 1814 symbolisch sich niederschlagen sehen, die programmatisch eine Synthese zwischen absolutistischer Tradition und revolutionären Errungenschaften postulierte11. Die Trennungslinien innerhalb des internationalen Systems, die die Restaurationszeit bestimmen, sind eher ideologischer als gesellschaftlicher Art. Sie sind nur noch ein milder Abglanz des existentiellen Gegensatzes des voraufgegangenen Vierteljahrhunderts. Einer kurzen Phase unbestrittener Vorherrschaft der Heiligen Allianz folgte seit Beginn der zwanziger Jahre eine neue Konstellation: ein Dualismus zwischen konservativem Osten und liberalem Westen, der sich in den Dreißigerjahren verfestigt und in den Vierzigerjahren infolge englisch-französischer Zerwürfnisse wieder abschwächt. Nach den Revolutionen von 1848/49 verlieren die ideologischen Querströmungen ihre Bedeutung zugunsten der individuellen Machtpolitik der souveränen Nationalstaaten. Nur in Bismarcks Bündnispolitik, seinen Pakten mit den konservativen Ostmächten, kann man ein Fortwirken jener älteren Tradition, der sozialen und ideologischen Abstützung außenpolitischer Koalitionen, feststellen12. Doch nur oberflächlich war das europäische System vor 1914 homogen. Es gab zwar die gemeinsame Furcht vor der sozialen Revolution, es gab Liberalisierungstendenzen in den autoritären Staaten und autoritäre Entwicklungen in den liberalen. Aber Stein hatte doch die sozialen Unterschiede zwischen den europäischen Mächten voreilig harmonisiert, wenn er für das Jahr 1814 eine neue soziale Homogenität der Staatenwelt als Tatsache registrieren zu können glaubte. Der Weltkrieg, der genau ein Jahrhundert später ausbrach, war gewiß kein Konflikt zwischen gegensätzlichen Gesellschaftssystemen, und der Kampf zwischen den „Ideen von 1914" und denen von 1789 war ein unglaubwürdiges Unternehmen auf Gegenseitigkeit. Aber daß eine der wesentlichen Vorbedingungen des Krieges im archaischen politischen System des deutschen Kaiserreichs lag, wird heute schwerlich mehr bestritten werden können. Die fehlende Überwindung des preußischen Ancien regime erwies sich als fatale Hypothek. Da gesellschaftliche Konflikte nicht demokratisch ausgetragen werden konnten, lagen die Aushilfsmittel einer „sekundären Integration" nahe: Die sozialimperialistische Flucht nach vorn wurde zum vermeintlichen Rettungsanker starker Gruppen innerhalb der wilhelminischen Führungsschicht - vor allem unter den hohen Offizieren13.

II. Seit dem weltgeschichtlichen Doppelereignis von 1917, dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg und der russischen Oktoberrevolution, zeigte sich aufs neue ein prinzipieller Konflikt zwischen alternativen Sozialsystemen. Die Frage drängt sich auf, ob Steins Phasentheorie auch für das Verhältnis zwischen kapitalistischem Westen und kommunistischem Osten, zwischen „bürgerlicher" Demokratie und „Diktatur des Proletariats", anwendbar ist. Denn seine Theorie ist konzipiert als 16 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

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historischer Verlaufstypus: Sie versucht die Beziehungen zwischen einem konservativen und einem revolutionären Lager zu periodisieren und will nicht bloß Beschreibung einer individuellen historischen Konstellation sein. Da sie von einem solchen generalisierenden Ansatz ausgeht, läßt sie sich durchaus in Analogie setzen zu den Versuchen, einen idealtypischen Revolutionsablauf zu erarbeiten - ja, sie könnte in modifizierter Form selbst zum Bestandteil einer umfassenderen Revolutionstheorie werden. Läßt sich also der Steinsche Dreitakt von Annihilation, Konvergenz und Homogenität auch auf den fundamentalen Konflikt gegensätzlicher Gesellschaftsformen im 20. Jahrhundert übertragen14? Die erste Antwort auf diese Frage muß zweifellos sein, daß der Ost-West-Konflikt noch nicht abgeschlossen ist. Soweit dieser Gegensatz bereits Geschichte ist, lassen sich indes ebenso Übereinstimmungen mit Steins historischem Modell wie Abweichungen davon feststellen. Es gibt zunächst ganz offenkundig eine auffallende Ähnlichkeit zwischen den militärischen Aktivitäten der europäischen Koalition gegen das revolutionäre Frankreich und der alliierten Intervention in Sowjetrußland. Insoweit könnte man von einer Annihilationsphase für die Zeit von 1917 bis 1921 ausgehen. Mit dem Abschluß des britisch-sowjetischen Handelsvertrages im Jahre 1921 oder dem Rapallo-Vertrag zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich von 1922 könnte man eine Periode einsetzen lassen, in der die Anerkennung des neuen revolutionären Mitglieds der Staatengemeinschaft sich vollzieht. In diese Phase fallen bestimmte gesellschaftliche Wandlungen im Westen und im Osten, die von einigen Autoren als komplementäre Vorgänge verstanden werden. Daß von einer neuen sozialen Homogenität der Staatenwelt bis heute nicht die Rede sein kann, bedarf keines Beweises. Wenn das Steinsche Modell einen Sinn für die Interpretation des OstWest-Konflikts hat, befinden wir uns offenbar erst in der zweiten Phase der Auseinandersetzung. Eine solche Betrachtung ist jedoch in einer kaum noch zulässigen Weise makro-historisch. Die Einwände beginnen mit der Beurteilung der alliierten Intervention in der Sowjetunion. Sie war - ebenso wie die deutsche Starthilfe für Lenin - zunächst mehr ein Epiphänomen des Ersten Weltkrieges als eine bewußte Konterrevolution. Es war das einleuchtende Interesse der Westalliierten, die Mittelmächte nicht an ihrer östlichen Flanke zu entlasten. Die keineswegs unmotivierte Befürchtung, die Bolschewiki könnten sich als heimliche Verbündete des Deutschen Reiches erweisen, war das primum movens des westlichen Engagements. Im übrigen ist zu differenzieren. Das antirevolutionäre Motiv war in Frankreich stärker als in England oder den Vereinigten Staaten, und soweit die Intervention die deutsche Kapitulation überdauerte, war sie eindeutig gegen das Sowjetsystem als solches gerichtet. Daß der Kampf - besonders im Fall Frankreichs - auch der Eintreibung von Vorkriegsschulden galt, ändert nichts an dieser Feststellung; es konkretisiert sie nur. Auch in der Schaffung eines defensiven Cordon sanitaire wirkte noch die Hoffnung auf ein Aushungern der revolutionären Macht nach15. Die Anerkennung der Sowjetunion durch nichtkommunistische Mächte ist zum einen eine Konsequenz von mangelndem Interventionserfolg und nachlassender Revolutionierungsfurcht; zum anderen ist sie eine Folge von Gegensätzen innerhalb des 242 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

„bürgerlichen" Lagers. Sie war, wie man weiß, keineswegs Ausdruck von Sympathien mit der Oktoberrevolution, sondern durchaus vereinbar mit striktem innenpolitischen Antikommunismus. Anders als nach 1789 bildet die Serie der diplomatischen Anerkennungen, die erst 1933 von Amerika abgeschlossen wird, nicht nur ein kurzes Zwischenspiel in dem Verhältnis von konservativem und revolutionärem Lager. Sie präludiert vielmehr einer Phase der friedlichen Koexistenz, zu der es in der Folgezeit der Französischen Revolution keine Parallele gibt. Überhaupt verläuft die Geschichte nicht more geometrico. Das Prinzip der potentiell unbegrenzten Expansion wird im 20. Jahrhundert nicht von der revolutionären, sondern von der konterrevolutionären Macht schlechthin repräsentiert: vom nationalsozialistischen Deutschland. Und diese Macht kann sich nicht nur nicht auf den antikommunistischen Westen stützen; sie zwingt am Ende vielmehr West und Ost gegen sich selbst zusammen. Im Zeichen des Begriffs „Totalitarismus" hat man Kommunismus und Faschismus in ihren wesentlichen Erscheinungsformen gleichgesetzt. Es gibt solche Übereinstimmungen, zumal auf der Ebene der Herrschaftspraxis. Auf drei anderen Ebenen aber, die für eine sinnvolle Begriffsbildung genau so wichtig sind, gibt es keine Identität: auf der Ebene der sozialen Basis, der sozialen Funktion und der strategischen Zielsetzung. Die faschistischen Bewegungen, auf mittelständisch-bäuerliche Wählermassen gestützt und von traditionellen Machteliten gefördert, suchten das kapitalistische System nicht um seiner selbst willen gegenüber evolutionärer und revolutionärer Bedrohung zu verteidigen, sondern weil dies ihrer letzten Ziele wegen notwendig war. Diese Ziele aber hatten nicht primär ökonomischen oder sozialen, sondern politischen Charakter. Sie waren aggressiv gegenüber der Außenwelt und bedeuteten im Falle ihrer extremsten Erscheinungsform, des Nationalsozialismus, eine Kampfansage an die Zivilisation überhaupt. Für den Nationalsozialismus war Expansion der Daseinszweck, für den Sowjetkommunismus eine willkommene Gelegenheit16. Der Vernichtungskampf, mit dem das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion überzieht, ist der radikalste Annihilationsversuch gegenüber der sozialen Revolution. Er fällt in eine Zeit der tiefgreifenden Transformation des kapitalistischen Wirtschaftssystems in den westlichen Demokratien. Dieser Prozeß ist weithin eine Folge der Weltwirtschaftskrise, die eine präventive staatliche Konjunktursteuerung zur unabdingbaren Notwendigkeit gemacht hat. So unvollkommen auch die Wiederankurbelung der Wirtschaft gelingt, wie sie der New Deal über eine Expansion des Verbrauchs versucht: Der Manchester-Liberalismus gehört eindeutig der Vergangenheit an und weicht dem „Organisierten Kapitalismus". Dieser Wandel entspringt aber keineswegs dem Versuch einer Anpassung an die sowjetische Wirtschaftspolitik. Viel eher kann man von einer Anknüpfung an die gesellschaftspolitischen Interventionen sprechen, die im Ersten Weltkrieg von allen beteiligten Mächten erprobt worden waren. Die staatliche Regulierung der Sozialbeziehungen ist somit keineswegs, wie es Verfechter vulgär-marxistischer Theorien behaupten, eine „Errungenschaft" der faschistischen Konterrevolution. Die Stabilisierung des Kapitalismus war überdies weder die Quintessenz des Faschismus, noch ist der Faschismus ein notwendiges Resultat des Kapitalismus. Vielmehr kamen die faschistischen Bewe243 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

gungen nicht zufällig in solchen Gesellschaften an die Macht, in denen das Bürgertum sich politisch oder sozialökonomisch nicht voll hatte entwickeln können - in Gesellschaften, in denen die bürgerlichen Führungsgruppen die Chance der sozialen Rückversicherung bei feudalen, militärischen und bürokratischen Machtträgern hatten. Starke vorindustrielle und vordemokratische Relikte waren mithin ein conditio sine qua non für den Erfolg der militantesten Erscheinungsform des Antikommunismus17. Zeitlich fällt die Annäherung westlicher Gesellschaften an sozialstaatliche Vorstellungen nicht zusammen mit der „prokapitalistischen" Phase des Sowjetkommunismus. Die Periode der Neuen Ökonomischen Politik, die von 1921 bis 1928 eine begrenzte Renaissance des privaten Unternehmertums brachte, könnte man als Thermidor der sowjetischen Revolution bezeichnen, wenn sie nicht der Kulmination des Terrors vorausgegangen wäre. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der erste Fünfjahresplan markieren das Ende der zeitweiligen Konzessionsbereitschaft gegenüber dem Privatbesitz. Während der dreißiger Jahre gibt es in der Sowjetunion nichts, was als Komplementärerscheinung zur „linken" Wirtschaftspolitik der Ära Roosevelt betrachtet werden könnte. Sofern von einer Annäherung an den Westen gesprochen werden kann, ist dies ein rein außenpolitisches Phänomen und als Reaktion auf den Nationalsozialismus zu verstehen. Die Volksfronttaktik gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie der Eintritt in den Völkerbund und der Abschluß von Beistandsverträgen mit nicht-sozialistischen Ländern18. Der gesellschaftliche und ideologische Gegensatz zwischen Ost und West bildete in den zwanziger und dreißiger Jahren noch nicht die Hauptachse des Weltgeschehens. Die beiden künftigen Hegemonialmächte widmeten sich für die Dauer von zwei Jahrzehnten vorrangig ihren inneren Problemen: Amerika bleibt dem Völkerbund fern; die Kommunistische Internationale nimmt nach 1923 von offenen Umsturzversuchen in kapitalistischen Ländern Abstand und hilft den „Aufbau des Sozialismus in einem Lande" - der Sowjetunion - sichern. Die dreißiger Jahre werden durch eine Dreieckskonstellation geprägt: den Antagonismus von Faschismus, Demokratie und Kommunismus. Daß sich die beiden Extreme zu einem zeitweiligen Bündnis zusammenfinden, wird nicht zuletzt durch jene weitgehende Verselbständigung der Exekutivgewalt ermöglicht, die der stalinistischen Sowjetunion wie dem nationalsozialistischen Deutschland rasche und radikale Kursänderungen erlaubt. Langfristig freilich kann der tendenziell unbegrenzte Expansionswille des Nationalsozialismus den ideologischen Hauptfeind nicht ausklammern: Der Zweifrontenkrieg gegen West und Ost ist darum ebenso „logisch" wie die heterogene Allianz, die das Reich Hitlers gegen sich zusammenschmiedet19. Anders als nach 1789 bildet die friedliche Koexistenz im Verhältnis der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme des 20. Jahrhunderts nicht nur ein kurzes Zwischenspiel. Sie beginnt unmittelbar nach dem endgültigen Scheitern des - nicht sehr konsequent betriebenen - Versuchs, die russische Revolution rückgängig zu machen. Zwischen den demokratischen Staaten des Westens und der Sowjetunion besteht sie im Prinzip bis heute. Der Zweite Weltkrieg ist auf verschiedenen Ebenen beides: Vernichtungskampf gegen die soziale Revolution und Gipfel der Zusammenarbeit gegensätzlicher Gesellschaftsformen. Von einer gleichzeitigen gesellschaftlichen Konver244 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

genz der Systeme kann dagegen nicht die Rede sein. Auch die äußerliche Annäherung an gewisse Charakteristika des nationalsozialistischen Herrschaftsstils, die sich im Zeichen des „Sowjetpatriotismus" vollzog, ist gewiß kein Fall von sozialer Konvergenz. Die Frage stellt sich, inwieweit sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Bild verändert hat. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet der Ausdruck „Ost-West-Konflikt" den nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zur dominierenden Tatsache der Weltpolitik aufgerückten Gegensatz zwischen zwei Staatenblöcken, von denen der eine von den Vereinigten Staaten, der andere von der Sowjetunion angeführt wird. Nach der herrschenden Meinung des Westens wurde dieser Konflikt durch die aggressive Politik Stalins, die Sowjetisierung Osteuropas und die Entfesselung des Koreakrieges ausgelöst. Gegenüber dieser Ansicht hat eine neuere revisionistische Schule die materiellen Interessen Amerikas an einer herrschenden Stellung in Europa betont und bei Stalins Osteuropapolitik wesentlich defensive Motive am Werk sehen wollen. Das erste Argument hebt eine Komponente der amerikanischen Politik hervor, die von ihren idealisierenden Verfechtern gern übersehen wird. Das zweite trägt alle Züge einer apologetischen Geschichtsschreibung: Mit ihm könnten die meisten Eroberungen der Weltgeschichte gerechtfertigt werden. Entscheidend für die Beurteilung der Nachkriegszeit ist, daß die Politik Stalins die Furcht vor einer weiteren Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs nur allzu begründet erscheinen ließ und daß die Bereitschaft, eine solche Gefahr abzuwehren, im Westen eine breite populäre Basis hatte20. Die revisionistischen Thesen über die Entwicklungen der unmittelbaren Nachkriegszeit sind zu einem guten Teil von der Erfahrung des Vietnamkrieges geprägt worden. In der Tat wird man sagen können, daß die Sowjetunion ihren Aggressivitätsvorsprung vor den Vereinigten Staaten nach der kubanischen Raketenkrise vom Herbst 1962 verloren hat. Das von 1963 bis 1968 ständig sich vergrößernde militärische Engagement Amerikas in Südostasien entspricht einer eklatanten Fehlbeurteilung des vietnamesischen Bürgerkrieges: Die sozialen Ursachen und die autonomen Antriebskräfte des Aufstandes werden ebenso unterschätzt, wie die Expansionsbereitschaft des kommunistischen China überschätzt wird. Eine am osteuropäischen Beispiel orientierte Auffassung vom politischen Charakter und der sozialen Funktion des Kommunismus erweist sich gegenüber dem ehemaligen Kolonialland Vietnam als völlig unangemessen und führt zu einer militärischen Reaktion, die die moralische Glaubwürdigkeit Amerikas in der ganzen Welt erschüttert und bis weit in das eigene Land hinein als Ausdruck einer typisch imperialistischen Großmachtarroganz verstanden wird21. Die ersten Anzeichen einer Deeskalation - die Beendigung des Dauerbombardements Nordvietnams, der Beginn der Pariser Vietnamkonferenz, die Wahl Richard Nixons zum amerikanischen Präsidenten und damit die Ermöglichung seines Programms der ,,Vietnamisierung" - fallen in dasselbe Jahr 1968, in dem die militärische Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei den verbreiteten Glauben an den prinzipiell friedfertigen Charakter der sowjetischen Politik drastisch in Frage stellt. Immerhin ist festzuhalten, daß diese Aktion - ähnlich wie die sowjetischen Interventionen 1953 in Ostdeutschland und 1956 in Polen und Ungarn - nicht das weltpolitische Gleichgewicht verändert, sondern sich auf die Wieder245 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

herstellung der Hegemonialverhältnisse im eigenen Lager beschränkt. Ein halbes Jahrhundert, nachdem die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion erstmals als weltpolitische Akteure einander gegenübergetreten sind, scheint die ideologische Dynamik von 1917 sich erschöpft zu haben. Die Parole der Weltrevolution und die Forderung „to make the world safe for democracy" sind zu historischen Reminiszenzen geworden. In beiden Supermächten herrscht offensichtlich zur Zeit eine eher konservative Grundströmung vor. Von einer neuen Multipolarität der Staaten welt würde man erst dann reden können, wenn sich neben Washington und Moskau mehrere neue weltpolitische Kraftzentren ausmachen ließen. In der „Dritten Welt" ist das bisher nicht möglich. Die neutralen Länder haben nirgendwo jenes Maß an festem Zusammenschluß erreicht, das es ihnen erlauben würde, ein entscheidendes Gewicht in die Waagschale der Weltpolitik zu werten; für sich allein ist keines dazu stark genug. In Europa hat die zuerst vom gaullistischen Frankreich und vom nationalkommunistischen Rumänien begonnene Politik größerer nationaler Selbständigkeit zwar begrenzte Erfolge gehabt. Von einer wirklichen Veränderung des strategischen Gleichgewichts zwischen Ost und West kann jedoch nicht gesprochen werden22. Innerhalb des westlichen Lagers haben sich allerdings die Gewichte etwas verschoben: Den durch den Vietnamkrieg geschwächten Vereinigten Staaten gegenüber hat Westeuropa, seitdem Großbritannien sich dem Gemeinsamen Markt angeschlossen und die „Ostpolitik" der Bonner sozialliberalen Koalition eine Konsolidierung der Machtverhältnisse in Mitteleuropa ermöglicht hat, an Bedeutung gewonnen. Im asiatischen Bereich gilt Entsprechendes für Japan. Die politische Aufwertung Westeuropas und Japans wird jedoch in den Schatten gestellt durch das eigentliche weltpolitische Ereignis des Jahres 1971: Chinas Rückkehr in die große Politik. Nachdem die Kulturrevolution jahrelang alle Energien des kommunistischen China nach innen gelenkt hat, ist es nunmehr auch auf internationalem Feld wieder aktiv geworden. Aufgrund von Bevölkerungszahl, ideologischer Dynamik und strategischem Potential seit langem eine potentielle Weltmacht, scheint die Volksrepublik China jetzt, nachdem sie in die Vereinten Nationen aufgenommen und von den USA als gleichberechtigter politischer Kontrahent akzeptiert worden ist, endgültig in die Reihe der großen Mächte aufgerückt. Zu Beginn der siebziger Jahre hat sich damit eine neue weltpolitische Dreieckssituation herausgebildet, die sich von derjenigen der Zwischenkriegszeit grundlegend unterscheidet, deren langfristige Auswirkungen aber kaum schon abzusehen sind. Die gesellschaftliche Entwicklung in Ost und West weist gewisse Übereinstimmungen auf, die sich aus den objektiven Bedürfnissen von Industriegesellschaften ableiten lassen. Offenbar wäre es widersinnig, bestimmte Praktiken zur Lösung technischer und ökonomischer Probleme, die sich in dem einen Sozialsystem bewährt haben, eben deswegen in dem anderen nicht anzuwenden. An einem kritischen Punkt wäre man erst dann angelangt, wenn eine solche Entwicklung den Bruch mit verfestigten Traditionen oder ideologischen Dogmen und damit eine Erschütterung von überkommenen Machtpositionen bedeuten würde. Eben dieses Stadium war erreicht, als unter Präsident F. D. Roosevelt die staatliche Exekutive gegen den Widerstand von „big business" (wenn auch letztlich in seinem Interesse) massiv in das Spiel von An246 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

gebot und Nachfrage eingriff, um durch eine neue konsuminduzierte Konjunktur die Depression zu überwinden. In der Zwischenzeit haben staatliche Planung und Einzelinterventionen in den westlichen Gesellschaften einen weitaus größeren Umfang angenommen. Die Entwicklung zum interventionistischen Wohlfahrtsstaat ist unabwendbar, wenn man eine Wiederholung von sozialen und politischen Erschütterungen vermeiden will, wie sie nach 1929 der Weltwirtschaftskrise folgten. Wenn es überhaupt eine Parallele zur „keynesianischen Revolution" im kommunistischen System gibt, sind es am ehesten die zu Beginn der sechziger Jahre einsetzenden wirtschaftspolitischen Reformen, die mit dem Namen des sowjetischen Ökonomen Liberman verknüpft sind. Es ging und geht dabei im wesentlichen um eine begrenzte Dezentralisierung und EntSpezialisierung der Planung, um die Einführung der Rentabilität als Hauptkennziffer der Betriebe, verbunden mit der Propagierung des „Prinzips der materiellen Interessiertheit", und um eine stärker kostenorientierte Preisbildung. Es ist nicht erstaunlich, daß die allmähliche Verwirklichung dieser Vorschläge im Westen vielfach als drastische Abkehr vom stalinistischen Dogmatismus und als Annäherung an das kapitalistische Wirtschaftssystem verstanden wurde. Daß es sich bei den erwähnten Reformen um zum Teil einschneidende Änderungen des wirtschaftspolitischen EntScheidungsprozesses handelt, ist unbestreitbar. Soweit indes keine Restauration des privaten Eigentums stattfindet - und nichts dergleichen ist zu erkennen -, bleibt die Übernahme „kapitalistischer" Methoden eine rein äußerliche Angleichung an den Westen. Auswirkungen auf die Machtstruktur des kommunistischen Systems sind allerdings nicht zu vermeiden, und sie zeichnen sich schon seit einiger Zeit ab. Alles deutet darauf hin, daß die Macht der Partei nicht von einer technokratischen Gegenelite gebrochen werden wird, sondern daß die Auseinandersetzungen zwischen „Ideologen" und „Technokraten" auch in Zukunft innerhalb der Partei stattfinden werden. Es ist freilich keineswegs sicher, ob die Ermutigung von Spontaneität von unten immer nur die Erfolge haben wird, die sich die Führung davon verspricht. Vollzieht sich die Anpassung an Bedürfnisse der Massen zu langsam, so kann dies durchaus zu Konflikten mit den Arbeitnehmern führen, deren Ausgang niemand ein für alle Mal vorhersagen kann. Eine Stärkung der traditionalistischen Richtung kann ebenso das Resultat sein wie ein Sieg reformfreundlicher Kräfte. Eine politische Liberalisierung ist jedenfalls keine automatische Folge der ökonomischen Entdogmatisierung, sondern allenfalls ein mögliches Resultat innerer Auseinandersetzungen. Ihre Grenze wird auf absehbare Zeit das Selbsterhaltungsinteresse der Monopolpartei bilden23. Von Konvergenz in einem substantiellen Sinn wäre wohl erst dann zu sprechen, wenn sich politische und gesellschaftliche Macht in Ost und West auf ähnliche Weise legitimierte. Davon kann heute keine Rede sein. In den westlichen Gesellschaften hat die Trennung von Kapitalbesitz und Kapitalverfügung das Klassenverhältnis von Unternehmern und Arbeitnehmern nicht qualitativ verändert. Wichtige Bereiche der Wirtschaft, die sich den Marktgesetzen weithin entzogen haben, sind auch keiner alternativen öffentlichen Kontrolle unterworfen. Die Exekutivgewalt hat in dem Maß an Einfluß gewonnen, wie die Funktionen des Staates sich vermehrten. Auch hier werden sich neue Formen wirksamer Machtkontrolle nicht ohne politische Konflikte 247 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

herausbilden. Im ganzen freilich sind die Chancen für Widerspruch und Veränderung in den westlichen Demokratien immer noch ungleich größer als in den post-stalinistischen Regimen des kommunistischen Lagers. Es ist diese politische Differenz, die nach wie vor den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Systemen ausmacht. Überblickt man den Ablauf der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen nach 1789 und nach 1917, so muß man feststellen, daß die revolutionären Errungenschaften der Sowjetunion bisher in viel geringerem Maß einen Modellcharakter erlangt haben als die Ergebnisse der bürgerlichen Revolutionen. Anders als Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts war Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein sozialökonomisch unterentwickeltes Land. Was unter den Bedingungen einer überwiegend agrarischen Gesellschaft als Fortschritt gelten konnte, mußte für industrialisierte Länder noch längst nicht beispielhaft sein. Ein Jahrhunderte währender Autoritarismus, der weder den Emanzipationsbestrebungen der Reformationszeit noch denen der Aufklärung ausgesetzt gewesen war, mußte auch die Arbeiterbewegung prägen und ihr Kampfformen nahelegen, die sich von denen entwickelter und freierer Gesellschaften schroff unterschieden. Schließlich war es kaum vermeidbar, daß angesichts des Fehlens einer breiten bürgerlichen Schicht der Staat im Zuge der Industrialisierung ökonomische Funktionen wahrnahm, die in Westeuropa und mehr noch in Amerika ein traditionelles Feld privater Initiative waren24. Aus diesen Differenzen erklärt sich nicht nur, daß die terroristische Phase der Oktoberrevolution sehr viel länger dauerte als die der Revolution von 1789. Es folgt daraus auch, daß die Tendenzen der Konvergenz zwischen westlichem und östlichem System im 20. Jahrhundert viel schwächer ausgeprägt sind, als das im Gefolge der Französischen Revolution der Fall war. Schon gar nicht wird man heute von einer relativen sozialen Homogenität der Staatenwelt sprechen können, wie sie Lorenz von Stein bereits um 1814 wieder registrieren zu können meinte. Nimmt man hinzu, daß der sowjetische Weg auch in der „Dritten Welt" nirgendwo zum Modell geworden ist-teils, weil die Regierungsformen der ehemaligen Kolonialmächte sich als prägend erwiesen, teils, weil der Nationalismus das wirksamste Vehikel der Revolution bildete -, so kann man die These vertreten, daß die Revolution von 1789 eine universalere Bedeutung gehabt hat als die von 1917. Der Dritte Stand konnte 1789 mit einem wenigstens relativen Recht beanspruchen, der „allgemeine Stand" zu sein. Er löste eine funktionslos gewordene herrschende Klasse ab. Der Vierte Stand ist, entgegen der Marxschen Prognose, niemals in eine vergleichbare Situation gekommen. Die Französische Revolution hat schließlich ein bürgerliches Regime zur Folge gehabt. Die russische Oktoberrevolution hat ihr Versprechen, das Proletariat an die Macht zu bringen, nicht eingelöst und nicht einlösen können.

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III. Die Frage, ob Steins Phasentheorie auch auf den Konflikt zwischen Ost und West angewandt werden kann, ist nach unseren bisherigen Überlegungen eher zu verneinen als zu bejahen. Damit ist freilich noch nicht gesagt, daß der Ausgangspunkt seiner Analyse, der Nachweis einer neuen gesellschaftlichen Dimension internationaler Konflikte, für die Gegenwart nicht mehr gültig sei. Diesem Problem wollen wir uns abschließend zuwenden. Bei einer oberflächlichen Betrachtung könnte es scheinen, als ob die aktuelle Weltsituation Steins These schlagend widerlege. Zwischen den gegensätzlichen Gesellschaftssystemen, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, herrscht offenbar auf der internationalen Ebene ein leidlich erträgliches Klima, während die beiden kommunistischen Hauptmächte, die Sowjetunion und China, sich in einem Zustand des Kalten Krieges befinden. Der Konflikt im Nahen Osten entspringt gewiß nicht dem Gegensatz zweier verschiedener Gesellschaftssysteme, und der Vietnamkrieg war ein Bürgerkrieg, in dem die Weltmächte sich mit sehr unterschiedlicher Intensität engagierten. Alle diese Beobachtungen sind indessen keine Einwände gegen die These von der gesellschaftlichen Bedingtheit internationaler Konflikte. Im Falle des südostasiatischen Krieges war die Sozialrevolutionäre Komponente ebenso deutlich wie der weltpolitische Aspekt der amerikanischen Intervention: der Wunsch, die Ausbreitung „des" Kommunismus zu verhindern. Im Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten zeigt sich, wie eng der Handlungsspielraum regionaler Kontrahenten wird, wenn sie elementare strategische Interessen der beiden Weltmächte tangieren. Der Streit zwischen Moskau und Peking ist keineswegs nur eine ideologische Kontroverse, sondern auch der Konflikt zwischen einer relativ entwickelten und einer relativ unterentwickelten Gesellschaft - was neben der traditionellen Rivalität beider Länder den Differenzen um die richtige Form des Kommunismus erst den konkreten Hintergrund gibt. Und, last but not least: Im prekären Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden nuklearen Supermächten eine befriedigende Sicherung des Friedens zu sehen, wäre schon angesichts der Kosten vermessen25. Aber auch für die Zeit nach 1945 gilt, daß gesellschaftliche Faktoren nicht immer unmittelbare Ursache außenpolitischer Konstellationen und Konflikte gewesen sind. Nicht nur im Hinblick auf die internationalen Auseinandersetzungen nach 1789, sondern auch auf den Ost-West-Konflikt läßt sich die These vertreten, daß sich gesellschaftlich-ideologische Positionen und traditionelle Großmachtinteressen oft ununterscheidbar vermengen. Die russische Expansion auf dem Balkan und der Drang nach dem Mittelmeer sind Beispiele der Kontinuität zwischen vor- und nachrevolutionärer Politik. Erst die ideologische Loyalität jedoch, die Großmachtpolitik heute bei auswärtigen Parteigängern reklamieren kann, schafft die Kohäsion, die bei einer bloß nationalen Eroberungspolitik fehlen würde. Einen „reinen" Nationalismus gibt es überdies nicht: Er ist immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse. Dies gilt ebenso für die Zeit, als das Bürgertum in Europa mit der nationalen Parole gegen die feudal-absolutistischen Kräfte kämpfte, wie für jene Epoche, in der sich die „staatserhaltenden" Kräfte mit nationalen Schlagworten gegen die „internationalen" 249 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Tendenzen von links wandten. Und es gilt für die Gegenwart, wo die nationale Parole für bisher abhängige Völker eine Waffe im. Kampf gegen ehemalige Kolonialmächte und ihre Verbündeten geworden ist. Der Hinweis auf die gesellschaftliche Bedingtheit internationaler Konflikte meint nicht, daß eine ökonomistische Betrachtungsweise im Recht wäre, die alle außenpolitischen Streitfragen auf konkrete wirtschaftliche Interessen zu reduzieren versucht. Gesellschaftliche Verhältnisse können selbst äußere Bedingungen reflektieren: So hat etwa das relative Gewicht des Militärs in einem Lande immer auch mit seiner geographischen Lage zu tun. Das internationale System kann dem einzelnen Staat gewisse Verhaltensweisen auferlegen, die von seiner gesellschaftlichen Verfassung weithin unabhängig sind; und mit Recht hat man die Weltpolitik ein „primitives politisches System" genannt, weil es in ihm kein Monopol legitimer Gewaltanwendung gibt26. Es ist auch möglich, daß Ideologien sich verselbständigen: Sie können sich aus ihren ursprünglichen gesellschaftlichen Bezügen lösen und ihre Funktion wechseln. Die Geschichte des Nationalismus ist ein Beispiel dafür; ein Antikommunismus, der sich gegen konkrete Geschäftsinteressen wendet, wäre ein anderes. Auch jene Konfiguration ist hier nochmals zu erwähnen, die uns bei den bonapartistischen Regimen und beim Faschismus in besonders extremer Form begegnet ist: die Verselbständigung der Exekutivgewalt, die es herrschenden Gruppen erlaubt, eine aggressive und (in mehr als einem Sinne) a-soziale Politik zu treiben27. Selbst in vergleichsweise normalen Situationen scheinen die politischen Eliten auf dem Feld der Außenpolitik vom Druck der Interessengruppen unabhängiger zu sein als auf dem der inneren. In jedem Fall aber ist die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Außenpolitik gemacht wird, von entscheidender Bedeutung für deren Verständnis. Was Lorenz von Stein zur Soziologie der internationalen Beziehungen, zur Analyse transnationaler Gesellschaften und zur Bestimmung der gesellschaftlichen Bedingungen des Friedens beigetragen hat, kann auch gegenüber neueren Versuchen auf diesen Feldern bestehen. Stein hat im Unterschied zu einer - bis vor kurzem herrschenden Lehre der Gegenwart niemals versucht, Systeme und Variablen aus Freude an der Konstruktion zu erarbeiten; er hat sich um die Interpretation der Wirklichkeit bemüht28. Mit den zeitgenössischen Kritikern der nuklearen Abschreckung, die dem Drohsystem zu Recht vorwerfen, es begünstige Rüstungsinteressen, verfestigte den gesellschaftlichen status quo, verhindere produktive Sozialinvestitionen und täusche eine falsche Sicherheit vor - mit diesen Kritikern hätte Stein gewiß in der Einsicht übereingestimmt, daß ein positiver Friede niemals allein mit militärischen Mitteln erreicht werden kann, sondern gesellschaftliche Veränderungen verlangt. Im Unterschied zu jener Schule hätte er allerdings nicht auf eine Analyse der internationalen Situation verzichtet, die dieses System erst ermöglicht hat. Stein hat sich niemals - um ein Wort von Jürgen Habermas abzuwandeln - darauf eingelassen, die Totalität des historischen Prozesses undialektisch zu halbieren29. Eines der Ziele Steins war es, darzulegen, daß Krieg und Frieden keine naturwüchsigen Gegebenheiten sind. Indem er die gesellschaftlichen Bedingungen des Friedens aufzeigte, hat er, der die „Freiheit des Menschen" angesichts der „strengen Gesetzmäßigkeit der sich selbst entfaltenden Geschichte" gering achtete30, dennoch auf ein 250 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

veränderbares Element verwiesen. Das wichtigste Ergebnis, das sich aus seiner „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" ableiten läßt, ist mithin die Erkenntnis, daß Krieg dauerhaft nur gebannt werden kann, wenn es kein innergesellschaftliches Interesse mehr an internationaler Spannung gibt. So utopisch dieser Gedanke erscheinen mag: Als regulative Idee ist er noch für keine Zeit so wichtig gewesen wie für die Gegenwart.

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16. Zu H i l f e r d i n g s T h e o r i e des O r g a n i s i e r t e n K a p i t a l i s m u s I. Der Begriff „Organisierter Kapitalismus" findet sich erstmals in einem Aufsatz „Arbeitsgemeinschaft der Klassen?", den Rudolf Hilferding 1915 in der Zeitschrift „Der Kampf", dem theoretischen Organ der österreichischen Sozialisten, veröffentlicht hat. Hilferding, 1877 in Wien geboren, seit 1907 als Schriftleiter des „Vorwärts" in Berlin wirkend, galt seit dem Erscheinen seines „Finanzkapital" im Jahre 1910 als einer der führenden marxistischen Theoretiker. Die Stoßrichtung des Aufsatzes von 1915 ging gegen jene „geistige" Arbeitsgemeinschaft der Klassen, zu der sich unter dem Eindruck des Krieges einige Gewerkschaftsführer und Sozialdemokraten des rechten Flügels öffentlich bekannt hatten. Was die grundsätzlichen Argumente des „Kampf"-Artikels angeht, so konnte Hilferding - von Anfang an ein entschiedener Gegner der Kriegskreditbewilligung - unmittelbar auf die Überlegungen zurückgreifen, die er fünf Jahre zuvor in seinem großen theoretischen Werk vorgetragen hatte. Der Kontext, in dem der Begriff des Organisierten Kapitalismus erstmals verwandt wird, ist zugleich ein knappes Resümee dessen, was Hilferding zur Fortentwicklung der Marxschen Theorie beigetragen hat: „Das Finanzkapital - die Beherrschung der monopolistisch organisierten Industrie durch die kleine Zahl der Großbanken - hat die Tendenz, die Anarchie der Produktion zu mildern und enthält Keime zu einer Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung . . . Die ungeheure Stärkung der Staatsmacht, die das Finanzkapital und seine Politik erzeugt hat (sic!), wirkt in derselben Richtung. Anstelle des Sieges des Sozialismus erscheint eine Gesellschaft zwar organisierter, aber herrschaftlich, nicht demokratisch organisierter Wirtschaft möglich, an deren Spitze die vereinigten Mächte der kapitalistischen Monopole und des Staates stünden, unter denen die arbeitenden Massen in hierarchischer Gliederung als Beamte der Produktion tätig wären. Anstelle der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Sozialismus träte die den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen der Klassen besser als bisher angepaßte Gesellschaft eines organisierten Kapitalismus."1 Die dialektische Struktur der Hilferdingschen Theorie des Organisierten Kapitalismus tritt bereits in diesem Zitat hervor. Einerseits weist die Entwicklung des Kapitalismus Züge auf, die als Milderung seiner inneren Widersprüche verstanden werden können; andererseits führen fortschreitende Zentralisierung und Planung nicht von selbst über den Kapitalismus hinaus. Dieser erhält vielmehr eine Überlebenschance, die sich sehr wohl als Alternative zum Sozialismus herausstellen kann. Freilich wäre dies noch nicht schlechthin mit einer Niederlage der Arbeiterbewegung gleichzusetzen - ist doch die Stabilisierung des Kapitalismus selbst vor allem eine Folge hartnäk252 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

kig verfochtener Arbeitnehmerinteressen. Das Proletariat hat in dem Maß, wie es sich organisierte und für seine Belange zu kämpfen lernte, den Kapitalismus verändert und für sich erträglicher gemacht. Oder, wie Hilferding es mit einem gestochenen Paradoxon sagt: „Die konterrevolutionären Wirkungen der Arbeiterbewegung haben die revolutionären Tendenzen des Kapitalismus geschwächt." Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Der Übergang in eine qualitativ neue, in eine sozialistische Gesellschaftsordnung bleibt eine politische Aufgabe. Nachdem die Arbeiterbewegung aber dem Kapitalismus die Verwirklichung seiner schlimmsten Verelendungstendenzen unmöglich gemacht hat, fehlen wesentliche Voraussetzungen für eine revolutionäre Transformation der Gesellschaft. Mit dem Umfang der von der Arbeiterschaft erkämpften demokratischen Rechte steigen auch, das kann man aus Hilferdings Analyse herauslesen, die Aussichten für eine evolutionäre Verwirklichung des Sozialismus. Auf die politischen Implikationen der Theorie des Organisierten Kapitalismus wird noch zurückzukommen sein. Hilferding selbst hat als Unabhängiger Sozialdemokrat während der deutschen Novemberrevolution zu jenen gehört, die die Chance einer relativ offenen Situation für die präventive gesellschaftliche Sicherung der parlamentarischen Demokratie zu nutzen versuchten. Konkret meinte das die Entmachtung derjenigen Kräfte, die nach den Erfahrungen des Kaiserreiches als entschlossene Gegner jeder Demokratisierung angesehen werden mußten. Eine Sozialisierung der Schwerindustrie wäre somit vor allem aus politischen Gründen zu legitimieren gewesen. Daß entgegen Hilferdings realistischen Einsichten ein Bruch mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen des Kaiserreiches nicht vollzogen wurde, war eine schwere Hypothek für die erste deutsche Republik. Als Demokrat hat Hilferding dennoch nie in der Versuchung gestanden, sich dem autoritären Sozialismus der Dritten Internationale zu verschreiben. Die Wiedervereinigung von USPD und SPD im Jahre 1922 war nicht zuletzt auch sein Werk. Die Weimarer Sozialdemokratie fand in ihm bald ihren führenden Theoretiker. In dieser Eigenschaft und nicht in der des Reichsfinanzministers-ein Amt, das er 1923 und 1928/29 bekleidete-hat er seine größte politische Bedeutung erlangt. Im ersten Heft der von ihm herausgegebenen „Gesellschaft", dem neuen theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie, nahm Hilferding 1924 den theoretischen Faden an der Stelle wieder auf, bis zu der er ihn während des Krieges gesponnen hatte. Ausführlicher als in dem Aufsatz von 1915 skizzierte er zunächst die Tendenzen, die im Begriff des Organisierten Kapitalismus zusammenliefen. Kriegs- und Nachkriegszeit hättten in der Ökonomie eine außerordentliche Steigerung der Kapitalkonzentration mit sich gebracht und die Kartell- und Trustentwicklung mächtig gefördert. „Die Periode der freien Konkurrenz neigt sich dem Ende zu. Die großen Monopole werden zu den entscheidenden Beherrschern der Wirtschaft, immer enger wird die Verbindung mit den Banken, in denen das gesellschaftliche Kapital konzentriert und der Wirtschaft zur Verfügung gestellt wird. Die früher getrennten Formen des Industrie-, Handels- und Bankkapitals streben in der Form des Finanzkapitals zur Vereinheitlichung. Dies bedeutet den Übergang von dem Kapitalismus der freien Konkurrenz zum organisierten Kapitalismus." Jene Tendenz zur Planung und Lenkung der Wirtschaft, die Hilferding erneut regi253 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

strierte, würde, falls sie sich ohne Hemmnis durchsetzen könnte, eine „zwar organisierte, aber eine in antagonistischer Form hierarchisch organisierte Wirtschaft" zur Folge haben. Diese Form der Organisation kann nach Hilferdings Ansicht immerhin die Unstetigkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse mindern und die Krisen oder wenigstens deren Rückwirkung auf die Arbeiter mildern. Den fundamentalen Widerspruch aber zwischen den Interessen von Kapital und Arbeit vermag kapitalistische Planung nicht zu beheben. Dieser Widerspruch wird erst beseitigt durch die Umwandlung der hierarchisch organisierten in die demokratisch organisierte Wirtschaft. „Die bewußte gesellschaftliche Regelung der Wirtschaft durch die wenigen für deren Machtzwecke wird zur Regelung durch die Masse der Produzenten. So stellt der Kapitalismus, gerade wenn er zu seiner höchsten Stufe einer von neuem organisierten Wirtschaft gelangt, das Problem der Wirtschaftsdemokratie."2 Das Ziel der Wirtschaftsdemokratie erschien Hilferding nur in einem langdauernden historischen Prozeß erreichbar - einem Prozeß, in dem die fortschreitenden Organisationstendenzen des Kapitals durch eine von den Arbeitern simultan zu erkämpfende demokratische Kontrolle in Schach gehalten werden. In der großen Grundsatzrede, die Hilferding 1927 auf dem Kieler Parteitag hielt, hat er die - freilich durch Aktion vermittelte - Konvergenz von Organisiertem Kapitalismus und Sozialismus noch deutlicher herausgearbeitet: „Organisierter Kapitalismus bedeutet in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion." Planung, auch wenn sie unter kapitalistischen Vorzeichen erfolgt, unterliegt Hilferding zufolge in weit höherem Maß als „anarchischer" Wettbewerb der Möglichkeit bewußter gesellschaftlicher und staatlicher Hinwirkung, und so postuliert er die Aufgabe, „mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der bewußten gesellschaftlichen Regelung diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln". Hilferding hielt diese Aufgabe auf dem Höhepunkt der Periode relativer Stabilität zwischen 1924 und 1928 für durchaus lösbar. Er sah die kapitalistische Gesellschaft immer mehr dem „zunehmenden Einfluß der Arbeiterklasse" unterliegen und damit die Chancen für die Wirtschaftsdemokratie wachsen. Diese aber war gleichzusetzen mit der Unterordnung der wirtschaftlichen Privatinteressen unter das gesellschaftliche Interesse oder, wie Hilferding schon zwei Jahre zuvor auf dem Heidelberger Programmparteitag kurz und bündig erklärt hatte, mit dem Sozialismus3. II. Die Wirklichkeit hat Hilferdings Optimismus, was den zunehmenden Einfluß der Arbeiterschaft und die prognostizierte Milderung der Krisen angeht, nicht bestätigt. Der maßgebende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie hatte Mühe, die zusätzlichen Faktoren nachträglich in die Analyse einzuführen, die den unprogrammäßigen Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1929 erklären konnten. Hilferding deutete die Depression als „historisch einzigartig", als Folge „jener ungeheuren Störungen der Produktionsverhältnisse", für die in Krieg und Nachkriegszeit die Keime ge254 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

legt worden seien, ja, als „die grundsätzliche Liquidation des Krieges". Was der Erste Weltkrieg unmittelbar oder mittelbar induziert hatte, waren insbesondere eine gewaltige Überproduktion auf dem Agrarsektor, eine forcierte und produktionssteigernde Entwicklung der Technik, eine von technischer Arbeitslosigkeit begleitete Betriebsrationalisierung, die Revolutionierung der Absatzwege im zwischenstaatlichen Bereich, eine exzessive Inflation und schließlich die gewaltige Ausdehnung des Kapitalexports, wobei die neue Stellung der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber den europäischen Industrieländern eine Strukturveränderung der weltwirtschaftlichen Beziehungen bedeutete. Zwar war für Hilferding der Weltkrieg selbst als ultima ratio des imperialistischen Konkurrenzkampfes kein Ereignis, dessen Ursachen sich der ökonomischen Analyse entzogen, aber auf dem Hintergrund der Theorie des Organisierten Kapitalismus, wie er sie in den zwanziger Jahren weiterentwickelt hatte, erschienen die Krisenursachen als gewissermaßen exogene Faktoren4. Die irrige Annahme, daß die Kartellierung krisenmildernd wirke, hatte Hilferding dazu verleitet, den Konjunkturzyklen keine erhebliche Bedeutung mehr zuzumessen. Daß in der Krise von 1929 zwei Abschwungperioden zusammentrafen und sich gegenseitig verstärkten, daß sich eine langfristige Konjunkturschwingung und ein kürzerer Kreislauf überlagerten: Diese Einsicht lag prinzipiell nicht jenseits des Horizonts zeitgenössischer Konjunkturtheorie. Mit dem Instrumentarium Hilferdings war sie nicht zu gewinnen5. Die dogmatisch-marxistische Kritik hatte es leicht, Blindstellen in Hilferdings Theorie auszumachen. So konnte sie nachweisen, daß der Organisierte Kapitalismus keineswegs das Ende der Konkurrenz bedeutete. Angesichts der vielfältigen Substitutionsmöglichkeiten für monopolisierte Produkte, des Quotenstreites innerhalb der Kartelle und der Chance, daß ein Monopolist in das unterschiedliche Produktionsgebiet eines anderen einbrach, ließ sich sehr wohl die These vom „monopolistischen Wettbewerb" vertreten. Hilferdings „Generalkartell", die letzte „ökonomisch denkbare" Konsequenz der Konzentrationsbewegung, war eine unzulässige Abstraktion von wirklichen Widersprüchen. Auch die Unausweichlichkeit einer großen Krise konnte vom sowjetmarxistischen Standpunkt aus leichter, und im konkreten Fall zutreffender, vorausgesagt werden als von dem des praktischen und theoretischen Revisionisten Hilferding6. Auf lange Sicht freilich bot die Theorie des Organisierten Kapitalismus einen Ansatzpunkt, von dem aus die Stabilisierungschancen des kapitalistischen Wirtschaftssystems sehr viel realistischer zu bestimmen waren als vom Glauben an seinen notwendigen Zusammenbruch. Jene Tendenz zur immer umfassenderen Staatsintervention, die Hilferding frühzeitig diagnostiziert hatte, gewann erst unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise ihre klassische Form. Die präventive Krisenbekämpfung, wie sie John Maynard Keynes mit seiner Grundlegung einer antizyklischen Konjunkturpolitik intendierte, kann im theoriegeschichtlichen Zusammenhang durchaus als Fortentwicklung dessen gelten, was in der Konzeption des Organisierten Kapitalismus bereits angelegt ist. Hilferding selbst hatte in seinem Grundsatzartikel von 1924 antizyklische Denkansätze erkennen lassen, wenn er davon sprach, daß „eine gewisse Zurückhaltung von Neuanlage fixen Kapitals in der Zeit der Hochkonjunktur und Ver255 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

legung auf die Zeit verlangsamten Geschäftsganges, eine dem angepaßte Kreditregulierung durch die Großbanken, unterstützt durch eine entsprechende Geldpolitik der Zentralbank" zu den Mitteln einer Politik der Krisenmilderung gehörten. Die staatliche Exekutive trat allerdings in diesem Maßnahmenkatalog nicht unmittelbar in Erscheinung, und 1931 hat Hilferding vor dem Kongreß des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes die Brüningsche Deflationspolitik mit geradezu dogmatischen Argumenten gerechtfertigt. Die modern anmutenden Arbeitsbeschaffungspläne der freien Gewerkschaften von 1932 wurden von ihm gar als „unmarxistisch" abgelehnt. Die theoretische Fixierung auf das sozialistische Endziel versperrte ihm den Blick auf das aktuell Nötige und Machbare7. Die Theorie des Organisierten Kapitalismus, wie Hilferding sie formuliert hatte, war in der Tat noch unvollkommen - ja, es erscheint durchaus fraglich, ob man vorder „Keynesian Revolution" überhaupt von einem vollentwickelten Strukturtyp des Organisierten Kapitalismus sprechen kann. Die Frage aber „nach den Möglichkeiten des Systems, seine Grenzen selbstadaptiv hinauszuschieben"8, war durch Hilferding gestellt, und sie hat ihre heuristische Funktion bis heute behalten. III. Die „Wirtschaftsdemokratie", in der Hilferding eine notwendige Konsequenz des Organisierten Kapitalismus sah, ist 1928 vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund in den Rang einer offiziellen Doktrin erhoben worden. Die Konzeption, die Fritz Naphtali auf dem Hamburger Kongreß vortrug und wenig später in einer Broschüre unter dem Titel „Wirtschaftsdemokratie" nochmals ausführlich begründete, fußte in ihrem theoretischen Teil ganz auf Hilferdings Lehre vom Organisierten Kapitalismus. Aus der Tatsache, daß der Marktwettbewerb eine angemessene Kontrolle wirtschaftlicher Macht nicht mehr verbürgte, ließ sich die Legitimation einer alternativen öffentlichen Kontrolle ableiten. Als Schritte auf dem Weg zu einer Wirtschaftsdemokratie konnte aber auch schon Erreichtes verstanden werden: Konsumgenossenschaften und Gewerkschaftsbetriebe, die Demokratisierung des Arbeitsverhältnisses vom Sachenrecht über das Schuldrecht bis zum Arbeitsrecht, alle Formen gewerkschaftlicher Mitbestimmung und die sozialen Errungenschaften insgesamt, die sich die Arbeiterbewegung in jahrzehntelangem Kampf erstritten hatte. Die Wirtschaftsdemokratie war, auch darin folgte Naphtali der Argumentation Hilferdings, nur als Resultat eines langen Prozesses vorstellbar; das Endziel selbst wurde mit dem Sozialismus gleichgesetzt9. Der wesentliche Mangel des wirtschaftsdemokratischen Programms lag gerade in seiner scheinbaren Geschlossenheit. Allzu global wurde der Marktwirtschaft der Abschied gegeben und der privaten Initiative auf lange Sicht auch dort das Entfaltungsrecht abgesprochen, wo ein relativ unbeschränkter Wettbewerb sich durch Leistung legitimieren konnte. Daß im oligopolistischen Bereich Formen öffentlicher Kontrolle denkbar waren, die mehr Effizienz versprachen als die volle Vergesellschaftung, blieb 256 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

außer Betracht. Überhaupt wurden die Gefahren einer umfassenden Bürokratisierung der Wirtschaft in der sozialdemokratischen Diskussion der zwanziger Jahre beharrlich unterschätzt. Zwar hatten die Erfahrungen mit der Kriegswirtschaft Hilferdings die „geringe Eignung staatlicher Bürokratie zur Lösung wirtschaftlicher Aufgaben" gezeigt und ihn den Ausweg in Selbstverwaltungskörperschaften suchen lassen, in „deren Leitung die Produzenten (Arbeiter, Angestellte und Leiter), die Konsumenten (Weiterverarbeiter und Verbraucher) und als Vertreter der Allgemeinheit der Staat vertreten sind"10. Aber wenig sprach dafür, daß gemischte Honoratiorengremien sich gegenüber dem industriellen Management behaupten, geschweige denn es effektiv kontrollieren konnten. Und auch bei Naphtali war die Gefahr nicht zu übersehen, daß die von ihm intendierte wirtschaftliche „Selbstverwaltung" sich als eine bloße Fassade erwies, die die Entstehung einer neuen parastaatlichen Bürokratie verdeckte. In einem wesentlichen Punkt blieben Hilferding wie Naphtali dem Denken von Marx verhaftet: Es erschien ihnen als ein Stück „gesollter" Geschichte, daß das Proletariat die Bourgeoisie als herrschende Klasse einmal ablösen würde. Wie Marx gingen sie davon aus, daß die Abschaffung der Feudalherrschaft durch den bürgerlichen Kapitalismus trotz aller historischen Modifikationen ein Paradigma dessen war, was diesem selbst bevorstand. Die Chance, eine funktionslos gewordene herrschende Klasse, abzulösen, erhielt jedoch nur der Dritte und nie der Vierte Stand, Marx selbst hat im dritten Band des „Kapital", als er die „Arbeit der Oberaufsicht und Leitung" in jeder „kombinierten Produktionsweise" (im Unterschied zur vereinzelten Arbeit der selbständigen Produzenten) als eine produktive und notwendige Arbeit bezeichnete11, zumindest eine nichtproletarische Funktion als unabdingbar und damit, im Ansatz, einen funktionalen Pluralismus theoretisch anerkannt. Die praktische Legitimation der jeweiligen Funktionsinhaber ist allerdings eine andere Sache: Sie ist, in demokratischen Gesellschaften jedenfalls, vorrangig eine Frage wirtschaftlicher Effizienz. Für die Vertreter alternativer Sozialmodelle folgt daraus, daß sie ihrerseits dem Legitimationszwang unterworfen sind, auch praktische Überlegenheit ihrer Entwürfe plausibel zu machen. Für Hilferding hieß die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Oberzeugungsprozesses: politische Demokratie. Historisch betrachtet, so hat er auf dem Kieler Parteitag gesagt, sei die Demokratie stets die Sache des Proletariats gewesen, und es sei darum falsch und irreführend, von „bürgerlicher Demokratie" zu reden. Ebenso falsch sei das Wort von der „formalen Demokratie", denn die soziale Wirkung von Demokratie sei von höchster inhaltlicher Bedeutung für jedes Arbeiterschicksal. Und schließlich gelte es, dem verbreiteten Schlagwort von den „demokratischen Illusionen" entgegenzutreten. „Wenn Illusionen zu zerstören sind, so sind es heute nicht mehr diejenigen, die Marx 1848 zerstört hat. Das ist doch ein ganz lächerlicher Buchstabenglaube. Wir müssen die Illusionen zerstören, die heute gefährlich sind, und heute sind es diese antidemokratischen Illusionen."12 Das Ende von Weimar kann nur oberflächlichen Interpreten als Bestätigung dafür dienen, daß Hilferdings Plädoyer für die Demokratie durch die Geschichte widerlegt worden sei. Wie notwendig gesellschaftliche Veränderungen waren, um eine parlamentarische Demokratie in Deutschland dauerhaft zu sichern: darüber war er sich 257

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während des revolutionären Umbruchs von 1918/19 weitaus klarer als die Führer der Mehrheitssozialdemokraten. In der Mitte der zwanziger Jahre hat Hilferding die innen- und außenpolitische Lage ohne jeden Zweifel unrealistisch eingeschätzt: Seine Analysen tragen teilweise ausgesprochen harmonisierende Züge. Das antidemokratische Potential der deutschen Gesellschaft war auch in der Zeit relativer Stabilität zwischen 1924 und 1929 viel stärker, als Hilferding es wahrhaben wollte. Und gegen eine autoritäre Entwicklung des Organisierten Kapitalismus war kaum ein Land weniger immun als Deutschland13. Daß aber Hilferding und die Sozialdemokraten insgesamt damals einen prinzipiell anderen, am besten einen revolutionären Weg hätten einschlagen sollen, das kann auch nachträglich nur fordern, wer weder ihre demokratischen Prämissen teilt, noch ihren tatsächlichen, von rechts und von links eng begrenzten Handlungsspielraum zur Kenntnis nehmen will. Die Sozialdemokraten hielten an dem Grundsatz demokratischen Machterwerbs nicht zuletzt deswegen fest, weil sie die sozialen Kosten einer Erziehungsdiktatur - zu Recht - für unkalkulierbar hielten. Im übrigen waren die spezifischen Vorbelastungen der ersten deutschen Demokratie so stark, daß man sich davor hüten sollte, aus der Auflösung der Weimarer Republik vorschnell allgemeine Gesetze abzuleiten. Die Erfolge der faschistischen Bewegungen desavouierten jedenfalls nicht die liberale Demokratie als politisches Prinzip. Die Macht ergreifen konnten jene Bewegungen nur dort, wo die Trägerschichten des Ancien regime einen guten Teil ihrer Machtpositionen über die Industrielle Revolution hinweggerettet und sich als politische Partner konservativer Industriegruppen etabliert hatten. Die klassischen Demokratien hingegen konnten sich auch in der ökonomischen Krise behaupten. Organisierter Kapitalismus führte mithin nicht notwendig zu Faschismus14. Die Frage, wie Demokratie gesellschaftlich gesichert werden kann, ist heute neu und noch umfassender gestellt als in den zwanziger Jahren. Die Öffentliche Kontrolle wirtschaftlicher Macht gehört in diesen Zusammenhang, und das längst nicht mehr nur im nationalstaatlichen Rahmen. Hilferding hat selbst keine praktikablen Lösungsvorschläge vorgelegt, aber seine theoretischen Ansätze führen unmittelbar zum entscheidenden Problem: Wie müßten Formen der Machtkontrolle beschaffen sein, die nicht selbst wieder auf eine freiheitsgefährdende Machtkonzentration hinauslaufen? Einstweilen ist weder eine Theorie noch eine Praxis zu ermitteln, die diese Frage überholt erscheinen ließe15.

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17. O r g a n i s i e r t e r K a p i t a l i s m u s : Zwischenbilanz einer Diskussion

Die Arbeitsgemeinschaft „Voraussetzungen und Anfänge des ,Organisierten Kapitalismus'", die auf dem Regensburger Historikertag im Oktober 1972 ein „Werkstattgespräch" über ein Thema der neueren politischen Sozialgeschichte führte, war in mehrfacher Hinsicht ein Experiment - und als solches mit einer Reihe von Mängeln behaftet. Erstmals sollte auf einem Historikertag eine Arbeitsgemeinschaft während der Gesamtdauer des Kongresses tagen, um einen umfassenden und kontroversen Problembereich intensiver erörtern zu können, als dies in den herkömmlichen Sektionen möglich ist. Trotz bedauerlicher zeitlicher Überschneidungen mit anderen Arbeitsgruppen - Überschneidungen, die bei dem isolierten Charakter unseres Versuchs offenbar nicht zu vermeiden waren - hat diese Neuerung sich nach einhelliger Meinung bewährt. Allerdings wird eine solche Veranstaltung nur dann diskussionsintensiv sein können, wenn den interessierten Teilnehmern rechtzeitig die Sektionspapiere zugestellt werden. Daß diese im Fall Regensburg nicht geschah, hat unsere Arbeit spürbar erschwert. Größeres Gewicht haben die inhaltlichen Probleme. Die Beschränkung auf einige wenige Länder spiegelt einerseits „Sachzwänge" wider, die sich aus der Kürze der Vorbereitungszeit ergaben, andererseits wohl aber auch gewisse Ungleichmäßigkeiten der gegenwärtigen Forschungslage. Ein besonders gravierendes Manko war, daß Frankreich in Regensburg ausgeklammert werden mußte. Inzwischen hat Gerd Hardach durch seinen in dem Sammelband „Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge" (Göttingen 1974) abgedruckten Beitrag zur Rüstungspolitik, der einen Aspekt der französischen Entwicklung behandelt, diesem Mangel partiell abgeholfen. Die osteuropäische Lücke aber (von Japan ganz zu schweigen) klafft weiter. Die Referenten der Regensburger Arbeitsgemeinschaft waren und sind sich des fragmentarischen Charakters ihrer Bemühungen wohl bewußt. Die Eingrenzung des Untersuchungszeitraums auf etwa fünf Jahrzehnte - von den 1870er Jahren bis zum „Ende der Nachkriegszeit" um 1923/24 - war vor allem ein Ausdruck arbeitsökonomischer Erwägungen. Die Diskussion hat uns dann freilich klar gemacht, daß wir in der Tat nicht mehr getan haben, als die Anfänge eines sozialgeschichtlichen Phänomens zu erörtern. Hätten wir unsere Überlegungen als Beitrag zur theoretischen und sozialökonomischen Vorgeschichte jener Strategie wirtschaftspolitischer Stabilisierung konzipiert, die gemeinhin als „Keynesian Revolution" bezeichnet wird, so wäre wahrscheinlich der Begriff „Organisierter Kapitalismus" leichter gegen die Vermutung zu verteidigen gewesen, er beruhe bloß auf einer distinctio rationis, sei also ein intellektuelles (wenn nicht gar ideologisches) Konstrukt. Darauf ist sogleich zurückzukommen. 259 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Es kann natürlich nicht die Aufgabe vorläufiger Schlußbemerkungen sein, die „offen gebliebenen Fragen" zu beantworten, Gegensätze zu harmonisieren und alle wirklichen oder denkbaren Mißverständnisse auszuräumen. Ich möchte mich vielmehr darauf beschränken, stichwortartig drei Probleme anzuschneiden, die beim Fortgang der Diskussion eine wichtige Rolle spielen dürften. Erstens geht es um die nur zum Teil terminologische Frage, ob im Begriff des „Organisierten Kapitalismus" nicht ein Mißverständnis der Periode angelegt ist, von der er sich historisch gerade abheben soll. Zweitens steht die mit dem ersten Problem eng verknüpfte Periodisierungsfrage zur Debatte: Anhand welcher Kriterien soll der Übergang zum Organisierten Kapitalismus bestimmt werden? Drittens ist nach den Grenzen des Begriffs zu fragen: Welche Sektoren der Wirklichkeit werden durch diesen Raster nicht erfaßt? Was kann der Begriff nicht leisten? Zum ersten der angesprochenen Probleme: Offenkundig suggeriert der Begriff „Organisierter Kapitalismus" die Vorstellung von einer Periode des „unorganisierten Kapitalismus", die ihm zeitlich vorausgegangen ist. Was Volker Sellin für Italien nachgewiesen hat - daß nämlich dort von einer solchen Phase keine Rede sein kann -, ließe sich wohl für die Industrialisierungsprozesse in vielen anderen Ländern, so auch für das Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts, zeigen: Sozialökonomische Unterentwicklung macht ein besonders hohes Maß an Staatsaktivität wahrscheinlich. Aber es bleibt ein Unterschied, ob die staatlichen Interventionen darauf abzielen, die Industrialisierung in Gang zu setzen - oder ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu bewältigen. Der Begriff des „Organisierten Kapitalismus", wie Hilferding ihn konzipiert hat, stellt nicht ab auf staatliche Starthilfen im Zuge des Industrialisierungsprozesses, sondern auf Interventionen, die der Stabilisierung eines bereits etablierten, durch wirtschaftliche und/oder soziale Krisen erschütterten kapitalistischen Wirtschaftssystems dienen sollen. Der Hinweis auf diese unterschiedlichen Funktionen von staatlicher Wirtschaftssteuerung ist durchaus mit der Annahme vereinbar, daß beide Phasen unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbar ineinander übergehen, ja sich zeitlich überschneiden können. „Verspätung" und „Verfrühung" liegen, wie insbesondere auch der deutsch-englische Vergleich zeigt, in ein und derselben Gesellschaft manchmal sehr nahe beieinander. Damit komme ich zum zweiten Problem, der Periodisierungsfrage. Ein Konsens darüber, von wann ab man von „Organisiertem Kapitalismus" sprechen kann, ist in Regensburg nicht erzielt worden. Es verursacht große methodische Schwierigkeiten, zuverlässige - im Grenzfall: exakt quantifizierbare - Kriterien für eine gemeinsame Periodisierung mehrerer der Entwicklungsstränge zu finden, die im Begriffsaggregat „Organisierter Kapitalismus" zusammenlaufen. Jürgen Kocka hat angeregt, den Begriff mit der Periodisierung konjunktureller Trendperioden (nach Kondratieff, Spiethoff, Schumpeter u. a.) zu verkoppeln. Für Deutschland schlägt er selbst folgende Einteilung vor: „Industrielle Revolution" von den 1830er Jahren bis 1873, „Große Depression" 1873-1896, Übergang zum „Organisierten Kapitalismus" von der Mitte der neunziger Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, „Organisierter Kapitalismus" seitdem1. Auf einige Aspekte dieses Vorschlags möchte ich kurz eingehen. Es scheint in der 260 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Tat, daß während der 1890er Jahre in Deutschland die Entwicklung einen Sprung gemacht hat. Bereits um 1908 hat Η. Ε. Krueger darauf hingewiesen, daß es einen Zusammenhang zwischen den Wellen der Konjunktur und der Verbandsbildung gebe2. Um 1896, also beim Beginn einer neuen Aufschwungphase, setzt geradezu ein Boom in der Organisation wirtschaftlicher Interessen ein. Krueger zählt 104 Fach- u. ä. Verbände, 56 Konventionen und Kartelle und 138 Arbeitgeberverbände, die allein zwischen 1896 und 1900 gegründet wurden: Rekordzahlen auch auf dem Hintergrund der organisationsfördernden Depression. Verbandsbildend wirken jetzt aber andere Faktoren. Zu nennen sind die fortschreitende ökonomische Differenzierung etwa zwischen Rohstoff-, Halbzeug- und Fertigindustrien, wobei der Aufstieg von Elektrotechnik und Chemie zu neuen industriellen „Leitsektoren" eine Schlüsselrolle spielt; der aus Depressions- und Aufschwungerfahrung genährte Wunsch, den eigenen Anteil am Sozialprodukt präventiv zu sichern und zu vergrößern; der Zugzwang, der sich für die Arbeitgeberseite aus der fortschreitenden gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter ergibt. Was die Arbeiterschaft und ihre Kampfmittel angeht, so haben unlängst Hartmut Kaelble und Heinrich Volkmann für das Deutschland der 1890er Jahre einen wesentlich durch den Konjunkturaufschwung bedingten Strukturwandel des Streiks konstatiert: „Aus der defensiven Arbeitsverweigerung als Protest gegen schlechte Arbeitsbedingungen wurde die kalkulierte Demonstration der Stärke im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. Sie sollte bei möglichst geringen Kosten möglichst effektiv sein. Entsprechend tendierte die durchschnittliche Streikbeteiligung nach oben, seine Dauer und unkontrollierte Militanz nach unten. Der moderne ökonomische Streik ist häufig kurz und beteiligungsstark. Er ist zentral geplant und gesteuert." Die Autoren sehen in dem skizzierten Strukturwandel des Arbeitskampfes ein Indiz für den Übergang in eine neue Phase der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die auch sie mit dem Begriff „Organisierter Kapitalismus" belegen3. Was auf dem Gebiet der Organisation wirtschaftlicher Interessen in den späten 1890er Jahren geschah, ist sicherlich weithin eine Systematisierung und Steigerung von Ansätzen gewesen, die sich bis zur Krise von 1873, und zum Teil darüber hinaus, zurückverfolgen lassen. Die von Krueger und neuerdings von Kaelble und Volkmann beigebrachten Daten legen aber den Schluß nahe, daß der „Umschlag von der Quantität in die Qualität" erst nach dem Ende der „Großen Depression" erfolgt ist. Für Kockas Periodisierungsvorschlag würden dadurch, was den Übergang zum Organisierten Kapitalismus angeht, zusätzliche Argumente erwachsen. Hingegen scheint es mir fraglich, ob der Prozeß des Übergangs mit dem Ersten Weltkrieg tatsächlich schon abgeschlossen war. Gegen diese These spricht einmal die Tatsache, daß viele „Kriegserrungenschaften" sich als durchaus reversibel erwiesen. Erst im historischen Rückblick konnte der Krieg dann als das Laboratorium erscheinen, in dem der „Organisierte Kapitalismus" im großen Stil „erprobt" wurde: als nach 1929 nämlich die Analogie von Krieg und Krise entdeckt und in fast allen Industriestaaten auf das personelle und institutionelle Wirtschaftslenkungsarsenal der Jahre 1914-18 zurückgegriffen wurde4. Zum anderen sollte das Stabilisierungspotential, über das kapitalistische Systeme vor 1929 verfügten, nicht überschätzt wer261 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

den. Insbesondere besteht kein Grund, Hilferdings Beurteilung der Kartelle als Faktoren der Krisenmilderung zu übernehmen. Wenn aber „Stabilisierung" - dem Effekt, und nicht nur der Intention nach - ein wesentliches Kennzeichen von Organisiertem Kapitalismus sein soll, muß dem konjunkturpolitischen Instrumentarium besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die staatliche Konjunkturpolitik ist jedoch erst in den 1930er Jahren, im Zuge der Rezeption der Keynes'schen Theorie soweit entwickelt worden, daß sie zum klassischen Mittel ökonomischer Krisenbekämpfung werden konnte. Erst seit der Durchsetzung einer antizyklischen Konjunkturpolitik sollte man daher von einem entwickelten „Organisierten Kapitalismus" sprechen5. Die Frage nach den Grenzen des Begriffs, unser drittes, nur noch knapp anzudeutendes Problem, zielt auf die politischen Implikationen des Organisierten Kapitalismus. In bewußter Verkürzung soll hier die These vertreten werden, daß die unterschiedliche politische Entwicklung moderner (nicht nur, aber auch: kapitalistischer) Gesellschaften wesentlich durch vorindustrielle Faktoren bestimmt ist6. So hat die Abwesenheit feudaler und absolutistischer Traditionen in den USA demokratische Entwicklungen begünstigt, während in Italien und Deutschland das starke Gewicht vorkapitalistischer Elemente und Ideologien zu den wichtigsten Bedingungen für den Erfolg der faschistischen Bewegungen gehörte. Hans Medicks sicherlich richtiger Hinweis auf die atypischen, zu einem großen Teil ebenfalls vorindustriellen Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung Englands genügt m. E. aus drei Gründen nicht, um die These von der „politischen Polyvalenz" (H.-U. Wehler) des Idealtyps „Organisierter Kapitalismus" zu entkräften. Einmal gibt es, wenn man beispielsweise an die skandinavischen Staaten denkt, eine Reihe anderer Fälle von demokratischer Transformation des Kapitalismus. Zum anderen ist auch in England selbst der volle Durchbruch zum Sozialstaat erst erreicht worden, nachdem auch auf anderen Gebieten der Organisierte Kapitalismus seine rudimentären Formen hinter sich gelassen hatte - ein Prozeß, der jedoch, was keine historische Relativierung aus der Welt schafft, niemals zu einem Bruch mit dem liberal-parlamentarischen System führte. Schließlich sollte über der sozialstaatlichen Komponente politischer Systeme die rechtsstaatliche nicht aus dem Blickfeld verdrängt werden, und unter diesem Gesichtspunkt können die Unterschiede zwischen der liberal-demokratischen und der faschistisch-totalitären Erscheinungsform des Organisierten Kapitalismus nur als schlechthin fundamental verstanden werden. Gesellschaftliche Theorien, die die Rolle vorkapitalistischer Elemente nicht reflektieren, bedürfen in jedem Fall der Ergänzung und Verfeinerung, ehe sie für den Vergleich politischer Strukturen und Abläufe verwendbar werden. Das gilt auch für die von Hilferding entwickelte Theorie des „Organisierten Kapitalismus" - und es ist nicht ihr einziger Mangel. So ist namentlich das Verhältnis von Ökonomie und Rechtsordnung, für Hilferding gewiß ein eminent praktisches Problem, nicht zum integrierenden Bestandteil seiner Theorie geworden. Seine Konzeption ist weit davon entfernt, jene Theorie der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse zu sein, deren ein historisch fundierter Vergleich der konkurrierenden sozialen und politischen Systeme der Gegenwart bedürfte. Aber als eine offene und ergänzungsfällige 262 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Theorie der Entwicklungsgeschichte eines ökonomischen Systems ist sie zugleich auch ein grundlegender Beitrag zu dem, was von den Sozialwissenschaften noch zu leisten ist.

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18. O r g a n i s i e r t e r K a p i t a l i s m u s ? V e r s u c h eines Fazits

Schon während der Diskussion über Voraussetzungen und Anfänge des „Organisierten Kapitalismus" auf dem 29. Deutschen Historikertag zu Regensburg im Oktober 1972 sind einige Einwände gegen diesen Begriff vorgetragen worden, die m. E. bis heute nicht wirklich entkräftet werden konnten. Seitdem ist die Debatte - ausgelöst vor allem durch den Sammelband mit den Regensburger Referaten1 - weitergegangen. Einige der Argumente gegen das an Hilferding anknüpfende Modell des „Organisierten Kapitalismus", auf die ich im folgenden eingehen möchte, verdienen es, von den Befürwortern dieser Theorie ernsthaft geprüft zu werden. Ich selber stehe dem Begriff und Modell des „Organisierten Kapitalismus" heute, sechs Jahre nach der Regensburger Diskussion, viel skeptischer gegenüber als damals. Es sind vor allem die folgenden Erwägungen, die mich zunehmend am Nutzen des Hilferdingschen Paradigmas haben zweifeln lassen. Erstens: Einen unorganisierten Kapitalismus hat es niemals gegeben. Dieser Einwand ist bereits von Volker Sellin unter Hinweis auf das italienische Beispiel in Regensburg vorgetragen - und im Grunde von allen Teilnehmern der Diskussion akzeptiert worden2. Wenn andere (auch ich) Hilferdings Begriff durch dieses Argument noch nicht als erledigt ansahen, dann deswegen, weil staatliche Eingriffe, die die Industrialisierung fördern sollen, und solche, die dazu dienen, die Folgen ebendieses Prozesses zu mildern, offenbar von unterschiedlicher Qualität sind. Aber lassen sich in der historischen Wirklichkeit beide Arten von Staatsintervention zeitlich so klar voneinander trennen wie diese Typologie es unterstellt? Den Verteidigern von Hilferdings Modell zufolge bedurfte es der „Großen Depression" der Jahre von 1873 und 1896, um jenes Instrumentarium von selbständiger Organisation der wirtschaftlichen Interessen und staatlichen Interventionen in die Wirtschaft hervorzubringen, das den Auswirkungen konjunktureller Krisen im stabilisierenden Sinne entgegenwirken sollte. Dabei ist es zunächst von untergeordneter Bedeutung, ob man die Anfänge des „Organisierten Kapitalismus" mit Wehler schon in die Zeit der „Großen Depression" oder mit Kocka in die Aufschwungphase danach verlegt. Was die staatlichen Stützungsmaßnahmen angeht, so sind sie ζ. Τ. sehr viel älteren Ursprungs als die Krise der 1870er Jahre. Einen sozialprotektionistischen Schutz von - wirklichen oder vermeintlichen - Industrialisierungsopfern hatte es schon lange vor 1873 gegeben: Die zunftfreundliche Novelle zur preußischen Gewerbeordnung vom Februar 1849 ist ein Beispiel dafür, und der „liberale" Südwesten Deutschlands hatte, anders als das „reaktionäre" Preußen, zu diesem Zeitpunkt mit dem überkommenen Zunftzwang noch gar nicht gebrochen3. Während der wirtschaftlichen Krise der Jahre 1857 bis 1859 gab es bereits Staatsin264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

terventionen, die ausgesprochen „modern" wirken. Der Hamburger Senat etwa entschloß sich im Dezember 1857, den drohenden Zusammenbruch der größten Banken durch eine staatliche Anleihe zu verhindern. Auf den Effekt dieser Maßnahme traf zu, was Marx zu den noch weitergehenden Forderungen der Hamburger Bürgerschaft bemerkte: ,,. . . das Vermögen der gesamten Gesellschaft, welche die Regierung vertritt, hätte die Verluste der privaten Kapitalisten zu vergüten. Diese Art Kommunismus, wo die Gegenseitigkeit völlig einseitig ist, erscheint den europäischen Kapitalisten ziemlich anziehend"4. Auch auf sozialpolitischem Gebiet lassen sich, wenn man an bestimmte Maßnahmen Napoleons III. wie die Einrichtung der Hilfskassen für Arbeiter, den staatlichen Wohnungsbau und die Senkung des Brotpreises unter den Selbstkostenpreis der Produzenten denkt, die Anfänge des modernen Interventionsstaates hinter den Börsenkrach von 1873 zurückdatieren. Die kartellmäßige Organisation der Industrie setzte ebenfalls, in Form von Regionalkartellen lange vor der „Großen Depression" ein - im Bereich des Deutschen Bundes in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Daß die Geschichte der Kartelle und Monopole bis in das Mittelalter und die Antike zurückreicht, ist bekannt5. Unmittelbares Vorbild der frühen Industriekartelle waren die Händlerkartelle des 18. Jahrhunderts. Bei den Monopolen wie bei den Schutzzöllen standen die reichen einschlägigen Erfahrungen des Merktanilismus Pate. In England etwa lassen sich die zuletzt genannten Formen von Staatsintervention bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen6. Bedeuten diese Hinweise, daß die Historische Schule der deutschen Nationalökonomen mit ihrem „déjà vu" doch recht hatte? Waren die wirtschaftspolitischen Interventionen des Staates, waren die Tendenzen in Richtung auf Kartellierung und Monopolisierung, Anzeichen eines „Neomerkantilismus"7? Richtig ist, daß der Übergang zu dem, was mit dem Begriff des „Organisierten Kapitalismus" gemeint ist, dort am leichtesten fiel, wo die merkantilistischen Traditionen noch besonders stark waren und der Wirtschaftsliberalismus nur eine relativ kurze Blütezeit erlebt hatte. Das trifft für Deutschland wie für Frankreich zu. Insofern gibt es durchaus strukturelle Beziehungen zwischen Merkantilismus und modernem Staatsinterventionismus. Aber Einsichten in das spezifisch Neue der wirtschaftspolitischen Aktivitäten des frühen Industriestaates werden durch den Begriff „Neomerkantilismus" nicht gefördert. Zweck des „Merkantilismus" war es nach den Worten Max Webers, „die Macht der Staatsleitung nach außen zu stärken"8. Zweck des modernen Interventionsstaates ist es, die kapitalistische Wirtschaftsordnung funktionsfähig zu erhalten. Merkantilismus bedeutet, wiederum nach Max Weber, die „Übertragung des kapitalistischen Erwerbsbetriebs auf die Politik"9. Im Zeichen des modernen Imperialismus wird der kapitalistische Erwerbsbetrieb politisiert: Er bedarf des Staates, um sich Absatzmärkte zu sichern. Das Bedürfnis, das Neue des industriekapitalistischen Systems begrifflich zu erfassen, ist somit völlig legitim. Zu diesem System gehören Konzentration, Rationalisierung und Bürokratisierung von Anfang an ebenso dazu wie die Gründung von Aktiengesellschaften, Verbänden und Kartellen10. Zwar lassen sich in der Tat alle diese Tendenzen und Einrichtungen bis in die vorindustrielle Zeit zurückverfolgen, aber erst die Industrialisierung schuf die Grundlage dafür, daß sie allmählich die gesamte 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Gesellschaft ergriffen und umformten. Entsprechendes gilt von der Wirtschaftstätigkeit des Staates. Die „Große Depression" von 1873 bis 1896 gab allen diesen Entwicklungen einen gewaltigen Auftrieb, und in gewisser Weise war es eine Nachwirkung dieser Periode verminderter Wachstumsraten und häufiger Konjunktureinbrüche, daß Unternehmer und Regierungen auch nach 1896 versuchten, Wirtschaft und Gesellschaft krisenfest zu machen. Daß dieses Motiv bei den Kartellgründungen der Aufschwungperiode seit den späten 1890er Jahren eine bestimmende Rolle spielte, ist unbestritten - so kontrovers auch die Erfolge dieser Bemühungen um Stabilisierung geblieben sind. Der unorganisierte Kapitalismus, der dem „Organisierten Kapitalismus" zeitlich vorausgegangen sein soll, ist eher ein Phänomen der Ideen- als der Wirtschaftsgeschichte. Adam Smiths Bild der liberalen Gesellschaft, in der unendlich viele selbständige und prinzipiell gleichwertige Produzenten miteinander in Wettbewerb stehen und in der der Staat auf die Rolle des Nachtwächters beschränkt bleibt, ist nicht zufällig ein vorindustrielles Denkmodell11. Die Wirklichkeit hat dieser Vorstellung niemals voll entsprochen. Gewerbefreiheit war während des 19. Jahrhunderts in Kontinentaleuropa nicht der Regel-, sondern der Ausnahmefall12. Dem Freihandel wandte sich Großbritannien erst zu, nachdem es seine wirtschaftliche Weltmachtstellung gewonnen hatte - eine Stellung, die so stark schien, daß England in der „Großen Depression" einen Rückgriff auf protektionistische Maßnahmen nicht zu benötigen glaubte. Frankreich behielt auch nach dem „freihändlerischen" Cobden-ChevalierVertrag von 1860 hohe Konventionaltarife bei -Tarife, die im Fall des Gußeisens höher waren als die vom Deutschen Reich 1879 eingeführten Schutzzölle13. Die USA waren bekanntlich schon unmittelbar nach dem Bürgerkrieg - also vor der „Großen Depression' - zu einer Politik hoher Importzölle für Industrieprodukte übergegangen. Auch binnenwirtschaftlich haben die USA - der Legende vom „free enterprise" zum Trotz - bereits im 19. Jahrhundert private Investitionen durch öffentliche Subventionen in einem Umfang gefördert, der selbst die vergleichbaren Maßnahmen des bonapartistischen Frankreich in den Schatten stellte14. Es war ein Zusammentreffen zweier gegensätzlicher Momente, das in Deutschland den Übergang vom wirtschaftlichen Liberalismus zum außen- und binnenwirtschaftlichen Protektionismus zu einer besonders tiefen Zäsur machte. Einerseits hatte Deutschland nach 1862 das Prinzip des Freihandels besonders konsequent verwirklicht. Andererseits verfügte der deutsche Obrigkeitsstaat noch über eine solide Machtbasis, von der aus liberale Widerstände gegen Staatsinterventionen vergleichsweise leicht zu überwinden waren. Der Übergang zum Schutzzoll gab der Kartellbildung, zunächst im Bereich der Grundstoffindustrien, starken Auftrieb, wie denn die Kartellierung nirgendwo so rasch und umfassend erfolgte wie in Deutschland. Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung erscheint es daher kaum als historischer Zufall, daß die Theorie des „Organisierten Kapitalismus" gerade in Deutschland entstand. Aber auch für Deutschland gilt, daß die meisten der dem „Organisierten Kapitalismus" zugeschriebenen Merkmale und Entwicklungstendenzen, solche des industriellen Kapitalismus schlechthin sind. Vieles von dem, was am „Organisierten Kapitalismus" neu ist oder neu erscheint, ist der Industriellen Revolution außerhalb Eng266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

lands so rasch gefolgt (wenn nicht sogar zeitlich mit ihr zusammengefallen), daß es vom Begriff des industriellen Kapitalismus gar nicht mehr abgesondert werden kann. Ob der „Organisierte Kapitalismus" unmittelbar oder mittelbar aus der „Großen Depression" abgeleitet wird: Diese Trendperiode war die erste langfristige Abschwungperiode nach dem Durchbruch der Industriellen Revolution auf dem europäischen Kontinent. Die Vorstellung eines unorganisierten Kapitalismus korrespondiert mit der Vorstellung eines industriellen Kapitalismus ohne Konjunkturschwankungen. Beide Vorstellungen sind unhistorisch. Zweitens: So scharf im Modell des „Organisierten Kapitalismus" die Zäsur zwischen der Phase vor und nach dem Durchbruch der „Organisation" betont wird, so unscharf bleiben die zeitlichen Konturen der weiteren Entwicklung15. Der Begriff ist bemerkenswert statisch16. Fast scheint es, als sei seit dem Zeitpunkt, an dem der Obergang zum „Organisierten Kapitalismus" zum Abschluß kam, systemgeschichtlich nicht mehr viel passiert. Dabei ist es von zweitrangiger Bedeutung, ob man für Deutschland diesen Abschluß mit dem Ende der „Großen Depression", dem Ersten Weltkrieg oder der Rezeption von Keynes gekommen sieht - wobei ich den letzten Vorschlag noch immer für den realtiv plausibelsten halte17. Die Periodisierungsprobleme erwachsen unvermeidbar aus dem Bemühen, unterschiedliche Phänomene, die im Zuge der Industrialisierung in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten auftraten, unter das Dach eines gemeinsamen Begriffs zu bringen. Ein solcher Versuch ließe sich durch den Nachweis rechtfertigen, daß die untersuchten Phänomene zusammengehörige Teile eines Ganzen sind. Für Hilferding lag der gemeinsame Nenner der Tendenzen, die er im Begriff des „Organisierten Kapitalismus" zusammenfaßte, in der Stabilisierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Damit reproduzierte er ironischerweise die Selbsteinschätzung der Kartellgründer, die sich bald als Illusion erweisen sollte. Die Kartellierung minderte die Preiselastizität und wirkte daher krisenverschärfend. Krisenmildernd dagegen wirkte die von Keynes proklamierte antizyklische Konjunkturpolitik, die Hilferding als „unmarxistisch" verdammte. Ich habe die Gegensätze zwischen Hilferding und Keynes ganz gewiß unzulässig harmonisiert, als ich vorschlug, im „deficit spending" eine Fortentwicklung der Theorie vom „Organisierten Kapitalismus" zu sehen. Die Absicht der Stabilisierung reicht noch nicht aus, um die Kartelle neben der antizyklischen Konjunkturpolitik als Faktoren aufzuführen, die eine gewisse Stabilisierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems zuwege brachten - und 1978 ist es wohl noch deutlicher als 1972, wo die Grenzen jener Stabilisierung liegen, die mit dem Namen von Keynes verknüpft ist. Der Begriff „Organisierter Kapitalismus" stiftet nicht die innere Einheit der Phänomene, die unter ihm zusammengefaßt worden sind18. Wenn die „Keynesian Revolution" eine wichtige Zäsur in der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems bildet, so gewiß auch die zunehmende Internationalisierung der Produktion nach dem Zweiten Weltkrieg und die, national in unterschiedlichem Umfang fortgeschrittene, Ahschwächung des Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital in den westlichen Industriestaaten. Anstatt sich auf einen statischen Strukturtypus zu konzentrieren, sollte sich der Historiker der Frage widmen, was jene qualitativen Veränderungen im kapitalistischen Wirtschaftssystem bewirkt 267 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

hat, die ich hier nur schlagwortartig aufgeführt habe. Diese Frage ist gewiß nicht mit den Mitteln der „reinen" Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu beantworten. Ein solcher Ansatz verlangt vielmehr, daß das politische wie das internationale System in die Analyse miteinbezogen werden. Eine vorherige Festlegung auf den Primat der Außen- und Innenpolitik würde zu perspektivischen Verengungen führen. Die westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist nur eines der konkurrierenden Systeme der Gegenwart. Der Historiker, dem es um die historische Einordnung eines dieser Systeme, des westlichen, geht, darf die anderen - und zumal dasjenige, das sich als seine Negation versteht - nicht ausblenden. Ohne normative Prämissen wird er dabei nicht auskommen. Mein Vorschlag wäre, die konkurrierenden Systeme industriell entwikkelter Gesellschaften daraufhin zu untersuchen, wie sie auf die Probleme der Partizipation und der Redistribution reagiert haben und reagieren19. Einfacher ausgedrückt heißt das, die Frage nach den individuellen und kollektiven Rechten und, damit verbunden, die Frage nach der Legitimation und Kontrolle von politischer und gesellschaftlicher Macht zu stellen. Ein solcher Maßstab wäre normativ - aber deswegen noch lange nicht ahistorisch. Drittens: Das Verhältnis, in dem die Begriffe „Organisierter Kapitalismus" und ,,Interventionsstaat" zueinander stehen, ist bis heute ungeklärt geblieben. Kann der letztere Begriff dem ersteren subsumiert werden (Kocka)? Muß deutlich zwischen den Bedeutungsinhalten differenziert werden (Wehler)20? Unbestreitbar ist einerseits, daß es zwischen dem, was mit den jeweiligen Begriffen gemeint ist, historische Zusammenhänge gibt, und daß andererseits die Begriffe nicht deckungsgleich sind. Versuche von Staat und Unternehmern, die auf dem Privateigentum beruhende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu stabilisieren, setzen die Erfahrung von krisenhaften Erschütterungen voraus. Diese Erfahrungen beginnen nicht erst 1873, und folgerichtig ist die Geschichte der Stabilisierungsversuche älter. Aber die „Große Depression" hat das Krisenerlebnis aus drei Gründen intensiviert: Erstens kam der Wiener Börsenkrach von 1873 einem gesamteuropäischen Erdbeben gleich, wie es zuvor noch keines gegeben hatte; zweitens wirkte die Länge der Abschwungperiode, auch wenn sie von kürzeren Erholungspausen unterbrochen wurde, beunruhigend; drittens hatte sich im Zuge des Industrialisierungsprozesses eine zwar zahlenmäßig kleine, aber politisch selbstbewußte Arbeiterbewegung formiert, die die bürgerliche Gesellschaft durch die Drohung mit dem „großen Kladderadatsch" erschreckte. Der Intensität der Krisenerfahrung entsprach die Intensität, mit der Unternehmer und Regierungen nach Abhilfe suchten. Insofern gibt es eine gemeinsame Ursache für die zunehmende Organisation der wirtschaftlichen Interessen, die Eindämmung des Wettbewerbs durch Kartelle, Syndikate und schließlich eine monopolähnliche Unternehmenskonzentration einerseits, für die Staatseingriffe wie Schutzzölle, Bauern- und Mittelstandsschutz und Sozialpolitik andererseits. Aber nur ein Teil der Staatseingriffe läßt sich als Versuch einer Regelung von Produktion und Absatz durch die öffentliche Hand beschreiben; ein anderer Teil, die sozialpolitische Tätigkeit des Staates, hat es mit jenen Folgen der gewaltigen Expansion abhängiger Arbeit zu tun, die nicht mehr unternehmensintern, in kommunalem Rahmen oder auf freiwillig-karitativer Basis zu bewältigen sind. Diese Folgen des Anwachsens abhängiger Arbeit sind 268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

zwar mit der kapitalistischen Produktionsweise insofern verknüpft, als die Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter kapitalistischen Vorzeichen erfolgte. Aber staatliche Sozialpolitik ist auch dort unabdingbar, wo der Staat selbst als Unternehmer auftritt. Was spricht eigentlich dafür, dem Kapitalismus begrifflich gutzuschreiben, was ihm unter dem Druck der organisierten Arbeiterklasse und mit den Machtmitteln des Staates abgerungen werden mußte? Es trägt m. E. nur zur Begriffsverwirrung bei, wenn der moderne Interventionsstaat unterschiedslos zu einer Erscheinungsform des „Organisierten Kapitalismus" erklärt wird. Mit der gewaltigen Steigerung der Staatstätigkeit seit Beginn der Industrialisierung sind zwei grundsätzliche, theoretisch und historisch noch nicht hinreichend aufgearbeitete Probleme verbunden21. Zumeinen sind im Zuge dieses Prozesses immer mehr Menschen von staatlichen Dienstleistungen abhängig geworden. Daraus erwächst ein elementares Bedürfnis nach Verwaltungskontinuität, das vorindustriellen Gesellschaften noch fremd war. Ohne einen funktionierenden Staatsapparat ist die industriell entwickelte Gesellschaft nicht funktionsfähig. Daher hat es in hochindustrialisierten Ländern auch keine demokratischen Revolutionen nach Art etwa der Französischen Revolution von 1789 geben können. Eine radikale Auswechslung der bisherigen administrativen Elite hätte etwa in Deutschland 1918/19 zu einem völligen sozialen und politischen Chaos geführt. In einem vergleichsweise unterentwickelten Land wie dem zarischen Rußland war der radikale Bruch mit dem überkommenen System möglich. Daß dort für eine liberal-demokratische Entwicklung westlicher Prägung die sozialen Voraussetzungen fehlten, ist die andere Seite derselben Medaille „relative Rückständigkeit". Die Legalitätstaktik Hitlers vor 1933 resultierte aus der instinktiven Einsicht, daß gegen den staatlichen Apparat eine Machtübernahme der Nationalsozialisten schlechterdings nicht möglich war22. Das zweite Problem, das aus der Expansion der Staatsaufgaben erwächst, betrifft das Verhältnis von wirtschaftlicher und politischer Macht. In Abwehr der leninistischen Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus haben die Befürworter des Modells des „Organisierten Kapitalismus" betont, daß der Staat nie bloß ein Instrument in den Händen der wirtschaftlich herrschenden Klasse war, sondern über einen ganz erheblichen Handlungsspielraum verfügte, den er auch gegen die Kapitalinteressen nutzen konnte. Diese vor allem von Jürgen Kocka vorgebrachte These läßt sich m. E. durchaus empirisch erhärten: Der „New Deal" des Präsidenten F. D. Roosevelt und die Politik der Nationalsozialisten sind zwei gegensätzliche, die „politische Polyvalenz" (H.-U. Wehler) des „Organisierten Kapitalismus" illustrierende Beispiele. Sie zeigen freilich auch schlagend, wie wenig die Theorie vom „Organisierten Kapitalismus" zur Analyse politischer Entwicklungen beiträgt23. Es wäre im übrigen ganz verfehlt, die Verflechtung von gesellschaftlichen Interessengruppen und staatlicher Macht im Sinne der „Stamokap-Theorie" als einen Prozeß darzustellen, in dessen Verlauf die mächtigsten Kapitalinteressen immer mehr Einfluß auf die politischen Entscheidungen gewonnen haben. Eine solche Verflechtung gibt es (und zwar nicht erst seit der „Großen Depression", obschon diese viel dazu beigetragen hat, die liberale Trennung von „Staat" und „Gesellschaft" vollends zur Fiktion zu machen). Aber es gibt, wenn man an die beiden Nachweltkriegszeiten denkt, auch 269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Perioden der partiellen Entflechtung. In die Vorstellung vom kontinuierlichen Prozeß der wirtschaftlichen Vermachtung des Staates paßt auch nicht, daß sich nach 1945 die meisten westeuropäischen Staaten, dem älteren amerikanischen Beispiel folgend, Instrumente zur Kontrolle wirtschaftlicher Machtkonzentration geschaffen haben. In der Bundesrepublik Deutschland haben dabei neben der Erfahrung des Nationalsozialismus westallierte Auflagen eine entscheidende Rolle gespielt. Wie unvollkommen das bundesdeutsche Kartellrecht und das der Europäischen Gemeinschaft auch immer noch sind: Die These, daß der innerstaatliche Wettbewerb seit der Industriellen Revolution immer mehr zurückgedrängt worden ist, läßt sich historisch nicht halten24. Noch weniger könnte eine solche These für den Außenhandel belegt werden. Auch hier hat es nach dem Zweiten Weltkrieg eine kräftige Liberalisierung gegeben. Im Zeichen der Energiekrise der 1970er Jahre hat allerdings der Protektionismus inzwischen wieder weltweiten Auftrieb erhalten. Generell kann man sagen, daß sich in Krisenzeiten wettbewerbsfeindliche Tendenzen regelmäßig verstärken. Das wichtigste gesellschaftliche Gegengewicht zur Macht der Unternehmer wird von der Stamokap-Theorie einfach hinweginterpretiert. Nur wenn man den „reformistischen" Gewerkschaften abspricht, wirkliche Interessenvertretungen der Arbeitnehmer zu sein, kann man ihren Einfluß auf politische Entscheidungen theoretisch minimisieren25. Ungewollt wird dieses Resultat aber auch dann erreicht, wenn die Gewerkschaften bloß als integraler Bestandteil des „Organisierten Kapitalismus" erscheinen. Die Veränderungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, die die organisierten Arbeitnehmer erreicht haben, fallen der Statik des Begriffs zum Opfer. Wenn jede Art von betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung der Arbeitnehmer auch noch unter diesem Begriff rubriziert wird, dann dient das am Ende nur denjenigen, die Reformen des kapitalistischen Systems als „systemstabilisierend" verwerfen. Die für Strukturreformen typische Dialektik von Stabilisierung und Transformation wird einseitig zugunsten des ersten Moments aufgelöst, wenn jeder Machtgewinn der Arbeiter als Festigung des längst schon vorhandenen Strukturtypus „Organisierter Kapitalismus" ausgegeben wird. Auf der anderen Seite gibt es gute Gründe, einer Demokratisierung der Wirtschaft (und ihr dienen Kartell- und Fusionskontrolle ebenso wie Mitbestimmung) nicht mehr mit Hilferdings oder Naphtalis Argumenten das Wort zu reden. Für die sozialdemokratischen Autoren der 20er Jahre war das Endziel dieser Demokratisierung eine Wirtschaftsordnung, in der privates Eigentum allenfalls noch eine Randrolle spielte. Die Erfahrungen mit Gesellschaften, in denen die private Verfügung über die Produktionsmittel vollständig oder nahezu vollständig abgeschafft worden ist, zwingen zu einer Revision der traditionellen sozialistischen Zielvorstellungen - und sie haben, neben den offenkundigen Erfolgen der Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in den meisten sozialdemokratischen Parteien eine solche Revision auch ausgelöst. Engels' bekanntes Diktum, wonach der Staat der ideelle Gesamtkapitalist ist, beschreibt eine notwendige Funktion des Staates in allen Gesellschaften, die sich vorwiegend auf privates Eigentum gründen. Aber ein demokratischer Staat kann diese Funktion nur ausüben, wenn er zugleich diejenige des ideellen Gesamtarbeitnehmers akzeptiert. Andernfalls geriete er in jene Legitimationskrise, die voreilige Kritiker 270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

dem „Spätkapitalismus" seit langem attestieren. Die Aufgabe des ideellen Gesamtarbeitnehmers kann der Staat aber auch nur solange erfüllen, als er nur der ideelle und nicht der empirische Gesamtkapitalist ist. Dort, wo der Staat letztere Eigenschaft hatund das ist in den Staaten des sogenannten real existierenden Sozialismus der Fall -, hat er zugleich eine Monopolstellung als Arbeitgeber. Daß ein solcher Staat sich als „Arbeiter- und Bauernmacht" ausgibt, ist die unvermeidbare ideologische Verschleierung der Tatsache, daß die herrschende Klasse der kommunistischen Staaten die selbständige Arbeiterbewegung unterdrücken mußte, um sich an der Macht zu behaupten. Von daher spricht alles dafür, daß die Differenz zwischen den empirischen Kapitalisten und einem „ideellen Gesamtkapitalisten" eine der Vorbedingungen einer freien Arbeiterbewegung ist. Ich fasse zusammen: Der Begriff „Organisierter Kapitalismus" suggeriert die irrige Vorstellung, als habe es zuvor Tendenzen zur Selbstorganisation der Wirtschaft und zur krisendämpfenden Staatsintervention nicht gegeben. Zur Periodisierung der Wirtschaftsgeschichte taugt dieser Begriff aber auch deshalb nicht, weil er den falschen Eindruck hervorruft, als sei mit der Durchsetzung des „Organisierten Kapitalismus" die Transformation des Kapitalismus zum Abschluß gekommen. Die sozialpolitischen Aktivitäten des Staates und die Errungenschaften der Arbeiterbewegung lassen sich unter dem Begriff des „Organisierten Kapitalismus" nur dann subsumieren, wenn man bereit ist, fundamentale gesellschaftliche Veränderungen zu bloßen Modifikationen eines seit langem festliegenden Strukturtypus herunterzuspielen. Aus allen diesen Gründen erscheint mir der Versuch, die Hilferdingsche Theorie des „Organisierten Kapitalismus" wiederzubeleben, als ein Irrweg. Wenn man freilich die vielen neuen Einsichten bedenkt, zu denen die Diskussion über Hilferdings Modell geführt hat, dann ist der Schluß erlaubt, daß sich dieser Irrweg als wissenschaftlich produktiv erwiesen hat.

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19. V o m S y n d i k a l i s m u s z u m F a s c h i s m u s : Robert Michels I. Der Wirkungsgeschichte nach war er ein vir unius libri: Robert Michels ist für die Nachwelt der Autor der ,,Soziologie des Parteiwesens". Das 1911 erschienene Buch, in viele Sprachen übersetzt, ist bald als klassisches Werk der Parteienforschung gefeiert worden, und es hat diesen Rang bis heute behauptet. Die Bibliographie seines Gesamtwerkes indessen umfaßt mehr Titel: siebenhundertundeins, Rezensionen nicht mitgerechnet. Vieles davon, gewiß, ist Wiederholung. Es gibt Arbeiten, die zunächst auf deutsch, dann auf italienisch veröffentlicht wurden, und umgekehrt. Michels' Schrifttumsverzeichnis enthält Aufsätze, die Vorstudien späterer Werke bildeten, und manche Abhandlungen fügten sich, scheinbar absichtslos, zu Büchern zusammen. Geht man von seinen Themen aus, so ist, mit den Worten eines von Michels' Lieblingsautoren, Giambattista Vico, zu reden, ohnehin alles stetige Wiederkehr: corsi e ricorsi. Die Gegenstände seiner Beschäftigung scheinen keiner strengen Systematik unterworfen. Sie tragen häufig den Stempel des Zufälligen: multa, non multum1. Robert Michels wurde am 9. Januar 1876 zu Köln geboren. Er starb in Rom am 3. Mai 1936. Gelegentlich bezeichnete Michels sich selbst wohl als ,,renano di nascita, di sangue francese, ma italiano di cuore"2. Er stammte aus einer reichen katholischen Kaufmannsfamilie; über die mütterliche Seite hatte er französische Ahnen. Von der Offizierslaufbahn, die er zunächst einschlug, wenig befriedigt, wandte er sich um die Jahrhundertwende der Sozialdemokratie zu. Im Jahre 1900 promovierte er mit einer Arbeit über die Vorgeschichte des Einfalls Ludwigs XIV. in Holland an der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg und heiratete die Tochter des Geschichtsphilosophen Theodor Lindner. Es folgten Auslandsaufenthalte in Frankreich, Belgien und vor allem in Italien. Michels nahm während dieser Jahre an zahlreichen sozialdemokratischen Kongressen im In- und Ausland teil. Von der deutschen Sozialdemokratie entfernte er sich dabei zusehends. Er vermißte an ihr, was er an den revolutionären Syndikalisten Italiens und Frankreichs bewunderte: politische Dynamik, demokratische Spontaneität, Willen zur Tat. Das vorsichtige Taktieren der parlamentarischen Sozialisten erschien ihm ähnlich wie Georges Sorel als Ausdruck der Degeneration. Den offenen Revisionismus würdigte er zwar einerseits als „massenpsychologisch und historisch vertieftere, gewitzigtere, die gegebenen Schwierigkeiten und Hindernisse nicht verkennende Form des Sozialismus"; andererseits aber galt ihm diese Richtung doch nur als „Skepsis der Enttäuschten, der müde Gewordenen, der Nicht-mehr-Gläubigen, der Sozialismus der NichtSozialisten mit sozialistischer Vergangenheit"3. 272 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Lange währte freilich auch die syndikalistische Phase nicht. Im Parteienbuch von 1911 wird die Praxis der Syndikalisten als ähnlich autoritär und oligarchisch bezeichnet wie die der etablierten Sozialdemokratie. Michels blieb fürs erste ein distanzierter Sympathisant des Sozialismus, der jedoch der Möglichkeit demokratischer Willensbildung zunehmende Skepsis entgegenbrachte. Sozialistische Aktivitäten, die er in den Jahren 1906 und 1907 entfaltete, machten die Habilitation in Marburg unmöglich. Besser waren die Chancen im Ausland. 1907 wurde er „Libero Docente" an der Universität von Turin, 1914 in Basel, 1928 in Perugia. Italien wurde ihm zur Wahlheimat. Das tripolitanische Abenteuer von 1911 verteidigte er mit demselben verständnisvollen Wohlwollen, das er später den interventionistischen Kräften während des Ersten Weltkrieges entgegenbrachte. Wie andere Syndikalisten und Ex-Syndikalisten fand der Voluntarist Michels rasch ein positives Verhältnis zur faschistischen Bewegung und zum Regime Benito Mussolinis. Versuchen wir anhand seines wissenschaftlichen und publizistischen Werkes, den politischen Wandlungen des Robert (oder, wie er sich in Italien nannte: Roberto) Michels nachzugehen!

II. Bereits Vorstudien zur „Soziologie des Parteiwesens" lösen Kontroversen aus. Michels' These „So du immer Organisation sagst, sagst du Tendenz zur Bildung von Oligarchien", veröffentlicht 1908 in den „Sozialistischen Monatsheften", ruft den Widerspruch Eduard Bernsteins hervor. Das geistige Haupt des Revisionismus bestreitet nicht den Tatbestand, den Michels anspricht: die Professionalisierung der Parteipolitik, die Bildung berufsmäßiger Führungsgruppen und bürokratischer Apparate auch und gerade in den Arbeiterparteien. Er wendet sich gegen die Meinung, dies stünde im Widerspruch zum Postulat der Demokratie. Bernstein sieht, nüchtern genug, ein „technisches Bedürfnis" als den „entscheidenden Faktor für das Aufkommen von berufsmäßigen Führern" an4. Damit ist das Grundthema des Michelsschen Œuvres angeschlagen. Studien zur sozialistischen Bewegung in Deutschland und Italien fördern ein Ergebnis zutage, das für den Autor offenbar eine Desillusionierung bedeutet. Die demokratische Form der Basis des parteipolitischen Lebens, so heißt es im Parteienbuch, täusche oberflächliche Beobachter leicht über den Hang zur Aristokratie oder, genauer gesagt, zur Oligarchie hinweg, dem jede Parteiorganisation unterworfen sei. Schon im Wesen der Organisation liege ein tief aristokratischer Zug. „Die Maschinerie der Organisation ruft, indem sie eine solide Struktur schafft, in der organisierten Masse schwerwiegende Veränderungen hervor. Sie kehrt das Verhältnis des Führers zur Masse in sein Gegenteil um. Die Organisation vollendet entscheidend die Zweiteilung jeder Partei bzw. Gewerkschaft in eine anführende Minorität und eine geführte Majorität . . . Im Parteileben läßt sich die Beobachtung machen, daß mit fortschreitender Entwicklung die Demokratie wieder eine rückläufige Bewegung macht. Mit zunehmender Organisation ist die Demokratie im Schwinden begriffen."5 Demokratie sei mit Schlagfertigkeit unvereinbar, postuliert Michels, die Massen 18 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

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seien unreif und benötigten Führung. Aus diesem Befund läßt sich das „eherene Gesetz der Oligarchie" ableiten. Die Kulturmenschheit könne ohne „herrschende" oder „politische" Klasse nicht existieren; die herrschende Klasse bilde, wenn sie auch in ihrer Zusammensetzung häufigem partiellem Wechsel unterworfen sei, den einzigen Faktor von dauerndem Wert in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. ,,Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden . . . Die oligarchische Struktur des Aufbaus verdeckt die demokratische Basis. Hier ein Sollen, dort ein Sein." 6 Völlig neu waren die Thesen Michels über die permanente Herrschaft von Minderheiten nicht. M. Ostrogorski etwa hatte schon 1903 in seinem Buch „La démocratie et l'organisation des partis politiques" die Diskrepanz zwischen demokratischem Ideal und faktischer Vormacht des Apparates mit breitem empirischen Material aus der englischen und amerikanischen Parteienentwicklung belegt7. Die Theorie von der „politischen Klasse" als einem von anderen gesellschaftlichen Spitzengruppen unterschiedenen und ihnen überlegenen Machtfaktor hatte der italienische Staatstheoretiker Gaetano Mosca bereits 1896 in seinen „Elementi di scienza politica" entwickelt8. Die These vom sozialen Austausch der Führungsgruppen, die Michels anhand der Bildung einer Arbeiteraristokratie und des Einrückens bürgerlicher Intellektueller in die sozialdemokratische Parteiführung illustriert hat, ist 1902 schon von dem italienischen Soziologen und Ökonomen Vilfredo Pareto in seinen „Systémes socialistes" vertreten und zur Theorie von der Zirkulation der Eliten ausgeweitet worden9. Für Michels bedeutet die Entdeckung des ,,eherenen Gesetzes der Oligarchie" noch nicht den völligen Bruch mit der materialistischen Geschichtsauffassung. Es bestehe, schreibt er in der „Soziologie des Parteiwesens", kein Widerspruch zwischen der Lehre, nach welcher die Geschichte eine ununterbrochene Reihe von Klassenkämpfen sei, und jener anderen Lehre, wonach die Klassenkämpfe in die Schaffung einer neuen Oligarchie, die sich mit der alten amalgamiert, ausmünden. „Die Lehre von der politischen Klasse ist marxistisch unanfechtbar. Denn diese ist die jedesmalige Resultante der jedesmaligen, im Schoße der Gesellschaft um Ausdruck ringenden Stärkeverhältnisse, natürlich nicht im quantitativen, sondern im qualitativen Sinne verstanden."10 Mit dem Sozialismus freilich als Massenbewegung ist diese Ansicht nicht vereinbar. „Die Sozialisten könnten demnach siegen, nicht der Sozialismus, der im Augenblick des Sieges seiner Bekenner untergeht. Man wäre versucht, es eine Tragikomödie zu nennen: die Massen begnügen sich damit, unter Aufbietung aller Kräfte ihre Herren zu wechseln. Die Arbeiter haben nur die Ehre gehabt, ,de participer au recrutement gouvernemental'. "In den 20er Jahren geht Michels noch einen Schritt weiter: Er bestreitet jetzt, daß der Sozialismus seiner Idee nach demokratisch sein müsse. Wenn Mosca Sozialismus und Demokratie gleichsetze, so tue er ersterem insofern unrecht, als es ja im Sozialismus nicht nur demokratische, sondern ausgesprochen antidemokratische und minoritäre Strömungen gebe. „Sozialismus ist nicht Sozialdemokratie, wenn auch der Parlamentarismus als System den Sozialismus massiv gestaltet und demoralisiert hat." 11 274 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Mit seiner Fundamentalkritik des demokratischen Sozialismus hat Michels eine These bestätigt, die von dem Historiker Hermann Oncken bereits 1913 in einer Rezension der „Soziologie des Parteiwesens" aufgestellt worden ist. Wer in der Demokratie kein absolutes, sondern nur ein relatives Ideal sehe, werde zugleich in der „Erkenntnis Michels' ein wichtiges Symptom dafür erblicken, daß der sozialistische Revisionismus auch zum demokratischen Revisionismus fortzuschreiten beginnt."12 Nun war Michels' Analyse elitärer Tendenzen in der Arbeiterbewegung gewiß nicht identisch mit dem, was man landläufig unter „sozialistischem Revisionismus" verstand. Aber richtig ist, daß Michels 1911 noch vom „Boden des demokratischen Prinzips die in der Praxis eintretende oligarchische Entartung" (Oncken) kritisierte. Im folgenden Jahrzehnt nun wird immer deutlicher das demokratische Prinzip selbst zur Disposition gestellt. Genau wie die Aristokratie, heißt es in einem Aufsatz von 1928, sei auch die „Demokratie als Staatsform wie als Massengesinnung nicht eine Vollendung, sondern bloß ein Akzidens". Der Volkswille sei kein Kriterium der Demokratie, denn es gebe auch eine „Herrschaft der Diktatur oder des Tribunats mit Genehmigung des Volkes (Konsensus statt Parlament: oft nur schweigender, oft aber auch sehr lauter und greifbarer, wenn auch statistisch nicht faßbarer Konsensus)". Und nur „in der Abstraktion ihrer Zielsetzung" seien Demokratie und Aristokratie einander entgegengesetzt; nur rein logisch genommen seien sie antipodisch13. Die Relativierung demokratischer Maximen führt bei Michels schließlich zur Rechtfertigung der plebiszitären Diktatur; die Desillusionierung über die Demoratie schlägt um in ihre intellektuelle Demontage. Es stellt sich indes die Frage, ob unser Autor nicht von Anfang an die Wirklichkeit an utopischen Maßstäben gemessen hat, ob er, anders gewendet, nicht seine Enttäuschung durch eine vorgängige Selbsttäuschung provoziert hat. Michels ging von einem ganz bestimmten kontinentaleuropäischen Demokratieverständnis aus, dem Axiom einer normativen Identität von Regierenden und Regierten. Nach dieser Konzeption, die sich auf die politische Philosophie Rousseaus zurückführen läßt, kann keine Vertretungsinstanz einen Eigenwert beanspruchen; Parlament und Regierung sind Vollzugsorgane eines hypothetischen Volkswillens. Tendenzen zur Verselbständigung der Repräsentanten müssen als Denaturierung der wahren Demokratie erscheinen, und für die Willensbildungsprozesse innerhalb politischer Parteien gilt mutatis mutandis dasselbe. Wäre Michels von der angelsächsischen Auffassung der repräsentativen Demokratie ausgegangen, so hätten ihn seine parteisoziologischen Befunde gewiß weniger irritiert. Nach der vor allem von Burke vertretenen Theorie der Repräsentation ist das Gemeinwohl keine vorgegebene Große, sondern nur denkbar als Resultat einer Auseinandersetzung gegensätzlicher gesellschaftlicher Kräfte. Der Ort, wo der gesellschaftlich verbindliche Ausgleich der Interessen versucht wird, ist das Parlament. Kompromisse aber setzen einen erheblichen Handlungsspielraum der Repräsentanten voraus. Was für das Parlament insgesamt gilt, trifft ebenso auf die Parteien zu: Je größer und entwickelter eine Gesellschaft ist, desto unvermeidbarer ist indirekte Herrschaft. Unmittelbare Demokratie und imperatives Mandat setzen eine politische Dauermobilisierung der Massen voraus, die in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft unmöglich ist. Beide Parolen dienen daher in Wirklichkeit auch meist dazu, die Herr275 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

chaftsansprüche aktivistischer Minderheiten zu verschleiern. Was Michels verkannte, war mithin die Dialektik der Repräsentation: Ohne eine gewisse Selbständigkeit der Repräsentanten kann eine moderne Demokratie sowenig existieren wie irgendeine demokratische Organisation14. Michels' vulgärdemokratischer Ausgangspunkt ist der geometrische Ort, wo sich rechte und linke Demokratiekritik begegnen. Weithin auswechselbar sind die Argumente, mit denen die neue Rechte der Weimarer und die neue Linke der Bonner Republik die Mediatisierung oder Manipulation des Volkes durch Parteiapparate und Interessengruppen als Verfälschung wahrer Demokratie bekämpfen. Der Fixpunkt der Kritik ist aber in jedem Fall unhistorisch: Ein interessenfreies Parlament hat niemals existiert, und wenn es je einen „Umschlag der Volksvertretung in Repräsentation der Herrschaft" (Agnoli) gab, so war es gerade der Übergang von einem „konstitutionellen" zu einem „parlamentarischen" System15. Die These von den oligarchischen Tendenzen in Großorganisationen ist bis heute empirisch nicht entkräftet, als Tatbestand vielmehr oft ausdrücklich anerkannt und durch den Hinweis auf eine interessenbedingte Außensteuerung der Parteien höchstens ergänzt worden. Eine andere Frage ist, ob die Analyse bei Michels' Befund stehen bleiben und praktische Politik sich mit ihm begnügen darf. Wie steht es, oligarchische Elemente als gegeben angenommen, mit den Chancen innerparteilicher Demokratie? Daß in einem Mehrparteiensystem eine einzelne Partei, die isoliert das imperative Mandat ihrer Grundorganisationen einführt, sich selbst politisch ausschalten würde, bedarf kaum einer Begründung. Das andere Extrem ist die Partei, die sich nach dem Führerprinzip organisiert: Sie wäre eo ipso eine Kampfansage an das politische System im ganzen. Die innere Ordnung demokratischer Parteien muß so beschaffen sein, daß sie beide Gefahren vermeidet: die Scylla „Handlungsunfähigkeit der Organisation" und die Charybdis „Entmündigung der Mitglieder". Weder können gewählte Gremien und Funktionäre auf längere Sicht ohne eine solide Vertrauensbasis bei ihren Wählern auskommen, noch dürfen sie dieses Vertrauens so sicher sein, daß sie die Pflicht periodischer Rechenschaftslegung und damit das Risiko des Vertrauensentzuges vergessen. Für parlamentarische Repräsentanten einer Partei gibt es bekanntermaßen sogar eine doppelte Abhängigkeit: die eine von den Wahlgremien der Partei und die andere von der allgemeinen Wählerschaft. Ein Konflikt zwischen beiden Abhängigkeiten ist stets möglich und prinzipiell unaufhebbar. Daß liberale Verfassungen der Verantwortung gegenüber den Wählern einen letztinstanzlichen Vorrang vor der Parteibindung zuerkennen, bedeutet einen existentiellen Schutz für die Gewissensfreiheit des einzelnen Repräsentanten16. III. In Michels' Hauptwerk und in zahlreiche Einzelschriften sind empirische Untersuchungen eingeflossen, die z. T. ihren Wert bis heute behalten haben. Zu einem anderen Teil sind die Veröffentlichungen des Polyhistors Michels mit Recht in Vergessenheit geraten: Sie haben vom Material wie von der Methode her ihre Aktualität verloren. Zur letzteren Kategorie wird man etwa die Studien über die Grenzen der Ge276 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

schlechtsmoral, Wirtschaft und Rasse, die Psychologie des Welthandels und der Wirtschaft im allgemeinen rechnen dürfen17. Aus dem Sektor „Vermischtes" haben vor allem die Arbeiten über die sozialen Umschichtungen der Nachkriegszeit, die Soziologie der Boheme und die politische Mentalität der Intellektuellen besondere Beachtung gefunden. Die Monographie über die „Umschichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege" aus dem Jahr 1934 enthält neben einer Analyse der sozialen Veränderungen in der akademischen Oberschicht auch bemerkenswerte Beobachtungen über den Wandel, dem während des Ersten Weltkrieges das Bild des Bürgertums unterworfen war: die Schlaffheit, die ihm Kritiker vor 1914 nachgesagt hatten, sei durch die Wirklichkeit widerlegt worden. Der Aufsatz „Zur Soziologie der Boheme und ihrer Zusammenhänge mit dem geistigen Proletariat" von 1932 deutet den „echten Bohème" als „Anarchisten" und das geistige Proletariat als die „Wirkung einer ungeregelten geistigen Produktion, welche über den jedesmaligen möglichen Konsum herausgewachsen ist". In den „Historisch-kritischen Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen" aus dem Jahr 1933 sucht er die Gründe für die „Tendenz nach der Extreme hin" zu bestimmen, die sich unter den Intellektuellen geltend mache. Es sind für ihn „die Funktion der Geistesarbeit, die sich auf keine Tatsache zu stützen braucht, ihre Gewandtheit in der Umwertung aller Werte und im Kampf gegen die Klasse, mit der sie alle Brücken abbrechen mußte; die Heftigkeit ungehemmter Empfindungen und Überzeugungen. Die Überläufer, die Abtrünnigen sind die von ihrem Geburtsmilieu gehaßtesten. Sie sind, wie alle Renegaten eben, Fanatiker. Aus allen diesen Gründen sind sie mehr prinzipiell gerichtet und infolgedessen von aller notwendigen Kleinarbeit instinktiv abgewandt". Man wird kaum behaupten können, daß die Wirklichkeit diesem Verdikt inzwischen den Boden gänzlich entzogen habe18. Im weiten Schaffensgebiet Michels' lassen sich neben der allgemeinen Parteiensoziologie mindestens drei weitere Interessenschwerpunkte ausmachen: Studien zur politischen Entwicklung Italiens, zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Theorie, zur historischen Rolle von Patriotismus und Nationalismus. Carlo Curcio, ein Freund und Kollege Michels' aus der Zeit in Perugia, hat über den geborenen Kölner gesagt, er müsse, „oltre tutto, come un apostolo dell' italianità" betrachtet werden19. In der Tat war Italien für Michels eine Wahlheimat, mit der er sich bewußter und schließlich unkritischer identifizierte, als ihm dies je mit seinem Geburtsland möglich gewesen wäre. Der Mythos der Latinität hat auf den rheinischen Mußpreußen mit den romanischen Ahnen eine durchaus irrational zu nennende Anziehungskraft ausgeübt20. Mit seinem Freund Max Weber überwarf er sich 1915 endgültig, weil er es in schroffem Gegensatz zu diesem billigte, daß Italien auf der Seite der Entente in den Krieg eintrat21. Michels hat, wie erwähnt, bereits dem italienischen Vorkriegsimperialismus warme Sympathie entgegengebracht. Italien, so gibt er 1912 zu bedenken, habe ein reales Bedürfnis nach Ausdehnung. Der Imperialismus dieses Landes basiere einmal auf dem stolzen Gefühl, politisch, militärisch und kulturell höherwertig zu sein, als die Welt angenommen habe. Zum anderen sei er demographisch bedingt: Es handle sich um einen Imperialismus der armen Leute. „Der italienische Imperialismus trägt eine ganz 277 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

überwiegend proletarische Note. Er ist in erster Linie ein Imperialismus zur würdigen Unterbringung des aus den unteren Volksklassen bestehenden Bevölkerungsplus." Michels verzichtet in diesem Zusammenhang, wie er in einer verschämten Fußnote anmerkt, bewußt auf das „Seziermesser ethischer und demokratischer Kritik" - einer Kritik, die jedweden Imperialismus als eine Strömung verurteilen müsse, die „den Maßstab für fremdes Recht verloren hat und über die Selbstbestimmung ihr unbequemer Völkerschaften zur Tagesordnung übergeht". Ganz im Sinne der Nationalisten um Enrico Corradini begreift Michels Italien als proletarische Nation und verteidigt seinen Expansionismus mit Argumenten, die die Rhetorik des späteren Faschismus vorwegnehmen22. Von den Positionen her, die er schon vor 1914 bezogen hatte, war es kaum noch verwunderlich, daß Michels während des Krieges seine Sympathien jener Richtung innerhalb der Linken zuwandte, die mit dem parteiotfiziellen Pazifismus resolut brach. Der Krieg erschien ihm ebenso wie den Sezessionisten um Mussolini als „die völkische Vollendung des Befreiungswerkes von 1848, 1859, 1860 und 1866 und die Wiedergewinnung der italienischen Volksgenossen in Österreich". Die Haltung der italienischen Sozialdemokratie kritisierte er vom Standpunkt derer aus, „die an das Zurechtbestehen der nationalen Verschiedenheiten und die daraus folgenden Abgrenzungsnotwendigkeiten glauben und die Lösung der sozialen Frage, wenn überhaupt (sic!), nur nach stattgehabter nationaler Gliederung der Gesellschaft für möglich halten" 23 . Die Kämpfe, die die Faschisten schließlich zur Macht im Nachkriegsitalien führten, waren, wie Michels einräumen mußte, „hart, unerbittlich, grausam, sehr weit von allem Wünschenswerten entfernt". Aber er konnte es nach allem, was er zuvor gedacht und geschrieben hatte, nicht mißbilligen, daß Italien die „demokratischen Schleier" zerriß und sich der „zwar von den Massen gutgeheißenen, aber doch außerparlamentarischen und außergesetzlichen Oligarchie und Diktatur" ergab. Dieses Regime, das das Volk amore et ira aus dem „Schiffbruch des Liberalismus" gerissen habe, schien ihm am Ende auch ein „objektiver Ausdruck bevölkerungspolitischer Bedürfnisse". Die „Carta del lavoro" von 1927, das Grundgesetz des faschistischen Korporativsystems, hob er gar auf eine Ebene mit dem Augsburger Religionsfrieden und der Erklärung der Menschenrechte. Enttäuschung über Sozialismus und Demokratie, Bewunderung für militärische und aristokratische Tugenden, Respekt vor dem „stürmischen Mut der Jugend' und charismatischer Führerschaft, ein Nationalismus schließlich, dem nicht die Züge ethnischer Überkompensation fehlen: Für Michels kam vieles, und nicht nur Rationales, zusammen, um ihn am Faschismus Gefallen finden zu lassen24. Probleme der Arbeiterbewegung waren für Michels von jeher eine zentrale Thematik gewesen, und dieses Interesse überdauerte die Wendung zum Faschismus. Studien über die soziale Zusammensetzung der italienischen und der deutschen Sozialdemokratie, über das unterschiedliche Gewicht von bürgerlichen und proletarischen Elementen in den jeweiligen Parteiorganisationen sind allein schon wegen der Fülle des verarbeiteten Materials bis heute sozialgeschichtliche Fundgruben geblieben. Das Resümee seiner einschlägigen Arbeiten ist der Beitrag über die „Psychologie der antika278 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

pitalistischen Massenbewegungen", den er 1926 im „Grundriß der Sozialökonomik" veröffentlicht hat und den man wohl als eine Art Quintessenz Michelsscher Gedanken bezeichnen darf. Der Autor geht aus von dem durch maschinelle Massenproduktion vermittelten Erlebnis kollektiver Zusammengehörigkeit, das die historische Voraussetzung proletarischen Klassenbewußtseins bildet. Die „Öde und Jämmerlichkeit der Mehrzahl der arbeiterlichen Berufsfunktionen" vermöge im modernen Industriearbeiter nicht, wie es einst beim Handwerker der Fall war, einen esprit de corps, einen Gildengeist, zu erzeugen. „Dies bewirkt, daß die emotiven Bedürfnisse vom ungeliebten oder gleichgültigen, zum Mittel gewordenen Beruf auf die weitere Sphäre seines gesellschaftlichen Seins, die Klasse übertragen werden. Das Klassenbewußtsein wird zum ideellen Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls, zwar nicht zu einem Berufs-, aber doch zu einem Erwerbszweige." Das Klassenbewußtsein sei das nach dem Zusammenbruch der Berufsliebe entstandene ,,Refugium des Bedürfnisses des Arbeiters nach Liebe und Stolz, Liebe zu den Klassengenossen, Stolz den Klassenfremden gegenüber . . . Die Menschenrechte zerschellten, selbst in ihrer politischen Fassung, an der ökonomischen Ungleichheit der Klassen". Aber: „Je demokratischer die Formen eines Landes waren, desto schwieriger war der Prozeß der politischen Selbstbewußtwerdung, desto fester waren die Arbeiter an das bürgerliche Parteiwesen gekettet, desto mehr Zeit nahm ihre Loslösung und politische Verselbständigung in Anspruch." Wo immer der Arbeiter bereits als Staatsbürger anerkannt gewesen, sei es ihm schwerer geworden zu erkennen, daß er auch auf dem Feld der Politik als Arbeiter Arbeiterpolitik treiben solle. In der politischen Erschließung des modernen Proletariats zu autonomer Politik vermöge also die Demokratie als Gradimeter zu dienen. „Je höher entwickelt die Einrichtungen der Demokratie in einem Lande sind, desto später kommt es zur Erschließung für den Sozialismus." Die Entwicklung in England und - mehr noch - in den Vereinigten Staaten von Amerika unterscheidet sich insoweit erheblich von solchen kontinentaleuropäischen Ländern, in denen demokratische Traditionen sich nicht dauerhaft herausgebildet hatten. Eines dieser Länder war Michels' geliebtes Italien. Bei der Beantwortung der Frage, weshalb hier der Faschismus über den Sozialismus obsiegen konnte, haben aber für Michels bezeichnenderweise subjektive Faktoren weit mehr Gewicht als objektive Bedingungen. Der Sieg des Faschismus über den Sozialismus im Italien des Jahres 1922 sei dem „stürmischen Mut der Jugend" zu verdanken, welcher es den Faschisten leicht gemacht habe, die „in ihrem innersten Kern unkriegerischen sozialistischen Arbeitermassen . . . mühelos über den Haufen zu werfen". Der „Sieg des Faschismus über den (italienischen) Bolschewismus" sei ein „Sieg jugendfrischen Ungestüms über Unentschlossenheit, sittliche Bedenken und ertötendes Abwarten"25. Die kritische Dimension in Michels' Denken trat während der Zwanzigerjahre immer mehr zurück. Das zeigen nicht nur die zitierten Bemerkungen über den Faschismus; auch ein Vergleich von Studien über den Patriotismus aus Vor- und Nachkriegszeit macht es deutlich. 1913 hatte Michels den „bürgerlichen Zweckpatriotismus" noch einer scharfsinnigen Kritik unterzogen. Wenn der Unternehmer sich selbst für einen Patrioten erkläre, so wisse man doch, daß er das nur deshalb tun könne, weil Va279 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

terlandsliebe und Profitinteresse bei ihm zusammenfielen. „Der Patriotismus ist ihm - ob bewußt oder unbewußt, kommt hier nicht in Betracht - nur die euphemistische Ausdrucksform für Dividende." Im Hinblick auf die Arbeiterschaft erkennt Michels ebenfalls klar die bewußtseinsprägenden Auswirkungen einer realen Veränderung: „Das Proletariat unterliegt durchweg einem Zug zu nationaler Abschließung, zum Protektionismus, die sich bisweilen zur Xenophobie steigern." In dem 1929 erschienenen Buch „Der Patriotismus" aber ist vom sozialen Funktionswandel der nationalen Parole kaum noch die Rede. Die soziologische Analyse wird zurückgedrängt von einer ins Anekdotische abgleitenden Phänomenologie der nationalen Mythen, einer Kollektion folkloristischer Kuriositäten, einer genüßlichen Ausbreitung von Lesefrüchten. Michels, so scheint es, hat mit seinen kritischen Impulsen zunehmend auch seine analytischen Fähigkeiten verkümmern lassen26. Vor dem Krieg bereits hat Michels explizit deutlich gemacht, wo für ihn die Grenzen der materialistischen Geschichtsbetrachtung lagen. „Ιn Wirklichkeit", so heißt es in einer 1914 erschienenen Schrift, „übt keiner der Faktoren, welche das geschichtliche Werden bestimmen, alleinige Wirkung aus. Die endgültige Gestaltung der Dinge resultiert aus dem Walten vieler und ihrem Wesen nach verschiedener Kräfte. Die schwierige Aufgabe des Geschichtsphilosophen liegt darin, den historischen Einzelfall, den er zu untersuchen unternimmt, ätiologisch zu prüfen, d. h. eine Entstehungsursache in ihre Koeffizienten zu zerlegen, deren Vielheit festzustellen und Zusammenhänge zu analysieren." Letzten Endes müsse die Analyse aller geschichtlichen Ereignisse auf einer „Feststellung der verschiedenen Quantitäten als bekannt vorauszusetzender Qualitäten (Wirtschaft, Rasse, Pläne, Tradition usw.)" beruhen. Noch 1926 hat er diese These fast wörtlich wiederholt. 1931 aber bekannte er sich zu einer Auffassung, die eine Abkehr von diesem pluralistisch-heuristischen Ansatz in sich schloß: „Die psychologischen Substrate der Völker determinieren mit ihren Gewohnheitsbeständen ständig den wirtschaftlichen überbau." 27 Mit dem Bekenntnis zum Primat einer ethnisch verengten Psychologie hat Michels seine Abwendung von einer rationalen Gesellschaftskritik vollendet. Er folgte damit im wesentlichen jener Lehre Paretos, die in Gefühlen, Instinkten und Begierden: den „Residuen", die bewegenden Kräfte der Geschichte sieht, während ihr die Rechtfertigungen der jeweiligen Handlungsweise nur als „pseudologische Derivationen" gelten. Politisch hatte sich Michels dem 1923 verstorbenen Pareto ohnehin schon seit langem verbunden gefühlt: Der Irrationalisierung der Geschichte entsprach auch bei diesem Autor die Hinwendung zum Faschismus. In seiner 1923 erschienenen Schrift „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" hat der brillanteste Staatstheoretiker der deutschen Rechten, Carl Schmitt, Michels' Parteiensoziologie nachgerühmt, sie habe zahlreiche parlamentarische und demokratische Illusionen zerstört. Vier Jahre später hat Rudolf Hilferding das Schlagwort von den „demokratischen Illusionen" mit einer Bemerkung quittiert, die auch eine Antwort auf Michels hätte sein können: „Wenn Illusionen zu zerstören sind, so sind es heute nicht mehr dieselben, die Marx 1848 zerstört hat . . . Wir müssen die Illusionen zerstören, die heute gefährlich sind, und heute sind es diese antidemokratischen Illusionen."28 280 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

20. Wieviel Wirklichkeit gehört zur Geschichte? Standortbestimmung einer Wissenschaft Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könne die Geschichtswissenschaft mit Karl Kraus von sich sagen: Meine Sorgen möchte ich haben! Sie ist von inneren Konflikten augenscheinlich weniger zerrissen als ihre sozialwissenschaftlichen Nachbarfächer, die Soziologie und die Politikwissenschaft. Daß der Historiker sich vor den historischen Quellen zu legitimieren hat, darin sind sich die Vertreter der Geschichtswissenschaft einig, und ebendieser Konsens setzt jedem Methodenstreit Grenzen. Die Richtungskämpfe im Fach Geschichte sind konkreter als die der Politologen und Soziologen. Das Verhältnis des Historikers zur Geschichte ist zwar mittelbar immer auch ein Verhältnis zu seiner Gegenwart, aber weil die Geschichte nur mittelbar eine Wissenschaft von der Gegenwart ist, ist der Urteilsspielraum des Historikers stärker eingegrenzt als der des Politologen oder Soziologen. Jenseits dieser Differenz zu den sozialwissenschaftlichen Nachbarfächern ist das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft freilich durchaus kontrovers. Die Diskussion, von der hier zu berichten ist, dreht sich im Grunde um drei Fragen: Wieviel Wirklichkeit gehört zur Geschichte? Wieviel Theorie braucht der Historiker? Was verbindet die Geschichte mit den systematischen Sozialwissenschaften und was trennt sie von diesen?

I. Die Geschichtswissenschaft verstehe sich seit langem, so hat der Verband der Historiker Deutschlands im Jahr 1973 offiziell erklärt, als „Wissenschaft von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in allen ihren Dimensionen". Dieser Versuch, den Gegenstand des Faches zu umreißen, schließt eine Aussage in sich, die innerhalb des Faches noch keineswegs „in allen ihren Dimensionen" akzeptiert wird: die Selbstdeutung der Geschichte als historischer Sozialwissenschaft. Was gegen diese Ortsbestimmung, wie sie namentlich einige jüngere Historiker im Umkreis der neuen Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft" vertreten, eingewandt wird, läuft meist, ausgesprochen oder unausgesprochen, auf Marxismusverdacht hinaus. Wer die Geschichte als Geschichte der Gesellschaft begreife, so argumentieren die Anhänger der Gegenposition, der erkenne Staat und Staatensystem die autonome Bedeutung ebenso ab wie der Welt der Ideen, der führe die Wirklichkeit, um mit dem späten Engels zu sprechen, „in letzter Instanz" auf die Ökonomie zurück und verzerre eben damit die historische Realität. Ist diese Kritik berechtigt? Die sozialwissenschaftliche Richtung unter den westdeutschen Historikern ist in den letzten zehn Jahren fraglos einflußreicher geworden. Eine Reihe von Gründen hat 281 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

hierzu beigetragen. An erster Stelle zu nennen ist die offenkundige Unmöglichkeit, die dringlichste Herausforderung an die deutschen Historiker der Nachkriegszeit, nämlich die Frage nach den tieferen Ursachen der nationalsozialistischen Herrschaft, mit traditionellen Mitteln zu bewältigen. Die auf Ranke zurückgehende Lehre vom Primat der Außenpolitik und Meineckes Sublimierung der Geschichte zur Ideengeschichte - zwei Interpretationsweisen, die in der Zwischenkriegszeit eindeutig noch zur herrschenden Geschichtsauffassung gehörten - konnten nicht weiterhelfen. Für Wirtschaftskrisen, soziale Konflikte und politische Massenbewegungen hatte es im historischen Ausbildungsprogramm bisher kaum Raum gegeben. Die Notwendigkeit, bisher vernachlässigte Bereiche der Wirklichkeit in die Analyse der Geschichte einzubeziehen, verwies die Historiker auf die Hilfe der Wissenschaften, die sich mit Wirtschaft und Gesellschaft befaßten. Die angelsächsische und die französische Geschichtswissenschaft, den Niederungen des Alltags ohnehin stärker zugewandt als die deutsche, hatten sich schon früh den Anregungen der systematischen Sozialwissenschaften geöffnet; ihr Beispiel begann in der Nachkriegszeit in Deutschland Schule zu machen. Werner Conze führte den von der französischen ,,Annales"-Schule entwikkelten Begriff der ,,Strukturgeschichte" in die deutsche Diskussion ein; Theodor Schieder wandte Max Webers idealtypische Methode, bisher fast nur von der vergleichenden Verfassungsgeschichte benutzt, für seine Studien zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert an; Karl-Dietrich Bracher analysierte die Auflösung der Weimarer Republik mit Hilfe eines politologischen Modells des Machtverfalls. Die Rolle eines geistigen Brückenschlägers zwischen der fortgeschrittenen amerikanischen und der deutschen Sozialgeschichtsforschung übernahm mit nachhaltiger Wirkung Hans Rosenberg in Berkeley. Ein zweiter Grund für die Annäherung zwischen der Geschichte und den systematischen Sozialwissenschaften ist durch eine Vereinbarung der westdeutschen Kultusminister gelegt worden. Die Zusammenfassung der Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde und Geographie in der gymnasialen Oberstufe, wie strittig die Form der Kooperation bis heute auch ist, hat sich auf die Studieninhalte der künftigen Geschichts- und Sozialkundelehrer und damit auf den akademischen Unterricht ausgewirkt. Der dritte Grund ist der Einfluß der Studentenrevolte. Die Marx-Renaissance der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre hat die Geschichtswissenschaft nicht unberührt gelassen. Anders aber als in Soziologie und Politologie gibt es in der westdeutschen Geschichtswissenschaft keinen dogmatisch-marxistischen Flügel. Die Ursachen dieser Differenz liegen in eben jener Legitimation vor den Quellen, die dem Historiker den Rückzug auf Geschichtserklärungen mit totalem Geltungsanspruch erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Soweit es eine Marx-Rezeption bei den Historikern gibt, geht sie daher meist mit Kritik an marxistischen Interpretationen einher. Andererseits wird die theoretische Auseinandersetzung mit Marx und den Marxisten vor allem von solchen Historikern getragen, die sich als Sozialwissenschaftler verstehen. Die traditionelle Geschichtsauffassung hat nur jene Elemente der historischen Wirklichkeit zur Kenntnis genommen, mit denen sie sich wahlverwandt fühlte. Die 282 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Geschichte als Kampf gegensätzlicher Ideen, als Ausfluß des Wirkens großer Persönlichkeiten, als Ringen zwischen den großen Mächten - das war dem deutschen Bildungsbürgertum viel unmittelbarer eingängig als eine Perspektive, in der gesellschaftliche Klassen und Interessengruppen, soziale Mobilität und kollektive Verhaltensmuster, Strukturen und Prozesse die historische Wirklichkeit bestimmen. Die historische Sozialwissenschaft wirft der überkommenen Historie vor, sie habe Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet und unter dem Etikett „Wirtschafts- und Sozialgeschichte" der Nationalökonomie als historischen Appendix überlassen. Blickt man auf die gebräuchlichen Handbücher der deutschen und europäischen Geschichte, so sind die wenigsten geeignet, diese Kritik zu entkräften. Probleme der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung werden regelmäßig in Sonderabschnitten behandelt und nur selten in die allgemeine Geschichte integriert. Das Wirklichkeitsdefizit der traditionellen Historie ist in der Tat unübersehbar, und es fragt sich, ob der vielbcklagte Mangel an öffentlichem Geschichtsbewußtsein hierin nicht eine seiner Ursachen hat. Der Gegenschlag kam nicht von ungefähr. Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht", eine methodisch übrigens noch ganz konventionelle Generalabrechnung mit der deutschen ,,Kriegsunschuldlüge" von 1914, gab den Anstoß zur systematischen Erforschung der innenpolitischen Hintergründe der wilhelminischen wie auch der Bismarckschen Außenpolitik. Aufsätze des 1933 verstorbenen Historikers Eckart Kehr, der schon in den Zwanzigerjahren die gesellschaftlichen Ursachen des deutschen Imperialismus aufzudecken versuchte, wurden unter dem bezeichnenden Titel „Der Primat der Innenpolitik" wiederaufgelegt. Bei einem Teil der jüngeren Historiker verlagerte sich das Interesse von den Haupt- und Staatsaktionen auf die Geschichte der sozialen Verbände; Vorstandsprotokolle und Veröffentlichungen wirtschaftlicher Interessengruppen wurden als spezifisch historische Quellen neu entdeckt; die Statistik avancierte zur geschichtlichen Hilfswissenschaft. Angesichts des immensen Nachholbedarfs der deutschen Sozialgeschichtsschreibung waren gewisse Einseitigkeiten zunächst wohl unvermeidbar. Die Außenpolitik wurde, sofern sie überhaupt ins Blickfeld trat, oft nur noch als Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln gesehen. Daß der einzelne Staat immer auch auf Impulse des internationalen Systems reagiert, daß innere und äußere Faktoren die Politik bestimmen: das geriet bei einigen Neuerern in Vergessenheit. Das Interesse an sozialen Konflikten ließ manche jüngere Historiker das Eigengewicht politischer Institutionen unterschätzen, und die Freude an der Aufdeckung der Interessengebundenheit von Ideologien trübte gelegentlich den Blick für deren historische Wirksamkeit - obwohl doch gerade die jüngste deutsche Vergangenheit drastische Beispiele dafür bietet, daß Ideologie nicht nur zur Manipulation der Massen diente, sondern auch die Verblendung der Führer bewirkte. Auch in der modernen Sozialgeschichtsschreibung werden also mitunter Teile der Wirklichkeit ausgeblendet oder nicht hinreichend ausgeleuchtet - und darin liegen vor allem dann Gefahren, wenn sich die Sozialgeschichte anschickt, ihre eigene Partialität aufzuheben, wenn sie nicht nur „Sektorwissenschaft", sondern gesamthistorische Perspektive sein will. Der Anspruch ist berechtigt. Vom „Primat der Außenpolitik" 283 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

her läßt sich keine Universalgeschichte mehr schreiben. Universalgeschichte kann nur als Geschichte der menschlichen Gesellschaften und damit eben als „Gesellschaftsgeschichte" begriffen werden. Zur Wirklichkeit dieser Geschichte gehören Familienstrukturen und internationale Konflikte, agrarische Eigentumsverhältnisse und Preisveränderungen auf dem Weltmarkt, religiöse Überlieferungen und technische Innovationen, Ausbildungssysteme und supranationale Integrationsbestrebungen. Aber der Sozialhistoriker würde einer Totalitätsillusion verfallen, ließe er die Bedeutung der Tatsache außer Betracht, daß Gesellschaftsgeschichte nur als Pluralgeschichte, als die Geschichte verschiedenartiger Gesellschaften gedacht werden kann - daß Geschichte geprägt ist von dem, was Wilhelm Pinder und danach Ernst Bloch die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen genannt haben. Aus ebendiesem Gegen- und Nebeneinander von Gesellschaften erklären sich zu einem guten Teil die Konflikte innerhalb der „Staatengesellschaft" (wie ein plastischer älterer Ausdruck lautet) und damit die Eigengesetzlichkeit der internationalen Politik. Aber auch auf innerstaatliche Machtverhältnisse und Institutionen wirken äußere Faktoren ein: Ein historischer Vergleich der inneren Entwicklung Englands und Preußen-Deutschlands zum Beispiel wäre gar nicht möglich, ohne daß die unterschiedliche geographische und machtpolitische Lage beider gewürdigt wird. Politische Ideologien schließlich enthalten stets ein reaktives Moment: Sie setzen die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Gesellschaften geradezu voraus. Das gilt vom Nationalismus im Verhältnis zu anderen Nationalismen, vom Kommunismus im Verhältnis zum Kapitalismus wie von den faschistischen Bewegungen mit ihrer „Allfeindschaft" gegen die Außenwelt. Wer Geschichte als Gesellschaftsgeschichte versteht, der setzt tiefer an und greift weiter aus als der politische Historiker herkömmlicher Prägung. Wenn die Gesellschaftsgeschichte aber wirklich Universalgeschichte sein will, dann darf sie „Totalität" nicht nur proklamieren, sondern muß diese in ihrer Komplexität und ihren Widersprüchen sehen. Der Gesellschaftshistoriker muß dem Eigengewicht des internationalen Systems, der politischen Institutionen, von Ideologien und religiösen Bewegungen Rechnung tragen; er muß die Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Potenzen untersuchen, ohne daß er sich ein für allemal für den letztinstanzlichen Vorrang einer derselben, etwa der Wirtschaft, entscheiden könnte. Nur dann wird er jener Blickverengung entgehen, die der traditionellen wie der marxistischen Historiographie eigen ist. Im übrigen kann auch der Gesellschaftshistoriker die wissenschaftliche Arbeitsteilung nicht aufheben. Es wird auch in Zukunft Historiker geben, die sich auf das Feld der internationalen Beziehungen konzentrieren, und solche, die sich vorrangig mit sozialen Bewegungen befassen. Der Blick auf das Ganze, den die Gesellschaftsgeschichte fordert, wird meist nur das Bewußtsein dafür schärfen können, wie begrenzt das eigene Untersuchungsfeld ist und wieviel Wirklichkeit darüber hinaus noch zur Geschichte gehört. Aber auch in dieser Selbstbescheidung liegt bereits ein Stück historischer Erkenntnis.

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II. Je umfassender das Aufgabenfeld des Historikers wird, desto weniger kann er sich allein von seinem Einfühlungsvermögen leiten lassen. Er muß seine Fragen und Ergebnisse in immer größere Zusammenhänge einordnen - in Zusammenhänge, die er nicht mehr aus den Quellen kennt. Der Historiker ist mithin auf die Hilfe aller derer angewiesen, die zu seinem Thema Relevantes beitragen können. Das schließt immer auch Hilfsdienste von Nachbarwissenschaften ein. Ein Historiker etwa, der sich mit Problemen des Nationalismus beschäftigt, kann nicht ignorieren, was Soziologen über soziale Vorbedingungen nationaler Bewegungen ermittelt haben, wie sich die individuelle Entlastungsfunktion nationaler Ideologien dem Psychologen darstellt, welche Zusammenhänge die Wirtschaftswissenschaften zwischen den Stufen des ökonomischen Wachstums und den Entwicklungsphasen des Nationalismus sehen, welche Thesen Politologen über die Wechselwirkungen zwischen nationaler Aggressivität und politischer Partizipation vertreten. Das Beispiel läßt sich verallgemeinern. Der Forschungsstand ist für den Gesellschaftshistoriker interdisziplinär; komplexe Themen haben stets eine systematische Dimension; der historische Stellenwert eines solchen Themas läßt sich nur bestimmen, wenn das vorhandene Theorieangebot ausgeschöpft wird. Nach der Auffassung des Bielefelder Historikers Jürgen Kocka hat eine geschichtswissenschaftlich fruchtbare Theorie eine fünffache Aufgabe zu erfüllen. Erstens soll sie überzeugende Kriterien zur Auswahl des Untersuchenswerten, zur Abgrenzung des Gegenstandes und zur Begründung des Erkenntnisziels anbieten. Zweitens soll sie überprüfbare Hypothesen für die Verknüpfung der untersuchten Wirklichkeitsbereiche bereitstellen. Drittens soll sie eine angemessene Periodisierung und viertens systematische Vergleiche ermöglichen. Fünftens und letztens soll sie offen bleiben für die Ergänzung durch speziellere Theorien. Das ist ein plausibler Katalog der formalen Theoriebedürfnisse des Historikers. Aber es ist zweifelhaft, ob es je eine Theorie geben wird, die alle diese Dienste zugleich leisten kann. Der Historische Materialismus etwa, und würde er noch so undogmatisch angewandt, entgeht den Ausblendungsgefahren nicht, von denen die Rede war. Der Historiker kann mit einem konflikttheoretischen Ansatz allein nicht auskommen; er ist darüber hinaus auf Theorien angewiesen, die die Funktionsfähigkeit politischer Systeme, die gesellschaftliche Potenz von Religionen und Ideologien und das Wechselspiel von Gleichgewicht und Hegemonie im internationalen System aufzuhellen versuchen. Der Historiker kann auf Marx nicht verzichten; aber er bedarf- beispielsweise - auch der theoretischen Erkenntnisse von Tocqueville, Max Weber und Ludwig Dehio. Wo es schließlich um die Maßstäbe geht, die er an ganze Gesellschaften legt, benötigt der Historiker die Einsichten von Philosophie und Anthropologie, um sein Vorverständnis von der Natur und Entwicklung menschlicher Bedürfnisse zu klären. Solange es die eine Theorie nicht gibt, die den Erwartungen der Geschichtswissenschaft entspricht, muß der Historiker unterschiedliche Theorien kombinieren und gegebenenfalls kritisieren. Von ihm zu fordern, er müsse in jedem Fall seinen Unter285 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

suchungen ein Modell oder eine explizite Theorie zugrundelegen, könnte dagegen die Gefahr eines theoretischen l'art pour l'art heraufbeschwören. Die Theoriediskussion ist für die Geschichtswissenschaft stets nur ein Mittel zum Zweck. Sie ist notwendig und gerechtfertigt in dem Maß, wie sie dem Zweck dient: der Einordnung individueller Entwicklungen in größere historische Zusammenhänge und letztlich in den erkennbaren Prozeß der Geschichte überhaupt. Die Arbeit an diesem Zweck ist der Beitrag des Historikers zur Theoriebildung.

III. Dem Ruf der historischen Sozialwissenschaft nach theoriebewußter Geschichtsschreibung ist bisher nicht prinzipiell widersprochen worden. Wohl aber sind einige der Wertungen, denen ihre Vertreter historische Vorgänge unterzogen haben, auf heftige Opposition gestoßen. Ein lehrreiches Beispiel ist der Disput, den Hans-Ulrich Wehlers Buch über „Das Deutsche Kaiserreich 1871 —1918"(Kleine VandenhoeckReihe, Göttingen 1973) ausgelöst hat. Es verlohnt, auf den Streit kurz einzugehen, weil er zu der grundsätzlichen Frage führt, was die Geschichte mit den systematischen Sozialwissenschaften verbindet und was sie von diesen trennt. Wehler sieht die Geschichte des Bismarckreiches im wesentlichen als Vorgeschichte des „Dritten Reiches". Er widmet sich vor allem jenen strukturellen Merkmalen, die er als Hypotheken der deutschen Demokratie begreift. Auf dem Hintergrund der großen westlichen Demokratien erscheint der Weg des kaiserlichen Obrigkeitsstaates als Fehlentwicklung. An ebendiesem Ansatz nimmt die Kritik Thomas Nipperdeys (in „Geschichte und Gesellschaft") und Hans-Günter Zmarzliks (in der „Historischen Zeitschrift") Anstoß. Beide Rezensenten werfen Wehler, was Problemauswahl und Werturteile angeht, ein illegitimes Verfahren vor. Es heiße die Geschichte des Kaiserreiches unzulässig verkürzen, ja verzerren, wenn man es bloß als Vorgeschichte eines ganz andersartigen Regimes einstufe. Die Darstellung suggeriere eine hochgradig determinierte Entwicklung, was auch dadurch bewirkt werde, daß Wehler gegenläufige Tendenzen ignoriere und die Chancen für eine Liberalisierung und Demokratisierung der Hohenzollernmonarchie nicht ernsthaft auslote. Aus dem Kaiserreich, so das übereinstimmende Fazit der Kritiker, hat der Weg nicht notwendig in die „deutsche Katastrophe" geführt. Im Staat Bismarcks sei vielmehr gerade auch der Grund gelegt worden für einige Elemente des Sozialstaates, die das Etikett relativer Fortschrittlichkeit verdienten und zur Vorgeschichte unserer sozialliberalen Gegenwart gehörten. Die Kritik an Wehler überzeugt dort am ehesten, wo sie auf das „Ungleichzeitige" in der Politik des Kaiserreiches aufmerksam macht und auf die Notwendigkeit verweist, den Möglichkeiten einer alternativen Entwicklung systematisch nachzuspüren. Aber daß der kritische Ansatz illegitim sei, ist bisher nicht schlüssig dargetan worden. Es ist gar nicht notwendig, die Geschichte der Jahre von 1871 bis 1918 nur unter dem Gesichtspunkt des Jahres 1933 zu sehen, um fundamentaler Unterschiede zwischen der deutschen und der westeuropäischen und amerikanischen Entwicklung gewahr zu 286 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

werden. In der ideologischen Begleitmusik zum Ersten Weltkrieg, dem Kampf zwischen den „Ideen von 1914" und denen von 1789, haben repräsentative Wortführer des deutschen Bildungsbürgertums die historische Differenz verklärt: Der deutsche Militärstaat erschien als Schutzwall innerer Freiheit, die westlichen Demokratien als Heimstätten des platten Materialismus. Kritischer hat sich während des Krieges und danach Ernst Troeltsch mit dem Gegensatz zwischen „deutschem Geist und Westeuropa" befaßt. Im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik gab es ein sehr viel breiteres soziales Fundament für Antiliberalismus und Demokratiefeindlichkeit als in irgendeiner der alten westlichen Demokratien. An der Stärke dieses Potentials scheiterten die politischen Reformbewegungen vor 1914 und schließlich die Weimarer Republik. Erst der totale Zusammenbruch des Nationalsozialismus hat - in einem Teil Deutschlands - die strukturellen Voraussetzungen für eine stabile demokratische Entwicklung geschaffen. Wer erklären will, weshalb Deutschland der einzige hochentwickelte Industriestaat war, in dem die Weltwirtschaftskrise die Zerstörung der Demokratie auslöste, kommt an den politischen und gesellschaftlichen Vorbelastungen aus der Zeit vor 1918 nicht vorbei. Es sind die vielen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und den westlichen Demokratien, die den historischen Vergleich und damit die Analyse auch der unterschiedlichen politischen Entwicklung herausfordern. Nichts an diesem Verfahren ist illegitim. Der säkulare Prozeß der Demokratisierung kann unter bestimmten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen sehr wohl als normativer Vorgang betrachtet werden. Daß im kaiserlichen Deutschland nur die wirtschaftlichen, nicht aber die politischen Strukturen modernisiert wurden, ist, aus westlicher Perspektive gesehen, eine Abweichung von der Norm. In dieser Feststellung liegt, um Nipperdeys Einwand aufzugreifen, keine Ungerechtigkeit gegenüber der Generation der Großväter. Ungerecht wäre es dagegen, würde der Historiker sich damit begnügen, bestimmte Prozesse mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Analyse als „gesollte Geschichte" zu ermitteln, und allein darauf Schuldsprüche gegenüber denen aufzubauen, die nicht taten, was sie sollten. Ungerecht wäre es, über der Frage nach objektiven Wirkungen von Entscheidungen die Frage zu vernachlässigen, welche Alternativen es für die Handelnden in der konkreten Situation gab. Ein solches Verfahren wäre in der Tat ein Rückfall hinter eine bleibende Errungenschaft des Historismus: die Einsicht, daß alle historischen Vorgänge aus ihren eigenen inneren und äußeren Voraussetzungen erklärt werden müssen. Daraus folgt, daß der Historiker Werturteile über Akteure der Vergangenheit erst abgeben kann, wenn er ihre Motive und ihren Handlungsspielraum rekonstruiert und mit dem in Beziehung gesetzt hat, was sich ihm in einer bestimmten Situation als „historisches Bedürfnis" darstellt. Die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts bietet ein Beispiel dafür, daß ein solches historisches Bedürfnis, die Schaffung eines freiheitlichen Staates im Sinne des bürgerlichen Liberalismus, unerfüllt blieb. Gleichzeitig gibt es keine Situation, von der der Historiker im nachhinein zu sagen vermöchte, sie sei so offen gewesen, daß ebendieses Ziel habe erreicht werden können und nur durch schuldhaftes Versäumnis verfehlt worden sei. Nipperdey hat das soeben für die Revolution von 1848/49 schlüs287 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

sig dargelegt. Es ist schwer, für das Auseinanderklaffen von historischen Bedürfnissen und tatsächlicher Geschichte in solchen Fällen den strapazierten Begriff des „Tragischen" zu vermeiden. Der Historiker wird immer wieder mit derartigen Widersprüchen konfrontiert; sie zu begreifen, ist eine spezifische Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Die historischen und die systematischen Sozialwissenschaften haben ein gemeinsames Interesse an der Dynamik der historischen Bedürfnisse wie an der Analyse idealtypischer Prozesse und Strukturen. Das quellenkritische Studium der konkreten geschichtlichen Situation dagegen ist die Sache des Historikers allein. Nur mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft kann man zu klären versuchen, wie offen eine vergangene Situation wirklich war. Diese Aufgabe schließt einerseits Rankes Postulat mit ein, der Historiker solle fragen, „wie es eigentlich gewesen ist". Andererseits weist sie über Rankes Forderung hinaus: Der Historiker muß fragen, warum es eigentlich so gekommen ist. Kann die Geschichte als historische Sozialwissenschaft aber überhaupt öffentlich wirksam werden? Ist zunehmendes Theoriebewußtsein nicht notwendig verbunden mit der Gefahr, daß die Ergebnisse der neuen Historie nur noch eingeweihten Zirkeln zugänglich sind? Wenn die Theoriediskussion zum Selbstzweck würde, wäre der Verlust der öffentlichen Resonanz sicher. Aber theoriebewußte historische Analysen müssen nicht unlesbar sein. Die klassischen verfassungsgeschichtlichen Arbeiten Otto Hintzes sind ein Beispiel dafür, daß die theoretische und die darstellerische Durchdringung des Stoffes sich nicht nur nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen. Der Rückzug in die bloße Erzählung von Ereignissen freilich wäre für die Geschichtswissenschaft auch dann ausgeschlossen, wenn sie damit mehr Popularität gewönne. Die Geschichtswissenschaft hat nicht den Daseinszweck, für beschauliche Unterhaltung zu sorgen. Ebensowenig ist es ihr zuzumuten, passende Versatzstücke für die vorgestanzten Deutungsraster ministerieller Rahmenrichtlinien zu liefern. Geschichtsbewußtsein ist nur dann von Wert, wenn es auch praktisch werden kann. Das aber kann nicht heißen politische Nutzanwendung von Fall zu Fall oder auf Bestellung, sondern nur Ortsbestimmung der Gegenwart durch kritische Aufarbeitung der Vergangenheit. Eben darin liegt die gesellschaftliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft.

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Anmerkungen Vorwort 1 Artikel „Bürgertum", in: SDG, Bd. 1, Freibure 1966, Sp. 934-53. 2 Mittelstandsbewegung oder Volkspartei? Zur sozialen Basis der NSDAP, in: W. Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976, S. 97-118; From Social Protectionism to National Socialism: The German Small-Business Movement in Comparative Perspective, in: JMH, Bd. 48, 1976, S. 1-18 (dt. in: H.-G. Haupt [Hg.], „Bourgeois und Volk zugleich"? Zur Geschichte des Kleinbürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1978, S. 143-61); German Society, Hitler and the Illusion of Restoration 1930-1933, in: JCH, Bd. 11, 1976, S. 1-16.

1. Liberalismus: Zur historischen Bedeutung eines politischen Begriffs Der Beitrag erschien zuerst in leicht veränderter Form in Meyers Enzyklopädischem Lexikon, Bd. 15, München 1975, S. 45-53. Der Originalartikel enthält auch ausgewählte Literaturangaben zum Thema „Liberalismus". Eine ausführliche Bibliographie zur Geschichte des Liberalismus befindet sich in: L. Gall (Hg.), Liberalismus, Köln 1976, S. 319-45. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Bibliographischen Instituts Mannheim.

2. Zum Dilemma des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert Bisher unveröffentlichter Kommentar im Rahmen der Sektion „Liberalismus u. bürgerliche Gesellschaft in Deutschland bis zur Krise der 1870er Jahre" auf der 30. Versammlung deutscher Historiker in Braunschweig am 4. Oktober 1974. Der Beitrag enthält einige Thesen, die in den folgenden beiden Aufsätzen ausführlicher dargelegt wurden. Die nachträglich eingefügten Anmerkungen sind auf ein Mindestmaß beschränkt. Die beiden Sektionspapiere, auf die im Text Bezug genommen wird, sind inzwischen gedruckt erschienen: L. Gall, Liberalismus u. bürgerliche Gesellschaft. Zu Charakter u. Entwicklung der bürgerlichen Bewegung in Deutschland, in: HZ, Bd. 220, 1975, S. 324-56 (auch in: ders. [Hg.], Liberalismus, Köln 1976, S. 162-86); K.-G. Faber, Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Der Staat, Bd. 14, 1975, S. 201-27. 1 Vgl. zum Problem der gesellschaftlichen Bedingungen von erfolgreichen demokratischen Revolutionen R. Löwenthals Einleitung zu G. Eliasberg, Der Ruhrkrieg von 1920, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 9-21, sowie auch schon E. Bernstein, Die deutsche Revolution. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik, Berlin 1921, S. 172 f. 2 Dazu jetzt vor allem die - 1935 geschriebene und vierzig Jahre später veröffentlichte-Dissertation von Η. Η. Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus, Göttingen 1976, sowie J . J . Sheehan, Liberalism and Society in Germany 289

19 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Anmerkungen zu Seite 20-25 1815-48, in: JMH, Bd. 45, 1973, S. 583-604, u. nach wie vor H. Holborn, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, in: HZ, Bd. 174, 1952, S. 359-84 (auch in: H.-U. Wehler [Hg.], Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 1966, S. 85-110). Zur breiten sozialen Basis des rheinpfälzischen Liberalismus um 1832 - zu einer Zeit, in der sich „Demokraten" und „Liberale" im engeren Sinn dort noch nicht getrennt hatten-siehe jetzt W. Schieder, Der rheinpfälzische Liberalismus von 1832 als politische Protestbewegung, in: H. Berding u. a. (Hg.), Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat, Fs. f. Th. Schieder, München 1978, S. 169-95. 3 Diese Aufsätze liegen jetzt gesammelt vor in: H. Rosenberg, Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen 1972. 4 Ausführlicher hierzu Η. Α. Winkler, Preußischer Liberalismus u. deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861-1866, Tübingen 1964, sowie der folgende Aufsatz. 5 Die These von der Kapitulation des deutschen Liberalismus im Jahre 1866 etwa bei F. C. Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 208-26. 6 L. Krieger, The German Idea of Freedom. History of a Political Tradition (Boston 1957), Chicago 1972. 7 Zu Schulze-Delitzsch etwa W. Conze, Möglichkeiten u. Grenzen der liberalen Arbeiterbewegung in Deutschland. Das Beispiel Schulze-Delitzschs, Heidelberg 1965. 8 Zum politischen Klima der Jahre nach dem Börsenkrach von 1873: H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft u. Politik in Mitteleuropa (Berlin 1967), Frankfurt 1976. 9 Hierzu ausführlicher H. A. Winkler, Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: GG, Bd. 4, 1978, S. 5-28 sowie in diesem Band, S. 36-51. 10 H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959. 11 Hierzu Η. Α. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen u. Anfänge, Göttingen 1974. 3. Bürgerliche Emanzipation und nationale Einigung: Zur Entstehung des Nationalliberalismus in Preußen Der vorliegende Beitrag, ein Konzentrat meiner Abhandlung „Preußischer Liberalismus u. deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861-1866", Tübingen 1964, stützt sich zusätzlich auf Bestände des Deutschen Zentralarchivs in Potsdam u. Merseburg. Der Aufsatz erschien erstmals in: H. Böhme (Hg.), Probleme der Reichsgründungszeit, 1848-1879, NWB, Bd. 26, Köln 1968, S. 226-42. 1 Bezeichnend für diese ältere Richtung etwa E. Marcks, Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807 bis 1871/78, Stuttgart 1936, Bd. 2, S. 261 ff.; E. Brandenburg, Die Reichsgründung, Leipzig 1916, Bd. 2, S. 198 ff.; von der spezielleren Literatur besonders: ders., 50 Jahre nationalliberale Partei, Berlin 1917; E. W. Meyer, Paneikrisen im Liberalismus und in der Sozialdemokratie 1866-1916, PJ, Bd. 172, 1918, S. 171-79. 2 Diese Auffassung wird insbesondere vertreten von F. C. Seil, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 218 ff., und H. Kohn, Wege und Irrwege. Vom Geist des deutschen Bürgertums, Düsseldorf 1962, S. 166 ff. 3 PJ, Bd. 10, 1862, S. 412, zit. nach O. Westphal, Welt u. Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, München 1919, S. 297. 4 (K. Twesten), Lehre und Schriften Auguste Comtes, in: PJ, Bd. 4, S. 306. 290

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Anmerkungen zu Seite 25-28 5 Hoverbeck an Witt am 30. Juli 1865, in: L. Parisius, Leopold Freiherr von Hoverbeck, Berlin 1897 ff., Bd.II/2,S. 55. 6 G. Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland (1863-1870), Leipzig 1911 (auch in: ders., Radikalismus, Sozialismus u. bürgerliche Demokratie, hg. v. H.-U. Wehler, Frankfurt 1969, S. 108-78), u. neuerdings R. Weber, Kleinbürgerliche Demokraten in der deutschen Einheitsbewegung 1863 bis 1866, Berlin 1962. 7 Dazu die Zeugnisse von Hoverbeck bei Η. Α. Winkler, Preußischer Liberalismus u. deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861-1866, Tübingen 1964, S. 25. Diese Zeugnisse widerlegen die These von E. N. Anderson, The Social and Political Conflict in Prussia, 1858-1864, Lincoln, Nebraska, 1954, S. 432 ff., daß die preußische Bevölkerung „overwhelmingly opposed the preservation of the vestiges of the Old Regime and desired reform". Siehe hierzu auch die treffende Analyse von O. Pflanze, Bismarck and the Development of Germany. The Period of Unification, 1815-1871, Princeton, N. J. 1963, S. 181 f. 8 DZA Potsdam, Nachlaß Bamberger, Nr. 156, Η. Β. Oppenheim an Bamberger am 14. 10. 1862. 9 Dazu durchgängig: H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft u. Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln 1966; F. Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834-1878. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, Köln 1962. 10 O. Büsch, Militärsystem u. Sozialleben im alten Preußen 1713-1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Berlin 1962. 11 NZ, 11. 8. 1864, MA. Zu den gesellschaftlichen Implikationen des Heereskonflikts vgl. auch das folgende Zitat von der konservativen Gegenseite: „Das Verderbnis der Armee wäre der Ruin aller geordneten gesellschaftlichen Verhältnisse" (Roon an Perthes am 10. 11. 1861. In: A. Graf von Roon, Denkwürdigkeiten, Breslau 1897, Bd. 2, S. 55). 12 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, Stuttgart 1957, S. 609 ff.; C. Jany, Geschichte der Königlich Preußischen Armee, Berlin 1933, Bd. 4, S. 162 ff.; neuerdings H. Helmert, Militärsystem u. Streitkräfte im Deutschen Bund am Vorabend des preußisch-österreichischen Krieges von 1866, Militärhistorische Studien, Neue Folge, Bd. 7, Berlin 1964. 13 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses (fortan: Sten. Ber.), 1862 (1. Session), Bd. II, S. 401 (Anlage Nr. 66). 14 W. Löwe-Calbe, Preußens Beruf in der deutschen Sache, in: DJ, Bd. 1, S. 179. Inhaltlich übereinstimmend im Abgeordnetenhaus am 22. 5. 1863: Sten. Ber. 1863, Bd. II, S. 1276. 15 Forckenbeck an Hoverbeck am 21. 8. 1859, in: Parisius, Bd. 1, S. 164 f. 16 Sten. Ber. 1862 (1. Session), Bd. II, S. 395 ff. (Anlage Nr. 66). 17 W. Gagel, Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der deutschen liberalen Parteien 1848-1919, Düsseldorf 1958, S. 20 ff. 18 Winkler, S. 65 f. (Schulze-Delitzsch) u. 95 f. (Waldeck). 19 Dazu Weber, passim. 20 So heißt es in der NZ vom 15. 6. 1861, AA: ,,Im deutschen Bürgertum ist die Spaltung der deutschen Nation überwunden . . . Wir sprechen hier vom Bürgertum und nicht vom Volk überhaupt, um die soziale Seite des Kampfes, welche die politische Doktrin oft zu sehr aus den Augen verloren hat, schärfer zu betonen." 21 2. Sitzung der Kommission des Abgeordnetenhauses zur Vorbereitung der Anträge in der deutschen und in der italienischen Frage am 24. 2. 1862 (DZA Merseburg, Rep. 169 C 16. Deutsche Bundessachen, Bd. III, Nr. 1). Entsprechend argumentierte Twesten im Kommissionsbericht (Sten. Ber. 1862 [1. Session], Bd. II, S. 400 [Anlage Nr. 66]). Wiewohl Twesten prinzipiell dem Primat der Innenpolitik anhing und einräumte, daß das Feld der auswärtigen Beziehungen „herkömmlich fast außerhalb des Gesichtskreises der Liberalen" lag (Woran uns gelegen ist. Ein Wort ohne Umschweife, Kiel 1859, S. 66 f.), gehört er zu denjenigen Fortschrittsführern, die am

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Anmerkungen zu Seite 28-32 frühesten die europäische Komponente der nationalen Fragen erkannten. Die mangelnde Vertrautheit mit der auswärtigen Politik führte bei manchen Liberalen während des deutsch-dänischen Krieges zu Forderungen, deren Verwirklichung vermutlich einen Krieg mit mehreren Großmächten bedeutet hätte. Dazu Winkler, S. 53 ff., 62. 22 Sten. Ber. 1863/64, Bd. I, S. 207. 23 Ebd., S. 274. 24 Ebd., S. 241 ff. 25 N2, 11. 8. 1864, MA. 26 NZ, 12. 8. 1864, MA. Zu dem materiellen Interesse von rheinischer Schwerindustrie, rheinischen und Berliner Kapitalien an Schleswig-Holstein und insbesondere am Kieler Hafen und einem Nord-Ostsee-Kanal siehe u. a. Böhme, S. 187 ff.; G. W. F. Hallgarten, Imperialismus vor 1914. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg, München 1963, Bd. 1,S. 136 ff.; ferner H. Schwab, Von Düppel bis Königgrätz: Die politische Haltung der deutschen Bourgeoisie zur nationalen Frage 1864-1865, in: ZfG, Bd. 14, 1966, S. 588-610. - Die Demokraten um Schulze-Delitzsch waren ebenfalls für eine Vereinigung der militärischen und maritimen Kräfte Schleswig-Holsteins mit denen Preußens, wollten diesen partiellen Anschluß im Unterschied zu den rechten Fortschrittlern, aber nur auf Grund der freiwilligen Zustimmung der Schleswig-Holsteiner herbeiführen. Siehe dazu etwa den Brief von Schulze-Delitzsch an Bennigsen vom 9. 1. 1865, bei H. Oncken, Rudolf von Bennigsen, Ein deutscher liberaler Politiker, Stuttgart 1910, Bd. I, S. 657. Für die Beurteilung der Flottenfrage ist ferner aufschlußreich der Brief von Unruh an Bennigsen vom 26. 10. 1865, ebd., S. 677 ff. 27 NZ, 3. 8. 1864, MA. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat das Blatt im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der dänischsprechenden Nordschleswiger. 28 Sten. Ber. 1863/64, Bd. I, S. 497 f. und 1865, Bd. III, S. 2112 f. Waldeck ging davon aus, daß Preußen unter dem aufgeklärten Absolutismus und zur Zeit der Stein-Hardenbergschen Reformen eine „demokratische Monarchie" gewesen und providentiell weiterhin ein demokratischer Staat sei. Dazu Winkler, S. 20 f. 29 Twesten, Sten. Ber. 1865, Bd. III, S. 2101. 30 Michaelis, ebd., S. 2117. 31 Zum Begrifflichen siehe u. a. H. Rothfels, Die Nationsidee in westlicher u. östlicher Sicht, in: Osteuropa u. der deutsche Osten. Beiträge aus Forschungsarbeiten u. Vorträgen des Landes Nordrhein-Westfalen, I: Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Köln 1956, S. 7-18; ders., Grundsätzliches zum Problem der Nationalität, in: ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959, S. 89-111; sowie Th. Schieder, Typologie u. Erscheinungsformen des Nationalstaates in Europa, in: HZ, Bd. 202, 1966, S. 58-81. 32 Rede Hoverbecks vor den Königsberger Mitgliedern des Nationalvereins am 20. 12. 1862. Parisius, Bd. II/2, S. 111 ff. 33 Sten. Ber. 1865, Bd. III, S. 2117. 34 Böhme, S. 91 ff. 35 Sten. Ber. 1865, Bd. III, S. 1638. 36 So stellten die PJ (Bd. 18, 1866, S. 76) nach demEndedes Verfassungskonfliktes fest: „Die Volkswirtschaft hat sich zu Bismarck nie in einem prinzipiellen Gegensatz befunden wie die praktische Politik und staatsrechtliche Doktrin, da sie seiner Festigkeit den bedeutendsten handelspolitischen Fortschritt der Nation in den letzten Jahrzehnten, den Abschluß des französisch-preußischen Handelsvertrages und die Wiedererneuerung des Zollvereins auf der Grundlage eines freisinnigen Tarifs, verdankte.". Dazu W. Schunke, Die preußischen Freihändler u. die Entstehung der nationalliberalen Partei, phil. Diss. Leipzig 1914, S. 5; W. Zorn, Wirtschaftsu. sozialgeschichtliche Zusammenhänge der deutschen Reichsgründungszeit (1850-1879), in: HZ, Bd. 197, 1963, S. 318-42. Zu dem grundsätzlichen Problem, dem fehlenden Konflikt zwischen bürgerlichem Kapitalismus und traditionellem Obrigkeitsstaat als Grundtatsache der 292

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Anmerkungen zu Seite 32-33 deutschen Geschichte: R. Dahrendorf, Demokratie u. Sozialstruktur in Deutschland, in: ders., Gesellschaft u. Freiheit, München 1961, S. 260-99; ders., Gesellschaft u. Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 43 ff. 37 Winkler, S. 76 ff. 38 DZA Potsdam, Nachlaß Lasker, Nr. 225, Lasker an Η. Β. Oppenheim am 26. 3. 1866. Lasker fährt fort: „Von allen Standpunkten aus betrachtet bildet dieser Besitz, ohne die große deutsche Frage, keine Causa belli zwischen den beiden deutschen Großmächten und die deutsche Frage scheut die Feudalpartei und selbst unsere Regierung, wenn die Reform über die straffere Ordnung des Herrenhauses hinausgehen sollte. Früher oder später kommt ein zweites Gastein, ein Abkommen, welches ohne Rücksicht auf das Bedürfnis der Herzogtümer und Deutschland die Spannung zwischen den beiden Höfen löst. Für die innere Politik fällt von dem Baum ein neuer Beweis ab, daß die Armeereorganisation sich wiederum vortrefflich bewährt, indem man die Krisis ohne Mobilmachung überstanden habe. Nicht weil der Krieg dem Interesse der Völker zuwider ist, sondern weil er den Dynastien nur Nachteil droht, halte ich jeden Kriegseedanken für lächerlich . . ." 39 DZA Merseburg, Rep. 92, Nachlaß Twesten, Nr. 7, vol. VII, Twesten an seine Eltern am 10. 4. 1866. Die Briefstelle lautet im Zusammenhang: „Mit diesem neuen Schachzug (Bismarcks Bundesreformplan vom 4. 4., H. A. W.) ist denn wieder ein Moment der Stagnation gegen die akute Kriegsgefahr eingetreten, und das ruhigere Tempo soll möglichst benutzt werden, gegen den frivolen und unnützen Krieg von allen Seiten her zu demonstrieren." Twesten verweist weiter darauf, daß er eine Adresse der Ältesten der Berliner Kaufmannschaft gegen den Krieg „auf Antrag von Delbrück und Siemens" entworfen habe und in diesem Sinne auch vor dem 1. Berliner Wahlbezirk sprechen werde. Er fügt hinzu: ,,Der Anlaß ist ja wichtig genug, um wo möglich die öffentliche Stimmung gegen ein großes drohendes Unheil in Bewegung zu setzen, ohne doch zu Gunsten Österreichs und der Misere der kleinen Staaten und des Bundestages zu sprechen, wie es leicht in den Versammlungen des Nationalvereins geschieht." 40 VZ 12. 4. 1866. 41 NZ, 24. 3./5. 4. 1866, MA. 42 Winkler, S. 85 ff. 43 Twesten an Lipke am 4. und 23. 4. 1866, in: J. Heyderhoff u. P. Wentzcke, Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, 2 Bde., 1. Bd.: Die Sturmjahre der preußisch-deutschen Einigung 1859-1870, Bonn 1925 (ND Osnabrück, 1967), S. 276-78. 44 Böhme, S. 206; Hallgarten, Bd. 1, S. 143. 45 NZ, 18. 4. 1866, MA; VZ, 19. 4. 1866. 46 NZ, 30. 6. 1866, MA. 47 NZ, 1. 7. 1866, AA. 48 Zu denen, die den Wechsel voraussahen, gehörte der Abgeordnete Reichenheim: ,,Je mehr die Preußische Armee vordringt, je bedeutender die Erfolge, desto mehr ist namentlich in dem Land - besonders aber in Grenzkreisen auf einen Sieg der Conservativen zu zählen. Sie glauben nicht, wie sehr die ländliche Bevölkerung umzustimmen ist" (DZA Potsdam, Nachlaß Lasker, Nr. 242, Reichenheim an Lasker am 29. 6. 1866). - Der Umstand, daß nun nicht mehr die Liberalen, sondern die Konservativen als die Protagonisten der nationalen Einigung erschienen, dürfte vor allem auch in dem aus wirtschaftlichen Gründen (Getreideüberschuß) besonders an der deutschen Einheit interessierten Ostpreußen zu den schweren Verlusten der liberalen Parteien beigetragen haben. Winkler, S. 7, 91. 49 Ebd., S. 91 f. 50 Ebd., S. 99 ff. 51 Die Haltung der rechten Fortschrittsführer zur Indemnitätsfrage erhellt aus einem Brief Forckenbecks: ,,Das Votum für die Indemnität war schwer. Es war aber nicht nur eine politische Notwendigkeit, sondern auch gut für die Verfassung. Das Budgetrecht hat nochmals eine Bestä-

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Anmerkungen zu Seite 33-36 tigung im Gesetze d. I. (wohl: der Indemnität, H. A. W.) erhalten, und nimmt es das Herrenhaus an, so haben wir nach Aussetzen des Conflictes eine einmalige gesetzliche Bestätigung des Budget-Rechtes. Ob ich morgen wiedergewählt werde, weiß ich nicht. Es kümmert mich wenig, da ich mir jedenfalls bewußt bin, im Interesse des Landes gehandelt zu haben" (DZA Merseburg, Rep. 92, Nachlaß Forckenbeck, Bd. Id. Forckenbeck an seine Frau am 5. 9. 1866). 52 Von einem „Vertagen" der Erfüllung „vieler unserer liebsten Forderungen" und von einem Verzicht auf die „unmittelbare Erfüllung von Forderungen, die wir für vollauf berechtigt halten", sprach Michaelis am 1. 9. 1866 (Sten. Ber. 1866/67, Bd. I, S. 161). Virchow hingegen, der bei der Fortschrittspartei blieb, vertrat nach Königgrätz - am 30. 8. 1866 in der AnleiheKommission des Abgeordnetenhauses - die Meinung, „eine konstitutionelle Regierung müsse zurücktreten, wenn sie sich der Zustimmung der Landesvertretung nicht erfreue" (DZA Merseburg, Rep. 169 C 52, Nr. 16, Bd. 2). Zum Indemnitätsproblem: Huber, Bd. III, S. 358 ff. Über die verfassungspolitischen Zugeständnisse, die die Nationalliberalen Bismarck nach 1866 abringen konnten, siehe ebd., S. 655ff.; sowie O. Becker, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, Heidelberg 1958, S. 371 ff. 53 Winkler, S. 107, 109. Zu diesem Problem neuerdings: K.-G. Faber, Realpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken in Deutschland. In: HZ, Bd. 203, 1966, S. 1-45. 54 O. Stillich, Die politischen Parteien in Deutschland, Bd. 2: Der Liberalismus, Leipzig 1911, S. V, 105 ff.; W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. u. im Anfang des 20. Jahrhunderts, Berlin 1919, S. 470 ff.; u. durchgängig E. Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. u. 20. Jahrhundert, hg. v. H.-U. Wehler, Berlin 1965. 55 Auf diesen Funktionswandel der nationalen Parole nach 1871 gehe ich ausführlicher in dem folgenden Aufsatz ein. 56 E. Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentansmus, in: VfZ, Bd. 8, 1960, S. 323-40 (auch in: ders., Deutschland u. die westlichen Demokratien, Stuttgart 19683, S. 13-31). 57 H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 1959; L. Krieger, The German Idea of Freedom. History of a Political Tradition, Boston 1957; R. Stadelmann, Deutschland u. Westeuropa, Laupheim 1948. 4. Vom linken zum rechten Nationalismus: Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79 Der Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrages, den ich im Rahmen einer Ringvorlesung „Wendepunkte der deutschen Geschichte 1870-1933", veranstaltet vom Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., am 26. 11. 1976 gehalten habe. Der Text wurde erstmals veröffentlicht in GG, Bd. 4, 1978, S. 5-28. 1 L. Bamberger, National, in: Nation, 22. 9. 1888; wieder abgedruckt in: ders., Politische Schriften, Berlin 1897, Bd. 5, S. 203-37 (das Zitat: S. 217). Im gleichen Aufsatz (S. 221) hat Bamberger noch eine andere soziale Trägergruppe des neuen Nationalismus ausgemacht. Im Zusammenhang mit der Militarisierung des öffentlichen Lebens durch die allgemeine Wehrpflicht bemerkt er: „ . . . der miles gloriosus würde heute nicht in Gestalt eines Landsknechtes, sondern etwa eines Gymnasiallehrers auf die Bühne zu bringen sein." 2 R. Berdahl, New Thoughts on German Nationalism, in: AHR, Bd. 77, 1972, S. 65-80 (dt. in, H. A. Winkler [Hg.], Nationalismus, Kronberg 1978, S. 138-54). Zu den strukturellen Vorbedingungen des Nationalismus allgemein nach wie vor: K. W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, Cambridge/Mass. 1953 u. ö. 294

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Anmerkungen zu Seite 37-40 3 Schulze-Delitzsch' Brief an R. v. Bennigsen vom 15. 6. 1861 in: H. Oncken, Rudolf v. Ben­ nigsen. Ein deutscher liberaler Politiker, 2 Bde., Stuttgart 1910, Bd. 1, S. 525; NZ, 15. 6. 1861, AA. Vgl. hierzu auch: Η. Α. Winkler, Preußischer Liberalismus u. deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861-1866, Tübingen 1964, S. 27-33. 4 Virchows Äußerung in: DZA Merseburg, Rep. 169 C 52, Nr. 16, Bd. 2; Twestens Programmentwurf in: J . Heyderhoff u. P. Wentzcke, Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, 2 Bde., Bonn 1925 (ND Osnabrück 1967), Bd. 1, S. 500-3, wo auch ausdrücklich die „Einigung Deutschlands unter einer parlamentarischen Verfassung" als „weltgeschichtliche Aufgabe" bezeichnet wird. Auch Bamberger bekannte sich 1868 eindeutig zur schrittweisen Verwirklichung eines parlamentarischen Systems westeuropäischen Musters: ders., Politische Schriften, Bd. 4, S. 53 f. H. Boldt, Deutscher Konstitutionalismus u. Bismarckreich, in: M. Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik u. Gesellschaft 1870-1918, Düsseldorf 1970, S. 119-42 (bes. S. 124 u. 139), betont zwar mit Recht, daß die Fortschrittspartei keine formelle Parlamentarisierung anstrebte, ordnet aber den Hinweis auf das langfristige Ziel der de-factoParlamentarisierung zu Unrecht einer konservativen Mißdeutung des Verfassungskonflikts zu. Zu ähnlichen Fehlschlüssen gelangt G. R. Mork, Bismarck and the „Capitulation" of German Liberalism, in: JMH, Bd. 43, 1971, S. 59-75, der zwischen taktischen Zwängen und langfristigen Zielsetzungen im liberalen Lager nicht hinreichend differenziert. Nicht haltbar erscheint mir angesichts eines erdrückenden Quellenmaterials, das für den Bereich des „entschiedenen Liberalismus" das Gegenteil belegt, die resümierende These von M. Gugel, Industrieller Aufstieg u. bürgerliche Herrschaft. Sozioökonomische Interessen u. politische Ziele des liberalen Bürgertums in Preußen zur Zeit des Verfassungskonflikts 1857-1867, Köln 1975,S.233, das preußische Bürgertum habe in den 1860er Jahren gar kein „Interesse an politischer Herrschaftsveränderung" mehr gehabt. 5 Das Bamberger-Zitat in: NZ, 4. 12. 1866, MA. Zu den sozialen Differenzierungen innerhalb der Fortschrittspartei: Winkler, Preußischer Liberalismus. 6 H. v. Treitschke, Das constitutionelle Königthum in Deutschland, in: ders., Historische u. politische Aufsätze, Leipzig 1870, S. 745-858 (das Zitat: S. 806). Zur Resonanz dieses Aufsatzes: Heyderhoff u. Wentzcke, Bd. 1, S. 454-60. In derselben Richtung argumentierte bereits der Altliberale Μ. Duncker in einem Brief an Treitschke vom 23. 6. 1867; ebd., S. 381-86. Weiter: H. v. Sybel, Die politischen Parteien der Rheinprovinz in ihrem Verhältnis zur preußischen Verfassung, Düsseldorf 1847; H. Baumgarten, Selbstkritik des deutschen Liberalismus (1866), in: ders., Historischeu.politische Aufsätze u. Reden, Straßburg 1894, S. 76-216. Die durchgängige Kontinuität in der Argumentation von Sybel (1847) und Treitschke (1869) widerspricht allen Interpretationen, die den (idealen) vormärzlichen Liberalismus durchwegs in einem scharfen Kontrast zum (realpolitisch degenerierten) Liberalismus der Zeit nach 1848/49 sehen wollen. Diese These findet sich nicht nur bei Gugel, sondern auch, wenngleich nuancierter bei: L. Gall, Liberalismus u. „bürgerliche Gesellschaft". Zu Charakter u. Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: HZ, Bd. 220, 1975, S. 324-56; auch in: ders. (Hg.), Liberalismus, Köln 1976, S. 162-86. Auf einer anderen, der wirtschaftspolitischen Ebene, läßt sich die Degenerationsthese ebenfalls nicht halten: Der nachmärzliche deutsche Liberalismus ist sehr viel „liberaler" als der vormärzliche, dessen sozialkonservative Elemente gerade Gall zu Recht stark betont. 7 PJ, Bd. 10, 1862, S. 412, zitiert nach: O. Westphal, Welt- u. Staatsauffasssung des deutschen Liberalismus, München 1919, S. 297. 8 Das Twesten-Zitat, Preußischer Liberalismus, S. 18. Ebd., S. 91 ff., auch nähere Belege zur Einschätzung der Bismarckschen Politik im Jahre 1866 durch die Liberalen. 9 Zur Debatte über Sieger und Besiegte des Verfassungskonflikts neuerdings: R. Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt u. das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: E.-W. Bökkenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918), Köln 1972, S. 171-94. Das Lasker-Zitat aus einem Brief an seine Wähler bei Heyderhoff u. Wentzcke, Bd. 2, S. 310. Zur Wertung des Kulturkampfes als Form der „sekundären Integration": W. Sauer, Das Pro-

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Anmerkungen zu Seite 40-42 blem des deutschen Nationalstaates, in: H.-U. Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 1970, S. 407-36. Dagegen jetzt: G. Schmidt, Die Nationalliberalen - eine regierungsfähige Partei? Zur Problematik der inneren Reichsgründung 1870-1878, in: G. A. Ritter (Hg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 208-23. Vgl. auch ders., Politischer Liberalismus, „Landed Interests" u. Organisierte Arbeiterschaft 1850-1880. Ein deutsch-englischer Vergleich, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte Heute. Fs. f. H. Rosenberg, Göttingen 1974, S. 266-88. Daß der Liberalismus sich durch die katholische Volksbewegung in seinem Anspruch, die Gesellschaft schlechthin zu repräsentieren, gefährdet sah, belegt eindrucksvoll L. Gall, Die partei- u. sozialgeschichtliche Problematik des badischen Kulturkampfes, in: ZGO, Bd. 113, 1965, S. 151-96. Die Zitate aus der NZ: 31. 10. 1877, MA. Bei diesen Zitaten ist zu beachten, daß sie aus der Zeit stammen, als Bismarck - in der Absicht, den rechten Flügel der Nationalliberalen fester an sich zu binden - mit Bennigsen über dessen Eintritt in das preußische Staatsministerium verhandelte. Zum Scheitern dieser Gespräche zuletzt W. J. Mommsen, Das deutsche Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen, in: H. Berding u. a. (Hg.), Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat, Fs. f. Th. Schieder, München 1978, S. 239-65. 10 Vgl. zum Gegensatz zwischen dem „deutschen Gedanken" und dem „spezifischen Preußentum" etwa den Brief von Graf Karlv.Tauffkirchen an Franz v. Stauffenberg v. 13. 1. 1871 in: Heyderhoff u. Wentzcke, Bd. 2, S. 6-8. Die folgenden Zitate: NZ2. 6. 1876, MA, 21. 10. 1876, MA, 2. 9. 1877, MA. Der letztgenannte Artikel, der Ultramontanismus und Sozialismus in Parallele setzt, erschien anläßlich der Wiederkehr der Schlacht von Sedan. - Zur Haltung der preußischen Konservativen gegenüber Bismarcks Einigungspolitik: G. Ritter, Die preußischen Konservativen u. Bismarcks deutsche Politik 1859 bis 1876, Heidelberg 1913; H. Booms, Die Deutschkonservative Partei. Preußischer Charakter, Reichsauffassung, Nationalbegriff, Düsseldorf 1954; R. M. Berdahl, Conservative Politics and Aristocratic Landholders in Bismarckian Germany, in: JMH, Bd. 44, 1972, S. 1-20. 11 Bezeichnend hierfür ist etwa der Kommentar der NZ vom 14. 6. 1875, MA, wo es heißt: „Ιn den Staaten unfreier, unmündiger Völker haben die weltlichen Herren oft einen Bund geschlossen mit den geistlichen. Dem deutschen Reiche aber ist die Kirche dermaßen feind, daß es nur bestehen und sich erhalten kann, wenn es eine höhere Gesittungsstufe erreicht, auf welcher Aufklärung und Freiheit des Volkes jegliche Priesterherrschaft ausschließen." Am 14. 3. 1874, MA, hatte dasselbe Blatt bereits konstatiert, „daß der Ultramontanismus, seiner inneren Notwendigkeit zufolge mit entschiedenem Patriotismus unvereinbar ist". - Der liberale Antiklerikalismus und Antisozialismus sind gewiß älter als das Vatikanum oder die Pariser Kommune; aber zu bestimmenden Elementen des liberalen Nationalismus wurden beide Anti-Haltungen, wie mir scheint, erst in den 1870er Jahren. 12 Über den Übergang zum Schutzzoll und die Wendung von 1878/79 aus der neueren Lit. v. a.: Κ. W. Hardach, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- u. Getreidezölle in Deutschland 1879, Berlin 1967; I. Lambi, Free Trade and Protection in Germany 1868-1879, Wiesbaden 1963; L. Rathmann, Bismarck u. der Übergang Deutschlands zur Schutzzollpolitik (1873/75-1879) in: ZfG, Bd. 4, 1956, S. 899-949; H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft u. Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln 1966, S. 421-586; H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 1969; M. Stürmer, Regierung u. Reichstag im Bismarckreich 1871-1880. Cäsarismus u. Parlamentarismus, Düsseldorf 1974; V. Hentschel, Die deutschen Freihändler u. der volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885, Stuttgart 1975, S. 231-75. Aus der älteren Lit. immer noch unentbehrlich: M. Nitzsche, Die handelspolitische Reaktion in Deutschland, Stuttgart 1905. Zur „Großen Depression": H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft u. Politik in Mitteleuropa, Frankfurt 19762. In der wichtigen Vorbemerkung zur Neuauflage diskutiert R. auch die Kritik am Konzept der „Großen Depression" (wie sie u.a. A. Gerschenkron, The Great Depression in Germany, in: ders., Continuity in His296

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Anmerkungen zu Seite 42-45 tory and other Essays, Cambridge/Mass. 1968, S. 405-8, geäußert hat) und erwägt für die Trendperiode von 1873 bis 1896 als alternativen und weniger zweideutigen Begriff die Formel „Große Deflation", 13 H. Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969 (auch in: Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, S. 287-308). Bismarck hat - insoweit als „ideeller Gesamtfeudalist" fungierend - mit seinem Eintreten für die Getreidezölle die langfristigen Interessen seiner Standesgenossen von 1878/79 klarer erkannt als viele Großagrarier. Dem Mittelstand wurden die Schutzzölle von den Protektionisten vor allem mit dem Argument schmackhaft gemacht, daß er ebenso wie die Landwirtschaft von direkten Steuern viel stärker belastet werde als von indirekten wie Zöllen. Dazu etwa: Bismarck u. das Manchestertum in: GB, Bd. 38, 1879, I, 1-19. Zur regionalen Interessendifferenzierung der deutschen Landwirtschaft: Hardach, S. 86-123. Zum konservativen Antisemitismus jetzt zusammenfassend: R. Rürup, Emanzipation u. Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975 (mit weiterer Lit.). Auf den zollpolitischen Kurs schwenkte die Kreuz-Zeitung erst seit dem Frühjahr 1879 allmählich ein. 14 Die Zitate aus: Unsere Hauptanklagen gegen den Liberalismus, in: NPZ (Kreuz-Zeitung), 15. 8. u. 21. 8. 1878. Zur Haltung der NPZ gegenüber den aktuellen wirtschaftspolitischen Problemen vgl. den Kommentar vom 14. 11. 1878: ,,Die internationale Spekulation hat die nationale Arbeit zugrunde gerichtet, sie hat die Arbeit selbst um ihre Solidität gebracht. Wenn man nun die nationale Arbeit schützen will, so schütze man sie durch die Revision der gewerblichen Gesetze gegen die überwuchernde Macht der Geldmächte, damit sie der Organisation des Kapitals und der Spekulation widerstehen kann. Der Arbeit kann man durch Schutzzölle nicht helfen. Die Landwirtschaft aber, die so recht Arbeit und als solche ebenfalls unter der Präponderanz des Kapitals und der Spekulation zu leiden hat, sollte sich nicht durch ungerechtfertigte und unausführbare schutzzöllnerische Vorspiegelungen betören lassen." 15 NZ, 16. 11. 1877, MA. Zum Beginn und Verlauf der Zolldebatte in der Nationalliberalen Partei: W. Block, Die parlamentarische Krise der nationalliberalen Partei, München 1930; L. Maenner, Deutschlands Wirtschaft u. Liberalismus in der Krise von 1879, in: APG, Bd. 5, 1927, S. 347-82, 456-88; H.-E. Matthes, Die Spaltung der Nationalliberalen Partei u. die Entwicklung des Linksliberalismus bis zur Auflösung der Deutsch-Freisinnigen Partei, phil. Diss. Kiel 1953, Ms. - Wie wenig zwingend die ökonomischen Argumente der schutzzöllnerischen Industriellen waren, hat zuletzt K. W. Hardach (Anm. 12) überzeugend dargetan. Demnach waren die englischen Eisenimporte in den 1870er Jahren rückläufig, während die deutschen Eisenexporte zunahmen. 1879 gab es erstmals einen deutschen Roheisenexportüberschuß. Einzelne Branchen wie die Schienenwalzereien litten mehr unter dem Übergang von Eisen zum Stahl als unter englischen Importen. - Zur Geschichte des Begriffs „nationale Arbeit", der in Deutschland erstmals bei L. v. Stein (1850) aufzutauchen scheint: W. Conze, Artikel „Arbeit", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Hg. O. Brunner u. a., Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154-215. Für die 1860er Jahre jetzt auch Hentschel, S. 65-70. 16 PK, 19. 6. 1878, nach: NZ, 20. 6. 1878, MA; NAZ, 30. 7. 1878, 1. Ausgabe; NPZ, 30. 7. 1878. 17 Die erste Woche des deutschen Reichstages, in: GB, Bd. 37, 1878, II, S. 474-79 (das Zitat: S. 479; in dem gleichen Artikel, S. 477, wird die Nation ausdrücklich aufgefordert, vor Klärung der juristischen Aspekte der Attentate „die Ausrottung der Sozialdemokratie . . . sofort durch ihre erwählten Vertreter selbst in die Hand zu nehmen"); H. v. Treitschke, Der Sozialismus u. der Meuchelmord, in: PJ, Bd. 41, 1878, S. 637-47 (die Zitate: S. 639, 647). Zur Entstehungsgeschichte des Sozialistengesetzes und den Bemühungen Laskers und anderer „linker" Nationalliberaler: W. Pack, Das parlamentarische Ringen um das Sozialistengesetz Bismarcks 1878-1890, Düsseldorf 1961. 18 Der nationalliberale Wahlaufruf vom 16. 6. 1878 in: Heyderhoff u. Wentzcke, Bd. 2, S.

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Anmerkungen z« Seite 46-47 201-03; NZ, 26. 4. 1879, MA; Bamberger am 15. 5. 1879, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 4. Legislaturperiode, 2. Session, 1879, 1. Bd., (fortan: Sten. Ber.)S. 1224 f.; Bismarck am 2. 5. 1879, ebd., S. 930 ff. (ebd. auch die These des Kanzlers, „kauffähige Nationen von irgendwelcher erheblicher Ausdehnung, an die wir exportieren können", seien nicht mehr zu finden); NZ, 18. 5. 1879, MA. - Bei der Schlußabstimmung über die Zoll- u. Finanzreform stimmten nicht nur die engagierten Freihändler unter den Nationalliberalen gegen die Vorlage, sondern auch - wegen der Beibehaltung der Matrikularbeträge (Franckensteinsche Klausel) - die Mittelgruppe um Bennigsen, die zuvor auf die schutzzöllnerische Linie eingeschwenkt war. 15 nationalliberale Abgeordnete, die für den Tarif gestimmt hatten darunter Treitschke und die süddeutschen Protektionisten -, erklärten am 12. 6. 1879 ihren Austritt aus der Fraktion. 19 Die Julitage des deutschen Liberalismus, in: GB, Bd. 38, 1879, III, S. 124-26 (das Zitat: S. 124); Die natürliche Gruppierung deutscher Parteien, ebd., S. 200-4 (das Zitat: S. 203f.). 20 VC, zit. nach NZ, 14. 11. 1878, AA; Sozialismus u. Deportation, in: GB, Bd. 37, 1878, II, 41-50 (die Zitate: S. 42, 46; der Artikel hielt Ostafrika für ideal geeignet, eine Art deutsches Australien zu werden). Vgl. hierzu auch die wohlwollende Rezension der Schrift „Bedarf Deutschland der Kolonien?" von F. Fabri (Gotha 1879) in: GB, Bd. 38, 1879, S. 165-73. Über Fabri, der als einer der ersten die These von der „sozialpolitisch notwendigen" Massenauswanderung vertrat, siehe jetzt: K. J . Bade, Friedrich Fabri u. der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution - Depression - Expansion, Freiburg 1975, bes. S. 80-85. Treitschke begründete sein Plädoyer für deutsche Kolonien 1880 u. a. mit der Notwendigkeit, daß Deutschland endlich „seiner Armut . . . entwachsen" müsse: ders., Zur inneren Lage im Jahresschlusse, in: PJ, Bd. 46, 1880, S. 639-45 (das Zitat: S. 643). Die Schutzzöllner waren nicht insgesamt für Kolonien.W.v. Kardorff, der Vorsitzende des Centralverbandes Deutscher Industrieller, sprach sich am 22. 2. 1879 im Reichstag unter Hinweis auf die hohen Kosten gegen den Erwerb von Kolonien aus: Sten. Ber., S. 87. - Zur frühen deutschen Kolonialagitation zusammenfassend: Wehler, Bismarck, S. 139-54. Daß es individuelle Vorläufer der deutschen Kolonialbewegung bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegeben hat, ist ein Faktum-aber eher eines der Ideen- als der Sozialgeschichte. 21 NZ, 13. 11. 1878, MA; 14. 11, 1878, AA; E. v. d. Brüggen, Die Kolonisation in unserem Osten u. die Herstellung des Erbzinses, in: PJ, Bd. 44, 1879, S. 32-51 (das Zitat: S. 35); Die Aussichten der Zollreform im Reichstag, in: GB, Bd. 38, 1879, II, S. 197-201 (die Zitate: S. 323). 22 Der Hinweis auf List bei: Bismarck u. das Manchestertum, S. 16. Zur antienglischen Tendenz in der schutzzöllnerischen Publizistik der 70er und 80er Jahre vgl. auch: A. Lohren, Das System des Schutzes nationaler Arbeit, Potsdam 1880, bes. S. 1-4; W. v. Kardorff-Wabritz, Gegen den Strom. Eine Kritik der Handelspolitik des deutschen Reiches, Berlin 1875, bes. S. 24 ff.; G. Stommel, Die deutsche Industrie vor dem Reichstag, Leipzig 1877, S. 36-40. - Die Thesen der freihändlerischen Seite aus: NZ, 3. 8. 1877, MA; 25. 9. 1877,ΜΑ.- Die glänzende Untersuchung von E. Kehr, Englandhaß u. Weltpolitik, in: ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. H.-U. Wehler, Berlin 1965, S. 149-75, behandelt die Zeit zwischen 1890 und 1902. In der Tatist die wirtschaftlich motivierte deutsche Anglophobie viel älter. Vgl. zu den Anfängen jetzt etwa: R. H. Tilly, Los von England: Probleme des Nationalismus in der deutschen Wirtschaftsgeschichte, in: ZfGS, Bd. 124, 1968, S. 179-96; K. W. Hardach, Anglomanie u. Anglophobie während der Industriellen Revolution in Deutschland, in: Sch. Jb., Bd. 91, 1971,I,S. 153-81.-Die Haltung der NZ zu Frankreich war wesentlich davon abhängig, welche Richtung dort jeweils die Oberhand hatte: die liberal-laizistische oder die monarchisch-klerikale. Zur Haltung der NZ wie anderer führender Zeitungen in der Krieg-in-Sicht-Krise von 1875 vgl. M. Winckler, Der Ausbruch der Krieg-in-Sicht-Krise vom Frühjahr 1875, in: ZfO, Bd. 14, 1965, S. 671-713. Zur beginnenden antirussischen Agitation der Agrarier: G. W. F. Hallgarten, Imperialismus vor 298

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Anmerkungen zu Seite 47-50 1914. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg, 2 Bde., München 1963, Bd. 2, S. 186 ff. 23 H. v. Treitschke, Unsere Aussichten, in: PJ, Bd. 44, 1879, S. 559-76 (die Zitate S, 571, 575). Vgl. ders., Herr Graetz u. sein Judentum, in: PJ, Bd. 44, 1879, S. 660-70. Die Rede von Mosle am 8. 5. 1879 in: Sten. Ber., S. 1074. Noch massiver antisemitisch sind die vermutlich von M. Busch verfaßten Artikel „Beiträge zur Beurteilung der Judenfrage", in: GB, Bd. 39, 1880, bes. S. 176-94. Vgl. zu der von Treitschke ausgelösten Debatte über die „Judenfrage": W. Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismus-Streit, Frankfurt 1965. 24 Lasker am 9. 7. 1879, in: Sten. Ber., S. 2208. Dem Beispiel Laskers folgten im August 1880 26 weitere Abgeordnete des linken Flügels der Nationalliberalen Partei in Reichstag und preußischem Abgeordnetenhaus. Den letzten Anstoß zur „Sezession" gab die erste kirchenpolitische Novelle, die Bismarck dem preußischen Abgeordnetenhaus im Mai 1880 vorgelegt hatte und mit der der Friede zwischen Staat und Kirche wiederhergestellt werden sollte. - Zur Soziologie der „Sezessionisten": G. Seeber, Zwischen Bebel u. Bismarck. Zur Geschichte des Linksliberalismus in Deutschland 1871-1893, Berlin 1965, S. 110-27; Hallgarten, Bd. 1, S. 186-97. 25 NZ, 16. 2. 1879, MA; Hänel am10.7. 1879, in: Sten, Ber., S. 2249.-Zur Kritik des parlamentarischen Systems in der nationalliberalen Publizistik vgl. etwa: H. v. Treitschke, Der Sozialismus, S. 105; ders., Der Reichstag u. die Finanzreform, in: PJ, Bd. 44, 1879, S. 106-13; ders., Unsere Aussichten, („Die Nation ist des Gezänks ihrer Parlamente bis zum Ekel überdrüssig"); Die Julitage, ebd., S. 124-26. - G. Schmidt, Die Nationalliberalen, S. 208-23, sieht in der unterentwickelten lokalen und regionalen Parteiorganisation der Nationalliberalen eine wesentliche Erklärung für die Entfremdung zwischen Partei und Basis. Zur Rolle des „cauchemar des revolutions" bei Bismarck wie zur bürgerlichen Revolutionsfurcht: Th. Schieder, Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: ders., Staat u. Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958, S. 11-57. - Zum wirtschaftlichen Wachstum vor und während der „Großen Depression" vgl. etwa W. G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, bes. S. 11-16. Den Einfluß der Hochkonjunktur auf die nationalliberale Politik vor 1873 betont zu Recht auch Schmidt, Die Nationalliberalen, S. 208-23. 26 Treitschke, Der Reichstag, S. 108; Die nationalliberale Partei u. der Abgeordnete Lasker, GB, Bd. 39, 1879, II, S. 525-32 (das Zitat: S. 532); NZ, 24. 11. 1878, MA. In ähnlichem Ton der Artikel „Die Rückkehr des Kaisers", NZ, 5. 12. 1878, MA, wo Wilhelm I. in die Nähe Karls des Großen und Friedrich Barbarossas gerückt wird. - Zum Kaiserkuh allgemein: E. Fehrenbach, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918, München 1969; Th. Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 1961. - Zur Rolle von M. Busch bei den „Grenzboten": R. Nöll v. d. Nahmer, Bismarcks Reptilienfonds. Aus den Geheimakten Preußens u. des Deutschen Reiches, Mainz 1968, bes. S. 99-101. Vgl. hierzu auch den Brief von H. Blum an E. Lasker v. 10. 7. 1879, in: Heyderhoff u. Wentzcke, Bd. 2, S. 251. 27 Zum Begriff der „Partizipationskrise" und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Nationalismus vgl. jetzt bes. S. Rokkan, Dimensions of State Formation and Nation-Building, in: C. Tilly (Hg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975, S. 562-600; W. Schieder, Aspekte des italienischen Imperialismus vor 1914, in: W. J . Mommsen (Hg.), Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971, S. 140-71. Zum „Umschlag" des französischen Nationalismus im späten 19. Jahrhundert etwa: R. Girardet, Le nationalisme français, 1871-1914, Paris 1966. Zum frühen französischen Nationalismus als bürgerlicher Sammlungsideologie jetzt Η. G. Haupt, Nationalismus u. Demokratie. Sozialstruktur u. Nation im Frank­ reich der Restauration, Frankfurt 1974. - Daß die Schutzzollpolitik in anderen Ländern - etwa in Frankreich und den USA - nicht entfernt dieselben politischen Folgen hatte wie in Deutschland, liegt m. E. primär daran, daß sie dort nicht zur Konservierung einer vorindustriellen Herrschaftselite wie der Junker führen konnte. Der konzentrations- und kartellierungsfördernde Effekt der Schutzzölle war in Deutschland und den USA offenkundig. 28 D. Katz, The Psychology of Nationalism, in: J. P. Guilford (Hg.), Fields of Psychology,

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Anmerkungen zu Seite 50-51 N. Y. 194912, S. 163-81 (das Zitat: S. 165). Vgl. auch ders., Nationalism and Strategies of Inter­ national Conflict Resolution, in: H. C. Kelman (Hg.), International Behavior. A SocioPsychological Analysis, Ν. Υ. 1965, S. 354-90. Zur „gesellschaftlichen Normalmoral" als Dis­ position für den mittelständischen Nationalismus: M. R. Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966. Zu Handwerk und Kleinhandel: Η. Α. Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972. Zur Entstehung der nationalistischen Angestelltenbewegung: I. Hamel, Völkischer Verband u. nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893-1933, Frankfurt 1967. Zur nationalistischen Agrar- und Mittelstandsidcologie der Konservativen: H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893-1914. Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte u. der Deutschkonservativen Partei, Bonn-Bad Godesberg 19752. Zur Rolle der beamteten Akademiker in den imperialistischen Agitationsverbänden etwa: M. S. Wertheimer, The Pan German League 1890-1914, Ν. Υ. 1924 (bes. S. 65). Zum Nationalismus in der Wilhelminischen Ära allgemein: K. Schilling, Beiträge zu einer Geschichte des radikalen Nationalismus in der Wilhelminischen Ära 1890-1909, München 1968. Zum Problem „Arbeiterschaft und Nationalismus" am besten: H. Mommsen u. A. Martiny, Artikel „Nationalismus, Nationalitätenfrage", in: SDG, Bd. 4, Freiburg 1971, Sp. 623-95. 29 Dazu neuerdings: D. S. White, The Splintered Party. National Liberalism in Hessen and the Reich 1867-1918. Cambridge/Mass. 1976,bes. S. 156 f.-Vgl. zur sozialen Struktur der Nationalliberalen Partei ferner: H. Schwab, Aufstieg u. Niedergang der Nationalliberalen Partei. Zur Geschichte in Deutschland 1864-1880, Habilitationsschrift Jena 1968, Ms.; ders., Nationalliberale Partei 1867-1918, in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien u. anderen bürgerlichen Interessenorganisationen bis zum Jahre 1945, Bd. 2, Leipzig 1970, S. 344-73. Zur Organisationsstruktur der bürgerlichen Parteien allgemein: Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961. 30 Zu Michaelis' Rede im preußischen Abgeordnetenhaus am 13. 6. 1865: Winkler, Preußtscher Liberalismus, S. 65. Zu Max Weber: W. J. Mommsen, Max Weber u. die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 19742; ders., Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus, in: K. Holl u. G. List (Hg.), Liberalismus u. imperialistischer Staat. Der Imperialismus als Problem liberaler Parteien in Deutschland 1890-1914, Göttingen 1975, S. 109-47. Webers Freiburger Antrittsvorlesung von 1895, „Der Nationalstaat u. die Volkswirtschaftspolitik", die hier apostrophiert wird, in: M. Weber, Gesammelte politische Schriften, Tübingen 19582, S. 1-25. Neben Max Weber war Friedrich Naumann der wichtigste Hauptvertreter des linksliberalen Imperialismus im wilhelminischen Deutschland. - In das Erbe der „entschiedenen Liberalen" teilten sich die Deutsche Fortschrittspartei und die „Sezessionisten" um Lasker und Bamberger, die sich 1880 von der Nationalliberalen Partei getrennt und als „Liberale Vereinigung" konstituiert hatten. 1884 vereinigten sie sich mit der Deutschen Fortschrittspartei zur Deutsch-Freisinnigen Partei. 1893 trennten sich die ehemaligen Nationalliberalen wieder von dieser Partei und gründeten die Freisinnige Vereinigung, die dann 1910 in der neuen linksliberalen Einheitspartei, der Fortschrittlichen Volkspartei, aufging. Vgl. hierzu außer den Arbeiten von Matthes u. Seeber bes.: L. Elm, Zwischen Fortschritt u. Reaktion. Geschichte der Parteien der liberalen Bourgeoisie in Deutschland 1893-1918, Berlin 1968; K. Wegner, Theodor Barth u. die Freisinnige Vereinigung. Studien zur Geschichte des Linksliberalismus im wilhelminischen Deutschland (1893-1910), Tübingen 1968.-Auf den Funktionswandel des Nationalismus als allgemeinhistorisches Problem gehe ich ausführlicher ein in der Einleitung zu dem von mir herausgegebenen Band „Nationalismus" (auch in diesem Band, S. 52-80).

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Anmerkungen zu Seite 52-54 5. Der Nationalismus und seine Funktionen Der Beitrag ist erstmals erschienen als Einleitung zu dem von mir im Rahmen der „Neuen Wissenschaftlichen Bibliothek" herausgegebenen Band „Nationalismus" (Königstein/Taunus 1978, S. 5-46). Für die Erlaubnis zum Wiederabdruck danke ich der Verlagsgruppe Athenäum Hain - Scriptor - Hanstein. 1 Zum Vorstehenden insgesamt: H. Kohn, Die Idee des Nationalismus (The Idea of Nationalism, Ν. Υ. 1944), Frankfurt 1962. Kohn sieht die Ursprünge des „modernen Nationalismus" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Französische Revolution als seine erste „große Offenbarung" (9). Die Gegenthese vom Nationalismus im Mittelalter etwa bei: C. Tipton (Hg.), Nationalism in the Middle Ages, Ν. Υ. 1972; G. G. Coulton, Nationalism in the Middle Ages, in: CHJ, Bd. 5, 1935, S. 15-40; J. Huizinga, Wachstum u. Formen des nationalen Bewußtseins in Europa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, in: ders., Im Banne der Geschichte, Basel 19432 (Amsterdam 19421), S. 131-212; K. G. Hugelmann, Stämme, Nation u. Nationalstaat im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1956. Die von diesen Autoren genannten und als „nationalistisch" eingestuften Erscheinungsformen von archaischer Xenophobie unterscheiden sich m. E. durchwegs nicht qualitativ von einem vornationalen Stammesbewußtsein, wie es etwa in antipreußischen Ressentiments von Altbayern fortlebt. - E. Lemberg, Nationalismus, 2 Bde., Reinbek. b. Hamburg 1964, I, S. 35f., bezeichnet die Zeit seit der Renaissance global als „Zeitalter des Nationalismus", ohne plausibel machen zu können, daß vor 1789 Nationalismus als ein das politische Handeln bestimmender Faktor wirksam wurde. Widersprüchlich sind auch die Aussagen über das Verhältnis von Nationalismus und Universalismus im Mittelalter. Letzterer wird (I, S. 48)-im Zustand der Gefährdung-als „ebenfalls eine Art Nationalismus" bezeichnet. Der Nationalismus wird als „Bindekraft" gedeutet, „die nationale oder quasinationale Großgruppen integriert" (I, 20). Eine Hauptschwäche des überaus materialreichen und informativen Lembergschen Werkes liegt - worauf bereits in einer Rezension H. Mommsen (NPL, Bd. 11, 1966, S. 72-76) verwiesen hat - darin, daß es den Nationalismus von anderen Integrationsideologien nicht scharf genug abgrenzt und die jeweils erst noch zu erklärende Existenz nationaler Großgruppen bereits als gegeben voraussetzt. 2 Kohn, 116. Zum Nationalismus als Religionsersatz: C. J. H. Hayes, Nationalism as a Religion, in: ders., Essays on Nationalism, N. Y. 1926; ders., Nationalism: A Religion, Ν. Y. 1960. Zum Patriotismus vgl. den - zwischen Nationalismus und Patriotismus begrifflich nicht klar un­ terscheidenden, im übrigen scharfsinnigen - Aufsatz von R. Michels, Zur historischen Analyse des Patriotismus, in: ASS, Bd. 36, 1913, S. 14-43, 394-449. Viel schwächer vom gleichen Autor die ausführliche Arbeit: Der Patriotismus. Prolegomena zu einer soziologischen Theorie, München 1929. Ganz an der Oberfläche haften bleibt die impressionistische Südtirolstudie von L. W. Doob, Patriotism and Nationalism. Their Psychological Foundations, New Haven 1964. Zu den pietistischen Wurzeln des deutschen Patriotismus sehr gut: G. Kaiser, Pietismus u. Patriotismus im literarischen Deutschland, Frankfurt 1973. 3 Zur Begriffsgeschichte am besten: A. Kemiläinen, Nationalism. Problems Concerning the Word, the Concept and Classification, Jyväskylä 1964. Demnach taucht der Begriff „Nationalism(e)" erstmals bei Herder (1774:„. . . man nennts Vorurteil! Pöbelei! eingeschränkten Nationalism!", in: Sämtl. Werke V, 1891, S. 510) und danach bei dem Abbé Barruel (hier 1798 als Zitat des Illuminatengründers Adam Weishaupt) auf, wurde aber erst seit dem späten 19. Jahrhundert zum politischen Schlagwort. Vgl. hierzu auch: G. de Bertier de Sauvigny, Liberalism, Nationalism, Socialism: The Birth of Three Words, in: RP, Bd. 32, 1970, S. 147-66. 4 C. J. H. Hayes, The Historical Evolution of Modern Nationalism, N. Y. 1931 u. ö. Dem humanitären Nationalismus rechnet Hayes sowohl Rousseau als auch Herder zu, dem jakobinischen Robespierre und Napoleon, dem traditionellen Burke, Bonald und Friedrich Schlegel, dem liberalen Bentham, Guizot, Welcker, und Mazzini, dem integralen Comte, Taine, Barrès

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Anmerkungen zu Seite 54-56 und Maurras. Im Unterschied zu Hayes weist Kohn in seinem Aufsatz „Begriffswandel des Nationalismus" (Merkur, Bd. 18, 1964, S. 701-14) darauf hin, daß Rousseau geradezu als Vater des spezifisch politischen Nationalismus gelten kann, während Herder, der selbst kein Nationalist war, den Grund für die kulturelle Spielart des Nationalismus gelegt hat. - Eine Zusammenfassung von Nationalismusstudien von Hayes-Schülern enthält der Band Nationalism and Internationalism. Essays Inscribed to C. J. Η. Hayes, Ε. Μ. Earle (Hg.), Ν. Y. 1950. 5 Kohn, S. 309-14, 550-53; ders., Prelude to Nation-States: The French and German Experi­ ence, 1789-1815, Princeton 1967; F. Meinecke, Weltbürgertum u. Nationalstaat (= Werke, Bd. 5) München 1962 (19071); Ε. Renan, Qu'est-ce qu'une nation? Paris 1882, S. 27. Den klassischen Fall einer rein politischen Nation bildet nach wie vor die Schweiz; dazu: Kohn, S. 361-65. - Die Kohnsche Interpretation entwickelt weiter: L. L. Snyder, The Meaning of Nationalism, New Brunswick 1954, S. 117 ff.; Β. C. Shafer, Faces of Nationalism: New Realities and Old Myths, Ν. Υ. 1972. Zum Werk von H. Kohn vgl. jetzt auch: K. Wolf, Hans Kohn's Liberal National­ ism. The Historian as Prophet, in: JHI, Bd. 37, 1976, S. 651-72. Im Aufbau stark von Kohn ab­ hängig ist die populärwissenschaftliche, ganz der traditionellen Ideengeschichte verhaftete Darstellung nationalistischen Denkens von K. R. Minogue, Nationalismus, München 1970(Nationalism, London 1967), die sich auf einige Standardwerke der Sekundärliteratur stützt, ohne zu eigenen Typisierungen oder Periodisierungen zu gelangen. Selbständiger, aber sehr eklektizistisch u. rein ideengeschichtlich orientiert: E. Kedourie, Nationalism, London 1961 u. ö. Ebenfalls elektizistisch u. ganz unsystematisch: H. L. Koppelmann, Nation, Sprache u. Nationalismus, Leiden 1956. 6 Zum Vorstehenden etwa: J. Willequet, Belgischer Nationalismus?, in: Th. Schieder (Hg.), Staatsgründungen u. Nationalitätsprinzip, München 1974, S. 47-65; G. A. Kelly, Belgium: New Nationalism in an Old World, CP, Bd. 1, 1969, S. 343-65; J. Linz, Early State Building and Late Peripheral Nationalisms. Against the State: The Case of Spain, in: S. N. Eisenstadt and S. Rokkan (Hg.), Building State and Nations, 2 Bde., Beverly Hills 1973, II, S. 32-116; S. Payne, Catalan and Basque Nationalism, in: JCH, Bd. 6, 1971, S. 15-71; K. O. Morgan, Welsh Nationalism: The Historical Background, ebd., S. 153-72; K. B. Nowlan, Problems of Organization and Social Questions in the Irish National Movement, in: Th. Schieder (Hg.), Sozialstruktur u. Organisation europäischer Nationalbewegungen, München 1971, S. 53-63; G. Barany, Hungary: From Aristocratic to Proletarian Nationalism, in: P. F. Sugar u. I. J . Lederer (Hg.), Nationalism in Eastern Europe, Seattle 1969, S. 259-309. Zu Polen jetzt u. a. K. G. Hausmann, Der Nationalismus einer Adelsgesellschaft am Beispiel Polens, in: O. Dann (Hg.), Nationalismus u. sozialer Wandel, Hamburg 1978, S. 23-48, sowie A. Walicki, The Conception of Nation in the Polish Romantic Messianism, in: Dialectics and Humanism, Bd. 1, 1975, S. 103-19. Zum russischen Nationalismus, der infolge der strukturellen Unterentwicklung des städtischen Bürgertums eine emanzipatorische Phase kaum gekannt hat, insbes.: H. Rogger, National Consciousness in Eighteenth-Century Russia, Cambridge/Mass. 1960; L. Shapiro, Rationalism and Nationalism in Russian Nineteenth-Century Folitical Thought, New Haven 1967; E. C. Thaden, Conservative Nationalism in Nineteenth-Century Russia, Seattle 1964. Vorzüglich zur Analyse des Funktionswandels des russischen Nationalismus jetzt D. Geyer, Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer u. auswärtiger Politik 1860-1914, Göttingen 1978, S. 43-55, 211-38. 7 Kemiläinen, S. 125 ff.; F. Hertz, Nationality in History and Politics. A Psychology and Sociology of National Sentiment and Nationalism. London 19513, S. 85-87; H. Rothfels, Die Nationsidee in westlicher u. östlicher Sicht, in: Osteuropa u. der deutsche Osten, Köln 1956, S. 7-18. Vgl. zur Kritik an der Kohnschen Dichotomie auch: H. Mommsen u. A. Martiny, Nationalismus, Nationalitätenfrage, in: SDG, Bd. 4, Freiburg 1971, Sp. 648-69; R. Wittram, Der Nationalismus als Forschungsaufgabe, in: ders., Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954, S. 33-50; F. H. Hinsley, Nationalism and the International System, London 1973. Wissenschaftlich unzureichend ist die pauschale Apologie der osteuropäischen Nationalismen 302

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Anmerkungen zu Seite 56-60 bei K. Svmmons-Symonolewicz, Nationalist Movements: A Comparative View, Meadville 1970. 8 Th. Schieder, Typologie u. Erscheinungsformen des Nationalstaats in Europa, in: HZ, Bd. 202, 1966, S. 58-81 (das Zitat: S. 63; auch in: Winkler [Hg.], Nationalismus, S. 119-37). Schieder verweist selbst auf zahlreiche Überschneidungen der drei Typen - etwa der sezessionistischen Bewegungen in Polen und Südslawien, die zugleich Einheitsbewegungen bildeten. In Italien durchlief die nationale Bewegung zwischen 1789 und 1859 sogar alle drei Phasen der Nationalstaatsbildung (S. 66). Vgl. auch vom selben Verf.: Probleme der Nationalismus-Forschung, in: ders. (Hg.), Sozialstruktur, S. 9-18. 9 Wesentlich funktionalistischer als die hier diskutierte historische Typologie ist der Versuch von L. Wirth, Types of Nationalism, in: AJS, Bd. 41, 1936, S. 723-37, die Nationalismen aufzuteilen in einen hegemonialen, partikularistischen, marginalen und Minderheiten-Nationalismus. Ganz unbefriedigend ist die Typologie bei K. Symmons-Symonolewicz, Nationalist Movements: An Attempt to a Comparative Typology, in: CSSH, Bd. 7, 1964, S. 221-30. 10 Hierzu: Υ. Arieli, Individualism and Nationalism in American Ideology, Cambridge/ Mass. 1964; H. Kohn, American Nationalism, N. Y. 1970; ders. u. D. Waiden (Hg.), Readings in American Nationalism, N. Y. 1970; Th. N. Brown, Irish-American Nationalism 1870-1890, Philadelphia 1966; E. U. Essien-Udom, Black Nationalism, N. Y. 1969; Th. Draper, The Redis­ covery of Black Nationalism, London 19691 (1970). Zum Verhältnis von frühem Nationalismus u. Demokratie vgl. auch die Überlegungen von J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt 1976, S. 110 f. 11 H. Rothfels, Das erste Scheitern des Nationalstaats in Ost-Mittel-Europa 1848/49, in: ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959, S. 40-53; L. B. Namier, 1848: The Revolution of the Intellectuals, London 1946 (bes. zum Internationalismus der romantischen Nationalisten); W. Conze, Die Strukturkrise des östlichen Mitteleuropa vor u. nach 1919 in: VfZ, Bd. 1, 1953, S. 319-38; H. Seton-Watson, Nationalism and Multinational Empires, in: ders., Nationalism and Communism, London 1964, S. 3-35; C. A, Macartney, National States and National Minorities, Oxford 1934. 12 E. Viefhaus, Die Minderheitenfrage u. die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, Würzburg 1960, S. 13 f., 225 ff. (das Zitat: 225). 13 H. O. Ziegler, Die moderne Nation, Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931, bes. S. 233 ff. 14 K. Renner (= R. Springer), Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat. Teil 1: Das nationale Problem als Verfassungs- u. Verwaltungsfrage, Wien 1902; O. Bauer, Die Nationalitätenfrage u. die Sozialdemokratie, Wien 1907 (1924); V. I. Lenin, Die nationale Frage in unserem Programm (1903), in: ders., Werke, Bd. 6, Berlin (0) 1959, S. 452-61; ders., Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1914) ebd., Bd. 20, Berlin (0) 1961, S. 395-461 ;L V. Stalin, Marxismus u. nationale Frage (1913), in: ders., Werke, Bd. 2, Berlin (0) 1953, S. 266-333. Zur marxistischen u. sowjetmarxistischen Nationstheorie vgl. Mommsen u. Martiny, Sp. 623-95. Zur austromarxistischen u. sozialdemokratischen Diskussion der Nationalitätenfrage im allgemeinen u. zur Wirkungsgeschichte Renners im bes.: H. Mommsen, Die Sozialdemokratie u. die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Bd. 1, Wien 1963; R. Wittram, Die nationale Vielfalt als Problem der Einheit Europas, in: ders., Das Nationale, S. 9-32; H.-U. Wehler, Sozialdemokratie u. Nationalstaat, Göttingen 19712, S. 216-19. Rothfels, Das erste Scheitern, S. 40-53, verweist darauf, daß die Tradition einer kultur-autonomistischen Verbindung von subjektivem und objektivem Nationalitätsprinzip auf den Österreichischen Reichstag von Kremsier 1848 zurückgeht. 15 M. Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas, Prag 1968; ders., Das Erwachen kleiner Nationen als Problem der komparativen Forschung, in: Schieder (Hg.), Sozialstruktur, S. 121-39 (auch in: Winkler [Hg.], Nationalismus, S. 155-72). Vgl. auch: M. Gross, Der Einfluß der sozialen Struktur auf den Charakter der Nationalbewe-

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Anmerkungen zu Seite 60-62 gung in den kroatischen Ländern im 19. Jahrhundert, in: Schieder (Hg.), Sozialstruktur, S. 67-92. Für Italien bes.: R. Romeo, Risorgimento e capitalismo, Bari 1959; ders., Problemi storico-sociali del movimento nazionale in Italia, in: Schieder (Hg.), Sozialstruktur, S. 39-47; für das vormärzliche Deutschland jetzt etwa: J . J . Sheehan, Liberalism and Society in Germany 1815-1848, JMH, Bd. 45, 1973, S. 583-604. 16 E. H. Carr, Nationalism and After, N. Y. 1945. Carr stützt sich bei seinem Periodisierungsentwurf u. a. auf die Analyse von F. Borkenau, Socialism - National or International, London 1942, der ebenfalls den sozial-integrativen Effekt des Protektionismus betonte. Auf die Bedeutung, die die Wendung zum wirtschaftlichen Protektionismus auf die Entwicklung des Nationalismus gehabt hat, verweisen u. a. auch Hayes, Nationalism, S. 83, u. Shafer, Faces, S. 189 ff. Über die politischen Hintergründe der deutschen Schutzzollpolitik: Karl W. Hardach, Die Bedeurung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- u. Getreidezölle in Deutschland 1879, Berlin 1967, u. jetzt: M. Stürmer, Regierung u. Reichstag im Bismarckstaat 1871-1880, Düsseldorf 1974. Es scheint mir sinnvoll, der unterschiedlichen Funktion wegen zwischen den „Erziehungszöllen" in der Phase der Frühindustrialisierung und den (auf Dauer angelegten) Schutzzöllen nach der Industriellen Revolution, obwohl beide unter den Begriff „wirtschaftlicher Nationalismus" subsumierbar sind, klar zu unterscheiden. 17 H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit, Berlin 1967 (Frankfurt 19762); Η. Α. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974; H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19723; ders. (Hg.), Imperialismus, Köln 1970; W. J . Mommsen (Hg.), Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971. Zum Problem der Konkurrenzpanik jetzt etwa: R. Poidevin, Wirtschaftlicher u. finanzieller Nationalismus in Frankreich u. Deutschland, in, GWU, Bd. 25, 1974, S. 150-62. Zur Rolle der internationalen wirtschaftlichen Konkurrenz im Hochimperialismus: G. Ziebura, Sozialökonomische Grundfragen des deutschen Imperialismus vor 1914, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte Heute. Fs. H. Rosenberg, Göttingen 1974, S. 495-524. 18 Zum vormärzlichen Nationalismus als Modernisierungsideologie: R. M. Berdahl, New Thoughts on German Nationalism, in: AHR, Bd. 77, 1972, S. 64-80 (dt. in: Winkler [Hg.], Nationalismus, 1978, S. 138-54), sowie neuerdings O. Dann, Nationalismus u. sozialer Wandel in Deutschland 1806-1850, in: ders. (Hg.), S. 77-128. Für die Folgezeit: Η. Α. Winkler, Preußischer Liberalismus u. deutscher Nationalstaat, Tübingen 1964; ders., Bürgerliche Emanzipation u. nationale Einigung, in: H. Böhme (Hg.), Probleme der Reichsgründungszeit 1848-1879, Köln 19681, S. 226-42 (in diesem Band: S. 24-35); ders., Vom linken zum rechten Nationalismus: Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: GG, Bd. 4, 1978, S. 5-28 (in diesem Band: S. 36-51). Zum gewerblichen Mittelstand ders., Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus, Köln 1974, bes. S. 49-57; zum „neuen Mittelstand": I. Hamel, Völkischer Verband u. nationale Gewerkschaft, Frankfurt 1967. 19 Zur russischen Schutzzollpolitik jetzt bes. H. Müller-Link, Industrialisierung u. Außenpolitik. Preußen-Deutschland u. das Zarenreich, 1860-1890, Göttingen 1977; H.-U. Wehler, Bismarcks Imperialismus u. späte Rußlandpolitik unter dem Primat der Innenpolitik, in: M. Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1970, S. 235-64 (mit weiterer Lit.), sowie Geyer, bes. S. 116-30, Zum italienischen Nationalismus etwa: R. Molinelli, Per una storia del nazionalismo italiano, Urbino 1966, bes. S. 173-202; W. Schieder, Aspekte des italienischen Imperialismus vor 1914, in: W. J. Mommsen (Hg.), S. 140-71 (mit weiterer Lit.). Am intensivsten erforscht ist die Entwicklung des Nationalismus in Frankreich. Vgl. vor allem: J. Droz, Der Nationalismus der Linken u. der Nationalismus der Rechten in Frankreich (1871-1914), in HZ, Bd. 210, 1970, S. 1-13; R. Girardet, Le nationalisme français, 1871-1914. Textes choisis, Paris 1966; ders., Pour uneintroduction à l'histoire du nationalisme français, in: RFSP, Bd. 8, 1958, S. 505-28; Z. Sternhell, Maurice Barrès et le nationalisme français, Paris 1972; ders., Barrès et la gauche: Du boulangisme à la cocarde (1889-1895), in: Le Mouvement Social, Bd. 75, 1971, S. 77-130; ders., Paul Déroulède and the Origins of Modern French Nationalism, in: JCH, Bd. 6, 304

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Anmerkungen zu Seite 62-64 1971, S. 46-70; J . Néré, La crise économique de 1882 et le mouvement boulangiste, Ms., Paris 1959 (Überbetonung der „linken" Komponente im Boulangismus); W. C. Buthman, The Rise of Nationalism in France, Ν. Υ. 19702 (19391; traditionell ideengeschichtliche Studie über Maurras); R. Rémond, La droite en France de la première restauration à la Ve République, Paris 1963; D. Shapiro (Hg.), The Right in France 1890-1919, London 1962; E. Weber, The Nationalist Revival in France 1905-1914, Berkeley 1959; E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 19631, S. 61-190; Lemberg, Bd. 1, S. 195-200. 20 In den USA, die von Import und Export freilich weniger abhängig waren als Europa, gab es Schutzzölle bereits seit 1864; 1890 wurden diese nochmals erhöht. Unter dem Eindruck der „Großen Depression" steigerte sich der Protektionismus zur offenen, vor allem von den Republikanern angefachten Anglophobie. England war vor allem wegen seiner Rolle als Kapitalinvestor (Eisenbahnbau!) in den USA Zielscheibe von Angriffen aus dem agrarisch-populistischen Milieu, die erst nach der Rückkehr zur Prosperität nach 1896 allmählich nachließen. Hierzu: E. P. Crapol, America for Americans: Economic Nationalism and Anglophobia in the late Nineteenth Century, Westport 1973; Τ. Ε. Terrill, The Tariff, Politics, and American Foreign Policy, 1874-1901, Westport 1973. Großbritannien hat Schutzzölle erst nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt. Vgl. zum Gesamtproblem des wirtschaftlichen Nationalismus auch den klassischen Bericht des Royal Institute for National Affairs: Nationalism, London 1939, S. 240 ff. 21 Mit dieser Feststellung soll nicht die unhaltbare These J. A. Schumpeters (Zur Soziologie der Imperialismen [1919] in: ders., Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, S, 72-146) bestätigt werden, Nationalismus wie Imperialismus seien vorbürgerliche Relikte und der Kapitalismus seinem Wesen nach anti-imperialistisch. Richtig ist aber, daß die faschistischen Bewegungen nur dort Erfolg hatten, wo die bürgerliche Demokratie schwache Wurzeln geschlagen hatte und vorindustrielle Eliten - Adel, Militär, Bürokratie, Kirche - Rückversicherungspartner konservativer Industriekreise werden konnten. Dazu ausführlicher: Winkler, Mittelstand, S. 156-66. Zur nationalistischen Agitation der konservativen Agrarier im Kaiserreich: H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservativismus im wilhelminischen Reich 1893-1914, Bonn-Bad Godesberg 19752. Zu Rußland: Geyer, bes. S. 211-38; zu Italien: W. Schieder, S. 140-71. Als Varianten eines neuen „rechten" Nationalismus lassen sich, worauf H.-U. Wehler in seinem noch unveröffentlichten Aufsatz „Zur Funktion u. Struktur der nationalen Kampfverbände im Kaiserreich" (Diskussionsvorlage für die deutsch-polnische Historikerkonferenz in Freiburg, April 1978) hinweist, auch der amerikanische Nationalismus in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg u. der englische ,,Jingoismus" im späten 19. u. frühen 20. Jahrhundert begreifen. 22 Zum französischen Nationalismus der Restaurationszeit: H.-G. Haupt, Nationalismus u. Demokratie. Zur Geschichte der Bourgeoisie im Frankreich der Restauration, Frankfurt 1974, S. 144-302. Zum preußischen Liberalismus: Winkler, Preußischer Liberalismus, S. 65. 23 W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: H.-U. Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 19703 S. 407-36; R. Hilferding, zit. bei Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus, S. 10; G. Myrdal, Jenseits des Wohlfahrtsstaates, Stuttgart 1961, S. 123. Zu Myrdals These ist auch zu bemerken, daß es nach den Erfahrungen mit der Agrarpolitik der Europäischen Gemeinschaft kaum noch möglich ist, den Protektionismus in einen unauflösbaren Zusammenhang mit nationalstaatlichen Organisationsformen zu bringen. Zur Belastung der Arbeiterschaft u. der Begünstigung der Mittelschichten durch nationalen Protektionismus vgl. auch die am kanadischen Beispiel orientierte Analyse von A. Breton, The Economics of Nationalism, in: JPE, Bd. 72, 1967, S. 376-86. Zum Problem der nationalen Integration der Arbeiterklasse: D. Groh, Negative Integration u. revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des 1. Weltkrieges, 1909-1914, Berlin 19731; H.-U. Wehler, Sozialdemokratie u. Nationalstaat, Göttingen 19712; G. Roth, Social Democrats in Imperial Germany, Totowa 1963; Mommsen u. Martiny, Sp. 662. Zu O. Bauer: H. Mommsen, Die sozialistische Arbeiterbewegung u. die nationale Frage in der Periode der I. u. II. Internationale, in: Winkler 20Winkler,Liberalismus

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Anmerkungen zu Seite 65-68 (Hg.), Nationalismus, S. 85-94; ders., Sozialismus u. Nation. Zur Beurteilung des Nationalismus in der marxistischen Theorie, in: U. Engelhardt u. a. (Hg.), Soziale Bewegung u. politische Verfassung, Fs. W. Conze, Stuttgart 1976, S. 653-76. 24 Hierzu bes. M. R. Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966, der aber die Kontinuität des extremen Nationalismus seit dem späten 19. Jahrhundert unterschätzt. Zur sozialen Basis des Nationalsozialismus ferner: Th. Geiger, Die Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit, Bd. 7, 1930, S. 637-54. Zu den „militärischen Desperados" in den Führungsgruppen der faschistischen Bewegungen: W. Sauer, National Socialism: Totalitarianism or Fascism, in: AHR, Bd. 73, 1967, S. 404-24. Über das kriegerische Element im Faschismus allgemein: Nolte, bes. S. 505 ff. Das Hitler-Zitat nach: T. W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1975, S. 5. 25 K. Hildebrand, Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP u. koloniale Frage 1919-1945, München 1969, S. 767-75; F. Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, München 1966, S. 147-61; R. v. Albertini, Europäische Kolonialherrschaft 1880-1940, Zürich 1976. Zu den Nationalismen Europas u. der außereuropäischen Welt am Ende des Ersten Weltkrieges vergleichend: A. J . Mayer, Post-War Nationalisms 1918-1919, in: Past and Present, Nr. 34, 1966, S. 114-26. 26 Hierzu vor allem die Arbeiten von H. Rothfels: Zur Krise des Nationalstaates, in: ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, S. 124-45; ders., Gesellschaftsform u. auswärtige Politik, Laupheim, o. J . (1951); ders. Die deutsche Opposition gegen Hitler, Krefeld 19491 u. ö. 27 Dazu bes.: R. Krebs, Nationale Staatenbildung u. Wandlungen des nationalen Bewußtseins in Lateinamerika, in: Th. Schieder (Hg.), Staatsgründungen, S. 161-82; H.-J. Puhle, Nationalismus in Lateinamerika, in: W. Grabendorff (Hg.), Lateinamerika - Kontinent in der Krise, Hamburg 1973, S. 48-77 (auch in: Winkler [Hg.], Nationalismus, S. 265-85; mit weiterer Lit.); G. Masur, Nationalism in Latin America, N. Y. 1966; V. Alba, Nationalists Without Nations: The Oligarchy vs. the People in Latin America, N. Y. 1968. Als Beispiele von Studien über einzelne Länder: F. C. Turner, The Dynamic of Mexican Nationalism, Chapel Hill 1968; Ε. Halperin, Nationalism and Communism in Chile, Cambridge/Mass. 1965. 28 Hierzu vor allem: C. A. Johnson, Peasant Nationalism and Communist Power: The Emergence of Revolutionary China, 1937-1945, Stanford 1962, bes. S. 135-56 (dt. Auszug in: Winkler [Hg.], Nationalismus, S. 202-14). Zu den politischen Implikationen der Agrarfrage all­ gemein auch: Β. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur u. Demokratie, Frankfurt 1969 (Social Origins of Dictatorship and Democracy, Boston 1967). 29 Hierzu: R. H. Pfaff, The Function of Arab Nationalism, in: CP, Bd. 2, 1970, S. 147-67;B. Tibi, Nationalismus in der Dritten Welt am arabischen Beispiel, Frankfurt 1971 ; S. Avineri, Political and Social Aspects of Israeli and Arab Nationalism, in: Ε. Kamenka (Hg.), Nationalism: The Nature and Evolution of an Idea, Canberra 1973, S. 101-22 (dt. in Winkler [Hg.], Nationa­ lismus, S. 232-51). Vgl. ferner: M. J . Dakrouri, Emerging Nations: A Politico-Economic Study of Development: The Arab Pattern, Cairo 1967; M. Rodinson, Marxisme et monde musulman, Paris 1972, bes. S. 245-65, 453-554; N. A. Ziadeh, Origins of Nationalism in Tunisia, Beirut 1962. - Zu den Pan-Bewegungen im allgemeinen: F. Kazemdazeh, Pan Movements, in: IESS, Bd. 11, N. Y. 1968, S. 65-70. Zum Panafrikanismus u. a.: I. Geiss, Panafrikanismus. Zur Ge­ schichte der Dekolonisation, Frankfurt 1968. 30 Allgemein zu den Problemen des „nation-building" und der Staatsgründungen in Asien u. Afrika: K. W. Deutsch u. W. J. Foltz (Hg.), Nation-Building, N. Y. 1963; S. N. Eisenstadt u. S. Rokkan (Hg.), passim; S. Rokkan, Die vergleichende Analyse der Staaten- u. Nationenbildung: Modelle u. Methoden in: W. Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln 19713, S. 228-52; ders., Models and Methods in the Comparative Study of Nation-Building, in: T. J . Nossiter u. a. (Hg.), Imagination and Precision in the Social Sciences. Essays in Memory of P. Nettl, London 1972, S. 121-56; R. Emerson, From Empire to Nation: The Rise to Self-Assertion of Asian and African Peoples, Cambridge/Mass., 1960; ders., Nationalism and Political 306

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Anmerkungen zu Seite 68-71 Development, in: JP, Bd. 22, 1960, S. 3-29; D. A. Rustow, Α World of Nations: Problems of Political Modernization, Washington D. C , 1967; J. H. Kautsky (Hg.), Political Change in Underdeveloped Countries: Nationalism and Communism, N. Y. 19621 (19677); K. H. Silvert (Hg.), Expectant Peoples: Nationalism and Development, N. Y. 1963; J. Romein, Das Jahr­ hundert Asiens. Geschichte des modernen asiatischen Nationalismus, Bern 1958; E. Kedourie (Hg.), Nationalism in Asia and Africa, London 1970; J.-Y. Calvez, Racines sociales et économiques des nationalismes du Tiers Monde, in: RFSP, Bd. 15, 1965, S. 446-65; R. I. Rotberg, African Nationalism: Concept or Confusion, in: JMAS, Bd. 4, 1966,S.33-46 (dt. in: Winkler [Hg.], Nationalismus, S, 252-64); F. Ansprenger, Nationsbildung in Afrika in der ersten Dekade der Unabhängigkeit, in: Th. Schieder (Hg.), Staatsgründungen, S. 131-52. 31 Diese idealtypische Skizze der sozialen Faktoren antikolonialer Bewegungen wird im Einzelfall sicherlich zu modifizieren sein. Vgl. bes.: Th. Hodgkin, Nationalism in Colonial Africa, Ν. Υ. 19624 (19561); J. S. Coleman, Nationalism in Tropical Africa, in: APSR, Bd. 48, 1954, S. 404-26; ders., Nigeria-Background to Nationalism, Berkeley 1963; J. M. Lonsdale, Some Ori­ gins of Nationalism in East Africa, in: JAH, Bd. 9, 1968, S. 119-46; R. K. Tangri, The Rise of Nationalism in Colonial Africa: The Case of Colonial Malawi, in: CSSH, Bd. 10, 1967/68, S. 142-61; T. O. Ranger, Connexions Between Primary Resistance Movements and Modern Mass Nationalism in East and Central Africa, in: JAH, Bd. 9, 1968, S. 437-53, 631-41; I. Henderson, The Origins of Nationalism in East and Central Africa: The Zambian Case, in: JAH, Bd. 1, 1970, S. 591-603; Martin L. Kilson, Jr., Nationalism and Social Classes in British West Africa, in: JP, Bd. 20, 1958, S. 368-87; L. A. Langley, Pan-Africanism and Nationalism in West Africa, 1900-1945, Oxford 1973; I. Abu-Lughod, Nationalism in a New Perspective, in: H. J. Spiro (Hg.), Patterns of African Development, Englewood Cliffs 1967, S. 35-62; H. W. Stephens, The Political Transformation of Tanganyika 1920-67, Ν. Y. 1968; G. W. Shepherd, Jr., The Politics of African Nationalism: Challenge to American Policy, N. Y. 1962; R. I. Rotberg, The Rise of Nationalism in Central Africa: The Making of Malawi and Zambia 1873-1964, Cambridge/ Mass. 1965; E. Häckel, Afrikanischer Nationalismus. Macht u. Ideologie im Schwarzen Afrika, München 1974. Zu Asien vgl. u. a. W. F. Wertheim, Nationalism and Leadership in Asia, in: ders., East-West Parallels. Sociological Approaches to Modern Asia, Den Haag 1964, S. 85-101 (dt. in: Winkler [Hg.], Nationalismus, S. 189-201). Gegen die Verwendung des Begriffs „Bürgertum" (oder „Bourgeoisie") in Asien, für die Wertheim sich entschieden hat, lassen sich allerdings angesichts der schon von Max Weber herausgearbeiteten historischen Singularität des europäischen Stadtbürgertums erhebliche Bedenken geltend machen. Zu Asien ferner: D. Rothermund, The Phases of Indian Nationalism and Other Essays, Bombay 1970, bes. S. 13-26; M. N. Leifer (Hg.), Nationalism, Revolution and Evolution in South-East Asia, Zug 1970; Β. Η, Farmer, The Social Basis of Nationalism in Ceylon, in: JAS, Bd. 24, 1964/65, S. 431-39; A. D. Moscotti, British Policy and the Nationalist Movement in Burma, 1919-1937, Honolulu 1974; K. Karpat, An Inquiry Into the Social Foundations of Nationalism in the Otto­ man State: From Social Estates to Classes, from Millets to Nations, Research Mimeograph No. 3 a, Princeton 1973. Zur Karibik vgl.: C. C. Moskos, Jr., The Sociology of Political Independ­ ence. A Study of Nationalist Attitudes Among West Indian Leaders, Cambridge/Mass., 1967. Zur Rolle der Intellektuellen in den Entwicklungsländern: E. Shils, Intellectuals, Public Opinion, and Economic Development, in: WP, Bd. 10, 1958, S. 232-55; ders., The Intellectuals in the Political Development of the New States, ebd., Bd. 12, 1960, S. 329-68. 32 Wertheim, S. 93 f., Ansprenger, Nationsbildung, S. 142 f.; S. Gellar, State-Building and Nation-Building in West-Africa, in: Eisenstadt u. Rokkan (Hg.), II, S. 385-426; U. Himmelstrand, „Tribalism", Regionalism, Nationalism, and Secession in Nigeria, ebd., S. 427-67; M. Weiner, National Integration vs. Nationalism, in: CSSH, Bd. 15, 1973, S. 248-54. Zur Kritik des Nationalismus in den Entwicklungsländern: R. F. Behrendt, Soziale Strategie für Entwicklungsländer. Entwurf einer Entwicklungssoziologie, Frankfurt 1965; einschränkend dazu: Tibi, S. 44-59. Als Kampfruf gegen die „nationale Bourgeoisie": F. Fanon, Die Verdammten dieser

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Anmerkungen zu Seite 72-73 Erde, Frankfurt 19682 (Les damnés de la terre, Paris 1961), der der „Schmalspurbourgeoisie der unterentwickelten Länder" eine Disposition zum „Schmalspurfaschismus" attestiert. Zur Politik Sukarnos vgl. die glänzende Analyse von H. Luethy, Indonesia Confronted, in: Encounter, Bd. 25, 1965, S. 80-90; Bd. 26, 1966, S. 75-83, die Parallelen zwischen dem indonesischen Führer und dem italienischen Duce zieht. Zur Rolle des Nationalismus vor und nach der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit vgl. allgemein auch C. Geertz, After the Revolution: The Fate of Nationalism in the New States, in: B. Barber u. A. Inkeles (Hg.), Stability and Social Change, Boston 1971, S. 357-76. 33 Zu den grundsätzlichen Aspekten der europäischen Integration: Ε. Β. Haas, The Uniting of Europe, Stanford 1958; ders., Beyond the Nation-State. Functionalism and International Or­ ganization, Stanford 1964; C. J. Friedrich (Hg.), Politische Dimensionen der europäischen Gemeinschaftsbildung, Köln 1968. Zum Nationalismus in Westeuropa: G. van Benthem van der Bergh, Contemporary Nationalism in the Western World, in: Daedalus, Bd. 95, 196b, S. 828-61. Als Fallstudie über eine autonomistische Bewegung (außer den in Anm. 6 genannten Arbeiten): H. J. Hanham, Scottish Nationalism, London 1969, bes. S. 15-32. In gewisser Weise gehört auch der konfessionelle Gegensatz in Nordirland in diesen Zusammenhang, wo neben politischer Diskriminierung ein starkes Wohlstandsgefälle zwischen Protestanten und Katholiken zu den strukturellen Hintergründen der bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen gehört. Dazu etwa: J. C. Beckett, Northern Ireland, in: JCH, Bd. 6, 1971, S. 15-71. Im übrigen sind es nicht nur strukturschwache Gebiete, die zum Autonomismus tendieren, sondern mitunter auch die am höchsten entwickelten, die sich gegen auferlegte Rücksichtnahmen auf weniger entwikkelte Regionen wehren. Das letztere ist ein Faktor im katalanischen und baskischen Regionalismus (vgl. die Lit. in Anm. 6). In Jugoslawien sind offenbar die zentrifugalen Tendenzen am stärkten im höchstentwickelten Slowenien und im besonders rückständigen Makedonien. Hierzu: G. K. Bertsch, Nation-Building in Yugoslavia: Α Study of Political Integration and Attitudinal Consensus, Beverly Hills 1971. - Vgl. zu den europäischen Autonomiebewegungen der Gegenwart auch: C. Schöndube, Die Wiederentdeckung der nationalen Minderheiten in Westeuropa, in: APZ 1975, Nr. 18, S. 3-10 (u. a. Einzelstudien ebd.), sowie W. J. Feld, Subnational Regionalism and the European Community, in Orbis, Bd. 18, 1975, S. 1176-92. Zur wirtschaftlichen u. gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs: G. Ziebura (Hg.), Wirtschaft u. Gesellschaft in Frankreich seit 1789, Köln 1975. 34 Zum Sowjetpatriotismus: E. Oberländer, Sowjetpatriotismus u. Geschichte, Köln 1967; F. C. Barghoorn, Soviet Russian Nationalism, Ν. Υ. 1956; Κ. Mehnert, Weltrevolution durch Weltgeschichte. Die Geschichtslehre des Stalinismus, Stuttgart 1953; Mommsen/Martiny, Sp. 669-89. 35 Als Beispiel der beginnenden soziologischen Auseinandersetzung mit Problemen der Na­ tion siehe die Verhandlungen des Zweiten Soziologentages (1913) in: Nation u. Nationalität. Erster Ergänzungsband des Jahrbuchs für Soziologie, Karlsruhe 1927. M. Weber hat in Wirtschaft u. Gesellschaft (Studienausgabe, 2 Bde., Köln 1964) an getrennten Stellen einmal die „Nationalität" als ethnische Gemeinschaftsbeziehung (Bd. 1, S. 312-16), zum anderen die „Nation" als politische Gemeinschaft, die auf „Gemeinsamkeits- und Solidaritätsempfindungen" beruht (Bd. 2, S. 674-78), erörtert. 36 E. Gellner, Thought and Change, London 1964, S. 147-78. Gellner scheint mir das Beispiel einiger „new nations" vorschnell zu verallgemeinern, wenn er generell der Arbeiterklasse eine führende Rolle in den frühen nationalen Bewegungen zuschreibt und einen sprachlich argumentierenden Separatismus offenbar als Normalfall des Nationalismus ansieht. - A. D. Smith, Theories of Nationalism, London 1971, bes. S. 22-255 f.; ders., Nationalist Movements, London 1976; D. Fröhlich, Nationalismus u. Nationalstaat in Entwicklungsländern. Probleme der Integration ethnischer Gruppen in Afghanistan, Meisenheim 1970, S. 35, 106 f. Zu den sozialen Funktionen des Nationalismus in Entwicklungsländern sehr instruktiv: D. Rothermund, Nationalismus u. sozialer Wandel in der Dritten Welt, in: Dann (Hg.), S. 187-208. - Zum Vor308

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Anmerkungen zu Seite 74-76 stehenden auch: J. A. Fishman, Language and Nationalism, Rowley/Mass. 1973; ders. u. a. (Hg.), Language Problems of Developing Nations, Ν. Υ. 1968; S. Ν. Eisenstadt, Moderniza­ tion, Protest and Change, Englewood Cliffs 1968; D. Lerner, The Passing of Traditional Socie­ ty: Modernizing the Middle East, London 1958; R. Bendix, Nation-Building and Citizenship, N. Y. 1964; C. Geertz (Hg.), Old Societies and New States: The Quest for Modernity in Asia and Africa, N. Y. 1963; B. F. Hoselitz, Nationalism, Economic Development and Democracy, in: AAAPSS, Nr. 305, 1956, S. 1-11; E. B. Ayal, Nationalist Ideology and Economic Develop­ ment, in: HO, Bd. 25, 1966, S. 230-39. Zu den Modernisierungstheorien allgemein: H.-U. Wehler, Modernisierungstheorie u. Geschichte, Göttingen 1975; P. Flora, Modernisierungsforschung, Opladen 1974. 37 Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, Cambridge/Mass. 19531 u. ö.; vgl. vom selben Autor bes.: Der Nationalismus u. seine Alternativen (Nationalism and its Alternatives, Ν. Υ. 1969), München 1972; Nationenbildung-Nationalstaat- Integration, Düsseldorf 1972 (auszugsweise in: Winkler [Hg.], Nationalismus, S. 49-66). Als Kritik an der Methode von Deutsch doktrinär u. sachlich unzulänglich: P. W. Schulze, Zum Integrationsansatz von K. W. Deutsch - Versuch einer Kritik aus marxistischer Sicht, in: PVS, Bd. 14, 1973, S. 67-84. Als Beispiel einer fruchtbaren und kritischen Anwendung von Deutschs Modell auf konkrete historische Probleme ist u. a. die Arbeit von Hroch (Anm. 15) zu nennen. Die Zahl der amerikanischen Studien, die von Deutschs Theorie ihren Ausgang nehmen, ist Legion. Sie lassen freilich im quantifizierenden Übereifer häufig den Sinn für die historischen Dimensionen des Nationalismusproblems, die Deutsch souverän beherrscht, vermissen. Vgl. dazu etwa: Bertsch (Anm. 32). Auch bei R. L. Merritt, Symbols of American Community, 1735-1775, New Haven 1966, scheint mir der quantitative Aufwand in keinem angemessenen Verhältnis zum sachlichen Ertrag zu stehen. 38 Ansatzweise ist in einem der älteren Aufsätze von Deutsch eine soziale Analyse des wirtschaftlichen Nationalismus enthalten: Some Economic Aspects of the Rise of Nationalistic and Racial Pressure Groups, in: CJEPS, Bd. 8, 1942, S. 109-15. Es bedarf keiner näheren Beweisführung, daß manche von Deutsch genannten Kriterien der Mobilität - wie namentlich die an den Grad der Alphabetisierung gebundene Verbreitung von Zeitungen - spezifisch europäisch und auf die wenigsten Länder der „Dritten Welt" übertragbar sind. 39 K. Katz, The Psychology of Nationalism, in: J. P. Guilford (Hg.), Fields of Psychology, N. Y. 19401 (194811), S. 163-81. Vgl. auch ders., Nationalism and Strategies of International Conflict Resolution, in: H. C. Kelman (Hg.), International Behavior. A Socio-Psychological Analysis, N. Y. 1965, S. 354-90 (dt. Auszug in: Winkler [Hg.], Nationalismus, S. 67-84). Zum gleichen Problemkreis nach wie vor auch: T. W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, N. Υ. 19551 (dt.: Der autoritäre Charakter, 2 Bde., Amsterdam 1968/69). 40 Katz, Psychology, S. 165. Fraglich erscheint mir jedoch die These von Katz (Nationalism, S. 365 ff.), wachsende Bürokratisierung schwäche den „kompensatorischen" Nationalismus. Das deutsche Beispiel spricht nicht dafür. 41 Zur Frage nach der Obsoleszenz des Nationalismus vgl. jetzt auch: E. Hobsbawm, Some Reflections on Nationalism, in: Nossiter u. a. (Hg.), S. 385—406. 42 W. W. Rostow, The Stages of Economic Growth, A Non-Communist Manifesto, Cambridge 19712 (19601; dt.: Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen 19672). 43 Die wichtigsten hier nicht zu erörternden Einwände gegen Rostows Bestimmung des take-off sind enthalten in: ders. (Hg.), The Economics of Take-Off Into Sustained Growth, London 19631 (19716). Vgl. auch ders., Politics and the Stages of Economic Growth, Cambridge 1971; ferner: S. Kuznets, Towards a Theory of Economic Growth, in: ders., Economic Growth and Structure, London 1965; ders., Modern Economic Growth: Rate, Structure and Spread, New Haven 1966; A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Ν. Υ. 19652 (bes. zur Rolle des Staates in industriell verspäteten Gesellschaften). - Dem heuristischen Wert der Wachstumstheorien für die Analyse von Nationalismus u. Faschismus wird m. E.

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Anmerkungen zu Seite 77-78 nicht gerecht: K. Thöne, Entwicklungsstadien u. Zweiter Weltkrieg, Berlin 1974. Es ist erstaunlich, daß die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft dem Problem der Entwicklungsphasen und des Funktionswandels des Nationalismus nicht systematisch nachgegangen ist, obwohl Lenin 1915 (Werke, Bd. 21, S. 135) auf diese Probleme hingewiesen hat. Über den Zusammenhang von „take-off" und Imperialismus in Italien: W. Schieder, S. 140-71. 44 S. Rokkan, Dimensions of State Formation and Nation-Building, in: C. Tilly (Hg.), The Formation of Nation States in Western Europe, Princeton 1975, S. 562-600. Der von Tilly herausgegebene Band ist die vorerst letzte einer Reihe von Untersuchungen, die das Committee on Comparative Politics of the Social Science Research Council den Entwicklungskrisen im Rahmen von state-building u. nation-building gewidmet hat. Zum Problem der Krisen im Prozeß des nation-building ferner: A. F. K. Organski, The Stages of Political Development, Ν. Υ. 1967; L. W. Pye, Aspects of Political Development, Boston 1966; W. Schieder, S. 144.-Zur Radikali­ sierung u. rassischen Übersteigerung des deutschen Nationalismus bes.: H. Plessner, Die verspätete Nation, Stuttgart 19592, S. 128-45. In Italien vgl. die in Anm. 19 genannte Lit. Für Japan, das (ähnlich wie Rußland) keine Phase des „emanzipatorischen" Nationalismus erlebt hat, sondern während der Meiji-Restauration einen etatistisch-imperialen „Nationalismus von oben" als offizielle Industrialisierungsideologie einführte, bes.: M. Maruyama, Thought and Behaviour in Modern Japanese Politics, London 1969, bes. S. 135-56 (dt. Auszug in: Winkler [Fig.], Nationalismus, S. 215-31); I. Scheiner (Hg.), Modern Japan. An Interpretative Anthology, N. Υ. 1974; G. R. Storry, The Double Patriots. A Study of Japanese Nationalism, London 1956; D. M. Brown, Nationalism in Japan, Berkeley 1954. Ferner: Β. Martin, Aggressionspolitik als Mo­ bilisicrungsfaktor: Der militärische u. wirtschaftliche Imperialismus Japans 1931-1941, in: F. Forstmeier u. Η. Ε. Volkmann (Hg.), Wirtschaft u. Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Düsseldorf 1975, S. 222-44. - Daß ein autoritärer Nationalismus unter bestimmten sozio-kulturelien Voraussetzungen als Ideologie der partiellen Modernisierung oder Verwestlichung fungieren kann (wie in Japan seit der Meiji-Restauration von 1868), unter anderen als Ideologie zur Abwehr moderner Einflüsse aus dem Westen (wie in Japan zwischen dem frühen 17. Jahrhundert und der Meiji-Restauration und in China während des 19. Jahrhunderts), verweist auf die Notwendigkeit einer differenzierenden Analyse insbesondere der jeweiligen Eliten. Der Gegensatz zwischen „Westlern" und „Slawophilen" im Rußland des 19. Jahrhunderts zeigt, daß traditionalistische und modernisierende Varianten des Nationalismus in einem Lande auch gleichzeitig auftreten können. Die Beispiele des faschistischen Italien und des nationalsozialistischen Deutschland illustrieren die Möglichkeit, daß die gegensätzlichen Momente sogar innerhalb derselben nationalistischen Bewegung existieren. - Noch kaum erforscht ist, wenn man von Japan und China absieht, das Verhältnis traditionalistischcr und modernisierender Elemente in den Nationalismen der „alten Nationen" Asiens. Das gilt ζ. Β. für den interessanten Fall Thailands, das niemals formeller Kolonialherrschaft unterworfen gewesen ist. - Zur Industrialisierung nichtrevolutionierter Gesellschaften grundsätzlich auch: D. Rüschemeyer, Partielle Modernisierung, in: Zapf (Hg.), S. 382-96. 45 Zur Alternative expansiver u. intensiver Wachstumsprozesse: B. F. Hoselitz, Formen wirtschaftlichen Wachstums, in: ders., Wirtschaftliches Wachstum u. sozialer Wandel, Berlin 1969, S. 54-74 (auch in: ders., Social Aspects of Economic Growth, Glencoe 1969, S. 85-114). Das Problem der Überbevölkerung ist in der Tat ein reales heute nur für unterentwickelte Gesellschaften, die ohne durchgreifende Agrarreformen und eine gleichzeitige Kontrolle des Bevölkerungswachstums einen Ausweg aus ständigen Hungerkatastrophen nicht finden werden. Zur Wirtschaftsentwicklung nach 1945 auch: S. Kuznets, Postwar Economic Growth, Cambridge/Mass. 1964. Der Ausdruck „Daseinsverfehlung" stammt von E. Niekisch, Deutsche Daseinsverfehlung (1945), wieder abgedruckt in: ders., Politische Schriften, Berlin 1965, S. 67-146. 46 Im Hinblick auf Deutschland ist eine weitere Strukturveränderung wichtig: Das nationalistische Potential ist nach 1945 auch dadurch geschwächt worden, daß der Großgrundbesitz, eine wichtige Stütze aller nationalistischen Sammlungsbewegungen in Kaiserreich und Weimarer Re310

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Anmerkungen zu Seite 78-80 publik, auf dem Gebiet der Bundesrepublik keine erhebliche wirtschaftliche Rolle spielt. Für das Gebiet der DDR ist das Problem durch die Enteignung der Rittergüter bereits 1945 gelöst worden. Vgl. zum gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang der Zäsur von 1945: R. Dahrendorf, Gesellschaft u. Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 448 ff. 47 Aus den hier skizzierten Entwicklungen folgt nicht, daß man generell von einem „Ende der Ideologie" sprechen konnte, wie es D. Bell, The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Ν. Y. 19622, bes. S. 393-407, getan hat. Dennoch ist es wohl zutref­ fend, die Renaissance von Ideologien im intellektuellen Milieu, die sich seit Mitte der 1960er Jahre beobachten läßt, auch als Reaktion auf die (zeitweilige?) Entideologisierung der Verteilungskämpfe in einigen westlichen Ländern zu verstehen. - Zum Fall des durch ökonomische „Überfremdung", insbes. amerikanischen Kapitalbesitz, bedingten wirtschaftlichen Nationalismus in Kanada: H. G. Johnson, Economic Nationalism in Canadian Policy, in ders., (Hg.), Economic Nationalism in Old and New States, Chicago 1967, S. 85-97. Zum gleichen Problem auch die Studie von Breton (Anm. 22). 48 Die Identifikation der Bundesbürger mit ihrem politischen System, das sich durch den Grundlagenvertrag mit der DDR vom Dezember 1972 vollends seines ursprünglichen Selbstverständnisses als Provisorium entledigt hat, läßt sich vorbehaltlos als „Staatsbewußtsein" bezeichnen. Viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob das Bewußtsein von Eigenständigkeit, das notgedrungen auch die Bürger der DDR entwickelt haben, ebenso zu klassifizieren ist. Offen ist einstweilen auch, ob aus einem „Staatsbewußtsein" ein „Nationalbewußtsein", bezogen auf den jeweiligen Teilstaat, erwachsen wird. Die deutsche Nation, wie sie aus der kleindeutschen Lösung von 1866/71 entstand, war eine „Staatsnation" und mit der größeren deutschen „Kulturnation" nicht identisch. Auf die in der Bundesrepublik und der DDR lebenden Deutschen trifft weder der Begriff „Staats-" noch der Begriff „Kulturnation" zu. Je länger die Teilung Deutschlands dauert, desto mehr verblaßt die lebendige Erinnerung an die ehemalige deutsche „Schicksalsgemeinschaft" (im Sinne O. Bauers). Wohl kann intensivierte Kommunikation die Entfremdung zwischen beiden deutschen Staaten mindern. Aber die Möglichkeit, daß sich auf deutschem Boden zwei Nationen herausbilden, die an die Stelle der einen deutschen Nation (im politischen Sinne) treten, ist nicht von vornherein auszuschließen. Daß Nationen nichts „Ewiges" sind, daß sie entstehen und daß sie wieder vergehen können, dafür bietet die Geschichte eine Fülle von Beispielen. Die Zeit arbeitet nicht für die nationale Einheit Deutschlands. Die bundesdeutsche Politik kann dafür arbeiten - aber sie wird dabei realistischerweise nicht auf die Restauration eines souveränen Nationalstaates abzustellen haben, sondern auf Lösungen, die mit den Interessen der Weltmächte und der europäischen Völker vereinbar sind. Vgl. zum Vorstehenden u. a. auch G. Schweigler, Nationalbewußtsein in der BRD und der DDR, Düsseldorf 1973; P. C. Ludz, Deutschlands doppelte Zukunft. Bundesrepublik u. DDR in der Welt von morgen, München 19743. Enttäuschend: A. Ashkenasi, Modern German Nationalism, Ν. Y. 1976. 49 Hierzu etwa: S. Amin, Die ungleiche Entwicklung. Essay über die Gesellschaftsformation des peripheren Kapitalismus, Hamburg 1975. Wie in den meisten marxistischen Analysen wird hier allerdings einseitig die Abhängigkeit der nichtsozialistischen Länder der Dritten Welt von den kapitalistischen Industriestaaten des Westens in den Vordergrund gestellt. Vgl. hierzu auch die Beiträge in: D. Senghaas (Hg.), Imperialismus u. strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion, Frankfurt 1972, u. ders. (Hg.), Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung, Frankfurt 1974. Zur Kritik vgl. auch H.-J. Puhle (Hg.), Lateinamerika. Historische Realität u. Dependencia-Theorien, Hamburg 1977. Zum Problem struktureller Unterentwicklung siehe auch die Länderanalysen bei D. Nohlen u. F. Nuscheier (Hg.), Handbuch der Dritten Welt, 4 Bde., Hamburg 1974 ff. 5C Anders als die phänomenologische Betrachtungsweise, für die die Symbole des Nationalismus - wie Flaggen, Lieder, Aufmärsche, Denkmäler und Feste - im Mittelpunkt stehen (siehe dazu etwa L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Berlin 1976 [The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass

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Anmerkungen zu Seite 83-86 Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich, N. Y. 1975]) geht die sozialgeschichtliche Forschungsrichtung von der Frage aus, warum, wann und für welche Gruppen die Nation selbst zum emotionalen Identifikationsobjekt und damit zum Symbol wird. Erst im Zusammenhang mit dieser Frage erhalten die Symbole des Nationalismus dann auch für die Sozialgeschichte Bedeutung. 6. Der rückversicherte Mittelstand: Die Interessenverbände von Handwerk und Kleinhandel im deutschen Kaiserreich Der Aufsatz ist erstmals in dem Band „Zur soziologischen Theorie u. Analyse des 19. Jahrhunderts" (hg. v. W. Rüegg u. O. Neuloh, Göttingen 1971, S. 163-79) erschienen. Die wesentlichen Aussagen wurden erstmals im Herbst 1969 in Frankfurt auf einer Tagung über Interessenverbände und sozialen Wandel, veranstaltet vom Arbeitskreis „Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert" der Thyssen-Stiftung, vorgetragen. Die abschließenden Bemerkungen, die auf Thesen anderer Referenten Bezug nehmen, sind hier weggelassen worden. In stark erweiterter Fassung ist der Text dann als zweites Kapitel in mein Buch „Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik" (Köln 1972) eingegangen. In den vorliegenden Band habe ich den Aufsatz aufgenommen, um dem Leser ein einigermaßen abgerundetes Bild von der politischen Entwicklung des gewerblichen Mittelstandes vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik zu vermitteln. Der Anmerkungsapparat ist gegenüber der ursprünglichen Fassung erheblich ausgebaut worden. 1 Hierzu bes. E. Kehr, Zur Genesis des Königlich Preußischen Reserveoffiziers, in: ders., Der Primat der Innenpolitik, hg. v. H.-U. Wehler, Berlin 1965, S. 53-63; O. Stillich, Die politischen Parteien in Deutschland, 2 Bde., Leipzig 1911, Bd. 2, S. V., 105 ff.; W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert u. zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1927, S. 463; Th. Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution, London 1915 u. ö.; G. Ritter, Staatskunst u. Kriegshandwerk, 3 Bde., München 1954 ff., Bd. 2, S. 117 ff. 2 Grundlegend hierzu nach wie vor: H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf. Gesellschaft u. Politik in Mitteleuropa, Frankfurt 19762. 3 Sehr informativ zu den Anfangen handwerklicher Interessenorganisation im Kaiserreich ist immer noch: W. Stieda, Handwerk, in: HSt, 3. Aufl., Jena 1909, Bd. 5, S. 377-393; ferner: W. Wernet, Kurzgefaßte Geschichte des Handwerks in Deutschland, Dortmund 1953, S. 111 ff. 4 Für den Einzelhandel siehe die Darstellung von J. Wein, Die Verbandsbildung im Einzelhandel. Mittelstandsbewegung, Organisation der Großbetriebe, Fachverbände, Genossenschaften u. Spitzenverband, Berlin 1968. Die Arbeit von R. Gellately, The Politics of Economic Despair. Shopkeepers and German Politics 1890-1914, London 1974, ist vom Quellenmaterial her die bisher gründlichste Studie über die Kleinhandelsbewegung im Kaiserreich. Allerdings setzt G, der von Wein versuchten Typologie der Kleinhandelsverbände eher eine Chronologie als eine eigene Typologie entgegen. Seine Arbeit über die Detaillisten ist sehr vom Gegenstand geprägt: Sie ist überaus detaillistisch geraten. 5 Trotz der Kritik von Gellately (S. 87) möchte ich ausdrücklich daran festhalten, daß die Schutzverbände des Kleinhandels Produkte der Depressionsphase sind. Daß die meisten erst nach 1890 gegründet wurden, ist nicht erstaunlich. Der notorisch unterorganisierte Kleinhandel bedurfte des Vorbildes und der relativen Erfolge der protektionistischen Bewegung im besser organisierten Handwerk, um sich zu ähnlichen Zwecken zusammenzuschließen. Das „time lag" zwischen Handwerk und Kleinhandel ändert aber nichts daran, daß die protektionistischen Organisationen beider Gruppen im sozialpsychologischen Klima der „Großen Depression" ihre Wurzeln haben. 312

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Anmerkungen zu Seite 87-92 6 Zum Begriff und zur Bedeutung quasiständischer Interessenverbände siehe G. Schulz, Über Entstehung u. Formen der Interessengruppen, in: PVS, Bd. 2, 1961, S. 124-54. 7 Zit. bei Wein, S. 43. 8 Vgl. aus der zeitgenössischen Literatur bes.: C. Wilmanns, Die goldene Internationale u. die Notwendigkeit einer sozialen Reformpartei, Berlin 1876; W. Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum, Bern 187910; O. Glagau, Der Bankrott des Nationalliberalismus u. die Reaktion, Berlin 1878; ders., Deutsches Handwerk u. historisches Bürgertum, Osnabrück 1879; R. Meyer, Politische Gründer u. die Korruption in Deutschland, Leipzig 1877; F. Perrot, Das Handwerk, seine Reorganisation u. seine Befreiung von der Übermacht des Großkapitals, Leipzig 1876. Zu den Steuer- u. Wirtschaftsreformern bes. H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft u. Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln 19661, S. 400-04. Zum Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert jetzt zusammenfassend mit weiterer Lit. R. Rürup, Emanzipation u. Antisemitismus, Studien zur „Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975. 9 Glagau, Deutsches Handwerk, S. 80. 10 Hierzu vor allem: H. Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, S. 7-50; H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus im Wilhelminischen Reich (1893-1914), Bonn-Bad Godesberg 19752; ders., Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, Wiesbaden 1972. Die Zitate sind entnommen dem Artikel „Mittelstand" in: Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei, Berlin 19114, S. 270 ff. 11 So der sächsische Landtagsabgeordnete Spies nach einem Bericht der Dresdner Nachrichten vom 4. 6. 1907 (DZΑ Potsdam, RWM, Gewerbewesen 6/1 b, Bd. 3, Nr. 2116). Über Fritsch: R. Phleps, Theodor Fritsch u. der Antisemitismus, in: Deutsche Rundschau, Bd. 87, 1961, S. 442-49. Zur Gründung des Reichsdeutschen Mittelstandsverbandes vgl. jetzt bes. Gellately, S. 172 ff. Ferner: D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien u. Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschland. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln 1970, S. 249 ff., 331 ff. Zum Hansa-Bund siehe jetzt: S. Mielke, Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel u. Industrie 1909-1914. Der gescheiterte Versuch einer antifeudalen Sammlungspolitik, Göttingen 1976. 12 So der Leipziger Architekt Felix Höhne bei der Eröffnungsrede. Dresdner Anzeiger, 24726. 9. 1911. Auch abgedruckt in: Bericht über den Ersten Reichsdeutschen Mittelstandstag, abgehalten zu Dresden am 23. September 1911, Leipzig 1911. 13 Puhle, Agrarische Interessenpolitik, S. 163; Bericht vom Dritten Reichsdeutschen Mittelstandstag, Berlin 1913. Zum „Kartell der schaffenden Stände" auch die unterschiedlichen Bewertungen bei Stegmann, S. 360-67, und H. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft. Centralverband Deutscher Industrieller 1895-1914, Berlin 1967, S. 134-36. Stegmann betont gegenüber Kaelble mit Recht die Kontinuität des Bündnisses zwischen Junkertum und Schwerindustrie bis zum Ende des Kaiserreiches. Das organisatorisch letztlich gescheiterte „Kartell" von 1913 war aber m. E. lediglich ein Symptom dieser Tendenz und nicht etwa eine Weichenstellung. Aus Kaelbles Interpretation eine apologetische Tendenz herauszulesen, wie Stegmann es tut, ist abwegig. 14 Vgl. dazu F. Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 19643, S. 200 f. 15 Dazu Rosenberg, Große Depression, S. 88-117; Puhle, Agrarische Interessenpolitik, S. 111-40; sowie neuerdings R. S. Levy, The Downfall of the Anti-Semitic Political Parties in Imperial Germany, New Haven 1975. 16 Entschließung des Mittelstandsbundes für Hessen-Nassau (DZA Potsdam, Rdl, Gewerbewesen6/Ib, Bd. 13, Nr. 6309). 17 Th. Fritsch in seiner Eröffnungsrede zum 1. Reichsdeutschen Mittelstandstag, die darüber hinaus den „organischen Charakter des Staates und der Gesellschaft, das Prinzip der Harmonie

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Anmerkungen zu Seite 92-96 und des organischen Aufbaus" als Ideal der Mittelstandsbewegung proklamierte. Dresdner Anzeiger, 24. 9. 1911. 18 „Zersetzungserscheinungen im deutschen Bürgertum", in: Der Fortschritt, Heimatblatt für das sächsische Volk. Nachrichten der Mittelstandsvereinigung im Königreich Sachsen, Nr. 5 (Februar 1912). 19 Fritsch, Dresdner Anzeiger, 24. 9. 1911. 20 Höhne, ebd. 21 Berliner Neueste Nachrichten, 24, 4. 1912 (MA). 22 Zum Verhältnis von Hansa-Bund u. gewerblichem Mittelstand, vgl. jetzt bes. Mielke, S. 102-12. Zur ökonomischen Situation u. politischen Mentalität des Handwerks im kaiserlichen Deutschland siehe jetzt S. Angel-Volkov. The „Decline of the German Handicrafts" - A Reappraisal, in: VSWG, Bd. 61, 1974, S. 165-84; dies., The Social and Political Function of Late 19th Century Anti-Semitism: The Case of the Small Handicratt Masters, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte Heute, Fs. H. Rosenberg, Göttingen 1974, S. 416-31; dies. (= S. Volkov), The Rise of Popular Antimodernism. The Urban Master Artisans, 1873-1896, Princeton 1978; D. Blackbourn, The Mittelstand in German Society and Politics, 1871-1914, in: SH, Nr. 4, 1977, S. 409-33. Zum gleichen Thema jetzt auch A. Noll, Sozio-ökonomischer Strukturwandel des Handwerks in der zweiten Phase der Industrialisierung, unter bes. Berücksichtigung der Regierungsbezirke Arnsberg u. Münster, Göttingen 1975. Noll kommt abschließend zu dem bemerkenswerten Ergebnis: „Während das Handwerk sich im ökonomischen Bereich erfolgreich anpaßt, werden die sozio-kulturellen Leitbilder,zeremoniell weitergeschleppt und restauriert' (H. Schelsky). Die Ideologisierung der eigenen Position - staatstragend und zwischen den antagonistischen Klassen vermittelnd -, die Hinwendung zu einem paternalistisch-loyalen Sozialgefüge mit Kaiser und Thron stehen in einem merkwürdigen Gegensatz zur Realität" (S. 186). 23 Hierzu jetzt auch H.-P. Ullmann, Der Bund der Industriellen. Organisation, Hinfluß u. Politik klein- u. mittelbetrieblicher Industrieller im Deutschen Kaiserreich 1895-1914, Göttingen 1976. 24 DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 662, Nr. 130. 25 Zit. bei Stillich, Bd. 2, S. 183 f. 26 Dazu P. Molt, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, Köln 1961, S. 210 ff., sowie nach wie vor R. Blank, Die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands, in: ASS, Bd. 20, 1905, S. 507-53. 27 Deutsche Volk-Post. Zeitung für den Deutschen Mittelstand. Amtliche Nachrichten der Deutschen Mittestandsvereinigung, 29. 11. 1908. 28 Äußerung von Johann Janssen, Bremen. In: Bericht über die Generalversammlung des Zentralverbandes deutscher Vereine für Handel u. Gewerbe am 24. Oktober 1910 sowie über die gemeinschaftliche Tagung von Vereinigungen der Kleinhändler u. Kleingewerbetreibenden Deutschlands am 25. Oktober 1910 in Berlin, Berlin 1910, S. 46 (DZA Potsdam, Reichsamt des Innern, Gewerbewesen 6 1/b, Bd. 9, Nr. 6306). Zum Funktionswandel des Nationalismus vgl. meinen Aufsatz: Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: GG, Bd. 4, 1978, S. 5-28 (in diesem Band S. 36-51). 29 Zit. nach H. Herzfeld, Johannes v. Miquel, Detmold 1938, Bd. 1, S. 394. 30 Siehe dazu die Erklärung Delbrücks vor dem Reichstag am 5. 3. 1912, zit. bei L. Müffelmann, Die moderne Mittelstandsbewegung, Berlin 1913, S. 31 f. 31 So Herzfeld, Bd. 2, S. 520, zur Charakterisierung der Miquelschen Sammlungspolitik der 1890er Jahre. Zur Basis und Zielsetzung der Sammlungsbewegungen der 1890 Jahre, die unter Bismarck und Miquel alle „produktiven" Stände und politisch konservative ebenso wie liberale Kräfte zu erfassen versuchten, während das „Kartell der schaffenden Stände" sich bewußt gegen die im Hansa-Bund vereinigten liberalen Unternehmer wandte, siehe insbes. Puhle, Agrarische Interessenpolitik, S. 155 ff. 32 Vgl. hierzu wie zum folgenden ausführlicher H. A. Winkler, Pluralismus oder Protektio314

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Anmerkungen zu Seite 96-101 nismus? Verfassungspolitische Probleme des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich, Wiesbaden 1972 (in diesem Band, S. 163-74). 33 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, S. 158 ff. Zur generellen Kritik unter dem Aspekt der normativen rechtsstaatlichen Verfassungslogik: C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953, S. 538 ff. 34 O. Brunner, Stadt u. Bürgertum in der europäischen Geschichte, in: ders., Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 80-96. 35 Dazu insbes. W. Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung u. Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- u. Staatsauffassung des 19. Jahrhunderts, Berlin 1964, S. 11 ff., der auch auf die außerpreußische Entwicklung und auf die Fälle von Kontinuität zwischen mittelalterlichen Kaufmannsgilden und Handelskammern eingeht. 36 Vgl. hierzu K.-E. Born, Staat u. Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Ein Beitrag zur Geschichte der innenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches 1890-1914, Wiesbaden 1957, S. 135 ff. 37 Habermas, S. 159. 38 Hierzu H.-U. Wehler, Der Aufstieg des Organisierten Kapitalismus u. Interventionsstaates in Deutschland, in: H. A. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen u. Anfänge, Göttingen 1973, S. 36-57. 39 Über die integrierende Funktion des Nationalismus bei den Angestellten vgl. I. Hamel, Völkischer Verband u. nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893-1933, Frankfurt 1967, S. 195 ff. 40 Hierzu jetzt J . Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Göttingen 19782. 7. Vom Protest zur Panik: Der gewerbliche Mittelstand in der Weimarer Republik Der Aufsatz bildete meinen schriftlichen Beitrag zum Internationalen Symposium „Industrielles System u. politische Entwicklung in der Weimarer Republik", das vom 12. bis 17. 6. 1973 in Bochum stattfand. Er wurde zuerst veröffentlicht in: H. Mommsen, D. Petzina, B. Weisbrod (Hg.), Industrielles System u. politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 19741, S. 778-91. Eine ausführlichere Analyse des Themas enthält mein Buch: Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972. 1 R. Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, Wiesbaden 1968, S. 5. 2 J. Kocka, The First World War and the ,Mittelstand': German Artisans and White-Collar Workers, in: JCH, Bd. 8, 1973, S. 101-23; G. D. Feldman, German Business Between War and Revolution: The Origins of the Stinnes-Legien-Agreement, in: Entstehung u. Wandel der modernen Gesellschaft, hg. ν. G. Α. Ritter, Fs. f. H. Rosenberg z. 65. Geburtstag, Berlin 1970, S. 312-41; J. Wein, Die Verbandsbildung im Einzelhandel, Berlin 1968, S. 242; Winkler, Mittel­ stand, S. 65-83. 3 A. Rosenberg, Der Faschismus als Massenbewegung, in: O. Bauer u. a., Faschisismus u. Kapitalismus, Frankfurt 1967, S. 107 f. 4 Dazu neuerdings: L. Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Re­ publik, Düsseldorf 1972, S. 106-44. 5 Entschließung des Zentralausschusses der vereinigten Innungsverbände Deutschlands vom 26. November 1918. Zit. nach: NHZ, Jg. 23, 1918, Nr. 48 (14. 12.). 6 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Deutschen Handwerks- und Gewer315 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Anmerkungen zu Seite 101-109 bekammertages zu Hannover am 28./29. April 1919, Hannover 1919, S. 34; Die Deutsche Nationalversammlung in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, hg. v. E. Heilfron, Bd. 6, Berlin o. J., S. 4321 f. - Der seit 1900 bestehende Deutsche Handwerks- und Gewerbekammertag war die Dachorganisation der Handwerkskammern. Der Reichsverband des deutschen Handwerks war ein eingetragener Verein im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches, der u. a. als Dachverband von Handwerkerbünden und Eachverbänden fungierte. 7 W. v. Moellendorff, Der Aufbau der Gemeinwirtschaft. Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums vom 7. Mai 1919, Jena 1919; Rede von Meusch auf der 1. Tagung des Deutschen Genossenschaftsverbandes in Bad Nauheim am 21. April 1920, in: DHB, Jg. 14, 1920, Nr. 6 (15. 6.). 8 Ausführlicher zum Streit um die Reichshandwerksordnung: Winkler, Mittelstand, S. 84-99. Zu gemeinsamen Aktionen der Privatwirtschaft: C. Böhret, Aktionen gegen die ,Kalte Sozialisierung' 1926-1930, Berlin 1966. 9 Winkler, Mittelstand, S. 100-39; P. Wulf, Die politische Haltung des schleswig-holsteinischen Handwerks 1928-1932, Köln 1969; M. Schumacher, Mittelstandsfront u. Republik, Die Wirtschaftspartei - Reichspartei des deutschen Mittelstandes 1919-1933, Düsseldorf 1972. Die Wahlbewegungen, die im Text skizziert werden, vollzogen sich sämtlich nur im protestantischen Milieu. Die Wählerschaft der katholischen Parteien, des Zentrums u. der Bayerischen Volkspartei, blieb bis zur Novemberwahl von 1932 relativ konstant. 10 Bezeichnend für die Ambivalenz der mittelständischen Doppclfront gegenüber „Arbeit" und „Kapital" sind folgende Passagen aus einer Rede des stellvertretenden Syndikus der Handwerkskammer Dortmund, Scherer, auf einer Tagung des Westfälisch-Lippischen Handwerks am 15. 7. 1928 in Iserlohn: „Kapitalismus und Sozialismus (sind) . . . Gegensätze, in Wirklichkeit jedoch eines Geistes - eines Geistes, der allerdings unsere heutige Kulturwelt so gründlich beherrscht . . . In der Frage Privatwirtschaft oder Gemeinwirtschaft' stehen wir in einer Front mit dem sogenannten Privatkapitalismus, gegen den wir sonst im allgemeinen nicht die freundschaftlichen Gefühle hegen, die man bei uns annimmt." Der „große Bruder" des Privatkapitalismus sei „letzten Endes gar nicht unser Bruder", sondern „in ganz anderem Geiste, aus ganz anderem Blute gezeugt". DZA Potsdam, Reichskommissar für den Mittelstand, Handwerk 11, Bd. 7, Nr. 19. 11 Die Radikalisierung in den eigenen Reihen war ein häufiges Argument in den Eingaben der Spitzenverbände an die Reichsregierung. So verlangte beispielsweise am 18. 9. 1931 der Reichsverband des deutschen Handwerks unter Berufung auf Proteste des Nordwestdeutschen Handwerkerbundes von Reichskanzler Brüning dringend, bei Aufstellung künftiger Notverordnungen beteiligt zu werden. „Andernfalls müßten wir befürchten, daß die bisher von den Spitzenverbänden des Handwerks beobachtete Politik einer sachlich verantwortlichen Mäßigung keine Gefolgschaft im Handwerk selbst mehr finden wird." DZA Potsdam, Reichswirtschaftsministerium, Gewerbewesen 6/1 b, Bd. 24, Nr. 2058. - Zur Einschränkung der Gewerbefreiheit erklärte der wissenschaftliche Mitarbeiter des Kammertages, Dr. Wilhelm Wernet, am 1. 7. 1932 öffentlich: „Ist aber der Grundsatz der vollen Gewerbefreiheit praktisch aufgehoben, so sollte die Forderung nach ihrer grundsätzlichen Überwindung und Beseitigung nicht mehr erschrekken." DHB, Jg. 26, 1931, Nr. 13 (1. 7.). 12 Th. Geiger, Die Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit, Bd. 7, 1930, S. 637-54; M. R. Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966; A. Schweitzer, Die Nazifizierung des Mittelstandes, Stuttgart1970;H. Uhlig, Die Warenhäuser im Dritten Reich, Köln 1956; J. Kocka, Vorindustrielle Faktoren in der deutschen Industrialisierung, in: Das kaiserliche Deutschland hg. v. M. Stürmer, Düsseldorf 1970, S. 265-86; H. -J. Puhle, Von der Agrarkrise zum Präfaschismus, Wiesbaden 1972; Winkler, Mittelstand, S. 140-82; ders., Extremismus der Mitte?, in: VfZ, Bd. 20, 1972, S. 175-91 (auch in diesem Band, S. 205-17).

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Anmerkungen zu Seite 110-112 8. Der entbehrliche Stand: Zur Mittelstandspolitik im „Dritten Reich" Der Aufsatz wurde erstmals veröffentlicht im AfS, Bd. 17, 1977, S. 1-40. 1 D. Schoenbaum, Hitler's Social Revolution: Class and Status in Germany 1933-1939, Ν. Y. 1966 (dt.: Hitlers braune Revolution, Köln 1968); T. W. Mason, Arbeiterklasse u. Volksgemeinschaft. Dokumente u. Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975 (vgl. hierzu meine Rezension „Vom Mythos der Volksgemeinschaft", in: AfS Bd. 17, 1977, S. 484-90); ders., National Socialist Policies towards the Working Classes 1925-1939, Ph. D. Dissertation, Ms., St. Antony's College, Oxford 1971. Zu Mason ergänzend D. Winkler, Frauen arbeit im „Dritten Reich", Hamburg 1977, sowie dies., Frauenarbeit versus Frauenideologie, Probleme der weiblichen Erwerbstätigkeit in Deutschland 1930-1945, in: AfS, Bd. 17, 1977, S. 99-126. 2 Ich knüpfe hier und im folgenden an die knappe Skizze der nationalsozialistischen Mittelstandspolitik an, die ich in meinem Buch: Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, S. 183-87, vorgelegt habe. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: Mittelstandsbewegung oder Volkspartei? Zur sozialen Basis der NSDAP, in: W. Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland u. Italien im Vergleich, Hamburg 1976, S. 97-118. Zu Mittelstandsproblemen im nationalsozialistischen Deutschland siehe ferner besonders A. Schweitzer, Big Business in the Third Reich, London 1964, S. 1-296; ders., Die Nazifizierung des Mittelstandes, Stuttgart 1970 (= dt. Fassung der ersten vier Kapitel des zuvor genannten Buches); F. Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism 1933-1944, Ν. Υ. 19664 (19421), bes. S. 282-84; Η. Uhlig, Die Warenhäuser im Dritten Reich, Köln 1956; V. Chesi, Struktur und Funktion der Handwerksorganisation in Deutschland seit 1933, Berlin 1966; K. Bludau, Nationalsozialismus u. Genossenschaften, Hannover 1968; F. Schüler, Das Handwerk im Dritten Reich. Die Gleichschaltung u. was danach folgte, Bad Wörishofen 1951; H. Meusch, Das Handwerk im neuen Reich, in: JNS, Bd. 141, 1935, S. 301-31; Bd. 143, 1936, S. 454-83; A. R. L. Gurland u. a., The Fate of Small Business in Nazi Germany (= 78th Congress 1st Session Senate Committee Print No. 14), Washington, D. C., 1943. - Über die Landbevölkerung und die Agrarpolitik im „Dritten Reich" liegt inzwischen eine instruktive überblicksartige Darstellung vor: J. E. Farquharson, The Plough and the Swastika. The NSDAP and Agriculture in Germany 1928-1945, London 1976. Nach der Drucklegung dieses Bandes erschienen: F. Grundmann, Agrarpolitik im „Dritten Reich". Anspruch u. Wirklichkeit des Reichserbhofgesetzes, Hamburg 1979; A. v. Saldern, Mittelstand im „Dritten Reich". Handwerker - Einzelhändler-Bauern, Frankfurt 1979. 3 Hierzu ausführlicher: R. H. Rämisch, Die berufsständische Verfassung in Theorie und Praxis des Nationalsozialismus, phil. Diss. FU Berlin 1957; G. Schulz, Die Anfänge des totalitären Maßnahmenstaates, in: K.-D. Bracher u. a., Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln 19622, S. 634-40; H. A. Winkler, Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie u. Nationalsozialismus, in: VfZ, Bd. 17, 1969, S. 341-71 (wieder abgedruckt in: H.-J. Varain [Hg.], Interessenverbände in Deutschland, Köln 1973, S. 228-58, sowie in diesem Band, S. 175-94); ders., Mittelstand, S. 174f. Die Zitate aus: „Was will der gewerbliche Mittelstand?", Flugblatt des Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes, in: BA Koblenz, Sammlung Schumacher, 242 a; das „Wirtschaftliche Aufbauprogramm der NSDAP", in: G. Feder, Kampf gegen die Hochfinanz, München 1933, S. 375 f. Zu O. W. Wagener vgl. jetzt seine Erinnerungen: Hitler aus nächster Nähe. Ein Vertrauter berichtet, hg. ν. Η. Α. Turner jr., Berlin 1978. 4 Der neue Reichskanzler hatte in seiner ersten Besprechung mit den Vertretern des Reichs­ verbandes des deutschen Handwerks am 17. 2. 1933 diesen „einen Vertrauensmann an entschei­ dender Stelle" zugesagt. Am 21. 2. wurde dann der deutschnationale Reichstagsabgeordnete und

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Anmerkungen zu Seite 113-115 Handwerkskammersyndikus Erich Wienbeck zum „Reichskommissar für den Mittelstand" im Reichwirtschaftsministerium ernannt - ein (unter dem Namen „Reichskommissar für Handwerk und Kleingewerbe'') seit 1925 bestehendes, von einem Ministerialrat ausgeübtes Amt, das der Reichsverband des deutschen Handwerks in einem Schreiben an Hitler vom 2. 2. 1933 als „völlig unzulänglich" bezeichnet hatte und das nun lediglich dadurch aufgewertet wurde, daß Wienbeck den Rang eines Ministerialdirektors bekleidete. Ein „Staatssekretär für Handel, Handwerk und Gewerbe", wie ihn u. a, auch Renteln in einer Denkschrift gefordert hatte, wurde nicht berufen. Karl Zeleny, einer der beiden nationalsozialistischen Gleichschaltungskommissare im Handwerk und seit Mai 1933 stellvertretender Vorsitzender des Reichsstandes des deutschen Handwerks, sprach in einem Schreiben an den Staatssekretär der Reichskanzlei, Lammers, vom 8. 3. 1933 von einer „Komödie", die Hugenberg in der Frage des Staatssekretärs für Handwerk und Gewerbe gespielt habe. Heinrich Schild, der andere nationalsozialistische Gleichschaltungskommissar im Handwerk, Syndikus des Reichsverbandes des deutschen Schuhmacherhandwerks und später Generalsekretär des Reichsverbandes des deutschen Handwerks, beklagte in einem Brief an Zeleny, daß die NSDAP Hugenberg die ganze deutsche Wirtschaftspolitik überantworte; die „großkapitalistischen Kräfte und Beamten dieses Ministeriums, die der Schwerindustrie und dem Großkapitalismus nahestehen", seien schon „überreichlich gesät". Ähnlich argumentierten der Reichsverband des deutschen Schuhmacherhandwerks und der Norddeutsche Tischler-Innungsverband (in beiden Verbänden bekleidete Schild das Amt des Geschäftsführers) in gleichlautenden Briefen an Hitler vom 8. 3. 1933 (BA, R 43 II, 277). 5 BA, Sammlung Schumacher, 242 a. 6 Die Pressemitteilung über den Erlaß vom 29. 6. 1933 ist abgedruckt bei Bludau, S. 113, Anm. 324. Der Erlaß vom 7. 7. 1933 ist abgedruckt bei Uhlig, S. 111. In Punkt 16 des Parteiprogramms von 1920 hatte die NSDAP die sofortige Kommunalisierung der Groß Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende gefordert. - Zur Stimmung im gewerblichen Mittelstand im Sommer 1933 vgl. auch Schoenbaum, S. 140. 7 Führerbriefe der N. S. Hago, hg. vom Schulungsleiter, Folge 1,1.9. 1933, in: BA, Sammlung Schumacher, 242 a. Zu den Machtverschiebungen im Frühsommer 1933: Schulz, S. 639—41. 8 Dazu ausführlich die Analyse von Mason, Arbeiterklasse, passim. 9 Vgl. hierzu Schulz, S. 647-55; I. Esenwein-Rothe, Die Wirtschaftsverbände von 1933-1945, Berlin 1965, S. 60-77. Der Deutsche Industrie- und Handelstag wurde 1934 durch die „Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern in der Reichswirtschaftskammer" abgelöst. Diese Arbeitsgemeinschaft bestand neben den Reichsgruppen Handel und Industrie, die ebenso wie der Reichsstand des deutschen Handwerks, die Reichsgruppe Handwerk und der Deutsche Handwerks- und Gewerbekammertag der Reichswirtschaftskammer als der Dachorganisation der gewerblichen Wirtschaft angehörten. 10 Renteln hatte sich vergeblich Hoffnungen auf die Leitung der Reichswirtschaftskammer gemacht. Statt seiner ernannte der geschäftsführende Reichswirtschaftsminister Schacht den Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Hannover, Ewald Hecker, zum Präsidenten der Reichswirtschaftskammer. Renteln leitete weiterhin - bis 1936 - das Hauptamt N. S. Hago in der obersten Reichsleitung der NSDAP, wobei freilich seine Kompetenzen in der Kleingewerbepolitik durch die 1934 gegründeten Reichsbetriebsgemeinschaften Handel und Handwerk in der DAF eingeschränkt wurden. Leiter der Betriebsgemeinschaft Handwerk war bis 1936 in Personalunion der Leiter des Reichsstandes des deutschen Handwerks, Reichshandwerksmeister W. G. Schmidt (Wiesbaden). Renteln seinerseits war gleichzeitig Stabsleiter der DAF und damit Ley unmittelbar unterstellt. Er hat im Sommer 1933 ganz offensichtlich einen Positionswechsel von einer traditionell-protektionistischen Mittelstandspolitik hin zu den vom „Primat der Politik" geprägten Richtlinien Leys vollzogen. Im April 1937 verfaßte Renteln sogar ein „Gutachten zur Warenhausfrage", in dem er darauf verwies, daß die Warenhäuser nach ihrer „Entjudung" 318

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Anmerkungen zu Seite 116-119 auch positiv verwertbar seien, namentlich für wehrpolitische Zwecke (ΒΑ/MA Freiburg WI F 5/1244). Zur Organisation der gewerblichen Wirtschaft: Esenwein-Rothe, passim. 11 Zum Sozialprotektionismus der Präsidialkabinette und der Deutschnationalen ausführlich Winkler, Mittelstand, S. 121-51. Den Höhepunkt der Mittelstandsschutzpolitik der Präsidialregierungen bildete die auf Druck vor allem der süddeutschen Regierungen zustande gekommene Notverordnung des Reichspräsidenten vom 23. 12. 1932: Sie verhängte eine allgemeine Einrichtungs-, Erweiterungs- und Verlegungssperre für Einheitspreisgeschäfte bis zum I. 4. 1934. 12 Zur Ablehnung des Antrags auf eine Einrichtungssperre im Handwerk: Th. Keitel, Zurück zur geschlossenen Zunft? Ein Beitrag zur Frage der Ordnung des deutschen Handwerks, in: SP, Bd. 43, 1934, Nr. 14 (5. 4.), S. 419-22. Zur Reichswehrforderung nach Pflichtorganisation: Schweitzer, Big Business, S. 254. Bereits Hugenberg hatte im Mai 1933 den Generalsekretär des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, Hans Meusch, um die Vorlage eines Entwurfs für die Pflichtorganisation des Handwerks ersucht. Schmitt hatte die Frage zunächst vertagt und sich am 18. 10. 1933 erstmals öffentlich zu Zwangsinnungen bekannt (DHB, Jg. 27, 1933, Nr. 21 [1. 11.], S. 401 f.). Wie Schüler (S. 17 f.) berichtet, ist es Ley im letzten Augenblick gelungen, die Einbeziehung der Gesellen in die Innungen und damit in den Organisationsaufbau des Handwerks und der gewerblichen Wirtschaft zu verhindern. - Nicht durchsetzen konnte sich das Handwerk mit seiner alten Forderung, den Innungen auch ein Preisfestsetzungsrecht einzuräumen. Hierzu wie zum Erfolg der Großindustrie in der Kartellfrage: Schweitzer, Big Business, S. 184-96. Vgl. auch ders., Der organisierte Kapitalismus. Die Wirtschaftsordnung in der ersten Periode der nationalsozialistischen Herrschaft, in: HJWG, Bd. 7, 1962, S. 32-47. Eine bemerkenswerte Konzession an Handwerkstraditionen ist aber, daß den Innungen (in Abweichung vom strikten Führerprinzip) für eine Reihe von Fragen ein Beschlußfassungsrecht eingeräumt wurde. Vgl. § 21 der Ersten Verordnung über den vorläufigen Aufbau des deutschen Handwerks vom 19. 6. 1934, in: RGBl. 1934, I, S. 497. 13 Zur Frage der Abgrenzung zwischen Handwerk und Industrie vgl. die Berichtein: SP, Bd. 45, 1936, Nr. 12 (20. 3.), S. 366 f.; Nr. 22 (29. 5.), S. 635 f.; Bd. 46, 1937, Nr. 23 (4. 6.), S. 677-79. Zur Einführung des Großen Befähigungsnachweises allgemein: E. Schindler, Das neue Handwerksrecht, ebd., Bd. 44, 1935, Nr. 8 (21. 4.), S. 233-36; Nr. 10 (7. 3.), S. 293-300. Ferner: Was sind handwerkliche Nebenbetriebe? in: DV, Bd. 11, 1937, Nr. 27 (2. 4.), S. 1306. Zum Konflikt Schacht-Ley siehe ausführlicher unten den Abschnitt II. Zur grundsätzlichen Kritik am Großen Befähigungsnachweis als monopolistischer Produktionsbeschränkung: E. Tuchtfeldt, Gewerbefreiheit als wirtschaftspolitisches Problem, Berlin 1955; Ch. Watrin, Der Befähigungsnachweis im Handwerk u. Einzelhandel unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der Bundesrepublik, wiso. Diss. Köln 1957, bes. S. 165 ff. 14 BA, R 43 II/273. Eine Verordnung vom 11.7. 1933, auf die Feder ausdrücklich hinwies, hatte die obersten Landesbehörden bereits ermächtigt, Erfrischungsräume und Restaurants in Warenhäusern wesentlich einzuschränken. Anläßlich der Reichshandwerkswoche erklärte Reichswirtschaftsminister Schmitt am 18. 10. 1933, bei den großen Werten, die in Warenhäusern und Konsumvereinen angelegt seien, könne „blinder Übereifer nie wieder gut zu machenden Schaden anrichten". Die planmäßige Verwirklichung der nationalsozialistischen Ziele werde aber dazu führen, daß diese Unternehmungen den gewerblichen Mittelstand nicht mehr überwucherten. Der Text der Redein: DHB, Jg. 27. 1933, Nr. 21 [1. 11.], S. 401 f. -Zur Tietz-Sanierung: Uhlig, S. 115. 15 R. Ley, Die Konsumvereine im neuen Staat, in: Führerbriefe der N. S. Hago, Folge 2, 11. 9. 1933 (abgedruckt aus: VB, 8. 9. 1933 [Norddeutsche Ausgabe]); N. S. Hago, Kreisschulungsleiter Karl Becker, Aschaffenburg, den 5. 3. 1934: „Bericht über die Werbemaßnahmen und Propaganda des Konsumvereins e. GmbH. für Aschaffenburg u. Umgebung" (BA, Sammlung Schumacher, 242 a). Die Orthographie und Interpunktion sind originalgetreu. 16 BA, Sammlung Schumacher, 242 a. 17 Über die Phasen der nationalsozialististischen Judenpolitik: U. D. Adam, Judenpolitik im

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Anmerkungen zu Seite 120-123 Dritten Reich, Düsseldorf 1972, bes. S. 82-90; H. Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, Göttingen 1966. Zu Realität und Mythos der „zweiten Revolution" und damit zur Vorgeschichte des sog. ,,Röhm-Putsches": M. Broszat, Der Staat Hitlers (= dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 9) München 19712, S. 244-300. 18 BA, R 43 II/820 b; BA/MA, Wi I F 5, 1244. Schacht argumentierte gegenüber Heß am 12. 12. 1934, daß die von der Kommission für Wirtschaftspolitik (der früheren Wirtschaftspolitischen Abteilung) verfügte Einschränkung der genossenschaftlichen Werbung besonders die großstädtischen Konsumvereine treffe. Insgesamt seien von einer Auflösung der Konsumvereine der Verlust von 180 Millionen Reichsmark Spargeldern, die Zunahme der Erwerbslosigkeit von 65 000 Volksgenossen und „schwerste politische Rückwirkungen innerhalb der Arbeiterschaft" zu befürchten (BA, R 43 II/820). Die Kommission für Wirtschaftspolitik bei der Reichsleitung der NSDAP wurde nach Wageners Entlassung von Bernhard Köhler geleitet. - Zu den Konsumvereinen ausführlicher: Bludau, S. 120-33. 19 Uhlig, S. 172-90. 20 Die erste Besprechung zwischen Vertretern des Reichsverbandes des deutschen Handwerks und dem neuen Reichskanzler fand am 17. 2. 1933 statt. Bei dieser Gelegenheit brachte Hitler laut Pressemitteilung „seine vorbehaltlose Überzeugung von der entscheidenden Bedeutung des gewerblichen Mittelstandes für den Wiederaufbau von Wirtschaft und Volksgemeinschaft zum Ausdruck". In einem Empfang für die Präsidenten der Reichsstände des deutschen Handels und des deutschen Handwerks am 29. 5. 1933 erklärte Hitler, die bisher geleisteten Arbeiten seien erst der Anfang all der Maßnahmen, die im Interesse der Stände zu leisten seien. „Es würde eine jahrzehntelange Arbeit erforderlich sein, um das Werk zum Abschluß zu bringen. Die Herren möchten nicht aus dem Auge lassen, daß die Bedürfnisse des Lebens die Dinge gestalten müßten; sie sollten nicht davor zurückschrecken, getroffene Einrichtungen zu beseitigen, wenn sie mit den Bedürfnissen des Lebens nicht mehr im Einklang ständen. Die innere Umbildung des Menschen erfordere eine beharrliche Tätigkeit, die selbst vor Fehlschlägen nicht zurückschrecken dürfe. Wenn ungesunde Erscheinungen aufträten, dann müßten diese ausgemerzt werden" (BA, R 43 1/283). - Das Grußwort Hitlers an die deutschen Handwerker vom Juni 1935 ist abgedruckt in: DH, Jg. 4, 1935, Nr. 25 (21. 6.), S. 466. 21 BA, R 43 II/273, 285. 22 Zahlreiche Beschwerden, u. a. des Molkereigcwerbes, des Textileinzelhandels und der Teigwarenhändler, aus den Jahren 1933 bis 1935 in: BA, R 43 II/273. Ebd. auch die von Hans Frank verfaßte Zurückweisung eines Protestes des Deutschen Buchdruckervereins gegen die Tätigkeit der Gefängnisdruckereien durch das Bayerische Staatsministerium der Justiz vom 17. 11. 1933. - Zu den Maßnahmen Renteins vom Dez. 1935: BA, Sammlung Schumacher, 242 a. Zur Auflösung der N. S. Hago: Uhlig, S. 163 f. 23 Hierzu insbesondere W. Petwaidic, Die autoritäre Anarchie, Hamburg 1946; H. Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966; R. Bollmus, Das Amt Rosenberg u. seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970; P. Diehl-Thiele, Partei u. Staat im Dritten Reich, München 1971; M. Broszat, Soziale Motivation u. Führerbindung im Nationalsozialismus, in: VfZ, Bd. 18, 1970, S. 392-409; ders., Staat Hitlers, passim. Gegen eine Überbewertung der „Kompetenzanarchie" und des (bes. von H. Mommsen betonten) ziellosen Opportunismus bei Hitler: K. D. Bracher, Die deutsche Diktatur, Köln 19691, S. 251 ff.; ders., Tradition u. Revolution im Nationalsozialismus, in: ders., Zeitgeschichtliche Kontroversen, München 19762, S. 62-78. Sehr abgewogen die zusammenfassende Analyse von P. Hüttenberger, Nationalsozialistische Polykratie, in: GG, Bd. 2, 1976, S. 417—42. Zum Primat der Politik oder Ökonomie bes.: T. Mason, Der Primat der Politik - Politik u. Wirtschaft im Nationalsozialismus, in: Das Argument, Bd. 8, 1966, Nr. 41, S. 473-94, sowie die Kontroverse zwischen Mason u. den DDR-Historikern E. Czichon, D. Eichholtz und K. Gossweiler, ebd., Bd. 10, 1968, Nr. 47, S. 168-227. 24 Broszat, Staat Hitlers, S. 218-30; Schulz, S. 652-55; Schweitzer, Big Business, S. 134-47. 320

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Anmerkungen zu Seite 123-126 Schweitzers Darstellung ist vielfach irrig. Es ist unzutreffend, daß Schacht die Nationalsozialisten daran gehindert habe, die Handwerkskammern in den Reichsstand des deutschen Handwerks zu inkorporieren, und daß er das Handwerk als selbständigen Stand eliminiert und der Kontrolle von „big business" unterstellt habe. Vielmehr hat Schacht die relative Selbständigkeit des Handwerks gegenüber der DAF verteidigt und damit die Basis der gewerblichen Wirtschaft im Kampf um den Primat der Politik verbreitert. 25 Schild hat in einem privaten Brief an den Ministerialrat in der Reichskanzlei, Willuhn, vom 24. 9. 1934 seinen „Fall" geschildert und (vergeblich) um ein Gespräch mit Hitler gebeten. Nach diesem Bericht ist Schacht vor allem dadurch provoziert worden, daß Renteln, der Stabsleiter der DAF und des „Hauptamtes N. S. Hago", im Auftrag Leys den - vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda bereits genehmigten- ,,Tag des Handwerks" verbot, weil das öffentliche Auftreten des Handwerks nur unter Führung der N. S. Hago stattfinden dürfe (BA, R 43 II/273). Der „Tag des Handwerks" fand am 28. 10. 1934 in Gegenwart von Schacht und Ley in Braunschweig statt - organisiert vom Reichsstand des deutschen Handwerks und der N. S. Hago. Vgl. dazu die Berichte in: DHB, Jg. 28, 1934, Nr. 22 (15. 11.), S. 449-54. Zur Entfernung Zelenys: ebd., Nr. 19 (1. 10.), S. 371. Zu den „Opfern" der Schachtschen Personalpolitik und damit des Kampfes gegen die „zweite Revolution" gehörte auch Staatssekretär Gottfried Feder, der anschließend sogar seine Parteiämter verlor. Dazu: Schweitzer, Big Business, S. 209. 26 Ley selbst war als ehemaliger Lebensmittelchemiker bei I. G. Farben ein Exponent des „neuen Mittelstandes" der Angestellten. Zur Kontinuität von nationalen Angestelltengewerkschaften und DAF ist heranzuziehen der Bericht über den Ersten Deutschen Angestelltenkongreß am 19. 5. 1933 mit den dort-u. a. von Ley-gehaltenen Reden (W. Τ. Β., 19. 5. 1933, in: BA, R 43 II/527 b.). Ob der Einfluß der ehemaligen Funktionäre nationaler Angestelltengewerkschaften in der DAF mit der Übertragung des neuen Amtes für Berufserziehung an Karl Arnhold endete (wie Schweitzer, Big Business, S. 179 f. andeutet), muß einstweilen offenbleiben. Die ideologische Kontinuität zwischen nationalen Angestelltengewerkschaften und DAF endete jedenfalls nicht im Herbst 1935. - Zur nationalen Angestelltenideologie etwa: I. Hamel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale HandlungsgehilfenVerband 1893-1933, Frankfurt 1967. Zur Entmachtung der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation (NSBO): H.-G. Schumann, Nationalsozialismus und Gewerkschaftsbewegung, Hannover 1958, S. 87-93 (auch S. 173-75 der Text der Verordnung vom 24. 10. 1934); Broszat, Staat Hitlers, S. 180-207; Mason, National Socialist Policies, S. 214 ff. Zum Gesetz über die Ordnung der nationalen Arbeit vgl. ders., Zur Entstehung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. 1. 1934, in: H. Mommsen u. a. (Hg.), Industrielles System u. politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 322-51. 27 Dazu etwa: W, Bohnstedt, Sozialpolitische Selbstverwaltung, in: SP, Bd. 44, 1935, Nr. 14 (4. 4.), S. 393-98. Der Text des Leipziger Abkommens etwa in: Organisationsbuch der NSDAP, he. v. Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München 19437, S. 474 f. 28 Zu Schachts Politik gegenüber Ley: Η. Schacht, 76 Jahre meines Lebens, Bad Wörishofen 1953, S. 432-35. - Der Titel „Reichshandwerksmeister" geht auf eine Anordnung Leys vom 17. 10. 1934 zurück, die allen politischen Leitern in der NSDAP und ihren Organisationen die Bezeichnung „Führer" untersagte (DHB, Jg. 28, 1934, Nr. 20 [15. 10.], S. 433). Zur Rolle W. G. Schmidts ausführlich: Schüler, Handwerk im Dritten Reich, S. 42 ff. - Zur Entlassung Schmidts, die offiziell mit seinem Gesundheitszustand und beruflicher Belastung begründet wurde, und zum Streit um den Nachfolger: BA, R 43 II/274 a. Ley hatte zunächst den Handwerkskammerpräsidenten Rehm (Augsburg) für das Amt des Reichshandwerksmeisters vorgeschlagen - eine Kandidatur, von der er später wieder abrückte - und Schramm vorgeworfen, er sei ein Anhänger des Wiener Soziologen Othmar Spann. Nach der Entlassung Schmidts amtierte zunächst als kommissarischer Reichshandwerksmeister der Landeshandwerksmeister Berlin, Lohmann. 29 Die SS-Mitgliedschaft einiger Handwerksfunktionäre wurde von Himmler 1937 auf 21 Winkler, Liberalismus © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

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Anmerkungen zu Seite 126-127 Drangen Leys wieder rückgängig gemacht (Schüler, S. 66). - In einem undatierten Richtlinienentwurf der „Kampfgemeinschaft gegen Warenhaus und Konsumverein" heißt es: „Die bürgerlichen Verbände, Innungen usw. sind durch ihre politische Neutralität bedeutungslos geworden. Die nationalsozialistischen Berufsfachgruppen müssen an diese Stelle treten" (BA, Sammlung Schumacher, 242 a). Der Appell Leys ist abgedruckt in: BTB, Jg. 86, 1937, Nr, 86 (20. 2.). Dem Aufruf an das Handwerk war am 12. 2. 1937 eine Weisung Leys an die Gau- und Kreishandwerksmeister vorausgegangen, wonach künftig handwerkliche Feierstunden allein durch die DAF veranstaltet werden sollten - darunter die Einschreibung und die Freisprechung von Lehrlingen sowie die Anerkennung von Gesellen als Meister. Ironischerweise hatte Ley, der 1937 gegen die Innungsladen polemisierte, dem Handwerk anläßlich des Reichshandwerkertages noch 1936 in Frankfurt eine große Bundeslade gestiftet (Schüler, S. 44 f.). In einem Brief an den Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei, Lammers, vom 10. 2. 1937, bezeichnete Ley die Örtlichen Innungen als „Sammelbecken aller reaktionären Gegner", die von selbst absterben würden. - Die zitierten Briefe und das wichtigste Material zum Konflikt Ley-Schacht in: BA, R 43 II/274 a. Leys Brief vom 4. 2. 1937 wurde nach einer Unterredung zwischen ihm und Schacht am gleichen Tag geschrieben, in der - laut Ley- eine „grundsätzliche Einigung" erzielt worden war in bezug auf den Charakter der gewerblichen Wirtschaft und die Aufgaben der Deutschen Arbeitsfront. 30 Das Zitat in: K. Arnhold, Ertüchtigung durch Berufserfahrung eine nationalsozialistische Verpflichtung, in: SP, Bd. 45, 1936, Nr. 47 (21. 11.), S. 1361-66. - Von den Schriften Arnholds vor allem: Der Betriebsführer u. sein Betrieb. Gedanken zum nationalsozialistischen Musterbetrieb, Leipzig 1937; Umrisse einer deutschen Betriebslehre, Leipzig 1936. Vgl. zum Streit um die Berufsbildung: Schweitzer, Big Business, S. 171-84. Schweitzer überzeichnet die Differenzen zwischen Handwerk und Industrie. Von einem Monopolanspruch des Handwerks in der Lehrlingsausbildung kann in den 30er Jahren keine Rede mehr sein. Bereits 1928 gab es gemeinsame Prüfungsausschüsse von Industrie und Handwerk bei verschiedenen Handwerkskammern; im Juli 1936 anerkannte Reichshandwerksmeister Schmidt gegenüber dem Leiter der Reichsgruppe Industrie, Trendelenburg, daß die Facharbeiterprüfungen bei den Industrie- und Handelskammern als den Gesellenprüfungen gleichwertig anzusehen seien. (Die Frage der Facharbeiterprüfungen, in: SP, Bd. 45, 1936, Nr. 32 [7. 8.], S. 937 f.). Auf S. 182 erwähnt Schweitzer ein Abkommen zwischen den „Handwerkskammern" und „Industriegruppen" vom 16. 4. 1937, das die industrielle Berufsausbildung vom handwerklichen Prüfungssystem befreit habe. Ein solches Abkommen gibt es nicht. Die Vereinbarung über die Lehrlingsausbildung vom 16. 4. 1937 wurde geschlossen zwischen der Reichsgruppe Industrie und der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern (der Nachfolgeorganisation des Deutschen Industrie- und Handelstages) in der Reichswirtschaftskammer. Es handelt sich also um eine „innerindustrielle" Regelung und nicht um ein Abkommen zwischen Industrie und Handwerk (Ausbildung und Prüfung industrieller Facharbeiter, in: SP, Bd. 46, 1937, Nr. 27 [2. 7.], S. 793 f.). Zum Beginn des Streits um die Berufsausbildung im Jahre 1936: Mason, National Socialist Policies, S. 302-5. Der Brief Schachts an Ley vom 26. 6. 1936 in: ΒΑ/MA, Wi I 5/1260. - Ein Berufsausbildungsgesetz hatte es vor 1933 nicht gegeben; alle Vorlagen waren an den Gegensätzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gescheitert. Vgl. dazu L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1959, S. 289, 378, 454 f. Erst 1969 kam unter der „Großen Koalition" ein-von Anfang an umstrittenes - Berufsbildungsgesetz zustande. Die Opposition der Unternehmer und besonders des selbständigen Handwerks richtete sich kontinuierlich gegen eine Schmälerung der Aufsichtsrechte der Kammern auf dem Gebiet der außerschulischen Berufserziehung - wobei es gleichgültig war, ob (wie in Weimar und Bonn) eine Einflußminderung zugunsten von Staat und Gewerkschaften oder (wie im „Dritten Reich") zugunsten einer politischen Organisation, der DAF, befürchtet wurde. 31 BA, R 43 II/274 a. In seinem Schreiben an Heß vom 24. 2. 1937 erwähnte Schacht, daß Ley „gerade [wohl in der Besprechung vom 4. 2.] im Einvernehmen mit mir die Personalunion an der 322

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Anmerkungen zu Seite 128-133 Spitze des deutschen Handwerks selbst aufgehoben hat und damit einverstanden war, daß künftig der Reichshandwerksmeister nicht mehr gleichzeitig Leiter der Reichsbetriebsgemeinschaft 18 der Deutschen Arbeitsfront sein dürfe". Wie Schacht am 29. 7. 1937 auf einer Tagung des Reichsstandes des deutschen Handwerks mitteilte, konnte er die Aufhebung der Personalunion solange nicht weiterführen, bis eine endgültige Klärung der Frage erreicht war (Schüler, S. 58). 32 BA, R 43 II/274 a (Hervorhebungen im Original). Der Wehrwirtschaftsstab hatte bereits in einer Denkschrift vom 4. 7. 1936 die Organisation der gewerblichen Wirtschaft in ihrem gegenwärtigen Aufbau und in ihrer Zusammenarbeit mit dem Reichswirtschaftsministerium als „unentbehrlich für die wirtschaftliche Mob-Vorbereitung" bezeichnet. Ein Aufgehen der gewerblichen Wirtschaft in der DAF sei eine Gefahr für die Kriegswirtschaft (ΒΑ/MA, Wi I 5/1260). 33 BA, RA 43 II/274 a. Zur Analyse des „dual state": Ε. Fraenkel, The Dual State. A Con­ tribution to the Theory of Dictatorship, N. Y. 19411 (19692). 34 BA, R 43 II/274 a. 35 Ebd. Der Kreishandwerksmeister von Garmisch, Georg Maier, hatte sich dienstlich we­ gen des Verhaltens des kommissarischen Kreisleiters, Hausböck, beschwert. Einem Bericht des Reichssicherheitsdienstes vom 8. 7. 1937 zufolge hatte Maier geltend gemacht, es sei für ihn als Parteigenossen die größte Beleidigung, daß man ihm „mit dem Hinauswurf aus der Partei droht, wenn ich als Kreishandwerksmeister die Anordnungen des Reichswirtschaftsministers durchführe". Der Fall wurde Hitler vorgetragen, der jedoch keine Entscheidung fällte. 36 BA, R 43 II/274 a. Die Rede Schachts vom 11.5. 1937 ist abgedruckt in: DH, Jg. 6, 1939, Nr. 19 (14. 5.), S. 313-17. Zu den Vorgängen um die Berliner Kundgebung siehe auch Schüler, S. 52 f. 37 BA, R 43 II/274 a. 38 Ebd. Ley hatte seinen Entwurf eines Gesetzes über die fachliche und berufliche Ausbildung in Handel und Gewerbe (zusammen mit Gesetzentwürfen über den Aufbau der gewerblichen Wirtschaft und über die arbeitspolitische Selbstverwaltung) schon am 4. 6. 1937 an Hitler übersandt. In seinem Begleitbrief betonte er, bereits 90 % aller Freisprechungen von Lehrlingen erfolgten nicht mehr nach „freimaurerischem Ritus mit Bundeslade und Kerzen", sondern nach einem neuen Ritus. 39 BA, RA 43 II/274 a, 275 a (Hervorhebungen im Original). Einige der von Bormann apostrophierten Stellen brachten auch sogleich schwerwiegende Einwände gegen Leys Pläne vor. So bezeichnete das Oberkommando der Wehrmacht die fachliche Berufsausbildung und Erziehung als staatspolitische Aufgabe, die der Führung des Staates zu unterstehen habe. Die DAF dürfe hierbei lediglich eine beratende, nicht eine lenkende Tätigkeit haben. Ein Fortfall der Fachverbände und Innungen sei abzulehnen, da es sonst in der Berufserziehung keine sachverständige fachliche Führung mehr gäbe. Reichsinnenminister Frick forderte, die vorgesehenen DAF-Kompetenzen zu beschränken und der Aufsicht des Stellvertreters des Führers zu unterstellen (ΒΑ/MA, Wi I 5/1250). Weitere ablehnende Stellungnahmen zu Leys Plänen kamen vom Reichsfinanz- und Justizministerium, vom Reichsnährstand, der Reichswirtschaftskammer und vom „Reichsführer SS". Dazu: Mason, Arbeiterklasse, S. 132 f. Zur Vorgeschichte von Schachts Rücktritt vom Amt des Reichswirtschaftsministers vgl.: Schacht, S. 461-74; H. Kehrl, Krisenmanager im Dritten Reich, Düsseldorf 1973, S. 98-117; D. Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968, S. 40-78. Zu Schachts außenpolitischen Zielsetzungen vor allem: K. Hildebrand, Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP u. koloniale Frage 1919-1945, München 1969, S. 204-11. 40 BA, R 43 II/274 a, 275 a. Nach Schachts Rücktritt wurde auch der (deutschnationale) Reichskommissar für den Mittelstand, Ministerialdirektor Wienbeck, entlassen und durch Rudolf Schmeer, einen Vertrauensmann Leys, ersetzt. Göring wurde von der Führung des Reichsstandes des deutschen Handwerks während seiner kurzen Amtszeit als kommissarischer Reichswirtschaftsminister zum „Ehrenmeister des deutschen Handwerks" ernannt-eine Ehre,

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Anmerkungen zu Seite 134-135 die vor ihm nur Hindenburg zuteil geworden war und die Hitler im September 1934 abgelehnt hatte (BA, R 43 II/273). Im übrigen wurde das Wohlwollen Görings von der Handwerksführung durch schlichte Bestechung gesichert (Schüler, S. 70-73). Göring unterstützte den Reichsstand des deutschen Handwerks gegenüber den Ansprüchen der DAF - so im Konflikt mit dem auf Ley eingeschworenen Gauleiter von Mecklenburg, Hildebrandt, wegen der Personalunion zwischen Funktionen in der Organisation der gewerblichen Wirtschaft und in der DAF - und konnte Schramm als Reichshandwerksmeister gegen den Willen Funks im Amt halten. Dazu: Schweitzer, Big Business, S. 152-55. 41 Berufserziehung für das deutsche Handwerk, in:DH, Jg. 10, 1941, Nr. 35 (29. 8.), S. 433. Die Trennung der Funktionen des Reichshandwerksmeisters und des Leiters des Fachamtes war ein bleibendes Ergebnis der von Schacht verfügten Aufhebung der Personalunion von Positionen in der Organisation der gewerblichen Wirtschaft und der DAF. Zum Abkommen zwischen Arnhold und Pietzsch, der seit 1936 Präsident der Reichwirtschaftskammer war und zu den „alten Kämpfern" der Partei gehörte: Aktennotiz über eine Besprechung mit Herrn Prof. Arnhold am 5. 11. 1942, in: Siemens-Institut, Akte DAF-Berufserziehung II. Ich verdanke die Kenntnis dieses Dokuments Dörte Winkler. Inwieweit das Abkommen zwischen Arnhold und Pietzsch noch während des Krieges praktische Bedeutung erlangt hat, muß einstweilen offenbleiben. Zur Wirksamkeit des Berufserziehungswerkes vgl. A. Helms, Das Deutsche Berufserziehungswerk im Dienste der Leistungsertüchtigung, in: DV, Jg. 17, 1942, Nr. 10 (4. 12.), S. 295-97. 42 Zum Machtverlust der Bürokratie im Zweiten Weltkrieg: Mommsen, Beamtentum, S. 110-23. Es ist das Verdienst von Schweitzer (Big Business, S. 504 ff.), den Machtverlust der alten Eliten zwischen 1936 und 1938 alshistorischeZäsur herausgearbeitet zu haben. Die terminologische Unterscheidung zwischen „partial" und „full fascism" erscheint mir dagegen schon deswegen anfechtbar, weil sie den Übergang zur totalen Gewaltherrschaft 1933/34 als Bedingung der Vervollständigung nationalsozialistischer Herrschaft unzulässig relativiert. Auf die Problematik eines undifferenziert angewandten allgemeinen Faschismusbegriffs kann ich hier nicht eingehen. - Der Machtverlust der traditionellen Herrschaftsträger bedeutete im übrigen nicht, daß die alten Eliten auf die inhaltliche Ausführung von grundsätzlichen politischen Entscheidungen keinen Einfluß mehr gehabt hätten. Bei der kriegswirtschaftlichen Ausbeutung der eroberten Gebiete ist die Mitwirkung der Industrie schlechterdings konstitutiv gewesen, und unter der Ägide Albert Speers hat die Industrie ihren Handlungsspielraum wieder beträchtlich vergrößern können. Dazu etwa: J. Radkau, Von der nationalsozialistischen Machtergreifung bis zur Gegenwart, in: G. W. F. Hallgarten/J. Radkau, Deutsche Industrie und Politik von Bismarck bis heute, Frankfurt 1974, S. 272 ff., 420-30. Dennoch sollte nicht übersehen werden, daß die Hauptstoßrichtung der nationalsozialistischen Expansion-nach Osteuropa- nicht nur nichtaufgroßindustrielle Interessen zurückzuführen war, sondern diesen zuwiderlief. Dazu: M. Riedel, Bergbau und Eisenhüttenindustrie in der Ukraine unter deutscher Besatzung (1941-1944), in: VfZ, Bd. 21, 1973, S. 245-85; ders., Eisen u Kohle für das Dritte Reich. Paul Pleigers Stellung in der NS-Wirtschaft, Frankfurt 1973, S. 300-37. 43 Zu Hitlers wirtschaftspolitischen Ansichten vgl. J. D. Heyl, Hitler's Economic Thought: A Reappraisal, in: CEH, Bd. 6, 1973, S. 83-96; H. A. Turner, Hitlers Einstellung zu Wirtschaft und Gesellschaft vor 1933, in: GG, Bd. 2, 1976, S. 89-117; A. Barkai, Sozialdarwinismus und Antiliberalismus in Hitlers Wirtschaftskonzept, ebd., Bd. 3, 1977, S. 406-17. Zum Rassenkrieg als programmatischem Fixpunkt des Nationalsozialismus: A. Hillgruber, Die „Endlösung" und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, in: VfZ, Bd. 20, 1972, S. 133-53. 44 Ob die gesetzliche Altersversorgung für das Handwerk, die am 1. 1. 1939 in Kraft trat und deren Entstehungsgeschichte eine genauere Untersuchung verdienen würde, überhaupt noch als „mittelstandspolitische" Maßnahme im überkommenen Sinn angesehen werden kann, ist fraglich: Sie hatte insofern einen eindeutig nivellierenden Effekt, als sie einen traditionellen Unter324

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Anmerkungen zu Seite 136-140 schied zwischen (freiwillig versicherten) Selbständigen und (gesetzlich versicherten) Arbeitnehmern aufhob. 45 A. Zelle, Der Umkreis handwerklicher Arbeitsbeschaffung, in:DHB J g . 28, 1934, Nr. 17 (1. 9.), S. 323-25. Vgl. dazu weiter: H. Kolbenschlag, Der Aufbau einer Rohstoffbewirtschaftung im Handwerk, ebd., Nr. 15 (1. 8.), S. 281-84; A. Zelle, Bauhandwerk in der deutschen Wirtschaft, ebd., Nr. 18 (15. 9.), S. 342-44; H. Schild, Bauhandwerk und Arbeitsbeschaffung, ebd., Nr. 18 (15. 9.), S. 344-46; L. Kuhle, Die deutsche Rohstofflage, ebd., Nr. 19 (1. 10.), S. 363-65; H. Kolbenschlag, Rohstoffbewirtschafrung u. Handwerkswirtschaft, ebd., Nr. 19 (1. 10.), S. 365 f. Zum Gesamtkomplex auch M. Wolffsohn, Industrie u. Handwerk im Konflikt mit staatlicher Wirtschaftspolitik? Studien zur Politik der Arbeitsbeschaffung in Deutschland, 1930-1934, Berlin 1977. Zur Devisenbewirtschaftung bes.: W. Fischer, Deutsche Wirtschaftspolitik 1918-1945, Opladen 1968, S. 71-76. - Die Zahlen nach: K. Puderbach, Die Entwicklung des selbständigen Mittelstandes seit Beginn der Industrialisierung in Deutschland, wiso. Diss. Bonn 1967, S. 129-36; Winkler, Mittelstand, S. 33. Daß die Zahl von Kleinbetrieben in Zeiten der Hochkonjunktur zu sinken pflegt, ist ein generell zu beobachtendes Phänomen. Zu den wirtschaftlichen Wirkungen der Rüstungskonjunktur: Mason, Arbeiterklasse, S. 46-173. Zu Schachts Begründung für den Großen Befähigungsnachweis: Schüler, S. 19 f. 46 Die Praxis nach 1936 zeigt, daß der Große Befähigungsnachweis eher bürgerlich-konservativen als nationalsozialistischen Einflüssen (Schacht, Wienbeck) zu verdanken war. Er wurde 1938 durch großzügige Ausnahmegenehmigungen im rüstungswichtigen Baugewerbe durchbrochen; Ende 1938 ordnete der Reichswirtschaftsminister an, daß ab 1. 4. 1939 keine Lehrverhältnisse von mehr als dreijähriger Dauer zu begründen seien. Beides widersprach der von Schacht intendierten Sicherung des handwerklichen Leistungsprinzips. Dazu: Chesi, S. 95 f. Angaben zu den wirtschaftlichen Auswirkungen des „Westwall"-Baus: Mason, Arbeiterklasse, S. 152 ff. Die Berichte des Stadtpräsidenten der Reichshauptstadt Berlin vom 12. 10. und 6. 12. 1937 in: ΒΑ/MA, WO I-8/239. Ein weiterer Bericht über die unzureichende Versorgung des Handwerks mit Eisen und Stahl im Herbst 1937 bei Mason, Arbeiterklasse, S. 433. Ebd., S. 878-906, der wirtschaftliche Lagebericht des Berliner Stadtpräsidenten für das 4. Vierteljahr 1938 (die Zitate: S. 897, 903, 905). Im gleichen Bericht findet sich auch die - mit Stimmen aus dem Handwerk illustrierte - These, daß die Wirtschaft schon gegenwärtig zu einem unlöslichen Teil des Staatsapparates, ja zu einem neuen „Eigenbetrieb" des Reiches wie Reichsbahn und Post geworden sei (S. 880). 47 Die Zahlen: ebd.; die Rede Funks in: DH, Jg. 7, 1938, Nr. 19 (13. 5.), S. 263-66; der Wortlaut der Verordnung vom 22. 2. 1939 in: RGBL 1939 I, S. 327. Hierzu auch Chesi, S. 97. 48 Die deutsche Handwerkspolitik im Zeichen der Steigerung der nationalen Produktionsund Wehrkraft, in: DH, Jg. 7, 1938, Nr. 49 (9. 12.), S. 697-99; Jedem das Seine. Bemerkungen zur volkswirtschaftlichen Notwendigkeit einer organischen Gemeinschaftsarbeit zwischen Industrie und Handwerk, ebd., Jg. 8, 1939, Nr. 16 (21. 4.), S. 211-15. 49 Das Nonnenbruch-Zitat nach Uhlig, S. 189; die Rede Funks in: DH, Jg. 8, 1939, Nr. 21 (26. 5.), S. 297; das Hitler-Zitat: ebd. 7, 1938, Nr. 36 (9. 9.), S. 522. 5C Die Daten nach: BA, R 43 II/284; das Referentenvotum: BA, R 7/415; die Erklärung vom 21. 7. 1943: BA, R 43 II/662 a. Zur Stillegungsaktion im Einzelhandel: Uhlig, S. 183-88. Die erste - faktisch undurchführbare - Stillegungsverordnung im Bereich des Einzelhandels (Verordnung betr. Schließung nicht lebensfähiger Einzelhandelsbetriebe) war am 16. 3. 1939 ergangen. Bis zu diesem Zeitpunkt war mit Hilfe der Konzessionierung die Zahl der Einzelhandelsbetriebe um rd. 72 000 auf 718 000 zurückgegangen. Eine gewisse Schutzfunktion gegenüber dem Einzelhandel, auch den Warenhäusern, übte der SS-Brigadeführer Ohlendorf, zugleich Hauptgeschäftsführer der Reichsgruppe Handel und Ministerialdirektor im Reichswirtschaftsministerium, aus. Dazu: Uhlig, S. 204; Schoenbaum, S. 148 f. - Im Bereich des Handwerks sollte eine Verordnung über die „Bedürfnisprüfung für die Errichtung neuer Handwerksbetriebe" vom 9. 2. 1942 die Betriebe der im Feld stehenden Handwerker vor wirtschaftlicher Gefährdung schüt-

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Anmerkungen zu Seite 140-142 zen. Dazu: W. Wernet, Handwerkspolitik, Göttingen 1952, S, 56. - Zur Planung und Durchführung des handwerklichen Kriegseinsatzes findet sich umfangreiches Material in: ΒA/MA, Wi I F 5. Vgl. dazu auch: F. Schüler, Das deutsche Handwerk in der Kriegswirtschaft, Stuttgart 1941. - Einer Erklärung von Reichshandwerksmeister Schramm vom Dezember 1942 zufolge hat sich der gesamte Handwerksumsatz während des Krieges wegen des Übergangs zur Massenerzeugung, der Einführung neuer Maschinen im Rüstungshandwerk und der Beschäftigung von angelernten Hilfskräften sogar gesteigert, obwohl die Gesamtzahl der Handwerksbetriebe sich stark vermindert habe und die Zahl der Fachkräfte auf einen bescheidenen Rest zusammengeschmolzen sei (F. Schramm, Der Rüstungsanteil des Handwerks, in: DV, Jg. 17, 1942, Nr. 13/14 [25. 12.], S. 385-90). Dem steht die genannte interne Statistik entgegen, derzufolge der Handwerksumsatz im Juni 1941 25,5 Mrd. RM betrug (1938: ca. 30 Mrd. RM). Immerhin ist es wahrscheinlich, daß die Behebung von Bombenschäden die Ertragslage der verbleibenden Handwerksbetriebe gebessert hat. Schramm vermerkt auch, daß durch die Bildung von 25C Liefergenossenschaften Dienstverpflichtungen weitgehend entbehrlich geworden seien. - Die Stilllegungen gingen im Herbst 1944 weiter. Über ihr Ausmaß liegen, soweit ich sehe, genaue Daten ebensowenig vor wie für die entsprechende Aktion von 1943. Zur Diskrepanz zwischen den Stilllegungsprogrammen von Wehrmacht und Rüstungsindustrie einerseits und den tatsächlichen Betriebsschließungen andererseits siehe etwa: Β. Η. Klein, Germany's Economic Preparations for War, Cambridge/Mass., 1959; A. S. Milward, Die deutsche Kriegswirtschaft, 1939-1945, Stuttgart 1966; T. W. Mason, Innere Krise u. Angriffskrieg, in: F. Forstmeier u. H.-E. Volk­ mann (Hg.), Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Düsseldorf 1975, S. 158-88. 51 Zur Lage der Mittelschichten im Ersten Weltkrieg zusammenfassend: J. Kocka, Klassengesellschaft im Krieg 1914-1918, Göttingen 19782. Zur Frauenarbeit während des 2. Weltkrieges vgl. die in Anm. 1 zitierten Arbeiten von D. Winkler. Zur Strategie der Konfliktvermeidung im Nationalsozialismus: Mason, Arbeiterklasse, passim. Zur These vom Nationalsozialismus als „sozialer Revolution" außer Schoenbaum (Anm. 1) bes.: R. Dahrendorf, Gesellschaft u. Demokratie in Deutschland, München 1965. 52 BA, R 43 II/278. 53 A. Hitler, Mein Kampf, 737 - 41. Auflage, München 1942, S. 151 f. Zur Interpretation dieser Stelle und ähnlicher Aussagen in den Gesprächen mit Hermann Rauschning vgl. den in Anm. 43 zitierten Aufsatz von A. Barkai. Das Himmler-Zitat bei: J . Ackermann, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970, S. 273. 54 Die Rede Schramms in: DH, Jg. 10, 1941, Nr. 39 (26. 9.), S. 478 f.; W. Wernet, Das handwerkliche Element in der politischen Raumordnung, ebd., Nr. 46 (14. 11.), S. 555-57 (Hervorhebungen im Original); H. Frincke, Gedanken zur Weiterbildung der handwerklichen Betriebsform, ebd., Jg. 11, 1942, Nr. 6 (6. 2.), S. 51-54. In den zuletzt genannten Aufsätzen wurde als positive Folge eines massiven „Osteinsatzes" von Handwerkern auch ein Nachlassen des Konkurrenzdrucks im „Altreich" herausgestellt. Wernet sprach in diesem Zusammenhang auch von einer ,„Wiederverheimatlichung' des deutschen Bodens und der deutscben Landschaft allüberall, wo die skrupellose Ökonomisierung des vorigen Jahrhunderts die Axt an die Wurzeln unseres Volkslebens und der biologischen Existenz gelegt hat" (Hervorhebung im Original). 55 Eine historische Arbeitstagung. Einheitliche Handwerksführung und Zusammenfassung aller handwerklichen Kräfte zu einer totalen Gemeinschaft, in: DH, Jg. 9, 1940, Nr. 5 (2. 2.), S. 45. Sehnert brachte in die Spalten des „Deutschen Handwerks" eine dort bislang seltene „sozialistische" Tönung im Sinne der Arbeitsfront. So nannte er (ebd., Nr. 23 [7. 6.], S. 287 f.) das Handwerk „ein Mittel zu einem gerechten sozialistischen Volksaufbau". Die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft" zeigt ebenso wie die Erfolge Arnholds auf dem Gebiet der Berufserziehung, daß es falsch wäre, den Einfluß der DAF während des Krieges zu unterschätzen (vgl. dagegen Mason, Arbeiterklasse, S. 135). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein - offenbar aus der DAF selbst stammender - Artikel „Verwaltung und Gestaltung" (DV, Jg. 17, 1942, 326

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Anmerkungen zu Seite 143-146 Nr. 8 [20. 11.], S, 229). Es heißt dort, die DAF verkörpere „im Frieden bewußt die soziale Dynamik der nationalsozialistischen Revolution. In dieser Funktion vertritt sie gegenüber dem Prinzip der staatlichen Verwaltung den Grundsatz der revolutionären Gestaltung". Die Disponierfreiheit über Menschen und Mittel, die hierfür erforderlich sei, fehle jedoch im Kriege; der grundsätzlich unbegrenzte Kriegsbedarf zehre sie auf. Infolgedessen werde die DAF viel stärker, als es ihrer Grundidee entspreche, zum verlängerten Arm der staatlichen Verwaltung. „Die gegenseitige Durchdringung der ursprünglich stärker getrennten Bezirke staatlicher Verwaltung und revolutionärer Gestaltung kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß in steigendem Maß besonders stoßkräftige Männer der Partei und der DAF als Reichskommissare oder Sonderbeauftragte staatliche Funktionen übernehmen." 56 Die Zitate aus: BA, R 43 I/284. Zur Entstehungsgeschichte der Verordnung über die Gauwirtschaftskammern ausführlich: Schüler, Handwerk im Dritten Reich, S. 74-97. Vgl. auch P. Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 183. - Die durch einen Erlaß des Reichswirtschaftsministers vom 20. 2. 1937 angeordnete Eingliederung der Handwerkskammern in die auf Bezirksebene neu errichteten Wirtschaftskammern hat - anders als die Gauwirtschaftskammer-Verordnung von 1942 - die Selbständigkeit der Handwerkskammern materiell nicht beeinträchtigt. 57 Die These von R. Saage (Faschismustheorien, München 1976, S. 151), daß der Nationalsozialismus auch nach 1934 auf die „plebiszitäre Mobilisierbarkeit seiner mittelständischen Basis angewiesen war", ist insofern ungenau und korrekturbedürftig. 58 Zur unbewältigten Industrialisierung: H. A. Turner, Faschismus u. Anti-Modernismus, in: ders., Faschismus u. Kapitalismus in Deutschland, Göttingen 1972, S. 157-82. 9. Stabilisierung durch Schrumpfung: Der gewerbliche Mittelstand in der Bundesrepublik Der bisher unveröffentlichte Aufsatz wurde als Referat auf einer Tagung des „Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte" am 8./9. Oktober 1976 in Bad Homburg gehalten. Eine aktualisierte Fassung wird 1980 in einer von M. R. Lepsius herausgegebenen Veröffentlichung des Arbeitskreises erscheinen. 1 Th. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932, (Darmstadt 1967), S. 85; ders., Die Panik im Mittelstand, in: Die Arbeit, Bd. 7, 1930, S. 637-54. 2 Die Zahlen nach: K. Puderbach, Die Entwicklung des selbständigen Mittelstandes seit Beginn der Industrialisierung in Deutschland, wiso. Diss., Bonn 1967, S. 202. Die Daten für 1975 nach: „46 000 Selbständige haben aufgegeben", in: FAZ, Nr. 153, 15. 7. 1976, S. 15. Der Anteil der selbständigen Landwirte an der erwerbstätigen Bevölkerung der Bundesrepublik sank von 5,7 % im Jahre 1950 auf 2,44 % im Jahre 1975. 3 Die Zahlen nach: Puderbach, S. 136; Bericht der Bundesregierung über Lage und Entwicklung der kleinen und mittleren Unternehmen (Mittelstandsbericht), Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/5248 (21. 5. 1976), S. 17; Th. Beckermann, Das Handwerk im Wachstum der Wirtschaft, Berlin 1974, S. 110; W. Fischer, Some Observations on the Industrial Structure of Postwar Germany (unveröffentlichtes Manuskript für die „Conference on Twentieth-Century Capitalism", Harvard University, September 1974), S. 7 f.; ders., Das Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, in: ders., Wirtschaft u. Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 315-37. - Von 1967 bis 1969 sank der Beitrag des Handwerks zum Bruttoinlandsprodukt von 11% auf 10,4%. Nach dem Mittelstandsbericht der Bundesregierung (S. 17),bewegte er sich jedoch zwischen 1970 und 1975 wieder um rd. 11 %. Die durchschnittliche Betriebsgröße im Handwerk hatte sich 1964 (5,4 Personen) gegenüber 1926 mehr als verdoppelt und gegenüber 1895 fast verdreifacht (Puderbach, S. 138).

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Anmerkungen zu Seite 146-151 4 Nach einer regierungsinternen Statistik sank die Zahl der Handwerksbetriebe von 1,567 Millionen im Jahre 1939 auf 1,185 Millionen arbeitende Betriebe am 1, 6. 1941. Dazu kamen noch 275 000 „ruhende Betriebe" (BA, Koblenz, R 43 I/284). Über das genaue Ausmaß der Stillegungsaktionen von 1943 ist, soweit ich sehe, nichts bekannt. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Der entbehrliche Stand. Zur Rolle des gewerblichen Mittelstandes im „Dritten Reich", in: AfS, Bd. 17, 1977, S. 1-40 (in diesem Band, S. 110-44). Im Jahre 1939 gab es im Deutschen Reich auf dem Gebiet der Bundesrepublik (ohne Saarland und West-Berlin) 792 079 Handwerksbetriebe; 1950 betrug die Zahl der Handwerksbetriebe im gleichen Gebiet 864 429. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß 1949 im Unterschied zu 1939 auch die handwerklichen Nebenbetriebe mitgezählt und einige Berufe miterfaßt wurden, die 1939 nicht zum Handwerk gerechnet worden waren. Dazu: Puderbach, S. 135 ff. Zur Wirtschaftsentwicklung in Westdeutschland nach 1945 insgesamt jetzt: W. Abelshauser, Wirtschaft in Westdeutschland 1945-1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone, Stuttgart 1975. 5 Beckermann, S. 31 f., 81. Beckermann knüpft mit seinem Klassifizierungsschema an den Aufsatz von K. Löbbe, Wachstumstendenzen u. Preisentwicklung in der westdeutschen Industrie, in: WWI-Mitteilungen, hg. v. Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Gewerkschaften, Köln, Jg. 1966, S. 168 ff., an. 6 G. Brandt, Der „Mythos des Mittelstandes" - ökonomisch und politisch, in: FH, Bd. 14, 1959, S. 881-89 (das Zitat: S. 885). 7 Beckermann, S. 50 ff., 92 f.; Bericht der Bundesregierung, S. 17. Vgl. E. Tuchtfeldt, Strukturwandlungen im Handwerk, in: H. König (Hg.), Wandlungen der Wirtschaftsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1962, S. 469-92. Die genannten Arbeiten sind auch für einen hier nicht erörterten Aspekt des Funktionswandels mancher Handwerksbranchen - die Verlagerung ihrer Tätigkeiten von der Produktions- in die Distributionssphäre, ablesbar an den jeweiligen Umsatzanteilen - heranzuziehen. Zur Geschichte dieses Umwandlungsprozesses - von der handwerklichen Produktion zum Handwerkshandel - vgl. jetzt J. Bergmann, Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, Berlin 1973, S. 291 ff. 8 Die Zahlen nach Puderbach, S. 159-65; Bericht der Bundesregierung S. 20; Informationen zur Mittelstandsforschung, hg. v. Institut für Mittelstandsforschung, Forschungsgruppe Bonn, 1975, S. 40 f., 90; Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels, 28. Arbeitsbericht, 1975, S. 123. - Zur Lage im Lebensmitteleinzelhandel immer noch lesenswert: F. Hagemann, Der Beruf des Lebensmitteleinzelhändlers. Seine sozio-ökonomische Lage u. Mentalität, in: Soziologische Probleme mittelständischer Berufe, 1. Teil, Köln 1962, S. 15-56. Zu den Marktanteilen der einzelnen Betriebsformen des Einzelhandels in der Endphase der Weimarer Republik: Η. Α. Wink­ ler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Hand­ werk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, S. 144. 9 R. Dahrendorf, Wandlungen der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit: Herausforderungen u. Antworten, in: HJWG, Bd. 6, 1961, S. 79-93 (bes. S. 87). Ausführlicher und differenzierter wird diese These entwickelt in: ders., Gesellschaft u. Demokratie in Deutschland, München 1965. Zur Kontinuität des deutschen Sozialprotektionismus: Winkler, Mittelstand; ders., From Social Protectionism to National Socialism: The German Small-Business Movement in Comparative Perspective, in: JMH, Bd. 48, 1976, S. 1-18 (dt. in: H.-G. Haupt [Hg.], „Bourgeois u. Volk zugleich"? Zur Geschichte des Kleinbürgertums im 19. u.20.Jahrhundert, Frankfurt 1978, S. 143-62). 10 Zur Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Interessenvertretung im deutschen Kaiserreich ausführlicher: Η. Α. Winkler, Pluralismus oder Protektionismus? Verfassungspolitische Pro­ bleme des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich, Wiesbaden 1972 (in diesem Band, S. 163-74). 11 Zum Problem der sozialen Segmentierung insbesondere: M. R. Lepsius, Parteiensystem u. 328

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Anmerkungen zu Seite 152-155 Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wirtschaft, Geschichte u. Wirtschaftsgeschichte, Fs. f. F. Lütge, Stuttgart 1966, S. 371-93. 12 Über die Mittelstandspolitik der Konservativen: H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893-1914, Bonn 19752. Den Anteil der Schwerindustrie an der Herausbildung der Mittelstandsideologie scheint mir eher zu überschätzen: D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Köln 1970. Zur Entwicklung des gewerblichen Mittelstandes zwischen 1918 und 1933: Winkler, Mittelstand. 13 Die „Warenhausfrage" wurde definitiv vertagt, während die Konsumvereine aus Gründen der „Staatssicherheit" 1941 aufgelöst wurden. Dazu: H. Uhlig, Die Warenhäuser im Dritten Reich, Köln 1956; K. Bludau, Nationalsozialismus u. Genossenschaften, Hannover 1968. Zum Handwerk: F. Schüler, Das Handwerk im Dritten Reich, Bad Wörishofen 1951; V. Chesi, Struktur u. Funktionen der Handwerksorganisationen in Deutschland seit 1933, Berlin 1966. 14 Ausführlicher zur Entwicklung des gewerblichen Mittelstandes im „Dritten Reich": Winkler, Der entbehrliche Stand. 15 Hierzu vor allem: H.-H. Hartwich, Sozialstaatspostulat u. gesellschaftlicher status quo, Köln 1970, S. 88 ff.; T. Pünder, Das bizonale Interregnum. Die Geschichte des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1946-1949, Waiblingen 1966, S. 229 f.; W. Wernet, Handwerkspolitik, Göttingen 1952, S. 58-61; H. G. Schachtschabel, Der organisatorische Aufbau der gewerblichen Wirtschaft, in: JNS, Bd. 163, 1951, S. 273-305; W. v. d. Heide, Gewerbefreiheit u. Gewerbezulassung im Vereinigten Wirtschaftsgebiet, in: Deutsche Verwaltung, Bd. 2, 1949, S. 253-57. Den Innungen war bereits im Zuge der Auflösung der Handwerkskammern im März 1943 der öffentlich-rechtliche Status entzogen worden. 16 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte, Bd. 5, S. 3502; Bd. 15, S. 12557. Auch die Novelle zur Handwerksordnung vom 9. 9. 1965 wurde mit den Stimmen der SPD gebilligt. Die Gesetzestexte in: BGBl. 1953 I, 1412-1429; 1965 I, 1254-1270. Das Handwerkergesetz von 1897 hatte lediglich Gesellenausschüsse bei den Handwerkskammern gekannt. 17 K. Schumacher, Konsequenzen deutscher Politik (1945), in: ders., Reden u. Schriften, Berlin 1962, S. 25-50 (das Zitat: S. 40). Vgl. hierzu auch: W,-D. Narr, CDU-SPD. Programm u. Praxis seit 1945, Stuttgart 1966, S. 108-10. 18 Ch. Watrin, Der Befähigungsnachweis in Handwerk u. Einzelhandel unter bes. Berücksichtigung der Entwicklung in der Bundesrepublik, wiso. Diss., Köln 1958, S. 255 (Daten zum Prüfungswesen: S. 153 ff.); Puderbach S. 140. Zum Befähigungsnachweis als Erhaltungsintervention: E. Tuchtfeldt, Gewerbefreiheit als wirtschaftspolitisches Problem, Berlin 1955, S. 149 f. 19 Hartwich, S, 133 f. (diese Darstellung ist auch für die hier nicht zu behandelnden Probleme einzelner mittelständischer Berufsordnungen heranzuziehen); Puderbach, S. 144 f. Die dritte Lesung des Einzelhandelsgesetzes in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953, Bd. 38, S. 13358-70, 13434-37, 13465-69; der Text des Gesetzes in: BGBl. 1957 I, 1121-23; das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 19, 330-42. 20 Zu den wettbewerbsfördernden Maßnahmen der Bundesregierung gehören u. a. die ERP-Kreditprogramme für Klein- u. Mittelbetriebe sowie Maßnahmen zur Förderung von 1) Rationalisierung, Forschung, Entwicklung u. Innovation, 2) Beratung, Information u. Kooperation, 3) beruflicher Aus- u. Weiterbildung von Unternehmern u. Mitarbeitern. Vgl. hierzu: Bericht der Bundesregierung, S. 22 ff. Zur Unterscheidung von Erhaltungs- u. Anpassungsinterventionen: Tuchtfeldt, Gewerbefreiheit. Ein Verbot auch der unverbindlichen Preisempfehlung wird gerade von überwiegend mittelständischen Verbänden gefordert, weil es ein „Dumping" durch die Selbstbedienungs-Warenhäuser fördert. Vgl. Strukturpolitisches Sofortpro-

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Anmerkungen zu Seite 156-159 gramm für den Einzelhandel. Verabschiedet von der 25. Delegiertenversammlung des Deutschen Einzelhandels am 22. Oktober 1974 in Hannover. S. 32. 21 So der Präsident des Zentralverbandes des deutschen Handwerks, Paul Schnitker, am 15. 3. 1974 anläßlich der 10. Wirtschaftsgespräche Industrie-Handwerk in München, in: Die Wirtschaft im Spannungsfeld gesellschaftspolitischer Entwicklungen, Schriftenreihe des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Heft 21, Bonn 1974, S. 18 f. Ganz ähnlich äußerte sich Schnitkers Vorgänger Joseph Wild auf dem Deutschen Handwerkertag 1969 in Nürnberg: Der Handwerker sei „auch heute noch das Bindeglied zwischen Kapital und Arbeit, und in den Betrieben ist auch heute noch der Wille zur Zusammenarbeit und der Sinn für die Gemeinschaft erhalten geblieben". In: Der Deutsche Handwerkstag 1969, Schriftenreihe des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Heft 12, Bonn 1969, S. 49. 22 F. Sack, Integration u. Anpassung des Handwerks in der industriellen Gesellschaft - dargestellt am Schreinerhandwerk in Deutschland, Köln 1966. Vgl. zur Mentalität des Handwerks auch: P. Schöber, Die Wirtschaftsmentalität der westdeutschen Handwerker, Köln 1968; R. Krisam, Der „Mittelstand" im hochindustrialisierten Wirtschaftsraum, Köln 1965. Zur Lage im Einzelhandel: I. Zaunitzer-Haase, Im Griff der Konzerne. Krise einer Mittelschicht, München 1967, bes. S. 59-70; A. Zerban, Klagen des Mittelstandes, in: Dokumente, Bd. 23, 1967, S. 294-97; Strukturpolitisches Sofortprogramm, passim. - Der Deutsche Gewerbeverband umfaßte 1966/67 200 000 Mitglieder und 13 Landesverbände; nach Angaben der „ZEIT" (Nr. 32, 30. 7. 1976) ist die Mitgliederzahl des heutigen Bundesverbandes der Selbständigen, dem 2000 Ortsverbände angehören, gleich hoch. 23 Die Daten zur NPD: Zerban, S. 295. Die übrigen Daten: Schöber, S. 188. Der nicht genau datierten Umfrage zufolge betrug der SPD-Anteil unter den „zufriedenen" Handwerkern 6 %, bei den „nicht zufriedenen" 16 %; für die CDU/CSU lauten die entsprechenden Zahlen 56 % und 42%; für die FDP beide Male 13%, für die NPD 1% und 4%. - Andere Daten zur Parteiaffinität von Handwerkern: Sack, S. 263. Zur Mittelstandsagitation der NPD auch: ZaunitzerHaase, S. 63 ff., 233. Ferner: E. K. Scheuch, Die NPD als rechtsextreme Partei, in: HJWG, Bd. 15, 1970, S. 321-33 (These von der Anziehungskraft der NPD auf Teile der Arbeiterschaft); D. Kappe, Nationalismus u. Demokratie. Versuch einer Strukturanalyse der NPD, ebd., Bd. 12, 1967, S. 30-44; L. Niethammer, Angepaßter Faschismus. Politische Praxis der NPD, Frankfurt 1969; K. Liepelt u. A. Mitscherlich, Thesen zur Wählerfluktuation, Frankfurt 1968, F. U. Pappi, Parteiensystem u. Sozialstruktur in der Bundesrepublik, in: PVS, Bd. 14, 1973, S. 191-214. 24 Das Einkommen der Haushalte der Selbständigen wuchs zwischen 1950 und 1970 durchschnittlich um 2700 DM, das der Arbeitnehmerhaushalte um 1300 DM, das der Rentnerhaushalte um 700 DM. Vgl.: Einkommensschichtung sozialer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1950-1970, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Wochenbericht 34/1973 (23. 8. 1973), S. 299-310. Siehe dazu auch: M. R. Lepsius, Sozialstruktur u. soziale Schichtung in der Bundesrepublik Deutschland, in: R. Löwenthal u. H.-P. Schwarz (Hg.), Die zweite Republik. 25 jahre Bundesrepublik Deutschland- Eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 263-88. Zum mittelständischen Nationalismus: ders., Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966 (das Zitat: S. 14). Auf die Bedeutung, die die Kollision von autoritären Ordnungsvorstellungen des besiegten Deutschland mit dem demokratischen Modell der Siegermächte nach 1918 für den Erfolg des Nationalsozialismus hatte, hat schon 1942 Talcott Parsons eindringlich hingewiesen: vgl. ders., Democracy and Social Structure in Pre-Nazi Germany, in: ders., Essays in Sociological Theory, Ν. Y. 19674, S. 104-23. Rolle des Nationalismus in der Zeit nach 1945 auch meine Einleitung zu dem Band: H. A. Winkler (Hg.), Nationalismus, Königstein/Ts. 1978, S. 5-46 (in diesem Band S. 52-80). 25 Zum Wahlverhalten von „altem" und „neuem Mittelstand" in der Bundesrepublik: Pappi, 191-214; in den USA: J. Kocka, Amerikanische Angestellte in Wirtschaftskrise und New Deal 1930-1940, in: VfZ, Bd. 2C, 1972, S. 333-75. Der Begriff der „nivellierten Mittelstandsge330

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Anmerkungen zu Seite 159-165 Seilschaft" geht zurück auf: H. Schelsky, Gesellschaftlicher Wandel, in: Offene Welt, Nr. 41, 1956, S. 62-74. 26 Hinweise zum Zusammenhang von gesellschaftlichem Struktur- u. Normwandel in der Bundesrepublik bei: D. Petzina, Materialien zum sozialen u. wirtschaftlichen Wandel in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, in: VfZ, Bd. 17, 1969, S. 308-38. Zur These von der „sozialen Revolution" nach 1933: D. Schoenbaum, Hitler's Social Revolution: Class and Status in Germany 1933-1939, Ν. Υ. 1966 (dt.: Hitlers braune Revolution, Köln 1968); Dahrendorf, Gesellschaft u. Demokratie, passim. Zum Problem der deutschen Abweichung: L. Krieger, The German Idea of Freedom. History of a Political Tradition, Chicago 19722. 10. Pluralismus oder Protektionismus? Verfassungspolitische Probleme des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich Die Abhandlung ist der Text eines Vortrags, den ich am 1. Oktober 1971 im Institut für Europäische Geschichte zu Mainz, Abteilung Universalgeschichte, im Rahmen des Colloquiums „Wirtschaftsverbände und Politik in den 1890er Jahren" gehalten habe. Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht als Heft 55 der Reihe „Institut für Europäische Geschichte, Mainz, Vorträge", Wiesbaden 1972. 1 Hierzu immer noch sehr informativ: F. Klein, Das Organisationswesen der Gegenwart, Berlin 1913, S. 14-59. In Preußen hat das Allgemeine Landrecht (Teil II, Tit. 6) 1794 mit der absolutistischen Praxis gebrochen. Es erlaubte Vereinsbildungen auch ohne Genehmigung, sofern ihr Zweck und ihre Tätigkeit der gemeinen Ruhe, Sicherheit und Ordnung nicht zuwiderliefen. Zur weiteren Entwicklung der Vereinsfreiheit in Deutschland: E. u. O. Löning, Vereins- u. Versammlungsfreiheit, in: HSt, 4. Aufl., Bd. 6, Jena 1928, S. 542-62. 2 Hierüber: W. Fischer, Unternehmerschaft, Selbstverwaltung u. Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- und Staatsauffassung des 19. Jahrhunderts, Berlin 1964, S. 11-43. 3 L. Stein, Die Verwaltungslehre, 1. Teil, Stuttgart 1865, S. 364, 370. 4 J . Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 19621, S. 159. Die vorstehenden Ausführungen berühren sich zum Teil mit Überlegungen, die im 2. Kapitel meiner Arbeit: Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, S. 40-64, vorgetragen werden. 5 H. Kaelble, Industrielle Interessenverbände vor 1914, in: W. Rüegg u. O. Neuloh (Hg.), Zur soziologischen Theorie u. Analyse des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971, S. 180-92. 6 R. Kaufmann, Die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen in den Staaten Europas, Berlin 1879, S. 110-17; R. Graetzer, Die Organisation der Berufsinteressen, Berlin 1890, S. 133-78; J. Croner, Die Geschichte der agrarischen Bewegung, Berlin 1909, bes. S. 29-33, 146—49; H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893-1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte u. der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 19661, S, 23-27 (mit weiterer Literatur). - Der Deutsche Landwirtschaftsrat war die ständige Spitze des Kongresses deutscher Landwirte. 1911 wurde der Verband der preußischen Landwirtschaftskammern als Körperschaft des öffentlichen Rechts gegründet. Seine Geschäftsführung wurde dem Landes-Ökonomie-Kollegium übertragen. Hierzu wie zur außerpreußischen Entwicklung die Artikel von W. v. Altrock „Landwirtschaftliches Vereinswesen" u. „Landwirtschaftskammern" in: HSt, 4. Aufl., Bd. 6, Jena 1924, S. 212-18, 220-29. 7 H. Böttger, Geschichte u. Kritik des neuen Handwerkergesetzes vom 26. Juli 1897, Flo-

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Anmerkungen zu Seite 166-168 renz 1898, passim. Diese Arbeit ist auch für das hier nicht erörterte Problem der Gesellenausschüsse bei den Handwerkskammern heranzuziehen. 8 DZA Potsdam, Gewerbewesen 6/1 b, Bd. 6, Nr. 6302. Zu entsprechenden Aktivitäten des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages: E. Lederer, Mittelstandsbewegung, in: ASS, Bd. 31, 1910, S. 985 f. Über die Innungsrechte auch: F. Kestner, Der Organisationszwang, Berlin 1927, S. 133. - Einen freien Spitzenverband schuf sich das Handwerk erst 1919 im Reichsverband des deutschen Handwerks. Der „Reichsdeutsche Mittelstandsverband" von 1911 war primär ein Agitationsverband, dem der feste organisatorische Unterbau fehlte. 9 Zum Charakter der „Großen Depression": H. Rosenberg, Große Depression u. Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft u. Politik in Mitteleuropa, Berlin 19671, passim; H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 19691, bes. S. 39-111; H. Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft u. Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln 19661, S. 341-78. Über die Anfänge der Verbandsbildung: G. Schulz, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung, in: PVS, Bd. 2, 1961, S. 124-54 ;Th. Nipperdey, Interessenverbände u. Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, ebd., S. 262-80; Kaelble, S. 180-92 (mit kritischen Einwanden gegen Nipperdeys Thesen). Rein kompilatorisch: M. Erdmann, Die verfassungspolitische Funktion der Wirtschaftsverbände in Deutschland 1813-1871, Berlin 1968. Das Zitat von A. Steinmann-Bucher, der in den 90er Jahren zum Chefredakteur des Organs des Centralverbandes Deutscher Industrieller, der „Deutschen Industriezeitung", avancierte, in: ders., Die Nährstände u. ihre zukünftige Stellung im Staate, Berlin 18862, S. 136. 10 W.-D. Linke, Die Rolle des Reichstages bei der Einschränkung der Gewerbefreiheit. Ein Beitrag zum Problem „Handwerk u. Parlament", Diss. (Ms.) Berlin 1955, passim; Böttger, passim. 11 Außer Steinmann-Bucher besonders: S. Tschierschky, Neumerkantilismus u. wirtschaftliche Interessenorganisation, in: SchJb.,Bd. 37, 1913, S. 15-47; vgl. ferner: ders., Die Organisation der industriellen Interessen in Deutschland, Göttingen 1905; ders., Die Unternehmerorganisationen in Deutschland, Berlin 1908. - Tschierschky war seit 1902 Geschäftsführer der deutschen Textilveredelungsindustrie. Zur Kartellierungsfrage jetzt: H. Nussbaum, Unternehmer gegen Monopole, Berlin 1966; F. Blaich, Anfänge der deutschen Kartellpolitik zwischen 1897 und1914,in: JbSW, Bd. 21, 1970, S. 127-50; ders., Kartell- u. Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 u. 1914, Düsseldorf 1973; ders., Der Trustkampf (1901-1915). Ein Beitrag zum Verhalten der Ministerialbürokratie gegenüber Verbandsinteressen im wilhelminischen Deutschland, Berlin 1975. 12 Über den Handelstag allgemein: D. Schäfer, Der Deutsche Industrie- u. Handelstag als politisches Forum, Hamburg 1966 (mit weiterer Literatur). Zur Rolle des Handelstages unter Bismarck und Caprivi neuerdings besonders: Böhme, S. 395-98, 407 f. Zum Statusstreit von 1902 und seiner Vorgeschichte: H. Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft. Centralverband Deutscher Industrieller 1895-1914, Berlin 1967, S. 177-81. Vgl. auch: Nussbaum, S. 37-51. 13 Hierzu Puhle, S. 23-71. Zum wichtigsten Vorgänger des Bundes der Landwirte, der 1876 gegründeten Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer, neben Böhme, S. 400-404, jetzt auch: K. W. Hardach, Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- u. Getreidezölle in Deutschland 1879, Berlin 1967, bes. S. 151-64. 14 Zum Sozialprotektionismus der 1890er Jahre: H. Herzfeld, Johannes von Miquel, Detmold 1938, Bd. 2, S. 448 ff. (das Zitat: Bd. 1, S. 394); K. E. Born, Staat u. Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Reiches 1890-1914, Wiesbaden 1957, bes. S. 135—41; J. C. G. Röhl, Germany without Bismarck. The Crisis of Government in the Second Reich, 1890-1900, London 1967, S. 255; H. Lebovics, „Agrarians" versus 332

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Anmerkungen zu Seite 168-172 „Industrializes". Social Conservative Resistance to Industrialism and Capitalism in Late 19th Century Germany, in: IRSH, Bd. 12, 1967, S. 31-69. 15 Zu Bismarcks Korporativismus: Η. Rothfels, Theodor Lohmann u. die Kampfjähre der staatlichen Sozialpolitik 1871-1905, Berlin 1927, S. 63 f., K. Marzisch, Die Vertretung der Berufsstände als Problem der Bismarckschen Politik, Diss. Marburg 1934; J. Curtius, Bismarcks Plan eines Volkswirtschaftsrates, Heidelberg 1919; H. Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart und Berlin 1921, S. 58-83. 16 Graetzer, S. 179-280. Zur Verbreitung berufsständischer Ideen im Bismarckreich auch: R. H. Bowen, German Theories of the Corporative State with Special Reference to the Period 1870-1919, N. Y. 1947. Ferner W. M. Frh. v. Bissing, Autoritärer Staat u. pluralistische Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten des Bismarckschen Reiches, in: SchJb, Bd. 83, 1963, S. 17-45. 17 Graetzer, S. 68-89; R. v. Kaufmann, Die Reform der Handels- u. Gewerbekammern, Berlin 1883. Wegen der Teilnahme des Osnabrücker Handelskammersekretärs Stumpf und des Rechtsprofessors von Kaufmann, dessen Vorstellungen sich mit denen Stumpfs weithin deckten, hatte Generalsekretär Bueck vom Langnamverein sich geweigert, an den Arbeiten der Eisenacher Kommission mitzuwirken. 18 Steinmann-Bucher, S. 250 f. Das Buch dieses Autors ist ein gutes Beispiel „rechter" Parlamentarismuskritik, das einen Großteil der späteren Argumente Carl Schmitts antizipiert. Zum „Wirtschaftspolitischen Ausschuß" wie zu den hier nicht erörterten Bemühungen um einen gesamtindustriellen Spitzenverband: Kaelble, Industrielle Interessenpolitik, S. 164-74. Zum „Bund der Industriellen" jetzt: H.-P. Ulimann, Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluß u. Politik klein- u. mittelbetrieblicher Industrieller im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1976. 19 D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien u. Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln 1970, bes. 283-92, 331-35, 368-81, 497-522. Einer der berufsständischen Kronzeugen Stegmanns, der saarländische Syndikus Alexander Tille, scheint mir mit seinen korporativen Ideen für die Industrie nicht typisch gewesen zu sein. Dazu jetzt auch S. Mielke, Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel u. Industrie 1909-1914: Der gescheiterte Versuch einer antifeudalen Sammlungspolitik, Göttingen 1976. Vgl. ferner Kaelble, Industrielle Interessenpolitik, S. 114-23; Puhle, S. 98-110. 20 Zur weiteren Entwicklung des industriellen Korporativismus und zur Differenzierung innerhalb der Industrie vgl. meinen Aufsatz: Unternchmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus, in: VfZ, Bd. 17, 1969, S. 341-71 (in diesem Band, S. 175-94). Zur Mentalität u. Ideologie der Schwerindustriellen immer noch: M. J . Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin 1930, S. 53 ff. 21 Gegen die verbreitete These von der Liberalisierung Deutschlands vor 1914 außer Stegmann jetzt besonders: H.-J. Puhle, Parlament, Parteien u, Interessenverbände 1890-1914, in: M. Stürmer (Hg.), Das kaiserliche Deutschland. Politik u. Gesellschaft 1870-1918, Düsseldorf 1970, S. 340-77. Neuerdings auch: G. Schmidt, Innenpolitische Blockbildungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: APZ, Β 20, 1972, S. 3-32. Die Kritik von M. Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977, an der skeptischen Einschätzung der Parlamentarisierungstendenzen im kaiserlichen Deutschland scheint mir empirisch und analytisch wenig überzeugend. 22 DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 662, Nr. 119, Bd. 1. 23 Hierzu Born, S. 216-33; H.-J. Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Ursprung u. Entwicklung ihrer Vorläufer im Denken und in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1961, passim; Graetzer, S. 101 f. 24 G. Schmoller, Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und -methode, in: HSt. 3. Aufl., Bd. 8, Jena 1911, S. 426-46; Tschierschky, Neumerkantilismus, S. 15-47; H. Böttger, Die Indu-

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Anmerkungen zu Seite 172-173 strie u. der Staat, Tübingen 1910, S. 66; R. v. Gneist, Die Nationale Rechtsidee von den Ständen u. das preußische Dreiklassenwahlrecht, Berlin 1894 (ND Darmstadt 1962), S. 267. -25 O. Gierke, Die Genossenschaftstheorie u. die deutsche Rechtsprechung, Berlin 1887, S. 25. 26 Zur „Feudalisierung" und Militarisierung der Bourgeoisie: H. Preuss, Die Junkerfrage, in: Die Nation 14 (1896/97), bes. S. 619; M. Weber in: Die Verhandlungen des 8. Evangelischsozialen Kongresses, abgehalten zu Leipzig am 10. und 11. Juni 1897, Göttingen 1897, S. 105 ff.; O. Stillich, Die politischen Parteien in Deutschland, Bd. II: Der Liberalismus, Leipzig 1911, S. V, 105f.; W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert u. zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 19277, S. 469-71; Th. Veblen, Imperial Germany and the Industrial Revolution, London 1915; E. Kehr, Das soziale System der Reaktion in Preußen unter dem Ministerium Puttkamer, in: ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. u. 20. Jahrhundert, hg. v. H.-U. Wehler, Berlin 1965, S. 64-86. Zur „Feudalisierung" des gewerblichen Mittelstandes siehe meine in Anm. 4 genannte Arbeit. 27 Zum Centralverband: Kaelble, Industrielle Interessenverbände, S. 185; zum Hansa-Bund: Mielke, der auch das fast völlige Fehlen innerverbandlicher Demokratie selbst in einer liberalen Interessengruppe belegt. 28 Einen geradezu klassischen Januskopf hatte die Spitzenvertretung des Handwerks in der Weimarer Republik. Die freie Vereinigung, der Reichsverband des deutschen Handwerks, war mit der (seit 1922) öffentlich-rechtlichen Spitze, dem Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag, durch eine gemeinsame Geschäftsführung verbunden. Die leitenden Funktionäre im einen Gremium waren jeweils die Stellvertreter ihrer entsprechenden Kollegen im anderen. Nipperdeys These (S. 268), die Verbände hätten sich auf eine Zusammenarbeit mit den Parteien gar nicht erst eingelassen, läßt sich in Anbetracht der neueren Forschung nicht halten. Sehr differenziert hierzu und zum Personalaustausch zwischen Verwaltungs- und Verbandsspitzen: W. Fischer, Staatsverwaltung u. Interessenverbände im Deutschen Reich 1871-1914, in: Interdependenzen von Politik u. Wirtschaft, Fs. f. G. v. Eynern, Berlin 1967, S. 431-56. Über das Verhältnis zwischen Handelstag und freien Verbänden: ders., Unternehmerschaft, S. 108-12. Zum Verhältnis zwischen Interessengruppen des gewerblichen Mittelstandes und der Bürokratie: Winkler, Mittelstand, bes. S. 40-64. 84-99. 29 J . Kocka, Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus u. Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969, bes. S. 535. Zur Verbandsentwicklung im Kaiserreich allgemein noch: E. Lederer, Die wirtschaftlichen Organisationen, Leipzig 1913; L. Müffelmann, Die wirtschaftlichen Verbände, Leipzig 1911; F. Schomerus, Die freien Interessenverbände für Handel u. Industrie u. ihr Einfluß auf die Gesetzgebung und Verwaltung, in: SchJb., Bd. 25, 1901, S. 57-138; Η. Ε. Krüger, Historische u. kritische Untersuchungen über die freien Interessenvertretungen von Industrie, Handel u. Gewerbe in Deutschland, insbes. der Fach-, Zweck- u. Zentralverbände gewerblicher Unternehmer, ebd., Bd. 32, 1908, S. 1581-614, Bd. 33, 1909, S. 617-68; E. v. Philippovich, Organisation der Berufsinteressen, in: ZVSV, Bd. 8, 1899, S. 1-22; A. Schäffle, Das Problem der Wirtschaftskammern, in: ZfGS, Bd. 51, 1895, S. 1-32, 300-42, 494-544. 30 Zum Begriff des „Organisierten Kapitalismus": R. Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, S. 165-84; über die Vorformen im Bismarckreich: Wehler, passim; zur Entwicklung im Ersten Weltkrieg besonders: G. D. Feldman, Army, Industry, and Labor in Germany 1914-1918, Princeton Ν.J., 1966; zur amerikanischen Entwicklung nach 1929: E. W. Hawley, The New Deal and the Problem of Monopoly, Princeton, Ν. J., 1966. Zur neueren Diskussion über den „Organisierten Kapitalismus" etwa: H. Staudinger, Die Änderungen in der Führerstellung und der Struktur des organisierten Kapitalismus, in: Interdependenzen, S. 341-73. Vgl. zur Gesamtproblematik jetzt auch H. A. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraus334

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Anmerkungen zu Seite 174-177 Setzungen u. Anfänge, Göttingen 1974. Über die Verbändeproblematik im besonderen u. a.: H. W. Ehrmann, Les groupes d'intérêt et la bureaucratie dans les démocraties occidentales, in: RFSP, Bd. 11, 1961, S. 541-68; H. Huber, Staat u. Verbände, Tübingen 1958; Th. Eschenburg, Herrschaft der Verbände? Stuttgart 1956; E. Gruner, Der Einbau der organisierten Interessen in den Staat, in: SZV, Bd. 15, 1959, S. 59-79. 31 E. R. Huber, Das Verbandswesen des 19. Jahrhunderts und der Verfassungsstaat, in: Festgabe für Th. Maunz, München 1971, S. 173-98; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, Stuttgart 1963, bes. S. 11-26; Bd. IV, Stuttgart 1969, S. 973-1037. 32 Zum Problem der sozialen Segmentierung insbesondere: M. R. Lepsius, Parteiensystem u. Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wirtschaft, Geschichte u. Wirtschaftsgeschichte, Fs. f. F. Lütge, Stuttgart 1966, S. 371-93. 33 Auf die kontroverse Diskussion über den Pluralismus als Strukturproblem entwickelter Industriegesellschaften kann hier nicht eingegangen werden (Bemerkungen und Literaturhinweise dazu in Winkler, Mittelstand, S. 196 f., 267). Zum Pluralismus-Begriff und zur historischen Problematik des Pluralismus in Deutschland ist nach wie vor unübertroffen: E. Fraenkel, Deutschland u. die westlichen Demokratien, Stuttgart 19683.

11. Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie und Nationalsozialismus Der Aufsatz erschien erstmals in: VfZ, Bd. 17, 1969, S. 341-71. Er wird hier in der leicht überarbeiteten Fassung abgedruckt, die in H. J . Varain (Hg.), Interessenverbände in Deutschland, NWB, Bd. 60, Köln 1973, S. 228-58, veröffentlicht worden ist. 1 Siehe hierzu die Literaturübersicht von D. Petzina, Hitler u. die deutsche Industrie, in: GWU, Bd. 17, 1966, S. 482-91. 2 Dazu neuerdings W. Treue, Der deutsche Unternehmer in der Weltwirtschaftskrise 1928-1933, in: W. Conze u. H. Raupach (Hg.), Die Staats- u. Wirtschaftskrise des Deutschen Reiches 1929-1933, Stuttgart 1967, S. 82-125. 3 Hierzu etwa F. Klein, Zur Vorbereitung der faschistischen Diktatur durch die deutsche Großbourgeoisie (1929-1932), in: ZfG, Bd. 1, 1953, S. 872-904; K. Röseler, Unternehmer in der Weimarer Republik, in: Tradition, Bd. 13, 1968, S. 217-40; E. Fraenkel, Der Ruhreisenstreit 1928-1929 in historisch-politischer Sicht, in: Staat, Wirtschaft u. Politik in der Weimarer Republik, Fs. f. H. Brüning, Berlin 1967, S. 97-117. 4 Eine kurze Zusammenfassung in: O. Spann, Hauptpunkte der universalistischen Staatsauffassung, Berlin 1931. 5 Zusammenfassend hierzu: H. Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Verfassung von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart 1921, S. 58 ff. 6 Die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, hg. v. E. Heilfron, Bd. 6, Berlin o. J., S. 4321 f. Dazu E. List, der Berufsständegedanke in der deutschen Verfassungsdiskussion seit 1919, Leipzig 1930, S. 22. 7 Näheres dazu in meinem Buch: Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, S. 84-99. 8 DZA Potsdam, RKM, Handwerk 111, Bd. 1, Nr. 26 (Entschließung der Vereinigten Vorstände des Reichsverbandes des deutschen Handwerks und des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages vom 15. 7. 1930). 9 Ebd. (Bericht über die gemeinsame Sitzung der Vorstände des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages und des Reichsverbandes des deutschen Handwerks am 8. 11. 1930 in Hannover.)

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Anmerkungen zu Seite 177-180 10 W. Wernet, Ständewirtschaft u. Ständestaat, in: DHB, Jg. 26, 1932, Heft 21 (1. 11.), S. 406-09. 11 Berufsstandsgedanke u. Berufsstandspolitik des Handwerks, im Auftrag des Vorstandes des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, Hannover, hg. v. dessen Generalsekretär, als Manuskript gedruckt, Hannover 1931, S. 27. Die folgenden Zitate, zum Teil unter ausdrücklicher Berufung auf Spann: ebd., S. 61 ff. 12 Vgl. die entsprechenden Passagen beiO.Spann, Der wahre Staat, Leipzig 19313, S. 237 ff. 13 A. Heinrichsbauer, Zur Kritik der „Wirtschaftsdemokratie", in: DA, Jg. 20, 1930, Nr. 14 (15. 7.), S. 400 f. Heinrichsbauer, damals Herausgeber und Schriftleiter des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsdienstes sowie Mittelsmann zwischen Ruhrindustrie und Nationalsozialisten (dazu G. W. F. Hallgarten, Hitler, Reichswehr u. Industrie. Zur Geschichte der Jahre 1918-1933, Frankfurt 19621, S. 119; A. Heinrichsbauer, Schwerindustrie u. Politik, Essen 1948) forderte in einem Brief an den Staatssekretär der Reichskanzlei, Planck, vom 5. 9. 1932 die Einrichtung eines Referats für berufsständische Fragen, „um die praktischen Vorarbeiten für die Einrichtung des berufsständischen Aufbaus in die Wege zu leiten". Er behauptete, daß „heute schon die Mehrheit des deutschen Volkes, nämlich die in der NSDAP, der Deutschnationalen Volkspartei, gewissen landwirtschaftlichen Gruppen und dem Zentrum zusammengefügten Schichten auf diesem Boden" stünden, und stellte fest: „Wenn die parlamentarische Demokratie zertrümmert wird, muß der Nation ein neuer politischer Rahmen gegeben werden." BA Koblenz, RK 43 I, Handel 5, Bd. 17, 1144. 14 E. Jungs Buch „Die Herrschaft der Minderwertigen" wurde im „Arbeitgeber" u. a. in einer Selbstrezension des Autors (Jg. 20), 1930, Nr. 3 [1. 2.]) und in einer positiven Besprechung durch W. Wirths (ebd. Nr. 6, 15. 3.) gewürdigt. Nach einer Mitteilung Heinrichsbauers (Schwerindustrie, S. 48) wurden die Arbeiten und Bücher Jungs von der Ruhrindustrie finanziell gefördert. 15 (F.) Lent, Die Vertretung der Industrie in den Parlamenten, in: DA, Jg. 2:, 1930, Nr. 4 (15. 2.), S. 86-88. Lent war Professor des bürgerlichen Rechts in Erlangen und zu jener Zeit deutschnationaler Landtagsabgeordneter in Bayern. 16 G. Mehlis, Der Ständestaat, ebd., Nr. 9, 1. 5., S. 251-52. Der Artikel dürfte, wie die ganze Argumentation zeigt, noch vor dem Ende der Großen Koalition am 27. 3. 1930 geschrieben worden sein. 17 Siehe etwa ders., Der Kampfgedanke des Faschismus, ebd., Jg. 21, 1931, Nr. 16 (15. 8.), S. 410 f.; M. J. Wolff, Bürgertum und Sozialismus, ebd. Nr. 7 (1. 4.), S. 162-64; H. Brauweiler, Möglichkeiten ständischer Ordnung, ebd., Nr. 16 (15. 8.), S. 407-10; E. Weinreich, Von der Aufgabe des italienischen Wohlfahrtsinstituts (Opera Nazionale Dopolavoro), ebd., Jg. 20, 1930, Nr. 6 (15. 3.), S. 147-49. 18 Dazu G. Erdmann, Die deutschen Arbeitgeberverbände im sozialgeschichtlichen Wandel der Zeit, Neuwied 1966. 19 K. Vorwerck, Soziale Betnebspolitik u. werksgemeinschaftlich-berufsständische Idee, in: DA, Jg. 21, 1931, Nr. 16(15. 8.), S. 405-07; P. Karrenbrock, Die Wiederkunft der organischen Ordnung, ebd., Jg. 22, 1932, Nr. 2 (15. 1.), S. 36-39; W. Heinrich, Ständische Wirtschaft, ebd., Nr. 9 (1. 5.), S. 193-96 u. Nr. 10 (15. 5.), S. 216-18). Spann selbst hatte schon 1922 vor der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände über „Die wissenschaftliche Überwindung des Marxismus" gesprochen und war auch im „Arbeitgeber" zu Wort gekommen. Dazu: H. Lebovics, Social Conservatism and the Middle Classes in Germany 1914-1933, Princeton, N. J . , 1969, S. 131 f. 20 Brauweiler, S. 407-10. 21 C. Düssel, Politische Elite u. berufskorporative Verantwortung, DA, Jg. 22, 1932, Nr. 13 (1. 7.), S. 292-95. 22 C. Dunkmann, Kritik der berufsständischen Wirtschaft nach Othmar Spann, ebd., Nr. 15 (1. 8.), S. 343-49. 336

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Anmerkungen zu Seite 181-184 23 A. Heinrichsbauer, Wirtschaftsentwicklung u. Politik, ebd., Jg. 20, 1930, Nr. 4 (15. 2.), S. 84-86. 24 F. Thyssen, I paid Hitler, London 1941, S. 154 ff. Thyssen will mit den Ideen Spanns durch Dr. Klein von der IG Farben bekannt gemacht worden sein. Nach der Machtergreifungim Mai 1933-wurden Thyssen und Klein von Hitler mit der Gründung des „Nationalsozialistischen Instituts für Ständewesen" in Düsseldorf beauftragt. Zu den führenden Mitarbeitern des Instituts gehörte Walter Heinrich. Siehe hierzu R. H. Rämisch, Die berufsständische Verfassung in Theorie und Praxis des Nationalsozialismus, Diss. Berlin 1957; G. Schulz, Die Anfänge des totalitären Maßnahmestaates, in: K.-D. Bracher, Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln 1962, S. 397 ff., 641 ff. Zu Thyssens ,,I paid Hitler" quellenkritisch: H, A. Turner, jr., Fritz Thyssen u. das Buch ,,I paid Hitler", in: ders., Faschismus u. Kapitalismus in Deutschland, Göttingen 1972, S. 87-113.-Neben Thyssen trat als Anhänger ständischer Ideen im Großindustriellenlager auch der - nationalsozialistisch orientierte - Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Nord-West, Ludwig Grauen, in Erscheinung. Dazu Heinrichsbauer, Schwerindustrie, S. 56. Von einer finanziellen Förderung Spanns durch Grauert spricht W. Ferber, Othmar Spann u. der Nationalsozialismus, in: Civitas, Bd. 15, 1959/60, S. 547-50. Über Spann jetzt auch: M. Schneller, Zwischen Romantik u. Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservativismus der Weimarer Republik, Stuttgart 1970. Die Tatsache, daß die wenigen großindustriellen Anhänger Spanns meist aus schwerindustriellen Kreisen kamen, deutet auf eine in diesem Bereich besonders verbreitete autoritäre und wettbewerbsfeindliche Mentalität hin. Dazu etwa: M. J . Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin 19302, S. 53 ff. Zudem mußte die Schwerindustrie im Unterschied zu anderen Branchen von einer berufsständischen Organisation keine Behinderung durch Mittel- und Kleinbetriebe befürchten. 25 C. Lammers, Autarkie, Planwirtschaft u. berufsständischer Staat, Berlin 1932, S. 41. 26 R. Görnandt, Die Metallwaren-Industrie im Rahmen einer ständischen Verfassung, Berlin 1932, S. 27 ff. 27 Ders., Die berufsständische Verfassung der deutschen Wirtschaft, Berlin 1933, S. 31. 28 Lammers, S. 42. 29 Görnandt, Metallwaren-Industrie, S. 21. 30 M. Schlenker, Gedanken zum neuen Agrarprogramm, in: Stahl und Eisen, 1930, S. 698. Zit. bei W. Sörgel, Metallindustrie u. Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1965, S. 23. 31 M. Schlenker, Gesunde Wirtschaft im starken Staat, in: Stahl und Eisen, 1932, S. 1169. Zitiert bei Sörgel, S. 24. 32 Zur politischen Rolle des Gremiums in Kaiserreich und Weimarer Republik siehe D. Schäfer, Der Deutsche Industrie- und Handelstag als politisches Forum. Eine historische Studie zum Verhältnis von Politik u. Wirtschaft, Hamburg 1966. 33 Die Vollendung des korporativen Staates, in: DWZ, Jg. 28, 1931, Nr. 26 (25. 6.), S. 612 f. 34 H. Klein, Der berufsständische Gedanke im italienischen Korporationssystem, ebd., Jg. 29, 1932, Nr. 30 (28. 7.), S. 716-18. 35 J. Wilden, Die berufsständische Organisation der Wirtschaft, Gedanken eines Praktikers, Köln 1932, S. 38 ff. Wilden war Geschäftsführer der IHK Düsseldorf. 36 H. Kanter, Staat u. berufssständischer Ausbau, o. O., 1932. Ein Exemplar dieser als Manuskript gedruckten Schrift des Syndikus der Handelskammer Braunschweig befindet sich im BA Koblenz, Reichswirtschaftskammer, R 11-377. Kanter wirft Spann ,,Staatsvergottung" vor und unterstreicht mit seiner Feststellung, Zwangskartellierungen seien für „viele selbständige Unternehmer, die unter der gegenwärtigen Zerrüttung des Marktes schwer leiden", verlockend, die unterschiedlichen Interessen zwischen Groß- und Kleinunternehmerschaft (Ebd., S. 8). 37 E. Hamm, Zum Problem des berufsständischen Aufbaus, in: DWZ, Jg. 29 (1932), Nr. 30 (28. 7.), S. 709-16. Siehe dazu auch: Handelskammerstimmen zur berufsständischen Organisation der Wirtschaft, ebd., Jg. 29, 1932, Nr. 31 (4. 8.), S. 751 und: Weitere Stimmen zur Frage des berufsständischen Aufbaus, ebd., Nr. 44 (3. 11.), S. 1059 f. 22 Winkler. Liberalismus

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Anmerkungen zu Seite 184-186 38 Den „Organisierten Kapitalismus" charakterisierte Kanter unter Hinweis auf Werner Sombart (Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 1932) folgendermaßen: „Die Staatspolitik nimmt weitgehend Einfluß auf die Produktionspolitik, ja der Staat hat nicht nur eine Fülle von Unternehmungen aus privater Hand übernommen, sondern auch darüber hinaus rein kapitalmäßig an Banken, Schiffahrtsgesellschaften, Bergwerksgesellschaften, Eisen schaffenden Unternehmungen und vielen anderen mehr sich beteiligt." Als einen Repräsentaten dieses „Organisierten Kapitalismus" bezeichnete er Mussolini (Kanter, S. 4 ff.). Vom typischen liberal-individualistischen Pathos des Unternehmerlagers wich deutlich Hans Reupke, Mitglied der Geschäftsführung des Reichsverbandes der deutschen Industrie und seit 1931 auch der NSDAP, ab. Er bejahte die im italienischen Faschismus verwirklichte Form einer staatlichen Wirtschaftssteuerung auf dem Boden des Privateigentums als zeitgemäß und forderte ihre Übertragung auf Deutschland. Siehe ders. Das Wirtschaftssystem des Faschismus, Berlin 1930; Unternehmer u. Arbeiter in der faschistischen Wirtschaftsidee, Berlin 1931. Über Reupke jetzt: K.-P. Hoepke, Die deutsche Rechte u. der italienische Faschismus, Düsseldorf 1968, S. 181 ff. 39 „Wirtschaftsfreiheit gegen Wirtschaftsnot!", in: MHB Nr. 7 (1. 7. 1931), S. 1. 40 Besonders massiv wird diese Forderung im „Manifest der Wirtschaft", einer gemeinsamen Erklärung der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft vom 29. 9. 1931 erhoben, das einen umfangreichen Abbau der Steuerbelastungen der Wirtschaft und der öffentlichen Ausgaben sowie eine Anpassung der Löhne und Gehälter an die gegebenen Wettbewerbsverhältnisse fordert (Text u. a. in: DWZ, Jg. 28, 1931, Nr. 40 [1. 10.1, S. 949-51). 41 Dazu G. Schulz, Zwischen Demokratie u. Diktatur. Verfassungspolitik u. Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1, Tübingen 1963. 42 Das Problem des Reichsrats, hg. v. Bund zur Erneuerung des Reiches, Berlin 1930, bes. S. 51 ff. Zu den Mitgliedern des Vorstandes und des Arbeitsausschusses des Erneuerungsbundes, die auch die Schrift über den Reichsrat unterzeichneten, gehörten neben hohen Beamten, Universitätsprofessoren, Rittergutsbesitzern und Politikern aller bürgerlichen Parteien auch zahlreiche Vertreter des Wirtschaftslebens. - Auf die Rolle, die die Reparationen bei den Forderungen der Industrie nach einer Beschränkung der Ausgabenkompetenz der Parlamente spielten, verweist das bei Schulz, Demokratie, S. 659 ff., abgedruckte Aide-memoire des Reichsverbandes der deutschen Industrie vom 23. 11. 1927. 43 Zum Folgenden insbesondere Rämisch, passim, sowie J. Beyer, Die Ständeideologien der Systemzeit u. ihre Überwindung, Darmstadt 1941, S. 302 ff. 44 G. Feder, Das Programm der N.S.D.A.P. u. seine weltanschaulichen Grundgedanken. München 193012, S. 9. 45 A. Hitler, Mein Kampf, München 193334, S. 677. Offenbar sind die Wirtschaftskammern als Unternehmerorgane, die Ständekammern und das zentrale Wirtschaftsparlament als Organe gedacht, in denen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammenwirken sollen. Die Gewerkschaften erklärt Hitler vor allem für notwendig als „Bausteine des künftigen Wirtschaftsparlaments beziehungsweise der Ständekammern" (ebd., S. 672). 46 Feder, S. 17. 47 A. Rosenberg, Wesen, Grundsätze u. Ziele der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, München 1932 (160. Tausend), S. 46 (Kommentar zu Punkt 25 des Parteiprogramms). 48 H. Buchner, Grundriß einer nationalsozialistischen Volkswirtschaftslehre, NSB, Heft 16, München 19347, S. 30 ff. 49 M. Frauendorfer, Der Ständische Gedanke im Nationalsozialismus, NSB, Heft 40, München 19332 (19321), S. 24 ff. 50 Sehr ausgeprägt ist diese Tendenz auch bei D. Klagges, Soziale Gerechtigkeit durch Organisation und Berechnung, in: NSBr., Jg. 5, 1929/30, S. 29ff. (zitiert bei H. Braeutigam, Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus, Berlin 1932, S. 7 f.). Hier wird den ständestaatlichen Organisationen die einwandfreie, mathematisch exakte Berechnung aller Faktoren aufgetragen, auf die es für eine gerechte Wertverteilung ankomme. Die Selbstverwaltung der Wirtschaft wird 338

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Anmerkungen zu Seite 186-188 stärker betont in der ebenfalls nicht parteioffiziellen Schrift von H. Reupke, Der Nationalsozialismus u. die Wirtschaft, Berlin 1931. Zur „Suprematie der Politik" im Nationalsozialismus: T. Mason, Der Primat der Politik. Politik u. Wirtschaft im Nationalsozialismus, in: Das Argument, Bd. 8, 1966, Nr. 41, S. 473-94. 51 Zur Programmatik des Strasser-Flügels der NSDAP: R. Kühnl, Die nationalsozialistische Linke 1925-1930, Meisenheim am Glan 1966; ders., Zur Programmatik der nationalsozialistischen Linken. Das Strasser-Programm von 1925/26, VfZ, Bd. 14, 1966, S. 317-33. 52 Zur Gliederung der Reichsorganisationsleitung und ihren Veränderungen 1931/32: Schulz, Anfänge, S. 395, 405. 53 O. Wagener, Nationalsozialistische Wirtschaftsprobleme, in: WPD, Nationalsozialistische Wirtschaftskorrespondenz, Jg. 2, 1931, Nr. 5 (4. 2.), Nr. 6 (11. 2.), Nr. 7 (18. 2.). - Eine drittelparitätische Besetzung sah Wagener nach der Machtergreifung nur für die „sozialpolitischen Ausschüsse" der Bezirks-, Landes- und Reichsfachgruppen vor, während er in den wirtschaftspolitisch wichtigeren „Fachausschüssen" z. B. zehn Unternehmervertretern fünf Arbeiter- und drei Angestelltenvertreter gegenüberstellen wollte. Ders., Nationalsozialistische Wirtschaftsauffassung u. bemfsständischer Aufbau, Berlin 1933, S. 15. 54 Zur Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftsprogramm der NSDAP im allgemeinen siehe insbesondere: G. Schroeder, Das nationalsozialistische Wirtschaftsprogramm, in: DA, Jg. 20 (1930), Nr. 14 (15. 7.), S. 404-06; Das Wirtschaftsprogramm des Nationalsozialismus, in: DWZ, Jg. 29, 1932, Nr. 33 (18. 8.); Nr. 34 (25. 8.); Nr. 36 (8. 9.); Nr. 38 (22. 9.); Nr. 40(6. 10.) Diese anonym erschienenen Artikel sind vom Schriftleiter der DWZ, Rieker, verfaßt worden (BA Koblenz, RWK, R 11-377 [Hamm an Kanter am 17. 9. 1932]), 55 Z. B.NHZ, Jg. 29, 1924, Nr. 17(24. 4.) und Nr. 47(20. 11.). Das Verhältnis von gewerblichem Mittelstand und Nationalsozialismus wird ausführlich in meiner in Anm. 7 zitierten Arbeit behandelt. 56 Berufsstandsgedanke (vgl. Anm. 11), S. 116, 157. Meusch beruft sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die korporativen Entwürfe Wageners. 57 DZA Potsdam, RKM, Handwerk 111, Bd. 1, Nr. 26 (Niederschrift über die gemeinsame Sitzung der Vorstände des Reichsverbandes des deutschen Handwerks und des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages am 10. 2. 1931 in Hannover). 58 Berufsstandsgedanke, S. 102; W. Wernet, Das Handwerk in der berufsständischen Wirtschaft, Berlin 1932, passim. 59 Zur Affinität der harmonistischen Gesellschaftsbilder von Mittelstand und Nationalsozialismus im allgemeinen: M. R. Lepsius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, Stuttgart 1966, S. 9 ff. In der Landwirtschaft war eine im weiteren Sinne „ständische" Mentalität - in polemischer Abgrenzung von Klassenbewußtsein - ebenfalls verbreitet; die Rolle einer ausgeprägten Integrationsideologie spielte sie jedoch nur dort, wo zahlreiche abhängige Arbeitskräfte die entscheidende Voraussetzung für die Produktion waren. Dazu etwa: C. v. Eickstedt, Die Landwirtschaft als Berufsstand, in: Die Tat, Bd. 17, 1925/26, S. 469-506; v. Rohr, Der Aufbau des Pommerschen Landbundes, in: K. Vorwerck (Hg.), Die berufsständische Wirtschafts- u. Sozialordnung, Berlin 1933, S. 47 ff. 60 Lammers, S. 35, 39. 61 Hamm, S. 715. 62 BA Koblenz, RWK, R 11-377. Jordan machte diese Ausführungen in einem Vortrag über „Berufsständische Gliederung und kapitalistische Wirtschaftsordnung" in der Sitzung der Wirtschaftlichen Vereinigung der Unternehmerverbände am 12. 1. 1932 in Karlsruhe. 63 BA Koblenz, RWK, R. 11-377. 64 Neben den nationalsozialistischen Bestrebungen stand auch der katholische Korporativismus, wie er in der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) seinen Niederschlag gefunden hatte, zur Debatte. Als ethisches Prinzip wurde letzterer von einigen katholischen Unternehmervertretem, insbesondere von Josef Wilden, bejaht. Ebenso wie der DIHT bildete auch der Reichs-

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Anmerkungen zu Seite 188-190 verband der deutschen Industrie zur gleichen Zeit einen Ausschuß zur Erörterung berufsständischer Fragen (BA Koblenz, RWK, R 11-1377). 65 Auf diesen Gesprächen, die Kanter und andere Handelskammervertreter im Sommer 1932 in Hannover führten, fußten seine Bemerkungen über die Nationalsozialisten (siehe Anm. 36). In dieser Unterredung hat Wagener offensichtlich gemeinsame paritätische Kammern für Unternehmer, Angestellte und Arbeiter gefordert (Kanter, S. 7). Kanter erwähnt auch eine mir nicht zugängliche Broschüre Wageners „Das Wirtschaftsprogramm der NSDAP". Diese Schrift ist einer Mitteilung Kanters an Hamm vom 21. 9. 1932 zufolge „inzwischen von der Parteileitung zurückgezogen" worden. BA Koblenz, RWK, R 11-377. Über Wagener vgl. jetzt auch H. A. Turners Einleitung zu dessen Erinnerungen: Hitler aus nächster Nähe. Ein Augenzeuge berichtet, hg. ν. Η. A. Turner, jr., Berlin 1976. 66 Ebd. (Hamm an Kanter am17.9. 1932). Hamm erwähnt eine ihm von „zuverlässiger Seite" zugegangene Mitteilung, „daß in der NSDAP gewissermaßen ein Verbot der öffentlichen Erörterung dieser Frage ergangen war". Der Informant Hamms war wohl Otto Hugo (siehe Anm. 68). 67 Ebd. (Kanter an Hamm am 21. 9. 1932). Kanter bemerkt, er wisse positiv, „daß Hitler durch Othmar Spann beeinflußt wird. Othmar Spann trifft mit Hitler oft, und zwar meist auf mehrere Tage zusammen, nicht offiziell in München, aber doch in Oberbayern auf Hütten u. dgl.". Dieses Zeugnis findet sonst, soweit ich sehe, keine Bestätigung. Schulz, Anfänge, S. 400, sieht Kanters Aussage jedoch als glaubwürdig an. 68 BA Koblenz, RWK, R 11-377 (Hugo an Hamm am 2. 8. 1932). Eine gewisse Bestätigung der Mitteilung Hugos über die Wagener angelegten Fesseln mag man in dem Verlagsvorwort zu seiner Schrift von 1933 (vgl. Anm. 53) erblicken, wo es heißt, angesichts des kontroversen Charakters wirtschaftlicher Probleme hätte Wagener „nicht in der Öffentlichkeit" arbeiten können (S. 3). 69 Schulz, Anfänge, S. 405; Rämisch, S. 43. Mit Funk hatte Hamm bereits vor der Neuorganisation konferiert. BA Koblenz, RWK, R 11-377, Nr. 421 (Hamm an Hugo am 2. 8. 1932). Zum Beginn der Annäherung zwischen Hitler und der Schwerindustrie neuerdings: Η. Α. Tur­ ner, Hitler's Secret Pamphlet for Industrialists, 1927, in: JMH, Bd. 40, 1968, S. 348-74 (dt. in: ders., Faschismus u. Kapitalismus, S. 33-59). 70 Im Zusammenhang mit der Neuordnung der Wirtschaftspolitischen Abteilung wurde ausdrücklich festgestellt, daß alle nicht im Parteiverlag Eher erschienenen Schriften, die sich mit „nationalsozialistischen Wirtschaftsproblemen" befassen, keinen parteiamtlichen Charakter tragen und diesen auch dadurch nicht erlangen, daß der Verfasser sich auf eine Funktion innerhalb der Partei beruft". G. Feder, Kampf gegen die Hochfinanz, München 1933, S. 371. - Das von Funk unter Mitarbeit von Feder verfaßte „Wirtschaftliche Aufbauprogramm der NSDAP" (ebd., S. 371-82), das unmittelbar nach der Neuorganisation der Wirtschaftspolitischen Abteilung erschien, ist bereits weithin ein Ausdruck der Annäherung zwischen NSDAP und Industrie. Vgl. Rämisch, S. 43. 71 Dazu besonders Schulz, Anfänge, S. 627 ff. und A. Schweitzer, Big Business in the Third Reich, London 1964, S. 110 ff. 72 E. Czichon, Wer verhalf Hitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen Industrie an der Zerstörung der Weimarer Republik, Köln 1967, S. 24 ff. Kritisch dazu: Η. Α. Turner, Big Busi­ ness and the Rise of Hitler, in: AHR, Bd. 75, 1969, S. 56-70; ders., The „Ruhrlade", Secret Cabinet of Heavy Industry in the Weimar Republic, in: CEH, Bd. 3, 1970, S. 195-228 (dt. in: ders., Faschismus u. Kapitalismus, S. 9-32, 114-56). 73 So der Berliner Handelskammersyndikus Demuth (BA Koblenz, RWK, R 11-377).-Zum traditionellen „Individualismus" der Unternehmer als Hindernis berufssrändischer Organisationsformen: Treue, S. 119 ff. 74 Den Ausdruck „Arbeitsgemeinschaft der Führer" gebrauchte der Düsseldorfer Handwerkskammerpräsident Hecker auf der gemeinsamen Vorstandssitzung des Deutschen Hand340

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Anmerkungen zu Seite 191 werks- und Gewerbekammertages und des Reichsverbandes des deutschen Handwerks am 24. 11. 1932 in Hannover (DZA Potsdam, RWK, Handwerk 111, Nr. 26). Auf das Vorbild der „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände" von 1918 verwies in ähnlichem Zusammenhang der Bremer Handelskammersyndikus Ulrich (BA Koblenz, RWK, R 11-377). Zum Problem der „Werksgemeinschaft" vgl. insbesondere: K. Vorwerck, Die Probleme der Werksgemeinschaft, in: Werk und Beruf, Bd. 1, 1919, S. 3-7; ders., Der Kampf um die Werksgemeinschaft, ebd., S. 39-44, sowie B.-J. Wendt, Mitbestimmung u. Sozialpartnerschaft in der Weimarer Republik, in: APZ, Β 26, 1969, bes. S. 39 ff. 75 VRDI, Heft 21, Berlin 1924, S. 35. Nach dem in der BBZ vom 30. 4. 1924 veröffentlichten Text von Vögelers Vortrag lautete der Satz: „Der überpolitische Staat gehört der Vergangenheit an . . . " 76 Siehe dazu die - nicht nur für das Handwerk typische - Äußerung des Koblenzer Handwerkskammersyndikus Η. Α. Otto (Die berufsständische Ordnung u. das Handwerk im Rahmen seiner Bestrebungen zur Sicherung seines Standes, Mayen 1932, S. 12): „Nach Ansicht des Handwerks ist der Staat, der zur Zeit auf den Parteien ruht, nicht neutral und dem Handwerk gegenüber nicht objektiv genug. Die gesetzgebende und ausführende Gewalt des Staates muß daher im Sinne der Neutralisierung geändert werden." Die geforderte Ständekammer wird folgerichtig als „neutraler, vermittelnder Faktor" bezeichnet. Die berufsständische Ordnung, die es Schritt für Schritt einzuleiten gelte, hat die Aufgabe, ,,die Gegensätze möglichst klein erscheinen (sic!) zu lassen" (ebd., S. 17 ff.). 77 Zum Begrifflichen: E. Fraenkel, Demokratie u. öffentliche Meinung, in: ders., Deutschland u. die westlichen Demokratien, Stuttgart 19683, S. 141-64. - Die theoretische Begründung dieser Konzeption von Neutralität lieferte Carl Schmitt, der einerseits einem den ökonomischen Verhältnissen gegenüber sich neutral verhaltenden Staat vorwarf, er verzichte auf seinen Herrschaftsanspruch (Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen [1929], in: ders., Der Begriff des Politischen, Berlin 19632, S. 79-95), andererseits aber „positive" Formen der Neutralität im Sinne von Objektivität und Sachlichkeit entwickelte (Corrolarium 1: Übersicht über die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen des Begriffs der innenpolitischen Neutralität des Staates [1931], ebd., S. 97 ff. und in: Der Hüter der Verfassung, Berlin 1931, S. 111-15). Diese Thesen trug Schmitt auch auf der 50. Vollversammlung des DIHT am 24. 4. 1930 unter dem Titel „Das Problem der innenpolitischen Neutralität des Staates" vor (ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 41-59). Siehe hierzu auch: H.-H. Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände u. Staat 1918-1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik, Berlin 1967, S. 380 ff. 78 Als Aufgabe der Unternehmer bezeichnete es Vögler (Anm. 75), „die Arbeiterschaft wieder mit nationalem Geist zu erfüllen". 79 Dazu E. Fraenkel, Die repräsentative u. die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders., Deutschland, S. 81-119. 80 K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 19644, S. 438 ff. Siehe dazu auch die Ausführungen prominenter Industrieller, in: VRDI, Nr. 50 u. 55, Berlin 1930. 81 Dazu Czichon, S. 24. Der RDI forderte dagegen in einer Eingabe an Brüning am 10. 5. 1932 „eine Umstellung der staatlichen Willensrichtung" (BA Koblenz, R43 I, Handel 5, Bd. 16, Nr. 1141), wobei besonders auf die Eingriffe in private Vertragsverhältnisse und das Verhältnis zwischen Reich und Ländern verwiesen wurde. 82 Das Regierungsprogramm, in: DWZ, 29, 1932, Nr. 23 (9. 6.), S. 548. Am Wirtschaftsprogramm Papens wird bemängelt, es sei nur das klar herausgearbeitet, was die Regierung nicht wolle. Im übrigen wird anerkannt, daß „Verwaltungspraktiker von Rang" im neuen Kabinett vertreten seien. 83 BA Koblenz, RK, R 43 I, Gewerbe Β 1, Bd. 2, Nr. 2015.

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Anmerkungen zu Seite 192-193 84 BA Koblenz, RK, R 43 I, Handel 5, Bd. 16, Nr. 1141. 85 BA Koblenz, RWK, R 11-377. 86 Telegramm an den Reichskanzler vom 28. 8. 1932 (BA Koblenz, R43 I, Handel 5, Bd. 16, Nr. 1141). Das Telegramm ist unterzeichnet vom Präsidenten des Hansa-Bundes, Hermann Fischer, und seinem Direktor, Ernst Mosich. Beide waren führende Mitglieder der Deutschen Demokratischen Partei bzw. der Staatspartei. 87 MHB, Nr. 12(1. 12. 1932), Fragen der richtigen und verfassungsmäßigen Anwendung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung bezeichnet Fischer in diesem Zusammenhang als unerheblich. 88 BA Koblenz, RK R 43 I, Handel und Industrie 12, Bd. 1, Nr. 1184. Mosich erwähnte in diesem Brief vom 9. 8. 1932 unter den berufsständischen Tendenzen die letzten Verlautbarungen des Reichsverbandes des deutschen Handwerks, Äußerungen im Reichsverband der deutschen Industrie, Bestrebungen im Reichslandbund und Reichslandwirtschaftsrat sowie eine Rede des Geschäftsführers der Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels, Tiburtius. 89 Ein Beispiel hierfür sind die Ausführungen von Paul Reusch im Arbeitsausschuß des DIHT am 22. 8. 1932 in Koblenz, BA Koblenz, RWK, R 11-377. 90 In den Beratungen des berufsständischen Arbeitsausschusses des DIHT war die Resonanz auf die Oberhausidee durchweg positiv (ebd.). Zu den einschlägigen Plänen Papens und des Reichsinnenministers von Gayl: Bracher, S. 536 ff.; W. Schotte, Der neue Staat, Berlin 1932, S. 69 ff. - Bezeichnend ist, daß die Mitglieder der Zweiten (oder vielmehr: Ersten) Kammer vom Staatsoberhaupt auf Lebenszeit berufen werden sollen. Papen sah darin gerade eine Garantie ihrer „Unabhängigkeit". 91 So Hamm am 17. 8. 1932 im Arbeitsausschuß des DIHT (BA Koblenz, RWK, R 11-377). 92 So der Elberfelder Textilindustrielle Abraham Frowein, ebd. 93 D. Petzina, Hauptprobleme der deutschen Wirtschaftspolitik 1932/33, VfZ, Bd. 15, 1967, S. 18-55; Czichon, S. 36 ff. 94 E. Mosich, Arbeit Schaffen!, in: Wirtschaftsfreiheit gegen Wirtschaftsnot, Nr. 46 (19. 12. 1932), - Unter Anspielung auf den „Tat-Kreis" hatte Mosich schon am 7. 12. 1932 an Schleicher geschrieben: „Es wäre nicht zu verantworten, wollten wir verschweigen, daß die Presseauseinandersetzungen über die Beratung der neuen Regierung und über die dabei angeblich einflußvollen Bestrebungen der Gewerkschaften und einiger, der freien Wirtschaft besonders feindlich gegenüberstehender politischer Zirkel eine von Tag zu Tag um sich greifende Beunruhigung im gewerblichen Unternehmertum nach sich gezogen haben" (BA Koblenz, RK, R 43 I, Handel 5, Bd. 18, Nr. 1145). 95 Außer vom Hansa-Bund wurde diese Forderung in Eingaben an den Reichskanzler erhoben u. a. vom DIHT (Hamm an Schleicher am 8. 12. 1932, ebd.), vom Edeka-Verband deutscher kaufmännischer Genossenschaften (Brief an Schleicher am 13.12.1932, ebd.), von der Industrie-und Handelskammer Lüneburg (Brief an Schleicher vom 13. 12. 1932, ebd.), vom Außenhandelsverband e. V. Berlin (Brief an Schleicher vom 19. 12. 1932, ebd.). 96 Eine Anfrage Mosts wegen der weiteren Arbeit des berufsständischen Arbeitsausschusses beim DIHT beantwortete Hamm am 12. 12. 1932 folgendermaßen: „Die Behandlung auch dieser Fragen wird natürlich von der politischen Entwicklung abhängen. Kommt es zu einer Erneuerung der Regierung mit parlamentarischer Grundlage im Sinne einer gewissen soldatischarbeiterschaftlichen Richtung, so können die Fragen schnell zur Entscheidung reifen." Er verwies in diesem Kontext auf die staatlich verordneten Zwangsgenossenschaften in Österreich (BA Koblenz, RWK, R 11-377). 97 Zu den im November 1932 einsetzenden Bemühungen des ,,Keppler-Kreises", durch eine Unterschriftenaktion bei führenden Industriellen, Hindenburg für eine Kanzlerschaft Hitlers zu gewinnen, und den weiteren Kontakten zwischen Wirtschaftskreisen und NSDAP: Czichon, S. 47 ff. Korrekturen an Czichon bei Turner, Ruhrlade, S. 195 ff. Zum gleichen Problem jetzt auch R. Vogelsang, Der Freundeskreis Heinrich Himmler, Göttingen 1972, S. 22-40. 342

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Anmerkungen zu Seite 193-195 98 Zusammenfassend zur Rolle und Entwicklung der Interessenverbände im Jahre 1933: Schulz, Anfänge, S. 634 ff. 99 Siehe dazu meinen Artikel „Bürgertum", in: SDG, Bd. I, Freiburg 1966, bes. Sp. 950. Über die Haltung speziell der Unternehmer: M. J . Bonn, S. 53 ff., der die traditionelle und interessenbedingte Symbiose von Schwerindustrie und Obrigkeitsstaat betont. 100 R. Dahrendorf, Gesellschaft u. Demokratie in Deutschland, München 1965, passim. 101 Ich weiche hier und im folgenden von der Erstfassung dieses Aufsatzes insofern ab, als ich auf alle - in diesem Zusammenhang notwendig verkürzten - Faschismus-Definitionen und Generalisierungen der Weimarer Erfahrungen verzichte. Vgl. zu diesem Problembereich jetzt meinen Aufsatz „Die ,neue Linke' u. der Faschismus. Zur Kritik neomarxistischer Theorien über den Nationalsozialismus", in: Η. Α. Winkler, Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Historischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 65-117. 102 Zur Interpretation der faschistischen Politik als einer „Politik der Großbourgeoisie" und der faschistischen Staatsmacht als der „offenen terroristischen Diktatur der am meisten reaktionären und chauvinistischen imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" (so die Definition der Komintern): E. Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln 1967; Theo Pirker, Komintern u. Faschismus 1920-1940, Stuttgart 1965; I. Fetscher, Faschismusu.Nationalsozialismus. Zur Kritik des sowjetmarxistischen Faschismusbegriffs, in: PVS, Bd. 3, 1962, S. 42-63. 103 Zu den Versuchen der deutschen katholischen Arbeitnehmerschaft und ihrer Theoretiker, eine berufsständisch-paritätische Kooperation mit einem uneingeschränkten parlamentarischen System zu verbinden: H. Bußhoff, Berufsständisches Gedankengut zu Beginn der 30er Jahre in Österreich u. Deutschland, in: ZfP, N. F., Bd. 13, 1966, S. 451-63. Für den Korporativismus außerhalb Deutschlands: J. H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956, bes. S. 320 ff. 104 G. Leibholz, Zur Problematik des berufsständischen Staatsgedankens, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, S. 199-205. 105 Bezeichnend hierfür ist Reupkes Diktum aus dem Jahr 1930: „Sieht man den gegenwärtigen Feind wirtschaftlichen Gedeihens in der augenblicklichen und restlosen Verwirklichung sozialistisch-kommunistischer Theorien, so wird man sich auf die Seite jeder Richtung stellen müssen, welche die noch nicht erfüllte Mission des Privatkapitalismus anerkennt und alles daransetzt, ihm eine festere Basis zu geben." Ders., Wirtschaftssystem, S. 115. 12. Unternehmer und Wirtschaftsdemokratie in der Weimarer Republik Der erstmals in der PVS (Bd. 11, 1971, Sonderheft 2: Probleme der Demokratieheute, S. 308-22) veröffentlichte Aufsatz ist die erweiterte Fassung eines Referats, das ich im Oktober 1969 im Rahmen der Arbeitsgruppe „Demokratisierung und öffentliche Kontrolle der Wirtschaft" auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft in Berlin gehalten habe. Zum Thema „Unternehmer und Wirtschaftsdemokratie" ist inzwischen auch eine Studie von Michael Schneider (Unternehmer und Demokratie. Die freien Gewerkschaften in der unternehmerischen Ideologie der Jahre 1918 bis 1933, Bonn 1975) erschienen. Siehe hierzu meinen Rezensionsaufsatz „Unternehmer u. Gewerkschaften in der Weimarer Republik" (AfS, Bd. 16, 1976, S. 574-80. Die Schwächen von Naphtalis „Wirtschaftsdemokratie" sehe ich heute deutlicher als 1969. Vgl. dazu in diesem Bd. die Aufsätze Nr. 16 und 18. 1 U. Hüllbüsch, Die deutschen Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise, in: W. Conzeu. H. Raupach (Hg.), Die Staats- u. Wirtschaftskrise des Deutschen Reiches 1929/33, Stuttgart 1967, S. 132. Zur Geschichte der Gewerkschaftsforderung nach Wirtschaftsdemokratie und ein-

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Anmerkungen zu Seite 195-197 zelner dazu gehörender Programmpunkte: S. Schwarz, Handbuch der deutschen Gewerkschaftskongresse (Kongresse des ADGB), Berlin 1930, S. 406 ff. 2 A. Müller, Die Ideologie der Arbeiterbewegung im Spiegel der Arbeiterkongresse, in: DWZ, Jg. 22, 1925, Nr. 42 (25. 10.), S. 1001. 3 H. Rosenberger, Kurze kritische Bemerkungen zum 12. Gewerkschaftskongreß Breslau 1925, in: DA, Jg. 15, 1925, Nr. 24 (15. 12.), S. 592. 4 Dazu neuerdings H.-H, Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände u. Staat 1918-1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik, Berlin 1967, S. 3 ff.; B.-J. Wendt, Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft in der Weimarer Republik, in: APZ, Β 26, 1969, S. 29ff.; G. D. Feldman, Army, Industry, and Labor in Germany 1914-1918, Princeton N.J. 1966, S. 522ff. 5 F. Naphtali, Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel, Berlin 19281, Frankfurt 19682. Zum Hamburger Kongreß des ADGB siehe Hullbüsch, S. 134 ff., sowie W. Bohnstädt, Der 13. Kongreß der Freien Gewerkschaften Deutschlands in Hamburg, in: SP, Bd. 37, 1928, Nr. 37, S. 878-91; Nr. 38, S. 900-07. - Zum sozialistisch-gewerkschaftlichen Schrifttum über Probleme der Wirtschaftsdemokratie vgl. außer Naphtali vor allem: F. Tarnow, Die Stellungnahme der Freien Gewerkschaften zur Frage der Wirtschaftsdemokratie, Jena 1929; K. Renner, Wege der Verwirklichung. Betrachtungen über politische Demokratie, Wirtschaftsdemokratie u. Sozialismus, insbesondere über die Aufgaben der Genossenschaften u. der Gewerkschaften, Berlin 1929; F. Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus, Tübingen 1929; sowie die informative Arbeit von J. Herzig, Die Stellung der deutschen Arbeitergewerkschaften zum Problem der Wirtschaftsdemokratie, Diss., Jena 1933, die auch auf die Positionen der nicht-sozialistischen Gewerkschaften, der linken Gewerkschaftsopposition sowie auf die deutsche und ausländische wissenschaftliche Literatur zur Frage der Wirtschaftsdemokratie eingeht. Zum gegenwärtigen Diskussionsstand siehe neuerdings etwa das Sonderheft „Mitbestimmung" der Frankfurter Hefte, Bd. 24, 1969. 6 Naphtali, bes. S. 26 ff. Vor Naphtali hatte bereits R. Hilferding das Phänomen des „organisierten Kapitalismus" analysiert. Ders., Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, S. 165-84. 7 Naphtali, S. 182. 8 Zum Theorie-Praxis-Problem in der deutschen Sozialdemokratie insbesondere: E. Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg, in: Marxismusstudien, 2. Folge, Tübingen 1957, S. 151-97. und neuerdings P. Lösche, Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903-1920, Berlin 1967, S. 9 ff. Für die Zeit der Weimarer Republik vgl. jetzt auch H. Mommsen, Klassenkampf oder Mitbestimmung. Zum Problem der Kontrolle wirtschaftlicher Macht in der Weimarer Republik, Köln 1978. 9 E. Saemisch, Wirtschaftsdemokratie?, in: Die Tat, Bd. 21, 1929, S. 129. 10 Dazu: W. Hirsch-Weber, Gewerkschaften in der Politik. Von der Massenstreikdebatte zum Kampf um das Mitbestimmungsrecht, Köln 1959, S. 8 ff.; H. J . Varain, Freie Gewerkschaften, Sozialdemokratie u. Staat. Die Politik der Generalkommission unter der Führung Carl Legiens, Düsseldorf 1956, S. 31 ff. Zusatzbemerkung 1978: Die realen Erfolgsaussichten eines Massenstreiks unter den Vorzeichen von Massenarbeitslosigkeit und politischer Spaltung der Arbeiterbewegung wird man allerdings überaus skeptisch beurteilen müssen - und eben deshalb hat es in den Freien Gewerkschaften nach 1929 keine Massenstreikdebatte mehr gegeben. Vor der Krise, im Zeichen relativer Prosperität, fehlten einer konkreten Massenstreikdebatte die sozialpsychologischen Voraussetzungen. Die einzige relativ offene Situation, in der ein erhebliches Maß an Demokratisierung der Wirtschaft, vor allem im Montanbereich, hätte erreicht werden können, war m. E. die Entstehungsphase der Weimarer Republik - und vielleicht auch noch die Zeit unmittelbar nach dem Kapp-Putsch. Vgl. dazu jetzt: Η. Α. Winkler, Die Sozialdemokratie u. die Revolution von 1918/19, Berlin 1979. 344

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Anmerkungen zu Seite 197-199 11 P. Silverberg, Das deutsche industrielle Unternehmertum in der Nachkriegszeit (Rede auf der Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der deutschen Industrie am 3. und 4. 9. 1926 in Dresden), in: VRDI, Nr. 32, Berlin 1926, S. 55. Silverberg war Generaldirektor der Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation (RAG). 12 Ebd. Vgl. hierzu jetzt D. Stegmann, Die Silverberg- Kontroverse 1926. Unternehmerpolitik zwischen Reform u. Restauration, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte Heute, Fs. f. H. Rosenberg, Göttingen 1974, S. 594-610. 13 Zu diesem Problemkreis E. Fraenkel, Der Ruhreisenstreik 1928-1929 in historisch-politischer Sicht, in: F. A. Hermens u. Th. Schieder (Hg.), Staat, Wirtschaft u. Politik in der Weimarer Republik, Fs. f. H. Brüning, Berlin 1967, S. 97-117; U. Hüllbüsch, Der Ruhreisenstreit in gewerkschaftlicher Sicht, in: H. Mommsen u. a. (Hg.), Industrielles System u. politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 271-89, sowie K. Röseler, Unternehmer in der Weimarer Republik, in: Tradition, Bd. 13, 1968, S. 217-40. 14 VRDI, Nr. 21, Berlin 1924, S. 35. Nach dem von der BBZ am 30. 3. 1924 veröffentlichten Text des Vortrages lautete der Satz: „Der überpolitische Staat gehört der Vergangenheit an . . .". - Vogler war Gründer und seit 1926 Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke sowie von 1920 bis 1924 Reichstagsabgeordneter der Deutschen Volkspartei. 15 Im folgenden werden nur einige repräsentative Zeugnisse aus den zahlreichen Unternehmerbeiträgen zum Thema „Wirtschaftsdemokratie" interpretiert. Für eine umfassendere Bibliographie siehe etwa die laufenden Neuerscheinungslisten im „Arbeiteeber", 1928 ff. 16 W. Conze, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: HZ, Bd. 178, 1954, S. 47-83. 17 A. Weber, Unternehmertum und Kapitalismus, in: VRDI, Nr. 48, Berlin 1929, S. 67. 18 So C. Duisberg, Zehn Jahre Reichsverband der Deutschen Industrie, ebd. S. 13. Carl Duisberg war Vorsitzender des Aufsichtsrates und des Verwaltungsrats der I. G. Farbenindustrie AG und seit 1925 Vorsitzender des Präsidiums des Reichsverbandes der deutschen Industrie. 19 Ders., Freie Bahn dem freien Unternehmer!, in: Das Problem der Wirtschaftsdemokratie, hg. v. d. DBZ, Düsseldorf 1929, S. 14. Diese Sammlung enthält zahlreiche Polemiken von Unternehmern und Wissenschaftlern gegen die Wirtschaftsdemokratie. Der Geschäftsführer des RDI, Herle, meinte, durch eine Verwirklichung dieser Forderung würde die „ganze soziologische Struktur Deutschlands eine Umwälzung erfahren, die nicht mit Unrecht mit den Umwälzungen auf Grund der französischen Revolution von 1789 verglichen werden könnte". Der greise Emil Kirdorf befand: „Die Wirtschaftsdemokratie wird den Untergang des Deutschtums vollenden." August Heinrichsbauer forderte das Unternehmertum auf, sich von dem Gedanken frei zu machen, „daß auf dem Boden der Demokratie, so wie diese heute in Deutschland mißbraucht wird, für die deutsche Wirtschaft irgendetwas Positives und Förderndes erzielt werden könnte". Die Schrift, die zur Düsseldorfer Tagung des Reichsverbandes der deutschen Industrie im September 1929 erschien, illustriert bereits deutlich den Übergang von der zunächst überwiegend wirtschaftspolitischen zur aggressiv-antidemokratischen Agitation gegen die Wirtschaftsdemokratie sowie die allgemeinpolitische Haltung führender Kreise der Schwerindustrie. Vgl. zur Haltung der Schwerindustrie jetzt auch: B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung u. Krise, Wuppertal 1978. 20 J. Tiburtius, Der Einzelhandel in der Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik, in: Gegenwartsfragen des Einzelhandels II (Ansprachen und Vorträge auf der Einzelhandelstagung in Berlin vom 11. bis 18. 10. 1928), Berlin 1929, S. 166. 21 A. Lamprecht, Wirtschaft u. Demokratie, in: DA, Jg. 20, 1930, Nr. 2 (15. l.), S. 29-31. Die demokratische Funktion des Verbrauchers, des „Herrschers der Wirtschaft", betonte der Geschäftsführer des Reichsverbandes deutscher Lebensmittel- und Filialbetriebe, Pfeffer von Salomon (MdR/DVP), auf der Einzelhandelstagung von 1928 (Gegenwartsfragen des Einzelhandels II, Berlin 1930, S. 132), der auch auf das Scheitern der „Wirtschaftsdemokratie" in der

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Anmerkungen zu Seite 199-200 Sowjetunion verweist. Zu letzterem Problem: Saemisch, S. 128; G. v. Wrangel, Das Fiasko der Wirtschaftsdemokratie in Rußland, in: DA, Jg. 20, 1930, Nr. 24 (15. 12.), S. 683-88. 22 Lamprecht, S. 29-31. 23 Duisberg, Freie Bahn, S. 324. 24 Hinsichtlich der Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft lehnten die Unternehmer seit jeher eine paritätische Umgestaltung der Industrie- und Handelskammern in gemeinsame Vertretungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ab. Für den Fall, daß als Unterbau für den endgültigen Reichswirtschaftsrat selbständige Arbeiterkammern errichtet und paritätische Ausschüsse aus diesen und den Unternehmerkammern gebildet würden, sollte den Ausschüssen kein Beschlußrecht eingeräumt werden (so das Geschäftsführende Präsidialmitglied des RDI, Kastl, am 14. 9. 1928, in: VRDI, Nr. 42, Berlin 1928, S. 32). - Die für Produktionsentscheidungen irrelevante Mitbestimmung der Arbeitnehmer über die durch das Betriebsrätegesetz geschaffenen Organe wollte man nicht antasten, wohl aber gegen gewerkschaftliche Einflüsse absichern. Dazu: H.-G. Anthes, Abänderung des Betriebsrätegesetzes, in: DWZ, Jg. 25, 1928, Nr. 6 (9. 2.), S. 132-34. Zu den - vor allem in der Schwerindustrie verbreiteten - Strömungen, die Gewerkschaften durch wirtschaftsfriedliche Werksvereine und die Ideologie der „Werksgemeinschaft" zu neutralisieren: Wendt, S. 39 ff. 25 Dazu C. Böhret, Aktionen gegen die „Kalte Sozalisierung" 1926-1930. Ein Beitrag zum Wirken ökonomischer Einflußverbände in der Weimarer Republik, Berlin 1966, passim. Schon 1926 hatte der RDI vor der „Guillotine des Staatskapitalismus" gewarnt und in den Staatsunternehmungen Tendenzen am Werk gesehen, die darauf hinausliefen, „das Eigentum an Produktionsmitteln in ständig wachsendem Umfang aus privater in öffentliche Hand zu überführen. Das aber ist Sozialismus reinsten Wassers . . ." (W. Jutzi, Staats- u. Privatwirtschaft [VRDI, Nr. 301, Berlin 1926, S. 20). 26 So Kastl auf der Hauptausschußsitzung des Verbandes am 14. 9. 1928, in: VRDI, Nr. 42, Berlin 1928, S. 16. 27 Duisberg, Zehn Jahre, S. 16. 28 Weber, S. 65. Naphtali (S. 56) ging davon aus, daß die Beseitigung des Privateigentums vereinbar sei mit der Aufrechterhaltung einer Wirtschaftsführung, die auf der Selbstverwaltung der einzelnen Wirtschaftszweige beruht und damit die Gefahr der ,,Verbeamtung" vermeidet. 29 H. Kanter, Die Wirtschaftsdemokratie, in: DWZ, Jg. 26, 1929, Nr. 19 (9. 5.), S. 447. 30 Weber, S. 68. 31 Ebd. Ebenso der Eberfelder Textilindustrielle Abraham Frowein, ebd., S. 73. 32 Zum Problem der „sozialistischen Marktwirtschaft": E. Heimann, Sozialisierung, in: NBS, Bd. 1, 1930, S. 12-28. Heimann u. Renner (S. 131 ff.) unterscheiden sich von Naphtali allerdings dadurch, daß sie auch als Endziel keine Generalsozialisierung intendieren. In der Tat wäre es realistischer gewesen, zwischen marktbeherrschenden Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen und jenem Bereich zu differenzieren, in dem ein relativ freier Wettbewerb noch Raum hat. Siehe dazu auch G. Stolper, Sozialistische oder liberale Wirtschaftsdemokratie?, in: DV, Jg. 2, 1928, Nr. 50(14. 9.), S. 1695-98, der die Beibehaltung der Unternehmerfunktion in Naphtalis Entwurf ausdrücklich anerkennt. 33 G. Düssel, Unternehmertum u. deutsche Wirtschaft, in: DA, Jg. 19, 1929, Nr. 22 (15. 11.), S. 613. 34 Hilferding, S. 165 ff.; W. Sombart, Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 1932, passim. 35 Μ. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders.: Gesam­ melte politische Schriften, Tübingen 1958, bes. S. 208 ff. 36 M. J . Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin 19302, bes. S. 95 ff. 37 A. Weber, ZumBegriffWirtschaftsdemokratie, in: DA, Jg. 19, 1929, Nr. 12 (15. 6.), S. 328 (Vorabdruck aus ders.: Ende des Kapitalismus? Die Notwendigkeit freier Erwerbswirtschaft, München 19292, S. 82). 38 Berufung auf Weber bei Duisberg, Zehn Jahre, S. 21. Duisberg nannte in diesem Zusam346

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Anmerkungen zu Seite 200-202 menhang die bisherigen Vorschläge und Erfahrungen in Sachen Wirtschaftsdemokratie eine „Vergeudung von Kapital und Arbeitskraft, die wir uns als armes Volk nicht leisten können". Ebd., S. 22. 39 Ε. Μ. v. Scheven, Der Hamburger Kongreß der freien Gewerkschaften, in: DA, Jg. 18, 1928, Nr. 19 (1. 10.), S. 474. 40 Duisberg, 10 Jahre, S. 21. 41 Düssel, S. 617. 42 A. Heinrichsbauer, Zur Kritik an der „Wirtschaftsdemokratie", in: DA, Jg. 20, 1930, Nr. 14 (15. 7.), S. 400 f. Heinrichsbauer stützte seine Ausführungen weitgehend auf eine Sammlung „Materialien zur Wirtschaftsdemokratie" (Nr. 1-22, 1929-31), die vom RDI zusammengestellt worden war und zahlreiche Zitate aus Beiträgen von Gegnern und Befürwortern der Wirtschaftsdemokratie enthält. 43 Siehe dazu meinen Aufsatz: Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie u. Nationalsozialismus, in: VfZ, Bd. 17, 1969, S. 341-71 (in diesem Band: S. 175-94). - Als Beispiel der Versuche, die Idee der Wirtschaftsdemokratie - ebenso wie die Rätebewegung - im berufsständisch-wirtschaftsfriedlichen Sinn umzuinterpretieren: E. Tatarin-Tarnheyden, Berufsverbände u. Wirtschaftsdemokratie. Ein Kommentar zu Art. 165 der Reichsverfassung, Berlin 1930, bes. S. 10 ff. Vgl. dazu ferner die bei Herzig, S. 9 ff. angegebene Literatur. 44 Heinrichsbauer, Kritik, S. 397. 45 Ders., Wirtschaftsentwicklung u. Politik, in: DA, Jg. 20, 1930, Nr. 4 (15.2.), S. 84-86. 46 Ders., Schwerindustrie u. Politik, Essen 1948, passim, sowie G. W. F. Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie. Zur Geschichte der Jahre 1918-1933, Frankfurt 1961, S. 119. 47 BA Koblenz, RK 43 I, Handel 5, Bd. 17, Nr. 1144 (Brief Heinrichsbauers an den Staatssekretär der Reichskanzlei, Planck, vom 5. 9. 1932). U. Wengst (Unternehmerverbände u. Gewerkschaften in Deutschland im Jahre 1930, in: VfZ, Bd. 25, 1977, S. 99-119) hat neuerdings die These aufgestellt, daß noch im Jahre 1930 innerhalb des Unternehmerlagers eine Richtung die Oberhand gehabt habe, die eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften im Stil der „Zentralarbeitsgemeinschaft" anstrebte. Die Bedingungen, die die Spitzenorganisationen der Unternehmer für eine solche „Zusammenarbeit" stellten, konnten allerdings von der durchaus kooperationswilligen Führung der Freien Gewerkschaften in den eigenen Reihen nicht durchgesetzt werden. Das lag einmal an der Forderung der Unternehmer, die Gewerkschaften sollten bei der Lohnsenkung mitwirken, zum anderen an der von den Arbeitgebern verfolgten Konfrontationspolitik bei den Tarifauseinandersetzungen. Insofern muß hinter die These von der Kompromißbereitschaft einer Unternehmermehrheit ein deutliches Fragezeichen gesetzt werden. 48 Siehe hierzu etwa das bei G. Schulz, Zwischen Demokratie u. Diktatur. Verfassungspolitik u. Reichsreform in der Weimarer Republik, Band 1, Berlin 1963, S. 659 ff. abgedruckte Aide-memoire des RDI für Reichskanzler Marx vom 23. 11. 1927. 49 Dazu Fraenkel, S. 97 ff.; H. Timm, Die deutsche Sozialpolitik u. der Bruch der Großen Koalition im März 1930, Düsseldorf 1952, S. 97 ff.; aus der zeitgenössischen Unternehmerpublizistik: A. Heinrichsbauer, Das System der Verantwortungslosigkeit, in: DA, Jg. 18, 1928, Nr. 9 (1. 5.), S. 204-07. 50 Siehe zum folgenden auch W. Treue, Der deutsche Unternehmer in der Weltwirtschaftskrise 1928-1933, in: Conze u. Raupach (Hg.), S. 82-125; F. Klein, Zur Vorbereitung der faschistischen Diktatur durch die deutsche Großbourgeoisie (1929-1932), in: ZfG, Bd. 1, 1953, S. 872-904. 51 Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929, Eine Denkschrift des Präsidiums des RDI, Nr. 49, Berlin 1919, S. 7 ff. 52 Von den Äußerungen, die sich noch nach 1930 explizit mit der Gewerkschaftsforderung nach „Wirtschaftsdemokratie" befassen, sei die des Generalsekretärs des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, H. Meusch, erwähnt: „Das Handwerk vermag in dem System einer ,demokratisierten' Wirtschaft keine Verwirklichung der sittlichen Forderungen wah-

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Anmerkungen zu Seite 202-204 rer Gemeinschaftsarbeit zu erblicken, da nicht der Gedanke beiderseitiger Verpflichtung gegenüber dem Volksganzen ihre tragende Grundidee bildet, sondern die Sicherung des Anspruchs größtmöglicher Rechte" (Berufsstandsgedanke und Berufsstandspolitik des Handwerks. Im Auftrag des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, hg. v. seinem Generalsekretär, Hannover 1931, S. 61). Über Politik und Ideologie des gewerblichen Mittelstandes in der Weimarer Republik ausführlich jetzt Η. Α. Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialis­ mus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972. 53 Vgl. dazu: Das Problem des Reichsrats, hg. vom Bund zur Erneuerung des Reiches, Berlin 1930. Zur Reichsreform allgemein: Schulz, passim. 54 Problem des Reichsrats, bes. S. 51 ff. 55 Manifest der Wirtschaft, in: DWZ, Jg. 28, 1931, Nr. 40 (1. 10), S. 949-51. 56 So der Erste Syndikus der IHK Duisburg, Otto Most, am 27. 7. 1932: Handelskammerstimmen zur berufsständischen Organisation der Wirtschaft, in: DWZ, Jg. 29 (1932), Nr. 31 (4. 8.), S. 751. 57 Siehe meinen dazu in Anm. 43 genannten Aufsatz. 58 Brief an das Geschäftsführende Präsidialmitglied des DIHT, Eduard Hamm, vom 2. 8. 1931. BA Koblenz, R 11-377. 59 Dazu etwa Winkler, Unternehmerverbände, 341-71. 60 Dazu insbesondere K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Machtverfall in der Demokratie, Villingen 19644, S. 435-42. 61 Zu der von Kreisen der Schwerindustrie darüber hinaus intendierten ,,Entpolitisierung der Gewerkschaften": L. Grauert, Der Staat, der Schirmherr der deutschen Arbeiter, in: Ständisches Leben, Jg. 3, 1933, S. 185-90. 62 Zur internationalen Verbreitung einer offen oder latent auf Entdemokratisierung von Staat und Gesellschaft zielenden Politik industrieller Interessenverbände siehe das - freilich allzu pauschal interpretierte - Material bei R. A. Brady, Business as a System of Power, Ν. Υ. 1943. 63 Vgl. Ε. Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. H.-U. Wehler, Berlin 1965, passim; Μ. J. Bonn, S. 53 ff., sowie meinen Artikel „Bürgertum", in: SDG, Bd. 1, Freiburg 1966, bes. Sp. 950 ff. 64 H. Reupke, Unternehmer u. Arbeiter in der faschistischen Wirtschaftsidee, Berlin 1931, S. 12. 65 Ebd., passim; ders., Das Wirtschaftssystem des Faschismus, Berlin 1930. Reupke trat 1931 der NSDAP bei und veröffentlichte im gleichen Jahr eine Broschüre unter dem Titel „Der Nationalsozialismus und die Wirtschaft", in der er die mittelständischen Elemente der nationalsozialistischen Ideologie zugunsten einer Orientierung an großindustriellen Bedürfnissen zu eliminieren versuchte. Er erhielt für diese Bemühungen ein persönliches Dankschreiben Hitlers. Dazu K.-P. Hoepke, Die deutsche Rechte u. der italienische Faschismus, Düsseldorf 1968, S. 181 ff.; ferner: R. R. Rämisch, Die berufsständische Verfassung in Theorie und Praxis des Nationalsozialismus, Diss. Berlin 1957, S. 41 ff. Zur schroff ablehnenden Haltung des Nationalsozialismus gegenüber einer Wirtschaftsdemokratie: H. Buchner, Abbruch der Wirtschaftsdemokratie, in: NSM, Bd. 2, 1931, S. 3-24.

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Anmerkungen zu Seite 205-209 13. Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung Der Aufsatz wurde erstmals veröffentlicht in: VfZ, Bd. 20. 1972, S. 175-91. 1 S. M. Lipset, Soziologie der Demokratie (dt. Ausgabe von: Political Man. The Social Bases of Politics, Ν. Υ. 1960), Neuwied 1962, S. 154. 2 Ebd., S. 134. Die Lipset-These wird übernommen von R. Dahrendorf, Demokratie u. Sozialstruktur in Deutschland, in: ders., Gesellschaft u. Freiheit, München 1961, S. 260-90; vgl. auch ders., Gesellschaft u. Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 415-31. 3 R. Küstermeier, Die Mittelschichten u. ihr politischer Weg, Potsdam 1933, S. 39. 4 A. Erkelenz, Lehren aus der Wahl, in: Die Hilfe, Bd. 26, 1920, S. 406 f. Zit. nach: D. Bergmann, Probleme des Liberalismus in der Weimarer Republik bis zum Kapp-Putsch, unter bes. Berücksichtigung der Deutschen Demokratischen Partei, Staatsexamensarbeit (Ms.), Berlin (FU) 1967, S. 98. Lokale Daten zu den Verschiebungen zwischen DDP und DVP, zu ihrer Sozialstruktur und zum Stimmenanteil der bürgerlichen Parteien nach Ortsgruppenklassen bei: W. Hartenstein, Die Anfänge der Deutschen Volkspartei 1918-1920, Düsseldorf 1962, bes. S. 242 ff. 5 Die DDP sank in Schleswig-Holstein zwischen 1919 und 1921 von 27,2 % auf 9,4 %; die DVP stieg von 7,8 % auf 18,4 %. Im übrigen scheint die DNVP besonders von dem Rückgang der Schleswig-Holsteinischen Bauern- und Landarbeiterdemokratie(1919: 7,2 %; 1921:3,8 %) und von einem Parteiwechsel ehemaliger Wähler der SPD und USPD profitiert zu haben, der vor allem auf das Konto von Landarbeitern gegangen sein dürfte. Hierzu ausführlicher: P. Wulf, Die politische Haltung des schleswig-holsteinischen Handwerks 1928 bis 1932, Köln 1969, S. 39-42; R. Heberle, Landbevölkerung u. Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918-1932, Stuttgart 1963, S. 29-32. 6 Vgl. hierzu C. S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975, S. 450-55; Winkler, Mittelstand, S. 130-39. Die in der Originalfassung dieses Aufsatzes geäußerte Vermutung, daß pauperisierte Mittelschichten Träger eines zwischen der äußersten Linken und der äußersten Rechten schwankenden „floating vote" waren, habe ich hier nicht wiederholt, da sie mir allzu spekulativ erscheint. 7 Vgl. dazu Winkler, Mittelstand, S. 136-38, mit genaueren Angaben zur Sozialstruktur der genannten Gebiete. Zur Reichstagswahl vom 7. 12. 1924, die vergleichsweise geringe Verschiebungen brachte (Deutschvölkische/NSDAP: -3,5 %; DNVP: +1 %, DVP: +0,9 %, DDP: +0,6 %, SPD: +5,5 %, KPD: -3,6 %), vgl. G. Decker, Zur Statistik der Reichstagswahl, in: Die Gesellschaft, Bd. 2, 1925/I, S. 59-65; E. Hamburger, Parteienbewegung u. gesellschaftliche Umschichtung in Deutschland, ebd., S. 340-53. 8 Die SPD gewann 1928 gegenüber der Wahl vom Dezember 1924 3,9 % hinzu. Die Wahlbeteiligung sank von 78,8 % auf 75,6 %. Für Küstermeiers These, daß 1928 besonders viele Mittelständler Wahlboykott geübt hätten, gibt es keine Anhaltspunkte. Das Aßhoff-Zitat: DZA Potsdam, RKM, Handwerk 11, Bd. 7, Nr. 19. 9 Über die Wirtschaftspartei vgl. M. Schumacher, Mittelstandsfront u. Republik, Wirtschaftspartei - Reichspartei des deutschen Mittelstandes 1919-1933, Düsseldorf 1972; ferner: Erinnerungen u. Dokumente von Johann Victor Bredt 1914 bis 1933, bearbeitet von M. Schumacher, Düsseldorf 1970. Bredt, einer der Parteiführer der Wirtschaftspartei und 1930 Brünings Justizminister, hatte bis 1918 der Freikonservativen Partei, von 1918 bis 1920 der Deutschnationalen Volkspartei angehört. 10 Die These von R. Bendix (Social Stratification and Political Power, in: APSR, Bd. 46, 1952, S. 357-75), daß die NSDAP vor allem frühere Nichtwähler angezogen habe, ist von ihm selbst inzwischen zurückgenommen worden (R. Bendix u. S. M. Lipset, On the Social Structure

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Anmerkungen zu Seite 209 of Western Societies: Some Reflections on Comparative Analysis, in: Berkeley J ournal of Sociology, Bd. 5, 1959, S. 1-15). Nach Κ. O'Lessker (Who Voted for Hitler?, in: AJS, Bd. 74, 1968/69, S. 63-69) war die Korrelation zwischen erhöhter Wahlbeteiligung und Stimmengewinnen bei der NSDAP mit +0,38 niedriger als bei Zentrum (+0,64) und KPD (+0,63). Vgl. dazu auch die Kritik an O'Lesskers Aufsatz durch A. Schnaiberg (ebd., S. 732-35). Neuerdings hierzu auch: W. P. Shively, Party Identification, Party Choice, and Voting Stability: The Weimar Case, in: APSR, Bd. 66, 1972, S. 1203-25. 11 Nähere Zahlenangaben und Literatur bei Winkler, Mittelstand, S. 175-77. Die DNVP verlor bei der Reichstagswahl vom 14. 9. 1930 1,9 Millionen Stimmen (DVP: -1,1 Millionen, DDP bzw. Staatspartei: -0,16 Millionen, Wirtschaftspartei: -0,03 Millionen). Für die Wahl vom 31. 7. 1932 lauten die Zahlen: DVP: -1,14 Millionen; Staatspartei: -0,95 Millionen; DNVP: -0,28 Millionen; kleinere Agrar- und Rechtsparteien: -1,8 Millionen; Wirtschaftspartei : -1,2 Millionen. Über die Verluste der DNVP: A. Dix, Die deutschen Reichstags wahlen 1871 bis 1930 u. die Wandlungen der Volksgliederung, Tübingen 1930, S. 46ff. Die These von V. Hentschel, Weimars letzte Monate. Hitler u. der Untergang der Republik, Düsseldorf 1978, S. 28, 1930 seien die Verluste der DNVP vor allem den von ihr abgesplitterten Gruppen zugute gekommen, ist nicht haltbar. H. hätte sich davon selbst überzeugen können, wenn er einen Blick auf die Wahlkreisebene geworfen hätte. In Pommern etwa verlor die DNVP gegenüber 1928 17% oder 130 000 Stimmen, die NSDAP gewann 23 % oder 227000 Stimmen hinzu, die „Sonstigen" 2 % oder 24000 Stimmen. Daß der Stimmenzuwachs kleinerer agrarischer, völkischer und konservativer Gruppen, der bei 1 Million lag, ganz oder überwiegend auf Kosten der DNVP ging, wäre erst noch zu belegen. Im Fall des Christlich-Sozialen Volksdienstes stimmt H.'s These offensichtlich nicht. Plausiblere Argumente gegen O'Lesskers - von mir 1972 übernommene - Ansicht, die DNVP-Verluste seien die Hauptquelle der NSDAP-Stimmengewinne von 1930 gewesen, trägt, gestützt auf unveröffentlichte Studien amerikanischer Wahlsoziologen, jetzt J. C. Falter, Wählerwanderungen vom Liberalismus zu rechtsextremen Parteien, in: L. Albertin (Hg.), Der Liberalismus im politischen System Deutschlands (erscheint voraussichtl. 1980) vor. Zu den Wahlerfolgen der NSDAP vor 1930 sehr gut: J. Holzer, Parteien u. Massen. Die politische Krise in Deutschland 1928-1930, Wiesbaden 1975. 12 Die Daten über die Mitgliedschaft der NSDAP aus: Parteistatistik, hg. v. Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Bd. I, Berlin 1935, S. 69ff. Die Daten, die sich auf die Gesamtheit der Erwerbstätigen beziehen, beruhen auf der Volks- und Berufszählung vom 6. 6. 1933 in: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 453/2, Berlin 1936, S. 14 ff. W. Schäfer, NSDAP. Entwicklung u. Struktur der Staatspartei des Dritten Reiches, Hannover 1956, S. 17, rechnet (anders als die Parteistatistik) die mitwirkenden Familienangehörigen nicht zu den Bauern, so daß der Eindruck der Überrepräsentation in der Partei entsteht. Tatsächlich waren die Bauern nicht innerhalb der Mitgliedschaft, sondern nur innerhalb der Wählerschaft der NSDAP überrepräsentiert. Vgl. hierzu (mit weiteren Literaturangaben) meinen Aufsatz: Mittelstandsbewegung oder Volkspartei? Zur sozialen Basis der NSDAP, in: W. Schieder (Hg.), Faschismus als soziale Bewegung-Deutschland u. Italien im Vergleich, Hamburg 1976, S. 97-118. Zur Sozialstruktur der NSDAP aus der neueren Literatur weiter bes.: M. Kater, Sozialer Wandel in der NSDAP im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung, ebd., S. 25-68; ders., Quantifizierung u. NS-Geschichte. Methodologische Überlegungen über Grenzen u. Möglichkeiten einer EDV-Analyse der NSDAP-Sozialstruktur, in: GG, Bd. 3, 1977, S. 453-84; Th. Childers, The Social Bases of the National Socialist Vote, in: JCH, Bd. 11, 1976, S. 17-42. Wenn Childers den Anteil der Angestellten an der Wählerschaft der NSDAP relativ gering einschätzt, so dürfte er freilich einer „Durchschnittsillusion" erliegen. Es gab in der Tat auch nach 1930 eine freigewerkschaftlich organisierte Minderheit der Angestellten, die SPD wählte. Zur Differenzierung innerhalb des gewerblichen Mittelstandes: H. Neisser, Sozialstatistische Analyse des Wahlergebnisses, in: Die Arbeit, Bd. 7, 1930, S. 654-59; Th. Geiger, Panik im Mittelstand, ebd., S. 637-54; C. Mierendorff, Gesicht u. Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, in: Die Gesellschaft, Bd. 7, 350

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Anmerkungen zu Seite 210-213 1930, S. 489-504. Zu den Korrelationsberechnungen: S. A. Pratt, The Social Basis of Nazism and Communism in Urban Germany, M. A. Thesis (Microfilm), Michigan State College, East Lansing, Mich. 1948, bes. S. 117; Heberle, S. 109. Nach Pratt, der sich auf ein Sample von 193 Städten stützt, betrugen im Juli 1932 die Korrelationen zwischen NS-Votum und „upper middle class" (Selbständige, höhere Festbesoldete) in Städten zwischen 25 000 und 50 000 Einwohnern + 0,23; zwischen 50 000 und 100 000 Einwohnern +0,58; über 100 000 +0,33. Bei der „lower middle class" (untere Beamte und Angestellte) lauten die entsprechenden Daten: +0,25; +0,57; + 0,27. 13 M. H. Kater, Zur Soziographie der frühen NSDAP, in VfZ, Bd. 19, 1971, S. 124-59. Ferner P. H. Merkl, Die alten Kämpfer der NSDAP, in: SJP, Bd. 2, 1971, S. 495-517. 14 NHZ, Jg. 29, 1924, Nr. 47 (20. 11.), Nr. 14 (4. 4.). Über die u. a. vom Grafen Reventlow repräsentierte norddeutsche Spielart der nationalsozialistisch-völkischen Bewegung, die in der Tat gewisse „nationalbolschewistische" Züge trug: K.-P. Hoepke, Die deutsche Rechte u. der italienische Faschismus, Düsseldorf 1968, S. 207-12. 15 ΒΑ Koblenz, Sammlung Schumacher 242 a: Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes, NS-Hago. Über die wahltaktische Wendung zu den Mittelschichten als Resultat des für die NSDAP enttäuschenden Ausgangs der Reichstagswahlen vom Mai 1928: P. D. Stachura, Der kritische Wendepunkt? Die NSDAP u. die Reichstagswahlen vom 20. Mai 1930, in: VfZ, Bd. 26, 1978, S. 66-99. 16 Hierzu besonders: O.-E. Schüddekopf, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten u. der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960. 17 I. Hamel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893-1933, Stuttgart 1967, S. 167-269. Für die politische Entwicklung der Angestellten in der Weimarer Republik ist bezeichnend, daß 1919 der sozialistische Allgemeine Freie Angestelltenbund (Afa-Bund) mit 366 051 Mitgliedern die stärkste Angestelltengewerkschaft war, während der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband (DHV) 207 802 Mitglieder hatte, 1931 besaß der DHV 409 022, der Afa-Bund 203 489 Mitglieder. 18 P. Hengel, Das Warenhaus als parteipolitisches Problem, Diss. (Ms.), Tübingen 1952, bes. S. 96 f. Zum Sozialprotektionismus des Kaiserreiches ferner: Winkler, Mittelstand, S. 40-64. Die württembergische „Deutsche Volkspartei" des Kaiserreichs ist nicht zu verwechseln mit der späteren gleichnamigen Partei Gustav Stresemanns. 19 Vgl. hierzu H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik u. preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893-1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 19661. Zur Interessenbasis der Agrarbewegung auch: R. Hilferding, Das Finanzkapital. Neuausgabe, Frankfurt/M. 1969, S. 460-78. 2C U. Schild, Entstehung u. Bedeutung der antisemitischen Agitation großer Verbände in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, unter besonderer Berücksichtigung des Bundes der Landwirte und des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, Staatsexamensarbeit (Ms.), Berlin (FU) 1967, S. 103; J. Kocka, Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847 bis 1917. Zum Verhältnis von Kapitalismus u. Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969, bes. S. 516-18. Über das Verhältnis von Angestellten und Nationalsozialismus vgl. auch ders., Zur Problematik der deutschen Angestellten 1914-1933, in: H. Mommsen u. a. (Hg.), Industrielles System u. politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 792-811. 21 Außer Puhle vor allem: H. Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt 1969, S. 7-50; ders., Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, ebd., S. 51-80; ders., Große Depression u. Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft u. Politik in Mitteleuropa, Berlin 19671, passim. 22 Vgl. hierzu auch die allerdings von Verzerrungen nicht freie Arbeit von D. Stegmann, Die

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Anmerkungen zu Seite 213-216 Erben Bismarcks, Parteien u. Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Sammlungspolitik 1897-1918, Köln 1971. 23 Hierzu jetzt: L. Döhn, Politik u. Interesse. Die Interessenstruktur der Deutschen Volkspartei, Meisenheim am Glan 1970. 24 Dazu Stegmann, S. 97-518. 25 Zu diesem Problembereich etwa: Η. Α. Winkler, Bürgerliche Emanzipation u. nationale Einigung, in: H. Böhme (Hg.), Probleme der Reichsgründungszeit 1848 bis 1879, Köln 1968, S. 226-42 (in diesem Band, S. 24-35); H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 1969, bes. S. 112-54, 454-502; W. Sauer, National Socialism: Totalitarianism or Fascism?, in: AHR, Bd. 73, 1967, S. 404-24; ders., Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: H.-U. Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 19661, S. 407-36. Wie bewußtseinsprägend der Erste Weltkrieg für die Generation war, die die Jungwähler der Jahre 1930 bis 1933 stellte, zeigt eindringlich: P. Loewenberg, The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohort, in: AHR, Bd. 76, 1971, S. 1457-502. Zur gesellschaftspolitischen Dimension des ,,Lebensraum"Programms vgl. jetzt präziser meinen Aufsatz: Der entbehrliche Stand. Zur Mittelstandspolitik im „Dritten Reich", in: AfS, Bd. 17, 1977, S. 1-40 (in diesem Band, S. 110-44). 26 Hierzu u. a.: E. Nolte, Vierzig Jahre Theorien über den Faschismus, in: ders. (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln 1967, S. 15-75; I. Fetscher, Faschismus u. Nationalsozialismus. Zur Kritik des sowjetmarxistischen Faschismusbegriffs, in: PVS, Bd. 3, 1962, S. 42-63; T. Mason, Der Primat der Politik. Politik u. Wirtschaft im Nationalsozialismus, in: Das Argument, Bd. 8, 1966, Nr, 41, S. 473-94 (die anschließende Diskussion: Bd. 10, 1968, Nr. 47, S. 168-227). 27 Über die Entwicklung der NSDAP vor 1933: D. Orlow, The History of the Nazi Party, 1919-1933, Pittsburgh 1969. Zur Mentalität von Landbevölkerung und Mittelstand: Μ. R. Lep­ sius, Extremer Nationalismus. Strukturbedingungen vor der nationalsozialistischen Machter­ greifung, Stuttgart 1966, S. 9-25. Die These, daß die NSDAP trotz ihrer überwiegend mittelständischen Wähler- und Mitgliederbasis - mehr als irgendeine andere Partei der Weimarer Republik (mit der halben Ausnahme des katholischen Zentrums) „Volkspartei" war, begründe ich in: Schieder (Hg.), S. 97-118, sowie in dem Aufsatz: German Society, Hitler, and the Illusion of Restoration 1930-1933, in: JCH, Bd. 11, 1976, S. 1-16. Zur Anziehungskraft der NSDAP auf evangelische Arbeiter in ländlichen Gegenden neuerdings: E. Fröhlich u. M. Broszat, Politische u. soziale Macht auf dem Lande. Die Durchsetzung der NSDAP im Kreis Memmingen, in: VfZ, Bd. 25, 1977, S. 546-72. 28 Dazu mein Aufsatz: Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie u. Nationalsozialismus, in: VfZ, Bd. 17, 1969, S. 341-71 (in diesem Band, S. 175-94). 29 M. J . Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin 19302, S. 55. Neuerdings hierzu: B. Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik, Wuppertal 1978. 30 Zur finanziellen Unterstützung der NSDAP durch Industriekreise vgl. jetzt vor allem: H. A. Turner, Big Business and the Rise of Hitler, in: AHR, Bd. 75, 1969, S. 56-70; ders., The Ruhrlade. Secret Cabinet of Heavy Industry in the Weimar Republic, in: CEH, Bd. 3, 1970, S. 195-228 (dt. in: ders., Faschismus u. Kapitalismus in Deutschland, Göttingen 1972, S. 9-32, 114-56). Zur Rolle der Agrarier in der unmittelbaren Vorphase der Machtergreifung zuletzt: H. Brüning, Memoiren 1918-1934, Stuttgart 1970, S. 639-45. Zu einem zentralen Aspekt des „Osthilfeskandals" zuletzt: W. Wessling, Hindenburg, Neudeck u. die deutsche Wirtschaft. Tatsachen u. Zusammenhänge einer Affäre, in: VSWG, Bd. 64, 1977, S. 41-73. Zur Rolle Papens und der Schwerindustrie 1932/33 zuletzt Hentschel, S. 102-38. Ich habe die Ergebnisse dieser Studie durch eine Revision des vorstehenden Absatzes zu berücksichtigen versucht. H. scheint mir jedoch die Bedeutung zu unterschätzen, die die Rückendeckung durch prominente Schwerindustrielle für Papens Bemühungen hatte, Hindenburgs Widerstand gegen eine Machtteilhabe und schließlich eine Kanzlerschaft Hitlers zu überwinden. Daß die Mehrheit der Ruhrindustriellen allerdings auch noch im Januar 1933 eine Papen-Hitler-Lösung einer Hitler-Papen-Lösung 352

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Anmerkungen zu Seite 216-220 vorzog, versucht Turner, Ruhrlade, S. 150ff., zu zeigen. Zur industriellen Kampagne gegen Schleicher vgl. auch meinen in Anm. 28 zitierten Aufsatz. 31 Daß neben den erklärt konservativen Kräften auch „Aufsteiger" aus dem „neuen Mittelstand" mit starken sozialen Ressentiments sowohl gegenüber den „alten Eliten" wie auch gegenüber den „Proletariern" eine erhebliche Rolle beim Aufstieg des Nationalsozialismus spielten, betont mit Recht R. Rogowski, The Gauleiter and the Social Origins of Fascism, in: CSSH, Bd. 19, 1977, S. 399-430. 14. Die Anti-New-Deal-Bewegungen: Politik und Ideologie der Opposition gegen Präsident F. D. Roosevelt Der Beitrag ist die erweiterte Fassung meines Berliner Habilitationsvortrages vom 13. Juli 1970. Er wurde erstmals veröffentlicht in: Η. Α. Winkler (Hg.), Die große Krise in Amerika. Vergleichende Studien zur politischen Sozialeeschichte 1929-1939, Göttingen 1973, S. 216-35. 1 W. Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? Tübingen 1906. Daß die „offene Grenze" nur psychologisch und nicht real den von Sombart beschriebenen Effekt hatte, dürfte heute kaum noch umstritten sein. Vgl. dazu die Bemerkung und die Literaturangaben in: P. Lösche, Arbeiterbewegung u. New Deal: Zur Integration der amerikanischen Gewerkschaften in den Organisierten Kapitalismus, in: Η. Α. Winkler (Hg.), Die große Krise in Amerika. Vergleichende Studien zur politischen Sozialgeschichte 1929-1939, Göttingen 1973, S. 81-106; ders., Industriegewerkschaften im organisierten Kapitalismus. Der CIO in der Roosevelt-Ära, Opladen 1974, S. 183-202. 2 E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963; H. Freyer, Weltgeschichte Europas, Stuttgart 19542. 3 Vgl. hierzu etwa die Daten in: J. Kocka, Die Organisationen amerikanischer Angestellter in Wirtschaftskrise u. New Deal, in: Winkler (Hg.), S. 40-80 (bes. 70). 4 A. M. Schlesinger, Jr., The Age of Roosevelt, Bd.III(The Politics of Upheaval), Boston 1960, S. 175-80. Zahlreiche weitere Belege aus dem liberalen Lager bei: J. J. Martin, American Liberalism and World Politics, 1931-1941. Liberalism's Press and Spokesmen on the Road Back to War between Mukdem and Pearl Harbour, I, N. Y. 1964, sowie bei A. A. Ekirch, Ideologies and Utopies. The Impact of the New Deal on American Thought, Chicago 1969. 5 Carter Glass an Walter Lippmann am 10. 8. 1933, zitiert bei W. Ε. Leuchtenburg, F. D. Roosevelt and the New Deal 1932-1940, N. Y. 1963, S. 67. 6 R. A. Brady, Business as a System of Power, N. Y. 1943, S. 189-220. 7 Daß jede allgemeine Begriffsbestimmung des Faschismus ein so zentrales Element des deutschen Nationalsozialismus wie seinen militanten Antisemitismus auslassen muß, zeigt, daß auch dieser Typusbegriff in einer unaufhebbaren Differenz zur historischen Wirklichkeit steht. 8 Schlesinger, Bd. III, 191. Zur Gesamtbeurteilung des New Deal vgl. jetzt - außer den genannten Werken - besonders F. Freidel, The New Deal in Historical Perspective, Washington, D. C. 19622; O. L. Graham, An Encore for Reform: The Old Progressives and the New Deal, N. Y. 1967; die vorzügliche Analyse vonE.W. Hawley, The New Deal and the Problem of Monopoly, Princeton 1966 sowie ders., New Deal u. „Organisierter Kapitalismus" in internationaler Sicht, in: Winkler (Hg.), S. 9-39. Aus der „revisionistischen" Schule vor allem: P. W. Conkin, F. D. R. and the Origins of the Welfare State, N. Y. 1967; B. J. Bernstein, The New Deal: The Conservative Achievements of Liberal Reform, in: ders. Hg., Towards a New Past, Ν. Υ. 19693, S. 263-88; auch: W. A. Williams, The Contours of American History, Chicago 1966, S. 439-61. Einen guten Überblick über den Forschungsstand gibt jetzt: P. Lösche, Revolution u. Kontinuität. Zur Auseinandersetzung um den New Deal in der amerikanischen Geschichtswissenschaft, in: Fs. f. H. Herzfeld, Berlin 1972, S. 121-53. Vgl. aus der neueren deutschen Literatur fer23 Winkler, Liberalismus

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Anmerkungen zu Seite 220-224 ner: W. J. Helbich, F. D. Rosseveit, Berlin 1971. Zu den Grenzen der Rooseveltschen Sozialpolitik am Beispiel des Wohnungsbauprogramms vgl. H. Wollmann, Die Wohnungsbaupolitik des New Deal: Eine Fallstudie über die Grenzen der Sozialpolitik, in: Winkler (Hg.), S. 153-88. 9 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Unternehmerverbände zwischen Ständeideologie u. Nationalsozialismus, in: VfZ, Bd. 17, 1969, S. 341-71 (in diesem Band, S. 175-94) u. die dort angegebene Literatur. 10 Für Deutschland: G. D. Feldman, Army, Industry, and Labor in Germany 1914-1918, Princeton 1966; D. Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich, Stuttgart 1968; für Italien jetzt: R. Sarti, Fascism and the Industrial Leadership in Italy, 1919-1940, Berkeley 1971; Κ. Priester, Der italienische Faschismus. Ökonomische u. ideologische Grundlagen, Köln 1972; für die USA: W. E. Leuchtenburg, The New Deal and the Analogue of War, in: J. Braeman u. a. Hg., Change and Continuity in Twentieth Century America, N. Y. 1966, S. 81-143. Zum internationalen Vergleich nach wie vor lesenswert und materialreich: Brady, passim. 11 Hawley, S. 66-132; H. Jaeger, Die Bankiers und Roosevelts New Deal, in: VSWG, Bd. 55, 1968, S. 214-56; V. Carosso, Washington and Wall Street: The New Deal and Investment Bankers, 1933-1940, BHR, Bd. 44, 1970, S. 425-45. 12 Leuchtenburg, Roosevelt, S. 185-87. Vgl. dazu auch Kocka, Die Organisationen, S. 40-80; ders., Angestellte zwischen Faschismus u, Demokratie. Zur politischen Sozialgeschichte der Angestellten: USA 1890-1940 im internationalen Vergleich, Göttingen 1977. Über die Neger unter dem New Deal: R. Wolters, Negroes and the Great Depression, Westport 1970. 13 J. Shouse, „Progress" vs. „Change", American Liberty League, Document No. 2, Washington, D. C. 1934; F. Rudolph, The American Liberty League, 1934-1940, in: AHR, Bd. 56, 1956, S. 19-33; G. Wolfskill, The Revolt of the Conservatives. A History of the American Liberty League, 1934-1940, Cambridge/Mass. 1962; ders. u. J . A. Hudson, All But the People. Franklin D. Roosevelt and his Critics, London 1969, S. 143-171. Zur Opposition im Kongreß: J. Τ. Patterson, Congressional Conservatism and the New Deal, Lexington 1967. 14 R. G. Swing, Forerunners of American Fascism, N. Y. 1935, S. 134-52; W. A. Swanberg, A Biography of William R. Hearst, N. Y. 1961; F. Lundberg, Imperial Hearst, Ν. Υ. 1936. 15 Dazu W. P. Adams, Krise des amerikanischen Konstitutionalismus: Der New Deal vor Gericht, in: Winkler (Hg.), S. 189-215; W. E. Leuchtenburg, F. D. Roosevelt's Supreme Court Packing Plan, in: H. M. Hollingsworth u. W. F. Holmes (Hg.), Essays on the New Deal, Austin 1969, S. 69-115; R. Berger, Congress vs. Supreme Court, Cambridge/Mass. 1969; L. Baker, Back to Back. The Duel between FDR and the Supreme Court, N. Y. 1967; E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, Köln 19622, S. 186-90. 16 V. C. Ferkiss, Populist Influences on American Fascism, in: WPQ, Bd. 10, 1957, S. 350-73. Kritisch hierzu: P. S. Holbo, Wheat or What? Populism and American Fascism, ebd., Bd. 14, 1961, S. 727-36; Ferkiss' Antwort: Populism: Myth, Reality, Current Danger, ebd., Bd. 14, 1961, S. 737—40. - Zu den hier nicht erörterten links-populistischen Kräften der Farmer Labor Party um den Gouverneur von Minnesota, Floyd Olson, und zu den zeitweiligen Erfolgen des Schriftstellers Upton Sinclair, der 1934 mit einem sozialistischen Programm die demokratischen Primaries für die Gouverneurswahl in Kalifornien gewann: Schlesinger, Bd. III, S. 96-122. Über Olson auch: G. H. Mayer, The Political Career of F. Β. Olson, Minneapolis 1951. 17 Typisch hierfür: J . D. Hicks, The Populist Revolt, Minneapolis 1931. 18 R. Hofstadter, The Age of Reform, Ν. Υ. 1955. 19 M. P. Rogin, The Intellectuals and McCarthy: The Radical Specter, Cambridge/Mass. 1967. Einen Überblick über die Populismus-Debatte und die sich an Hofstadter anschließende Kritik gibt R. J. Cunningham (Hg.), The Populists in Historical Perspective, Boston 1968. Vgl. auch H.-J. Puhle, Populismus, Krise u. New Deal: Zum Verhältnis von agrarischer Demokratie u. organisiertem Subventionismus in der Zwischenkriegszeit, in: Winkler (Hg.), S. 107-52; ders., Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA u. Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975, S. 113-209. 354

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Anmerkungen zu Seite 224-230 20 Über Long jetzt vor allem: T. H. Williams, Huey P. Long, Ν. Υ. 1969. Aus der früheren Literatur besonders: A. P. Sindler, Huey Long's Louisiana. State Politics, 1920-1952, Baltimore 1956; F. Davis, Huey Long. A Candid Biography, Ν. Υ. 1935; C. Beals, The Story of Huey P. Long, Philadelphia 1935. Ferner: D. R. McCoy, Angry Voices. Left-of-Center Politics in the New Deal Era, Lawrence 1958, S. 115-158; Swing, S. 62-107; Schlesinger, Bd. III, S. 62-68. Von Long selbst vor allem: My first Days in the White House, Harrisburg 1935; Every Man a King, New Orleans 1933. Zur Wahlsoziologie Louisianas u. a.: R. Heberle, Social Movements, N. Y. 1951, S. 251-59; ferner: V.O. Key, Jr., Southern Politics in State and Nation, Ν. Υ. 1949, S. 156-82. Zu den Meinungsumfragen von 1935: S. M. Lipset u. E. Raab, The Politics of Unrea­ son. Right-Wing Extremism in America, 1790-1970, N. Y. 1970, S. 192-99. 21 Über Coughlin jetzt vor allem: Ch. J. Tull, Father Coughlin and the New Deal, Syracuse 1965; D. H. Bennett, Demagogues in the Depression. American Radicals and the Union Party, 1932-1936, Brunswick 1969; J. Shenton, Fascism and Father Coughlin, Wisconsin Magazine of History, Bd. 44, 1960, S. 6-11; ders., The Coughlin Movement and the New Deal, PSQ,Bd.73, 1958, S. 352-73. - Zur sozialen Basis der Coughlin-Anhängerschaft: Lipset/Raab, S. 171-78. Von den befragten Katholiken billigten laut einem Gallup Poll 1938 42% Coughlins Ansichten, 25% lehnten sie ab, 33% äußerten keine Meinung. Für die Protestanten allgemein lauten die entsprechenden Zahlen 19%, 31%, 50%; für die Lutheraner 29%, 21%, 50%. Siehe hierzu auch: S. M. Lipset, Three Decades of the Radical Right: Coughlinites, McCarthyites and Birchers, in: D. Bell (Hg.), The Radical Right, Garden City/N. Y. 1963, S. 373-446. 22 Über die Union Party und die Kandidatur Lemkes u. a.: D. O. Powell, The Union Party of 1936: Campaign Tactics and Issues, in: Mid-America, Bd. 46, 1946, S. 126-41; H. P. Kerr, The Rhetoric of Political Protest, The Quarterly Journal of Speech, Bd. 45, 1959, S. 146-52; E. C. Blackorby, Prairie Rebel: The Public Life of William Lemke, Lincoln 1963; Bennett, passim; ebd., S. 270-72, auch eine kritische Auseinandersetzung mit S. Lubell (The Future of American Politics, Ν. Υ. 1956, S. 152), der das Votum für Lemke primär aus isolationistischen Motiven zu erklären versucht. - Nach dem Plan des Dr. Peter Townsend sollte allen Personen über 60 Jahren, die freiwillig aus dem Berufsleben ausschieden oder bereits ausgeschieden waren, eine monatliche Rente von 200 $ gewährt werden - unter der Bedingung, daß sie diese Summe unmittelbar danach verbrauchten. Dadurch sollten Arbeitsplätze frei und neue Kaufkraft geschaffen werden. Das Rentensystem wollte Townsend durch eine Transaktionssteuer finanzieren. Hierzu: A. Holtzman, The Townsend Movement: Α Study in Old Age Pressure Politics, phil. Diss., Harvard University, Cambridge/Mass. 1952, Ms.; D. Η. Bennett, The Years of Old Folks Re­ volt, AH, Bd. 16, 1964, S. 48-51, 99-107. Zu der erfolgreichen Kampagne Coughlins und ande­ rer Isolationisten gegen einen Beitritt der USA zum Weltgerichtshof 1935: Tull, S. 75. 23 Über Coughlins Aktivität seit 1936 außer der in Anm. 21 genannten Literatur besonders: W. Stegner, The Radio Priest and His Flock, in: J. Leighton (Hg.), The Aspirin Age, 1919-1941, Ν. Y. 1949, S. 232-57. Zum Isolationismus der Zwischenkriegszeit besonders: M. Jonas, Isola­ tionism in America, 1935-1941, Ithaca 1966; W. S. Cole, America First. The Battle Against In­ tervention 1940-1941, Madison 1953. 24 Tull, S. 89; Father Coughlin's Radio Sermons, October 1930-April 1931, Baltimore 1931, S. 81; Lipset/Raab, S. 178. 25 Bennett, S. 230, 280; Tull, S. 89, 176-98. 26 S. M. Lipset, „Fascism" - Left, Right, Center; in: ders., Political Man, N. Y. 1960, S. 131-79. 27 Über pronationalsozialistische Splittergruppen in USA: Schlesinger, Bd. III, S. 78-95; M. Schonbach, Native Fascism during the 1930's and 1940's: A Study of its Roots, its Growth and its Decline, phil. Diss., University of California, Los Angeles 1958, Ms.; L. v. Bell, The Failure of Nazism in America: The German American Bund, 1936 to 1941, in: PSQ, Bd. 85, S. 585-99. Über das politische Sektenwesen zusammenfassend: G. Myers, History of Bigotry in the United States, N. Y. 1960. Kritisch zum „selective support" for Coughlin, zur Abwanderung katholi-

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Anmerkungen zu Seite 230-236 scher Wähler von den Demokraten zu den Republikanern (1938-1940) und zur Verbreitung antisemitischer Ressentiments: Lipset/Raab, S. 184-89. 28 Swing, S. 19. 29 Über die Palmer Raids vom Januar 1920, benannt nach Wilsons Justizminister A. Mitchell Palmer: R. K. Murray, Red Scare. Α Study in National Hysteria 1919 to 1920, Ν. Y. 1964. Zum Dies-Kommittee: D. A. Saunders, The Dies Committee: First Phase, in: The Public Opinion, Bd. 3, 1939, S. 223-38. A. R. Ogden, The Dies Committee, Washington, D. C. 1945. Zum An­ tikommunismus allgemein: E. Latham, The Communist Controversy in Washington from the New Deal to McCarthy, N. Y. 1965; S. Lens, The Futile Crusade. Anti-Communism as Ameri­ can Credo, Chicago 1964. 30 Zum Problem einer Verbindung zwischen „populistischer" und „etablierter" Opposition gegen den New Deal: Wolfskill, Revolt, S. 173, 195. 31 Zum Farmerprotest im allgemeinen und der von dem Bauerniührer Mili Reno aus Iowa gegründeten Farmers' Holiday Association im besonderen vgl. Puhle, Populismus; J. L. Shover, Cornbelt Rebellion. The Farmers' Holiday Association, Urbana 1964. Ober die Angestellten vgl. Kocka, Die Organisationen, und die dort angegebene Literatur. Über „small business" u. a.: J. Η. Bunzel, The American Small Businessman, N. Y. 1962; H. Zeigler, The Politics of Small Business, Washington, D. C. 1961; K. Mayer, Small Business as a Social Institution, in: Social Research, Bd. 14, 332-49. Zum Vergleich der amerikanischen und der deutschen Ent­ wicklung: Η. Α. Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, S. 190-97. Über die Anziehungskraft, die heute die Bewegung um George Wallace auf Teile der Arbeiterschaft ausübt: Lipset/Raab, S. 338-427. 32 E. Troeltsch, Deutscher Geist u. Westeuropa, Tübingen 1935, S. 5 f.; Fraenkel, S. 45. Zum intellektuellen Profaschismus in Amerika u. a.: Schlesinger, Bd. III, S. 69-95; A. E. Stone, Seward Collins and the American Review: Experiment in Pro-Fascism, 1933 to 1937, in: AQ, 12. 1960, S. 3-19; J. D. Diggins, Flirtation with Fascism: American Pragmatic Liberals and Mussolini's Italy, in: AHR, Bd. 71, 1966, S. 487-506. 33 Zum Fehlen der feudalen und absolutistischen Elemente in Amerika besonders: L. Hartz, The Liberal Tradition in America, N. Y. 1955; S. M. Lipset, The First New Nation. The United States in Historical and Comparative Perspective, Garden City, N. Y. 1967. - Das häufige Zusammenspiel von konservativen Republikanern des industrialisierten Nordens und konservativen Demokraten des agrarischen Südens blieb systemkonform. Das gilt auch für die sich aus diesen Kräften rekrutierende informelle Anti-Roosevelt-Koalition im Kongreß der Jahre nach 1938. 15. Gesellschaftsform und Außenpolitik: Eine Theorie Lorenz von Steins in zeitgeschichtlicher Perspektive Der meinem Doktorvater Hans Rothfels anläßlich seines 80. Geburtstages am 12. April 1971 gewidmete Aufsatz erschien erstmals in der HZ, Bd. 214, 1972, S. 336-62. Der Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages, den ich am 1. Mai 1966 aus Anlaß des 75. Geburtstages von Hans Rothfels im Historischen Seminar der Universität Tübingen gehalten habe. 1 Hierzu besonders: H. Rothfels, Gesellschaftsform u. auswärtige Politik, Laupheim o. J . (1951), S. 8 f.; ders.,Gesellschaftsordnungu. Koexistenz, in: VfZ, Bd. 4, 1956, S. 333-45; ders., Zur Krise des Nationalstaats, ebd., Bd. 3, 1955, S. 227-39. Zur Gesamtthematik dieses Aufsatzes jetzt auch R. Löwenthal, Internationale Konstellation u. innerstaatlicher Systemwandel, in: HZ, Bd. 212, 1971, S. 41-58. 2 Zur politischen Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses nach 1945 vgl. jetzt die zusam356

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Anmerkungen zu Seite 236-237 menfassende Analyse von A. B. Ulam, Expansion and Coexistence. The History of Soviet For­ eign Policy 1917-67, Ν. Y. 19693, S. 378-752. Eine geradezu klassische und naiv-deterministi­ sche Formulierung der Konvergenztheorie bei P. A. Sorokin, Soziologische u. kulturelle Annäherungen zwischen den Vereinigten Staaten u. der Sowjetunion, in: ZfP, N. F., Bd. 7, 1960, S. 341-70; mit ähnlichem Tenor: W. W. Rostow, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960, bes. S. 145-67; T. Parsons, Evolutionary Universal in Society, in: ASR, Bd. 29, 1964, S. 339-57; J. Tinbergen, Do Communist and Free Economies Show a Converging Pattern?, in: Soviet Studies, Bd. 12, 1961, S. 333-41; ders., Die Rolle der Planungstechniken bei einer Annäherung der Strukturen in Ost und West, in: E. Böttcher (Hg.), Wirtschaftsplanung im Ostblock. Beginn einer Liberalisierung? Stuttgart 1966, S. 35-53. Hinsichtlich der politischen Auswirkungen ökonomischer Parallelentwicklungen wesentlich zurückhaltender sind: R. Aron, War and Industrial Society, London 1958; Ch. Graf v. Krockow, Soziologie des Friedens. Drei Abhandlungen zur Problematik des Ost-West-Konflikts, Gütersloh 1962; J. K. Galbraith, The New Industrial State, Boston 1967, bes. S. 98-108; E. Richert, Die neue Gesellschaft in Ost u. West. Analyse einer lautlosen Revolution, Gütersloh 1966; E. Boettcher (Hg.), Beiträge zum Vergleich der Wirtschaftssysteme, Berlin 1970; Jahrbuch der Wirtschaft Osteuropas, Bd. 2, München 1970. Ganz unergiebig: J. Gumpert, Koexistenz der Gesellschaftsordnungen. Eine geschichtssoziologische Betrachtung zum Ost-West-Problem, in: SchJB. Bd. 81, 1961, S. 1-25. Kritisch zu den Konvergenztheorien: Z. Brzezinski u. S. P. Huntington, Political Power: USA/UdSSR, N. Y. 1964, bes. S. 3-14. Beispiele sowjetmarxistischer Kritik: E. Bregel, Die Theorie von der Konvergenz der beiden Wirtschaftssysteme, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 1968, S. 479-95; W. Tscheprakow, Konvergenztheorie u. Wirklichkeit, ebd., S. 929-41. 3 Kritisch zu Steins Methodik und Soziallehre neuerdings: H. Pross, Bürgerlich-konservative Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft. Zur Theorie Lorenz v. Steins, in: KZS, Bd. 18, 1966, S. 131-38; M. Hahn, Bürgerlicher Optimismus im Niedergang. Studien zu Lorenz Stein u. Hegel, München 1969; J. Weiss, Dialectic, Idealism and the Work of Lorenz von Stein, in: IRSH, Bd. 8, 1963, S. 75-93. Zur selben Problematik auch: E.-W. Böckenförde, Lorenz ν. Stein als Theoretiker u. die moderne Gesellschaft, in: Alteuropa u. die moderne Gesellschaft. Fs. f. O. Brunner, Göttingen 1963, S. 248-77; E. Angermann, Zwei Typen des Ausgleichs gesellschaftlicher Interessen durch die Staatsgewalt. Ein Vergleich der Lehren Lorenz Steins u. Robert Mohls, in: W. Conze (Hg.), Staat u. Gesellschaft im deutschen Vormärz, Stuttgart 1962, S. 173-205. Sehr positiv über Stein als Historiker und Soziologe: K. Mengelberg, Lorenz von Stein and his Contribution to Historical Sociology, in: JHI, Bd. 22, 1961, S. 267-74. Ganz unkritisch ist: F. Ronneberger, Lorenz v. Stein. Zur 150. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. November 1965, in: Der Staat, Bd. 4, 1965, S. 395-408. Zur Biographie jetzt: W. Schmidt, Lorenz v. Stein. Ein Beitrag zur Biographie, zur Geschichte Schleswig-Holsteins und zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Eckernförde 1956 (Sonderdruck aus: Jahrbuch der Heimatgemeinschaft des Kreises Eckernförde, Bd. 14, 1956, S. 7-175); D. Blasius, Lorenz v. Stein, in: H.-U. Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 1, Göttingen 19711, S. 25-38. Aus der älteren Literatur nach wie vor wichtig: P. Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff u. seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz v. Stein, Marx, Engels u. Lassalle, Berlin 1925; H. Nitzschke, Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1932; F. Gilbert, Lorenz von Stein u. die Revolution von 1848, in: MÖIG, Bd. 50, 1936, S. 369-87; H. Marcuse, Vernunft u. Revolution. Hegel u. die Entstehung der Gesellschaftstheorie (amerik.: 19411), Neuwied 1962, S. 327-39. 4 Über Stein als Sozialhistoriker: R. Vierhaus, Ranke u. die soziale Welt, Münster 1957, S. 215-28. Auf Steins Einsichten in den Zusammenhang von Gesellschaftsform u. Außenpolitik verweist nachdrücklich Krockow, S. 81-83, ohne allerdings die Analyse des zeitlichen Ablaufs dieser Beziehungen zu untersuchen. Eine unkritisch-positive Würdigung Steins und seines Gesellschaftsprogramms, die jedoch offenbar nur auf der Kenntnis der bei Krockow zitierten Pas24 Winkler, Liberalismus

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Anmerkungen zu Seite 237-241 sagen beruht, findet sich überraschenderweise bei E. Krippendorff (Hg.), Friedensforschung, Köln 1968, S. 17 f. (Einleitung). 5 L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, 3 Bde. München 1921 (ND: Darmstadt 1959), Bd. I, S. 265-66 (Hervorhebungen im Original). 6 Ebd., S. 266. - Zur neueren strukturgeschichtlichen Beurteilung des revolutionären Umbruchs zu Ende des 18. Jahrhunderts etwa: W. Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, Heft 66), Köln 1957; D. Gerhard, Alte u. neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung, Göttingen 1962. Zum Beginn „realpolitischen" Denkens: H. Rothfels, Zeitgeschichtliche Betrachtungen zum Problem der Realpolitik, in: ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959, S. 179-98; S. A. Kaehler, Realpolitik zur Zeit des Krimkrieges - eine Säkularbetrachtung, in: HZ, Bd. 174, 1952, S. 417-78. 7 Stein, Bd. I, S. 427 f. (Hervorhebungen im Original). Das geschichtliche Novum der gesellschaftspolitischen Spaltung Europas nach 1789 betonte bereits drei Jahrzehnte vor Stein in ähnlicher Akzentuierung der französische Publizist D. G. F. de Pradt in seinem Buch: L'Europe et l'Amérique en 1821, Paris 1822. Hierzu: H. Gollwitzer, Ideologische Blockbildung als Bestandteil internationaler Politik im 19. Jahrhundert, in: HZ, Bd. 201, 1965, S. 306. 8 Stein, Bd. I, S. 481. 9 Ebd., S. 396-405; Gollwitzer, S. 306-33; L. Gershoy, The French Revolution and Napoleon, N. Y. 19642, S. 198-226, 348-513; G. Bruun, Europe and the French Imperium 1799-1814, Ν. Y. 1938, S. 36-61, 134-209; Α. Fugier, La Revolution Française et l'Empire Napoléonien (Histoire des Relations Internationales, Bd. 4), Paris 1954, passim; L. Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld 1948, bes. S. 119-58. 10 Stein, Bd. I, S. 401; K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], in: MEW, Berlin (O) 1960 ff., Bd. 8, S. 115-207; Gershoy, S. 348-59. 11 Über die restaurativen Tendenzen des Empire z. B.: J. Godechot, Les Institutions de la France sous la Revolution et l'Empire, Paris 1951, S. 594-603. Zur Bedeutung der Charte von 1814, aus der sich das parlamentarische System entwickeln sollte, etwa: H. Gangl, Die Verfassungsentwicklung in Frankreich 1814-1830, in: HZ, Bd. 202, 1966, S. 265-308; M. Deslandres, Histoire Constitutionelle de la France de 1789à1879, Paris 1932, Bd. I, S. 666-91; G. de Bertier de Sauvigny, La Restauration. Nouvelle édition, Paris 1955, S. 59-74. Darauf, daß auch für die materialistische Geschichtsauffassung nur „in letzter Instanz" das ökonomische Moment das bestimmende sei, verwies in seinem berühmten Brief an Josef Bloch Friedrich Engels am 21./22. 9. 1890. MEW, Bd. 37, S. 463. 12 Hierzu die in Anm. 1 zitierten Arbeiten von H. Rothfels. Vgl. auch ders., Bismarck u. das 19. Jahrhundert, in: ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, S. 54-70. Zu den ideologischen Blöcken der Zeit nach 1815 u. a.: Gollwitzer, S. 306-33; Bertier de Sauvigny, bes. S. 394-405; H. A. Kissinger, Α World Restored. Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812-22, Boston 19571. 13 Zum Problem der Homogenität des europäischen Systems vor 1914: R. Aron, Paix et guerre entre les nations, Paris 1962, bes. S. 318 f. Zur Frage der „sekundären Integration" und zum Sozialimperialismus in Deutschland jetzt besonders: W. Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: H.-U. Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 1966, S. 407-36; H.-U. Wehler, Bismarck u. der Imperialismus, Köln 1969; D. Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien u. Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln 1970. Über die Furcht vor der sozialen Revolution vor allem: Th. Schieder, Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: ders., Staat u. Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 19702, S. 11-57. 358

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Anmerkungen zu Seite 242-250 14 Zum Problem des Verlaufstypus: ders., Der Typus in der Geschichtswissenschaft, ebd., S. 172-87. 15 Hierzu etwa: Ulam, S. 51-125; G. F. Kennan, The Decision to Intervene (Soviet-American Relations, 1917-1920, Bd. II), Princeton 1958; A. S. Mayer, Politics and Diplomacy of Peacemaking. Containment and Counterrevolution at Versailles 1918-1919, N. Y. 1967, bes. S. 284-343. Einen informativen Überblick über den Forschungsstand gibt: G. Niedhart, Die westlichen Alliierten u. das bolschewistische Rußland 1917-1921, in: NPL, Bd. 15, 1970, S. 460-70. 16 Zur Aggressivitätsdifferenz von Faschismus und Kommunismus treffend: E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963, S. 470-72. Zu den Totalitarismustheorien: M. Jänicke, Totalitäre Herrschaft - Anatomie eines politischen Begriffs, Berlin 1971. 17 Zur Problematik der ökonomistischen Interpretation von Nationalsozialismus und Faschismus jetzt ausführlicher Η. Α. Winkler, Mittelstand, Demokratie u. Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk u. Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, S. 157-66. 18 Ulam, S. 209-79; J. P. Nettl, The Soviet Achievement, London 1967, S. 73-114; W. E. Leuchtenburg, Franklin D. Roosevelt and the New Deal 1932-1940, N. Y. 1963, bes. S. 57 f. 19 Hierzu vor allem: Rothfels, Gesellschaftsform, S. 19-22. 20 Aus der revisionistischen Literatur insbesondere: D. F. Fleming, The Cold War and its Origins, 1917-1960, 2 Bde., Garden City, N. Y., 1961; D. Horowitz, The Free World Colossus, Ν. Υ. 1965; G. Kolko, The Politics of War. The World and United States Foreign Policy, 1943-1945, Ν. Υ. 1968; G. Alperowitz, Atomic Diplomacy: Hiroshima and Potsdam, Ν. Υ. 1965. Eine ausgezeichnete kritische Auseinandersetzung mit den revisionistischen Thesen bei: C. S. Maier, Revisionism and the Interpretation of Cold War Origins, in: Perspectives in Ameri­ can History, Bd. 4, 1970, S. 313-47. 21 Hierzu bereits im Jahre 1966 R. Löwenthal, Amerikas Engagement in Asien, in: Der Monat, Jg. 18, 1966, Nr. 212, S. 5-19. 22 Vgl. hierzu ders., Der weltpolitische Szenenwechsel, ebd., Jg. 15, 1963, Nr. 180, S. 9-16. Neuerdings auch: Th. Schieder, Zum Problem des Staatenpluralismus in der modernen Welt (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, Heft 157), Köln 1969. 23 Zu den sowjetischen Wirtschaftsreformen außer den in Anm. 2 genannten Arbeiten besonders: N. Spulber, The Soviet Economy. Structure, Principles, Problems, Ν. Υ. 19692; J. L. Felker, Soviet Economic Controversies. The Emerging Marketing Concept and Changes in Planning, 1960-1965, Cambridge/Mass. 1966; M. Bornstein u. D. R. Fusfield, The Soviet Economy, Homewood 19703; K. C. Thalheim u. H.-H. Höhmann (Hg.), Wirtschaftsreformen in Osteuropa, Köln 1968. 24 Hierzu wie zum folgenden: P. Sering (= R. Löwenthal), Jenseits des Kapitalismus, Lauf bei Nürnberg 1946, S. 158-67; ders. (R. L.), Demokratische u. totalitäre Revolution, in: Der Monat, Jg. 13, 1960, Nr. 146, S. 29-40. Die Einbeziehung der faschistischen Diktaturen in den Typ der„totalitärenRevolution" scheint mir allerdings problematisch, weil sie nirgendwo Änderungen der Gesellschaft erreichten, die mit denen der Oktoberrevolution vergleichbar wären. Zum Verhältnis zwischen der „okzidentalen" u. der sowjetischen Revolution vgl. jetzt meinen Aufsatz: Zum Verhältnis von bürgerlicher u. proletarischer Revolution bei Marx u. Engels, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte Heute. Fs. f. H. Rosenberg, Göttingen 1974, S. 326-53 (wieder abgedruckt in: Η. Α. Winkler, Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Histo­ rischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 8-34). 25 Zum sowjetisch-chinesischen Disput insbesondere: W. E. Griffith, The Sino-Soviet Rift, Cambridge/Mass. 19683; D. W. Treadgold, Soviet and Chinese Communism. Similarities and Differences, Seattle 1967. Zur Abschreckungsproblematik vgl. Anm. 29. 26 R. D. Musters, World Politics as a Primitive Political System, in: WP, Bd. 16, 1964, S. 595-615; ähnlich R. Aron, The Anarchical Order of Power, in: S. Hoffmann (Hg.), Conditions

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Anmerkungen zu Seite 250-255 of World Power, Boston 1968, S. 25-48. Zum Begriff und zur Problematik des internationalen Systems etwa: R. L. Pfaltzgraff, jr. (Hg.), Politics and the International System, Philadelphia 1969; J. N. Rosenau (Hg.), International Politics and Foreign Policy, Ν. Y. 1961; Κ. Knorr u. S. Verba (Hg.), The International System, Princeton 1961; S. Hoffmann, Contemporary Theory in International Relations, N. Y. 1960; H. J. Morgenthau, Politics among Nations, N. Y. 19603; E.-O. Czempiel (Hg.), Die Lehre von den internationalen Beziehungen, Darmstadt 1969. 27 Hierzu: A. Thalheimer, Über den Faschismus, in: O. Bauer u. a., Faschismus u. Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge u. die Funktion des Faschismus, Frankfurt 1967, S. 19-38. 28 Typisch für die deduktive Richtung in der Lehre von den internationalen Beziehungen: M. A. Kaplan, System and Process in International Relations, Ν. Υ. 1957. Vgl. hierzu die brillante Kritik von S. Hoffmann, International Relations: The Long Road to Theory, in: WP,Bd.11, 1959, S. 346-77. Zum Problem der transnationalen Gesellschaft: K. Kaiser, Transnationale Poli­ tik, in: E.-O. Czempiel (Hg.), Die anachronistische Souveränität. Zum Verhältnis von Innen- u. Außenpolitik, PVS, Sonderheft 1, 1969, S. 80-109. 29 J . Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: Th. Adorno u. a. (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 19702, S. 235-66. Zu der hier apostrophierten Richtung der Kritik des Abschreckungssystems vor allem: D. Senghaas, Abschreckung u. Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit, Frankfurt 1969 (mit ausführlichen Literaturangaben). 30 Stein, Bd. I, S. 402. 16. Zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus Der Ernst Fraenkel zu seinem 75. Geburtstag am 26. Dezember 1973 gewidmete Aufsatz „Einleitende Bemerkungen zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus" erschien ursprünglich als Einleitung zu dem von mir herausgegebenen Band: Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 9-18. Der Band umfaßt die Papiere, die in wesentlich kürzerer Form am 5. und 6. Oktober im Rahmen der von mir geleiteten Arbeitsgemeinschaft „Voraussetzungen und Anfänge des Organisierten Kapitalismus" auf der 29. Versammlung Deutscher Historiker in Regensburg vorgetragen und diskutiert worden sind. 1 R. Hilferding, Arbeitsgemeinschaft der Klassen?, in: Der Kampf, Bd. 8, 1915, S. 322. Zur politischen und theoretischen Entwicklung Hilferdings: W. Gottschalch, Strukturveränderungen der Gesellschaft u. politisches Handeln in der Lehre von Rudolf Hilferding, Berlin 1962. Für die Zeit 1918-20 ist teilweise ergiebiger: E. Prager, Die Geschichte der U.S.P.D., Berlin 1921, S. 179-232. 2 R. Hilferding, Probleme der Zeit, in: Die Gesellschaft, Bd. 1, 1924, S. 1-17. Über Hilferding als Herausgeber der „Gesellschaft" vgl. jetzt: E. Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz u. Aufsätze zur Verfassungskrise 1931-32, Sonderausgabe Darmstadt 1968, S. VII-XIV (Vorwort zum Neudruck). Als Zeugnis aus der Revolutionszeit siehe insbesondere die Reden Hilferdings auf dem 1. Reichsrätekongreß, in: Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918, Berlin 1919, S. 312-21, 341-44. 3 R, Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), Berlin 1927, S. 165-84; ders., Das Parteiprogramm, in: Sozialdemokratischer Parteitag 1925 in Heidelberg (Protokoll), Berlin 1925, S. 297. 4 Ders., Gesellschaftsmacht oder Privatmacht über die Wirtschaft, in: AfA-Gewerkschaftskongreß Leipzig vom 5. bis 7. Oktober 1931, Berlin 1931, S. 84-114. 5 A. Predöhl, Das Ende der Weltwirtschaftskrise, Reinbek 1962. 360

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Anmerkungen zu Seite 255-257 6 Für die sowjetmarxistische Sicht vor allem die zeitgenössischen Arbeiten von E. Varga, in Auswahl jetzt leicht zugänglich in: ders., Die Krise des Kapitalismus u. ihre politischen Folgen, Frankfurt 1969, bes. S. 11-41. Vgl, ferner: L. Leontjew, Der „Organisierte Kapitalismus" und die „Wirtschaftsdemokratie", in: Unter dem Banner des Marxismus, Jg. 3, 1929, S. 660-87; M. Joelson, Monopolistischer Kapitalismus oder „Organisierter Kapitalismus", ebd., S. 807-33. Zum Problem des „Generalkartells": R. Hilferding, Das Finanzkapital, Neuausgabe Frankfurt 1968, S. 389-404. Die Titelthese dieses Buches, die eine Verflechtung von Bank- und Industriekapital bei deutlicher Dominanz des ersteren konstatiert, kann in diesem Zusammenhang nicht ausführlich diskutiert werden. Sie trifft für Deutschland offensichtlich eher (wenn auch hier nur mit Einschränkungen) zu als für Frankreich und England. In Amerika erwies sich die Verflechtung tendenziell als weniger dauerhaft als in Deutschland. Vgl. für Amerika und England die Beiträge von H.-J. Puhle, H. Medick und B.-J. Wendt in: Η. Α. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen u. Anfänge, Göttingen 1974; für Frankreich: G. Ziebura, Interne Faktoren des französischen Hochimperialismus, in: W. J. Mommsen(Hg.), Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971, S. 85-139; für Deutschland z. B.: J . Riesser, Die deutschen Großbanken und ihre Konzentration, Jena 1912; W. Hagemann, Das Verhältnis der deutschen Großbanken zur Industrie, Berlin 1931; J. Kocka, Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914, Stuttgart 1969, S. 431-35. 7 Hilferding, Probleme der Zeit, S. 2; Gesellschaftsmacht, S. 101-109. Brüning hat Hilferding, mit dem er persönlich befreundet war, in seinen Memoiren wiederholt mit Worten außerordentlicher Anerkennung bedacht: H. Brüning, Memoiren 1918-1934, Stuttgart 1970, passim. Für Hilferdings Arbeiten aus der Krisenzeit nach 1929 vgl. die Bibliographie bei Gottschalch, S. 268-73. Zu Hilferdings Polemik gegen die Gewerkschaftspläne eines „deficit spending": W. S. Woytinski, Stormy Passage, New York 1961, S. 468-72. Zum gleichen Problem die Beiträge von R. A. Gates u. M. Schneider in dem Band: H. Mommsen u. a. (Hg.), Industrielles System u. politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 19741. Von M. Schneider neuerdings auch: Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB in der Endphase der Weimarer Republik, Bonn 1975. 8 Der Ausdruck bei C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt 1972, S. 25. 9 F. Naphtali, Wirtschaftsdemokratie (19281), Frankfurt 19682; Protokoll der Verhandlungen des 13. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands (3. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes), abgehalten in Hamburg vom 3. bis 7. September 1928, Berlin 1928, S. 20-22, 170-224. Zur zeitgenössischen Diskussion über die Wirtschaftsdemokratie vgl. Η. Α. Winkler, Unternehmer u. Wirtschaftsdemokratie in der Weimarer Republik, in: PVS, Bd. 11, 1970, Sonderheft 2, S. 308-22 (in diesem Band, S. 195-204). 10 Hilferding, Einleitung zu: G. D. H. Cole, Selbstverwaltung in der Industrie, Berlin 1921, S. VI. 11 MEW, Bd. 25, S. 397. Marx sah in der „Kooperativfabrik" den „gegensätzlichen Charakter der Aufsichtsarbeit" entfallen, da dort der Dirigent von den Arbeitern bezahlt werde, statt ihnen gegenüber das Kapital zu vertreten (ebd., S. 401). Diese Annahme ist allerdings bemerkenswert idealistisch. In Wirklichkeit enthält die im Text zitierte Passage im Keim die Begründung dafür, daß sich auch nach einer „proletarischen Revolution" wieder eine Klassengesellschaft herauszubilden pflegt. Die theoretische Leugnung des funktionalen Pluralismus führt in der Praxis dazu, daß sich, um Kautskys Formel zu übernehmen, die „Diktatur des Proletariats" zur „Diktatur über das Proletariat" entwickelt. Dazu ausführlicher mein Beitrag: Zum Verhältnis von bürgerlicher u. proletarischer Revolution bei Marx u. Engels, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte Heute. Fs.f.H. Rosenberg, Göttingen 1974, S. 326-53 (wieder abgedruckt in: Η. Α. Winkler, Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Historischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 8-34). 12 Hilferding, Aufgaben der Sozialdemokratie, S. 172-74.

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Anmerkungen zu Seite 258-262 13 Für die außenpolitische Lagebeurteilung Hilferdings besonders: ders., Realistischer Pazifismus, in: Die Gesellschaft, Bd. 1, 1924/II, S. 97-114; ders., Krieg, Abrüstung u. Milizsystem, ebd., Bd. 3, 1926/II, S. 385-98. In diesen Arbeiten stellt Hilferding ein starkes Friedensinteresse auch in Kapitalkreisen, zumal in den angelsächsischen Ländern, fest. In derselben Richtung wirkt sich nach seiner Meinung in Deutschland die Gewichtsverlagerung von der Schwerindustrie zur chemischen Industrie aus: Politische Probleme, ebd., Bd. 3, 1926/II, S. 289-302. Vgl. auch noch: ders., Die Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Entwicklung, in: B. Harms (Hg.), Kapital u. Kapitalismus, Berlin 1931, Bd. I, S. 20-37. 14 Vgl. hierzu Hilferdings Diskussionsbemerkung auf dem Kieler Parteitag: „Wo hat denn der Faschismus siegen können? Nur dort, wo es vorher nur unwesentliche Ansätze der Demokratie gegeben hat, wo analphabetische Massen noch keine politische Tradition und politische Erziehung gehabt haben." Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927, S. 218. Zu Hilferdings Interpretation des Faschismus ferner besonders: Unter der Drohung des Faschismus, in: Die Gesellschaft, Bd. 9, 1932/I, S. 1-12; ders., Das historische Problem, ZfP, N. F., Bd. 1, 1954, S. 293-324 (wichtiges posthum erschienenes Aufsatzfragment). 15 Die Offenheit für demokratische Entwicklungen hebt die Theorie des Organisierten Kapitalismus trotz ihrer harmonisierenden Elemente positiv ab von zwei konkurrierenden, inhaltlich partiell übereinstimmenden Modellen: der leninistischen Theorie des „Staatsmonopolistischen Kapitalismus", deren politisch-taktische Qualitäten die analytischen bei weitem übertreffen, und Werner Sombarts Konzeption von „Spätkapitalismus", die im Zuge einer Apologie des italienischen Faschismus populär geworden ist. Zum ersten Modell vgl.: J. Kocka, Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? Begriffliche Vorbemerkungen, in: Winkler (Hg.), S. 19-35; zum zweiten: W. Sombart, Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin 1932, sowie für den geistesgeschichtlichen Zusammenhang: H. Lebovics, Social Conservatism and the Middle Classes in Germany 1914-1933, Princeton 1969.

17. Zur Diskussion über den Organisierten Kapitalismus: Eine Zwischenbilanz Der Beitrag erschien erstmals unter dem Titel „Vorläufige Schlußbemerkungen" in dem von mir herausgegebenen Band „Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen u. Anfänge" Göttingen 1974, S. 214-18. Die im Text erwähnten Beiträge anderer Autoren sind, soweit in den Anmerkungen keine anderen Belege gegeben werden, in dem gleichen Band veröffentlicht worden. 1 J . Kocka, Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus. Begriffliche Vorbemerkungen, in: Η. Α. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen u. Anfänge, Göttingen 1974, S. 33 (Anm. 22). 2 H. E. Krueger, Historische u. kritische Untersuchungen über die freien Interessenvertretungen von Industrie, Handel und Gewerbe in Deutschland, in: SchJb, Bd. 32, 1908, S. 1581-614; Bd. 33, 1909, S. 617-68. 3 H. Kaelble u. H. Volkmann, Konjunktur u. Streik während des Übergangs zum Organisierten Kapitalismus in Deutschland, ZWS, Bd. 92. 1972, S. 513-44. 4 Allgemein: R. A. Brady, Business as a System of Power, Ν. Υ. 1943; für die USA jetzt bes.: W. E. Leuchtenburg, The New Deal and the Analogue of War, in: J . Braeman u. a. (Hg.), Change and Continuity in Twentieth Century America, N. Y. 1966, S. 81-143. 5 Hinsichtlich der praktischen Rezeption der Keynes'schen Theorie ergeben sich bezeichnende Differenzen zwischen den USA und Deutschland. In Amerika ist vor 1937 („Roosevelt Depression") nur von einem pragmatischen und halbherzigen „deficit spending" zu sprechen; erst danach hat eine bewußt antizyklische Haushaltspolitik eingesetzt. In Deutschland ist die neue Lehre mit jahrzehntelanger, durch den Nationalsozialismus bedingter Verspätung rezipiert 362

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Anmerkungen zu Seite 262-265 worden. Auf konjunkturpolitischem Gebiet dreht sich das Verhältnis von „Verfrühung" und „Verspätung" bei der Herausbildung des Organisierten Kapitalismus zwischen Deutschland und den angelsächsischen Ländern in der Tat um. In Modifikation der These von Charles Maier, daß die „Überentwicklung" des Organisierten Kapitalismus in Deutschland eine Bedingung für die Erfolge des Nationalsozialismus in den Mittelschichten bildete, ließe sich auch sagen, daß auf dem Gebiet von Konjunkturtheorie und -politik es eher eine spezifische Unterentwicklung war (Brünings starre Deflationspolitik!), die dem Nationalsozialismus den Boden bereitete. Vgl. für Amerika außer H.-J. Puhles Beitrag in: Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus (S. 172-94), insbes.: E. W. Hawley, The New Deal and the Problem of Monopoly, Princeton 1969; zur frühen deutschen Keynes-Diskussion etwa, wenn auch insgesamt wenig befriedigend: W. Krause, Wirtschaftstheorie unter dem Hakenkreuz, Berlin (O) 1969. 6 Hierzu z. Β.: Α. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cam­ bridge/Mass. 1962; ders., Continuity in History, Cambridge/Mass. 1968; Β. Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur u. Demokratie, Frankfurt 1969, sowie Kocka, Organisierter Kapitalismus, S. 19-35. 18. Organisierter Kapitalismus? Versuch eines Fazits Der bisher unveröffentlichte Text ist ein Referat, das ich am 22. November 1978 in einem Colloquium des Forschungszentrums für Geschichte und Soziologie der Schweizerischen Politik in Bern vorgetragen habe. Die wichtigste Anregung, das Modell des „Organisierten Kapitalismus" nochmals kritisch auf seine Aussagekraft hin zu überprüfen, stammt von Hans Rosenberg, der mir seine Einwände gesprächsweise mitgeteilt hat. 1 Η. Α. Winkler (Hg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen u. Anfänge, Göttingen 1974. 2 V. Sellin, Kapitalismus u. Organisation. Beobachtungen an der Industrialisierung Italiens, in: Winkler (Hg.), S. 84-100. 3 Dazu etwa W. Conze, Das Spannungsfeld von Staat u. Gesellschaft im Vormärz, in: ders. (Hg.), Staat u. Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848, Stuttgart 1962, S. 207-69. 4 MEW, Bd. 12, S. 340 (Die Finanzkrise in Europa [4. 12. 1857]). Der Artikel enthält auch bemerkenswerte Vorhersagen für staatliches Krisenmanagement auf dem Agrarmarkt. Auch im 1852 gegründeten „Crédit Mobilier" sah Marx eine Art von „kaiserlichem Sozialismus". Er unterstellte dieser Einrichtung die Absicht, „sich selbst zum Besitzer und Napoleon den Kleinen zum obersten Direktor der ganzen mannigfaltigen Industrie Frankreichs zu machen". MEW, Bd. 12, S. 23f. (Der französische Crédit mobilier [1856]. - Zur Krise von 1857 in Hamburg und den Maßnahmen des Senats vgl.: H. Böhme, Frankfurt u. Hamburg. Des Deutschen Reiches Silber- u. Goldloch u. die allerenglischste Stadt des Kontinents, Frankfurt 1968, S. 244-69, 352-65; G. Ahrens, Die Überwindung der hamburgischen Wirtschaftskrise von 1857 im Spannungsfeld von Privatinitiative und Staatsintervention, in: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte, Bd. 64, 1978, S. 1-29. Generell zur Rolle des Staates in der Industrialisierung insbes.: P. Deane, Die Rolle des Staates, in: R. Braun u. a. (Hg.), Industrielle Revolution. Wirtschaftliche Aspekte, Köln 1972,S.272-86; W. Fischer, Das Verhältnis von Staat u. Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung, ebd. S. 287-304; A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge/Mass. 1962. 5 Zu den frühen Kartellen und ihren Vorbildern bes.: E. Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Dortmund 1964; R. Piotrowski, Cartels and Trusts. Their Origin and Historical Development from the Economic and Legal Aspects, London 1933; J. Strieder, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen. Monopole, Kartelle u. Aktiengesellschaften im Mittelalter u. zu Beginn der Neuzeit, München 19252.

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Anmerkungen zu Seite 265-268 6 Vgl. zu den Kartellen u. Monopolen des englischen Merkantilismus seit dem 14. Jahrhundert sehr anschaulich: M. Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft, Studienausgabe, 2. Hbd., Köln 1956, S. 820f., 1041 f. Zum gleichen Thema nach wie vor auch: H. Levy, Monopole, Kartelleu. Trusts in der Geschichte u. Gegenwart der englischen Industrie, Berlin 1927. 7 Dazu etwa: H. A. Winkler, Pluralismus oder Protektionismus? Verfassungspolitische Probleme des Verbandswesens im deutschen Kaiserreich, Wiesbaden 1972, S. 28 f. (in diesem Band, S. 163-74). 8 Weber, S. 1040. 9 Ebd. 10 Zu den Anfängen der Bildung von Interessenverbänden in Deutschland: G. Schulz, Über Entstehung u. Formen von Interessengruppen in Deutschland, in: PVS, Bd. 2, 1961, S. 124-54; Th. Nipperdey, Interessenverbände vor 1914, ebd., S. 262-80; H. Kaelble, Industrielle Interessenverbände vor 1914, in: W. Rüegg u. O. Neuloh (Hg.), Zur soziologischen Theorie u. Analyse des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1971, S. 180-92. Zum Prozeß der Bürokratisierung der Industrie: J . Kocka, Unternehmensverwaltung u. Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus u. Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969. 11 Zum Gesellschaftsmodell des Frühliberalismus bes.: L. Gall, Liberalismus u. „bürgerliche Gesellschaft". Zu Charakter u. Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: ders. (Hg.), Liberalismus, Köln 1976, S. 162-86; J. J. Sheehan, Liberalismus u. Gesellschaft in Deutschland 1815-1848, ebd., S. 208-31. 12 Im Deutschland des Zollvereins bzw. des Deutschen Reiches von 1871 hat das Prinzip der Gewerbefreiheit auf dem Gesamtterritorium nur von 1869 bis 1881 faktisch uneingeschränkt bestanden. 1881 begann die graduelle Reprivilegierung der Innungen und damit eine neue protektionistische Mittelsundspolitik, die ζ. Τ. bis in die Gegenwart fortdauert. 13 E. Rausch, Die französische Handelspolitik vom Frankfurter Frieden bis zur Tarifreform von 1882, Leipzig 1900, S. 122, 162 (französische Konventionaltarife für Roheisen seit 1860: 20 Franc, deutscher Schutzzoll von 1879: 12,50 Franc pro Tonne). Ich verdanke den Hinweis auf diese Studie einem Seminarreferat von A. Kohlhaas. Über die Gründe des englischen Zurückbleibens in der industriellen Entwicklung seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. den Beitrag von H. Medick in: Winkler (Hg.), S. 58-83. 14 Vgl. dazu: H.-U. Wehler, Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865-1900, Göttingen 1974. Zur Zollpolitik der USA vgl.: E. P. Crapol, America for the Americans. Economic Nationalism and Anglophobia in the Late Nineteenth Century, Westport 1973. 15 Auf das Dilemma von Versuchen, mit Hilfe des Modells des „Organisierten Kapitalismus" das Industriezeitalter zu periodisieren, hat von den Rezensenten des Bandes „Organisierter Kapitalismus" namentlich K. D. Barkin (JMH, Bd. 47, 1975, S. 125-29) hingewiesen. 16 Darauf verweist mit Recht P. C. Schmitter, Modes of Interest Intermediation and Models of Societal Change in Western Europe, in: CPS, Bd. 10, 1977, S. 7-38. 17 Vgl. zur Periodisierungsfrage den vorangehenden Beitrag. 18 In diesem Punkt würde ich heute G. D. Feldman gegenüber den Verteidigern des Modells des „Organisierten Kapitalismus" unbedingt recht geben. Ich sehe im übrigen auch nicht, wie man die Bürokratisierung von Unternehmungen und Verbänden primär aus dem Interesse an Stabilität ableiten könnte. Die zunehmende Komplexität technologischer und wirtschaftlicher Prozesse sowie schieres Wachstum waren hierbei doch wohl wichtiger. Und besteht nicht die Gefahr, daß der Gegensatz von Rationalisierung und Protektionismus verwischt wird, wenn beide (seit Hilferding) als Merkmale des „Organisierten Kapitalismus" gesehen werden? 19 Für die westeuropäischen Staaten aus der umfangreichen modernisierungstheoretischen Lit. am besten hierzu: S. Rokkan, Dimensions of State Formation and Nation-Building, in: C. Tilly (Hg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975, S. 562-600. 364

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Anmerkungen zu Seite 268-272 20 Auf diese in Regensburg nicht intensiv genug diskutierte Differenz zwischen Wehler u. Kocka hat K. J. Bade in seiner kritisch-informativen Rezension (NPL, Bd. 20, 1975, S. 293-307) zurecht hingewiesen. 21 Zum Anwachsen der Staatstätigkeit vgl. den instruktiven Überblick von H.-J. Puhle, Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, in: G. A. Ritter (Hg.), Vom Wohlfahrtsausschuß zum Wohlfahrtsstaat, Köln 1973, S. 29-68. 22 Vgl. zu den hier skizzierten Problemen sehr eindringlich R. Löwenthals Einleitung zu G. Eliasberg, Der Ruhrkrieg von 1920, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 9-21; O. Kirchheimer, The Conditions of Revolutionary Power, in: L. Krieger u. F. Stern (Hg.), The Responsibility of Power. Historical Essays in Honor of Η. Holborn, London 1968, S. 416-38; aber auch schon: E. Bernstein, Die deutsche Revolution, Berlin 1921, S. 170 f. sowie Η. Ströbel, Die Deutsche Revolution. Ihr Unglück u. ihre Rettung. Berlin o. J . (Vorwort 1920), S. 63 ff. 23 Vgl. zum New Deal meinen Aufsatz: Die Anti-New-Deal-Bewegungen: Politik u. Ideologie der Opposition gegen Präsident F. D. Roosevelt (in diesem Band, S. 218-32), und zum Verhältnis von Politik und Ökonomie im Nationalsozialismus ausführlicher meinen Aufsatz: Die ,neue Linke' u. der Faschismus: Zur Kritik neomarxistischer Theorien über den Nationalsozialismus, in: Η. Α. Winkler, Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des Historischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 65-117. 24 Übrigens sind sich Befürworter und dogmatisch-marxistische Kritiker der Kartelle darin einig, daß die Kartelle die Konkurrenz nicht liquidiert, sondern (als Kampf um Quoten) internalisiert und (als Kampf um ausländische Absatzmärkte) externalisiert haben. Vgl. zur frühen deutschen Kartell-Diskussion Maschke, S. 30—47; zur sowjetmarxistischen Kritik an Hilferding siehe die Lit. in Anm. 6 zu meinem Aufsatz:„ZuHilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus" (in diesem Band, S. 252-58). 25 In dieser Richtung geht die „antirevisionistische" Kapitalismuskritik freilich noch sehr viel weiter als die Stamokap-Theorie. Vgl. dazu etwa Winkler, Die ,neue Linke', S. 107 ff. 19. Vom Syndikalismus zum Faschismus: Robert Michels Der Aufsatz wurde unter dem Titel „Robert Michels" erstmals veröffentlicht in: H.-U. Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 4, Göttingen 1972, S. 65-80. 1 Die Schriften von Michels sind angeführt in: Studi in memoria di R. Michels. R. Università degli Studi di Perugia. Annali della Facoltà di Giurisprudenza, XLIX, Serie V (XV), Padua 1937, S. 39-76 (umfassende Bibliographie). Über Michels vgl. u. a.: J. Linz, R. Michels, in: IESS, Bd. 10, 1968, S. 265-72; E. v. Beckerath, R. Michels, in: HSW, Bd. 7, Stuttgart 1961, S. 326 f.; A. de Grazia, in: R. Michels, First Lectures in Political Sociology, Ν. Υ. 1965, S. 3-9; W. Conze, Nachwort zur Neuausgabe von R. Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Neudruck der zweiten Auflage von 1925, Stuttgart 1957, S. 379-406; F. Pfetsch, Die Entwicklung zum faschistischen Führerstaat in der politischen Philosophie von Robert Michels, Diss. Heidelberg 1964; ders., Robert Michels als Elitentheoretiker, in: PVS, Bd. 7, 1966, S. 208-27; R. Ebbighausen, Die Krise der Parteiendemokratie und die Parteiensoziologie. Eine Studie über Moisei Ostrogorski, Robert Michels und die neue Entwicklung der Parteienforschung, Berlin 1969; W. Röhrich, Robert Michels. Vom sozialistisch-syndikalistischen zum faschistischen Credo, Berlin 1972. Als Beispiel radikal-marxistischer Kritik: G. Lukács, R. Michels. Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, in: AGSA, Bd. 13, 1928, S. 309-15. 2 F. Vöchting, Erinnerung an Robert Michels, in: NZZ Nr. 1173/1 (7. 7. 1936). 3 Michels, Soziologie des Parteiwesens, S. 207. Zur Kritik an der Sozialdemokratie vgl. auch 25 Winkler, Liberalismus

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Anmerkungen zu Seite 273-276 den abgewogenen Aufsatz über August Bebel, in dem Michels den charismatischen Parteiführer bewundert, in: R. Michels, Bedeutende Männer. Charakterologische Studien, Leipzig 1927, S. 1-36. Offiziell war Michels nur von 1902 bis 1907 Mitglied der deutschen bzw. italienischen Sozialdemokratie. Siehe hierzu die autobiographische Skizze: Eine syndikalistisch gerichtete Unterströmung im deutschen Sozialismus, in: Fs. f. E. Grünberg, Leipzig 1932, S. 343-64. Eine scharfsinnige Auseinandersetzung mit dem Zwiespalt zwischen revolutionärer Theorie und reformistischer Praxis in der SPD findet sich in Michels' Aufsatz: Der deutsche Sozialismus im internationalen Verbande, ASS, Bd. 25, 1907, S. 146-231. Über Michels' Kontakte zu den italienischen Syndikalisten: P. Orano, R. Michels, in: Studi in memoria, S. 9-14. Über die Folgen, die Michels' politische Tätigkeit für seine akademische Karriere hatte, jetzt auch: E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV, Stuttgart 1969, S. 957 f. 4 R. Michels, Die oligarchischen Tendenzen der Gesellschaft, ASS, Bd. 27, 1908, S. 73-135; E. Bernstein, Die Demokratie in der Sozialdemokratie, SM, Bd. 14, 1908, S. 1106-14; R. Michels, Einige Randbemerkungen zum Problem der Demokratie. Eine Erwiderung, ebd., S. 1615-21. Über die Wirkungen, die Michels' Kritik an den oligarchischen und bürokratischen Tendenzen in der deutschen Sozialdemokratie auf den linken Flügel um R. Luxemburg ausübte: G. A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei u. die Freien Gewerkschaften, 1890-1917, Berlin 19591, S. 48 f. Vgl. ferner: E. Schorske, German Social Democracy 1905-1917. The Development of the Great Schism, Cambridge/Mass. 1955, passim. 5 Michels, Soziologie des Parteiwesens, S. 12, 25 f. 6 Ebd., S. 40, 53, 361-71. 7 In der leichter zugänglichen englischen Ausgabe: Democracy and the Organization of Political Parties, London 1922, bes. Bd. II, S. 615-22; 636-40. Mit ähnlichem Tenor wie Ostrogorski auch: J . Bryce, The American Commonwealth, Ν. Υ. 1907. 8 G. Mosca, Elementi di scienza politica, Turin 1896. Dt. nach der 4. ital. Aufl.: Die herr­ schende Klasse, Bern 1950. Über Mosca jetzt bes.: H. Meisel, Der Mythos der herrschenden Klasse. G. Mosca und die ,,Elite", Düsseldorf 1962. Von Michels selbst: Mosca u. seine Staatstheorien, in: Sch. Jb. Bd. 53, 1929, S. 811-30. 9 V. Pareto, Les Systèmes Socialistes, 2 Bde., Paris 1902; ders., Trattato di Sociologia Generale, 2 Bde., Florenz 1916. Dt. Ausgabe des „Trattato": Eisermann, V. Paretos System der allgemeinen Soziologie, Stuttgart 1962; vgl. ders., V. Pareto als Nationalökonom u. Soziologe, Tübingen 1961. Von Michels hierzu: V. Pareto, in: Bedeutende Manner, S. 119-39. 10 Michels, Soziologie des Parteiwesens, S. 367. 11 Ebd., Michels, Mosca, S. 116 f. 12 H. Oncken, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, in: ASS, Bd. 36, 1913, S. 593. 13 R. Michels, Grundsätzliches zum Problem der Demokratie, in: ZfP, Bd. 17, 1928, S. 290. 14 Vorzüglich zur Gesamtproblematik der repräsentativen Demokratie: E. Fraenkel, Deutschland u. die westlichen Demokratien, Stuttgart 19683. 15 Um nur zwei, wenn auch ungleichwertige Beispiele rechter und linker Demokratie- und Parlamentarismuskritik zu nennen: C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1926; J. Agnoli, Die Transformation der Demokratie, in: ders. u. P. Brückner, Die Transformation der Demokratie, Frankfurt 1968, S. 70. 16 Zu den hier angesprochenen Problemkreisen seien nur genannt: A. Schifrin, Parteiapparat u. Parteidemokratie, in: Die Gesellschaft, Bd. 7, 1930, S. 502-28; M. Duverger, Die politischen Parteien, Tübingen 1959, bes. S. 149-219; Rechtliche Ordnung des Parteiwesens. Gutachten der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Parteienrechtskommission, Frankfurt 1957; J. D. May, Democracy, Organization, Michels, in: APSR, Bd. 59, 1965, S. 417-29; C. W. Cassinelli, The Law of Oligarchy, ebd., Bd. 47, 1953, S. 773-84; U. Lohmar, Innerparteiliche Demokratie. Eine Untersuchung der Verfassungswirklichkeit politischer Parteien in der Bundesrepublik 366

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Anmerkungen zu Seite 277-280 Deutschland, Stuttgart 1963 (mit kritischen Anmerkungen über die unklare Trennung zwischen „Bürokratisierung" und „Oligarchisierung" bei Michels). Ferner: S. J . Eldersveld, Political Parties. A Behavioral Analysis, Chicago 1964. 1 7 R. Michels, Die Grenzen der Geschlechtsmoral, München 1911; ders., Sittlichkeit in Ziffern? Kritik der Moralstatistik, München 1928; ders., Lavoro e razza, Mailand 1924 (ein Extrakt unter dem Titel „Wirtschaft u. Rasse" schon in: Grundriß der Sozialökonomie, 2. Abt., Tübingen 1914, S. 97-102); ders., Das psychologische Moment im Welthandel, Leipzig 1931; ders., Economia e felicità, Mailand 1918 (ein kleiner dt. Auszug: Beitrag zur Kritik einer eudämonistischen Ökonomik, in: Fs. f. F. Oppenheimer, Frankfurt 1918, S. 91-115). 18 R. Michels, Umschichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege, Stuttgart 1934; ders., Zur Soziologie der Boheme u. ihrer Zusammenhänge in dem geistigen Proletariat, in: JNS, Bd. 136, 1932, S. 813; ders., Historisch-kritische Untersuchungen zum politischen Verhalten der Intellektuellen, in: SchJb, Bd. 57, 1933, S. 817. 19 C. Curcio, L'opera politico di R. Michels, in: Studi in memoria, S, 35. 20 Dazu: R. Michels, La latinité, in: Revue d'Ethnographie et des Traditions Populaires, Bd. 7, 1926, S. 194-211. 2 I R. Michels, M. Weber, in: Bedeutende Männer, S. 114. Über die Beurteilung des Krieges auch ders., La Guerra Europca al lume del Materialismo Storico, in: Riforma Sociale, Bd. 21/22, 1914, S. 945-57, wo Michels u. a. am Beispiel des deutsch-französischen Gegensatzes die Bedeutung nicht-ökonomischer Faktoren beim Kriegsausbruch erläutert. M. Weber hatte 1907 Michels in seinen Heidelberger „salon des refusés" aufgenommen. Der Einfluß Weberschen Denkens ist vor allem in den Überlegungen greifbar, die Michels den Problemen der Bürokratisierung und der charismatischen Führung widmet. 22 R. Michels, Elemente zur Entwicklungsgeschichte des Imperialismus in Italien, in: ASS, Bd. 34, 1912, S. 55-120, 470-97 (ital.: L'imperialismo italiano, Mailand 1924). Die Abhandlungen sind übernommen worden in das Buch: Sozialismus u. Faschismus als politische Strömungen in Italien, München 1925, S. 137, 186, Anm. Zum gleichen Thema noch: ders., Prolegomena zum weltpolitischen Bevölkerungsproblem, Italien u. Frankreich, in: WWA, Bd. 26, 1927, S. 168-222. Über den italienischen Nationalismus jetzt vor allem: W. Alff, Die Associazione Nationalista Italiana von 1910, in: VfZ, Bd. 13, 1965, S. 32-63. 23 Michels, Sozialismus u. Faschismus, S. 192. 24 R. Michels, Italien von heute. Politische u. wirtschaftliche Kulturgeschichte von 1860 bis 1930, Zürich 1930, S. 215-25; ders., Prolegomena, S. 218; ders., Der Einfluß der faschistischen Arbeitsverfassung auf die Weltwirtschaft, Leipzig 1929, S. 7; ders., Sozialismus u. Faschismus, Bd. II, S. 251-323; ders., Der Aufstieg des Faschismus in Italien, in: ASS, Bd. 52, 1924, S. 61-93; ders., Vulgärökonomie u. Nationalökonomie, in: JNS, Bd. 142, 1935, S. 129-48. Michels zeigte sich geschmeichelt, daß Mussolini in öffentlicher Rede sein Wort aufgriff, die Sozialdemokratie sei einem Riesen ähnlich, der trotz seiner Gliedmaßen keine Jungfrau schwängern könne (Eine syndikalistisch gerichtete Unterströmung, S. 350, Anm.). Über eine persönliche Begegnung mit Mussolini im Jahre 1924 berichtet Michels in seinem Buch: Italien von heute, S. 269 f. 25 Zur Geschichte der Arbeiterbewegung außer der „Soziologie des Parteiwesens" vor allem: Die deutsche Sozialdemokratie, in: ASS, Bd. 23, 1906, S. 471-556; ders., Proletariat u. Bourgeoisie in der sozialistischen Bewegung Italiens, ebd., Bd. 21, 1906, S. 347-416; Bd. 22, 1906, S. 80-125, 424-66, 664-720, u. in: Sozialismus u, Faschismus, I, passim; ders., Psychologie der antikapitalistischen Massenbewegungen, in: Grundriß der Sozialökonomik, 9. Abt., 1. Teil, Tübingen 1926, S. 246, 269 f., 307, 318. Bemerkenswert noch als Studie zur Dogmengeschichte des Sozialismus: ders., Die Verelendungstheorie. Studien u. Untersuchungen zur internationalen Dogmengeschichte der Volkswirtschaft, Leipzig 1928. - Die Beobachtungen, die sich u. a. in Michels' Parteisoziologie über die sozialdemokratische „Subkultur" im wilhelminischen Reich finden, werden bestätigt durch: G. Roth, Social Democrats in Imperial Germany, Totowa 1963. 26 R. Michels, Zur historischen Analyse des Patriotismus, in: ASS, Bd. 36, 1913, S. 14-43,

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Anmerkungen zu Seite 280-281 394-449; ders., Der Patriotismus. Prolegomena zu einer soziologischen Analyse, München 1929. 27 R. Michels, Probleme der Sozialphilosophie, Leipzig 1914, S. 202-204; ders., Scziologie als Gesellschaftswissenschaft, Berlin 1926, S. 76; ders., Das psychologische MomentimWelthandel, S. 52. 28 C. Schmitt, S. 30; R. Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, in: Sozialdemokratischer Parteitag Kiel 1927 (Protokoll), in: Berlin 1927, S. 174. 20. Wieviel Wirklichkeit gehört zur Geschichte? Standortbestimmung einer Wissenschaft Der Aufsatz erschien - leicht gekürzt - anläßlich der 31. Versammlung Deutscher Historiker in Mannheim am 22. September 1976 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Abkürzungsverzeichnis AA AAAPSS ADGB AfA AfS AGSA AH AHR AJS Anm APG APSR APZ AQ Art ASR ASS BA BA/MA BBZ Bd BGBl BHR BTB CDU CEH CHJ CIO CJEPS CP CPS CSSH CSU DA DAF DBZ DDP ders DH DHB DHV DIHT DJ DNVP DP dt

Abendausgabe The Annals of the American Academy of Political and Social Science Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Allgemeiner freier Angestelltenbund Archiv für Sozialgeschichte Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung Agricultural History American Historical Review American Journal of Sociology Anmerkung Archiv für Politik und Geschichte American Political Science Review Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament" American Quarterly Artikel American Sociological Review Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Bundesarchiv Bundesarchiv/Militärarchiv Berliner Börsen-Zeitung Band Bundesgesetzblatt Business History Review Berliner Tageblatt Christlich-Demokratische Union Central European History Cambridge Historical Journal Congress of Industrial Organizations Canadian Journal of Economics and Political Science Comparative Politics Comparative Political Studies Comparative Studies in Society and History Christlich-Soziale Union Der Arbeitgeber Deutsche Arbeitsfront Deutsche Bergwerkszeitung Deutsche Demokratische Partei derselbe Das Deutsche Handwerk Deutsches Handwerksblatt Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband Deutscher Industrie- und Handelstag Deutsche Jahrbücher Deutschnationale Volkspartei Deutsche Partei deutsch 369 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

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ZGO ZVSV ZWS

Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung Zeitschrift für Wirtschafts- u. Sozialwissenschaften (bisher: Schmollers Jahrbuch)

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Personenregister Berücksichtigt werden nur Namen, die im Textteil aufgeführt sind. Adenauer, Konrad 78 Agnoli, Johannes 276 Ansprenger, Franz 69 Arnhold, Karl 126, 133 f. Aßhoff 208 Bagehot, Walter 14 Bamberger, Ludwig 17, 36, 38, 41, 45, 48 Barth, Theodor 17 Bauer, Otto 59, 64, 73 Beckermann, Theo 146f. Bennigsen, Rudolf v. 41 Berdahl, Robert A. 36 Bernstein, Eduard 197, 273 Bethmann Hollweg, Theobald v. 90 Bismarck, Otto Fürst v. 16f., 24, 32, 37-45, 47-19, 150, 168f., 176, 241, 283 Bleichröder, Gerson v. 32 Bloch, Ernst 284 Blomberg, Werner v. 118 Bonn, Moritz Julius 215 Bormann, Martin 129-131 Bracher, Karl-Dietrich 282 Brady, Robert F. 219f. Brandt, Willy 78 Brauweiler, Heinz 180 Bremhorst 133 Brüning, Heinrich 106, 115, 191, 203, 231 256 Brunner, Otto 96 Buchner, Hans 185f. Bueck, Henry Axel 169 Burke, Edmund 275 Busch, Moritz 49

Delbrück, Clemens v. 95, 101, 176 Demuth 192 Deutsch, Karl W. 73f., 78 Dies, Martin 230 Drews, Bill 171 Dreyfus, Alfred 62 Duisberg, Carl 199 Dunkmann, Carl 180 Düssel, Carl 180, 200 Engels, Friedrich 59, 64, 270 Eppert, G. A. 121 Erkelenz, Anton 206 Eucken, Walter 19

Caprivi, Leo v. 167 Carr, Ε. Η. 60, 62 f. Comte, Auguste 25 Conze, Werner 282 Corradini, Enrico 278 Coughlin, Charles E. 226-231 Curcio, Carlo 277

Faber, Karl-Georg 21 Feder, Gottfried 111, 117, 185f., 189 Fischer, Fritz 232 Fischer, Hermann 192 Fischhof, Adolph 58 Forckenbeck, Max v. 16, 26, 41 Fraenkel, Ernst 232 Franco, Francisco 224 Frauendorfer, Max 185 f. Friedrich, Deutscher Kaiser u. König von Preußen 42 Fritsch, Theodor 89, 91 Fritsch, Werner Frhr. v. 134 Fröhlich, Dieter 73 Funk, Walther 111f., 120, 131, 134, 137-139, 143, 189 Gall, Lothar 20, 22f. Gaulle, Charles de 71 Geiger, Theodor 65, 145 Gellner, Ernest 72 Gierke, Otto ν, 172 Gladstone, William 17 Glass, Carter 219 Gneist, Rudolf v. 172 Goebbels, Joseph 228 Göring, Hermann 113, 125, 131f., 134 Görnandt, Rudolf 182

Dahrendorf, Ralf 18, 149, 155 Dehio, Ludwig 285

Habermas, Jürgen 164, 250 Hamilton, Alexander 223 373

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Hamm, Eduard 183f., 188 Hänel, Albert 49 Hansemann, Adolf v. 32 Hardach, Gerd 259 Harnack, Adolf v. 32 Hayes, Carlton J . H. 54 Hearst, William Randolph 222 f. Heinrich, Walter 180, 188 Heinrichsbauer, August 180f., 200-202 Herder, Johann Gottfried 54-56 Hermann, Carl 187 Herzfeld, Hans 95 Heß, Rudolf 113f., 119, 124, 127, 133 Hilferding, Rudolf 18, 23, 61, 64, 173, 252-271, 280 Himmler, Heinrich 140-142, 153 Hindenburg, Paul v. 191, 216 Hintze, Otto 288 Hitler, Adolf 64f., 111f., 115-135, 139-144, 153, 185, 189, 194, 210, 214, 216, 222-224, 228, 244, 269 Hofstadter, Richard 224 Hoover, Herbert 231 Hoverbeck, Leopold Frhr. v. 30 Hroch, Miroslav 59f., 68 Huber, Ernst Rudolf 174 Hugenberg, Alfred 112-114 Hugo, Otto 189, 203 Jacoby, Johann 28, 30 Jordan, Karl 188 Jung, Edgar 179, 200 Kaelble, Hartmut 164, 261 Karrenbrock, Paul 180 Katz, Daniel 50, 74-76 Kautsky, Karl 39 Kehr, Eckart 283 Kemiläinen, Aira 55 Keynes, John Maynard 221, 247, 257-259, 262, 267 Killy, Leo 121 Kocka, Jürgen 173, 260f., 264, 268f., 285 Kohn, Hans 53-57 Kondratieff, N. D. 260 Kraus, Karl 281 Krieger, Leonard 21 Krueger, Η. Ε. 261 Küstermeier, Rudolf 206 Lammers, Clemens 181f., 188 Lammers, Hans Heinrich 127-129, 131f., 143 Landon, Alfred M. 97 Lasker, Eduard 16, 32, 40, 45, 48

Lederer, Emil 97 Legien, Carl 99, 196 Lemke, William 227 Lenin, W. I. 59, 242 Lepsius, M. Rainer 158 Ley, Robert 114, 116-135, 143, 152 Liberman, Evsej Grigorevic 247 Lincoln, Abraham 221 Lindner, Theodor 272 Lipset, Seymour Martin 205, 213, 228 f. List, Friedrich 47 Locke, John 13f. Long, Huey P. 224-227, 230 Löwe-Calbe, Wilhelm 26f., 31f. Ludwig XIV., französischer König 272 Maier, Reinhold 106 Malthus, Thomas Robert 77 Mao Tse-tung 80 Marx, Karl 14, 59, 64, 236, 257, 265, 280-282, 285 Mason, Timothy W. 110 Maurice, E. 129 Maurras, Charles 62 Mazzini, Giuseppe 57 McCarthy, Joseph 224, 230 Meckel, Wilhelm 168 f. Medick, Hans 262 Mehlis, Georg 179f. Meinecke, Friedrich 54, 282 Meusch, Hans 101, 177f., 187 Michaelis, Otto 30, 50 Michels, Robert 272-280 Mill, John Stuart 17 Miquel, Johannes v. 94, 97, 167f. Moellendorff, Wichard v. 101 Mommsen, Hans 64 Montesquieu, Charles de 14 Morgenthau, Henry, jr. 221 Mosca, Gaetano 274 Mosich, Ernst 192 f. Mosle, Alexander 47 Murphy, Frank 228 Mussolini, Benito 179, 182, 222, 228, 273, 278 Myrdall, Gunnar 64 Naphtali, Fritz 196-199, 256f., 270 Napoleon Bonaparte (I.) 56, 96, 163, 238-241 Napoleon III. 240, 265 Naumann, Friedrich 17f. Nipperdey, Thomas 286f. Nixon, Richard M. 245 Nonnenbruch, F. 138

374 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3

Oncken, Hermann 275 Ostrogorski, M. 274 Palmer, A. Mitchell 230 Papen, Franz v. 115, 191-193, 203, 216 Pareto, Vilfredo 274, 280 Pelley, William Dudley 229 Peron, Juan 228 Pfaff, Richard H. 67 Pietzsch, Albert 133 Pinder, Wilhelm 284 Puhle, Hans-Jürgen 170 Raab, Earl 228 Ranke, Leopold v. 283, 288 Renan, Ernest 54 Renner, Karl 58 f. Renteln, Theodor Adrian v. 111f., 114f., 118, 122 Reupke, Hans 204 Richter, Eugen 17, 23 Röhm, Ernst 124, 134 Rokkan, Stein 77, 79 Roosevelt, Franklin Delano 218, 232, 244, 246, 269 Roseburg, Earl of 18 Rosenberg, Alfred 185 Rosenberg, Arthur 100 Rosenberg, Hans 20, 42, 282 Rostow, W. W. 75-77, 79 Rothfels, Hans 56 Rotteck, Carl v. 17 Rousseau, Jean Jacques 14, 54, 275 Ruhland, Gustav 90 Rürup, Reinhard 99 Sadat, Anvar as 67 Sauer, Wolfgang 63, 65, 214 Schacht, Hjalmar 116f., 119-136, 153 Schieder, Theodor 48, 56f., 282 Schieder, Wolfgang 76f. Schild, Heinrich 123 Schleicher, Kurt v. 115, 192, 203, 216, 220 Schleiermacher, Friedrich 15 Schlenker, Max 182 Schlesinger, Arthur M., jr. 220 Schmeer 133 Schmidt, W. G. 123, 125 Schmitt, Carl 280 Schmitt, Kurt 144, 116f., 122f. Schmoller, Gustav 171 Schoenbaum, David 110 Schramm, Ferdinand 123, 125, 133, 137, 140, 142

Schröder-Kassel 93 Schüler, Felix 123 Schulze-Delitzsch, Hermann 17, 22, 25, 27f., 31, 36 Schumacher, Kurt 154 Schumpeter, Joseph A. 260 Sehnert 133 Seldte, Franz 124 Sellin, Volker 260, 264 Shouse, Jouett 222 Silverberg, Paul 197 Sieyès, Emmanuel 15, 53 Smith, Adam 14, 17, 266 Smith, Al 222 Smith, Anthony D. 72 Smith, Gerald L. K. 227, 229 Sombart, Werner 218, 230 Sorel, Georges 272 Spann, Othmar 175, 177-181, 185f., 200 Speer, Albert 142 Spiethoff, Arthur 260 Stalin, J . W. 59, 244f., 247f. Stauffenberg, Franz Schenk v. 41 Stegmann, Dirk 170 Stein, Lorenz v. 164, 235-251 Steinmann-Bucher, Arnold 166, 170 Stinnes, Hugo 99, 104, 196 Stone, L F. 219 Strauß, David Friedrich 15 Swing, Raymond Gram 230 Sybel, Heinrich v. 39 Thyssen, Fritz 181 Tiburtius, Joachim 198 Tietz, Hermann 108, 117 Tocqueville, Alexis de 236, 285 Townsend, Peter 227 Treitschke, Heinrich v. 38, 45, 47, 49 Troeltsch, Ernst 231, 287 Tschierschky, Siegfried 171 Twesten, Karl 16, 25-28, 32, 34, 37, 39, 48 Umberto L, König von Italien 49 Unruh, Hans Victor v. 34 Veit, Hermann 154 Vico, Giambattista 272 Viefhaus, Erwin 58 Virchow, Rudolf 29, 37 Vögler, Alfred 191, 197 Volkmann, Heinrich 261 Vorwerck, Karl 180 375

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Wagener, Otto Wilhelm 111-114, 186-189 Waldeck, Benedikt 27-31 Watrin, Christian 155 Weber, Adolf 200 Weber, Max, 18, 51, 265, 277, 282, 285 Wehler, Hans-Ulrich 262, 264, 268f., 286 Welcker, Carl Theodor 17 Wernet, Wilhelm 142 Wertheim, W. F. 68

Wienbeck, Erich 132 Wilhelm I., Deutscher Kaiser u. König von Preußen 43 Wilhelm II., Deutscher Kaiser u. König, von Preußen 155 Zeleny, Karl 121, 123 Zmarzlik, Hans-Günter 286

376 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35995-3