Existentieller Liberalismus: Beiträge zur Politischen Philosophie und zum politischen Zeitgeschehen. Hrsg. von Héctor Wittwer [1 ed.] 9783428529186, 9783428129188

Der Liberalismus ist zum Inbegriff eines abstrakten, auf das individuelle Kalkül reduzierten Politikverständnisses gewor

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Existentieller Liberalismus: Beiträge zur Politischen Philosophie und zum politischen Zeitgeschehen. Hrsg. von Héctor Wittwer [1 ed.]
 9783428529186, 9783428129188

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ERFAHRUNG UND DENKEN

VOLKER GERHARDT

Existentieller Liberalismus

Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Beiträge zur Politischen Philosophie und zum politischen Zeitgeschehen

Band 97

Herausgegeben von

Héctor Wittwer

asdfghjk

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Begründet von Kurt Schelldorfer

Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)

Schriftleitung Volker Gerhardt

Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken“ besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften“. 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften“ wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.

VOLKER GERHARDT

Existentieller Liberalismus

E R F A H R U N G U N D D E N K E N Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 97

VOLKER GERHARDT

Existentieller Liberalismus Beiträge zur Politischen Philosophie und zum politischen Zeitgeschehen

Herausgegeben von

Héctor Wittwer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet çber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatençbernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-12918-8 Gedruckt auf alterungsbeståndigem (såurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706*

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Systematische Studien zur Politischen Philosophie Metaphysik und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Die Politik und das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Politisches Handeln. Über einen Zugang zum Begriff der Politik . . . . . . . . . . . . . .

65

Person und Institution. Über eine elementare Bedingung politischer Organisation

83

Tod und Politik. Über eine grundlegende Bedingung der politischen Welt . . . . . .

103

Politischer Humanismus. Skizze eines Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

II. Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens Die erste Lehre von der Verfassung. Der Beitrag der Nomoi zur Theorie der Politik

145

Eine kritische Theorie der Politik. Über Kants Entwurf Zum Ewigen Frieden . . .

165

Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Existentieller Liberalismus. Zur Konzeption der Politik bei Karl Jaspers . . . . . . .

211

Politik und Existenz. Eric Voegelins Suche nach der Ordnung in uns selbst . . . .

231

Der organisierte Sinn. Politik und Anthropologie bei Eric Weil . . . . . . . . . . . . . . .

249

III. Beiträge zum politischen Zeitgeschehen und zur politischen Praxis Eine politische These, kein philosophischer Satz. Über die 11. These „ad Feuerbach“ von Karl Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Es kommt darauf an. Nachtrag zu einem Anschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Die politische Wirklichkeit einer Idee. Eine Verteidigung Europas gegen die intellektuelle Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299

Menschenrecht und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

Laboratorium Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachweis der Erstdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung des Herausgebers I. Was heißt „existentieller Liberalismus“? Die hier versammelten Aufsätze zur Politischen Philosophie und zum politischen Zeitgeschehen sind in einem Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren aus verschiedenen Anlässen entstanden. Obwohl sie unterschiedliche Themen und Denker behandeln, werden sie inhaltlich dadurch geeint, dass sie als Vorstudien oder Beiträge zu einer Philosophie der Politik aufgefasst werden können, die Volker Gerhardt in ausgearbeiteter Form im Jahr 2007 in seinem Buch Partizipation. Das Prinzip der Politik vorgelegt hat. Sie wird in Kürze durch die Quadratur der Politik ergänzt. Der Autor hat der Sammlung den Titel Existentieller Liberalismus gegeben. Es dürfte hilfreich sein, diesen Titel, der sicherlich einigen Lesern befremdlich erscheinen wird, kurz zu erläutern. Was bedeutet der Ausdruck „existentiell“ im Rahmen der Politischen Philosophie Volker Gerhardts, und worin besteht der Zusammenhang zwischen dem Existentiellen und dem Liberalismus? Hier gilt es vor allem, einem nahe liegenden Missverständnis vorzubeugen. Diejenige Verbindung zwischen Existenzphilosophie und politischem Denken, die den meisten Lesern im deutschsprachigen Raum wohl zuerst in den Sinn kommen wird, ist unter dem Namen „Politischer Existentialismus“ bekannt geworden.1 Dieser wahrscheinlich 1934 von Herbert Marcuse geprägte Begriff 2 bezeichnet eine Strömung innerhalb des politischen Denkens, die sich durch folgende Stichworte charakterisieren lässt: Dezisionismus, Anti-Rationalismus, Anti-Liberalismus, Anti-Modernität und Anti-Bürgerlichkeit. Als wichtige Vertreter dieser Richtung werden gewöhnlich Carl Schmitt3, Ernst Jünger, Oswald

1 Vgl. dazu die einschlägige ältere Untersuchung von Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger (1958), Neuausg., Frankf./M. 1990. Krockow spricht zwar nicht ausdrücklich vom politischen Existentialismus, sondern vom Dezisionismus; die durch diesen Begriff bezeichnete Auffassung gleicht aber dem, was heute Politischer Existentialismus genannt wird. Vgl. auch Herbert Schnädelbach, „Politischer Existentialismus – zur philosophischen Vorgeschichte von 1933“, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale, Frankf./M. 1992, S. 346–355. 2 Vgl. Herbert Marcuse, „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“, in: ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankf./M. 1965, S. 17–55, hier S. 44 f. 3 Vgl. zu Schmitts politischem Existentialismus z. B. Kurt Lenk, „Carl Schmitts Parlamentarismuskritik. Ein Kapitel politischer Existentialismus“, in: Carsten Schlüter-

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Einleitung des Herausgebers

Spengler4 und Martin Heidegger angesehen. Aber auch Helmuth Plessner und Karl Jaspers werden gelegentlich dem Politischen Existentialismus zugerechnet5 – ob zu Recht oder zu Unrecht, kann hier nicht erörtert werden. Ein viel zitiertes, paradigmatisches Beispiel für diesen Politischen Existentialismus ist Carl Schmitts Definition des Politischen anhand der Unterscheidung zwischen Freund und öffentlichem Feind. In Der Begriff des Politischen heißt es dazu an entscheidender Stelle: „Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein: er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ,unbeteiligten‘ und daher ,unparteiischen‘ Dritten entschieden werden können.“ 6

Was immer der Schmitt’sche Begriff des Existentiellen auch bedeuten mag, er bezeichnet jedenfalls nichts, was öffentlicher Überprüfung und rationaler Argumentation zugänglich wäre. Nur die Betroffenen selbst können und dürfen nämlich nach Schmitt entscheiden, „ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt und bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren“ 7. Der existentielle Liberalismus Volker Gerhardts hat mit diesem Politischen Existentialismus nichts gemein. Er ist weder dezisionistisch noch anti-rationalistisch, er beruht nicht auf anti-bürgerlichen oder anti-modernen Ressentiments, und dass er nicht anti-liberal ist, gibt schon der Begriff zu verstehen. Im Gegenteil: Er steht in der Tradition der rationalistischen Linie der Politischen Philosophie, die von Platon ausgeht. Die Bezeichnung „existentiell“ bezieht sich bei Gerhardt auf den Begriff der Existenz, und darunter versteht er die vernünftige Lebensführung der Individuen, die unter dem Anspruch der Selbstbestimmung Knauer (Hg.), Die Demokratie überdenken. Festschrift für Wilfried Röhrich, Berlin 1997, S. 39–54. 4 Vgl. zum politischen Existentialismus bei Spengler und Jünger Hermann Lübbe, Modernisierung und Folgelasten. Trends kultureller und politischer Evolution, Berlin/ Heidelberg 1997, Abschn. 24 („Oswald Spenglers ,Preußentum und Sozialismus‘ und Ernst Jüngers ,Arbeiter‘“), v. a. S. 276 ff. 5 So bei Heiner Bielefeldt, Kampf und Entscheidung. Politischer Existentialismus bei Carl Schmitt, Helmuth Plessner und Karl Jaspers, Würzburg 1994. 6 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 3. Aufl. d. Ausg. v. 1963, Berlin 1991, S. 27 (Hervorh. v. mir). 7 Ebd. – Zu Gerhardts Kritik an Schmitts Bestimmung des Begriffs des Politischen vgl. Volker Gerhardt, „Politik als Ausnahme. Der Begriff des Politischen als dekontextualisierte Antitheorie“, in: Mehring, Reinhard (Hg.), Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 205–218.

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steht.8 „Wie aber leben?“ 9 – diese sokratisch-platonische Frage stellt den Ausgangspunkt der Gerhardt’schen Überlegungen über die Politik dar. Da die Einzelnen ihr Leben nicht – wie im Rousseau’schen Naturzustand – als autarke, verstreut lebende Wesen führen, sondern in Gemeinschaften, wird ihre Selbstbestimmung nicht nur durch die unvermeidlichen natürlichen und kulturellen Bedingungen beschränkt, denen wir notwendigerweise unterliegen, sondern vor allem durch die jeweils anderen. Dem Anspruch auf Selbstbestimmung steht also die Gefahr der Fremdbestimmung gegenüber. Deshalb hat der Begriff der Selbstbestimmung nicht nur eine ethische, sondern von vornherein auch eine politische Bedeutung. Wie Platon und ein großer Teil der philosophischen Tradition nach ihm geht Gerhardt in diesem Zusammenhang von der Analogie zwischen dem einzelnen Menschen und dem Staat aus.10 In beiden Fällen handelt es sich um gegliederte Ganze, in denen widerstrebende Impulse so zur Einheit gebracht werden müssen, dass das Ganze als eine Einheit entscheidungs- und handlungsfähig ist. Die älteste und am weitesten ausgearbeitete Darstellung dieser Verschränkung zwischen individueller und politischer Selbstbestimmung findet sich Gerhardt zufolge in Platons Politeia, auf die er aus diesem Grund häufig Bezug nimmt.11 Eine solche Auffassung der Politik und des Staates entspricht sicherlich nicht der politikphilosophischen Hauptströmung der Gegenwart. Sie steht unter dem Verdacht, wesentliche Unterschiede zwischen Organismen und Staaten zu übersehen und die individuelle Freiheit beschränken zu müssen, weil dem Ganzen – wenn man denn von der Analogie zwischen Lebewesen und Staaten ausgeht – notwendigerweise der Vorrang vor seinen Teilen zukommt. Volker Gerhardt hält diesen Einwand für ungerechtfertigt. Politisches Handeln ist nur möglich, wenn die vielen Bürger durch gemeinsame Vorstellungen so miteinander verbunden werden, dass sie oder zumindest einige von ihnen bereit sind, sich in ihrem Handeln von geteilten Ideen leiten zu lassen. Da sie ihrer Haltung zur Politik den Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung zugrunde legen, besteht kein Gegensatz zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Allerdings muss zwischen der Selbstbestimmung der Einzelnen und derjenigen des politischen Ganzen vermittelt werden. Diese Funktion übernimmt das Prinzip der Mitbestimmung, das Gerhardt mit dem Begriff der Partizipation bezeichnet. – Es soll hier nicht versucht werden, die von Volker Gerhardt unter dem Titel Partizipation ausführlich ausgearbeitete Politische Philosophie zusammenzufassen. Stattdes8 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung in Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 2002. 9 Vgl. zu dieser Frage die Passage bei Platon, Der Staat, 353 d–354 c. 10 Vgl. dazu in diesem Band Gerhardts Aufsatz „Person und Institution“. 11 Vgl. z. B. Volker Gerhardt, „Der groß geschriebene Mensch. Zur Konzeption der Politik in Platons Politeia“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 6 (1997), S. 40–56.

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sen wird hier kurz und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit angedeutet, worin nach Gerhardt die wesentlichen Merkmale der Politik bestehen. Die Funktion der Politik besteht Gerhardt zufolge in der Erhaltung und der Entfaltung des Lebens der Gemeinschaft und ihrer Mitglieder. Die Politik übernimmt also im großen Maßstab dieselbe Funktion für die Gesellschaft, welche das vernünftige Überlegen und Handeln für den Einzelnen hat. Dass sie selbst dabei von vornherein dem impliziten Anspruch auf Rationalität untersteht, wenn sie denn Erfolg versprechen und haben will, versteht sich von selbst, dass sie diesem Anspruch nicht immer gerecht wird, ebenso. Auch darin gleicht sie der individuellen Selbstbestimmung. Politik ist notwendigerweise mit Erwartungen und ihnen entsprechenden Versprechungen verbunden. Die Herrschenden können sich ihre Gefolgschaft oder ihre Wählerschaft nur sichern, indem sie zumindest vorgeben, imstande zu sein, die Probleme lösen zu können, mit denen der Staat konfrontiert ist. Dass es sich dabei um nicht-empirische Unterstellungen handelt, die sich nur metaphysisch begreifen lassen, zeigt der erste Aufsatz über „Metaphysik und Politik“. Selbst ein Tyrann oder Ludwig XIV., der von sich sagte, der Staat sei er, sind auf die Gefolgschaft zumindest einiger Getreuer angewiesen, um herrschen zu können. Im wörtlichen Sinne kann ein einzelner Mensch nicht einen Staat beherrschen. Um die Unterstützung zu gewinnen, die er von anderen benötigt, muss er ihnen auf überzeugende Weise darlegen, dass er geeignet ist, den Staat zu lenken. Dabei stützt er sich auf ihre Erwartungen, mögen sich diese auf materielle Interessen oder auf politische, moralische oder religiöse Ideale beziehen. Zwar werden, wie wir wissen, politische Erwartungen oft enttäuscht und politische Versprechen häufig gebrochen. Entscheidend ist aber Gerhardt zufolge etwas anderes: In der politischen Wirklichkeit sind bestimmte normative Erwartungen unverzichtbar, wenn man die eigenen Entscheidungen rechtfertigen und eine Anhängerschaft für sich gewinnen will. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass sich die ehemaligen kommunistischen Staaten des Ostblocks offiziell als „Volksdemokratien“ bezeichneten und dass ihre Machthaber zumindest den Mitgliedern der herrschenden Partei glaubhaft versichern mussten, dass diese an den politischen Entscheidungen teilhaben würden. Für Gerhardt ist dies nicht nur ein politischer Schachzug, sondern ein Anzeichen dafür, dass die Politik von sich aus normative Erwartungen generiert, die daher nicht erst von außen, beispielsweise aus der Perspektive der Moral, an sie herangetragen werden müssen. Selbst die Gegner der Demokratie sehen sich beispielsweise häufig gezwungen, sich öffentlich zur Demokratie zu bekennen, um ihrer Herrschaft den Anschein der Legitimität zu verleihen. Ein weiteres konstitutives Element der Politik ist nach Gerhardt die Repräsentation. Diesem Begriff kommen bei ihm mindestens drei verschiedene, aber eng miteinander zusammenhängende Bedeutungen zu. „Repräsentation“ be-

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zeichnet zunächst die Vorstellungen der Einzelnen, also ihre mentalen Repräsentationen, die sie von sich und dem politischen Ganzen haben müssen, damit sie am politischen Leben teilnehmen können. Der Begriff meint darüber hinaus die Tatsache, dass einzelne Personen stellvertretend für andere auftreten können, dass also Individuen als Teile der Gesellschaft diese vertreten können. Schließlich kommt dem Begriff auch noch die uns aus der Fügung „repräsentative Demokratie“ geläufige Bedeutung zu. In der Politik können einige wenige im Namen vieler anderer handeln. Ohne Repräsentation im dreifachen Sinne des Wortes ist Politik unmöglich, so lautet Gerhardts These. Repräsentation ist also nicht nur das Merkmal einer bestimmten Regierungsform, sondern ein konstitutives Element der Politik in allen ihren Varianten. Die wichtigsten Mittel, deren sich die Politik bedient, um ihre Aufgabe zu erfüllen, sind die Macht und das Recht. Sie verleihen dem Staat eine Verfügungsgewalt über die Einzelnen, die keiner anderen Institution zukommt. Der Staat ist nicht nur ein gleichwertiger Verband unter anderen, sondern die einzige Instanz, die im Ernstfall den legitimen Anspruch auf das Leben der Einzelnen erheben darf. Daher kommt ihm für die Einzelnen eine besondere existentielle Bedeutung zu, die heute in der Politischen Philosophie leider oft völlig außer Acht gelassen wird.12 Dies führt der Aufsatz „Tod und die Politik“ anschaulich vor Augen. Diese Bemerkungen zur Eigenart der Politik dürften zumindest angedeutet haben, welche Aufgabe Volker Gerhardt der Politischen Philosophie zuschreibt. Es genügt seiner Meinung nach nicht, dass sie sich um die Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien oder legitimen Verfahren bemüht. In dieser Beschränkung sieht Gerhardt vielmehr ein Anzeichen des Niedergans der Politischen Philosophie, den er bereits vor gut zwanzig Jahren diagnostizierte. Stattdessen kommt der Philosophie der Politik die Aufgabe zu, den Ursprung, das Wesen und das Ziel der Politik begrifflich zu bestimmen. Dies ist seiner Meinung nach nur möglich, wenn man die Politik in ihrer Bedeutung für die Lebensführung der Einzelnen untersucht. Diese kurze Charakterisierung des existentiellen Liberalismus dürfte genügen, um ihn vom sogenannten Politischen Existentialismus abzugrenzen. Darüber hinaus hat der existentielle Liberalismus Gerhardts nichts mit dem zu tun, was unter dem Namen „Existentialismus“ bekannt ist. Gerhardt teilt keine der zentralen Thesen dieser Richtung des modernen Denkens. Er lehnt die Entgegensetzung von „Existenz“ und „Essenz“ des Menschen ebenso ab wie die These, dass der bloßen Existenz der Vorrang vor der Essenz zukomme. Die Sartre’sche 12 Aufgrund der Bedrohung durch den weltweit agierenden Terrorismus, der Auslandseinsätze der Bundeswehr und ähnlicher politischer Tendenzen könnte sich das aber bald ändern. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits. Vgl. z. B. Gerd Roellecke, Staat und Tod, Paderborn 2004; Bernhard Schlink, „Das Opfer des Lebens“, in: Merkur 59 (2005), Heft 679, S. 1021–1031.

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Behauptung, dass es absurd ist, dass wir geboren werden, und absurd, dass wir sterben, hält er wahrscheinlich selbst für absurd. Der Heidegger’schen Gegenüberstellung von „eigentlichem Dasein“ und „Verfallenheit an das Man“ kann er ebenso wenig abgewinnen wie der Annahme, dass die Existenzphilosophie auf einen methodischen oder inhaltlichen Atheismus festgelegt sei. Warum – so könnte man fragen – wählt der Autor dann einen Begriff, der zwangsläufig mit der deutschen Existenzphilosophie, vor allem mit Heidegger, und dem französischen Existentialismus assoziiert wird? Ich sehe in der Wahl des Begriffes den Versuch, das Monopol des Existentialismus auf die Deutung der menschlichen Existenz zu brechen und den Begriff damit von den ihm anhaftenden irreführenden Oppositionen, wie etwa „Leben versus Vernunft“ oder „Individuum versus Gesellschaft“, zu befreien. Gerhardt geht es, wie es in dem Text über Eric Voegelin heißt, um eine „Existenzphilosophie ohne Existentialismus“. Der Begriff der menschlichen Existenz ist, so verstehe ich Gerhardt, zu grundlegend und insbesondere für die Politische Philosophie zu wichtig, als dass man ihn einer einzelnen Schule oder Denkrichtung überlassen dürfte. Das Gleiche gilt für den Begriff der „Lebensphilosophie“. Eine Lebensphilosophie, die ihren Namen verdiente, wäre eine Philosophie, die das menschliche Leben zu ihrem Untersuchungsgegenstand machte, ohne – wie es in der unter dem Namen „Lebensphilosophie“ bekannt gewordenen Richtung geschah – das Leben in Opposition zur Vernunft zu bringen, den „Geist als Widersacher der Seele“ anzusehen oder für den Instinkt gegen die Vernunft Partei zu ergreifen. Eine solche Philosophie des Lebens hat Volker Gerhardt insbesondere in Selbstbestimmung vorgelegt.13 II. Zur vorliegenden Sammlung Die für diesen Sammelband ausgewählten Aufsätze und Essays sollen einen Überblick der Themen geben, mit denen sich Volker Gerhardt in seinen Beiträgen zur Politischen Philosophie bisher beschäftigt hat. Die Aufsätze des ersten Teils, „Systematische Studien zur Politischen Philosophie“, behandeln grundlegende Merkmale der Politik und Grundbegriffe des politischen Denkens. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Antworten auf die Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Politik geben. In „Metaphysik und Politik“ wird der heute dominierenden Auffassung, dass der theoretische Zugang zur Politik frei von metaphysischen Annahmen sein müsse, die These gegenübergestellt, dass sich Politik ohne metaphysische Voraussetzungen gar nicht angemessen begreifen lässt, weil für sie Unterstellungen und Versprechungen unverzichtbar sind, die sich empirisch nicht rechtfertigen lassen. In seiner Berliner Antrittsvorlesung 13 Vgl. zu Gerhardts kritischer Einschätzung der sogenannten Lebensphilosophie die Bemerkungen in „Die Politik und das Leben“ in diesem Band.

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„Die Politik und das Leben“ stellt Gerhardt dar, dass die Politik untrennbar mit dem Leben verbunden ist, weil ihre Funktion in der Erhaltung und der Entfaltung des Lebens besteht. Der Aufsatz „Politisches Handeln“ geht der Frage nach, worin die Eigenart des politischen Handelns besteht. Diese Frage lässt sich Gerhardt zufolge nur aus der Teilnehmerperspektive beantworten, weil Politik wesentlich im Teilnehmen oder Teilhaben – der Partizipation – besteht. Nur wer selbst in irgendeiner Weise politisch tätig ist, sei es als Bürger ohne Ämter oder als Politiker, könne begreifen, was Politik ist und was sie für das Leben des Einzelnen bedeutet. In „Person und Institution“ verteidigt der Autor die auf Platon zurückgehende, ausgesprochen wirkmächtige Annahme, dass zwischen dem einzelnen Menschen und dem Staat eine strukturelle Analogie besteht. So wie sich der Staat als ein „in großen Buchstaben geschriebener Mensch“ begreifen lässt, so muss das Individuum als gegliederte Institution verstanden werden. Der Aufsatz „Der Tod und die Politik“ analysiert die Bedeutung des Todes für die Politik und legt dar, dass die legitime Verfügungsgewalt des Staates über das Leben der Einzelnen ein spezifisches Merkmal der Politik ist. Im letzten Beitrag dieses Teils, „Politischer Humanismus“, vertritt Gerhardt die These, dass der Humanismus, der ursprünglich keine politischen Absichten verfolgte, nur als politische Bewegung eine Zukunft haben kann. Der zweite Teil versammelt „Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens“. Bei den entsprechenden Aufsätzen handelt es sich nicht nur um Deutungen einiger klassischer Autoren und Texte. Vielmehr unternimmt Gerhardt in ihnen den Versuch, einige geläufige, aber falsche Urteile in der Geschichtsschreibung des politischen Denkens zu korrigieren. In „Die erste Lehre von der Verfassung“ will er nachweisen, dass Platons Nomoi zu Unrecht gegenüber der Politeia vernachlässigt werden, weil Platon in diesem Alterswerk eine politische Philosophie entwickelt hat, die nicht nur – wie der Staat in der Politeia – ein ideales Paradigma des Staates bietet, sondern eine der Realität angemessene Lehre von der Politik. Der Aufsatz „Eine kritische Theorie der Politik“ behandelt Immanuel Kants philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden. Gerhardt zufolge enthält diese Schrift Kants nicht nur das philosophisch begründete Projekt eines dauerhaften Weltfriedens, sondern eine ausgearbeitete philosophische Theorie der Politik.14 Den Schlüssel zum Verständnis dieser Politischen Philosophie biete Kants Bestimmung der Politik als „ausübender Rechtslehre“.15 Die zentrale These des nächsten Aufsatzes, „Vernunft aus Geschichte“, lautet, dass das gängige Bild der Philosophie Ernst Cassirers korrigiert werden müsse. 14 Vgl. dazu Gerhardts ausführliche Interpretation der Friedensschrift in Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf Zum ewigen Frieden. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995 (2. Aufl. 2004). 15 Vgl. Volker Gerhardt, „Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik“, in: G. Schönrich/Y. Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankf./M. 1996, S. 464–488.

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Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Auffassung fänden sich im Werk Cassirers zahlreiche Elemente einer Politischen Philosophie, die unser Interesse unter anderem deshalb verdienten, weil Cassirer durchgängig die strukturelle Rationalität der Politik betone und einen aufmerksamen Blick für die historisch-pragmatische Handlungsdimension der Politik habe. Anders als im Falle Cassirers ist in Bezug auf Karl Jaspers unstrittig, dass es sich bei ihm um einen produktiven politischen Denker handelt. Er wird aber von der Politischen Philosophie der Gegenwart kaum zur Kenntnis genommen. Indem Gerhardt in „Existentieller Liberalismus“ die Grundzüge des Jasper’schen Politikverständnisses skizziert, will er zeigen, warum die zeitgenössische Ignoranz gegenüber Jaspers einen schweren theoretischen Fehler darstellt. „Politik und Existenz“, der Text über Eric Voegelin, erschien ursprünglich als Sammelrezension zu den unter dem Titel Periagogé veröffentlichten ausgewählten Schriften Voegelins. Als zentrale Gedanken dieses Autors stellt Gerhardt hier heraus, dass sich Ursprung, Wesen und Ziel der Politik nur in Bezug auf die menschliche Selbsterfahrung verstehen ließen und dass es Gesellschaft immer nur in Verbindung mit Selbstinterpretationen der Individuen gebe. Der letzte Aufsatz des zweiten Teils ist einem Autor gewidmet, der heute in Deutschland kaum noch bekannt ist, obwohl er hier aufwuchs und seine akademische Laufbahn begann: Eric Weil. Die im dritten Teil versammelten „Beiträge zum politischen Zeitgeschehen und zur politischen Praxis“ sind alle nach der 1992 erfolgten Berufung Volker Gerhardts an das Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden. Daher dokumentieren sie zumindest in Ausschnitten auch Gerhardts umfassende wissenschaftliche, hochschulpolitische und publizistische Tätigkeit in Berlin. Die beiden Texte über Marx’ elfte Feuerbach-These sind aus einer von Volker Gerhardt initiierten und organisierten Ringvorlesung über die im Foyer des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität angebrachte These hervorgegangen. Diese Ringvorlesung, an der Kollegen aus Ost und West teilnahmen, ist nur ein Beispiel dafür, wie Volker Gerhardt sich in seinen verschiedenen Funktionen, nicht nur als erster aus dem Westteil berufener Direktor des Instituts für Philosophie, darum bemühte, die Geschichte der Philosophie an der Berliner Universität einschließlich der DDR-Zeit theoretisch aufzuarbeiten.16 Darüber hinaus hat er sich, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, besonders darum bemüht, kompetente, aus der ehemaligen DDR stammende Kollegen in den gesamtdeutschen Wissenschaftsbetrieb zu integrieren.

16 Vgl. z. B. Volker Gerhardt, „Zur philosophischen Tradition der Humboldt-Universität“ (Akademische Vorträge der Humboldt-Universität, Heft 1), Berlin 1993; Volker Gerhardt/Reinhard Mehring/Jana Rindert, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität, Berlin 1999.

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Volker Gerhardt hatte als Geschäftsführender Direktor des Instituts für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin einen wesentlichen Anteil daran, dass dieses Institut in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre nicht durch die drohenden Kürzungen zur Zweitklassigkeit degradiert wurde. Mit intensivem Einsatz, Beharrlichkeit und Geschick hat er das Institut durch diese schwierige Zeit geführt und hat den Impuls zu dessen Verjüngung gegeben. Heute gehört es zu den größten in Deutschland. Dies sind nur zwei Beispiele für Gerhardts Wirken, das mit seinem philosophischem Nachdenken über die Politik auf das Engste verbunden ist. Sei es als Mitglied des Nationalen und nun des Deutschen Ethikrates, als Vorsitzender der Leitbildkommission der Humboldt-Universität, als Leiter des DFG-Beirats zur Förderinitiative Bioethik, als langjähriger Koordinator der Akademieforschung in der Bundesrepublik oder in einer seiner anderen Funktionen – Volker Gerhardt hat sich nie gescheut, auch selbst Verantwortung zu übernehmen. Dies ist nichts anderes als die konsequente Umsetzung seiner Lehre von der Selbstbestimmung, denn – wie es in dem Beitrag über Jaspers heißt –: „Politische Verantwortung ist die in vollem Unfang wahrgenommene Verantwortung für sich selbst.“ Die Aufsätze und Essays werden hier in unveränderter Form wiederabgedruckt. Ich habe sie an die Regeln der neuen Rechtschreibung angepasst, die Literaturverzeichnisse zu den einzelnen Beiträgen erstellt und die Zitate und Quellen überprüft. Mein Dank gilt Janina Sombetzki und Marko Eitel, die mich dabei unterstützt haben. Außerdem möchte ich die Gelegenheit nutzen, um Volker Gerhardt für seine Förderung als akademischer Lehrer sowie für die jahrelange gute Zusammenarbeit am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin zu danken. Er hat mich während meines Studiums mit der Politischen Philosophie, mit den Werken Kants, Diltheys und Nietzsches sowie mit der Philosophischen Anthropologie vertraut gemacht; später hat er mir als seinem Mitarbeiter die Freiheit der Forschung gewährt, die Schüler brauchen, um ihren eigenen Weg zu finden. Dafür sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt. Berlin, im Dezember 2008

Héctor Wittwer

Hinweis zu den Literaturangaben Die vom Autor häufig zitierten Werke Kants und Platons werden in den Literaturverzeichnissen der einzelnen Beiträge nicht eigens aufgeführt. Die Zitation erfolgt nach der Akademie-Ausgabe der Werke Kants und nach der Paginierung der Stephanus-Ausgabe, die in nahezu allen Platon-Ausgaben angegeben wird.

I. Systematische Studien zur Politischen Philosophie

Metaphysik und Politik1 Nach der Ankündigung meines Themas wird mancher den Argwohn hegen, ich sei nach der langjährigen theoretischen Beschäftigung mit Nietzsche nunmehr zu einer Art praktischem Nietzscheanismus übergegangen und wolle von jetzt an nach der Maxime handeln: Setze dir hohe Ziele – und gehe daran zugrunde.2 Über „Metaphysik und Politik“ zu sprechen ist gewiss ein hohes Ziel, und nicht wenige werden es für unerreichbar halten. Denn erstens, so lässt sich mit Berufung auf die besten Köpfe der letzten hundertfünfzig Jahre sagen, gibt es die Metaphysik gar nicht mehr; sie geistert nur noch als ein Hirngespinst bei jenen herum, die die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben. Und so rückständig es ist, über Metaphysik zu sprechen, so zwecklos scheint es zweitens, über die Politik zu philosophieren. Denn im Bereich bloßer Machtentfaltung dient auch die theoretische Einsicht nur als Mittel im Dienst von Interessen, mit denen man sich zwangsläufig gemein macht, wenn man für oder gegen sie spricht. Wenn man nicht selbst Politik machen will, sollte man angemessene philosophische Zurückhaltung üben – eine Zurückhaltung, die vielen in der Metaphysik sogar aus logischen Gründen geboten scheint. Ihnen gilt die Metaphysik als der Inbegriff des „Unaussprechlichen“. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ 3 – Das ist, wie man weiß, der berühmte, in sich vollkommen logische, die Metaphysik und die Philosophie gleichermaßen betreffende Schlusssatz in Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Die Feststellung, die Wittgenstein diesem Schluss-Satz vorausschickt, lässt allerdings erkennen, dass es hier nicht allein auf Logik ankommt: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat.“ 4 Wittgenstein war sich der Paradoxie seiner Forderung sehr wohl bewusst. Ihm war nicht nur klar, dass er die Philosophie, die er hier zu lehren versprach, zugleich aufhob, sondern auch, dass seine eigene puristische Forderung noch zu der Metaphysik gehört, mit der nun endlich 1 Für die Gedenkschrift für Helmut Schelsky erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung des Verfassers an der Westfälischen Wilhelms-Universität am 30. Juni 1984. 2 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II, Abschn. 9 (KGW III, 1, S. 315). 3 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Satz 7, S. 85. 4 Ebd., Satz 6.53, S. 82.

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I. Systematische Studien zur Politischen Philosophie

Schluss sein sollte. Seine Forderung ist ja offenkundig selbst kein Satz der Naturwissenschaft. Doch unabhängig von den Bedenken, die Wittgenstein alsbald gegen sein eigenes Programm geltend machte, haben seine zeitweiligen Gesprächspartner im Wiener Kreis aus dem Gebot, über die Metaphysik zu schweigen, ein methodologisch begründetes Redeverbot gemacht. Rudolf Carnap verschärfte Wittgensteins These von der Sinnlosigkeit aller nicht direkt auf Erfahrung, Logik oder Mathematik bezogenen Aussagen zu der Behauptung, dass die Thesen der Metaphysik nur durch „Mißbrauch der Sprache“ und durch logische Fehler zustande kommen können. Die Sätze der Metaphysik sähen nur wie Sätze aus, seien aber keine; die Fragen, mit denen die Metaphysiker ringen, drehten sich gar nicht um wirkliche Probleme, sondern stellten nur „Scheinprobleme“ dar.5 Nun muss man wissen, dass die Kritik der Metaphysik so alt ist wie die Metaphysik selbst, und nachdem die neuzeitliche Wissenschaft zu Ansehen und Selbstbewusstsein gekommen ist, hat es an Spott über die Metaphysiker nicht gefehlt. „Sorge dich nicht um die Metaphysik“, schrieb Francis Bacon, „es wird keine mehr geben, wenn die wahre Physik gefunden ist.“ Newton verwahrte sich gegen die bloß fingierten metaphysischen Hypothesen, die Voltaire dann schon zu Ausgeburten kranker Köpfe erklärte. Diderot hielt die Metaphysik für verächtlich, es sei denn, sie werde in der einzig angemessenen Form, nämlich als Kunst von den Malern, Dichtern und Musikern betrieben. Die vorrevolutionären Materialisten kamen bereits darauf, die Ursachen für die Irrtümer dieser „bloßen Wortwissenschaft“ in der Sprache zu vermuten. Rousseau machte die Hypertrophie der Zivilisation für das Wuchern der Spekulation verantwortlich und setzte die Einfachheit des Herzens dagegen, was seine nachrevolutionären Kritiker nicht davon abhielt, ihn als einen „metaphysischen Aeronauten“ hinzustellen, dessen „logischer Fanatismus“ zum politischen Terror geführt habe: „Blutvergießen, Torturen, Martern aller Art! [. . .] Das sind die Früchte metaphysischer Deklamationen“ – so steht es bereits 1790 bei Edmund Burke.6 Wie man sieht, sind alle angeblich endgültigen Wendungen der Metaphysikkritik, die Nietzsche später mit so viel Emphase vorgetragen hat, bereits im 17. und 18. Jh. versammelt. Und man muss nicht eben hellhörig sein, wenn man das „windige Sausen“, das ein 1788 hier in Münster begrabener Spötter, nämlich Johann Georg Hamann, in der Metaphysik, „jener alten Mutter des Chaos und der Nacht“, zu vernehmen glaubte, – wenn man dieses „windige Sausen“ im Echo der Metaphysikkritik wiederfindet.7 Hamanns gelehrte Bosheit richtete sich vornehmlich gegen Immanuel Kant, seinen Königsberger Stadt- und Zeitgenossen, der zwar auch die Metaphysik als einen aus den Eingeweiden in den 5 6 7

Vgl. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie. Vgl. Rentsch, Metaphysikkritik, Sp. 1283 ff. Vgl. Hamann, Metakritik, S. 285 ff.

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Kopf gestiegenen „hypochondrischen Wind“ bezeichnet hatte, dessen Vorsatz es war, mit den „Märchen aus dem Schlaraffenlande der Metaphysik“ endlich aufzuräumen, und der binnen Kurzem auch als „Alleszermalmer“ der Metaphysik bekannt war, dann aber trotz allem den Versuch unternahm, ihr ein neues, kritisch gesichertes Fundament zu geben.8 Georg Christoph Lichtenberg, der andere große spöttische Zeitgenosse Kants, schrieb derweilen in sein „Sudelbuch“, die Metaphysik habe sich „selbst gefressen“ 9. Er hätte bereits damals hinzusetzen können, dass auch die Metaphysikkritik einen guten Appetit auf sich selbst entwickelt hat. Heute dürfen wir diese Gefräßigkeit als wissenschaftlich erwiesen ansehen. Der im Anschluss an den frühen Wittgenstein unternommene Vorstoß gegen die Metaphysik hat nämlich den dankenswerten Vorzug, die Selbstaufhebung der Metaphysikkritik mit logischer Stringenz vor Augen geführt zu haben. Denn nachdem Carnap erst einmal herausgearbeitet hatte, dass die Logik allein nicht ausreicht, um zwischen echten („wissenschaftlichen“) und scheinbaren (eben bloß „metaphysischen“) Problemen zu unterscheiden, sondern dass man zusätzlich noch ein trennscharfes Sinnkriterium benötigt, zeigte sich sehr bald, dass es ein solches abgrenzendes Kriterium nicht gibt. Der nahe liegende Anspruch, nur solche Aussagen als sinnvoll anzusehen, von denen angegeben werden kann, durch welche mögliche Erfahrung sie bestätigt oder widerlegt werden können, ließ sich selbst nicht mehr empirisch rechtfertigen. Was immer man als Prinzip zur Bestätigung eines sinnvollen Satzes ermittelte, war entweder eine bestehende Konvention oder eine Dezision, die zur Konvention werden sollte. Das Verifikationsprinzip für empirisch sinnvolle Aussagen fiel damit aus dem Bereich der Empirie heraus, und es ergab sich die absurde Konsequenz, dass nur dann die strikte Abgrenzung von den sinnlosen Sätzen der Metaphysik aufrechterhalten werden konnte, wenn man zur Sicherung der sinnvollen Sätze ein – nach den eigenen Voraussetzungen – sinnloses Kriterium verwendete. Dieser Konsequenz war nur zu entgehen, wenn man die strikte Opposition gegen die Metaphysik aufgab, den Sinnlosigkeitsverdacht zurücknahm und das Verifikationsprinzip bescheiden als pragmatisch bewährten Vorschlag zur Regelung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs verstand. Unter der Voraussetzung, dass man sich auf ein entsprechendes Sinnkriterium einigte, konnte man nunmehr sogar die Metaphysik als eine exakte Wissenschaft begründen. Natürlich ist Carnap so weit nicht gegangen. Aber er hat in beispielhafter Redlichkeit die Korrektur des Sinnkriteriums bis zu dem Punkt getrieben, an dem sich der ursprünglich leitende programmatische Anspruch von selbst auflöste. Eine mit den schärfsten analytischen Mitteln antretende nicht-metaphysische Metaphysikkritik hat ihre prinzipielle Undurchführbarkeit demonstriert. Von au8 9

Vgl. Kant, Träume eines Geistersehers, AA, Bd. 2, S. 348 u. 356. Lichtenberg, Sudelbücher, J 620, S. 742.

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ßen ist die Metaphysik nicht aus den Angeln zu heben. „Metaphysik“, so hat es ein Mitarbeiter Carnaps bereits 1954 resümiert, „kann man nur mit anderer Metaphysik bekämpfen.“ 10 Aber das ist bekanntlich nicht alles: In dem rigorosen Versuch, begründend auf nichts anderes zurückzugehen als wieder nur auf Empirisches, hat sich nunmehr auch mit Hilfe der exakten logischen Verfahren die alte platonische, von Kant kritisch erneuerte Einsicht bestätigt, dass kein Wissen vollständig empirisch explizierbar ist. Allein schon in den formalen Bedingungen unserer Aussagen ist mehr enthalten, als wir durch bloße Erfahrung wissen können. Folglich ist bereits die Frage nach den Voraussetzungen unserer Urteile immer auch eine metaphysische Frage. Oder – um es noch einmal mit dem in diesem Zusammenhang gewiss unverdächtigen Wolfgang Stegmüller zu sagen: „alle Wissenschaft“ ist „metaphysisch fundiert“. Den Ausdruck „Metaphysik“ könne man wohl vermeiden, das ändere aber nichts an der Sache: „Man kann“, so fügt er hinzu, „Metaphysik ablehnen, aber man darf dann nirgends mehr mitreden wollen.“ 11 Damit ist behauptet, dass man als Philosoph die Metaphysik keineswegs schon überwindet, wenn man von ihr nicht mehr spricht; man kommt von ihr nur los, wenn man überhaupt schweigt. Da dieses Schweigen sich auch auf die innere Rede, auf das Denken als Sprechen mit sich selbst erstreckt, kann man sich leicht ausrechnen, für wie viel Philosophie in dieser Stille noch Raum bleibt. Das Ende der Metaphysik ist nur durch das Ende der Philosophie herbeizuführen – das jedenfalls ist die Konsequenz aus Carnaps strenger Beweisführung. Sein Versuch, ein Redeverbot über die Metaphysik zu begründen, hat zu einer eindeutigen Wende ins Gegenteil geführt: Man müsste schon alles Begründen verbieten, wenn die Metaphysik wirksam ausgeschlossen werden sollte. Wenn nun die Lage so eindeutig ist, wie ich sie hier schildere, dann kann man sich nur wundern, dass die Metaphysik auch heute noch in so schlechtem Ansehen steht. Obgleich man doch weiß, wie bunt zusammengewürfelt das Lager der Metaphysikgegner seit Jahrhunderten ist – ich erinnere nur daran, dass auch Hegel sich strikt dagegen verwahrte, als Metaphysiker zu gelten –, ist es heute offenbar schon Programm genug, eine „Ethik ohne Metaphysik“ anzukündigen oder die Suche nach einem „Maß auf Erden“ durch den Zusatz „Grundbestimmungen einer nicht-metaphysischen Ethik“ zu erläutern. Einer der wenigen deutschen Theoretiker, die gegenwärtig der Grundlegung des Politischen Aufmerksamkeit schenken, sieht sowohl in der Metaphysik nach aristotelischem Vorbild wie auch in der an Kant orientierten „Metaphysik der Freiheit“ nur Exzesse eines identitätssüchtigen Denkens und erklärt, zwischen dieses metaphysi-

10 11

Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, S. 452. Ebd., S. 454.

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sche Denken und die Politik sei – ich zitiere Ernst Vollrath – ,,Feindschaft gesetzt, und kein Weg führt [. . .] von dem einen Bereich zum andern“ 12. Dieser 1982 erfolgte und seitdem mehrfach wiederholte Angriff auf die Metaphysik, der, wie das oft in solchen Fällen ist, auch die Philosophie in Mitleidenschaft zieht – Vollrath bestreitet den Philosophen z. B. das Recht, auch nur eine Definition der Politik zu entwickeln –, dieser Angriff mag beiläufig zeigen, dass es auch aktuelle Gründe gibt, über mein Thema nachzudenken.13 Die offenkundige Reserviertheit gegenüber der Metaphysik hat viele Motive. Ich brauche nur einige zu nennen, um deutlich zu machen, wie breit das Spektrum ist. Relativ klar scheint mir die Lage bei den Schülern Heideggers, wenn sie mit ihrem Lehrer die gesamte philosophische Tradition von Platon bis einschließlich Nietzsche mit Metaphysik in eins setzen und für grundsätzlich beendet erklären. In ihren Augen versetzt sich jeder, der heute noch Metaphysik betreibt, ahnungslos in einen Zustand der Seinsvergessenheit, aus dem Heidegger doch gerade herausgeführt habe. Wer mit Begriffen auf das Sein losgeht, dem eröffne sich nichts, sondern der verstelle sich den Zugang, schirme sich ab und könne den rettenden Zuruf des Seins nicht mehr vernehmen. Die meisten, die heute der Vernunft und ihrer angeblich kalten Begrifflichkeit den Abschied geben, um beim „Anderen“ der Vernunft, bei den Gefühlen und leiblichen Gestimmtheiten Zuflucht zu finden, wissen nicht, wie viel sie dieser These Heideggers verdanken. Er war immerhin so konsequent, auf die traditionellen Begriffe zu verzichten. Er suchte das Schweigen wenigstens. Dabei bedurfte er der carnapschen Beweisführung nicht, weil er bereits an Nietzsche hatte studieren können, dass 12 Vollrath, Ein philosophischer Begriff des Politischen?, S. 43; entsprechend auch ders., Probleme der Konstitution einer Philosophie des Politischen im deutschen Sprachraum, S. 234. 13 Das Problem einer metaphysischen Begründung stellt sich in verschiedenen Zusammenhängen politisch-philosophischer Theoriebildung, auch dort, wo man Arnold Bergsträssers zutreffende Einsicht, die politische Wissenschaft stelle letztlich die „Frage nach dem Daseinssinn“ (vgl. Bergsträsser, Die Stellung der Politik unter den Wissenschaften, S. 26) nicht ausdrücklich aufnimmt. Ob man nun, wie z. B. R. Spaemann, H. Lübbe oder W. Böckenförde, in der Nachfolge Joachim Ritters nach dem Traditionszusammenhang von Metaphysik und Politik oder nach Kriterien für eine politische Topik (W. Hennis) oder Praktik (M. Oakeshott) sucht, ob man eine Erneuerung im Anschluss an Platon und Aristoteles betreibt (hier sind so verschiedene Theoretiker wie H. Kuhn, E. Voegelin, L. Strauss und D. Sternberger zu nennen), ob man sie stärker durch Anschluss oder Abgrenzung von klassisch-bürgerlichen Positionen zu bestimmen sich bemüht (K. R. Popper, F. A. Hayek, J. Freund oder B. Willms einerseits, C. B. Macpherson, I. Fetscher, R. Brandt andererseits), ob man den Bezug zu Kant (J. Rawls, O. Höffe), zu Hegel (A. Baruzzi, M. Riedel, K. Hartmann) oder zu Marx (H. Marcuse, J. Habermas) herausstellt oder ob man in der Nachfolge Heideggers mit dem Gestus der Verwerfung der begrifflichen Tradition überhaupt (M. Foucault und, mit gewissen Einschränkungen, Hannah Arendt) radikal neu einsetzt – die Frage nach den selbst nicht mehr politischen Bedingungen des Politischen ist überall virulent.

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eine letztlich noch auf Begriffe gestützte Metaphysikkritik aus der Metaphysik nicht herausführt. Leicht verständlich ist auch die Abwehr der Metaphysik in der „Kritischen Theorie“, denn was daran wesentlich ist, findet sich alles schon bei Heidegger. Bei Horkheimer und Adorno kommt als Eigenes nur noch die Ideologiekritik an der bürgerlichen Gesellschaft hinzu, die zwangsläufig, da in der Blüte der bürgerlichen Kultur nun einmal auch Metaphysik betrieben wird, zu dem Ergebnis führt, dass die Metaphysik zu den Herrschaftsmitteln der Bourgeoisie gehört. Doch der Vorteil, den ein so konkretes Resultat bieten könnte, wird von den kritischen Theoretikern selbst preisgegeben, weil sie den begrifflichen Umgang mit der Welt überhaupt zum ideologischen Sündenfall des Menschen erklären. Damit aber beginnt das kapitalistische Denken bereits beim listenreichen Odysseus, und spätestens in Platons Übergang vom Mythos zum Logos ist Auschwitz schon vorgezeichnet. Hat man sich aller Unterscheidungen erst einmal so gründlich entledigt, kann man, wenn man überhaupt noch etwas will, nur noch das Ganze loswerden wollen. Es ist das Ganze, von dem Adorno sagt, es sei das Unwahre. Indem er aber seinen Wahrheitsanspruch gegen dieses Ganze stellt, kann er selbst schon kein Teil des Ganzen mehr sein. Doch wie immer er sich dieses Ganze denkt: In seinen Spekulationen über Wahrheit und Ganzheit betreibt er weiterhin Metaphysik, obgleich in einer heruntergekommenen Art. Wer in dieser Feststellung eine unsachliche Polemik vermutet, der sei an den Schlusssatz der Negativen Dialektik erinnert; dort erklärt sich Adorno „solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ 14. Das kann er sagen, weil er zu wissen glaubt, wo sie schließlich herunterkommt, nämlich im Konkreten, wo keine Begriffe mehr nötig sind und jedes Ding von selbst seinen Namen äußert. Diese eigentlich überflüssigen Bemerkungen über die Kritische Theorie mag man mir aus persönlichen Gründen nachsehen: Ich spreche mit einer gewissen Verbitterung über Theoretiker, die einer ganzen Generation phantastische politische Forderungen suggeriert haben, selbst aber die Politik degoutant fanden.15

14 Adorno, Negative Dialektik, S. 398. – Zu Adornos Metaphysikverständnis vgl. Theunissen, Negativität bei Adorno. Theunissen zeigt, dass die negative Dialektik angesichts des Scheiterns der „negativistischen Geschichtsphilosophie“ zum „Übergang in Metaphysik“ genötigt werde (ebd., S. 57). Wenn er abschließend dann doch zu dem Ergebnis kommt, Adorno hebe die Metaphysik „negativ und positiv zugleich“ auf, verschweigt er nicht den Preis, den diese Aufhebung kostet: „Ihr Fluchtpunkt ist, über metaphysische Theologie hinaus, die Theologie des sich erniedrigenden Gottes.“ (Ebd., S. 60) 15 Meine These finde ich bestätigt durch Bolz, Erlösung als ob. – Das Urteil über den apolitischen Charakter der Kritischen Theorie bezieht sich hauptsächlich auf Adorno. Ausdrücklich auszunehmen ist die wieder stark an die Tradition der Aufklärung anschließende Wirksamkeit von Jürgen Habermas.

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In nicht wenigen Fällen entpuppt sich die Zurückhaltung gegenüber der Metaphysik lediglich als Vorsicht gegenüber einem Wort. Das ist typisch für eine dritte Variante der Abkehr von der Metaphysik. Man fürchtet, schon durch die Bezeichnung auf eine historisch vorgegebene Konzeption festgelegt zu sein. Hier liegt in der Tat eine gewisse Gefahr. Wenn Metaphysik mit den Antworten identisch sein sollte, die in einem bestimmten Buch, das nachträglich diesen Namen erhalten hat, entwickelt sind, dann hätte man allerdings allen Grund, das Wort zu vermeiden. Aber die Metaphysik ist, wie die Philosophie überhaupt, aus Fragen, nicht aus Antworten hervorgegangen. Auch bei Aristoteles ist es eine Frage, die ihn nach der „ersten Wissenschaft“ suchen lässt. Es ist die Frage nach den „ersten Prinzipien und Ursachen“, besser übersetzt: nach den „ersten Quellen und Gründen“, aus denen wir alles andere erkennen.16 Den Dingen auf den Grund zu gehen, ist das aus ursprünglicher Verwunderung entstehende Bedürfnis des Metaphysikers. Es wäre unsinnig, ihn vor der Frage schon auf bestimmte Antworten festlegen zu wollen: Ob die Dinge als „Seiendes“, als „Erscheinung“ oder als bloßer „Schein“ vor uns stehen, muss sich erst noch zeigen. Wir kennen den Grund (oder Abgrund) noch nicht, auf den wir schließlich stoßen. Die Metaphysik ist somit weder systematisch noch historisch an bestimmte Prämissen gebunden, und sie ist auch nicht auf nur ein Verfahren festgelegt. Gefordert ist lediglich, dass sie sich begrifflicher Mittel bedient; und begriffliche Mittel führen keineswegs zwangsläufig in ein System. Es reicht durchaus, wenn die Fragen so angelegt sind, dass bei folgerichtigen Antworten eine Theorie daraus werden kann. Metaphysik muss als Wissenschaft möglich sein; sie ist, wie es bei Aristoteles immer wieder heißt, die „gesuchte Wissenschaft“, und sie ist nicht erst dort gegeben, wo sie sich als geschlossener Lehrbestand präsentiert. Metaphysik als dogmatische Lehre aber setzen jene voraus, die den Terminus für sich nicht mehr gelten lassen wollen und die den Metaphysikverdacht durch ein Worttabu abwehren. Doch mit der Ächtung des Wortes ist wenig erreicht, wenn der Sache nach alles unverändert bleibt. Und in der Tat: Man fragt noch immer nach den Prinzipien der Dinge, nach der grundsätzlichen Differenz zwischen Ereignis und Handlung, sucht nach der Einheit von Ich und Welt oder entwirft Begriffe, die erlauben, einzelne Erfahrungselemente als Teile eines – wie immer auch bestimmten – Ganzen zu denken. Man betreibt faktisch nach wie vor Metaphysik, zieht sich aber nominell hinter den alles deckenden Titel der Philosophie zurück.17 16 Aristoteles, Metaphysik 982 b 2. – Zu der hier vertretenen Metaphysikauffassung siehe v. Verf., Die Metaphysik des Werdens. In der hier vertretenen Metaphysikkonzeption bin ich den Arbeiten Friedrich Kaulbachs verpflichtet. Vgl. z. B. Kaulbach, Einführung in die Metaphysik; ders., Metaphysik der Natur. 17 Jüngstes Beispiel dafür: Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 153 ff. u. passim. „Metaphysisch“ ist für Abel gleichbedeu-

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Worauf der Metaphysikverdacht letztlich zielt, gibt eine vierte Gruppe von Gegnern sehr schön zu erkennen. Unter strikter Berufung auf die empirischen Wissenschaften werden die animistischen und mythischen Wurzeln der Metaphysik freigelegt, die gesellschaftlichen Bedingungen werden ideologiekritisch exponiert, und in hartnäckigen Einzelfällen wird eine Psychotherapie empfohlen. Mit einem Metaphysiker, so referiert Bernard Williams eine im Umkreis Wittgensteins übliche Bemerkung, lasse sich ebenso wenig rational argumentieren wie mit einem Neurotiker;18 in beiden Fällen liege die einzige Chance in der Therapie. Hinter solchen Ratschlägen steht die geschichtsphilosophisch ausgreifende Hoffnung auf eine endgültige „Anpassung des Gefühlslebens“ an die szientifische „,Entzauberung der Welt‘“. „Auf diese Weise“, so meint Ernst Topitsch, den ich hier zitiere, „erledigen sich weltanschauliche Probleme von selbst, nicht indem sie eine Antwort finden, sondern indem sie gegenstandslos werden.“ 19 Hier tritt offen zutage, dass der Angriff auf die Metaphysik, selbst wenn er subjektiv nicht so gemeint sein sollte, faktisch gegen die Philosophie überhaupt gerichtet ist. Denn wenn man es genau nimmt, sind alle Fragen der Philosophie „gegenstandslos“; von allen ihren Problemen ließe sich behaupten, dass sie sich im alltäglichen Gang der Dinge von selbst erledigen. Vielleicht erklärt der globale, anscheinend rein erfahrungswissenschaftlich motivierte Angriff, mit dem letztlich die Philosophie selbst getroffen wird, warum gerade Philosophen darauf bedacht sind, ihre Distanz zur Metaphysik herauszustellen. Sie können so den Anschein erwecken, als hätten sie die Schwierigkeiten ihres Faches erkannt und überwunden. Ihre eigene Metaphysikkritik soll ihnen den Rücken freihalten und die Wissenschaftlichkeit ihrer Verfahren legitimieren. Das könnte ein wirksames Vorgehen sein, wenn eingestanden würde, dass mit der Metaphysik immer auch die Philosophie in Frage steht. So aber lenkt man mit Hilfe eines Ersatzobjektes von dem eigentlichen Zweifel ab: ob nämlich Philosophie als Wissenschaft möglich ist. Konsequent und gut begründet erscheint dagegen eine fünfte metaphysikkritische Einstellung, die hier als letztes Beispiel zu erwähnen ist. Gemeint ist die von Schulpositionen und Interessenrichtungen ziemlich unabhängige skeptischzurückhaltende Toleranz allen gegenüber, die sich – eingestanden oder nicht – mit metaphysischen Fragen befassen. Man respektiert spekulative Konstruktionen, fundamentalistische Subversionen, totalisierende Utopien oder dogmatischkritische Letztbegründungserwartungen und verfolgt, wie gerade die mit dem tend mit „objektivistisch“. Nach diesem Verständnis fällt es leicht, in Nietzsche einen Überwinder der Metaphysik namhaft zu machen. Man steht dann freilich vor der Schwierigkeit, Kants Metaphysikverständnis als nicht-metaphysisch zu deuten. 18 Vgl. Williams, Metaphysical Arguments. 19 Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, S. 313.

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Anspruch des radikalen Neuen auftretenden Theorien nach der ersten Überraschung langsam, aber sicher mit den großen Themen der Tradition konvergieren. Man sieht hier auch keinen Anlass, die innere Folgerichtigkeit der auf das Ganze gerichteten Untersuchungen in Zweifel zu ziehen. Warum sollte es nicht möglich sein, über die Einheit unserer Welt, über das angenommene Ziel der Geschichte oder über die Notwendigkeit Gottes rational zu diskutieren? Warum sollte die Vernunft dort enden, wo sie eigentlich erst ihren Anfang nimmt, nämlich bei der Frage, wie wir uns zur Welt und zu uns selbst verhalten? Also haben in einer pluralistisch organisierten akademischen Gemeinschaft auch die Metaphysiker ihre Daseinsberechtigung. Wer diese großzügige Haltung vertritt, verspürt in der Regel selbst keine Neigung, den „Kampfplatz der Metaphysik“ zu betreten. Mit pragmatischer Nüchternheit stellt er fest, dass die dort ausgetragenen Gefechte schwer entscheidbar, Erkenntnisfortschritte also nicht abzusehen sind. Aus verständlichen Gründen wendet er sich daher Problemen zu, die wirkliche Lösungschancen bieten. Im Vertrauen auf die Arbeitsteilung innerhalb der Philosophie kann der liberale Skeptiker die ausdrücklich metaphysischen Fragen getrost den anderen überlassen, um sich selbst den immer vordringlichen Einzelproblemen zu widmen.20 Dabei ist es noch gar nicht einmal erforderlich, der Metaphysik jede Entwicklungsmöglichkeit abzusprechen. Kants Beitrag lehrt, dass es zumindest Fortschritte in der Methode gibt, und niemand wird bestreiten, dass Logik und Sprachanalyse heute beachtliche Präzisionsgewinne in Aussicht stellen. Es genügt dem Skeptiker jedoch, sich den hohen Anteil an subjektiven Erwartungen, den leicht durchschaubaren Wunsch nach Rechtfertigung des jeweils eigenen Daseins in allen metaphysischen Fragen vor Augen zu führen, um auf ihre wissenschaftliche Behandlung zu verzichten. Spätestens hier hängen die Ergebnisse doch wieder nur davon ab, was für ein Mensch man ist, und es muss jedem selbst überlassen bleiben, wie weit er in der philosophischen Artikulation seiner Hoffnungen und Ängste zu gehen bereit ist. 20 Hier wären zahlreiche Philosophen der Gegenwart zu nennen, die wohl auch zu den produktivsten Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu rechnen sind. Ihre Haltung ist auch deshalb gut zu verstehen, weil der Titel der Metaphysik nicht selten dann in Anspruch genommen wird, wenn es gilt, einer rationalen Auseinandersetzung auszuweichen. Metaphysiker nennen sich mit Vorliebe jene, die angesichts des Unbegreiflichen von vornherein auf Begriffe verzichten. Dass dies weder der aristotelischen noch der kantischen Konzeption von Metaphysik entspricht, dürfte aber deutlich sein. Das erwachende Interesse analytisch geschulter Philosophen an metaphysischen Fragestellungen ist ein Beleg dafür, dass zumindest die nicht auf einen metaphysischen Realismus festgelegte Tradition der kritischen Metaphysik noch nicht beendet ist. Vgl. Nozick, Philosophical Explanations, S. 115 ff.; Hamlyn, Metaphysics. Im deutschen Sprachraum kann ich mich auf Dieter Henrich berufen: „Metaphysik, sofern sie nicht nur in Gedanken erwogen oder in Worten nachgesprochen, sondern im Leben angeeignet ist, ist alles andere als wirklichkeitsfern. Sie ist überall dort wirksam und sogar unentbehrlich, wo bewußtes Leben als solches einen Lebensweg einschlägt und in ihm sich versteht.“ (Henrich, Selbstaufklärung der Vernunft, S. 53)

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Doch auch diese lebenskluge, außerordentlich sympathische Haltung gegenüber der Metaphysik gelangt schnell an ihre Grenze, wenn sie mit der Politik in Berührung kommt. Die Politik fordert ein Urteil über das Ganze eines Lebenszusammenhangs, von dem der Theoretiker sich nicht ausnehmen kann und von dem er sich auch gar nicht ausschließen will. Selbst wenn er sich nicht in den Parteienstreit auf der politischen Bühne einmischt, nimmt er Stellung zu einer Lebensform, von der er vorgibt, dass sie prinzipiell auch die seine ist. Dem Weltverhältnis, das in der Politik zum Ausdruck kommt, rechnet der politische Philosoph sich ausdrücklich zu. Er nimmt Anteil an den öffentlichen Dingen und kompensiert die sich im Nachdenken einstellende Überparteilichkeit durch Anwaltschaft für das Ganze. Ohne Anteilnahme am politischen Geschehen werden auch dem scharfsinnigsten Analytiker die eigentlichen Probleme entgehen. Gewiss wird er zahlreiche interessante Beobachtungen machen: Die Selbstsucht aller Beteiligten, die Widersprüche zwischen öffentlicher und interner Rede, die Flüchtigkeit aller Parolen, die alles andere in den Schatten stellende Macht des Augenblicks und das Theatralische aller Aktionen werden ihm vielleicht deutlicher vor Augen stehen als dem, der trotz allem an die Möglichkeit des politischen Handelns glaubt. Doch ohne diesen Glauben fehlt der Zugang zu den genuin politischen Motiven. Das Eintreten für ein praktisches Weltverhältnis, für eine spezifische Kultur des Lebens, für eine gemeinschaftliche Daseinsform – wie immer man das nennen mag – ist konstitutiv für die politische Theorie. Natürlich kann sich die politikwissenschaftliche Einzelforschung auch ohne einen solchen Glauben konkreten Gegenständen zuwenden. Sie kann, ja sie muss in der auch den Sozialwissenschaften möglichen Objektivität z. B. die parlamentarischen Regeln oder das Wählerverhalten, die Entwicklung der Parteiprogramme oder einzelne Staatsformen als empirische Sachverhalte angehen. Auch die politische Philosophie kann u. U. neutral über die logischen Implikationen der Vertragslehren, über das Widerstandsgebot oder über das Verhältnis von Moral und Recht räsonieren. Wenn sie aber begrifflich bestimmen möchte, was eigentlich Politik ist, was denn nun die Politik von der Moral unterscheidet, wie sich die Friedenserwartungen angesichts der bekannten historischen Tatsachen begründen lassen oder: was die beste Staatsform ist –, wenn sie also die klassischen Fragen der Staats- und Sozialphilosophie wieder aufnimmt, dann hat sie die Voraussetzungen des politischen Geschehens zu thematisieren. Das aber wäre nichts Besonderes, wenn zu diesen Voraussetzungen nur die objektivierbaren Faktoren der Erhaltung und Entfaltung des menschlichen Lebens gehörten, wenn dazu allein die Handlungserwartungen der anderen und nicht auch die Lebensansprüche des Theoretikers selbst zählten. Der aber philosophiert ausdrücklich als Teil der Gemeinschaft. Er ist sich seiner Rolle als politisches Subjekt bewusst. Es ist ein Bürger, der hier nachdenkt. Seine Theorie ist immer auch sein Beitrag zur Politik.

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Als nachdenklicher Stadt- und Staatsbürger, heute wohl unvermeidlich auch als Weltbürger untersteht der Philosoph den Bedingungen seines Gegenstandes. Nur sofern die Politik auch ihn betrifft, nimmt er einen Anteil an ihr. Und will er ihren Konditionen nicht verständnislos ausgeliefert sein, dann hat er sie zur Sprache zu bringen. Er muss sich also theoretisch auf die praktisch auch ihn leitenden politischen Erwartungen einlassen, wenn er den Anspruch auf Erkenntnis des politischen Geschehens einlösen will. Tut er das, dann hält er die Distanz gegenüber den grundlegenden metaphysischen Fragen nicht mehr durch und wird durch die Logik seiner Untersuchung in die Fangarme der Metaphysik getrieben. Politische Philosophie, die den Anspruch nicht aufgibt, die Wirklichkeit der Politik im Zusammenhang der Wirklichkeit unseres Lebens zu begreifen, äußert sich nicht nur zu dieser Wirklichkeit, sondern sie bekennt sich auch zu ihr. Sie kann die für die Sphäre des politischen Handelns konstitutiven Annahmen über das Ganze des Lebenszusammenhangs nicht einfach nur den anderen überlassen, weil ihre Aussagen selbst auf diesen Annahmen, auf den durch Erfahrung niemals gänzlich abgesicherten Ansprüchen und Hoffnungen beruhen. Diese Behauptung ist keine in den Indikativ gesetzte Aufforderung zum Aktivismus, auch kein Appell zur ständigen Offenbarung einer staatsbürgerlichen Gesinnung. Die Unparteilichkeit ist auch in der Erkenntnis der politischen Verhältnisse eine gute Maxime, was freilich nicht ausschließt, dass man gerade in der Opposition zu einer politischen Ordnung zu den schärferen Diagnosen kommt. Meine These sagt etwas ganz Einfaches: dass man sich als Theoretiker des Politischen eines dabei grundsätzlich leitenden politischen Interesses bewusst bleiben muss. Es ist das Interesse an politischen Handlungen überhaupt, der praktisch wirksame Glaube an den Sinn des politischen Tuns. Dieser Glaube ist aber selbst nicht zureichend politisch zu begründen.21 Seine Wurzeln liegen im Bereich der Metaphysik, dem damit auch der skeptisch zurückhaltende Philosoph nicht entkommt, sofern er politische Theorie betreibt. Die klassischen Staatslehren, auch die dezidiert anti-metaphysischen von Hobbes, Locke oder Marx, sind sämtlich von dem praktischen Glauben an den Sinn der politischen Handlung getragen. Die meisten sind so verfasst, dass sie als Anleitung zum staatsbürgerlichen Handeln dienen können; nicht wenige sind für den direkten Gebrauch des Staatsmannes (oder des Revolutionärs) geschrieben. Auch Platons großes Staatsbeispiel (paradeigma), das man heute fälschlich unter den Titel der Utopie stellt, das aber ausdrücklich nicht als Vorlage für 21 Diese klassische, die Politische Philosophie als Ganze tragende Einsicht pointiert Michael Walzer: „Indeed, the most general truths of politics and morality can only be validated in the philosophical realm, and that realm has its place outside, beyond, separate from every particular community.“ (Walzer, Philosophy and Democracy, S. 397)

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eine Verfassung entwickelt worden ist, will dem politisch denkenden Menschen verständlich sein. Platon verfolgt eine politische Absicht und fordert vom Philosophen keineswegs um der bloßen Erkenntnis willen, „sich des Staates anzunehmen“ 22. Der Glaube an den Sinn der politischen Tat ist keineswegs selbstverständlich. Gerade dem philosophischen Kopf wird es nicht schwerfallen, den Nutzen des unentwegten öffentlichen Treibens in Zweifel zu ziehen. Wer Grund hat, den Sinn des Ganzen in Frage zu stellen, der hat auch Gründe genug, die Politik nur als eine Verirrung mehr wahrzunehmen. Wer prinzipiell andere Interessen hat, der kann sich, wie beispielsweise Thomas Mann in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“, von der „Menagerieluft“ in den Niederungen der Politik nur angeekelt abwenden.23 Es gibt kein zwingendes theoretisches Argument für das Engagement, und die schreiende Selbstgerechtigkeit, mit der diejenigen, die in der Aktion ihr Glück suchen, anderen, die das nicht – oder nicht mehr – tun, einen moralischen Vorwurf daraus machen, ist immer ein sicheres Indiz für eine schwache politische Position. Nur wer schon politisch ansprechbar ist, wird von einem politischen Argument wirklich erreicht werden können. Aus bloßen Begriffen sind auch hier praktische Einstellungen nicht zu deduzieren. Folglich sagt meine These auch nicht, dass die Philosophie notwendig politisch sein müsse oder dass die Philosophen gar die Notwendigkeit der Politik zu beweisen hätten, sie behauptet lediglich, dass derjenige, der über Bedingungen, Mittel und Ziele des Politischen nachdenkt, an seinem Gegenstand mehr als bloß ein theoretisches Interesse nimmt. Allein, um sein Gebiet so wichtig zu nehmen, wie er es offensichtlich tut, muss er sich auf die darin herrschenden Interessen prinzipiell einlassen. Denn diese Interessen sind es allererst, aus denen das Politische entsteht. Nur dadurch, dass der Betrachter schon politisch denkt, versteht er, worum es im Streit um Verfassungen und gleiche Rechte, um Programme und Ämter für die Beteiligten geht. Er nimmt also teil an den die politische Sphäre bildenden Erwartungen und ist eben damit theoretisch und praktisch auf ein Ganzes bezogen, von dem er sich nur auf die Gefahr, seine Fragestellung zu verlieren, distanzieren kann. Von welchen Erwartungen ist hier die Rede? Eine fundamentale, nicht nur für die Politik grundlegende Erwartung ist die, dass wir unseren Handlungen überhaupt Wirkungen zutrauen, die unseren Vorstellungen entsprechen. An dieser Korrespondenz von Handlung und Wirkung in alltäglichen Zusammenhängen zu zweifeln, erscheint zunächst kurios. Natürlich weiß ich, dass Sie mich hören, wenn ich hier vor Ihnen spreche. Aber ob Sie mich auch verstehen? Da kann 22 23

Platon, Politeia 499 b; zur Lehre vom paradeigma vgl. ebd. 472 c. Vgl. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 252.

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ich schon nicht mehr so sicher sein, obgleich ich mich um eine verständliche Darstellung bemühe. Und wenn Sie mich verstanden haben sollten, was folgt dann daraus? Gesetzt, ich würde eine politische Rede halten, dann täte ich dies in der Annahme, dass Sie prinzipiell bereit und in der Lage sind, die richtig aufgenommenen Vorstellungen in die Tat umzusetzen: dass Sie z. B. das Kreuz auf dem Wahlzettel an der von mir bevorzugten Stelle machen oder Ihre Unterschrift unter eine Erklärung setzen, die, wenn sie erst einmal mit vielen Namen veröffentlicht ist, bei denen, für die sie schließlich gedacht ist, eben die Wirkung tut, von der ich in meiner Rede gesprochen habe. Der politische Mensch muss darauf vertrauen, dass er auch über weite soziale und zeitliche Distanzen hinweg richtig verstanden wird, dass seine Absichten, obgleich sie durch die Köpfe vieler anderer hindurch müssen, im Großen und Ganzen unverändert bleiben. Er hält den Einfluss auf ein weitverzweigtes Geschehen für möglich, und dabei macht er zwangsläufig die Unterstellung, dass sich andere von seinen Ideen leiten lassen. Wollte er dabei allein auf physischen Zwang vertrauen, käme er nicht weit. Also braucht er zumindest einige Gefährten, die ihn aus eigenem Antrieb unterstützen. Da es nun aber zu den Grundüberzeugungen der Politik gehört, dass möglichst alle Beteiligten aus freien Stücken mitwirken, sieht man sofort, wie sich das Kalkül der politischen Handlung explosionsartig erweitert: Das anfangs noch so selbstverständliche Vertrauen in die eigene Tat wird zu einer hypertrophen Annahme über zahllose Reaktionen und Folgeaktionen aller Beteiligten und Betroffenen. So gesehen, basiert der Anspruch auf politische Einflussnahme auf einer geradezu phantastischen Erwartung im Hinblick auf die Folgen des eigenen Tuns. Doch eben dieser Anspruch ist Bestandteil auch noch des nüchternsten politischen Bewusstseins: Man glaubt für die Zukunft von frei handelnden Menschen etwas den eigenen Vorstellungen Entsprechendes bewirken zu können.24 Nun kann man sagen, dass auch der wirtschaftende Mensch, wenn er Güter für einen schwer überschaubaren Markt herstellt, auf die Kalkulation von Handlungsfolgen vertraut. Von ihm unterscheidet sich aber der politische Mensch durch eine weitere Ungeheuerlichkeit: Er nämlich stellt sich nicht nur die möglichen Reaktionen anderer Individuen vor, sondern er nimmt sie vorweg und macht sich zu deren Anwalt. Der Mensch als politisches Wesen spricht niemals

24 Ohne diese Voraussetzung wären beispielsweise die ökonomisch ansetzenden Theorien des Politischen von vornherein unzulänglich. Sowohl bei Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (engl. 1971), wie auch bei Nozick, Anarchy, State, and Utopia (1974) und Buchanan, The Limits of Liberty (1975) wird von der Prämisse der auch für andere wirksamen Realisierung eigener Vorstellungen ausgegangen.

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nur für sich allein. Er tritt prinzipiell als Stellvertreter anderer Individuen auf und verlangt unter Berufung auf übergeordnete reale oder fiktive Rechtspositionen die Erfüllung seiner Forderungen. Nach außen hin haben diese Forderungen notwendig allgemeinen Charakter. Ohne die emphatische Inanspruchnahme anderer Menschen kommt der Politiker gar nicht aus. Er muss sich auf den Bürger, auf alle Patrioten oder auf die Mehrheit der Bevölkerung berufen. Und in der Vertretung seiner Klientel greift er immer wieder zu den großen Vokabeln der Menschheit, der Vernunft oder des Rechts auf Leben, Frieden und Freiheit aller – seien es nun alle Mitglieder seiner Organisation, alle Angehörigen seines Staates oder auch alle Menschen. Würde der Politiker plötzlich erklären, eigentlich interessiere ihn nur sein privater Vorteil, wäre seine politische Existenz vernichtet und er wäre nichts als ein Privatmann. Vielleicht genügen diese knappen Hinweise, um wenigstens ahnen zu lassen, wie voraussetzungsvoll das politische Denken ist. Es geht von unerweisbaren Erwartungen über Handlungsfolgen aus und greift dabei auf hohe und höchste Einheiten vor. Es identifiziert sich, zumindest fiktiv, mit großen Gemeinschaften und erklärt sich für deren Erhaltung und Entfaltung verantwortlich. Es tritt, wie wir gerade heute bestens beobachten können, als Anwalt des Lebens auf. Das politische Bewusstsein ist seiner Struktur nach ein repräsentierendes Bewusstsein, es ist Stellvertretung in Permanenz. In seinen Äußerungen liegt stets die Aufforderung zum Mithandeln (oder zum Stillhalten) und vor allem das selbst gegen größte Misserfolge resistente Versprechen der Wirklichkeitsbewältigung. Der Politiker ist der leibhaftige Garant entweder dafür, dass alles anders und besser wird, oder dafür, dass alles so bleibt oder dass alles wieder so wird, wie es einmal war. Nachdem sich die festen Fronten zwischen Progressiven und Konservativen in der politischen Landschaft der Gegenwart längst aufgelöst haben, hat man sogar den Eindruck, dass manche Politiker das alles gleichzeitig wollen: im Festhalten an der Gegenwart die neue Zukunft in der Vergangenheit finden. Bei aller Konfusion in der politischen Programmatik bleiben aber einige Überzeugungen unverändert: dass nämlich von den eigenen Ansprüchen ausgegangen werden darf, dass Stellvertretung von Personen und Ideen möglich ist, dass Handeln letztlich im Interesse aller liegt und dass die Geschichte sich nach menschlichen Vorstellungen richtet. Man glaubt, die Wirklichkeit erkennen und bewältigen zu können. Keine dieser Überzeugungen ist empirisch beweisbar; bekannt ist nur, dass sie auch gegen größte Widerstände durchgehalten werden. Erkennbar ist ferner, dass sie mit äußeren Strukturmerkmalen des Politischen, mit der Tendenz zur Organisation, mit der Ausbildung von Öffentlichkeit, der Korrespondenz von Solidarisierung und Fraktionierung oder mit dem unstillbaren Bedürfnis nach Programmen sehr wohl zusammenstimmen. Diese Überzeugungen dürften daher zu den elementaren Voraussetzungen des politischen Bewusstseins gehören und auch von denen geteilt werden, die es im

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Sinne der klassischen politischen Philosophie für wert halten, über den Staat und die gesellschaftliche Ordnung nachzudenken.25 Die Strukturmerkmale des politischen Denkens verweisen auf einen Zusammenhang von Ich und Welt und damit auf eine Einheit von Theorie und Praxis, die viele durch den Prozess der neuzeitlichen Subjektivierung für längst zerstört und endgültig verloren halten. Joachim Ritter, der große Lehrer, dessen Todestag sich am 3. August 1984 zum zehnten Mal jährt und an den ich mit dem Titel meines Vortrags erinnern möchte, hat in seinen beispielhaften Studien zu Aristoteles und Hegel die aus dem Lebensvollzug in der antiken Polis entspringende Einheit von Theorie und Praxis aufgezeigt und zugleich am Beispiel der individualisierten Moralität und der sich isolierenden politischen Wissenschaft den Verlust dieser Einheit dargetan.26 Vielleicht sind die allein auf die Subjektivität des Selbstbewusstseins gegründeten Konzeptionen moderner wissenschaftlicher Theorie und moralischer Praxis tatsächlich unwiederbringlich aus dieser Einheit herausgefallen; die Einsamkeit, in die das Kriterium der Selbstgewissheit das theoretische Bewusstsein und in die das Prinzip der individuellen Freiheit das moralische Bewusstsein jeweils stürzen, könnte tatsächlich unaufhebbar sein. Doch mir scheint, dass im politischen Bewusstsein – auch unter modernen Handlungsbedingungen – diese Isolation gar nicht erst auftritt. Politisch handeln kann ich nicht allein. Der Bezug auf andere, damit auch auf das Leben und auf die Geschichte ist nicht nur faktisch gegeben, sondern er gehört zu den internen Bedingungen des politischen Kalküls. Die möglichen Aktionen und Reaktionen der anderen kommen nicht erst nachträglich ins Spiel. Und in dem konstitutiven Bezug auf das Mithandeln anderer ist immer auch ein sprachliches, auf Darstellung und Rechtfertigung gerichtetes Moment. Das politische Subjekt, so einsam es sich vor einer folgenreichen Entscheidung auch fühlen mag, ist niemals bloß bei sich selbst; es hat ein strukturell öffentliches Bewusstsein. Auch in diesem Bewusstsein sind Theorie und Praxis der Politik verbunden. Insofern teilt die politische Philosophie die Prämissen ihres Gegenstandes. In ihr begegnen sich die Antizipationen und Identifikationen, die den politischen Alltag bestimmen, auf allgemeinstem Niveau. Die auf das Ganze eines Erfahrungszusammenhangs bezogenen Handlungserwartungen legt die politische Philosophie nicht ab. Folglich ist sie metaphysisch ebenso befangen wie der Bürger, der gut daran tut, an den Sinn seiner Stimmabgabe, seiner Parteizugehörigkeit oder seiner Selbstverwaltungspflichten zu glauben. Das Mindeste, was eine Philosophie des Politischen zu leisten hätte, wäre, die uneingestandene Metaphysik der politischen Tat bewusst zu machen.

25 26

Vgl. dazu v. Verf., Philosophie und Politik. Vgl. Ritter, Metaphysik und Politik, insbes. S. 106 f. u. 281 ff.

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Vielleicht hätte ich vor einigen Jahren noch eine weitere Vortragsstunde benötigt, allein um die auf das Ganze des Lebens ausgreifende Macht des Politischen vor Augen zu führen. Doch die inzwischen jedem bewusste nukleare Bedrohung und die unübersehbaren Anzeichen einer globalen ökologischen Krise machen mittlerweile die Totalität des Politischen unmittelbar sinnfällig. Heute kann buchstäblich alles von einer politischen Entscheidung abhängen. Und gerade diejenigen, welche die denkbaren technisch-militärischen Katastrophen vorzugsweise mit biblischem Vokabular als die endgültig gewisse Apokalypse beschwören, drängen in die Politik, um das Unvermeidliche in letzter Sekunde doch noch abzuwenden. Kaum ein Vorgang in der Nachkriegsgeschichte demonstriert mit solcher Anschaulichkeit die auf die Politik gerichteten äußersten Erwartungen wie die parlamentarische Karriere derer, die ursprünglich nur Naturfreunde sein wollten und von denen auch heute noch mancher durchaus glaubwürdig versichert, er wolle nur friedlich, gesund und etwas ungezwungener leben. Es ist aber die Politik, die gesuchte politische Entscheidung, von der die Gewährung und Sicherung eines solchen oder eines anderen Lebens verlangt wird. Was ist es, das zu solchen Erwartungen berechtigt? Wodurch kommt die Politik in die Rolle einer alles entscheidenden Macht? Das ist eine Frage von metaphysischem Rang, die in jeder Theorie über Legitimation und Legitimität am Anfang zu stehen hätte. Ich werde hier nicht mehr versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Insofern weiche ich dem hohen Anspruch meines Themas aus. Mir genügt es in diesem Zusammenhang, darauf aufmerksam zu machen, dass die Frage nach den Bedingungen der politischen Welt zugleich die Frage nach deren Grenzen ist. Die Metaphysik als Versuch, die jeweils – im Handeln wie im Denken – wirksame Einheit von Ich und Welt begrifflich zu bestimmen, entdeckt gerade auch hinter den Totalisierungen und äußersten Erwartungen des politischen Bewusstseins Antriebskräfte, die nicht politischen Ursprungs sind. Die Politik ist nur eine Erscheinungsform des menschlichen Lebens. Aus der Tatsache, dass sie im Ernstfall über alles verfügen kann, darf man nicht schließen, dass sie uns auch alles bedeutet. Zu den Widersprüchen des zeitgenössischen Bewusstseins gehört, dass diese eigentlich selbstverständliche Einsicht öffentlich, vor allem in Erklärungen politischer Provenienz, bestritten wird, obgleich privat jeder nach ihr lebt. Selbst derjenige, der sich für die Politik opfert, tut dies nicht allein aus politischen Motiven; und wer nach totaler Herrschaft oder radikaler Änderung strebt, wird nicht ausschließlich politische Gründe dafür haben. Gerade in extremen Lagen werden die Grenzen des Politischen offenkundig, und die Frage ist, welche Konsequenzen sich daraus für die Theorie des Politischen ziehen lassen. Helmut Schelsky, der bedeutende Kollege, dem wir hier in Münster auch philosophisch viel verdanken, hat versucht, eine entsprechende Grenzerfahrung für

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die Theorie der Gesellschaft fruchtbar zu machen. Die Freiheit des Menschen gegenüber der Gesellschaft hat er als den „transzendentalen Standpunkt“ bezeichnet, von dem aus die Soziologie theoretisch zu begründen wäre.27 Den Begriff des Transzendentalen wollte er dabei nicht im Sinn einer „Apriori-Philosophie“ verstanden wissen; das Adjektiv „transzendental“ sollte lediglich anzeigen, in welchem grundsätzlichen Verhältnis empirische Analyse und universalisierende Theorie zueinander stehen. Schelsky hat bei dieser Einschätzung nicht beachtet, dass sich im Anschluss an Kant das Transzendentale als eben das erweist, was in der Reflexion auf Empirisches als die nichtempirische Ordnung des Empirischen hervortritt.28 Insofern lässt sich durchaus auch von Kant her ein transzendentales Bedingungsgefüge der soziologischen Erkenntnis aufzeigen, die, ähnlich wie die Erkenntnis der Natur, in erster Linie auf der nicht weiter begründbaren Fähigkeit des Menschen zu selbstbestimmten Handlungen beruht.29 Die Tatsache, dass sich diese Freiheit stets nur in Gesellschaft äußert, berührt nicht im Mindesten die Möglichkeit des Einzelnen, sich zur Gesellschaft als ganzer zu verhalten. Er kann sie bejahen, kann sich ihr verweigern oder kann versuchen, sie radikal zu verändern. Er kann sich auch darum bemühen, sie als ganze mit begrifflichen Mitteln, also z. B. in einer Theorie der Gesellschaft zu erfassen. Solche Manifestationen der Freiheit gehören nun aber nach Schelsky nicht zu den Randphänomenen des sozialen Lebens. In ihnen tritt vielmehr nur mit schärferen Konturen hervor, was die Gesellschaft überhaupt erst zu einer realitas sui generis macht: eben die ursprüngliche Freiheit des Individuums. Diese Freiheit schließt die Freiheit gegenüber der Gesellschaft ein, und sie äußert sich, so Schelsky, in der „Sinnfrage des Sozialen als Ganzen“. Der „unaufgebbare Versuch einer Lebens- und Weltsinndeutung“ richtet sich auch auf den „Sinn der ,Gesellschaft‘ und des sozialen Daseins überhaupt“ 30. Dieses isolierte Zitat könnte den Eindruck erwecken, es gehe dem Soziologen letztlich um eine Rückversicherung seiner Einzeldisziplin bei der philosophi27

Vgl. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, S. 98. Vgl. Prauss, Erscheinung bei Kant, S. 58 ff. (§§ 4–6); ders., Einführung in die Erkenntnistheorie. 29 Vgl. dazu v. Verf., Transzendentale Theorie der Gesellschaft; dazu kritisch: Weiß, Ist eine „Kantische“ Begründung der Soziologie möglich? Die Einwände von Johannes Weiß gehen, wie auch die im gleichen Band vorgetragenen Argumente von R. Bubner und R. Maurer, von einem eingeschränkten, m. E. bei Kant gar nicht vorgegebenen Begriff des Transzendentalen aus. Zutreffend erscheint mir dagegen das von Otfried Höffe explizierte Begriffsverständnis. Obgleich er Schelskys Überlegungen nicht erwähnt, nimmt Höffe in seinem Programm einer „transzendentalen Politik“ Einsichten Schelskys auf. Vgl. dazu Höffe, Transzendentale Ethik und transzendentale Politik; ders., Recht und Moral. Ob die von Höffe in Anspruch genommenen naturrechtlichen Elemente mit dem Programm einer transzendentalen Begründung überhaupt vereinbar sind, wäre zu prüfen. 30 Schelsky, Ortsbestimmung, S. 99. 28

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schen Tradition. Tatsächlich aber folgt die Aussage auf eine schneidende Absage an die überlieferte Philosophie. Unter dem steigenden Abstraktionsdruck der Fachwissenschaften, so lautet die Diagnose, sei die Philosophie nur noch ein „Konglomerat“ diverser Denkpositionen und somit „als Bezugspunkt für eine transzendentale Theorie der Gesellschaft völlig irreal“ 31. Es braucht uns hier nicht zu kümmern, ob Schelskys Diagnose zutrifft oder nicht. Auf unsere Frage ist es Antwort genug, dass der um die Begründung der Theorieansprüche seines Fachs bemühte Soziologe einen Weg für notwendig hält, der offenkundig in philosophische – um es deutlicher zu sagen: in metaphysische Problemstellungen mündet. Wer die einzelwissenschaftliche Suche nach der Wirklichkeit ernsthaft betreibt, kann den letzten Fragen nach der Natur seines Gegenstandes und nach dem Sinn seines Tuns nicht ausweichen. Darauf hat Schelsky auch in seiner späten Kritik an der Soziologie beharrt, ja man kann sagen, dass gerade sein Festhalten an einem umfassenden Begründungsanspruch zu seiner anti-soziologischen Wende geführt hat: Wenn die Handlungswissenschaften die Reflexion auf ihre immer auch praktischen Erkenntnisbedingungen unterlassen, geraten sie in Gefahr, nur noch Surrogate für die nach wie vor verlangte „Weltorientierung“ 32 anzubieten. Es kommt zur „Rückverlagerung der Heilskräfte von der Aussage zur Sache in die Herrschaftsdurchsetzung der Methode“. „Sinnverlust“, wohl nicht bloß das Symptom, sondern streng genommen auch die einzige Ursache der „Selbstentfremdung“ ist die Folge.33 Es hat keineswegs bloß persönliche oder lokale Gründe, wenn ich auf das Programm der transzendentalen Theorie der Gesellschaft abschließend so nachdrücklich hinweise. Dieses im Ansatz wohlbegründete, wenngleich begrifflich noch nicht ausgeführte Programm erlaubt signifikante Rückschlüsse auf Bedingungen, die auch eine Theorie des Politischen bewusst zu machen hätte. Die Beziehung zwischen Metaphysik und Politik wird dabei ganz von selbst thematisch. Erstens: Wie immer man den Begriff des Politischen auch definiert, er bleibt unvollständig, solange er nicht auf die Sinnfrage des Sozialen bezogen wird, denn politische Handlungen werden sich immer auch als praktizierte Antworten auf diese Sinnfrage deuten lassen. Dabei ist der politische Raum stets innerhalb des sozialen Feldes zu suchen, ohne dort jedoch auf festliegende Problembestände bezogen oder an bestimmte Handlungsträger gebunden zu sein. Der Staat, um nur das prominenteste Beispiel zu erwähnen, ist weder das einzige Objekt noch gar das einzige Subjekt politischen Handelns. Das Politische kann vielmehr überall dort entstehen, wo praktische Stellvertretung von Individuen unter Berufung auf eine größere Einheit behauptet wird, sofern diese Einheit als 31 32 33

Ebd., S. 98. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, S. 86. Schelsky, Ortsbestimmung, S. 94.

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durch Handlungen konstituiert begriffen werden kann. Die Einschränkung auf den Handlungscharakter der größeren Einheit ist geboten, will man politische Handlungen z. B. von ebenfalls auf Stellvertretung basierenden Leistungen im privaten oder im kultischen Kontext unterscheiden. Wer sich für seine Familie einsetzt, benötigt den Bezug auf eine umfassende Einheit eben nur unter politischen Bedingungen, und wer beansprucht, eine religiöse Gemeinschaft gegenüber ihrem Gott zu repräsentieren, wird niemals so weit gehen wollen, das göttliche Wesen vom menschlichen Willen abhängig zu machen. Doch diese Überlegungen führen bereits in einen anderen Bereich. Hier genügt die Einsicht, dass die Politik das Ganze des Lebens berührt und politische Orientierung nur im Zusammenhang einer Weltorientierung gelingen kann. Nicht zufällig erinnert Schelsky in seiner Kritik an der Soziologie an die unerlässliche, mit szientifischen Mitteln allein nicht zu leistende Weltorientierung des Menschen.34 Als eine Voraussetzung der Weltorientierung in der modernen Zivilisation galt ihm die „metaphysische Dauerreflexion“ der wissenschaftlichtechnischen Intelligenz. Die dauernd neu zu reflektierende Frage nach dem „Sinn des Menschen“ werde, so glaubte er 1961, „wohl die metaphysische Position sein, die die Selbstschöpfung des Menschen in der wissenschaftlichen Zivilisation am selbstverständlichsten begleitet“ 35. Zweitens: Ausgangspunkt des politischen Denkens ist seit Aristoteles die Selbsttätigkeit des freien Bürgers. Auch wenn die Selbstständigkeit des Einzelnen heute zahlreichen neuen Gefährdungen ausgesetzt ist, so ist sie doch nach wie vor die Basis jeder politischen Organisation. Der „betreute Mensch“, den Schelsky dem selbstständigen Menschen gegenübergestellt hat, kann nur so lange als politisches Subjekt gelten, wie er die ihm zustehenden politischen Rechte eigenverantwortlich wahrnimmt. Ohne die Selbstbestimmung des Individuums, dem prinzipiell alle Funktionen des common sense, das Selbstdenken, das Mitdenken und das zu seinen Konsequenzen stehende Denken,36 unterstellt werden müssen, lässt sich die Eigentümlichkeit des Politischen nicht begreifen. Folglich hat die Politische Philosophie die sinnkonstitutive Rolle des frei handelnden Subjekts zum Ausgangspunkt zu nehmen.

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Vgl. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, S. 80 ff. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961), S. 471. 36 Damit sind die drei Momente genannt, die nach Kant einen gesunden Menschenverstand ausmachen. Es sind auch diese drei Momente, die in einer Deutung des common sense im Hinblick auf eine politische Urteilskraft erhalten bleiben müssen. Es ist ein m. E. folgenschwerer Fehler, dass Ernst Vollrath bei seinen ansonsten verdienstvollen Bemühungen um eine „Rekonstruktion“ der politischen Urteilskraft lediglich das mittlere Moment, das An-der-Stelle-jedes-anderen-Denken, herausgreift. Damit fehlen seiner Theorie eben die Vermögen, die Kant mit dem Selbstdenken und dem Konsequent-Denken verbunden hat, nämlich Verstand und Vernunft. Vgl. Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, Kap. V. 35

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Auch dafür findet sich ein beachtenswerter systematischer Vorschlag bei Helmut Schelsky. Es ist der „personfunktionale Ansatz“ seiner Rechtssoziologie – ein gegen einseitig anthropologisch oder systemtheoretisch fundierte Verfahren gerichtetes Theoriemodell, das aber erst dann zur vollen Geltung gelangen kann, wenn es auf den politischen Raum als solchen bezogen wird. Schelsky hat selbst betont, dass die Verfolgung und Durchsetzung von personalen Rechten die „konsequenteste und konkrete Verbindung der Person zur Politik“ schaffen können. Damit meinte er Rechte, die der Person „ein Bild ihrer Selbstbestimmung (Autonomie und Integration) vor Augen halten und nicht nur partielle Interessen darstellen“ 37. Ich würde hier unter Berufung auf die Tradition des politischen Denkens und mit dem Hinweis auf neuere Forschungen38 weitergehen und sagen, dass in der Verfolgung und Durchsetzung personal verstandener Rechte der politische Raum überhaupt erst entsteht. Drittens: Eine Theorie des Politischen dürfte ihrem Gegenstand nur dann gerecht werden, wenn sie sich der mit Weltorientierung und Selbstbestimmung verbundenen politischen Rationalität auch methodisch verpflichtet. Das politische Kalkül ist durch Interessen bedingt und auf Erfolg angewiesen. Es hat stets nur eine säkulare Dimension, muss also von der Geschichte ausgehen und bleibt auf die Gegenwart auch dann noch bezogen, wenn es den antizipierten Ansprüchen kommender Zeiten gerecht zu werden versucht.39 Das Leben ist nicht nur das Element, sondern auch die Instanz des Politischen. So sehr die Politik durch moralische und ästhetische Prämissen bestimmt sein mag, so stark der personale oder nationale, der historische, kulturelle oder parteipolitische Identitätsanspruch auch vordringen mag, so viel religiöse und quasi-religiöse Erwartungen immer beiherspielenmögen: Die Logik der Politik bleibt an das Leben gebunden. Ihre Versprechen müssen sich in geschichtlicher Zeit erfüllen; ihre Rechnung hat im Diesseits aufzugehen.40 Hier liegt der Grund für ihren pragmatischen, auf Ausgleich, Anpassung und Geschäft angelegten Charakter, der in den Augen des Moralisten immer zwielichtig erscheinen wird. Das moralische Selbst kann sich unbedingten Forderungen aussetzen; die Politik aber bleibt sowohl in der Erhaltung wie in der Entfaltung des Lebens auf ein Maß bezogen, das immer wieder neu ermittelt werden muss. Nur im Hinblick auf das gemeinschaftlich zu bewältigende Dasein lassen 37 Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, S. 88. 38 Vgl. nur Nozick, Anarchy, State, and Utopia; Buchanan, The Limits of Liberty; Dworkin, Taking Rights Seriously; Gutmann, Liberal Equality; Connolly, Appearance and Reality in Politics; Nagel, Equality. 39 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 319 ff. (§ 44: Das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen). 40 Dazu v. Verf., Tod und Politik. Über eine grundlegende Bedingung der politischen Welt, in diesem Band, S. 103–123.

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sich Kompromiss- und Summierungsformeln rechtfertigen. Das Mehrheitsprinzip, das Regulativ der politischen Welt, hat hier seine Wurzeln, ebenso die politischen Tugenden wie Augenmaß, Leidenschaft und Verantwortlichkeit, die sich vom Standpunkt bloßer Vernunft nicht zureichend begründen lassen. Methodisch, so glaube ich, kann der politischen Welt nur durch ein Erkenntnisprinzip entsprochen werden, das, wie sie, auf Endlichkeit bezogen ist, ohne damit auf Allgemeinheit zu verzichten. Ich meine nicht das Verstehen, das zwar auch hinzugehört, aber zu eng ist, um die Erklärungsansprüche des politischen Wissens zu erfüllen. Ich denke vielmehr an die Erfahrung, die wir ja keineswegs auf die Gegenstände der Naturwissenschaft beschränken dürfen, sondern die auf alles zielt, was sich vermittels der Sinne begreifen lässt. Auch die Geschichte können wir uns nur durch Erfahrung erschließen. Die Vielfalt des für die Politik bedeutsamen psychologischen, soziologischen und ökonomischen Wissens kann uns nur Erfahrung eröffnen, eine Erkenntnisart, die mit dem Politischen auch gemein hat, dass sie auf die Gegenwart des Menschen nicht verzichten kann. Es war Helmut Schelsky, der das „Prinzip Erfahrung“ dem landläufigen „Prinzip Hoffnung“ entgegengestellt hat.41 Statt auf Eschatologie und spekulative Ontologeme wollte er das politische Handeln auf Geschichte und auf die Kenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge gründen. Das ausschlaggebende Kriterium für die Realisierung der pluralistischen Forderung nach „Frieden, Recht und Freiheit, Leistung und Hilfe“ 42 sollte der sozialen Realität entstammen. Das aber heißt: Das Maß des politischen Urteils muss sowohl auf vorurteilsfreier Beobachtung des gesellschaftlichen Lebens wie auch auf der persönlichen Anteilnahme an diesem Leben beruhen. Dabei lag es Schelsky fern, die politischen Hoffnungen, insbesondere die der Jugend zu blamieren. Über den jugendbewegten Hintergrund der Hoffnungs-Philosophie Blochs hat wohl niemand verständiger geschrieben als er.43 Es wäre ihm auch nicht in den Sinn gekommen, einem sozialwissenschaftlichen Positivismus das Wort zu reden. Ihm ging es um Erkenntnis der Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, der er sich selbst zurechnete. Deshalb war er auch an den Bedingungen und Folgen der Erkenntnis leidenschaftlich interessiert, ohne deshalb der Verführung nachzugeben, bequeme Wahrheiten zu suchen. Realitätssinn, Verantwortungsbewusstsein und der Anspruch auf Selbstverwirklichung lagen bei ihm nicht im Widerstreit. Sein Wirken ist exemplarisch für die These dieses Vortrags: Seine theoretische Arbeit war immer auch sein Beitrag zur Politik. Als Soziologe und politischer Theoretiker, als akademischer Lehrer und als streitbarer Publizist hat Schelsky nach der Maxime gehandelt, die konkreten Erscheinungen des Lebens ernst zu nehmen. Dieser Grundsatz ist schlechterdings 41 Vgl. Schelsky, Die Erfahrung vom Menschen; ders., Die Hoffnung Blochs, S. 229 f. 42 Schelsky, Die Hoffnung Blochs, S. 228. 43 Ebd., S. 110 ff.

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nicht bloß auf Sachverhalte oder auf Verhältnisse zu beziehen, sondern er schreibt vor, das Dasein und das Urteil der Mitmenschen zu achten. Auch in dieser Konsequenz wird deutlich, wie sehr das „Prinzip Erfahrung“ dem Wesen des Politischen entspricht. Es ist ein Prinzip, das gleichermaßen für die politische Theorie wie für das politische Handeln zu gelten hat. – Und ein Letztes kommt hinzu: Das Prinzip der Erfahrung, so viel wissen wir seit Kant, kann auf Metaphysik nicht verzichten, dürfte uns aber wohl am ehesten davor bewahren, auf metaphysische Abwege zu geraten.

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I. Systematische Studien zur Politischen Philosophie

– Ein philosophischer Begriff des Politischen, in: Neue Hefte für Philosophie 21 (1982), S. 35–46. – Probleme der Konstitution einer Philosophie des Politischen im deutschsprachigen Sprachraum, in: Philosophisches Jahrbuch 89 (1982), S. 225–246. Walzer, Michael: Philosophy and Democracy, in: Political Theory 9 (1981), S. 379– 399. Weiß, Johannes: Ist eine „Kantische“ Begründung der Soziologie möglich?, in: Henrich, Dieter (Hg.), Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie. Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981, Stuttgart 1983, S. 531–546. Williams, Bernard: Metaphysical Arguments, in: Baylis, Charles A. (Hg.), Metaphysics, New York 1965, S. 108–119. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe, Bd. 1), Frankf./M. 1984, S. 7–85.

Die Politik und das Leben1 Blickt man zurück auf die philosophische Tradition der Berliner HumboldtUniversität, dann fallen drei große Themen ins Auge, die nirgendwo sonst in Deutschland mit vergleichbarer Intensität bearbeitet wurden. Sie sind untereinander auf denkwürdige Weise systematisch verbunden, ohne dass ihr Zusammenhang jemals wirklich begriffen worden wäre. Das erste ist das Problem, das den Gründer dieser Universität bereits in seiner frühesten Zeit umtrieb, ein Problem, das dem ersten gewählten Rektor seinen offenkundigen und auch eingestandenen, aber gleichwohl systematisch verdrängten Ausgangspunkt bot und dem schließlich der bedeutendste Denker dieser Anstalt eine Fassung gab, in der es kaum noch zu erkennen ist – obgleich es doch in Zentrum seines Denkens steht. Ich spreche von Humboldt, Fichte und Hegel, und ihr gemeinsames, nur selten direkt thematisiertes und gleichwohl dominantes Problem ist das der Individualität. Nur wenige ihrer Zeitgenossen und Schüler haben dies erkannt. Schleiermacher ist auch hier die große Ausnahme; neben ihm ist allerdings auch noch einer der scharfsinnigsten Studenten dieser Hochschule, nämlich Kierkegaard, zu nennen; und vielleicht wäre die Weltgeschichte ein wenig anders verlaufen, wenn ein anderer berühmter Student der Berliner Universität das systematische Gewicht dieses Problems auch nur geahnt hätte. Sie wissen, wen ich meine? Den Doktor der Philosophie: Karl Marx. Doch es mussten erst Hermann Lotze und Wilhelm Dilthey kommen, um dem Problem der Individualität – hier in Berlin und überhaupt – eine systematische Fassung zu geben. Auf sie folgt Georg Simmel, der mit seiner nur scheinbar paradoxen Formel vom „individuellen Gesetz“ das Problem präziser stellt, aber leider noch nicht löst. Ein Teil einer Lösung könnte freilich in der – Allgemeinheit immer nur individuell vermittelnden – Leistung der symbolischen Formen Ernst Cassirers liegen. Das zweite große Problem der Berliner Universität ist unverhältnismäßig besser bekannt. Es hat sogar einer philosophischen Disziplin den Namen gegeben. Dabei ging freilich nicht selten sein Zusammenhang mit der Individualität verloren; lediglich in der Methodenreflexion über die Differenz von nomothetischem und idiographischem Verfahren hält sich eine Erinnerung daran, dass sich dieses zweite Problem gänzlich der Tatsache verdankt, dass es letztlich nur Individuen gibt: Gemeint ist das Problem der Geschichte. 1

Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin am 30. Juni 1993.

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Dass die Geschichte zu den beherrschenden Themen der alten Linden-Universität gehört, zählt zu den besser bekannten historischen Tatbeständen. Nach Hegels Tod, als sich seine Schüler längst damit begnügten, nur noch Geschichte der Philosophie zu betreiben, haben vor allem die Historiker selbst dazu beigetragen, das Problem der Geschichtlichkeit philosophisch zu entfalten. Ihnen folgt dann wiederum Dilthey mit seinem originellen Rückgriff auf Schleiermacher und Hegel. Alles, was die Gemüter bis heute unter dem Titel der Hermeneutik bewegt, ist hier vorgedacht. In den dritten großen Problemkreis fällt schließlich alles das, was Individuen und ihre Geschichte überhaupt erst ermöglicht. Es ist jenes alte Thema, das mit der Verdrängung des Aristotelismus durch den neuzeitlichen Rationalismus für die kurze Zeit von zwei, drei Jahrhunderten in eine philosophische Randlage gerät, aber unmittelbar vor der Debatte, die der Gründung dieser Universität vorausgeht, von dem überragenden Theoretiker der Rationalität, nämlich Immanuel Kant, wieder ins philosophische Blickfeld gerückt wird. Auch die weniger Eingeweihten unter den Hörern werden schon längst wissen, was gemeint ist, denn im Titel dieser Antrittsvorlesung habe ich schon alles verraten: Ich spreche vom Problem des Lebens. Wollte ich einen historischen Vortrag halten, könnte ich erzählen, wie schon zur Zeit Kants, für den das Leben die Fähigkeit ist, „aus einem innern princip zu handeln“2, der Begriff der Lebensphilosophie in Umlauf kommt; ich könnte schildern, wie sich die geistigen Väter dieser Universität: Schiller, Fichte, Schelling, Humboldt und Schleiermacher das Thema des Lebens zu eigen machen3 und wie Hegel den Geist als das sich allmählich selbst begreifende Leben vorstellt.4 Höchst kurzweilig könnte man von dem nach Hegels Tod auf den zweiten philosophischen Lehrstuhl berufenen Henrik Steffens berichten, der in seiner romantischen Naturphilosophie dem Leben die zentrale Stellung gibt und der mit phantastisch anschaulichen Schilderungen des ewigen Dramas der le2 Kant, Vorlesungen über Metaphysik (Metaphysik Volkmann), AA, Bd. 28, 1, S. 448 f. – Zu dieser besonders prägnanten Stelle gibt es zahlreiche Parallelen, so etwa: Träume eines Geistersehers, AA, Bd. 2, S. 327; Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA, Bd. 4, S. 544; Kritik der praktischen Vernunft, AA, Bd. 5, S. 9; Metaphysik der Sitten, AA, Bd. 6, S. 211. 3 In dieser Reihe ist Fichte wohl am weitesten gegangen, indem er das Bewusstsein, bei dem sein systematisches Denken ansetzt, als „formirtes Leben“ begreift und dabei behauptet, dass seine Wissenschaftslehre „die einzig mögliche Lebenslehre ist“. Siehe dazu seinen Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben (1806), S. 371. 4 Das sich selbst in seiner Endlichkeit wie in seiner Unendlichkeit begreifende Leben ist der Geist in seiner absoluten Idee und damit in seiner höchsten Form des sich wissenden Wissens (vgl. den Schlussabschnitt der Wissenschaft der Logik: Die absolute Idee). Man hat überhaupt nur dann eine Chance, die Selbstbewegung der absoluten Idee zu begreifen, wenn man sie als eine Selbstbewegung des Lebens zu fassen versteht.

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bendigen Natur das städtische Publikum scharenweise in die Hörsäle lockt. Sein aus der gleichen philosophischen Schule stammender Kollege, der Physiologe Johannes Müller, wendet sich dagegen dem Leben in nüchtern messender Untersuchung zu, gibt dadurch jedoch der Philosophie viel stärker nachwirkende Impulse, wie sich nicht nur bei seinen großen Schülern Virchow, Helmholtz und Du Bois-Reymond, sondern erneut an Lotze, Dilthey und Simmel zeigen ließe. Mit ihnen wären wir dann schon an der Schwelle jener modernen Lebensphilosophie, die sich im Anschluss an den berühmten, wenngleich hier nicht sonderlich erfolgreichen Berliner Privatdozenten Arthur Schopenhauer bis in die Mitte unseres Jahrhunderts behauptet hat. Nach Dilthey und Simmel hat dieses Denken an der Lindenuniversität nur noch ein verhaltenes Echo gefunden: Der weltläufige Alois Riehl, dem Mies van der Rohe auf Vermittlung von Walther Rathenau das erste Wohnhaus bauen durfte; der als bedeutender Editor zwischen Leibniz und Kant vermittelnde Benno Erdmann, der 1910 mit Riehl und Carl Stumpf hier in Berlin das Philosophische Institut begründet hat; dann eben jener Carl Stumpf, der ein bemerkenswerter philosophischer Kopf gewesen ist und dem wir sowohl die Musik- wie auch die Gestaltpsychologie verdanken; des Weiteren der zwischen Psychologie und Kunstwissenschaft geschäftig vermittelnde Max Dessoir, der die erste deutsche Gesellschaft für Ästhetik gründete; oder Ernst Troeltsch, der Religions-, Sozial- und Philosophiegeschichte verknüpfte, nach geschichtlich wirksamen, in der Lebenswelt verankerten ethischen Werten suchte und sich als parlamentarischer Staatssekretär unter dem legendären preußischen Kultusminister Becker5 hohe Ziele setzte, sie aber durch seinen plötzlichen Tod noch nicht einmal angehen konnte;6 und schließlich der erneut an Humboldt und Schleiermacher, vor allem aber an Goethes Lebensauffassung anknüpfende Eduard Spranger, der hier die Pädagogik begründete und im zerstörten Berlin des Jahres 1945 als vorerst letzter akademisch bestimmter Rektor die Handlungsfähigkeit der Universität gegenüber den Besatzungsmächten wiederherzustellen suchte. Alle Genannten waren Professoren der Philosophie an dieser Universität, und sie alle haben sich systematisch auf den Lebensprozess in uns und außer uns 5 Carl Heinrich Becker (1876–1933), Orientalist in Heidelberg, Hamburg, Bonn und Berlin, wo er 1921 und von 1925 bis 1930 als Kultusminister des Staates Preußen für eine weitgehende Reform der Hochschulen, für die Gründung der ersten Pädagogischen Akademien sowie für die Einrichtung der Deutschen Dichterakademie sorgte. 6 Vgl. dazu Drescher, Ernst Troeltsch, S. 419 ff.; zu seinem Versuch, Geschichte und Lebensprozess zu verknüpfen, vgl. ebd., 493 ff. Allerdings verfällt Troeltsch – wie viele seiner Zeitgenossen – auch in den Fehler, die produktiven Momente des Lebens in Gegensatz zur Vernunft zu bringen. Er laboriert sogar mit dem Versuch einer „irrationalistischen Logik“ (vgl. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, S. 49). Tatsächlich aber geht es ihm dabei um eine Logik des historischen Sinnverstehens, die eine Gleichrangigkeit von historischem Subjekt und historischem Gegenstand anerkennt.

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bezogen, ohne deshalb aber schon als „Lebensphilosophen“ gelten zu können. Sie repräsentieren vielmehr einen humanistischen Typus des Nachdenkens über das Leben, den es philosophisch wiederzuentdecken gilt. Wie wichtig es wäre, dies auch zu tun, könnte ein Blick auf die verwilderte Lebensphilosophie der zwanziger Jahre – auf Ludwig Klages, Alfred Schuler oder Oswald Spengler – lehren, auf jene Psychiker, Kosmiker und Apokalyptiker, die Stimmungen, aber keine Einsichten verbreiteten und die so mit dazu beitrugen, dass mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ein versprengter Anhänger dieser auf die dumpfen „germanischen“ Kräfte setzenden Richtung, nämlich Alfred Bäumler, auf einen Lehrstuhl dieser Universität gelangte.7 Dies hat dem Ruf der Berliner Universität schwer geschadet. Wer aber wissen wollte, wie noch vor 1945 von einem hier verbliebenen wahrhaft philosophischen Kopf über das Leben gedacht worden ist, der lese Nicolai Hartmanns Teleologisches Denken8, einen Text, an dem er nicht weit von hier noch im Luftschutzbunker schrieb, als dieser Saal in Flammen aufging und draußen die Lindenbäume wie Fackeln brannten. Es gäbe also viel zu erzählen, wenn dies eine historische Vorlesung wäre. Vielleicht aber ist auch im gerafften Überblick kenntlich geworden, dass wir dem Problem des Lebens an dieser Universität selbst dann nicht ausweichen könnten, wenn wir es durch den Rückzug auf das unvermeidlich starr und leblos werdende vergangene Leben – auf die Geschichte also – versuchen wollten. Denn von 1810 bis 1945 hat diese Universität im Leben ihr großes, wenn nicht sogar ihr größtes Thema. Damit ist allerdings nicht behauptet, dass alles – von Fichte und Hegel bis hin zu Spranger und Hartmann – unter den Titel der Lebensphilosophie fällt. Denn leider hat diese mit dem Werk Nietzsches und Bergsons verbundene Strömung des Denkens dem Begriff des Lebens eine affektive Grundstimmung gegeben, die es bis heute atmosphärisch umgibt: Das Leben gilt seitdem nicht länger als das, was es doch offensichtlich ist, nämlich als der Ursprung und die Bedingung aller spezifisch menschlichen Leistungen. Stattdessen wird es zu deren Widersacher umgewertet. Der Geist des Menschen – von Platon bis Hegel

7 Zum philosophischen Hintergrund der hier genannten Autoren sowie zum Kontext der Lebensphilosophie insgesamt verweise ich auf die historischen Teile der Darstellung von Fellmann, Lebensphilosophie. 8 Hartmann, Teleologisches Denken (1951). Das Manuskript wurde – nach der Angabe im Vorwort – im Oktober 1944 abgeschlossen. Hinweise auf nähere Umstände der Abfassung des Manuskripts verdanke ich Hans-Joachim Lieber, der noch im Februar 1945 als letzter Assistent Eduard Sprangers in Berlin eingestellt wurde und sich später als Marx- und Simmel-Interpret einen Namen machte, ehe er zum Rektor der Freien Universität Berlin gewählt wurde.

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das belebende Prinzip im menschlichen Gemüt9 – soll nicht länger als Ausdruck und Steigerung des Lebens verstanden werden. Jetzt wird der Geist zum Oppositionsführer gegen das Leben.10 Seitdem nennt man das Leben irrational und trägt diese Wertung sogar in die Übersetzung antiker Texte hinein.11 Dass es Irrtümer gibt, ist nicht sonderlich bemerkenswert, und dass auch Philosophen irren können, muss man nicht gleich in einer philosophischen Antrittsrede ausposaunen. Aber: Dass sich – gegen jede Überlieferung und gegen jede augenblicklich zu habende Einsicht – das gegenaufklärerische Vorurteil von der Irrationalität des Lebens bis heute gehalten hat,12 gehört zu den bedenklichen

9 Ich verwende hier eine schöne Formel Kants, mit der sich Hegel zwar ironisch auseinandersetzt, die er aber der Sache nach gelten lässt. 10 Ich verweise hier nur auf den programmatischen Buchtitel von Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele. „Geist“ steht hier für alle Erscheinungen des „logozentrierten“ – also vernünftigen und verständigen – Denkens, „Seele“ repräsentiert die „biozentrischen“ – leiblich-lebendigen – Vollzüge des Menschen. 11 So fortgesetzt Dirlmeier in seiner Aristoteles-Übertragung der Nikomachischen Ethik. Aus dem (noch) Nicht-Verständigen des álogon wird das prinzipiell Unverständige, ja Gegenvernünftige moderner Irrationalität. Man hat aber zwischen dem, das sich nicht in unserer Sprache (oder gar nicht) äußert – und insofern nicht verstanden werden kann –, und dem, was dem Verstehen – gleichsam wie ein Prinzip – entgegensteht, zu unterscheiden. So mag uns das Leben im Einzelnen wie im Ganzen unverständlich sein; in dieser Unverständlichkeit steht es dem Verstand und der Vernunft auch als Problem gegenüber. So hat es Dilthey gefasst, wenn er „Irrationalität“ mit „Unverständlichkeit“ gleichsetzte (vgl. Dilthey, System der Ethik, S. 78). Aber damit ist das Leben noch nicht zum Opponenten der Vernunft erklärt. Es bliebe dann auch ganz aussichtslos, das Leben und seine geschichtliche Entfaltung verstehen zu wollen. – Eine Opposition ergibt sich übrigens nur situativ, wenn bestimmte Affekte bestimmten Einsichten der Vernunft entgegenstehen. Ein Wutanfall kann einer vernünftigen Absicht diametral entgegensehen. Aber es entspräche einer unzulässigen Verkürzung des Lebensbegriffs, wollte man nur die Wut – und nicht auch die Einsicht – dem Lebensprozess zurechnen. 12 Georg Lukács lieferte mit Die Zerstörung der Vernunft (1954) die bis heute nachwirkenden Stichworte. Nach seiner Deutung steigert die philosophische Beschäftigung mit dem Leben die Irrtümer der bürgerlichen Philosophie ins Absurde. Bereits Diltheys philosophische Hinwendung zum Leben veranlasst ihn zu dem verächtlichen Urteil: „[. . .] das Wesen der Lebensphilosophie besteht in dem Umschlagen des Agnostizismus in Mystik, des subjektiven Idealismus in die Pseudoobjektivität des Mythos.“ (Die Zerstörung der Vernunft, S. 97) Wie stark dieses Urteil fortgewirkt hat, zeigt Kapferer, Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945– 1988. Insbesondere in der jüngeren Philosophiegeschichtsschreibung der HumboldtUniversität ist das Verdikt von Georg Lukács gegenwärtig. Ich verweise nur auf Schölzel, Philosophie an der Humboldt-Universität nach 1848; Klein, Humboldt-Universität zu Berlin. Dort, wo man der naturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Leben näher steht, wird einfach behauptet, die Philosophen (gemeint sind vor allem: Schopenhauer, Nietzsche und Dilthey) hätten den Begriff des Lebens „unter Ausklammerung seiner wissenschaftlichen Dimension bestimmt“, und schon ist geklärt, warum „der philosophische Irrationalismus und Antihumanismus zum bestimmenden Thema im spätbürgerlichen Weltanschauungsdenken wurde“. Dies meint jedenfalls Mocek, Wissenschaftliche Denkkultur und spätbürgerliche Philosophie, S. 65 f.

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Tatbeständen, von denen man nicht schweigen darf. Hier haben wir einen echten Skandal der Philosophie. Denn nicht genug, dass so das Leben in Verruf gerät; viel schlimmer ist, dass sich auch die Vernunft blamiert und mit ihr die einzige Instanz, die uns als Menschen in ein verständiges und einvernehmliches Verhältnis zum Leben bringen kann. Mehr noch: Es gibt eine ursprüngliche Einsichtigkeit unseres Lebens, die wir uns zwar nur mit Hilfe vernunftgeleiteter Selbstreflexion klar machen können, der wir aber gerade in dieser Selbstreflexion zugestehen müssen, dass sie unserer Vernunft zugrunde liegt. Mit der Behauptung einer Irrationalität des Lebens leugnet der Kopf den Körper, der ihn trägt. Diese kaum noch verschämt zu nennende Selbstverleugnung des Lebens reicht bis in unsere Gegenwart. Denn obgleich mit Camus, Sartre und Heidegger die letzten bemerkenswerten Nachfahren der Lebensphilosophie längst abgetreten sind, wird heute sogar ausdrücklich im Namen der Vernunft vor der Irrationalität des Lebens gewarnt. Man lässt es allenfalls in der soziologisch imprägnierten Fassung der „Lebenswelt“ zu,13 nimmt ihm damit aber gerade das, was es für uns als die uns gleichermaßen von außen wie von innen antreibende Dynamik bedeutet. Und welche beschämende Inkonsequenz darin liegt, vom Leben philosophisch erst gar nicht zu reden, wird offenkundig, wenn nur erkannt ist, dass auch das Schweigen mindestens eines ist: nämlich eine Äußerung des Lebens. Für das Reden gilt das natürlich ganz analog. Auch wenn es Ihnen noch so unwahrscheinlich vorkommen mag: Selbst diese Antrittsvorlesung ist ein lebendiger Vorgang. Der Marxismus des 20. Jahrhunderts hat es sich bekanntlich im Umgang mit dem Leben besonders leicht gemacht. Dies gilt auch für seine philosophischen Apologeten. Und vielleicht konnte ihn das Leben nur deshalb praktisch so schnell überholen, weil er ihm theoretisch so wenig Beachtung schenkte. Möglich auch, dass sich die Lehre von Karl Marx gar nicht erst in jenen bekenntniswütigen Fundamentalismus verrannt hätte, wäre wirklich klar gewesen, dass auch sie nie etwas anderes hätte sein und werden können als eben eine – Erscheinung des Lebens.14 Jenes hier gleich schräg gegenüber noch von Marxist zu Marxist gesprochene und nunmehr weltweit verbreitete geflügelte Wort „Wer 13 Im Werk von Jürgen Habermas finden sich hierfür zahlreiche Belege. In seinem jüngsten Buch (Faktizität und Geltung [1992]) ist von der Lebenswelt des Menschen sehr viel, aber vom Leben gar nicht die Rede. 14 In den alten Kampfliedern der kommunistischen Bewegung, die manches mit dem Elan der Jugendbewegung gemeinsam haben, ist davon noch etwas zu spüren. Die Anreden „Bruder“ und „Genosse“ lassen ebenfalls etwas von dem emphatischen Lebenselement eben der „Bewegung“ spüren. In der Praxis und Theorie des Marxismus im 20. Jahrhundert ist aber wenig von dem Pathos geblieben, dem Karl Liebknecht noch den folgenden Ausspruch verlieh: „Spartacus Niederungen./Oh Gemacht!/Wir sind da und bleiben da./Leben wird unser Programm!“ (zitiert nach einer Inschrift vor dem Ernst Thälmann-Stadion in Potsdam).

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zu spät kommt, den bestraft das Leben“ kam nämlich nicht nur für die Praktiker, sondern auch für die Theoretiker um Jahre zu spät. Doch lassen wir für einen Moment die Geschichte auf sich beruhen! Konzentrieren wir uns auf das eigentliche Geschäft der Philosophie und bedenken wir das Problem, das sich uns mit dem Leben stellt. Bedenken wir aus nahe liegenden Gründen nur diesen einfachen Satz Gorbatschows: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“15 Was gemeint ist, dürfte jedem unmittelbar verständlich sein. 1989 konnte man zwar manchen treffen, der diesen Satz ungerecht, überheblich oder auch einfach deplaziert fand. Aber ich kann mich an niemanden erinnern, der ihn nicht verstanden hätte. Und so behaupte ich jetzt, dass jeder, der diesen schlichten Satz versteht, auch meine These von der ursprünglichen Einsichtigkeit des Lebens verständlich finden wird. Was also sagt er uns über das Leben? Jedem ist klar, dass die Strafen, die das Leben verhängt, weder auf Gerichtsurteile noch auf Gefängnisse angewiesen sind. Zwar können sie auch von einem Richter verkündet und hinter Gittern abgesessen werden; aber das ist nicht wesentlich für sie. „Vom Leben bestraft“ nennen wir jeden, der ein ausnehmend schweres Schicksal hat, ganz gleich, ob es ihn in Rechtshändel verwickelt oder in Gefangenschaft bringt. Dabei setzen wir immer schon voraus, dass menschliches Leben allemal mühselig und beladen ist und dass es umso beschwerlicher wird, je mehr die Lebenskurve sich zum Ende neigt. Aber die Tatsache, dass wir sterben müssen, rechnen wir seltsamerweise nicht zu den Strafen des Daseins. Im Mythos gibt es zwar die Klage darüber, dass wir überhaupt geboren werden; doch sie wird einem Halbgott abgepresst;16 bei einem Menschen klänge sie a priori unglaubwürdig. Die Anfälligkeit unserer Natur, die Verletzbarkeit unseres Körpers und die Verletzlichkeit unserer Seele passen ebenfalls nicht so recht in ein Strafgesetzbuch des Lebens. Sie sind nur die Kehrseite unserer Reizempfänglichkeit, der wir alles verdanken, worauf sich 15 In wörtlicher Übersetzung lautet der von Gorbatschow am 6. Oktober 1989 vor der Neuen Wache in Berlin gesprochene Satz: „Es ist gefährlich für den, welcher nicht auf das Leben (z˘izn) reagiert.“ Das Zeitmoment, auf das die Verspätung abhebt, ist hier also nur verdeckt angesprochen; umso stärker tritt das strukturell zum Leben gehörende Moment der Gefährdung hervor. – Für den Hinweis auf die Originalfassung des Gorbatschow-Worts danke ich Herrn Dr. Steffan Wolle. 16 Nietzsche erzählt die mythische Begebenheit so: „Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem Weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: ,Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben‘.“ (Nietzsche, Geburt der Tragödie, KSA, Bd. 1, S. 35)

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Gefühle und Begriffe richten können. Sogar die drückende Last der immer wiederkehrenden Bedürfnisse, mitsamt der stets nur kurzfristig aufzuschiebenden Notdurft, mögen wir zwar – bei fehlenden Mitteln und knapper Zeit – ein Ärgernis nennen; aber eine Strafe liegt darin nicht. Denn offenkundig haben wir in alledem auch den Ursprung unserer Lust. Die aber pulsiert in unserem Bewusstsein so unvermeidlich wie das Blut in unseren Adern. Bis in die höchsten geistigen Regungen hinein sind wir durch die Oszillation von Lust und Unlust, von Erregung und Ermüdung, von Aufmerksamkeit und Ablenkung bestimmt. Alles dies sind basale Vorgaben des Organismus, die von keiner Gesellschaft produziert und von keinem Geist kreiert werden müssen. Vielmehr ist alles, was Gesellschaften beschäftigt und Geister umtreibt, auch nur ein Ausdruck jener grundlegenden Dynamik des Lebens, in der unser Dasein entsteht und vergeht. Und ich kenne niemanden, der in dieser uns – innen wie außen – vollständig tragenden und treibenden Kraft einen Anlass sieht, dem Leben einen Vorwurf zu machen. So weit geht noch nicht einmal Schopenhauer. Denn die treibende Kraft des Lebens, das, was er „Willen“ nennt, nimmt er von seinem Bannfluch auf das individuelle Leben aus. Deshalb überzeugt es auch nicht, wenn er in unserem lebendigen Dasein nicht mehr erkennen will als einen leibhaftigen Strafvollzug.17 Es ist vielmehr so, dass wir uns durchgängig mit unserer Lebendigkeit einig wissen. Ja, wir identifizieren uns mit nichts so sehr wie gerade mit dem an uns selbst erfahrenen Leben. Wenn wir zum Beispiel Wert darauf legen, uns als Individuen zu begreifen, so machen wir uns lediglich eine elementare Eigenschaft des Lebens zu eigen. Denn das Leben ist es, das nur in der Form sich abschließender, durch eine Zellwand die Trennung zwischen Innen und Außen erst schaffender Individualität vorkommt. Die mit dieser Differenzierung von Innenwelt und Außenwelt ebenfalls erst entstehende, jeweils von innen kommende Dynamik des Lebens haben wir so gründlich internalisiert, dass wir den Geist gar nicht anders denken können denn als eine uns von innen her treibende Kraft. Wenn wir begeistert sind, empfinden wir uns in besonderer Übereinstimmung mit unseren lebendigen Kräften. Und es sollte uns zu denken geben, dass wir ausgerechnet dieses Signum bewusster Lebendigkeit unserem Geist, also dem Integral unserer intellektuellen Fähigkeiten, zuschreiben. Nur weil dies so ist, glauben wir, einen Sinn mit der Erwartung auf ein „ewiges Leben“ verbinden zu können, und sehen keinen Widerspruch darin, in Gott gleichermaßen den Geist wie auch das Leben zu suchen.18 17 Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, § 29: Das „Wesen des Willens“, nämlich das „endlose Streben“, kann gar nicht verneint werden. Die „Quaal des Wollens“ (§ 38) entsteht erst unter dem Druck individueller Zwecksetzung (S. 195 u. 231).

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Das sind nur Beispiele für unsere restlose Integration in das Leben. Andere, die nicht auf die scheinbar herausragenden Leistungen unseres Intellekts bezogen sind, würden dies noch deutlicher machen: so etwa die vom Rhythmus des Lebens vorgegebene Periodisierung aller unserer Vollzüge oder die mit der Akzeptanz der Individualität hingenommene Zentrierung auf ein von innen steuerndes Selbst.19 Schließlich ist unsere selbstverständliche Einbindung in den Fluss der Zeit ein unübersehbares Datum unserer vollständigen Einfügung in das sich ständig verändernde und gleichwohl eindeutige Zuordnung verlangende Puzzle des Lebens. Denn nur Lebendiges entsteht, wächst und vergeht; nur das Leben ist – durch seine Bedürftigkeit – auf Kommendes ausgerichtet; und so haben wir nur aus ihm die unverwüstliche Erwartung einer aus der Gegenwart hervortretenden, das Vergangene zurücklassenden, nur zur Zukunft hin offenen Zeit. Wenn wir nun alles dies nicht als Strafe empfinden: Was kann jene Redensart, jemand sei vom Leben bestraft worden, dann noch besagen? Sie zeigt an, dass der Mensch ein Verhältnis zum Leben gewinnen kann. Er vermag Erwartungen auszudrücken und Enttäuschungen zu formulieren. Zwar steht er in allem mitten im Leben, und doch verhält er sich exzentrisch zu ihm. Er erkennt typische Verläufe, schließt auf unabänderliche Notwendigkeiten, weiß, wie lange ein Leben durchschnittlich dauert, welches Minimum es benötigt, wann es sich gut entfaltet und was schmerzhaft und tödlich für es ist. So kommt es zu Vorstellungen von der durchschnittlichen Belastbarkeit und von der üblichen Qualität eines Lebens. Daraus wird dann der Begriff vom normalen Leben, das Maß für das, was alltäglich zu erwarten ist. Alles, was davon positiv abweicht, nennen wir ein großes Glück. Die bedauernswerte Abweichung zum Schlechteren aber wird Unglück, schweres Schicksal oder eben 18 Unsere intellektuellen Fähigkeiten sind hier nur deshalb so erwähnenswert, weil wir uns in ihnen am ehesten dem Leben enthoben dünken. In allen anderen Leistungen ist uns sowieso bewusst, dass sie ein Element des Lebens sind. Die Empfindungen und Gefühle, sie mögen noch so kultiviert und gekünstelt sein, rechnen wir ohnehin der Sphäre des Lebens zu. – Dilthey, der das „Schema des Lebewesens“ in der unablässigen Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Eindruck und Reaktion benannte, hat mir wenigen Strichen skizziert, wie sich denken lässt, dass aus den einfachen Vorgängen der Erhaltung, Fortpflanzung und Steigerung komplexere geistige Gebilde entstehen: „Indem nun aber durch die Beziehungen der Empfindungen in Wahrnehmung und Denken die Erfassung der Außenwelt gründlicher, durch die Beziehungen der Gefühle und Triebe die Wertabschätzung ebenfalls über das Momentane und Partikulare sich erhebt, wird die Anpassung zwischen dem Individuum und seinem Milieu in dem Zusammenhang der Lebewesen immer vollkommener und damit steigert sich die psychische Zweckmäßigkeit in demselben. Diese ist auch in den höchsten Gebilden des geschichtlichen Lebens immer die Grundstruktur aller Lebendigkeit. Jedes Rätsel geschichtlicher Leistung und Existenz kann immer nur auf der Grundlage dieses biologischen Grundplans von psychischem Dasein ausgelöst werden.“ (Dilthey, System der Ethik, S. 49 f.) 19 Wir verstehen uns nicht wie das Land, die Luft oder das Meer, können uns aber, wie uns die Dichter zeigen, sehr wohl als Baum unter Bäumen, als Vogel im Flug oder wie ein Fisch im Wasser fühlen.

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auch: Strafe genannt. Dieser Sprachgebrauch hält sich, obwohl wir den früher damit gewiss verbundenen Glauben an eine absichtlich strafende Instanz längst fallen gelassen haben. Doch wir haben nicht nur ein theoretisch vergleichendes Verhältnis zum Leben. Indem wir leben, verhalten wir uns auch praktisch zu ihm. Und indem wir ein – wie immer auch begrenztes – Wissen vom Leben haben, steht dieses praktische Verhältnis unter begrifflichen Ansprüchen. Den elementarsten Anspruch aber, den wir an das Leben stellen, haben wir aus ihm selbst: Wir wollen unser eigenes Leben führen.20 Bei dieser vom Leben vorgegebenen Separierung des individuellen Lebensanspruchs vom Lebensganzen stellt sich ein Anspruch ganz von selber ein, und auf ihn bezieht sich Gorbatschows berühmt gewordener Spruch: Es ist die bewusste Teilnahme am Leben. Wir wollen, was wir müssen: Wir wollen dabei sein. Uns liegt an der Präsenz und an der aktuellen Entfaltung unserer Kräfte. Deshalb wollen wir gesund und auf der Höhe unserer Kräfte bleiben und wünschen in allem, was wir tun, ins Leben zu passen. Und nur, wenn uns dies gelingt, können wir auch etwas erreichen, das unseren Ansprüchen genügt. Wenn wir dies aber wirklich wollen, dürfen wir uns nicht verspäten. Das Leben geht weiter – das erfahren wir nach guten wie nach bösen Stunden besonders schmerzlich oder tröstlich –, und da kann es verhängnisvoll sein, wenn einer den Anschluss verpasst. Darin liegt eine bittere Wahrheit für jeden, der den richtigen Zeitpunkt versäumt und nun keine Gelegenheit oder keine Kraft mehr hat, sich zu beeilen. Da es in der Tat das Leben ist, das uns den Zeittakt vorgibt, hat die unbequeme Wahrheit überdies einen tiefen Sinn. Denn nur im Leben können wir jemanden treffen oder verfehlen; nur hier kommt etwas zur rechten oder zur falschen Zeit; nur hier verfügen wir über die zweifelhafte Disposition, überhaupt etwas als Lohn oder Strafe empfinden zu können. Diese wenigen Bemerkungen müssen genügen, um immerhin einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sehr wir mit allen unseren menschlichen Leistungen ins Leben eingelassen sind. Es reicht daher keineswegs aus, den Lebensprozess nur als die neutrale Vorbedingung unseres unter spezifisch menschlichen Wertungen vollzogenen Handelns anzusehen. Es ist zu wenig, wenn wir sagen, das Leben liege unserer Vernunft (genetisch) voraus und könne daher weder rational noch irrational genannt werden.21 Vielmehr geht schon in unser Verständnis der Rationalität jene basale Einstimmigkeit ein, auf die wir im Wollen wie im Wünschen zielen und für die wir Kriterien nur aus dem an uns selbst erfahrenen Leben haben. Ehe wir den Wert konsensueller Vereinbarungen schätzen können, 20

Vgl. dazu vom Verf., Selbstbestimmung. Diese Position, die ich selbst auch eine Weile vertreten habe, ist jetzt erst wieder von Martin Seel in seinem Vortrag auf dem Stuttgarter Hegel-Kongress 1993 vertreten worden (vgl. Seel, Wie ist rationale Lebensführung möglich?). 21

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brauchen wir zumindest die Vorstellung von einer beruhigenden Übereinstimmung mit uns selbst.22 Hinzu kommt, dass die einsichtigen Gründe, die nur unsere Vernunft befriedigen und die deshalb den Ausgangspunkt eines jeden Anspruchs auf rationales Handeln bilden, ihre Wurzel selbst nur im Funktionskreis befriedigter Bedürfnisse haben. In Sättigung und Erfüllung beruhigt sich das individuelle Leben für eine Zeit lang bei sich selbst. Und dort, wo das entwickelte Leben dahin gelangt, dass es nicht nur einen Begriff von sich selbst entwirft, sondern sich mit diesem Begriff selbst unter Ansprüche stellt, die es glaubt, auch begrifflich ausweisen zu können, da nimmt es Stand auf dem Boden der Vernunft. Der kann sich aber – auch nach dem Selbstverständnis des sich so zeitweilig als vernünftig begreifenden Wesens – nirgendwo anders befinden als auf dem uns so fest erscheinenden Boden dieser Erde. Ich gestehe ein, dass diese Schlussfolgerung voreilig anmuten kann. Aber sie ist alles andere als neu. Denn es gibt ein philosophisches Terrain, auf dem sie schon lange als so verlässlich angesehen wird, dass man ganze Theorien daran knüpft – Theorien, die wir als so selbstverständlich hinnehmen, dass wir ihren theoretischen Charakter allererst entdecken müssen. Ich meine die philosophische Theorie der Politik. Die erste ausgearbeitete philosophische Theorie der Politik, die uns überliefert ist, nimmt ihren Ausgangspunkt, als sei dies natürlich, bei dem entwickelten und sich zunehmend unter Ansprüche stellenden menschlichen Leben. Es ist niemand anderes als Platon, der in seinen immer wieder neu ansetzenden Überlegungen zur Politik den Lebenshintergrund des gemeinschaftlichen Handelns mit starken Farben ausmalt. Und er lässt in seinem frühesten politischen Text auch keinen Zweifel daran, auf welche Frage er eine Antwort sucht. Sie lautet: „Wie nun aber leben?“23 In der Politeia lässt Platon das politische Gemeinwesen allmählich aus einem sich – nach innen wie nach außen – immer reicher entfaltenden gesellschaftlichen Lebenszusammenhang entstehen, der dem später von Hegel charakterisierten „System der Bedürfnisse“ bereits sehr ähnlich sieht.24 Am Anfang gibt es nur die einfachen Verrichtungen der Feldarbeit und die Aufzucht der Tiere. Dann aber kommen verschiedene Handwerke hinzu, die das Bedürfnis nach Tausch von Gütern verstärken und mit zunehmender Spezialisierung auch einen weiter ausgreifenden Handel notwendig machen. Der wiederum zieht weitere 22 Dies ist, wenn wir Augustinus folgen, der Frieden (pax), den jedes Lebewesen anstrebt, selbst wenn es sich gerade in den Krieg begibt. Siehe dazu auch in Platons Nomoi den Beweis, dass wir nicht handlungsfähig sind, wenn wir ständig mit uns selbst im Kriegszustand leben. 23 Ti d’an to zén (Politeia 353 a). 24 Vgl. dazu Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 189–208; Platon, Politeia 368 b ff.

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Spezialisten für den „gegenseitigen Verkehr“25 und für das üppiger werdende Leben nach sich; also kommen Fachleute für Hausgerät, ausgefallene Speisen, Salben und Räucherwerk hinzu, Künstler und Freudenmädchen stellen sich ein und mit ihnen viele andere, die sich um eine große Stadt verdient machen. Erst sehr, sehr spät, wenn schließlich sogar so luxuriöse Berufe wie die von Putzmachern, Goldschmieden, Ammen, ja sogar Lehrern unumgänglich geworden sind, wird aus der Ansammlung von Menschen eine Polis im eigentlichen Sinn. Man braucht Spezialisten für die innere und äußere Sicherheit, die wiederum die Leitung des Ganzen zu beraten und so auszuführen haben, als stünde die ganze lebendige Vielfalt der Stadt unter einem Willen. Erst mit dieser Fiktion eines einheitlichen Willens entsteht die Politik. Sie bildet für das soziale Ganze nur das nach, was jeder Einzelne für sich schon in seiner individuellen Lebensführung unterstellt, nämlich: dass da eine leibliche Einheit nach eigener Einsicht und eigenem Willen handelt. Auch diese schlechterdings unverzichtbare Fiktion der Selbstbestimmung ist eine im zentrierten organischen Zusammenspiel des Lebens angelegte Leistung des Leibes, von der die Antike sehr wohl wusste. Erinnern wir uns nur an die mit Blick auf ein Musikinstrument sofort verständliche Metapher von der Seele als der Harmonie des Körpers.26 Vor diesem aus dem Lebenszusammenhang von Individuen gebildeten Hintergrund erscheint die Polis, wie Platon sagt, als der „in großen Buchstaben geschriebene“ Mensch.27 Eine Handlungsform, genauer: eine so nur vom Menschen her bekannte Selbststeuerungsleistung des Lebens wird ins Große gerechnet und selbst wiederum wie ein sich selbst steuernder Organismus begriffen. So verstehen wir die Politik noch heute, wenn wir von der Regierung28 oder vom Staatsoberhaupt, vom Arm des Gesetzes oder auch nur von Berlin als Hauptstadt sprechen. Mit welchem Nachdruck Platon diesen Begriff der Politik in seinem Naturzusammenhang belässt, gibt er im Politikos zu erkennen, in einem Dialog, der für die politische Theoriebildung ungleich wichtiger ist als die Politeia und die Nomoi und der leider von den Interpreten nur wenig beachtet wird. Vermutlich irritiert die ironische Einfärbung der Beweisführung, obgleich sie wie kaum ein anderes Stilmittel geeignet ist, die Ambivalenz des politischen Wissens aufzudecken. Der These des Dialogs wird damit aber nichts von ihrer Aussagekraft

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Politeia 372 a. So steht es schon in Platons Timaios. Eine der nüchternsten Aussagen über die Eigenart der Seele findet sich in einer methodologischen Aussage Platons: „Denn das Unkörperliche (ta asómata) als das Größte und Schönste wird nur durch Erklärung und auf keine andere Weise deutlich gezeigt.“ (Politikos 286 a). 27 Politeia 368 d. 28 „Regierung“ kommt von lat. rex, regis, also von „König“, der von einer erhobenen Position aus lenkt. 26

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genommen: Die Polis ist der Ort, „wo es auf die Anordnung des gesamten Lebens ankommt“29. Entscheidend ist hier die „Anordnung“ (paraskeué). Die Politik ist nicht etwa der Produzent oder der Garant des gesamten Lebens. Sie lenkt und ordnet nur – soweit sie es eben versteht. Deshalb legt Platon so großes Gewicht auf das Wissen, das bei ihm freilich die Urteilskraft30 und damit auch den Sinn für den richtigen Augenblick (kairós)31 einschließt. Die „den Staat vorzüglich besorgende Staatskunst“ 32, zu der dieses Wissen schließlich befähigt, erlaubt aber nicht mehr als – und nun bitte ich Sie herzlich, noch einmal genau hinzuhören: Sie erlaubt nicht mehr als die „Hütung der menschlichen Herde“. Das ist die älteste und, wie ich glaube, nicht nur nach wie vor gültige, sondern in ihrer Bedeutung eigentlich erst heute angemessen einzuschätzende, wenn auch nur metaphorisch umschriebene Aufgabenstellung der Politik: Platon nennt sie die „freiwillige Herdenwartung aber über freiwillige, zweibeinige, lebendige Wesen“33.Wie die Ackerbauern, Köche und Ärzte haben auch die Politiker für die „Erhaltung der Menschen zu sorgen“34. Allerdings ist ihre „menschenhütende Kunst“35 auf das Ganze einer Gemeinschaft bezogen, der der Politiker selbst mit seiner ganzen Existenz zugehört.36 Erst dadurch wird die Politik zu einer „selbstgebietenden Kunst“37, die aber in allem, was sie tut, nie weiter kommt, als „über das Lebendige zu herrschen“38. Wie radikal Platon diese menschliche Selbstverfügung des Lebens über sich selbst verstanden wissen will, macht er in einem raffiniert erfundenen Mythos klar, der den Göttern zwar die Gesamtzuständigkeit über die Welt belässt, die Politik aber prinzipiell in eine Epoche fallen lässt, in der die Menschen für ihr Geschick allein verantwortlich sind. Ganz gleich, wie es um die Zuständigkeit für den Kosmos beschaffen sein mag: Solange der Mensch genötigt ist, politisch zu handeln, hat er selbst für sein Dasein zu sorgen: Weil die „Obhut der

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Peri holén [. . .] ten tou zén paraskenen. (Politikos 307 d/e) Vgl. Platon, Politikos 284 a/b: Der wahrhaft Kundige in den politischen Dingen versteht sich auf das Angemessene (to métron), das auch mit Rücksicht auf seine Entstehung zu erfassen ist. 31 Platon, Siebenter Brief 326a. 32 Ten tes póleos (malista epimelouménen) politikén . . . (Politikos 279 e). 33 Platon, Politikos 276 e. 34 thz troohz Ýpimelountai thz Ünqrwtßnhz (Politikos 268 a). 35 thz Ünqrwponomikhz dhlwqeßshz tÝxnhz (Politikos 266 e). 36 Auf diese Zugehörigkeit des Politikers zu dem von ihm regierten Gemeinwesen kommt es Platon nachdrücklich an (vgl. Politikos 266 c/d). 37 h aýtepitaktikh (Politikos 260 e). 38 Sie ist die „über das Lebendige gebietende“ Kunst: „[. . .] perß ta zþa Ýpitaktikün“ (Politikos 261 c). 30

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Götter“ fehlt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als „sich selbst zu führen und selbst für sich Sorge zu tragen“39. In politischen Zusammenhängen gilt also bereits für Platon, dass der Mensch erst dann beten soll, wenn er zuvor alles getan hat, was in seinen eigenen Kräften steht.40 Das aber heißt: Er kann und soll politisch nur auf das vertrauen, was ihm das Leben – in der äußeren Natur und in seinen eigenen Fähigkeiten – zur Verfügung stellt. Die Säkularisierung der politischen Theorie, mit der sich die Moderne so interessant und wichtig zu machen versucht, ist im Grunde schon hier vollzogen. In den Ohren des methodenbewussten, durch das Sein-Sollen-Schisma geprägten modernen Theoretikers kann es nur alarmierend klingen, wenn von Platons lückenloser Einbindung der Politik in das Leben die Rede ist. Ganz abgesehen davon, dass die These zum üblichen trivial-idealistischen Platon-Bild nicht passt, kann der zeitgemäße Rezipient hier wohl nur einen Abgrund von Reduktionismus vermuten. Deswegen dürfte er auch gleich eine ganze Serie naturalistischer Fehlschlüsse annehmen, wenn man ihm weiter berichtete, welche politischen Prinzipien Platon aus der Prämisse eines sich selbst bestimmenden Lebens herleitet.41 Da ist erstens die Bedingung einer rechtlichen Verfasstheit des gemeinschaftlichen Lebens, die hier zum Glück noch nicht grundsätzlich von der Tugend der Gerechtigkeit geschieden ist. Da ist zweitens als Generalprämisse die Freiheit der Bürger und die Selbstständigkeit ihrer Vereinigung. Da gibt es drittens die mit der Ansammlung und Weitergabe des Wissens notwendig verbundene Unterstellung des Fortschritts im gemeinschaftlichen Handeln; aber sie ist nicht mit der illusorischen Erwartung verbunden, dass am Ende die Befriedigung aller Bedürfnisse und der Lohn aller Mühen steht. Im Gegenteil: Am Ende aller Politik wird sich irgendwann eine unabwendbare Katastrophe ereignen, und gleichwohl besteht die Verpflichtung, nach bestem Wissen zu handeln: Denn die Politik dient wie jeder Lebensvorgang der Erhaltung und Entfaltung des jetzt bestehenden Lebens. Dabei wusste die Antike – auch ohne die Fiktion ohnehin nicht abschließbarer „Generationenverträge“ – sehr genau, dass sich jedes gegenwärtige Leben um das unter seinen Bedingungen entstehende neue Leben sorgt. Da ist viertens, was viele auf die Moderne fixierte Zeitgenossen besonders erstaunen dürfte, auch schon die Idee von einem freien Austausch der Meinungen, ohne den es nicht zu dem erforderlichen Wissen um die gemeinsamen 39

Politikos 274 d. Nomoi 688 b. 41 Zu bemerken wäre, dass die antike Atomistik und die pragmatistische Anthropologie der Sophistik Platon bereits genügend Beispiele für die Aporien des Naturalismus geliefert hatten. Folglich bedarf er der Belehrung durch die Methodendiskussion nach Hume und Kant keineswegs. 40

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Dinge kommen kann. Und da ist fünftens – um schließlich auch die für den Übergang vom an sich selbst erfahrenen Lebensprozess zur selbstbewussten Vernünftigkeit entscheidende Handlungsbedingung zu nennen – die Ernsthaftigkeit im Verhältnis zum eigenen Leben. Nur wer auf die von ihm selbst eingesehenen Gründe ernsthaft setzt, wer wirklich bereit ist, sein Leben nach eigener Einsicht zu führen, den kann man einen vernünftigen Menschen nennen. Und nur ihm ist auch ein politisches Amt anzuvertrauen.42 Das sind die Prinzipien, die schon mit dem ersten Auftritt der Politischen Philosophie in Europa entwickelt werden. Wir halten sie auch heute noch für selbstverständlich, solange wir nicht durch eine vorteilhafte Machtposition korrumpiert, durch eine übersteigerte Krisenstimmung irritiert oder durch ein neuerungssüchtiges Theorieverständnis gegen Erfahrung immun geworden sind. Die Selbstverständlichkeit dieser Prinzipien tritt vor allem dann hervor, wenn wir uns oder andere von der Notwendigkeit politischen Handelns zu überzeugen suchen und wenn wir Kritik am Machtmissbrauch oder an der Untätigkeit anderer üben. Wenn sich ein Bedürfnis als Anspruch an andere artikuliert, können wir am leichtesten beobachten, wie eine Äußerung des Lebens politischen Charakter bekommt.43 Dass die Antike die basalen Prinzipien gemeinschaftlichen Handelns sämtlich aus der Einsicht in den Lebensprozess der Polis begründet, könnte man nicht nur an Platon, sondern auch an seinem gelehrigen, wenn auch nicht immer dankbaren Schüler Aristoteles zeigen. Der betont nicht nur die – theoretisch wie praktisch – grundlegende Funktion des spoudaíos ánthropos, eben jenes freien und ernsthaften Menschen, sondern er definiert ihn zugleich als zóon politikón, als das schlechthin politische Lebewesen, das nur in der politischen Sozietät zu seiner natürlichen Bestimmung findet.44 Und so kann es auch nicht überraschen, wenn sich die erste überhaupt gegebene Definition des politischen Handelns, die wir Aristoteles verdanken, vollständig in den Lebenszusammenhang eines Lebewesens einfügt, das die Besonderheit an sich hat, nach eigenen Vorstellungen zu leben. Die Definition ist so knapp und unscheinbar wie Platons Formel von der „Hütung der menschlichen 42 Dies hat Platon eindrucksvoll in der sogenannten „Philosophenprobe“ des 7. Briefes dargestellt. Hier zeigt sich auch, was er wirklich im Sinn hat, wenn er die Befähigung zur Politik an eine philosophische Ausbildung bindet. – Aus Zeitgründen kann ich hier nur versichern, dass Platon mit allen diesen aus der Einsicht in den Lebenszusammenhang der Polis abgeleiteten Prinzipien keinen naturalistischen Fehlschlüssen unterliegt. Denn er hat einen Begriff von der eigenständigen Funktion der Seele und ihren Erkenntnisleistungen. Und man kann, auch wenn das gängige PlatonBild dies nicht zu erlauben scheint, durchaus zeigen, dass er die Seele und ihre epistemischen Leistungen vollständig im Funktionskreis des Lebens belässt. 43 Siehe dazu vom Verf., Politisches Handeln, in diesem Band, S. 65–81. 44 Vgl. Aristoteles, Politik 1253 a 2–3; 1278 b 20–25; die Formel vom zóon politikón ist durch Platon bestens vorbereitet: „Es entsteht also, sprach ich, eine Stadt, weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern gar vieles bedarf.“ (Politeia 368 b) – Siehe dazu O’Meara, Der Mensch als politisches Lebewesen, S. 14 ff.

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Herde“; vielleicht ist sie auch deshalb von der nach aufwendigen Erklärungen suchenden politischen Theorie der Neuzeit kaum noch beachtet worden. Sie lautet: Der Mensch handelt politisch, „um zu leben und um gut zu leben“. Ich behaupte nun, dass in dieser Definition alles enthalten ist, was man auch nach unseren elaborierten methodologischen Ansprüchen zu einer philosophischen Begriffsbestimmung der Politik benötigt – vorausgesetzt, man gibt sich wirklich die Mühe zu sagen, was es eigentlich heißt, sich als ein Lebewesen zu verstehen. Wir brauchen nur unsere Selbsterfahrung als lebendige menschliche Wesen zu zerlegen und auf die Begriffe für ihren funktionellen Zusammenhang bis in unser Selbstbewusstsein hinein zu achten, und schon sind wir bei den Grundbegriffen unseres politischen Lebens. Darin sehe ich den wesentlichen Teil meiner philosophischen Aufgabe in Berlin. Und um nicht in den Verdacht zu geraten, ich hätte mir vielleicht ein reichlich bescheidenes Ziel gesetzt, möchte ich daran erinnern, dass damit das sokratische Programm der Selbsterkenntnis lediglich seine vollständige Fassung erhält. Wir haben endlich aufzuklären, was es heißt und was es uns bedeutet, dass wir uns niemals bloß als ein lebendiges Wesen erfahren, sondern in dieser Erfahrung immer auch als ein vernünftiges Subjekt. Der Akt, in dem wir unserer Lebendigkeit innewerden, ist stets schon ein Akt ursprünglicher vernünftiger Einsicht. Und die Allgemeinheit, Schlüssigkeit und Verbindlichkeit, die wir uns in den Vernunftbegriffen vergegenwärtigen, zeigt uns lediglich in der Distanz, was wir in der Unmittelbarkeit des Lebens immer schon haben. Für die philosophische Theorie der Politik bedeutet dies, dass wir das Leben nicht in das methodologische Reservat eines Naturzustandes verbannen dürfen; kein Vertrag und kein Versprechen, so unerlässlich sie sind, erlösen uns vom Leben. Im Gegenteil: Alles, was wir politisch tun, dient der Erhaltung und Entfaltung des Lebens, so wie wir es verstehen. Wir können auch gut darauf verzichten, uns künstliche „Schleier des Nichtwissens“ umzuhängen; Geburt und Tod, Bedürftigkeit und Verletzlichkeit, Mitgefühl und der notwendige Egoismus eines jeden reichen vollkommen aus, um uns die elementare Gleichheit der Menschen vor Augen zu führen. Man braucht überdies noch nicht einmal eine reiche Lebenserfahrung, um erkennen zu können, dass es zu wenig ist, unseren Begriff des Politischen allein an der Unterscheidung von Freund und Feind45 festzumachen oder die Politik allein auf den Begriff des Friedens46 oder auf die Leistungen der Urteilskraft47 zu gründen. Wir haben ihn vielmehr auf die Erhaltung und Entfaltung des an 45 Das ist der bekannte und viel zu viel Aufsehen erregende Vorschlag Carl Schmitts in Der Begriff des Politischen (1932). Siehe dazu Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Zum Ungenügen der Freund-Feind-Unterscheidung siehe auch vom Verf., Politik und Metaphysik; ders., Politisches Handeln, in diesem Band, S. 65–81. 46 Vgl. Sternberger, Der Begriff des Politischen (1960).

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uns selbst erfahrenen Lebens zu gründen. Diese elementare Bestimmung bedeutet allerdings auch, dass wir die Immanenz soziologischer Systeme48 – und wohl auch das Spiegelkabinett quasi-transzendentaler Diskurse49 – verlassen müssen, wenn wir unsere Begründungsansprüche für Recht, Verfahren und Kritik wirklich befriedigen wollen. Und wie ist es mit den praktisch-politischen Konsequenzen? Sie liegen, so denke ich, auf der Hand. Deshalb kann ich mich abschließend damit begnügen, sie lediglich anzudeuten – und lasse hierbei alles beiseite, was uns längst als Garant einer engen Verbindung zwischen Politik und Leben bewusst ist: nämlich die uneingeschränkte Erkenntnis, der freie Verkehr, der ungehinderte Austausch von Gütern und Meinungen, ein offenes Verhältnis zur Tradition – wozu auch die Anerkennung gewachsener familiärer, landsmannschaftlicher und religiöser Verbindungen zu rechnen ist – sowie die Selbstständigkeit der einzelnen samt ihren Vereinigungen. – Das alles sind alte Einsichten, mit denen wir nun aber vor neuen Herausforderungen stehen: So hat die ökologische Krise uns längst eine umfängliche Vorstellung davon vermittelt, wie schwierig die Erhaltung und Entfaltung des menschlichen Lebens auf Dauer ist. Durch das exponentielle Wachstum der Bevölkerung – also 47 Darin besteht das Credo Hannah Arendts, am deutlichsten formuliert in Das Urteilen. Ernst Vollrath hat diesen primär auf die Urteilskraft gestützten Begriff des Politischen in mehreren Arbeiten zu begründen versucht, dabei aber nur umso deutlicher gemacht, dass dieser Weg nicht gangbar ist – so unverzichtbar Urteilskraft in allem menschlichen Erkennen und Handeln stets auch ist. Siehe dazu vom Verf., Politik und Urteilskraft. 48 Was damit kritisiert wird, lässt sich anschaulich an einem Zitat Niklas Luhmanns kenntlich machen: „Wenn man [. . .] die Positivierung des Rechts als ein Korrelat der Ausdifferenzierung des Rechtssystems und seiner autopoietischen Autonomie auffaßt, [. . .] ist Rechtsgeltung gar nicht anders möglich als ,positiv‘, das heißt: durch das Recht selbst gesetzt. Das Recht kann regeln, wie es sich selbst reproduziert, das heißt: wie man mit Recht von Recht zu Recht kommt; aber nur das Recht kann dies regeln. Es gibt keine externen Instanzen oder Autoritäten, die Recht in das Recht eingeben könnten. Das Recht wird zirkulär konstituiert, und ein Beobachter, der dies als Einheit beschreiben will, muß deshalb zu einer tautologischen Formulierung greifen. Alle Beschränkungen sind Selbstbeschränkungen, alle Umweltorientierungen müssen im System durch das System gehandhabt werden. Das Recht gilt demnach allein deshalb, weil entschieden worden ist, daß es gilt.“ (Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. 26) Vgl. dazu auch die Antrittsvorlesung von Thomas Kaiser, Aufgaben der Rechtssoziologie als Zweig der Rechtswissenschaft (1993). 49 Die aus der neukantianischen Debatte mit dem Positivismus vererbte methodologische Polarität von „Faktizität und Geltung“ erzeugt mit Sicherheit nicht die Spannung, in der das Recht entsteht. Es bedarf vielmehr des Gegensatzes auf Leben und Tod, eines Gegensatzes zwischen unseresgleichen, der im Interesse eines Überlebens auf beiden Seiten nur durch Tausch und Versprechen in ein Machtgleichgewicht gebracht wird. Habermas hätte besser daran getan, gleich an Kant anzuschließen. Dann hätte er sehen können, dass sich das Recht aus dem Anspruch auf Schutz der leiblichen Sphäre ergibt, dass ein Bewusstsein der Gefährdung des Lebens auf einer räumlich beschränkten Erde bei höchst beschränkten eigenen Kräften usw. nötig ist, um auch nur die Idee des Rechts entstehen zu lassen.

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durch einen Überschuss des Lebens und durch die damit verbundenen Verschiebungen natürlicher Gleichgewichte – ist uns längst bewusst, dass wir auch für die uns umgebende Natur zu sorgen haben, wenn wir nur angemessen für uns sorgen wollen. Daraus ist die Rede von der „globalen Verantwortung“ des Menschen, von der Notwendigkeit eines „Friedens mit der Natur“ und sogar ein Anspruch auf die Anwaltschaft für die „Schöpfung“ geworden. Diese weit gesteckten Ziele halten jedoch einer Reflexion auf das Leben, das wir erfahren und das wir sind, nicht stand. Als Teil des Lebens können wir unmöglich die Zuständigkeit für das ganze Leben erwerben. Wer es dennoch versucht, fällt nur aufs Neue den Omnipotenzphantasien der wissenschafts-, technik- und industriegläubigen Sozialphilosophien aus der Frühzeit der Moderne zum Opfer. Wir haben uns vielmehr einzugestehen, dass wir, wenn es denn gut geht, nie über die „Hütung der menschlichen Herde“ hinauskommen werden. Diese Hütung schließt aber von vornherein ein, dass wir uns – um im Bild zu bleiben – um gutes Weideland und saubere Quellen zu bemühen haben. Für eine so große Herde, die alles abgrast und alles beschmutzt, wird dies auf unserer kleinen Erde aber ein unmögliches Unterfangen sein. Deshalb haben wir uns zunächst und vor allem anderen darum zu bemühen, dass die Menschheit nicht weiter in selbstzerstörerischer Weise wächst. Die zweite, damit eng verbundene Sorge hat der Wiederherstellung und Erhaltung unserer Lebensgrundlagen zu gelten. Dies ist inzwischen ein so selbstverständliches Ziel, dass wir nur entsetzt sein können, wie wenig wir uns alle darum kümmern. Wir fahren Auto, fliegen in die Ferien, baden und duschen täglich und verlangen in jedem Lebensbereich die Sicherung, ja Steigerung öffentlicher Leistungen, für die es de facto gar keine Ressourcen mehr gibt. Was soll man dazu philosophisch noch sagen? Soll man fürchten oder hoffen, dass wenigstens die bittere Not in schrecklichen Zeiten zustande bringt, was die vorausschauende Vernunft nicht vermag? Soll man fürchten oder hoffen, dass wenigstens die massiven Verluste im Vorfeld einer Katastrophe die Staaten zu weltbürgerlichem Handeln zwingen?50 Vorher aber wäre schon einiges erreicht, wenn man sich wenigstens über die Gründe verständigen könnte, aus denen wir zur Erhaltung und Entfaltung unserer Lebensgrundlagen verpflichtet sind: Es ist nicht etwa das Leben als Ganzes – und schon gar nicht das Sein oder das Dasein als solches51 –, das uns zur Sicherung der Existenzbedingungen nötigt. Das Motiv und seine Begründung folgen allein aus dem Erhaltungsimpuls unserer menschlichen Natur. In ihn geht notwendig ein gattungsspezifischer Egoismus ein, den wir, solange wir le50 Schon bei Kant ist der Entwurf für ein Weltbürgerrecht aus der Einsicht in ein sich bedrohlich zuspitzendes Krisenpotential auf einer für den Menschen vergleichsweise klein gewordenen Erde bezogen. 51 Wie Hans Jonas in Das Prinzip Verantwortung meint.

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ben, schlechterdings nicht abschütteln können. Ja, wir können ihn noch nicht einmal ohne Selbstwiderspruch abschütteln wollen! Wer ihn dennoch verwerfen möchte, kehrt lediglich zu einer verflachten Form der Erbsündenlehre zurück, ohne sich selbst oder die Menschheit auch nur ein Quentchen zu bessern. Das aber heißt: Wir werden auch unter dem Anspruch äußersten Mitgefühls und größter Objektivität unsere menschliche Perspektivik nicht los. Deshalb werden wir unsere Umwelt mitsamt ihren Pflanzen und Tieren immer nur so einschätzen, wie wir es verstehen. Daraus aber den Schluss zu ziehen, wir könnten uns dann nicht in andere Wesen hineinversetzen, wir hätten kein Organ für ihren Schmerz und wären folglich unfähig, als ihr Anwalt aufzutreten, verrät wenig Kenntnis vom menschlichen Verhältnis zur belebten Natur. Man kann daher gerade jenen, die den Pflanzen und Tieren sogar autonome Rechte imputieren möchten, nur empfehlen, sich einmal wirklich auf die menschliche Selbsterfahrung des Lebens einzulassen. Dann können sie einen Eindruck davon bekommen, wie sehr wir mit allen unseren Lebensvorgängen in den allgemeinen Stoffwechsel der Natur eingelassen sind und was wir alles – selbst aus unserer menschlichen Perspektive – mit den anderen Kreaturen teilen. Und zum anderen ist zu entdecken, wir sehr uns gerade das, was uns von den anderen Lebewesen unterscheidet, immer auch dazu befähigt, ihre Partei zu ergreifen. Freilich können wir dies eben nur so weit, wie wir es verstehen. So erfahren wir an der belebten Natur außer uns immer auch die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten. Gerade dies ist charakteristisch für das Leben. Lebenserfahrung ist wesentlich Erfahrung unserer Grenzen. Sie reift daher auch erst im Alter und wird wohl auch deshalb von der jungen Generation mit Vorliebe verworfen. Da hoffentlich die jüngeren Menschen nicht aufhören, sich der Politik mit hohen Erwartungen zuzuwenden, muss die Lebenserfahrung hier mit besonderem Nachdruck vertreten werden. Doch auch unabhängig davon ist Lebenserfahrung nirgendwo nötiger als in der Politik. Denn es ist die Politik, in der die konstitutive Neigung des Menschen zur Überschätzung seiner eigenen Möglichkeiten einen institutionellen Rahmen erhält. Deshalb ist keiner politischen Verfassung zu trauen, die nicht auch ihre Selbstkritik institutionalisiert. Aber nur in der Reflexion auf unser eigenes Leben können wir uns vor Augen führen, dass Politik nicht alles ist. In jeder uns bekannten historischen Epoche hat es stets nur weniger Hinweise bedurft, um kenntlich zu machen, wie sehr jedes beliebige Einzelschicksal in die große Politik verwoben ist. Deshalb haben es totalitäre Regimes auch nie schwer gehabt, mit Argumenten für ihre Zwangsmaßnahmen aufzuwarten. Die Argumente aber verlieren schlagartig ihre Kraft, wenn wir unser eigenes Lebensglück dagegensetzen, wenn unsere Liebe, unsere Gesundheit, die Verantwortung für die Familie oder die Solidarität mit den Freunden wichtiger sind. Auch zu dieser Grenzbestimmung der Politik dient die Besinnung auf das je-

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weils eigene Leben. So kommen wir nur im Nachdenken über das Leben wirklich in die Politik hinein. Und nur das Nachdenken über das Leben verschafft uns auch einen begründbaren Weg hinaus. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Wer zu lange spricht, den bestraft es auch. Deshalb lassen Sie mich die Betrachtung der praktischen Konsequenzen mit einer Bemerkung zu einem Lebensvorgang abbrechen, dem wir nicht zuletzt diese Veranstaltung verdanken: Auch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten entsprach einem Erfordernis des Lebens. Es hat sich durchgesetzt, obgleich fast alle machthabenden politischen Kräfte dagegen waren. Dass die Einheit dann doch möglich wurde, haben wir dem Lebensanspruch und der politischen Vernunft der ostdeutschen Bürger zu verdanken. Die Widerstände sind aber immer noch wirksam. Sie werden sogar stärker werden, wenn unsere Landsleute im Westen endlich das spüren, was ihnen die eigene Einsicht offenbar nicht zu vermitteln vermochte: dass der Preis der Einheit hoch sein wird und dass es außerordentlicher Anstrengungen bedarf, ihn zu entrichten. In Bonn und in den Hauptstädten der Alten Länder wurde in den letzten drei Jahren bereits so viel versäumt, dass man den Regierenden und den Parlamentariern dort nur wünschen kann, dass da endlich wieder jemand kommt, der ihnen klar macht, dass auch der Westen nicht von jener bitteren Wahrheit ausgenommen ist: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Dass dieses Wort nicht nur von Marxist zu Marxist seine Gültigkeit haben kann, sondern auch den gewählten Volksvertretern jederzeit gesagt werden kann und gesagt werden muss, darin liegt der Vorteil der parlamentarischen Demokratie, und im Deutschland des Jahres 1993 läge darin überdies ein Stück Gerechtigkeit gegenüber den Bürgern in den Neuen Ländern. In jedem Fall böte der Hinweis auf das Leben eine Chance für die Vernunft. Literatur Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg. v. R. Beiner, München/Zürich 1985. Dilthey, Wilhelm: System der Ethik (Gesammelte Schriften, Bd. 10), 4. Aufl., Stuttgart 1981. Drescher, Hans-Georg: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991. Fellmann, Ferdinand: Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Reinbek 1993. Fichte, Johann Gottlieb: Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben (1806): in: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, hg. v. I. H. Fichte, Bd. 8, Leipzig o. J., S. 36–407. Gerhardt, Volker: Rezension zu Vollrath, Ernst, Grundlegung einer Philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, in: Zeitschrift für Politik 36 (1989), S. 209–211.

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– Selbstbestimmung. Über Bedingungen und Gründe moralischen Handelns, in: Henrich, Dieter/Horstmann, Rolf-Peter (Hg.), Metaphysik nach Kant. Hegel-Kongreß Stuttgart 1987, Stuttgart 1988, S. 671–688. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Frankf./M. 1992. Hartmann, Nicolai: Teleologisches Denken, Berlin 1951. Hofmann, Hasso: Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 2. Aufl, Berlin 1992. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivlisation, Frankf./M. 1979. Kaiser, Thomas: Aufgaben der Rechtssoziologie als Zweig der Rechtswissenschaft, Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität, Heft 13, Berlin 1993. Kapferer, Norbert: Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945–1988, Darmstadt 1990. Klages, Ludwig: Der Geist als Widersacher der Seele, 3 Bde., Leipzig 1929–1931. Klein, Helmut (Hg.): Humboldt-Universität zu Berlin. Überblick 1810–1985, Berlin 1985. Luhmann, Niklas: Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankf./M. 1986. Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft (Werkausgabe, Bd. 2), Neuwied 1974. Mocek, Reinhard: Wissenschaftliche Denkkultur und spätbürgerliche Philosophie, in: Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Philosophie und Gesellschaftstheorie, hg. v. d. Universität Halle-Wittenberg, Halle 1987, S. 54–68. O’Meara, Dominic: Der Mensch als politisches Lebewesen, in: Höffe, Otfried (Hg.), Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, S. 14–25. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, Berlin 1963. Schölzel, Arnold: Philosophie an der Humboldt-Universität nach 1848, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36 (1987), S. 475–480. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I (Sämtliche Werke, nach der ersten, von Julius Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe neu bearbeitet und hg. v. A. Hübscher, Bd. 2), Mannheim 1988. Seel, Martin: Wie ist rationale Lebensführung möglich?, in: Fulda, Hans Friedrich/ Horstmann, Rolf-Peter (Hg.),Vernunftbegriffe in der Moderne. Stuttgarter HegelKongreß 1993, Stuttgart 1994, S. 408–426. Sternberger, Dolf: Begriff des Politischen (Heidelberger Antrittsvorlesung), in: ders., Die Politik und der Friede, Frankf./M. 1986, S. 69–88. Troeltsch, Ernst: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Gesammelte Schriften, Bd. 3), Tübingen 1922.

Politisches Handeln Über einen Zugang zum Begriff der Politik Es stünde vermutlich besser um die Politische Philosophie in Deutschland, wäre die Trivialität, auf die der Titel dieses Beitrags anspielt, auch als solche anerkannt: Einen Zugang zur Politik kann man nur durch politisches Handeln finden. Was Politik bedeutet und worin sie besteht, muss man durch eigenes Tun in Erfahrung bringen, sonst begreift man sie nie. Praktisch verstanden ist politisches Handeln somit der einzige Zugang zur Politik, folglich auch der einzige Zugang zu einem angemessenen Begriff von ihr. Zwar kann man auch auf andere Weise manches über Politik und Politiker lernen; wer ihr zum Opfer fällt, wen sie zum bloßen Gegenstand macht oder wer über die Distanz und die Muße verfügt, sie wirklich von außen zu betrachten, der wird mit Sicherheit einiges Wissenswerte über sie berichten können. Aber ins Wesen der politischen Tätigkeit dringt nur, wer sie selbst ausübt. Dies hat die Politik mit anderen praktischen Disziplinen, insbesondere mit dem moralischen Handeln gemein. Das eigene praktische Wissen hat Bestandteil der Theorie zu sein, wenn sie wirklich eine Theorie der Praxis sein soll. Vielleicht aber stünde es auch um theoretische Disziplinen wie die Wissenschaftstheorie, die Handlungstheorie, insbesondere die Theorie des kommunikativen Handelns, oder um eine Theorie des Selbstbewusstseins besser, wenn man sich wirklich daran erinnerte, dass man die eigene Erfahrung benötigt, wenn man dem Anspruch gerecht werden will, etwas zur Sache zu sagen. Um diesen praktischen Zugang zur Politik zu finden, braucht man freilich nicht gleich zum Staatsmann, Parlamentarier oder Parteimitglied zu werden. So wenig man ein Philosoph sein muss, um zum guten Politiker zu werden, genauso wenig muss man ein mit allen Wassern gewaschener Politiker sein, um etwas zur Philosophie der Politik beitragen zu können. Es genügt, sich als Bürger zu begreifen, d. h. von der eigenen Einbindung in den politischen Zusammenhang zu wissen und dementsprechend zu handeln. Wenn ich den Titel meines Beitrags wörtlich nehmen wollte, könnte ich meinen Text jetzt auch schon abschließen. Einen Zugang zur Politik habe ich benannt – und, wie mir scheint, auch gleich den wichtigsten. Natürlich ließe sich noch manches zur Begründung sagen, und man könnte auch von den Hoffnungen sprechen, die sich speziell im Schatten der deutschen Tradition politischen Denkens mit ihm verbinden. Doch über diesen Zugang braucht man nicht viele

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Worte zu verlieren; wem wirklich nicht klar sein sollte, dass er ihn immer schon genommen hat, der muss ihn einfach beschreiten. Überdies liegt mir in der Tat an der Feststellung, dass es sich hier um etwas Triviales handelt. Man sollte eben auch in der Politischen Theorie wissen, wovon man spricht; und dieses Wissen erschließt sich im politischen Raum nur den Beteiligten, weil Politik wesentlich aus der Anteilnahme an ihr besteht. Doch man kann den Titel meines Vortrags auch noch anders verstehen. Der Begriff der Politik ist ja insbesondere in der Politischen Theorie fraglich geworden; es sind die skrupulösen Theoretiker, die fürchten, nicht mehr mit hinreichender Klarheit sagen zu können, was „Politik“ oder – wie man sich jetzt gern ausdrückt – das „Politische“ eigentlich ist. Seit Carl Schmitt glaubte, in allen überlieferten Begriffsbestimmungen der Politik einen Zirkel entdecken zu können, einen Zirkel, in dem das Politische durch den Staat, der Staat aber wiederum durch die Politik definiert wird,1 sucht man nach einem neuen theoretischen Zugang. Dies umso mehr, als auch Schmitts eigener Vorschlag, nunmehr als Kriterium die Unterscheidung zwischen Freund und Feind anzusetzen, nicht recht überzeugen kann. So sehr die Freund-Feind-Differenz den Lebensnerv politischer Gemeinschaft berührt – und dies auch unter Bedingungen einer internationalen Friedenssicherung weiterhin tun wird –, so wenig ist sie in der Lage, auch nur im Ansatz den Bedeutungsgehalt des Politischen abzudecken.2 Außerdem gelingt es Schmitt keineswegs, den kritisierten Zirkel zu vermeiden. Denn um sein Kriterium überhaupt trennscharf zu machen, muss er den Feind zum „öffentlichen Feind“ erklären, und eben damit hat er den Staat, nämlich als die umkämpfte öffentliche Sache zum zentralen Bestandteil seiner Definition gemacht.3 Dieser Schönheitsfehler in Schmitts eigenem Vorschlag wurde allerdings kaum bemerkt. Die Kritiker hatten schon genug damit zu tun, gegen das existential-romantische Kriterium der Freund-Feind-Abgrenzung Sturm zu laufen. Umso mehr muss es überraschen, dass an der den Vorschlag auslösenden Diagnose so gut wie gar nicht gezweifelt wurde: Die These von der Zirkelstruktur der überlieferten Politikauffassung wurde unbesehen übernommen. Und so bemüht sich die Politische Philosophie seit Jahrzehnten um neue Zugänge zum Begriff der Politik: Leo Strauß und Eric Voegelin haben das Politische wieder direkt an die Erkenntnis einer allgemeinen Seins- und Wertordnung zu knüpfen versucht und somit auch den Staat aus einer vorgegebenen Struktur des Daseins abgeleitet.4 Ihnen entgegen steht die große Zahl empirisch verfahrender Theo1 2 3 4

tics.

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 ff. dazu v. Verf., Mensch und Politik. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 29. Strauss, What is Political Philosophy?; Voegelin, The New Science of Poli-

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retiker, die sich im Anschluss an den auch für Carl Schmitt wegweisenden Max Weber bemühen, im Streben nach Macht und Machtanteilen das entscheidende Begriffsmoment zu ermitteln.5 Dann ist da der eigenwillige Denkweg Hannah Arendts, der zunächst auf anthropologische Elemente in der aristotelischen Praxiskonzeption zurückführt und später auf die politisch konstitutiven Leistungen der reflektierenden Urteilskraft zuläuft.6 Ernst Vollrath versucht seit Jahren, aus dieser originellen Idee eine Theorie des Politischen zu gewinnen und macht dabei doch nur umso deutlicher, dass sie für eine „Grundlegung“ nicht ausreicht.7 Und auch der bemerkenswerte Vorschlag von Dolf Sternberger, im Streben nach Ausgleich und Frieden den „Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen“ zu entdecken, ist noch in der von Carl Schmitt formulierten Überzeugung entwickelt, dass ein neuer Zugang zum Begriff der Politik gefunden werden muss.8 Ich glaube allerdings nicht, dass es tatsächlich ein logisches Problem gewesen ist, das die Suche nach einem neuen Zugang zum Begriff der Politik veranlasst hat. Primär ging es nicht darum, einen Definitionszirkel zu vermeiden, sondern man wollte in Wahrheit jeden Rekurs auf den Staat umgehen, dessen historisches Ende man abzusehen glaubte. Doch wie dem auch sei: Der Anspruch auf einen neuen Zugang zum Begriff der Politik gehört heute zu den nun einmal bestehenden Aufgaben der Politischen Philosophie. Nur dadurch, dass man sich dieser Aufgabe stellt, kommt man über sie hinaus. Bei der Suche nach einem neuen Kriterium für den Begriff der Politik wird man nun aber nirgends besser ansetzen können als eben beim politischen Handeln. Das, was uns praktisch in den Kontext der Politik führt, sollte auch in der theoretischen Annäherung den besten Zugang bieten. Also ist es nur konsequent, nach Elementen eines Begriffs der Politik in der Selbsterfahrung des politischen Handelns zu fragen. Dabei soll man möglichst konkret bei jenen Handlungsformen ansetzen, die wir bereits im engeren Sinn als politisch erfahren. Alle generellen Momente des Handelns sollen dabei zunächst beiseite gelassen werden, damit man sich ganz auf die besonderen Strukturmomente des politischen Tuns konzentrieren kann. Dass in einem knappen Beitrag wie diesem kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann, dürfte sich von selbst verstehen. Zu betonen ist lediglich, dass man die Vermeidung des begrifflichen Zirkels nicht von vornherein zur obersten Maxime erheben sollte. Zunächst jedenfalls geht es um eine Explikation der im Selbstverständnis des poli5 Vgl. Lasswell/Kaplan, Power and Society; Dahl, Die politische Analyse. Ebenfalls zu nennen wäre Oakeshott, On Human Conduct. 6 Vgl. Arendt, Das Urteilen. Ansätze dazu finden sich auch schon in früheren Arbeiten Hannah Arendts, so z. B. in: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955), Vita activa (1960), Über die Revolution (1963). 7 Vgl. Vollrath, Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen. 8 Vgl. Sternberger, Begriff des Politischen (Heidelberger Antrittsvorlesung von 1962).

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tischen Tuns enthaltenen Elemente. Das Feld der Politik wird dabei von innen her abgeschritten. Am Ende mag sich da eine Definition ergeben, die auch logischen Ansprüchen genügt. Fangen wir mit einer klassischen Bestimmung an, die auch mit den verschiedenen alltäglichen Verwendungsweisen des Wortes „politisch“ gut zusammenstimmt: Politisches Handeln ist überall dort gefordert, wo ein gesellschaftliches Geschehen unter Ansprüchen steht, die entweder direkt oder indirekt auf die Erhaltung und Gestaltung einer menschlichen Gemeinschaft bezogen sind. Während zur Gesellschaft alles gehört, was überhaupt Bestandteil oder Gegenstand menschlichen Handelns sein kann, ist zur Politik nur jenes Geschehen zu rechnen, das ausdrücklich auf das Interesse am Leben einer Gemeinschaft bezogen ist. Eine solche Gemeinschaft kann eine Familie oder ein Stamm, kann eine Berufsgruppe, eine Religionsgemeinschaft oder ein Volk darstellen, kann im Grenzfall aber auch alle Menschen umfassen. Wo „viele Menschen“, um einen vorsichtigen Ausdruck Machiavellis zu benutzen,9 sich als ein Ganzes zu erhalten und zu entfalten suchen, wo also ein sozialer Lebenszusammenhang bewusst nach konsensträchtigen Vorstellungen organisiert wird, wo eine Gemeinschaft, wie immer sie auch bestimmt sein mag, sich bemüht, Herr über sich selbst zu werden und zu bleiben, da wird Politik gemacht. Aus dieser einfachen, aus eigener Erfahrung und Beobachtung gewonnenen und mit der Tradition des politischen Denkens durchaus zu vereinbarenden Bestimmung der Politik folgt, dass es eine Macht geben muss, die für die Durchsetzung der auf das Ganze bezogenen Vorstellungen sorgt. Bei der unvermeidlichen Differenz individueller Interessen liegt auch auf der Hand, dass es stets zu Kämpfen um diese Macht kommen kann. Klar dürfte darüber hinaus sein, dass es, um die Bildung gemeinsamer, auf das Ganze bezogener Vorstellungen zu ermöglichen, eine wie auch immer bestimmte öffentliche Sphäre geben muss, in der unterschiedliche Interessen artikuliert und über Meinungen ausgetauscht werden können. Politik ist damit von der Organisation eines sozialen Lebenszusammenhangs nicht zu trennen; nicht zuletzt deshalb wird sie auch ihre Bindung an eine organisierte Instanz wie den Staat nicht los.10 Wo die Organisation noch nicht gegeben sein sollte, da schafft die Politik eben jene Sphäre, in der aus individuellen Interessen ein allgemeines Verlangen werden kann, in der aus vielen einzelnen Willen ein gemeinsamer Wille hervorgehen kann, in der sich Gemeinsamkeiten nicht nur beschwören, sondern auch beraten, herstellen und

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„Molti populi“, Discorsi I, l (Tutte le opere, ed. M. Martelli, Florenz 1971, 77). Dies wird besonders dort deutlich, wo man versucht, den Staat als Organisationsform hinter sich zu lassen: Der Marxismus hat den Staat, der angeblich seine historische Mission erfüllt hat, theoretisch in der Parteiorganisation konserviert und kann, wie die Praxis der kommunistischen Staaten gezeigt hat, auch praktisch auf die staatliche Organisationsform nicht verzichten. 10

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durchsetzen lassen und wo alles unter dem mehr oder weniger erklärten Anspruch steht, das Beste der Gemeinschaft zu befördern. Dass es sich in diesem Zusammenhang um Ansprüche handelt, ist allerdings entscheidend. Das wirkliche Geschehen, die tatsächlichen Motive und die faktischen Leistungen sind zwar alles andere als belanglos; über die drängenden Bedürfnisse und die formierten Interessen, über die historische Erfahrung und das unmittelbare Erleben gehen sie direkt in den politischen Kontext ein. Doch hier können sie sich, weil sie sich prinzipiell auf Künftiges beziehen, nur in Form von Ansprüchen artikulieren, die man entweder selbst erhebt oder zu denen man sich – wie auch immer – verhält, wobei zwischen begeisterter Zustimmung und entschiedener Abwehr alles möglich ist. Auch Gleichgültigkeit kann unter bestimmten Bedingungen ein politisches Verhalten sein, nämlich dann, wenn ostentativ Distanz zur öffentlichen Sphäre gesucht wird. Den politischen Charakter erhalten alle diese Vorgänge stets nur dadurch, dass sie unter dem Anspruch stehen, für die Erhaltung und Gestaltung der Gemeinschaft von Bedeutung zu sein.11 Dass dabei nicht von einem vorab allgemein vergewisserten Gut oder Ziel ausgegangen werden kann, versteht sich von selbst. Wenn die Behauptung eines Einzelnen als Kriterium noch nicht ausreichen sollte, müssen wir spätestens das von einflussreichen Akteuren wirkungsvoll geglaubte Ziel als Beweis der Gemeinsamkeit gelten lassen. Politik ist, ehe sie zu Wissen gelangt, immer schon auf Meinungen gegründet, und es können dies auch schon die Meinungen weniger sein. Gemessen an den privaten Lebenszielen wachsen politische Ansprüche immer hoch hinaus. In Form der großen politischen Ziele, als Aufruf, Programm, Grundsatzerklärung oder als Vision künftigen Lebens lassen sie sich leicht erkennen. Schwieriger ist es, das Dickicht aus Unterstellungen zu durchschauen, aus denen sie emporschießen. Da ist der Glaube an die Existenz und den Wert der Gemeinschaft, in deren Namen gesprochen wird; die folgenreiche Erwartung, dass es letztlich auf jeden ankomme, dass man sich unter Umständen aber auch durch einen anderen vertreten lassen kann und muss; ferner das Verlangen nach Aufwertung der eigenen Person allein durch die Aufmerksamkeit der anderen, die unterstellte Handlungsfreiheit der Akteure sowie deren Beeinflussbarkeit durch Worte, Zeichen oder Taten. Wer in der politischen Arena auftritt, 11 Um den angeblich rein subjektiven Charakter von Bedürfnissen oder von Ansprüchen aus einer Begriffsbestimmung des Politischen herauszuhalten, ziehen es einige Vertreter der Politischen Wissenschaft vor, von „Entscheidungen“ oder auch bloß von „Institutionen“ zu sprechen. Dabei wird übersehen, dass weder Entscheidungen noch Institutionen ohne eine dahinter stehende Absicht begriffen werden können. Wie immer man also den Zugang zur Politik wählt: Die Intentionalität des menschlichen Handelns wird man nicht los. Die hier vorgetragenen Überlegungen sollen wenigstens anzeigen, dass diese Intentionen keineswegs bloß subjektiv verstanden werden müssen, sondern dass ihre politische Bedeutung immer erst im Zusammenhang gesellschaftlichen Handelns hervortritt, also mit Bezug auf Dinge, auf Ereignisse sowie auf deren allgemein anerkannte Interpretation.

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deklariert sie, selbst wenn die Tatsachen dagegen sprechen, als einen Raum möglicher Verständigung. Und auch wer insgeheim gar nicht daran glaubt, muss als Politiker wenigstens so tun, als halte er gemeinsame Ziele, Versprechen und Entscheidungen für eine wirkliche Macht im Leben der Menschen. In diesem hier nur angedeuteten Raum treten also Individuen als handelnde Subjekte auf. Sie präsentieren sich als Personen, und indem sie dies tun, handeln sie bereits als solche. Es ist demnach konsequent, sie mit allen Eigenschaften auszustatten, die Personen kennzeichnen. Sie haben nicht nur Bedürfnisse und Interessen, sondern darin auch ihre Identität, sie verfügen über Bewusstsein, beanspruchen Freiheit und sind für ihre Äußerungen verantwortlich. Dass sich im Umfeld der Politik so viele Subjekte finden, die nicht erkannt und nicht zur Verantwortung gezogen werden wollen, bedeutet keinen Einwand. Spione, Agenten, Lobbyisten oder graue Eminenzen können, für sich genommen, keine politische Atmosphäre schaffen. Sie sind Nutznießer, parasitäre Randfiguren des politischen Lebens und bleiben auf die sich tatsächlich präsentierenden, Verantwortlichkeit zumindest deklarierenden Personen angewiesen. Was zeichnet nun diese Personen im engeren Sinn als politisch handelnde Subjekte aus? Auffällig ist zunächst eine Aktivierung der Handlungserwartungen überhaupt. Dass man handeln und tatsächlich etwas bewirken kann, wird zu einer Überzeugung, die der Politiker entschieden gegen jeden Zweifel verteidigt. Die Zweifel werden bezeichnenderweise eben deshalb laut, weil im Übergang von einer privaten zu einer politischen Handlungsperspektive die Reichweite des Handlungsanspruchs wächst. Selbst wenn der Zeitrahmen in beiden Handlungssphären gleich bleibt, steigt in der Politik der Verfügungsanspruch über andere; man setzt auf die Freunde, rechnet mit Verbündeten, versucht sich die Reaktionen der Widersacher vorzustellen, bedenkt gegebenenfalls auch die möglichen Operationen der Feinde und ist in allem auf Informationen angewiesen, die man nur noch zum geringsten Teil selbst überprüfen kann. Die Risiken der Handlung, die streng genommen in keinem auch noch so beschränkten Handlungsrahmen kalkulierbar sind, werden im politischen Raum absolut unübersehbar, wollte man Maßstäbe strengen Wissens anlegen. Sicherheit lässt sich hier auch durch Einsatz wissenschaftlicher Verfahren nicht erreichen. Der schwankende Grund der Überzeugungen bietet eine wenig verlässliche Basis; gleichwohl gibt das politisch handelnde Subjekt den Anspruch auf Einflussnahme und Durchsetzung seiner Interessen nicht auf. Es muss nicht nur unter riskanten und unübersehbaren Bedingungen handeln, sondern es will dies auch. Der Politiker macht aus der Not der gemeinsamen Lage eine öffentliche Tugend. Er propagiert – in Konsequenz der übernommenen Rolle –, wenn nicht die Machbarkeit, so doch wenigstens die Steuerbarkeit der Verhältnisse. Diese Steigerung des Handlungsanspruchs selbst bei zunehmendem Risiko ist allerdings noch nicht spezifisch für die Politik. Überall, wo über viele Men-

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schen disponiert wird, nehmen die Unwägbarkeiten zu, und sie werden auch hier durch größere Überzeugungsleistungen kompensiert. Ein Kaufmann, ein Kapitän oder ein Architekt haben ebenfalls mit vielen menschlichen und sachlichen Faktoren zu rechnen, die sie nicht alle aus eigener Anschauung kennen können; sie sind deshalb aber noch nicht politisch! Den Politiker zeichnet aus, dass er die Erfolgsgewissheit nicht auf einen Problembereich beschränkt und dass er sich selbst als personifizierte Garantie für Problemlösungen überhaupt empfiehlt. Er wirbt um Vertrauen in seine Person, die dafür bürgen soll, dass Lebenslagen insgesamt gemeistert werden können. Spezielle Kompetenz hat für den Politiker nur exemplarischen Charakter. Sein Pathos liegt in der Zuständigkeit für die Gesamtsituation. Er beansprucht die Sorge für das Ganze und erwartet, dass man ihm und seinen Versprechungen glaubt. Auch wenn er für partikulare Interessen eintritt (und er tut dies in der Regel!), sucht er sie mit Blick auf die allgemeine Lage zu rechtfertigen. Ein wichtiges Kennzeichen der politischen Handlung liegt demnach in dem mit der ganzen Person verbürgten Versprechen gemeinschaftlicher Lebensbewältigung. – Um den Gedankengang etwas zu gliedern, nenne ich dies das erste Kennzeichen der politischen Handlung. Fünf weitere werden folgen.12 Das Einzige, was der Politiker nach seinen eigenen Vorstellungen braucht, um sein Versprechen einzulösen, ist Macht. Macht ist das Universalinstrument für die Lebensbewältigung im sozialen Zusammenhang, das Generalmedium, durch das alles zum Mittel für die jeweils anstehenden Zwecke werden kann.13 In dieser Universalität liegt der Grund für das verbreitete Misstrauen gegenüber der Macht, nicht minder aber auch die Bedingung für deren Unverzichtbarkeit, wann immer es um Politik geht. Macht kann man auf vielfältige Weise erlangen: durch Reichtum, durch überragende Fähigkeiten, allgemein geschätzte Schwächen oder durch den Zugang zu anerkannten Autoritäten, sei es als Erbe einer Tradition, als Repräsentant eines Glaubens oder als Günstling des Publikums. Als eine immer benötigte Quelle der Macht sollte man – auch hier Machiavelli folgend – das Glück nicht vergessen.14 Auf diese oder mögliche andere Quellen kann der Politiker vertrauen, und doch hat er sich um Macht zu bemühen, denn von Machterwerb und Machterhalt hängt für ihn alles ab. Politisch zeigt sich diese Macht in Zustimmung und Gefolgschaft. Also braucht er Anhänger und Gefährten, die seine Vorhaben 12

Sechs weitere Kennzeichen des politischen Handelns, die stärker auf den institutionellen Kontext bezogen sind, habe ich in einem Aufsatz unter dem Titel Politische Subjekte vorgetragen. 13 Vgl. v. Verf., Vom Willen zur Macht, S. 11 ff. – Welche Funktion die Machterfahrung bei der „Entstehung des Politischen“ hat, versucht Christian Meier in seinen Überlegungen zum „Könnens-Bewusstsein“ bei den Griechen des 5. Jahrhunderts zu erfassen (vgl. Meier, Das Politische und die Zeit). 14 Vgl. Machiavelli, Il Principe/Der Fürst, Kap. XXV: Quantum fortuna in rebus humanis possit, et quomodo illi sit occurendam.

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unterstützen. Dabei hängt es von den jeweiligen Umständen sowie von seinen Fähigkeiten und Zielen ab, ob und wie er sich um eine breite Basis und einen leistungsfähigen Stab bemüht. Wer bereits über große Macht verfügt, wird anders auftreten als ein noch unbekannter Aspirant; in einer Krise reagiert man empfindlicher auf Zustimmung oder Kritik; im kleinen Kreis wirbt man womöglich anders als vor der Öffentlichkeit. In jedem Fall aber muss das politisch handelnde Subjekt vermeiden, dass es mit seiner Ansicht allein bleibt. Deshalb ist es auf die Einvernahme anderer Meinungen eingestellt. Achten wir darauf, worum es in diesem Werben um Zustimmung eigentlich geht, haben wir ein zweites Kennzeichen der politischen Handlung: In allem, was ein politisches Subjekt tut, fordert es die Bereitschaft zur Mitwirkung. Es verlangt Einsatz für seine Ziele sowie entschlossene Abwehr konkurrierender Programme und Personen. Die Aktivierung von Mitstreitern und die Rekrutierung einer Anhängerschaft gehört zu den impliziten Leistungen einer jeden politischen Tat, die als solche nichts bedeutet, wenn niemand hinter ihr steht. Damit ist bereits ein drittes Kennzeichen der politischen Tätigkeit berührt: Politisch handelt niemand für sich allein. Ihren Charakter erhält die Tat erst dadurch, dass sie im Namen anderer vollzogen wird. Sie ist bereits auf der untersten Ebene bürgerlicher Mitwirkung ein repräsentativer Akt. Deshalb ist Politik vom Gedanken der Repräsentation nicht zu trennen! Was immer man vorträgt, vorschlägt, beschließt oder durchführt, geschieht in dem – zumindest vorgeblichen – Anspruch, dass dies auch für andere und letztlich für sie selbst vorteilhaft sei. Der homo politicus präsentiert sich a priori als Stellvertreter anderer. Er macht sich zum Anwalt anderer Interessen, die natürlich auch die eigenen sein können – nach Möglichkeit auch seine eigenen sein sollen! Würde er aber gegenüber seiner Klientel erklären, alle Anstrengungen unternehme er eigentlich nur zum eigenen Vorteil, hätte er seine politischen Chancen, zumindest in diesem Fall, sofort verspielt. Der Politiker ist seinem Wesen nach ein Mandatar anderer Ansprüche, auch dort, wo er nicht ausdrücklich im Auftrag der Versammlung, einer Wählerschaft oder eines Volkes handelt. In dieser relativen Freiheit von ausdrücklichen Aufträgen liegen die Chancen, aber auch die Risiken der politischen Repräsentation, auf die ich hier ebenso wenig eingehen kann wie auf das Ethos, das aus dem besonderen Charakter der politischen Handlung erfolgt. Angedeutet sei nur, dass in den drei bisher genannten Kennzeichen des politischen Handelns öffentlich gemachte Selbstansprüche des politischen Subjekts zutage treten. Der politisch tätige Mensch verbürgt sich mit seiner Person für das Gelingen eines Vorhabens, er fordert selbst die Mitwirkung anderer und legt sich auf die Vertretung ihrer Interessen durch ihn selber fest. Daraus folgen Erwartungen, denen er sich, zumindest in öffentlicher Diskussion, nicht entziehen kann. Er trägt daher eine bereits aus der Logik seines eigenen Anspruchs folgende Verantwortung für die in seinem Machtbereich eingetretenen Entwicklungen, muss bei Erfolg seinen Mitstreitern

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Machtvorteile gewähren und ist seiner Klientel prinzipiell Rechenschaft schuldig. Das Politische kennzeichnet einen Bereich, in dem man auf Gründe nicht verzichten kann, weil es durch die Vorgabe von Gründen allererst entsteht. Wer vorgibt, aus Gründen zu handeln, die anderen einsichtig sind, der muss sich auch auf diese Gründe ansprechen lassen, wenn er seine öffentlich beanspruchte Glaubwürdigkeit nicht verlieren will. Und so liegen in den die politische Sphäre konstituierenden anspruchsvollen Vorgaben implizit auch die sie regulierenden Normen. Sittliche und moralische Erwartungen brauchen also nicht von außen an das politische Geschehen herangetragen zu werden, sondern sie folgen aus der Logik der vom Subjekt selbst geltend gemachten Ansprüche; ob sie allerdings im faktischen Geschehen wirksam werden, hängt von der Kritik und von der Durchsetzbarkeit öffentlicher Kritik und Kontrolle, vor allem aber – wie übrigens in aller Moral – davon ab, dass sich die Handelnden selbst ernst nehmen. Die Ernsthaftigkeit im Handlungsanspruch und die Konsequenz im Selbstverständnis des politischen Menschen legen den Grund für ein Ethos der Politik, das durchaus mit allgemeinen Forderungen der Humanität zur Deckung zu bringen ist!15 Die drei folgenden von mir jetzt noch genannten Kriterien dürften ganz von selbst deutlich machen, welche besonderen Normen aus der Logik ernsthafter politischer Ansprüche folgen: Das vierte Merkmal ergibt sich daraus, dass im politischen Raum nur Motive anerkannt werden, die wenigstens tendenziell mit den Zielen der Gesamtheit kongruieren können. Nur das Programm hat Erfolgsaussichten, das mit den Vorteilen für eine Gruppe letztlich allen die besseren Lebenschancen verspricht. „Alle“ können alle Hellenen, alle Christen, alle Proletarier oder alle Menschen sein. Die Allgemeinheit des Bezugsrahmens hängt von der Interessenlage und von der jeweiligen Problemstellung ab, ist in ihrem Fall aber an das Selbstverständnis und damit an den Selbstbegriff der politischen Akteure gebunden. Letztlich sollte wohl die Menschheit als ganze die Bezugsgröße sein. Das erscheint abstrakt, wird politisch aber sehr schnell konkret, sobald nur irgendein Versuch gemacht wird, Politik allein im Namen der Weißen, des Proletariats, der Frauen oder des Islam zu betreiben. Hier wird sich – sowohl in der Begründung wie auch in der Kritik – stets ein großer, letztlich auf alle Menschen verweisender Bezugsrahmen einstellen. Doch im politischen Alltag muss man sich nicht immer gleich auf die Menschheit als letzte Instanz berufen! Entscheidungsrelevante politische Allgemeinheit hat sich im Normalfall an den Grenzen der gegebenen oder der unmittelbar angestrebten politischen Gemeinschaft zu orientieren. Hier geht es zunächst nur um alle Angehörigen des Bereichs, in dem man nach Macht strebt, hier also sind jeweils nur alle Athener 15 Vgl. dazu vom Verf., Selbstbestimmung; ders., Selbständigkeit und Selbstbestimmung; ders., Vernunft aus Geschichte (in diesem Band, S. 187–209).

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oder alle Römer, alle Untertanen des christlichen Kaisers, alle Deutschen oder alle Gewerkschaftsmitglieder angesprochen. Mit der Ausweitung politischer Handlungsräume gewinnen natürlich auch die bisherige politische Einheiten übergreifenden Berufungsinstanzen organisatorische Bedeutung; in Brüssel oder Straßburg wird, wie wir wissen, der Europäer keineswegs bloß im Geiste des Humanismus zitiert; die KSZE-Vereinbarungen von Helsinki sind, wie wir heute sehen, von den Menschen viel konkreter verstanden worden als von den Politikern, die glaubten, „Menschenrecht“ sei nur ein Wort zu propagandistischen Zwecken. Doch wie die Grenzen der beanspruchten politischen Gemeinschaft auch immer verstanden werden mögen –: In jedem Fall hat sich die politische Handlung auf ein soziales Ganzes zu beziehen. Noch ehe jemand dazu gelangt, die Gemeinschaft als ganze zu repräsentieren, hat er sich mit ihr zu identifizieren und virtuell in ihrem Namen zu handeln. Deshalb hat der politische Mensch, obgleich er in der Regel wohl seinen Ausgang von partikularen Interessen nimmt, sich immer auch zum Anwalt des politischen Ganzen zu machen. Der eigentliche politische Charakter der Stellvertretung ergibt sich erst mit dem Bezug auf den Lebenszusammenhang einer Gemeinschaft, der sich der politische Mensch selbst zurechnet. Die Repräsentation geschieht demnach im Zeichen einer Identifikation mit dem Ganzen und im Bewusstsein der in diesem Zusammenhang entwickelten Ansprüche an das Leben. Die auch dabei hineinspielenden Identifikationen mit allgemein menschlichen Lebensvollzügen lasse ich hier einmal beiseite. In einer auf Vollständigkeit angelegten Darstellung der Kennzeichen politischen Handelns ergäben sich durch den Bezug auf einen gesellschaftlich ausgeprägten menschlichen Lebensvollzug weitere aufschlussreiche Kennzeichen des Politischen, die mit der erfahrenen Endlichkeit des Daseins, der relativen Vergeblichkeit allen Tuns, der Generationen übergreifenden Fürsorge, mit dem Anspruch auf Selbstbildung, Erziehung und ästhetische Stilisierung sowie mit der lebensimmanenten Hoffnung auf Künftiges verbunden sind. Auch die eigentümliche, von der Politik nicht nur stets enttäuschte, sondern zugleich auch notwendig geweckte Hoffnung auf Fortschritte gehört hierzu. Doch darauf kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden; ich beschränke mich auf die spezifischen Merkmale der Politik, die sie hinreichend scharf von anderen Handlungskontexten unterscheiden. Es ist leicht einzusehen, dass die selbstständige Anwaltschaft, die zu den impliziten Momenten politischen Handelns gehört, unvermeidlich einen Leitungsund Führungsanspruch mit sich bringt. Dieser tritt insbesondere dann hervor, wenn man sich auch faktisch dazu berechtigt glaubt, im Namen einer größeren Einheit zu sprechen. Aber er tritt auch schon in den elementaren politischen Akten auf. Wer sich zum Anwalt eines nicht bloß privaten Interesses macht, der gibt damit auch vor, nicht nur für andere sprechen, sondern auch handeln zu können. Stellvertretendes Handeln aber ist ohne Führungsanspruch nicht mög-

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lich. Folglich ist ein politischer Wille ein ursprünglich, d. h. ein bereits der Absicht nach für andere disponierender Wille. Dabei kommt es seiner Intention freilich nur entgegen, wenn er auf möglichst freiwilligen Konsens bauen kann; bekanntlich werden zu seiner Durchsetzung aber auch Drohung und Zwang nicht verschmäht. Wo eine Leitungsfunktion nicht selbst angestrebt oder ausgefüllt wird, wie dies bei politisch bloß „interessierten“ Bürgern oder auch bei durchschnittlichen Parteimitgliedern der Fall ist, da wird zumindest die Notwendigkeit leitender Funktionen anerkannt. Auch die in Erwartung herrschaftsfreier Zustände angetretenen politischen Gruppierungen wählen für die Übergangszeit, in der vorläufig noch Politik gemacht werden muss, ihre „Sprecher“ und „Vorstände“; Abstimmungen sind bei ihnen so wichtig wie bei allen anderen Parteien – gelegentlich hat man den Eindruck, dass sie bei ihnen sogar noch etwas wichtiger sind. Aufs Ganze gesehen heißt das: Im politischen Akt, auch unter demokratischen Prämissen, bleibt die funktionale Entsprechung von Befehl und Gehorsam bewusst. Jede Wahl, jede Abstimmung erfolgt mit dem Ziel, verschiedene Ansichten auf einen Willen zu konzentrieren, dem auch die abweichenden Meinungen sich unterzuordnen haben. Will man das diskreditierte Vokabular von Führung, Befehl und Gehorsam vermeiden, wird man immerhin von Steuerung und Organisation sprechen müssen: Ein Politiker präsentiert sich in jedem Fall als eine steuernde Instanz. Darin liegt ein fünftes Kennzeichen des politischen Handelns. Ein sechstes und hier vorläufig letztes Merkmal folgt daraus unmittelbar, denn unter den Bedingungen von Repräsentation und Identifikation hat sich die Steuerung an einer für alle verbindlichen Ordnung zu orientieren. Damit ist nicht notwendig die faktisch geltende Verfassung gemeint. Auch das revolutionäre Subjekt, das die bestehende Ordnung aufheben will, hat einen allgemeinen Handlungsrahmen vorzugeben, der gar nicht anders als normativ gedacht werden kann. Wo sich die Politik auf Kritik und Widerstand beschränkt, kann es ausreichen, einen solchen Ordnungsrahmen lediglich durch allgemeine Prinzipien der Freiheit und Gleichheit anzudeuten; sobald das Subjekt aber in seiner steuernden Funktion aktiv hervortritt, gewinnt auch die Ordnung Kontur – und dies vor allem in formaler Hinsicht! Denn nach allem, was wir wissen, hat diese politische Ordnung stets juridischen Charakter. Es ist eine, wie auch immer beschaffene Rechtsordnung, in deren Kontext sich politische Subjekte legitimieren. Die Gemeinsamkeit eines mehrere Individuen verbindenden Willens kann unter Bedingungen der Selbstständigkeit der einzelnen Subjekte offenbar nur durch äußere, institutionalisierte Regeln gesichert werden. Verbindlichkeit kann es in der Politik nur geben, wo eine rechtliche Verfassung existiert. Und dabei haben wir uns wohl oder übel daran zu erinnern, dass eine Rechtsordnung zunächst einmal nichts anderes ist als eine Herrschaftsordnung, d. h. eine Ordnung, in der unter der Prämisse der Selbstständigkeit der einzelnen Willen die Möglichkeit der Durchsetzung eines Willens besteht. Das Recht macht diese Möglichkeit auch für den Einzelnen berechenbar.

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Politik ist, wie Kant in einem bis heute nicht hinreichend ausgedeuteten Wort gesagt hat, eine „ausübende Rechtslehre“;16 und in diesem Sinn hat sich ein politisch handelndes Wesen als eine Art ausübendes Organ des Rechts einzubringen. Will es Erfolg haben, so hat es sich als Exponent einer bestehenden oder einer künftigen Ordnung zu präsentieren. Seinen Steuerungsanspruch hat es auf Normen zu gründen, die mindestens für die Gemeinschaft gelten sollen, in der es Macht haben will. Kurz: Wenn es herrschen will, braucht es Gesetze – ganz gleich, ob es die Macht für sich oder für andere beansprucht. Damit sind einige Schritte zur inneren Vermessung der politischen Sphäre wenigstens angedeutet. Auch wenn ich keinen ausdrücklichen Bezug zur überlieferten Politikdefinition gesucht habe, dürften doch einige der klassischen Elemente der Politik erkennbar geworden sein: so etwa die Orientierung an einem gegebenen sozialen Ganzen, das Interesse an bestimmten Organisationsformen, wie sie uns in den Regierungslehren begegnen, oder die Ausrichtung auf einen durch Anerkennung gestützten Willen; so beispielsweise auch die Beziehung zur Lebenssicherung der von den politischen Akteuren vertretenen Gemeinschaft; ihre nicht nur in der Antike verteidigte Verknüpfung mit menschlichen Tugenden, insbesondere mit der Eigenständigkeit und Berechenbarkeit des Handelns, oder aber die Notwendigkeit einer rechtlichen Organisationsform, ohne die es nicht möglich wäre, unter Wahrung der Selbstständigkeit der Bürger einen gemeinsamen Willen auch nur anzustreben. Aber auch einige der in der jüngeren Debatte betonten Elemente des Politischen ließen sich mit dem von mir gewählten Verfahren herausarbeiten: So habe ich z. B. das von Leo Strauß betonte praktische Involviertsein methodologisch aufgenommen, ohne freilich seine Prämisse eines vorgegebenen Guten und Bösen zu teilen; wenn wir etwas über Wertungen ausmachen wollen, sollten wir besser auf die Logik unserer Ansprüche achten. In dieser Hinsicht könnte man Erich Voegelins Verfahren „noetischer Interpretation“ folgen, wenn man es tatsächlich – was er leider nicht tut – streng auf eine Selbstauslegung des Menschen in seiner Geschichte beschränkte. Wichtig unter den neueren Einsichten scheint mir die von Hannah Arendt hervorgehobene Pluralität der Ausgangspunkte sowie der weltliche Kontext ihrer Beziehung untereinander; damit auch der spezifisch menschliche und d. h. immer auch: der endliche Charakter des Politischen, durch den es sich von sich aus unter säkulare Bedingungen stellt. Eine „Politische Theologie“ ist daher eine contradictio in adiecto.17 Politisches Handeln in dem hier skizzierten Sinn ist ferner ohne Urteilskraft nicht zu realisieren; wobei es freilich nicht nur darauf ankommt, sich denkend an die 16

Kant, Zum ewigen Frieden, Anhang I, AA, Bd. 8, S. 370. Auf die Unvereinbarkeit von Politischer Theologie und Politischer Philosophie zielt auch der Kommentar von Heinrich Meier zum Briefwechsel zwischen Carl Schmitt und Leo Strauss (vgl. Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und der „Begriff des Politischen“). 17

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Stelle des anderen zu versetzen, sondern immer auch darauf, selbst zu denken und dies konsequent zu tun. Hier kommt man ohne ein Identitätsmoment nicht aus.18 Zur Konsequenz gehört unter politischen Bedingungen aber nicht nur logische Folgerichtigkeit, sondern auch die Anerkennung jener Bedingungen, unter denen man praktisch angetreten ist; dazu ist vor allem die Vielfalt der Interessen, die es zu vermitteln gilt, zu rechnen oder auch schlicht die Knappheit der Zeit, die politische Probleme überhaupt erst dringlich macht. Sie ist es ja, die allererst Entscheidungen verlangt. Zu den mit modernen wie mit antiken Theorieerwartungen verknüpften Punkten ist ferner die bereits im politischen Anspruch reklamierte Verantwortlichkeit zu rechnen, die es uns erlaubt, den politischen Menschen beim Wort zu nehmen, und dies in einer Weise, die den fragwürdigen Gegensatz zwischen Verantwortung und Gewissen gar nicht erst aufkommen lässt. Schließlich ist – zuletzt in der Formel von der „ausübenden Rechtslehre“, also in einer für pragmatische Überlegungen durchaus offenen Anwendung rechtlicher Prinzipien – sichtbar geworden, dass Politik auch dort, wo sie prinzipielle Ansprüche erhebt, auf historische, geographische oder ethnische Gegebenheiten bezogen bleibt. Und da zu den Gegebenheiten des menschlichen Daseins vor allem dessen Vielfalt gehört, muss Politik auf Vermittlung und Ausgleich zielen und beruhen, wenn sie überhaupt etwas erreichen will. Folglich gehören Verhandlung und Kompromiss zu den genuinen Mitteln der Politik. Dabei muss man nicht so weit gehen wie Dolf Sternberger, der den Frieden als das eigentliche Ziel aller Politik bezeichnet; es kann – jedenfalls unter den bislang geltenden Bedingungen – Situationen geben, in denen es politisch nicht mehr gerechtfertigt ist, den Frieden um jeden Preis zu wahren; gleichwohl liegt in der friedlichen Lösung von Konflikten das bereits im Ansatz der politischen Handlung in Anspruch genommene Verfahren. Im Versprechen gemeinschaftlicher Lebensbewältigung kann der Krieg immer nur das äußerste, das die Voraussetzung der Politik stets auch gefährdende Mittel sein! Unter atomaren Bedingungen ist der Krieg allerdings das Ende aller Politik. Schließlich erlaubt der gewählte Zugang auch die Würdigung des durchaus richtigen Gedankens in Carl Schmitts Vorschlag, die Freund-Feind-Unterscheidung zum Kriterium zu erheben: Es geht – so habe ich deutlich gemacht – in der Politik um die organisierte Lebenssicherung von Gemeinschaften. Dabei kommt es darauf an, nicht nur das sogenannte „nackte Leben“, sondern vor allem die akzeptierte, die bewusst gewollte Lebensform vor allen jenen zu schützen, die sie existentiell bedrohen. Und es kann gar kein Zweifel sein, dass sich an der Legitimität, eine gemeinschaftliche Lebensform notfalls auch mit Einsatz menschlichen Lebens zu verteidigen, ein wesentliches Merkmal des Politischen

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Vgl. dazu v. Verf., Politische Subjekte.

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zeigt. Nur ein politisches Handeln ist in der Lage, Instanzen auszubilden, denen wir das Recht zum Urteil über Tod und Leben zubilligen – was natürlich nicht heißt, dass es sich dieses Recht uneingeschränkt nehmen kann; es kann sich von seiner Anlage her vielmehr zu einer immer umfassenderen Erhaltung des Lebens verpflichten – und zwar immer so weit, wie es den begründeten Vorstellungen der politischen Subjekte entspricht. Deshalb kann es auch nur eine politische Instanz sein, die z. B. über die Abschaffung der Todesstrafe entscheidet. Aber wie immer auch eine Gemeinschaft entscheidet: In jedem Fall müssen Unterscheidungen zwischen denen, die diese Vorstellung teilen, und jenen, die sie zum Schaden aller bekämpfen, getroffen werden. Insofern ist die Freund-FeindUnterscheidung ein notwendiges, nicht aber ein hinreichendes Kriterium des Politischen. Damit ist angedeutet, wie sich über den von mir eingeschlagenen theoretischen Zugang zum Begriff der Politik immerhin einige der geläufigen Bestimmungen aufnehmen und verbinden lassen. Von der Handlung her hat man tatsächlich die Chance, die spezifische Rationalität des Politischen freizulegen. Und über das Kalkül des politischen Anspruchs ist die Vernunft des handelnden Subjekts – und damit die subjektiv auf Einsichtigkeit und Nachvollziehbarkeit gegründete Zielsetzung eines individuellen Lebensentwurfs – mit dem Ganzen einer Gemeinschaft verbunden. Allein über das sich zeigende Kalkül, über die symbolisch hervortretenden Erwartungen, Interessen und Entscheidungen verweist die Politik auf Freiheit, auf Verantwortlichkeit und auf die verbindliche Wirkung im öffentlichen Raum. Doch obgleich das politische Handeln sein eigenes Gesetz und seine spezifische Form der Rationalität ausprägt, so bleibt es doch im Ansatz auf moralisches und rechtliches Handeln bezogen. Denn hinter dem Kalkül politischer Ansprüche steht letztlich das Verlangen nach Selbstbestimmung: Individuen wollen im Rahmen der von ihnen mehr oder weniger anerkannten Gemeinschaft ihr Leben nach eigenen Vorstellungen führen. Und über diesen Anspruch auf Selbstbestimmung steht die politische Vernunft moralischen Prinzipien zumindest vom Ursprung her näher, als die politische Geschichte und die Auftritte einzelner Politiker vermuten lassen. Sehen wir auf die Logik des politischen Handelns, dann ist es zumindest nicht ausgeschlossen, dass Moral und Politik kompatibel sind. Alle Kritik politischer Verhältnisse unterstellt eine mögliche Verträglichkeit dieser Art, und vermutlich könnten wir uns selbst gar nicht als politisch handelndes Subjekt verstehen, wenn wir nicht die Erwartung hegen könnten, dass die politische Realität mit dem Anspruch auf vernünftige Lebensführung zur Deckung zu bringen ist. So weit diese Skizze für einen Zugang zum Begriff der Politik. Es ist dies gewiss nicht der einzige Weg! Vielleicht aber konnte deutlich werden, dass es immerhin ein möglicher Weg ist, ja dass es sogar einiges verspricht, über eine

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Analyse politischer Handlungsansprüche einen Zugang zur Politik zu eröffnen. Aber: Hat sich tatsächlich schon etwas über den Begriff der Politik geklärt? Ist nicht, genau genommen, bloß von einigen politischen Phänomenen und ihren möglichen Beziehungen untereinander die Rede gewesen, ohne damit wirklich etwas über eine Definition ausgesagt zu haben? Wenn es tatsächlich gelingen sollte, über den hier gewählten Zugang genuin politische Sachverhalte zu erschließen, dann müsste es auch möglich sein, über ihn zu einer Definition zu kommen. Mir scheint, sie tritt in den Überlegungen Schritt für Schritt hervor, und so möchte ich nicht schließen, ohne den Versuch zu machen, sie ausdrücklich zu formulieren: Wenn Handeln jenes eigentümliche Geschehen ist, in das Menschen wenigstens den Anspruch legen können, ihr Leben selbst zu führen, dann muss auch das politische Handeln mit dieser Erwartung zu tun haben. Wenn die Lebensführung des Einzelnen mit Blick auf die Vorstellungen geschieht, die er sich von sich und seinem Leben macht, dann muss es auch im gemeinschaftlich geführten Leben einen Bestand an gemeinsamen Vorstellungen geben, an denen man sich orientieren kann. Denn der Mensch kann und will nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen leben, so sehr ihn auch seine „ungesellige Geselligkeit“ immer wieder zur Distanz zu seinen Artgenossen nötigt. Und wenn individuelle Lebensführung nicht ohne leitende Einsichten denkbar ist, dann hat auch die gemeinschaftliche Lebensführung einen Willen und Instanzen eigener Einsicht auszubilden, über die sich ein organisierter Zusammenhang der einzelnen Subjekte so herstellen lässt, dass sie ihre Selbstständigkeit nicht verlieren. Und in eben dieser Erwartung einer Verträglichkeit der individuellen Lebenskonzepte wird Politik beansprucht. Das Verlangen nach einer bewussten Anlage des eigenen Daseins wird in der Einsicht, dass die individuellen Lebenskonzeptionen sich unvermeidlich überschneiden, ausdrücklich auf den sozialen Zusammenhang ausgeweitet. Bewusst in einer Gemeinschaft zu leben, so dass die eigenen Handlungsansprüche möglichst so zur Geltung kommen, dass sie auch von anderen verstanden und anerkannt werden können, das wäre nach meinem Verständnis ein politisches Leben. Das Politische entsteht somit aus dem Anspruch, das kollektive Leben nicht aus der Erwartung einsichtiger Sicherung und Lenkung des menschlichen Daseins zu entlassen. Somit ist die Politik das Organ, die Instanz und die Doktrin gemeinschaftlicher Lebensführung. Sie ist nicht identisch mit der Gesellschaft, aber sie versucht aus ihr einen bewusst geschaffenen Raum gemeinsamen Lebens zu machen. Sie organisiert allererst den eine gesellschaftliche Lebensform tragenden Willen. Insofern ist die Politik nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, die Erhaltung und Entfaltung eines gemeinschaftlich gewollten Lebens nach Vorstellungen einzurichten, die möglichst allen die Chance verschaffen, ihr eigenes Leben zu führen.

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Die genannten Kennzeichen des politischen Handelns kommen mit dieser Definition zur Deckung. Mehr noch, sie lassen erkennen, wie aus individuellen Handlungserwartungen – durch personal beglaubigtes Versprechen, durch Aktivierung von Anhängern oder durch den Anspruch auf Stellvertretung – der politische Raum überhaupt erst entsteht und wie er sich über Leistungen der Identifikation, der herrschaftlichen Organisation mit Institutionen füllt. Natürlich ist damit keine historische Aussage gemacht. Die politische Sphäre entsteht nicht etwa durch einen individuellen Handlungsanspruch; wir haben vielmehr Grund zu der Annahme, dass sich nur in bereits entwickelten politischen Gesellschaften die das Politische konstituierenden, bewussten Lebenskonzeptionen ausbilden konnten. Doch darüber haben uns die Historiker zu belehren. Handlungstheoretisch gibt es eine Priorität des individuellen Anspruchs auf Lebensführung, und es ist nicht nur wichtig, ihn theoretisch (etwa gegen Zugriffe der Systemtheorie oder der Soziobiologie) zu verteidigen, sondern ihn selbst auch politisch-praktisch zu sichern. Denn wenn Politik nicht den Lebensansprüchen der einzelnen Menschen entspricht, dann hat sie das von ihr ursprünglich intendierte Ziel verfehlt. Da der Begriff der Lebensführung in meinem Definitionsversuch so häufig verwendet wird und vermutlich befremdlich, vielleicht sogar verdächtig klingt, sei abschließend in Erinnerung gerufen, dass mit diesem Begriff lediglich – und zwar nach dem Vorbild Joachim Ritters19 – der klassische Begriff der „Praxis“ in einen Ausdruck unserer Sprache übersetzt wird. Vor Ritter war es vor allem Max Weber, der dem Begriff der Lebensführung einen modernen Inhalt gab.20 Trotz des modernen Ausdrucks für einen alten Anspruch ist zu befürchten, dass der abschließende Definitionsversuch nicht wesentlich über Aristoteles hinausgelangt ist. Seine berühmte Formel, der zufolge die Polis nicht allein um des Lebens willen, sondern um des guten Lebens willen bestehe, sagt eben dies: dass wir nicht nur einfach leben, sondern auch in Gemeinschaft nach unseren eigenen Vorstellungen leben wollen. Und die gemeinschaftliche Praxis dieses Willens ist nichts anderes als – Politik. Literatur Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, hg. v. R. Beiner, München/Zürich 1985. – Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 8. Aufl., München 2001.

19 Vgl. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles; ders., Das bürgerliche Leben, insbes. S. 68. 20 Dies hat vor allem Wilhelm Hennis in seiner eindrucksvollen Studie über Max Webers Fragestellung (1987) herausgestellt.

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– Über die Revolution, München 1963. – Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl., München 1994. Dahl, Robert A.: Die politische Analyse, München 1973. Gerhardt, Volker: Mensch und Politik. Anthropologie und Politische Philosophie bei Hannah Arendt, in: Hofgeismarer Protokolle, Bd. 258, Hofgeismar 1989, S. 44–68. – Politische Subjekte, in: Nagl-Docekal, Herta/Vetter, Helmuth (Hg.), Tod des Subjekts?, Wien 1987, S. 201–229. – Selbständigkeit und Selbstbestimmung. Zur Konzeption der Freiheit bei Kant und Schelling, in: Pawlowski, Hans-Martin (Hg.), Die praktische Philosophie Schellings und die gegenwärtige Rechtsphilosophie, Stuttgart/Bad Canstatt 1989, S. 59–105. – Selbstbestimmung. Über Ursprung und Ziel menschlichen Handelns, in: Henrich, Dieter/Horstmann, Rolf-Peter (Hg.), Ende der Metaphysik? Akten des V. Internationalen Hegel-Kongresses Stuttgart 1987, Stuttgart 1988, S. 671–688. – Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik, in: Braun, Hans-Jürg u. a. (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankf./M. 1988, S. 220–246. – Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996. Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987. Laswell, Harold Dwight/Kaplan, Abraham: Power and Society. A Framework for Political Inquiry, New Haven 1951. Machiavelli, Niccolò: Il principe/Der Fürst, ital./dt., hg. v. Ph. Rippel, Stuttgart 1986. Meier, Christian: Das Politische und die Zeit, in: ders., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankf./M. 1980, S. 375–499. Meier, Heinrich: Carl Schmitt, Leo Strauss und der „Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988. Oakeshott, Michael: On Human Conduct, Oxford 1975. Ritter, Joachim: Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles (1953), in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankf./M. 1969, S. 9–33. – Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks (1956), in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankf./M. 1969, S. 57– 105. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, Berlin 1963. Sternberger, Dolf: Begriff des Politischen, in: ders., Die Politik und der Friede, Frankf./M. 1986, S. 69–88. Strauss, Leo: What is Political Philosophy?, Glencoe, Illin. 1959. Voegelin, Eric: The New Science of Politics. An Introduction, Chicago 1952. Vollrath, Ernst: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987.

Person und Institution Über eine elementare Bedingung politischer Organisation I. Politisches Denken und politische Theorie Am Anfang der Politik steht das politische Denken. Denn nur einem Denken ist der Begriff der Sache zu verdanken, mit der wir uns befassen, wenn es um Politik gehen soll. Es ist ein Denken, dem es um abgrenzende Bestimmungen geht, damit man wissen kann, was hier – im Unterschied zu anderen Bereichen der Realität – eigentlich gefordert ist. So wird das Handlungsfeld des Stammes (syngeneia), des Dorfes (kome) oder des Hauses (oikos) von dem der ummauerten Stadt (polis) abgeschieden, um kenntlich zu machen, dass hier besondere Bedingungen des menschlichen Tuns bestehen und folglich spezifische Fertigkeiten verlangt werden – sofern man sich erfolgreich bewähren will. Nach allem, was wir über die erste Verwendung des Polis-Begriffs bei den Griechen wissen, dürfte sicher sein, dass er aus dem Anspruch kam, das Problem der Befriedung, Beherrschung und Verwaltung einer Stadt zu lösen. Es ist also bereits ein politischer Anspruch, mit dem der Begriff der Politik aufkommt. Und er zielt wie alles Denken auf die Lösung eines Problems.1 Damit ist auch schon benannt, was wir unter einem politischen Denken zu verstehen haben: Es ist ein Denken, das sich einen Wirklichkeitsbereich erschließt, um sich in ihm auch praktisch behaupten zu können. Politisches Denken ist die begriffliche Anstrengung eines politischen Menschen, der für sich – nach seinen Vorstellungen – Erfolg in eben jenem Handlungsfeld haben will, dessen Bedingungen, Besonderheiten und Grenzen er sich – notgedrungen nur zusammen mit anderen – klarzumachen versucht. Dabei ist es keineswegs trivial, daran zu erinnern, dass nur Individuen denken und letztlich auch nur Individuen handeln können. Aber gerade in politischen Zusammenhängen zeigt sich, dass Individuen keineswegs bloß für sich, sondern auch für andere denken und handeln müssen und können. Sie streben deshalb Erfolg in der Regel auch für andere an. Ein so verstandenes politisches Denken geht wohl auch der politischen Theorie voraus. Platon, dem wir eine diesen Titel erstmals verdienende politische Theorie verdanken, war ein verhinderter Politiker. Bis ins hohe Alter war er von dem Verlangen getrieben, seine Einsichten in politische Praxis umzusetzen. 1

Zur fundierenden Leistung von Problemen vgl. v. Verf., Selbstbestimmung, 1. Kap.

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Doch das dabei stets benötigte Wissen drängt zur Theorie. Deshalb entwickelt Platon nicht nur die Prinzipien der politischen Ordnung, sondern er entwirft gleich zweimal ein Grundmodell für eine den Prinzipien entsprechende politische Verfassung. Das Irritierende dabei ist allerdings, dass Platon die geschriebene Verfassung nur als die zweitbeste Lösung ansieht. Am besten wäre es, wenn da – „durch göttliche Fügung“ (theia moira) – ein Mensch zur Macht käme, der die natürliche Fähigkeit hätte, die Menschen kraft seiner Einsicht (also gewaltlos) zu überzeugen. Der brauchte keine Gesetze, die über ihn herrschen.2 Da man aber auf einen solchen Menschen nicht warten, ihn auch nicht durch Erziehung hervorbringen kann, ist das danach Beste, nach Gesetzen zu herrschen. Darin liegt Platons definitive Verabschiedung der Utopie, die aber, wie seine mehrfach vorgetragene Reflexion auf den gottgesandten Übermenschen zeigt, zu den unausweichlichen Versuchungen der Politik gehört. Solange aber Menschen Politik treiben, sind sie, wie es in den Nomoi heißt, auf das deuteron haireteon, auf die „zweitbeste Wahl“, also auf die Herrschaft der Gesetze angewiesen.3 – Dies ist eine Einsicht der politischen Theorie – eine, wie sich an diesem Beispiel zeigt, auf das Ganze des politischen Lebens gerichtete Anstrengung eines selbst politisch denkenden Menschen. Gesetzt, diese Einsicht erweist sich als treffend, dann ist es überaus irritierend, dass die politische Theorie bereits mit ihrem ersten Schritt einen denkwürdigen Umweg wählt. Ja, es hat sogar den Anschein, als entstehe sie aus einer theoretischen Hilflosigkeit und stelle nicht mehr als einen Ausweg aus einer epistemologischen Notlage dar. Denn, wenn wir Platon trauen, ist die politische Theorie, wie er sie in der Politeia entwirft, nur eine Hilfskonstruktion, um die riskante und allemal problematische Selbsterkenntnis des Menschen wenigstens praktisch ein Stück voranzubringen. Man kennt die literarische Konstellation, in der dem Gespräch zwischen Sokrates, Glaukon und Adeimantos von der Frage, wie denn jeder für sich gut und gerecht leben könne, plötzlich die Wendung zur Politik gegeben wird: Da es zu schwierig erscheint, die Tugend der Gerechtigkeit beim einzelnen Menschen zu untersuchen, schlägt Sokrates vor, die Gerechtigkeit zunächst im Großen, also 2 Vgl. Platon, Nomoi 875 c; ähnlich auch ders., Politikos 301 c/d. Ein solcher Herrscher brauchte, nebenbei bemerkt, auch keine Schrift. Also könnte sich aus dieser Parallele zur politischen Verfassung als der zweitbesten Möglichkeit die Konsequenz ergeben, dass auch die Schrift nur die zweitbeste Lösung ist. Dabei dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass Platon sich selbst der ungeheuren Mühe unterzieht, in den Nomoi eine solche Verfassung zu entwerfen und – zu schreiben! Spätestens an den Nomoi wird die These von der „ungeschriebenen Lehre“ als der angeblich wesentlichen philosophischen Leistung Platons fragwürdig. In der Politik kam es ihm darauf an, das für sie Wesentliche aufzuschreiben. 3 Vgl. Nomoi 875 d. Man sieht, dass Churchills berühmte Bemerkung über die Demokratie auch nur eine Fußnote zu Platon darstellt.

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am Beispiel der Polis zu studieren. Danach sei man dann eher in der Lage, die Gerechtigkeit auch beim einzelnen Menschen, bei dem sie – wohlgemerkt – ihren eigentlichen Ort hat, zu bestimmen. Die Polis, so wird erklärt, sei der in großen Buchstaben geschriebene Mensch.4 Und es sei nun einmal leichter, eine große Schrift zu entziffern. Die unausgesprochene Erwartung ist natürlich, dass man danach auch den klein geschriebenen Text, auf den es eigentlich ankommt, deuten könne.5 Die politische Theorie als Umweg zur Selbsterkenntnis des Einzelnen – das wäre gewiss nicht wenig! Aber es wäre dennoch eine ziemliche Unterbestimmung ihrer Aufgabe. Der Ernst und die Größe des politischen Denkens würden dadurch verkannt. Die Probleme, die sich in der Polis stellen, sind von durchaus eigenständiger Bedeutung. Man wird sie also nicht in die Beiläufigkeit abdrängen können, nur um darin ein Vergrößerungsglas für die Selbsterkenntnis des Menschen zu haben. Und dennoch ist die Tatsache des Umwegs überaus aufschlussreich. Denn sie sagt uns erstens etwas über die wahre Priorität der existentiellen Probleme, die auch die Rangfolge der philosophischen Themen bestimmt: Alle Fragen der Philosophie nehmen ihren Ausgang beim einzelnen Menschen. Was nicht auf seine Not und seine Neugier bezogen werden kann, hat keine philosophische Relevanz. Platons ungeheurer Satz, nach dem es allemal besser ist, „selbst von dem größten Übel befreit zu werden, als einen anderen davon zu befreien“,6 bleibt die Prämisse seiner politischen Theorie. Zweitens gibt uns der methodologische Umweg Aufschluss über die Struktur der Politik, also über die Eigentümlichkeit ihres Aufbaus – einschließlich des Fundaments, auf dem sie sich erhebt. – Mit diesem zweiten Punkt möchte ich mich im Folgenden ein wenig näher befassen. Dabei soll deutlich werden, dass auch die politischen Theorien nach Platon die strukturelle Entsprechung zwischen Mensch und Staat voraussetzen. Selbst die wegweisenden Innovationen durch Hobbes und Kant beruhen auf der Analogie zwischen dem individuellen und dem politisch organisierten Selbst. Person und Institution haben dieselbe organisatorische Grundstruktur. Das ist meine These. Da Hobbes und Kant heute jedoch unter dem Verdacht stehen, mit längst überholten Paradigmen des politischen Denkens zu arbeiten, sei vorab an ein jüngeres Beispiel einer Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes auf dem Um4 Vgl. Platon, Politeia, 2. Buch, 368 c/d. – Auf die Paradoxie, dass ausgerechnet der Mensch mit den kleinen Buchstaben verglichen wird, die man von Weitem lesen müsse (!) (Politeia 368 d), gehe ich hier nicht näher ein. Immerhin sagt die Stelle, dass die Selbsterkenntnis deshalb so schwer ist, weil man sich selbst so ferne ist. – Zur Problematik der Analogie zwischen Mensch und Polis bei Platon siehe Williams, The Analogy of City and Soul in Plato’s Republic. Dazu mit treffender Kritik: Höffe, Zur Analogie von Individuum und Polis, S. 86 ff. 5 Vgl. dazu vom Verf., Der groß geschriebene Mensch. 6 meßzon Ügaqün Ýstin aýtün Üpallaghnaikakoý toý megßstou h allon ÜpallÜcai (Gorgias 458 a; Hervorh. v. m.).

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weg über die Politik erinnert: Es handelt sich um Marvin Minskys viel diskutierten Beitrag zur Kognitionsforschung. Der Titel seines Buches sagt hier beinahe schon alles. Er lautet: Mentopolis. Mit Mentopolis wird der Versuch gemacht, den menschlichen Geist nach Analogie einer politisch organisierten Gesellschaft zu beschreiben.7 Leider ist das Politische in diesem Vergleich reichlich unterbestimmt, sodass die Analogie streng genommen nur die einfachere Ebene bloßer gesellschaftlicher Organisation erreicht. Doch da der Autor gleichwohl glaubt, er beziehe sich bereits auf Polis-Strukturen, können wir ihn getrost beim Wort nehmen und uns – wenn auch ungläubig – vor Augen führen lassen, dass sich hier ein Psychologe daran macht, ohne auch nur eine Ahnung von seinen großen philosophischen Vorgängern zu haben, den Geist des Menschen (und das heißt in diesem Zusammenhang: die Funktionsweise der menschlichen Intelligenz) nach der Analogie gesellschaftlicher Prozesse zu erklären. Minsky beginnt sein Buch mit dem Beispiel eines Agenten, dessen Spezialität es ist, Türme aus Bauklötzen zu errichten. Auch wenn man nur einen Turm baut, also nur eine Tätigkeit verrichtet, muss man gleichwohl verschiedene Leistungen erbringen: Man muss einen Anfang machen, muss neue Bauklötze hinzufügen und muss entscheiden, wann der Turm fertig ist. Alles dies sind separate Leistungen. Minsky spricht von Tätigkeiten (actions) – und wir verstehen, was er meint. Zu jeder Aktion aber gehört ein Agent. Der Agent, d. h. der Erbauer benötigt also die Hilfe von Subagenten, die für das Anfangen, Hinzufügen und Aufhören zuständig sind. Diese sogenannten Subagenten benötigen weitere Subsubagenten, die für das Finden, Nehmen und Legen verantwortlich sind. Alle Aktivitäten dieser Agenten verbinden sich zur Lösung der Gesamtaufgabe, einen Turm zu errichten. Wollen wir uns den Erbauer als einen einzelnen Agenten vorstellen, dann ist Erbauer eben derjenige, der alle Aktivitäten der Subagenten und Subsubagenten koordiniert. Man verstehe aber, so Minskys These, diesen Erbauer viel besser, wenn man ihn nicht als einzelnes Wesen, sondern als eine Agentur begreife, in der wie in gesellschaftlicher Kooperation verschiedene Subagenten unter planvoller Anleitung zusammenwirken.8 Einen ähnlichen Vergleich interner organischer Kooperation mit gesellschaftlicher Zusammenarbeit hatte schon Jakob von Uexküll herangezogen, als er die einfacher strukturierten Tiere als eine „Reflexrepublik“ bezeichnete. 9 Wenn es richtig ist, dass es einen „Kampf der Teile im Organismus“ gibt,10 einen 7

Vgl. Minsky, Mentopolis (1990). Siehe dazu Varela/Thompson/Rosh, Der mittlere Weg der Erkenntnis, S. 149 ff. 9 Vgl. v. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, S. 95. 10 Heute wieder verstärkt zitierter Buchtitel von Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der organischen Zweckmäßigkeitslehre, Leipzig 1881. 8

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Kampf, den die moderne Biologie nicht erst zwischen den Organen, sondern bereits zwischen den einzelnen Zellen, ja, sogar zwischen den Organellen der Einzeller ausmachen zu können glaubt, dann ist in der Tat eine überaus wirksame Kohäsion und Kooperation vonnöten, wenn ein lebendiges Wesen überhaupt funktionsfähig sein soll. Und es schafft dies offenbar nur mit arbeitsteiliger Koordination unter dem Primat einer strikten Entscheidungshierarchie – aber offenbar ohne Gewaltmonopol.

II. Die Analogie von Mensch und Staat bei Platon Es bedarf keiner besonderen Betonung, dass Platon in der Politeia um einiges anspruchsvoller ansetzt als „Mentopolis“, „Reflexrepublik“ oder das Marktmodell von der „Konkurrenz der Teile“. Platon nämlich versucht zu begreifen, was es auf beiden Seiten der Analogie zu erkennen gibt, und ist bemüht, dieses beides im Zusammenhang zu denken. Nur so können sich politische Theorie und ethische Anthropologie wechselseitig zur Philosophie ergänzen. Die Philosophie aber, da sie nichts für diesen Zusammenhang Wesentliches auslassen kann, wird notwendig zu dem, was später Metaphysik genannt wird und heute auch getrost noch so betrieben und bezeichnet werden sollte. Zwar wird im Windkanal der Moderne unablässig versucht, die Sperrigkeit des Anspruchs auf das uns wesentliche Ganze wegzumodellieren. Doch dabei müsste der Mensch sich selber eliminieren, was er, allein schon aus Gründen der Eitelkeit gar nicht kann. Sollte ein globales Unglück dennoch zum Selbstverlust des Menschen führen, wäre freilich einiges mehr verloren als bloß die Metaphysik. Die gediegene Gründlichkeit Platons zeigt sich darin, dass er selbst dort schon einen Gegensatz ausmacht, wo ihn die modernen Theoretiker gar nicht mehr auszuhalten vermögen: nämlich im Selbst des Menschen. Während heute die Neigung besteht, angesichts der widerstreitenden Tendenzen im Inneren des Subjekts die Aufhebung des Selbst oder gar dessen „Tod“ zu diagnostizieren, ist dies für Platon eher ein Indiz für dessen Lebendigkeit. Auch wenn uns das Bild vom Seelenwagen aus dem Phaidros reichlich überschwänglich und märchenhaft vorkommen mag (Platon entschuldigt sich ja selbst mit guten Gründen dafür): Der Mythos könnte kälter und nüchterner nicht sein, wenn wir auf die Einheit der Person Acht haben. Denn die kommt bestenfalls in der Ausführung einer Handlung zum Vorschein und besteht dann nur im Effekt des Tuns. Wir erfahren, dass die Seele des Menschen aus drei grundverschiedenen Kräften besteht, wobei zwei mit aller Gewalt gegeneinander stehen; die dritte ist mit unsicherem Erfolg um die Bändigung der widerstreitenden Kräfte bemüht. Gemeint sind das gefiederte und das irdene Ross sowie der Wagenlenker, die zusammen das Selbst des Menschen bilden. Um anschaulich zu machen, welche Gegensätze hier in jeder einzelnen Seele wirksam sind, genügt es, an die Bändigung der einen Kraft zu erinnern: „[Der Führer] beugt sich hinter-

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wärts, zieht noch gewaltsamer dem wilden Rosse das Gebiß aus den Zähnen, daß ihm die schmähsüchtige Zunge und die Backen bluten, und, Schenkel und Hüften am Boden festhaltend, läßt er es büßen.“ 11 Wüssten wir nicht, dass Platon hier eine Situation beschreibt, in der für einen Mann in seiner Schicht (und mit seinem Anspruch) tatsächlich äußerste Selbstbeherrschung nötig ist, müsste schon die Grausamkeit der Schilderung unseren Verdacht erregen. Doch selbst wenn wir diesem Verdacht nachgäben, würde die Einsicht in den Kriegszustand im Inneren der Seele nur bekräftigt. In der Seele tobt ein Kampf der Elemente, der nur in lebenslanger Anstrengung gemäßigt und auf ein Ziel ausgerichtet werden kann. Nur mit Blick auf einen dominierenden Zweck können die widerstrebenden Kräfte gebündelt werden, und sie haben ihre Einheit nur im Akt der Realisierung des Zwecks. Für die Durchführung einer Tat ist es nun von größter Wichtigkeit, dass wir in der Lage sind, Herr über uns zu werden. Das ist, wie wir aus den Nomoi wissen, für Platons politische Theorie von entscheidender Bedeutung: Der Mensch ist zwar von inneren Gegensätzen bestimmt: Aber wer des Krieges in seinem Inneren nicht Herr wird, ist unfähig zur Politik. Also demonstriert der Athener dem Kreter Kleinias in einem Beweisgang, der mit unerhörter Konsequenz von der höchsten politischen Gewalt unmittelbar in das Herz des Menschen führt, dass der Krieg nicht das Ziel der Politik sein kann.12 Die so modern erscheinende funktionale Einheit der Seele und des Staates mag überraschen. Erwarten wir doch insbesondere bei Platon eine substantielle Verfassung des Selbst, ohne die wir meinen, die poetischen Mythen von Seelenwanderung und Wiedererinnerung nicht verstehen zu können. Doch was immer es mit diesen an der Grenze der begrifflichen Mitteilung erfundenen Bildern auf sich hat: Platon sieht sich durch sie keineswegs genötigt, die Seele als eine sich gleichbleibende Substanz zu beschreiben: Im Symposion, um nur ein Beispiel zu geben, wird auch die Psyche zu den veränderlichen Dingen gerechnet. Insofern teilt sie das Schicksal des Körpers: Der Körper (soma) ist, wie Diotima sagt, nie derselbe; er ist etwas, das „immer ein neuer wird (neos aei gignomenos) und altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen [und] Blut [. . .]“ 13. Doch auch die Seele (psyche) ist vielfältigen Veränderungen unterworfen; im Wechsel der „Gewohnheiten, Sitten, Meinungen, Begierden, Lust, Unlust [und] Furcht“ bleibt auch sie nicht dieselbe, noch nicht einmal „in bezug auf die Erkenntnisse“ (kata epistemeas)!14

11 12 13 14

Platon, Phaidros, 254 e. Vgl. Platon, Nomoi 626 e–628 c. Platon, Symposion 207 d/e. Vgl. ebd. 208 a.

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Die Seele also findet nur in der Veränderung zu sich selbst, und das auch nur, wenn sie in allem Wandel nach etwas strebt, worin sie ihre besten Kräfte vereinigt sieht. Dies kann für den Menschen, der in Einsicht und Erkenntnis nun einmal seine besten Kräfte hat, letztlich nur etwas Geistiges, also Begriffliches sein. Im Selbstvertrauen auf die eigenen Kräfte braucht ein solches Individuum dann nicht mehr den Himmel zu stürmen,15 um über sich hinauszugehen; es braucht auch nicht auf den theia moira gesandten politischen Führer zu warten, sondern es hat die Liebe, die mit aller Leidenschaft, mit der ganzen Kraft des endlichen Strebens auf etwas zielt, das ihm Beständigkeit, vielleicht sogar epistemische Dauer verleiht. Und um eben diese Sicherung von Beständigkeit und Dauer des stets in die Generationenfolge eingebundenen individuellen Lebens geht es in der Politik. Der Mensch kann sie nicht nur verstehen, sondern auch von sich aus betreiben, weil er sich in ihr letztlich selber begegnet, sodass er Aussicht auf Erfolg seines politischen Handelns hat, wenn er es grundsätzlich so anlegt wie die Führung seines eigenen Lebens. Die Tugenden, die er für sich selbst als erstrebenswert ansieht, gelten daher auch für ihn als Bürger und Staatsmann – bei Platon natürlich primär, ja vielleicht ausschließlich für den führenden Politiker.16 Sogar ihre Einheit findet die Polis stets erst in der Funktion: Als handlungsfähiges Ganzes entsteht sie allererst gegen den Widerstand auflösender Kräfte im Äußeren wie im Inneren. Die Selbstbehauptung gegen einen Feind ist die platonische Konstitutionsbedingung der Politik; sie lässt das Eigene der polis, also ihr „Selbst“ überhaupt erst im Zuge ihrer bewussten Organisation entstehen.17 Der Primat der Politik liegt dabei in der Stiftung von Konsens. Das setzt zwar empirisch wie logisch den Konflikt voraus; aber es würde die Aufgabe der Politik, insonderheit der politischen Organisation, gar nicht erst erkennen lassen, wenn wir dem Konflikt den Primat zuerkennen wollten.18 Die Personen müssen vielmehr aus eigenem Antrieb und eigener Einsicht zu einer Verbindlichkeit gelangen, die es ihnen erlaubt, tatsächlich zusammenzuleben. Es sind die Individuen, die handeln (und niemand sonst); und sie können als Individuen nur durch ein von jedem Einzelnen vorgestelltes Ziel, in dem sie sich selbst als verbunden denken, motiviert werden. Dies ist die alle Politik tragende Leistung der Herstellung von Konsens. 15

Wie die Kugelwesen des Aristophanes. Dazu Höffe, Zur Analogie von Individuum und Polis, S. 92. 17 Nur ist Platon nicht so kurzsichtig, in der Feindbedingung schon die wesentliche Definitionsbedingung der Politik ausmachen zu wollen, wie dies bei Carl Schmitt der Fall ist. Um seinem Ansatz den Anschein schneidiger Modernität zu geben, hat Schmitt jeden Hinweis auf Platon vermieden. Siehe dazu v. Verf., Politisches Handeln, in diesem Band, S. 65–81; ders., Der groß geschriebene Mensch. 18 Dies betone ich insbesondere gegen Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 276 ff. 16

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III. Souveränität als Seele des Staates Zu dieser Auffassung scheint die politische Theorie von Thomas Hobbes in einem diametralen Gegensatz zu stehen. Denn in ihr hat der Konflikt eine so dominante Stellung, dass der Konsens sekundär zu werden scheint. Doch der Schein trügt. Das organisatorische Ziel allen politischen Handelns ist auch hier die Herstellung und die Sicherung des Friedens, der für Hobbes nicht einfach nur in der Abwesenheit von Krieg besteht. Das „erste und grundlegende Gesetz der Natur“ (The first and fundamental law of nature) lautet: „Suche Frieden und halte ihn ein.“ Und entsprechend erweitert lautet das zweite Gesetz der Natur: „Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit so viel Freiheit gegenüber anderen zufriedengeben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde.“ 19

Dieses alle anderen politischen Regeln leitende Gesetz fordert also die Kooperation und damit die Einschränkung der eigenen Freiheit im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens. Ich betone noch einmal, dass der Sinn einer solchen Zielsetzung nur vor dem Hintergrund tatsächlicher oder möglicher Konflikte zu verstehen ist. Das ändert aber gar nichts daran, dass der entscheidende Schritt zum politischen Handeln in der Kooperation besteht. Man kann dieses Konstruktionselement des Leviathan noch verschärfen, indem man sagt: Es kommt zur Politik nur durch eine Selbstaufforderung des Individuums zu kooperativem Handeln. Der einzelne Mensch muss in der Lage sein, sich in der Vorstellung auf ein gemeinsames Ganzes selbst einzuschränken. Wo diese Fähigkeit fehlt, ist Politik nicht möglich. Vor diesem Hintergrund scheint es gar nicht mehr so verwunderlich, dass auch Hobbes die Ausgangsvoraussetzung der platonischen Politik beibehält. Hobbes’ Polemik gegen die Überlieferung ist ja auf die Scholastik bezogen und auf die von ihr reklamierte Autorität des Aristoteles. Die antiken Autoren, insbesondere Platon und Thukydides, werden stets mit größter Anerkennung erwähnt. Und so ist es auch nur konsequent, wenn Hobbes sein großes Buch, das ja viel mehr enthält als bloß eine politische Philosophie, mit der Aufforderung zur Selbsterkenntnis beginnen lässt. Das nosce te ipsum eröffnet für ihn den Zugang nicht nur zu sich selbst, sondern zu jedem anderen Menschen: „[. . .] jedermann, der in sich selbst blickt und darüber nachdenkt“, kann aus „seinem Denken, Meinen, Schließen, Hoffen, Fürchten usw. und deren Gründen lesen und erkennen [. . .], welches die Gedanken und Leidenschaften aller anderen Menschen bei den gleichen Anlässen sind“ 20. 19 Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Kap. 14, S. 100.

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Dieser Schluss von sich auf andere erlaubt dann die These, dass, wer eine Gesellschaft, ein Common Wealth, zu regieren habe, in der Lage sein müsse, „in sich selbst zu lesen“. Doch das ist, wie wir spätestens seit Sokrates wissen, gar nicht so leicht. Hobbes macht denn auch keinen Hehl aus den Problemen, die das In-sich-selber-Lesen mit sich bringt. Aber die Politik lässt uns keine andere Wahl, als es mit den Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis aufzunehmen: „Obwohl das schwierig ist, schwieriger als das Erlernen jeder Sprache oder Wissenschaft, so wird doch die Mühe, die einem anderen bleibt, wenn ich meine eigenen Lesefrüchte geordnet und klar dargelegt habe, nur in der Überlegung bestehen, ob er in sich nicht auch das gleiche findet.“ 21 Diese Basisbedingung politischen Erkennens muss man im Bewusstsein haben, wenn Hobbes im 16. Kapitel des Leviathan den Staat als Grundrelation einer jeden politischen Konstruktion behandelt. Er spricht hier vom Übergang einer Person zur Institution, und wir sehen, dass die Herstellung des Staates aus einem personalen Akt besteht. Um dies verständlich zu machen, bedarf es zunächst einer Definition des Begriffs der Person: „Eine Person (person) ist der, dessen Worte oder Handlungen entweder als seine eigenen angesehen werden, oder als solche, die die Worte oder Handlungen eines anderen Menschen oder Dinges vertreten, denen man sie tatsächlich oder durch Fiktion zuschreibt.“ 22 Zur Erklärung fügt Hobbes einen Hinweis auf die lateinische Herkunft des Begriffs der Person hinzu, die inzwischen zum philosophischen Alltagswissen gehört: „Das Wort ,Person‘ ist lateinischer Herkunft. Die Griechen sagen dazu prosopon, was das Gesicht (face) bedeutet, wie auch persona auf lateinisch eine Verkleidung (disguise) oder die äußere Erscheinung (outward appearance) eines Menschen bedeutet, der auf der Bühne dargestellt wird, und manchmal auch in einem engeren Sinn den Teil, der das Gesicht verkleidet, wie eine Maske oder ein Visier. Und von der Bühne wurde dieser Begriff auf jeden übertragen, der stellvertretend redet und handelt, im Gerichtssaal wie im Theater. So ist also eine Person dasselbe wie ein Darsteller (actor), sowohl auf der Bühne als auch im gewöhnlichen Verkehr, und als Person auftreten heißt soviel wie sich selbst oder einen anderen darstellen oder vertreten. Und stellt jemand einen anderen dar, so sagt man, er verkörpere seine Person oder handle in seinem Namen. In diesem Sinn verwendet Cicero diesen Begriff, wenn er sagt: Unus sustineo tres personas; mei, adversarii, et judiciis – ich verkörpere drei Personen, mich selbst, meine Gegner und die Richter. Und bei verschiedenen Gelegenheiten wird sie verschieden bezeichnet, z. B. als Vertreter oder Vertretung (representer, or representative), Stellvertreter (lieutenant), Vikar (vicar), Anwalt (attorney), Abgeordneter (deputy), Bevollmächtigter (procurator), Darsteller (actor) und dergleichen.“ 23 20 21 22 23

Ebd., Einleitung, S. 6. Ebd., S. 7 (Hervorh. v. mir – V. G.). Ebd., S. 123. Ebd.

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Wir sehen, wie Cicero einmal mehr als Vermittler zwischen antikem und neuzeitlichem Denken wirkt. Die mit dem platonischen Gleichnis vom Seelenwagen gut vereinbare innere Dreiteilung des Individuums in mich selbst, meine Gegner und meine Richter, die heute bei vielen Autoren so behandelt wird, als sei sie erstmals von Adam Smith entdeckt,24 wird von Hobbes als Modell einer Gesellschaft im Kleinen ausgelegt: In mir selbst habe ich bereits – zumindest im Prinzip – die Vielfalt, die mir dann im äußeren Verhältnis der Menschen zueinander erneut begegnet. Und so wie ich in der Lage bin, mit mir selbst als einer Vielfalt von gegensätzlichen Strebungen umzugehen, so werde ich auch in der Lage sein, mich im Umgang mit wirklichen Personen zu bewegen. Die „künstliche Person“ (wie wir auch heute noch sagen – die „Körperschaft“) besteht im Wesentlichen also aus eben jenen Momenten, aus denen das Individuum entsprechend seiner Selbsterkenntnis zusammengesetzt ist. Die „künstliche Person“ wird ganz analog zur natürlichen Person, die jeder von uns für sich selber ist, aufgebaut. So zeigt sich bereits im Verhältnis von Person und Institution alles das, was in der Beziehung zwischen dem einzelnen Individuum und dem politic body,25 also dem noch von Hobbes so genannten artificial man zum Ausdruck kommt. Deshalb gilt: Alles folgt aus der Selbsterkenntnis des Menschen. Das ließe sich auch für die aller „POLITICS, and CIVIL PHILOSOPHY“ vorausliegende „NATURAL PHILOSOPHY“ zeigen, die zunächst die bodies natural in ihrer ganzen Vielfalt als bodies transient and bodies permanent bis hin zu den bodies terrestrial mit den sensitive bodies der Tiere, zu denen auch die Menschen gehören, untersucht. Zuallerletzt werden dann auch die Sprache, die Überzeugungskraft und das Denken der Menschen verhandelt (ebd.). Der physikalistische Ausgangspunkt kommt durch Subtraktion jener am Menschen beobachteten Eigenschaften zustande, die dann im Gang des Verfahrens Stück für Stück hinzugefügt werden, sodass sich am Ende wieder der Mensch als der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft einstellt. So ergibt sich ein ganz neuer Sinn der Verknüpfung der resolutiven mit der kompositiven Methode: Die Analyse geht vom Menschen aus, um auf die Basiselemente der bewegten Wirklichkeit zu stoßen, und kehrt von daher synthetisch wieder zu ihm zurück. Dabei geht Hobbes sogar so weit, Ethik, Poetik, Rhetorik, Logik und die Wissenschaft vom Rechten und Unrechten („The Science of JUST and UNJUST“) als äußersten Zweig der „NATURAL PHILOSOPHY“ darzustellen, obgleich man eben das Wissen von der Gerechtigkeit eher im Zusammenhang der 24

So z. B. Ernst Tugendhat in seinen Vorlesungen über Ethik, S. 281 ff. In dem großartigen Schema aller wissenschaftlichen Erkenntnis, mit dem Hobbes das IX. Kapitel des Leviathan abschließt, ist von den „Consequences from the accidents of politic bodies; which is called POLITICS, and CIVIL PHILOSOPHY“ die Rede (Hobbes, Leviathan [engl. Orig.], S. 72). 25

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„CIVIL PHILOSOPHY“ erwartet hätte. Doch eben diese Zuordnung beweist die durchgängige Priorisierung der mitten ins Herz der Natur zielenden Selbsterkenntnis des Menschen, auf die erst in der Folge die Organisation des Staates gegründet werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch bei Hobbes alles funktional ausgerichtet. Die Person ist allein auf den Handlungsvollzug angelegt; sie wird also allein in der „Bewegung“ (motion) verstanden, die sie selbst veranlasst. Handlung gibt es somit nur in Relation auf die erkennbare Äußerung. Die Politik ist damit eine Organisation aus geäußerter Gegenseitigkeit und wechselseitiger Vertretung, die aber nur verständlich ist, weil jeder in sich selbst bereits die Verhältnisse vorfindet, die im Großen institutionell zum Ausdruck kommen. Der Staat als artificial man ist selbst die größte vom Menschen bewusst geschaffene technischpraktische Einrichtung. Und als solche ist der Staat lediglich die Nachahmung des „hervorragendsten Werkes der Natur“, nämlich des Menschen: „Die Kunst geht noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste Werk der Natur nachahmt, den Menschen. Denn durch Kunst wird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat [. . .], der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch [. . .].“ 26 Dieser künstliche Mensch zeichnet sich gegenüber dem natürlichen Menschen durch eine „größere Gestalt und Stärke“ aus (greater stature and strength). Er ist zu dem Zweck errichtet (intended), die von der Natur geschaffenen kleineren und schwächeren Einzelmenschen zu schützen. Doch der Vergleich beschränkt sich nicht auf die Größe und die äußere Wirkung! Er bezieht auch das Innere des Menschen wie des Staates ein. Denn im Staat und seiner Absicht wirkt, wie im einzelnen Menschen, eine „Seele“, ohne die er nicht tätig werden könnte. Wenn man den mechanistischen Grundzug der ganzen Konstruktion für bare Münze nimmt, traut man seinen Augen nicht: Ausgerechnet seinen staatstheoretischen Zentralbegriff, nämlich den durch und durch modernen Begriff der Souveränität führt Hobbes in einer Analogie mit dem angeblich doch hoffnungslos veralteten Begriff der Seele ein: „Die Souveränität stellt [. . .] eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt.“ 27 Und erst, nachdem die Seele für die Absicht des ganzen Staates namhaft gemacht worden ist, folgen die körperlichen Funktionen: Die Gelenke (joints) entsprechen den Beamten und Bediensteten; die Nerven (nerves) haben ihr Pendant in Belohnung und Strafe; die physische (vielleicht auch die psychische) Kraft 26 „Art goes yet further, imitating that rational and most excellent work of nature, man. For by art is created that great LEVIATHAN called a COMMONWEALTH, or STATE, in Latin CIVITAS, which is but an artifical man.“ (Hobbes, Leviathan, ed. Gaskin, S. ix) 27 „[. . .] the sovereignity is an artifical soul, as giving live and motion to the whole body.“ (Ebd.)

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der Glieder des Individuums korrespondiert dem Wohlstand (wealth and riches) der Sozietät; das Gedächtnis (memory) kommt in den Ratgebern (consellors) zum Ausdruck; schließlich liegen Wille und Vernunft des Staates in nichts anderem als den die Gleichheit sichernden Gesetzen (equity and law). Um die Parallele bis zum natürlichen Ende durchzuführen, gibt es Gesundheit, Krankheit und Tod des Individuums als Eintracht (concord), Aufruhr (sedition) und Bürgerkrieg (civil war) auch auf der Ebene des Staates. Der den Staat konstituierende Vertragsschluss ist nach alledem aber nichts anderes als das nunmehr vom Menschen wiederholte fiat, das die Schöpfungsgeschichte Gott vorbehält: „Endlich aber gleichen die Verträge und Übereinkommen, durch welche die Teile dieses politischen Körpers zuerst geschaffen, zusammengesetzt und vereint wurden, jenem fiat oder ,Laßt uns Menschen machen‘, das Gott bei der Schöpfung aussprach.“ 28 Bei einer so weit durchgeführten Parallele zwischen menschlichem Individuum und staatlicher Organisation kann es freilich nur in Erstaunen versetzen, wie wenig bei Hobbes über den eigentlichen Akt der Gründung zu lesen ist. Erst bei näherem Zusehen erkennt man, dass hier tatsächlich nicht eben viel gesagt werden muss. Denn die durchgängige Analogie von Mensch und Staat macht den organisatorischen Akt der Gründung zu einer Selbstverständlichkeit par excellence. Das heißt: So wie man die Führung seines eigenen Lebens versteht, so versteht man auch den institutionellen Ursprungsakt der politischen Organisation. Wenn ich richtig sehe, sagt Hobbes dazu nur einen Satz, und es entspricht meiner These, wenn ich hinzufüge, dass dieser eine Satz im Grunde auch genügt. Er lautet: „Eine Menge von Menschen wird zu einer Person gemacht, wenn sie von einem Menschen oder einer Person vertreten wird und sofern dies mit der besonderen Zustimmung jedes einzelnen dieser Menge geschieht.“ 29 Der nachfolgende Satz bringt nur eine Erläuterung, die ich hier nur noch aus rhetorischen Gründen hinzufüge: „Denn es ist die Einheit des Vertreters (representer), nicht die Einheit der Vertretenen (represented), die bewirkt, daß eine Person [also eine Institution] entsteht.“ 30 Die Vertretung der Vielen durch einen ist der entscheidende Akt! Und er versteht sich deshalb buchstäblich von selbst, weil schon das Selbst eines jeden Einzelnen in einer solchen Vertretung besteht. Denn die Bändigung der widerstreitenden Kräfte (wie Platon gesagt hat) oder die Vertretung der verschiedenen Instanzen (wie Hobbes nach Cicero feststellt) erfolgt in der tätigen Äuße28

Hobbes, Leviathan (dt.), Einleitung, S. 5. Ebd., Kap. 16, S. 125. 30 Ebd., Kap. 16, S. 125 f. Zusatz von mir. – Der Begriff der „Institution“ kommt in dem hier gebrauchten Sinn bei Hobbes noch nicht vor, ist aber der Sache nach durch den artificial man gegeben. 29

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rung, in der jeder aus sich heraustritt und im Bewusstsein, damit vor seinesgleichen hinzutreten, sich selbst vertritt. So werden die konstitutiven Merkmale der politischen Organisation von jedem Einzelnen in sich selbst erfahren. Nur weil man in sich jenes „Selbst“ schon ausgebildet haben muss, um überhaupt handlungsfähig zu sein, verfügt man über die Voraussetzungen, um auch das „Selbst“ des Staates, seine aus der Gesamtheit folgende Handlungskompetenz, die Souveränität, zu verstehen. Und wie man es versteht, so macht man es dann, wenn man (aus welchen Gründen auch immer) willens ist, stellvertretend nicht nur für sich, sondern auch für andere tätig zu sein. Nur auf dieser Basis ist die Herstellung des artificial man, also jenes body politic möglich, der im Titelkupfer des Leviathan jedem Leser in die Augen sieht. Diesen Aspekt des inzwischen eingehend gedeuteten Titelblatts hat bislang noch kein Interpret gewürdigt: Jeder denkt, hier schaue der König auf seine Untertanen herab. Reinhard Brandt kann in seiner eindringlichen theologischen und kunsttheoretischen Deutung wahrscheinlich machen, dass die eikon basilike auf den Fürsten blickt, an den das Buch gerichtet ist.31 Es gibt keinen Grund, an dieser Deutung zu zweifeln. Aber sie bedarf der Ergänzung: Denn nach der Konstruktionslogik des artificial man ist es unser eigenes Geschöpf, das sein Auge auf niemand anderen richten kann als auf seine Konstrukteure. Das schließt nicht aus, dass in diesem Blick auch noch das Göttliche enthalten ist, das der Mensch aus den Zusammenhängen erschließt, in denen er lebt. Aber selbst wenn das Standbild des Fürsten auf dem ingeniösen Frontispiz die „Epiphanie des Erlösers“ darstellen sollte, bleibt eben darin das Moment der Ebenbildlichkeit gewahrt, in dem der Mensch nicht nur seinen Gott, sondern immer auch sich selbst erkennt. Das aber heißt nichts anderes, als dass der Blick eine Selbstaufforderung enthält, sich für die politische Institution, sofern sie unsere Person erhält, mit eben der Kompetenz einzusetzen, mit der wir unsere eigene Person vertreten. Und eben darin liegt die praktische Logik der Entsprechung von Person und Institution, der sich die Politik nicht entziehen kann: Da das Ganze eines politischen Körpers nur den Gesetzen gehorchen kann, die jeder von sich selbst her kennt, und da die politische Gewalt das Individuum auf Dauer nur wirklich einbinden kann, wenn es ihm suggeriert, es käme auf seine Mitwirkung an, muss es den Einzelnen, nach dessen Vorbild es konstruiert ist, letztlich auch als politisches Subjekt anerkennen. Die Konsequenz der politischen Institution, die theoretisch ganz auf der Person basiert, die jeder für sich selber ist, zielt daher auch auf die tätige Einbindung jedes Einzelnen ab.

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Vgl. Brandt, Das Titelblatt des Leviathan und Goyas El Gigante, S. 44.

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Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Platon und Hobbes so weit noch nicht gedacht haben. Sogar Kant hat sich gegen diese Konsequenz anfangs gewehrt. Dabei ist er schließlich so weit gegangen, die Demokratie als in sich selbstwidersprüchlich zu verwerfen. Doch dann ist ihm aufgegangen, dass die theoretische Implikation der politischen Repräsentation, nämlich die Selbsterkenntnis des Repräsentierten – und zwar aus der inneren Logik der Institution heraus – eines praktischen Fundaments bedarf. Und das liegt in der Anerkennung der Person als des selbst politisch handelnden Wesens. Und so ist Kant am Ende nicht zufällig der Erste, der den Begriff der Selbstbestimmung zur Definition der politischen Institution verwendet.32 Das ist deshalb so aufschlussreich, weil Kant den Begriff der Selbstbestimmung auch als Erster zur Selbstbeschreibung individuellen Handelns verwendet.33 So schließt sich bei ihm der mit Platon theoretisch eröffnete hermeneutische Zirkel zwischen Mensch und Politik in einem Grundbegriff. Es ist der gleiche Begriff für denselben Sachverhalt einmal beim Individuum und zum anderen bei der politischen Organisation. Dieser selbe Begriff macht klar, dass wir der wechselseitigen Bestimmung von Person und Institution auch praktisch nicht länger ausweichen können: Der Staat kann sich im vollen Sinn des Wortes nur selbst bestimmen, wenn es auch seine Bürger tun. Und die Bürger werden ihre freie Selbstbestimmung nur in einem sich selbst nach Recht und Gesetz bestimmenden Gemeinwesen ausüben können. IV. Politik als Selbstbestimmung Diese bei Platon und Hobbes offenkundige Analogie zwischen Person und Institution kommt bei Kant, wie könnte es anders sein, auf ihren Begriff. Denn die Politik kulminiert hier in nichts anderem als im Begriff der Selbstbestimmung: „Er [der Staat – V. G.] ist eine Gesellschaft von Menschen, über die Niemand anders, als er selbst [der Staat – V. G.] zu gebieten und zu disponiren hat.“ 34 Die praktische Selbstbezüglichkeit ist offenkundig: Der Staat ist ein institutionelles Gebilde, das über sich selbst bestimmt. Und wenn wir uns fragen, wie eine solche Selbstbestimmung auch nur zu denken ist, können wir zwar verschiedene Verfahren zur Steuerung von Gesellschaften beschreiben; letztlich müssen wir aber auf das Modell der menschlichen Person zurückgreifen, bei der wir davon ausgehen, dass sie über Einsichten verfügt, die ihr wichtig sind und nach denen sie sich daher bewusst zu richten versucht. Diese bewusste Ausrichtung nach einer eigenen Einsicht nennen wir Wollen. Es äußert sich im Dispo32 Vgl. dazu v. Verf., Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden‘, S. 49 ff. u. 89 ff. 33 Siehe dazu v. Verf., Art. „Selbstbestimmung“. 34 Kant, Zum ewigen Frieden, AA, Bd. 8, S. 344.

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nieren zumindest über sich selbst; und wo es auf Widerstände stößt, kommt es weder bei der eigenen Person noch im Verhältnis zu anderen ohne den Anspruch auf Regeln und Gebote aus. Auf das Ganze gesehen, vollzieht sich im geregelten Wollen die Selbstbestimmung einer Person. Nun ist es gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet Kant die Politik auf den Begriff der Selbstbestimmung zuspitzt. Denn er ist überhaupt der Erste, der den Begriff der Selbstbestimmung in terminologischer Absicht verwendet. Zwar tut er dies (in seinem publizierten Werk) nur ein einziges Mal. Aber diese Stelle in der Grundlegung hat sich so eingeprägt, dass der Begriff bereits durch Schiller und Fichte zum terminus technicus werden konnte, den Hegel selbst dort verwendet, wo er sich gegen Kant abgrenzt. Kant benutzt das Wort, um das eigenständige Wollen einer Person zu kennzeichnen. Dabei ist die Selbstbestimmung keineswegs schon ein moralischer Akt; sie bezeichnet vielmehr lediglich die Fähigkeit eines Individuums, sich überhaupt selbst „der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß [. . .] zum Handeln zu bestimmen“ 35. Das ist die Bedingung für moralisches Handeln, aber noch nicht das moralische Handeln selbst. Doch wie dem auch sei – wenn wir die Selbstbestimmung von Personen auf die knappe Definition des Staates übertragen, kommen wir zu einer Parallele, in der auch die internen Elemente der jeweiligen personalen und institutionellen Organisation erkennbar werden: Ein Staat ist eine „Gesellschaft von Menschen“, die sich über ihren Zustand klar zu werden versucht, um sich bewusst – und damit willentlich – nach ihrer Einsicht zu richten. Man kann auch kürzer sagen: Als Staat bemüht sich eine Gesellschaft, nach ihrem eigenen Willen zu handeln. Noch kürzer: Sie bestimmt sich selbst. In den Worten Kants: „Der Staat ist ein Volk das sich selbst beherrscht.“ 36 Diese Bestimmung einer Gesellschaft über sich selbst steht seit Jean Bodin unter dem Begriff der Souveränität (souveraineté).37 In ihr kommt die „höchste Gewalt“ (summa Potestas) zum Ausdruck, die eine Gesellschaft „unter der Herrschaft von Gesetzen“ (ac subditos legibus) über sich selbst ausübt. Der Sache nach wird diese souveräne Verfügung beansprucht, seit es politische Gemeinwesen gibt; als rechtsfähiges Prinzip wird sie aber erst mit dem Streit um die Anerkennung der päpstlichen, kaiserlichen und königlichen Autorität im 35

„Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein. Nun ist das, was dem Willen zum objectiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich gelten. Was dagegen bloß den Grund der Möglichkeit der Handlung enthält, deren Wirkung Zweck ist, heißt das Mittel.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA, Bd. 4, S. 427) 36 Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AA, Bd. 23, S. 347. 37 Vgl. Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1583), I., Kap. IX.

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ausgehenden Mittelalter bewusst;38 ihre politische und juridische Brisanz tritt jedoch erst mit der Ausweitung des Natur- und des Völkerrechts hervor. Denn beide stellen die Ausübung der „höchsten Macht“ in einem Staat unter Bedingungen der Vernunft und setzen ihr überdies eine äußere Schranke. Deshalb spielt der Begriff der Souveränität in den Völkerrechtssystemen, auf die sich Kant wenig später bezieht,39 eine große Rolle.40 Zur politisch-praktischen Anerkennung im zwischenstaatlichen Recht gelangt die Souveränität aber gerade erst durch ein Ereignis, das Kants Staatsdefinition nur wenige Jahre vorausgeht, nämlich die Unabhängigkeit der amerikanischen Staaten.41 Sie nötigt England auf exemplarische Weise zur völkerrechtlichen Garantie der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien, die sich ihrerseits im Rahmen ihrer föderalen Verfassung darüber klar werden müssen, wie sie die nach außen behauptete Souveränität im Inneren so realisieren, dass den einzelnen Bundesstaaten eine relative Selbstständigkeit verbleibt. Allein dieser knappe Hinweis auf die politisch-praktische Aktualität des Souveränitäts-Begriffs im ausgehenden 18. Jahrhundert lässt erkennen, wie stark er an das Recht – im Außen- wie im Innenverhältnis der Staaten – gebunden ist. Mit der Unverzichtbarkeit des Rechts tritt nun aber auch die Differenz hervor, die zwischen der Selbstbestimmung von Personen auf der einen und politischen Körpern auf der anderen Seite besteht. Denn wie immer der Wille zur politischen Selbstbestimmung entsteht und auf welche Weise er auch vertreten wird: Er muss aus dem Lebenszusammenhang der Gesellschaft stammen, d. h. er muss organisiert werden, und er darf nicht der Wille eines Fremden sein. Im Völkerrecht ist „Souveränität“ mit „Unabhängigkeit“ synonym.42 Dies ist umso wichtiger, als die willentliche Disposition bei gesellschaftlichen Widerständen ohne den Anspruch auf Befehl und Gehorsam nicht auskommt. Das Gebieten und Disponieren einer Gesellschaft über sich selbst errichtet zwangsläufig einen Herrschaftszusammenhang. Der aber ist ohne Recht nicht denkbar, weil er nur durch das Instrument des Rechts Konsequenz und Verbindlichkeit erlangen kann; umso wichtiger ist es, dass er sich auch insgesamt dem Prinzip des Rechts unterstellt. Nur dadurch wird Herrschaft zur wirklichen Selbstbestimmung, weil nur durch die im Recht wirksamen Momente der Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit gewährleistet werden kann, dass die „Gesellschaft von Menschen“ sich tatsächlich auch danach bestimmt, wie sich die Menschen in ihr verstehen. 38

Zur Frühgeschichte des Souveränitatsbegriffs siehe: Quaritsch, Souveränität. Vgl. Kant, Zum Ewigen Frieden, AA, Bd. 8, S. 355. 40 Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 45 ff. 41 Vgl. dazu: Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 487 ff. 42 Unabhängigkeit von anderen Staaten ist bei dem von Kant genannten Emer de Vattel das Kriterium für die Souveränität (vgl. Das Völkerrecht [1758], I, Kap. I, § 4). 39

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In der Leistung des Rechts kommt allerdings die Parallele zwischen Person und Staat auch an ihre Grenze: Eine über sich selbst gebietende und disponierende Person braucht, wenn sie denn erst einmal eigenständig geworden ist, keine äußeren Mittel, um nach eigenen Vorstellungen initiativ zu werden. Denken, Entscheiden und Wollen sind nicht-physische innere Vorgänge, die sich ganz in den zwanglosen Medien von Erinnerung, Überlegung, Einsicht, Übung, Gewohnheit und Erwartung vollziehen. Das aber reicht in der Steuerung einer größeren Zahl von Menschen nicht aus. Hier bedarf es der institutionellen, mindestens aber der sprachlichen Organisation, also äußerer Mittel, um Meinungen zu bilden und Handlungen zu steuern: Stets braucht man die Beratung, die Absprache und Abstimmung mit verschiedenen Personen. Allein in der Beschaffung der notwendigen Erkenntnisse ist man auf die tätige Mitwirkung mehrerer Menschen angewiesen; die Ausführung besteht dann oft in nichts anderem als in der Planung und Lenkung einer Vielzahl einzelner Individuen. Zu alledem sind äußere Organe nötig, die eine äußere Koordination ermöglichen. Sollen sie äußerlich und dennoch nicht nur physisch sein, so braucht man das Recht. Denn das Recht ist die Institution, die auf (äußeren) Zwang für jene Fälle berechnet ist, in denen die gesellschaftliche Kooperation nicht aus der je eigenen Einsicht der Individuen erfolgt. Hier muss unter Umständen die Androhung der Strafe hinzukommen, notfalls dann auch der direkte Einsatz von Gewalt. Die politische Organisation des Staates nimmt somit aus den Naturbeziehungen der Individuen etwas auf, das im Selbstverhältnis der Personen so überhaupt nicht zum Einsatz kommen kann. Hier wiederum kann nur metaphorisch von Gewalt oder Zwang die Rede sein – etwa wenn jemand sagt, er habe sich „mit Gewalt“ von seinen schönen Träumen losreißen und sich endlich zum Handeln „zwingen“ müssen. Tatsächlich werden Gewalt und Zwang aber erst im gesellschaftlichen Zusammenhang zum Thema, und es ist die Politik, die sie mit Hilfe des Rechts in Dienst zu nehmen versucht. Indem die Politik dies versucht, wird sie zur Selbstbestimmung einer „Gesellschaft von Menschen“. Da aber der Staat aus nichts anderem besteht als aus dieser „Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und zu disponieren hat“, ist Politik nichts anderes als der fortgesetzte Versuch, Staat zu machen. So wird auch erkennbar, wieso der Eindruck entstehen kann, die Definitionen von Politik und Staat gerieten immer wieder in einen begrifflichen Zirkel. Auch die knappe Begriffsbestimmung des Staates43 ließe sich als zirkulär verwerfen, weil Kant ja den Staat, den er definiert, in der Definition voraussetzt. Tatsächlich aber kommt hier nur das Selbstverhältnis zum Vorschein, dessen praktischer Ausdruck die Politik ist. Hat man dies erst einmal erkannt, lassen sich

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zumindest Politik und Staat deutlich voneinander trennen: Politik ist die Selbstbestimmung einer „Gesellschaft von Menschen“, und der Staat ist deren Organ. Statt „Organ“ könnten wir auch „Werkzeug“ oder „Mittel“ sagen. Denn es sollte nicht der Eindruck entstehen, als basiere Kants Analogie von Staat und Mensch auf einer organologischen Voraussetzung. Zwar vergisst Kant nie, dass in der Vernunft, so wie wir sie gebrauchen, eine Dynamik des Lebens zum Ausdruck kommt; er braucht auch nicht erst daran erinnert zu werden, dass alle menschlichen Vermögen, einschließlich derjenigen des „reinen Verstandes“ oder des „reinen Willens“ eine Verfügung über Leib und Leben zur Bedingung haben. Doch seine Parallele von Mensch und Staat ist allein auf die Wirkungsweise des Willens gegründet, dessen Funktion in einer Institution nicht anders vorgestellt werden kann als in einer Person. Der einzige Unterschied ist, dass alles das, was die Person nur als inneres Moment ihres Selbstverhältnisses erfährt, von der Institution ausdrücklich gemacht werden muss. Beratung, Entscheidung und Ausführung werden zu separaten äußeren Vorgängen. In der staatlichen Organisation reproduziert der Mensch sich selbst. Und nur sofern die beteiligten Menschen die nach außen gestülpten inneren Funktionen der Selbstbestimmung von sich selbst her kennen, haben sie auch eine Chance, die Funktionsweise des Staates zu verstehen. Also bleibt der Staat als der ins Große entworfene und sich in einer Vielzahl gesellschaftlicher Leistungen wiederholende Mensch auf nichts so sehr angewiesen wie auf das Selbstverständnis des Menschen. Und nur vom Selbstbegriff des Menschen her lassen sich die normativen Erwartungen verstehen, die seit Menschengedenken mit dem Staat verknüpft sind und von denen wir auch heute offenbar nicht ablassen können. So bestätigt sich auch mit Blick auf Kants Konstruktion der Politik, wie sehr das Paradigma der Selbsterkenntnis den Ausgangs- und den Endpunkt des politischen Handelns bestimmt. In der Konstruktion des politischen Zusammenhangs hat das Individuum Priorität. Und die ist hier eindeutig nicht bloß kognitiv, sondern auch praktisch bestimmt. Aber der Anteil des Wissens ist unübersehbar. Denn die Funktionselemente der willentlichen Handlung des einzelnen Wesens kommen nur über die Vorstellung auch im politischen Handeln einer Gesellschaft von Menschen zur Geltung. Nur fällt hier deutlicher als bei dem Selbstbegriff des Individuums auf, dass die Vorstellung auch geäußert werden muss, um überhaupt wirksam werden zu können. Alles in allem also zeigt sich sowohl bei Kant als auch bei Hobbes und Platon die Priorität der Individualität in der Politik. Das Paradoxe aber besteht darin, dass sich ein Individuum nur korrelativ aus der Sozialität erkennen lässt, in der es lebt. Dass dieses Individuum ein Mensch ist, ist nur in seiner Beziehung zu seiner Gattung auszumachen. Dass es sich zum Beispiel um eine Frau, eine Studentin mit schwäbischem Dialekt, großer Bescheidenheit, typischer

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Sparsamkeit, ungewöhnlicher Bildung und lebhaftem Temperament handelt, ist nur im ständigen Vergleich mit ihren Mitmenschen auszumachen. Und wenn wir auf Einzelheiten ihres Verhaltens achten, treten manche Besonderheiten gerade auch in Korrelation mit der politischen Verfasstheit ihrer Lebensumstände hervor. So ermöglicht dem Menschen die groß geschriebene Schrift, die er in der Polis bzw. im Staat vor sich hat, die Erkenntnis des Individuums. Der Einzelne findet in der politischen Ordnung einen epistemischen Zugang zu sich selbst. Das Verständnis der in großen Buchstaben geschriebenen Schrift ist aber nur möglich, wenn wir an sie im Bewusstsein unserer selbst – also mit einem Minimum an Selbsterkenntnis – herangehen. Die Lektüre des groß Geschriebenen kann nur gelingen, wenn wir wenigstens eine Ahnung von dem haben, was wir selbst in kleiner Schrift bedeuten. So kommt es zu einer wechselseitigen Hermeneutik von Individuum und politischer Organisation. Wir können uns ohne Politik nicht nur nicht erhalten, sondern wir können uns ohne sie noch nicht einmal erkennen! Die Gesellschaft wüsste nicht, was sie ist und was sie tut, wenn sie nicht das Individuum hätte. Das Individuum aber wüsste allemal zu wenig von sich, wenn es sich nicht immer auch schon in Gesellschaft erfahren könnte. So bilden Institution und Person einen gleichermaßen praktischen wie theoretischen Zirkel. Doch der läuft keineswegs in sich leer! Denn wir haben in allem, was wir tun, und in allem, was wir mit dem anderen verhandeln, niemals bloß uns selbst, sondern immer auch die Natur, in der wir und durch die wir sind – ja, aus der wir letztlich ausschließlich bestehen. Folglich ist das Leben in allem mit dabei, ganz gleich ob wir nun bloß auf uns oder zugleich auch auf die anderen sehen. Da ich im vorliegenden Text nur von großen Autoren aus der europäischen Tradition gehandelt habe, könnte sich der Argwohn einstellen, die Parallele von Mensch und Politik, von Person und Institution sei nur auf Alteuropa beschränkt. Sie könnte daher unter Bedingungen der sogenannten Weltpolitik, in der alle Kulturen ihren Anteil zum politischen Zusammenleben beizutragen haben, nicht mehr gültig sein. Um diesen Argwohn am Ende nicht allzu sehr wuchern zu lassen, schließe ich mit einem Zitat des großen Konfuzius: „Die Alten, die das Königreich der strahlenden Tugend leuchtend zu machen suchten, ordneten zuerst ihre eigenen Länder wohl. Wollten sie ihre Länder wohl ordnen, brachten sie zuerst ihre Familie in Ordnung. Wollten sie ihre Familie ordnen, kultivierten sie zuerst ihre Person. Wollten sie ihre Person kultivieren, faßten sie sich ein Herz [d. h.: sie gaben sich ein aufrichtiges Herz].“ 44

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Konfuzius, zit. nach Legge, The Chinese Classics, Bd. l, S. 30.

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Tod und Politik Über eine grundlegende Bedingung der politischen Welt Die politische Weltlage ist immer so, dass man niemandem erst zu schildern braucht, wie eng Politik und Tod miteinander verbunden sind. Umso mehr muss die Behauptung überraschen, der Tod spiele in der Tradition des politischen Denkens keine Rolle. Thomas Hobbes sei der einzige, der ihm Beachtung schenke. Aber auch Hobbes beziehe sich nicht auf die „Sterblichkeit als solche“, sondern lediglich auf die „Furcht vor einem gewaltsamen, nicht natürlichen Tod“. Das Sterbenmüssen als elementare Tatsache werde nirgendwo zum Thema der politischen Theorie.1 Diese These gehört nicht zu den heute gern gehörten verheißungsvollen Warnungen vor der Verdrängung des Todes, sondern ist die sachliche Feststellung einer sowohl in der Politik wie auch in der politischen Theorie erfahrenen Autorin. Hannah Arendt darf man nach ihren Lehrjahren bei Heidegger und Jaspers eine gewisse Aufmerksamkeit für das philosophische Problem des Todes wohl zutrauen. Indirekt bestätigt wird ihr Urteil durch den aus derselben Schule stammenden Dolf Sternberger, der nach einer eindrucksvollen Dissertation über den „verstandenen Tod“ zwar immer wieder in petites perceptions auf den Tod zurückkommt, sich dabei jedoch stets außerhalb der politischen Theorie bewegt.2 Bei seiner breit angelegten Suche nach den „Wurzeln der Politik“ stößt er nirgendwo auf den Tod als ein auch nur stärker beachtetes Element des Politischen.3 Das ist, wie gesagt, ein mit der politischen Realität schlecht zusammenstimmender Befund. Ob er den überlieferten Theorien tatsächlich entspricht, wäre im Einzelnen zu prüfen. Doch ehe man sich dieser aufwendigen Aufgabe unter-

1 „Hobbes, könnte man sagen, ist der einzige politische Denker, in dessen Philosophie der Tod eine Rolle spielt. Aber es ist bei Hobbes nicht die Sterblichkeit als solche, sondern die Furcht vor einem gewaltsamen, nicht natürlichen Tod, welche die Menschen dazu veranlasst, den Naturzustand zu verlassen und ein Gemeinwesen zu gründen. Was die Gleichheit anlangt, so ist die egalisierende Instanz nicht der Tod, sondern die bei allen Menschen gleiche Fähigkeit zu töten.“ (Arendt, Macht und Gewalt, S. 69) 2 Die verschiedenen Arbeiten zum Todesthema sind gesammelt in: Sternberger, Über den Tod. 3 Vgl. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik; vgl. auch die in Band IX der Schriften Sternbergers unter dem Titel Gut und Böse versammelten Essays. Deutlich wird das Defizit vor allem in dem Vortrag Das glückliche und das gefährliche Leben.

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zieht, empfiehlt es sich, darüber nachzudenken, was sich in der thematischen Verbindung von Politik und Tod philosophisch überhaupt erwarten lässt. Der vorliegende Text beschränkt sich auf diese Überlegung. Dabei stellen sich ganz von selbst einige Zweifel an der Richtigkeit der historischen These von Hannah Arendt ein. Im Ausgang des mittelalterlichen Denkens, schon ganz im Bann des Konflikts, den schließlich der neuzeitliche Staat beilegen soll, kann Marsilius von Padua (unter Berufung auf die beiden antiken Kronzeugen Aristoteles und Cicero) den Zweck des Staates in das Leben, und zwar in das „Gut-Leben“ der Bürger setzen. Wer zu einer staatlichen Ordnung gehört, so heißt es im Defensor pacis, der „lebt nicht nur, wie es Tiere und Sklaven tun, sondern lebt gut, nämlich frei für die edlen Lebensaufgaben“ 4. In seinem Bemühen, den Streit zwischen Papst und Kaiser zugunsten der weltlichen Instanz zu schlichten, hebt Marsilius zwei Seiten des menschlichen Lebens hervor: das „zeitliche oder diesseitige“ und das „ewige oder himmlische“. Während die antiken Staatsphilosophen sich auf das diesseitige Leben beschränkten – so jedenfalls behauptet Marsilius, um seinen scholastischen Gegenspielern mit deren eigenen Anwälten entgegenzutreten – will er (hierin selbst noch ganz im Bann seiner Gegner) auch die Vorkehrungen für das ewige Leben in die Obhut des Staates stellen; andernfalls nähmen die Streitigkeiten und Zänkereien unter den Bürgern kein Ende.5 Er schlägt deshalb vor, die Lehrer für den „Kult“ und für die „Verehrung Gottes“ durch den Staat bestellen zu lassen.6 Sofern die Geistlichen den Gesetzen des Staates unterworfen bleiben, kann ihnen dann auch eine gewisse Freiheit bei der Entfaltung ihrer Lehren gewährt werden. Die Politik ist somit nicht nur für das irdische, sondern in gewisser Weise auch für das himmlische Leben zuständig. Die politische Theorie ist bekanntlich Marsilius’ Vorschlag nicht gefolgt. Hobbes ist der letzte der großen Theoretiker, die Gott als „Souverän aller Souveräne“ der politischen Lehre integrierten,7 und es ist kennzeichnend, dass man seine so geistvolle wie tiefgründige Beweisführung für die Verknüpfung der weltlichen mit der kirchlichen Autorität lediglich für einen gelehrten Mummenschanz hielt, mit dem er angeblich seine klerikalen Kritiker über die Radi4 „Die Worte des Aristoteles: Der um des Lebens willen entstanden, aber um des Gutlebens willen da ist, geben die vollkommene Zweckursache des Staates an; denn wer in staatlicher Ordnung lebt, lebt nicht nur, wie es Tiere oder Sklaven tun, sondern lebt gut, nämlich frei für die edlen Lebensaufgaben, wie sie den Kräften einer praktisch wie einer theoretisch gerichteten Seele angemessen sind (non solum vivunt, quomodo faciunt bestie aut servi, sed bene vivunt, vacantes scilicet operibus, liberalibus, qualia sunt virtutum tam practice, quam speculative anime).“ (von Padua, Defensor pacis, I, IV § 1, S. 16) 5 Vgl. ebd., II, 8. 6 Vgl. ebd., II, 21 u. 48. 7 Vgl. Hobbes, Leviathan, III, 33: „God is the Soveraign of all Soveraigns.“

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kalität seiner philosophischen Absichten zu täuschen suchte. Das Selbstverständnis des modernen Staates basiert auf der Ausgrenzung der Glaubensfragen, die, zur bloß subjektiven Angelegenheit erklärt, so lange gleichgültig sein sollen, wie sie die öffentliche Ordnung nicht stören.8 Die Subjektivierung der Erwartung ewigen Lebens vorausgesetzt, ist die Politik nur noch für das endliche Dasein verantwortlich. Die Politik, so wie wir sie heute verstehen, hat die Erhaltung und Entfaltung menschlicher Gemeinschaften zum Gegenstand und ist dabei wie von selbst auf die Gegenwärtigkeit des Lebens bezogen. Wenn aber das Leben Thema ist, dann ist es unausweichlich auch der Tod. Denn der Tod ist, nach einer schönen Wendung Georg Simmels, „von vornherein und von innen her dem Leben verbunden“. In diesem Sinn hat die Politik immer auch mit dem Tod zu tun: Sie steht unter Zeitdruck und allein dadurch unter der Maßgabe der Endlichkeit. Sie weckt und befriedigt Bedürfnisse und beschleunigt so den Kreislauf von Werden und Vergehen. Sie schafft individuelle Einheiten und potenziert somit ihre Vergänglichkeit. Schließlich rechnet sie mit der tödlichen Verwundbarkeit ihrer Feinde und mit der Sterblichkeit ihrer Freunde. Doch diese Verbindung zum Tod ist trivial. Sie ergibt sich, wie man sieht, allein aus dem Lebensbezug des politischen Handelns. Folglich kann sie überall nachgewiesen werden, wo menschliches Dasein sich erfährt. Denn durch Zeitknappheit und Bedürfnisdruck sind alle Tätigkeiten bestimmt. Der Tod gehört zur Natur der endlichen Wesen und ist somit für die Politik so viel oder so wenig spezifisch wie für die Ökonomie, die Wissenschaft oder die Kunst.9 Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Sterblichkeit zu einer weiter gehenden Bestimmung führt, die der aus der Geburt hergeleiteten Gleichheit korrespondiert.10 Denn allein durch das Ende des Lebens ergibt sich nichts Neues. Der Tod besiegelt nur die Gleichheit der endlichen Wesen; er bestätigt die der Geburt beigelegte Prämisse und wirkt wie das quod erat demonstrandum unter dem Beweisgang, den erst das abgeschlossene Leben erbringt. In diesem Sinn lassen sich alle Grundannahmen des politischen Bewusstseins durch das memento mori akzentuieren: Die jede politische Äußerung beglei8 Vgl. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967). 9 Gleichwohl ist zu wünschen, dass sich die Philosophie dieser allgemeinen Bedingung des menschlichen Lebens vergewissert, wie dies z. B. in den auf das Verhältnis von Glauben und politischer Gesinnung bezogenen Überlegungen von Alexis de Tocqueville geschieht (vgl. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, S. 452 ff.). Tocqueville erinnert in diesem Zusammenhang auch an die Vergänglichkeit der „gesellschaftlichen Mächte“ (ebd., S. 449). 10 Das ist die Erwartung Hannah Arendts, die auf eine egalisierende Wirkung des natürlichen Todes setzt (vgl. Arendt, Macht und Gewalt, S. 69). Mit dieser Erwartung hat sie in Vita activa die Kategorie der Mortalität eingeführt (vgl. Arendt, Vita activa, S. 15 ff.).

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tende Aufforderung zum Mithandeln und das implizite Versprechen der Wirklichkeitsbewältigung werden deutlicher, was nicht heißt, dass sie damit auch schon überzeugender würden. Die zur Politik gehörende (wenigstens vorgebliche) Identifikation mit dem gemeinschaftlichen Ganzen sowie die damit beanspruchte Repräsentativität ihrer Äußerungen werden angesichts individueller Vergänglichkeit sowohl in ihrer Notwendigkeit wie auch in ihrer Begrenztheit transparent. Die Radikalität politischer Forderungen wird ebenfalls leichter verständlich, denn die Zeit, in der eine Person, eine Gruppe oder auch eine Generation Macht ausüben kann, ist kurz; freilich gibt es aus der Perspektive der Sterblichkeit auch für den Kompromisscharakter des Politischen gute Gründe.11 Es ist also in der Politik wie bei allen Erscheinungen des Lebens: Zeichnet man die Fluchtlinien zum Tode ein, dann gewinnen alle Konturen an plastischer Schärfe, verlieren zugleich aber ihre Zudringlichkeit. Die Reflexion auf den Tod akzentuiert und moderiert jedes Ereignis, also auch die Begebenheiten der politischen Welt. Ein besonderes Merkmal, eine nur die Politik auszeichnende Verbindung zum Tod ist freilich hierbei gerade nicht zu erkennen. Das zoon politikon ist sterblich wie alle anderen Lebewesen auch; der Begriff des Politischen gewinnt durch diese Tatsache nichts, was ihn eindeutig definierte. Doch bei näherer Betrachtung melden sich Zweifel! Denn der Mensch hat immerhin darin seine Besonderheit, dass er als einziges unter den Lebewesen von seinem Ende weiß und sich darauf einstellen kann. Und so zeigen sich auch mindestens drei Leistungen des politischen Handelns, die mit einer bewussten Einstellung auf den Tod verbunden und insofern direkt auf die Sterblichkeit bezogen sind. Die erste Leistung besteht in der Sicherung verlässlicher Rechtsbeziehungen, die eine wesentliche Funktion in der Garantie dessen haben, was jemand sein Eigen nennen darf. Durch das rechtlich garantierte Eigene wird immer auch die Möglichkeit geschaffen, eine über den Tod hinaus eindeutig zurechenbare Wirksamkeit zu entfalten. Ausdrücklich wird das in der testamentarischen Verfügung; Vererbung ist auch juridisch ein Vorgang der Überbrückung des individuellen Todes. Im nachgelassenen Besitz oder im übertragenen Namen wird die Härte des Ablebens im Bewusstsein der Lebenden gemildert; etwas Einzelnes bleibt verbindlich – auch über den Tod hinaus. Indem politische Maßnahmen diese Möglichkeit garantieren und generalisieren, stärken sie die Individualität im Wechsel des Daseins. Sie stellen die Anschlüsse zwischen dem vergehenden und dem entstehenden Leben her und stiften im Großen, wozu Familie und Stamm nur im kleinen Maßstab fähig sind. Die Rechtsmacht der politischen Gemeinschaft ermöglicht die Fortgeltung eines 11 Zu diesen Grundannahmen des politischen Bewusstseins vgl. vom Verf.: Politisches Handeln, in diesem Band, S. 65–81.

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Willens, auch wenn sein Träger nicht mehr existiert. Das ist die Überbrückung des Todes durch die Politik. Der Tod ist ein Ereignis, über das die Politik vor allen Dingen hinwegzukommen sucht. Auf eine zweite, dem Tod besonders verbundene Leistung hat vor allem die Antike reflektiert. Es ist die Möglichkeit, sich über den Tod hinaus einen großen Namen zu machen. Niemand wird behaupten, dieses Motiv spiele heute keine Rolle mehr, nur weil ein Wort in Misskredit geraten ist. Man spricht zwar nicht mehr vom „Ruhm“, sucht ihn aber als „Profil“, „Image“ oder „Prominenz“ nicht weniger als zuvor. Der Ruhm gewährt Anwesenheit über den Tod hinaus. Natürlich kann er überall erworben werden, wo Taten und Werke zählen. Aber der Staat bietet die breiteste und prächtigste Bühne für die Vergrößerung der Individualität. Er verschafft vor allem die Illusion, den späteren Ruhm schon im Voraus genießen zu können. Im Besitz der anerkannten Macht oder im Dienst an ihr liegt offenkundig die Chance, sich dem Andenken und Gedächtnis anderer kräftig einzuprägen. Der politische Erfolg, so erscheint es vornehmlich den Akteuren selbst, führt direkt zu epochaler Geltung, zur „Unsterblichkeit“, wie es früher hieß. Im Ruhm – oder genauer: im Glauben an ihn – gelingt die Überwindung des Todes. Es ist übrigens eine Frau, nämlich Hannah Arendt, die an diese zweite wesentliche Leistung der Politik mit größtem Nachdruck erinnert hat. Dabei geht es ihr freilich weniger um eine Überwindung des Todes als um eine Akzentuierung der heroischen Individualität der Akteure: Erst im politischen Ruhm, im Ansehen der Mit- und Nachwelt kommt es überhaupt zu einer namhaften Auszeichnung der Personen. Im Unterschied zum Arbeiten und zum Herstellen, die gänzlich in der jeweils erbrachten Leistung aufgehen, kommt es nur im originären politischen Handeln zu einer „Selbstenthüllung“ der Individualität.12 Diese „Enthüllung“ ereignet sich für Hannah Arendt jedoch nur für die Anderen, niemals für den Handelnden selbst. Sie entdeckt sich „zwischen den Menschen“. So kommt es nur vor der politischen Öffentlichkeit und – im größeren Abstand – nur im Gedächtnis der Nachwelt zur einzigartigen Größe einzelner Menschen. Dass der Ruhm selbst noch im persönlichen Scheitern erwartet werden kann, hat seinen Grund in einem dritten Moment, das den Tod selbst als Leistung für die Gemeinschaft erscheinen lässt. Es ist die Überantwortung des Todes an ein politisches Ganzes. Im Sterben für polis oder patria liegt der unüberbietbare Beweis für den Dienst an der gemeinsamen Sache. „Man muß für sein Vater-

12 Vgl. Arendt, Vita activa, S. 187 f. Die Autorin ist sich bewusst, dass ihre mit dieser These verbundene Deutung der antiken Polis „ausgesprochen individualistisch“ ist. Ich sehe darin keine Schwäche der Interpretation, sondern bin überzeugt, dass sich bereits im antiken Polisraum die Individualität ausbildet, die viele für ein Erzeugnis der modernen Welt ansehen. Siehe dazu vom Verf., Moderne Zeiten.

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land kämpfen und für sein Vaterland sterben, wenn man es kann; und wenn man es nicht kann, ist es schimpflich zu überleben.“ So haben nicht nur die Feldherren seit Menschengedenken gesprochen – in diesem Fall Friedrich II. von Preußen –, sondern auch die Dichter. Noch Hölderlin konnte dem Vaterland zurufen: „Und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht / Einer zu viel gefallen!“ 13 Am Ende eines auch von furchtbaren freiwilligen politischen Opfern verheerten Jahrhunderts vergessen wir nur zu leicht, dass es auch höchst rational eingestellten Geistern möglich war, die Überantwortung des Todes an ein politisches Ganzes „in die Reihe der sinnvollen und geweihten Geschehnisse“ zu stellen. So sah es noch Max Weber in seiner philosophisch-politischen Zwischenbetrachtung zum Ersten Weltkrieg.14 Im Ernstfall kann sich der politische Verband bisweilen tatsächlich durch das Opfer Einzelner erhalten. Dies geschieht dann nicht nur unter Berufung auf naheliegende Selbstverständlichkeiten kollektiver Lebenssicherung, sondern auch im Zeichen großer Ideale, ohne die politische Gemeinschaften nicht denkbar sind. Es ist eine Grundbestimmung des menschlichen Lebens, mit den Vorstellungen verbunden zu sein – Vorstellungen, die der Mensch von sich und seinem Leben hat. Die Politik beruht, genau genommen, auf nichts anderem als auf der Tragfähigkeit gemeinsamer Vorstellungen.15 Sie ist eine Idee, die man für so verbindlich hält, dass in ihrem Namen sogar Zwang ausgeübt werden darf. Politik ist eine Synthesis von Idealität und realer Gewalt; darin liegt ihre sich mit jeder Not erneuernde Verheißung sowie ihre stets gegenwärtige Gefahr. Und so verlangt auch der Einsatz für das Leben nach einem Ideal. Die Wertschätzung von Idealen aber schließt die Geringschätzung des Todes ein. Auf dieser Dialektik basiert die Existenz des Gemeinwesens, das somit niemals bloß das „nackte“ Leben, sondern immer auch ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gewährleisten hat. Das „Gut-Leben“ ist vor allem ein Leben, wie man es selbst führen will. Es muss folglich gerade auch vor jenen geschützt werden, die eine andere Lebensform erzwingen wollen. Dieser Schutz des selbstbestimmten gemeinschaftlichen Daseins geschieht im Ernstfall durch den Einsatz von Einzelleben und letztlich sogar auf die Gefahr, dass alles, worauf es im Kampf ankommt, untergeht. Dass dies keine antiquierte politische Logik ist, lehren uns nicht nur die Kriegsereignisse der letzten Jahre, sondern 13

Hölderlin, Der Tod fürs Vaterland, 6. Strophe. Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, S. 549. 15 Darauf aufmerksam zu machen war ein vordringliches Anliegen Eric Voegelins, der deshalb glaubte, auf die politische Unverzichtbarkeit von Religionen schließen zu können (vgl. Voegelin, Die politischen Religionen). Auf die hier liegenden Bezüge zum Problem des Todes hat Jürgen Gebhardt aufmerksam gemacht (vgl. Gebhardt, Symbolformen gesellschaftlicher Sinndeutung in der Krisenerfahrung). Ausdrücklich auf die Todesproblematik bezogene Schlussfolgerungen aus den Überlegungen Voegelins und Gebhardts zieht Werner Kremp (vgl. Kremp, Die Ordnung der Gesellschaft und die Erfahrung des Todes). 14

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auch die Befreiung der Völker im ehemaligen Ostblock und in der zerfallenen Sowjetunion. Die mit jeder Aktion – ganz gleich, ob im Herbst 1989 in Leipzig, im August 1991 in Moskau oder jetzt in Sarajewo oder Bihac´ – zumindest hingenommene Überantwortung des Todes erfolgt in der inzidenten Erwartung von Selbsterhaltung und Sinngebung des Lebens. Dadurch wird eine Kontinuität gestiftet, wie sie für Staaten kennzeichnend ist; in sie ist der natürliche Tod integriert: „Der König ist tot! Es lebe der König!“ 16 ist eine genuin politische Parole zur Sicherung dieser Kontinuität. Unter republikanischen Bedingungen, bei geregelten Amtszeiten und zugesicherten Pensionen ist diese Leistung der Politik freilich weniger auffällig. Aber dies nicht etwa, weil sie weniger benötigt, sondern weil sie institutionell mit größerer Effektivität bewältigt wird. Doch so offenkundig die politische Affinität dieser drei Formen des Umgangs mit der Sterblichkeit auch sein mag: Es ist erstens nicht sicher, ob sich in ihnen tatsächlich eine Besonderheit des Politischen zeigt. Die Überbrückung des Todes findet sich ja auch im privaten Bereich; der Wille eines Verstorbenen kann durchaus ohne rechtliche Sanktionen von seinen Freunden oder seiner Familie vollstreckt werden. Sie kann auch ausdrücklich privatrechtlich sein, denn Privatrecht lässt sich staatsfrei zumindest denken.17 Zweitens muss die Überwindung des Todes keineswegs bloß im politischen Nachruhm gesucht werden; Wissenschaft und Kunst bringen verlässlichere Größen hervor und stellen die staatsmännischen Verdienste oft in den Schatten – wir brauchen nur an Cicero, Marc Aurel, Thomas Morus oder Francis Bacon zu denken. Schließlich hat drittens die Überantwortung des Todes gewiss die engste Verbindung zum politischen Geschehen. Doch die Parallele zum religiösen Opfertod der Märtyrer, zum Heroismus des Abenteuers, des Rekords oder der guten Tat, der die Durchschnittlichkeit des Lebens tagtäglich irgendwo durchbricht, begründet auch hier die Vermutung, dass von einer exklusiven Beziehung zwischen Politik und Tod nicht die Rede sein kann! Da es in jedem Dasein um das „eigenste Seinkönnen“ geht,18 ist unter allen Bedingungen auch der höchste Einsatz möglich. Also braucht es nicht zu wundern, wenn die Politische Philosophie dem Tod keine ausdrückliche Beachtung schenkt. Wenn sich die Politik in ihrer Einstellung zum Tod offensichtlich von anderen Formen der Daseinsbewältigung nicht unterscheidet, dann tragen die Theorien über Staat und Gerechtigkeit allein durch ihren Lebensbezug der Endlichkeit des Menschen hinreichend Rechnung. Warum sollten sie auch dem Naturphänomen der Sterblichkeit besondere Aufmerksamkeit schenken? Der Tod ist ein Fall für die Theorie des Lebendi16

Dazu klassisch: Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. So wird es von Kant in seiner Rechtslehre unterstellt. Robert Nozick hat jedoch in seiner Lehre vom „Minimalstaat“ gezeigt, wie schwer es ist, eine solche Unterstellung zu denken (vgl. Nozick, Anarchy, State and Utopia). 18 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 53, S. 263. 17

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gen; er ist ferner das Problem einer jeden Metaphysik, die sich ihrer endlichen Ausgangsbedingungen vergewissern will. Im Übrigen kann uns der Tod zur existentiellen Besinnung bringen, sofern wir ihn als das Ende unseres eigenen Lebens vergegenwärtigen. Doch auch dabei steht ihm das politische Handeln nicht sonderlich nahe. Im Gegenteil: Im Nachdenken über die eigene Sterblichkeit wird der Tod zum individualisierenden Ereignis schlechthin. Dem Nachdenklichen erschließt er sich nur, wie Heidegger sagt, in „privativer Orientierung“ 19 und wird dann als die „eigenste unbezügliche und unüberholbare Möglichkeit des Daseins“ erfahren.20 In dieser privaten Erfahrung aber kommt alles darauf an, welchen Wert man sich selbst zuspricht. Die Anforderungen der Gesellschaft berühren uns dabei nur, sofern sie auch unmittelbar die eigenen sind. Mit anderen Worten: Vor den Anspruch der Öffentlichkeit tritt die Stimme des Gewissens. Damit wird das existentiell auf den Tod bezogene Bewusstsein zur Gegeninstanz des Politischen überhaupt: Es kann sich aller Politik entziehen. Im Suizid geschieht dies definitiv. Wenn sich aber ein Mensch zum politischen Handeln bestimmt oder bestimmen lässt, dann geschieht dies aus Gründen, die a priori nicht politisch sind. Die Frage, wie es möglich ist, dass sich ein Subjekt aus eigenem Anspruch mit dem politischen Ganzen identifiziert, gehört streng genommen gar nicht in die politische Theorie, sondern zu den Themen einer Theorie der Subjektivität oder besser: zu einer Theorie der Individualität und damit zugleich auch zu einer Theorie des moralischen Handelns. Allem voraus läge eine philosophische Anthropologie, deren ganze Aufgabe darin besteht, das naturale und das vernünftige Selbstverständnis des Menschen in konsistenten Begriffen zu denken.21 Damit scheint das Ergebnis der Überlegungen bereits festzustehen: Es gibt keine besondere Beziehung zwischen Tod und Politik. Der Tod hat keine konstitutive Funktion für die politische Welt. Das Problem der Sterblichkeit bringt uns entweder nur bis an die Peripherie des Politischen, oder es führt davon ab. Wie sehr die Besinnung auf das eigene Ende von allen sozialen Verpflichtungen befreit, zeigt sich am exemplarischen Todesfall der europäischen Philosophie, am Tod des Sokrates. Im Gespräch mit dem besorgten Freund Kriton, der 19

Ebd., § 49, S. 246. Ebd., § 50, S. 250; entsprechend ebd., § 52: „Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins.“ (S. 258 f.) 21 Die klassischen Lehren von Platon, Aristoteles, Hobbes, Kant und Hegel lassen sich im Sinne einer solchen Anthropologie verstehen. Von den Autoren unseres Jahrhunderts wären vor allem Max Weber, Ernst Cassirer, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Hannah Arendt und Eric Weil zu nennen (vgl. dazu vom Verf., Vernunft und Urteilskraft; ferner: Verf., Der organisierte Sinn. Politik und Anthropologie bei Eric Weil, in diesem Band, S. 249–269). Die in der Begründungsleistung am weitesten ausgreifenden Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Anthropologie hat Otfried Höffe vorgelegt (vgl. Höffe, Politische Gerechtigkeit; ders., Kategorische Rechtsprinzipien). 20

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die besten Argumente für die mit geringem Aufwand durchführbare Flucht (und damit für die Abwendung des beschlossenen Todes) vorbringt, weist der Verurteilte alle von außen herangetragenen Gründe zurück und lässt nur das gelten, was – nach seinem Selbstverständnis – für ihn selbst das Beste ist. Die verständlichen Erwartungen der Freunde, der berechtigte Anspruch der Schüler, die Hilfsbedürftigkeit seiner Kinder, ja selbst das Wissen von der Unzulänglichkeit seiner Richter – alles das bleibt Sokrates fremd. Und es unterstreicht den radikalen Rückgang auf sein Bestes, wenn am entscheidenden Punkt der Dialog in ein Selbstgespräch übergeht. In fingierter Unterredung mit den Gesetzen der Stadt, die eine Rolle übernehmen, wie man sie später dem Gewissen zuschreibt, entwickelt Sokrates, worauf es ihm allein ankommt: Vorausgesetzt, er will, dass seine Freunde sich auch weiterhin als seine Freunde bezeichnen können, dass seine Schüler seine Worte auch später noch glaubwürdig finden und seine Söhne ihn eines Tages wirklich achten können, vorausgesetzt also, seine Glaubwürdigkeit ist ihm wichtiger als das bloße Weiterleben unter unwürdigen, wenn auch vielleicht angenehmen Umständen – dann muss er das Todesurteil annehmen. Wenn er flieht, verrät er sich selbst, und dann, so sagen die Gesetze, ist es „weder hier für dich besser oder gerechter oder frömmer [. . .], noch auch wird es, wenn du dort (in der Unterwelt) ankommst, besser für dich sein“ 22. Die Selbstprüfung angesichts des Todes macht nun aber klar, dass, solange man noch Gründen zugänglich ist, nichts unaussprechlich Individuelles, sondern etwas höchst Allgemeines den Ausschlag gibt. Die „Seele“, wie Platon sagt, ist an Erkenntnisse gebunden und im Urteil über sich selbst den Gesetzen der Logik unterworfen. Was für Sokrates das Beste ist, ergibt sich somit aus allgemeinen Einsichten unter Anwendung des Satzes vom Widerspruch. Doch diese moraltheoretisch hochbedeutsame Abstraktion im Rückgang des Einzelnen auf sich selbst (und damit die Grundlegung der politischen Organisation durch ein immer auch moralisches Selbstverständnis) braucht uns hier nicht näher zu beschäftigen. Entscheidend ist, dass ein Selbstwiderspruch gerade auch im Verhältnis zur gesetzlichen Ordnung entstehen kann und dass sich dieser Widerspruch nicht bloß auf ein beliebiges Verhalten des Einzelnen erstreckt, sondern im Ernstfall auf dessen ganze Existenz. Das Argument der personifizierten Gesetze, denen Sokrates sich schließlich fügt, beruht auf einer Prämisse, die erst von der modernen Staatstheorie zu voller Geltung gebracht worden ist: dass man sich für seinen Wohnsitz frei entscheidet. Diese Entscheidung wird wie ein Versprechen gewertet, sie ist, mit Platons Worten, ein „Sich-verpflichten durch die Tat“ 23. Wer sich aber dem Schutz einer gesetzlichen Ordnung unterstellt, willigt darin ein, ihr Gehorsam 22

Platon, Kriton 54 b. Platon, Kriton 51 e. Zur Interpretation des fingierten Gesprächs mit den Gesetzen vgl. Ottmann, Der Tod des Sokrates und seine Bedeutung für die politische Philosophie. 23

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zu leisten. Denn der Schutz durch die Gesetze ist nur gegeben, sofern sie befolgt werden. Da sich die hinter der Entscheidung für den Staat stehende Erwartung vornehmlich auf die Sicherung des Lebens richtet,24 ist es eben dieses Leben, das man der allgemeinen Verfügung unterwirft. Wenn also das Leben des Einzelnen unter der Obhut des politisch Allgemeinen steht, dann muss es ihm auch eine Bestimmung über das eigene Leben zugestehen – vorausgesetzt, der einzelne Mensch versteht sich selbst als Teil der politischen Gemeinschaft. Eben dies setzt Sokrates voraus, wenn er sich – trotz des ungerechten Gerichtsurteils – als Bürger von Athen begreift. In der Koinzidenz von individuellem und kollektivem Selbstverständnis wird der Politik eine Verfügung über das einzelne Leben zugestanden, die, wenn überhaupt, sonst nur dem Individuum selbst zukommt. Damit, so denke ich, zeigt sich nun doch eine unverwechselbare Beziehung zwischen Politik und Tod: Politisches Handeln führt zu Einrichtungen, die definitiv über das Leben Einzelner bestimmen können. Nur in der Polis gibt es ein Recht zu solcher Bestimmung. Die mit der Selbstverantwortung eines jeden Einzelnen beanspruchte Verfügung über sein eigenes Leben wird in der freiwilligen Entscheidung für eine Gemeinschaft auf die Organe dieser Gemeinschaft übertragen. Dabei geht es vorrangig um die Abwehr willkürlicher Eingriffe und letztlich um die Sicherung vor dem gewaltsamen Tod. Wer innerhalb einer Gemeinschaft das Leben anderer bedroht, muss seinerseits mit Einschränkungen rechnen; und wer tötet, muss darauf gefasst sein, selbst getötet zu werden; wer schließlich verlangt, die Stadt müsse sich äußerer Feinde erwehren, muss bereit sein, bei der Verteidigung, die nunmehr die Verteidigung aller ist, sein Leben dranzusetzen.25 Die Entscheidung über alle jene Fälle aber, in denen die Hingabe des Lebens verlangt werden kann, darf notwendigerweise nicht mehr beim Einzelnen liegen. Das Gesetz hat zu bestimmen, unter welchen Bedingungen der Einsatz des Lebens gefordert werden kann und bei wem letztlich Urteils- und Befehlsgewalt liegen. Es muss als Definiens des Staates gelten, dass er und nur er das Recht hat, entsprechende Bedingungen zu normieren und die Entscheidungsträger – in unserer Sprache: Justiz, Polizei, Militär – zu institutionalisieren. Wo immer der Tod rechtmäßig gefordert werden kann, da hat sich eine staatliche Sphäre aus-

24 Dass dies von Platon tatsächlich so gesehen wird, bestätigen alle seine politischtheoretischen Schriften (vgl. Politeia 368 b–369 d; Politikos 261 c, 268 a u. 267 d; Nomoi 681 c/d; 7. Brief 327 e–328 a. 25 „Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewährt wird, daß dem Selbstbewußtsein nicht das Sein, nicht die unmittelbare Weise, wie es auftritt, nicht sein Versenktsein in die Ausbreitung des Lebens das Wesen, – sondern daß an ihm nichts vorhanden, was für es nicht verschwindendes Moment wäre, daß es nur reines Fürsichsein ist.“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 144; entsprechend auch ders., Enzyklopädie, §§ 431–435)

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gebildet. Nur die Politik eröffnet den Raum, in dem es legitime Tötung gibt, in dem eine Weisung mit möglicher Todesfolge zur elementaren Voraussetzung der Lebenssicherung gehört. Die konstitutive Rolle der allgemeinen Verfügung über den Tod des Einzelnen ist nun freilich der klassischen politischen Philosophie nicht entgangen. Ja, man kann sagen, dass die Befugnis zu töten als generatives Element der Staatsbildung von Anfang an bewusst gewesen ist. In Platons anschaulicher Lehre von der Entstehung der Polis kommt das eigentlich politische Element erst durch die „Wächter“ in die Stadt. Die Wächter werden nötig, weil die Stadt allein durch die Dynamik ihrer Bedürfnisse über ihre ersten Grenzen hinaustreibt und damit unvermeidlich in Konflikt mit ihren Nachbarn gerät, die ebenfalls expandieren und auf andere übergreifen.26 Wenn sie bestehen will, dann hat die Stadt Krieg zu führen, und für den Krieg braucht sie Menschen, die sich auf das Kriegshandwerk verstehen. Die Wächter sind Spezialisten für den Umgang mit dem gewaltsamen Tod. Während die Bürger der „ersten“, der „notdürftigsten Stadt“ (anankaiotate polis), wie die vorpolitische Polis auch genannt wird, im Grunde nur ihren eigenen Interessen folgen, werden die Wächter bereits als Diener der ganzen Stadt bestellt. Sie bilden das erste gemeinschaftliche Organ der Stadt; aus ihrem Stand gehen die Regenten hervor. Also sind sie es, die das Gemeinwesen überhaupt erst zu einem politischen machen. Die aus Naturzusammenhängen emanzipierte Polis, die erst als solche die Frage nach dem Gerechten sinnvoll werden lässt, etabliert sich mit der Autorität, die töten darf. Politisch ist das, was im Ernstfall das Leben vieler (möglicherweise sogar aller) riskieren und Anspruch auf den Tod des Einzelnen erheben kann.27 Dieses Abgrenzungskriterium des Politischen gilt – implizit oder explizit – in allen klassischen politischen Theorien. Nach Aristoteles gehören die Waffen – neben den materiellen Gütern und der Technik – zur dritten Grundvoraussetzung einer jeden Polis; unter dem Befehl einer höheren Instanz haben sie vor inneren und äußeren Feinden zu schützen. Der Schüler Platons vertraut dabei allerdings stärker auf den allgemeinen Bürgersinn als auf spezielle Soldatentugenden: „Die Soldaten werden feige, wenn die Gefahr übermäßig wird“, so heißt es in der Nikomachischen Ethik, „die Bürger dagegen halten stand und sterben [. . .]“ 28. Welches Staatsorgan im Einzelfall berechtigt ist, die erforder26

Vgl. Platon, Politeia 373 d–374 e. Hier ließe sich Carl Schmitts Kriterium der Entscheidung für den Ernstfall angesichts einer praktischen Unterscheidung zwischen Freund und Feind integrieren. Es erfüllt aber weder die hinreichende noch die notwendige Bedingung einer Definition des Politischen. (Siehe dazu vom Verf., Politisches Handeln, in diesem Band, S. 65–81.) 28 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1116 b. Die Bemerkung steht im Abschnitt über den höchsten Mut angesichts der Todesfurcht. Denn: „Was aber am meisten Furcht erregt, ist der Tod. Er ist das Ende [. . .].“ (Ebd., 1115 a) Darauf folgt die Defi27

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lichen Befehle zu erteilen, hängt von der jeweiligen Verfassung ab; dass aber diese Befehlsgewalt überhaupt besteht, ist eine Existenzbedingung der Polis. Schon bei Cicero – und nicht erst in den Vertragstheorien der Neuzeit – wird diese Leistung des Staates unter eine vorpolitische Legitimitätsbedingung gestellt. Wo sie fehlt, herrscht die bloße Tyrannei, ganz gleich, wer und wie viele die Macht ausüben: „Sunt enim omnes, qui in populum vitae necisque potestam habent, tyranni [. . .].“ – „Es sind nämlich alle, die über das Volk Gewalt über Leben und Tod haben, Tyrannen, wollen aber lieber mit dem Namen des Jupiter Optimus Könige genannt werden.“ 29 Das Urteil über die Herrschaft der vielen fällt keinen Deut milder aus: „Si verum populus plurimum potest, omniaque eius arbitrio geruntur, dicitur illa libertas, est vero licentia.“ – „Wenn aber das Volk am meisten Macht hat und alles nach seinem Gutdünken geschieht, so heißt das Freiheit, ist aber Willkür.“ 30 Aus diesem Dilemma gibt es nach Cicero nur deshalb einen Ausweg, weil „der eine den anderen fürchtet“ (alius aliud timet), was schließlich dazu führt, dass eine „Art Abmachung zwischen dem Volk und den Mächtigen“ zustande kommt: „quasi pactio fit inter populum et potentis“ 31. Auf diese Weise wird, wie später bei Hobbes, die Furcht vor dem gewaltsamen Tod zum Ursprung des Staates. „Denn der Gerechtigkeit Mutter“, so fügt Cicero erläuternd hinzu, „ist nicht die Natur und nicht der Wille, sondern die Schwäche (non natura nec voluntas sed inbecillitas [iustitia] mater est).“ 32 Doch diese heilsam-ernüchternde Erkenntnis über die historisch-anthropologische Herkunft des Staates bedarf der Ergänzung: Eine res publica, eine öffentliche Angelegenheit im vollen Sinn des Wortes ist erst dort gegeben, wo der geschlossene Pakt tatsächlich als Recht angesehen und aus eigener Einsicht befolgt werden kann. Nur der consensus iuris33 kann den – wie immer auch entstandenen – Staat zusammenhalten, den Cicero als „iuris societas civium“ definiert.34 Und so gewiss es auch erst die Rechtsgesetze sind, die es ermöglichen, die gewaltsame Tötung eines Menschen als Mord oder Totschlag zu kennzeichnition: „Demnach wird mutig im eigentlichen Sinne heißen, wer angesichts eines rühmlichen Todes und alles dessen, was auf einmal den Tod bringt, also besonders in Krieg und Schlacht furchtlos und unverzagt ist.“ (Ebd.) Darauf folgt dann in 1116 a/b die Passage über den „bürgerlichen Mut“ (andreia politike): „Soldaten werden feige, wenn die Gefahr überhand nimmt und sie an Zahl und Ausrüstung zurückstehen. Sie ergreifen zuerst die Flucht, während ein Bürgerheer standhält und stirbt, wie es bei Hermaeus geschah. Denn die Bürger halten die Flucht für schimpflich, und der Tod ist ihnen lieber als eine solche Rettung.“ (1116 b) 29 Cicero, De re publica, III, 13. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd., III, 33. 34 Vgl. ebd., I, 32.

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nen, so eindeutig sind einzig und allein sie es, die einen absichtlich herbeigeführten Tod erlauben, ja sogar gebieten können. Eine Befugnis zu töten gibt es demnach nur im rechtlich geordneten politischen Raum. In diesem Punkt sind sich die antiken und modernen Staatstheorien vollkommen einig. Die Institutionalisierung eines Rechts über Leben und Tod zu begründen kann sogar als die vorrangige Aufgabe aller neuzeitlichen Sozialkontrakte gelten. Diese sind hier nicht zuletzt deshalb so entschieden, weil sie zeitweilig konkurrierende Ansprüche der kirchlichen Mächte theoretisch abzuwehren haben.35 Für Hobbes liegt das wesentliche Motiv für die Überwindung des Naturzustandes in der Furcht vor dem gewaltsamen Tod.36 Sein elementares Recht, sich vor Schmerzen und Tod zu bewahren, kann der Einzelne daher, kraft eigener Entscheidung und sofern seine natürliche Vernunft ihm dies gebietet, auf seinen Souverän übertragen, der im Namen der einzelnen Subjekte den Schutz für Leib und Leben übernimmt. Der Gehorsam, den er für diese Leistung verlangen kann, schließt jedoch ein, dass jeder Einzelne notfalls auf Befehl des Souveräns sein Leben zu wagen hat. Und beim Verstoß gegen dessen Willen muss er unter Umständen auch mit einem tödlichen Ausgang rechnen. Der Souverän hat die absolute Macht über das Leben der ihm unterstehenden Bürger. Gerade dies ist das Kennzeichen der genuin politischen Autorität. Allerdings darf man nicht übersehen, dass Hobbes jedem Bürger das natürliche, auch unter Vertragsbedingungen nicht aufkündbare Recht zugesteht, dem staatlich verhängten Tod zu widerstehen: Ein Gebot des Souveräns kann nämlich auch derart sein, „daß ich mich lieber töten lasse, als es erfülle“ 37. Todesfurcht hebt jeden Gehorsam auf. Im Angesicht des Todes fällt jeder auf den Status des vorpolitischen Rechts zurück. Doch an der Befugnis des Herrschers, den ihm ursprünglich übertragenen Willen durchzusetzen, ändert das nichts. Ganz entsprechend geht die liberale Verfassungslehre John Lockes davon aus, dass der einzelne Mensch sein Naturrecht als „absoluter Herr über seine eigene Person“ der Regierung insoweit überträgt, als sie sein Leben, seine Freiheit und sein Eigentum gegen Übergriffe („invasions of others“) schützen kann. Deshalb hat der Bürger in erster Linie darauf zu verzichten, Vergehen gegen ihn oder gegen andere selbst zu ahnden. Die Macht zu strafen (power of punishment) sowie die Entscheidung über Krieg und Frieden gehen über auf die zentrale Ge-

35 Theoretisch kann dieser Streit seit Augustinus als entschieden gelten, denn alle weltliche Macht ist hier unzweideutig der civitas terrena übertragen. Faktisch aber hat die Auseinandersetzung bekanntlich die ganze mittelalterliche Staats- und Kirchenrechtsdiskussion bestimmt. 36 Vgl. Hobbes, De cive, 1.7, S. 81: „Denn jeder verlangt das, was gut, und flieht das, was übel für ihn ist; vor allem flieht er das größte der natürlichen Übel, den Tod [. . .].“ 37 Ebd., 6.13, S. 140.

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walt.38 Als „politische Macht“ ist sie ausdrücklich definiert durch das Recht, Gesetze mit tödlichen Strafen zu erlassen: „Unter politischer Gewalt verstehe ich dann ein Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, [. . .].“ 39 Auch die im Gang der Aufklärung immer prägnanter artikulierte Idee des Menschenrechts ändert nichts an dem Junktim zwischen kollektiver Lebenssicherung und individueller Überantwortung des Todes an das politische Ganze. „Jeder Mensch“, so heißt es bei Rousseau, „ist berechtigt, sein eigenes Leben zu wagen, um es zu erhalten.“ Hat er dieses Recht erst einmal dem Gemeinwesen übertragen, dann muss er bei Gesetzesverstößen oder im Zustand allgemeiner Gefahr gewärtigen, dass der Souverän ihm sagt: „Dein Tod ist für den Staat erforderlich.“ Und er muss sterben.40 Bei Kant und Hegel, die Recht und Staat auch methodologisch explizit auf das Menschenrecht gründen, ist das nicht anders. Kant insistiert, wie sich insbesondere an seinem Ausschluss des Widerstandsrechts zeigt, auf dem unbedingten Gehorsam gegenüber den Gesetzen. Wer sich dem nicht fügt, hat sein Leben verwirkt. In dem zu seiner Zeit erstmals aufkommenden allgemeinen Plädoyer gegen die Todesstrafe sieht Kant nur die „Empfindelei einer affectierten Humanität“ 41 und hält sie für nichts als „Sophisterei und Rechtsverdrehung“ 42. Hegel vermag das Ganze des Staates noch einmal in die große Metaphorik des Leibes und des Lebens zu rücken und vergleicht das Zusammenspiel der politischen Elemente mit dem „Leben im organischen Körper: es ist in jedem Punkte, es gibt nur ein Leben in allen Punkten, und es ist kein Widerstand dagegen. Getrennt davon ist jeder Punkt tot.“ 43 Diese wenigen Beispiele müssen genügen, um kenntlich zu machen, dass der Tod in der Tradition des politischen Denkens durchaus eine Rolle spielt! Dabei hat es zwar den Anschein, als gehe es, wie Hannah Arendt mit Blick auf Hobbes meint, nur um den gewaltsamen Tod. Doch bei näherem Zusehen zeigt sich, dass diese Zuspitzung aus einem für die politische Theorie zentralen Interesse erfolgt. Hier überschneiden sich nämlich das Sicherheitsverlangen des Bürgers und der Zuständigkeitsanspruch des Staates. Eben hier ist der Punkt der definitiven Entscheidung, ob der Einzelne seine Selbstbestimmung nur durch den zufällig auftretenden Willen der anderen eingrenzen lassen will (und damit bloßer 38 Vgl. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Zweite Abhandlung, §§ 87 f., S. 253 f. 39 Ebd., § 3, S. 201. 40 Vgl. Rousseau, Du contrat social, II, 5. Das Kapitel trägt den bezeichnenden Titel „Du droit de vie et de mort“. 41 Kant, Metaphysik der Sitten, AA, Bd. 6, S. 334 f. 42 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Das Staatsrecht, E. Vom Straf- und Begnadigungsrecht, AA, Bd. 6, S. 335. 43 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 276, Zusatz, S. 441.

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Privatmann bleibt) oder ob er im umfänglichen Kalkül seiner Selbsterhaltung einer prinzipiellen Einschränkung seines Willens zustimmt (und damit zu einem politischen Subjekt wird). Das Interesse an einer Begründung politischer Verbindlichkeit überhaupt lenkt den Blick ganz von selbst auf die Befugnis zur Entscheidung über Leben und Tod. Hier also hat der Tod nicht nur eine eminente, sondern sogar eine konstitutive Funktion für die Politik: Nur das politische Handeln kann gesellschaftliche Organisationen errichten, denen die Entscheidung über Tod und Leben zugebilligt wird. Einzig die Politik schafft eine säkulare Instanz, der sich der Mensch mit seiner ganzen Existenz zu unterstellen hat. Die faktische Verfügung, die der einzelne Mensch über sich selber hat und die er sich gewaltsam stets auch über andere anmaßen kann, kann durch die Politik in ein Recht verwandelt werden – in ein Recht auf Leben und Tod. Spätestens hier wird die exklusive Rolle bewusst, die der Tod auf der politischen Bühne spielt. Und ich behaupte, dass es nicht gelingt, eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Natur des Politischen zu geben, solange nicht geklärt ist, worauf sich diese unheimliche Kompetenz über Leben und Tod eigentlich gründet. Es ist, um die Antwort wenigstens anzudeuten, die Institutionalisierung der Selbstbestimmung, durch die der Staat als die politische Instanz schlechthin eine Kompetenz gewinnt, die sonst nur dem einzelnen Menschen im Verhältnis zu sich selbst zukommt.44 Dies entgeht Hannah Arendt, und man versteht, warum. Denn sie hat in ihrer Theorie der politischen Urteilskraft keinen Ort für institutionelle Verbindlichkeit. Recht und Herrschaft, diese beiden Säulen des einen Bogens, der das Gewölbe der Politik zu tragen hat, bleiben in ihrem Ansatz ohne Funktion. Folglich muss ihr das Problem des gewaltsamen Todes als vergleichsweise marginal erscheinen, auch wenn es unter den totalitären Bedingungen unseres Jahrhunderts eine weltgeschichtlich neue Dimension erhalten hat.45 Tatsächlich aber zeigt sich – praktisch wie theoretisch – erst beim Problem des gewaltsamen Todes der Ernst der politischen Frage. Wenn nämlich die Erhaltung und Gestaltung des Lebens nach gemeinsamen Vorstellungen möglich sein soll, dann hat es dort, wo es um den Erhalt der Einheit geht, auch einen Willen zu geben, der notfalls den Widerstand einzelner Individuen oder Gruppen bricht. Und da Individuen nicht nur, wenn sie ihre guten Gründe haben, sondern auch wenn noch so gute Gründe dagegen stehen, immer wieder bereit sind, das Leben anderer aufs Spiel zu setzen (und dabei oft ihr eigenes Leben preisgeben), benötigt der allgemeine politische Wille, wenn er denn überhaupt wirksam und anerkannt sein soll, die Macht und das Recht, notfalls auch den Tod eines Individuums zu verfügen.

44 Zur Konzeption der Politik als Selbstbestimmung siehe vom Verf., Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden‘. 45 Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Bd. 3, S. 210 ff.

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Dabei muss es nicht gleich um Krieg und Frieden oder um ein Todesurteil gehen; jede polizeiliche Maßnahme zum Schutz prominenter Personen, zur Befreiung von Geiseln oder zur Anordnung einer Quarantäne lässt erkennen, wie schnell bei der Durchsetzung eines politischen Willens die Integrität von Leib und Leben infrage steht. Entscheidend ist, dass wir keiner anderen Instanz auf Erden als allein dem vereinigten politischen Willen aller eine solche Kompetenz, über Leben und Tod zu bestimmen, zugestehen. Wir können die Tötung als solche moralisch ächten und unsere ganze pädagogische, psychologische, ökonomische und medizinische Kunst daransetzen, sie im Einzelfall zu verhindern; ein wirksames Verbot ist nur mit politischen Mitteln aufrechtzuerhalten. Und diese Mittel schließen – so paradox es klingt und so tragisch es ist – das Instrument der Tötung nicht aus. Man kann der Bemerkung von Hannah Arendt also weder historisch noch systematisch beipflichten; und wenn es darauf ankäme, gegenüber dieser bedeutenden Publizistin Recht zu behalten, ließe sich nachweisen, dass auch die anderen Momente unserer Sterblichkeit – die Endlichkeit, die Leidensfähigkeit und das kontrafaktische Verlangen nach überzeitlicher Dauer – weder von der alteuropäischen noch von der modernen Staatsphilosophie vergessen worden sind. Und dennoch sollte uns die Bemerkung Hannah Arendts nachdenklich machen! Auch wenn sich in den klassischen Texten zahlreiche, systematisch nicht unerhebliche Hinweise auf den Tod finden: Wir haben zu fragen, ob das Problem damit ausgeschöpft ist, vor allem aber: ob wir uns mit den angebotenen Lösungen eigentlich zufriedengeben können? Und hier teile ich die Überzeugung Hannah Arendts, dass wir allenfalls am Anfang eines längst fälligen Überlegens stehen, dessen Dringlichkeit nicht erst durch die Erfahrung mit den totalitären Systemen, sondern bereits durch das im Prozess der Säkularisierung immer offenkundiger werdende Begründungsdefizit des neuzeitlichen Staates unabweisbar ist. Woher nehmen wir, selbst wenn es uns gelungen sein sollte, die Universalisierbarkeit äußerer Gesetze zu begründen, das Recht, über das Leben anderer Menschen zu verfügen? Was legitimiert eine „Menge von Menschen“, sobald sie sich als staatliche Gemeinschaft organisiert, über Leben oder Tod ihrer Mitglieder zu bestimmen? Das ethische Tötungsverbot ist nicht suspendiert, und gleichwohl rüsten Staaten ihre „Wächter“ mit Waffen aus. Was berechtigt zu den Ausnahmen, die hier zumindest für möglich gehalten werden und die tatsächlich zur Realität der politischen Welt gehören? Kann es hier überhaupt Ausnahmen geben? Und wenn ja: Warum ausgerechnet in der Politik? Und selbst wenn es hierauf eine zureichende Antwort geben sollte: Darf man die Entscheidung über die Ausnahmen der Politik überlassen und den Diskurs darüber der Politischen Philosophie? Man sieht, alle diese sich an der Grenze des Lebens stellenden Fragen führen an die Grenze des Politischen, und sie rühren zugleich an das Selbstverständnis der Politischen Philosophie. Das ist schon bei Platon so, wenn er am Ende der Politeia den Mythos von jenem pam-

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phylischen Krieger erzählt, der am zwölften Tage nach der Schlacht wieder von den Toten erwacht, Kunde vom jenseitigen Leben bringen kann und damit eine Wahrheit verbürgt, nach der die Philosophenkönige über Tod und Leben entscheiden können.46 Cicero ist hier schon vorsichtiger und lässt seinen Scipio nur träumen, dass er auf den elysischen Feldern wandelt und dort angesichts der unverbrüchlichen Gesetze des Kosmos die Gewissheit erlangt, dass die Menschen „unter dem Gesetz gezeugt sind, jenen [. . .] Erde genannten Ball zu schützen“ 47. Das ist die Aufgabe, deren Sinn wir heute erst vollends zu verstehen glauben. Aber wie begründen wir sie, wenn die kosmischen Gesetze nicht mehr als göttliches Gebot erscheinen? Wie lösen wir die Konflikte, in denen die einen den Tod einzelner Menschen riskieren wollen, um das Prinzip ihrer Freiheit zu wahren, während die anderen auch dieses Prinzip für den möglichen Tod der Menschheit verantwortlich machen? Und wenn wir einmal die Gründe für die eine oder die andere Position beiseite lassen: Was berechtigt eigentlich beide Seiten, so hohe Erwartungen in die Politik zu setzen? Die römisch-imperiale oder die barock-absolutistische Hochschätzung des Staates empfinden wir heute als übertrieben. Aber wurden je größere Hoffnungen in die Politik investiert als angesichts des ökologischen Menetekels? Hobbes wusste, wie seine Formel vom Leviathan als dem „sterblichen Gott“ erkennen lässt, von dem über alles menschliche Maß hinausgehenden Anspruch des Staates. Im Staat wird aus dem „homo homini lupus“ ein „homo homini deus“.48 Das von ihm zugrunde gelegte Naturrecht mag, vor allem in der von Kant methodologisch verbesserten Form eines Vernunft- und Menschenrechts ein theoretisch wirksames Mittel gegen die politische Selbstapotheose des Menschen sein; zusammen mit garantierten Grundrechten, unabhängiger Gerichtsbarkeit, parlamentarischer Kontrolle und einem turnusmäßigen Wechsel des regierenden Personals kann die Instanz des Menschenrechts, wie wir wissen, auch praktisch erfolgreich sein – ein gewisses Maß an ökonomischer Stabilität und sozialer Akzeptanz natürlich vorausgesetzt. Aber gibt die Vernunft, wenn wir sie wirklich nur als ein Vermögen des Menschen verstehen, auch ein Recht auf des anderen Tod? Brauchten wir nicht eine Position jenseits des Lebens, um ein für alle Mal abschließend über ein Menschenleben zu urteilen? Die religiöse Fundierung des Staates bot zumindest Aussicht auf eine solche Position. Doch die politische Theologie, wenn sie denn überhaupt jemals wirksam war,49 hat spätestens in den Konfessionskriegen ihre Glaubwürdigkeit ver46

Vgl. Platon, Politeia, 10. Buch. Cicero, De re publica, 15 (Somnium Scipionis). 48 Hobbes, Vom Bürger, Widmung an den Grafen W. v. Devonshire, S. 59. 49 Jan Assmann hat hier gut begründete Zweifel geäußert (vgl. Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel); siehe dazu auch: Meier, Die Lehre Carl Schmitts. 47

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loren, und in einer Lage, die durch die Pluralität von Weltreligionen gekennzeichnet ist, wäre nichts heilloser als eine Restitution des politisch-theologischen Fundamentalismus. Der aber wirkt in der politischen Verfügung über den Tod bis heute nach. Außer Zweifel steht dies, wo das reklamierte natürliche Recht noch unter Berufung auf das Alte Testament bekräftigt wird: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.“ 50 So zitiert noch John Locke51 diese Stelle. Beweiskraft aber kann sie bereits nach seinen eigenen Voraussetzungen nicht mehr haben. Doch welchen Grund gibt es dann? Bleibt hier mehr als das Notrecht bloßer Selbsterhaltung? Es wäre dies ein aus basalen anthropologischen Bedingungen entspringendes elementares Recht, das wir im strikten Sinn allerdings nur Individuen zubilligen können. Wie lässt sich ein solches Recht auf eine politische Gemeinschaft übertragen? Kann ein politischer Körper, der niemals so unmittelbar Natur ist wie ein menschlicher Leib, überhaupt in eine vergleichbare Notlage geraten? Fragen wie diese werden von der politischen Theorie der Gegenwart so gut wie gar nicht behandelt.52 Aber schon die Fragen lassen eines sofort erkennen: Kaum hat man sich von der Theologie abgelöst, stößt man auf der Gegenseite an die Grenze zur Natur – vor allem in uns. Dies ist das Selbstverständnis, das wir in der Ausübung und Ausweitung unserer Kräfte – in durchaus variabler Weise – ausbilden. Und eben dieses reflexive, in der begrifflichen Selbstauslegung des Menschen zum Vorschein kommende Naturfundament der Politik ist von den Philosophen bislang zu wenig beachtet worden. Vielleicht gibt es dafür sogar ein plausibles Motiv: Die Natur in uns ist keine bloße Natur. Sie lässt sich also nicht durch Beschreibung von Sachverhalten feststellen, sondern kann nur im Medium der Selbstreflexion ermittelt werden. Sie zeigt sich somit nur im theoretischen und praktischen Selbstverständnis der Menschen, ist folglich nicht nur den epochalen und kulturellen Schwankungen ausgesetzt, sondern unterliegt offenkundig auch den individuellen Oszillationen der Subjektivität. Wer möchte darauf schon eine Theorie gründen, die nicht nur (theoretische) Allgemeinheit beansprucht, sondern auch (praktische) Verbindlichkeit verlangt? Doch so groß die Schwierigkeiten auch sein mögen: Es ist nun einmal so, dass die Politik wesentlich auf der Einstellung des Menschen zu sich selbst ge50

1. Mos., 9,6. Vgl. Locke, Second Treatise of Government, § 3. 52 Eine von den wenigen Ausnahmen ist Buchheim, Wie der Staat existiert. – Das Schweigen der politischen Theorie, sobald sie den Grenzbereich von Natur und Gesellschaft berührt, ist umso erstaunlicher, als in Carl Schmitt ein Provokateur gegenwärtig ist, der sich mit seinen Thesen ständig in diesem Bereich bewegt, ohne freilich auch nur eine einzige befriedigende Antwort vorzutragen. 51

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gründet ist. Wenn es also eine den Phänomenen der Politik angemessene Theorie geben soll, dann muss sie offenlegen, von welchem Selbstverständnis die politischen Akteure ausgehen. Folglich hat sie den Selbstbegriff der politisch handelnden Menschen nachzubuchstabieren, auch wenn in ihm Geist und Natur kaum noch unterscheidbar sind. Die Einstellung zum Tod bietet dafür ein Beispiel. Denn in der politischen Verfügung über den Tod ist dieses Naturmoment unabweisbar. Kein Streit um das Für und Wider einer philosophischen Anthropologie kann daran etwas ändern, dass der Tod eine uns von außen gesetzte Grenze ist, die wir als Naturwesen so weit wie möglich hinauszuschieben suchen. „Von außen“ heißt hier: dass wir den Tod nicht aus eigenem Antrieb wollen, sondern ihn allenfalls, durch die Verhältnisse genötigt, herbeiwünschen oder herbeiführen. Dass der natürliche Tod mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer inneren Gesetzmäßigkeit des Organismus folgt, ist von der hier vertretenen These nicht berührt. Aber an der in hohem Alter gespürten Lebensgrenze, an der man „des Lebens satt“ sein kann, gibt es eine Berührung zwischen dem physiologischen und dem psychischen Innen. Dabei kann nicht bestritten werden, dass ein personales Selbstverständnis des Individuums tangiert ist, das sich unbedingt – also unter welchen Konditionen auch immer – gegen die Verfügung über es selbst als bloßes Mittel wehren kann und wehren muss. Ja mehr noch: Die Politik ist inzwischen durch das Menschenrecht verpflichtet, das Individuum bei diesem Widerstand zu unterstützen. Deshalb gerät heute jedes politische Handeln in einen Widerspruch zu seinen eigenen Voraussetzungen, wenn es auch nur zu den Waffen ruft oder den finalen Todesschuss erlaubt. Gerade wenn wir als Bürger weiterhin solche elementaren Schutzmaßnahmen fordern, haben wir uns um einen Begriff der Politik zu bemühen, der diesen Widerspruch behebt. Sollte uns dies nicht gelingen, dann haben wir den Grund nicht in der Politik zu suchen, sondern in uns selbst. Wie immer die gesuchte Theorie auch ausfällt – eines lässt sich vorab schon sagen: Eine Rechtfertigung für den politischen Umgang mit dem Tod lässt sich nur insoweit geben, als sie mit unserer eigenen Einstellung gegenüber unserem natürlichen oder willkürlichen Ende koinzidiert. Da diese Einstellung bis heute wesentlich von religiösen Motiven geprägt ist, werden wir sie behutsam zu prüfen haben. Doch die politische Welt, die uns heute nötigt, nach unseren Gründen zu suchen, bietet stets mehr als bloß ein religiöses Motiv. Die Vielfalt der Kulturen und der partielle Gegensatz der Weltreligionen ist eine unabweisbare historische Kondition, von der wir politisch auszugehen haben. Die Politik hat die weltanschaulichen Gegensätze pragmatisch auszugleichen, hat sie in ein rechtlich verfasstes Neben- und Miteinander zu überführen und kann sich dabei natürlich nicht auf Motive stützen, die selbst bloß religiöser Natur sind. Sie muss folglich eine Begründungsebene finden, die den religiösen Differenzen vorgelagert ist. Und die kann nirgendwo anders als dort gefunden werden, wo

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der Mensch auch sein Verhältnis zur Religion zu klären hat. Dies geschieht letztlich aber nirgendwo anders als in ihm selbst. Literatur Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 3. Aufl., Frankf./M. u. a. 1975. – Macht und Gewalt, 7. Aufl., München 1990. – Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl., München 1981. Assmann, Jan: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1992. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankf./M. 1976, S. 42–64. Buchheim, Hans: Wie der Staat existiert, in: Der Staat 27 (1988), S. 1–21. Cicero, Marcus Tullius: Der Staat, Lat. u. Dt., hg. u. übers. v. Karl Büchner, München 1993. Friedrich II. von Preußen: Das militärische Testament von 1768, in: ders., Die Werke Friedrichs des Großen, hg. v. G. B. Volz, Bd. 6, Berlin 1913, S. 222–263. Gebhardt, Jürgen: Symbolformen gesellschaftlicher Sinndeutung in der Krisenerfahrung, in: Vondung, Klaus (Hg.), Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestalt und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980, S. 41–46. Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden‘. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995. – Moderne Zeiten. Zur philosophischen Ortsbestimmung der Gegenwart, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), S. 597–609. – Vernunft und Urteilskraft. Politische Philosophie und Anthropologie im Anschuß an Immanuel Kant und Hannah Arendt, in: Thompson, Marvyn P. (Hg.), John Locke und Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz, Berlin 1991, S. 316–333. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Werke, Bde. 8–10), Frankf./M. 1986. – Phänomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, 6. Aufl., Hamburg 1952. – Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke, Bd. 7), Frankf./M. 1986. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 11. Aufl., Tübingen 1967. Hobbes, Thomas: Vom Bürger, in: ders., Elemente der Philosophie 2/3. Vom Menschen. Vom Bürger, hg. v. G. Gawlick, 3. Aufl., Hamburg 1994, S. 57–327. – Leviathan, or the Matter, Form, and Power of A Commonwealth. Ecclesiastical and civil (The Collected Works of Thomas Hobbes, Collected and edited by Sir William Molesworth, Vol. III, Part I and II), London 1972. Höffe, Otfried: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankf./ M. 1990.

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– Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankf./M. 1987. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. Kremp, Werner: Die Ordnung der Gesellschaft und die Erfahrung des Todes, in: Ethik und Sozialwissenschaft, Heft 3, 1994, S. 493. Locke, John: Two Treatises of Government, Cambridge 1970. Meier, Heinrich: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung von Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart 1994. Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia, Oxford 1974. Ottmann, Henning: Der Tod des Sokrates und seine Bedeutung für die politische Philosophie, in: Hofman, Rupert/Jantzen, Jörg/Ottmann, Henning (Hg.), ANODOS. Festschrift für Helmut Kuhn, Weinheim 1989, S. 179–191. Padua, Marsilius von: Defensor pacis, hg. v. R. Scholz, Hannover 1932. Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou principes du droit politique, Paris 1987. Sternberger, Dolf: Drei Wurzeln der Politik (Schriften, Bd. II, 1), Frankf/M. 1978. – Über den Tod (Schriften, Bd. I), Frankf./M. 1977. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, hg. v. P. Opitz, München 1993. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 7. Aufl., Tübingen 1978.

Politischer Humanismus Skizze eines Programms I. Politik und Kultur 1. Der Humanismus ist keine politische Bewegung. Die historische Formation des Humanismus, die wir auf die gelehrten Dichter Petrarca (1304–1374) und Boccacio (1313–1375) zurückführen und bei genauerer Betrachtung schon auf die Bemühungen des Paduaner Richters Lovato Lovati (1241–1309) und seines Freundes Albertino Musato (1261–1329) datieren müssen, war – nach dem Wort Jacob Burckhardts – eine „hundertköpfige Schar, die heute dies und morgen jenes Antlitz zeigt“ 1. Es wäre höchst fragwürdig, sie auch nur auf eine einzige kulturelle Aufgabe, sei es der Erziehung, der Ausbildung historischer Gelehrsamkeit, der Perfektion der Philologie oder der Pflege einer sprachlichen Tradition zu beschränken. Folglich wäre es abwegig, sie auf ein politisches Ziel zurückzuführen, auch wenn die politische, diplomatische und die administrative Leistung des Humanismus von Anfang an im Blickfeld war. Gleichwohl will ich den Versuch einer politischen Begriffsbestimmung des Humanismus machen. Meine – hier freilich nur skizzenhaft begründete – These wird sein, dass der Humanismus nur als politische Bewegung eine Zukunft hat. Andernfalls bleibt er eine Serie von Renaissancen, deren Steigerung sich auf die Ordinalzahlen beschränkt, mit denen wir sie abzählen. 2. Politik und Kultur. Die Politik ist eine fundierende Erscheinung der menschlichen Kultur. Sie beruht zwar auf elementaren Leistungen menschlicher Gemeinschaften, setzt mit Sicherheit den Ackerbau und die organisierte Jagd, die Domestikation von Tieren, das Handwerk und die Sprache, die Waffen- und Befestigungstechnik, die Siedlungsform der Stadt, den Bau von Brunnen, Wegen und Kanälen sowie einen weiträumigen Handel voraus. Gleichwohl haben wir verlässliche Hinweise darauf, dass die frühe politische Organisation, die wir im eurasischen Grenzgebiet bis auf das zehnte Jahrtausend v. Chr. zurückverfolgen können, ihrerseits zur Stimulierung nachhaltiger kultureller Leistungen geführt hat. So verdankt sich die soziale Hierarchisierung zwischen Herrschenden und Beherrschten, die Formalisierung der Arbeitsteilung und der Besitzverhältnisse, 1

Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 143.

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die Konsolidierung des Handels durch Rechnungslegung, Eichung der Maße und Bestimmung der Tauschmittel, durch Schiedsgerichtsbarkeit und Registratur, schließlich die Erfindung der Schrift mit ihren weit reichenden Folgen für die Sicherung des Zugangs zur eigenen Geschichte der elaborierten gesellschaftlichen Ordnung unter der Anleitung zentraler Ziele, auf die alle Schutzgenossen des politischen Raums verpflichtet waren. Auch die Ausbildung der großen sakralen Architektur der frühen, mittleren und späten Reiche ist eine Leistung, die nicht unabhängig von der politischen Grenzfunktion des Politischen möglich war.2 Die Stabilisierung der Herkunftsund Gründungsmythen der Menschheit hat sich unter politischen Konditionen eingestellt. Die Politik hat nicht nur die Sesshaftigkeit der Menschen, sondern auch die der Götter befördert. So reicht sie viel stärker in das Selbstverständnis der eurasischen und mediterranen Kulturen hinein, als es sich das bis heute nachwirkende biedermeierliche Missverständnis der Nachromantik vorstellt. Dem ist bekanntlich noch Marx zum Opfer gefallen, indem er die rechtlichen und politischen Institutionen zum – letztlich entbehrlichen – „Überbau“ erklärte. Richtig ist vielmehr, dass die Politik zur internen Bedingung der kulturellen Organisation des menschlichen Lebens gehört. 3. Die Kultivierung der Gegensätze. Die politische Herrschaft setzt leitende Ziele der Erhaltung menschlicher Gemeinschaften. Dadurch werden die bedrohlichen Gegensätze im äußeren Verhältnis der Gemeinschaften herausgehoben; wo sie schon bestehen, werden sie artikulierbar, so als könnte auf beiden Seiten mit einer Stimme gesprochen werden. Nicht selten freilich entstehen die äußeren Gegensätze erst durch die staatsförmige Abgrenzung sozialer Einheiten gegeneinander. Der Staat – den ich hier der Einfachheit halber als Sammelbegriff für alle unter politischen Erwartungen stehenden sozialen Gebilde so benenne – verdeutlicht Gegensätze gerade dadurch, dass er territoriale und institutionelle Einheiten schafft. Deren Vorzug besteht in der Lenkung des sozialen Ganzen durch Eindämmung und Austrag der Gegensätze. Es wird möglich, Kriege zu führen und Verträge abzuschließen. In Konfliktlagen bietet die politische Organisation, so vielstimmig sie in sich selbst auch sein mag, die Chance zu einheitlichem Handeln. Ein Wille kann an die Stelle der vielen Willen treten und dadurch nach Analogie eines einzelnen Menschen begriffen werden. 4. Die Konzentration auf einen Willen. Im Inneren bindet der Staat die vielfältigen Kräfte unter dem Anspruch eines alles konzentrierenden Willens zusammen. Das mag in vielen Fällen der natürlichen Bemühung um Kooperation und wechselseitige Hilfe entsprechen. Sieht man aber, welche Bedeutung dem Ge2 Das geschieht übrigens bis in die Moderne hinein. Erst in den westlichen Kulturen des 20. Jahrhunderts bricht diese Tradition mit vorerst unbekannten Folgen ab.

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waltmonopol im Inneren in allen staatsförmigen Gemeinschaften zukommt, dann erkennt man, dass sich auch hier die Gegensätze aneinander steigern. Die Politik verschärft den innergesellschaftlichen Druck der gegensätzlichen Kräfte. Sie setzt die Verbindlichkeiten, denen sich die Einzelnen, notfalls auch gegen ihren Willen zu fügen haben. Sie ist die einzige Instanz, die – im Namen einer Gemeinschaft – das existenzielle Opfer des Einzelnen fordern kann. Das führt bis heute zu der irrigen Unterstellung, in der Politik sei alles auf das Kollektiv gegründet, während das Individuum faktisch bedeutungslos sei. Wir werden noch sehen, dass darin ein Irrtum liegt, der sowohl die Institution wie auch die Person unterschätzt – und vor allem verkennt, dass beide in Genese und Funktion aufeinander angewiesen sind. 5. Steigerung durch Bindung der Gegensätze. Ob aus dem die Gegensätze immer nur zeitweilig bezwingenden Gewaltmonopol eine Lähmung oder eine Steigerung der gesellschaftlichen Kräfte resultiert, ist bereits eine Frage der Kultur, deren Kunststück darin besteht, die Dynamik des Ganzen mit der Freiheit der Einzelnen zu verknüpfen. Nur in der Kultur kann sich das Selbstverständnis artikulieren, in dem jeder sein eigenes Leben im Zusammenhang der Gemeinschaft begreifen kann. Es ist gewiss nicht die geringste Leistung der Kunst, den Einzelnen zwanglos in die Einheit einzuspielen, in der er zu leben hat. Diese Einheit kann als Natur oder als Geschichte, als Kosmos oder Ethos, als Stamm oder Volk begriffen werden; sie kann aber auch das politische Schicksal vorstellen, das man als Ägypter oder als Gefolgsmann des Moses, als Thebaner, Athener oder Römer hat. Wie wir aus der Geschichte wissen, sind hier so gut wie alle Optionen möglich. Doch die Leistung des Politischen besteht durchgängig in der Architektur großräumiger Einheiten aus dem zielstrebig, wenn auch nicht immer zweckmäßig überwundenen Gegensatz der Vielen, die dadurch in verschärfte Gegensätze geraten, die selbst wieder nur unter dem Anspruch neuer Einheitsformen ertragen werden können. 6. Die Vermehrung der Selbstbegriffe. Jedes menschliche Handeln und Sprechen ist mit wechselnden Selbstverständnissen verbunden. Nur wenn ich weiß, dass ich in der einen Lage als Vater zum Kind, in der anderen als Bruder zur Schwester, in der nächsten als Mann zur Frau und in der darauf folgenden als Nachbar zum Nachbarn spreche, kann ich mich verständlich machen. Als Mann kann ich auch so tun, als würde ich für alle Männer sprechen, und dabei die Unterstellung machen, dass mir alle Frauen gegenüberstehen. Gilgamesch oder der altägyptische Oasenmann führen vor, dass der Mensch im Gespräch mit Gott schon früh die Funktion beherrscht, im Namen aller Menschen zu sprechen. Die Politik macht dieses pars pro toto durch ihre rechtsförmige Organisation verbindlich. Die in ihr institutionalisierte Funktion der Führung erfordert, das

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Ganze des Staates nach Analogie mit dem einzelnen Menschen zu begreifen; gleichzeitig kann die Leitung nur gelingen, wenn jeder sich nicht nur im corpus des Ganzen in seiner jeweiligen Stellung begreift, sondern darin zugleich in der Lage ist, sich selbst sub specie des Ganzen zu verstehen. Die Selbstbewegung im politischen Zusammenhang erfordert den unausgesetzten Perspektivenwechsel von sich auf das Ganze des Zusammenhangs, dessen Einheit in der Regel nur zu begreifen ist, wenn man in der Lage ist, ihn auch aus der Position seiner Feinde und Verbündeten zu sehen. So kommt es mit der Politik zu einer Vermehrung der Formen möglicher Selbstbegriffe als Bürger, als Krieger, als Parteigänger, als Mitglied der Versammlung, als Abgesandter oder als Angeklagter, und man hat in allem nicht nur diese jeweils auszufüllende Position, sondern auch noch die jener Akteure mit zu bedenken, von deren Entscheidungen man betroffen ist. 7. Individuum und Politik. Der unablässig geforderte Wechsel der Selbstbegriffe macht einsichtig, warum sich – einem hartnäckigen Vorurteil zum Trotz – Politik und Individualität wechselseitig fordern und fördern. Wenn es das Individuum nicht schon gäbe, dann müsste es im Interesse der Politik erfunden werden. In der Politik kann niemand alles selber tun, obgleich alles unter der Prämisse steht, dass es unter einem einzigen Willen steht. Selbst ein Tyrann ist genötigt, die Ausführung seines Willens seinen Gefolgsleuten zu übertragen, deren Selbstständigkeit er wohl oder übel trauen muss. Diese Selbstständigkeit steigert sich quantitativ und qualitativ, je mehr eine Verfassung die Eigenständigkeit ihrer Glieder anerkennt – ganz gleich, ob es sich dabei bloß um Ämter oder um den Bürger selber handelt. 8. Die Staatsaktion ist offen zur Welt. Der politisch unumgängliche Wechsel der Selbstbegriffe hat seine Besonderheit aber nicht nur in der Integration der Vielfalt von Perspektiven, sondern in der unterlegten großräumigen Aktivität der Vollzüge. Es genügt nicht, das Ganze eines Staates von innen her zu betrachten; es ist auch nicht genug, eine mögliche Außenansicht von ihm zu gewinnen. Der Einzelne muss, weil er sich tätig in einer für sich selbst tätigen Umgebung bewegt, das Ganze auch aus der Handlungsperspektive seiner Gegner und Partner betrachten. Als Gegner und Partner kommen alle in Betracht, die zur Gefährdung der Sicherheit des eigenen Staates sowie im Gegenzug zur Vermehrung der Gegenmacht beitragen können. Das sind im Prinzip alle Staaten und Länder, die auf der Erde angetroffen werden können. Die Moderne lebt unter der Suggestion, erst sie habe eine Situation geschaffen, in der jeder Staat im Prinzip mit allen anderen verbunden ist. Die tätige Einstellung auf diesen Zustand wird Globalisierung genannt. Tatsächlich wurde schon die antike Politik in eine globale Perspektive gestellt. Sie war damit – zumindest tendenziell – auf alle Menschen bezogen. Dafür kann ich nur ein Beispiel geben, das zugleich anzeigen soll, dass die Perspektive der Humanität

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der Politik spätestens von dem Augenblick zugehört, in dem die Politik durch eine Theorie begleitet wird. II. Der globale Anspruch der Politik 9. Universalisierung tendiert zur Globalität. Man darf die These wagen, dass die Globalisierung sich aus Triebkräften speist, die bereits mit dem Anfang eines auf Gründe berechneten politischen Handelns verbunden sind. Die Politik, so möchte ich behaupten, ist spätestens von jener Epoche an, in der sie sich strukturell für den Vorgang allgemeiner Begründung öffnet, auf Universalität bezogen. Diese Epoche ist zunächst auf eine kurze Zeit und überdies auf einen kleinen Raum beschränkt, nämlich auf das Athen nach den solonischen Reformen, die zur Voraussetzung der von Kleisthenes und Miltiades betriebenen und von den Tragikern so wirkungsvoll unterstützen Demokratisierung wurden. In der attischen Demokratie des 5. vorchristlichen Jahrhunderts kam es wohl erstmals entscheidend auf öffentlich vorgetragene Gründe an, wenn man politisch etwas erreichen wollte. Der öffentliche Raum jedoch, auf den die Gründe implizit und explizit bezogen sind, ist prinzipiell unabschließbar. Mit welcher Verunsicherung der politische Umbruch in Athen verbunden war, ist den literarischen Zeugnissen jener Jahre zu entnehmen. Wohl alle schreibenden Zeitgenossen waren sich bewusst, in einer Risikogesellschaft zu leben. Und auch als das politische Experiment nach drei Generationen gescheitert war, hatte es unabsehbare soziale und intellektuelle Folgen, die bis heute nicht bewältigt sind. Schon deshalb können wir Sophokles, Euripides oder Aristophanes, Sokrates, Platon und seinen großen Schüler Aristoteles als unsere Zeitgenossen betrachten. Es hatte sich vor allem ein weit reichender Anspruch an das politische Denken herauskristallisiert, der bis heute unseren Glauben an politische Begründungen trägt. 10. Die Dauerkrise der Politik. Platon ist der Seismograph der seelischen Erschütterung durch den politischen Bruch mit der Tradition. Im Laches führt er den Funktionsverlust der traditionellen Erziehung vor; die hilflosen Väter wenden sich an die Militärs und diese wiederum an Sokrates (!), um sich sagen zu lassen, zu welchen Zielen und nach welchen Methoden ihre Söhne erzogen werden können. Im Euthyphron lässt Platon kenntlich werden, dass die auf die überlieferte Religion gegründete sittliche Ordnung hinfällig geworden ist. Der Philebos beginnt mit dem Auftritt eines jugendlichen Exponenten der Spaßgesellschaft, der keine äußeren Zwänge mehr kennt und, wenn überhaupt, nur durch gute Gründe dazu gebracht werden kann, sich (aus eigenem Antrieb) auf das (nur der individuellen Einsicht zugängliche) Gute auszurichten. Leben und Handeln, Denken und Glauben sind in eine Krise geraten, die man nur in von der Vernunft entworfenen Lebensformen überwinden kann. Die De-

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mokratisierung hat die schon beim homerischen Odysseus ausgeprägte Individualität zu einer verbreiteten Erscheinung gemacht, die alle überlieferten Werte in Frage stellt. Dem kann man ethisch und politisch nur durch eine Steigerung universeller Anforderungen, also durch Vernunft begegnen. Die Vernunft aber beschränkt sich nicht auf den eigenen Lebensraum. Sie begreift den athenischen Bürger als ein freies, ernsthaftes, erkennendes und mitteilungsfähiges Wesen, das im Prinzip auch außerhalb der Stadt vorausgesetzt werden muss. Die Vernunft treibt somit aus eigenem Anspruch über die bestehenden territorialen Grenzen hinaus und unterhöhlt – wie man bereits an Platons politischer Philosophie erkennen kann – die immer noch als sicher angenommenen ethnischen und sozialen Schranken. 11. Athen und die Weltherrschaft. Die frühe Dynamik der auf öffentliche Begründung setzenden Vernunft wird kaum irgendwo anschaulicher als in dem Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades, das Platon unmittelbar vor Beginn der vielversprechenden Karriere des hochbegabten, aber auch höchst gefährdeten jungen Mannes stattfinden lässt. Nach der literarischen Fiktion dürfte das Gespräch kurz vor dem Tod des Perikles, also etwa 430 stattgefunden haben. Geschrieben ist der Text erst etwa dreißig bis vierzig Jahre später. Sokrates nimmt den bevorstehenden ersten Auftritt des Alkibiades in der Volksversammlung zum Anlass für eine deutliche Warnung: Der ehrgeizige Jüngling werde sich nicht mit der Herrschaft über Athen zufriedengeben. Die Führungsrolle in der Stadt sei ohnehin mit der Macht über die angrenzenden hellenischen Regionen verbunden. Deshalb sei es nur konsequent, wenn Alkibiades mit den Hellenen auch noch die Barbaren beherrsche, die zum selben Weltteil (oikos) gehören. Aber die Logik des vom individuellen Machtverlangen angetriebenen politischen Handelns werde es dabei nicht belassen: Denn selbst wenn ein Gott eine weitere Ausdehnung der Herrschaft untersagte und die Machtausübung auf „Europa“ beschränkte, würde sich Alkibiades nicht davon abhalten lassen, nach „Asien“ zu gehen. Auch in Asien werde er alle Länder und Städte zu unterwerfen suchen und werde nicht eher ruhen, bis er „alle Menschen“ (panta anthropous) in seine Gewalt gebracht habe. Kurz: Die politische Ambition des Alkibiades ist unersättlich. Sein Machtkalkül zielt auf die Herrschaft über die Welt. Die Warnung ergeht an einen Menschen, der schon früh durch seine Maßlosigkeit aufgefallen ist. Im Nachhinein kann jeder Leser wissen, wie berechtigt sie ist. Denn Alkibiades ist an seiner politischen Unersättlichkeit gescheitert. Ihm hatte die Herrschaft über Athen und den griechischen Archipel nicht genügt; er hatte auch Italien erobern wollen und war nach dem Scheitern der Sizilianischen Expedition, von einem Athener Gericht zum Tode verurteilt, in Persische Dienste getreten. Alles das steht Platon natürlich vor Augen, wenn er seinen Sokrates vor den Weltmachtsplänen des Alkibiades warnen lässt.

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12. Imperialismus des Geistes. Man könnte die Gesprächspassage als literarischen Nachtrag zur Biographie des Alkibiades werten und sie als politiktheoretisch unerheblich übergehen, wäre da nicht die Parallele, die Sokrates gleich anschließend zwischen den Expansionsgelüsten des missratenen Schülers und seiner eigenen Leistung herstellt. Diese Parallele ist, um es vorweg zu sagen, unerhört, auch weil sie so verstanden werden kann, als wolle Platon die Ankläger im Prozess gegen Sokrates nachträglich mit einem Argument versorgen, auf das sie in ihrer Bosheit nicht gekommen sind: Er also lässt Sokrates sagen, dem alle territorialen Grenzen missachtenden Politiker wäre es gänzlich unmöglich (adynaton), seine Ziele zu erreichen, wenn ihm nicht der Philosoph zu Hilfe käme. Ohne Sokrates könne Alkibiades keine seiner Hoffnungen realisieren. Weder sein Vormund (und das ist kein Geringerer als Perikles) noch irgendeiner seiner mächtigen Verwandten könne ihm die Unterstützung gewähren, die er für seine politischen Pläne benötige. Der Philosoph hingegen könne ihm die erforderliche Macht (dynamis) verschaffen – solange kein Gott dagegen steht.3 Man hat den Eindruck, die Maßlosigkeit des Alkibiades solle durch den Größenwahn des Sokrates überboten werden. Nicht ein Schimmer der sonst üblichen Ironie ist im Spiel, wenn der Philosoph mit Blick auf die nun offenbar wirklich ernst genommenen Großmachtspläne des Politikers sagt: „ich bin dir alles wert“ (pantos axios eimi soi). Und wie ernst es Sokrates in diesem Augenblick ist, zeigt die Erwähnung der später im Symposion erörterten Sprachlosigkeit zwischen ihm und dem schönen Jüngling. „Nun aber“ stehe ihnen kein Gott mehr im Wege; „nun aber“ sei es möglich zu sprechen, und es bestehe erstmals Aussicht, dass ihr Gespräch nicht vergeblich (me maten) sei. Mit dieser Vergewisserung ist so gut wie ausgeschlossen, dass Sokrates den übersteigerten Machtanspruch der Philosophie ironisch meint. Es könnte ja sein, dass er die politischen Ambitionen des Alkibiades durch seine eigene Weltmachtsphantasie karikiert. Und da der Politiker scheitert, könnte die eigentliche Aussage darin bestehen, dass auch die Philosophie notwendig scheitern muss, sobald sie versucht, als intellektuelle Weltmachtsassistenz zu fungieren. Doch diese Deutung wird durch den nachfolgenden Gesprächsverlauf widerlegt. In keinem anderen der frühen Dialoge wird so ernsthaft nach der Verbindung zwischen Handlung und Einsicht gefahndet. Nirgendwo macht der platonische Sokrates deutlicher, worin das Geschäft der Seele besteht – nämlich im „Gebrauch“ des Leibes, so dass es diesem möglich ist, sich nach Gründen zu bewegen. Das sind zwar immer nur die Gründe des Selbst, aber wenn es ernsthafte Gründe sind, können sie von jedem anderen Selbst verstanden werden und somit der Verständigung zwischen allen beseelten Körpern dienen. Damit stellt auch das Ende des Dialogs außer Zweifel, welche Ansicht Sokrates am Anfang vertritt: Die Politik kann nur erfolgreich sein, wenn sie sich der 3

Vgl. Platon, Alkibiades I, 105 e.

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Leitung durch die philosophische Einsicht anvertraut. Somit bleibt es bei der Ungeheuerlichkeit, dass die Weltmachtsstellung der Politik nur errungen werden kann, wenn die Philosophie die Mittel dazu sicherstellt. 13. Kosmopolis. So kritisch der Blick auf Alkibiades auch ist: Am Zusammenhang von rechtlicher Verfügung und weltlicher Ordnung hat Platon so unbeirrt festgehalten wie am Führungsanspruch der Philosophie. Die polis ist nicht nur ein in großen Buchstaben geschriebener Mensch,4 sondern auch der ins menschliche Umfeld übersetzte Kosmos5. Und aus dieser doppelten Verschränkung von polis und anthropos auf der einen, polis und kosmos auf der anderen Seite kann sich die nach öffentlichen Gründen verfahrende Politik einer auf das Ganze der menschlichen Welt gerichteten Perspektive gar nicht entziehen. Jedes politische Gemeinwesen steht notwendig in einem kosmo-politischen Zusammenhang. Das schließt bei Platon die Konzentration auf den einzelnen Staat natürlich nicht aus. Im Gegenteil: So wie alle Sorge und jedes Glück ihren Ursprung und ihr Ziel im einzelnen Individuum haben, so wie alle Vernunft letztlich auf das Heil der einzelnen Seele gerichtet ist, so hat auch die polis ihr telos darin, den ihr zugehörenden Menschen gerecht zu werden. Sie ist, wie es alle großen politischen Schriften Platons vorführen, auf den Raum beschränkt, in dem die sich entfaltenden Bedürfnisse der Bewohner nach einer rechtlichen Ordnung verlangen. Der Fehler des Alkibiades besteht eben darin, den lokalen und historischen Bedingungen seiner Vaterstadt nicht hinreichend verpflichtet zu sein. Sokrates hingegen weiß sich der Verfassung Athens so verbunden, dass er sich selbst noch dem rechtmäßig zustande gekommenen Unrechtsurteil unterwirft und den Tod durch die Politik seiner Mitbürger hinnimmt. Aber die Konzentration auf die eigene Stadt schließt die Wahrnehmung der äußeren Bedingungen nicht aus. Nach Platon entsteht eine polis überhaupt erst im aktiven Bezug auf den äußeren Feind, und nach seiner späten Lehre ist der Krieg das schlechteste Mittel zur Klärung nachbarschaftlicher Verhältnisse. Also brauchen wir nur die von ihm in seiner Kosmologie ausgeführte und in seinen Mythen ausgeschmückte Einsicht in den ökologischen Konnex des menschlichen Lebens ernst zu nehmen, um zu erkennen, dass die Politik am Ende nichts auslassen kann, was im Erdkreis von Bedeutung ist. 14. Der globale Auftrag der Politik. Das ökologische Umfeld der Nische des menschlichen Daseins (koilon) illustriert Sokrates im Mythos von der Seelenwanderung, dem letzten, den er vor seinem Tod im Gefängnis erzählt.6 Und dass es in der Politik im Grunde um das Schicksal der ganzen menschlichen 4 5 6

Vgl. Platon, Politeia, 368 d. Vgl. Platon, Timaios, 23 b. Vgl. Platon, Phaidon, 107 d ff.

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Gattung geht, wird im Mythos von der Spindel vergegenwärtigt.7 Hier wird eingeschärft, dass die Politik in die alleinige Zuständigkeit des Menschen fällt, ja, er hat überhaupt nur deshalb eine Chance, politisch zu handeln, weil die Götter zeitweilig ihr Interesse am irdischen Geschehen verloren haben. Und schließlich macht die Erzählung von der großen Flut, die nur noch wenige Menschen übrig lässt, ihnen aber die Chance zur politischen Neuordnung ihrer Verhältnisse gibt, die Politik zu einer Aufgabe für das ganze Menschengeschlecht.8 Sie hat damit einen globalen Auftrag. Es versteht sich von selbst, dass dieser Auftrag erst dann praktisch-politische Bedeutung bekommen kann, wenn das Handeln spürbare Folgen im Erdmaßstab zeitigt. So kann man zwar die Feldzüge Alexanders des Großen und das Römische Imperium in diese Perspektive rücken, man wäre aber in Beweisnot, wenn man die Globalität faktisch belegen sollte. Dass Aristoteles alle damals bekannten Staatsverfassungen gesammelt hat, um sie mit Blick auf das beste Gemeinwesen zu vergleichen, reicht da als Hinweis ebenso wenig aus wie die Erinnerung an den kosmopolitischen Universalismus der auf ihn folgenden hellenistischen Philosophie. 15. Die Globalisierung des Rechts. Es gehört zu den staunenswerten Vorgängen, dass der klügste Platon-Schüler im alten Rom die erdumspannende Aufgabe der Politik anschaulich macht, um aus ihr einen ethischen Anspruch für den einzelnen Politiker abzuleiten. Es ist Cicero, der den jüngeren Scipio Africanus einen Traum erzählen lässt, in dem ihn sein Adoptivgroßvater Scipio Africanus der Ältere an einen Ort weit oben in den kosmischen Sphären führt und ihn auffordert, ohne Furcht auf die kleine Erde hinabzusehen. Aus der Entfernung erkennt er den Wohnplatz der Menschen als Ball (globus) und weiß zugleich, wie winzig die Menschen sind, wie kurz ihr Leben und wie vergänglich selbst der Ruhm der größten Römer ist. Dazu hört er die Worte des himmlischen Scipionen: „Die Menschen nämlich sind unter dem Gesetz gezeugt (hac lege generati), daß sie jenen Ball (globus) [. . .], Erde genannt, schützen sollen, [. . .].“ 9 Bedenken wir den Zusammenhang, in dem dieser göttliche Rat ergeht, kann nicht in Zweifel stehen, wovor die kleine Erde, auf dem das große Römische Reich (imperium) wie ein Punkt (quasi punctum) erscheint, geschützt werden muss: vor dem Menschen selbst. Damit haben wir bereits auf dem Scheitelpunkt des antiken Denkens die ganze Dialektik präsent, vor die uns die Politik nicht erst im Zeitalter der faktisch vollzogenen Globalisierung stellt: Politik ist die Bewahrung des Menschen vor sich selbst. Ihr originärer Auftrag liegt in der Erhaltung und Entfaltung der

7 8 9

Vgl. Platon, Politikos, 272 e ff. Vgl. Platon, Nomoi 676 a ff. Cicero, Der Staat, VI, 15, S. 263.

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menschlichen Kräfte, den sie nur durch den Einsatz ihrer menschlichen Kräfte erfüllen kann. Man kann hier auch von einem Humanismus sprechen, weil in dieser auf den Menschen gerichteten Aufgabe der Mensch selber tätig werden muss. Und selbst wenn er nicht nur für sich selbst, sondern für andere Wesen wohltätig sein will, braucht er die Politik, weil nur sie die Voraussetzungen dafür schafft, auch für die Natur und die mitleidende Kreatur hilfreich zu sein. So zeigt sich im humanistischen Selbstverständnis der Politik gleichsam von selbst, dass ihr kein notwendiger Gattungsegoismus innewohnt. Nur der Mensch, der sich selber schützt, kann wirkungsvoll für den Schutz und die Hege seiner Umwelt sorgen. Muss man eigens betonen, dass die Aufgabe der Selbstbewahrung umso dringlicher wird, je größer die Zahl der Menschen auf der Erde ist und je mehr die technische Reichweite ihres Handelns zunimmt? Kann sich noch jemand wundern, dass heute der ganze Erdkreis als politisches Territorium begriffen wird, zu dem man auch das Meer, den Luftraum sowie die umgebende Sphäre des Alls zu rechnen hat, wenn schon Cicero die Vision hatte, die regionalen Unterschiede der politischen Gesetzgebung könnten einer globalen Gesetzgebung weichen? Eines Tages, so lässt er Laelius sagen, werden die Unterschiede der Gesetzgebung in Rom und in Athen oder wo immer auf der Welt beseitigt sein und „alle Völker und zu aller Zeit wird ein einziges, ewiges und unveränderliches Gesetz beherrschen und einer wird der gemeinsame Meister und Herrscher aller sein (communis quasi magister et imperator omnium): Gott!“ 10 Damit ist nicht gemeint, dass eines Tages die territoriale Herrschaft durch eine direkte Theokratie abgelöst werden soll, sondern dass alle politischen Regierungen einem einzigen Gesetz unterstehen werden. 16. Ein kleiner Schritt zur Moderne. Nachdem der christliche Missionsgedanke die globale Perspektive über anderthalb Jahrtausende hinweg bewusst gehalten hat, ehe sie sich durch den Weltverkehr auch praktisch-technisch ausfüllen ließ, nachdem Kant schon vor mehr als zweihundert Jahren die Notwendigkeit des Friedens damit begründet hat, dass die begrenzte Oberfläche der dicht besiedelten Erde den Menschen nicht länger erlaubt, voreinander auszuweichen, kann heute niemand mehr so tun, als habe ihn die Globalisierung überrascht. Und wer dennoch glaubt, er könne sich der Entstehung einer einheitlichen Weltordnung mit politischen Mitteln entgegenstellen, der kennt die Logik nicht, die aus seinem eigenen politischen Anspruch erwächst. Diese Logik basiert auf der Selbstdeutung des eigenen Daseins unter den Bedingungen der Humanität. Es mag daher sein, dass wir im historischen oder mimetischen Rückgang auf die verschiedenen Renaissancen der Humanität im ersten, zweiten oder dritten 10

Cicero, Der Staat, III, 22, S. 205.

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Humanismus nicht zu einem vierten (oder n-ten) Humanismus gelangen. Aber wenn wir uns auf die eigenen politischen Ansprüche unter den inzwischen manifest gewordenen Bedingungen der Globalität besinnen, sind wir ganz von selbst bei jenen auf das ganze Menschengeschlecht ausgreifenden Absichten, die in der Politik wirksam sind – spätestens seit es Historiker und Philosophen gibt, die diese Absichten zu fassen versuchen. Mit einem Wort: In der Reflexion auf den ernsthaften Anspruch politischer Akteure wird bewusst, dass die auf öffentliche Anerkennung setzenden politischen Gründe nur im Rahmen eines praktizierten Humanismus verstanden werden können. Dazu will ich im dritten und letzten Abschnitt einige Erläuterungen geben, die natürlich nicht mehr als ein Fingerzeig zu einer Theorie des politischen Humanismus sind. III. Humanismus: Politik im Namen des Menschen 17. Die Menschheit als Bezugspunkt. Gesetzt, die Politik hat die mit ihr selbst entstehenden Aufgaben der Organisation aller Menschen zu erfüllen: Dann braucht sie einen Begriff von sich selbst, der in der Lage ist, die praktischen Aufgaben zu begründen, an deren Bewältigung sie gemessen werden muss. Es ist offenkundig, dass dies ein Begriff zu sein hat, der alle Menschen umfasst. Dafür käme der Ausdruck „Gesamtheit aller Menschen“ in Frage. In dieser Funktion hat es den politischen Bezug auf den Menschen schon immer gegeben. Wenn einem dazu die Belege der Philosophen verdächtig erscheinen, kann man auf das Beispiel des Thukydides verweisen, der mit Blick auf die Gesamtheit aller Hellenen, aber auch mit Bezug auf Hellenen und Barbaren ohne den Begriff des Menschen nicht auskommt: Schon in seiner Einleitung zum Gründungsdokument historisch-kritischer Selbstreflexion der Politik, das er an alle richtet, die politisch handeln wollen, sagt er, dass „die Menschen den Krieg, den sie gegenwärtig gerade führen, immer für den größten halten, um nach seinem Ende wieder das Frühere höher zu bewundern“ 11. Im Vorfeld des Krieges hält er die große, wenngleich vergebliche Rede des Archidamos vor der Versammlung in Sparta – in Gegenwart der Gesandten aus Athen und Korinth – mit folgenden Worten fest: „Von je rüsten wir uns vielmehr durch die Tat, als ob unsre Gegner immer alles klug überlegten. Nicht auf sie und ihre Fehler dürfen wir unsere Hoffnung setzen, sondern auf unsere eigene sichergehende Voraussicht. Man muß auch nicht denken, daß Mensch von Mensch so gar verschieden sei, wohl aber der der Stärkste ist, der im Notwendigsten erzogen ist.“ 12

11 12

Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, I, 21, Bd. 1, S. 31. Ebd., I, 84, Bd. 1, S. 109.

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Das ist eine Mahnung, die nur aus dem Nachdenken über den Menschen stammt, wo immer man mit ihm Erfahrungen machen kann. Es mag eine sehr begrenzte Erfahrung sein; sie ist dennoch auf den Menschen als ganzen bezogen. 18. Das Vorrecht der Gegenwart. Auch die kurze Ansprache des Perikles, in der er die Athener von der Notwendigkeit des verhängnisvollen Krieges überzeugt, hat ihr überzeitliches Schwergewicht dadurch, dass vom Menschen überhaupt die Rede ist. Obgleich er weiß, dass die „Menschen die Stimmung, in der sie sich zu einem Krieg bestimmen lassen, nicht durchhalten“ 13, rät er zum Kampf. Und dabei hält er die Verantwortlichkeit fest, die für alles politische Handeln gilt, auch wenn sie im Krieg besonders lastend ist: „Bejammert also, wenn es sein muß, die Gefallenen, aber nicht Häuser und Land; denn diese sind nicht die Herren des Menschen, sondern der Mensch ist der Herr seines Besitzes.“ 14 Mit dem geistvollen Protokoll dieser und ähnlicher Sätze, die dem faktischen Geschehen entnommen sind, schreibt Thukydides die erste kritisch gesicherte Urkunde des politischen Humanismus. Es hat wenig Sinn, darin Vorbilder zu suchen, denen man zweitausendfünfhundert Jahre später nachahmend nachzukommen sucht. Das kann nur zur kulturkritischen Abwertung der eigenen Gegenwart oder zur Verharmlosung der Überlieferung führen. Man hat vielmehr selbst, so wie es Thukydides an Themistokles rühmt, als „Erkenner des Augenblicks“ und „Berechner der Zukunft“ 15 vor den Anforderungen der eigenen Zeit zu bestehen. Wir haben heute alle gegenwärtigen Aufgaben so zu bewerten, wie Thukydides es vom Krieg aussagt. Später mögen wir mit Erleichterung sagen, dass es noch schlimmer hätte kommen können. Mit Blick auf die Vergangenheit aber hat man zu prüfen, was das historische Wissen zur Erkenntnis der im eigenen Dasein gegebenen Problemlage beiträgt. Nur eine kritische Geschichte kann der Anforderung der Gegenwart entsprechen. Was aber jetzt zu tun ist, ist jetzt zu entscheiden, und dabei kann man, wie Thukydides es für Perikles festgehalten hat, entsetzlich irren. Auch in diesem Irrtum bleibt der Mensch als Urheber der Politik in seiner menschlichen Verfassung. Und wir haben hinzuzufügen, dass er auch in jedem denkbaren Ziel der Politik ein Wesen bleiben wird, das für Irrtümer anfällig bleibt. 19. Zwischen Mensch und Gott. Der Mensch kann sich selbst nicht bezeichnen, ohne seine Selbstabgrenzung von den Tieren und von den Göttern mitzudenken. Diese Abgrenzung hat ihre Pointe darin, dass sie weder im einen noch 13 14 15

Ebd., I, 140, Bd. 1, S. 179. Ebd., I, 143, Bd. 1, S. 187. Ebd., I, 138, Bd. 1, S. 175 u. 177.

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im anderen Fall auf eine vollständige Exklusion hinausläuft: Der Mensch grenzt sich als Tier von den anderen Tieren ab, wofür sich in Platons Politikos die schönsten Belege finden. Und er kann sich auch nur in dem Bewusstein von den Göttern absetzen, dass etwas Göttliches in ihm ist. Auch hierfür ließen sich zahlreiche Belege allein aus Platons politischen Schriften nennen. Gleichwohl ist Platon der Autor, der im Mythos von der Spindel dem Menschen die alleinige Zuständigkeit für die Politik zuerkennt. Man braucht also den modernen Mythos von der Säkularisierung nicht, um dem Menschen die Alleinvertretung für die politischen Dinge zu übertragen. Er kann, ja, er muss sich auf ein höheres Wesen beziehen, wenn er eine Vorstellung von seiner Verantwortung – und von deren höchst beschränkter Reichweite – haben können soll. Doch das ist ein weites Feld. Halten wir hier nur das Ergebnis fest: Die Politik ist auf eine Grenzbestimmung des Menschen angewiesen, in der er sich als das Tier erkennt, das den Göttern am nächsten steht. Wenn ich animal rationale in die Formel vom Tier, das seine Gründe hat, übersetze,16 dann ist auch in dieser scheinbar naturalistischen Formel der Verweis auf das Göttliche gegeben, denn Gott ist der überlieferte Name für die einzige Instanz, die uns vollkommene Gründe geben kann.17 20. Das Versagen des ideologischen Humanismus. Schon die Zwitterexistenz des Menschen zwischen Tier und Gott kann als Indiz dafür gelten, dass der Begriff einer Gesamtheit aller Menschen nicht als bloßes Naturverhältnis gefasst werden kann. Auch die anderen Subjektbegriffe der Politik wie die der Person, der Institution, des Volks und des Gesetzes widersetzen sich einer restlosen Auflösung in empirische Tatbestände. Sie haben stets ein ideelles Moment, das sich nicht durch bloße Generalisierung nach den Regeln der Induktion erklären lässt. Sie tragen vielmehr einen Anspruch bei sich, der nur nachvollzogen werden kann, wenn wir ihnen einen universellen Charakter zugestehen. Das haben die ideologischen Erben des Zweiten Humanismus übersehen, die sich erstmals selbst unter diesen Titel stellten. Es waren die romantischen Sendboten des beginnenden Industriezeitalters, die in den Visionen der Sozialisten dessen Zukunft gefunden hatten. Bevor Karl Marx seine theoretischen Bemühungen auf das politische und ökonomische Kalkül des Machtwechsels beschränkte, hatte er für die „Humanisierung der Natur“ geworben, die er mit einer „Naturalisierung des Menschen“ verknüpfen wollte. Seine Parteigänger haben später gelegentlich an die humanistischen Impulse ihres Gründers erinnert. Was dem in der Realität entgegenstand, war dann vor allem ihre eigene Herrschaft, die bestenfalls eine mechanisierte Form der Naturalisierung des Menschen zuließ.

16 17

Vgl. v. Verf., Selbstbestimmung, Kap. 8. Vgl. v. Verf., Gott und Grund.

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Auch Nietzsche, der zeit seines Lebens gegen die Form des Humanismus revoltierte, die er bei den Schiller-Feiern in Schulpforta kennengelernt hatte, blieb, bei aller Rede vom „freien Geist“, an einen naturalisierten Humanismus gebunden, den er mit einem darwinistischen Entwicklungsmodell unterlegte und somit in eine evolutionistische Form der Steigerung überführte. Damit hat er, wie Marx, für eine Zukunft optiert, die sich in gerader Linie aus der Vergangenheit ableiten lässt; er hat, wie Marx, die Geschichtsmächtigkeit des Menschen in verhängnisvoller Weise überschätzt und ist, wie der Marxismus, der Faszination des Revolutionsmodells erlegen. Dabei hätte er nur auf die Logik der „Selbstüberwindung“ achten müssen, die nur individuell gelingen kann und Gültigkeit nur im Augenblick ihres Gelingens haben kann. Über alles Weitere haben ohnehin andere zu entscheiden, denen man nicht mehr mit auf den Weg geben kann als das Beispiel der Humanität, das man selber lebt. Warum es ausgerechnet Nietzsche misslang, mit der ganzen Kraft des von ihm – wie sonst nur von Kant und Schiller, Hölderlin und Goethe – als human ausgezeichneten Augenblicks wirklich auf die eigene Zeit und die exemplarische Leistung des Individuums zu setzen, kann ich nur vermuten: Er hat sich des Glaubens an den Gott beraubt, der einzig Größe geben kann, wenn alles andere als zu klein erfahren wird. Der Zweite Humanismus ist an einer positivistischen Selbstüberschätzung der menschlichen Kräfte gescheitert, zu der er durch sein positivistisches Missverständnis der Gegenwart Gottes gelangte. 21. Die Normativität des Selbstbegriffs. Die Logik des Politischen ist von Anfang an auf Universalität hin angelegt, sobald sie sich nicht einfach auf eine faktische Lage, auf eine gegebene Macht oder offenkundige Schwäche, sondern überhaupt auf Ansprüche, Erwartungen oder Befürchtungen des Menschen beruft. Denn der Mensch kann sich nur in extremer Verfremdung ausschließlich als empirische Entität verstehen: Im Gebrauch eines ernsthaften Begriffs seiner selbst ist er immer über seinen gerade gegebenen Zustand hinaus. Mag er sich als Athener oder Römer, als Europäer oder als Weltbürger oder einfach nur als Person verstehen: In allen Fällen greift das deskriptive Moment seiner Selbstdarstellung auf etwas über, das er nicht nur einfach ist, sondern selbst sein will. In der Selbstbeschreibung des ernsthaft tätigen Menschen ist der hiatus von Sein und Sollen aufgehoben.18 Das gilt offenkundig nicht nur für den Selbstbegriff des einzelnen Menschen, sondern auch für die Gesamtheit der menschlichen Wesen, die wir unter dem Titel der Menschheit fassen. Die Berufung auf die Menschheit enthält nicht den geringsten Appell an eine faktische Macht, sondern ist ausschließlich auf die ideelle Verpflichtung bezogen, der alle jene unterstehen, die sich der Menschheit zurechnen. Nur unter dieser Prämisse kann die Menschheit das „Men18

Vgl. v. Verf., Gott und Grund.

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schenrecht“ begründen. Der Rekurs auf die „Gesamtheit der Menschen“ ist der Bezugsrahmen für ein Selbstverständnis in normativer Absicht. Die Verwendung des Begriffs der Menschheit macht offenkundig, dass die Trennung von Sein und Sollen selbst keine universelle Gültigkeit hat. 22. Humanismus und Patriotismus. Es ist ein alter Streit, ob sich die Politik allein aus dem Recht oder möglicherweise nur aus der Macht begründen lässt oder ob sie eines moralischen Fundaments bedarf. Ich gehe davon aus, dass die moderne Verfassungsgesetzgebung den theoretischen Streit längst durch die Praxis entschieden hat: Grund- und Menschenrechte mögen zwar auch im Wechselspiel von Druck und Gegendruck erstritten werden; ihre Begründung aber hängt an der Berufung auf ein Selbstverständnis des Menschen, das niemals auf einen Einzelnen beschränkt und folglich auch niemals bloß psychologisch sein kann. Da es notfalls aber auch nur für den Einzelnen gelten können muss, ist auch eine soziologische Erklärung ausgeschlossen. Der Verfassungsstaat, auf den wir heute setzen, wenn wir der Politik eine Zukunft zugestehen, ist durch Ideen begründet, nach denen der Mensch sich in Gegenwart von seinesgleichen selbst begreift. Diese Ideen haben insbesondere dort, wo sie vorenthalten oder eingeschränkt werden, zu Motiven eines alle Menschen verbindenden Handelns zu werden. Das ist erstmals in der Friedensbewegung des 19. Jahrhunderts zur politischen Praxis geworden und hat sich in den zahlreichen Emanzipationsbestrebungen längst weltweit etabliert. So ist die Idee der allgemeinen freien und gleichen Rechte, die sich auf nichts anderes als auf das Selbstverständnis des Menschen gründen, längst zu einer Macht in der politischen Welt der Gegenwart geworden. Es ist ein globaler Patriotismus des Menschen, der, wie wir längst wissen, die nationalen Patriotismen und regionalen Enthusiasmen weder ersetzen darf noch ersetzen kann. Die viel geschmähte „Fernstenethik“ der Humanität steht gar nicht in Konkurrenz zur „Nächstenethik“ des mitmenschlichen Handelns. Die Politik braucht das weltweite Engagement für die gemeinsame Sache des Menschen nicht weniger als den tätigen Einsatz vor Ort. Ich kann mir kein besser begründetes Programm als das eines Humanismus denken, der in der Lage ist, das Nächste mit dem Fernsten im Medium des jetzt gegebenen Selbstverständnisses des Individuums zu verbinden. Dabei brauchen wir weder auf das Vorbild des ersten Humanismus der Renaissance noch auf den ursprünglichen Humanismus der griechischen und römischen Antike zurückgreifen. Es genügt, wenn wir erkennen, dass wir nach wie vor dieselben Probleme haben wie sie. 23. Der Humanismus ist kein Speziezismus. Wie immer wieder zu hören ist, wird der Humanismus durch den Vorwurf des Anthropozentrismus infrage gestellt, und der wird heute durch den des Speziezismus überboten.

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Das Argument des Speziezismus widerlegt sich selbst, weil es sich gar nicht erheben ließe, wenn der Mensch wirklich ein partikularer Parteigänger eines nur auf ihn bezogenen Speziezismus wäre. Denn der Mensch ist schlechterdings das einzige Wesen, das einen Speziezismus denken kann, und das gelingt ihm nur, weil er in diesem Denken a priori jenseits jeder speziezistischen Unterscheidung steht. Nur der Mensch ist in der Lage, seine Umwelt unter den Begriff einer Welt zu bringen. Die Welt aber ist ein Begriff, der alle Wesen und Dinge gleichermaßen umfasst. Nur im Licht dieses Begriffs ist es möglich, Unterscheidungen zu denken, die anderen Lebewesen Positionen, Empfindungen und Ansprüche zuschreiben, die von denen des Menschen abweichen. Aber sie werden lediglich als abweichend gedacht, basieren also auf der Einstellung zum Ganzen der Welt, mit der sich der Mensch bereits von einer als speziezistisch gedachten Interessenlage löst. Also setzt bereits die Möglichkeit einer Diagnose einer artspezifischen Voreingenommenheit eines Wesens die intellektuelle Lösung von einer solchen Vorurteilsstruktur voraus. Da es – jedenfalls nach unserem heutigen Kenntnisstand – kein anderes Lebewesen gibt, das ein Urteil über das Ganze der Welt einbringen kann, geht es nicht an, ausgerechnet dem Wesen, das als einziges in der Lage ist, die Eingeschränktheit seiner bloßen Bedürfnisorientierung aufzusprengen, den Vorwurf der biologischen Borniertheit zu machen. Die Theoretiker, die mit dem Selbstvorwurf des Speziezismus operieren, gehen von der richtigen Einsicht aus, dass gerade auch die intellektuellen Leistungen des Menschen zu seiner artspezifischen Ausstattung zu rechnen sind. Deshalb wird alles, was er tut, einschließlich des Denkens seiner biologischen Selbstbehauptung gegenüber den anderen Lebewesen zugerechnet. Auch dies kann man zugeben. Aber wenn man dies tut, muss man sich auch eingestehen, dass wir uns von den biologischen Prämissen des Denkens nicht dadurch befreien können, dass wir an die anderen Lebewesen denken und in diesem Denken ihre Partei derart ergreifen, dass sie prinzipiell gegen das Denken des Menschen gerichtet ist. Die auf diesem Wege erschlossene Relativierung des Menschen bleibt eine Selbstrelativierung und ist damit an eben den Speziezismus gebunden, der überwunden werden soll.19 Den vorgeblichen Speziezismus werden somit gerade jene nicht los, die den Vorwurf erfinden, um so zu tun, als sei der Mensch in der Lage, sich vollkommen vergessen zu machen. Sie verlangen, im Erkennen das Erkennen aufzugeben. Dieser intellektuelle Selbstwiderspruch findet seine Entsprechung auf der Ebene des Gefühls: Als Menschen sind wir in der Lage, das Leiden anderer Lebewesen nicht nur zu erkennen, sondern auch zu spüren. Das sich dabei ein19 Man kann den Einwand auch so formulieren: Es ist der Mensch, der die Biologie erfindet, auf deren Wissen der Vorwurf des Speziezismus gegründet ist.

Politischer Humanismus

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stellende Mitgefühl sollte uns allerdings nicht vergessen machen, dass es unser menschliches Fühlen ist, das wir dabei auf die anders gearteten Lebewesen richten. Auch hier werden wir den vorgeblichen Speziezismus nicht los. Deshalb sollten wir den weder denkbaren noch erfahrbaren artspezifischen Partikularismus gar nicht erst in einen Begriff, geschweige denn in einen Vorwurf umsetzen. Ich schlage daher vor, den unsinnigen Begriff des Speziezismus einfach zu vergessen und stattdessen davon auszugehen, dass unsere Humanität zu einem nicht geringen Maß darin besteht, die Position anderer Lebewesen nicht nur bedenken zu können: Wir sind auch in der Lage, mit ihnen fühlen zu können. Als Menschen können wir es uns sogar schuldig sein, ihr Leiden nicht teilnahmslos hinzunehmen, insbesondere dann, wenn wir dessen Urheber sind. Aus den gleichen Gründen erledigt sich auch der Selbsteinwand des Anthropozentrismus von selbst. Er könnte nur etwas Sinnvolles aussagen, wenn er von einem Exzentriker des Menschlichen käme. Auch seine Triftigkeit setzt einen Standpunkt außerhalb des Menschen voraus. Wenn aber der Kritiker ihn einnehmen kann, gibt es keinen Grund, warum ihn der Kritisierte einnehmen sollte. 24. Das Kernproblem: Ein adäquates Selbstverständnis des Menschen. Begründung, Gegenwart und die Zukunft der Humanität hängen an einer gelingenden Selbstbeschreibung des Menschen. Und die hat ihr experimentum crucis an und in der Selbsterfassung des menschlichen Bewusstseins. Wenn wir dabei bleiben, das Bewusstsein als die selbstisolierende Aufmerksamkeit im Inneren des Menschen zu beschreiben, werden wir die alle Einheit der Welt auflösenden Subjektivismen nie überwinden. Fassen wir hingegen das Bewusstsein als die transparente Oberfläche des Menschen, in der er sich seinesgleichen durch unmittelbaren Bezug auf die Sachen unmittelbar mitteilt, dann kann er sich selbst als Teil der Welt begreifen, ohne in ihr aufzugehen. Dann steht der Einzelne in jenem alles enthaltenden Dreieck, das sich zwischen Ich und Welt im jederzeit gegebenen Bezug zum Anderen ausspannt. Dann ist bereits das Bewusstsein soziomorph verfasst – dies aber so, dass es eben in dieser stets gegebenen Öffnung auf seinesgleichen die Welt erhält. Dieses sich nur in der Welt erfahrende Bewusstsein überschreitet alle bloß gegebenen Verhältnisse und lässt sich dennoch als Organ eines Organismus begreifen, der nur in sich (über Sachen) verständigenden Populationen möglich ist. Insofern ist das Bewusstsein Teil eines Ganzen, das wiederum nur vom Bewusstsein begriffen werden kann. Darin liegt der Schlüssel zu einer Selbsterfahrung der Vernunft, die Instrument und Instanz des Menschen ist – eines Menschen, der sich in seiner Eigenart nur als lebendiger Teil einer sich mit ihm bewegenden Welt erfährt. Will er die darin unterstellte Einheit von sich und seiner Welt nicht unbeachtet lassen, braucht er den zumindest individuell versicherten Begriff eines Gottes, der ihn in seiner Menschlichkeit bestätigt und ihn zugleich vor der Gefahr der Selbstüberschätzung bewahrt.

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I. Systematische Studien zur Politischen Philosophie

Sehen wir den Menschen als Individuum, das sich aktuell unter seinesgleichen steigert, dann hat auch der Humanismus eine Chance – und zwar solange er eine Gegenwart in der jetzt zu erfolgenden Praxis der Menschen hat. Literatur Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, hg. v. W. Kaegi, Stuttgart/Berlin/Leipzig1930. Cicero, Marcus Tullius: Der Staat, Lat. u. Dt., hg. u. übers. v. Karl Büchner, München 1993. Gerhardt, Volker: Gott und Grund, in: Deuser, Hermann/Korsch, Dietrich (Hg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2004, S. 85–101. – Selbstbestimmung, Stuttgart 1999. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, griech.-dt., übers. v. Georg Peter Landmann, 2 Bde., München 1993.

II. Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens

Die erste Lehre von der Verfassung Der Beitrag der Nomoi zur Theorie der Politik I. Zur Vorgeschichte der Politischen Theorie Wenn es richtig ist, dass die Politik ihren Anfang in den Reichen des Alten Orients genommen hat und somit auf eine viel tausendjährige Tradition zurückblicken kann, wird man voraussetzen dürfen, dass auch schon einige Tausend Jahre über sie nachgedacht worden ist. Denn Politik ist ein Geschehen, das gelegentlich zwar von einem einzelnen Menschen verantwortet wird, aber stets von vielen getragen und durchgeführt werden muss, selbst wenn dadurch eine Menge von Menschen in Abhängigkeit gehalten wird. Die Vielen, auf deren Beteiligung es allemal ankommt, müssen durch gemeinsame Vorstellungen verbunden werden. Die Vorstellungen bedürfen der Begründung und sind, wie wir aus frühen Quellen wissen, niemals bloß einfach hingenommen worden. Es gab Gegensatz und Streit, der unter den Trägern einer Herrschaft, durch Beratung und Absprache behoben werden musste. Und selbst, wenn es eine autoritative Verfügungen des gewalttätigen Machthabers gab, war ein tragendes Verständnis nötig, das auf einsichtige Gefolgschaft wenigstens bei den engsten Vertrauten setzen musste, die ihrerseits auf die Einsicht derjenigen rechnen können mussten, die ihre Befehle weitergaben. Selbst gesetzt, es hätte in den frühen Reichen am Nil und Euphrat oder in den Burgsiedlungen Palästinas und Anatoliens lediglich solche Befehlsketten gegeben, wären sie nicht ohne Gründe möglich gewesen, die auf die Einsicht der Beteiligten setzten. Die Wirksamkeit politischer Handlungsstrukturen ist somit schon unter Konditionen autokratischer Verfügung an das Mitdenken der Beteiligten gebunden. Politik ist auf Mitteilung angewiesen, benötigt ein von mehreren geteiltes Wissen, aber auch die Fähigkeit, am jeweils gegebenen Ort eigene Entscheidungen zu treffen. Politik ist von Anfang an mit dem Bewusstsein ihrer Absichten, Verläufe und Folgen verbunden. Also dürfte es schon früh auch ein Nachdenken über das gegeben haben, was sie generell benötigt und begünstigt. Diese Schlussfolgerung wird dadurch gestützt, dass die Entstehung des Politischen im Alten Orient an hoch entwickelte ökonomische, technische und juridische Bedingungen geknüpft gewesen ist. Sie bedurfte der Arbeitsteilung und der sozialen Hierarchien und war vor allem an die Wirksamkeit der Schrift gebunden. Es war eine Wissensgesellschaft, die das Politische erfand, um die bereits erbrachten kooperativen sozialen Leistungen zu verbessern, auszuweiten und zu

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II. Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens

sichern. Da Wissen sich in Alternativen bewegt und an ein individuiertes Bewusstsein gebunden ist, darf man auch hier von der Reflexion als einer elementaren Bedingung des Politischen sprechen. Platon also, das sollte meine Vorbemerkung kenntlich machen, war gewiss nicht der Erste, der über die Bedingungen politischer Systeme nachgedacht hat. Er hatte Vorläufer nicht nur bei den Sophisten1 und auch nicht nur bei den Gründern griechischer Kolonien, sondern auch im weiten Vorfeld der Bildung des Politischen in den ihm vorausgehenden Jahrtausenden. Seine Verehrung Solons, der als die Autorität des nomothete¯s im Hintergrund der Nomoi steht und der sich bekanntlich durch Reisen im Vorderen Orient und in Ägypten gebildet hat, zeigt an, dass ihm die historische Tiefendimension des Nachdenkens über das Politische bewusst gewesen ist. Es geht ihm nicht nur darum, das Wissen aufzunehmen, dass sich über die Jahrhunderte in Sparta, Athen und auf Kreta angesammelt hat, sondern auch ihre weit in die Vergangenheit reichenden Quellen anzudeuten. II. Konditionen im eigenen Land Wenn Platon nicht am Anfang der geschichtlichen Entstehung des Politischen steht, so befindet er sich doch mitten in der dramatischen Wende zur Autonomisierung der Politik. Die korporativen Institutionen sind gegründet, erste zentralisierende Leistungen des Rechts sind erprobt und die Fähigkeiten zur militärischen Organisation, zur effektiven Administration und zur Diplomatie sind erwiesen. Mehr noch: Sie haben bereits eine Reihe von grundsätzlichen Variationen hinter sich und werden, soweit wir wissen, von den Griechen erstmals in ihrer eigenen politischen Logik – unabhängig von mythischen und religiösen Ansprüchen – weiterentwickelt.2 Die Gründe dafür hat Christian Meier zu eruieren gesucht: Sie liegen in der Wanderungs- und Siedlungsgeschichte der Griechen, in den geographischen Gegebenheiten des von ihnen besetzten Gebiets, in ihrer auf Innovation und Agon gerichteten, hoch individualisierten Mentalität sowie in der aus alledem resultierenden Notwendigkeit, ihre politische Expansion durch die Gründung von Pflanzstätten an den Ufern des Schwarzen und des Mittelmeeres voranzutrei1 Hier wäre insbesondere an Protagoras zu denken, der bereits mit einer Platon möglicherweise bekannten Schrift über Recht und Politik hervorgetreten ist (Peri Politeias/Vom Staate). Perikles hatte Protagoras mit der Ausarbeitung der Verfassung für die unteritalische Kolonie Thurioi beauftragt. Diese Verfassung scheint eine gemäßigte Demokratie gewesen zu sein, die den Besitz beschränkte, Schulpflicht und Lehrerbesoldung vorsah. Mit der Gründung von Magnesia könnte Platon eine literarische Parallele zur praktischen Leistung des Protagoras gesucht haben. 2 Vgl. Yoffee, Myths of the Archaic State; Wimmer, Evolution der Politik; Assmann, Ma’at; ders., Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel; ders., Stein und Zeit; Sommer, Europas Ahnen.

Die erste Lehre von der Verfassung

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ben.3 Das nötigt sie, über die Verfassung ihrer eigenen Städte nachzudenken, damit die Kolonisten Siedlungen schaffen können, die den Mutterstädten vor allem in ihrer Struktur nahe bleiben. Es sind durch und durch politische Neugründungen, und zwar vornehmlich deshalb, weil nicht das Blut, sondern die Gemeinsamkeiten in ihrer jeweiligen Verfassung den Zusammenhang sichern. Das, wie ich glaube, vollkommen Neue dieser zweiten großen Phase im Aufbau des Politischen liegt aber in der parallelen Entwicklung mit den Künsten und der Wissenschaft – im Bewusstsein einer teilnehmenden Öffentlichkeit, die sich zunehmend als Organ der politischen Prozesse begreift: Sie beobachtet, bewertet und ist an Entscheidungen zumindest beteiligt. In sie wirken die zunächst noch mythologisch ansetzende Geschichtsschreibung, die liedhafte Lyrik und die massenwirksame Tragödie hinein. Hinzu kommen die fortschreitende Professionalisierung der Medizin, die zunehmend auf eine abstrakte Begrifflichkeit setzende Naturbeschreibung sowie die auf Rhetorik, Recht und Pädagogik spezialisierte, aber kein Gebiet des Wissens auslassende Sophistik. In Verbindung mit dem zunehmenden Handel und der wachsenden Kenntnis der umliegenden Länder und Völker machen sie die Öffentlichkeit zu einem bewusste Beziehungen herstellenden, den Horizont der einzelnen poleis weit überschreitenden Organ der Selbstwahrnehmung der hellenischen Kultur.4 Natürlich muss man zugestehen, dass es auch schon in Theben und Ninive sowie in den Reichen am Ganges, Jangtse und Hoangho eine fortschreitende Akkumulation von Wissen gegeben hat. Doch das kursierte in kleinen spezialisierten Zirkeln von Priestern und Beamten und wurde gleichsam in geschlossenen Räumen tradiert. Die Griechen aber praktizierten ihre Künste vor einem Publikum, das zustimmende und ablehnende Reaktionen zeigte, nach Art einer richtenden Instanz fungierte und zu weiteren Aktivitäten antrieb, je mehr es politischen Einfluss nehmen konnte. Bei den Griechen des 6. und 5. Jahrhunderts, so kann man die neue weltgeschichtliche Entwicklung pointieren, wurde das Wissen öffentlich. Es ist die öffentliche Entfaltung der artifiziellen und intellektuellen Fertigkeiten, mit denen die Griechen die Geschichte der Menschheit in eine neue Dimension überführten. Und es ist die Öffentlichkeit, in der sich erstmals das entfalten konnte, was wir heute Wissenschaft zu nennen pflegen. Dazu gehört auch die politische Theorie, die sich als Teil einer Reflexion über die Natur, das Recht, die Lebensführung des Menschen und die Stellung der Götter begriffen hat. In diesem Sinn kann Platon zu den ersten Theoretikern des Politischen gerechnet werden. Mit Sicherheit ist er der Erste, von dem eine systematisch an3 Vgl. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen; ders., Die politische Kunst der griechischen Tragödie; ders., Athen. Dazu kritisch: Verf., Zur Herkunft der Politik. 4 Vgl. Rahe, Republics ancient and modern; Unschuld, Was ist Medizin?

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II. Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens

gelegte Gesamtdeutung überliefert ist. Sollte ihm Protagoras oder irgendein anderer vorausgegangen sein, so gibt es davon gleichwohl keine über die Antike hinausreichende Überlieferung. Platon stellt nicht nur die meisten seiner Nachfolger, sondern vermutlich auch seine Vorgänger in den Schatten – Sokrates ausgenommen. III. Die politische Bedeutung der Nomoi Platon hat viele Versuche unternommen, seine Interpretation des Politischen vorzutragen. In den frühen Dialogen, insbesondere im Kriton, im Laches, im Gorgias, im Protagoras sowie im ersten Buch der Politeia (Thrasymachos), sind wegweisende Einsichten präsent. Die später verfassten Bücher der Politeia bieten erstmals ein umfassend angelegtes Modell (paradeigma) einer polis, an dem sichtbar werden soll, was die Tugend der Gerechtigkeit für den einzelnen Menschen bedeutet; sie entwerfen eine politische Ethik, dürfen aber nicht selbst schon als eine das politische Handeln anleitende Theorie der Politik gelesen werden. Das ist der Fehler, den nicht nur die prominenten Kritiker Platons, sondern auch viele seine philosophischen Anwälte begehen. Selbst der Klügste unter seinen Anhängern, Marcus Tullius Cicero, ist dem politiktheoretischen Missverständnis der Politeia erlegen. Der auf die Politeia folgende Politikos hat da schon ein anderes politisches Gewicht. Umso bedauerlicher ist es, dass er in der Rezeption und Interpretation von Platons politischem Denken so gut wie keine Rolle spielt.5 Der Politikos stellt die Politik in den expliziten Kontext des Lebens, versteht den Menschen als ein durchaus selbstständig lebendes, aber auf die Gemeinschaft mit seinesgleichen angewiesenes Tier, das in dieser Verbindung der Lenkung und Leitung durch seinesgleichen bedarf. Hier liegt die Formel vom zoon politikon bereits in der Luft, aber das Interesse des Dialogs ist auf eine Beschreibung der Voraussetzungen gerichtet, die ein Mensch braucht, um eine politische „Herde zu hüten“. Dabei werden wesentliche Eigenschaften des Politischen genannt: die Eigenständigkeit der Individuen, der sie treibende und zugleich hemmende Gegensatz der Interessen, die Notwendigkeit, ihn im politischen Handlungszusammenhang zu einem verlässlichen Gewebe zu verknüpfen, die Unabdingbarkeit der Vorstellung eines Ganzen, dem die Handlungsgemeinschaft der Einzelnen dient, sowie ihre Angewiesenheit auf eine autoritative Führung, die vor allem der Urteilskraft bedarf, um der Vielfalt der Strebungen im Ganzen der Gemeinschaft wie auch im Augenblick der Tat gerecht zu werden. In allen diesen Schriften steht Platons Theorie des Politischen bereits im Hintergrund. Entfaltet, bis in die Details ausgebreitet und begründet wird sie aber 5 Vgl. aber beispielsweise Rowe (Hg.), Reading the Statesman; Rosen, Plato’s Statesman.

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erst in den zwölf Büchern der Nomoi, die Platon wohl noch verfassen, aber redaktionell nicht mehr aufeinander abstimmen konnte. Die Anfang der fünfziger Jahre noch einmal zu hörende Ansicht, die Nomoi seien gar nicht von Platon verfasst,6 liefert immer noch den Vorwand, sich die Mühe einer politiktheoretischen Deutung zu ersparen. Wer also die politische Lehre Platons kennenlernen möchte, der muss diese Bücher lesen. Darin liegt keine Abwertung der anderen Schriften, wohl aber eine Kritik der überwiegenden Mehrzahl jener Interpreten, die über Platons politisches Denken urteilen, ohne die Nomoi einzubeziehen. Mir liegt an der Feststellung, dass Henning Ottmann in seiner kurz vor dem Abschluss stehenden Großtat einer umfassenden Geschichte des politischen Denkens zu den wenigen gehört, die diesen Fehler nicht begehen.7 Im Übrigen kann man die Deutungen, die sich monographisch auf die Nomoi einlassen, an drei Händen abzählen.8 Doch darauf gehe ich hier nicht näher ein. Ich beschränke mich auf eine kurze Charakteristik der politischen Theorie, die in den nachgelassenen Büchern der Nomoi enthalten ist. Dabei lasse ich alle philologischen Details, für die ich ohnehin kein Fachmann bin, beiseite, verzichte auf eine Kritik der zeitbezogenen Einschränkungen und versage es mir am Ende auch, auf die Frage einzugehen, was Aristoteles den Nomoi, die er, wenn nicht als abgeschlossenes Werk, so doch als ein im Entstehen begriffenes Projekt vermutlich bis ins Einzelne kannte, verdankt. Mein Überblick umfasst zwölf Punkte. Sie decken sich nicht mit der Abfolge und den Themen der zwölf Bücher, beziehen sich aber auf den ganzen Text, der natürlich Stoff für ein weiteres Dutzend Punkte umfasst. Wenn die Auswahl anschaulich macht, dass Platons Nomoi eine Verfassungslehre enthalten, die weit über das hinausgeht, was im 20. Jahrhundert unter diesem Titel steht, ist mein Ziel erreicht. Platon entwirft nicht nur eine Rechtslehre, sondern greift viel weiter auf eine Lehre von den Institutionen aus, die sich der Frage verpflichtet weiß, wie politische Institutionen möglich sind. Die Lehre bezieht den Menschen ein, der diese Institutionen aufbauen, tragen und fortlaufend verbessern muss. Erst dadurch ist der Anspruch einer philosophischen Verfassungstheorie erfüllt. Mitten in der Phase der Autonomisierung der Politik denkt Platon an ihre Absicherung durch eine Konstitution.

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Vgl. dazu Müller, Studien zu Platons Nomoi. Vgl. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. I,2. 8 Vgl. Barker, Greek Political Theory; Bernadette, Plato’s Laws; Bobonich, Plato’s Utopia Recast; Morrow, Plato’s Cretan City; Schöpsdau, Nomoi IV–VII; Stalley, An Introduction to Plato’s Laws; Strauss, The Argument and Action of Plato’s Laws; Hentschke, Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles; Görgemanns, Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi; Saunders, Notes on the Laws of Plato; Picht, Platons Dialoge Nomoi und Symposion. 7

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II. Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens

1. An erster Stelle steht, dass sich die Politik einem gemeinsamen Nachdenken verdankt, einer „Deliberation“, wie man heute sagt, so als hätte man etwas Neues entdeckt. Drei wie zufällig zusammengetroffene Angehörige dreier durchaus verschiedener politischer Kulturen haben einen gemeinsamen Weg vor sich und nutzen ihn zu einem Gespräch: ein namentlich nicht benannter „Fremder“ aus Athen, ein nicht näher qualifizierter Besucher aus Sparta mit Namen Megillos sowie der einheimische Kreter Kleinias. Sie beschließen, die vor ihnen liegende Zeit auf dem Pilgerpfad von Knossos zur Grotte des Zeus auf den Höhen des Ida-Gebirges für eine Unterredung über ein politisches Vorhaben zu nutzen. Anlass ist der vielleicht sogar historisch nachweisbare Plan9, ein neues politisches Gemeinwesen zu gründen, das eine optimale Verfassung erhalten soll – ein Ziel, das offenbar keiner besonderen Begründung bedarf. Die drei Gesprächspartner, die man als Repräsentanten ihrer polis-Kulturen begreifen darf, sind sich einig, dass man bei dem geplanten Vorhaben die gesammelten historischen Erfahrungen aufnehmen sollte, um die geplante Stadt auf das verfügbare Wissen zu gründen. Dieses Wissen, so wird ebenfalls wie selbstverständlich vorausgesetzt, soll grenzüberschreitend sein. Es soll alle zur Verfügung stehenden Einsichten aufnehmen, um daraus die für das Wohl der Bürger besten Konsequenzen zu ziehen. Das Vorhaben ist, modern gesprochen, rational begründet, empirisch basiert und interkulturell angelegt. Die beste Verfassung wird in einem Verfahren der Prüfung aller Argumente gesucht, die mit Blick auf ihre Tauglichkeit für den politischen Zweck abgewogen werden. Die erste ausgearbeitet vorliegende politische Theorie ist somit deliberativ und setzt nicht nur die Einsicht der Planer, sondern vor allem auch die der beplanten Bürger voraus, von denen erwartet wird, dass sie unter den neu geschaffenen institutionellen Bedingungen in eigener Verantwortung leben. Auch dieser fraglos unterstellte Übergang in die Eigenständigkeit ist politiktheoretisch bemerkenswert. 2. Der zweite Punkt scheint zu dieser Absicht in Widerspruch zu stehen, denn er stellt die Möglichkeit des politischen Handelns unter die Konditionen einer sich in großen Zeiträumen immer wieder neu entwickelnden Natur. Es ist nicht die vergleichsweise kurze Phase einer sozialgeschichtlichen Entwicklung menschlicher Bedürfnisse, die Platon im zweiten Buch der Politeia erzählt, um kenntlich zu machen, dass es der Arbeitsteilung, einer vielfältig entwickelten Technik und einer hoch spezialisierten Kompetenz der Menschen bedarf, ehe ein Gemeinwesen politikfähig wird. In den Nomoi weitet sich der Blick auf den Zyklus wiederkehrender Fluten, die in ausgedehnten Zwischenzeiten den überlebenden Menschen Gelegenheit 9

Vgl. Korff, Der Grundriß von Platons utopischer Stadt Magnesia auf Kreta.

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geben, das Land zu besiedeln und zu bebauen – mit der sicheren Gewissheit des nachfolgenden Untergangs. Ehe es zur Gründung von Städten kommen kann, darf das Leben nicht mehr auf die zuerst bewohnbaren Bergkuppen beschränkt bleiben; man muss die Ebenen als Weiden und Äcker nutzen können. Die Küsten müssen sicher sein, sodass man Land und Meer zum Handel und zum Austausch von Kenntnissen nutzen kann. Dabei ist es nicht nur von philosophischem Interesse, dass die Natur, von der hier die Rede ist, eine geschichtliche Entwicklung durchläuft. Die Pointe dieser vom Fremden aus Athen mit poetischem Aufwand ausgemalten Naturgeschichte des Politischen ist, dass zugleich ihr geschichtlich gewachsener Anteil an technischen Fertigkeiten kenntlich wird. Nicht allein der Aufbau und die Verwaltung einer Stadt werden als eine weitestgehend durch Wissen angeleitete Technik vorgestellt. Die Natur setzt mit den Fertigkeiten des Menschen die Mittel frei, die er zu seinen Zwecken so nutzen kann, dass er mit ihrer Hilfe zu neuen Fertigkeiten und neuen Techniken gelangen kann. Platon verankert die Politik in einer Natur, die sich unter Mitwirkung des Menschen zur Kultur steigert. Doch auch die Kultur kommt niemals über die Natur hinaus. Hier ist Platon allen neuzeitlichen Denkern, die meinen, der Mensch könne den Naturzustand verlassen, indem er Staaten bildet, überlegen. Fortschritt, das streue ich hier nur ein, wird überall unterstellt, wo sich die Menschen ihrem Wissen anvertrauen. Deshalb denkt auch die Antike in Kategorien der Progression. Der Unterschied zur Moderne besteht in der realistischen Bewertung der unterstellten geschichtlichen Entwicklung. Da sie nicht endlos weitergehen kann, wird ihr Ende turnusmäßig vorausgedacht. Es ist eine im Prozess des Handelns nahe liegende Täuschung, wenn man zu dem Eindruck gelangt, in dem Generationen übergreifenden, auf Fortschritte setzenden politischen Denken würden die Zyklen der Natur in die Linearität der Geschichte überführt und somit außer Kraft gesetzt. Die Natur hat Zeit genug, um der Linearität des politischen Handelns seinen Auslauf zu lassen. Dass damit das Rettende nicht verloren gehen muss, gehört freilich auch zu den Konditionen des wohlbegründeten platonischen Realismus. Ich komme im zwölften Punkt darauf zurück und merke hier lediglich an, dass zwischen dem ersten und dem zweiten Punkt natürlich nicht der geringste Widerspruch besteht: Die Deliberation ist selbst eine gewachsene Kultur, die sich auf Wissen stützen muss, das in einer von der Natur getragenen Sozialgeschichte des Menschen entsteht und auf Techniken angewiesen ist, um überhaupt wirksam werden zu können. 3. Der dritte Punkt tritt in der Tatsache hervor, dass sich Vertreter dreier verschiedener politischer Kulturen am Gründungsgespräch über die neue polis beteiligen. Politik ist für Platon offenkundig nicht an den Primat bloß einer Kultur und auch nicht an die Kontinuität einer einzigen Tradition gebunden. Indem sie Grenzen schafft und Gegensätze erzeugt, kann sie immer auch Grenzen und Ge-

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II. Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens

gensätze überwinden. Allein dadurch, dass sie auf Wissen gegründet ist und sich der jeweils besten Techniken bedient, kann sie nicht auf die gerade bestehenden Gegebenheiten festgelegt werden. Sie muss sich entwickeln und treibt damit über bestehende Grenzen hinaus. Magnesia, das ist der Name der erdachten Stadt, soll die Vorzüge von Athen, Sparta und Knossos vereinen. Am deutlichsten macht Platon das im großen Alkibiades, wenn er Sokrates die These vertreten lässt, niemand könne ein guter Politiker sein, wenn er nur die Lage im eigenen Land kenne.10 Um erfolgreich regieren zu können, muss man wissen, wie es anderswo zugeht. Dabei ist der athenische Politiker ausdrücklich nicht nur auf Hellas beschränkt. Wer in der eigenen Stadt überzeugen können will, muss Kenntnisse über Asien und Afrika einbeziehen. Letztlich treibt Sokrates seinen Gesprächspartner zu dem Zugeständnis, dass man Weltkenntnis im Ganzen haben muss, wenn man irgendwo auf der Erde politisch tätig sein will. Diese Logik kommt in der Gründungsdiskussion über Magnesia zur Anwendung. Mag die Bevölkerung auch aus der unmittelbaren Umgebung kommen. Nach ihrer Konstitution ist sie für jeden offen, der sich an ihre Gesetze hält. Und die Erfahrungen, die hier gewonnen werden, können Eingang in ein anderes Experiment mit anderen Beteiligten finden. 4. Der vierte Punkt benennt die anthropologische Grundlage der gesamten politischen Konstruktion Platons, die er in der Politeia auf die unüberbietbare Formel vom Staat als dem in großen Buchstaben geschrieben Menschen gebracht hat.11 In den Nomoi wird diese Parallele vorausgesetzt, aber bis ins Selbstverhältnis des Menschen hinein verlängert. Schon in der ersten Beweisführung des ersten Buches wird gezeigt, dass die Zielsetzung der Politik in der Sicherung ihrer Bedingungen besteht. Denn das Ziel der Politik kann nicht, wie der Kreter und der Spartaner annehmen, im Krieg, sondern es muss im Frieden liegen, weil nur der Frieden die Voraussetzung zu weiteren Handlungen schafft (Nom 626 b–628 e). Ich bitte, die sachliche Kühle dieser Begründung zu beachten. Ihre weltgeschichtliche Kühnheit kommt hinzu, denn sie erfolgt zu einer Zeit, in der man in Griechenland der Eirene noch keinen Altar errichtet hat.12 Im Grunde sagt sie nichts anderes, als dass das Ziel der Politik nicht in ihrem Ende liegt. Friede besteht für Platon in der gewaltfreien Einigkeit der beteiligten Parteien. Wenn dies zutrifft, ist sie letztlich – unter den Konditionen der Analogie 10

Vgl. Platon, Alkibiades 105 a–d. Vgl. Platon, Politeia 368 e 2 ff. 12 Dazu kommt es erst von der Mitte des 4. Jahrhunderts an, als man der Eirene die ersten Altäre zu bauen begann. Allerdings muss man beachten, dass schon Aischylos „Freiheit und Frieden“ zu den obersten Gütern rechnete, um die man die Götter zu bitten habe (Hiketiden 811). 11

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von polis und Person – die Einigkeit des Einzelnen mit sich selbst. Da diese Einigkeit mit sich selbst zugleich die Bedingung zielstrebigen Handelns ist, hat Platon das telos der Politik aus ihren Bedingungen abgeleitet und mit dem Ziel wesentlich die Bedingungen gesichert. – Muss ich das Unerhörte dieser Argumentationsfigur eigens betonen? Sie setzt das Ziel der Politik in die progressive Erhaltung ihrer selbst. Ultramoderne Denker glauben, einen solchen Beweis nur mit systemtheoretischen Mitteln, also unter Absehung vom menschlichen Absichten führen zu können. Platon kann auch ohne den vorsätzlich ignoranten Aufwand demonstrieren, dass in der Politik bereits der Weg das Ziel darstellt. Das hat es ihm schon im Politikos ermöglicht, auf jedes geschichtliche Endresultat politischen Handelns zu verzichten und dennoch davon auszugehen, dass der Mensch gute Gründe hat, politisch tätig zu sein.13 Selbst wenn am Ende aller Politik nichts als Stillstand oder Chaos bliebe, stände der Mensch unter dem Anspruch, politische Verantwortung für sein Gemeinwesen zu übernehmen. Die theoretischen Mittel zu diesem Beweisgang gewinnt Platon aus der Analogie von polis und anthropos. Der Mensch muss sich in Bewegung halten, und er muss nach eigenen Zielen handeln. Dazu braucht er, wenn ihm die Ziele nicht gleichgültig sind, das Minimum einer Einheit mit sich selbst. Diese Einheit muss er in der polis zu errichten und zu sichern suchen, wenn sie mit seinen Handlungen übereinstimmen können soll. Damit zeigt er, dass die Parallele von Person und Institution nicht nur didaktische Vorzüge hat, sondern dass in ihr die systematische Elementarbedingung des Politischen überhaupt zu finden ist: Für die polis wie für den Menschen gilt, dass sie nur als eine mit sich einige Einheit handlungsfähig sind.14 Mit Blick auf den modernen Hörer merke ich an, dass diese Einheit nur möglich und nötig ist, weil es Vielheit und in der Vielheit Gegensatz gibt. Im Mythos vom Sonnenwagen, wie er im Phaidros vorgetragen wird, tritt mit brutaler Anschaulichkeit hervor, wie groß der Antagonismus der inneren Kräfte im einzelnen Menschen ist. Die Seelenteile stehen im Kampf miteinander; nur deshalb ist eine so entschiedene Steuerung nötig.15 5. Um die Fähigkeit zur Selbstlenkung und Selbststeuerung zu erlangen, muss der Mensch erzogen werden. Damit bin ich beim fünften Punkt, der Platon bekanntlich stets beschäftigt, in der politischen Perspektive der Nomoi aber eine besondere Pointe erhält. Die uns heute kurios erscheinende Methode der Erziehung durch die Verführung zum Alkohol hat den Effekt, die Selbstbeherrschung durch Selbsterziehung zu erlernen. Die Symposien und Syssitien sind

13 14 15

Vgl. Platon, Politikos 269 c–274 d. Vgl. dazu v. Verf., Partizipation, S. 230 ff. Vgl. Platon, Phaidros 246 a–247 b ff.

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II. Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens

lediglich das gesellschaftliche Arrangement, um den Individuen die Chance zu geben, aus eigener Kraft zu sich selbst zu finden. Der Bürger hat also den entscheidenden Schritt zur politischen Eigenständigkeit von sich aus zu tun. Der Individualismus der Tugend wird auf einem individuellen Weg erreicht. Platon zeigt, dass die im Politikos ausdrücklich unterstellte Eigenständigkeit der handelnden Individuen in der politischen Erziehung nur geweckt, nicht aber anerzogen werden kann. So bestätigt sich die Analogie zwischen Person und Institution auch in der Pädagogik der Nomoi. So wie die Freiheit nur durch Freiheit begründet werden kann, lässt sich Selbstbeherrschung allein im Akt der Selbstbeherrschung lernen. Nach dem gleichen Modell kommt es zur Kontinuität politischer Prozesse trotz der Diskontinuität im Wechsel von Personen. 6. Der sechste Punkt berührt die politische Konstitution im engeren Sinn: Das erste Erfordernis für eine politische Gemeinschaft liegt darin, dass sie Gesetze benötigt. Die stehen unter dem Anspruch der Kohärenz. Ein in sich abgestimmtes Insgesamt von Gesetzen aber nennen wir eine Verfassung. Die Ausarbeitung dieses kohärenten Gesetzgebungswerkes steht im Zentrum aller Bemühungen um die Gründung der neuen polis. Was immer in ihr geschieht und geschehen soll: Es muss in Übereinstimmung mit der Verfassung stehen. Es mag strittig sein, ob man sie bereits als „Grundgesetz“ der neuen Ordnung bezeichnen darf. Da die von Platon begründeten nomoi der neuen polis nicht aus einem separaten Gesetzgebungsakt hervorgehen und auch kein singuläres Rahmengesetz darstellen, könnte es verfehlt erscheinen, sie als „Verfassung“, als Constitution oder constitution im engeren Sinne zu deuten. Dennoch versteht auch Platon die im deliberativen Gespräch der drei Gründer entworfenen Gesetze als Muster, die eher Grundsätze als den konkreten Gesetzestext enthalten. Die Formulierung der einzelnen Gesetze unterliegt ohnehin dem Willen der später im bereits verfassten Gemeinwesen handelnden Personen. Die Nomoi geben nur den Rahmen vor, in dem sich die Gesetzgebung in der polis zu bewegen hat. Damit erfüllen sie eben die Funktion, die auch moderne Verfassungen haben. In ihr hat die polis ihre Identität – nicht im Territorium und seinen Grenzen, nicht in der ethnischen oder kulturellen Eigenart ihrer Bürger, sondern allein in den Gesetzen, die sich diese Gemeinschaft gibt. Daraus macht Aristoteles später das definiens einer politischen Organisation, worauf Dolf Sternberger dann viel später seine ingeniöse Formel vom „Verfassungspatriotismus“ gestützt hat.16 7. Nach der Ausarbeitung der Verfassung ist das wichtigste Erfordernis, dass sie den Bürgern bekannt gemacht wird. Darin sehe ich den siebten Punkt der politiktheoretischen Innovation Platons. Allein die unablässige Abfolge der Ge16

Vgl. Sternberger, Verfassungspatriotismus, S. 13 ff.

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nerationen bringt es mit sich, dass nicht alle Bürger an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt sein können. Unterschiede im Grad der Bildung und im Ausmaß des Interesses kommen hinzu. Also werden vergleichsweise wenige das Werk für viele übernommen haben. Deshalb ist der vordringlichste Akt nach der Beschlussfassung und Niederschrift die öffentliche Unterrichtung der Bürger. Sie wird von Platon als ernster, aufwendiger, ja auch weihevoller Akt eines kollektiven Lernens dargestellt (715 d–734 e). Das hat seinen triftigen Grund, denn die Bekanntmachung der Gesetze – mitsamt den ihnen zugrunde liegenden Absichten und Gründen – ist der wesentliche Akt der Legitimierung der neuen politischen Einrichtung. Wie wir aus dem Kriton wissen, steht Platon das Modell des Vertrags so beiläufig wie selbstverständlich zur Verfügung.17 Warum macht er in den Nomoi keinen Gebrauch davon? Dem modernen Gemüt, dem der Vertrag als der inzwischen sogar für moralische Fragen jederzeit einsatzbereite deus ex machina zur Verfügung steht, muss es als ein kapitaler Fehler erscheinen, dass Platon die von ihm selbst gesehene Chance ungenutzt lässt. Doch der antike Denker ist weiter als Hobbes, Rousseau und Rawls. Er gründet die Legitimität auf das Einzige, was sie tatsächlich tragen kann, nämlich die geäußerte und faktisch vollzogene Zustimmung der Bürger. Denn überall, wo es allgemein gültige Rechtsverhältnisse gibt, schließen sie (wie ebenfalls schon im Kriton gezeigt) Freiheit und Gleichheit ein. Sie müssen also nicht eigens erwiesen werden. Wo solche Verhältnisse praktisch anerkannt sind, ohne dass die Menschen sich dagegen erheben oder das Land verlassen, ist auch die Legitimität hergestellt. Anders ist es bei der Einführung einer neuen Verfassung. Hier muss vorab um Zustimmung geworben werden. Und das geschieht nach dem Vorschlag der Nomoi in einem Lernprozess, auf den die Siedler durch die Ansprache der Gründer eingestimmt werden (715 e ff.). In ihr werden auch die Gründe, die Verfassungsprinzipien erläutert und, wenn kein Widerspruch erfolgt, in legitimierender Weise akzeptiert. Bestätigt wird diese Deutung dadurch, dass Platon das öffentliche Proömium ausdrücklich als Alternative zur Gewalt (bias) bezeichnet (722 b/c). Von der Überredung (peitho) durch einen Herrscher ist es dadurch unterschieden, dass es im Vorfeld strenger Verbindlichkeit steht. Hier also muss der Bürger keinen Zwang befürchten und kann sich, wie es ausdrücklich heißt, gänzlich frei auf das „Wohlwollen“ (eumeneia) des Gesetzgebers (nomothete¯s) einstellen (723 a). Platon setzt auch hier, von der ohnehin in allem unterstellten Freiheit und Gleichheit abgesehen, auf Wissen und auf Gründe; er appelliert an die Einsicht der Bürger. Bleiben sie nach der Ansprache zusammen, ist die Legitimität der 17

Vgl. Platon, Kriton 51 c; vgl. auch das 2. Buch der Politeia, insbes. 359 a.

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Gesetzgebung tatsächlich im Ganzen gegeben. Denn die Gründe, die man den Siedlern vorträgt und die sie frei von Zwang akzeptieren, sind es zugleich, auf denen die Rechtmäßigkeit der polis beruht. Wir haben hier, um es ohne Umschweife zu sagen, eine Legitimitätskonzeption, die den Vertragsmodellen der Moderne deshalb überlegen ist, weil sie faktisch leistet, was von den Späteren nur hypothetisch in Aussicht gestellt wird. 8. Den achten Punkt brauche ich nur zu streifen, denn ich habe ihn anderswo ausführlich dargestellt:18 Der Platon der Nomoi geht nicht davon aus, dass sich die vom Menschen ohnehin nur unvollkommen gedachte „beste Verfassung“ realisieren ließe! Denn selbst wenn es möglich wäre, die als Modell unterstellte, aber nur unzulänglich erkannte göttlich-kosmische Ordnung direkt in einen Plan für eine politische Verfassung zu übersetzen, wären auch die besten Politiker nicht in der Lage, diesen Plan maßstabsgerecht umzusetzen. Denn die politische Praxis der Verfassungsgebung verlangt unter allen Bedingungen Zugeständnisse, die eine vergrößerte Distanz zum Ideal nach sich ziehen. In der Beratung mit anderen, die jeweils über eigene Erfahrungen verfügen und oft zu anderen Einsichten gelangen als man selbst, kommt trotz strikter Ausrichtung an der Idee nur die „zweitbeste Verfassung“ zustande. Aber damit nicht genug: Was aus der „zweitbesten Verfassung“ tatsächlich wird, ist nicht mit dem ausgehandelten Entwurf identisch, sondern weicht aufgrund der geographischen, historischen und religiösen Besonderheit der Bevölkerung gewiss in mehr als einem Punkt von der beschlossenen Ordnung ab. Beste Absichten und größtes Geschick der leitenden Männer vorausgesetzt, kommt man so lediglich zu einer „drittbesten Verfassung“. Doch auch damit hat es nicht sein Bewenden. Die erfahrenen Berater aus Athen, Sparta und Knossos halten es für selbstverständlich, dass nach der Einrichtung dieses „drittbesten Staates“ (wohlgemerkt: ein besserer kann von Menschen prinzipiell nicht geschaffen werden!) immer wieder Änderungen nötig sein werden. Denn die Bürger machen Erfahrungen mit ihrem neu gegründeten Staat, und da sie es sind, von deren Urteil das Ganze abhängt, werden Korrekturen unvermeidlich sein. Was sich auf diese Weise ergibt, ist – in Relation zur Idee einer „besten“ Verfassung – die „viertbeste“ Verfassung, die sich nicht zuletzt durch das Bemühen um sukzessive Verbesserungen erhält. Sie ist das Optimum einer politischen Ordnung, wenn sie unter einer umsichtig-ausgleichenden Leitung steht – und sie beruht dennoch auf der Idee, ohne die sie nicht möglich ist. Gewiss, es ist eine Trivialität. Aber die Erfahrungen mit der Kritik an der Politik nötigen dazu, daran zu erinnern: Eine Idee wird im konkretisierenden Prozess ihrer Realisierung nicht verworfen. Wohl aber führt der Versuch, sie 18

Vgl. v. Verf., Partizipation, S. 382 ff.

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umzusetzen, zu einer pragmatischen Konzeption von Politik. Die Botschaft der platonischen Verfassungslehre ist gerade in der von ihr beanspruchten Grundsätzlichkeit, dass alle Politik historisch-konkret, konzessionsbereit und somit pragmatisch zu sein hat. Die Vielzahl der an ihr beteiligten Personen und der unvermeidliche Wandel der Zeit mediatisieren zwangsläufig die Umsetzung der Prinzipien, auf die sich eine Verfassung gründet. 9. Um den neunten Punkt kenntlich zu machen, genügt der Hinweis auf eine die Gesetzgebung tragende Unterscheidung, nämlich die zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Politiktheoretisch reicht die Tatsache aus, dass Platon diese Unterscheidung kennt, sich mit ihr befasst und sie im Grundsatz respektiert. Dass er dabei weit hinter den Erwartungen zurückbleibt, die der moderne Verfassungsstaat uns zu haben erlaubt, versteht sich von selbst. Denn die Konzeption subjektiver Abwehrrechte, die der Staat nicht nur zu respektieren, sondern aktiv zu schützen hat, ist noch nicht gefunden. Dass sie in Situationen großer Gefahr, unter denen Platon das Gemeinwesen unablässig sieht, nicht immer eindeutig bestimmt werden können, zeigt die derzeit weltweit geführte Debatte über die mögliche Einschränkung der Rechte bei der Abwehr terroristischer Gefahren. Platon spricht von „öffentlichen und gemeinsamen Angelegenheiten“ (de¯mosia kai koina chre¯) und stellt sie den „privaten Tätigkeiten“ (idio¯n hoson) gegenüber. Er kennt die Auffassung, der zufolge eine politische Gesetzgebung sich auf den öffentlichen Bereich zu beschränken habe und in privaten Dingen darauf vertrauen könne, dass die Bürger schon von sich aus das Richtige tun (780 a). Er referiert diese Auffassung und folgt ihr ausdrücklich – nicht. Seine Gründe dafür haben auch heute noch Gültigkeit. Wenn wir eine Gurtpflicht verhängen, Gewalt in der Ehe als Straftat ansehen oder Rauchverbote aussprechen, gehen wir ebenfalls von der Erfahrung aus, dass der Bürger nicht in jedem Fall schon von selbst das für ihn Richtige tut. Bei der Abgrenzung helfen uns grundund menschenrechtliche Regelungen, die auch bei der Abwehr individueller Risiken zu wahren sind. Hier sind wir weiter, als Platon sein konnte. Es ist aber nicht so, dass die drei Gesprächspartner den von dem Athener ausdrücklich gemachten Unterschied zwischen öffentlicher und privater Sphäre politisch für belanglos halten. Sie achten den eigenen Besitz, wollen den Bereich des Hauses, in dem jeder sein eigener Herr sein können muss, schützen und respektieren auch persönliche Entscheidungen, die etwa dem aufwendigen Wahlgeschehen für die zahlreichen von den Bürgern zu besetzenden Ämter zugrunde liegen. Das Politische ist damit als ein Raum anerkannt, der erst unter der Bedingung entstehen kann, dass es eine gesellschaftliche, von individuellen Aktivitäten der Bürger getragene Basis kooperativen menschlichen Handelns gibt. In der Politeia ist das sogar die historisch-systematische Voraussetzung. Denn erst muss das arbeitsteilige System der Bedürfnisse in der „notwendigen“ wie

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auch in der „üppigen Stadt“ entstehen, ehe die auftretenden Gefährdungen eine politische Organisation erforderlich machen. Davon ist in der Beschreibung des Modells der Königsherrschaft der Philosophen zwar nur noch wenig zu erkennen; es bleibt aber anwesend, weil ja in allem die Tugend des Einzelnen, der die polis trägt, zur Debatte steht. In den Nomoi wird daraus ein gesetzliches Gebot, die persönliche Sphäre des einzelnen Bürgers zu achten. 10. Politik lässt sich im Ganzen als ein Kampf um das Recht verstehen, wenn man beide Begriffe der Formel ernst nimmt:19 Es geht um die Minimierung von Risiken sowie um die Herstellung von Sicherheit durch eine Schutz und Berechenbarkeit gewährleistende Sphäre des Rechts. Und angesichts der stets, nicht zuletzt durch die Politik selbst hinzukommenden Gefahren geht es um einen bewussten Einsatz für die Schaffung, die Sicherung und den Ausbau der Rechte. Darum hat man zu kämpfen. Es gilt, den Rechtsbruch im Inneren abzuwehren und den Verlust der Rechte durch eine Niederlage im Krieg zu vermeiden. Platons Nomoi können im Ganzen wie in jedem einzelnen Detail als eine dauernde Anleitung zum Kampf um das Recht verstanden werden. Ein Beleg erübrigt sich, denn das Gespräch der drei Männer ist in weiten Teilen auf die Begründung und Darstellung des Rechts konzentriert, das der neuen polis ihre Form geben soll. Gleichwohl gibt es Besonderheiten, die vornehmlich mit der Priorisierung des inneren Kampfs um das Recht verbunden sind. Der Kampf gegen einen äußeren Feind, der in der Politeia nicht nur den Anlass zur Errichtung einer im engeren Sinn politischen Ordnung gibt, sondern auch durch die Betonung des militärischen Aspekts der Erziehung allgegenwärtig ist, steht in den Nomoi nicht im Vordergrund. Mit der Konzentration auf die Verfassung hat die Gesetzgebung im Inneren Vorrang und mit ihr die Abwehr der Gefahren, die durch Verfehlungen der eigenen Bürger entstehen. Größtes Gewicht haben der Aufbau und die Besetzung der staatlichen Ämter. Platons Interesse ist auf die Beschreibung ihrer Aufgaben, die Auswahl kompetenter Personen und die Kontrolle ihrer Tätigkeit gerichtet. An zweiter Stelle folgen die Begründung und Ausgestaltung des Strafrechts. Es ist wahrscheinlich, dass der Athener hier den besonderen Ehrgeiz hat, seiner Vaterstadt einen Spiegel vorzuhalten, um – wenn es nicht zu der Neugründung kommen sollte – wenigstens in seiner eigenen polis Reformen anzustoßen.20 Das alles macht deutlich, dass der Kampf um das Recht wesentlich ein Kampf gegen Missbrauch und Verbrechen ist. Darin kommt die primäre Sorge um die den Frieden sichernde Handlungsfähigkeit des Staates zum Ausdruck. Wenn es um die Errichtung eines Gemeinwesens und um die Organisation der

19 20

Vgl. v. Verf., Partizipation, S. 325. Vgl. dazu Schöpsdau, Platon als Reformer des Strafrechts.

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eigenen Kräfte einer Bürgerschaft geht, dann ist die Schwerpunktsetzung Platons konsequent. Im Ganzen liegt darin aber eine Vernachlässigung der „Außenpolitik“. Die Beziehungen zu anderen politischen Gemeinschaften werden wesentlich durch den Wunsch nach Abgrenzung bestimmt. Magnesia soll eine polis sein, die das von Aristoteles gesetzte Kriterium der Autarkie erfüllt. Mit Blick auf das frühneuzeitliche Streben nach staatlicher Souveränität bietet sich hier gewiss ein aktueller Anknüpfungspunkt. Doch die Nachteile des Verzichts auf die äußeren Relationen überwiegen, vor allem deshalb, weil aus der Selbstbeschränkung weit reichende Restriktionen für den Handel und den Geldverkehr abgeleitet werden. Sie und die Einschränkung der Reisefreiheit der Bürger gehören zu den am wenigsten überzeugenden Seiten des platonischen Verfassungsentwurfs. Platons Vertrauen in die sich selbst organisierenden gesellschaftlichen Kräfte, das er mit seiner These über die Entstehung der polis im zweiten Buch der Politeia sowie mit seiner naturgeschichtlichen Rekonstruktion politischer Entwicklungen im ersten Buch der Nomoi unter Beweis gestellt hat, schwindet mit dem steigenden Grad politischer Administration. Je höher der institutionelle Aufwand ist, umso größer ist das Verlangen, ihn institutionell zu sichern. Das ist begründungstechnisch verständlich, stellt aber eine Gefahr für die freie Entwicklung des Staatswesens dar – von den Freiheitsverlusten der Bürger ganz zu schweigen. 11. Jeder, der meine Überlegungen zur Grundlegung des Politischen kennt, weiß im Voraus, welche beiden Einsichten jetzt noch folgen, obgleich ich die erste – und in der hier gewählten Zählung elfte – Position bislang noch nicht an Platon explizieren konnte. Bei der Ausarbeitung der Partizipation musste ich mir eine strikte Beschränkung in historischen Fragen auferlegen und habe mich damit begnügt, die terminologische Herkunft meines Hauptbegriffs bei Aristoteles und seinem ersten Übersetzer, Wilhelm von Moerbeke, nachzuweisen. In systematischer Perspektive reichte es aus, die erste Quelle für den Begriff der Partizipation in jenem to metechein kriseos kai arche¯s zu benennen, von dem in der Politik des Aristoteles die Rede ist (1275 a 22 ff.). Aus dieser „Teilnahme am Gericht und an den Ämtern“, die Aristoteles zum Kriterium des Bürgers macht, wird auch in der einflussreichen Übersetzung des Nicole Oresme die participation, die von ihm aus den Weg in die moderne politische Terminologie gefunden hat.21 Bei Platon findet sich das metechein kriseos kai arche¯s als stehende Formel noch nicht. Er hat den Begriff der methexis für andere Aufgaben reserviert, denen Aristoteles bekanntlich skeptisch gegenübersteht. Umso interessanter ist, dass der Schüler den für untauglich gehaltenen metaphysischen Begriff des Leh21

Vgl. Schütrumpf, Die frühesten Übersetzungen der aristotelischen Politik.

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rers in seiner Politiktheorie an die zentrale Stelle rückt. Beteiligung an den Ideen lehnt er ab, die Beteiligung der Bürger an den Aufgaben der polis hält er für konstitutiv. Doch alles dies tut hier nichts zur Sache. Entscheidend ist, dass die gesamte Verfassungskonstruktion der Nomoi auf dem Prinzip der Mitwirkung aller Bürger beruht. Teilnahme und Teilhabe sind von der Inauguration der Gesetze über deren Ausführung und Verbesserung, die Übernahme und Ausübung von Ämtern bis hin zur gemeinsamen Verantwortung für den Kultus die tragenden Bedingungen des politischen Gemeinwesens überhaupt. Nichts ist möglich ohne die Zustimmung der Bürger, die in ihrer Gesamtheit die Institutionen ihrer polis tragen und im Einzelnen bereit sein müssen, konkrete Aufgaben zu übernehmen. Platon ist dabei bisweilen der Formel des Aristoteles schon sehr nahe, etwa wenn er feststellt: „Wer an der Befugnis mitzurichten nicht teilhat (akoinvo¯ne¯tos), glaubt überhaupt am Staat nicht beteiligt zu sein (ou metochos).“ (768 b) Damit ist begründet, warum die Bürger „mit Recht verärgert wären, wenn sie an den Rechtsentscheidungen unbeteiligt (amoiroi) wären“ (768 a). Das Verb metechein findet also schon bei Platon eben die Verwendung, die es in der Formel des Aristoteles hat. Doch sehen wir auch hier von philologischen Einzelheiten ab. Entscheidend ist, dass in der gemeinschaftlichen Teilnahme die Autonomie des Politischen hervortritt. Es sind einzig und allein die Bürger, deren Dasein und deren Tätigkeit den Grund des Politischen legen. Was immer als Aufgabe und Ziel der Politik genannt werden kann: Es muss der Einsicht der Menschen entspringen, die sich in einer polis zusammenfinden, die sie in partizipativer Verantwortung zu gründen, zu leiten und zu verantworten haben. – Damit bin ich bei meinem zwölften und letzten Punkt. 12. Es ist eine berühmte Frage, mit der die Nomoi eröffnet werden: „Ist es ein Gott oder irgendein Mensch, ihr Gastfreunde, der bei euch als Urheber eurer Gesetzgebung gilt?“ (624 a) Die Angesprochenen antworten übereinstimmend und in bestem Glauben: „ein Gott“. Damit stehen sie, nach meiner Terminologie, noch in der frühpolitischen Phase der Institutionalisierung. Was sie im nachfolgenden Gründungsgespräch unter der Anleitung des Atheners intellektuell mitvollziehen, ist jedoch der Übergang in die Phase der Autonomie. Dass sie daraus auch die fällige praktische Konsequenz gezogen haben, belegt das Ende des ganzen Gesprächs, in dem es um den faktischen Beginn der Stadtgründung geht: Der Athener hebt unter Berufung auf ein Sprichwort die apriorische Bedingung eines jeden politischen Handelns hervor, nämlich dass „noch alle Möglichkeiten offen sind“ (968 e), betont die Elementareinsicht allen politischen Handelns, nämlich dass es immer ein Wagnis (kindynos) ist (969 a), und fordert dann den „mutigsten Mann“ (andreiotatos), nämlich den ortsansässigen Kreter Kleinias auf, die Gründung in Angriff zu nehmen. Dabei

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stimmt ihm der Spartaner Megillos emphatisch zu und betont zugleich, dass man den erfahrenen Fremden aus Athen nicht fortlassen dürfe, sondern als „Mitarbeiter“ (koino¯non poie¯teon) gewinnen müsse. So wird schon die Gründung als ein Akt der Partizipation dargestellt. Der in die Pflicht genommene Kreter Kleinias willigt ein: Er sagt: „Du hast ganz recht, Megillos, so will ich es machen, und du hilfst mir dabei.“ Darauf antwortet der angesprochene Megillos mit dem letzten Wort des ganzen Dialogs: Sylle¯psomai – „Das will ich tun.“ Dieses Bekenntnis zur Partizipation – in den letzten Worten mit Blick auf die ersten Schritte – zeigt den Lernprozess an, der sich in der ganzen Unterredung ereignet hat: Es sollen diese drei Männer sein, die in enger Kooperation mit anderen, die im „nächtlichen Rat“ versammelt sind, die neue Stadt zu gründen versuchen. Wenn das Vorhaben gelingt, erfahren sie an sich selbst, dass nicht ein Gott der Gründer ist, sondern eine Gemeinschaft von Menschen. Die Politik hat sich vom Mythos ihrer theonomen Bedingungen gelöst und wird ausdrücklich als eine autonome Aufgabe des Menschen betrieben. Die Säkularisierung des Politischen mag sich historisch erst im Übergang zum 19. Jahrhundert vollzogen haben. Gedacht wurde sie bereits im ersten Auftritt der philosophischen Theorie der Politik. Erst im Licht dieser Erkenntnis können wir verstehen, warum die Berufung auf das Göttliche in Platons Nomoi dennoch eine so große Rolle spielt: Was der Einzelne und die Gemeinschaft politisch zu wagen haben, kann sich nie auf ein zureichendes Wissen gründen. Hinzu kommt die bleibende Unsicherheit mit Blick auf die Folgen des eigenen Tuns. Die Zukunft, auf die sich das politische Handeln richtet, ist und bleibt ungewiss. Um in dieser Lage das Vertrauen in die eigenen Kräfte nicht zu verlieren, braucht der Menschen den Glauben an den göttlichen Beistand, insbesondere dann, wenn es ihm gelingt, mit Platon das Göttliche als das zu verstehen, was der menschlichen Seele am nächsten ist (oikeiotaton on) (726 a). Wie ernst es Platon mit diesem Zugang zum Göttlichen ist, wird deutlich, wenn er seine damals wie heute inakzeptable Dichterkritik in den Nomoi mit dem Hinweis erneuert, dass die Politik allemal „die größere Tragödie“ sei, so dass man auf deren Inszenierung auf der Bühne gut verzichten könne (817 a/b). Aus dem Verhängnis der Tragödie aber kann nur ein Gott den Menschen retten. Mit diesem letzten Hinweis soll lediglich angedeutet sein, dass meine zwölf Punkte, in denen ich das benenne, was politiktheoretisch aus Platons Nomoi aufzunehmen und weiterzuführen ist, mühelos auch durch zwölf Punkte der Kritik ergänzt werden könnten. Die Beschränkung der Reisefreiheit, die Unterschätzung der sich selbst organisierenden gesellschaftlichen Kräfte, die Vernachlässigung der Außenpolitik und die Dichterkritik habe ich erwähnt. Die Überschätzung des Atheismus, für den drakonische Strafen vorgesehen sind,

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wäre ein weiterer Punkt. Aus ihnen und einer Reihe anderer wäre ebenfalls für die Gegenwart zu lernen. Doch da an Platon-Kritik kein Mangel ist, war es mir in Anbetracht der vor uns liegenden politischen Aufgaben wichtiger, zu zeigen, wie nahe er uns in dem ist, was wir selbst politisch zu bewältigen haben. Wir stehen nunmehr auch praktisch am Beginn des Zeitalters der politischen Konstitution und sollten die Einsichten beachten, die der erste Theoretiker der Konstitution des Politischen für uns bereithält, wenn wir uns nur entschließen, sein letztes Werk zu lesen.

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Eine kritische Theorie der Politik Über Kants Entwurf Zum ewigen Frieden „Die wahre Politik kann also keinen Schritt thun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und obzwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten. – Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Kniee vor dem erstern beugen, kann aber dafür hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird.“ (Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, AA, Bd. 8, S. 380)

I. Einleitung Manches spricht für die Vermutung, dass die schweren inneren und äußeren Schäden, die sich die menschliche Kultur in unserem Jahrhundert durch ihre eigene Politik zugefügt hat, mit tief sitzenden Irritationen über den Begriff der Politik verbunden sind. Die theoretische Ablösung der Politik vom Staat und vom Recht, ihre verstörte Beziehung zur Religion, ihre mangelnde Abgrenzung von der Wissenschaft und – mit alledem – die Unklarheit über ihre primären Aufgaben, über ihre spezifischen Verfahren und schließlich die Missachtung ihrer Grenzen hat wohl auch zu den Katastrophen beigetragen, denen wir leicht alle zum Opfer hätten fallen können. Man braucht nur die Namen von Marx und Nietzsche zu nennen, um den Anteil anzudeuten, den gerade die Philosophie an der allseitigen Verunsicherung über die Natur des Politischen hat. Diese Irritation macht der politischen Theorie bis heute zu schaffen. Mancher ihrer prominenten Vertreter weiß noch nicht einmal zu benennen, womit sie sich befassen soll, und schwankt vielsagend zwischen „dem Politischen“ und „der Politik“. Das ist nur eines der Indizien für die Unfähigkeit, die normativen Bindungen der Politik im Kontext ihrer historisch-empirischen Verlaufsformen zu beurteilen. Norm und Realität fallen in der politischen Theorie oft ebenso aus-

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einander wie in der politischen Praxis. Offenbar fällt es schon schwer, die Prinzipien des politischen Handelns auch nur direkt anzusprechen – von ihrer Anwendung oder gar Begründung ganz zu schweigen. Das moderne Elend der politischen Theorie tritt dort am deutlichsten zutage, wo sie sich bemüht, aus dem angeblichen Zirkel von Staat und Politik auszubrechen, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, dass sich in der organisierten Selbstbezüglichkeit des seiner selbst bewussten Menschen eben das zeigt, was wir „Politik“ zu nennen gewohnt sind. In dieser Lage empfiehlt es sich, auf den kleinen Text zu achten, den Immanuel Kant Anfang Oktober 1795 als „philosophischen Entwurf“ Zum ewigen Frieden publiziert hat. Diese Schrift ist aus einem politischen Anlass in politischer Absicht verfasst, und sie entwickelt am Beispiel des größten politischen Problems, das sich der weltweit wachsenden menschlichen Zivilisation stellt, eine Theorie der Politik, ohne davon freilich viel Aufhebens zu machen. Denn sie bleibt strikt auf das politische Problem bezogen, zu dessen Lösung sie beitragen soll. Dieses Problem ist der Frieden. II. Die Erörterung der Friedensfrage als Exempel für eine Theorie der Politik Titel und Inhalt der Schrift machen offenkundig, dass die Stiftung und die Garantie des Friedens Kants eigentliches Thema ist. Aber man wertet gewiss seine Abhandlung nicht ab, wenn man behauptet, dass seine Erörterung dieses Themas als ein Exempel für eine Theorie der Politik gelesen werden kann: Kants philosophischer Entwurf Zum ewigen Frieden enthält eine Theorie der Politik, eine Theorie, die bis heute nicht beachtet worden ist. Diese These steht der verbreiteten Geringschätzung dieser Schrift durch die politische Wissenschaft entgegen; sie korrigiert aber auch die Ansicht, der Text habe seine Bedeutung primär für das Staats- und Völkerrecht. Es ist wirklich abwegig, wenn Hannah Arendt meint, die Schrift sei politiktheoretisch unerheblich, weil sie so viel Ironie enthalte;1 es ist andererseits entschieden zu wenig, wenn man in ihr nur eine Konzeption einer „Rechtslehre vom Weltfrieden“ namhaft macht,2 wie etwa Georg Geismann.3 Zu kurz greifen schließlich auch 1 Vgl. Arendt, Das Urteilen, S. 17, sowie Vollrath, Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, S. 92. Der Unterschied zwischen beiden Interpretationen besteht allerdings darin, dass Hannah Arendt in der Sache dann doch manches aus Kants politischen Schriften übernimmt, während Ernst Vollrath jede Grundlegung durch ein Prinzip – und sei es auch nur durch das der Humanität oder des Menschenrechts – verwirft. 2 Diese rechtstheoretische Pointe der Friedensschrift hat Julius Ebbinghaus 1929 erstmals in aller Deutlichkeit herausgestellt (vgl. Ebbinghaus, Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage [1929]; ders., Das Kantische System der

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jene Deutungen, die den Ewigen Frieden lediglich daraufhin prüfen, was er zum Legitimationsproblem beitragen kann.4 Natürlich ist es im Verhältnis von Individuum und politischer Organisation die entscheidende Frage, ob und wie die wechselseitigen Ansprüche politischer Subjekte begründet werden können. Aber über dieser wichtigen Frage sollte man nicht vergessen, dass es auch von Interesse sein kann zu klären, was denn eine politische Organisation eigentlich ist. Wer wollte bestreiten, dass in den Legitimationsdebatten, die heute zum Advent politischen Philosophierens geworden sind, erstrangige Probleme verhandelt werden? Nur: Was kann diese Debatte wirklich klären, wenn man nicht weiß, was Politik bedeutet? Auch den gründlichen Kant-Interpreten ist bislang entgangen, dass in Kants Friedensschrift zumindest eine exemplarische Antwort auf die Frage nach der Eigenart und den Voraussetzungen politischen Handelns enthalten ist. Äußerer Anlass der Schrift ist ein Friedensvertrag, und zwar der am 5. April 1795 zwischen Preußen und Frankreich geschlossene Frieden von Basel. Es war dies ein Vertrag von hohem symbolischem Wert, denn in ihm wurde die revolutionäre Französische Republik erstmals von einer monarchischen Großmacht in ihrer Rechtsform und in ihren Grenzen anerkannt. Das weltgeschichtliche Ereignis der Französischen Revolution war damit von den alten Mächten völkerrechtlich akzeptiert und implizit auch staatsrechtlich sanktioniert. Eine aufgeklärte Monarchie suchte den Ausgleich mit der revolutionären Republik.

Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung [1964]). Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sie von den Kant-Interpreten verstanden und übernommen wurde (siehe dazu Henrich, Über den Sinn vernünftigen Handelns im Staat; ders., Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode; Luf, Freiheit und Gleichheit). Erst heute darf man sie als allgemein anerkannt behaupten. Hier sind vor allem die verdienstvollen Arbeiten von Reinhard Brandt zu nennen. Entsprechendes gilt für die zahlreichen Schriften von Otfried Höffe (vgl. Höffe, Ethik und Politik; ders., Kant; ders., Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln) und von Wolfgang Kersting zu diesen Themen (vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit; Taschenbuchausgabe mit einer neuen Einleitung: Kant und die politische Philosophie der Gegenwart; ders., Neuere Interpretationen der Kantischen Rechtsphilosophie; ders., Kants vernunftrechtliche Staatskonzeption; ders., Kann die Kritik der praktischen Vernunft populär sein?). In historischen, aber auch in grundsätzlichen Fragen gilt dies ferner für die Monographie von Cavallar, Pax Kantiana. 3 Vgl. Geismann, Kants Rechtslehre vom Weltfrieden. 4 Stimuliert wurde das Interesse an den Kriterien des politischen Tuns vor allem durch die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit). Zur Wirkungsgeschichte in der Kant-Interpretation siehe dazu die Einleitung zur Taschenbuchausgabe von Kersting in: Wohlgeordnete Freiheit; zur ganzen Debatte vgl. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts.

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III. Das Menschenrecht als Grundlage jeder künftigen Politik Mit diesem Bezug tritt auch schon die politische Absicht von Kants kleiner Schrift hervor: Sie soll das historische Ereignis des Friedensvertrags mit dem freiheitlich-republikanischen Impuls der Revolution verknüpfen und in eine weltpolitische Perspektive rücken. Das Menschenrecht, das mit den Ereignissen in Paris zum ausdrücklichen Movens der Geschichte geworden war, sollte zur anerkannten Grundlage einer jeden künftigen Politik werden. Das Beispiel schließlich ist der Frieden, den sich Kant keineswegs in ängstlicher Besorgnis um seine private Existenz, in falsch verstandener Moralität oder mit religiösen Motiven zum Thema nimmt. Auch die Tatsache, dass sich die öffentliche Meinung seit 1760 in eine Art Friedensrausch hineinsteigerte,5 beeindruckt ihn nur so weit, als er darin eine günstige Bedingung für die Realisierung eines aus eigenständigen Gründen gerechtfertigten politischen Zwecks erkennt. Die Meinung der Individuen, auf die man notwendig setzen muss, wenn es um Öffentlichkeit geht, fördert ein politisches Ziel, für das es auf dem nunmehr erreichten Stand der kulturellen Entwicklung vernünftige Gründe gibt. Dieses Ziel ist der politische Friede innerhalb und außerhalb der Staaten. In ihm kommen historische Erfahrung und vernünftige Gründe zur Koinzidenz. Am Frieden muss sich zeigen, wie die Realität der Geschichte mit der aus eigenen Ansprüchen erfolgenden Selbstbewegung des Menschen zur Deckung kommt – und das heißt: wie Politik nötig und möglich ist. Kant hat noch wenige Jahre vor seinem Friedensentwurf den Krieg als das treibende Moment in der Entwicklung der menschlichen Kultur beschrieben, hat ihm eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Freiheit zuerkannt und sich noch nicht einmal gescheut, den Krieg als etwas Erhabenes ästhetisch auszuzeichnen. Er wusste überdies viel zu gut, dass die Moral keine Verantwortung für die Welt als ganze übernehmen kann; auch die Geschichte liegt nicht in der alleinigen Kompetenz des Menschen. Zwar steht der einzelne Mensch jederzeit und unter allen Umständen unter dem Anspruch, seine Pflicht zu tun; aber er wäre hoffnungslos überfordert, wollte man ihm die Verantwortung für eine weltpolitische Wendung vom Krieg zum Frieden allein aufbürden. IV. Religion ist eine Bedingung der Politik Und so wie man zwischen individueller Verantwortung und historischem Geschick unterscheiden muss, so hat man auch in der Politik die Kluft zwischen Wissen und Glauben zu respektieren. Der himmlische Friede mag sich auf Er5 Darüber informieren vorzüglich Schlochauer, Die Idee des ewigen Friedens, und Dietze/Dietze, Einleitung.

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den vielleicht schon in der Gemeinschaft der Gläubigen ankündigen; doch es wäre ein grobes Missverständnis der Konditionen wie der Mechanismen der Politik, von ihr auch nur die Annäherung an einen solchen Zustand erwarten zu wollen. Folglich kommt man dem politischen Frieden auch aus religiösen Motiven nicht näher. Zwar gibt uns der Glaube, wenn nötig, Kraft, unter den allemal widrigen und letztlich immer aussichtslosen Bedingungen der Endlichkeit das zu tun, was unserer vernünftigen Einsicht entspricht; insofern ist die Religion immer auch eine Bedingung der Politik, die es darum durch politische Maßnahmen zu schützen gilt. Doch der Handlungsraum der Politik hat seine autochthone Existenz: Er entsteht gleichursprünglich mit dem Recht, das seinen Anlass (und damit auch seinen Zweck) in der vernünftigen Regelung der gesellschaftlichen Konflikte hat, die so, wie der Mensch (und seine begrenzte Erde) empirisch beschaffen sind, schlechterdings unvermeidlich sind. Es wäre daher zu wenig gesagt, dass Kants Theorie der Politik keiner politischen Theologie bedarf: Richtig ist vielmehr, dass sie der politischen Theologie den Boden entzieht. V. Politik als ausübende Rechtslehre Denn dass Politik nötig ist, folgt ganz allein aus der „ungeselligen Geselligkeit“ des ebenso bedürftigen wie vernünftigen Menschen.6 Dass Politik auch möglich ist, hat ihre Voraussetzung allein in dem notwendigen Bezug des nur aus Vernunftgründen einsichtigen Rechts auf die empirischen Bedingungen der menschlichen Natur. Dabei stehen Recht und Natur keineswegs in einer prästabilierten Harmonie. Vielmehr wird das Recht zuallererst von der sich ständig selbst dynamisierenden Natur in den sich historisch entfaltenden Gegensätzen hervorgetrieben, und es ist nicht abzusehen, wie und wann hier ein Stillstand eintreten sollte. Deshalb enthält alles Recht einen unaufhebbar historischen Charakter, den es zu beachten gilt, wann und wo immer die Einrichtung, die Sicherung und die Entwicklung von Institutionen zu bewirken sind. Und eben darin liegt die genuine Aufgabe der Politik, die Kant als „ausübende Rechtslehre“ 7 keineswegs bloß auf die apriorischen Rechtsprinzipien, sondern zugleich auch auf empirische Problemlagen, damit aber eben immer auch auf geschichtliche Konditionen verpflichtet. Daraus folgt dann zwingend, dass eine als „ausübende Rechtslehre“ konzipierte Politik weder auf Klugheit noch auf Urteilskraft verzichten kann, wenn sie die ihrer inneren Bestimmung entsprechende Aufgabe einer permanenten Reform bewältigen können soll.

6 Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA, Bd. 8, S. 20. 7 Vgl. dazu v. Verf., Ausübende Rechtslehre.

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VI. Moral ist Bestandteil der Sphäre der Politik Spätestens aber mit der zur Politik notwendig hinzugehörenden Aufgabe der Reform lässt sich nicht mehr bestreiten, dass auch die Moral in die Sphäre der Politik gehört. Zwar muss sich das Recht ohne Rekurs auf moralische Selbstverhältnisse begründen lassen. Wenn es tatsächlich für alle Personen gelten können soll, die in eine äußere Beziehung zueinander treten, dann können wir es nicht von den internen Bedingungen der Moralität abhängig machen. Im Konfliktfall hätte dann wohl jeder eine andere Moral als sein Kontrahent. Wenn wir aber von einem Politiker erwarten, dass er die Spielräume des Handelns nutzt, um etwas zur Reform der Verhältnisse zu tun, wenn er dort, wo noch gar keine rechtlichen Regelungen bestehen, Recht schaffen soll, wenn er sich also mit Kant auf das „Erlaubnisgesetz“ des politischen Handelns8 beruft und dort initiativ wird, wo es bestenfalls Legitimität, aber noch keine Legalität gibt, dann müssen wir auf die Moralität seiner Gesinnung bauen können. Hier also brauchen wir den „moralischen Politiker“, der auch eigene, notfalls nur von ihm allein ernst genommene Gründe hat, die politischen Täuschungsmanöver einer nur zum Schein auf das Recht setzenden Politik zu verachten. Im Fall hartnäckiger Zweifel hat auch das Wörtchen „ewig“ einen moralischen Sinn. Denn letztlich kann man nur bei sich selber prüfen, ob man den Frieden wirklich ohne Vorbehalt will.9 Die auf den in exponierter Lage handelnden Politiker gerichtete moralische Erwartung lässt freilich nur etwas deutlicher hervortreten, was in politischen Gemeinschaften für alle mündigen Staatsbürger gilt: dass sie nämlich auch aus eigener Einsicht – und somit auch aus eigenem moralischen Antrieb – für die Befolgung, Erhaltung und Entfaltung der Gesetze einzutreten haben, wenn in ihrem Gemeinwesen die Freiheit nicht zur bloßen Formel verkommen soll. Und so weist schon Kants Grundlegung der Politik als einer „ausübenden Rechtslehre“, die alle natürlichen und vernünftigen Impulse der Menschen einzubinden versucht, den Weg von einer bloßen Rechts- und Staatstheorie zu einer Theorie der politischen Kultur. Diese Theorie der politischen Kultur geht in ihrer anthropologischen, sozialund geschichtsphilosophischen sowie in ihrer ausdrücklich metaphysischen Orientierung nicht nur extensional über die klassischen Themen der Staats- und Verfassungslehren hinaus, sondern erschließt endlich auch intensional die Dimension der Selbsterkenntnis, die seit Platon (und mit neuer Emphase seit Hob8 Zum historischen wie zum systematischen Hintergrund dieser Leistung praktischer Vernunft erstmals Brandt, Das Erlaubnisgesetz, v. a. S. 233–285. 9 Zum Beleg lässt sich anführen, dass Kant die französische Übersetzung von „ewig“ in „perpétuelle“ (statt in „éternelle“) nicht geschätzt hat. Er wollte die innere – und damit: moralische Verbindlichkeit des Friedensgebots kenntlich machen. Vgl. dazu Schwarz, Principles of Lawful Politics, S. 41 f.

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bes) zu den methodologischen Prämissen der Politischen Philosophie gehört.10 Es hat eben etwas zu bedeuten, dass sich die Selbstbestimmung des Staates (als moralischer bzw. juristischer Person) von ihrem Ursprung, nämlich der Selbstbestimmung der natürlichen Personen, nicht ablösen lässt. Die „vernünftige Selbstschätzung“, mit der sich nach Kant der Übergang vom Naturzustand in den Zustand der Kultur vollzieht,11 ist der zentrierende Prozess, aus dem nicht nur die individuierte Person, sondern auch die politische Institution hervorgeht. VII. Der Staat als selbstbestimmte Gesellschaft von Menschen Man kann die staatliche Organisation freilich auch als einen Steigerungsprozess der personalen Individuierung auffassen. Denn im Staat reproduziert sich der Mensch nach vereinbarten Vorstellungen – und somit viel stärker als in der individuellen Selbststeuerung oder in der Erziehung der nachfolgenden Generation. Und nur sofern die beteiligten Menschen die allgemeinen Absprachen wie einen eigenen Handlungsvorsatz verstehen, nur sofern sie die staatliche Organisation als die nach außen gestülpte innere Funktion der Selbstbestimmung von sich selbst her kennen, haben sie auch eine Chance, die Funktionsweise des Staates zu begreifen und anzuerkennen. Also bleibt der Staat als der ins Große entworfene und sich in einer Vielzahl gesellschaftlicher Leistungen wiederholende Mensch auf nichts so sehr angewiesen wie auf das Selbstverständnis des Menschen. Und nur vom Selbstbegriff des Menschen her lassen sich die normativen Erwartungen verstehen, die seit Menschengedenken mit dem Staat verknüpft sind. Von ihnen kommen wir offenkundig auch heute nicht los. Auf diese interne, nur durch Selbsterkenntnis zu erschließende Bedingung einer jeden äußeren politischen Organisation nimmt Kant Rücksicht, wenn er die Politik als Selbstbestimmung einer „Gesellschaft von Menschen“ definiert: „Er [der Staat – V. G.] ist eine Gesellschaft von Menschen, über die Niemand anders, als er selbst [der Staat – V. G.] zu gebieten und zu disponiren hat.“ 12 Man versuche doch einmal, diese überlegene, die schneidigen Bemühungen eines Carl Schmitt von vornherein überflüssig machende Definition des Staates ohne Selbstkenntnis und ohne Selbstschätzung zu verstehen! Man versuche aber nicht, das juridische Gebot und die politische Disposition allein auf die individuelle Selbstdisziplin zu gründen! Die Organisation einer „Gesellschaft von Menschen“ kann nur über äußere Maßnahmen erfolgen. Deshalb kommt Kant überhaupt nur zu der ergänzenden Bestimmung der Politik als einer „ausübenden Rechtslehre“. Über sie wird das politische Handeln auf Grundrechte verpflichtet, deren Umsetzung in der Praxis auf Urteilskraft und Klugheit angewie10

Vgl. dazu v. Verf., Vernunft und Urteilskraft; ders., Naturrecht ist Menschenrecht. Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA, Bd. 8, S. 20. 12 Kant, Zum Ewigen Frieden, AA, Bd. 8, S. 344. 11

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sen ist. Damit wird das deduktive Politikmodell Platons durch ein auf die Meinungen eigenständiger Personen gegründetes Verfahren abgelöst. Die Königsherrschaft von Philosophen gilt nicht länger als ein Ideal; sie wird vielmehr als die Gefahr für die Politik erkannt, die sie tatsächlich ist.13 Es gehört zu den verhängnisvollen Rückschlägen der politischen Philosophie, dass Marx diese bereits vor ihm vollzogene demokratische Revision der politischen Theorie nicht erkannt hat und die Veränderung der Welt nach Maßgabe seiner politischen Ökonomie betreiben wollte. So musste ihm auch verborgen bleiben, dass einer auf Prinzipien der Selbstbestimmung gegründeten Politik nur der Weg der Reform offen bleibt. Die Revolution ist ebenso zu ächten wie der Krieg. VIII. Öffentlichkeit als transzendentales Prinzip der Politik Marx übersah auch die elementare Bindung der Politik an die Sphäre der Öffentlichkeit. Von Kant hätte er lernen können, dass die Politik aus eigener Logik zur öffentlichen (Selbst-)Darstellung genötigt ist. Aus diesem gerade von Philosophen immer wieder mit Argwohn betrachteten notorischen Hang gewinnt Kant ein „transzendentales Prinzip“ der Politik, das es erlaubt, nicht nur Recht und Politik, sondern auch Politik und Moral von innen heraus zu verknüpfen. Es kann gewiss nur zu Verzweiflung oder Gleichgültigkeit führen, wenn man der Politik von außen mit moralischen Forderungen kommt. Kant aber zeigt, dass man sie von innen her erreicht. Denn die Politik verlangt in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung von selbst nach Recht und Moral. Dazu bedarf es nur einer genaueren Betrachtung der von den Philosophen ebenfalls wenig geschätzten Rhetorik. In ihr kommt die Politik nicht umhin, eben jene Prämissen in Anspruch zu nehmen, ohne die wir weder das Recht noch die Moral begründen könnten. Diese auf Recht und Moral zulaufende Logik der Politik kommt aber nur zum Tragen, solange es eine freie Meinungsäußerung gibt und das Recht auf Kritik nicht eingeschränkt ist. Diese Bedingung der Politik ist aber nur durch Politik zu sichern. In dieser Selbstabsicherung liegt – theoretisch wie praktisch – das größte Problem der Politik. Kant hoffte, es könne der Menschheit schrittweise gelingen, diese Aufgabe politischer Selbstbestimmung durch die rechtliche Sicherung des inneren wie des äußeren Friedens zu bewältigen. Bei der allmählichen Lösung setzte er nicht nur auf die Eigenständigkeit der Individuen, auf garantierte Grundrechte, auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Repräsentation, 13

Vgl. v. Verf., Der Thronverzicht der Philosophie.

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Reform und auf ein sanktionsfähiges Völkerrecht; er wusste auch von der engen Verknüpfung zwischen Politik und Ökonomie. Unter Berufung auf den 1968 vielleicht antiquiert erscheinenden, heute aber schon längst wieder treffenden Begriff der „Natur“ hat er eingefordert, dass die Politik auch für das Wohlergehen und für das Glück der Menschen zu sorgen hat. IX. Zur inneren Verknüpfung von Politik und sozialer Reform Kants Theorie der Politik taugt daher nicht dazu, sich mit den realen Gegensätzen zwischen Freiheit und Gerechtigkeit oder zwischen Rechts- und Sozialstaat abzufinden. Durch ihre innere Verknüpfung von Politik und Reform enthält sie die Verpflichtung gerade zum Ausgleich ökonomischer, sozialer und juridischer Ansprüche, deren Dynamik Ende des 18. Jahrhunderts bereits erkennbar war. Und durch das nicht gegen die Geschichte entworfene, sondern vielmehr in sie überleitende und sie in allen Vollzügen tragende Naturfundament, das Kant seiner politischen Theorie sowohl in den Erläuterungen zu den Präliminar- und Definitivartikeln wie auch im ersten Zusatz „Von der Garantie des ewigen Friedens“ gibt, ist auch der Zusammenhang zu erschließen, in dem diese verschiedenen Ansprüche miteinander stehen. Und da man von den ökonomischen, technischen, wissenschaftlichen und sozialen Voraussetzungen der Staatsbildung weiß, kann sich auch niemand von der Verantwortung entbinden, alles Erforderliche zu ihrer Sicherung zu tun. Nach den Erfahrungen, die wir heute – keineswegs bloß unter dem Vorzeichen des „Sozialismus“ – mit ausschließlich staatlich zu garantierenden Vorleistungen gemacht haben, wird man es Kant gewiss nicht zum Vorwurf machen wollen, dass er dem Staat nicht alle Aufgaben der Lebenssicherung zugeschoben hat, sondern Raum für die Initiative der Bürger gelassen hat: „Hülflose Arme“, so heißt es in einer nachgelassenen Reflexion, „müssen ernährt und, wenn sie Kinder sind, gepflegt werden. Warum? weil wir Menschen und nicht Bestien sind. Dieses fließt nicht aus dem Rechte der Armen als Bürger sondern aus ihren Bedürfnissen als Menschen.“ Wer nicht weiterliest, könnte sein Vorurteil vom ordoliberalen Kant bestätigt sehen, der den Staat von allen sozialen Verpflichtungen freihalten möchte. Doch Kant fährt mit der Frage fort; „Wer soll sie ernähren?“ Und seine Antwort lautet: „Es ist nicht die Frage, ob der Staat oder der Bürger, Denn wenn sie der Staat ernährt, so ernährt sie auch der Bürger, sondern nur, ob es vom freyen Willen des Bürgers oder vom Zwange abhängen soll.“ 14 Es wird also nicht ausgeschlossen, dass der Staat soziale Pflichten übernimmt, sobald die tätige Nächstenliebe der Bürger versagt. Dies hat er, wie wir aus der Rechtslehre wissen, insbesondere dann zu tun, wenn die Rechtsfähigkeit des Staates gefährdet ist. Der Rechtsstaat hat notfalls immer 14

Kant, Reflexion, AA, Bd. 19, S. 578.

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auch Sozialstaat zu sein; Leben und Vernunft sind somit auch in den politischen Aufgaben verknüpft.15 X. Die rhetorische Berufung auf das Recht als bedeutende Argumentationsfigur des politischen Denkens Der größte Vorzug der in Kants Friedensschrift enthaltenen politischen Theorie liegt jedoch in ihrem unmittelbar praktischen Bezug. Sie ist keineswegs auf die Proklamation bloßer Verpflichtungen beschränkt. Ihre normativen Aussagen verleugnen ihren Bezug zu den natürlichen und geschichtlichen Voraussetzungen nicht, und ihr appellativer, durch rhetorischen Vortrag unterstützter Charakter lässt nicht daran zweifeln, dass hier ein aus dem menschlichen Selbstverständnis kommender Anspruch auf Realisierung besteht. Doch damit nicht genug: Dieser Anspruch ist selbst in Realitäten eingelassen, die erkennen lassen, welche Aussichten für die Verwirklichung bestehen.16 Ein schönes Beispiel dafür ergibt sich aus Kants Aufmerksamkeit für die öffentliche Anerkennung des Rechts gerade auch in jenen Lagen, in denen das handelnde Personal de facto gar kein rechtlich legitimierbares Interesse verfolgt. Das Beispiel führt zugleich die Wirksamkeit des wichtigsten Mediums zwischen politischer Einsicht und politischer Handlung vor, indem es auf die politische Meinung zielt, ohne die eine freiwillige Organisation menschlichen Tuns nicht möglich wäre. Dieses Medium ist die Rhetorik, die Kant in der Kritik der Urteilskraft zwar verworfen hat,17 die er aber bereits mit den ersten Sätzen der Friedensschrift praktisch rehabilitiert.18 15 Zum Problem der Sozialstaatlichkeit siehe meine Rezension zu: W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Dazu inzwischen Kersting, Kants vernunftrechtliche Staatskonzeption; ferner Luf, Freiheit und Gleichheit; Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung; Brakemeier, Die sittliche Aufhebung des Staates in Kants Philosophie. 16 Vgl. dazu v. Verf., Die republikanische Verfassung. 17 Die Betonung der Rhetorik erfolgt hier im Wissen von Kants scharfer Ablehnung der „Beredsamkeit“ in § 53 der Kritik der Urteilskraft. Sein Verdikt gilt der „Beredsamkeit“ (ars oratoria), die sich die Überredung der Zuhörer zum Ziel setzt und ihnen damit, wie Kant meint, die Freiheit nimmt. Ausgenommen ist die „bloße Wohlredenheit“, worunter „Eloquenz und Stil“ verstanden werden sollen. Da die Vorbemerkung zur Friedensschrift gewiss mehr bietet als Eloquenz und Stil, kann man Kant nur dadurch von einer Verurteilung durch ihn selbst ausnehmen, dass man auf die Adressaten achtet. In der Kritik der Urteilskraft hält er die Beredsamkeit „weder für die Gerichtsschranken, noch für die Kanzeln“ für angebracht; in der Friedensschrift spricht er jedoch zu den Staatsoberhäuptern. Doch auch dies bietet keinen Ausweg, weil er die Beredsamkeit für unangebracht hält, sobald es „um bürgerliche Gesetze, um das Recht einzelner Personen, oder um dauerhafte Belehrung und Bestimmung der Gemüther zur richtigen Kenntniß und gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflicht zu thun ist“ (Kritik der Urteilskraft, AA, Bd. 5, S. 327). Und genau darum geht es im Ewigen Frieden. Hier bleibt also ein Widerspruch, der freilich dadurch entschärft ist, dass Kants Abwertung auf eine zu seiner Zeit noch ausdrücklich gepflegte Vortragskunst gerichtet ist. Aus ihr nimmt er hier nur beiläufig ein Element, nämlich die captatio

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Man hat immer wieder auf die eigentümliche literarische Form des Friedensentwurfs verwiesen; aber man hat bis heute nicht erkannt, dass hier mit dem klassischen Mittel der Rhetorik der Versuch gemacht wird, die politische Theorie in politische Praxis zu überführen. Mein Beispiel bezieht sich nicht auf die durch und durch rhetorische Gesamtanlage der kleinen Schrift, ich entnehme es auch nicht dem rhetorisch unüberbietbaren Vorspruch,19 sondern der unter pazifistischen Erwartungen oft nur widerwillig zur Kenntnis genommenen Erörterung des Kriegsrechts im 2. Definitivartikel. Kant hat mehrfach auf die disziplinierende Wirkung des Kriegsrechts aufmerksam gemacht und (in der Rechtslehre) die Leistungen eines Rechts zum, im und nach dem Kriege systematisiert;20 darin eine rechtliche Sanktionierung des Krieges entdecken zu wollen, ist absurd. Es gibt dieses Recht nicht nur in den Lehrbüchern des Völkerrechts,21 sondern es bestimmt auch die praktische Politik – wenn nicht in den Taten, so doch wenigstens in den Reden! Und auf eben diesen Umstand: auf die zumindest rhetorische Reverenz, die dem Kriegsrecht in der Sprache der Politik erwiesen wird, stützt Kant sein zweites Argument für den Friedensbund. Während das erste auf die Folgen der politischen Not, in die sich Staaten gegenseitig versetzen, berechnet ist, setzt dieses zweite auf den bemerkenswerten Umstand, dass die Politiker selbst dann, wenn sie de facto auf alles Recht verzichten und ihre Erwartungen allein auf die Gewalt eines Krieges gründen, ein Recht in Anspruch nehmen. Offenkundig stehen selbst despotische Herrscher unter dem Druck, sich öffentlich zu legitimieren. Und diesem Zwang zur Rechtfertigung der eigenen Handlungen ist nicht durch beliebige, für glaubwürdig erachtete Gründe zu begegnen, sondern man braucht offenbar immer auch die Berufung auf ein Recht: „Diese Huldigung, die jeder Staat dem Rechtsbegriffe (wenigstens den Worten nach) leistet, beweist doch, daß eine noch größere, obzwar zur Zeit schlummernde, moralische Anlage im Menschen anzutreffen sei, über das böse Princip in ihm [. . .] doch einmal Meister zu werden und dies auch von andern zu hoffen; denn sonst würde das Wort Recht den Staaten, die sich einander befehden wollen, nie in den Mund kommen [. . .].“ 22 benevolentiae auf. Zur Rhetorik bei Kant siehe Ijsseling, Rhetorik und Philosophie, S. 123 ff. 18 Die praktische Anerkennung der Rhetorik durch Kant wird auch in neueren Arbeiten noch übersehen. So etwa in Bezzola, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. 19 Vgl. dazu Goetschel, Kant als Schriftsteller, 139 f. 20 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, §§ 55–58, AA, Bd. 6, S. 344 ff. 21 Hugo Grotius, Samuel Pufendorf und Emmerich Vattel werden im Ewigen Frieden namentlich erwähnt (vgl. AA, Bd. 8, S. 355) und – gewiss nicht zu Recht – „leidige Tröster“ genannt, weil sich die Staatsmänner oft nur zum Vorwand auf sie berufen. In der Rechtslehre nimmt Kant auf die Vorarbeiten der großen Völkerrechtslehrer durchaus positiv Bezug. Doch schon seine auf die abwertende Bemerkung in der Friedensschrift folgende Überlegung macht deutlich, dass Kant gerade auch die auf das Kriegsrecht bezogenen Lehren des ius gentium durchaus schätzt.

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Diese Ableitung künftiger Rechtsgeltung aus der Tatsache einer rhetorischen Berufung auf das Recht ist eine der bedeutendsten Argumentationsfiguren des politischen Denkens. Sie bestimmt den praktisch-politischen Diskurs vermutlich, seit die erste öffentlich-politische Rede gehalten worden ist; sie wird in den ältesten erhaltenen politischen Dokumenten genutzt und ist spätestens seit Isokrates und Demosthenes ein bewusster Bestandteil der politischen Rhetorik, doch nie zuvor ist aus dem Faktum rhetorischer Inanspruchnahme des Rechts ein solcher Schluss gezogen worden! Wohl nirgendwo sonst ist die öffentlich benötigte Legitimation politischen Handelns in so ausdrücklicher Weise in einen theoretisch-philosophischen Beweisgang eingeholt worden. Praktisch-politisch wurde sie immer schon genutzt, denn sie ist ein basales Element politischen Denkens überhaupt. Dafür spricht ihre Wertschätzung in der Antike; der neuzeitliche Humanismus hat sie bis weit in das 18. Jahrhundert hinein in Erinnerung gehalten. Aber ihre Beweiskraft, ihre Begründungsleistung für die Fähigkeit des Menschen, seinen eigenen Ansprüchen tatsächlich auch genügen zu können, blieb unbeachtet.23 Und solange wir hier nicht aufmerksam sind, wird die in der Rhetorik liegende politische und moralische Potenz nicht wirklich ernst genommen.24 Kant tut hier den ersten Schritt zu einer Umwertung: Erstmals nutzt er die Rhetorik des Rechts, genauer: ihre offenkundige Unverzichtbarkeit in der Politik als Beweis für eine Anlage zur Besserung der Verhältnisse. Dies allein macht den Entwurf Zum ewigen Frieden zu einem Ereignis in der politisch-philosophischen Literatur. Selbst wenn die Friedensschrift nichts anderes enthielte als dieses Argument, so verdiente sie deswegen einen hohen Rang neben den politischen Werken von Platon, Aristoteles, Machiavelli und Hobbes. Denn hier wird die Politik in ihrer eigenen Logik erfasst und mit dem Selbstanspruch des öffentlich handelnden Menschen verknüpft. Kant trägt also die Forderungen des Rechts – und damit auch die der Gerechtigkeit – nicht von außen an die Politik heran; er entnimmt sie vielmehr deren eigenem Kalkül. In der Selbstdarstellung der Politik entdeckt er den Punkt, an 22

Kant, Zum Ewigen Frieden, AA, Bd. 8, S. 355. Einen Schritt in diese Richtung geht die Hobbes-Untersuchung von Bohlender, Die Rhetorik des Politischen, und zwar dort, wo er auf die Maxime des „Read thy self“ aufmerksam macht, mit der Hobbes seinen Leviathan einleitet: „Den Leviathan lesen heißt somit zunächst, [. . .] in sich selbst lesen, wie aus den eigenen Leidenschaften, den Hoffnungen und der Furcht der Leviathan entsteht. Der Leser muss am Ende des Textes das Gefühl haben, selbst den Souverän und den Commonwealth erzeugt zu haben.“ (S. 137) Hier wird immerhin sichtbar, wie eng Rhetorik und Begründung verknüpft sein können. 24 Ich sage dies mit Blick auf die verdienstvollen neueren Versuche, an die Tradition der Rhetorik anzuschließen. Erwähnt sei hier nur Oesterreich, Fundamentalrhetorik; ders., Philosophen als politische Lehrer; Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. 23

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dem sie von sich aus Rechtsansprüche erhebt. Damit gibt sie zu erkennen, dass sie „von innen“, d. h. von ihrem Selbstverständnis her auf eine Rechtfertigung durch allgemeine Prinzipien angelegt ist. Die Politik muss also nicht erst dem Recht unterworfen werden; es bedarf keiner Domestikation der Politik durch die Moral. Man hat lediglich zu zeigen, dass die Politik, wenn sie die von ihr geäußerten Ziele tatsächlich erreichen und ihre Mittel konsequent nutzen will, aus eigener Dynamik einen rechtsförmigen Charakter annehmen muss. Allein die Unverzichtbarkeit der Rhetorik zeigt, dass die Politik auf die Selbstdarstellung im öffentlichen Raum angewiesen bleibt, ja sie ist die Selbstbewegung einer Gesellschaft unter Bedingungen der Publizität: Nur dadurch gelangt sie zu einem Verständnis ihrer selbst als einer tätigen Einheit, die sich – wenigstens formell – einem Gesamtwillen unterstellt. Da das Prinzip der Öffentlichkeit auf einer Wahrheitserwartung basiert, hat auch die Kritik eine besondere Funktion in ihr. Die auf Öffentlichkeit angewiesene Politik kann sich den Meinungen der sie tragenden Personen und Gruppen daher nicht entziehen und muss sich der Kritik immer auch im Medium der Meinung stellen. Folglich kann sie nicht so tun, als gehe die Wahrheit ihrer eigenen Äußerungen sie nichts an. Sie ist empfindlich für Widerspruch, kann also nicht einfach alles behaupten, was ihrem jeweiligen Machtinteresse dient. Vielmehr hat sie zumindest so zu tun, als komme es auch ihr auf den Erweis der Richtigkeit ihrer Aussagen an. Und dabei wird sie die Unterstellung nicht los, ihr Tun komme schließlich allen zugute.

XI. Politik ist Friedensstiftung nach innen und außen Die letzte Probe für die historische und systematische Reichweite der im Ewigen Frieden entworfenen Theorie der Politik liegt in der unscheinbaren Tatsache, dass hier der Frieden überhaupt zum zentralen Thema geworden ist. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als habe sich Kant nur beiläufig eines 1795 höchst populären Themas angenommen. Bei genauerem Zusehen aber zeigt sich, dass diese Offenheit gegenüber der damals weit verbreiteten Friedensstimmung nur ein weiteres Indiz für den realistischen Grundzug des kleinen Buches ist: Kant nimmt hier eine Meinung, die politisch immer gegeben sein muss, wenn etwas zu einer wirklich gegründeten politischen Realität werden soll, zum Ausgangspunkt und eröffnet damit der Theorie einen Zugang zur Praxis. Hinter der die politische Praxis tragenden Meinung lässt sich nun, sobald es um den Frieden geht, eine Theorietradition entdecken, die älter und gewichtiger nicht sein könnte: Es ist die klassische Tradition der Rechts- und Staatslehren – also nicht mehr und nicht weniger als die alteuropäische Überlieferung der Politischen Philosophie. Hier finden wir die Theorien über den Ursprung der politischen Organisation, deren Zweck von Anfang an darin besteht, für eine be-

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stimmte Menge von Menschen in einem territorial begrenzten Raum Frieden möglich zu machen. „Kämpfen muß das Volk für sein Gesetz wie für die Mauern seiner Stadt“, so heißt es bei Heraklit.25 Und wenn wir uns fragen, was denn Gesetz und Stadtmauer gewähren, so reicht es niemals aus, nur auf die Sicherheit zu verweisen: Das Gesetz gewährt die Sicherheit ja nur, solange es gilt; seine Geltung aber besteht in nichts anderem als darin, dass es befolgt wird; die Befolgung des Gesetzes ist Ausdruck einer einvernehmlichen Verständigung; diese Verständigung aber ist nur unter der Bedingung des Friedens möglich. Genauer: Sie ist Ausdruck und Kennzeichen des Friedens. Eine Staatsgründung ist somit nichts anderes als ein Friedensschluss. Sie muss als die Herstellung des Friedens in einer Stadt oder in einem Land vorgestellt werden, weil nur der Frieden im Inneren einer Gesellschaft ihre bewusste Sicherung ermöglicht. Diese bewusste Sicherung des Daseins aber ist das Ziel der Politik. Folglich gehört die Herstellung und Sicherung des Friedens zu ihren ursprünglichen Aufgaben. Die Gesetzgebung selbst ist der Ursprungsakt der Friedensstiftung. Der Vertrag, den wir uns als legitimierende Grundlage des Staates denken, bringt den Frieden: Pax et pactum convertuntur. Dieses hier in extremer Verdichtung vorgetragene Argument bestimmt die ältesten Dokumente der griechischen Poliskultur. Die von Solon durchgesetzte Verfassung beruht darauf ebenso wie die von ihm ausgeübte Schiedsfunktion, durch die er im Streit zwischen dem Adel und den verarmten Bauern für den Ausgleich und somit für inneren Frieden sorgen konnte. Auf diese Funktion des Schiedsrichters und Aussöhners spielt Platon an, wenn er die These, das wichtigste Ziel der Polis sei der Krieg, widerlegt: Der Schiedsrichter (diallaktes), so lässt er den überlegenen athenischen Gesprächspartner sagen, würde ebenso wie der Gesetzgeber (nomothetes) „gerade das Gegenteil von Krieg im Auge haben, wenn er seine Gesetze gibt“. Darauf vermag der Kreter, der den Dialog mit seiner Kriegszielthese eröffnet hatte, nur noch kleinlaut einzustimmen: „Das ist freilich wahr.“ 26 Gerade das Gegenteil von Krieg – eben das ist das originäre Ziel des politischen Handelns. Und wenn eine Polis nach außen Kriege führen muss, dann nicht zuletzt, um sie im Inneren fernzuhalten. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese Einsicht alle klassischen politischen Theorien von der Antike bis heute bestimmt.27 In der frühen Neuzeit 25

Die Fragmente der Vorsokratiker, B 44; vgl. dazu Demandt, Der Idealstaat, S. 31. Platon, Nomoi 628 a. Die Eröffnung durch den Kreter setzt mit der These ein, dass der Staat „um des Krieges willen“ existiere (ebd. 626 b/c u. 628 e). Nach der Widerlegung durch den weisen Gesprächspartner aus Athen lautet die Schlussfolgerung: „Das Beste ist aber nicht der Krieg und nicht der Bürgerzwist [. . .], sondern gegenseitiger Friede (eirene) und Freundschaft (philophrosyne).“ (ebd. 628 c) 27 Wenn Aristoteles den Zweck des Staates im „Zusammenleben“ (syzoe) der Menschen sieht, wird die friedliche Verständigung untereinander vorausgesetzt (Politik 1278 b 22); der alle verbindende gemeinsame Nutzen (koinon sympheron) bedarf der 26

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wird sie durch die Wirkungsgeschichte des Defensor pacis so sehr verstärkt,28 dass der Friede in den Staatstheorien von Hobbes, Locke und Rousseau ins Zentrum aller politischen Motive rückt.29 Damit verbinden sich freilich neue religiöse, moralische und ökonomische Impulse, die sich bis auf die konziliare Friedensbewegung des 15. und die humanistischen Friedensrufe des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen.30 Hinzu kommt die Theorie des Völkerrechts – ebenfalls im Konziliarismus des 15. Jahrhunderts geboren, im Spanien des frühen 16. Jahrhunderts entwickelt und eng mit der Ausweitung europäischer

friedlichen Absprache und der Absicherung durch eine Ordnung (taxis), die wesentlich in der Art besteht, in der sich die Bürger regieren (ebd. 1278 b 9–13). Es ist ausgeschlossen, dass dies durch den Krieg der Bürger gegen sich selbst geschieht. Alle politischen Anordnungen müssen daher um des Friedens willen getroffen werden – so lautet die schon von Platon vertretene These. Cicero, für den die Eintracht (concordia) der Bürger ohnehin im Zentrum steht, macht daraus bereits eine Priorität für die äußeren Angelegenheiten (De officiis I, 80: „Helium autem ita suspitiatur, ut nihil aliud nisi Pax quaesita videatur.“ [Einen Krieg nehme man nur in der Absicht auf, dass der Friede mit Nachdruck erstrebt wurde.]). Augustinus baut darauf seine Logik des politischen Wollens überhaupt: „Denn wie es niemanden gibt, der sich nicht freuen wollte, gibt es niemanden, der keinen Frieden haben will. [. . .] Friede ist demnach das erwünschte Ende des Krieges. Denn jedermann erstrebt durch Kriegführung Frieden, keiner durch Friedensschluß Krieg.“ (Der Gottesstaat, XIX, 12). 28 Der überaus moderne spätmittelalterliche Aristoteliker Marsilius von Padua fasst die Einsicht aus zwei Jahrtausenden politischer Theorie in eine knappe Formel, die ihre Gültigkeit bis heute bewahrt hat: Der Staat ist defensor pacis (vgl. v. Padua, Der Verteidiger des Friedens). Selbst noch das machiavellistische „maneggiare la guerra“ verbleibt in diesem Zusammenhang, weil es voraussetzt, dass man planvoll und entschlossen mit dem Krieg umgeht, um ihn in Grenzen zu halten. Am Ende des Principe wünscht sich Machiavelli für die Befreiung Italiens, Petrarca zitierend, einen „kurzen Kampf“ (combater corto) (Machiavelli, Il Principe/Der Fürst, S. 206 f.). Auch dies ist, so paradox es klingen mag, ein Plädoyer für den Frieden. 29 Ohne Bruch mit der älteren Tradition ist auch in der neuzeitlichen Staatstheorie die territoriale Friedensstiftung als zentrale Aufgabe der Politik gewahrt. Im Leviathan, dem Paradigma des modernen Staates, wird sie sogar als „generall rule of Reason“ allen anderen politiktheoretischen Erörterungen vorangestellt: „That every man, ought to endeavour Peace, as farre as he has hope of obtaining it.“ Daraus wird dann das erste Prinzip einer jeden Staatsorganisation: „the first, and Fundamentall Law of Nature; which is, to seek Peace, and follow it“ (Hobbes, Leviathan, Kap. 14; vgl. ders., The English Works, Bd. 3, S. 117). Diese dominierende Zielbestimmung bleibt auch bei den Gegnern des Leviathan erhalten. John Locke könnte nicht begründen, wie es zu jenem „einzigen politischen Körper“, zur „Übereinstimung der Mehrheit“ und dem „[A]usbalancieren“ der „Regierungsgewalt“ käme, wenn nicht durch einen Zustand des inneren Friedens (vgl. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Zweite Abh., § 95, S. 260; § 96, S. 260; § 107, S. 267). Folglich schließt er auch sein Resümee über die Ziele politischer Organisation und Regierung mit der Feststellung: „Und all dies darf zu keinem anderen Ziel führen als zum Frieden, zur Sicherheit und zum öffentlichen Wohl des Volkes.“ (Ebd., § 131, S. 281). 30 Gemeint sind die Friedensrufe des Erasmus von Rotterdam und des Sebastian Franck, des Herzogs von Sully und eines Émeric Crucé und später die Friedensbotschaften William Penns. Durch sie bekommt die politische Friedenserwartung eine moralische und religiöse Dimension, die durch das Christentum ihre Intensität und durch die Glaubensspaltung ihre politische Dringlichkeit erhalten hat.

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Ansprüche durch Kolonisierung und Missionierung verbunden –, die den Gedanken der juridischen Friedenssicherung durch Verträge auf das äußere Verhältnis der Staaten überträgt. Alles dies rechtfertigt die These, dass der Frieden der Grund, das Merkmal und die Norm des Politischen ist. Die Formulierung stammt bekanntlich von Dolf Sternberger,31 und man könnte den Eindruck haben, dass sie erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach zwei Weltkriegen und nach der bellizistischen Selbstzerrüttung der politischen Theorie durch Carl Schmitt möglich war. Der Sache nach aber trifft sie den Charakter des Politischen von den Anfängen her, und sie hat spätestens seit Kant auch ihren konsistenten theoretischen Ausdruck gefunden. Denn mit der kleinen Schrift von 1795 kann der Frieden als die innere Funktionsbedingung eines jeden politischen Willens gelten. Die Wahrung des inneren Friedens ist nämlich gleichbedeutend mit der Sicherung der politischen Handlungsfähigkeit. Nur dort, wo unter den Beteiligten Frieden herrscht, ist politische Selbstbestimmung möglich. Da sich die Selbstbestimmung von Gesellschaften (ebenso wie die der Personen) immer auch um die Sicherung ihrer eigenen Existenzgrundlagen zu bemühen hat, ist der Frieden nicht nur ihre Bedingung, sondern auch ihr Ziel. Als Ziel bleibt er jedoch eingebunden in die generelle Zwecksetzung der verständigen Verfügung einer „Gesellschaft von Menschen“ über sich selbst. Unter den modernen Lebensbedingungen führt nun die inzwischen zur bedrohlichen Tatsache gewordene globale Enge der Staatenwelt dazu, dass die Sicherung der politischen Handlungsfähigkeit nicht länger allein über die Regulierung der Konflikte in einem Staat erreicht werden kann. Hinzu kommt auch hier (wie auf allen Stufen der Politik) ein weiter gehender Anspruch der Individuen, der sich nunmehr menschheitlich ausprägt. Beides zusammen, die Bevölkerungsdichte und das Menschenrecht, nötigen die Träger des politischen Willens, endlich auch die äußeren Handlungskonditionen wie interne Bedingungen anzusehen. Wie ursprünglich die Individuen in einem Staat, so sind jetzt die Staaten aufeinander angewiesen. In Kants Entwurf wird dies an der Ausweitung des Welthandels und des internationalen Kreditverkehrs deutlich. Die Verflechtung der Mächte ist so dicht, und die sie durchdringenden gegenseitigen Rechtsansprüche sind so zahlreich, dass der Frieden nicht länger bloß als eine interne Bedingung des politischen Handelns angesehen werden kann: Er wird vielmehr zur Rahmenbedingung der Politik überhaupt. Da die Menschen und ihre Staaten gezwungen sind, ihre Handlungen im globalen Maßstab abzustimmen, bekommt auch der Frieden notwendig eine globale Dimension. Die künftige Politik, auch wenn sie weiterhin 31

Vgl. Sternberger, Begriff des Politischen, S. 305.

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von souveränen Staaten betrieben wird, kann gar nichts anderes als Weltinnenpolitik sein. Wohlgemerkt: Die Außenpolitik der Staaten hat sich auf den Bestand und die innere Verfassung der menschlichen Welt zu beziehen. XII. Friedenspolitik in der Staatenwelt „Außen“ und „innen“ sind damit auch politisch nur noch Relationsbegriffe, die eine funktionale Beziehung zum Ausdruck bringen. Gleichwohl werden sie nicht verzichtbar! Der Frieden ist nicht durch die Abschaffung der Einzelstaaten sicherer zu machen. Ein weltweiter Souveränitätsverzicht der Einzelstaaten, wie er Jürgen Habermas vorschwebt,32 würde zwar Kriege zwischen den bisherigen Völkerrechtssubjekten per definitionem unmöglich machen; er böte auch die Chance, ohne weiteren theoretischen Aufwand ein weltweites Gewaltmonopol zu konstruieren, unter dessen Bann sich eine globale Befriedung denken lässt.33 Doch über die bloße Idee, so scheint mir, kommt man auf diesem Weg nicht hinaus. Denn es ist nicht nur die Realität der historischen Staatenwelt, die Habermas’ nahe liegenden Vorschlag rasch an seine Grenze bringt; politische Realitäten können sich ja ändern – wie das immer noch hoffnungsvolle Beispiel Europas zeigt. Gravierender ist, dass der Vorschlag die Logik der Politik verfehlt. Das politische Denken hat – soweit die Überlieferung reicht – stets eine Vielfalt von Staaten vorausgesetzt; und nur mit Blick auf den dadurch (mindestens) virulenten Gegensatz zwischen den Staaten hat sie – in Theorie und Praxis – ihre Aufgabe bestimmt. Wir wüssten tatsächlich nicht, was Politik eigentlich heißt, wenn wir nicht die Konkurrenz verschiedener Staaten voraussetzen könnten. Selbst, als die Philosophen anfingen, ihr wesentlich auf den innerstaatlichen Interessenausgleich bezogenes Gerechtigkeitsmodell der Politik vorzutragen (ein Modell, von dem sich auch Habermas erklärtermaßen leiten lässt), haben sie stets den außerstaatlichen Gegensatz benötigt, um ihre Ideen begründen zu können. Bei Platon kommt es überhaupt erst mit der Notwendigkeit der Verteidigung gegen äußere Mächte zur korrespondierenden Notwendigkeit einer auch nach innen wirksamen gesamtstaatlichen Organisation. Erst mit der Etablierung des Standes der

32

Vgl. Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens. Mein im Folgenden skizzierter Einwand soll nicht in Abrede stellen, dass Habermas in beispielhafter Weise eine aktualisierende Lektüre Kants vorführt. Dabei kann er es in dem Bemühen, die Probleme der Gegenwart zu akzentuieren, zwar nicht vermeiden, das 18. Jahrhundert zu verharmlosen (so als hätte es damals nur säuberlich geführte Kabinettskriege und nicht auch Aufruhr, Bürgerkrieg und Übergriffe auf die Zivilbevölkerung gegeben); aber die politische Herausforderung durch die Weltlage am Ende des 20. Jahrhunderts wird eindringlich geschildert. Dies gilt insbesondere für die neue Dimension eines global operierenden Industrie- und Bankensystems. 33

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Wächter wird aus der „üppigen Polis“, die streng genommen nur ein „System der Bedürfnisse“ darstellt, eine staatsförmige, eine „politische“ Organisation.34 Zu dieser Einsicht hat sich auch Kant in seiner einzigen ausdrücklich politischen Schrift mit offenkundiger Mühe durchgerungen. In den Jahren vor dem Ewigen Frieden hatte er noch in der Nachfolge Rousseaus mit dem Gedanken einer „Weltrepublik“ gespielt.35 Sein konzentriertes Nachdenken über die realen Möglichkeiten des Friedens hat ihn dann aber zu der Erkenntnis gebracht, dass man den Krieg politisch nur im Rahmen eines föderativen Bundes eingrenzen kann. Gewiss ist das die – theoretisch wie praktisch – schwerere Aufgabe. Aber bei Licht besehen, ist es auch die einzig mögliche, die uns immerhin zu wissen erlaubt, wie sie überhaupt angegangen werden kann: Denn die alternative Konzeption eines Weltstaats hat die (Selbst-)Abschaffung eben der Akteure zur Voraussetzung, von deren Verlässlichkeit wir den Frieden, wenn überhaupt, einzig erwarten können. Dass sich auch Habermas schon bei den Andeutungen über mögliche erste Schritte in Widersprüche verwickelt, zeigt seine Forderung nach „gewaltfreien Interventionen“ 36. Hier wird der inzwischen zum Rechtsphilosophen gewandelte – und somit auch das Gewaltmonopol nicht länger in Frage stellende – einstige Theoretiker der „Herrschaftsfreiheit“ von seiner Vergangenheit eingeholt. Also müssen wir auch nach Prüfung des jüngsten Einwands dabei bleiben, dass alles, was bislang über die Unverzichtbarkeit des inneren Friedens gesagt worden ist, auch für das äußere Staatenverhältnis gilt. Damit sind die bestehenden Konflikte nicht geleugnet; es ist auch nicht verlangt, sie einfach stillzustellen; gefordert ist nur, sie anders als mit kriegerischen Mitteln zu bewältigen. Kants Schrift markiert also den Übergang von einer Politikkonzeption, die allein auf die internen Bedingungen eines Staates bezogen war, hin zu einem Politikverständnis, das die ökonomische, kulturelle und rechtliche Interdependenz der Staaten zu den Funktionsbedingungen eines jeden politischen Handelns rechnet. Jetzt ist die durch die Macht und Größe der Menschheit relativ klein gewordene Erde das Terrain, auf dem sich gemeinsam nur leben lässt, wenn dies in Frieden geschieht. Der Frieden ist heute eine so elementare Bedingung der Politik geworden, dass diese als ganze scheitern könnte, wenn es nicht gelingt, ihn zu sichern. Was jetzt dieser Bedingung widerspricht, ist nicht mehr einfach nur schlechte Politik, sondern ein Verbrechen.

34 35 36

Vgl. Platon, Politeia 373 d–375 e. Siehe dazu Brandt, Historisch-kritische Beobachtungen zu Kants Friedensschrift. Habermas, Kants Idee des Ewigen Friedens, S. 19.

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XIII. Beschluss Damit ist die kritische Politikkonzeption Immanuel Kants wenigstens im Umriss skizziert.37 Mir liegt zum Schluss an der Bemerkung, dass Kant alles andere als ein Harmonist oder ein verträumter Idealist gewesen ist. Er war gewiss auch kein Pazifist nach heutigem Sprachgebrauch. Seine kritische Theorie der Politik kommt ohne die Annahme aus, dass der Mensch gut, die Geschichte harmlos und das Leben ohne Tragik seien. Kant weiß auch, dass Kriege unvermeidlich sind, wenn es um die Verteidigung elementarer Rechte geht. Im Grunde liefert er nur eine Funktionsanalyse der Politik, in der sich die Selbstansprüche von Personen wechselseitig vermitteln. Eigentlich zeigt er nur – die widrigen Umstände des Lebens natürlich vorausgesetzt –, dass die Logik öffentlichen Handelns auf Konsensbildung selbstbewusster Individuen angelegt ist, die umso stärker beansprucht wird, je größer die gesellschaftlichen Gegensätze sind. Die Nüchternheit der funktionalen Analyse verträgt sich freilich gut mit der Anteilnahme an dem zugrunde liegenden Gegenstand: Das selbstbewusste Individuum ist an der Aufklärung seiner Verhältnisse interessiert; denn darin liegt eine Voraussetzung seiner eigenen Selbstständigkeit. Und so trägt das rationale Selbstinteresse die theoretische Untersuchung des Zusammenhangs, in dem es sich praktisch zu bewähren hat. Am Ende braucht Kant in Theorie und Praxis tatsächlich nicht mehr als die Ernsthaftigkeit der auf ihre vernünftige Selbstbestimmung setzenden Individuen, um darauf vertrauen zu können, dass sich eine auf das Selbstverständnis des Menschen gegründete und gleichwohl weltpolitische Einsicht durchsetzt: Dass nämlich der Friede, wenn er denn im Inneren der Staaten grundrechtlich gesichert wird, auch in ihrem äußeren Verhältnis auf Dauer gestellt werden kann. Auf nichts anderes hoffen wir, wenn wir Politik auch heute noch für möglich halten. Literatur Arendt, Hannah: Das Urteilen, München/Zürich 1985. Augustinus: Der Gottesstaat, übers. v. Wilhelm Thimme, München 1991. Bezzola, Tobia: Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik, Tübingen 1993. Bohlender, Matthias: Die Rhetorik des Politischen. Zur Kritik der politischen Theorie, Berlin 1995. Brakemeier, Heinz: Die sittliche Aufhebung des Staates in Kants Philosophie, Frankf. a. M./New York 1985.

37 Eine ausführliche Darstellung dieser Deutung der Friedensschrift findet sich in Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf Zum ewigen Frieden.

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Brandt, Reinhard: Das Erlaubnisgesetz oder Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, Berlin/New York 1982. – Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposion Wolfenbüttel, Berlin/New York 1982, S. 233–285. – Historisch-kritische Betrachtungen zu Kants Friedensschrift, in: Jahrbuch Politisches Denken 4 (1994), S. 75–102. Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs „Zum Ewigen Frieden“, Wien u. a. 1992. Cicero: De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, lat. u. dt., Stuttgart 1995. Demandt, Alexander: Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, Köln/Weimar/Wien 1993. Dietze, Anita/Dietze, Walter: Einleitung, in: dies. (Hg.): Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, Leipzig 1989, S. 7–58. Ebbinghaus, Julius: Das Kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers in seiner geschichtlichen und aktuellen Bedeutung (1964), wieder in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Hildesheim/Darmstadt 1968, S. 161–193. – Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage (1929), wieder in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Hildesheim/Darmstadt 1968, S. 24–57. Geismann, Georg: Kants Lehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), S. 363–388. Gerhardt, Volker: Rezension zu Kersting, Wolfgang, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin/New York 1984, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), S. 79–84. – Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Schönrich, Gerhard/Kato, Yasushi (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankf./M. 1996, S. 464–488. – Der Thronverzicht der Philosophie. Über den geheimen Zusatz in Kants Entwurf Zum ewigen Frieden, in: Höffe, Otfried (Hg.), Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein Kommentar, Berlin 1995, S. 171–193. – Die republikanische Verfassung. Zum Staatsentwurf Immanuel Kants, in: Tagungsband Philosophie und Revolution, Trier 1988, S. 24–48. – Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden‘. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995. – Vernunft und Urteilskraft. Politische Philosophie und Anthropologie im Anschluß an Immanuel Kant und Hannah Arendt, in: Thompson, Martyn P. (Hg.), John Locke und Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz, Berlin 1991, S. 316–333. Goetschel, Willi: Kant als Schriftsteller, Wien 1980. Habermas, Jürgen: Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem Abstand von 200 Jahren, in: Information Philosophie 23 (1995), Heft 5, S. 5–19.

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Henrich, Dieter: Über den Sinn vernünftigen Handelns im Staat, in: Kant - Gentz Rehberg. Über Theorie und Praxis, Einl. v. Dieter Henrich, Frankf./M. 1967, S. 7– 36. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Gemeinwesens, Neuwied/Berlin 1966. Höffe, Otfried: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik, Stuttgart 1988. – Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankf./M. 1979. – Kant, München 1983. Ijsseling, Samuel: Rhetorik und Philosophie. Eine historisch-systematische Einführung, Stuttgart/Bad Canstatt 1988. Kaulbach, Friedrich: Immanuel Kant, Berlin/New York 1969. – Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode, Würzburg 1982. Kersting, Wolfgang: Kann die Kritik der praktischen Vernunft populär sein? Über Kants Moralphilosophie und pragmatische Anthropologie, in: Studia Leibnitiana 15 (1993), S. 82–93. – Kants vernunftrechtliche Staatskonzeption, in: Prima Philosophia 1 (1988), S. 107– 130. – Neuere Interpretationen der Kantischen Rechtsphilosophie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), S. 282–298. – Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin/ New York 1984. Koller, Peter: Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987. Kühl, Kristian: Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, Freiburg/München 1984. Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankf./M. 1977. Luf, Gerhard: Freiheit und Gleichheit, Wien/New York 1978. Machiavelli: Il Principe/Der Fürst, ital./dt., hg. u. übers. v. Ph. Rippel, Stuttgart 1986. Niehues-Pröbsting, Heinrich: Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankf./M. 1987. Oesterreich, Peter L.: Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990. – Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs, Darmstadt 1994. von Padua, Marsilius: Der Verteidiger des Friedens, Leipzig 1958. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankf./M. 1975. Schlochauer, Hans-Jürgen: Die Idee des ewigen Friedens: ein Überblick über Entwicklung und Gestaltung des Friedenssicherungsgedankens auf der Grundlage der Quellenauswahl, Bonn 1953.

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Schwarz, Wolfgang: Principles of Lawful Politics, Aalen 1988. Sternberger, Dolf: Der Begriff des Politischen, in: ders., Schriften IV, Frankf./M. 1980, S. 293–310. Vollrath, Ernst: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987.

Vernunft aus Geschichte Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik Hegels „Historismus“, so heißt es in Ernst Cassirers letztem Buch, „ist das notwendige Korrelat zu seinem Rationalismus. Die beiden illustrieren und interpretieren einander.“ 1 Beide, so kann man ergänzen, schränken sich auch gegenseitig ein. Denn einerseits ist ein auf den Rationalismus angewiesener Historismus über die bloße Gegebenheit der Ereignisse und Epochen hinaus, auch wenn er an der Kontingenz der Ursprünge festhält; und andererseits kann ein den Historismus anerkennender Rationalismus den Anspruch auf eine reine Abstammung aus bloßen Begriffen fallen lassen, ohne deshalb schon auf vernünftige Begründung verzichten zu müssen. Auch bei wechselseitiger Mediatisierung von „Historismus“ und „Rationalismus“ behält es einen guten Sinn, mit Cassirer das eine als das notwendige Korrelat des anderen zu bezeichnen. Die Vernunft büßt von ihrer Allgemeinheit nichts ein, wenn sie Anlässe hat und Bedingungen braucht, die sie nur noch als eben diese Anlässe begreift. Und die Geschichte verliert nichts von ihrer Einzigartigkeit, wenn man sie im Licht rationaler Erwartungen interpretiert – im Gegenteil: das unausdeutbar Individuelle des historischen Geschehens wird überhaupt nur angesichts begrifflicher Ansprüche bewusst. So verstanden, kann man das auf Hegel gemünzte Wort auf Cassirer selbst anwenden. Sein systematisches Philosophieren entwickelt sich nur im Medium der Geschichte, vornehmlich der Geschichte der Philosophie. Für das, was er zu sagen hat, lässt er die Zeugen der Vergangenheit so zahlreich auftreten, dass darüber sein eigenes systematisches Interesse nicht selten in den Hintergrund gerät. Es liegt daher nahe, in ihm hauptsächlich einen Historiker des philosophischen Denkens zu sehen, und es bedarf erst der ausdrücklichen Interpretation, um den systematischen Ertrag seines Werkes kenntlich zu machen.2 Da Cassirer, im Unterschied zu Hegel, die Geschichte nicht zu einer bloßen Funktion der sich in ihr entfaltenden Vernunft erklärt und auch nicht, wie später 1 Cassirer, Der Mythus des Staates, S. 351 (im Folgenden zitiert als „MS“) – „Historismus“ ist in Cassirers Text apostrophiert; die Verwendung des Wortes deckt sich nicht völlig mit dem, was normalerweise als der Historismus des 19. Jahrhunderts verstanden wird. 2 Vgl. dazu die bemerkenswerte Studie von J. M. Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History.

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Habermas, der Versuchung erliegt, sein eigenes Denken als vorläufig letzte Konsequenz einer in sich schlüssigen Theorieentwicklung zu präsentieren, steht sein Werk tatsächlich in der Gefahr, von dem so nachdrücklich betonten Eigengewicht der Geschichte selbst mit hinabgezogen zu werden. Doch obgleich er sich mit offenkundiger Lust in die Vergangenheit versenkt und die Erschließung von Renaissance und Aufklärung zu eigenständigen Forschungsgebieten macht, obgleich er den historischen Verästelungen des Erkenntnisproblems folgt, der Beziehung von Determinismus und Indeterminismus bis weit in die Vergangenheit nachgeht, neben Philosophiegeschichte auch Wissenschafts- und Literaturgeschichte betreibt und dabei sogar Zeit hat, nach den gemeinsamen Wurzeln von Descartes und Corneille, Schiller und Kleist oder Carlyle und Gobineau zu fragen und in allem wieder und immer wieder auf Goethe zurückkommt, obgleich er sich also in unermüdlicher Ausdauer den überlieferten Gedanken hingibt, ist er in seiner wesentlichen Leistung kein Historiker der Philosophie. Er ist auch alles andere als einer jener modernen postmodernen Geschichtenerzähler, die Systematisches durch Narratives kompensieren und sich mit Pointen begnügen, wo philosophisch ein Argument gefordert wäre.3 Ernst Cassirer hat ein systematisches Anliegen, das sich erstmals eindrucksvoll in Substanzbegriff und Funktionsbegriff äußert, das auch in Individuum und Kosmos leitend ist und in der Philosophie der symbolischen Formen auf unübersehbare Weise hervortritt. Da er auch in diesen Werken weitgehend aus historischen Materialien schöpft, ist offenkundig, dass historisches und systematisches Denken für ihn keine Alternative darstellen; bei ihm sind tatsächlich Geschichtlichkeit und Vernünftigkeit notwendig aufeinander bezogen. Diese Notwendigkeit folgt zum einen aus dem Umstand, dass Geschichte nur als Historie, das heißt als begriffene, als in Begriffen gefasste Geschichte mitteilbare Bedeutung erlangt; was immer sie auch lehren mag, sie lehrt es nur, sofern wir sie auf Erwartungen beziehen, die auf Gründe Anspruch erheben. Damit ist Geschichte implizit auf Vernunft hin angelegt. Die Notwendigkeit folgt zum anderen daraus, dass Vernunft sich überhaupt nur an etwas für etwas zeigt. Sowohl auf der Subjekt- wie auch auf der Objektseite hat sie ihre unverzichtbaren Anlässe. Ihre generalisierende Leistung wird angesichts konkreter Probleme benötigt, über die sich Individuen gerade wegen der zwischen ihnen bestehenden konkreten Unterschiede allgemein verständigen müssen. Folglich findet jeder Vernunftgebrauch in geschichtlichen Situationen statt, und er bleibt auf historische Erfahrungen angewiesen. Im spekulativen Vernunftdenken, das glaubt, sich über alle Erfahrungen erheben zu können, liegt kein Gegenbeweis, 3 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont, dass narratives Philosophieren, insbesondere in einer anekdotischen und aphoristischen Form, überaus reizvoll und von hohem Wert sein kann. Fragwürdig wird es nur, sobald es sich als geschichtlich legitimierte Endgestalt der Philosophie präsentiert und zu suggerieren versucht, dass systematisches Philosophieren heute nicht mehr möglich sei.

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denn alle Spekulation setzt ein Verständnis der Vernunft voraus, das nur im Bezug auf konkrete Problemlagen gewonnen werden kann. Das Bewusstsein von der wechselseitigen Verflechtung von Vernunft und Geschichte prägt Cassirers Art des Philosophierens. Er treibt seine Einsichten stets aus dem historischen Material hervor; seine Argumente gewinnen Überzeugungskraft immer erst durch die in ihnen angeeignete Tradition; seine Geschichtsschreibung ist eine Vergegenwärtigung im Licht (oder Dunkel) eines neu anstehenden Problems. Wäre das Verfahren nicht durch seinen unhistorischen Gebrauch in Verruf gekommen, so könnte man, mit Paul Natorp, von „Rekonstruktion“ sprechen.4 Cassirer verwendet diesen Begriff auch ganz unbefangen, unterscheidet aber zwischen „ideal reconstruction“ als dem ersten Schritt zum historischen Wissen und „symbolic reconstruction“ als der Bedingung für das Verständnis der Geschichte überhaupt.5 Der Historiker rekonstruiert dabei nicht nur das Argument, sondern eben auch dessen historische Bedingungen und wird überdies fähig, das überlieferte Geschehen auf sich und seine Zeit zu beziehen. Erst dadurch werden die Dokumente und Monumente der Vergangenheit zu „lebendigen Botschaften, die [. . .] uns in ihrer Sprache anreden“ 6. Geht man nun, wie es sich für einen Philosophen gehört, von systematischen Problemstellungen aus, die, allein schon weil ihre Genese zur Geschichte gehört, nur im Rekurs auf historisches Wissen erörtert werden können, kommt es ganz von selbst zu dem für Cassirer eigentümlichen Ineinander von Rationalität und Historizität: Das systematische Denken wird ganz in seine Hermeneutik zurückgenommen, eine Hermeneutik, die allein der systematischen Frage dient. In den Worten Cassirers: „Die historische Erkenntnis ist die Antwort auf bestimmte Fragen (definite questions), eine Antwort, die von der Geschichte gegeben werden muss; aber die Fragen selbst werden von der Gegenwart gestellt und diktiert – von unseren gegenwärtigen geistigen Interessen und von unseren jetzt bestimmenden moralischen und sozialen Anliegen.“ 7 Da Cassirer die historischen Zeugen für sich sprechen lässt, scheint er sich auch als Denker ganz hinter seine Gewährsleute zurückzuziehen; er selbst – so könnte man meinen – gibt nur noch das Thema und die Methode vor; das Ergebnis scheint dann wie von selbst aus der Darstellung zu folgen. So wirkt das Ganze wie eine vom Autor unabhängige Selbstreproduktion der philosophischen Kultur. Doch eben darin liegt selbst ein Höhepunkt philosophischer Entwick4 Vgl. Natorp, Psychologie nach kritischer Methode (1888), S. 88 ff. Cassirer nimmt in der Philosophie der symbolischen Formen (im Folgenden zitiert als PSF) den Wortgebrauch Natorps auf; vgl. PSF, Bd. 3, S. 63 u. 236. 5 Vgl. Cassirer, An Essay on Man (im Folgenden nach eigener Übersetzung unter der Sigle EM zitiert), S. 174; vgl. auch ebd., S. 195. 6 EM, S. 177. 7 EM, S. 178.

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lung: der vollendete Ausdruck eines wissenschaftlichen Philosophierens, das den überlieferten Geist aus sich heraus zur Sprache bringt. Dazu bedarf es einer kritischen Sicherung der geschichtlichen Bestände, einer methodisch gestützten Vertrautheit mit der aktuellen Problemlage und einer überlegenen Urteilskraft. Cassirers Werk erscheint wie ein für die Gegenwart aufgerufenes Selbstzeugnis menschlicher Kultur; es ist eine durch und durch wissenschaftliche Aneignung der Humanität.8 Sein Denken widersteht den beiden extremen Versuchungen der Philosophie in der ersten Jahrhunderthälfte: dem reduktionistischen Hang zur Einheitswissenschaft auf der einen und dem expansionistischen Drang zur Universalisierung der Hermeneutik auf der anderen Seite. Cassirer verliert nämlich den menschlichen Ausgangspunkt der philosophischen Fragen nie aus dem Auge, und er kann auch nur so die Beziehung zwischen rationaler Problemlösung und historischer Überlieferung fassen. Nur wenn man berücksichtigt, dass Cassirer historisches und systematisches Denken in ihrer notwendigen Beziehung zum menschlichen Dasein zum Ausdruck zu bringen versucht, wird man in ihm den einzigartigen Repräsentanten einer philosophischen Kultur anerkennen können, die sich eben nicht bloß auf Bildung und Gelehrsamkeit stützt, sondern ihre Verbindlichkeit aus einem einheitlichen Problembezug gewinnt. Der Rückzug des Autors hinter sein Werk hat freilich mit postmodernistischen Hoffnungen auf ein Versiegen der Subjektivität nichts zu tun; hier verbindet sich lediglich der moderne Anspruch auf Objektivität mit dem klassischen Ideal des Gelehrten, dem das Gewicht seines Werkes erlaubt, auf gespreizte Selbstdarstellung zu verzichten. Dass Cassirers persönliches Auftreten alles andere als unauffällig war, ist vielfach bezeugt.9 Als Ernst Cassirer in den Vereinigten Staaten aufgefordert wurde, eine Zusammenfassung seiner Philosophie für die amerikanischen Leser, denen die Philosophie der symbolischen Formen noch nicht zugänglich war, zu schreiben, stellte er den darauf entstehenden Text unter den Titel An Essay on Man.10 Die Wahl dieses Titels gibt Aufschluss über den Grundgedanken in Cassirers Werk: Es steht in der Tradition des Humanismus und versucht auf unterschiedlichsten Wegen eine Antwort auf jene Frage zu finden, auf die nach Kant alle Philosophie zuläuft: „Was ist der Mensch?“ Man geht daher nicht zu weit, wenn man Cassirers Philosophie in ihrem systematischen Kern als eine philosophische Anthropologie bezeichnet. Damit ist keineswegs eine unter möglichen Disziplinen der Philosophie gemeint. Anthropologie im philosophischen Sinn kennzeichnet 8 Vgl. EM, S. 68 u. 222 ff.; das Werk über den Mythos des Staates ist als Ganzes vom Geist einer wissenschaftlichen Aneignung der gefährdeten Humanität getragen. 9 Vgl. dazu Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 110, 114 f., 175 ff., 218 u. passim. 10 Zur Vorgeschichte des Essay on Man vgl. ebenfalls den Bericht von Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 313 f.; siehe ferner: Gawronsky, Ernst Cassirer, S. 24.

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das ganze Gebiet der Philosophie von ihrem Ursprung her als begriffliche Selbstauslegung des Menschen. Zur Veranschaulichung dieses freilich sehr pauschalen Urteils könnte man die großen systematischen Konzeptionen Cassirers heranziehen. Wenn er zum Beispiel in seiner 1910 publizierten Untersuchung über Substanzbegriff und Funktionsbegriff das „tiefe und intime Wechselverhältnis“ zwischen dem Gegenstand und den Operationen des Denkens aufzuweisen versucht,11 dann geht er letztlich auf die „eigentümlichen Grundfunktionen“ des menschlichen Intellekts zurück, der durch seine funktionalen Ordnungen und Zuordnungen das überhaupt erst schafft, was Wirklichkeit oder Welt genannt werden kann.12 Was immer es auch ist, was man denkt: In jedem Fall ist es ein „Inbegriff von Beziehungen“, der selbst wiederum auf der „Tätigkeit des Denkens“ beruht. Der Funktionskreis des Denkens geht somit stets vom Menschen aus und kehrt schließlich zu ihm zurück. Ganz gleich, ob man sich auf empirische Gegenstände oder auf logische Begriffe bezieht, in jedem Fall wird eine „Bewegung des Denkens“ erfordert,13 die vom Medium menschlicher Selbsterfahrung, dem Begriff, nicht abzulösen ist. Von dieser frühen Einsicht weicht Cassirer auch in der Philosophie der symbolischen Formen nicht ab. Im Gegenteil: Die These von der funktionalen Stabilisierung der Erkenntnisleistungen wird nunmehr für den gesamten Bereich menschlicher Tätigkeiten demonstriert. Der Funktionskreis des Denkens wird ausdrücklich zum Element der umfassend verstandenen kulturellen Selbstbeziehung des Menschen. Wie stark der Autor sich in diesem zur kulturphilosophischen Totale vergrößerten Gesichtsfeld auf das Programm einer philosophischen Anthropologie verwiesen sieht, hat er im Rückblick auf sein Werk mit aller Deutlichkeit gesagt. Die Philosophie der symbolischen Formen, so heißt es im Essay on Man, gehe von einem funktionalen, nicht von einem substantialen Verständnis des Menschen aus. Sie habe damit an den menschlichen Tätigkeiten anzusetzen, wie sie sich in Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft oder Geschichte ausdifferenzieren: „Eine ,Philosophie des Menschen‘ wäre demnach eine Philosophie, die uns die Grundstrukturen dieser verschiedenen Erzeugnisse [human activities] der geistigen Kultur als ein organisches Ganzes klarzumachen hätte. Sprache, Kunst, Mythos und Religion sind keine isolierten, gegeneinander abgegrenzten Kulturformen. Sie werden von einem gemeinsamen Band zusammengehalten, das aber kein vinculum substantiale im Sinne der Scholastik, sondern ein vinculum functionale ist.“ 14

11 12 13 14

Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 417. Vgl. ebd., S. 431. Ebd., S. 421. EM, S. 68.

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Die Aufgabe der Philosophie liegt also nicht in der Darstellung und Analyse der einzelnen menschlichen Tätigkeiten [works], sondern sie erfüllt ihren Zweck erst in der „Synthese“ der kulturphilosophischen Einsichten, und die kann nur in der Rückbeziehung auf den Menschen gelingen, der als „animal symbolicum“ den unhinterschreitbaren generativen Ursprung aller symbolischen Leistungen darstellt. „Die philosophische Synthese [philosophic synthesis]“, so heißt es wenig später im Essay on Man, „sucht nicht eine Einheit der Wirkungen des menschlichen Handelns [action], sondern die Einheit dieses Handelns selbst; wir suchen keine Einheit der Kulturprodukte [unity of products], sondern eine Einheit des schöpferischen Kulturprozesses [creative process]. Wenn der Ausdruck ,Menschheit‘ [humanity] überhaupt einen Sinn hat, dann bedeutet er, dass trotz aller Unterschiede und Gegensätze, die zwischen den Kulturformen bestehen, diese Formen doch alle auf ein gemeinsames Ziel gerichtet sind. Im unausschöpfbaren Reichtum der mythischen Bilder z. B. entdeckt das philosophische Denken die Einheit einer geistigen Grundfunktion [unity of a general function], welche die verschiedenen Kulturgestaltungen zusammenhält. Mythos, Religion, Kunst und Sprache, ja sogar die Wissenschaft, werden von der Philosophie als Variationen eines gemeinsamen Themas erkannt, und es ist Aufgabe der Philosophie, dieses Thema vernehmbar und verständlich zu machen.“ 15

Damit ist der ganze Umkreis der Philosophie der symbolischen Formen abgesteckt, und es ist zugleich gesagt, dass ihre Aufgabe mit einer „philosophy of man“ zusammenfällt. Das ist keine auf bloße Anhaltspunkte gestützte Interpretation. Im Essay on Man heißt es ausdrücklich, dass die Philosophie der symbolischen Formen den Versuch darstelle, auf die Frage: „What is man?“ eine neue, nicht beim Wesen, sondern bei den Leistungen des Menschen ansetzende Antwort zu geben. Wenn es überhaupt eine Definition des Menschen gebe, dann könne sie nicht länger auf eine „Substanz“, sondern allein auf die menschlichen „Funktionen“ gegründet sein.16 Dem Anspruch nach ist Cassirers systematisches Philosophieren also eine Selbstexplikation menschlicher Leistungen. Der Mensch erfährt sich in seinen Äußerungen, und die Philosophie hat zu klären, inwieweit er sich darin auch konsequent versteht. Die Philosophie hat mit begrifflichen Mitteln die Einheit der kulturellen Leistungen vorzustellen, die dem Menschen jenes Weltverständnis geben, in dem er sich selbst begreift.

15

Vgl. EM, S. 70 f. Vgl. EM, S. 67 f. – Zu diesem Punkt wäre es interessant, Cassirers Ausführungen bei den Davoser Hochschulkursen 1928 zu kennen. Er sprach dort unter anderem über „Grundprobleme der philosophischen Anthropologie“ (Frankfurter Zeitung v. 22.4. 1928). Dabei scheint er sich kritisch von Heideggers Art der Anthropologisierung der Ontologie abgesetzt zu haben. In dem erhaltenen Protokoll der Disputation zwischen Cassirer und Heidegger wird Cassirers Intention einer funktionalen Herleitung metaphysischer Begriffe, wie zum Beispiel der Unendlichkeit, deutlich. Vgl. Anhang zu: Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 246 ff. 16

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Am deutlichsten kommt diese paradoxe Aufgabe der Philosophie in einer Bemerkung zum grundsätzlichen Charakter des historischen Wissens zum Ausdruck: „Geschichte“, so heißt es da, „besteht nicht in der Kenntnis äußerer Tatsachen und Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis.“ Nehmen wir hinzu, was bereits über das Verhältnis von Vernunft und Geschichte gesagt worden ist, haben wir zugleich ein klares Urteil über das, was auch die Philosophie letztlich ist: „a form of self-knowledge“. Das philosophische Wissen kommt also über einen „objektiven Anthropomorphismus“ nicht hinaus.17 Was aber bedeutet dieses einmal mehr auf Sokrates zurückgehende Selbstverständnis der Philosophie für die Analyse im Einzelnen? Wenn ich dieser Frage im Folgenden am Beispiel der Politischen Philosophie nachgehe, dann geschieht dies nicht allein, um eine Systemerwartung an einem speziellen Thema zu prüfen, sondern auch, um einen bisher von den Interpreten stiefmütterlich behandelten, vom späten Cassirer aber mit großem Nachdruck versehenen Problembereich ins Licht zu rücken.18 Dabei ist es weder nötig noch möglich, auf alle politisch-theoretischen Äußerungen einzugehen. Um nach dem anthropologischen Ansatz zu fragen, genügt die Prüfung des Zugangs. Dabei treten hinreichend interessante Punkte hervor, die Ernst Cassirer auch als einen Systematiker des politischen Denkens ins Blickfeld treten lassen. – Die nachfolgende Skizze erfüllte schon ihren Zweck, wenn sie eine Lücke in der bisherigen Cassirer-Interpretation erkennen ließe. Vielleicht gelingt es aber auch, der Politischen Philosophie der Gegenwart, die sich um den Beitrag der Philosophie der symbolischen Formen zum Verständnis der Politik so gut wie gar nicht gekümmert hat, ein schlechtes Gewissen zu machen. Von Platon sagt Cassirer, er sei ein politischer Denker „nicht durch Neigung, sondern aus Pflichtgefühl“ geworden.19 Ob diese Aussage für Platon wirklich gilt, darf man bezweifeln. Aber sie lässt sich treffend auf Cassirer selbst anwenden. Denn politische Fragen treten bei ihm erst spät in den philosophischen Horizont. Dabei ist es aufschlussreich, dass ihn der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch des Kaiserreiches intellektuell ebenso wenig zu berühren scheinen wie die wirtschaftlichen Verluste seiner Familie oder die ersten persönlichen Begegnungen mit dem Antisemitismus in den frühen 20er Jahren. Erst als er die Weimarer Republik gefährdet sieht, nicht zuletzt weil ihre Idee schweren Missverständnissen ausgesetzt ist, äußert er sich öffentlich in einem Festvortrag

17 EM, S. 191 u. 206, entsprechend S. 63 ff.; siehe dazu auch Orth, Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, S. 171; Krois, Cassirer, S. 73. 18 Außer den zum Teil ausführlichen Rezensionen von The Myth of the State von McCoy, Morgenthau, Sabine und Strauss gibt es nur den auf eine Dissertation von 1965 gestützten Aufsatz von Schrems, Ernst Cassirer and Political Thought. Vgl. auch die Bemerkungen von Noack, Ernst Cassirer, S. 454. 19 MS, S. 84.

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in der Hamburger Universität.20 Es ist dies zweifellos ein Akt der Pflicht, zu dem ihn sein wissenschaftliches Gewissen nötigt. Denn er weiß, dass die grassierende Kritik an dem angeblich undeutschen Gedanken der Republik historisch haltlos ist und überdies den großen Zielen der Menschheit: Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden entgegensteht. Da die deutschen Philosophen, sofern sie nicht – von rechts wie von links – in den Chor der republikfeindlichen Kritiker einstimmen, weitgehend schweigen, begreift es Ernst Cassirer als seine Pflicht, am Jahrestag der Unterzeichnung der Weimarer Verfassung für die Republik einzutreten. Dabei zeigt sich sogleich, dass Cassirer nicht allein als Historiker politischer Ideen sprechen kann, sondern sich als Mensch und Bürger zu äußern vermag, der mit der Erinnerung an die historischen Wurzeln der republikanischen Idee die humanen politischen Kräfte seiner Zeit ermutigen will. Und indem er dies tut, tritt die für ihn typische Verschränkung von Historizität und Rationalität mit Blick auf den Handlungsanspruch des Menschen hervor: „,Das Beste, was wir von der Geschichte haben‘, sagte Goethe, ,ist der Enthusiasmus, den sie erregt.‘ So soll auch die Versenkung in die Geschichte der Idee der republikanischen Verfassung nicht lediglich rückwärts gewandt sein, sondern sie soll in uns den Glauben und die Zuversicht stärken, daß die Kräfte, aus denen sie ursprünglich erwachsen ist, ihr auch den Weg in die Zukunft weisen und daß sie an ihrem Teile mithelfen werden, diese Zukunft heraufzuführen.“ 21

Blickt man nur auf die Titel seiner Vorträge, Aufsätze und Bücher, so könnte man den Eindruck gewinnen, Cassirer habe sich nach seiner Hamburger Rede erst wieder in Der Mythus des Staates mit politischen Problemen auseinandergesetzt. Tatsächlich aber gibt es, wie jetzt erst wieder John Michael Krois bewusst gemacht hat,22 zahlreiche Äußerungen zu den elementaren Fragen von Recht, Staat und politischem Handeln in den Schriften der dreißiger und vierziger Jahre. Seine nach 1933 immer deutlicher werdende Hinwendung zu Fragen der Praktischen Philosophie bezieht auch die Politik mit ein. Es ist hier nicht der Ort, das im Detail zu dokumentieren. Wichtig ist allerdings die Anmerkung, dass in dem zunehmenden Interesse an den Problemen von Ethik und Politik keine Abkehr von der Kulturphilosophie der symbolischen Formen zum Ausdruck kommt.

20 Vgl. Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung. Zur politischen Absicht der Rede vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 175 f.; die Ehefrau berichtet auch von einem Besuch in Paris im Jahre 1910, bei dem es ihrem Mann gelang, am Beispiel der historischen Plätze (Place de la Bastille, Place de la Revolution etc.) das Geschehen in den Revolutionsjahren lebendig werden zu lassen (vgl. ebd., S. 106). Über die Geschichte hatte Cassirer also schon früh Zugang zur Politik. – Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf die Eröffnungsrede des Präsidenten der Hamburger Universität Peter Fischer-Appelt auf der Tagung „Symbolische Formen“ 1974 in Hamburg (vgl. Fischer-Appelt, Zum Gedenken an Ernst Cassirer). 21 Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, S. 31. 22 Vgl. Krois, Cassirer, S. 142 ff. So auch schon Gawronsky, Ernst Cassirer, S. 24.

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Bereits in seiner ersten Einlassung auf die Politik, in der Eröffnung des Hamburger Vortrags, betont Cassirer die „lebendige Wechselwirkung zwischen der Welt des Gedankens und der Welt der Tat, zwischen dem Aufbau der Ideen und dem Aufbau der staatlichen und der sozialen Wirklichkeit“ 23. In der Folge versucht er, trotz eines Widerspruchs in der Sache Heines kühnes Wort von der Welt als der „Signatur des Wortes“ zu rechtfertigen,24 und am Ende führt er am Beispiel Kants und Goethes zwei paradigmatische Formen eines symbolischen Verstehens von Politik vor Augen, die keinen Zweifel daran lassen, dass sich Ernst Cassirer auch als politischer Denker nach wie vor im Gedankenkreis seiner Philosophie der symbolischen Formen bewegt. Fragen wir also, welche Einsichten sich dabei für den Begriff der Politik ergeben. Meine Antwort möchte ich in zehn Punkten zusammenfassen. Der erste Punkt besteht in der keineswegs trivialen Feststellung, dass alle Politik von Naturbedingungen abhängt. Sowohl in ihren institutionellen Aufbauten wie auch in ihren internen Verständigungsleistungen ist Politik an Naturprozesse gebunden. Sie hat sich überdies auch als ganze in einen organischen Zusammenhang zu fügen. Denn: „Menschliches Leben ist ein Organismus, in dem alle Elemente sich wechselseitig voraussetzen und erklären.“ 25 Dass physische Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Mensch überhaupt politisch handeln kann, wird zwar oft vergessen, ist aber ein unbestreitbarer Tatbestand, ohne den man auch die alles andere überbietenden politischen Ansprüche nicht versteht. Die Kennzeichnung des Menschen als zoon politikon hält gerade dies im Bewusstsein, dass er ein Lebewesen ist und somit in den Kreislauf der Natur gehört. Wem diese Feststellung gleichwohl trivial erscheint, der mag nur an ihre politischen Folgerungen denken, die Cassirer nachdrücklich betont: Die Politik ist und bleibt eine Sphäre des Konflikts und des Kampfs, in ihr wird es immer wieder Feindschaften geben und folglich wird sie stets auf Machtmittel angewiesen sein. In alledem äußert sich Natur, auf die das politische Handeln – zumindest reaktiv – stets bezogen bleibt. Welches Pathos Cassirer in die Naturverbundenheit des Menschen legen kann, zeigt sich in der sein ganzes Schaffen begleitenden Berufung auf Goethe. Aber er hat dem Naturfundament menschlicher Leistungen auch wissenschaftlich vielfältig Beachtung geschenkt: Phylogenese und Ontogenese des Menschen sind stets in seinem Blick, der Vergleich mit den tierischen Verhaltensweisen wird immer wieder gesucht, und vor allem dort, wo aus Abnormitäten 23

Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, S. 5. Ebd., S. 10. Cassirer zitiert Heinrich Heine aus Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland: „Der Mensch, wie der Gott der Bibel, braucht nur seinen Gedanken auszusprechen, und es gestaltet sich die Welt, es wird Licht oder es wird Finsternis, die Wasser sondern sich von dem Festland, oder gar wilde Bestien kommen zum Vorschein. Die Welt ist die Signatur des Wortes.“ (Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 240) 25 EM, S. 178. 24

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und besonderen Krankheitsbildern, wie zum Beispiel der Aphasie, Schlüsse gezogen werden26, zeigt sich eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Lebensvorgängen, deren Teil der Mensch nicht nur als sprechendes, mythenbildendes und erkennendes, sondern eben auch als politisches Wesen ist und bleibt. Damit wird die Politik keineswegs konservativ auf vorgegebene Bestände festgeschrieben, betont ist lediglich, dass sie nicht gegen Naturgesetze verstoßen kann und zu den elementaren Prozessen des menschlichen Daseins gehört, also mit der Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Menschen zu rechnen hat. Die Akzentuierung des Naturfundaments hält aber auch die Erinnerung daran wach, dass Politik, wie alles im Leben, unter Zufällen steht und Glück eine Kategorie bleibt, von der Politik nicht zu trennen ist. Wenn es heißt, „in der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden“, dann rückt allein die Metaphorik eine aufdringliche Eigenschaft der Natur dramatisch in den Blick.27 Dem Glück hat Cassirer einen eigenen Abschnitt in seiner Betrachtung über Machiavelli gewidmet. Er sieht eine der großen Leistungen des Florentiners darin, dass es ihm gelingt, das Glück geschichtsphilosophisch zu integrieren.28 Das Unverfügbare wird somit ein Element theoretischer Verfügung. Die Theorie der Politik versucht daher im Ansatz, was es streng genommen gar nicht geben kann, nämlich eine „Wissenschaft vom Glück“ zu sein. – Hier wird ein Blick in den Abgrund geworfen, den jede politische Wissenschaft zu überbrücken versucht. Cassirer zufolge unternimmt Machiavelli seinen den Abgrund des Zufalls überschreitenden Versuch mit Hilfe einer „Säkularisierung der Symbole des Glücks“, die es ihm erlaubt, den Herrschaftsbereich der Fortuna zu halbieren und die andere Hälfte der menschlichen Tüchtigkeit zu unterstellen. Die Herrschaft politischen Wissens ist damit empfindlich begrenzt. Und wenn wir uns klarmachen, was einerseits diese Grenzen bestimmt und was andererseits Gegenstand dieses begrenzten Wissens sein kann, bekommen wir eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung der Natur für die Politik. Der allgemeine Hinweis auf die Naturbedingtheit ist weniger missverständlich, wenn man an zweiter Stelle auf die Geschichtlichkeit ihrer jeweiligen Ausgangslagen verweist. Das politische Handeln basiert in seinen Formen und Zielen ganz und gar auf historischen Voraussetzungen. Das Verstehen politischer Prozesse schließt so eng an die geschichtliche Erfahrung an, dass Cassirer im Essay on Man die Politik fast gänzlich in Geschichte aufgehen lässt. Die politische Welt ist eine gewordene und werdende Welt. Der in jeder politischen Rede zum Vokabular gehörende Rekurs auf gemeinsame Herkunft, verwandte Erfah26 Vgl. unter anderem PSF, Bd. 3, S. 303 ff.; zu dem ganzen hier nur angedeuteten Zusammenhang sind vor allem die beiden Arbeiten über Die Begriffsform im mythischen Denken (1922) und Sprache und Mythos (1925) zu nennen. Beide Texte sind vereint in: Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. 27 Vgl. MS, S. 364. 28 Vgl. MS, S. 208.

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rungen und gleiche Ziele lässt erkennen, wie stark auch das aktuelle politische Geschehen auf die Deutung des Vergangenen angewiesen ist. Schließlich besteht jede politische Zielsetzung aus einer Projektion historischer Erfahrung in den offenen Raum der Zukunft. Doch die Geschichte führt nicht nur material und formal an den gegenwärtigen Zeitpunkt heran, von dem aus dann politisch gehandelt werden muss. Sie ist für Cassirer auch die Instanz, deren Lehren im Sinne vernünftiger Politik begriffen und befolgt werden müssen; richtig verstanden klärt sie über die „Wirklichkeit“ des menschlichen Daseins auf und bietet so das Korrektiv für die normativ fordernde menschliche Vernunft. Man lese nur, wieviel Verständnis Cassirer für Hegels Kritik der Französischen Revolution aufbringt, und man erkennt, dass auch für ihn die Einsicht gilt: „Die wirkliche Welt ist eine historische Welt.“ 29 Dass er sich mit dieser Erkenntnis nicht in Opposition zu Kant bringen lässt, macht seinen Ansatz noch für das ausgehende 20. Jahrhundert interessant. Die Geschichte bleibt für ihn das Element der Vernunft – sogar noch unter dem Eindruck der schrecklichen nazistischen Verbrechen, zu deren Opfern er selbst gehört. Cassirers Urteil über den Faschismus und dessen Vorläufer ist auch ein persönliches Exempel seiner überlegenen geistigen Größe. Und wenn wir dieses Urteil richtig verstehen, so gewinnt es seine Kraft nicht aus einer sich absolut erhebenden Vernunft, sondern aus dem Vertrauen auf die herstellende Macht der Geschichte. Dazu bedarf es weder eines dialektischen Schemas noch eines Glaubens an ein letztes Ziel alles Geschehens; es genügt der distanzierte Blick und ein Wissen von den realen historischen Kräften, die auf den menschlichen Geist ebenso angewiesen sind wie dieser auf sie. Auch in dieser Haltung steht Cassirer seinem Mentor Goethe nicht fern. Es kann daher nicht wundern, dass sein politisches Urteil über Hitlers Terrorregime manche Parallele zu den Äußerungen Thomas Manns aufweist, der sich im Exil Goethe wohl stärker annähert als je zuvor. Im Blickwinkel der Geschichte zeigt sich sogar das Naturverhältnis des Menschen als Teil seiner sozialen Natur. Als Mensch lebt er nur in gesellschaftlichen Beziehungen. Das ist der heute als selbstverständlich geltende dritte Punkt. Er steht nicht im Widerspruch zu den ersten beiden Kennzeichen, denn alles, was für das animal symbolicum als wesentlich gilt, wächst ihm nicht erst in Gesellschaft zu, sondern hat nur unter gesellschaftlichen Bedingungen Sinn. Die Tatsache der Sozialität und die Aufgabe der Politik werden, wie sich noch zeigen wird, von Cassirer deutlich unterschieden. Bemerkenswert ist es deshalb, wie sehr er die politischen Akteure auf die genaue Kenntnis der sozialen Welt zu verpflichten sucht. In Anlehnung an Bacons Maxime natura non vincitur nisi parendo formuliert er seinen Grundsatz für die Steuerung des ge29

MS, S. 354.

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sellschaftlichen Geschehens: „Wir müssen lernen, den Gesetzen der sozialen Welt zu gehorchen, ehe wir es unternehmen, diese Welt zu beherrschen.“ 30 Es ist dies eine durch und durch praktische Empfehlung – sowohl im Blick auf die Voraussetzungen wie auch in Erwartung der Konsequenz. Sie soll vermeiden helfen, dass die Politik „hohe und stolze Gebäude“ errichtet, ohne deren Fundamente sicher zu machen.31 Damit ist aber auch eine Forderung für die politische Theorie erhoben: Cassirer besteht auf der Einbeziehung des soziologischen Wissens in seiner ganzen Breite, einschließlich – das darf man unterstellen – der Sozialpsychologie und Ökonomie.32 Das theoretische Fundament der Politischen Wissenschaft liegt somit in einer sich gegen Natur und Geschichte nicht abschließenden Theorie der Gesellschaft. Trotz dieser engen Verknüpfung von Gesellschaft und Politik dürfte Ernst Cassirer gezögert haben, hätte man ihn vor die Frage gestellt, ob die Politische Wissenschaft zu den Sozialwissenschaften gehören soll. Zu deutlich ist nämlich die Zugehörigkeit der Politik zur Sphäre der menschlichen Kultur. Auch wenn Cassirer keinen Wert auf eine verbindliche Grenzbestimmung zwischen den Disziplinen legt, dürfte er doch dazu geneigt haben, die Politik zu den Gegenständen der „Kulturwissenschaften“ zu rechnen.33 Denn offenkundig ist, dass er die Politik, insbesondere den Staat, zu den großen kulturellen Leistungen des Menschen zählt. Damit ist der vierte Punkt genannt: Die Politik ist wesentlicher Bestandteil menschlicher Kultur und somit sowohl Ausdruck wie auch Ursprung der Symbole schaffenden Kraft des Menschen. „In der Geschichte der Menschheit“, so heißt es im Essay on Man, „ist der Staat in seiner heutigen Form ein spätes Produkt des Zivilisationsprozesses.“ 34 Längst vor dem historischen Auftritt des Staates entstehen in Sprache, Mythos, Religion und Kunst primäre Organisationsformen der Symbolproduktion. Sie geben erst, wie es heißt, die „Basis“ der politischen Institutionen her. Angesichts dieser breiten Basis ergibt sich freilich die – im Zeitalter des Nationalstaats und des Totalitarismus nur zu leicht beiseite geschobene – Einsicht, dass der Staat nicht alles ist.35 Doch eben diese Einsicht lässt andererseits keinen Zweifel daran, dass bereits der Staat zu den viele Einzelleistungen überwölbenden Kulturgütern gehört. So wenig er in dieser Stellung die Religion, Kunst oder Wissenschaft verdrängen kann, so sehr gehört er doch mindestens an ihre 30

MS, S. 387. Vgl. MS, S. 386. 32 Vgl. Cassirer, Form und Technik (1930), S. 88; der Bezug zu ökonomischen Fragen wird insbesondere in Cassirers Aufnahme von Überlegungen Walter Rathenaus (vgl. ebd., S. 87 ff.) deutlich. 33 Vgl. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften; vgl. dazu: Orth, Zur Konzeption der symbolischen Formen, S. 169. 34 EM, 63. 35 Vgl. ebd. – Vgl. dazu v. Verf., Metaphysik und Politik, in diesem Band, S. 19–42. 31

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Seite. Der Staat ist ein im Gang der menschlichen Geschichte unentbehrlich gewordener Realisierungsbereich menschlicher Produktivität, und insofern steht er, so schwer dieses Urteil angesichts des faktischen politischen Geschehens auch fällt, ebenbürtig neben Religion, Kunst und Wissenschaft. Wollte man die symbolischen Leistungen auf dem Feld der Politik näher fassen, so hätte man wohl primär auf die Stiftung einer Ordnung zu achten. Auch hier liegt das Fundament in der „Beziehung“, also in der spezifischen Organisation von Relationen, die Abgrenzungen nach außen ermöglichen und einen Zusammenhang im Inneren schaffen.36 Durch Benennung und faktische Abwehr des Fremden, durch Auszeichnung des eigenen Lebensbereichs und durch Verständigung über die hoch symbolische Präsenz eines gemeinsamen Willens entsteht allererst der politische Raum, der mit dem „mythischen Raum“ einige Strukturmerkmale gemeinsam haben dürfte. Wenn Cassirer „Heiligkeit oder Unheiligkeit, Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit, Segen oder Fluch, Vertrautheit oder Fremdheit, Glücksverheißung oder drohende Gefahr“ als die Kennzeichen des „mythischen Raums“ aufführt37, dann braucht man die politische Konnotation der Relationsbegriffe gar nicht mehr eigens zu benennen. Die Politik prägt diese Gegensatzpaare freilich in bewussten Handlungszielen aus und macht die Ordnung – nach Maßgabe explizit formulierter Gesetze und garantiert durch herrschaftliche Macht – zum ausdrücklichen Zweck der Gemeinschaft. Dabei löst sich zum Beispiel das Recht aus der Umklammerung des mythischen Denkens38 und übernimmt selbständige Funktionen bei der Steuerung der Gesellschaft, die damit schon früh zum Gegenstand technischer Leistungen wird. Politik, das darf nicht vergessen werden, ist von Anfang an eine „Kunst“, „die Kunst, menschliche Handlungen zur Einheit zu bringen und sie zu einem gemeinsamen Ziel zu lenken“ 39. Es wäre reizvoll, der Beziehung zwischen Technik und Politik nachzugehen, nicht nur weil beide in eminenter Weise zur Kultur gehören. Technik nämlich „schafft, noch vor der wahrhaft freien Willensgemeinschaft, eine Art Schicksalsgemeinschaft zwischen all denen, die an ihrem Werke tätig sind“ 40. Sie führt damit direkt in die bewusste Organisation sozialer Körper hinein und lässt die Sachgesetzlichkeit menschlicher Gemeinschaften entstehen – ein Vorgang, der schon durch die Frühgeschichte des politischen Denkens in den großen Flusskulturen am Nil und in Mesopotamien belegt ist und der sich auch heute zum Beispiel in der Artikulation politischer Interessen aus gleichen Arbeitsbedingungen heraus bestätigt. Politisch werden die aus technischen Erfordernissen entstandenen Organisationen dann durch die praktisch behauptete Selbständigkeit 36 37 38 39 40

Vgl. Cassirer, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931), S. 97. Vgl. ebd., S. 103. Vgl. PSF, Bd. 2, S. 138 ff.; Sprache und Mythos, S. 112 ff. MS, S. 103. Cassirer, Form und Technik, S. 89.

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ihrer Glieder, seien es einzelne Gruppen oder Personen. Cassirer hat diesen Übergang selbst nicht dargestellt, aber er ließe sich aus seinen Studien zur Technik und aus den Bemerkungen über die Rolle der Person im sozialen Zusammenhang rekonstruieren, vor allem wenn man seine Überlegungen über die Herausbildung des Selbstgefühls aus dem „mythischen Einheits- und Lebensgefühl“ 41 als Folie zugrunde legt. Mit dem Hinweis auf die Strukturanalogie zwischen mythischem und politischem Bewusstsein ist der fünfte Punkt bereits erwähnt: Der Mythos ist und bleibt so sehr der Untergrund der Politik, dass sie stets Gefahr läuft, ganz auf ihn hinabgezogen zu werden. Dies ist es vor allem, was Cassirer aus der jüngeren politischen Geschichte lernt. Der Mythos ist durch das rationale Kalkül des modernen Staates nicht endgültig besiegt. Irrationale Erwartungen, die bei Einzelnen, wenn nicht zu korrigieren, so doch immerhin zu isolieren sind, finden in der diffusen Atmosphäre eines kollektiven Subjekts umso leichter Nahrung, je schwächer die gegenhaltenden rationalen Kräfte sind. Wo die kontrollierende und organisierende Macht der Vernunft nachlässt, da machen sich heroische oder tragische Attitüden, biologische, soziologische oder religiöse Überlegenheits- oder epochale Verzweiflungsphantasien breit und gewinnen politisch rasch an Boden. Cassirer untersucht an den Beispielen Carlyles, Gobineaus und Spenglers einige jener neuen Mythen, die zur Vorgeschichte des totalen Staates gehören. Man versteht die Anfälligkeit des politischen Systems für weltanschauliche Ideologeme aber nur, wenn man den weitreichenden Ordnungsbedarf der politischen Welt mit in Rechnung stellt. Die nicht nur von Platon zum methodischen Grundsatz erhobene Erwartung, in der Polis sowohl ein Paradigma des einzelnen Menschen wie auch ein Modell der kosmischen Ordnung auszumachen, ist mit der Politik ursprünglich verbunden.42 Durch Politik schaffen sich die Menschen das, was sie von Natur aus nicht mehr haben: die ursprünglich nur ihnen gehörende gemeinsame Welt. Eben deshalb wird sie auch zum Projektionsraum für die größten Hoffnungen. Der Preis ist jedoch ihre hohe Anfälligkeit für Weltanschauungen aller Art – auch für den Größenwahn des Menschen. Die idola fori, die Verblendungen der öffentlichen Meinung, sind von allen menschlichen Götzen „die gefährlichsten und dauerhaftesten“ 43. Schließlich bilden sie nicht nur den Grund des gemeinschaftlichen Willens, sondern illuminieren auch den Horizont der politischen Ideen. Wenn das politische Subjekt sein Vertrauen in die Vernunft verliert, kann jederzeit auch der Mythos wieder ins Zentrum rücken. 41

PSF, Bd. 2, S. 209 ff.; vgl. Sprache und Mythos, S. 112 ff. Vgl. MS, S. 103; vgl. dazu v. Verf., Politische Subjekte. Zur Stellung des Subjekts in der Politik, S. 206. 43 MS, S. 385. 42

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Es gehört zu den desillusionierenden Erfahrungen Cassirers, dass es dem Mythos im 20. Jahrhundert gelang, sowohl die Wissenschaft wie auch die modernsten Techniken in Dienst zu nehmen. Das Bündnis der szientifischen und der technischen Rationalität mit der eigentlich von ihr längst überwundenen mythischen Objektivation von Gefühlen entspringt einer ebenso gefährlichen wie kränkenden Regression des menschlichen Geistes. Denn die im Dienst des Mythos stehende Vernunft entmündigt sich selbst. Dagegen setzt Cassirer das durch die Erfahrung nicht gebrochene Pathos des Aufklärers. Er appelliert an die besten menschlichen Kräfte, die „Finsternis des Mythos“ zu vertreiben.44 Dies ist sein Vermächtnis. Es steht im Schlussabschnitt seines letzten, im Frühjahr 1945 vollendeten Buches, in dem er sich Rechenschaft über die Gründe für die ewige Wiederkehr des Mythos gegeben hatte. Mindestens dies gibt seinem Appell an die Vernunft ein neues Gewicht. Der sechste Punkt braucht nach dem bisher Gesagten nur kurz erwähnt zu werden, obgleich er systematisch von größtem Wert ist und wohl auch die weiteste Perspektive eröffnet: Gemeint ist die implizite Rationalität politischer Organisation. Politik ist in Zielsetzung und Vollzug wesentlich auf die Vernunft gegründet. Und wenn Cassirer generell davon spricht, dass der Geist des Menschen „immer auf rationale Weise“ arbeitet45, dann gilt das in besonderem Maße für die Politik. Dieses Kennzeichen widerspricht der Einbindung der Politik in den Lebensprozess ebenso wenig wie ihrem mythischen Untergrund. Cassirer glaubt, dass die frühesten Impulse für den gesellschaftlichen Zusammenschluss von Menschen aus dem vorrationalen Gefühl der „Sympathie“ entstammen,46 und er nimmt an, dass die ersten Akte der Anerkennung von Dasein, Eigentum und Herrschaft mythischen Ursprungs sind.47 Das ändert aber nichts daran, dass eine politische Handlung ihrer Anlage nach vernünftig ist. Denn so blind und brutal die einzelne Tat auch immer sein mag, als politischer Akt ist sie auf prinzipiellen Nachvollzug und potentielle Begründung angelegt. Die Rationalität ist ein Strukturmoment politischer Handlungen, das sowohl den Bezug auf ein soziales Ganzes wie auch die Bindung an eine öffentlich ausweisbare Funktion verlangt. Selbst wenn ein Mensch nur aus Leidenschaft und persönlicher Berechnung handelt, als politisches Wesen muss er zumindest vorgeben können, dass er sich stellvertretend für andere einer gemeinsamen Aufgabe zuwendet. Insofern setzt auch der praktisch-politische Vollzug ein „zusammenhängendes System des Denkens“ voraus.48

44 45 46 47 48

MS, S. 309; vgl. dazu: Lübbe, Cassirer und die Mythen des 20. Jahrhunderts. MS, S. 29. Vgl. MS, S. 55. Vgl. MS, S. 54. MS, S. 91.

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Cassirer hat die implizite Rationalität des politischen Handelns in verschiedenen Zusammenhängen herausgearbeitet: Am Beispiel Platons hat er die notwendige Opposition gegen den Mythos akzentuiert, ohne die der auf Gründe und ein gewisses Maß gestützte Ordnungszusammenhang, also die „geometrische Proportion“ des Staates sich niemals rechtfertigen lässt;49 an Machiavelli zeigt er auf, dass der Staat eine rationale Technik benötigt;50 zu Hobbes und den nachfolgenden Vertragslehren macht er die gerade heute wieder beachtenswerte Bemerkung, dass ein Vertrag alles andere als ein Mysterium ist. „[. . .] wenn wir die gesetzliche und soziale Ordnung auf freie individuelle Akte zurückführen, auf eine willentliche, vertragliche Unterwerfung der Regierten, dann ist jedes Mysterium vorbei. Es gibt nichts weniger Mysteriöses als einen Vertrag. Ein Vertrag muss in vollem Bewusstsein seiner Bedeutung und seiner Folgen geschlossen werden; er setzt den freien Consens aller beteiligten Parteien voraus. Wenn wir den Staat auf einen solchen Ursprung zurückführen können, wird er eine vollständig klare und verständliche Tatsache.“ 51 Die so zunächst nur formal verstandene strukturelle Rationalität der Politik ist nicht auf bestimmte Vernunftideen festgelegt. Gesagt ist nur, dass im Rahmen der Politik Begründungen entweder verlangt werden oder aber unterstellt sind. Wer auf sie verzichten will, muss dafür auch wieder Gründe nennen, wie dies paradoxerweise sogar beim sogenannten „Führerprinzip“ der Fall war. Das logon didonai, die Aufforderung, Rechenschaft abzulegen, die Platon auch für die Polis bewusst gemacht hat, gehört bis heute zu den unverzichtbaren Merkmalen der Politik.52 Cassirer sieht aber sehr wohl, dass die formale Vernünftigkeit nicht ausreicht. Zur Motivation politischen Handelns bedarf es konkret fassbarer politischer Ideen. Obgleich auch sie wieder nur im Gang durch die politische Ideengeschichte erwähnt werden, kann es doch nicht zweifelhaft sein, dass ihnen ein systematischer Ort zugewiesen wird. Sie fungieren als sichernde Instanzen der menschlichen Rationalität. So knüpft Cassirer die politische Vernunft bereits in ihrem Ursprung an die individuelle Freiheit und im Ziel an die Idee der Menschheit; sie ist damit auf Personalität und Humanität bezogen. Da beide Begriffe sich gegenseitig fordern und ergänzen, bilden sie zusammen den siebten Punkt. Unter der im späten republikanischen Rom durch die Anleitung stoischer Denker ausgeformten Idee der Humanität bildet sich der Gedanke einer alle Menschen umfassenden Gleichheit aus. Die Welt als ganze wird nach Analogie des Staates gedacht. Alle sind Bürger eines Staates, die Götter nicht aus-

49 50 51 52

Vgl. ebd. Vgl. MS, S. 201. MS, S. 227. Vgl. Cassirer, Axel Hägerström, S. 70.

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genommen.53 Die naturgegebenen Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen werden sekundär, entsprechend dominant wird die in jedem einzelnen wirksame Kraft des Geistes. Jeder ist zunächst und zuletzt nur seiner eigenen Vernunft unterworfen, und in dieser Selbstständigkeit wird er zum Glied der politischen Welt. Zum politischen Bürger gehört somit seine Freiheit im selbstständigen Gebrauch seiner eigenen Vernunft. Das Wiederaufleben stoischer Ideen gehört nach Cassirer zu den wesentlichen Kennzeichen des politischen Rationalismus der Neuzeit.54 Das Prinzip der Autarkie der menschlichen Vernunft wird nun zum „Eckpfeiler aller Systeme des Naturrechts“ 55. Und in diesen Systemen gibt es ein Recht, das weder aufgegeben noch übertragen werden kann, das Recht auf Persönlichkeit: „Dieses fundamentale Recht, das Recht auf Persönlichkeit, schließt in gewissem Sinne alle anderen in sich. Seine Persönlichkeit zu erhalten und zu entwickeln ist ein allgemeines Recht. Es ist nicht den Launen und Grillen einzelner Individuen unterworfen und kann daher nicht von einem Individuum auf ein anderes übertragen werden. Der Vertrag der Herrscherschaft, der die gesetzliche Basis aller Macht ist, hat daher seine ihm anhaftenden Grenzen. Es gibt kein pactum subiectionis, keinen Akt der Unterwerfung, durch den ein Mensch seinen Status als frei Handelnder aufgeben und sich selbst zum Sklaven machen kann. Denn durch einen solchen Akt des Verzichtes würde er gerade den Charakter aufgeben, der seine Natur und sein Wesen ausmacht: er würde sein Menschsein verlieren.“ 56

Aus den Prämissen der Humanität und der Personalität werden unter Bedingungen politischer Ordnung Normen mit Verbindlichkeitsanspruch. Darin liegt der achte Punkt der Staatskonzeption Cassirers: Jede politische Gemeinschaft hat nicht nur einen rechtlichen Rahmen, sondern braucht darüber hinaus ein allgemeines normatives Gerüst. Die stets benötigten positiven Gesetze müssen sich immer auch an naturrechtlichen Prinzipien und das heißt vor allem: an den „unveräußerlichen Rechte(n) des Individuums“ messen lassen.57 Den wichtigsten Vorgang in der Verfassungsgeschichte der Neuzeit sieht Cassirer darin, dass der „Gedanke der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums aus der Sphäre der reinen Theorie in die der praktischen Politik übergreift“ 58. Entscheidend am Prinzip natur- oder vernunftrechtlicher Normativität ist, dass Cassirer es nicht von außen an das positive Recht heranträgt, sondern in ihm das Konstituens des Rechts überhaupt auszumachen sucht. Er geht mit Leibniz davon aus, dass es „zwischen der Welt des Ideellen und des Realen

53 54 55 56 57 58

Vgl. MS, S. 137. Vgl. MS, S. 218. MS, S. 226. MS, S. 230. Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, S. 13. Ebd., S. 17.

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keine unübersteigliche Kluft geben kann“ 59. Im Hamburger Vortrag finden sich dazu zunächst nur historische Verweise auf den formalen Status der Grundrechte in der amerikanischen Verfassung und auf Kants republikanischen Gedanken als „Prinzip der Gesetzgebung“; in der Philosophie der symbolischen Formen belässt er es bei dem Hinweis auf einen gemeinsamen Grund von Recht und Sittlichkeit im mythisch-religiösen Bewusstsein.60 In der Auseinandersetzung mit dem reduktionistischen Ansatz Axel Hägerströms unternimmt Cassirer dann aber den Versuch einer systematischen Herleitung der impliziten Normativität der Politik. Auch hier geht er von der Funktion des Rechts bei der Regelung gesellschaftlicher Konflikte aus: Bereits in den ältesten Schichten der Rechtsentwicklung mit ihrem strengen und starren Formalismus zeigt sich die synthetische Leistung gesetzlicher Bestimmungen. Die Gesetze stellen Einheiten von Handlungen her, die es erlauben, mit den jeweils individuellen Fällen einheitlich zu verfahren. Rechtsbegriffe enthalten gerade in ihrem Bezug auf konkrete Erfahrung ein „Ordnungsschema“, das mit dem Anspruch auf überdauernde Regelung und Steuerung ursprünglich verbunden ist. Die „Funktion der Objektivierung“, die bereits zu den wesentlichen Leistungen der Sprache gehört, geht im Recht mit der „Tendenz“ der vorgreifenden Festlegung, der „Bestimmbarkeit der Zukunft durch die Gegenwart“ einher.61 Das Paradigma dieser aus gemeinschaftlichen Handlungen stammenden Normierung künftiger Handlungen sieht Cassirer im Vertrag, der aber ohne freiwilliges Versprechen nicht gedacht werden kann. Im originären Akt des Versprechens kommt der immanente Ausgangspunkt allen Rechts zum Vorschein: Er liegt in der Freiheit und Selbstständigkeit des rechtsfähigen Menschen. Da aber ein politischer Körper nicht ohne Recht gedacht werden kann, gilt die das Recht konstituierende Normativität auch für die Politik. Es versteht sich von selbst, dass dieser systematische Springpunkt des Rechts nicht von Anfang an bewusst gewesen sein muss. Nachdem er jedoch in der Verfassungsgeschichte der modernen Staaten theoretisch wie praktisch exponiert worden ist, hat man ihn gegenüber allen Gesetzen ausdrücklich zu machen. Wenn also Cassirer Recht und Politik unter naturrechtliche Ansprüche stellt und hierbei vor allem die persönliche Freiheit und die menschliche Würde verteidigt, dann wahrt er damit nur die innere Logik des Rechts und expliziert lediglich die Norm, auf der – bewusst oder unbewusst – jede politische Handlung basiert. Spätestens hier wird deutlich, dass politisches nicht generell mit sozialem Handeln identisch ist. 59

Ebd., S. 12. Vgl. dazu die Anmerkung in: Cassirer, Hägerström, S. 85, die sich auf den Text von Sprache und Mythos (S. 112 ff.) bezieht, der Sache nach aber die Philosophie der symbolischen Formen insgesamt meint. 61 Cassirer, Axel Hägerström, S. 105 f.; vgl. ferner: ebd., S. 89 ff. 60

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Trotz der Betonung von Rationalität und Normativität im Geiste der Humanität ist Ernst Cassirer alles andere als ein politischer Moralist. Er steht auch nicht in Gefahr, zum Anwalt einer „Reinen Rechtslehre“ neukantianischer Provenienz zu werden. Davor bewahrt ihn sein historischer Sinn, der eben bis in den mutmaßlichen Ursprung des Logos im Mythos zurückreicht. Das historische Wissen wirkt bei Cassirer aber nicht nach Art der Gravitation, die jede hochfliegende Erwartung politischer Vernunft sogleich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Er betont ausdrücklich, dass die Geschichte nur das lehren kann, was gewesen ist, nicht, was sein soll.62 Vernunft stammt zwar aus der Geschichte, ihre Funktion besteht aber darin, über sie hinauszugehen. Der systematische Effekt des historischen Sinns liegt in nichts anderem, als dass durch ihn alles politische Handeln auf die konkreten Bedingungen jeweiliger Handlungskonstellationen verwiesen wird. Das ist das neunte Kennzeichen der Politischen Philosophie Ernst Cassirers: Politik steht jeweils unter historischen Voraussetzungen und hat ihre Aufgabe unter den situativen Bedingungen der Gegenwart zu erfüllen. Dieser neunte Punkt passt am wenigsten in das verbreitete Cassirer-Bild. Dass ausgerechnet ein Neukantianer einen Blick für die historisch pragmatische Handlungsdimension der Politik haben soll, wird nicht nur jene überraschen, die der deutschen Philosophie als ganzer die politische Urteilskraft absprechen.63 Gleichwohl und ganz unabhängig davon, ob das hauptsächlich durch seine Gegner in Umlauf gehaltene Klischee des Neukantianismus auf ihn zutrifft: Cassirer verfügt über diesen Blick für die realen Bedingungen der Politik! Er hat ihn freilich nicht primär im Umgang mit den aktuellen politischen Gegebenheiten geschult; er hat ihm auch weder eine eigentümliche Methode (nach dem Vorbild der Topik) noch ein spezifisches Organ (nach Art der Urteilskraft) zugewiesen. Seine politische Schule ist die Geschichte selbst. In ihr hat er gelernt, auf das Einmalige der Konstellationen und Personen zu achten, hier ist sein Verständnis für das Individuelle gewachsen. Aus der Geschichte kennt er auch den Kompromisscharakter der politischen Realität. Daher liegt es ihm fern, den Gang der Ereignisse aus der Vernunft abzuleiten. Jeder Deduktionismus ist ihm fremd. Freilich verführt ihn seine Nähe zur historischen Realität nie dazu, das Typische gering zu schätzen oder gar die abstrakten Begriffe zu schmähen. Vernunft und Geschichte schließen sich, wie eingangs gezeigt, eben nicht aus. Ist dieser Zusammenhang von Historizität und Rationalität erst einmal erschlossen, dann fällt ins Auge, wie viel Raum Cassirer für epochale und kulturelle, für nationale, regionale, ja lokale Besonderheiten lässt. Seine politische Philosophie macht gar nicht erst den Versuch, bestimmte Handlungen vorzuschreiben. Denn jede Handlungslage hat ihre eigene Hermeneutik, die von den 62 63

Vgl. MS, S. 238. So etwa Vollrath, Hannah Arendt und Martin Heidegger, S. 359.

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gegebenen Bedingungen und vor allem von den Akteuren selbst auszugehen hat. So wie das historische Verstehen auf Einsicht in die jeweiligen Umstände [circumstantial evidence] angewiesen ist,64 so kommt auch die politische Entscheidung ohne intuitive Erfassung der Situation nicht aus. Die Theorie kann nur die logischen Voraussetzungen klären und in Kenntnis der Zusammenhänge Gründe und Grenzen möglicher Handlungen darlegen. Alles Übrige ist eine Angelegenheit pragmatischer Fertigkeiten, die beim Einsatz stets auf ein glückliches Gelingen zu setzen haben. Eine Wissenschaft vom Glück aber kann es, wie gesagt, nicht geben; sie wäre, wie Cassirer mit Blick auf den von ihm mit guten Gründen hoch geschätzten Machiavelli sagt: „eine contradictio in adiecto“ 65. Das zehnte und letzte Kennzeichen führt schließlich auf den Ausgangspunkt zurück. Die Philosophie der symbolischen Formen, so hatten wir festgestellt, ist der an den kulturellen Leistungen ansetzende Versuch, eine Antwort auf die Frage: „Was ist der Mensch?“ zu geben. Die menschliche Funktion ist nun das Maß der Dinge, und nur in ihr kann sich zeigen, als was sich der Mensch zu begreifen hat. Diese zentripetale Ausrichtung der Philosophie auf eine Anthropologie kennzeichnet auch Cassirers politisches Denken. Alle vorausliegenden Punkte, unter Einschluss des ersten, verweisen auf die reflexive Struktur der politischen Welt. Jede politische Handlung unterstellt einen rechtfertigenden Grund und schließt somit einen Akt der Verständigung ein; in den politischen Institutionen werden die Leistungselemente des Einzelnen, seine „Vermögen“ ins Große gerechnet und auf Dauer gestellt; schließlich wird auch noch die größte politische Einheit nach Analogie des handelnden Wesens begriffen – „the body politic“ heißt der Staat nicht nur bei Hobbes und Locke. Diese elementare Selbstbezüglichkeit der politischen Prozesse erkennt Cassirer an, indem er sie dem Organon der menschlichen Kultur einverleibt; er stellt sie theoretisch in Rechnung, indem er alles aus internen Leistungen zu verstehen sucht, also stets den Menschen als homo magus, homo divinans oder homo faber zum Urheber politischer Zustände erklärt.66 Überdies ist für Cassirer die politische Welt gänzlich profanisiert und ganz der Einsicht und dem Geschick des Menschen anheimgestellt.67 Am deutlichsten wird der konzentrische Bezug auf den Menschen in jener Formel, mit der Cassirer den Weg der Menschheit als ganzer zu fassen sucht. Im Schlussabschnitt seines Essay on Man spricht er von der Kultur als „process of man’s progressive self-liberation“: „Die menschliche Kultur kann aufs Ganze gesehen als der Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen verstanden werden. Sprache, Kunst, Religion 64 65 66 67

Vgl. EM, S. 182. MS, S. 207. Vgl. MS, S. 367 u. 377. Vgl. MS, S. 183.

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und Wissenschaft sind einzelne Phasen dieses Prozesses. In ihnen entdeckte und erprobte der Mensch eine neue Macht – eine Macht, mit deren Hilfe er sich seine eigene, eine ,ideale‘ Welt [,ideal‘ world] erbaute. Die Philosophie kann ihre Suche nach der fundierenden Einheit dieser idealen Welt nicht aufgeben. Aber sie darf diese Einheit [unity] nicht mit Einfachheit [simplicity] verwechseln. Sie darf nicht die Spannungen und Gegensätze, die scharfen Kontraste und tiefen Konflikte zwischen den verschiedenen Kräften des Menschen übersehen. Sie lassen sich auch nicht auf ein gemeinsames Prinzip reduzieren, denn sie stoßen in verschiedene Richtungen vor und gehorchen unterschiedlichen Gesetzen. Aber diese Vielfalt und Gegensätzlichkeit sind keine Anzeichen für eine grundlegende Unvereinbarkeit. Alle diese Funktionen bedingen und ergänzen sich gegenseitig. Jede einzelne eröffnet einen neuen Horizont und zeigt uns einen neuen Aspekt der Humanität.“ 68

Die besondere Funktion der Politik ist in diesem abschließenden Panorama nicht näher bezeichnet. Sie springt aber sofort hervor, wenn man bedenkt, dass alle Leistungen der Kultur zum ausdrücklichen Gegenstand der Politik werden können. Was der Wissenschaft nur theoretisch möglich ist und was die Technik stets nur partiell und indirekt bewirken kann, das vermag die Politik zu ihrer eigenen praktischen Aufgabe zu erklären. Nur in ihrem Bereich werden Entscheidungen über Leben und Tod von Menschen anerkannt; nur von ihr kann überhaupt die Zuständigkeit für die ganze menschliche Welt gefordert werden. Obgleich die Politik nur ein Element der Kultur darstellt, kann sie doch – im Bösen wie im Guten – für die ganze Kultur Verantwortung übernehmen. Zumindest wird nur von ihr eine solche Verantwortung verlangt – unabhängig davon, ob sie diesem hohen Anspruch jemals gerecht werden kann. Als Ernst Cassirer den potentiell auf das Ganze zielenden Charakter der Politik zur Darstellung brachte, hatte er einen „totalen Staat“ vor Augen, der im Begriff war, eine ganze Kultur zu zerstören. Cassirers Verlangen, die steuernden Instanzen der Politik zu erkennen, und seine Forderung, über sie den politischen Prozess trotz allem rational kontrollierbar und kalkulierbar zu machen, sind daher unmittelbar verständlich; sein Erkenntnisinteresse entspringt selbst einem politischen Motiv, das auch heute nichts an Aktualität verloren hat, obgleich die Gefahr des totalen Staates – angesichts ganz anderer Gefährdungen der Menschheit – vielen nicht mehr so bedrohlich zu sein scheint. Bei Cassirer können wir lernen, dass der Totalitarismus, in dem der Staat seinen begrifflichen Charakter verliert und zum Mythos wird, das schlimmste Übel ist. Aus politischer Sicht – und damit eben auch aus der Perspektive der Kultur – liegt das größte Risiko in dem Verzicht auf Vernunft, menschliche Würde und rechtliche Ordnung. Eine zur menschlichen Kultur gehörende Politik hat zunächst und vor allem die Selbstachtung des Menschen zu ermöglichen, wenn es denn einen Sinn haben soll, die Selbsterhaltung der Menschheit zu sichern.

68

EM, S. 228.

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Eine von Cassirers wichtigsten Einsichten liegt wohl darin, dass die steuernden Kräfte der Politik nur im Menschen selbst zu finden sind. Das könnte nach allem, was wir über den Menschen wissen, eine entmutigende Auskunft sein. Wenn wir aber bedenken, unter welchen nahezu aussichtslosen Bedingungen Cassirer an seinem Programm einer rationalen Politik festgehalten hat, dann haben wir gleichwohl allen Grund, ihm darin – theoretisch wie praktisch – zu folgen. Literatur Cassirer, Ernst: An Essay on Man. Am Introduction to the Philosophy of Human Culture, New Haven 1944. – Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart, in: Göteborgs Högskolas Ärskrift 45 (1939), S. 1–119. – Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, S. 169–200. – Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, 2. Aufl., Zürich/München 1978. – Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928, Hamburg 1929. – Form und Technik, in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927– 1933, hg. v. E. W. Orth u. J. M. Krois, Hamburg 1985, S. 39–91. – Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. v. E. W. Orth u. J. M. Krois, Hamburg 1985, S. 93–119. – Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., 2. Aufl., Darmstadt 1954. – Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910), 4. Aufl., Darmstadt 1976. – Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. v. E. W. Orth u. J. M. Krois, Hamburg 1985, S. 165–201. – Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956. Cassirer, Toni: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981. Fischer-Appelt, Peter: Zum Gedenken an Ernst Cassirer. Ansprache zur Eröffnung der Wissenschaftlichen Tagung „Symbolische Formen“ anlässlich des 100. Geburtstags von Ernst Cassirer am 20. Oktober 1974 im Kokoschka-Saal der Universität, Hamburg 1975. Gawronsky, Dimitry: Ernst Cassirer. Leben und Werk, in: Schilpp, Paul A. (Hg.), Ernst Cassirer, Stuttgart/Berlin 1966, S. 1–27. Gerhardt, Volker: Politische Subjekte. Zur Stellung des Subjekts in der Politik, in: Wiener Reihe 2 (1987), S. 201–229. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankf./M. 1973.

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Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders., Werke und Briefe in zehn Bänden, hg. v. H. Kaufmann, Bd. 5, Berlin 1962, S. 165–308. Krois, John: Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven/London 1987. Lübbe, Hermann: Cassirer und die Mythen des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1975. McCoy, Charles N. R.: Rezension zu Cassirer, Ernst, The Myth of the State, in: The Modern Schoolman 25 (1948), S. 271–278. Morgenthau, Hans J.: Rezension zu Cassirer, Ernst, The Myth of the State, in: Ethics 57 (1947), S. 141–142. Natorp, Paul: Psychologie nach kritischer Methode, Freiburg 1888. Noack, Hermann: Ernst Cassirer. Zur Würdigung seines Werkes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 8 (1954), S. 446–455. Sabine, George H.: Rezension zu Cassirer, Ernst, The Myth of the State, in: The Philosophical Review 56 (1947), S. 315–318. Schrems, John Joseph: Ernst Cassirer and Political Thought, in: The Review of Politics 29 (1967), S. 180–203. Strauss, Leo: Rezension zu Cassirer, Ernst, The Myth of the State, in: Social Research 14 (1947), S. 125–128. Vollrath, Ernst: Hannah Arendt und Martin Heidegger, in: Gethmann-Siefert, Annemarie/Pöggeler, Otto (Hg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankf./M. 1988, S. 357–372.

Existentieller Liberalismus Zur Konzeption der Politik bei Karl Jaspers I. Eine bessere Tradition des Denkens Politik – wem müsste man dies erläutern? – ist eine wichtige Sache. Sie füllt die Nachrichten, beschäftigt die Medien, bestimmt das öffentliche Leben und wirkt weit und nachhaltig in unser Privatleben hinein. Seit es Politik gibt, kann man die Erfahrung machen, dass alles, buchstäblich alles politisch werden kann. Das war am Anfang des politischen Denkens, der nicht von ungefähr mit dem des philosophischen Denkens zusammenfällt, noch bewusst. Dieses Bewusstsein hat sich bis in die Neuzeit hinein gehalten. Marsilius von Padua, Machiavelli und Hobbes waren davon noch durchdrungen; Locke, Rousseau, Kant und Hegel trugen dem in ihren Theorien Rechnung. Dann aber haben sich die Bande gelockert. Die Romantik, ohnehin die größte Wegscheide zwischen der alteuropäischen Überlieferung und uns, hat das Ganze zu einem Gegenstand der Sehnsucht verklärt und es dem Zugriff des Denkens entzogen. Das ist zwar eine Kuriosität, weil sich das Ganze ohnehin nur einem Begriff erschließen kann. Doch das Kuriosum wirkt fort und stellt das systematische Denken bis heute unter den Verdacht des Rückfalls in eine intellektuelle Barbarei, in der man so geschmack- oder schamlos war, alles auch noch begreifen zu wollen. Seit der Romantik, in deren Beginn Novalis noch sagen konnte, die Politik sei das „Gesamtorgan“ des menschlichen Lebens,1 ist die Lehre von der Politik Zug um Zug verfallen: Für Marx war sie kaum mehr als ein Appendix zur Ökonomie, Nietzsche machte eine Raubtiernummer daraus, für Dilthey war sie zur Verwaltung geworden, die im Wesentlichen mit statistischen Daten zur optimalen Befriedigung möglichst vieler zu operieren hat, und Simmel nahm sie als Phänomen erst gar nicht mehr wahr, auch wenn er sich ihr am Ende seines Lebens am liebsten ganz verschrieben hätte. Dann bricht die Tradition des philosophischen Nachdenkens über die Politik – zumindest in Deutschland – fast völlig ab. Es dominieren soziologische, psychologische und bewusst disziplinär angelegte juridische Ansätze. Der einzige, 1 „Er [der Staat] ist eine Armatur der gesamten Tätigkeit. – Sein Zweck ist, den Menschen absolut mächtig – und nicht absolut schwach – nicht zum trägsten – sondern zum tätigsten Wesen zu machen.“ (Novalis, Die Enzyklopädie. Fragmente, Kap. V: Staats- und Menschenlehre 493, S. 507).

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der auf der Spitze der Modernität zu einem vollen Begriff von Politik zurückfindet, Max Weber nämlich, verweigert sich bewusst der philosophischen Erörterung seiner tiefen Einsicht in den Zusammenhang von gesellschaftlicher Organisation und individueller Lebensführung.2 Die unter seinem Eindruck philosophisch neu einsetzenden Theoretiker wie Leo Strauß und Eric Voegelin kommen schon mit der Modernität Max Webers nicht mehr zurecht; Carl Schmitt bricht sich willkürlich immer wieder neue Stücke heraus, die immer auch irgendeine Wahrheit enthalten, in den wechselnden historischen Kontexten die Beliebigkeit der bloßen Entschiedenheit aber zu deutlich erkennen lassen. Nur dem die Romantik souverän überspielenden, auf Goethe, Kant, Leibniz und Platon zurückgreifenden Ernst Cassirer gelingt es, den „Mythos des Staates“ in seiner Epochen überspannenden Wirksamkeit aufzuweisen. Aber am Ende seines Lebens reicht die Zeit nur noch für eine historische Skizze über Stellung und Aufgabe des Staates.3 Immerhin hat Cassirer als einer der ganz wenigen in der Weimarer Republik als Philosoph und Bürger ein Beispiel für das Ethos gegeben, das die große Tradition des politischen Denkens bis heute bewahrt. Davon ist in der Politischen Philosophie der Gegenwart wenig zu spüren. Während die großen Lehrer aus der inzwischen abgetretenen Generation die systematischen Schwächen, wie sich das gehört, durch Gelehrsamkeit kompensieren – ich nenne nur Bertrand de Jouvenell, Michael Oakeshott oder Helmuth Kuhn –, ist die Politische Philosophie heute durchweg zur reinen Legitimitätswissenschaft geworden. Sie hat die Aufgabe der juristischen Legitimitätsbeschaffung mit solcher Ausschließlichkeit zu ihrem Gegenstand gemacht, dass vielen ihrer Vertreter gar nicht mehr auffallen dürfte, wo denn da eigentlich ein Verlust eingetreten sein sollte. Was braucht man denn mehr als die universell gültigen Prinzipien, aus denen Verfassungen und Gesetze hergeleitet werden können? Die Gefragten (von Höffe und Kersting abgesehen) schweigen, und ihre Gegner, die Kommunitaristen, antworten: Man brauche, so sagen sie, konkrete Einsichten, man benötige die in Gewohnheiten erfahrene Wirksamkeit von Traditionen und das Gefühl für die Gemeinschaft. Da haben sie natürlich recht. Und wenn der Theoretiker, gegen den sie (die Kommunitaristen) angetreten sind, nun nachträglich die fehlenden Elemente in seinen Ansatz einbaut, zeigt das eine beachtliche Lernfähigkeit. Der Sache nach war die Korrektur längst fällig. Denn wer konnte ernsthaft glauben, man könne allein aus zwei Prinzipien, die zudem noch unter dem „Schleier des Nichtwissens“ zur Geltung kommen sollten, die Politik oder auch nur den Staat oder auch nur das, was der Staat tut, begründen? 2

Siehe dazu: Hennis, Max Webers Fragestellung. Vgl. Cassirer, Der Mythus des Staates. Zur Politischen Philosophie Cassirers siehe v. Verf., Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik, in diesem Band, S. 187–209. 3

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Ich jedenfalls habe es nie geglaubt und habe die mehr als zwei Jahrzehnte währende Euphorie über das Werk von John Rawls von Anfang an für ein Zeichen des Niedergangs des politischen Denkens gehalten. Dass wir ausgerechnet seiner Theorie der Gerechtigkeit eine Wiederbelebung der Politischen Philosophie im Nachkriegsdeutschland verdanken, gehört zu den Paradoxien einer Gesellschaft, für die Politik zum bloßen Verteilungsproblem geworden ist, über das im allgemeinen Wohlstand nur die diskutieren, die für ihren höheren Wachstumsanteil ihr soziales Gewissen entlasten. Natürlich hatte diese Debatte auch ihre positiven Effekte: Sie hat den ökonomistischen Utilitarismus in seine Schranken verwiesen, hat den Namen Kants auch dort in Umlauf gebracht, wo man bislang noch gar nichts von ihm wusste, hat die elementare Stellung des Individuums, seiner Einsichten und Interessen anerkannt und ist ganz selbstverständlich von der unverzichtbaren Funktion allgemeiner Prinzipien ausgegangen, ohne die man in der Tat noch nicht einmal wüsste, was Politik eigentlich ist und was sie von sich aus will. Und in allen diesen Punkten hat Rawls natürlich gegenüber seinen kommunitaristischen Kritikern recht behalten. Der Hinweis auf Gewohnheiten und Gefühle, die Insistenz auf der konkreten Erfahrung, die nur über die Urteilskraft in die politische Meinungsbildung einzubringen ist, können nur eine Ergänzung bringen; sie stellen aber keine Alternative zu den Prinzipien dar! Doch auch mit der Ergänzung können wir aus dem, was Rawls und seine Schüler uns anbieten, keinen Staat machen. Erst recht gelingt es nicht, aus den universalistischen Rechtfertigungs- und den kommunitaristischen Beschwichtigungslehren einen Begriff der Politik zu entwickeln, der nicht nur die Organisationsfrage aufnimmt, sondern auch sagt, was die Politik dem Menschen eigentlich bedeutet. Dass sich ausgerechnet in Deutschland die Politische Philosophie innerhalb einer so dürftigen Alternative bewegt, ist tragisch zu nennen. Ich will nicht sagen, dass sich nunmehr in der Theorie die gleiche Unfähigkeit zeige, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in der Praxis so verheerend war. Tragisch nenne ich die Unfähigkeit, aus dem Übermaß an politischer Erfahrung, die uns dieses Jahrhundert aufgebürdet hat, auch philosophisch zu lernen. Tragisch ist es, dass eine Philosophie, die vor der politischen Katastrophe zwischen rechtstheoretischem Neukantianismus und gemeinschaftsseliger Lebensphilosophie schwankte, sich danach die gleiche, lediglich mit größerem methodologischen Aufwand aufgebaute Alternative aufschwatzen lässt. Dabei ist es ein schwacher Trost, dass der Streit heute weitgehend auf Englisch ausgetragen wird. II. Karl Jaspers als Beispiel Tragisch ist dieser Vorgang aber auch, weil die Politische Philosophie in Deutschland ein Beispiel hat, von dem sie hätte lernen können, wie man – auch nach ihrem Bankrott – philosophisch auf die Politik wieder zugehen und wie

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man sie, selbst dort, wo sie persönlich als Verhängnis erfahren werden musste, auf philosophische Distanz bringen kann – mit größtem Gewinn für ihren Begriff. Das Beispiel, das ich meine, hat uns Karl Jaspers gegeben, und ich sehe eine deprimierende Fahrlässigkeit darin, dass wir auf ihn bis heute kaum noch hören. Karl Jaspers ist ein politischer Philosoph sui generis, er hat von der ursprünglichen Beziehung zwischen Philosophie und Politik gewusst, und er hat sie in menschlicher Größe – intellektuell und existentiell – vor Augen geführt. Er hat uns über den Grund, die Mittel und das Ziel des politischen Handelns mehr zu sagen als jeder andere Denker in diesem Jahrhundert. Aber wir beachten ihn nicht. Prüfen wir die politisch-theoretische Literatur der letzten dreißig Jahre, dann ist es, als hätte es ihn nie gegeben. Der Vorwurf, den ich damit auch mir selber mache, beschäftigt mich schon seit Jahren: Denn mein erster philosophischer Lehrer war niemand anderer als er. Obwohl ich Karl Jaspers nie gesehen habe, seine Stimme nur aus dem Radio kenne und er somit nur als Autor auf mich wirken konnte, war er für den fünfzehn-, sechzehnjährigen Schüler im Wechsel mit Platon die größte Autorität. Ich hatte seine dreibändige Philosophie mit roten, grünen und blauen Stiften durchgearbeitet, bezog meine philosophiehistorischen Kenntnisse aus dem ersten Band der Großen Philosophen, fand alles richtig, was er über Liebe und Treue schrieb, und bewunderte das im Kampf gegen die Krankheit so produktiv gelebte Leben. Im Frühjahr 1965, bei meinem Bewerbungsgespräch im Tübinger Stift, habe ich den vorsichtige Zweifel an Vernunft, Aufklärung und Fortschritt äußernden Examinator auf der Stelle mit Jaspers’ Geschichtsphilosophie missioniert. Doch die Antwort aus Tübingen habe ich gar nicht erst abgewartet, sondern bin zum ersten Semester nach Frankfurt – ausgerechnet nach Frankfurt! – gegangen. Warum? Ich weiß es noch, aber ich verstehe es nicht mehr: Ich wollte den Autor der Minima Moralia und der Prismen hören. Beide Bücher hatte ich kurz zuvor gelesen und wurde von der Brillanz einer alles in Zweifel ziehenden Kulturkritik angezogen wie die Motte vom Licht. Die Radikalität des Denkens, das sich als Alternative zu allem empfahl, schmeichelte den Erwartungen vor allem der jungen Intelligenz: In schärfster Distanzierung von aller Macht lag es im Kalkül der „negativen Dialektik“, am Ende nur noch den Kritiker als Machthaber gelten zu lassen. Der Herrschaftsanspruch des Geistes wurde hier unter dem Titel der „Herrschaftsfreiheit“ zelebriert. Das war eine verlockende Aussicht, solange man die darin wirksame Selbstgerechtigkeit des Intellektuellen verdrängte. Heute kann man das alles, einschließlich der Gesellschaftskritik, nur noch unter dem Titel einer „ästhetischen Theorie“ erträglich finden. Als mir das bewusst wurde, war Karl Jaspers schon tot. Und an meinem ersten wissenschaftlichen Wirkungsort in Münster hielt man rein gar nichts von

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ihm. Den dort wirkenden Aristotelikern war er zu kantianisch und den Kantianern nicht seriös genug, weil er über die Grenzen des Fachs hinaus wirken wollte. Im Übrigen genügte damals das Stichwort „Existenzphilosophie“, um jeden Fachvertreter nachsichtig abwinken zu lassen. Und wer in jenen Jahren nicht fest in sein historisches oder wissenschaftstheoretisches Vorhaben eingebunden war, der dachte die Politik vornehmlich in sozioökonomischen Kategorien. Und da galt der angebliche Privatismus der Existenzerhellung nur als Schwundstufe der Selbstaufklärung der bürgerlichen Welt. Schließlich war es die Zeit, in der die methodische Naivität Wittgensteins auch bei uns in Umlauf kam; die sprachanalytische Philosophie gab das Methodenideal vor; man war exzessiv nur noch im Erfinden von Beispielen und im nichtöffentlichen Aburteilen der Gegner; ansonsten aber hatte man allen größeren Ansprüchen abgeschworen. Philosophieren wurde zum Nüsseknacken, das man in der Clubatmosphäre lässig trainierender Denksportvereine betrieb. Das Pathos, in dem Jaspers seine Einsichten und Mahnungen vortrug, wurde nur noch als peinlich empfunden. Man glaubte, wer Sätze auf ihre logischen Bestandteile zurückführen könne, brauche sich um die Individualität des Sprechers nicht zu kümmern. So sind viele, für die das Denken erst mit Frege beginnt, heute noch sprachlos, wenn sie auf dessen nationalkonservative Gesinnung angesprochen werden. Die philosophischen Adepten der nivellierten Mittelstandsgesellschaft waren folgerichtig auf die Normalsprache fixiert.4 Unter diesen Bedingungen hatte ich meinen eigenen Weg zu suchen. Ich behielt den ersten philosophischen Lehrer für mich, verfolgte die Publikation der Briefwechsel, blickte mit besonderer Sympathie auf Hannah Arendt und Dolf Sternberger, war empört darüber, dass Blumenberg Jaspers öffentlich „milchig“ nannte, hielt mich im Übrigen aber an Kant und Nietzsche und, wie in der Schulzeit, an Platon. Jetzt, wo ich gerade mit den Korrekturen meines ersten ganz auf eigenes Nachdenken gestellten Buches beschäftigt bin,5 wird mir bewusst, wie sehr ich sein Schüler geblieben bin: Die Emphase, mit der ich auf der Vereinbarkeit von Individualität und Vernunft bestehe, habe ich von ihm. Das Gleiche gilt für die nicht-empirische Konzeption der Kommunikation, die bereits das Selbstbewusstsein trägt und keineswegs erst in den sozialen Akten des Sprechens zum Ausdruck kommt. Es gilt auch für den methodologischen Vorrang der Selbsterkenntnis oder für den Ernst der eigenen Lebensführung, der als begriffliches Kriterium moralischer Entscheidungen verstanden werden muss. Und wenn ich betone, dass nur dann etwas für uns von Bedeutung ist, wenn wir uns selbst in 4 Die Alltagssprache zu analysieren ist natürlich eine legitime Beschäftigung; sie hat auch zu wertvollen Einsichten geführt. Aber dass man eine „Philosophie“ daraus macht, zeigt den Verlust der Maßstäbe, von denen die Philosophie mit Sokrates ausgegangen ist. 5 Vgl. Gerhardt, Selbstbestimmung.

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unserem Dasein wichtig nehmen, dass wir die Würde des Menschen nur begründen können, wenn wir auf uns selber Wert legen, dann ist auch der durch die literarischen Spektakel der Pariser Intelligenz und durch prophetisches Raunen aus dem Freiburger Jenseits der Philosophie in Misskredit geratene Begriff der Existenz rehabilitiert. Doch ich will nicht selber zum Propheten werden! Lassen wir offen, ob das philosophische Werk von Karl Jaspers auch eine fachphilosophische Zukunft hat. Für jeden, der das Philosophieren nicht aus dem Bezug zum eigenen Dasein lösen möchte, bleibt er ohnehin einer der Großen dieses Jahrhunderts: einer, der auch in den dunkelsten Stunden dieser Epoche den Glauben an die Größe des Menschen nicht aufgegeben hat, und einer, der in diesem Glauben deshalb überzeugt, weil er im Unterschied zu einem anderen, der nur die Größe seines Werks im Auge hatte, auch selber Größe bewiesen hat. Ich will es direkt aussprechen, weil ich vermute, dass darin auch ein Grund für das Stillschweigen über Jaspers liegt: Seine menschliche Größe macht den Schatten, in dem Heidegger durch eigenes Verschulden steht, jederzeit und in jeder Hinsicht bewusst. Ich verstehe, dass mancher, der Heidegger trotz allem schätzt, das nur schwer ertragen kann. Aber es hilft nichts: Er muss es schon allein aus philosophischen Gründen ertragen, weil in Jaspers die bessere Tradition des Denkens, das immer nur ein Denken des Menschen ist, zum Austrag kommt. III. Die existentiellen Bedingungen der Politik Dolf Sternberger hat seinen Beitrag zur Festgabe zum 80. Geburtstag von Karl Jaspers mit der Bemerkung eröffnet, „erst die Erfahrung der Diktatur Hitlers (habe) Karl Jaspers zu einem politischen Philosophen gemacht“ 6. Ich weiß nicht, ob Jaspers dem 1963 zugestimmt hat. In meinen Augen kann man die Behauptung gelten lassen, wenn man das Politikverständnis Sternbergers unterstellt und den Bezug auf bestimmte historische Ausgangslagen, auf konkrete Erfahrungen, auf Verfassungen und Verfassungsorgane als Sinnkriterium politischer Theorie fasst. Die Politikwissenschaft muss so verfahren, und die Politische Philosophie hat dies zu beachten; sie hat sich auf dem Feld der historischen Institutionen zu bewähren. Gleichwohl kann die Philosophie nicht umhin, gründlicher einzusetzen: Sie weiß, dass schon die Selbsterkenntnis des Menschen ohne Bezug auf den Zusammenhang, in dem er mit seinesgleichen lebt, unmöglich ist. Da aber dieser Zusammenhang immer schon in irgendeiner Weise von Menschen gestaltet worden ist und unablässig seiner organisierenden Kraft bedarf, steht die Politik be6

Sternberger, Jaspers und der Staat, S. 133.

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reits im Hintergrund einer jeden begrifflichen Selbsterfahrung. Das war Karl Jaspers bereits mit seiner Hinwendung zur Philosophie, also spätestens seit Beginn der zwanziger Jahre, bewusst. Ein erstes Dokument dafür haben wir in seiner Gedenkrede auf Max Weber aus dem Jahre 1921. Da wird Max Weber als ein „existentieller Philosoph“ vorgestellt, der „aus philosophischer Gesinnung“ ein soziologischer „Fachwissenschaftler“ 7 sein wollte: „Wenn er aber ein Philosoph war, so war er es vielleicht als einziger in unserer Zeit und in einem anderen Sinn, als irgend jemand sonst heute Philosoph sein mag.“ 8 Das musste die anerkannten Größen auf den philosophischen Lehrstühlen verletzen, insbesondere Rickert, der sich in dem Glauben wähnte, Weber sei in philosophischer Hinsicht nur ein Schüler von ihm. Jaspers aber schildert in Weber sein eigenes Ideal, an dem er sich methodologisch bereits in der Allgemeinen Psychopathologie (1913) und in der Psychologie der Weltanschauungen (1919) orientiert hatte.9 Nun aber gewinnt das Ideal auch philosophisch an Bedeutung, und wer genau zu lesen versteht, der erkennt, dass auch Jaspers die von Max Weber aufgehobene Trennung zwischen der gelehrten und der politischen Existenz für sich selbst nicht länger gelten lässt: „Wenn aber Max Weber Gelehrter ersten Ranges war, so war er es doch nicht anders, als wie er sachkundiger Politiker war. Er war beides, aber beides war nicht sein letztes Wesen.“ 10 Und warum war es das nicht? Weil sie beide – die Existenz des Gelehrten wie die des Politikers – für ihn nur „Schritte“ bedeuteten, „die ihn letzthin zur Selbsterkenntnis der Gegenwart führen sollten“ 11. Eben das ist das Ziel, mit dem Jaspers 1931 – als tausendsten Band der Sammlung Göschen – Die geistige Situation der Zeit publiziert. Hier versucht er sich, in Abänderung des vom Verlag vorgegebenen Titels,12 an dieser Max Weber attestierten Selbsterkenntnis der Gegenwart. Es ist somit das ausdrücklich auf die eigene Zeit konzentrierte sokratische Programm der Selbsterkenntnis, in dem sich für Jaspers Philosophie und Politik verbinden.13 Der Göschen-Band ist, wie jeder schon am Inhaltsverzeichnis erkennen kann, ein politisches Buch. Es setzt bereits in der Einleitung mit einer genetischen

7 Jaspers, Max Weber, S. 36. Jaspers’ gesammelte Schriften über Max Weber, die von Dieter Henrich herausgegeben worden sind, werden im Folgenden als „MW“ zitiert. 8 MW, S. 32. 9 Vgl. dazu Henrich, Denken im Blick auf Max Weber, S. 13 ff. 10 Jaspers, MW, S. 42. 11 Jaspers, MW, S. 43. 12 Der de Gruyter-Verlag hatte ein Buch zum Thema Die geistigen Bewegungen der Gegenwart gewünscht. 13 Seine 1932 publizierte Monographie über Max Weber mit dem Untertitel Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren bestätigt dieses Urteil.

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Erklärung des „epochalen Bewußtseins“ ein, versucht die „Herkunft der gegenwärtigen Lage“ zu bestimmen und gibt dann in sechs Kapiteln eine großangelegte Diagnose des „Massenzeitalters“, in dem sich nunmehr die Menschheit als ganze zu behaupten hat. Noch nicht einmal der einzige Abschnitt, der ganz dem praktischen Selbstbezug des Individuums, der „Haltung des Selbstseins“ gewidmet ist, kommt ohne Reflexionen über die „Solidarität“, also das tätige Zusammensein der Individuen aus. Das führt sogleich auf den als endgültig verloren angesehenen Zusammenhang von „Adel und Politik“, auf die Bemerkung, dass Eliten sich nicht selbst auszeichnen können und auch zu keiner Restitution aristokratischer Herrschaft fähig sind.14 Somit ist das Ganze eine Politische Philosophie der Freiheit, die Individualität unter den Bedingungen unvermeidlich massenhafter, also auch notwendig bürokratischer Herrschaft zu retten versucht. Im Sinne Max Webers geht das Bekenntnis zur Demokratie mit der Sorge um die Ausbildung überragender Persönlichkeiten einher, die zur Anerkennung der geschichtlichen Ausgangslage sowie zu geistesgegenwärtigen und richtungweisenden Entscheidungen fähig sind. Schon hier denkt Jaspers in einer über den Egoismus des Einzelstaats hinausweisenden Perspektive, um die „Interessen des Menschseins“ 15 an einer globalen Friedensordnung wehrhaft – an der „Kampffront der Freiheit“, wie es immer wieder heißt – zu vertreten. Und schon damals hat er eine europäisch-amerikanische Allianz im Blick, die beim Aufbau einer internationalen Rechtsordnung vorangeht.16 Wir wissen aus dem Lebensrückblick, dass Die geistige Situation der Zeit bereits im September 1930 geschrieben war. Zur Niederschrift reichten wenige Monate, weil der Text weitgehend aus dem Zusammenhang der seit 1924 erarbeiteten, 1931 in drei Bänden veröffentlichten Philosophie genommen war. „Ich konnte“, so schreibt Jaspers, „vom Politischen sprechen auf dem Untergrund der gesamten sittlich-geistigen Situation unserer Zeit. Aus dem im Wach14 „Will aber der Adel im Menschen sich verstehen als ein bestimmtes Dasein und sich auslesen, so verfälscht er sich; der wahre ist anonym als Anspruch des Menschen in sich, der falsche wird Gebärde und Anspruch an Andere. Auf die Frage, ob heute noch Aristokratie möglich sei, bleibt daher nur der Appell an den Menschen, der diese Frage stellt, an ihn selbst.“ (Jaspers, Die geistige Situation der Zeit [im Folgenden: GSZ], S. 181 f.) 15 Jaspers, GSZ, S. 103. 16 Auf sie gerichtet heißt es: „Solche Politik würde die tiefe menschliche und geistige Verbundenheit deutschen Wesens mit angelsächsischem und romanischem nicht vergessen und vor dem Verrat schaudern, der hier bis heute immer wieder begangen worden ist.“ (GSZ, S. 103) – Der Freund, von dem Jaspers später sagen wird, dass er ihn nach 1933 als einziger wirklich enttäuschte, nämlich Heidegger, hat diesen „Verrat“ auch in den fünfziger Jahren noch unbeirrt fortgesetzt und bis an sein Lebensende an seinem Antiamerikanismus festgehalten. Ich verweise dazu auf die Sitzungsprotokolle der Berliner Akademie der Künste aus den fünfziger Jahren.

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sen begriffenen Werk ,Philosophie‘ konnte ich [. . .] alles herausnehmen, was sich auf die Gegenwart bezog [. . .].“ 17 Das bestätigt, wie weit die Beschäftigung mit der Politik zurückreicht und wie eng sie mit den philosophischen Hauptfragen seines Denkens verknüpft ist. Jaspers ist also keineswegs erst durch die Hitlerdiktatur zum politischen Denker geworden.18 Dass gleichwohl dieser Eindruck entstehen konnte, muss damit zu tun haben, dass Jaspers sich bis 1945 auf Erörterungen beschränkte, die es beim Appell an den einzelnen Leser beließen. Es waren „Existenzerhellungen“, die ohnehin nur auf das mitdenkende Individuum bezogen sein konnten. Aber darin liegt keine Abschwächung des politischen Charakters einer Philosophie! Letztlich ist es immer der Einzelne, der Erfahrungen macht, der Einsichten haben kann und von dem erwartet wird, dass er seine vernünftigen Konsequenzen daraus zieht. Gleichwohl verstehen wir Sternbergers Diktum gut. Denn es ist vor dem Hintergrund der späteren Schriften gefällt, in denen Jaspers sich mit aller Leidenschaft auf einzelne politische Fragen wirft und sich auch persönlich mit seiner Parteinahme für bestimmte Positionen in der Universitätspolitik, in der Schuldfrage, dem Verfassungsproblem, der atomaren Rüstung, der deutschen Einheit oder in der 1962 erneut und nun ganz anders erfolgenden Bewertung der Nürnberger Prozesse exponiert. 1930/31 ist er ein politischer Denker, aber noch kein politischer Akteur, der die öffentliche Meinung gezielt für seine Ziele nutzt. Dafür hat er selbst in seiner Philosophischen Autobiographie eine persönlich wie politisch überaus aufschlussreiche Begründung gegeben. Man kann sie als einen Schlüssel zum existentiellen Politikverständnis von Karl Jaspers begreifen, und sie macht schlagartig klar, was der politischen Theorie der Gegenwart fehlt. Die Äußerung findet sich im Rückblick auf die Zwanzigerjahre. Sie soll die Motivlage nach der Anfrage des de Gruyter-Verlages wegen des Jubiläumsbandes in der Sammlung Göschen erläutern. Ich zitiere: „Weder im Ersten Weltkrieg noch nachher habe ich in meinen Vorlesungen oder in Schriften von politischen Dingen gesprochen. Ich hatte eine Scheu, weil ich kein Soldat war. Denn in der Politik handelt es sich um den Ernst der Macht, die auf dem Einsatz des Lebens gründet. Mir fehlte diese Legitimation [durch den Einsatz des Lebens – H. v. m.].“ Und dann fährt er fort: „Die Scheu nahm mit dem Älter17

Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 72. Dafür spricht auch seine frühe Mitgliedschaft im politischen Klub der Heidelberger Universität, dem er von 1915 bis 1923 angehörte. Ferner der 1923 gehaltene Vortrag Idee der Universität. Überdies haben wir das im Bewusstsein größter Anerkennung geschriebene Portrait seines Vaters, der in seinem Oldenburger Wirkungsbereich ein homo politicus ersten Ranges war, dort aber entschieden auf die Ebene beschränkt bleiben wollte, auf der er selber urteilen konnte (vgl. Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 63 ff.). 18

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werden ab. Vor allem, weil ich in den zwanziger Jahren das offenbare politische Versagen des Soldatischen sah. Ich erkannte den falschen politischen Anspruch darin.“ 19 Als falsch erweist sich ihm natürlich nicht der Zusammenhang zwischen Politik und dem „Ernst der Macht“ und gewiss auch nicht deren Beziehung auf den „Einsatz des Lebens“. Sondern es ist „das Soldatische“, das versagt hat; das Militär ist seiner politischen Verantwortung schon im Ersten Weltkrieg nicht gerecht geworden (hierin folgt Jaspers Weber); es hat sich in der Weimarer Republik durch seine Kooperation mit den Sowjets bei gleichzeitiger Distanz zu den demokratischen Kräften desavouiert und scheitert vor aller Welt, als es noch nicht einmal eingreift, als am 9. November 1938 die Synagogen in Brand gesetzt werden20 – von dem, was dann im Zweiten Weltkrieg kommt, ganz zu schweigen. Das Soldatische hat, wohlgemerkt, politisch versagt. Da man aber auf die Tapferkeit in der Politik am allerwenigsten verzichten kann, kommt auf den Bürger auch in seiner zivilen Form eine ganz andere Verantwortung zu. „Kampf“, „Kampffeld“, „Front“ und „Selbstbehauptung“ sind daher auch aus dem Vokabular der ganz auf die Zivilisierung setzenden Politischen Philosophie von Karl Jaspers nicht wegzudenken. Natürlich wirkt auch hier das Vorbild Max Webers nach. Wesentlich aber sind die Erfahrungen aus den Jahren nach der Machtergreifung Hitlers: auf der einen Seite die Feigheit vor allem der Gebildeten, die sich auch dort, wo Anstand und Menschlichkeit auf das Gröbste verletzt werden, mit einfallsreichen Entschuldigungen heraushalten; auf der anderen Seite die Not im eigenen Standhalten unter dem Druck des Regimes. Wo die „Grunderfahrung“ im „Verlust der Rechtsgarantie im eigenen Staat“ 21 besteht, wird man notwendig auf sich selbst zurückgeworfen und muss aus eigener Kraft bestehen. Darin liegt das Ethos, in dem Jaspers Politik begreift und betreibt. Und es hat seinen Grund in einem Begriff von Politik, der einen Lebenszusammenhang erfasst, in dem Individuen nicht ohneeinander auskommen. Die Erhaltung und Entfaltung dieses Lebenszusammenhangs aber hängt davon ab, dass die Einzelnen begreifen, was er ihnen für ihr eigenes Dasein bedeutet. Politische Verantwortung ist die in vollem Umfang wahrgenommene Verantwortung für sich

19

Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 71. Zum letzten Punkt siehe: Jaspers, Erneuerung der Universität (1945), S. 138; ders., Die Schuldfrage (1946): „Als im November 1938 die Synagogen brannten und zum erstenmal Juden deportiert wurden [. . .]. Die Generale standen dabei. In jeder Stadt konnte der Kommandant eingreifen, wenn Verbrechen geschahen. Denn der Soldat ist zum Schutze aller da, wenn Verbrechen in einem Umfang geschehen, daß die Polizei sie nicht verhindern kann oder versagt. Sie taten nichts.“ (S. 65) 21 Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 74. 20

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selbst. Wollte man einen Titel für diese Einsicht finden, müsste man wohl von einem existentiellen Liberalismus sprechen. Dieser Liberalismus kommt ohne Präferenzen-Kataloge, ohne Maximin-Kalkulation und ohne Gefangenen-Dilemma aus, und er braucht auch nicht aufwendig gegen Amoralisten und Trittbrettfahrer zu argumentieren, die sich durch Argumente ohnehin nicht überzeugen lassen. Er benennt auch keine Position innerhalb des Parteienspektrums, sondern bezeichnet die Stellung, aus der es zu einer von Menschen gewollten Politik überhaupt erst kommt. Ohne eigenständige Individuen, die in bewusster Abgrenzung gegenüber anderen und in Abwehr drohender Gefahren nach ihren eigenen Vorstellungen leben wollen, ist eine politische Organisation gar nicht zu denken. Das gilt nicht nur für die Gründung, sondern auch für den Erhalt einer jeden unter einem leitenden Willen verfassten Gemeinschaft. Deshalb fängt in der Politik alles damit an, wie sich das Individuum versteht – ein Verständnis, in dem der Einzelne ursprünglich auf seinesgleichen bezogen ist. Also kommt es auf die Selbsterkenntnis an, aus der Platon, Hobbes und Kant die Politik begründen. Sie nimmt Jaspers als existentielle „Selbstbesinnung“, als „Existenzerhellung“ oder als die Erinnerung des Menschen an sich selbst mit ausdrücklichem Bezug auf seine Epoche wieder auf.22 Und im Begriff der „existentialen Kommunikation“ hat er einen Begriff, der auch die ursprüngliche Beziehung des Einzelnen auf seinesgleichen fassen kann.23 Dieser Impuls wird mit dem Tag der Befreiung durch die Amerikaner am 1. April 1945 zum Ausgangspunkt des sich selbst als Bürger exponierenden politischen Denkers. Nun wird die öffentliche Darstellung seiner Theorie zur ausdrücklich gewollten politischen Praxis. Auch wenn Jaspers selbst noch sein „Atombomben-Buch“ – so nennt er es im Briefwechsel mit Hannah Arendt, und sie macht ein „Atom-Buch“ daraus24 –, auch wenn er dieses aufsehenerregende Buch über Die Atombombe und die Zukunft des Menschen als „Mitteilung bloßen Denkens“ versteht,25 so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass er sich durch die unermüdliche publizistische Präsenz, durch Bücher, Zeitschriftenaufsätze, Zeitungsartikel, Interviews, Reden, Rundfunkansprachen und eine weitgespannte Korrespondenz sowie durch die Aktualität der Themen mitten in die politische Auseinandersetzung begibt.

22

Siehe dazu den Schlussabschnitt Erweckende Prognose in GSZ, S. 191 ff. Dieser in der Philosophie noch ganz auf eine exklusive Zweierbeziehung restringierte Begriff wird im Buch über Die Atombombe und die Zukunft des Menschen mit Blick auf eine auf Wahrheit ausgerichtete Öffentlichkeit erweitert und somit auch politisch tragfähig gemacht. Siehe dazu Wiehl, Jaspers’ Bestimmung des Überpolitischen. 24 Vgl. die Briefe v. 17.1., 24.4., 1.5. und 8.8.1958 in Arendt/Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, S. 377, 385, 386 und 387. 25 Vgl. Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, S. 23. 23

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Hier sucht er durch eigene Praxis zu erweisen, dass die Zukunft der Politik im „Kampf um die Wahrheit“ 26 entschieden wird.27 Wer dies für eine Floskel hält, die nur Philosophen in den Sinn kommen kann, der frage sich, woran der sowjetische Kommunismus zumindest auch gescheitert ist. Jaspers war der Ansicht, die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus sei wesentlich ein Kampf um den freien Zugang zur Wahrheit, die natürlich stets umstritten ist. Aber gerade um den Streit möglich zu machen, gelte es, weltweit für den freien Verkehr der Nachrichten und Gedanken einzutreten.28 Die Entwicklung hat ihm auf geradezu phantastische Weise recht gegeben. Seine Skepsis gegenüber einer Koexistenz mit den kommunistischen Staaten, die Freiheit, Individualität und Recht nur zum Schein anerkennen, hat sich bewährt. Seine Anfang der sechziger Jahre für größte Aufregung sorgende deutschlandpolitische Forderung nach Anerkennung des status quo – aber ohne ideologische Kompromisse – ist faktisch zur Politik der Bundesrepublik geworden, auch wenn es zweier sich gerade in dieser Frage heftig befehdender Parteien in aufeinanderfolgender Regierungsverantwortung bedurfte, um sie mit der Aufhebung der Teilung, wie sie Jaspers letztlich immer gewünscht hatte, ans Ziel zu bringen. Aber auch dort, wo Jaspers sich, wie etwa in der Verfassungsfrage (jedenfalls in meinen Augen), irrt,29 hat er uns durch seinen Mut zur provozierenden Wahrheit ein Beispiel gegeben. Das ist möglich, weil seine Politische Philosophie aus der unmittelbaren Teilnahme an dem Geschehen entsteht, das über Gegenwart und Zukunft des Menschen entscheidet. Dieses Geschehen ist die Politik. Und wir können das darin unvermeidliche Bestimmen des einen über den anderen nur ertragen, wenn wir unser eigenes Prinzip in diese Bestimmung legen und daraus unsere Hoffnung machen.

26

Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, S. 143. Vgl. auch Jaspers’ Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1958: Wahrheit, Freiheit und Friede, S. 174. 28 Vgl. Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, S. 151. 29 Jaspers kritisiert den Modus der Verabschiedung des Grundgesetzes. Er vermisst eine breite Debatte im Volk mit anschließender Volksabstimmung. Er unterschätzt die Zustimmung, die sich ein Gesetz in der historischen Wirksamkeit erwirbt. Immerhin benennt er in seiner Kritik an der Genese des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von Problemen, die 1990 bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht geringe Schwierigkeiten bereitet haben. Sein Vorschlag zur politischen Verankerung der Verfassung im Bewusstsein des Volkes entspricht weitgehend der Konzeption der „runden Tische“ in der ehemaligen DDR (vgl. dazu Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung, S. 66 ff.). 27

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IV. Politik zur Sicherung einer menschlichen Existenz Um die Energie zu verstehen, mit der sich Jaspers im Frühjahr 1945 augenblicklich der politischen Aufgabe stellt, genügt ein Hinweis: Kurz vor dem Eintreffen der amerikanischen Armee hatte er durch eine Indiskretion aus Polizeikreisen erfahren, dass für den 14. April 1945 definitiv seine Deportation geplant war. Am 1. April war er somit zum Leben befreit. Durch Politik war er damit von der politischen Existenzbedrohung erlöst. Also stellt er sein Philosophieren in den Dienst einer Politik, die ihn gerettet hat und deren Ziel es ist, die Wiederkehr der Rechtlosigkeit, der ideologischen Verblendung und des Massenwahns zu verhindern. Sein schon lange vorher begründetes Interesse am Aufbau einer internationalen Rechtsordnung mit einem europäischen Bündnissystem, das dem Kommunismus notfalls auch mit Waffen entgegentritt (weil er, wie gesagt, Freiheit, Individualität und Recht negiert), hat nun noch ein ganz persönliches und doch zugleich hochpolitisches Motiv: „Ein Deutscher kann es nicht vergessen, daß er mit seiner Frau sein Leben den Amerikanern verdankt gegen Deutsche, die im Namen des nationalsozialistischen deutschen Staates ihn vernichten wollten.“ 30 Selbst in diesem Dank an die Fremden, die ihn gerettet haben, bleibt Jaspers dem natürlichen und geistigen Zusammenhang, aus dem er stammt, verbunden; sogar in dieser extremen Lage zeigt sich, dass die übernationale Zielsetzung der Politik nicht mit der Preisgabe der eigenen nationalen Herkunft erkauft werden muss. Karl Jaspers entwirft seine Politik nicht als ein Weltbürger, der sich zufällig auf deutschem Boden befindet; er versteht sich vielmehr ausdrücklich als deutscher Weltbürger. Und von diesem Verständnis sind seine politischen Analysen, Erinnerungen, Mahnungen und Visionen getragen. Deshalb auch kann uns kaum ein anderer so viel politische und moralische Unterstützung bei der schwierigen Suche nach einer neuen weltpolitischen Rolle des vereinten Deutschland geben wie er. Das Gleiche gilt für die längst fälligen Schritte zur politischen Integration Europas. Dass er als einer der ersten die Konzeption willentlich eingeschränkter Souveränität entwirft, sei hier nur am Rande erwähnt.31 Wer sein politisches Denken nicht in der Konzentration auf ein bestimmtes Begründungsmodell oder in der Wiederbelebung klassischer Ansätze entwickelt, der nimmt notwendigerweise eine Fülle aktueller Fragestellungen auf. Entsprechend ist der Reichtum an konkreten Einsichten in Jaspers’ Werk. Schon in den grundsätzlichen Problemen ist die Vielfalt eindrucksvoll: Da ist das Verhältnis von nationaler Herkunft und internationaler Verständigung; die Sicherung des Friedens, bei der auch angesichts einer vollkommen neuartigen Bedrohung die Freiheit nicht preisgegeben werden darf; die Achtung vor den Menschenrechten;

30 31

Jaspers, Philosophische Autobiographie, S. 74. Vgl. Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung, S. 12.

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der Respekt vor der Verfassung und der Akt, in dem sie zur Anerkennung kommt; die eminente Aufgabe der Erziehung; die Funktion der Öffentlichkeit und die Rolle der Medien; die Unverzichtbarkeit der Demokratie; die Unabhängigkeit der Justiz; die Stellung der Parteien; die aus individuellem Anspruch erwachsende Leistung politischer Führung; die Verantwortung der Wissenschaft, die mindestens ebenso wichtig ist wie die Verantwortung der Gesellschaft für die Wissenschaft; die Differenzierung zwischen Recht und Moral; die Position der Politik angesichts der Vielfalt der Religionen und schließlich im Bewusstsein der Gefährdung, die niemals aufhört: die militärische Verteidigung und ihre politische Kontrolle in einer zivilen Gesellschaft. – Hinzu kommen zahllose konkrete, aber nicht minder grundsätzliche Äußerungen zur unentschlossenen Entnazifizierung, zur Solidarität mit Israel, zur Notstandsgesetzgebung oder zur Rolle von Augsteins Spiegel. Die Aufzählung illustriert die These von der Dürftigkeit der gegenwärtigen Theoriebildung, von der eingangs die Rede war; sie macht am Ende aber auch verständlich, dass darauf in einem Vortrag nicht im Detail eingegangen werden kann. Mir kommt es zum Schluss auch auf etwas anderes an: Als politischer Denker steht Karl Jaspers bewusst auf dem Standpunkt der Modernität. Er entwirft seine Politische Philosophie in Auseinandersetzung mit den politischen Erfahrungen dieses Jahrhunderts. Er denkt im Schatten des Totalitarismus und gehört zu den Ersten, die auch die technische Selbstbedrohung der menschlichen Gattung in die Theorie einbeziehen. In seine Beschreibung der Gefahr der Atomrüstung und der möglichen Folgen des Einsatzes nuklearer Waffen können wir heute auch die möglichen Konsequenzen einer ökologischen Katastrophe eintragen. Die ökologische Bewegung ist ja selbst über die Erkenntnis der allgemeinen Risiken der technisch genutzten Kernenergie zur Wahrnehmung anderer Folgeschäden der wissenschaftlich-technischen Zivilisation gelangt. Und wenn Jaspers am Ende seines Buches über die Atombombe auf die „Grundfrage“, nämlich „Wodurch ist das Leben lebenswert?“ 32 kommt, dann erkennt man den äußersten Punkt, von dem aus sich die Politik zu begründen hat. In dieser Begründung greift er auf keine Gewissheit zurück, die nur durch Tradition oder Offenbarung beglaubigt ist. Die Religion kann dem, der ihrer bedarf, Kraft und Hoffnung geben; aber sie hat in der Begründung der Prinzipien eines freien, weltoffenen Handelns schon wegen der Pluralität der Konfessionen jeden Anspruch verloren. Auch die Vernunft, auf die sich die Grundsätze und Grundrechte menschlichen Zusammenlebens zu stützen haben, lässt sich nicht als kulturelle Größe in Anspruch nehmen; die Vielfalt der Lebensformen muss auch hier zu einem Einwand führen. Deshalb kann sie nur in der individuellen 32

Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, S. 478.

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Aneignung zur Geltung kommen; nur über sie beziehen auch die Institutionen, die der Instabilität von Individuen vorbeugen, ihre normative Wirksamkeit. Auch wenn das Individuum unter dem Anspruch der Wahrheit, in der Herausforderung durch mitmenschliche Kommunikation oder in der Rückhaltlosigkeit der Liebe weiß, dass es nicht alles ist und seine Kraft, wie Jaspers sagt, aus der Transzendenz eines „Umgreifenden“ bezieht, so bleibt es doch die einzige Instanz, vor der sich die Rechtmäßigkeit eines Geschehens und der Wert eines Daseins ausweisen lassen. Es ist der existentielle Anspruch des einzelnen Menschen mitsamt der in ihm zur Wirklichkeit und Wirksamkeit kommenden Freiheit, der auch noch den Wert eines Lebens bestimmt, das sich niemals bloß als einzelnes Leben erhalten kann. Auf den ersten Blick erscheint das als unerhörte Anmaßung des Menschen, ja, als Exzess seiner modernen Selbstermächtigung. Aber spätestens seit dem Scheitern des Versuchs von Hans Jonas wissen wir, dass uns gar nichts anderes übrigbleibt, als in der Legitimierung von Zielen und Werten von uns selbst auszugehen. Denn jeder begründungstheoretische Vorrang einer anderen Instanz, heiße sie nun „Leben“, „Natur“, „Sein“, „Geschichte“, „Praxis“ oder „Gott“, hat die Vernichtung dessen zur Folge, um dessen Begründung es uns geht: nämlich der Freiheit und der Würde des Menschen. Gehen wir dagegen von unserer bereits in der Freiheit individuell wirksamen Vernunft als dem Fundament, das wir in jeder Begründung ohnehin in Anspruch nehmen, aus, halten wir uns an die ursprünglich nur in der Existenz des Individuums hervortretende Instanz der Vernunft, die uns allererst einen Begriff von Wert, Welt und Gott vermittelt, dann haben wir immerhin die Möglichkeit, nicht nur vernünftig mit der Natur, dem Leben und dem Sein umzugehen, sondern auch Gott als den unbegreiflichen Grund unseres Daseins anzuerkennen. Die Vernunft als Instrument und als Instanz unserer Selbst- und Weltbewertung wird notwendig zum Kriterium, ohne das wir nichts auch nur als sinnvoll verstehen können. „Vernunft“, so heißt es in der Schlusspassage des Buches über die Atombombe, „ist in der Welt das Letzte, worauf wir uns gründen können.“ 33 Dies ist Jaspers’ begründungstheoretisches Programm. Es enthält – ohne die kontraktualistischen, ökonomistischen oder diskurstheoretischen Einschränkungen, die zwar einigen Präzisionsgewinn, zugleich aber auch einen beklagenswerten Relevanzverlust mit sich bringen – eine umfassende Theorie des ethischen Handelns, in deren Rahmen auch die Politik ihren spezifischen Ort zugewiesen bekommt: Sie beginnt dort, wo das Individuum an die „Grenzen seines Machens“ kommt, aber dennoch tätig werden muss, um überhaupt nach eigenen Vorstellungen leben zu können. Und sie endet dort, wo eine Gemeinschaft – letztlich die Menschheit als ganze – an die „Grenze ihres Machens“ gelangt, wo 33

Ebd., S. 490.

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sie zwar Erwartungen, Wünsche und echte Nöte hat, aber nichts mehr ausrichten kann. Denn ihre Kraft reicht nur dazu, sich einen „sterblichen Gott“ (Hobbes) zu schaffen. Die zweifache Grenze, die Jaspers dem politischen Handeln zieht – im Ursprung des Individuums selbst und in der Machbarkeit der Dinge –, bestimmt zugleich dessen Ort im Leben. Darüber erfahren wir in den dominierenden Theorien der Gegenwart so gut wie nichts – von zaghaften Versuchen, der Politik einen anthropologischen Unterbau zu geben, einmal abgesehen.34 Das existentielle Denken hat in der Tat immer auch eine anthropologische Selbstauslegung des Menschen zu sein. Aber so wie Jaspers das „Selbstsein“ des Menschen angeht, ist die naturale Anthropologie immer schon überschritten – in Richtung auf eine umfassende Ortsbestimmung des Menschen, die mit der Philosophie überhaupt zur Deckung kommt. Somit hat die Politische Philosophie bei Jaspers eine geradezu metaphysische Reichweite. Die ist der Gegenwartsphilosophie im Allgemeinen und der Politischen Philosophie im Besonderen abhanden gekommen. Viele sehen darin einen Fortschritt, weil sie glauben, metaphysisches Denken sei abstrakt und führe von den uns wichtigen Dingen weg. Das politische Denken von Karl Jaspers könnte sie eines Besseren belehren. V. Ein Blick zurück auf Platon Nach Jaspers hat die Politik also eine zweifache Grenze: Einmal im Individuum selbst. Ihm entspringt sie, aus ihm bezieht sie ihren Sinn; seine Würde hat sie unbedingt zu respektieren. Hier hat Jaspers aus seinen Erfahrungen während der Nazi-Diktatur die deutlichsten Konsequenzen gezogen; zwischen 1945 und 1955 hat er sich wesentlich den Fragen einer Sicherung des individuellen Grundes gewidmet, aus dem alle Politik überhaupt erst ihren Auftrag erhält. Darauf folgt die Beschäftigung mit der äußeren Grenze der Politik, die in der technischen und ökonomischen Machbarkeit liegt: Die Politik kann und muss bereits von ihrem Auftrag her wissen, dass ihr nicht alles möglich sein darf; deshalb ist sie aus ihrem eigenen Grund zur Selbstbeschränkung genötigt. In beiden „Grenzerfahrungen“ des politischen Handelns steht Jaspers unmittelbar in unserer Zeit. Er kann auch am Ende des Jahrhunderts als ein durch und durch moderner Denker gelten. Die Moderne ist freilich nicht ohne Tradition. Wie weit diese Überlieferung reichen kann, lässt sich an Nietzsche illustrieren, der die Moderne mit Sokrates beginnen lässt.35 Und so ist es keine Kritik, sondern nur eine Akzentuierung meiner Anerkennung, wenn ich sage, dass Jaspers sowohl in seiner Ursprungswie auch in seiner Endbestimmung der Politik Platon besonders nahe ist. Mein 34 35

Vgl. Höffe, Politische Gerechtigkeit. Siehe dazu v. Verf., Die Moderne beginnt mit Sokrates.

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stärkster Einwand gegen ihn liegt darin, dass ihm diese Nähe zu Platon nicht hinreichend bewusst gewesen ist. Wohl ahnt er die gemeinsame Quelle, aus der er mit Platon (und Kant) schöpft. So rügt er Hannah Arendt mit der Entschiedenheit des Lehrers, als sie 1956 das Urteil Heideggers über Platons angebliche Seinsvergessenheit übernommen hat.36 Er weiß offenbar vom gemeinsamen Ausgangspunkt sowohl in der Überzeugung vom Wert der Erziehung wie auch in der Gewissheit, dass die sinnlich erkannte Welt nicht alles ist. „Platoauffassung“, so heißt es im Brief, „ist [. . .] ein Kriterium des eigenen Philosophierens.“ 37 Davon ist auch das Schlusskapitel des Buches über die Atombombe geprägt. Zugleich aber sieht Jaspers Platons Beschränkung darin, dass dieser die äußere Grenze nicht gesehen habe, die dem Menschen in der Staatsorganisation gesetzt ist. Platon habe geglaubt, dem Menschen stehe „unendliche Zeit“ zur Verfügung.38 Nun wusste aber Platon sehr wohl von dem Druck der Zeit. Auch für ihn können die Menschen in der äußeren Verfügung nur in dem engen Rahmen bleiben, den ihnen die Götter zur freien Entfaltung – zeitweilig (!) – gelassen haben. Das belegt der Mythos von der Spindel im Politikos. Er zeigt die durch Natur und Geschichte gesetzten Grenzen des politischen Handelns auf. Eine andere Grenze wird in der Selbsterkenntnis freigelegt, die nur dem gelingen kann, der den Blick aus dem Auge des Anderen aushält. Im Grunde macht jede menschliche Institution – und jedes Individuum – die Grenzen des Machens bewusst. Und die Unverfügbarkeit, die heute für die Technik oder die Wissenschaft in immer neuen Szenarios illustriert wird, kennt die Politik, seit es Staaten gibt: Im Staat hat der Mensch eine von ihm selbst geschaffene Einrichtung, die sich seinem Willen aber niemals völlig fügt. Diese Grenzerfahrung gehört a priori zur Politik. Warum am Ende dieser Hinweis auf eine ältere Tradition? Zum einen, um Jaspers auszuzeichnen: Er steht in einer großen Reihe, die über Kant bis auf Platon zurückreicht. Zum anderen aber muss durch den Hinweis auf einen alten Problembestand des politischen Denkens das Pathos gemildert werden, mit dem Jaspers unablässig spricht und das auf die Dauer schwer erträglich ist. Gewiss, die Vernichtungskraft der Nuklearwaffen ist neu, und die Schrecken des Totalitarismus hat es in dieser jeden Wert ruinierenden Form vorher nicht gegeben. Aber das Problem, das wir politisch mit ihnen haben, ist im Prinzip schon seit Langem vertraut. Die Politik bewegt sich nicht erst seit Hiroshima an 36 „Plato als weltgeschichtliche Ursache des Unheils der Richtigkeit, die an Stelle der Wahrheit tritt, und Wahrheit als ,Unverborgenheit‘, die Plato verlorengeht, das finden Sie großartig. Ich habe in meinem Exemplar des Aufsatzes 1942 zuletzt an den Rand geschrieben: ,etwas lächerlich‘.“ (Brief v. Jaspers an Arendt v. 12.4.1956, Arendt/Jaspers, Briefwechsel, S. 321) 37 Ebd., S. 322. 38 Vgl. Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, S. 456.

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der Grenze unseres Machens. Daher die Chancen, die sie bietet, aber auch die schrecklichen Risiken, die schon Thukydides geschildert hat. Das sollten wir nicht vergessen. Die Erinnerung an die Schrecken, die stets mit der Politik verbunden waren und es bis heute sind, erhöht die Gelassenheit, die wir gerade angesichts großer Probleme am dringendsten brauchen. Karl Jaspers besaß diese Gelassenheit kraft seiner philosophischen Gewissheit; als Kritiker und Mahner durfte er sich das nicht immer anmerken lassen. Bedenken wir also auch in unserem kritischen Urteil die Anlässe, die ihn zum Mahner und Warner werden ließen.

Literatur Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, hg. v. L. Köhler u. H. Saner, 3. Aufl., München 1993. Cassirer, Ernst: Der Mythus des Staates, Bern 1963. Gerhardt, Volker: Die Moderne beginnt mit Sokrates, in: Grunert, Frank/Vollhardt, Friedrich (Hg.), Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag, Tübingen 1998, S. 3–20. – Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999. Hennis, Wilhelm: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1991. Henrich, Dieter: Denken im Blick auf Max Weber, in: Jaspers, Karl, Max Weber. Gesammelte Schriften, hg. v. D. Henrich, München 1988, S. 7–31. Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankf./M. 1987. Jaspers, Karl: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit, 3. Aufl., München 1958. – Die geistige Situation der Zeit, 9. Abdruck d. 5. Aufl. von 1932, Berlin/New York 1999. – Die Schuldfrage (1946), Neuausg., München 1987. – Erneuerung der Universität (1945), in: ders., Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1958, S. 161–173. – Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 1960. – Max Weber. Eine Gedenkrede, in: ders., Max Weber. Gesammelte Schriften, hg. v. D. Henrich, München 1988, S. 32–48. – Philosophische Autobiographie, erw. Neuausg., 2. Aufl., München 1984. – Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1958, in: ders., Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945–1965, S. 173–185.

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Novalis (Friedrich von Hardenberg): Werke und Briefe, hg. v. A. Kelletat, München 1962. Sternberger, Dolf: Jaspers und der Staat, in: Piper, Klaus (Hg.), Karl Jaspers. Werk und Wirkung, München 1963, S. 133–141. Wiehl, Reiner: Jaspers’ Bestimmung des Überpolitischen, in: ders./Kaegi, Dominic (Hg.), Karl Jaspers – Philosophie und Politik, Heidelberg 1999, S. 81–96.

Politik und Existenz Eric Voegelins Suche nach der Ordnung in uns selbst (Sammelrezension für die Philosophische Rundschau) Reihe Periagogé, herausgegeben von Peter J. Opitz in Verbindung mit dem Eric Voegelin-Archiv, München, W. Fink: – Eric Voegelin: Die politischen Religionen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz. München 1994. – Eric Voegelin: Autobiographische Reflexionen. Herausgegeben, eingeleitet und mit einer Bibliographie von Peter J. Opitz. München 1994. – Eric Voegelin: Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne. Herausgegeben und eingeleitet mit einem Essay von Peter J. Opitz. München 1994. – Eric Voegelin: „Die spielerische Grausamkeit der Humanisten“. Eric Voegelins Studien zu Niccolò Machiavelli und Thomas Morus. München 1995. – Eric Voegelin: Die Größe Max Webers. München 1995 (mit drei Studien aus den Jahren 1925, 1930 und 1952/1991 sowie der 1992 erstmals publizierten Korrespondenz mit Leopold von Wiese und Marianne Weber). – Eric Voegelin: Evangelium und Kultur. Das Evangelium als Antwort. Mit einem Vorwort von Wolfhart Pannenberg, München 1997.

1. Die weltpolitische Perspektive der Theorie. Von Weltgeschichte und Weltpolitik ist nicht erst im 20. Jahrhundert die Rede gewesen. Schon die großen Reiche der Antike hatten einen auf alle Völker ausgreifenden Anspruch. Der platonische Sokrates hält es für unmöglich, auch nur die Stadt Athen regieren zu wollen, wenn man den Weltkreis der Staaten nicht kennt.1 Aristoteles scheint dafür die theoretischen Voraussetzungen schaffen zu wollen, wenn er die Verfassungen von 158 Staaten sammelt. Cicero formuliert seine politische Ethik im Bewusstsein eines ausdrücklich „globalen“ Zusammenhangs.2 Dieser, mit der antiken Politik offenbar von Anfang an verbundene Ausgriff auf den gesamten Raum, der Gefahren bergen und dem eigenen Handeln entgegenstehen kann, hat, noch ehe er sich faktisch einlösen lässt, eine globale Resonanz: Der Gedanke von Großkönigtum, Reich und universaler Herrschaft wurde auch von denen verstanden, die sich der Großmacht widersetzten. Die mongolische Expansion des 13. Jahrhunderts war von der Überzeugung getragen, dass 1 2

Vgl. Platon, Alkibiades I, 105 b/c. Vgl. Cicero, Der Staat, VI , 15 f., S. 263 u. 265.

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Dschingis-Khan noch vor ihrer faktischen Eroberung de iure der einzige Herr der Erde ist; die christlichen und islamischen Missionen standen dem im Anspruch nicht nach. Doch erst mit der kolonialen Erschließung aller Erdteile ist daraus ein Faktum geworden, das zunächst nur eine religiöse, technische und ökonomische Bedeutung hatte, obgleich das Völkerrecht schon seit dem 16. Jahrhundert mit der Option auf einen den ganzen Erdkreis umspannenden politischen Raum argumentiert. 2. Weltpolitische Praxis. Zu einer nach Absichten vollzogenen Weltpolitik kam es gleichwohl erst mit den beiden großen Haager Friedenskonferenzen, denen dann der erste, mit Recht so benannte „Weltkrieg“ folgte. Die damit entstandene politische Lage hätte die politische Theorie nicht notwendig vor eine neue Aufgabe stellen müssen, wäre nicht ein säkularer Anspruch an die Begründung politischer Herrschaft hinzugekommen. Die überlieferte Legitimation durch Berufung auf eine göttlich sanktionierte natürliche Ordnung schien gänzlich außer Kraft gesetzt, und auch deren neuzeitlicher Ersatz durch die Instanzen menschlicher Vernunft schien kompromittiert – noch bevor er zu ausdrücklich institutioneller Wirksamkeit gelangte. Vor dem Historismus, dem Biologismus und dem Ökonomismus des 19. Jahrhunderts schien selbst noch die Idee eines Recht stiftenden Vertrags entwertet, der von Hobbes bis Kant die Hoffnung nicht nur auf Begründung politischer Ansprüche, sondern auch auf eine Kontinuität mit den antiken Staatslehren genährt hatte. Bekanntlich war ja bereits Platon der Vertragsgedanke vertraut, nur wusste er, dass sich auf ihn allein kein Staat gründen lässt. Die auf alle Menschen ausgreifende Politik des 20. Jahrhunderts schien sich lediglich auf die tatsächlich ausgeübte Macht zu stützen, die sich je nach Interessenlage auch wissenschaftlicher Einsichten bediente. Damit traten die Ideologien auf den Plan, die alle überlieferten Maßstäbe korrumpierten. Ihnen stand eine, sich auf strikte Objektivität verpflichtende Wissenschaft gegenüber. Die unter dem Ideal der Sachlichkeit stehenden Methoden objektiver Erkenntnis boten zwar die Möglichkeit, den Ideologen ihre historischen und logischen Fehler vorzurechnen, zu einer eigenen Begründung politischer Ordnung aber sahen sie sich nicht imstande. 3. Große Praxis ohne Theorie; große Theorie ohne Praxis. Max Weber hat aus dieser Lage einen Ausweg gesucht, indem er die von ihm mit besonderer Schärfe exponierte Sachlichkeit der szientifischen Erkenntnis dem Gebrauch durch souveräne Individuen anheimzustellen suchte. Die Wertfreiheit der Wissenschaft galt ihm als besondere Herausforderung für ihren wertenden Gebrauch durch den verantwortungsbewussten Einzelnen. Und so sehr Weber in seinen eigenen politischen Urteilen von nationalen Aufgaben durchdrungen war, so wichtig war ihm die welthistorische und weltpolitische Dimension seiner soziologischen Analysen. Aus fast allen Regionen der Erde und aus so gut wie

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allen Epochen der Geschichte hat er Material zu einer Sinnanalyse gesellschaftlichen Handelns zusammengetragen und nach unscheinbaren, aber überaus trennscharfen Kategorien geordnet. Doch es blieb ihm nicht die Zeit, seine kulturübergreifende Analyse von Einstellungen und Formen menschlichen Lebens mit den normativen Ansprüchen zu verbinden, die nicht nur seinen eigenen politischen Forderungen, sondern auch seiner individuellen Lebenspraxis zugrunde lagen. Die offenkundige Verbindung zwischen der politischen Theorie und der politischen Praxis, die er beide mit Leidenschaft betrieb, hat er nicht mehr auf Begriffe gebracht. Im ethisch-politischen Zentrum seines Werkes sehen wir zwar den Akteur, doch wie der sich selbst versteht, wenn er unter eigenem Anspruch wirksam ist, bleibt offen. Im produktiven Mittelpunkt der wichtigsten politischen Theorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht ein überragender Mensch – schade nur, dass er alles daran setzt, im selbst geschaffenen begrifflichen Vakuum theoretisch zu verschwinden. 4. Person und Politik. Man wird die Größe Max Webers nie verstehen, wenn man sie allein in den expliziten Aussagen seiner soziologischen Analysen zu fassen sucht. Erst im Blick auf die Person lässt sich die Einzigartigkeit der angezielten Lösung begreifen: Das Wissen kann nur in der eigenständigen Praxis des Einzelnen Bedeutung erlangen. Allein im Gebrauch durch das sich selbst bestimmende Individuum, das sich der erkannten Realität im Bewusstsein seiner eigenen Verantwortung stellt, gewinnt die Analyse ihren praktischen Sinn. In der problembewussten, realitätsbezogenen und individuell verantworteten Entscheidung liegt die Wahrheit einer Politik, die nun nicht allein durch ihre Praxis, sondern auch durch den Horizont ihres Wissens „Weltpolitik“ sein muss. In diesem Rahmen können, ja, müssen dann auch die personalen, sozialen, kulturellen und nationalen Belange des Individuums vertreten werden; anders hätte die Rede von der Verantwortung des Einzelnen keinen Sinn. Max Weber hat in seiner Person kenntlich werden lassen, wie im Zeitalter der Wissenschaft Weltpolitik aus dem Bewusstsein des Weltbürgers betrieben werden kann, nämlich nicht allein durch rationale Begründung, sondern zugleich durch verantwortliche Vertretung der eigenen Interessen. In der Politik bewegt sich nichts ohne persönliche Hingabe an eine als allgemein erkannte Sache. 5. Im Schatten einer Existenz. Alle bedeutenden politischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts stehen in der bewussten Nachfolge Max Webers. Zu nennen wären Maurice Hauriou, Carl Schmitt, Raymond Aron, Helmut Kuhn, Michael Oakeshott, Hannah Arendt, Dolf Sternberger und Wilhelm Hennis. Selbst Leo Strauss kann den Einfluss Webers nicht verleugnen. Allein John Rawls bildet eine Ausnahme; er hat mit seiner Kritik am ökonomistischen Utilitarismus eine ältere Tradition aktiviert. Und so, wie er auf Hobbes, Locke und Kant zurückgeht, haben die gegen ihn angetretenen Kommunitaristen die Position Hegels

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erneuert. Insofern blieb die jüngste angelsächsische Theoriedebatte durch Einsichten geprägt, die für Weber längst historisch geworden waren. Trotz seiner weitreichenden Wirkung haben nur wenige Theoretiker den personalen Impuls Max Webers wirklich verstanden. Zu den Ausnahmen gehört Karl Jaspers. Er hat zwar schon 1920 die zentrale Stellung des Anspruchs auf individuelle Lebensgestaltung hervorgehoben;3 1932 hat er die politische Dimension von Webers existentieller „Selbsterkenntnis der Gegenwart“ monographisch ausgearbeitet.4 Doch erst in Jaspers’ eigener Wende zur Politischen Philosophie sind daraus systematische Konsequenzen gezogen worden.5 Spuren von Jaspers’ existentiellem Liberalismus finden sich dann auch in dem von Hannah Arendt für unverzichtbar gehaltenen personalen Heroismus. Wer aber erinnert sich heute noch daran, dass dies ein Charakterzug ihrer Lehre ist? Ihr Name ist in aller Munde, doch dass sie vom Individuum nicht nur Freiheit und Urteilskraft, sondern auch Größe fordert, wird selten erwähnt. Ihr politischer Mentor, der das systematische Werk geschrieben hat, von dem beide hofften, dass Hannah Arendt es schreiben würde,6 ist heute so gut wie vergessen. 6. Von Weber zu Rawls. Jaspers und Arendt sind nicht die Einzigen, die den individuellen Impuls Max Webers in ihre theoretischen Bemühungen aufgenommen haben. Man müsste Ernst Cassirers Analysen zum Geist des Republikanismus und zur Rolle des Mythos nennen7 und dürfte, wenn man ihn erwähnt, die ganz auf die Individualität gegründete Philosophie der Politik seines Schülers Eric Weil nicht vergessen.8 Aber wer weiß heute noch von Eric Weil? Welche Rolle haben seine Einsichten in der Politischen Philosophie nach 1968 gespielt? Hier hat es im Wesentlichen nur die Nachhutgefechte der Ideologen gegeben und im wohltuenden Kontrast dazu den pragmatischen Prinzipienschematismus der Gerechtigkeitslehre von John Rawls. Für den frühen Rawls schrumpft die politische Welt allerdings auf einen Raum zusammen, in dem es Güter zu verteilen gibt. Er begnügt sich mit der

3 „Einen existentiellen Philosophen aber haben wir in Max Weber leibhaftig gesehen.“ (Jaspers, Gedenkrede, S. 36) 4 Vgl. Jaspers, Max Weber. 5 Vgl. Verf., Existentieller Liberalismus (in diesem Band S. 211–229). 6 Vgl. Arendt/Jaspers, Briefwechsel. 7 Näheres dazu bei Recki, Die Kultur der Humanität. 8 Vgl. Weil, Philosophie politique. – Im Licht der Studien von Reinhard Mehring wäre auch Thomas Mann als bedeutender politischer Diagnostiker zu nennen. In seinen politischen Essays, aber auch in seinen Romangestalten macht Thomas Mann die Selbsterkenntnis eines moralisch motivierten Individuums zum Ausgangspunkt einer humanitären Perspektive, ohne die Politik gar nicht verstanden werden kann. Siehe dazu Mehring, Thomas Mann.

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Aufgabe, die Kriterien für deren faire Verteilung zu erörtern. Statt nach Weisheit zu suchen, hängt er sich in einem kuriosen Missverständnis dessen, was Unparteilichkeit bedeutet, den „Schleier des Nichtwissens“ über. Der Theoretiker der „Fairness“ erkennt nicht, dass man, um auch nur gerecht sein zu wollen, über Selbsterkenntnis verfügen muss, die ein klares Bewusstsein von der Differenz zu seinesgleichen verlangt. Politik, wie sie von Platon bis Hegel gedacht worden ist und wie Max Weber sie im personalen Gebrauch der Wissenschaft zu retten versucht, kommt hier nicht mehr vor. Durch die beibehaltene strikte Trennung zwischen Politik und Moral ändert sich das auch nach den Zugeständnissen nicht, die der späte Rawls seinen Kritikern gemacht hat. Sein Verdikt gegen den Bombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki spricht für seine humanitäre Gesinnung, ist durch seine politische Theorie aber nicht gedeckt. 7. Große Einsicht und kleiner Irrtum. Wenn man so urteilt, wird man mindestens zwei Ausnahmen machen müssen, die mit Blick auf das letzte Drittel des Jahrhunderts freilich nur noch in ihren Nachwirkungen zur Debatte stehen. Die erste Ausnahme bildet das Werk von Leo Strauss, dem wir die Erinnerung an den originären Zusammenhang von Politik und Philosophie verdanken. Politik wird auf die Ursprungsintention von gedanklicher Durchdringung und bewusster Gestaltung des menschlichen Daseins zurückgeführt. Die Politische Philosophie erscheint als Elementarlehre des Denkens, weil sie alles umfasst, was der Mensch aus sich und seiner Welt machen kann. Damit strebt das politische Denken zu der Größe zurück, die es in seinem platonischen Anfang hatte. – Die Selbstdarstellung des Menschen im politischen Raum hat darauf nie Verzicht getan; nur war ihr die politische Theorie, die sich primär als Kritik an den Verhältnissen versteht, nicht mehr gewachsen. Dem ist Leo Strauss mit seinen imposanten historischen Analysen entgegengetreten. Dabei hat er allerdings den Fehler gemacht, die nur unter moralischen Selbstansprüchen zu rechtfertigende Unterscheidung zwischen den Besten, die allein ihrer Einsicht zu folgen suchen, und den Vielen, denen ihre Eigenständigkeit weniger wichtig ist, politiktheoretisch zu dogmatisieren. So verfehlt er den ursprünglich öffentlichen, auf Freiheit und Gleichheit gegründeten Charakter politischen Handelns, indem er es mit der aus der priesterlichen Praxis stammenden Unterscheidung zwischen Esoterik und Exoterik zu verknüpfen sucht. 8. Öffentlichkeit und Existenz. Auch wenn die Politik ihre Macht stets nur in geteilter Form zur Verfügung stellt, auch wenn sie von der Rivalität der Personen und Interessen lebt und immer neue Parteiungen aus sich gebiert, kann sie das über die Gegensätze hinausreichende, vielleicht sogar über sie verfügende Wissen nicht in ein privilegiertes Abseits stellen. Die Lehre von der Politik darf sich dem öffentlichen Raum nicht entziehen. Sobald sie esoterisch wird, ist sie ihrem Gegenstand nicht mehr gewachsen. Und ihre Wahrheit kann sich nur bewähren, wenn sie sich selbst als eine res publica, eine öffentliche Angelegenheit, präsentiert und sich der allgemeinen Prüfung stellt. Deshalb erweist Leo

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Strauss seiner Theorie einen schlechten Dienst, wenn er sie dem Wissen einiger weniger anheimzustellen sucht. Gleichwohl ist Strauss den Grundfragen des Politischen näher geblieben als jene, die nur nach dem legitimierenden Konsens gesellschaftlicher Subjekte fragen. So paradox es auch erscheinen mag: Es ist vor allem die von ihm nicht aufgekündigte Verbindung zwischen religiöser Erfahrung und politischer Praxis, die ihn dem Politischen besonders nahe kommen lässt. Wie keine andere Tätigkeit des Menschen disponiert die Politik über Tod und Leben.9 Die Verfügung über das Schicksal vieler (durch die Aktivierung einiger weniger) Menschen gehört zu den apriorischen Grundbedingungen des politischen Handelns. Folglich steht es den Grenzbestimmungen des menschlichen Lebens ursprünglich nahe und macht den existentiellen Sinn des Politischen bewusst. Und erst in dieser existentiellen Dimension lässt sich erahnen, was das Politische dem Menschen bedeutet. 9. Ein Spiegel von Mensch und Welt. Die zweite Ausnahme bezieht sich auf das Werk von Eric Voegelin, das durch posthume Publikationen, durch den allmählichen Abschluss einer amerikanischen Gesamtausgabe sowie durch die Wirksamkeit seiner zahlreichen Schüler in den letzten beiden Jahrzehnten wachsende Aufmerksamkeit gefunden hat. In Deutschland liegt nunmehr eine Sammlung der wichtigsten Arbeiten vor, die der unermüdlich für das Werk seines Lehrers werbende Münchner Politikwissenschaftler Peter J. Opitz seit 1994 unter dem Titel Periagogé im Fink-Verlag ediert hat.10 Auch Voegelin bietet keinen Gesamtprospekt der politischen Phänomene. An vielen Fragen der klassischen Regierungslehre, der modernen Legitimitätsbeschaffung und ihrer effektiven Institutionalisierung scheint er noch nicht einmal interessiert. Ja, Politologen und die landläufigen Vertreter der Politischen Philosophie könnten in Zweifel ziehen, ob in Voegelins Büchern überhaupt von politischen Phänomenen die Rede ist. Grundrechte und ihre juridische Garantie, Gewaltenteilung, Rechts- und Sozialstaatsprinzip, Souveränität, Föderalismus und Subsidiarität, die Rolle der Parteien oder die Wechselwirkung zwischen Innenund Außenpolitik werden, wenn überhaupt, nur als Beispiele für die Eigenart des Politischen herangezogen. In allen historischen und institutionellen Details geht es immer nur um die Frage, was sie für den Begriff der Politik bedeuten und welche Relation von Mensch und Welt in ihnen zum Ausdruck kommt.

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Vgl. dazu vom Verf., Tod und Politik (in diesem Band, S. 103–123). Zu erwähnen ist ferner eine ergänzende Reihe mit Studien, die vor allem auf die zeitgenössischen Hintergründe des voegelinschen Denkens eingehen. Als erster Band erschien von Gilbert Weiss, Theorie, Relevanz und Wahrheit. Eine Rekonstruktion des Briefwechsels zwischen Eric Voegelin und Alfred Schütz (1938–1959), München: W. Fink 2000. Vgl. dazu den im gleichen Verlag 1985 von Richard Grathoff herausgegebenen Briefwechsel zwischen Alfred Schütz und Aron Gurwitsch. 10

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Doch eben dies, so meine ich mit Voegelin, ist die entscheidende Problemstellung der Politischen Philosophie: Ursprung, Wesen und Ziel der Politik lassen sich nur im Bezug auf die menschliche Selbsterfahrung bestimmen. Wer von ihr absieht, genauer (weil mehr ohnehin nicht möglich ist): Wer von ihr abzusehen versucht, begibt sich auf eine via negationis, die ihre Erkenntnis allein über die methodische Verfremdung erzielt. Das kann, wie uns die soziologische Systemtheorie vor Augen führt, heilsam kränken und sachlich aufklären, gibt aber noch nicht einmal empirische Fragestellungen vor und lässt nicht nur am Ende, sondern bereits am Anfang alles offen. 10. Politik als ernst genommener Selbstanspruch. Im Schatten dessen, was heute als Politische Philosophie gilt, erscheint Eric Voegelin so antiquiert wie jeder Mensch, der sich vom politischen Handeln etwas verspricht. Wer immer eine politische Absicht als intentio recta versteht und sich nicht dadurch beirren lässt, dass der politische Wille ein gebräuchliches Mittel zur eigenen Täuschung und zur Irreführung anderer ist, der nimmt sich selbst in seiner eigenen Zielsetzung ernst. Damit verknüpft er seinen Zustand (und sein Wissen davon) mit der Verfassung der Welt, in der sich bewegt. Also kann nur in diesem, von jedem Handelnden aktuell unterstellten Zusammenhang von Selbst und Welt ermittelt werden, worum es in dem geht, was unter der Bedingung ernst genommener Selbstansprüche „Politik“ genannt wird. Folglich hat man sich in sich selber umzutun, hat den eigenen Lebenskreis erkennend abzuschreiten und hat sich über seine aktiv erworbene Selbsterfahrung Rechenschaft zu geben, wenn man ermitteln will, was „Politik“ eigentlich heißt. Alles dies ist mit dem Begriff der periagogé umschrieben, der sich beim späten Voegelin mit zunehmender Häufigkeit findet und jene Selbsterkenntnis meint, die nur im tätigen Umgang mit sich und seinesgleichen gewonnen werden kann. Deshalb ist der Begriff für die vorliegende Sammlung auch gut gewählt: Er bezeichnet den aktiv erschlossenen Erfahrungshorizont des politischen Handelns, macht den selbstverständlichen Ausgangspunkt eines jeden politischen Wissens bewusst und lässt durch die Wahl des befremdlichen Begriffs schon von selber deutlich werden, dass hier ein Weg beschritten wird, der in einiger Entfernung von den vorherrschenden Methoden der Politikwissenschaft verläuft. 11. New Science of Politics – gegen den Zeitgeist. Leider nicht in der Sammlung enthalten ist Voegelins politiktheoretisches Manifest, die im Titel gewiss ein wenig zu ehrgeizig an Galileis und Vicos Nuova Scienza anschließende Neue Wissenschaft der Politik. Hier gibt es ältere Rechte des Alber-Verlags, so dass man die erstmals 1951 in Chicago vorgetragene und 1952 als New Science of Politics erschienene „Einführung“ in einer anderen Ausgabe lesen muss.11 11

Vgl. Voegelin, The New Science of Politics.

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Und das ist Pflicht, wenn man Ausgangspunkt, Weg und Ziel der periagogé Eric Voegelins erfassen will! In keiner anderen Schrift äußert er sich so konzentriert zu seinem Ansatz; nirgendwo sonst macht er das von ihm unablässig durchgearbeitete historische Material so transparent für seine eigene Absicht wie in diesem Buch. Gar nicht auszudenken, was aus der Politischen Philosophie geworden wäre, hätte man der New Science of Politics nur halb so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie A Theory of Justice. Rawls’ Konzeption schien eine größere praktisch-politische Relevanz zu haben: Nach 1968, als das Scheitern des Marxismus auch für die Intellektuellen offenkundig wurde, suchte man nach einer neuen Antwort auf die soziale Frage. Rawls bot eine Lösung, die Ungleichheit zwar nicht aufhebt, aber im Verfahren ausgleicht und politisch vertretbar macht. Dem deutschen Leser verhalf er zur philosophischen Legitimation jener verteilungstheoretischen Wende, die von der Sozialdemokratie in ihrem Godesberger Programm – unter dem Eindruck der „sozialen Marktwirtschaft“ Ludwig Erhards – praktisch längst vollzogen war. Voegelins New Science of Politics nimmt diesen Aspekt viel grundsätzlicher auf, indem sie den Marxismus schon von seinen theoretischen Konditionen her als den verhängnisvollsten Irrtum der Epoche ausweist. Aber auch das erklärt, warum dieser Theoretiker keine breite Aufmerksamkeit gefunden hat. Nach dem Ende des Marxismus sind dessen ehemalige Anhänger immer noch tonangebend, und sie legen den größten Wert darauf, dass mit ihren alten Überzeugungen schonend umgegangen wird. Ein Denker, der Marx dem Vorwurf der Fälschung aussetzt,12 darf nicht auf Verständnis bei dessen Anhängern rechnen, ganz gleich, ob er recht hat oder nicht. 12. Die gewollte Ordnung denken. Voegelins Neue Wissenschaft der Politik beginnt mit einer Kritik des sozialwissenschaftlichen Positivismus. Sie deckt das Selbstmissverständnis einer angeblich wertfreien Erkenntnis auf, die ein weites Feld aus gesellschaftlichen Wertungen erschließen will, das sie nur deshalb wahrnimmt, weil sie die vorkommenden Fälle als wichtig bewertet. Dann wird mit erkennbarer Sympathie die gewaltige Anstrengung Max Webers geschildert, der die Objektivitätsstandards der Wissenschaft wahren will und alle Wertungen über den persönlichen Einsatz des Einzelnen zur Geltung bringen möchte. Doch Max Weber musste scheitern, weil sich die Wertung nicht aus der Wissenschaft verbannen lässt. Er trieb den Positivismus auf die Spitze und machte damit dessen Grenze offensichtlich. Nun also ist ein anderes Verfahren „kritischer Klärung“ ausfindig zu machen. 12 Der Vorwurf ist auf den Umgang mit den Texten Hegels in den Pariser Manuskripten bezogen. Voegelin hat ihn in seiner Münchner Antrittsvorlesung 1958 erhoben. Vgl. dazu Voegelin, Autobiographische Reflexionen, S. 121; Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis.

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Dieses Verfahren entdeckt Voegelin in der ältesten politischen Wissenschaft, nämlich in der episteme politike des Aristoteles. Hier konstituiere sich die politische Wissenschaft als „Wissenschaft vom Menschen“, der als Element eben der „sozialen Realität“ verstanden wird, ohne die der Mensch sich selber nicht versteht. Diese Realität ist weder bloße Natur noch technisches Konstrukt; sie ist vielmehr eine „kleine Welt“, ein kosmion, ein lebendiges Ganzes also, dem der einzelne Mensch nicht nur als tätiges Wesen, sondern immer auch als Betrachter zugehört. Seine Bewertung des Ganzen und der von ihm erfahrenen Teile ist selbst ein wirksames Element des sozialen Geschehens. Die Gesellschaft gibt es nur in Verbindung mit ihrer „Selbstinterpretation“. 13. Kosmion – eine Ordnung, die uns entspricht. Man braucht nun lediglich zu ergänzen, dass die „Selbstinterpretation“ der Gesellschaft die des Menschen umfasst. Die aber ist nicht unabhängig von seinen Einstellungen, Erwartungen und Zwecken. Also geht auch sein Wollen mit in den Kontext ein, aus dem er sich versteht. Verstehen, Wollen und Handeln beziehen ihren Sinn immer auch aus der unterlegten Ordnung, die niemals bloß die gedachte Regel des handelnden Menschen sein kann. Die Ordnung braucht vielmehr ein Korrelat in der Welt, wenn die Aktivität des Menschen überhaupt Bedeutung haben soll. Deshalb zieht Voegelin in der Tat nur die nahe liegende Konsequenz, wenn er das kosmion des menschlichen Daseins auf die erlebte und erfahrene Ordnung des kosmos bezieht. Mögen die Auguren der Neuzeit auch noch so sehr den Ordnungsverlust beschwören, der mit dem Übergang zum mechanistischen Weltbild verbunden gewesen sein soll, mag der moderne Kosmos auch völlig frei von Zwecken sein: Die Entsprechung zwischen der Ordnung des Handelns und der Ordnung der Welt wird auch unter modernen Bedingungen benötigt, sofern das Handeln überhaupt einen Sinn haben können soll. Folglich ist die Selbstinterpretation der Gesellschaft kein nach innen gerichteter Akt, in dem sich der Mensch von der Natur isoliert. Im Gegenteil: Die „Selbsterhellung der Gesellschaft“ ist ein weit ausgreifendes Geschehen, das jede mögliche Bedeutung für die Weltbewältigung des Menschen verfügbar macht. 14. Selbstdeutung und Symbol. Man darf die Ironie nicht übersehen, mit der diese „neue“ Wissenschaft ausdrücklich die älteste aufnimmt – und dies in Anspielung an eine „Nuova Scienza“, die sich das meiste darauf zugute hielt, die älteste Wissenschaft hinter sich gelassen zu haben. Wer diese bewusste Brechung der Modernität im Denken Voegelins nicht bemerkt, könnte den Rückgriff auf Aristoteles für die Timidität eines Gelehrten halten, der aus Sicherheitsgründen dort verbleibt, wo er zufälligerweise etwas weiß. Man kennt dieses Stolzieren in alten Gewändern, in denen die Hilflosigkeit gegenüber der eigenen Zeit verborgen bleiben soll. Die Philosophie – mit ihrem unerlässlichen Bezug zur eigenen Tradition – begünstigt solche Possen, für die Heidegger – das Verdienst muss man ihm lassen – neue Maßstäbe gesetzt hat.

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Von alledem ist Eric Voegelin weit entfernt. Er ist ein mit entschiedenem Wirkungsanspruch auf die eigene Zeit bezogener Denker und hat ein durch und durch polemisches, also: kämpferisches Naturell, das mit beachtlicher Intensität auf die Bewältigung der Aufgaben des eigenen Zeitalters dringt. Deshalb ist seine Aristoteles-Deutung auch von provozierender Modernität. Die Vertreter der im Nachkriegsdeutschland dominierenden hermeneutischen Schulen konnten nur befremdet sein, dass hier einer die modernen Begriffe der „Repräsentation“, der „Existenz“ und des „Symbols“ an Aristoteles heranträgt. Tatsächlich ist der Effekt überaus modern: Die bereits von Aristoteles ernst genommene „Selbstinterpretation der Gesellschaft“ 13 vollzieht sich in „Symbolen“. Und diese „Symbole“ verdichten nicht nur die Sinngehalte der sozialen Welt auf Teile eines kosmischen Ganzen, sondern machen auch die sich in ihnen selbst erfahrenden Individuen zu Teilen eines Ganzen, in dem sich ihr eigenes Dasein als notwendig erfahren lässt. So sind schon die Symbole Repräsentanten eines Zusammenhangs, in dem jeder Einzelne seine Existenz als sinnvoll begreifen kann. Ehe Voegelin den Begriff der „Repräsentation“ zum basalen Terminus der politischen Ordnung erklärt, hat er ihn schon als unverzichtbare Kategorie der menschlichen Selbstdeutung eingeführt. 15. Existenzphilosophie ohne Existentialismus. Ich habe nicht geprüft, ob schon jemandem aufgefallen ist, dass Eric Voegelin eine Existenzphilosophie vertritt. Bedenken wir, in welchen Jahren er den Grund zu seiner „Neuen Wissenschaft“ gelegt hat (also zwischen 1940 und 1950), braucht das niemanden zu überraschen. Nur ist er von der Seichtigkeit des damals aufkommenden „Existentialismus“ völlig unberührt. Während Sartre zur Begründung seiner Entscheidung für den Existenzbegriff wenig mehr sagen kann, als dass der Begriff der Essenz ausgedient habe, weil Gott nicht mehr existiere,14 hält Voegelin nicht nur am Begriff des „Wesens“ fest, sondern auch an der Überzeugung von der Existenz Gottes. Allein darin zeigt sich seine philosophische Größe. Er ist gegen den Zeitgeist immun, auch und gerade dort, wo er einen Terminus aufgreift, der gerade in Mode ist.15

13 Auch dies ist ein Topos, den manche erst vor zwanzig, dreißig Jahren bei Nietzsche entdeckten und ihn sogleich zur Abwertung allen Denkens nutzten, das nicht der Linie ihres differenten Schriftzugs folgte. 14 Vgl. Sartre, L’Existentialisme est un humanisme, S. 29. 15 Das Vernunftdenken der Aufklärung, so Voegelin, sei wesentlich am Modell der kognitiven Wahrnehmung der äußeren Welt orientiert. Dabei habe es die „existentiell grundlegenden Aspekte“ der Vernunft außer Acht gelassen. Mit Blick auf Jaspers lobt er dessen Aufnahme des Existenzbegriffs, macht ihm aber zum Vorwurf, nur um nicht mit den „Entgleisungen des Existentialismus“ in Verbindung gebracht zu werden, am Ende wieder zur Sprache der bloßen Vernunft zurückzukehren (vgl. Voegelin, Autobiographische Reflexionen, S. 132).

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Wer – mit dem Anschein von Gründen – auf den Begriff des „Wesens“ zu verzichten sucht, weiß einfach nicht, was er tut. Denn er verzichtet mit Begriffen auf nichts anderes als auf den Begriff.16 Mehr braucht man zum behaupteten Anti-Essentialismus des Existentialismus nicht zu sagen. Voegelin steht also nicht in Verdacht, sich dem anti-essentialistischen und bewusst absurdistischen Gestus seiner Zeitgenossen anzuschließen, wenn er den Begriff der Existenz zum kategorialen Eckwert seiner Politischen Philosophie erklärt. Denn dass da einzelne Wesen sind, die es in ihrer spezifischen Eigenart zu erfassen gilt, ist die Sinnbedingung von Erkenntnis überhaupt. Sie ist im aristotelischen Begriff der ousia anerkannt. Und dass da einzelne Menschen sind, denen an ihrem Dasein liegt, ist die Elementarbedingung aller gesellschaftlichen Vorgänge. Ohne das Bewusstsein der eigenen Existenz kann es keine Teilnahme an politischen Vorgängen geben; also ruht sowohl die politische Organisation wie auch das politische Wissen auf diesem Bewusstsein auf. 16. Repräsentation von Mensch und Welt. Welche Bedeutung dem Existenzbegriff im politischen Kontext zukommt, erkennt man erst in seiner Beziehung zum Begriff der „Repräsentation“. Der Bedeutungshof dieses Begriffs ist für alles offen, was mit der mentalen, physischen und sozialen Vorstellung verbunden ist. Sein einfacher Sinn liegt darin, dass etwas für etwas, eines für ein anderes steht. Damit ist dann auch das einbezogen, was zur politischen Bedeutung im engeren Sinn gehört und auf der Stellvertretung eines Willens durch einen anderen gründet. Aber bei dieser Vertretung geht es, wie man weiß, keineswegs bloß um die Repräsentation eines Willens durch einen anderen. Ein ins Parlament gewählter Vertreter kann an Entscheidungen beteiligt sein, die den Wähler ins Verderben stürzen. Aber auch der Repräsentant setzt mehr als bloß seine Reputation aufs Spiel. Mit der in jeder Gesetzgebung und in jeder Regierungshandlung gegenwärtigen Dimension der Daseinssicherung, einer Dimension, in der es letztlich um Krieg und Frieden geht, stehen nicht nur kulturell bestimmte Lebensformen, sondern die Leben der Einzelnen infrage. Durch den im Prinzip auf alle Daseinsfragen bezogenen Charakter der politischen Repräsentation ist die Politik als ganze auf das Problem der Existenz zugespitzt. Also sind die Form und die Leistung der Repräsentation am Kriterium der eigenen Existenz zu messen. Es kommt, wie Voegelin am Beispiel der Verfassung Sowjetrusslands demonstriert, nicht allein auf den verfassungsmäßig garantierten formalen Aufbau der repräsentativen Organe, sondern auf deren Leis16 „Wesen“ kann zwar von der individuellen oder allgemeinen „Substanz“ bis hin zum „Geist“ vieles bedeuten; aber alle diese Bedeutungen basieren darauf, dass sich der als „Wesen“ verstandene sachliche Gehalt eines Dinges oder eines Geschehens begrifflich fassen lässt. „Wesen“ ist somit, was immer auch die philosophischen Systeme am Ende daraus machen, der sachliche Gehalt, also eben das, was der Begriff zum Ausdruck bringt.

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tung für den Bürger an. Der aber muss, damit sich der Sinn der politischen Repräsentation überhaupt erfüllen kann, eine „echte Wahl“ treffen können. Die freie Wahl des Individuums ist das Existential, ohne das eine politische Organisation sinnlos wird. – Dies erscheint uns heute hoffentlich selbstverständlich. 1951 war es dies aber keineswegs: Die Zeitgeistexistentialisten begannen damals gerade den Kommunismus für sich zu entdecken. 17. Order and History. Für Voegelin reicht die Vertretung der einen Existenz durch eine andere allerdings nicht aus, um den politischen Sinn der Repräsentation zu füllen. Es ist ihm auch nicht genug, die jeweilige historische Konkretion der „existentiellen Bedürfnisse einer Gesellschaft“ zu betonen. Gewiss: Nirgendwo anders als in der Geschichte treten diese Bedürfnisse hervor, und sie können, politisch gesehen, auch nur unter historischen Bedingungen befriedigt werden. Daran vermag auch Voegelins Wertschätzung der philosophischen Anthropologie nichts zu ändern. Der politische Raum liegt stets auf dem Feld der Geschichte. Also hat sich auch der politische Philosoph auf die geschichtlichen Phänomene einzulassen. Will er sachhaltig von etwas sprechen, dann hat er historisch vorzugehen. An diese Einsicht hat sich Voegelin in allen seinen Arbeiten gehalten, also keineswegs nur in seinen Hauptwerken Order and History17 und Anamnesis.18 Sämtliche Texte in der Periagogé legen davon Zeugnis ab. Doch – und erst das gibt der politischen Wissenschaft Voegelins ihre Einzigartigkeit – die institutionelle Repräsentanz von Individuen durch Individuen unter historischen Bedingungen reicht für sich noch nicht aus, um eine politische Ordnung zu fundieren. Denn Ordnung ist ein die Geschichte umgreifendes, besser: ein durch sie hindurch gehendes Moment, das die individuelle Existenz innerlich wie äußerlich mit dem Lauf der Dinge verknüpft. Gemeint ist die Ordnung der Natur, die bis in die Seele des Einzelnen reicht und von hier auf das Ganze ausgreift, das einer Seele überhaupt gegenwärtig sein kann. Es ist dies eine innere Ordnung, die ihre Entsprechung in der Welt haben muss, wenn die Selbstdeutung nicht ins Leere gehen soll. Also korrespondiert ihr eine äußere Ordnung, in die alle Lebensvorgänge und mit ihnen auch Verstehen und Handeln eingebunden sind. So gewinnt Voegelin mit einfachsten Mitteln die kosmische Dimension zurück, in der die politische Wissenschaft bei Platon und Aristoteles ihre ersten 17 Die fünf Bände von Order and History (Band I: 1956; II u. III: 1957; IV: 1974; V: 1987, alle: Baton Rouge, Louisiana State Univ. Pr.) gehören nicht zum Bestandteil der vorliegenden Sammlung. Leider findet sich die von Peter J. Opitz auf Deutsch herausgegebene Einleitung in Order and History nicht in der Periagogé. Hier hat man den Sammelband Voegelin, Ordnung, Bewusstsein, Geschichte. Späte Schriften – eine Auswahl, hg. v. P. J. Opitz, Stuttgart 1988, S. 28–44, mit dem Text: Die Symbolisierung der Ordnung zur Hand zu nehmen. 18 Vgl. Voegelin, Anamnesis.

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Schritte tat. In ihr hat sie, die terminologischen Verschiebungen eingerechnet, bis zu Hobbes und Locke, Rousseau, Kant und Hegel gestanden. Aus ihr kann sich noch nicht einmal Nietzsche befreien, wenn er die Perspektive der Politik an den „Sinn der Erde“ knüpft und somit an eine leibhaftig erfahrene Natur nach dem „Tod Gottes“ bindet. Voegelin aber erkennt die Phrase vom Tod Gottes als das, was sie ist: Entweder eine positivistische Torheit oder das Schibboleth einer Diesseitsreligion, die sich den Weg zum Heil um jeden Preis abkürzen will. 18. Die Gegenwart Gottes. Wie weit Voegelin tatsächlich vom Zeitgeist entfernt ist, zeigt sein Festhalten am philosophischen Begriff Gottes. Nach Nietzsche, vielleicht auch schon nach Schopenhauer, Comte oder Feuerbach gehört es zum guten Ton der Philosophie, auf diesen Begriff Verzicht zu tun. Wenn das nur die Konsequenz der Ingenieure wäre, die allein das für wirklich halten, was man zum Bauen verwenden kann, könnte man den Fall auf sich beruhen lassen. Es gehört zur Überlebenskunst des Menschen, sich die Welt einfacher vorzustellen, als sie ist. Auch der Glaube an Gott ist eine starke Vereinfachung, die aber wenigstens unterstellt, dass die wahre Welt nur von einem höheren Wesen begriffen werden kann – in Wahrheit also wesentlich komplexer ist. Die Leugnung Gottes ist eine um nichts geringere Simplifikation. Sie ist nur deshalb fatal, weil sie sich notwendig schon für die ganze Wahrheit hält. Der Atheismus reduziert die Komplexität der Welt auf eine einzige Dimension, die mit der apriorischen Harmlosigkeit bloßer Positivität zusammenfällt. Freilich muss man zugestehen, dass die Neigung, es sich mit der Welt zu einfach zu machen, schon älter ist. Mit den ersten Ansätzen zu einer wissenschaftsförmigen Erkenntnis bei den Griechen ist auch der Zweifel an der Existenz der Götter überliefert. Der Unglaube ist keine Errungenschaft der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Dass aber die Philosophie als ganze eines Tages zum Opfer der trivialen Zweifel an der Gegenwart Gottes werden konnte, ist ein offenkundiges Zeichen eines disziplinären Zerfalls. In der Anpassung an die Positivität des bloßen Wissens hat sich das alte Ziel der Weisheit verflüchtigt. Es kommt heute nur noch in den Schwundstufen einer literarisierten Suche nach dem Glück des „guten Lebens“ vor. 19. Die Gottvergessenheit der Philosophie. Die Philosophen aber hätten wenigstens aus der Überlieferung wissen können, dass „Gott“ der Begriff für etwas ist, das unaufgebbar ist, wenn überhaupt noch etwas „sinnvoll“ genannt werden soll. Wer den im Begriff Gottes liegenden Sinn preisgibt, dem kann auch am Sinn der Welt nicht mehr gelegen sein. Und wer nicht mehr sinnvoll von der Welt sprechen kann, der hat auch keinen Grund, von sich selbst zu reden. Eben diese Konsequenz ist im letzten Drittel des alten Jahrhunderts in den Parolen vom Identitätsverlust, vom „Tod des Subjekts“ und in den selbstverlieb-

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ten Abschiedsgesten gegenüber Geschichte, Kunst oder Ethik offenkundig geworden. Kulturwissenschaft und Medienphilosophie haben den Selbstverlust des Menschen längst zu ihrer Prämisse gemacht. Von alledem ist Eric Voegelin weit entfernt. 20. Der Sinn von Politik. Voegelins existentielle Grundlegung des Politischen lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Die „existentielle Repräsentation“, die in allen Formen politischer Organisation gewahrt sein muss, basiert auf dem Sinn, in dem die Menschen sich und die Welt verstehen. Folglich ist die Politische Philosophie nicht von der Frage nach dem Sinn von Politik befreit. Es ist dies ein Sinn, der in allen praktisch begründeten politischen Aktionen benötigt wird. Ohne ihn könnte man sich weder über gemeinsame Ziele noch über trennende Interessen verständigen. Der Sinn des Politischen ist selbst noch in der Verzweiflung der Opfer politischer Systeme gegenwärtig. Man geht, so denke ich, nicht zu weit, wenn man behauptet, dass die Frage nach dem Sinn der Politik in dem, was heute als politische Theorie dominiert, keine Rolle spielt. Das vorherrschende modelltheoretische Interesse an der Verteilung von Macht und Gütern lässt dafür gar keinen Raum. Wer in der Politik nur eine empirische Größe sieht, die unter wechselnden historischen Bedingungen immer nur empirische Probleme aufwirft, der kann gewiss zu treffenden Einzelanalysen und klugen Empfehlungen gelangen; aber er betreibt keine Politische Philosophie. Die beginnt erst dort, wo die Politik als ein Weltverhältnis verstanden wird, in dem das Selbstverständnis der handelnden Menschen mit ihrem Weltverständnis zur Deckung kommt. Dafür gibt es keine empirische Garantie, sondern nur die Vergewisserung, die im Ernst des Glaubens liegt. 21. Ökumene und Globalität. Es ist kein Zufall, dass Voegelin den spoudaios, den ernst, eigenständig und frei handelnden Bürger zum Ausgangspunkt seiner systematischen Rekonstruktion des politischen kosmions macht. Aber daraus wird keine kommunitaristische Idylle, sondern eine exemplarische Vorstellung eines Teils vor seinem Ganzen. So einfach, eingeschränkt und selbstbezogen eine politische Szenerie auch immer sein mag: Sie hat – im Zeichen der von ihr zur Geltung gebrachten Repräsentation – eine universalistische Reichweite. Wer sich in seinem politischen Handeln – vor der Welt, vor seinesgleichen und vor sich selbst – ernst nimmt, der ist unmittelbar zu Gott. Das erscheint unter den von Voegelin in allen seinen Analysen mitgedachten Bedingungen der einen Welt trivial – sofern man sich nicht schon dadurch, dass Gott als äußerste Sinngarantie fungiert, vom Selbstverständlichen ablenken lässt. Unter den realen Bedingungen globaler Politik und angesichts einer tatsächlich gegebenen Verantwortung für die Sicherung der menschlichen Existenz erhält die von Voegelin exponierte kosmo-theologische Universalität eine offenkundige Aktualität. Und wem der Bezug zur epochalen Stellung der Gegenwart zu viele epistemische Risiken birgt, der kann sich auf die geschichtlichen Be-

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dingungen der Globalisierung zurückziehen, die Eric Voegelin unter dem Titel „ökumenisches Zeitalter“ analysiert und bis in die Zeit der antiken Großreiche zurückverfolgt hat.19 22. Geschichte statt System. Wer das Fundament so tief anlegt, der müsste hoch bauen können. Doch leider kann vom Bauen bei Eric Voegelin keine Rede sein. So verheißungsvoll er ansetzt, so sicher er über die methodologischen und metaphysischen Perspektiven verfügt, ohne die man die schon immer in Kulturen und Religionen segmentierte politische Welt nicht erfassen kann, so entschieden ist sein Verzicht auf eine eigene theoretische Konstruktion politischer Institutionen. Wann immer wir Auskunft über konkrete Momente politischer Organisation, über Ursprünge, Mittel und Ziele staatlichen Handelns wünschen, werden wir auf langen Umwegen in die Geschichte zurückverwiesen. Dafür gibt es natürlich gute Gründe, denn jede konkrete Form des Daseins ist historisch bedingt. Und dennoch befriedigt dieser fortgesetzte Rückweg in die geschichtlichen Manifestationen des politischen Lebens nicht. Daran kann auch die Fülle des von Voegelin aufgebotenen Materials nur wenig ändern. Mit schier unglaublicher Energie hat er die klassische Tradition des politischen Denkens aufgearbeitet. In Order and History hat er nicht nur die Antike und deren Rezeption in Mittelalter und Moderne ausgebreitet. Die altorientalischen Reiche sind vergegenwärtigt, der politische Weg Israels ist nachgezeichnet. Schließlich hat der Autor noch Chinesisch gelernt, um die politische Tradition des ostasiatischen Reiches aus den Quellen verstehen zu können. In der Periagogé finden sich die Studien zu Morus und Machiavelli20 sowie zu Max Weber;21 aufgenommen ist die frühe Untersuchung über Die politischen Religionen,22 in der sich Voegelin seinen künftigen Weg bestimmt und einen weiten Bogen von Echnaton über die spätantiken Probleme von Hierarchie, Ekklesia und Apokalypse bis hin zu den modernen Fragen des Leviathan und der transzendenten Symbolik schlägt. Die Schrift macht anschaulich, wie sich der Weg der Politik aus dem Parallelogramm natürlicher und geistlicher Kräfte ergibt. In ihr führt sich der Autor selbst in die religionsgeschichtliche Methode ein, die im Gang seiner Entwicklung für ihn charakteristisch werden wird. In den späten Betrachtungen über Evangelium und Kultur23 sowie in der Abhand19

Vgl. Voegelin, Order and History, Vol. 4. Vgl. Voegelin, Die spielerische Grausamkeit der Humanisten. Die Texte waren ursprünglich für die geplante, aber nicht abgeschlossene Geschichte der politischen Ideen gedacht. Der Text über Morus (More’s Utopia) erschien 1951, der über Machiavelli (Machiavelli’s Prince: Background and Formation) 1955. Die Übersetzung der beiden Texte in der Reihe Periagogé stammt von Dietmar Herz, der auch eine anspielungsreiche Einleitung beigesteuert hat. Der Band enthält ein Glossar mit biographischen Hinweisen zu den von Voegelin erwähnten Personen. 21 Vgl. Voegelin, Die Größe Max Webers, 1995. 22 Erstmals in Wien 1938. 23 Vgl. Voegelin, Evangelium und Kultur, 1997. 20

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lung zur Geschichte der Sektenbewegungen24 wird darauf vom Ende her reflektiert. 23. Politik ohne Zukunft. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Voegelin sein Material systematisch durchdringt. Die Kategorien der existentiellen Repräsentation treten in ihrer Wirksamkeit jederzeit hervor. In immer neuen Variationen wird anschaulich, wie die Einzelnen und ihre Gemeinschaften um eine Ordnung kämpfen, in der Erfüllung, Entsprechung, Verheißung und eben nicht nur Schutz und berechenbare Befriedigung zu finden sind. Gleichwohl vermissen wir den Grundriss einer politischen Ordnung, der hier und heute unser existentieller Einsatz gelten könnte. Hier bleibt Voegelins politisches Denken unabgeschlossen. Eine Perspektive des politischen Handelns, die immer auch praktische Prinzipien und institutionelle Ziele enthalten muss, gibt es bei ihm nicht. Seiner durch den denkbar größten geschichtlichen Aufwand ausgewiesenen politischen Wissenschaft fehlt ein erkennbarer Übergang in die Zukunft. Da wir aber eben den von einer Politischen Philosophie erwarten, ist Voegelins Werk auf ähnlich tragische Weise unfertig geblieben wie das Werk Max Webers. 24. Gnosis überall. Die von systematischen Erwartungen geleitete geschichtliche Darstellung bleibt aber immer aufschlussreich, sofern es um die existentiellen Grundbedingungen des Politischen geht. Anders ist es, wenn die Geschichte nur den Vorlauf zur Zeitkritik bietet und Voegelin die sein Werk überschattende These von der gnostischen Verfallenheit des neuzeitlichen Denkens zu belegen sucht. Dann kann man ihm beim besten Willen nicht mehr folgen, selbst wenn er manche Pointe glänzend setzt – wie etwa in seiner durchweg treffenden und überaus hellsichtigen Kritik des Marxismus. Dennoch muss bezweifelt werden, ob er den auf das verabsolutierte Diesseits setzenden Kommunismus richtig beschreibt, wenn er ihn mit den auf jenseitige Mächte rechnenden Gnostikern gleichsetzt. Das „moderne Pathos weltverändernder Diesseitigkeit“, so Wolfhart Pannenberg in seinem Vorwort zu Evangelium und Kultur, ist „der Weltlosigkeit gnostischer Mentalität [. . .] so entgegengesetzt wie nur möglich“ 25. Voegelins Versuch, den von ihm diagnostizierten Verfall aller politisch-philosophischen Lehren der Moderne aus der frühesten Abwendung vom Weg der christlichen Botschaft herzuleiten, hat den strukturellen Vorteil, eine Mittelalter und frühe Neuzeit übergreifende Kontinuität zu unterstellen. Antike und Gegenwart kommen sich auch dadurch näher. Aber die Deutung aller modernen politischen Bewegungen als gnostisch wird weder der Moderne noch der Gnosis gerecht. Die in der Periagogé gesammelten Texte erlauben zwar, die Deutung Voegelins an markanten Vorgängen der Theoriegeschichte nachzuvollziehen.

24 25

Vgl. Voegelin, Das Volk Gottes, 1994. Voegelin, Evangelium und Kultur, S. 9.

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Aber sie lassen die diagnostischen Schwächen dieses Autors besonders deutlich werden. Voegelin müsste seine Leser erst von seiner Deutung des Evangeliums und der Kirche überzeugt haben, ehe er erwarten könnte, dass sie seine Rekonstruktion des sukzessiven Niedergangs aller politischen Organisationsformen seit 1300 auch nur verstehen. Sehr wohl verständlich ist hingegen das Motiv für seine Abwehr der Gnosis: Sie nährt die Hoffnung, das Heil der Menschheit sei ein geschichtlich bevorstehendes Ereignis. Dadurch verwechselt sie die Sphären von Immanenz und Transzendenz, macht sich gegen historische Erfahrung und vernünftige Gründe immun und verfällt der „Magie der Aktion“.26 Sie verkennt, dass die zu jeder politischen Praxis gehörende Erlösungserwartung sich nur individuell, nur „existentiell“ erfüllen kann: „Das Bewußtsein der eschatologischen Erwartung ist eine ordnende Kraft in der Existenz.“ 27 Das Vorbild dazu liefert ihm das Sterben des Sokrates. Hier ist ein Individuum, das zwar ganz der Sphäre der Politik anheimgegeben ist, das aber dennoch seine Kraft aus einer Quelle bezieht, die aller Politik überlegen ist. 25. Leben und Werk. Zu den besonderen Verdiensten des Herausgebers gehört die Aufnahme der Autobiographischen Reflexionen nach der Übersetzung der 1989 in der Louisiana State University Press erschienenen Originalausgabe. Der Band enthält neben einem hilfreichen Vorwort von Opitz ein Glossarium der erwähnten Personen, eine Bibliographie der Werke Voegelins sowie eine Zusammenstellung der wichtigsten Aufsätze über sein Werk. In dem aus einem Interview mit dem vertrauten Schüler Ellis Sandoz hervorgegangenen, auf 27 knappe Kapitel gebrachten Text legt Voegelin Wert auf das Exemplarische seines einzigartigen Lebenswegs. Die Studien im Wien der zwanziger Jahre, der Aufenthalt in Oxford (1921/ 22), die zwei Forschungsjahre an der Columbia University, in Harvard und in Wisconsin, die Zeit als Assistent Hans Kelsens, die Faszination durch den Neothomismus sowie durch das Ordnungsverlangen autoritärer Staatsideen, die Emigration, der Kampf um sein Werk und die fortgesetzte Exilierung im Schwanken zwischen alter und neuer Heimat werden mit lakonischer Kürze skizziert und kommentiert. Dabei ist bemerkenswert, wie stark Voegelin seine frühe Prägung durch Amerika exponiert. Als er 1927 nach Europa zurückkommt und die dort diskutierte Neuerscheinung, Heideggers Sein und Zeit, liest, übt sie „keinerlei Wirkung“ auf ihn aus. Gegen diese Form des Philosophierens, so heißt es, sei er „immun“ geworden. Die Gründe dafür kann man seinem Buch Über die Form des Amerikanischen Geistes entnehmen.28

26 27 28

Voegelin, Autobiographische Reflexionen, S. 145. Ebd., S. 146. Vgl. Voegelin, Über die Form des Amerikanischen Geistes, Tübingen 1928.

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Die Autobiographischen Reflexionen enden mit einer Betrachtung über das Verhältnis von Politik und individueller Existenz. In politischer Perspektive ist das geschichtliche Geschehen eine Bewegung, die notwendig durch Ziele und Hoffnungen bestimmt ist. Schon ihr Verständnis verweist den Einzelnen auf sich selbst. Er erkennt in ihr die Repräsentation eines Ganzen, dem er selber entspricht. Als Einzelner kann er am geschichtlichen Geschehen nur partizipieren, und er muss es tun, weil sich die Erkenntnis der prozessualen Bewegung durch ihn selbst vollzieht. Aber die Erfüllung kann er selbst darin nicht finden. Hier ist er allein auf seine Existenz und die Praxis seines Lebens und Sterbens verwiesen. Im Sterben muss er die Politik ohnehin loslassen können, und im Streben nach existentieller Konsequenz, nach „Unsterblichkeit“ übt er sich darin ein. So hat die existentielle Begründung der Politik, auch mit Blick auf die äußersten Lagen, einen liberalisierenden Effekt. Individueller Existentialismus und politischer Liberalismus fordern sich gegenseitig. Literatur Arendt, Hannah/Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969, hg. v. Köhler, Lotte/Saner, Hans, München/Zürich 1985. Cicero, Marcus Tullius: Der Staat, Lat. u. Dt., hg. u. übers. v. Karl Büchner, München 1993. Jaspers, Karl: Max Weber. Eine Gedenkrede (1920), in: ders., Max Weber. Einführung von Dieter Henrich, München/Zürich 1988, S. 32–48. – Max Weber. Politiker – Forscher – Philosoph (1932), wieder in: ders., Max Weber, Einführung von Dieter Henrich, München/Zürich 1988, S. 49–114. Mehring, Reinhard: Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001. Recki, Birgit: Die Kultur der Humanität. Ernst Cassirer als Philosoph und Bürger, in: Zum Gedenken an Ernst Cassirer, Hamburger Universitätsreden. Neue Folge l, Hamburg 1999, S. 16–33. Sartre, Jean-Paul: L’Existentialisme est un humanisme (1946), Paris 1996. Voegelin, Eric: Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959. – Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966. – The New Science of Politics. An Introduction, Chicago 1952; dt. 4. Aufl., Freiburg/München 1991. – Über die Form des Amerikanischen Geistes, Tübingen 1928. Weil, Eric: Philosophie politique, Paris 1956 (dt. Philosophie der Politik, Neuwied 1964).

Der organisierte Sinn Politik und Anthropologie bei Eric Weil Bei Platon könnte man es noch für eine Verlegenheitslösung halten, wenn er die Frage nach der Gerechtigkeit über den Umweg des Staates zu beantworten sucht. Denn es ist offenkundig, dass eine Tugend ihren Sinn nur aus dem Bezug auf das Verhalten einzelner Menschen bezieht. Nur Individuen handeln, und nur sofern sie etwas tun, wird es möglich, von gesellschaftlichem Handeln zu sprechen. Dies weiß Platon genau, andernfalls hätte er wohl kaum der Seele, die stets das Wesen eines Individuums ist, so großes metaphysisches Gewicht verliehen. Gleichwohl mutet er seinem Sokrates einen ungeheuerlichen Umweg zu, um zu klären, was eigentlich die Tugend der Gerechtigkeit ist. Mit dem Argument, dass diese Tugend beim einzelnen Menschen so schwer erkennbar sei wie ein mit sehr kleinen Buchstaben geschriebener Text, der zudem noch aus großer Entfernung entziffert werden müsse,1 empfiehlt er, die Gerechtigkeit zunächst einmal dort zu betrachten, wo sie gleichsam dicht vor unseren Augen in großen Buchstaben geschrieben steht, nämlich im politischen Gemeinwesen. So kommt es zur „Politeia“, dem ersten großen Werk der alteuropäischen Staatsphilosophie. Und erst am Ende dieses unerhörten Umwegs erkennt man, dass es für Platon eine kürzere Strecke gar nicht gibt. Die Tugend der Gerechtigkeit kann zureichend bloß über den in großen Buchstaben geschriebenen Menschen erkannt werden. Der Mensch begreift sich nur in den Verhältnissen, die er sich schafft. Die damit von Platon zum methodischen Prinzip erklärte Analogie zwischen dem Menschen und seinem Staat bleibt grundlegend für die gesamte Tradition der Politischen Philosophie. Ob wir Aristoteles, Cicero oder Augustinus, Marsilius von Padua, Locke, Rousseau oder Hegel nehmen: Bei allen wird der Staat als ein ins Große gerechneter Mensch angesehen. Und so sehr die politische Theorie des 20. Jahrhunderts die neuen Quantitäten der politischen Geschichte in andere Qualitäten umzudeuten versucht und dabei insbesondere auf den Staat verzichten zu können glaubt, so wenig gelingt es ihr doch, vom anthropologischen Paradigma der Politik loszukommen.2 Dies ließe sich an Carl Schmitt und Hannah Arendt besonders anschaulich machen, gilt aber auch für Leo Strauss, Michel Freund oder Harold J. Laski, 1 2

Vgl. Platon, Politeia 368 c4–d7. Vgl. dazu v. Verf., Das wiedergewonnene Paradigma.

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ganz zu schweigen von jenen, die trotz des exponentiellen Wachstums aller technischen und ökonomischen Faktoren von der Kontinuität der politischen Geschichte wissen und wussten. Ich nenne hier nur Helmuth Plessner, Dolf Sternberger und Raymond Aron. Es hätte auch genügt, den Namen Max Webers zu nennen, in dessen Bann das politische Denken am Ende des Jahrhunderts noch immer steht. Wie mächtig seine Wirksamkeit ist, zeigt sich vor allem an der alten anthropogenen Kategorie des Sinns, den selbst jene noch in Anspruch nehmen, die glauben machen wollen, ihr Systemzwang habe sie von allen überlieferten Theoriekonstellationen erlöst.3 Ihren wohl präzisesten Ausdruck findet diese Korrespondenz von Mensch und Staat, wenn Thomas Hobbes das nosce te ipsum zum Ausgangspunkt allen politischen Wissens erklärt.4 In der Selbsterkenntnis des einzelnen Menschen, so meint Hobbes, könnten theoretisch wie praktisch sämtliche Elemente gefunden werden, die zum Aufbau eines Staates nötig sind. Eben deshalb spricht er vom Gemeinwesen als dem „künstlichen Menschen“. Dass im Staatsaufbau nicht einfach nur der alte Adam zum Vorschein kommt, sondern durchaus auch eine neue Qualität entstehen kann, gibt seine bis heute nicht zureichend ausgedeutete Wendung vom Leviathan als dem „sterblichen Gott“ zu erkennen; immerhin lässt sie erahnen, warum das emanzipierte Subjekt über die Säkularisierung hinaus auch heute noch die Befreiung vom Staat und von der Politik ersehnt. Aus der Sicht der Politik mag es verwundern, dass die Philosophen sich ihr über die Selbsterkenntnis zu nähern versuchen; aus der Sicht der Philosophie liegt darin jedoch nichts Besonderes. Denn die Philosophie hat in der Selbsterkenntnis ihre originäre Aufgabenstellung. Sie ist, wenn wir noch einmal dem platonischen Sokrates folgen, ja nicht mehr als die rationale Aneignung eines mythischen Imperativs: Aus dem rituellen gnothi seauton wird eine individuell ernst genommene Verpflichtung mit lebenslanger Verbindlichkeit für alle, die sich darauf einlassen. Platon hat deutlich gemacht, dass dieser Impuls zur reflexiven Selbstbindung des Menschen nicht auf die klassischen Felder des ethos beschränkt bleibt, sondern auch physis und kosmos umgreift, und hat damit ein Paradigma des philosophischen Denkens geschaffen, an das sich die Philosophie, so denke ich, auch nach Aristoteles – und zwar bis heute – gehalten hat. Denn die von Immanuel Kant inaugurierte „kopernikanische Wende“, in deren Zeichen wir alle noch denken, hat das sokratisch-platonische Paradigma mit Blick auf die strengeren methodologischen Anforderungen der modernen Wissenschaft lediglich verschärft.5 Seine Transzendentalphilosophie hat Kant selbst 3

Vgl. dazu v. Verf., Sinn des Lebens; ders., Über den Sinn des Lebens. Vgl. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. 5 Vgl. dazu v. Verf., Die kopernikanische Wende; ders., Vernunft und Urteilskraft. 4

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als eine unter striktere Ansprüche gestellte Selbsterkenntnis des Menschen begriffen, und es ist keineswegs zufällig, dass er gleichzeitig mit der Ausarbeitung seines kritischen Systems in den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts damit begann, erstmals Vorlesungen über Anthropologie zu halten. Wie wir aus seinen Briefen wissen, war er sich der wissenschaftsgeschichtlichen Neuartigkeit seines Unternehmens wohl bewusst – und zwar sowohl mit Blick auf die Transzendentalphilosophie wie auf die Anthropologie.6 In den Logik-Vorlesungen, die er ebenfalls seit den Siebzigerjahren kontinuierlich bis ans Ende seiner akademischen Lehrtätigkeit gehalten hat, wurde von ihm offenbar immer wieder betont, dass alle Fragen der Philosophie im Grunde genommen immer auf eine einzige hinauslaufen, nämlich: „Was ist der Mensch?“ 7 Die Philosophiegeschichte nach Kant gibt uns keinen Anlass, diese Grundfrage aller Philosophie anders zu formulieren. Hegels Phänomenologie des Geistes ist selbst in der Form, die sie in seiner „Logik“ gefunden hat, nichts anderes als eine begriffliche Selbstexplikation des menschlichen Geistes. Nach Feuerbach und Nietzsche stößt der Mensch in aller Erkenntnis letztlich doch immer nur auf sich selbst und betreibt in allem nicht mehr – aber auch nicht weniger – als eine „Anverwandlung“, eine, wie es auch heißt, „Anmenschlichung“ aller Dinge an seine eigenen Bedingungen.8 Für Dilthey ist die Philosophie letztlich mit der Aufgabe der „Selbstbesinnung“ identisch,9 und es ließe sich zeigen, dass alle wesentlichen philosophischen Theorien des 20. Jahrhunderts von der Phänomenologie Husserls über die Daseinsanalytik Heideggers bis hin zur Sprachanalytik Wittgensteins dem Paradigma der Selbsterkenntnis verbunden bleiben. Arnold Gehlen hat die überlieferten erkenntnistheoretischen Bemühungen der Philosophie unter den Titel der „Autoskopie“ gebracht und hat beachtliche Anstrengungen unternommen, endlich davon loszukommen.10 Es ist ihm offensichtlich nicht gelungen. Im Gegenteil: Er hat uns noch tiefer in den Strudel der Selbsterkenntnis hineingezogen, dessen Sog umso stärker wird, je mehr 6

Vgl. Kant, Briefe von Ende 1773 an Marcus Herz, AA, Bd. 10, S. 143. Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, AA, Bd. 9, S. 25. 8 Vgl. Nietzsche, Morgenröthe, Nr. 547, KSA, Bd. 3, S. 317; ders., Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 112, KSA, Bd. 3, S. 473: Kultur, zu der auch die Politik gehört, ist für Nietzsche das „Kind der Selbsterkenntnis und des Ungenügens an sich“. Vgl. ders., Schopenhauer als Erzieher (3. Unzeitgemäße Betrachtung), Nr. 6, KSA, Bd. 1, S. 385. – Vgl. auch Feuerbach, Das Wesen des Christentums, S. 28 ff., bes. S. 34 f.; zu den Voraussetzungen einer anthropologischen Erschließung von Gott und Welt gehört nach Feuerbach allerdings die Einsicht, dass der Mensch nichts ist „ohne Gegenstand“ (ebd., S. 33). Aber: „Was für eines Gegenstandes wir uns [. . .] auch nur immer bewußt werden, wir werden stets zugleich auch unsres eignen Wesens uns bewußt.“ (Ebd., S. 35) 9 Dilthey hat den von ihm immer wieder an zentraler Stelle verwendeten Begriff (vgl. Dilthey, System der Ethik, S. 27) bereits in der ersten Auseinandersetzung mit der Philosophie Schleiermachers entwickelt. Vgl. dazu Dilthey, Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, S. 464. 10 Vgl. Gehlen, Ein anthropologisches Modell, S. 206. 7

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wir uns auf die Tatsachen und Sachgesetzlichkeiten konzentrieren, aus denen unsere Welt besteht. An Gehlens bedeutendstem, wenn auch heimlichem Schüler Niklas Luhmann wird diese dramatische Umkehrung besonders anschaulich. Die von Kant apostrophierte „Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses“ 11 erlebt in unserem Jahrhundert gerade der, der sich ihr mit guten Gründen entziehen, aber gleichwohl den Zusammenhang des Daseins begrifflich fassen möchte. So bleibt die Philosophie trotz Weber, Gehlen und Luhmann, trotz Frege, Wittgenstein und Quine in ihrem wesentlichen Bestand eine Anthropologie, die wir als wissenschaftliche Selbstbesinnung oder begriffliche Selbstauslegung des Menschen verstehen können. So gefasst, dürfte die philosophische Anthropologie hinreichend deutlich von der empirisch verfahrenden biologischen Anthropologie unterschieden sein. Gesetzt, diese These trifft zu; dann verstärkt sich damit nur der von Platon und Hobbes gelegte Nachdruck auf die Ausgangsbedingungen der Politischen Philosophie. In allem, was sie über ihren Gegenstand, den sie mit Jurisprudenz, Politologie und politischer Geschichtsschreibung teilt, philosophisch ermittelt, hat sie dessen anthropologisches Fundament freizulegen. Im Konzert der Politischen Wissenschaften hat sie nur eine Berechtigung, wenn es ihr gelingt, die Korrespondenz von Mensch und Politik – um in Platons Bild zu bleiben – nachzubuchstabieren. Auf dieser These liegt einleitend deshalb so großes Gewicht, weil von ihr in der Philosophie Politique von Eric Weil an keiner Stelle auch nur andeutungsweise die Rede ist. Diese Philosophie des Politischen präsentiert sich als eine Lehre von der geschichtlichen und gesellschaftlichen Realität der Politik und erwähnt mit keinem Wort einen philosophisch-anthropologischen Zugang zu ihrem Gegenstand. Dies scheint kein Zufall zu sein, denn Eric Weil grenzt in seiner allgemeinen Reflexion über die Logique de la philosophie die systematische Reichweite der Anthropologie zwar nicht gerade deutlich, aber doch entschieden ein. Ihre Beschränkung sieht er darin, dass sie den Menschen nur in einem gleichsam von außen kommenden Blick („à cette vue de dehors“) erfasse. So erscheine der Mensch dann als lebendiger Teil seiner Welt: „L’homme vit toujours dans un monde“ – „der Mensch lebt stets in einer Welt“.12 Das ist nach Eric Weil der „anthropologische Ausdruck“ (l’expression anthropologique) der „Gewißheit“ (certitude), in welcher der Mensch ursprünglich lebt und die nicht nur die Bedingung seines praktischen Tuns, sondern auch noch seines verlässlichen Wissens und selbst der Wissenschaft ist. In dieser anthropologischen Ausdrucksform der Gewissheit ist die Einheit des Lebenszusammenhangs gegenwärtig: „Es gibt keine abgetrennten Gegenstände, keine isolierten Werte,

11 12

Kant, Metaphysik der Sitten, § 14, AA 6, S. 441. Weil, Logique de la philosophie (im Folgenden: LP), S. 116.

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keine unabhängigen Gedanken; alles hängt aneinander“ – „tout se tient“.13 In dieser Welt hat der Mensch ebenso wie das Feuer, der Stoff oder der Geist seinen Platz; in ihr kann er sich orientieren; in der Pluralität ihrer Einheit findet er seinen Halt. In ihr begreift er, ganz gleich, ob er sich auf sie mit mythischen oder szientifischen Vorstellungen bezieht, seinen alles umfassenden Gegenstand, welcher ihn selber trägt. Für sein Bewusstsein ist die Welt keineswegs nur für ihn da, sondern er ist in der Welt: „Für ihn ist nicht er es, der die Welt erschafft; es ist die Welt, die den Menschen erschafft, erklärt und rechtfertigt. Für ihn ist der Mensch nur ein Teil eines großen Ganzen.“ 14 So aufgehoben durch das Ganze, kennt der Mensch das Wesen seiner Welt „in und durch sein Leben“. Deshalb hat er es auch nicht nötig, diesem vorgegebenen Sachgehalt der Welt einen theoretischen Ausdruck zu verleihen. Damit ist zugleich die Grenze im anthropologischen Ausdruck seiner ursprünglichen Gewissheit bezeichnet: Zu einer Theorie im vollen – selbsttätigen und kontemplativen – Sinn des Wortes gelangt der Mensch nämlich nur, wenn er auch die Bedingungen seines Weltverhältnisses einbezieht. Die werden ihm allerdings bewusst, wenn er in einer Krise die (anthropologische) Gewissheit seines Selbstverhältnisses verliert. Dann erst lernt er die Mittel, die ihm den verlorenen inneren und äußeren Frieden wieder verschaffen können, zu erkennen und zu gebrauchen. Sie zeigen sich ihm in der Verständigung und im Verstehen selbst, also in der wirklich stattfindenden ernsthaften Diskussion („discours réalisé“)15 und in den Regeln, nach denen er die verlorene Sicherheit theoretisch wie praktisch wieder herzustellen versucht. So kommt er auf die Idee eines Fundaments für die von ihm selbst zu legenden Fundamente: „Un fondement des fondements est requis.“ 16 Und dieses – gleichermaßen praktische wie theoretische – Bedürfnis führt ihn auf die Vernunft, auf sein in ihm und durch ihn selbst wirkendes Vermögen der Begründung, genauer: der Fundierung einer nunmehr durch ihn selbst vermittelten Welt. Eben hier wäre der systematische Ort, an dem man den Übergang von der „expression anthropologique de la certitude“ zu einer anthropologie philosophique erwarten würde. Denn Eric Weil sieht mit der durch die Krise erzwungenen Selbstfundierung des Menschen in einem nicht mehr bloß äußeren Weltverhältnis auch ein neues Selbstverhältnis des Menschen entstehen: Der Mensch gefällt und schätzt sich angesichts der Möglichkeit, die Krise zu überwinden, die Gewalt einzugrenzen und den Frieden mit sich und anderen herzustellen. In Opposition zur bloßen, die äußeren Verhältnisse registrierenden Wissenschaft entsteht 13

LP, S. 116. „Ce n’est pas lui qui, pour lui, crée le monde; c’est le monde qui crée, explique et justifie l’homme. Pour lui-même, l’homme n’est qu’une partie du grand tout.“ (LP, S. 115). 15 LP, S. 143. 16 LP, S. 144. 14

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so die Philosophie als „die Liebe zur Weisheit, die Suche nach der Weisheit, die die Anwesenheit der Vernunft im Menschen ist. Der Mensch ist vernünftig.“ 17 Damit ist die grundlegende Erfahrung benannt, die Weils ganzes Denken trägt und die sein Hauptwerk durchgängig bestimmt. In dieser Konzeption der Vernunft fungiert der Mensch selbst nur als Organ eines umfassenden Zusammenhangs. Das an ihm selbst erfahrene, genauer: erlebte Kontinuum der einen Welt ist in eine universale Einheit überführt, die nur noch begrifflich zu fassen ist. Der leibhaftig gegenwärtige und insofern anthropologische Konnex eines jeden mit jedem wird nun rational erschlossen und auf ein allgemeines Fundament gestellt, das, nach Weil, nicht mehr bloß menschlich sein kann, wenn anders es die Funktion der Begründung des Ganzen wirklich erfüllen können soll. Denn in einem so gefassten Ganzen ist der Mensch nur ein Teil – ein winziger und flüchtiger dazu –, der immer nur unmittelbar umgebende Teile des lebendigen Zusammenhangs erklärt, der aber keinen Grund für die universale Einheit abgeben kann. Nach der Krise des sinnlich-verständigen Selbstvertrauens wird also ein Fundament gesucht, das den Menschen wieder mit sich und der Welt verknüpft. Dieses Fundament kann aber der Mensch nicht selber sein, sondern nur etwas, das umfassender ist als er und logisch umfänglich genug, ihn mitsamt seiner Welt begründen. Es ist offenkundig, dass allein vom begrifflichen Status des gesuchten Grundes her keine empirische Gegebenheit infrage kommt. Und so bleibt letztlich als Fundament nur dasjenige übrig, was für uns den Grund schlechthin darstellt, oder besser: dieser Grund überhaupt ist, nämlich: ratio – die Vernunft. So gelangt die anthropologische Auslegung des Lebenszusammenhangs an ihre Grenze. Und eben dort, wo diese Grenze spürbar und begriffen wird, setzt das philosophische Denken ein. So gesehen sind Anthropologie und Philosophie nicht nur in der Reichweite und in der Wahl ihrer Mittel unterschieden, sondern sie stehen sogar in einem – sit venia verbo – dialektischen Gegensatz. Das heißt freilich auch, dass nun, nachdem das eine erst einmal aus dem anderen hervorgegangen ist, beide aufeinander angewiesen sind. – Nach dieser Erläuterung dürfte es fast tautologischen Charakter haben, wenn ich hinzufüge, dass in Eric Weils Abgrenzung von Anthropologie und Philosophie die nicht erst seit Kant und Hegel vertraute historisch-systematische Arbeitsteilung von Verstand und Vernunft zum Vorschein kommt. Es wäre nahe liegend, Weils Grenzziehung vor diesem Hintergrund zu untersuchen. Doch dabei geriete man entweder unvermeidlich zwischen Fronten, die von wachsamen Schulen besetzt sind, oder man müsste sehr weit ausholen, um auch nur die Prämissen klarzustellen: Sei es, dass man vorab deutlich machen möchte, wie Verstand und Vernunft aufeinander bezogen sind, sei es, dass man 17 „[. . .] l’amour de la sagesse, la recherche de la sagesse qui est présence de la raison dans l’homme. L’homme est raisonnable [. . .].“ (LP, S. 144)

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darzulegen beabsichtigte, wie eng die angeblich allein anthropologisch verhaftete Wissenschaft gerade in ihrem Ansatz mit der ganz auf die Vernunft gegründeten Philosophie verknüpft ist, oder sei es auch nur durch die Vorklärung der wohl am meisten interessierenden Frage: wie es eigentlich zur Unterstellung der exterritorialen Stellung der Vernunft kommen kann? Das aber ist zunächst eine Frage nach der Herkunft der Vernunft und ihrer eigentümlichen Nähe zu uns. Warum stellt sich ausgerechnet im Augenblick der Krise unseres Selbst- und Weltverständnisses eben das ein, was uns zwar nicht unbedingt wirklich rettet, aber unserem Anspruch auf Rettung einzig genügt? Warum erscheint die Vernunft uns eben darin so selbstverständlich? Wie kann es sein, dass wir auf diese universale, vom Hic et Nunc unseres Erlebens so weit entfernte Instanz augenblicklich verfallen, sobald wir uns (oder andere) rechtfertigen oder beschuldigen wollen? Und wenn dies so ist: Steht sie denn tatsächlich so hoch über unseren Köpfen, wie ihre Kritiker es darstellen? Das sind weitläufige Fragen, die aus Platzgründen nur an einem Beispiel behandelt werden können, nämlich an dem der Politik. Ganz abgesehen davon, dass die philosophische Erörterung der Politik auch für sich gesehen von Interesse ist – nicht nur die jeweils aktuelle Weltlage, sondern auch die politische Verfassung des menschlichen Lebens liefert dafür stets die besten Gründe; die politische Philosophie ist ein anschauliches Exempel für die Philosophie überhaupt, weil in der Politik die von der Philosophie notwendig beanspruchte und gleichwohl schwer greifbare Rationalität zur vorab praktisch anerkannten conditio sine qua non gehört. Es ist ein Gemeinplatz, dass nirgendwo anders die Vernunft so gefährdet und so flüchtig ist wie in der Politik. Aber kaum jemand achtet darauf, dass dieser Umstand nur deshalb so auffällig ist, weil nirgendwo anders die Vernunft faktisch so stark beansprucht wird wie eben in der Politik. In unserem Jahrhundert gehört Eric Weil zu den wenigen, die diesem Umstand wirklich Beachtung schenken. Deshalb lohnt die Beschäftigung mit seiner Philosophie Politique, die ich hier freilich nur, trotz der vom Autor selbst gemachten Vorbehalte, als ein Beispiel für die systematische Verschränkung von Philosophie und Anthropologie heranziehen möchte.18 Für dieses Vorgehen spricht auch eine beiläufige Bemerkung in der Logique de la philosophie. Sie fällt im Zusammenhang einer illustrativen Kennzeichnung der menschlichen Vernunft. Weil hebt hervor, dass der Mensch zwar wesentlich von Affekten und Leidenschaften bestimmt, aber keineswegs von seinem Wesen her auch vernünftig sei: „il est raisonnable, mais il l’est seulement aussi“ 19. Als uneingeschränkt vernünftig könne man nur die Menschheit, nicht aber das ein18 Über den Diskussionsstand und die neuere Literatur zur Politischen Philosophie Eric Weils informiert Robinet, Originalité de la philosophie politique d’Eric Weil. 19 LP, S. 148.

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zelne Individuum bezeichnen. Im Einzelfall sei die Vernunft ganz unterschiedlich verteilt, ganz ähnlich wie etwa die Treue bei den Hunden. Im Unterschied zur Treue der Tiere, die ganz auf das jeweilige Lebewesen beschränkt bleibe, zeige sich die Vernunft eines Menschen allererst im Verhältnis zu anderen Menschen. Und ihre eigentümliche Leistung liege eben darin, dass in ihrem Namen ein Mensch andere Menschen nach der Vernunft leiten und zur Vernunft führen könne. Und bei dieser Aufgabe, die schon das eigentlich politische Geschäft darstellt, hat sich der vernünftige Mensch die Kenntnis der Affekte und Leidenschaften der weniger vernünftigen Menschen zunutze zu machen. Er hat sein Wissen vom Menschen in den Dienst der vernünftigen Zwecksetzung zu stellen. „Bref, une science de l’homme, une anthropologie, doit précéder et guider l’action de la raison sur lui.“ 20 Es ist nicht von ungefähr, dass Eric Weil in seiner ersten grundsätzlichen Äußerung zur Politik auf die Anthropologie rekurriert. Denn die Politik als der ausdrücklich auf menschliche Einstellungen und Ziele gegründete Umgang von Menschen mit Menschen ist nichts anderes als eine praktisch gewordene Anthropologie. Doch Weil versucht die Anthropologie im Sinne einer Definition auf den Status eines szientifischen Hilfsmittels zu beschränken. Nur gelingt ihm dies nicht, sobald er sich an die Ausarbeitung einer Politischen Philosophie begibt. Hier muss er nämlich die empirische Kenntnis von Menschen ausdrücklich auf alle Akteure beziehen, also auch auf den mit Vernunft handelnden Staatsmann und Erzieher, folglich auch auf den Philosophen. Denn so sehr dem Philosophen nach platonischem Vorbild eine Sonderrolle vorbehalten bleibt, seine vornehmlich pädagogische Wirksamkeit entfaltet er nur als Teil des politischen Systems. Wenn er aber empirisch vom politischen Zusammenhang nicht ausgenommen ist, dann fällt es schwer, die auch in seinem Fall geforderte Selbsterkenntnis unter exklusive Bedingungen zu stellen. Also bleibt auch ihm kein anderer Weg, als unter diesen mit den anderen prinzipiell geteilten Bedingungen zur Selbsteinschätzung als vernünftiges Individuum zu kommen. Eben damit aber ist es kein anderes als das anthropologische Wissen, das zur politisch wirksamen Vernunft gelangen lässt. „Das Ich“, so heißt es in der Logique de la philosophie mit Recht, „sucht, so wie es ist, die Vernunft für sich selbst“. („Le Moi, qu’il est, cherche la Raison pour lui-même.“)21 Der methodologisch-metaphysische Status dieses die Vernunft für sich allein suchenden Ich mag hier noch strittig sein. In der Philosophie Politique aber steht außer Zweifel, dass dieses Ich nur als empirisches Wesen infrage kommt und dass es seine Vernunft nur unter den herrschenden gesellschaftlichen Be20 LP, S. 148 (Herv. v. Verf.). – Zu dem hier skizzierten Verhältnis von Philosophie und Anthropologie siehe Matensi, Le duel entre les expressions ,Metaphysique‘ et ,Anthropologie‘ dans la Philosophie d’Eric Weil. 21 LP, S. 157.

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dingungen erlangt. Folglich weiß es alles über sich und seine (politische) Vernunft nur im Medium seiner anthropologischen Selbsterkenntnis. Es wäre ein methodologischer Salto mortale, diese Erkenntnis vorab unter Prinzipien bringen zu wollen. Was jeweils empirische Momente und was logisch-allgemeine Strukturen sind, zeigt sich immer erst in ihr. Selbst zur transzendentalen Selbsterkenntnis gelangt man nur auf dem Weg alltäglicher Erfahrung, den man ausdrücklich als empirischen Zugang freilich erst qualifizieren kann, wenn man in Abgrenzung zu ihm auch über die transzendentale Selbstgewissheit verfügt. Wer daran zweifelt, der schaue auf das Beispiel der Politik. In der Konzeption Eric Weils hat die Politik einen nahe liegenden, wenn auch schwer überschaubaren Gegenstand, nämlich „das menschliche Handeln in der Geschichte“ („l’action humaine dans l’histoire“).22 In ihrer allgemeinen Form ist sie definiert als das „auf das Menschengeschlecht gerichtete vernünftige und universale Handeln“ („l’action raisonnable et universelle sur le genre humain“), bei dem ein Individuum sich als „Repräsentant aller Individuen“ („comme représentant de tous les individus“) betrachtet.23 Nur in diesem letzten Punkt unterscheidet sich die Politik von der Moral: Während die Moral als vernünftige Selbstbestimmung des Individuums natürlich nur für das Individuum verbindlich ist, weitet die Politik ihren Anspruch prinzipiell auf alle Individuen aus, indem sie sich zum Anwalt aller macht. Insofern übernimmt sie auch ihre allgemeinen Ziele von der Moral. Das bleibt nicht so leer, wie es klingt, denn die moralische Selbstbestimmung vollzieht sich stets unter den realen Lebensbedingungen des Menschen. Sie ist somit der Versuch, die vernünftige Zielsetzung zu verwirklichen. Folglich ist sie auf die empirische Welt bezogen und keineswegs bloß an der logischen Vereinbarkeit ihrer Maxime, sondern eben auch an der fortschreitenden Realisierung ihrer Zwecke in der Welt interessiert.24 So kommen auch die anderen Individuen in den Horizont der Moral, die demnach aus ihrer eigenen Logik die Konzeption eines universalen Rechts (un droit universel, un droit naturel) hervortreibt,25 als deren Kern das Prinzip der Gleichheit aller Menschen als vernünftiger Wesen26 anzusehen ist. Das Realisierungsverlangen der Moral hat aber auch einen prinzipiell auf alle Individuen ausgedehnten Erziehungsanspruch zur Folge, der die in der Selbstbestimmung nur individuell praktizierte Verwirklichung der Vernunft auf alle Menschen ausdehnt. In der Moral ist somit auch die Idee einer universellen Erziehung aller Individuen zur Universalität angelegt.

22 23 24 25 26

Weil, Philosophie politique (im Folgenden: PP), S. 7. PP, S. 12. Vgl. PP, S. 31. Vgl. PP, S. 34. Vgl. PP, S. 36.

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Alles dies gehört zu den impliziten Voraussetzungen der Politik: Wann immer man die von ihr proklamierten Ziele prüft, stößt man auf den Anspruch auf universelle Realisierung der Vernunft unter den Bedingungen des Rechts und im Vertrauen auf eine schrittweise Erziehung aller. Doch dabei begnügt sie sich nicht mit dem der individuellen Verantwortung entsprechenden Handlungsrahmen; sie will den gesellschaftlichen Lebensprozess als ganzen mit Vernunft auf Vernunft ausrichten, und dazu hat sie allgemeine Interessen zu reklamieren, in deren Dienst sie sich selber stellt. Die Politik kommt zu ihrer eigenen Aufgabe also erst durch tätige Selbstvertretung: Einige versuchen im Auftrag aller zu handeln. Es ist der Akt der Repräsentation, der mit den Institutionen auch die genuin politische Sphäre schafft. Diese Konstitution der Politik aus dem Realisierungsverlangen der Moral ist auf empirische Bedingungen angewiesen, auf die Eric Weil größten Nachdruck legt. Ja, die Politik ist in ihrer Entstehung wie in ihrem Vollzug auf das „Konkret-Allgemeine“ (l’universel concret) des sich geschichtlich entfaltenden Lebens so sehr angewiesen, dass sie unserem Autor als „essentiellement historique“, als „wesensmäßig historisch“ gilt.27 Das aber heißt nichts anderes, als dass sie auch mit dem gesellschaftlichen Prozess auf das Engste verbunden ist. Den nämlich begreift Weil in provokativer Pointierung als einen Arbeitszusammenhang, in dem der Mensch den Kampf mit der äußeren Natur bewältigt. Die „moderne Gesellschaft“ als „communauté du travail“ sieht sich in einen „fortschreitenden Kampf“ verwickelt; sie ist unablässig um die Effektivierung ihrer Anstrengung bemüht und setzt somit einen längst global gewordenen Rationalisierungsprozess in Gang.28 Im Prinzip ist sie „rechenhaft, materialistisch und mechanistisch“ (calculatrice, matérialiste, méchaniste).29 Da jedoch die Umsetzung des Kalküls der Rationalität nicht vollständig gelingt, kommt es zu Widerständen und Gegensätzen. Es bilden sich soziale Gruppen und Schichten; es entsteht ein Gefühl für die ungerechte Verteilung von Gütern, das über Kritik und Revolte die gesellschaftliche Dynamik weiter antreibt.30 In diesem Prozess hat nun das Individuum seinen Platz zu finden und auszufüllen. Aber selbst wenn ihm dies in optimaler Weise gelingt, bleibt es als Teil der modernen Gesellschaft „wesentlich unbefriedigt“ (essentiellement insatisfait).31 Zwischen den von der Gesellschaft geforderten materiellen Leistungen und den persönlichen Werten entsteht eine Kluft, die in der Trennung von allgemein sozialer und privater Existenz zum Ausdruck kommt: „In sich gespalten und unbefriedigt in der Gesellschaft kehrt das Individuum zu sich selbst zurück 27 28 29 30 31

PP, S. 14. Vgl. PP, S. 68. PP, S. 71. Vgl. PP, S. 85 ff. PP, S. 93.

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und betrachtet die Gesellschaft als Umkreis (der Bedingungen), innerhalb dessen es sein eigenes Ziel verfolgt.“ 32 Hier vermag einzig die Moral den verlangten Lebenssinn (sense de la vie; sense à la vie; sense du monde) zu geben. Aber es bleibt hier, gerade im günstigen Fall, eine aus dem Gegensatz zwischen individuellen und sozialen Ansprüchen genährte Unruhe. Sie verstärkt das Motiv zur „vernünftigen Aktion“ (l’action raisonnable),33 in der aus dem moralischen Impuls eine politische Handlung wird. Unter Bedingungen der Repräsentation gehen aus solchen Handlungen schließlich Institutionen hervor, die ihre Einheit – und damit ihren ausdrücklich politischen Sinn – stets erst im Staat finden können. Hier lassen sich Entscheidungen im Interesse aller Betroffenen fällen. „Der Staat“, so definiert Eric Weil, „ist die Organisation einer geschichtlichen Gemeinschaft. Als Staat organisiert, ist die Gemeinschaft fähig, Entschlüsse zu fassen (est capable de prendre des décisions).“ 34 Selbst wenn in Eric Weils Politischer Philosophie nicht mehr zu finden wäre als diese seine Rechtfertigung des Staates unter den von ihm nüchtern beschriebenen Verkehrsformen der modernen Welt, wäre sie höchst bemerkenswert. Von der seichten Welle theoretischer Staatsverdrossenheit bleibt er gänzlich unberührt. Er weiß, dass ohne Bezug auf den Staat der in sich repräsentativ verfasste politische Wille ohne Durchsetzungschance bliebe. Nur die staatliche Organisationsform der Gesellschaft ermöglicht die faktische Geltung eines wie auch immer ausgerichteten politischen Wollens. Nur über den Staat kann sich eine politische Autorität auch die legitime Macht verschaffen, die sie zur Durchsetzung ihrer Ziele benötigt. Er ist eben die Verbindung von realer Wirkungsmacht und ideeller Geltung, ohne die ein politischer Anspruch sowohl sein moralisches Fundament wie auch seinen Zugang zum historischen Geschehen verlieren würde. Um diese doppelte Funktion des Staates kenntlich zu machen, hebt Eric Weil den Realitätsbezug des Staates ebenso deutlich hervor wie dessen universellideellen Charakter. So haben die Entscheidungen einer staatlich-verfassten Gesellschaft „ihrem Wesen nach den Fortbestand der partikulären (geschichtlichen) Gemeinschaft zum Ziel“ 35. Sie schließen an das jeweilige Gegebene an, haben sich der physischen Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele zu bedienen und sind auf die Existenzsicherung ihrer Mitglieder ausgerichtet. Insofern führt der Staat die gesamtgesellschaftlich betriebene Selbsterhaltung der Individuen auf der Ebene bewusster Organisation des Ganzen fort.36 Dies aber kann er nur, wenn seine Wirklichkeit in ihrem „formalen und universalen Gesetz“ ihren Grund und ihr ausführendes Mittel hat: „L’État moderne se réalise dans et par la loi for32 33 34 35 36

PP, S. 98. PP, S. 114. PP, S. 131. PP, S. 139. Vgl. PP, S. 196 f.

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melle et universelle.“ 37 Mit anderen Worten: Der Staat hat ein Rechtsstaat zu sein, wenn er überhaupt die Vorbedingung einer politischen Organisation erfüllen will. Alle politischen Handlungen, mit ihnen auch alle politischen Institutionen, sind auch dort, wo es keine geschriebene Verfassung gibt, an das Prinzip des Rechtsstaates gebunden. Damit ist die Politische Philosophie von Eric Weil im Grundriss skizziert. Ihre gehaltvollen Ausführungen über die Regierung, die Verwaltung und die Staatsformen, über die internationale Organisation, die Sicherung des Friedens und die gleichwohl unverzichtbare Rolle der Gewalt müssen unbeachtet bleiben, obgleich erst sie erkennen lassen, wie stark und selbstständig hier ein in der Antike, insbesondere in Platons Werk verankertes Traditionsbewusstsein mit dem Anspruch auf Modernität verknüpft ist.38 Wenn uns dieser Modernitätsanspruch unter dem Eindruck ökologischer Zivilisationskritik heute schon antiquiert erscheint, sollten wir genau differenzieren zwischen unserer nach wie vor bestehenden Angewiesenheit auf Wissenschaft, Technik und politischer Organisation und der gleichwohl gebotenen Skepsis im Hinblick auf ihre Leistungen. Nur wenn wir diese Unterscheidung treffen, werden wir Weils System der Politik gerecht. Denn dann sehen wir auch, dass er vom gesellschaftlichen Kampf gegen die Natur, von der Weltgesellschaft und ihren Institutionen zwar viel, aber keineswegs alles erwartet. Die Instanz, von der alles gesellschaftliche und politische Handeln seinen Sinn bezieht, von deren Präsenz alle Vollzüge abhängig sind und die ursprünglich und letztlich alle Verantwortung trägt, ist ja keineswegs der Staat, auch keine andere politische Instanz, sondern allein das von ihm nicht nur emphatisch betonte, sondern auch systematische ausgezeichnete Individuum. Damit aber sind wir nach Weils eigener Logik bei der Stellung des Menschen und bei der systematischen Frage nach dem Verhältnis von Anthropologie und Politik in dieser philosophischen Theorie. In der Zielsetzung des politischen Handelns springt der notwendige Rekurs auf den Menschen geradezu in die Augen: Der letzte Zweck (fin dernière) jeder Regierungshandlung ist das Überleben der Gemeinschaft als Gemeinschaft von Menschen, die ein Leben führen, das für sie sinnvoll ist („qui mènent une vie pour eux sensée“).39 Eric Weil fügt gleich einschränkend hinzu, dass die „Frage nach dem Sinnzusammenhang“ nicht ständig aufgeworfen wird. Im normalen Lauf der Dinge bestimmen die Üblichkeiten und Gewohnheiten auch das politische Geschäft. Sobald aber der selbstverständliche Gang der Ereignisse gestört wird, ist die Frage nach der „fin dernière“ unausweichlich. Gerade dadurch, dass 37

PP, S. 142. Siehe dazu den Sammelband Eric Weil et la pensée antique, hg. v. Centre Eric Weil, Lille 1989, hier insbesondere die Beiträge von Livio Sichirollo über das Verhältnis von Diskussion und Dialektik und Roland Caillois über Eric Weils Verhältnis zur Politik des Aristoteles. 39 PP, S. 196 f. 38

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sich die Sinnfrage stellt, ist die politische Krise gekennzeichnet, und es gehört zur Tugend des Staatsmanns, sich vorausschauend auf ein solches Ende der Selbstverständlichkeit einzustellen, um es möglichst gar nicht erst dazu kommen zu lassen. Denn die größte Gefahr für die Politik besteht darin, dass es in einer faktisch eingetretenen Krise nicht mehr möglich ist, mit der erforderlichen Nachdenklichkeit den „Zweck für das Leben“ (but à la vie)40 zu bestimmen. Wenn es nur noch um das nackte Überleben (survivre) geht, steht auch die Politik wieder am Nullpunkt. Die höchste Aufgabe des Politikers besteht also darin, die Nation durch Erziehung dahin zu bringen, „das zu akzeptieren, was sie nicht zurückweisen kann, wenn sie leben und würdig leben will“ („si elle veut vivre est vivre dignement“).41 Von daher lässt sich das Problem der Politik auf ganz einfache Weise formulieren: „Es genügt, einen Menschen oder eine Gruppe von Menschen zu finden, die dank ihrer Klugheit fähig sind, die Gemeinschaft zu erziehen und sie in das große Unternehmen des aufbauenden Bewahrens, des bewahrenden Aufbaus eines sinnvollen Lebens für alle zu führen – eines vernünftigen Lebens, das von einer rationalen Organisation gegen die äußere Gewalt der Menschen und der Natur geschützt wird.“ 42 Natürlich ist es nicht so einfach, Menschen mit so weitreichenden Fähigkeiten zu finden. Doch das muss uns hier nicht interessieren. Es genügt die in diesen Formulierungen auf der Hand liegende Verknüpfung von individueller Sinnerwartung und politischer Aufgabe. Die Politik ist, so gesehen, nichts anderes als ein mit einigem Aufwand gesellschaftlich organisierter Sinn, der sich im Handlungssinn politischer Institutionen und Personen bündelt. Politische Zwecke erscheinen nur gerechtfertigt, wenn sie sich als Integral individueller Zielsetzungen verstehen lassen. Der leitende Wille muss als geregelter Ausdruck des Willens aller verstanden werden können. Von hier aus erschließen sich alle von Eric Weil als wesentlich erachteten Begriffsbestimmungen des Politischen, und sie fügen sich in einen Beschreibungszusammenhang, der Einheit nur mit Blick auf den Menschen gewinnt, genauer: der sich nur als Selbstbeschreibung des Menschen im gesellschaftlichen Handlungsfeld verstehen lässt. Dass uns die Kategorie des „Sinns“ überhaupt nur im Medium der Selbsterfahrung zur Verfügung steht, dürfte nach den vielfältigen und sämtlich erfolglosen Versuchen, Handlungen als bloße Ereignisse zu verstehen, hinlänglich erwiesen sein. Ohne den jeweils schon vorlaufenden Rekurs auf Intentionen, die wir als solche nur aus dem eigenen Binnenverhältnis kennen, sind Aussagen über „Sinn“, „Zweck“ oder „Absicht“ gar nicht möglich. Dabei ist das Schema des Sinnverstehens stets eingelassen in tatsächliche Erfahrungen, die wir mit uns selber machen. An dem empirischen Anlass – um 40 41 42

PP, S. 197. PP, S. 197. PP, S. 197 f.

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nicht gleich „Ursprung“ zu sagen – des sinnvollen Gebrauchs von „Sinn“ und somit an der anthropologischen Topologie seiner Herkunft ist nicht zu zweifeln.43 Wer es dennoch tut, der frage sich, woher denn der den Staat tragende und die Regierung leitende politische Sinn seinen spezifischen Charakter hat. Er stammt, wie wir gehört haben, aus dem Konkret-Allgemeinen der historischen Erfahrung. Zu der aber kommt es nur, wenn der Mensch sich mit wacher Erinnerung auf das Vergangene einlässt, um es sich und seinesgleichen zu erzählen. In einem meisterhaften Vortrag vor der Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften hat Eric Weil diese, wie ich meine, anthropogene Wurzel der Historie aufgezeigt.44 Alles, was die Politik an Inhalten hat, bezieht sie aus dieser Quelle. In der Philosophie Politique wird daher der wechselseitige Verweisungszusammenhang von Politik auf Geschichte und von Geschichte auf Politik betont: Der Historiker urteile mit Blick auf die Vergangenheit, der Politiker dagegen mit Blick auf Gegenwart und Zukunft, ob Handlungen „im Sinn oder gegen den Sinn der Geschichte (sens de l’histoire)“ 45 gerichtet sind. Demnach sei es gleichermaßen legitim zu sagen, dass das politische Handeln ein historisches Begreifen ist – und „umgekehrt“ („et inversement“).46 In dieser Gegenseitigkeit aber kommt der anthropologische Ursprung geradezu schlackenlos, also ohne die irritierenden apriorischen Einsprengsel der Vernunft zum Vorschein. Ein anderes kennzeichnendes Moment der Politik, das sich ebenfalls nur unter anthropologischer Prämisse ins Bild fügt, ist ihre implizite Angewiesenheit auf die Gewalt.47 Eric Weil hat in seiner Logique de la philosophie die konstitutive Funktion der Gewalt (violence) anschaulich herausgearbeitet. Sie bildet die Quelle jeder Reflexion und jeder Handlung; nicht gewalttätige Lebewesen, so heißt es, brauchten weder Politik noch Moral noch Philosophie.48 Doch so eindeutig diese Formulierung auch klingt, sie wird sogleich wieder unscharf, wenn für Philosophie und Moral hinzugefügt wird, beide gäbe es nur für das „gewalttätige und vernünftige Wesen“, und sie werde nur dem Wesen bewusst, „das sich für die Vernunft, gegen die Gewalt entschieden“ habe.49 Für die Politik aber verbietet sich diese Ambiguität des Ausdrucks. Denn ihr würde durch eine im Voraus erfolgte Absage an die Gewalt der Boden entzogen. Schließlich 43 Vgl. dazu v. Verf., Über den Sinn des Lebens. – Zur Bedeutung der Sinnfrage bei Eric Weil vgl. Kirscher, Absolu et sens, S. 220. 44 Vgl. Weil, Wert und Würde der erzählenden Geschichtsschreibung. Als öffentlicher Vortrag der Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften gehalten am 4.5.1976 in Hamburg. 45 PP, S. 14. 46 PP, S. 14. 47 Siehe dazu Perine, Philosophie et violence; Kirscher, Figures de la violence et de la philosophie. 48 Vgl. LP, S. 11 f.; PP, S. 189. 49 PP, S. 189.

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ist die Gewalt das Medium, in dem sie ihre Eigenart als Politik (und nicht etwa als Moral) gewinnt. Gerade im Interesse des Rechts und der Sicherung des inneren wie des äußeren Friedens bedarf sie der Gewalt in einem so ausdrücklichen Maße, dass man ihr sogar das „Monopol“ darauf zugesteht. Gewalt aber können wir noch nicht einmal beschreiben, ohne Bezug auf unsere Empfindlichkeit zu nehmen, auf eine unsere Gesamtbefindlichkeit stets mitregistrierende Sensibilität, die sich mit unserer körperlichen Blöße und der Reizbarkeit unserer Sinne vornehmlich natürlich auf unseren Leib, nachgeordnet aber auf alles zu beziehen hat, dem wir Einheit zuschreiben. Da kann es dann, in der Sprache der Politik, sogar „Gewalt gegen Sachen“ geben. Dass sich schließlich auch ein drittes wesentliches Kennzeichen ins politische Spiegelbild des Menschen fügt, bedarf keiner weiteren Erörterung: „Die Hauptaufgabe der vernünftigen Regierung ist die Erziehung der Bürger.“ („La tâche principale du gouvernement raisonnable est l’éducation des citoyens.“)50 Der Mensch ist das Wesen, das erzogen werden muss. Er findet erst unter den Bedingungen der politischen Kultur zu seiner „Natur“. Das ist der Sinn der aristotelischen Rede vom „zoon politikon“.51 Anders aber als in Weils Konzeption der Moral, in der sie, so ernst sie dort bereits auch schon ist, gewissermaßen nur als ideeller Auftrag besteht, ist die Erziehung in der Politik eine unumgängliche Handlungsnotwendigkeit, ohne die es allenfalls zu spontanen Akten, niemals aber zu verlässlicher Repräsentation und somit zur Bildung von Institutionen käme. Also hat die Politik die dem Menschen von der Natur aufgetragene Arbeit an sich selbst kollektiv zu organisieren. Sie hat das, was in der englischen Tradition so anschaulich „the body politick“ genannt wird, allererst für sich selbst zu bilden und zu formen und kommt somit tatsächlich nur durch Erziehung an ihren eigenen Gliedern zu einer realen Verfassung. Man brauchte den unverzichtbaren Anteil der Erziehung an der Ausformung politischer Verhältnisse gar nicht so stark zu betonen, wie Eric Weil dies in seinem entschiedenen Platonismus tut, und könnte auch dann noch den kompensatorischen Charakter des Politischen erkennen, auf den der Mensch als „Mängelwesen“ (Herder), als „Invalide seiner höheren Möglichkeiten“ (Plessner) oder auch – um in der technischen Sprache moderner Anthropologen zu reden – als „polykompetentes Tier“ 52 schlechterdings angewiesen ist. Da nun aber Weil seinen Akzent so nachdrücklich auf den edukativen Charakter politischen Handelns setzt, tritt der anthropologische Hintergrund umso deutlicher hervor. Diese wenigen Hinweise müssen genügen, um die zwar in allem gegebene, aber in der Politik mit besonderer Anschaulichkeit hervortretende Beziehung zur Organisationsform des menschlichen Lebens deutlich zu machen. Bei Eric 50 51 52

PP, S. 189. Dazu sehr schön: O’Meara, Der Mensch als politisches Lebewesen. Siehe dazu Höffe, Politische Gerechtigkeit S. 344 f.

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Weil tritt die Korrespondenz von Mensch und Politik aber nicht nur in den äußeren Merkmalen des politischen Körpers hervor (der Titelkupfer des Leviathan hat diese Analogie einprägsam ins Bild gerückt), sondern sie ist gleichsam auch von innen her begründet, weil die Einheit der Individualität aus demselben Stoff gemacht ist, der auch die politischen Institutionen zusammenhält. Gemeint ist der Sinn (sens). Der Mensch hat, nach Weil, seine ihn vom Tier abgrenzende Besonderheit darin, dass er „in dieser Welt ein sinnvolles Leben sucht“ („dans ce monde cherche une vie sensée“). Nun gehört es aber zu diesem Sinn, dass er, ebenso wie die Sprache, niemals vollkommen individuell oder privat sein kann. Der Mensch sucht zwar einen Sinn für sich, bleibt damit aber an einen Sinn gebunden, „der für alle und jeden Sinn“ sein kann („sens pour tous et pour chaqun“).53 Darin zeigt sich seine Geselligkeit, zu der die konstitutive Selbstbezüglichkeit des Individuums gerade wegen des durchgängig benötigten Sinns keinen Gegensatz bildet. Auch die Philosophie ist an das Medium des Sinns gebunden. Nach Weil hat sie gar keine andere Aufgabe, als die Sinnfrage in ihrer „Universalität“ zu formulieren. Allerdings kann sie mit ihren Mitteln das Individuum nicht zwingen, „seine Zustimmung zur universalen Suche nach dem Sinn zu geben“ 54. Hier kann und darf auch die Politik nicht nachhelfen, obgleich Eric Weil durch seine Betonung des universalen Erziehungsauftrags der Politik nahe daran ist, ein solches Missverständnis zu begünstigen. Aber: Die Politik hat das gleiche Material wie Philosophie und Moral, indem sie darauf abstellt, Sinneinheiten zu produzieren, nach denen gemeinschaftlich gehandelt werden kann. So umfasst sie praktisch zwar noch nicht den theoretisch freilich auch von ihr benötigten universalen Sinn, in dem sich alle Individuen gleichermaßen verstehen, doch sie stiftet unter dem Gesichtspunkt begrifflicher Allgemeinheit den von den Menschen bereits eingesehenen und mitgetragenen Handlungssinn. Ihm gibt sie die Form praktischer Organisation. Insofern ist die Politik nach Weil nicht einfach nur der ins Große gerechnete Mensch, sondern sie ist das (materialisierte und generalisierte) Selbstverständnis eines Subjekts, das sein Leben nach eigenen Vorstellungen führen möchte. Sofern es diese Vorstellungen nicht nur faktisch mit anderen teilt, sondern sie im ernsthaften Austausch von Meinungen zu sichern sucht, versteht es sich als homo politicus. Und sofern es diese Vorstellungen in ihren theoretischen wie praktischen Folgen für sich selbst, also für den Menschen zu bedenken sucht, geht es philosophischen Fragen nach. So bereitet sich in der verständigen politischen Praxis jene Allgemeinheit des Denkens vor, in der sich das Philosophieren dann ausdrücklich bewegt.

53 54

PP, S. 111. PP, S. 134.

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Doch sind wir damit auch einer Antwort auf die für das Verhältnis von Anthropologie und Philosophie letztlich entscheidende Frage nach Herkunft und Stellung der Vernunft näher gekommen? Es könnte sein. Wir müssten dazu das Modell der Politik allerdings genauer in seinen inneren und äußeren Funktionsbedingungen untersuchen. Das böte für sich schon Material genug für eine eigene Untersuchung. Dazu fehlt hier der Raum; außerdem müsste man dabei wohl über den von Eric Weil abgesteckten Rahmen hinausgehen. Abschließend soll jedoch wenigstens angedeutet werden, welches Ergebnis sich erwarten lässt: Setzen wir es einfach einmal als bewiesen an, dass in der Politik alles auf einem anthropologischen Fundament aufruht. Zwar geht der Mensch nicht gänzlich in der politischen Sphäre auf. Aber alles im politischen Raum lässt sich auf die Koordinaten des menschlichen Lebens beziehen. Das Allgemeine ist hier zunächst als eine „Menge von Menschen“, wie Machiavelli sagt, gegeben, die sich auf Gemeinsamkeiten verständigen, insbesondere dann, wenn sie von anderen dazu genötigt werden. Ganz gleich, ob sie auf Eroberungen aus sind oder sich zu verteidigen haben oder ob sie die Aufsicht über Herden oder Bewässerungskanäle regeln wollen, sie müssen die Vorstellung von ihrer Gemeinsamkeit praktisch zur Geltung bringen. Dies aber geschieht durch eine Vorstellung eben dieser Vorstellung, das heißt durch äußere Repräsentation ihrer inneren Repräsentation von sich selbst. So schaffen sie sich das Allgemeine, dem sie im Rat (der Ältesten oder Edelsten) eine Instanz gemeinsamen Nachdenkens und in der Regierung einen einheitlichen Willen geben. Dabei hat es ihnen offenbar noch nie besondere Mühe gemacht, sich einer über ihren politischen Wirkungskreis hinausgehenden Generalinstanz zu unterstellen, sei dies nun ein Gott oder eine Idee, wie beispielsweise die von Eric Weil zu Recht beschworene Idee der Menschheit. Auch diese Instanzen lassen sich nach dem Modell der Politik erklären: Sie sind entweder eine Idealisierung der repräsentierenden Leitung oder der repräsentierenden Basis. Dazwischen steht im Großen wie im Kleinen das generalisierte Verfahren, also das Gesetz und die gemeinsame Ordnung. Und um das Ganze zu verstehen, benötigen wir nur die auf Gegenseitigkeit beruhende Einsicht der Individuen, dass sie ihren eigenen Willen nur haben können, wenn sie auf den Willen der anderen Rücksicht nehmen, und dass es dazu in Fragen, die alle betreffen, gelegentlich auch eines gemeinsamen Willens bedarf. Alles, was diesen gemeinsamen Willen betrifft, gehört dann zur Politik. Was immer wir nun zur Rekonstruktion dieses Zusammenhangs benötigen, können wir, auch nach Eric Weil, aus der empirischen Natur und unseren historischen Erfahrungen beziehen. Unser Autor gesteht uns sogar zu, dass wir selbst den Willen aus der uns von Natur aus treibenden Impulsivität und Spontaneität herleiten können. Aber er beharrt auf einer Ausnahme: Die Vernunft, so betont er nachdrücklich und immer wieder, gehöre nicht zum verständig begriffenen Zusammenhang der Welt. Doch ist es wirklich einzusehen, warum wir, wenn

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wir uns erst einmal so weit aus dem Boden unserer Erfahrungen hervorwachsen lassen, ausgerechnet die in allem unmittelbar wirksame Vernunft auf eine transzendente Position abschieben? Dass sie eine eminente Aufgabe hat, kann ja gar nicht in Abrede gestellt werden. Aber muss sie deshalb auch schon so weit aus dem lebendigen Zusammenhang herausgehalten werden, dass sie in ihn gleichsam nur von oben eingreifen kann? Ist sie in ihrer Wirkung tatsächlich extraterritorial? Hat sie ihren Ursprung wahrhaftig nur in einem Jenseits des Daseins? Mir scheint, gerade unser Interesse an der Vernunft sollte uns daran hindern, ihr eine so fragwürdige Herkunft zuzuschreiben. Ein Schattendasein im Niemandsland der Spekulation hat die Vernunft zuallerletzt verdient. Und selbst wenn wir ihr die größte Reichweite und unvergleichliche Fähigkeiten zuschreiben, bleibt doch die Vernunft, alles in allem, immer nur etwas, das sich in menschlichen Leistungen zeigt. Diese Leistungen sind im Fall der Vernunft nichts anderes als logische Verknüpfung und Handlungen, die wir auf diese Verknüpfungen beziehen. In solchen Leistungen wird nicht einfach bloß auf das eine mit dem anderen verbunden, sondern es wird von vielen Einzeldingen auch auf ihre Gesamtheit geschlossen. So kann, allein durch die Schlüsse der Vernunft, aus einer Vielheit eine Einheit werden – und umgekehrt. Auf diesem Wege wird es ihr auch möglich, nicht nur beliebige Einheiten zu erschließen, sondern auch die Einheit schlechthin. Entsprechendes gilt für den Schluss auf zugehörige Elemente eines Ganzen, also von einer Einheit auf die sie tragende Vielheit. Deshalb verdanken wir der Vernunft nicht nur die philosophischen Begriffe der „Totalität“, des „Absoluten“ oder des „Unbedingten“, sondern auch so unverzichtbare Termini wie „Welt“, „Natur“, „Leben“ oder sogar – in gewisser Bedeutung – „Mensch“. In jedem Fall aber ist unser Begriff von uns selbst ein solcher Einheit präsentierender Vernunftbegriff, den wir keineswegs erst in unserer spekulativen Freizeit bilden, sondern den wir dringend benötigen, sobald wir etwas mit Gründen tun oder sagen wollen. Vieles spricht dafür, dass die an uns selbst begriffene Einheit jedem anderen Totalitätsbegriff vorausgeht. Von hier aus – mitten aus den Bedingungen des in Relation zum eigenen Dasein als Einheit erfahrenen Lebens – begründet der Mensch seine Welt. Weil er selbst von diesen Gründen seinen Ausgang nehmen kann, erscheinen sie ihm unbedingt – unbeschadet der Tatsache, dass sie aus lauter bedingten Bedingungen hergeleitet sind. Weil nun die Vernunft dafür namhaft gemacht wird, das Unbedingte zu denken, wird sie selbst für unbedingt gehalten. Dies ist jedoch nicht nur ein glatter Fehlschluss,55 sondern auch eine grobe Verkennung dessen, was es mit den

55 Ein Fehlschluss, auf den insbesondere Feuerbach, Nietzsche und Dilthey immer wieder aufmerksam gemacht haben. Vgl. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, S. 40: „Der Gedanke spricht nur zum Gedanken.“; Nietzsche, Götzen-Dämmerung. Die vier grossen Irrthümer, S. 88–97; Dilthey, Erfahren und Denken.

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menschlichen Leitungen auf sich hat. Diese Leistungen erzeugen stets einen Kontext, der für sich ganz ohne Bedeutung ist, wenn man ihn ohne den Erzeuger zu begreifen sucht. Damit unterliegen sie sämtlich den Bedingungen, denen der Mensch selbst untersteht. So gesehen gibt es keinen Widerspruch, die Bedingungen von Zeichen in etwas zu setzen, was selbst nicht Zeichen ist, die Voraussetzung von Sprache auch in Nichtsprachlichem zu erkennen oder etwa einzugestehen, dass wir selbst das Unbedingte stets nur unter bestimmten Bedingungen denken können. Wollen wir nun im Gesamtzusammenhang menschlicher Leistungen die Besonderheit des Leistungsvermögens, das wir Vernunft nennen, verstehen, so reicht es, sich an unsere ebenfalls nur an Leistungen ausgewiesene Fähigkeit der Selbstreflexion zu erinnern. Dabei können wir offen lassen, ob diese Selbstreflexion tatsächlich nur einen Sonderfall jener Selbstorganisation darstellt, die das abgrenzende Merkmal alles Lebendigen ist. Es genügt die bereits für alle höheren Tierarten gültige Feststellung, dass hier ein Lebewesen mit einer zentralen Steuerungsinstanz sich nicht bloß einfach zum anderen seiner selbst, sondern auch zu sich selbst verhält. Beim Menschen scheint nun bloß noch hinzuzukommen, dass er von diesem Selbstverhältnis selbst wieder eine Vorstellung hat. Bei der scheint bereits das Leistungsvermögen der Vernunft im Spiel zu sein, denn um eine Vorstellung von seinem eigenen Verhalten gegenüber sich selbst haben zu können, braucht man einen Begriff von sich selbst, der einen Schluss auf die Ganzheit, die man selbst darstellt, aber nie unmittelbar erfährt, vollführt. So zeigt sich die wohl elementarste Leistung der Vernunft darin, dass sie uns einen Begriff von uns selbst vermittelt, der uns unter Bedingungen der ausdrücklichen Selbststeuerung des Organismus erlaubt, einen Gebrauch von uns selbst zu machen. Dabei muss es nachgerade zu dem Eindruck kommen, dass, so wie wir uns durch die Vernunft als Ganzes begreifen, uns eben diese Vernunft gleichsam als Ganzes von außen steuert, weil sie uns ja als psychophysische Einheit und somit als eine Totalität, zu der sie selbst nicht mehr zu gehören scheint, regiert. Die in uns wirkende Vernunft wird in ein ideelles Außen versetzt, weil wir uns nur so vorstellen, dass wir ihr ganz unterstehen. Also denken wir uns unsere Vernunft als die Vernunft und damit als eine uns ganz umfassende Außensteuerung aus dem Inneren unseres Bewusstseins, deren Standort wir gleichwohl in ein nicht-räumliches Außen verlegen, weil die Vernunft eben nicht nur unsere körperlichen Vollzüge, sondern auch unser Vorstellen und Denken anzuleiten vermag. Aus dem unsere Leistungen bewirkenden Instrument wird so eine Instanz, der wir uns selbst – und zwar ganz – unterstellen. Aus der Vernunft, die auch nicht mehr als bloß ein Medium unseres spezifisch menschlichen Lebensvollzuges ist, wird so eine Autorität, der unser Leben als ganzes unterworfen zu sein scheint. Man möchte nicht glauben, dass der Mensch auch nur die Neigung hat, sich einer solchen praktischen Selbstdeutung zu unterziehen. Kant hat mit Recht be-

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II. Interpretationen zu Klassikern des politischen Denkens

merkt, dass sie etwas Demütigendes für uns hat.56 Doch das Beispiel der Politik zeigt an, wie selbstverständlich es für uns sein kann, einen anderen Willen, der entweder auch nur der Wille eines anderen Menschen oder vielleicht auch gar kein real wirkender Wille ist, sondern nur unsere Vorstellung davon, als einen höheren Willen hinzunehmen, dem wir uns dann als Bürger – und das auch noch freiwillig – unterwerfen. Der politische Wille einer Gemeinschaft entsteht, wie gesagt, durch Repräsentation von Repräsentationen. Entsprechendes gilt für die Vernunft: Sie ist eine von ihren Leistungen abgezogene Vorstellung, die wir aufgrund ihres praktischen Anspruches gegenüber uns selbst so sehr verselbständigen, dass wir uns begreifen, als seien wir selbst nicht mehr als bloß eine Vorstellung von ihr. Das erscheint absurd. Die Politik aber kann uns lehren, dass dies im Gegenteil überaus sinnvoll ist, denn nur so beziehen wir einen Handlungssinn, den wir mit anderen teilen und dem wir zugestehen, dass er unser Leben lenkt. Allerdings haben wir allein wegen dieser Leistung noch längst keinen Grund, die Vernunft in ein Jenseits des Lebens zu verlegen. Auch und gerade in der vernünftigen Selbststeuerung gehört der Mensch allein sich selbst. Dies ist eine Lehre, die wir nicht nur aus der Philosophie der Politik gewinnen können, sondern die wir gerade auch im praktischen Umgang mit ihr beherzigen sollten. Selbst wo die größten Ansprüche regieren, herrscht immer nur der Mensch über seinesgleichen. Und es ist seine Vernunft, die solche Ansprüche legitimiert; deshalb liegt es auch allein an ihr, an der Vernunft des Menschen, diese Ansprüche, wann und wo immer sie es verdienen, zu kritisieren. Literatur Dilthey, Wilhelm: Erfahren und Denken, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig/Berlin 1924, S. 74–89. – Schleiermachers System als Philosophie und Theologie (Gesammelte Schriften, Bd. 14), Göttingen 1985. – System der Ethik (Gesammelte Schriften, Bd. 10), 4. Aufl., Stuttgart 1981. Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums (Gesammelte Werke, hg. v. W. Schuffenhauer, Bd. 5), 2. Aufl., Berlin 1984. Gehlen, Arnold: Ein anthropologisches Modell, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 4, hg. v. K.-S. Rehberg, Frankf./M. 1983, S. 203–215.

56 Kant, Kritik der reinen Vernunft A 795/B 823: „Es ist demütigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und sogar noch einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen, und die Blendwerke, die ihr daher kommen, zu verhüten. Allein andererseits erhebt es sie wiederum und gibt ihr ein Zutrauen zu sich selbst, daß sie diese Disziplin selbst ausüben kann [. . .].“

Der organisierte Sinn

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Gerhardt, Volker: Das wiedergewonnene Paradigma. Otfried Höffes Metaphysik der Politik, in: Philosophische Rundschau 39 (1992), S. 257–277. – Sinn des Lebens. Über einen Zusammenhang zwischen antiker und moderner Philosophie, in: Caysa, Volker/Eichler, Klaus-Dieter (Hg.), Praxis – Vernunft – Gemeinschaft, Weinheim 1994, S. 371–386. – Über den Sinn des Lebens, in: Zeitschrift für philosophische Praxis 2 (1994), S. 25–31. – Vernunft und Urteilskraft. Politische Philosophie und Anthropologie im Anschluß an Immanuel Kant und Hannah Arendt, in: Thompson, Marvyn P. (Hg.), John Locke und Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz, Berlin 1991, S. 316–333. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Darmstadt/Neuwied 1966. Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankf./M. 1989. Kirscher, Gilbert: Absolu et sens, in: ders., Figures de la violence et de la modernité. Essais sur la philosophie d’Eric Weil, Lille 1992, S. 203–229. – Figures de la violence et de la philosophie, in: ders., Figures de la violence et de la modernité. Essais sur la philosophie d’Eric Weil, Lille 1992, S. 113–168. Matensi, Takikangu: Le duel entre les expressions ,Métaphysique‘ et ,Anthropologie‘ dans la philosophie d’Eric Weil, in: Cahiers Eric Weil II: Eric Weil et la pensée antique, Lille 1989, S. 131–141. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, KSA, Bd. 3, 2. Aufl., Berlin/New York 1988, S. 343–651. – Götzen-Dämmerung, KSA, Bd. 6, 2. Aufl., Berlin/New York 1988, S. 55–161 – Morgenröthe, KSA, Bd. 3, 2. Aufl., Berlin/New York 1988, S. 9–331. – Schopenhauer als Erzieher (3. Unzeitgemäße Betrachtung), KSA, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin/New York 1988, S. 335–427. O’Meara, Dominic: Der Mensch als politisches Lebewesen, in: Höffe, Otfried (Hg.), Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, S. 14–25. Perine, Marcelo: Philosophie et violence. Sense et intention de la philosophie d’Eric Weil, Paris 1991. Robinet, Jean-François: Originalité de la philosophie politique d’Eric Weil, in: Bulletin de philosophie numéro 7: Eric Weil, Rennes 1992, S. 31–51. Weil, Eric: Logique de la philosophie, 3. Aufl., Paris 1985. – Philosophie politique, 5. Aufl., Paris 1989. – Wert und Würde der erzählenden Geschichtsschreibung, Göttingen 1976.

III. Beiträge zum politischen Zeitgeschehen und zur politischen Praxis

Eine politische These, kein philosophischer Satz Über die 11. These „ad Feuerbach“ von Karl Marx Eine Vorlesungsfolge – ein ganzes Semester lang – über einen einzigen Satz: Belegt das nicht hinreichend, dass diejenigen, die sich daran beteiligen, den Satz nicht richtig verstanden haben? Schließlich besagt er, so wie er im Foyer unserer Universität, wenige Meter von hier in frisch vergoldeten Buchstaben auf dem rotem, angeblich aus der Reichskanzlei Hitlers geretteten Marmor geschrieben steht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ 1 Angenommen, der Satz ist wahr. Dann weiß, wer über diesen Satz nicht nur eine Stunde lang, sondern ein ganzes Semester hindurch reden oder reden lassen will, offenbar nicht, worauf es ankommt; er kann daher nur einer jener verschieden interpretierenden Philosophen sein und zwar einer von der heute vorherrschenden Art, die sich noch nicht einmal traut, über die Welt zu reden. Früher haben die Philosophen wenigstens noch ihre Welt interpretiert, heute reden sie nur noch über die Sprache und ihre Sätze – schlimmstenfalls über einen einzigen Satz. Da wünscht man sich doch nichts sehnlicher, als dass die Philosophen den Satz einfach verstehen, ihn endlich begreifen und – schweigend zur Veränderung übergehen. Sie könnten dabei wenigstens sich selbst verändern. So schwer kann das doch nicht sein! Und man bedenke: Was könnte sich aus so viel ersparter Interpretation nicht alles machen lassen? Wie viel Veränderung ließe sich in einer vollen Stunde bewerkstelligen, vor allem, wenn so viele Leute zusammengekommen sind? Was könnte daraus in einem ganzen Semester nicht alles werden? Der eine Satz, um den es sich hier dreht, stammt von Karl Marx. Aber die zitierte Fassung ist von Friedrich Engels, so wie er sie 1888 im Anhang zur revidierten Sonderausgabe seiner Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ unter dem Titel „Marx über Feuerbach“ veröffentlicht hat. Inzwischen ist auch hinreichend bekannt, dass der Satz, den Karl Marx im Frühjahr 1845 in sein Notizheft schrieb, eine Nuance anders ge-

1 Marx, Thesen über Feuerbach (von Engels veröffentlichter Text), S. 535. – Als die Inschrift 1953 angebracht wurde, zitierte man sie nach: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Berlin 1952, Bd. 2, S. 378. Zur Installation der 11. Feuerbach-These am 5. Mai 1953, dem 135. Geburtstag von Karl Marx, siehe die letzte Anmerkung.

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III. Beiträge zum politischen Zeitgeschehen und zur politischen Praxis

lautet hat: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ 2 In der Originalversion haben wir also erstens etwas mehr alltagssprachliche Mundart, zweitens sind die beiden Satzteile nicht durch ein Semikolon, sondern nur durch ein Komma getrennt, und drittens fehlt das von Engels eingefügte „aber“, das den antithetischen Charakter der beiden den Satz bestimmenden Aussagen unterstreicht. In beiden Schriftfassungen sind „interpretiert“ und „verändern“ kursiv gesetzt, was andeuten soll, dass Marx die Verben im Manuskript unterstrichen hat. Und schon kommt es darauf an, ob mit diesen kleinen Veränderungen nur etwas verdeutlicht oder ob der Sinn sachlich verändert worden ist. Manche Interpreten dieses Satzes legen Wert darauf, dass Marx selbst gar kein „aber“ verwendet hat und auch gar keine so scharfe Trennung, wie sie ein Semikolon nahe legt, vornehmen wollte. Erst Engels, so sagen sie, habe durch seinen Eingriff aus Interpretation und Veränderung eine Alternative gemacht.3 Man kann in der stilistischen Korrektur aber auch nur eine Verdeutlichung sehen, eine Akzentuierung der Unterscheidung, die in der flüchtig hingeworfenen Notiz nicht hinreichend klar zum Ausdruck kommt, die Marx aber wichtig gewesen ist.4 Diese Meinungsverschiedenheit ist nicht unerheblich, sofern man in den „Thesen über Feuerbach“ ein Dokument von philosophischer Bedeutung vor sich hat. Dann kommt es auf die Trefflichkeit der Begriffe und die Pünktlichkeit der Sprache an; und dann wird man auch über Engels’ gut gemeinten Eingriff streiten können. Aber zunächst ist festzuhalten, dass für beide Positionen die von Friedrich Engels edierte Fassung eine Interpretation der von Marx notierten These ist. Für die einen simplifiziert Engels den differenzierteren Marx’schen Gedanken; für die anderen pointiert er nur die darin angelegte Opposition. Doch wie man es auch nimmt: Der Spruch, der uns hier im Foyer vor Augen führen soll, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben, es aber darauf ankomme, sie zu verändern, ist selbst eine Interpretation. Es ist eine Interpretation der Marx’schen These, die uns da sagt, dass Interpretation nicht alles ist. Um in dem Meinungsstreit auch gleich Stellung zu beziehen, will ich hinzufügen, dass Engels seinen Freund nachträglich ganz richtig interpretiert. Schon

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Marx, Thesen über Feuerbach, S. 7. Vgl. Bloch, Keim und Grundlinie – Zu den Elf Thesen von Marx über Feuerbach, insbes. S. 255. 4 So legt Wolfgang Heise, der in seinem Jubiläumsvortrag von 1953 auch die Originalfassung zitiert, die Editionsdifferenz aus (vgl. Heise, Die historische Bedeutung der Thesen von Karl Marx über Feuerbach). Einzelheiten der Debatte in der DDR werden in dem Beitrag von Guntolf Herzberg dargestellt (vgl. Herzberg, Verändern oder verwalten?). 3

Eine politische These, kein philosophischer Satz

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1846, also ein Jahr nach der Niederschrift der These, dürfte Marx selbst das Semikolon und das hinzugefügte „aber“ als eine Klarstellung empfunden haben. Ob er jedoch in der ersten Abgrenzung gegen Feuerbach schon an einen antithetischen Kontrast zwischen Interpretieren und Verändern gedacht hat, ist höchst fraglich. Es bedürfte einer eingehenden Interpretation aller elf Thesen ad Feuerbach, um hier wenigstens zu einer soliden Vermutung zu kommen. Und in dieser Interpretation wäre nicht nur abzuwägen, ob Marx Feuerbach zutreffend interpretiert, sondern ob er dessen Auslegung der philosophischen Tradition und damit Feuerbachs Selbstverständnis richtig wiedergibt. In alledem würde offenkundig, dass nicht nur Engels’ Version eine Interpretation des Marx’schen Satzes ist, sondern dass der Satz selbst nichts anderes als eine Interpretation darstellt – und zwar keineswegs einfach eine Interpretation der Welt, sondern eine Interpretation von Interpretationen der Welt. Hier im Foyer hängt somit eine von Friedrich Engels vorgenommene Interpretation eines Satzes von Karl Marx, der damit selbst mehrschichtige Interpretationen der Welt „nur“ interpretiert. Und da dies kein Einzelfall ist, können Sie vielleicht verstehen, wie es kommen konnte, dass der Philosophie der Gegenwart vor lauter Interpretationen die Welt selbst abhanden gekommen ist. Alles, so sagen sie mit Nietzsche, sei Interpretation – und nichts außerdem.5 Wer aber erst einmal so weit gegangen ist, der muss auch so konsequent sein, jede Veränderung nur noch als eine Frage der Interpretation zu begreifen.6 Ob es „wirklich“ Veränderungen gibt, ist dann allerdings eine unzulässige, weil sinnlose Frage. Doch so weit wollen wir hier natürlich nicht gehen. Wir begnügen uns zunächst mit der Feststellung, dass sich durch die Erkenntnis der mehrfach geschichteten Interpretationen in einem so schlichten Satz bereits einiges verändert – mindestens unsere Wahrnehmung und dies immerhin so stark, dass wir gar nicht mehr sicher sind, worauf es eigentlich ankommt. Doch versuchen wir, wenigstens einen Zipfel der Bedeutung des Satzes zu fassen, der in ehernen Lettern, scheinbar gegen jede Veränderung resistent, auf dem Marmor steht, der schon so gewaltige erdgeschichtliche, bautechnische und politisch-symbolische Veränderungen mitgemacht hat.7 5 Vgl. Nietzsche, Nachlaß-Notiz 1886/87, 7 [60], in: KSA, Bd. 12, S. 315: „[G]erade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ,an sich‘ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. ,Es ist alles subjektiv‘ sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, ,das Subjekt‘ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes.“ Siehe entsprechend: Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 22, KSA, Bd. 5, S. 37. 6 So geschieht es bei Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 133 ff., und Josef Simon, Philosophie des Zeichens. 7 Im Universitätsarchiv finden sich Unterlagen über Bestellung und Lieferung des Marmors, der Anfang der Fünfzigerjahre aus dem Gebiet um Saalfeld geliefert worden sein soll. Sollte der Marmor, wie immer wieder kolportiert wird, aus der ehemaligen Reichskanzlei stammen, so hat man ausreichend Vorsorge getroffen, damit dies im

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III. Beiträge zum politischen Zeitgeschehen und zur politischen Praxis

Die „Thesen über Feuerbach“ sind die Keimzelle für ein nie vollendetes Werk, an dem Marx und Engels bereits ein halbes Jahr später, im Herbst 1845, gemeinsam zu schreiben beginnen.8 Es ist die „Deutsche Ideologie“, deren erster Abschnitt sich polemisch auf Feuerbach bezieht.9 Darin heißt es in dem in Marxens Handschrift erhaltenen Manuskript mehrfach, es gehe nicht um „reine Gedanken“, sondern um „politische Interessen“ 10. Die Formen des Bewusstseins ließen sich „nicht durch geistige Kritik [. . .], sondern nur durch den praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse“ auflösen;11 „nicht die Kritik, sondern die Revolution“ sei „die treibende Kraft der Geschichte“ 12. Alle diese Wendungen zeigen, dass es Marx gerade darauf ankommt, die Alternative zwischen bloß interpretierendem Bewusstsein und revolutionärer Veränderung zu exponieren. Deshalb dürfen wir getrost davon ausgehen, dass Engels das Semikolon und das unscheinbare „aber“ ganz im Sinne von Karl Marx eingefügt hat. Dies gilt zumindest unter der politischen Prämisse der „Deutschen Ideologie“. Doch auch schon in den „Thesen über Feuerbach“ grenzt Marx selbst die von ihm als grundlegend angesehene „praktische menschlichsinnliche Tätigkeit“, die er auch „revolutionäre Praxis“ 13 nennt, mit einem „aber“ von Feuerbachs angeblich abstrakt-sinnlicher Auffassung ab.14 Aber was wird da eigentlich voneinander abgegrenzt? Was ist denn mit Interpretation, mit „reinen Gedanken“ und „geistiger Kritik“ auf der einen und was mit „verändern“, „praktischem Umsturz“ und „Revolution“ auf der anderen Seite eigentlich gemeint? Marx weiß genau, dass er Feuerbach kein bloß „abstraktes Denken“ unterstellen kann, denn eben dies will Feuerbach ja selbst überwinden, indem er es (wie schon Aristoteles, Locke, Rousseau und Kant) durch das Moment der „Sinnlichkeit“ ergänzt.15 Und wenn es Marx auf eine genaue Interpretation angekommen wäre, hätte er wenigstens anmerken müssen, dass Nachhinein nicht mehr ohne weiteres feststellbar ist (s. dazu den Nachtrag in diesem Band, S. 291–298). 8 Zur Vorgeschichte der „Thesen“ und der „Deutschen Ideologie“ siehe anschaulich: Thom, Dr. Karl Marx. Thom schildert die geistige Biographie von Marx bis in den Sommer 1843 und gibt eine kommentierte Bibliographie. 9 Mit der Niederschrift der Deutschen Ideologie haben Engels und Marx im Herbst 1845, also ein halbes Jahr nach den Thesen über Feuerbach begonnen. Das erste Kapitel, das jetzt, nach einer späteren Disposition von Marx, den Titel „Feuerbach“ trägt, wurde zuletzt geschrieben. Die Autoren haben daran noch in der zweiten Hälfte 1846 geschrieben, ohne es zu vollenden. 10 Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie, S. 39 (Hervorhebung – V. G.). 11 Ebd., S. 38 (Hervorh. – V. G.). 12 Ebd. (Hervorh. – V. G.). 13 Marx, Thesen über Feuerbach, S. 6. 14 Vgl. ebd., S. 6 bzw. S. 534 (in der von Engels veröffentlichten Fassung). 15 Vgl. dazu Ludwig Feuerbachs epistemologisch-anthropologische Einleitung Das Wesen des Menschen im allgemeinen, in: Feuerbach, Das Wesen den Christentums. Marx bezieht sich auf diese Schrift.

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Feuerbach die „Tätigkeit“ keineswegs vergisst. Ja, im Gegenteil: Feuerbachs Auffassung vom „Wesen des Menschen“ beruht auf der Selbsterfahrung des Menschen als einer „Macht“, die sich gegen andere Mächte behauptet.16 In der Macht aber zeigt sich die „produzierende Wesenskraft“ aller lebenden Wesen, die sich im Menschen nur auf eine spezifische Weise äußert.17 In sie geht natürlich die „Macht des Denkens“, die „stille, geräuschlose Macht des Denkens“ ein, also auch die „Macht des Wissenstriebs“ („eine schlechterdings unwiderstehliche, alles überwindende Macht“).18 Von alledem ist bei Marx nicht die Rede. Und da er auch mit eigenen Worten nicht sagt, was er denn unter bloßer „Interpretation“ oder „rein geistiger Kritik“ des Näheren versteht, müssen wir unser Augenmerk auf die Gegenseite, auf „Veränderung“ und „revolutionäre Praxis“ richten, um mehr über die Alternative zu erfahren, von der die 11. These handelt. Und hier lässt sich bereits beim ersten Blick auf die vorangehenden Sätze eine Entdeckung machen, die unsere Wahrnehmung der prominenten 11. These garantiert verändert: In der vermeintlichen Abgrenzung von Feuerbach will Marx auf eine „Praxis“ hinaus, in der „der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht [. . .] seines Denkens beweisen“ muss. Das ist keine Interpretation, sondern nur ein Zitat! Es lautet vollständig: „In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“ 19 Aus der Sicht der 11. These ist das ein unerhörter Satz, denn er besagt, dass es in der verändernden „Praxis“, auf die es nun ankommen soll, um die Wirklichkeit und Macht eines Denkens geht! Das Denken ist es, worauf es ankommt, denn nur in ihm liegt das, worauf es in der Praxis ankommen kann. Und wer glaubt, dass sich der Begriff des Denkens hier vielleicht nur versehentlich als der eigentliche Beweisgegenstand menschlicher Praxis eingeschlichen hat, der wird durch den nächsten Satz gleich eines Besseren belehrt: „Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage.“ 20 Mit dieser gewiss nicht strittigen These bestätigt sich die Aussage des vorangehenden Satzes: In Abgrenzung gegenüber Feuerbach will Marx auf ein Denken hinaus, dass sich nicht „von der

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Vgl. Feuerbach, Das Wesen des Menschen im allgemeinen, S. 32. Vgl. ebd., S. 38. 18 Ebd., S. 32. Der Hinweis auf die Unwiderstehlichkeit des Wissenstriebs ist eine Hinzufügung der 3. Aufl. von 1849. – Es ließe sich, insbesondere unter Berufung auf diese von Feuerbach jedem Lebewesen unterstellte „produzierende Wesenskraft“, leicht zeigen, dass Marx die Auffassung Feuerbachs viel zu eng auslegt. 19 Marx, Thesen über Feuerbach, S. 5 bzw. S. 533 (in der von Engels veröffentlichten Fassung). Engels hat das „i. e.“ [id est] von Marx in „das heißt“ verändert (Hervorhebungen – V. G.). 20 Ebd., S. 533. 17

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III. Beiträge zum politischen Zeitgeschehen und zur politischen Praxis

Praxis isoliert“; die Praxis soll etwas sein, worin sich die Wirklichkeit, Macht und Diesseitigkeit eines Denkens beweist; und weil es in der Tat das Denken ist, das in dieser Praxis zu seinem adäquaten Ausdruck kommen soll, kann auch die „rationelle Lösung“ aller „Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen“, letztlich in nichts anderem als „in dem Begreifen dieser Praxis“ liegen.21 Über das Denken und Begreifen, auf das es hier offenkundig in aller Praxis ankommt, erfahren wir genauso wenig wie über das Interpretieren: Es soll kein „abstraktes Denken“ sein; es soll auf die „praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit“ bezogen sein; und schließlich soll es den Menschen nicht bloß als Individuum, sondern immer auch als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ erfassen.22 Dabei ist offenbar auch das Selbstverständnis des Menschen berührt. Denn anders könnte Marx die geforderte „revolutionäre Praxis“ nicht als eine „Selbstveränderung“ bezeichnen,23 in der die „Selbstentfremdung“, die „Selbstzerrissenheit“ und das „Sichselbstwidersprechen“ des Menschen endlich ihr Ende finden.24 Für die 11. These heißt dies, dass die Veränderung, auf die es nun ankommt, immer auch eine Selbstveränderung des denkenden Menschen ist. Übrigens hat Engels in seiner Edition den Begriff der „Selbstveränderung“ einfach gestrichen.25 Dass sich in diesem von Marx geforderten „umwälzenden Prozeß“ 26 vor allem der denkende Mensch selbst zu verändern habe, schien ihm offenbar nicht so wichtig. Der späte, in seinem Selbstverständnis zum politischen Revolutionär gewordene Marx dürfte ihm auch darin zugestimmt haben. Wären beide, Marx und Engels, die Philosophen geblieben, die sie nicht mehr sein wollten, hätten sie sich bei einigem Nachdenken eingestehen müssen, dass sich – die Wahrheit der ersten zehn Thesen einmal vorausgesetzt – die Wahrheit der elften These keineswegs von selbst ergibt. Im Gegenteil: Es bedarf noch nicht einmal einer Interpretation, um zu erkennen, dass sich der berühmte Spruch weder in der Marx’schen noch in der Engels’schen Variante halten lässt. Denn die Veränderung ist nicht die Alternative zur Interpretation, sondern bestenfalls – als bewusste Veränderung – die Implikation einer bestimmten Interpretation. Sollte die 11. These wirklich die Konsequenz aus den voranstehenden Überlegungen ziehen, dann hätte sie ganz anders zu lauten; freilich verlöre sie dann 21

Ebd., S. 7 bzw. S. 535 (Hervorhebungen – V. G.). Ebd., S. 6 bzw. S. 534. 23 Ebd., S. 6. 24 Ebd., S. 6 bzw. S. 534. 25 Ebd., S. 534. 26 In seiner Fassung hat Engels den Begriff der „revolutionären Praxis“ eingedeutscht und in wörtlicher Übersetzung eine „umwälzende Praxis“ daraus gemacht (vgl. Marx, Thesen über Feuerbach [von Engels 1888 veröffentlichte Fassung], S. 534). 22

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auch ihre so tatkräftig wie hämisch wirkende Pointe. Der erste Teil braucht allerdings nicht verändert zu werden, denn er setzt nur die Prämisse: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Das „nur“ kann natürlich Bedenken auf sich ziehen, denn man könnte sagen, dass eine gute Interpretation eine beachtliche Leistung ist, die keine Abwertung verdient. Außerdem könnte man sachliche Zweifel anmelden, denn die Philosophen leisten, zumindest wenn sie gut interpretieren, stets mehr als das: Sie klären über Sachverhalte auf, geben praktische Orientierung und führen eine Lebensform vor, die gerade dann ihre Vorteile zeigt, wenn die gewohnten Verhältnisse sich auch ohne unser Zutun dramatisch verändern. Doch wir wollen nicht kleinlich sein: Den ersten Teil der 11. These können wir ruhig so stehen lassen. Danach müsste die These jedoch folgendermaßen lauten: Es kommt aber darauf an, sie [die Welt] einheitlich so zu begreifen, dass sie dem Denken des Menschen nicht widerspricht; dabei kann man dann sicher sein, dass die Wirklichkeit und Macht des Denkens den Menschen und seine Welt verändern. Unsere Marmorwand wäre mit dieser Variante ziemlich ausgefüllt. Aber wir würden Platz gewinnen, weil wir uns nun den ersten Teil der These doch sparen könnten; denn das, was im zweiten Teil gefordert wird, kommt sowieso nicht ohne Interpretation aus, und es gibt in den ersten zehn Thesen nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass die Philosophen in dem, was da gefordert ist, nur noch einer Meinung sind. Und wenn uns der jetzt immerhin gesicherte zweite Teil zu lang erscheint, können wir ihn ohne Verlust an begrifflicher Substanz auch knapper fassen: Es kommt darauf an, ohne Selbstwiderspruch wirksam zu denken. Nach den gegebenen Erläuterungen könnte es meinetwegen auch heißen: Es kommt darauf an, wirksam zu sein. Das wäre meine – zugegeben triviale27 – Fassung der 11. These, und sie ließe sich auch ohne Rekurs auf die ersten zehn verteidigen. Natürlich kommt es mir nicht in den Sinn, mit Marx konkurrieren zu wollen. Ich will nur deutlich machen, was er hätte sagen können, wenn er wirklich bei dem geblieben wäre, was er in den zehn vorausgehenden Thesen umreißt. Allerdings hat mein Vorschlag den Nachteil, dass er nicht von einer kritischen Prüfung der vorausgegangenen Thesen befreit. Wer gleich zur Veränderung schreitet, braucht sich nicht notwendig um die zurückliegenden Widersprüche zu 27 Richard Schröder hat in seinem Beitrag sinnfällig gemacht, daß alles, was von der 11. These philosophisch zu retten ist, eine Trivialität darstellt (vgl. Schröder, Zur 11. Feuerbach-These von Karl Marx). Nicht trivial, sondern einfach nur unsinnig wird die Marx’sche These, wenn wir uns eingestehen, dass die Realität sich sowieso jederzeit verändert; gleichwohl bleibt sie immer nur die „Realität“. Darauf hat Milan Kangra bereits vor Jahren aufmerksam gemacht: „Wenn man von der Realität als einzigem und einzig möglichem Prinzip ausgeht, sieht man leicht ein, daß die reale alltägliche Wirklichkeit durch ihre Faktizität und Positivität in der empirischen Sphäre Tag für Tag aufs neue Marx und seine Forderung nach der Veränderung der Welt widerlegt [. . .].“ (Kangra, Praxis und Kritik, S. 99)

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kümmern. Wer aber wirklich ohne Selbstwiderspruch wirksam werden will, muss, ehe er die Einheit von allen andern fordert, auf Einheit und Konsequenz bei sich selber achten. Und damit steht es bei Marx denkbar schlecht. – Es genügt, zwei Beispiele aus den „Thesen“ zu nennen. Erstens: Marx wirft Feuerbach vor, er habe die Sinnlichkeit nur „unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt“, „nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit“, und er fügt hinzu: „nicht subjektiv“ 28. Der Vorwurf trifft in dieser Form gewiss nicht zu. Doch sehen wir einmal davon ab, wie Marx Feuerbach interpretiert und fragen wir, was denn „subjektiv“ an dieser Stelle heißen soll? Nach Marx’ eigener Umschreibung soll damit gesagt sein, dass man außer der auf Objekte gerichteten Erkenntnis auch die von den menschlichen Subjekten betriebene Tätigkeit in die Analyse einbezieht. Diese „subjektive“ Tätigkeit wird noch im selben Absatz als „gegenständliche Tätigkeit“ bezeichnet.29 Da „gegenständlich“ in philosophischer Terminologie aber nichts anderes heißt als „objektiv“, bekommen wir eine Gleichung aus „subjektiv“ und „objektiv“! Man müsste schon sehr viel Dialektik bemühen, um aus diesem schlichten Widerspruch herauszufinden. Marx gelingt es jedenfalls nicht. Die Industrie, die er hier als subjektiv-objektive Tätigkeit anspricht, zeigt auch in seinen späteren Analysen immer nur ihren objektiven Charakter, und es gelingt ihm noch nicht einmal, an ihr die Sinnlichkeit aufzuspüren, die alle Objektivität bei Feuerbach immerhin hat – von Subjektivität ganz zu schweigen. Für sie hatte Marx als Theoretiker keinen Platz, und es ist kein Zufall, dass der Parteimarxismus die Subjektivität stets als eine Bedrohung empfunden hat. Es ist höchst aufschlussreich, dass die Marxisten nur, solange sie in der Opposition sind, Sinnlichkeit und Subjektivität für sich in Anspruch nehmen. Man stelle sich vor, die SED hätte vor 1989 so bunt, jugendlich und scheinbar liberal für sich geworben, wie dies heute die PDS tut. Zweitens: In der 4. These „ad Feuerbach“ wird die Inkonsequenz kritisiert, mit der die „religiöse Welt“ lediglich auf ihre „weltliche Grundlage“ in den Lebensverhältnissen der Menschen zurückgeführt werde. Feuerbach zeige lediglich den Widerspruch in „dieser weltlichen Grundlage“ auf, ohne ihn zu beseitigen. Er interpretiert also nur, anstatt, wie Marx es sich vornimmt, zu verändern. Der Vorsatz dazu liest sich so: „Also nachdem z. B. die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere [also die „irdische Familie“ aus Vater, Mutter und Kind – V. G.] selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden.“ 30

28 29 30

Marx, Thesen über Feuerbach, S. 5 bzw. S. 533. Ebd. Ebd., S. 6.

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Diese Vernichtung der Familie (Engels macht behutsam eine Umwälzung daraus)31 ist übrigens das einzige konkrete Beispiel für die propagierten Veränderungen, die nun auf die Interpretationen der Philosophen folgen sollen. Dabei sieht man auch ohne philosophische Schulung, dass die von Marx avisierte Veränderung nur durch einen Kurzschluss aus den Interpretationen Feuerbachs folgt: Warum sollte man alles gleich „vernichten“, nur weil es mit einem Widerspruch verbunden ist? Man kann Widersprüche auch ausgleichen; man kann versuchen, sie durch Änderungen in den Rahmenbedingungen oder im inneren Aufbau zu beheben. Und – was man nie vergessen sollte: Man kann Widersprüche auch aushalten! Das alles ist Marx aber offenbar zu subtil. Er möchte partout Vater, Mutter und Kind mit dem Bade ausschütten, und will nur das – und nichts außerdem – als Veränderung gelten lassen. Was diese Konsequenz auch biographisch bedeutet, mag man daraus ermessen, dass Marx noch wenige Jahre vorher als Redakteur der Rheinischen Zeitung nicht nur Ehe und Familie, sondern auch ihr „sittliches Wesen“ entschieden verteidigt hat.32 Wie gesagt, die Familie ist hier nur ein Beispiel, aber ein durchaus treffendes; denn der gleiche revolutionäre Kurzschluss, der ihn von den gar nicht zu leugnenden Widersprüchen in der Familie zur Forderung nach deren Vernichtung führt, bringt Marx schon wenig später von den gar nicht zu übersehenden Gegensätzen in der bürgerlichen Gesellschaft zum Verlangen nach deren Abschaffung. Philosophisch ist auch dieser Schluss von der Interpretation auf die Liquidation nicht gedeckt, und inzwischen hat ja auch die politische Praxis hinlänglich gezeigt, dass mit der Diagnose vom zwangsläufigen Ende des Kapitalismus – selbst unter der Voraussetzung revolutionärer Nachhilfe – etwas nicht stimmt. Wenn wir es wohlwollend formulieren, haben auch die Marxisten die Welt nur verschieden interpretiert; und es kommt darauf an, nicht zu vergessen, mit welchen Mitteln sie ihre Veränderung zu erzwingen suchten. – Doch das ist ein anderes Thema! Die philosophische Betrachtung der 11. Feuerbach-These führt also zu einem negativen Resultat. Der Spruch ist weder historisch noch sachlich-begrifflich noch in der beanspruchten logischen Konsequenz zu halten.33 Und es ändert gar nichts, ob wir ihn in der Originalversion oder in der von Engels volkstümlich gemachten Fassung betrachten. Aber, so haben wir uns selbstkritisch zu fragen, werden wir mit diesem Ergebnis Marx wirklich gerecht? Ist der von uns gewählte philosophische Zugang überhaupt angemessen? Macht Marx nicht hin31 Ebd., S. 534. Da heißt es: „[. . .] muß nun erstere selbst theoretisch kritisiert und praktisch umgewälzt werden.“ 32 Vgl. dazu Marx’ Kommentar zu dem bis dahin geheim gehaltenen, unter der Federführung Savignys entworfenen Ehescheidungsgesetzentwurf der Preußischen Regierung von 1842 (Marx, Der Ehescheidungsgesetzentwurf). 33 Gerd Irrlitz hat in seinem Vortrag mit guten Gründen auf die rhetorische Pointierung der 11. These aufmerksam gemacht (vgl. Irrlitz, Karl Marx).

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reichend deutlich, dass er für seinen Teil die Philosophie hinter sich gelassen und den Übergang zur Politik vollzogen hat? Hat er nicht einen Anspruch darauf, dass wir seine These in ihrer politischen Bedeutung prüfen? Natürlich fällt es oft nicht leicht, eindeutig zwischen Philosophie und Politik zu unterscheiden. Aber wir sollten zumindest versuchen, den programmatischen politischen Sinn der These zu fassen. Da ist zunächst zu sagen, dass wir die Motive des noch nicht dreißigjährigen Autors gut verstehen. Seit Beginn des Jahrhunderts befand sich die europäische Gesellschaft in einem ungeahnten Umbruch; die wissenschaftlich-technische Evolution erschütterte die Lebenswelt mit unerhörten inneren Folgen, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Denn wir haben uns zumindest an die Tatsache der beschleunigten Veränderung der Welt durch Wissenschaft, Technik und Industrie gewöhnt. Für die Zeitgenossen von Karl Marx aber war das noch eine vollkommen neue Erfahrung. Der Horizont, an dem man sich bisher so sicher orientiert hatte, schien mit einem Male ausgewischt. Die Verzweiflung Nietzsches, der noch 1882 mit Tatsachen nicht fertig wurde, die von den Aufklärern bereits mit kühlem Verstand und von den Romantikern mit ironischer Bosheit ausgesprochen wurden, wirkt ja bis heute noch nach. Marx war mit diesem Drama der Auflösung einer lange festgefügten gesellschaftlichen Ordnung wohl vertraut. Aber ihn beunruhigte weniger der Verlust der geistigen Orientierung, wie ihn Novalis oder Friedrich Schlegel, Jean Paul oder Byron, Schelling oder Kierkegaard registrierten. Dass „Gott tot“ ist, hatte er schon im Anhang zu seiner Dissertation nüchtern konstatiert.34 Er ließ sich stärker durch das akute gesellschaftliche Unrecht, durch den Widerspruch zwischen den konstitutionellen Formen und dem materialen Fortbestand feudaler Privilegien empören. Dabei bewies er schon früh einen scharfen Blick für das Elend, das mit der Industrialisierung entstand. Und seine ersten selbstständigen Arbeiten belegen, dass er, dem die akademische Laufbahn ohnehin versperrt war, nicht nur durch Theorie auf die Missstände reagieren wollte. Heute wundert uns zwar, warum er sich so auf das Elend der europäischen Arbeiter beschränken konnte und sein Mitleid mit der willkürlich erzeugten Not in den kolonisierten Erdteilen wesentlich weniger deutlich zum Ausdruck kommt als etwa bei Kant. Vielleicht aber zeigt sich auch darin sein politischer Blick, der sich auf die beschränkte, die er glaubte mit seinen Mitteln erreichen zu können. Tatsächlich lag die Ausbeutung der Frauen, Männer und Kinder in Europa, die Engels am Beispiel Englands so eindringlich beschrieben hat,35 wesentlich näher. Und ehe sie nicht beseitigt war, war an eine Änderung der Kolonialpolitik ohnehin nicht zu denken. 34 „Hat nicht der alte Moloch geherrscht? War nicht der delphische Apollo eine wirkliche Macht im Leben der Griechen? Hier heißt auch Kants Kritik nichts.“ (Marx, Anhang zur Doktordissertation, S. 371)

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Hier also liegen Motive, die wir gut verstehen. Mit ihnen steht Marx in einer langen humanistischen, gleichermaßen christlich-karitativen, jüdisch-kommutativen wie auch antik-rechtlichen Tradition. Es ist insbesondere das Verlangen nach förmlicher politischer und nach sozialer Gerechtigkeit, das ihn bewegt. Seine Berichte über die Debatten im Rheinischen Landtag, über die Pressefreiheit, das Holzdiebstahlgesetz oder über das Ehescheidungsgesetz legen davon Zeugnis ab. Er wusste, dass sich die Vertretung der politischen Kräfte verändern musste. Die sich rasant umwälzenden Umstände verlangten nach erweiterten politischen Rechten, so wie sie erstmals in den Verfassungen der Vereinigten Staaten und der Französischen Republik garantiert waren. Wer Verstand und Herz besaß, der konnte sich mit den bestehenden Verhältnissen nicht abfinden. Und da sich alles revolutionierte, war es auch nahe liegend, eine nachholende Revolution von der Politik zu verlangen. Was aber tat die herrschende Philosophie ihrer Zeit? Sie verlor sich in endlose und bösartige Streitigkeiten über die Erbschaft einer Philosophie, die behauptet hatte, den Abschluss des Denkens darzustellen. Es genügt in diesem Zusammenhang an den Titel von Bruno Bauers anonym erschienener Schrift „Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum“ zu erinnern.36 Ein hässlicher Streit über Prinzipien brachte die Prinzipien selbst in Misskredit. „Bruno Bauer & Konsorten“ werden daher als Feinde des „realen Humanismus“ erfahren, weil durch ihre abstrakte Kritik „der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der alles tut, besitzt und kämpft“, der Philosophie abhanden kommt.37 Nimmt es wunder, dass ein vor Tatkraft berstender junger Mann das alles hinter sich lassen und die konkrete Politik an die erste Stelle der weltgeschichtlichen Tagesordnung setzen will? Mir erscheint der juvenile Anspruch nur verständlich. Und wenn Marx die Philosophie unterschätzt, dann ist das keineswegs nur sein Problem, sondern es zeigt auch das Versagen der Philosophen seiner Zeit, die nicht in der Lage waren, das Grundsätzliche ernsthaft und anschaulich zu denken und sich auch aktuell auf die großen sozialen Fragen ihrer Gegenwart zu beziehen. Erst heute wissen wir, dass die besseren Philosophen jener Jahre nach Hegels Tod die Naturwissenschaftler, die Physiker, Physiologen und praktizierenden Mediziner waren. Überdies gab es eine neue Wissenschaft, die auf höchstem philosophischen Niveau eingesetzt hatte38 und einen direkteren Bezug zur menschlichen Realität 35 Der erste Artikel von Friedrich Engels, Zur Lage der arbeitenden Klasse in England, erschien im Dezember 1842 in der Rheinischen Zeitung Nr. 359, 25. Dezember 1842. Das Buch unter dem gleichnamigen Titel erschien 1845. 36 Leipzig 1841. 37 Vgl. Marx/Engels, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, S. 7 u. 98. 38 Gemeint ist Adam Smith, der als Philosoph zwar von seinen Zeitgenossen und auch noch von Kant und Hegel anerkannt wurde, heute aber selbst von jenen unterschätzt wird, die sich auf ihn beziehen.

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versprach: die Nationalökonomie, die damals noch alle die Hoffnungen auf sich zog, die in unserem Jahrhundert eine Zeit lang der Soziologie zugeflogen sind. Ein weiterer Motivkomplex kommt hinzu: Der Anspruch auf den Übergang zur Tat war ein allgemeines Charakteristikum des Zeitgeistes. Kant hatte gesagt, dass wir nur das wirklich wissen, was wir gemacht haben;39 Novalis hatte wiederholt: Der Mensch weiß nur, was er kann. Was lag näher, als nun mit dem Segen der Philosophie gleich alles auf das Machen und Können zu setzen? Ist das nicht auch die Botschaft des alten Goethe, wenn er den gereiften Faust, kurz bevor sich endlich der Wunsch einstellt, der tätig verbrachte Augenblick möge verweilen, „die Tat ist alles“ sagen lässt?40 Sollte man es dem jungen Mann verübeln, dass er ebenso spricht? Dass er sich auch den Habitus des Tatmenschen zulegt, der sich damals in der jungen Generation mit der Attitüde positiver Wissenschaftlichkeit verband?41 Natürlich geht da eine Portion Wissenschaftsgläubigkeit ein. Doch das Ignorabimus war noch nicht wieder entdeckt. Die Sensibilität Kierkegaards hatte sich noch nicht öffentlich geäußert; der von Nietzsche gelebte Exzess des freien Geistes stand erst noch bevor. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir heute auch deshalb empfindlicher sind, weil wir durch die politischen Großexperimente der Rassen- und Klassendoktrin, diesen ideologischen Abfallprodukten des Positivismus, schrecklich belehrt worden sind. Also dürfen wir dem jungen Marx manches zugutehalten. Seine 11. These „ad Feuerbach“ bringt die intellektuelle Stimmung seiner Zeit zwar nicht auf den Begriff – um das zu sein, dürfte sie keinen Widerspruch enthalten –, aber sie passt sie in eine griffige Formel, wie man sie in der Politik benötigt. Und dass er dabei uralte Vorurteile gegen die Theorie mobilisiert, spricht ebenfalls für seinen politischen Instinkt. Und so enthält denn sein berühmter Spruch eine unleugbare politische Wahrheit, die für den Theoretiker immer etwas Irritierendes und Provozierendes an sich hat: Wer politisch handeln will, kann nicht alles bis an sein Ende bedenken 39 Vgl. Kants Briefe an J. S. Beck v. 1. Juli 1794 und an J. Plücker v. 26. Januar 1796, AA, Bd. 11, S. 515, u. Bd. 12, S. 57). 40 Goethe, Faust II, Vers 10186/87, S. 465. 41 Die Stimmung, die sich in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auszubreiten begann, hat Turgenjew zwanzig Jahre später – auf die junge Generation in Russland bezogen – eingefangen: „,Ist auch die Natur Larifari?‘ meinte Arkadij, der versonnen in die Ferne schaute, wo die Felder zart und farbenfroh in der sinkenden Sonne leuchteten, ,Auch die Natur, jedenfalls so, wie du sie verstehst. Die Natur ist kein Tempel, sondern eine Werkstatt, und der Mensch ist ein Arbeiter darin.‘“ (Turgenjew, Väter und Söhne, S. 51) Wenig später kommt die Rede auf Puschkin; was über ihn gesagt wird, kann auch für die Philosophen gelten: „,Vorgestern sehe ich ihn Puschkin lesen‘, fuhr Basarow währenddessen fort. ,Mach ihm doch mal plausibel, daß das Zeitvergeudung ist. Er ist doch kein Kind mehr: Diesen Firlefranz sollte er endlich lassen.‘“ (Ebd., S. 54)

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und beraten; er muss vielmehr wissen, dass es letztlich immer auf das Handeln ankommt. Die Politik fordert die Tat. Sie entspringt aus dem Verlangen, etwas zu tun. Sie will Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen. Und wo sie nicht ursprünglich etwas anstoßen und bewirken kann, da will sie wenigstens – führen. Die Politik kann a priori nicht einfach alles so lassen, wie es ist. Darin liegt ihre Größe, aber auch ihre Tragik. Sie trifft, verständlicherweise, den politischen Konservativismus besonders hart, weil er eben bereits durch die Logik seines Handelns genötigt ist, im Prinzip das aufzugeben, was er im Prinzip bewahren will. Und in der Umkehrung erkennen wir, warum die Politik aus innerer Notwendigkeit auf die Veränderung festgelegt ist. Wer also politisch handelt, verändert seine Welt aus eigenem Kalkül. Dabei kommt er zwar ohne Begriff und Gedanke nicht aus; er ist stets auf die Deutung von Meinungen und Erwartungen angewiesen, aber er kann und darf nicht warten, bis er über alle Interpretationen verfügt. In der Politik kommt es somit darauf an, dass man auch augenblicklich handeln und das Risiko der Veränderung notfalls auch ohne Interpretation eingeht. Insofern drückt die 11. These „ad Feuerbach“ eine politische Grundwahrheit aus. Sie ist eine Prämisse der politischen Welt, und darin notfalls – so leid es mir tut – jeder philosophischen These überlegen. Und dennoch können wir selbst aus der Perspektive der politischen Theorie die 11. Feuerbachthese nicht akzeptieren! Denn in dem darin ausgesprochenen Übergang von der Philosophie zur Politik fällt Marx hinter das Niveau der zu seiner Zeit erreichten Einsicht in das Verhältnis von Philosophie und Politik zurück. Denn vorausgesetzt, er will die Politik nicht überhaupt von aller philosophischen Einsicht lösen, dann unterstellt er in dem Übergang von der Interpretation zur Veränderung ein Verhältnis linearer Ableitung der politischen Tat aus dem philosophischen Wissen. Doch dieser deduktive Zusammenhang hat praktisch nie bestanden, und er ist spätestens seit Kant theoretisch aufgekündigt. Es ist eine literarisch unscheinbare Stelle, nämlich der zweite, durch und durch ironische Zusatz mit dem angeblichen „Geheimartikel“ zum „Ewigen Frieden,“ in dem Kant die platonische Idee der Philosophenherrschaft revidiert. Dies geschieht mit einem einzigen Satz: „Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“ 42 In diesen Satz geht vieles ein, was hier abschließend nur angedeutet werden kann: Erstens die Erkenntnis, dass die bewusste politische Tat nur aus dem praktischen Selbstverhältnis von Individuen zu begründen ist; deshalb ist die 42 Kant, Zum ewigen Frieden, AA, Bd. 8, S. 369. Siehe dazu v. Verf.: Der Thronverzicht der Philosophie. Die ausführliche Fassung findet sich in: Verf., Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“, S. 126 ff.

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Politik vom Bewusstsein freier Verantwortlichkeit des sein Leben ernst nehmenden Individuums nicht zu trennen; zweitens die Einsicht, dass sich die Verbindlichkeit politischer Aussagen nur auf das äußere Verhältnis der Individuen beziehen darf und dass die Politik daher ihre verpflichtende Grundlage nur in einem Recht haben kann, dessen Fundament das Menschenrecht zu sein hat; drittens das Bewusstsein, dass sich die Politik immer auch auf die Bewältigung konkreter historischer Situationen zu beziehen hat; deshalb ist sie auf individuelle Erfahrung, auf geübte Urteilskraft und alles in allem auf eine Klugheit angewiesen, für die es keine Prinzipien, also auch kein Lehrbuchwissen gibt; viertens das Vertrauen in die Funktion einer die individuellen Meinungen vermittelnden Öffentlichkeit, in der es auch zu einer Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Politik kommen kann. Die Schlussfolgerung ist, dass Regieren und Philosophieren komplementäre gesellschaftliche Tätigkeiten sind, die nicht zusammenfallen dürfen, wenn ihre Leistungsfähigkeit auf ihrem je eigenen Gebiet nicht leiden soll. Darin liegt die Modernität der kritischen Konzeption von Politik und von Philosophie. In beiden Fällen setzt Kant auf die vermittelnde Leistung der Öffentlichkeit. Die durch sie eröffnete Chance einer pluralen Herstellung von politischer Einheit und überprüfbarer Erkenntnis macht es nicht nur überflüssig, auf die platonische Identität von Politik und Philosophie zu setzen; sie wäre unter modernen Bedingungen „auch nicht zu wünschen“. Das ist eine die Philosophen schonende Wendung. Deutlicher wäre das Eingeständnis, dass die Philosophenherrschaft eine Gefahr darstellt – für die Politik nicht weniger als für die Philosophie. Die Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Politik hat selbst einen eminent politischen Aspekt, der in der Gewaltenteilung zum Ausdruck kommt. Es ist nicht nur nicht möglich, dass jeder alles macht; es ist dies politisch auch gar nicht erwünscht. Kants strikte Trennung von politischer Machtausübung und philosophischer Kritik ist der Trennung von Exekutive und Jurisdiktion analog. Und wenn die Verständigung zwischen Politikern und Philosophen unter Vermeidung jeder Geheimhaltung, also öffentlich, erfolgen soll, dann ist dabei auch die Rolle der Legislative wie selbstverständlich in den öffentlichen Raum verlegt. Die Trennung von Philosophie und Politik hat somit auch eine demokratische Implikation, denn sie unterstellt, dass die Handlungen des Staates an eine Willensbildung im öffentlichen Raum gebunden sind.43 Wir brauchen nur zu fragen, wie denn diese Willensbildung zu einem institutionellen Ausdruck gelangen kann, und sind bei der legislativen Funktion des Parlaments. Erst damit zeigt sich die politische Progression in Kants Einspruch gegen die Hoffnung, die seit Platon immer wieder in die Philosophenherrschaft investiert worden ist. 43

Dazu dann speziell: Kant, Zum Ewigen Frieden, Anhang II, AA, Bd. 8, S. 384 f.

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Es gehört zu den teuer bezahlten Regressionen der nachkantischen Philosophie, dass die politische Pointe dieser Trennung zwischen Politik und Philosophie nicht erkannt worden ist. Marx’ elfte These gegen Feuerbach akzeptiert eben diese Trennung nicht, und so kann es nicht wundern, dass Marx und seine Anhänger weder für die Gewaltenteilung noch für das positive Recht, weder für das Menschenrecht noch die Unableitbarkeit praktischer Einstellungen aus theoretischen Einsichten Verständnis hatten.44 In dieser mehrfachen Beschränkung ist ihre Theorie vormodern. Wäre die Lehre von Karl Marx philosophisch nicht so marginal, könnte sie als geschichtliches Beispiel für das Scheitern der platonischen Erwartung gelten. Es ist ein Scheitern, das nach Kant wirklich nicht mehr nötig gewesen wäre. Die historische Tragik in diesem Urteil muss ich an diesem Ort und zu dieser Zeit nicht eigens betonen. Was aus der elften Feuerbachthese historisch geworden ist, berührt vorläufig noch das Schicksal von uns allen. Ich will es uns ersparen, am Ende eines langen Vortrags noch große Worte zu machen. Das Urteil über die philosophisch-politische Rückständigkeit der Thesen über Feuerbach macht zugleich aber auch auf eine persönliche Tragik im Entwicklungsgang des jungen Autors aufmerksam: Als Karl Marx im Alter von 24 Jahren in die Redaktion der „Rheinischen Zeitung“ eintrat, war er ein liberal und sozial gesinnter Demokrat. Seine Kommentare sind mustergültig nicht nur in Witz, Spürsinn und Gelehrsamkeit, sondern eben auch in ihrem Bewusstsein für die elementaren Rechte der Menschen. Marx ist noch keine 25 Jahre alt, da hat er seine Stelle durch einen Willkürakt der Zensurbehörden schon wieder verloren und ist alsbald genötigt, sein Land zu verlassen. Dabei hat er nicht mehr getan, als die Meinungsfreiheit, ein Menschenrecht also, zu praktizieren. In der Pariser Emigration kehrt er zu dem Philosophen zurück, von dem er seinem Vater gestanden hatte, dass ihm seine „groteske Felsenmelodie“ nicht behage und er sich gleichwohl „immer fester“ an ihn kette, nämlich zu Hegel.45 Und in der Einsamkeit des politischen Exils glaubt er im Hegel’schen Staatsrecht, vor allem in den dunklen Partien über die vermittelnde Leistung der Korporationen den Punkt entdeckt zu haben, von dem aus er die moderne Lehre von der Politik unterlaufen zu können glaubt. So wird Hegels so spekulative wie problematische Konzeption einer elementaren Sittlichkeit, in der die Religion der Liebe ihr objektives Fundament finden soll, für Marx zum Hoffnungs44 „Was Marx und Engels und ihre Nachfolger über Politik schreiben, ist keine politische Philosophie im traditionellen und bis heute üblichen Sinne (von Aristoteles bis H. Arendt). Es ist kein Nachdenken über die Prinzipien und Institutionen einer guten politischen Ordnung, sondern eine kritische Gesellschaftstheorie zur Anleitung revolutionären Handelns, mit dem Ziel, Politik (auch im Sinne ,legitimer‘ Herrschaft) schließlich unnötig und unmöglich zu machen.“ (Ballestrem, Das politische Denken des Marxismus, S. 147). 45 Vgl. Marx, Brief an den Vater v. 10. November 1837, S. 8 u. 10.

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träger einer substantiellen, wahrhaft gesellschaftlichen Veränderung, die nicht auf die vermeintlich bloß abstrakte Sphäre des Rechts angewiesen ist. Und plötzlich spricht Marx distanziert von den „sogenannten Menschenrechten“.46 Der Verfassungsstaat erscheint ihm nur noch als ein Mittel zur Emanzipation der Bourgeoisie, nicht aber zur Befreiung des Menschen. Diese elementare Befreiung wird nun zum Ziel eines zweiten welthistorischen Akts, der auf die politische Emanzipation des Bourgeoisie folgen soll.47 In ihm löst sich der Mensch nicht nur aus den gesellschaftlichen Widersprüchen, sondern er befreit sich auch vom Recht, vom Staat und letztlich wohl auch von der Politik. Diese Konzeption hat den Realitätsgehalt eines Wunsches. Wenn sie denn überhaupt auf eine Wirklichkeit zielt, dann liegt sie so weit entfernt, dass es unerheblich ist, danach zu fragen, ob in ihr ein Fortschritt oder ein Rückschritt liegt. Am engeren, modernen Sinn von Politik gemessen, ist sie unpolitisch und will es auch sein. Somit ist ihr Scheitern mit ihrem ersten Schritt in die politische Arena vorgezeichnet. Nicht genug, dass sie selbst auf einer Illusion beruht; sie musste auch in ihren Widersachern Kräfte wecken, die sich gegen das Recht, gegen die Individualität und gegen eine sich bewusst begrenzende Vernunft richten. Es waren also eine reaktionäre Politik unter einem romantischen König und eine zwischen Historismus und Substantialismus dialektisch schwankende absolutistische Philosophie, die den jungen Marx von lösbaren Aufgaben in Politik und Philosophie abgebracht haben. Die Verantwortung für den Widersinn in seiner 11. These liegt also nicht bei ihm allein. Und wir werden es auch Karl Marx nicht zur Last legen wollen, dass ausgerechnet diese These zum vergoldeten Motto einer Universität gemacht worden ist. Da sie aber denen, die sie 1953 hier im Foyer angeschlagen haben,48 zum Menetekel geworden ist, können wir 46

Vgl. Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, S. 361, 362, 364 u. 366. Ebd., S. 351. 48 Im November 1952 beschloss das ZK der SED, das Jahr 1953, in das der 135. Geburtstag und der 70. Todestag von Karl Marx fielen, als Karl-Marx-Jahr zu begehen. In einem Schreiben des Staatssekretariats für Hochschulwesen vom 10. Januar 1953 wurden der Humboldt-Universität die Richtlinien zur Vorbereitung und Durchführung des Gedenkjahres übermittelt. In dem Brief des Staatssekretärs Dr. Harig wird als Geburtstag von Marx irrigerweise der 14. März angegeben. Höhepunkt der Aktivitäten ist dann aber der Geburtstag, der 5. Mai 1953, an dem die von Willy Lammert geschaffene Marx-Büste und die Inschrift im Foyer enthüllt werden. Die Inschrift wird im Brief des Staatssekretärs noch nicht erwähnt, ist aber schon am 26. Januar 1953 Gegenstand eines Schreibens von Professor Robert Neumann (Institut für MarxismusLeninismus) an das Rektorat. Neumann beruft sich auf sein Einvernehmen mit der „Propagandaabteilung des Zentralkomitees der SED“. Die Installation der These wurde also von der herrschenden Partei betrieben. Es ist wahrscheinlich, dass Kurt Hager, der damals Leiter der Abteilung Wissenschaft und Hochschulwesen beim ZK war, zu den Initiatoren gehört. Von einem Widerstand der Wissenschaftler gegen die Inschrift ist nichts bekannt. Auf den Festvortrag von Wolfgang Heise wurde bereits hingewiesen. 47

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sie ruhig hängen lassen. Schließlich brauchen wir nicht alles gleich zu verändern; manchmal reicht es schon aus, es nur zu interpretieren.

Literatur Abel, Günter: Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/ New York 1984. Ballestrem, Karl Graf: Das politische Denken des Marxismus, in: ders./Ottmann, Henning (Hg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990, S. 147– 177. Bloch, Ernst: Keim und Grundlinie. Zu den elf Thesen von Marx über Feuerbach, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1 (1953), S. 237–260. Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Menschen im allgemeinen, in: ders., Das Wesen des Christentums (Gesammelte Werke, hg. v. W. Schuffenhauer, Bd. 5), 2. Aufl., Berlin 1984, S. 28–44. Gerhardt, Volker: Der Thronverzicht der Philosophie. Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant, in: Höffe, Otfried (Hg.), Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden (Klassiker auslegen, Bd. 1), Berlin 1995, S. 171–193. Goethe, Johann Wolfgang: Die Faustdichtungen (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 5), Zürich 1950. Heise, Wolfgang: Die historische Bedeutung der Thesen von Karl Marx über Feuerbach, in: Einheit 8 (1953), S. 1246–1256. Herzberg, Guntolf: Verändern oder verwalten? Marxisten lesen Marx, in: Gerhardt, Volker (Hg.), Eine angeschlagene These. Die 11. Feuerbach-These im Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996, S. 233–251. Irrlitz, Gerd: Karl Marx – Aufhebung der Subjektphilosophie und der idealistischen Handlungstheorie, in: Gerhardt, Volker (Hg.), Eine angeschlagene These. Die 11. Feuerbach-These im Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996, S. 33– 64. Kangra, Milan: Praxis und Kritik. Betrachtungen über Marx’ Thesen über Feuerbach, in: Petrovic´, Gajo (Hg.): Revolutionäre Praxis. Jugoslawischer Marxismus der Gegenwart, übers. v. K. Held, Freiburg 1969, S. 95–109. Marx, Karl: Anhang zur Doktordissertation: Kritik der plutarchischen Polemik gegen Epikurs Theologie, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 366– 373. – Brief an den Vater v. 10. November 1837, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 3–12. – Der Ehescheidungsgesetzentwurf, in: MEW, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1956, S. 148– 151. – Thesen über Feuerbach, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 5–7 u. S. 533–535 (von Engels 1888 veröffentlichter Text).

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Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 9–530. – Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1957, S. 3–223. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: ders., KSA, Bd. 5, 2. Aufl., München 1988, S. 9–243. Schröder, Richard: Zur 11. Feuerbach-These von Karl Marx, in: Gerhardt, Volker (Hg.), Eine angeschlagene These. Die 11. Feuerbach-These im Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996, S. 127–138. Simon, Josef: Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989. Thom, Martina: Dr. Karl Marx. Das Werden der neuen Weltanschauung. 1835–1843, Berlin 1986. Turgenjew, Iwan: Väter und Söhne, Berlin/Weimar 1977.

Es kommt darauf an Nachtrag zu einem Anschlag In der Diskussion zu seinem Vortrag am 4. November 1994 hat Gerd Irrlitz eine aufschlussreiche Begebenheit aus der DDR-Vergangenheit erzahlt: Mitten in einer einführenden Philosophievorlesung Anfang der achtziger Jahre habe er, einem Einfall folgend, darüber nachgedacht, wie ein Philosophiestudent wohl seinen Tag beginnen könne. Am besten wäre, der angehende Philosoph lege für einen Moment alle Bücher beiseite und nehme nur ein leeres Blatt Papier, um aufzuschreiben, was er denke. Denn auf das Denken komme es schließlich an. Wenige Tage nach dieser eher beiläufigen Empfehlung sei er, Irrlitz, von der Parteileitung der Humboldt-Universität wegen dieser Äußerung zur Rede gestellt und zum öffentlichen Widerruf – gleich zu Beginn der nächsten Vorlesung – aufgefordert worden. Ob er denn vergessen habe, dass seine Aufgabe darin bestehe, Kader für die sozialistische Gesellschaft auszubilden? Ob er nicht wisse, dass für subjektivistische Beliebigkeiten im Marxismus kein Platz sei? Ob er nicht verstehe, was die im Foyer des Hauptgebäudes angeschlagene 11. Feuerbach-These besage? Da stehe doch, worauf es ankomme: nicht auf das bloß interpretierende Denken, sondern auf die gesellschaftliche Veränderung. – Nur unter Berufung auf die originale Fassung der These im Notizheft von Karl Marx konnte sich Gerd Irrlitz dem Ansinnen widersetzen. Diese Begebenheit aus dem Alltag des real existierenden Sozialismus sagt schon genug über die tatsächliche Wirkung des von der SED verordneten Thesenanschlags. Aus der flüchtig hingeworfenen Notiz des jungen Marx wurde ein überdimensioniertes Gesetz, mit dem man überall da einschreiten konnte, wo sich die Freiheit des Denkens bemerkbar machte. Mit der symbolischen Übermacht aus Eisen, Gold und Marmor1 wurde nunmehr allen jenen, die gar nicht 1 Inzwischen gibt es genügend Beweise dafür, dass der Marmor im Hauptgebäude Unter den Linden 6 tatsächlich aus der Reichskanzlei stammt. Die Arbeitsgruppe Geschichtsräume, von der ein eigens für die Ringvorlesung verfasster Bericht von KlausDieter Jurk vorliegt, hat sich um einen detaillierten Nachweis bemüht. In einem Aufsatz von Hanns C. Löhr (Mythos und Wirklichkeit) sind die Ergebnisse bereits öffentlich zugänglich gemacht. Die Angaben werden von meinem Kollegen Laurenz Demps bestätigt, der schon in seiner eindrucksvollen Bildmonographie über die Wilhelmstraße davon berichtet, dass die zerstörte Reichskanzlei als Steinbruch für Repräsentativbauten der DDR diente (vgl. Demps, Berlin – Wilhelmstraße, S. 281). Gestützt auf die jüngeren Forschungen zur Stadtgeschichte haben inzwischen mehrere Zeitungen über die Wanderung der Steine berichtet. Im Spiegel stand im Frühjahr 1995, dass Marmor und Kalkstein aus

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umhinkonnten, sich immer noch an die Zehn Gebote des Alten Testaments zu erinnern, das elfte Gebot der revolutionären neuen Zeit vorgehalten: Du sollst nicht interpretieren, sondern praktisch tätig sein. Du sollst nicht länger nach eigenem Gutdünken Zeugnis geben von der Welt, sondern sie so verändern, wie die Partei es will. Man muss den Sinn der 11. Feuerbach-These schon bis zur Trivialität verwässern, wenn man in ihr keinen Anschlag auf die Freiheit des Einzelnen – und insonderheit auf die Freiheit der Wissenschaft – erkennen will. Natürlich kann man sie auf den historischen und biographischen Zusammenhang zurückführen, wie dies in der vorstehend dokumentierten Ringvorlesung des Wintersemesters 1994/952 mit guten Gründen immer wieder geschehen ist. Man kann darauf aufmerksam machen, dass in der von Marx „hingeschlenzten“ These3 „interpretieren“ und „verändern“ noch nicht (wie es dann in der Deutschen Ideologie geschieht) im Sinne einer exklusiven Alternative getrennt werden müssen. Man kann daran erinnern, dass die Opposition von Kopf und Hand, von Theorie und Praxis zu den beliebten und durchaus harmlosen rhetorischen Mitteln politisch motivierter Wissenschaftskritik gehören. Was soll denn Schlimmes daran sein, die Wissenschaft aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm befreien zu wollen? Hitlers Reichskanzlei „im benachbarten U-Bahnhof Kaiserhof (später Thälmannplatz, heute Mohrenstraße) und im Treptower Siegesmonument der Roten Armee neue Verwendung [fanden]. Weiteres Material wurde für die Volksbühne, die Humboldt-Universität, die Weidendammer Brücke und den Klub des Kulturbundes recycelt.“ (Der Spiegel, 16/1995, S. 57) Die an Kuriositäten ohnehin nicht gerade arme Baugeschichte des Prinz-HeinrichPalais, das von 1810 an der Universität als Hauptgebäude dient, wird dadurch bereichert, dass sich im Archiv der Humboldt-Universität Auftrags- und Abrechnungsbelege für eine angebliche direkte Lieferung des Marmors aus dem Gebiet von Saalburg fanden. Die auf das Jahr 1950 datierten Belege sind offensichtlich gefälscht. Die Herkunft des Marmors aus der Reichskanzlei passte nicht ins antifaschistische Konzept der SED. Also wurde durch erfundene Papiere von der Wahrheit abgelenkt. Doch damit nicht genug: Auf die Existenz der Abrechnungsbelege wurde ich durch ein Schreiben der Kustodie der Humboldt-Universität aufmerksam gemacht, nachdem ich bei der Eröffnung der Ringvorlesung im Oktober 1994 meine Vermutung über die Herkunft des Marmors ausgesprochen hatte. Auf meine daraufhin erfolgende Anfrage erhielt ich zwei Kopien von Unterlagen, aus denen zum einen die Bestellung des Marmors und zum anderen dessen Lieferung aus einem Steinbruch bei Saalburg hervorging. Die Originale der Belege mit dem Briefkopf der Firma in Saalburg befänden sich, so die Mitteilung der Kustodie, im Universitätsarchiv. Damit schien meine Behauptung widerlegt. Erst durch die Hinweise der Arbeitsgruppe Geschichtsräume kamen mir Zweifel an der Echtheit der Dokumente. Nachdem sich die Zweifel verdichteten, wünschte ich die Originale im Universitätsarchiv einzusehen. Doch nun wusste plötzlich niemand mehr von deren Existenz! Die Fälschungen waren nicht mehr zu finden. 2 Gemeint ist der von Volker Gerhardt herausgegebene Sammelband Eine angeschlagene These (Berlin 1996), in dem die Beiträge zur Ringvorlesung abgedruckt sind. (Anm. d. Hg.) 3 Konrad Paul Liessmann spricht in seinem schönen Essay von der „hingeschlenzten Wucht“ der Feuerbach-Thesen (Feuerbach oder Die These als Kunstform, S. 35).

Es kommt darauf an

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Schließlich muss man sich an die Aufbruchstimmung eines tatversessenen Jahrhunderts erinnern. Wenn sogar noch der alte Goethe dafür empfänglich war, dann ist es doch nur zu verständlich, dass sich ein jugendlich-prometheischer Geist wie Karl Marx zum Anwalt einer tatkräftigen Umwälzung der Verhältnisse machte.4 Und dennoch ist es eine Provokation ersten Ranges, dass diese These als Leitspruch einer Universität fungiert. Denn das ZK der SED5 hat mit Bedacht eine Fassung ausgewählt, in der „interpretieren“ und „verändern“ längst zum propagandistischen Gegensatz geworden waren. Und ganz unabhängig davon, ob dabei die Meinung des späteren Marx getroffen wurde oder nicht6: Bei der Auswahl im Jahre 1953 hat man, obgleich das Marx’sche Original inzwischen bekannt war, ganz bewusst die Engels’sche Fassung gewählt und sich damit ausdrücklich für den Schnitt zwischen (bürgerlich-individualistischer) „Interpretation“ und (proletarisch-parteilicher) „Veränderung“ entschieden. Die monumentale Installation des Spruchs war ein erklärter Akt parteistaatlicher Reglementierung. Die noch an eine Vereinbarkeit von Humanismus und Sozialismus glaubende Intelligenz in der damaligen DDR hat die Entscheidung denn auch als einen Affront begriffen; ein nach der Wende gefasster Konzilsbeschluss der Humboldt-Universität spricht zutreffend von einem „Herrschaftssymbol“.7 Der 1953 immer noch weitgehend von der verbliebenen bürgerlichen Gelehrsamkeit geprägten Universität, die sich vier Jahre zuvor – freilich mit dem Segen von Partei und Besatzungsmacht – den Namen der Gebrüder Humboldt zugesprochen hatte, sollte tagtäglich vor Augen stehen, wer die Ziele wissenschaftlicher Arbeit bestimmt. Man wird die Tragik nicht übersehen, die darin liegt, dass es ausgerechnet die Humboldt-Universität ist, die sich ein solches Motto gefallen lassen musste. Denn von ihrer Gründung im Jahre 1810 ist die moderne Idee einer freien und individuell verantworteten Wissenschaft ausgegangen. „Einsamkeit und Freiheit“ war das ganz auf die individuelle Produktivität vertrauende Ideal Wilhelm von Humboldts. Es lässt sich ohne Widerspruch mit der Maxime „Mitteilung und 4 Liessmann macht mit Recht auf das prometheische Selbstverständnis im Frühwerk von Karl Marx aufmerksam und verweist auf Parallelen zum jungen Goethe (vgl. Liessmann, Der „tote Hund“ und sein Stammbaum, S. 18 ff.). 5 Gegenüber der Universität, vertreten durch das Staatssekretariat für Hochschulwesen. Der den Thesenanschlag vorbereitende Brief der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 10. Januar 1953 ist von Staatssekretär Prof. Dr. K. Harig unterzeichnet. 6 In meinem Beitrag habe ich zu zeigen versucht, dass Engels’ Redaktion der Feuerbach-Thesen sich zumindest in Übereinstimmung mit der Stoßrichtung der Deutschen Ideologie befindet. Vgl. dazu v. Verf., Eine politische These, kein philosophischer Satz, in diesem Band, S. 273–290. 7 Beschluss des Konzils der Humboldt-Universität vom 8. und 14. April 1992.

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Tätigsein“ verbinden, die wir dem wichtigsten Inspirator und Organisator der Neugründung, nämlich Friedrich Schleiermacher verdanken.8 Doch wie dem auch sei: Ziele, Bedingungen und Verfahren der Wissenschaften mögen noch so kontrovers sein – niemand wird bestreiten wollen, dass Wissenschaft, in welcher Disziplin auch immer, niemals ohne Denken auskommen kann. Denken aber ist kaum etwas anderes als ein freies, vom unmittelbaren Handlungsdruck entlastetes Interpretieren. In der Interpretation aber ist Verschiedenheit implizit vorausgesetzt, und zwar sowohl zwischen den Ausgangspunkten wie auch zwischen den Verfahren – erst recht aber in den Ergebnissen. Wissenschaftler – und nicht erst die Philosophen – müssen also ihre Welt „verschieden interpretieren“, wenn sie überhaupt Wissenschaftler sein wollen. Sie müssen vorbehaltlos Positionen prüfen, Perspektiven wechseln, Alternativen entwerfen und stets die Chance haben, auf kritische Distanz zu gehen, wenn sie auch nur den historischen und sozialen Ansprüchen an die Wissenschaft genügen wollen – von dem Verlangen nach Wahrheit ganz zu schweigen. Eine Universität stellt daher ihre vornehmste Existenzbedingung in Frage, wenn sie die „Interpretation“ als müßig verdächtigt und – stattdessen! – eine verändernde gesellschaftliche Praxis propagiert. Gerade wer die Wissenschaft in den Dienst des Menschen stellen will, muss auf nichts so sehr bedacht sein wie auf ihre intellektuelle Unabhängigkeit, auf ihre personale und institutionelle Autonomie. Und die zeigt sich in nichts so sehr wie in der sich fortwährend differenzierenden Interpretation der sich ständig verändernden Welt, in der die Menschen nach eigenen Vorstellungen leben müssen und leben wollen. Deshalb ist ein Spruch an der Wand, der das Gegenteil verlangt, kein Motto, sondern ein Menetekel für eine Universität. Folglich kann es auch nicht verwundern, dass die Parteileitung der „Betriebseinheit Humboldt-Universität“ so empfindlich reagierte, als Gerd Irrlitz ausgerechnet das eigenständige Denken empfahl. Gleichwohl haben wir die Ringvorlesung nicht als eine Aktion zur Beseitigung der These aus dem Foyer der Universität angelegt. Als Philosophen wollten wir interpretieren und nicht gleich verändern. Zwei Jahre zuvor hatte es bereits eine heftige, auch in der Öffentlichkeit beachtete Debatte in den Universitätsgremien gegeben. Sie war durch einen Konzilsbeschluss beendet worden, der den Spruch unangetastet ließ.9 Verständlich ist diese Entscheidung nur, wenn 8

Siehe dazu v. Verf., Zur philosophischen Tradition der Humboldt-Universität. Das Konzil lehnte am 14. April 1992 den Antrag auf sofortige Entfernung der 11. Feuerbach-These mit 24 gegen 19 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) ab. Eine spätere Entfernung wird durch den Wortlaut des Beschlusses allerdings nicht ausgeschlossen. Das geht allein schon aus dem in der gleichen Sitzung mit 27 Ja- und 5 Neinstimmen (bei 13 Enthaltungen) gefassten Beschluss mit dem folgenden Wortlaut hervor: „Die 11. Feuerbach-These soll sofort in dem Sinne bearbeitet (verfremdet) werden, dass sie ihre Bedeutung als Herrschaftssymbol verliert. Sie wird bis zur Umgestaltung des Hauptfoyers durch Initiierung eines Ideenwettbewerbs durch das Rektorat verfremdet. Es 9

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man sie als Trotzreaktion auf den aus dem Westen kommenden Erneuerungsdruck begreift. Inzwischen hatte aber auch der Denkmalschutz sein Wort gesprochen und die revolutionäre These zu einem bewahrenswürdigen Kulturgut erklärt.10 Dem scheint das öffentliche Interesse Recht zu geben: Der Spruch an der Wand zieht die postkommunistische Schaulust unwiderstehlich an und verleiht der Humboldt-Universität sogar einen Hauch von Popularität. Allein seinetwegen scheint Berlin für viele, die einst an die Gültigkeit des Spruches glaubten (oder es vielleicht immer noch tun) die notorische Reise wert zu sein. Wenn der Berliner Senat erfahren würde, dass täglich Dutzende von Touristen von den Linden her ins Hauptgebäude strömen, nur um sich vor diesem halbstarken Spruch photo-

erfolgt eine umgehende Ausschreibung eines Wettbewerbs zur Umgestaltung des Foyers.“ (Protokoll der Sitzung vom 8./14. April 1992) – Das Rektorat hat jedoch (wie auch das wenig später nachfolgende Präsidialamt) nichts getan, um der Aufforderung zur „Verfremdung“ nachzukommen. Die Präsidentin hat im Gegenteil eine bloße Restaurierung zugelassen, die aus Anlass des Besuchs des Japanischen Kaisers im Spätsommer 1993 zur Ausbesserung der fehlenden Buchstaben und zu einer frischen Vergoldung führte. Schon vorher war ein dem Konzil am 10. Februar 1993 ergänzend gemachter Vorschlag, die angeschlagene These „um das Datum ihrer Enthüllung“ (also: 5. Mai 1953) zu ergänzen, mehrheitlich abgelehnt worden. 10 Zu diesem Vorgang genügt die wörtliche Wiedergabe der entsprechenden Passage aus dem Beschlussprotokoll zum ersten gemeinsamen Gespräch zwischen dem Leiter der Fachabteilung für Baudenkmalpflege des Landes Berlin, Dr. Haspel, und dem Präsidium der Humboldt-Universität am 28. Oktober 1993. Ich lasse die darin vorkommenden Unrichtigkeiten, die auch auf Mängeln in der Protokollführung beruhen können, unkommentiert; der Text spricht ohnehin für sich: „Die Präsidentin weist darauf hin, dass die Universitätsleitung gehalten ist, die Beschlüsse des Konzils umzusetzen, das mehrheitlich die Abnahme des Marx-Zitats aus dem Foyer des Hauptgebäudes und die der Gedenktafeln für Marx/Engels, Lenin und Liebknecht beschlossen hatte. Entsprechend des Denkmalschutzgesetzes erbat die Universitätsleitung in mehreren Briefen die Zustimmung der Denkmalpflege, erhielt jedoch keine Antwort und begrüßt daher sehr das Zustandekommen des gemeinsamen Gesprächs mit der Denkmalpflege. Dr. Haspel erläutert die Haltung der Denkmalpflege zur Marx-These, die unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten zum Ensemble der Innenausstattung des Foyers gehört und wie das gesamte Foyer unter Denkmalschutz steht. Aus seiner Sicht scheint die Humboldt-Universität Schwierigkeiten mit der Nachkriegsgeschichte zu haben. Für ihn sei gerade die Spannung zwischen der barocken Gestalt des Gebäudes (wie auch anderer Gebäude Unter den Linden) und dem Inneren, das dem Zeitgeschmack der 50er Jahre entspricht, von großem Interesse und damit denkmalswürdig. Er könne sich daher gut vorstellen, dass sich Historiker und Kunstwissenschaftler in einer Konferenz mit diesem Verhältnis, insbesondere mit den 50er Jahren, auseinandersetzen. Prof. Bank weist darauf hin, daß die These selbst schon essentiell verfälscht sei, da sie von Marx so nicht niedergeschrieben worden sei. Das Konzil habe daher auch vorgeschlagen, die These durch die Wegnahme von Buchstaben weiter zu verfremden. Dr. Haspel kann sich vorstellen, dass man einige Zeit eine spanische Wand vor die These stellt. Zu dem Komplex Marx-These/Gedenktafeln wird die Denkmalpflege einen Brief, also eine schriftliche Fixierung der Problematik, der Universitätsleitung zukommen lassen. Die Präsidentin sieht in der spanischen Wand keine Lösung, begrüßt jedoch den Vorschlag von Herrn Haspel zur Bildung einer Kommission [. . .].“

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graphieren zu lassen, könnten wir es eines Tages noch Karl Marx verdanken, dass die finanzielle und politische Benachteiligung der Humboldt-Universität ein Ende hat. Wer in dieser Lage nicht zum Aktionisten werden will, muss sich mit Ironie behelfen. Schließlich hat es auch in einer Universität seinen Reiz, nach besten Kräften das Gegenteil von dem zu tun, was einem der offizielle Leitspruch empfiehlt. Auf einen autoritativ verordneten Unsinn kann man nur mit dem vollen Ernst des eigenen Sinns reagieren: Im Semester gehe ich fast täglich an der 11. Feuerbach-These vorbei, und jedes Mal verstärkt sie meinen Vorsatz, es mit dem eigenen Denken besonders ernst zu nehmen . . . Es war also im Wintersemester 1994/95 nicht an der Zeit, die Innenarchitektur des Foyers zu verhandeln. Gleichwohl ist in den Vorträgen nicht nur ironisch mit den zwischenzeitlich sogar frisch vergoldeten Lettern umgegangen worden. Es wurden sogar Vorschläge zur Neugestaltung oder zur nachdrücklichen Musealisierung gemacht. Und so sind wir denn in fast jeder Diskussion, oft gegen den Willen der Referenten, auf die Forderung nach einer Beseitigung des öffentlich ausgehängten Selbstwiderspruchs gekommen. Dabei hat sich von Woche zu Woche der Eindruck verstärkt, dass nur, wer nicht über diese These nachdenkt, davon überzeugt sein kann, dass sie hängen bleiben soll. Dieser Eindruck bestätigt im Nachhinein, dass es richtig war, sich in der Ringvorlesung auf die Interpretation der 11. Feuerbach-These zu beschränken und die Debatte über die fällige Neugestaltung des Foyers den Gremien der Universität zu überlassen. Damit ist, wie die Vorträge hinlänglich zeigen, keine Gleichgültigkeit gegenüber den praktischen Fragen demonstriert. Im Gegenteil: Man kann bei nahezu allen Referenten die Anteilnahme an der Diskussion über das Für und Wider der von der damaligen Herrschaft angeschlagenen These erkennen, auch wenn sie sich vornehmlich auf die flüchtig hingeworfene Notiz des jungen Dr. Karl Marx beziehen. Also wird man es auch als den einheitlichen Wunsch der in diesem Band versammelten Autoren ansehen dürfen, dass bei der so oder so bevorstehenden Veränderung des Foyers die Interpretation der 11. Feuerbach-These nicht vergessen wird. Wenn aber die Interpretation der These zur Debatte steht, so sollte man einen unscheinbaren, gleichwohl wesentlichen Bestandteil nicht vergessen, von dem erst in der Schlussdiskussion der Ringvorlesung die Rede war: Karl Marx geht von einer Voraussetzung aus, die der Gegenwartsphilosophie längst nicht selbstverständlich zu sein scheint, ja, die in der selbstvergessenen Dekade der sogenannten Postmoderne zeitweilig sogar ausdrücklich annulliert werden sollte, nämlich dass es auf etwas ankommt. „(. . .) es kömmt drauf an (. . .)“ ist die viel zu wenig beachtete Prämisse der Thesen gegen Feuerbach. Diese Prämisse ist es, die Marx überhaupt erst auf den Primat der Praxis bringt. Sie führt in der Tat auf eine elementare Bedin-

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gung der humanen Existenz und besagt: Das menschliche Leben ist nicht einfach durch Reiz und Reaktion bestimmt; es ist auch nicht zureichend durch internen Bedürfnisdruck und die korrespondierenden externen Probleme definiert. Es lässt sich vielmehr nur durch selbsterkannte Probleme sowie durch die zugehörigen selbstgestellten Aufgaben beschreiben. So sehr das menschliche Dasein auch den Zufälligkeiten von Natur und Geschichte ausgeliefert sein mag, so ist es doch nicht ohne den Anspruch zu verstehen, über Aufgaben und Ziele des eigenen Lebens selbst zu bestimmen. Der Mensch will Herr seiner selbst sein und somit auch selbst darüber befinden, worauf es ihm ankommt. Auch wenn wir heute mit guten Gründen um einiges bescheidener geworden sind als Marx, der noch davon träumte, der Mensch könne endlich „Subjekt seiner Geschichte“ werden: Auf den Anspruch, mindestens Herr unseres eigenen Wollens zu sein und nach eigenen Vorstellungen zu leben, können wir schlechterdings nicht verzichten. Damit schließen wir aber auch den Anspruch ein, selbst über die Rangfolge unserer Probleme und die Dringlichkeit unserer Aufgaben zu befinden. Wir bestehen somit auf dem, was seit Kant den stolzen, vielleicht auch nur würdevollen Titel der „Selbstbestimmung“ trägt. Zur Selbstbestimmung aber kommen wir nur in dem Bewusstsein, dass es auf etwas ankommt, genauer: dass es uns auf etwas ankommen muss, wenn wir uns selbst nicht preisgeben wollen. Immanuel Kant hat auf einem in seinem Nachlass gefundenen Zettel notiert, worauf es ihm beim Philosophieren angekommen ist: „1. Zu wissen, was man will. 2. Worauf es ankommt. 3. Worauf alles dieses hinaus läuft. Nämlich den Werth der Dinge zu beurtheilen.“ 11 Das hat natürlich nicht nur für das Philosophieren und Interpretieren seine Gültigkeit. Sondern nur, weil es für das Leben (und damit für die Praxis) gilt, gilt es auch für die Philosophie. Zumindest in diesem Punkt ist der Marx der 11. These über Feuerbach ein Kantianer: Wer sich selbst als handlungsfähiges Wesen ernst nimmt, der weiß auch, dass ihm etwas wichtig ist, dass es ihm – und seinesgleichen – um etwas geht. Es ist dies eine Einsicht, die natürlich alle Menschen betrifft. Nach der Vereinigung der beiden in vierzig Jahren so ungleich gewordenen deutschen Staaten wünscht man jedoch, dass die Einsicht in die unaufgebbare Selbständigkeit insbesondere von jenen ernst genommen wird, die von den marxistischen Machthabern jahrelang um den Ertrag ihrer Arbeit und nicht selten um ihre besten Lebenschancen geprellt worden sind. Für die Ironie, dass man hier vom jungen Marx etwas über die verheerenden Folgen seiner zum Dogma erhobenen Lehre lernen kann, sollten freilich wir alle empfänglich bleiben. Unter der von Marx nur beiläufig erwähnten und von ihm leider nie systematisch beachteten Prämisse der Eigenständigkeit und Ernsthaftigkeit des mensch11

Kant, Reflexion 456, AA, Bd. 15, S. 188.

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lichen Lebens12 rücken Interpretation und Veränderung, ernsthaft betriebene Theorie und verantwortlich betriebene Praxis so nahe zusammen, wie man unter Beachtung ihrer prinzipiellen Distinktion nur immer wünschen kann. Literatur Demps, Laurenz: Berlin – Wilhelmstraße. Eine Topographie preußisch-deutscher Macht, Berlin 1994. Gerhardt, Volker: Zur philosophischen Tradition der Humboldt-Universität, Akademische Vorträge der Humboldt-Universität, Heft 1, Berlin 1993. Liessmann, Konrad Paul: Der „tote Hund“ und sein Stammbaum, in: ders., Karl Marx *1818 y1989. Man stirbt nur zweimal, Wien 1992, S. 12–22. – Feuerbach oder: Die These als Kunstform, in: ders., Karl Marx *1818 y1989. Man stirbt nur zweimal, Wien 1992, S. 34–49. Löhr, Hanns C.: Mythos und Wirklichkeit. Zur Baugeschichte der Bunker auf dem Gelände der ehemaligen Reichskanzlei, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, hg. v. S. Einholz u. J. Wenzel, Berlin/Bonn 1993, S. 139–151.

12 Ich übergehe hier die implizite Voraussetzung, dass Eigenständigkeit und Ernsthaftigkeit letztlich individuell verantwortet sein müssen, wenn sie überhaupt wirksam sein wollen.

Die politische Wirklichkeit einer Idee Eine Verteidigung Europas gegen die intellektuelle Skepsis I. Die angeblich fehlenden Ideen Für viele scheint es eine enttäuschende Erfahrung zu sein, dass endlich einmal etwas Langersehntes Realität zu werden beginnt. Wovon, so fragen sie sich offenbar, soll man noch träumen, wenn der Traum zum Alltag wird? Und es ist nicht ohne tiefere Ironie, dass es die Intellektuellen sind, die beharrlich wünschen festzuhalten, ihre Vorstellung solle weiterhin bloße Vorstellung sein. Solange etwas bloß im Kopf existiert, haben sie jedenfalls die volle Verfügung darüber. Die Realität ist augenscheinlich ihre Domäne nicht. Zu diesem Eindruck muss man kommen, wenn man das gegenwärtige Verhältnis der Literaten und Philosophen zu Europa betrachtet. Je näher die für die politische Verwirklichung der Einheit entscheidende Währungsunion kommt, umso lauter warnen sie vor voreiligen Schritten. Nun ist es ihnen nicht geheuer, dass der Prozess der europäischen Einigung längst die Form einer administrativen Automatik angenommen hat und die Ideen und Visionen derzeit keine Rolle mehr spielen. Die Prinzipien des Rechts, der Stabilität und des wechselseitigen Respekts sind zu Kriterien geworden, deren Erfüllung sich in Prozentpunkten ausdrückt. Und nun, wo es nur noch um die Kriterien der wirtschaftlichen Leistungsbilanz geht, treten plötzlich die Mahner und Warner auf, und beklagen – die angeblich fehlenden Ideen! Statt erleichtert zu sein, dass in Europa endlich einmal eine Idee so wirksam geworden ist, dass es jetzt nur noch um ihre institutionelle Umsetzung und Absicherung geht, wird mit sonorer Verantwortlichkeit zur Verschiebung der Einigung geraten. Europa, so hat sich im Sommer der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde vernehmen lassen,1 müsse erst „Klarheit über sich selbst“ gewinnen; es müsse sein „Raumbild“ (!) und seine „Integrationsziele“ klären; die Ökonomie dürfte nicht zum „Motor der Integration“ werden; aus der „ökonomischen Falle“ könne nur die „Kultur“ einen Ausweg weisen; sie habe die Führung zu übernehmen. Ergo: Solange keine neuen Ideen ausgegeben sind, darf auch der Euro nicht kommen.

1

Vgl. Böckenförde, Wenn der europäische Stier vom goldenen Kalb überholt wird.

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II. Eine große Tradition Es fällt wahrhaftig nicht leicht, den sachlichen Kern solcher Warnungen auszumachen. Europa besteht seit über 2000 Jahren aus nichts anderem als aus Ideen! Seit die schöne Jungfrau Europa von dem zum Stier verwandelten Zeus von der phönizischen Küste weit über das Meer an die Gestade der griechischen Inselwelt entführt wurde (ein unwahrscheinlicher Vorgang, der in der Deutlichkeit, zu der nur die Mythologie fähig ist, die Gegensätze symbolisiert, aus deren Verbindung hier das Neue entspringen soll), seit also der zum Landtier verwandelte Gott die junge menschliche Schönheit auf den Nacken genommen hat, um sie durchs Wasser der ungestörten Paarung zuzuführen, ist Europa nur ein geographischer Begriff. Und wenn er mehr bedeutete, dann war er auf keinen Fall mehr als eine Idee. So war es in Herodots Abgrenzung gegenüber Afrika und so war es im ersten Widerstand der Griechen gegen die Perser; so verstanden es Isokrates und später auch die Geschichtsschreiber der Römischen Republik; so wurde es aber in der weit über die geographischen und kulturellen Grenzen Europas hinausgreifenden Politik Alexanders und des ersten römischen Kaisers Augustus auch schnell wieder vergessen. Vielleicht hat es unter Claudius und zwei Generationen später unter Trajan kurze Perioden gegeben, in denen Europa ein wenig mehr bedeutet hat. Durch eine großzügige Bürgerrechts- und Urbanisierungspolitik in Britannien (43 n. Chr.) und Dakien (das heutige Rumänien, 106 n. Chr.) gab es bereits ein Stück europäischer Realpolitik. Aber dann war auch die Idee wieder vergessen, und sie wurde selbst durch den Reichsgedanken Karls des Großen nicht wiederbelebt. Das Reich und der Kaiser – alsbald in produktiver Opposition zu den Herrschaftsansprüchen des Papstes – haben dann zwar wesentlich dazu beigetragen, dass die Inhalte entstanden, die noch heute für den europäischen Gedanken wesentlich sind; aber Europa als Idee hat in der langen Epoche des Mittelalters keine Rolle gespielt. Das änderte sich erst mit den religiösen und nationalen Gegensätzen, die seit dem 15. Jahrhundert die kulturell zusammengewachsene geographische Einheit politisch zu zersprengen drohten. Man muss sich vorstellen, was da innerhalb weniger Jahrzehnte geschehen ist: Die Einheit des Christentums beginnt sich zu zersetzen, mit Mühe und Not wird auf dem Konzil zu Basel, wo erstmals nach Nationen abgestimmt wird, ein letzter Kompromiss gefunden; aber das Johannes Hus gegebene Wort ist gebrochen und sein Scheiterhaufen ist das Fanal für die Glaubensspaltung, die mit Luther nur endgültig wird. 1453 wird Konstantinopel von den Türken erobert, die rasch auf den Balkan vordringen und eine religiöse und politische Gefährdung just in dem Augenblick bringen, in dem die europäischen Kulturen mit dem mechanischen Buchdruck ein sie im großen Stil vereinigendes Medium erfinden. Ab 1450 erobern die Druckschriften den deutschen Raum; 1468 sind die ersten deutschen Drucker (als Gastarbeiter) bereits in Spanien tätig. Der durch

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die Hanse erschlossene Wirtschaftsraum weitet sich schlagartig durch die gesicherten See- und Landwege in den asiatischen und afrikanischen Raum; zunächst profitieren vornehmlich Venedig, Florenz, Genua und Rom; dann aber folgt die Entdeckung Amerikas und das auf den Weltkarten immer mehr zusammenschrumpfende Europa wird zum Zentrum eines den Globus umspannenden Handels. Macht und Reichtum aber sind durch die Uneinigkeit im Inneren gefährdet. Und so entsteht aus der den Überfluss bedrohenden inneren Zerrissenheit der Gedanke einer politischen Einheit, die dem gemeinsamen kulturellen Bestand Verlässlichkeit und Sicherheit geben kann. Es ist die große Leistung der Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, dafür mit einer Idee geworben zu haben, die nicht nur auf das in Uneinigkeit zerfallende Christentum, sondern wesentlich auch auf die antike Erbschaft gegründet war. Sie basierte keineswegs auf der Phantasmagorie einer begnadeten Überlegenheit, hatte keinen Heros eines europäischen Übermenschen zum Wappentier. Ihr lag ganz einfach die Vorstellung von dem tätigen, sich selbst bildenden Menschen zugrunde, der die europäische Kultur als Erbe begreifen kann, das sich im Prinzip jeder erwerben kann und das überall auf der Welt produktiv gemacht werden kann. Seit dieser Zeit ist Europa eine Idee, ja, eine große Idee, und es ist ein Wunder, dass sie in den fortgesetzten Katastrophen der religiösen und nationalen Kriege und eines vom Wahn der Ideologien stimulierten Weltkrieges trotzdem noch nicht zuschanden geworden ist. Und diese nach der Erschütterung des 2. Weltkrieges endlich auch von den Politikern immer wieder beschworene Idee einer europäischen Einheit soll nun endlich ein Stück politischer Realität – und das heißt in diesem Fall staatsförmiger Realität – werden. Jedem ist trotz der auf der Konferenz von Amsterdam aufgetretenen Differenzen klar, dass die Währungsunion nur das Vorspiel zur politischen Union sein kann. Kaum aber liegt das in greifbarer Nähe, da lassen die in anderen politischen Fragen so schweigsamen Sachwalter der Ideen plötzlich wieder von sich hören und treten als Warner, als Auguren des Untergangs (wenn nicht der Menschheit, so wenigstens der D-Mark) auf. Das ist eine durch und durch kuriose Situation, weil hier nicht nur ein Widerspruch in der Sache erkennbar ist, sondern ein tiefer Selbstwiderspruch der bloß auf den Geist gegründeten Eliten offenkundig wird.

III. Verständnis für die Sorgen Natürlich versteht man die Sorge angesichts des Neuen, das mit dem nächsten Schritt der europäischen Einigung auf uns zukommt: Ein weiterer Verzicht auf einzelstaatliche Souveränität, der damit verbundene Bedeutungsverlust nationaler Institutionen, die Freizügigkeit mit den schwer vorher berechenbaren Folgen für den Bildungssektor und den Arbeitsmarkt sowie die unbestreitbaren wirtschaftlichen Risiken müssen natürlich Befürchtungen auslösen. Und dass

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die immer noch so stark in ihre nationale Identität verliebten Franzosen und Engländer hier besonders anfällig sind, verstehen wir auch. Aber hätten sie – hätten wir – eine fraglos sichere Zukunft, wenn alles so bliebe, wie es ist? Man versteht natürlich auch, dass die Politiker für die in Umlauf gebrachten Zweifel an Europa besonders empfänglich sind. Sie beziehen ihre Macht und ihr Ansehen aus der alten Ordnung und können nicht wissen, ob sie auch unter den neuen Bedingungen Mehrheiten finden. Überdies würden sie als erste für Pannen und Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht. Also tragen sie lieber Skepsis zur Schau, insbesondere dann, wenn sie in Maastricht und Amsterdam noch nicht selbst am Verhandlungstisch gesessen haben. Schließlich darf man nicht vergessen, dass offene Zukunftsfragen der wichtigste, aber auch der leichteste Stoff für Wahlkampfthemen sind. Aber dass sich nun auch in Deutschland die Intellektuellen als Euroskeptiker profilieren, ist schon weniger verständlich. Erst recht, wenn sie die angeblich fehlenden Ideen einklagen. Denn was muss man nicht alles vergessen haben, um so auftreten zu können! Ist es so schwer, sich an die Ideen zu erinnern, die das europäische Einigungswerk von Anfang an geleitet haben? Sind der Frieden, die Verständigung der Völker, der Schutz ihrer Kultur so trivial geworden, dass sie heute nicht mehr zählen? Sind die Vorteile einer einheitlichen politischen Vertretung europäischer Interessen in der Welt nicht offenkundig? Haben wir nicht eine gelegentlich schon strikt angewandte europäische Charta der Menschenrechte? Eine europäische Kulturförderung und eine bereits zum Wasserkopf angeschwollene europäische Wissenschaftsbürokratie? Kann man ernsthaft Ökonomie und Kultur so gegeneinander stellen, dass auf der einen Seite der europäische Markt als „goldenes Kalb“ und auf der anderen Seite die reinen Ideen wie die unberührte mythische „Jungfrau auf dem Stier“ figurieren? Ich erinnere nur an die Verschränkung von Ökonomie und Kultur bei der Entstehung der humanistischen Idee von Europa. Der ganze, uns heute so selbstverständlich gewordene Prozess der Autonomisierung der Künste vollzieht sich vom 16. Jahrhundert an auf der Grundlage eines abnormen Reichtums, den Wissenschaft, Technik und die von hier aus betriebene Kolonisierung nach Europa bringen. Doch man braucht nicht in die Geschichte auszuweichen: Allein am Vertragswerk von Maastricht ließe sich demonstrieren, wie viel politische Kultur nötig war, um so viel Abstimmung und Absprache zwischen so vielen Partnern möglich zu machen. Die Ideen sind zu Elementen eines Verfahrens geworden. Die europäischen Institutionen sind realisierte politische Konzeptionen, auf die sich inzwischen schon Generationen von Politikern und Verwaltungsbeamten in mühseliger Kleinarbeit verständigt haben. Wer das leugnet, will offenbar immer nur bei seinen Ideen bleiben, um nicht zuzulassen, dass sie die graue Farbe der Realität annehmen. Wer aber das Grau des politischen Alltags nicht fürchtet,

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sondern unter dem Anspruch der Ideen auch im alltäglichen Dasein weiterkommen will, der muss sie in dem Prozess, in dem sie bereits wirksam sind, fortentwickeln. Wer aber jetzt noch einmal den Einsatz erhöht und ungerührt neue Ideen fordert, verlangt vermutlich auch ein anderes Verfahren. Da dies erst noch erfunden werden müsste, würde aus dem ökonomisch und politisch vereinten Europa die pure Utopie.2 – Doch lassen wir die mit defekten Begriffen perfektionierte Vergesslichkeit der Euroskeptiker auf sich beruhen. Sie haben offenbar andere Ideen von Europa und sprechen daher dem Europa, das sie nicht wollen, die Ideen ab. Das aber ist eine kuriose Verkehrung der Realität. IV. Die Realität der Integration Wer über die gegenwärtige Verfassung Europas nachdenkt, kann nur über die Tatsache staunen, dass hier – gegen alle offenkundige Realität – Ideen wirksam geworden sind. Vor dem geschichtlichen Hintergrund der europäischen Staatenwelt, die jahrhundertelang nur aus ihren Gegensätzen gelebt und sich in zwei noch nicht sehr lange zurückliegenden Kriegen bis an den Rand der Selbstvernichtung gebracht hat, ist die europäische Integration ein Fall von unerhörter Unwahrscheinlichkeit. Nach wie vor kann man sich nur wundern, dass sie überhaupt so weit fortgeschritten ist. Aber nun es ist tatsächlich so weit: Jetzt kann sie nur noch durch ein Unglück aufgehalten werden – oder durch eine kalkulierte Dummheit der Politik. Man müsste schon sehenden Auges einen irreparablen Schaden wollen, würde man jetzt noch ernsthaft gegen Maastricht opponieren. Das wissen auch die Biedenkopf und Stoiber, die Schröder und Lafontaine, wenn sie ihre verklausulierten Zweifel zum Besten geben; sie wollen Kohl persönlich oder als Kanzler schwächen und beschränken daher ihren Widerstand auf Interviews. Also können wir nur hoffen, dass die Währungsunion kommt – und zwar termingerecht, um auch den letzten ökonomisch und politisch notwendigen Schritt zu vollziehen, der die politische Union mit einer wirksamen Gesamtvertretung aller europäischen Staaten zu einem bloßen Terminproblem macht. Denn wenn es die selbsterzeugten Sachzwänge nicht gibt, wird es angesichts der ökonomischen Probleme, die derzeit alle Staaten haben, dem Egoismus der Parteien und dem Ehrgeiz einzelner Politiker ein Leichtes sein, immer neue Einwände gegen die Integration zu erfinden. Zwar kann sich niemand erlauben, grundsätzlich gegen die Europäische Union zu sein; hier beweist die Idee ihre prägende Kraft. Aber die definitive Entscheidung kommt aktuell für die Politiker immer zu früh. Also müssen sie 2 Den Vorwurf kann man auch Jacques Lang nicht ersparen, dessen „Nein zum Vertrag von Amsterdam“ (Le Monde v. 19.8.1997) in Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10, 1997 auf Deutsch erschien.

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sich im Voraus auf ein Datum verpflichten, das sie unter Zugzwang setzt. Das ist in Maastricht für den 1. Januar 1999 geschehen. Wenn wir diesen Termin verstreichen lassen, mag es für vier oder fünf Jahre später ein neues Zieldatum geben. Aber glaube niemand, dass dann die weniger strengen Kriterien leichter zu erfüllen sind! Auch die von Wilhelm Hennis heraufbeschworene Gefahr eines voreilig gezimmerten Dachs über unsicherem Fundament3 verkennt die konsolidierte politische Realität in Mitteleuropa. Natürlich schließt jede Politik Risiken ein. Und dass die Selbsthypnotisierung der deutschen Parteien ein solches Risiko darstellt, wird niemand leugnen. Doch die im europäischen Einigungsprozess gegenwärtig tatsächlich drohende Gefahr liegt ganz woanders: nämlich in der Ausweitung der Grenzen ohne stabilisierten Kern. Natürlich ist die Integration der Staaten im Osten und Südosten Europas politisch geboten; sie darf aber die Lernprozesse, die wir in Westeuropa hinter uns haben, nicht einfach überspringen. Und sie kann nur gelingen, wenn sich die gute alte EU enger zusammenschließt und dadurch nicht nur hohe ökonomische Kriterien, sondern auch bedeutende institutionelle Ziele setzt. V. Unverändert unverzichtbar Was das Faktum der Vereinigung betrifft, so haben die Intellektuellen eigentlich nichts mehr zu sagen. Sie können, sofern sie überhaupt für Europa sind, nur noch zustimmen. Auch wenn ihnen das Zustimmen, das Ja-Sagen bekanntlich schwerer fällt als alles andere, müssen sie einsehen, dass auch Kritik zu spät kommen kann. Angesichts der verschwiemelten Einwände, die nun nachgetragen werden, ist das nur zu begrüßen. Tatsächlich kann nicht in Frage stehen, dass wir, bei allem Respekt vor den nationalen und regionalen Traditionen, größere politische Handlungsräume brauchen. Wie wollen wir die über alle Ländergrenzen hinweg agierenden Wirtschaftsmächte einer politischen Kontrolle unterwerfen, wenn wir die Wirksamkeit des Rechts (und damit die der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit) auf kleine Territorien beschränken? Zwar wird niemand ernsthaft annehmen, die Globalisierung der Finanz- und Flüchtlingsströme sei durch einen Weltstaat zu regulieren; der dürfte nämlich selbst viel größere Risiken mit sich bringen, als die es sind, zu deren Begrenzung er gefordert wird. Doch die weltweite Föderation der Staaten, die wir zum Umgang mit den globalen Problemen brauchen, kann nicht über dem Flickenteppich von 186 Einzelstaaten errichtet werden. Deshalb ist die politische, in sich selbst wieder föderativ verfasste Organisation kontinentaler Einheiten unumgänglich. Wie diese 3

Vgl. Hennis, Totenrede auf ein blühendes Land.

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Einheiten schließlich verfasst sind, unter welchem „Dach“ sie zusammenfinden, ist selbst eine Frage der politischen Innovation. Es mag sein, dass wir in Europa, wo es über Jahrhunderte gewachsene, durchaus bewährte politische Strukturen gibt, völlig neue Modelle übernationaler Kooperation entwickeln müssen. Die Vereinigten Staaten von Europa, in die unsere Europäische Union eines Tages – trotz der Bedenken, die seit der Konferenz von Amsterdam zu hören sind – so oder so münden muss,4 brauchen vermutlich einige völlig neue föderale Verfassungselemente. Denn wie will man an der Selbstständigkeit der Einzelstaaten festhalten und zugleich eine gemeinsame Außen-, Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben? Wie will man die Institutionen Europas stärken, ohne ihnen zugleich mehr politische Macht und eine höhere symbolische Präsenz zuzugestehen? Für alles das gibt es bislang noch keine Vorbilder. Aber Ideen haben wir dazu in Europa genug. Sie könnten auch die Werte mobilisieren, nach denen heute so krampfhaft gesucht wird. Denn für die Jugend ist Europa längst eine Realität, die es endlich mit mehr und lebensnäheren Institutionen – und das ist: mit Geist – zu füllen gilt. Der Geist Europas aber verlangt bessere Sprachkenntnisse, mehr Austausch und Zusammenarbeit im Bildungswesen, in der Sozial- und Steuerpolitik, mehr grenzüberschreitende wissenschaftliche Projekte und bessere Verkehrswege. Wer überdies neue Ideen hat, möge sie vorbringen! Sie sind immer willkommen, solange sie nicht mit dem Vorbehalt verbunden sind, den Gang der Dinge aufzuhalten. Ideen, so viel hat die Philosophie seit Platon gelernt, stehen nicht vor der Realität, sondern können nur in ihr zur Geltung kommen. VI. Das Beispiel Europas Nach allem, was im Europa des letzten Jahrtausends geschehen und von Europa ausgegangen ist, kann es selbst kein Vorbild für die anderen Regionen der Erde mehr sein. Die in der Alten Welt seit mehr als tausend Jahren unerbittlich durchexerzierten Gegensätze zwischen den Landes- und Stammesfürsten, zwischen Kirche und Staat, zwischen den Konfessionen, zwischen den Nationen und schließlich zwischen den hier erfundenen Ideologien machen Europa bestenfalls zu einem Golgatha der Weltgeschichte. Und wenn wir noch hinzurechnen, was dadurch an Unglück über andere gekommen ist, dass die Europäer es nicht nur verstanden haben, mit den von ihnen erfundenen Techniken alle anderen Erdteile zu kolonisieren, sondern auch noch ihre hausgemachten Konflikte zu exportieren, haben wir allen Grund, als Europäer mit leiser Stimme zu sprechen. Aber gerade diese schreckliche Tradition bringt die Verpflichtung mit sich, endlich den Frieden zu praktizieren, von dem vor, in und nach allen Kriegen 4

Vgl. Henningsen, Zögerliche Blicke über den großen Teich.

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immer auch die Rede war. Da ein weltweit befolgter friedlicher Übergang von der Koordination zur Kooperation angesichts der gegenwärtig absehbaren Probleme höchst unwahrscheinlich ist, muss er wenigstens regional in Angriff genommen und durch staatsförmige Organisation gesichert werden. Es ist zu befürchten, dass sich die schnell wachsende Weltbevölkerung alsbald nicht mehr mit der ökonomischen Konkurrenz um die knapper werdenden Ressourcen begnügt. Der steigende innere Problemdruck der Staaten, die Hochrüstung der Militärs, die längst ebenfalls globalisierte und hochgerüstete Kriminalität sowie die Kompromisslosigkeit der unter Modernisierungsdruck geratenen Religionen macht kriegerische Auseinandersetzungen auch im großen Stil zur bequemeren Option für alle, die unmittelbare Machtvorteile wollen. Dazu aber darf es, wenn Einsicht und Urteilskraft etwas gelten sollen, nicht kommen! Deshalb muss man die globale Verflechtung, in der Ökonomie, Kultur und Politik Hand in Hand zu gehen haben, durch die Gründung kontinentaler politischer Einheiten verstärken. Und da die Europäer sich nach den hinter ihnen liegenden Katastrophen heute wenigstens darin einig sind, dass Kriege nicht länger als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln angesehen werden dürfen, haben sie wenigstens an sich selbst den Übergang der Politik vom Krieg zum Frieden zu exerzieren. VII. Eine unverzichtbare Tradition Auf uns selbst bezogen, kann dann auch von jenen allmählich gewachsenen Erkenntnissen die Rede sein, die wir im Laufe einer langen Geschichte gewonnen haben. Da ist die bis in die Antike zurückreichende Kontinuität ethischer Prinzipien, ohne die wir uns eine Verständigung über die Politik nicht denken können: Schon die erste systematische Schrift über die Politik, Platons Politeia, nennt die Gerechtigkeit als das alles andere dominierende Ziel und fordert als Voraussetzung die Freiheit der Bürger, ihre Gleichheit vor dem Gesetz sowie ihre Teilhabe am öffentlichen Meinungsaustausch. Diese Basisideen der alteuropäischen Politikkonzeption haben sich bei den nachfolgenden Theoretikern, heißen sie nun Cicero, Augustinus, Marsilius oder Machiavelll, nie verloren. Aber sie haben erst in den neuzeitlichen Staatstheorien von Bodin, Hobbes, Locke, Montesquieu, Rousseau und Kant ihre auf die Individualität eines jeden einzelnen Menschen bezogene Begründung erhalten. Das geschah in historischer Parallele zum Emanzipationsprozess des europäischen Bürgertums. Die theoretisch begründeten Prinzipien waren bereits im Prozess der Ausbildung des modernen Verfassungsstaates wirksam. Und kaum wurden Parlamentarismus, Gewaltenteilung, Menschenrechte und demokratische Repräsentation in ersten Formen praktiziert, da keimte auch schon die Vermutung auf, dass die Logik der Politik sich erst in einer demokratischen Praxis erfüllt. Die prinzipielle Mitwirkung aller, auf die sich die Politik seit ihren Anfängen stützt, ist tatsächlich auf die Teilhabe aller angelegt.

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Schließlich braucht man lediglich die ökonomischen, technischen und sozialen Mittel, damit jeder Einzelne die Teilhabe auch ausüben kann, und schon ist die Forderung nach einer rechtsstaatlich abgesicherten parlamentarischen Demokratie unabweisbar. Es sind eben nicht nur die guten Argumente, sondern auch eine mehr als zweitausendjährige Tradition, die für sie spricht. Ja, mehr noch: Es ist die innere Logik des auf individuelle Freiheit, Gleichheit und Rechtlichkeit gegründeten politischen Handelns, mit der die Demokratie zum großen Vermächtnis Europas geworden ist. So weit war Europa bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Das können wir heute den Verfassungen entnehmen, die sich das selbständig gewordene Amerika und die revolutionäre Französische Republik gegeben haben. Der tragische Rückfall hinter diesen Erkenntnisstand, der mit den napoleonischen Kriegen seinen Anfang nahm, hat Europa mindestens hundertfünfzig Jahre gekostet. Erst mit der Gründung der Vereinten Nationen und einer auf die Menschenrechte gegründeten diplomatischen Aktivität wurden die politisch-ideologischen Atavismen des 19. Jahrhunderts in die Defensive gedrängt. Es liegt in der Konsequenz dieser wiedergewonnenen Einsichten, dass Europa endlich ernst mit seinen guten alten Ideen macht. Und dazu gehört, spätestens seit Kants Schrift über den Ewigen Frieden, die Idee einer auf das Menschenrecht gegründeten Föderation. VIII. Der eurozentrische Selbstverdacht Aber ist das nicht alles „eurozentristisch“ gedacht? Bekanntlich haben sich Europas Intellektuelle mehr als ein Jahrzehnt mit dem Selbstverdacht gegen ihren vermeintlichen „Eurozentrismus“ abgeplagt. Während man, nach einer wachen Beobachtung Hans-Magnus Enzensbergers, in Hongkong, Tokio und Rio unbeirrt „eurozentristisch“ dachte, haben sich die Denker in Amsterdam, Paris und Turin von ihrer eigenen Logik zu verabschieden gesucht. Das war gut gemeint, aber historisch völlig ahnungslos. Denn man hätte zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich der alteuropäische Geist von Anfang an in bewusster Beziehung zu den real gegebenen und neugierig wahrgenommenen Alternativen entfaltet hat. Was wären die Griechen ohne ihr waches Verhältnis zur ägyptischen, minoischen und persischen Kultur? Wie hätten sie sich ohne die rastlose Kolonisierung der fremden Küsten überhaupt entfalten können? Wir wissen nicht, aus welchen Quellen die Griechen ihren Mythos schöpften: Aber dass ihr Logos ein Produkt der Auseinandersetzung mit dem ist, was ihnen vorher fremd erschien, das ist so gut wie sicher. Die europäische Vernunft hat sich erst dort geregt, wo die Nötigung sich mit dem Reiz verknüpfte, das Eigene mit den Augen des Fremden zu sehen. Vielleicht ist die Vernunft gar nichts anderes als die Fähigkeit, den Wechsel zwischen dem Eigenen und dem Fremden immer wieder neu zu vollziehen.

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Doch wie dem auch sei: Die geistige Tradition Europas hat sich im aktiv betriebenen Austausch mit anderen Kulturen entfaltet. Dabei hat sie sich so viel vormals Fremdes einverleibt, dass es schwer ist, ihr überhaupt mit einem Widerspruch von außen zu begegnen – ganz unabhängig davon, dass sie für solchen Widerspruch jederzeit empfänglich ist. Ja, der Geist Europas hat durch drei Jahrtausende hindurch davon gelebt, durch anderes als er selbst herausgefordert zu sein. Das lässt sich schon an den Epen Homers belegen und gilt dann durchgehend von der Antike bis zur Renaissance. Von da an aber lebt Europa von seiner exzessiv betriebenen Extraversion, in der es sich alles Fremde einverleibt. Und es kann keine Rede davon sein, Europa habe alles so Erworbene für sich behalten. Die „Europäisierung“ der Welt spricht für das Gegenteil. Der Begriff des „Eurozentrismus“ ist also eine contradictio in se. Er hat natürlich seine moralische Berechtigung, wenn er den Kolonialismus der europäischen Nationen und den Imperialismus ihrer Ökonomie zu ächten sucht. Doch als Bezeichnung der intellektuellen Verfassung der zwar nicht bruchlos, aber dennoch konsequent von Athen bis Silicon Valley reichenden Kultur ist er völlig verfehlt. Das gilt für den Begriff des „Logozentrismus“ ganz analog. IX. Produktivität der inneren Widersprüche Die gleichermaßen antike wie moderne Vernunft hat jedoch nicht nur im äußeren Verhältnis vom Widerspruch zu anderen Kulturen gelebt; auch in ihrem Selbstverhältnis wurde sie von internen Gegensätzen angetrieben. Der europäische Geist hat sich von Anfang an in Widerspruch zu sich selbst gesetzt. Platons Dialoge vermitteln davon bereits einen komprimierten Eindruck, woraus sich schließen lässt, wie alt der innere Antagonismus des europäischen Denkens ist. Man braucht nur an die im Inneren ausgetragenen Widersprüche zwischen der römischen und der christlichen Weltanschauung, zwischen germanischer und römisch-katholischer Kultur, zwischen jüdischem, islamischem und christlich-mittelalterlichem Geist zu denken, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass es die Einheit Europas ohnehin nur in Gegensätzen gab und gibt. Von diesen Zusammenhängen wissen wir noch viel zu wenig. Sie sind hier nur angedeutet, um kenntlich zu machen, wie viel uns dieses Europa zu denken gibt. Wollten wir mit der politischen Vereinigung warten, ehe wir über diese in Oppositionen produktiv gewordene Ideengeschichte objektiv gesicherte Einsichten haben, könnten wir die Vereinigten Staaten von Europa gleich vergessen. Vielleicht ist es dies, was die Kritiker von Maastricht in Wahrheit wollen? Es fällt ja nicht schwer, sie jeweils einer nachgelassenen ideologischen, nationalen oder religiösen Leitidee zuzurechnen. Doch das politische Europa hat nur eine Chance, wenn es sich in Anerkennung seiner Vielfalt organisiert.

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X. Die eigenen Interessen Europas Trotz seiner an Gegensätzen, Verwerfungen und Belastungen so reichen Vergangenheit wird es dem politischen Europa niemand verübeln können, dass es von seinen eigenen Interessen ausgeht. Wie groß auch die hinterlassene Schuld der älteren europäischen Politik ist: Der jetzt Verantwortung tragenden Generation muss zugestanden werden, dass sie ihre Interessen wahrnimmt und das eigene Haus bestellt. Und wem der Vorwurf gemacht wird, sich unheilvoll in alles Fremde eingemischt zu haben, der tut gut daran, sich auf die eigenen Angelegenheiten zu beschränken. Wenn diese Angelegenheiten zudem mit solchen Innovationen verbunden sind, wie sie ein politisch integriertes Europa verlangt, wenn sie in Aufgaben bestehen, die in der Geschichte einzigartig sind, die der Gegenwart größte Anstrengungen abverlangen und deren Option auf eine bessere Zukunft unbestreitbar ist, dann spricht auch die Ökonomie der politischen Kräfte für eine Konzentration auf Europa. Dazu aber gehört, dass Europa in den zahl- und einflussreicher werdenden internationalen Einrichtungen endlich mit einer Stimme spricht. Schon das schändliche Versagen im jüngsten Krieg auf dem Balkan sollte allen eine Lehre sein. Aber sie wird, wie die Politik gegenüber dem Iran erkennen lässt, einfach nicht gezogen. Die mangelnde politische Geschlossenheit hat Europas Ansehen schwer beschädigt und ihm überdies massive wirtschaftliche Nachteile gebracht. Die berechenbare Mitwirkung in den internationalen Organisationen dient aber nicht nur dem eigenen Interesse. Die Staaten Asiens, Afrikas und Südamerikas müssten sich verraten fühlen, wenn Europa seine politischen Erfahrungen nicht aktiv einbringen würde. Die nach 1990 noch einmal gewachsene Übermacht der USA verlangt nach einem Gegengewicht ohne Blockbildung. Hier kann ein politisch vereintes Europa in bewährter Freundschaft vermitteln. Das gilt insbesondere für die Verbindung zu den aus der Sowjetunion befreiten Staaten des Ostens, ist aber auch für das Gleichgewicht innerhalb der NATO lebenswichtig. Denn bei der Osterweiterung der NATO wie auch bei der Modernisierung der Rüstung in den alten Ostblockstaaten zeigt sich ein für Europa bedrohliches Übergewicht der USA. Dem könnte man durch die Schaffung eines politisch vereinten Europas elegant und zwanglos begegnen. XI. Die kommenden Aufgaben Schließlich gibt es Aufgaben, die heute einfach nicht in der Isolation auf das eigene Terrain zu erfassen, geschweige denn zu regulieren sind. Sie können nur im globalen Zusammenhang angegangen werden. Das gilt für die großen politischen Herausforderungen, die sich auf jedem einzelnen Staatsgebiet auch ohne innere und äußere Feinde stellen: also für die Ressourcenknappheit, die Ver-

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schwendung natürlicher Güter, die Schadstoffbelastung von Luft, Wasser und Erde, den Seuchenschutz, die Bekämpfung der Mafia, die wirtschaftliche Stabilisierung, den Anschluss an die Kommunikations- und Verkehrswege, die lebenswichtige Förderung der Wissenschaften und der Technologien. Alles dies kann nicht in autarker Selbstbeschränkung angegangen werden. Also kann und darf sich auch Europa nicht aus der Weltgemeinschaft der Staaten und Kulturen heraushalten. Das Faktum der Weltverflechtung ist unbestreitbar. Und es liefe nicht nur auf eine Selbstverletzung der eigenen Interessen hinaus, sich mitten in den internationalen Zusammenhängen zu neutralisieren. Angesichts dieser Aufgaben verschärft sich natürlich die Frage nach den Ideen, mit denen sich Europa seine Zukunft in der Welt erschließt. Sie haben sich in einer offenen Auseinandersetzung zu klären, die der geistigen Tradition Europas würdig sind. Begriffsscharfe Dialektik und Toleranz sind hier nicht zufällig nebeneinander entstanden. Nur wer die Ideen erst vollständig klären wollte, um sie anschließend in Praxis umzusetzen, käme mit Sicherheit zu spät. Je entschiedener wir aber jetzt die politische Einigung Europas vorantreiben, umso mehr wird uns Europa zu denken geben. – Wenn es schon nichts anderes ist, dann sollte wenigstens dies die Intellektuellen reizen. Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Wenn der europäische Stier vom goldenen Kalb überholt wird, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.7.1997, S. 30. Lang, Jacques: Nein zum Vertrag von Amsterdam, in: Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 1997, Heft 10. Hennigsen, Bernd: Zögerliche Blicke über den großen Teich. Die Gründungsgeschichte der USA und EU zeigt viele Parallelen, in: Das Parlament, Nr. 30/31 v. 18./25.7.1997. Hennis, Wilhelm: Totenrede auf ein blühendes Land, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.9.1997, S. 36.

Menschenrecht und Rhetorik I. In den etwas mehr als zweihundert Jahren, in denen man von Menschenrechten spricht, hat man sich viel zu selten gewundert, warum die Menschheit erst so spät auf den Einfall gekommen ist, elementare Rechte für sich selbst einzufordern und somit: von Menschenrechten zu sprechen. Erst einmal zur Forderung erhoben, erscheint das Menschenrecht so selbstverständlich, dass man es zwar für vorenthalten und verwehrt, für eingeschränkt und bedroht, aber schlechterdings nicht für unentdeckt halten kann. Jeder Mensch hat Anspruch darauf; niemand käme auf die Idee, dass es für ihn selbst nicht gelten könnte. Wenn es überhaupt in Anspruch genommen werden kann, ist keiner davon ausgenommen. Und das aufgrund von Eigenschaften, die jeder bei sich selbst für so offenkundig als gegeben eingestehen muss, dass die Annahme absurd erscheint, die Generationen vorher hätten keinen Grund gehabt, eben das einzuklagen, was jedem allein aufgrund seines Daseins als Mensch zukommt. Und in der Tat ist es so, dass es den Anspruch, der heute unter dem Titel des „Menschenrechts“ erhoben wird, schon lange gibt: Als unmittelbaren Vorläufer kennen wir den Vorrang menschlicher Würde (dignitas), der spätestens seit Cicero zum festen Bestand der ethischen Literatur gehört1 und den die Renaissancephilosophie unter dem Einfluss älterer Denker, insbesondere Platons, so eindrucksvoll vertieft und erweitert hat. Die Würde aber schließt nicht nur die Freiheit und die prinzipielle Gleichheit der sich durch sie auszeichnenden Menschen ein, sondern sie setzt in jedem auch die individuelle Selbständigkeit voraus, die ihrerseits einschließt, dass jedem, der auf Würde Anspruch erhebt, sein eigenes Leben belassen wird. So haben schon die Tragiker des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ihre Helden leben und sterben lassen.2 Und wenn wir nur genau zusehen (ohne unseren Blick durch voreilig angebrachte Epochenschwellen ablenken zu lassen), dann erkennen wir bereits in den ersten philosophischen Konzeptionen von polis und res publica die materialen Erwartungen des Menschenrechts: Dass jeder Mensch sein Leben nach eigener Einsicht führen und dabei auf Gerechtigkeit rechnen können darf, ist schon bei Platon das dominierende Motiv; dass sich weder Gerechtigkeit noch eine

1

Vgl. Cicero, De officiis I, 106; ders., De oratore 2, 138. Vgl. dazu Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie; ders., Athen. Neubeginn der Weltgeschichte. 2

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der anderen Tugenden ohne die Unterstellung von Freiheit und Gleichheit rechtfertigen lässt, kann sogar schon für die Politeia nachgewiesen werden; im Politikos wird daraus eine anthropologische Prämisse, die durch den Mythos von der losgelassenen Spindel3 eine geschichtsphilosophische Dignität erhält; die Menschen haben nur so lange die Zuständigkeit für ihr eigenes Geschick, wie die Götter keine Lust haben, sich um die Erde zu kümmern. In den Nomoi schließlich und im 7. Brief wird dann die Gleichheit der Freien ausdrücklich mit der Forderung nach Verfasstheit der Staaten unter der Bedingung von Öffentlichkeit verknüpft.4 Das alles behält Aristoteles bei und macht es zu expliziten Bestandteilen seiner politischen Theorie.5 Dass es uns hier noch nicht als Menschenrecht auffällt, liegt erstens daran, dass der Status des Rechts nicht eigens ausgewiesen wird. Das Recht ist zwar als thesis von der physis unterschieden, aber es hat noch keine methodologische Eigenständigkeit; die gewinnt es erst in der Abgrenzung von der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Die antike Unauffälligkeit des Menschenrechts hat zweitens damit zu tun, dass die Menschheit nicht nur in Griechen und Barbaren zerfällt, sondern auch innerhalb der griechischen Population politikrelevante Unterscheidungen zwischen dem freien, gleichen und rechtsfähigen Vollbürger auf der einen und den Frauen, Handwerkern, Lohnarbeitern und Sklaven auf der anderen Seite gemacht werden. Das war Aristoteles so natürlich wie uns der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Doch schon seine in der sokratischen Tradition verbliebenen Zeitgenossen nahmen Anstoß an dieser Unterscheidung, die wenige Generationen später bei den stoischen Humanisten ganz entfiel. Es hat bekanntlich mehr als zweier Jahrtausende bedurft, um allen erwachsenen Menschen – wenigstens in Gedanken – die volle Rechts- und Politikfähigkeit zuzugestehen. Die Sache des Menschenrechts ist somit schon um einiges älter als sein Titel. Schon die Universalisierung erfolgt kurze Zeit nach der begrifflichen Aufarbeitung des materialen Bestandes. Ja, selbst die praktische Umsetzung geht der Erfindung des Titels voraus. Unter dem Begriff des Naturrechts haben Freiheit, 3

Vgl. Platon, Politikos 272 b–273 d. Siehe dazu v. Verf., Die Politik und das Leben, in diesem Band, S. 43–63. 5 Aristoteles begnügt sich keineswegs damit, die notwendigen Verfassungselemente aufzuzählen, sondern legt immer wieder Wert auf die Achtung vor der Ehre, Würde und Eigenständigkeit der Bürger. Das gilt auch für die Verfassung, die von ihrer Natur her am wenigstens auf die Achtung für die Freiheit und Gleichheit der Bürger gegründet ist: „Der Tyrann muß sich vor jeder Form von Unrecht, das zugefügt wird, um andere zu erniedrigen, hüten, vor allem aber vor zwei Arten entehrender Angriffe; solchen (Schlägen) gegen die körperliche Unversehrtheit und gegen die Jugend.“ (Aristoteles, Politik 1315 a 14–15) Und wenig später: „Und überhaupt muß er eine Behandlung, die als ehrenrührig empfunden werden könnte, durch größere Ehrenbezeigung ausgleichen.“ (1315 a 23–24). 4

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Gleichheit und Eigenständigkeit bereits eine eindeutig rechtliche Qualifikation.6 Und mit ihr vollzieht sich die Ausweitung des Rechtsanspruchs auf alle Menschen – ganz gleich, welche Herkunft, Hautfarbe, Tätigkeit oder Bildung sie haben. Sogar Besitz und Geschlecht sollten ohne Einfluss darauf sein, dass jedem das Menschenrecht auf Leib und Leben, auf Gleichheit (vor dem Gesetz) und Freiheit (vor allem in Religionsfragen) zugestanden werden muss. Wenn wir im zeitlichen Umfeld der Einbürgerung des Wortes „Menschenrecht“ nach etwas wirklich Neuem suchen, stoßen wir vermutlich nur auf eine Innovation, nämlich auf die Selbstzwecksetzung des Menschen als Selbstbestimmung durch Autonomie. Zwar hat sich auch die Selbstauszeichnung des Menschen als etwas Unbedingtes, das absolut zu wahren und zu pflegen ist, seit Längerem angebahnt. Die im christlichen Denken behauptete Exklusivität der Unmittelbarkeit zu Gott nimmt den Menschen von den umgebenden Bedingungen aus und lässt ihn wenigstens in der Hinwendung zu Gott diesem ähnlicher sein als allem anderen auf der Welt. Also muss auch der Denk-, Sprach- und Handlungsimpuls des Menschen, wie bei Gott, ganz aus ihm selber stammen. Und je mehr der Mensch seinen Gott als personales Wesen denkt, umso stärker individuiert er sich selbst. Zwar lässt sich auch hier nachweisen, dass der Gedanke der Individualität schon bei Platon wirksam ist; in der Gestalt des Sokrates hat er ihm eine exemplarische Form gegeben; im sokratischen daimonion ist die göttliche Vernunft zur inneren Stimme dieses einen Menschen geworden.7 Aber Platon war noch nicht so weit gegangen, seinem Sokrates auch einen Selbstzweck zu konzedieren.8 Vielleicht kommt eine Idee davon im Gottesbegriff des Aristoteles auf, wenn er den theos als dasjenige Wesen bezeichnet, das zu seinem Glück keiner äußeren Güter bedarf, sondern dazu allein „durch sich selbst und die Beschaffenheit seiner Natur“ gelangt?9 Vielleicht liegt das menschliche Pendant dazu bereits in der aristotelischen Theorie der Freundschaft allein um des Guten willen? Auch in der stoischen Ethik ist sie zum Greifen nahe. Aber erst die großen christlichen Theoretiker, allen voran Augustinus, deuten die persönliche Beziehung eines Menschen zu seinem Gott als absolutum, das einer Person von niemand anderem streitig gemacht werden kann. Daraus wird dann, in ausdrücklichem Bezug zu Augustinus, Petrarcas Ego sum unus utinamque integer („Ich 6 Bekanntlich lässt sich die Tradition des Naturrechts bis auf aristotelische und stoische Quellen zurückführen. Siehe dazu: J. Ritter, „Naturrecht“ bei Aristoteles; Pohlenz, Die Stoa, S. 131 ff.; Watson, The natural law and stoicism. Um eine in ihren kritischen Pointen verdienstvolle Aktualisierung bemüht sich Tönnies, Der westliche Universalismus, S. 15 ff. 7 Siehe dazu v. Verf., Das individuelle Gesetz. 8 Dazu: Vlastos, The Individual as Object of Love in Plato (1969), S. 5 ff. 9 alla di’ hauton autos kai tôi poios tis einai tên phusin (Aristoteles, Politik VII; 1323b25).

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bin einer und möchte auch einer bleiben“),10 an dem der Dichter bekanntlich sogar bei seiner Besteigung des Mont Ventoux festhält. Denn ungeachtet des grandiosen Panoramas, das sich ihm auf dem Gipfel bietet, schlägt er zuerst in den ihn auch hier begleitenden Confessiones nach, um sich daran zu erinnern, dass man als Mensch stets in sich zu gehen hat. – Aus dieser Einsicht wird innerhalb weniger Generationen die These von der absoluten, nicht einmal von Gott einzuschränkenden Würde des Menschen.11 Es bedurfte dann jedoch noch mindestens des Toleranzgebots, also der gesellschaftlichen Anerkennung der individuellen Beziehung zu Gott, um daraus die Selbstzweck-Formel zu machen, welche durch keinen anderen Menschen in Zweifel gezogen werden kann. Und so beobachten wir, wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Formel von der „Bestimmung des Menschen“ in Umlauf kommt,12 aus der dann schließlich Kant die „Selbstbestimmung“ des Menschen macht. Wie man weiß, hat Kant erstmals auch die Selbstzweck-Setzung des Menschen in eine Formel gebracht und mit einer für alle Menschen gültigen Begründung versehen.13 Aber es ist bezeichnend, dass er nicht glaubt, damit auf eine neue Ausgangslage für die „Selbstschätzung“ des Menschen gestoßen zu sein. Vielmehr legt Kant Wert auf die Feststellung, er biete nicht mehr als eine kritisch gesicherte Formulierung für eine „populäre sittliche Weltweisheit“, die er, wenn denn eine Herkunftsbezeichnung gefragt ist, gern mit der Einsicht des Sokrates in Verbindung bringt. Im Übrigen verweist er mit Blick auf die Vernunftideen immer wieder auf die platonische und im Bezug auf das sittliche Bewusstsein auf die stoische Tradition.

10

Petrarca, Seniles XV; in: ders., Opera, Basel 1554, S. 1046. Wenn nämlich, so argumentiert Giannozzo Manetti, der Mensch „das alleinige, wahrhaftige Bild Gottes“ ist, dann kann der Mensch seinem Gott auch nicht gleichgültig sein (Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, III.11, S. 72); vielmehr findet Gott sich im Menschen selbst, so dass die Aussage erlaubt ist, Gott habe die Welt um des Menschen willen geschaffen. Die christliche Menschwerdung Gottes wird zum Argument, das die bereits in der Antike betonte Gottesebenbildlichkeit des Menschen aus der relativen Ähnlichkeit in eine absolute Entsprechung verwandelt. Gott wird zum Medium für die Selbstaufwertung des Menschen, der ein Dignität beansprucht, die auf Erden durch nichts anderes überboten werden kann. Metaphysisch und theologisch gesehen ist die Würde des Menschen unantastbar. Außer Gott gibt es nichts, das einen höheren Wert für sich in Anspruch nehmen könnte. Der Mensch, so heißt es, ist eine „kleine Welt“ – parvus mundus (ebd., I.49, S. 33). – Ähnlich Nikolaus von Kues, der den Menschen als Mikrokosmos bezeichnet, um kenntlich zu machen, dass der Mensch den Makrokosmos in sich wiederholt und somit das Ganze der Welt in sich selbst – gleichsam in höchste Konzentration – darstellt. 12 Vgl. Spalding, Die Bestimmung des Menschen (zuerst erschienen 1748). 13 „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. 4, S. 429). 11

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Doch wie immer es mit der Tradition auch steht: Leitend ist das Problem, und das liegt in der Rechtfertigung verbindlicher Handlungsregeln allein aus eigener Einsicht. Und in der Lösung ist die Konformität zwischen Platon, Aristoteles und Epikur bis hin zu Cicero, Seneca und Kant größer als die Differenz: Und die Lösung liegt in der Selbstauslegung des selbstbewusst handelnden Individuums: Man braucht lediglich das von Anfang an in jedem mit Willen und Vernunft ausgestatteten Subjekt wirksame Moment der Selbstbestimmung in die erkennbaren Bestandteile zu zerlegen, und schon hat man die in der Selbstbestimmung wirksamen Gründe für die Autonomie eines jeden Menschen. Und diese Autonomie ist es dann, die jedem Einzelnen eine unantastbare Würde beilegt, deren Wahrung nur durch die äußere Sicherung von Freiheit und Gleichheit möglich ist. Die äußere Sicherung aber führt zu einem unbedingten Rechtsgebot, das Kant, übrigens als einer der ersten in deutscher Sprache, ganz selbstverständlich unter den Titel eines „Menschenrechts“ stellt. Also bleibt es dabei, dass sich im Menschenrecht ein spätestens seit dem platonischen Sokrates literarisch belegter Anspruch des Menschen artikuliert, der im deklarierten human right der amerikanischen Loslösung und des droit de l’homme des französischen Umsturzes nur eine neue politisch-juridische Expressivität erreicht. Das Neue liegt im aktiv vertretenen Anspruch, der den Respekt der politischen Gewalten vor dem einzelnen Menschen verlangt. Das Individuum erklärt sich zur absoluten Instanz, von der nicht nur alle Rechtsansprüche auszugehen haben; vor ihr hat auch alle politische Macht ihre definitive Grenze. Für den neuen Ausdruck und seinen weiterreichenden Anspruch gibt es eine Reihe historischer Bedingungen, die aber in der Sache kaum etwas Neues bringen: Im epochengeschichtlichen Umfeld erkennen wir erstens eine Verstärkung des Rechtsprinzips, die mit einer Separierung der gesellschaftlichen Handlungssphären einhergeht. So gewinnen die Einflussbereiche von Ökonomie, Kunst, Wissenschaft und Religion ihr eigenes Gewicht. Die Moral wird stärker als je zuvor subjektiviert. Die Politik erklärt sich für souverän und behauptet sich als eine im Ernstfall über alles andere bestimmende Macht. Und da ist es nur eine den Zusammenhang sichernde Folge, wenn das Recht als zunehmend verselbständigte Größe behandelt wird. Denn das Recht sorgt für kalkulierbare Übergänge zwischen den nunmehr stärker getrennten Handlungsbereichen der Gesellschaft. Hinter dieser Entwicklung stehen zweitens die allbekannten Segnungen von Wissenschaft und Technik, insbesondere die zunehmende Entlastung der Menschen von physischer Anstrengung zur Sicherung des Lebensunterhalts. Schon Aristoteles vermutet, dass die Freisetzung von körperlicher Arbeit auch von der Bürde des Sklaventums befreien kann.14 Daidalos ist die Symbolfigur, die schon in der Antike den Fortschritt verheißt. 14

Aristoteles, Politik I, 2, 1253 b 35–1254 a 1.

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Eine dritte Einflussgröße, die mit der Institutionalisierung alteuropäischer Ansprüche als Menschenrecht auf das Engste verbunden ist, liegt in der Individualisierung selbst. Je mehr sich der Einzelne auf seine Sensibilität, Produktivität und Originalität verlässt, umso bedrohlicher erscheint ihm die Akkumulation gesellschaftlicher Handlungsmacht, und umso entschiedener verlangt er die Sicherung seines Daseins gegenüber allen Risiken, die seine Mitwelt verursacht. Unter diesem gleichermaßen von innen wie von außen dynamisierten Druck wird aus den alten ethischen Ansprüchen ein Verlangen nach rechtlichen Garantien. Ethische Grundsätze werden in Grundrechte übersetzt. Das unter dem Anspruch des neuzeitlichen Humanismus angeeignete antike Erbe wird kodifiziert. So kommt es zum Menschenrecht – zu einem neuen Schlauch für einen guten alten Wein. Gesetzt, es verhält sich so, wie ich es hier in äußerster Verdichtung umrissen habe; gesetzt, die modernen Menschenrechte stehen in der skizzierten materialen Kontinuität mit der alteuropäischen Ethik: Ihre Proklamation in den politischen Emanzipationsvorgängen des 18. Jahrhunderts wäre dann keine „Entdeckung“ des neuzeitlichen Subjekts, das sich gegen die selbsterzeugten Risiken der Globalisierung seines Handelns immunisiert. Es wäre erst recht keine „Erfindung“ der zur Herrschaft strebenden Bourgeoisie, die nur nach geeigneten ideologischen Mitteln sucht, um von ihren Klasseninteressen abzulenken. Sondern das Primäre wäre ein innovativer Akt erweiterter Selbstauslegung, in dem der Mensch die von ihm zunehmend verantwortlich organisierte, aber sich eben dadurch auch zunehmend partikular verselbständigende Welt15 auf sich selbst verpflichten möchte. Und wenn dem so ist, wenn es tatsächlich die expandierende Selbstauslegung des Menschen ist, der sich die Artikulation der Menschenrechte verdankt, dann hat das Folgen für den theoretischen wie auch für den praktischen Umgang mit ihnen: In theoretischer Perspektive erweitert sich der historische Horizont der Menschenrechte beträchtlich, wenn man die alteuropäische Tradition von Ethik und Politik zur Entwicklungsgeschichte des Menschenrechts hinzurechnen muss. Zu ihrer Begründung kann man dann den ganzen Bestand der philosophischen Ethik mobilisieren. Das mag auf den ersten Blick verwirrend sein, dürfte in der Sache aber zu günstigeren Voraussetzungen bei der Darstellung des Menschenrechts im Kontext des humanen Selbstverständnisses führen. Denn es ist nicht das Argument allein, das einen moralischen oder juridischen Anspruch überzeugend macht, sondern immer auch der Umfang, die Reichweite und die Vertrautheit seiner Gehalte. Wenn wir tatsächlich seine antiken Wurzeln aufzeigen können, lässt sich das Menschenrecht von dem im interkulturellen Vergleich offenbar nachteiligen Verdacht befreien, nur aus dem christlichen Humanismus 15 Diese Verselbstständigung tritt nicht erst, wie viele meinen, in der neuzeitlichen Technik hervor, sondern bestimmt bereits die ersten Erfahrungen des Menschen mit dem Staat.

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erwachsen zu sein. Es wäre dann – schon aus historischer Sicht – nicht auf das christliche Abendland beschränkt.16 Und allein dies hätte weitreichende praktische Konsequenzen. Denn wir könnten uns bei der Ausweitung und Sicherung des Menschenrechts viel stärker auf das Selbstverständnis der betroffenen Menschen beziehen und mit guten Gründen darauf setzen, dass sie von sich aus für sie eintreten. Wie schon die Beispiele der Declaration of Independence und der ersten Verfassungen der Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen führen, gelten die Menschenrechte als „self-evident“. Die am 3. September 1791 versammelten Vertreter des französischen Volkes gehen schon im ersten Absatz ihrer Déclaration des droits de l’homme et du citoyen davon aus, dass „die Unwissenheit, das Vergessen und die Verachtung der Menschenrechte die einzigen Ursachen des Verfalls der öffentlichen Ordnung“ sind17. Wie aber hätte man etwas ignorieren, vergessen oder verachten können, das es erst seit zehn oder zwanzig Jahren gibt? Und das auch noch mit solchen Folgen? Tatsächlich ist es so, dass unter den ersten Anwälten des Menschenrechts niemand auf den Gedanken kommt, die Menschenrechte für etwas Neues zu halten. Man geht vielmehr davon aus, dass es sie schon immer und überall gegeben hat. Sie gehören zum Wesen der menschlichen Natur. Deshalb gelten sie als „unveräußerlich und heilig“ (inaliénables et sacrés), und das heißt: Man braucht sie sich lediglich bewusst zu machen, und dann weiß man schon von selbst, welche elementaren Rechtsansprüche man hat. Entscheidend also ist, dass man den Menschen in seinem Selbstverständnis erreicht. Dabei kommt alles darauf an, ob es gelingt, ihn auf seine Lebenslage sowie auf seine politischen Möglichkeiten aufmerksam zu machen. Man muss ihn darüber aufklären, wie sich seine Situation zu einem als selbstverständlich angesehenen menschenwürdigen Dasein verhält, so dass er selbst den Widerspruch empfindet und ihn als unerträglich artikuliert. Dabei muss man ihm die Aussicht auf eine mögliche Änderung der Verhältnisse so deutlich vor Augen führen, dass er die Chance für seinen eigenen Einsatz erkennt. Das geht aber nur, wenn er sieht, dass er in seinem Verlangen nach einer Änderung der Verhältnisse nicht allein steht. Also kommt alles darauf an, dass er den Mut und die Kraft aufbringt, gemeinsam mit denen, die in gleicher Lage sind, selbst etwas für die Einhaltung oder Durchsetzung der Menschenrechte zu tun. Und alles dies ist die Aufgabe der Rhetorik.18 16 Tatsächlich sind in den letzten Jahren wesentliche Elemente des Menschenrechts nicht nur in der antiken, sondern auch in der alttestamentarischen Tradition (Buch Amos) sowie im altchinesischen und altindianischen Denken aufgewiesen worden. 17 „[. . .] l’ignorance, l’oubli ou le mépris des droits de l’homme sont les seules causes des malheurs publics [. . .].“ (Constitution française v. 3.9.1791, S. 58) 18 Dabei kann man sich auch noch den schwachen Rhetorikbegriff zunutze machen, den Kant zwar kritisiert, aber gleichwohl in seiner politischen Philosophie zur Anwen-

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II. Damit bin ich beim zweiten Titelbegriff und beim zweiten Teil meines Vortrags. Meine Absicht ist, an einem herausragenden Beispiel vor Augen zu führen, wie die praktische Politik der Menschenrechte mit der expressiven Selbstauslegung des Menschen – also mit Rhetorik – verbunden ist. Das Beispiel bestätigt auf eine geradezu verblüffende Weise, wie sehr es auch in diesem von 1776 und 1791 scheinbar weit entfernten Beispiel auf die Explikation eines menschlichen Selbstverständnisses vor dem Hintergrund einer großen Tradition ankommt. Zwar finden wir den ständigen Rekurs auf die amerikanische Verfassung; daneben aber wirkt mit gleicher Anschaulichkeit die antike Tradition und die des Alten wie des Neuen Testaments. Und alles ist darauf abgestellt, dem Einzelnen die Augen zu öffnen, ihn für seine Lage empfindlich zu machen und ihm durch Selbstkritik sowie durch die Zusicherung der Solidarität der anderen Mut zum eigenen Handeln zu machen. Dabei wird immer wieder an die Schlichtheit der erforderlichen Erkenntnis erinnert; jedes Kind kann die Ungerechtigkeit benennen, die durch den Entzug der Menschenrechte entsteht. Und das Ganze ist auf die Gegenwart der anderen bezogen, die sich in großer Zahl einfinden, die mitmarschieren, der brutalen Gewalt widerstehen und ihre Gefängnisstrafen gelassen hinnehmen. Es werden die vertrauten Lieder gesunden, auf den Straßen bewegt man sich wie im Tanz nach uralten Rhythmen und praktiziert bei aller Entschiedenheit in den eigenen Zielen Toleranz auch gegenüber jenen, die sie vorenthalten. Die Rede ist von der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika und insonderheit von ihrem zum Märtyrer gewordenen Anführer Martin Luther King. An den Reden und Schriften Martin Luther Kings lässt sich zeigen, dass Menschenrecht und Rhetorik eine innere Verbindung eingehen können, die auch den stärksten philosophisch-politischen Ansprüchen an das Menschenrecht und seine argumentative Begründung nicht widerspricht.19 dung gebracht hat: Es ist nicht die „Rednerkunst (ars oratoria),“ mit der sich ein Redner „der Schwächen des Menschen zu seinen Absichten“ bedient, die Fähigkeit des „Redners ohne Kunst“: „Wer bei klarer Einsicht in Sachen die Sprache nach deren Reichthum und Reinigkeit in seiner Gewalt hat und bei einer fruchtbaren, zur Darstellung seiner Ideen tüchtigen Einbildungskraft lebhaften Herzensantheil am wahren Guten nimmt, ist der vir bonus dicendi peritus, der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck, wie ihn Cicero haben will, doch ohne diesem Ideal selbst immer treu geblieben zu sein.“ (KdU, § 53, AA, Bd. 5, S. 328) Man muß hinzufügen, dass Kant selbst hier seinem Begriff der Kunst nicht ganz treu bleibt; denn er hätte sich eingestehen müssen, dass diese Fähigkeit, in Kenntnis der Sprache „voll Nachdruck“ zu reden, nichts anderes als eine „Kunst“ zum Ausdruck bringt. – Zur Aktualität der Rhetorik siehe Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. 19 Die folgenden Überlegungen habe ich zuerst in einem Seminar über Martin Luther King entwickelt, das ich im Sommer 1996 zusammen mit meinem Kollegen John Michael Krois durchgeführt habe. Ihm verdanke ich viele sachliche Hinweise auf Herkunft, Bildungsgang und geistliche Wirksamkeit Martin Luther Kings sowie die

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Es ist in diesem Zusammenhang nicht nötig, eigens auf die historische Bedeutung Martin Luther Kings für die Befreiungsbewegung in Amerika und in Südafrika hinzuweisen. Er ist als charismatische Leitfigur bekannt, berühmt und viel zitiert; vermutlich wird er als personalisiertes Symbol des Civil Rights Movement in bleibender Erinnerung bleiben.20 Theoretisch aber haben seine Reden, verknüpft mit der inszenierten Form seines Wirkens, noch längst nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdienen. An ihnen ließe sich vor allem zeigen, dass die Rhetorik viel mehr umfasst als bloß die sprachliche Selbstpräsentation sprachlicher Gehalte. Rhetorik wird vielmehr zu einem Ensemble argumentativer, gestischer, ästhetischer und – selbst wieder unter die Prämisse der Gewaltfreiheit gestellter – praktisch-politischer Aktivität. Die Reden des Reverend Martin Luther King sind keine in eine bloße Sprachgestalt gebrachten Texte, sondern eine fast das ganze Spektrum menschlicher Selbstdarstellung umfassende Aktion, eine performance, in der nicht nur eine politische Überzeugung zur Darstellung gebracht wird, sondern die selbst schon politische Entscheidung sein will. So wird der Unterschied zwischen Theorie und Praxis (oder sagen wir besser: zwischen Meinungsbildung und wirksamer Entscheidung) inszenatorisch verschliffen. Gleichwohl versteht sich die performance selbst dort, wo sie den Charakter einer politischen Aktion hat oder haben soll, bloß als eine dramatisierte Rede, denn sie steht ja unter der Prämisse der Gewaltfreiheit. Das Podest des Redners wird bewusst auf die politische Bühne gerückt, auf der man bereits mit der Ansprache eine praktische politische Alternative durchzusetzen sucht. Die Bühne wird zum Tribunal und somit zum Ort der politischen Wirklichkeit. Aber dort, wo sich die Opponenten über den massiven Druck beklagen, den jene später durch die Studentenbewegung politisch verbrauchten go-ins, sit-ins und teachins zweifellos ausüben, da wird unter der Prämisse der Gewaltfreiheit der rein inszenatorische, bloß virtuelle Charakter der Tat betont. Da soll dann die ganze Handlung bloß als eine machtvolle Rede verstanden werden. So wird der politische Vorgang selbst zu einem symbolischen Akt – eine Metamorphose, die uns von den Haupt- und Staatsaktionen der Politik wohl vertraut ist. In der Bürgerrechtsbewegung wird sie gewissermaßen demokratisiert und von den Entrechteten und Benachteiligten für ihre Zwecke angeeignet. – Inzwischen ist sie ein beliebig einsetzbares Druckmittel einer jeden Interessengruppe, die ihre meinungsgeladene Präsenz machtvoll demonstrieren möchte – Schilderung von persönlichen Eindrücken von der damals in den Vereinigten Staaten herrschenden politischen Stimmung. Mein Dank gilt auch den Studenten dieses Seminars. An ihnen habe ich beobachten können, dass Martin Luther King durch Texte und Filmaufzeichnungen wie ein Gegenwartsautor wirken kann und somit seine Rhetorik immer noch lebendig ist. 20 Zumal zu erwarten steht, dass er nun auch bald posthum von Hollywood vermarktet wird.

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als sei Handlungsbereitschaft schon die Handlung selbst. Das ist ein im symbolisch hoch besetzten politischen Raum naheliegender Vorgang, der uns lehren kann, wie eng die Politik nicht nur in ihrem meinungsbildenden, sondern auch in ihrem wirklichkeitsbewältigenden Vollzug mit der Rhetorik verbunden ist. Der nahezu alle Momente menschlicher Selbstdarstellung einbeziehende Charakter der Rhetorik Martin Luther Kings kann folglich gar nicht erfasst werden, wenn wir nur auf die hinterlassenen Texte sehen. Die haben zwar ein besonderes Gewicht, weil sie in den seltensten Fällen das vorher geschriebene Typoskript wiedergeben; sie haben vielmehr den Charakter von redigierten Protokollen. Martin Luther King ging mit einem Katalog von skizzierten Ideen und sprachlichen Wendungen ans Rednerpult, und alles Weitere war eine Sache der Inspiration – man kann auch sagen: der Kommunikation mit seinen Zuhöreren. Also enthalten die später gedruckten Texte noch etwas von der lebendigen Aufführung, dieser Rhetorik der leibhaftigen Interaktion zwischen dem Rhetor und seinem Publikum. Die aber erfasst man nachträglich wohl nur, wenn man auch die überlieferten Bild- und Tondokumente mit hinzunimmt. Da ist die spannungsgeladene Rede vor dem (selbsternannten) Bürgerausschuss von Montgomery, Alabama, am 14. November 1956, wo Martin Luther King nach Monaten des Boykotts der öffentlichen Verkehrsbetriebe durch die Schwarzen und einem Exzess der Gewalt durch Aktivisten der weißen Bevölkerung die Beendigung des Widerstands und damit den nahen Sieg seiner ersten großen Aktion verkündet. Umringt von seinen Leuten demonstriert er kontrollierte Beherrschung, signalisiert pragmatisches Einlenken und evoziert zugleich die Vision, dass dies der Anfang einer den ganzen Süden erfassenden Bewegung ist. Oder seine wohl wirkungsvollste Rede am 28. August 1963, wo er vor dem Lincoln Memorial in Washington als letzter Redner den ersten Ausbruch der Begeisterung einer nach Hunderttausenden zählenden Masse allein dadurch erzeugt, dass er sie als die „größte Demonstration in der Geschichte Amerikas“ anspricht, um dann dicht umringt von weißgekleideten moslemischen Schwarzen und weißen Honoratioren21 seine vornehmlich an diesen bundespolitisch so exponierten Ort sowie an das Wirken Abraham Lincolns anknüpfende Mahnung zur Versöhnung zwischen Schwarzen und Weißen zu verkünden, und am Ende mit dem elfmal22 wiederholten Refrain „I have a dream“ seine Vision der Zukunft Amerikas vor aller Augen zu stellen. Es ist ein Traum, der ohne jede Verzückung, aber mit starken Bildern in wachsender Eindringlichkeit vorgetragen wird. Der Redner ist selbst bei ausschweifend-ausladender Rede äußerst kontrol21

Links neben ihm steht ein weißer Sheriff, der ihm behutsam das Mikrophon rich-

tet. 22 Im gedruckten Text ist die Phrase nur acht Mal wiederholt. Siehe: King, I have a Dream.

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liert. Die stärkste innere Bewegung erfordert offenbar die größte rhetorische Disziplin. Das ist besonders auffällig in Chicago, wo King im Juli 1966 in einer bis zur Hysterie gespannten Lage vor einer in einer kleinen Kirche versammelten Menge von Schwarzen spricht, die durch den Gesang von Mahalia Jackson gerührt und begeistert ist. Vor dem Altar, dicht um die Sängerin gedrängt, bewegen sich die Menschen in Tanz und Taumel. Und aus diesem Gedränge tritt der Reverend Martin Luther King ans Mikrophon, wischt sich den Schweiß von Kopf und Hals und beginnt in vollkommener Ruhe seine Rede. Schon vorher hatte ihn die Kamera im Bild: Er hatte sich nicht vom Tanz erfassen lassen, hatte auch nicht mitgesungen. Und als er zu sprechen beginnt, ist er ganz auf das Wort konzentriert. Er beginnt mit einem warmen, aber wohlgesetzten, feierlich-abgeklärten Dank an die Sängerin, und spricht nur aus, was den Raum leibhaftig erfüllt. Der Redner ist, Wort wörtlich genommen, das Sprachrohr der Menge – und eben dabei das Mundstück Gottes. Alles dies muss man sehen und hören und man erkennt augenblicklich, dass hier eine Rhetorik wirksam ist, die nicht nur die Grenzen zwischen argumentativer Theorie und entschiedener Praxis, zwischen intellektueller Vorstellung, sprachlicher Darstellung und politischer Entscheidung verwischt, sondern die auch physische, physiologische und soziale Momente in dramatischer Komplexion zur Wirkung kommen lässt. Und der Redner, so beherrscht er selbst auch spricht, wirkt nur als Teil der leibhaftig bewegten Masse. Seine Stimme ist wie der Klang einer Saite, der auf die Resonanz des vibrierenden Tonkörpers angewiesen ist. Die schwingende Bewegung, die Rhythmik des Schreitens, des Klatschens und Tanzens sowie der spirituelle Gesang, dazu die Orgel oder die einfachen Instrumente des Jazz: Alles dies gibt der Bewegung nicht nur ihre von innen kommende Lebendigkeit, sondern es verleiht dem Geschehen eine geistliche Tiefe, aus der heraus der Sprecher das Wort ergreift. Die Musik und ihre Rhythmen verstärken den sinnlichen Bezug auf den Augenblick; aber sie geben dem Geschehen auch eine quasi-religiöse Weihe. So kann sich die politische Rhetorik des Martin Luther King alle Vorteile der sanften pastoralen Autorität zu Nutze machen, der man sich vertrauensvoll hingibt; so kommt es zur gläubigen Einheit von Stimmung und Ausdruck, von innerer und äußerer Kraft; so ist jede Aufforderung Zuspruch. Das Publikum wird angesprochen, als seien die Individuen innerlich verbunden, und der Redner spricht nur als die kundige, belehrte und erfahrene Stimme aus dem andächtig versammelten Kreis. So kommt es auch zu einer sozialen Einheit von Körper und Seele. Die pastorale Rhetorik drückt nur in allgemein verständlichen Worten aus, was an Stimmungen, Gefühlen und Einsichten die Versammlung dominiert. Der Sprecher ist der Hermeneut seines Publikums; er kann sich immer auch als Vermittler präsentieren. So wie der Prediger jedes Kanzelwort immer auch in das Ohr Gottes sagt, so spricht Martin Luther King als politischer Rhe-

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tor stets vor zwei Auditorien: Zur aktuell versammelten Menge und zum Forum der amerikanischen Öffentlichkeit. In den sechziger Jahren, insbesondere in seiner Kritik am Krieg in Vietnam, wendet er sich ausdrücklich an das Forum der Welt. Schon in dieser Doppelperspektive liegt ein logifizierender Effekt, der in der Auseinandersetzung mit den partikularistischen Tendenzen des Malcolm X und seiner gewaltbereiten Anhängerschaft eine eminente Rolle spielt. Doch die Rationalität der Rhetorik Martin Luther Kings folgt nicht allein aus ihrem immanenten Vermittlungsanspruch, ist keineswegs bloß durch die Methode vermittelt. Sie wird vielmehr bewusst gewählt und im reflektierten Bezug zur Tradition entwickelt und vertieft. Und dabei tritt eine grundlegende Beziehung zwischen Form und Inhalt hervor; eine Verbindung zwischen den Medien des rhetorischen Ausdrucks und dem alles beherrschenden politischen Ziel. Und erst diese Verknüpfung der expressiven Formen mit den materialen Gehalten rechtfertigt es, von Menschenrecht und Rhetorik zu sprechen. Denn wir haben hier einen Fall, in dem die Rhetorik kaum mehr ist als das Mittel zu einer überzeugenden Selbstdarstellung und Selbstauslegung des Menschen. Und sie hat, wenn ich das so sagen darf, ihre Wahrheit eben darin, dass sie dem Menschen zur praktischen Selbsteinlösung seiner Selbsterkenntnis verhilft. Sie lehrt ihn nicht nur besser zu verstehen, wer er eigentlich ist und was er infolgedessen soll; sondern sie bringt ihm auch nahe, was er wie zu tun hat, um aus eigener Kraft dahin zu kommen, wo er nach seiner eigenen Erwartung hingehört. Kurz: Es gibt eine innere Entsprechung zwischen dem Selbstverständnis, das sich im Anspruch auf das Menschenrecht artikuliert, und der Selbstdarstellung, als die wir die Rhetorik zu begreifen haben. – Diese im ersten Teil vorbereitete These will ich abschließend an der sachlichen Dimension der Rhetorik Martin Luther Kings verdeutlichen: Zur bewusst angeeigneten und ständig revitalisierten Überlieferung des Civil Rights Movement gehört in erster Linie die junge Verfassungstradition der USA. Die Schwarzen verstehen sich in erster Linie als Amerikaner, die endlich auch so leben möchten, wie es die Unabhängigkeitserklärung von 1776 verheißen hat und wie es durch die Politik Jeffersons und Lincolns bekräftigt worden ist. Dann verstehen sie sich als Kinder Gottes. Dies vornehmlich so, wie es durch das christliche Evangelium beschrieben worden ist. Also stehen sie auch zum Gott des Alten Testaments, der die Welt erschaffen, dem Menschen die Erde eröffnet, Moses aus Ägypten geführt und allen Menschen die Gebote gegeben hat. Die Autorität der jüdisch-christlichen Überlieferung wird aber noch durch eine Reihe anderer Quellen verstärkt: Da ist Sokrates, der für Selbsterkenntnis und Weisheitsliebe eingetreten ist; da sind alle anderen Philosophen der alteuropäischen Tradition, insbesondere die Ethiker, die Naturrechtslehrer seit Thomas von Aquin und einige radikale Pazifisten des 19. Jahrhunderts (insbe-

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sondere Henry David Thoreau)23. Sie alle werden natürlich nur soweit einbezogen, wie es das mutmaßliche Verständnis der Zuhörerschaft erlaubt. Da sind ferner die indischen und chinesischen Weisheitslehrer, die ihren modernen Zeugen in Mahatma Gandhi gefunden haben. Von ihm übernimmt Martin Luther King bekanntlich die Forderung nach gewaltfreiem Widerstand; er gilt ihm als der moderne Sokrates. Und da ist schließlich auch die Erinnerung an die vorgeschichtliche afrikanische und indianische Erbschaft. Alles wird als kompatibel angesehen, sofern man sich selbst mit seinem Anspruch auf Freiheit, Gleichheit und Würde versteht. In diesem Verständnis grenzt die Überlieferung nichts aus, sondern sie verdeutlicht, verstärkt und ermutigt. Dass dies nicht zur beliebigen Akzeptanz aller denkbaren Positionen führt, hat Martin Luther King in seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus unter Beweis gestellt. Sein How should a Christian view Communism? von 196324 gehört zum Besten, was aus einer glaubwürdigen politisch-moralischen Haltung zur Kritik des Kommunismus vorgetragen worden ist. Die eklektische Weise, in der sich Martin Luther King auf die religiöse, philosophische und humanitäre Überlieferung der Menschenrechte bezieht, schließt zwar nicht aus, dass er sich seine Tradition argumentativ erarbeitet hat; der Reverend war promovierter Soziologe, mit beachtlichen Kenntnissen in seinen ersten beiden Fächern, der Theologie und der Philosophie. Doch sein Wissen von den Theorien bleibt in der politischen Praxis völlig im Hintergrund. Er lehrt nichts, was seine Zuhörer nicht schon wissen. Also darf man auch davon sprechen, dass die Begründung nach Maßgabe rhetorischer Einsicht erfolgt. Sie dient der Versicherung und Bestätigung dort, wo bereits Einsichten aus eigener Erfahrung bestehen. Also nützt sie nur dort, wo bereits ein eigenes Verständnis vorliegt. Und das lässt sich durch die Berufung auf ältere Einsichten stützen, vertiefen und bekräftigen. Vor diesem ständig beschworenen aktuellen Selbstverständnis und seinem historischen Hintergrund entfaltet nun der Rhetor seine aktivistisch auf die zukunftsoffene Gegenwart bezogene Wirkung. Da für eine Detailanalyse der Bilder und Texte hier kein Raum ist, fasse ich die wichtigsten Momente der Menschenrechtsrhetorik Martin Luther Kings in acht knapp formulierten Punkten zusammen:25 23 Der Einfluss der beiden bedeutendsten Schriften Thoreaus (Walden [1854] und Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat [1849]) auf King ist beträchtlich. 24 Der Widerspruch gegen den Kommunismus erfolgt, weil dieser nicht in der Lage ist, die Bedingungen von Armut, Unsicherheit, Ungerechtigkeit, Rassendiskriminierung und Missachtung der Würde des Menschen zu beseitigen, weil er sich in einem Grundwiderspruch zur Demokratie befindet und weil er die – vornehmlich im Glauben zum Ausdruck kommende – Integrität des Einzelnen nicht anerkennt. 25 Die eindringlichsten Belege für die nachfolgenden Thesen finden sich im Letter from Birmingham Jail vom 16. Juli 1963.

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Da ist erstens die Beziehung auf eine gemeinsame, von allen Hörern gemachte Erfahrung. Die Schwarzen haben gemeinsam geduldet und gelitten; nun stehen sie auch gemeinsam zu ihren Zielen, die ihnen offen stehen wie allen anderen auch. Die Schwarzen wollen nicht mehr (aber endlich auch nicht weniger) als ihnen zusteht. Das ist der allen gemeinsame Standpunkt in der einen Welt, in der jeder seine natürlichen Rechte hat. Es ist zugleich die allgemeine Position der Humanität: Der Schwarze wird nicht als Schwarzer zum Objekt des beanspruchten Mitgefühls, sondern als Mensch – also als ein Wesen, das allen anderen Menschen gleich ist. So kann diese Rhetorik jederzeit an gemeinsame (nicht bloß partikulare) Interessen erinnern. Die gemeinsamen Erfahrungen sind einfach. Jedes Kind kann sie machen. Das ist bereits der zweite Punkt: Man braucht nur Augen und Ohren offenzuhalten und schon zeigt sich von selbst, wie selbstverständlich die Forderungen der Schwarzen sind. Da sich die Erwachsenen an die gewaltsam verzerrte Realität schon viel zu sehr gewöhnt haben, sind die Kinder viel besser geeignet, die natürliche Ordnung zu erkennen. Deshalb braucht man eigentlich nur die Vorbehaltlosigkeit eines Kindes, um zu einem Teil des Civil Rights Movement zu werden. Hier wirkt der Standpunkt der Ursprünglichkeit. Ihm verhilft der Rhetor zum Ausdruck, indem er eigentlich nicht mehr als das Selbstverständliche artikuliert. Das Unrecht, das man den Schwarzen antut, wollen sie nur loswerden – nicht aber vergelten. Das ist der dritte Punkt. Die Rhetorik hat ihr Pathos im andauernd zugefügten Schmerz. Die Erfahrung des Leidens verbindet. Aber sie führt nicht zur Rührseligkeit des bloßen Mitleids. Denn man war und ist bereits tapfer im Ertragen. Also steht der Appell an die einfachen Tugenden im Vordergrund. Die Tapferkeit im Ertragen der Schmerzen ist die Vorschule im Kampf um Gerechtigkeit. Das ist der Standpunkt der tätigen Mitmenschlichkeit, die ihren Ausgangspunkt im eigenen Handeln hat. Dazu gehört auch der Appell an das Gewissen eines jeden Einzelnen und an seine moralische Selbständigkeit. Wer aber guten Willens ist, wer sich sein Urteil nicht von den herrschenden Interessen verbiegen lässt, der muss auch in der letzten Reihe zu den gleichen Schlussfolgerungen kommen wie der Redner vorn. Hier wirkt nicht nur die Ethik der Bergpredigt nach, sondern es wird ostentativ mit einem Gestus der Großzügigkeit geworben. Man stellt sich auf den Standpunkt der Generosität. Der vierte Punkt bezieht sich also auf die Selbstaufwertung durch eine universelle moralische Perspektive, an der man auch unter den Bedingungen schreiender Ungerechtigkeit festhält. Man hasst nicht, obgleich man Grund genug dazu hätte; man spricht sich vielmehr das Gefühl der Stärke zu und verzeiht. Rache ist die Schwäche der Gegner. So wird die Logik des Ressentiments, die Nietzsche glaubte den Juden und Christen vorrechnen zu können, ins Gegenteil verkehrt und zum Ausdruck eigener Stärke.

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Die Menschenrechtsrhetorik setzt fünftens auf die Wirksamkeit des Augenblicks und der aktuellen Erfahrung: Kommt und seht – und ihr werdet so fühlen und denken wie wir. Wer das alles miterlebt, der weiß, dass wir im Recht sind, der weiß, dass wir letztlich siegen werden. Hier gibt es ein Vertrauen in die Verbindlichkeit der sinnlichen Erfahrung und zugleich das Vertrauen in die fortzeugende Kraft der eignen Tat. Handeln ist auch unter den widrigsten Bedingungen möglich; mit Erfolg muss man selbst in den aussichtslosen Lagen rechnen. Also enthält diese Rhetorik stets auch eine Aufforderung zur Selbsttätigkeit, zur Selbsthilfe und damit zur Politik überhaupt. Das Handeln ist aber keine bloße Betriebsamkeit, sondern befreiende Tat, eine schöpferische Entfaltung der eigenen Kräfte. Sie ist ohne Einsatz der eigenen Sinne und des eigenen Verstandes nicht möglich; also ist sie ohne Individualität nicht zu haben. Der Redner baut auf die individuelle Einsicht. Über ihn aber wird aus dem Appell eine Rhetorik des vereinten Zuspruchs. Das ist der sechste Punkt. Die Rede ist eine Selbstermunterung vor der Menge und durch die Menge; sie hat ihre Begeisterung im unerschütterlichen Optimismus, der aber nicht auf einer Schönfärbung der Ausgangslage beruht. Die ist vielmehr, wie alle wissen, dramatisch schlecht. Die Kraft kommt aus der erlebten Geschlossenheit und aus innerer Zuversicht, hinter der natürlich das religiöse Gottvertrauen wirksam ist. Aber die Zeugnisse, auf die sich dieses Vertrauen stützt, sind so offenkundig und schlicht, dass sie letztlich allen Religionen zugänglich sind. In seiner leidenschaftlich geführten Kontroverse mit den Black Muslims hat Martin Luther King nicht ohne Erfolg auf transkulturelle Wirksamkeit seines Glaubens gesetzt. In der appellativen Ansprache wirken Affektivität und Disziplinierung ineinander. Das ist der siebente Punkt. Der Redner muss zu denen gehören, vor denen er spricht. Deshalb muss sich das Leiden seiner Hörer auch in ihm selbst artikulieren. Er ist empört, wie seine Anhänger; er trauert, klagt und träumt von einer besseren Welt. In alledem muss er unmittelbar verständlich sein. Also ist seine Sprache so einfach wie eindringlich. Aber als Prediger ist er seinen Zuhörern voraus; ist zumindest in der Rolle des kundigen Vorbilds, das in dem, wovon es spricht, moralische Stärke zu beweisen hat. Also ist es klar, dass der Redner gefasst und beherrscht sein muss, wenn er in seiner Rolle überzeugen will. Auch das Ziel der Gewaltlosigkeit verträgt sich schlecht mit der zügellosen demagogischen Gebärde. Schließlich verlangt die in der Bewegung immer mitbeschworene „Selbstreinigung“ Distanz zu sich selbst. Die „Selbstreinigung“ (self-purgation) ist eine asketisch-religiöse Variante der Selbstkritik, die der rituellen Bewegung in Musik, Tanz und Gesang nicht widerspricht. Auf den ersten Blick wirkt „Selbstreinigung“ wie ein kultisches Relikt, das sich heute nur im sektiererischen Kontext erhalten kann. Liest man aber die Anweisungen des Reverend, dann stellt es eher eine Verbindung des Gedankens der aufklärerischen Selbstkritik mit dem der Selbstverantwortung und Selbststärkung dar.

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Man muss wissen, dass man als Individuum gefordert ist und besondere Belastungen zu erwarten hat. Man muss sich prüfen, ob man ihnen gewachsen ist. Das achte und vielleicht wichtigste Stilelement dieser Rhetorik ist ihr Anspruch auf Authentizität. So wie der Prediger im Angesicht Gottes steht, so steht der politische Prophet unter dem Eindruck seiner geschichtsbeladenen Gegenwart. Die aber muss konkret zum Ausdruck kommen. Hier und jetzt ist der Ausgangspunkt – mit allen sinnlichen Implikationen des Ortes und der Geschichte. Vor dem Lincoln Memorial wird das Vermächtnis Lincolns beschworen; in den Städten des Südens, in Montgomery (Alabama), in Albany (Georgia), in Selma (Alabama) oder in Birmingham (Alabama) wird die vor aller Augen liegende Schande der Sklaverei und die Bedrohung durch den Klu-KluxKlan zum Ausgangspunkt; in Chicago wird an die Positionen aus dem Bürgerkrieg und die Tradition der Gewerkschaften angeknüpft. Und stets wird eine persönliche Leiderfahrung zum Ausgangspunkt genommen – für jemanden, der 29-mal im Gefängnis saß, keine besondere Schwierigkeit. Deshalb ist auch der erste Satz seines auf den 16. April 1963 datierten Letter from Birmingham Jail exemplarisch für diesen letzten Punkt: „My Dear Fellow Clergymen: While confined here in the Birmingham city jail, I came across your recent statement calling my present activities ,unwise and untimely‘.“ 26 Der Augenblick, der Moment der leibhaftig-sinnlichen Gegenwart ist der Ausgangspunkt. Von ihm aus stößt der Rhetor auf das Sediment der persönlichen und historischen Erfahrung, in ihm sind die Kräfte anwesend, die es zu aktivieren gilt, nur von ihm aus gibt es einen realistischen Zugang zur besseren Zukunft. Und in der Gegenwart ist die Pluralität der versammelten Individuen offenkundig. Die Vielfalt kann jeder an sich selbst ebenso erleben wie das aktual Gemeinsame im gespannten Hören, im Gesang, im Tanz, im gemeinsamen Voranschreiten und in der Selbstverstärkung der applaudierten Zustimmung. So erfährt man sich selbst in seinen politischen Möglichkeiten. Überflüssig zu sagen, dass in dieser Rhetorik des Menschenrechts die Politik kein Selbstzweck ist. Die Ziele gelten nur der „Bewegung“, dem movement, und keiner Institution. Aber persönlich würde man am liebsten etwas anderes tun, als sich für die Bewegung zu verschleißen. Hier liegt ein immer wieder betontes hedonistisches Moment: Dem Redner wäre es lieber, wenn Politik gar nicht erst nötig wäre. Aber die Verhältnisse lassen den Rückzug in das private, individuelle Glück nicht zu. „Ich musste handeln“ – I had to act – ist Entschuldigung und Aufforderung zugleich. Und so vollzieht diese Rhetorik immer auch den Übergang vom individuellen zum kollektiven Selbstverständnis, aus dem die Politik ihren Antrieb bezieht. Sie ist ein öffentlicher Prozess der sinnlich-leidenschaftlichen Selbsterziehung zur Politik. Und das Menschenrecht wird als der Anspruch erlebt und verdeutlicht, aus dem sich die Politik, seit es sie gibt, ver26

King, Why we can’t wait, S. 76.

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standen hat. Die Rhetorik des Menschenrechts ist somit der sich selbst immer wieder neu politisch aufladende Vorgang einer Selbsterziehung des Menschen zur Politik. Literatur Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 194–136. Cicero, Marcus Tullius: De oratore, lat./dt., hg. u. übers. v. Th. Nüßlein, Düsseldorf 2007. – Vom rechten Handeln (De officiis), lat./dt., hg. u. übers. v. K. Büchner, München 1994. Constitution française v. 3.9.1791, in: Altmann, Wilhelm (Hg.), Ausgewählte Urkunden zur ausserdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776. Zum Handgebrauch für Historiker und Juristen, zweite vermehrte Aufl., Berlin 1913, S. 58–86. Gerhardt, Volker: Das individuelle Gesetz. Über den exemplarischen Charakter ethischer Normen, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22 (1997), S. 3–21. King, Martin Luther: A Testament of hope. The essential writings, hg. v. J. M. Washington, San Francisco 1986. – How Should a Christian View Communism?, in: ders., Strength to Love, New York 1963, S. 96–105. – Letter from Birmingham Jail, in: ders., Why we can’t wait, New York 1964, S. 76– 95. Manetti, Giannozzo: Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, übers. v. H. Leppin, Hamburg 1990. Meier, Christian: Athen. Neubeginn der Weltgeschichte, Frankf./M. 1984. – Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988. Petrarca: Seniles, in: ders., Opera, Basel 1554. Pohlenz, Max: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1948. Ritter, Joachim: „Naturrecht“ bei Aristoteles. Zum Problem einer Erneuerung des Naturrechts (1961), in: ders., Metaphysik und Politik, Frankf./M. 1969, S. 133–179. Spalding, Johann J.: Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, Waltrop 1997. Tönnies, Sibylle: Der westliche Universalismus. Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen 1995. Vlastos, Gregory: The Individual as Object of Love in Plato, in: ders., Platonic Studies, Princeton 1973, S. 3–34. Watson, Gerard: The natural law and stoicism, in: Long, Anthony Arthur (Hg.), Problems in Stoicism, S. 216–238.

Laboratorium Europa1 1. Die dynamische Realität Europas. Europa scheint nach dem Vertrag von Lissabon wieder eine Zukunft zu haben. Das gibt der Beschäftigung mit dem Thema Auftrieb. Die Kommentatoren, die nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden mehr als zwei Jahre lang Skepsis verbreiteten, lassen wieder gedämpften Optimismus zu. Die Skepsis wäre nicht nötig gewesen, und den Optimismus kann man hier, wie in allen anderen Fällen auch, dem jeweiligen Temperament überlassen. Denn das, worum es geht, nämlich die Europäische Union, gibt es längst. Sie ist ein politischer Tatbestand, ein historisches Faktum, das eine große Vergangenheit hat, in der Gegenwart unübersehbar ist und, was immer die Zukunft bringen mag, so schnell nicht verschwindet. Die Europäische Union nimmt ein definiertes Territorium ein, hat eigene Institutionen, eigenes Recht, gibt vielen tausend Menschen Arbeit, sorgt dafür, dass viele Millionen mehr Arbeit finden und übt beachtlichen ökonomischen, sozialen, wissenschaftlichen und, alles in allem, politischen Einfluss aus. Die EU ist, um es vorsichtig zu sagen, eine staatsförmige Organisation, die sich in den letzten fünfzig Jahren so dynamisch und so konsequent entwickelt hat wie kein anderes Staatswesen auf der Welt. Man kann zwar die Ansicht vertreten, dass einem dieser staatliche Verbund von Staaten nicht gefällt; aber damit hat man dessen Existenz bereits anerkannt. Das politisch zusammengewachsene Europa ist eine historische und politische Realität, und die wird sich, wenn keine weltpolitischen Katastrophen dazwischenkommen, auch in den nächsten Jahren mit einer Geschwindigkeit weiterentwickeln, die in der Geschichte der Staaten ohne Beispiel ist. Hinzu kommt, dass es zu diesem Fortschritt politisch keine Alternative gibt. Denn die Europäer wissen – wie ihr alltägliches Verhalten belegt – genau, dass sie nur in einem vereinten Europa eine politische Zukunft haben. Andernfalls rückt der kleine westliche Archipel der eurasischen Landmasse, der sich Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende lang als Zentrum des politischen Geschehens empfand, auch historisch an die Peripherie einer nun endlich im Ernst und in der Sache global verantworteten Weltpolitik. 2. Gewissheit angesichts der Realität. Mir ist bewusst, wie riskant eine Aussage ist, die so eindeutig für einen bestimmten Verlauf der noch gar nicht ge1 Der Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags in der Dresdner Frauenkirche am 8. November 2007.

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schehenen Geschichte optiert. Wir kennen unsere Zukunft nicht; wir wissen noch nicht einmal, was die nächsten Tage bringen werden. Darin liegt eine unaufhebbare Schranke unseres Wissens, die zu beachten wohl nirgends wichtiger ist als in der Politik. Denn die Menschen mögen noch so verschieden sein: In diesem Punkt sind sie alle gleich. Sie kennen die Zukunft nicht und müssen sich mit fragwürdigen Prognosen und Szenarien behelfen. Unabhängig davon haben sie sich bewusst zu machen, dass selbst dort, wo sie über verlässliches Wissen verfügen, der künftige Erfolg ihres Handelns unsicher ist. Denn erstens können sie noch nicht einmal den Lauf der Natur berechnen, von dem die Politik (wie uns nicht erst die Klimawende zeigt) niemals gänzlich unabhängig sein wird. Zweitens können wir unserer selbst nicht wirklich sicher sein. Unser Handeln ist unübersehbar vielen Einflüssen ausgesetzt, fällt daher oft anders aus als geplant und kehrt sich nicht selten gegen uns. Drittens wissen wir nicht, wie andere sich verhalten, wenn sie erst sehen, was wir selber tun. Die Gegenseitigkeit im Handlungsfeld ist unberechenbar, weil vieles aus spontanen Oppositionen erfolgt, hinter denen oft nicht mehr als die aus dem Augenblick geborene Lust an der Abweichung steht. Die Non-Konformisten sind zahlreicher, als sie selber denken. Viertens gibt es kein Handlungsfeld, das mit mehr unbekannten Größen zu rechnen hat als die Politik: Die Ökonomen können das Marktverhalten nicht sicher berechnen, die Techniker wissen nicht, welche Erfindungen ihr neuestes Patent vielleicht schon bald überflüssig macht, die Mediziner müssen abwarten, wie der jetzt zu behandelnde Körper auf das neue Präparat reagiert, und die Pädagogen verrichten ihre wichtige Aufgabe, ohne vorab sagen zu können, was aus den Schülern wird, wenn sie erwachsen sind. In der Politik aber kommen alle diese Unsicherheiten zusammen, so dass man als redlich denkender und gründlich handelnder Mensch von vornherein davon Abstand nehmen möchte, in ihrem Bann tätig zu sein. Fünftens kommt hinzu, dass man in der Politik nur selten wirklich eigenständige Ziele verfolgt. Sie kann zwar ihre Institutionen ausbauen und pflegen, hat Polizei und Militär als die ihr zugehörigen Instrumente, aber schon die von ihr installierten Gerichte setzen ihr Grenzen, die sie auf die Sicherung und den Ausbau des Rechts verpflichten. Politik kann man mit Kant und Jhering als „Kampf um das Recht“ definieren; ihre alltägliche Leistung ist, erneut mit Kant, als „ausübende Rechtslehre“ anzusehen. Was sie sachlich erreicht, gehört in spezifische Felder der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der ihr niemals mehr gelingt, als Einfluss auf Entwicklungen zu nehmen, die sich vielleicht auch ohne sie ergeben. Sechstens und letztens ist zu bedenken, dass die Politik, so sehr sie sich in ihren Aussagen auf Wahrheit verpflichten muss, in ihrem eigenen Feld selten

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mehr als Meinungen zur Geltung bringen kann. So scheint sie im Rückblick wesentlich aus Reden zu bestehen, deren Verfallszeit die der Nachrichten über sie nur wenige Wochen überlebt. 3. Die Realität einer Institution. Dem Philosophen fiele es nicht schwer, die Grenzen des politischen Wissens noch enger zu ziehen und damit deutlich zu machen, wie riskant das politische Handeln als solches ist. Gleichwohl kann er auch nach kritischer Prüfung davon überzeugt sein, dass über die Zukunft Europas wenigstens eine sichere Aussage gemacht werden kann. Und die lautet, dass die europäische Einigung ohne Alternative ist. Gesetzt, es wird in Europa in Zukunft überhaupt noch Politik gemacht, dann wird sie durch eine verstärkte Kooperation der vorhandenen staatlichen Institutionen und durch eine zunehmende Integration bisher getrennter Funktionen gekennzeichnet sein. Dabei ist es dann unerheblich, ob die EU eines Tages eine geschriebene Verfassung hat oder nicht. Eine verbindliche rechtliche Struktur hat sie schon jetzt. Und es hängt allein vom Bedarf an symbolischer Präsenz ihrer gemeinsamen Leistungen ab, ob sich die Europäer – über die bestehenden Verträge, Gesetze und Erklärungen hinaus – einer (wie auch immer genannten) förmlichen Konstitution unterstellen. Nötig ist es nicht, aber schön wäre es doch. Ein Grund für die Verfassung wäre, dass durch einen formellen Akt ausdrücklicher Zustimmung das Gerede von der „postnationalen Konstellation“ rasch beendet wäre. Auch die ein wenig metaphysisch anmutende Spekulation über eine „Verfassung jenseits des Staates“ könnte schnell zum Abschluss gebracht werden. Denn die Verfassung Europas wäre so staatlich wie die aller föderalen Staatsorganisationen in der uns bekannten Geschichte, und sie wäre nicht weniger national als dies die Vereinigten Staaten, Russland oder China offenbar sind. Die Kontinuität im Charakter der Staatsförmigkeit setzt überdies der rechtlichen und politischen Innovation keine Grenzen. Schon jetzt ist deutlich, dass die EU eine einzigartige Entstehungsgeschichte hat, dass sie Einheit schafft, ohne die sie tragenden Einheiten aufzulösen. Sie ist handlungsfähig, ohne ihre Mitgliedstaaten funktionslos zu machen. Carl Schmitt ist auch hier widerlegt: Souveränität ist teilbar. Aus dem sukzessiven Souveränitätsverzicht der Einzelstaaten wird Schritt für Schritt eine neue Souveränität des Ganzen aufgebaut, ohne dass ein lähmender Widerspruch entsteht. Der Erfindungsreichtum der praktischen Politik hat, mitunter ohne Theorie, zahlreiche neue Formen internationaler Kooperation mit integrativen Effekten geschaffen. Die EU hat sich als ein Laboratorium für neue politische Institutionen erwiesen. Dabei ist es ziemlich unerheblich, ob wir das entstandene staatsförmige Gebilde „Staat“ oder „Staatengemeinschaft“ nennen. An der rechtlichen Verbindlichkeit der für die Europäische Union entscheidenden Beschlüsse ändert das nichts. So, wie wir über den Namen des Euro gestritten haben, kann man sich auch darüber

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entzweien, ob das dann schon gar nicht mehr so neue Gebilde „Vereinigte Staaten von Europa“, „Europäische Bundesrepublik“, „Bund europäischer Staaten“ oder „Postnational European Governance“ heißen soll. Das als „Euro“ bezeichnete Zahlungsmittel wäre heute vermutlich genauso viel wert, wenn man es seinerzeit „Krone“, „Pfund“, „Franken“, „Gulden“ oder „Taler“ genannt hätte. 4. Die Quadratur der Politik. Die Frage bleibt, woher ich meine Sicherheit mit Blick auf die Zukunft Europas nehme? Dazu gebe ich folgenden Hinweis auf die jüngste Gegenwart: Ende Oktober 2007 haben sich die Bewohner von drei Gemeinden Norditaliens, Cortina d’Ampezzo, Livinallongo und Colle Santa Lucca, in einer gesetzlich zulässigen Volksabstimmung dafür entschieden, künftig nicht mehr zum Regio Belluno des Veneto, sondern zum Regio Trento-Alto-Adige zu gehören. Alto-Adige ist der Teil des alten Südtirol, der im Verbund der italienischen Regionen einen Sonderstatus genießt. So räumt die Verfassung Italiens den von Mussolini abgetrennten und anderen Regionen zugeschlagenen Gemeinden de iure die Rückkehr in ihr Südtiroler Stammland ein. Doch wer hätte im Ernst daran gedacht, dass im Jahre 2007 eine italienische Mehrheit de facto eben darauf bestehen könnte? Cortina hat 1956 für Italien die olympischen Winterspiele ausgerichtet und war 1932 Austragungsort der SkiWeltmeisterschaften. Die hier und in der Umgebung verbliebenen rätoromanisch-ladinischen Flecken sind inzwischen so gut mit zugezogenen Italienern aus anderen Teilen des Landes durchsetzt, dass eine Grenzverschiebung ausgeschlossen schien. Die letzten Terroranschläge der Südtiroler Befreiungsbewegung liegen mehr als fünfzig Jahre zurück. Wenn man heute in Bozen, Meran oder auf der Seiser Alm einen Südtiroler auf die Nationalitätenfrage anspricht, bekommt man die Antwort, man sei ein deutsch sprechender Italiener und das sei gut so. Im Oktober 2007 aber haben 78% der Bewohner der drei Gemeinden für die Rückkehr zum Südtiroler Kerngebiet gestimmt. Nach Auszählung der Stimmen kündigten fünfzehn weitere Gemeinden an, sie strebten ebenfalls eine Änderung der Verwaltungszugehörigkeit an. Wohlgemerkt, es geht nicht um einen Auszug aus Italien, um künftig wieder Teil von Österreich zu sein. Man wechselt nur innerhalb des italienischen Hoheitsgebiets die Seiten. Und was motiviert die Korrektur der regionalen Zugehörigkeit? Ganz einfach: Die Region Südtirol erhält höhere Zuschüsse aus Brüssel. Überdies ist sie von den Abgaben für den Mezzogiorno befreit. Damit geht es den Tälern der Regio Alto-Adige ökonomisch besser als den angrenzenden Landstrichen. Unter dem politischen Dach der EU ist es heute möglich, sich allein nach wirtschaftlichen Kriterien für einen Wechsel zu entscheiden, der noch vor wenigen Jahrzehnten als Preisgabe nationaler Identität und damit als Verrat gegolten hätte.

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Muss man mehr über die Wirklichkeit Europas im Dasein der Europäer sagen? Oder bedarf es erst der Wachstumszahlen aus Spanien, Portugal, Irland, Polen oder Rumänien, um kenntlich zu machen, wie sehr die EU inzwischen die Lebenslage der Menschen bestimmt? Muss man, wenn man etwa ostdeutsche Zuhörer noch überzeugen müssen sollte, erst auf die Verflechtung der heimischen Wirtschaft mit den Nachbarländern verweisen? Oder sollte man probeweise fragen, ob die Grenzkontrollen wieder eingeführt, der Euro abgeschafft oder auf die Wissenschaftsförderung verzichtet werden soll? Die Antworten dürften eindeutig sein, und sie passen, wie ich glaube, zum wichtigsten Indikator für die fortgeschrittene Verstaatlichung Europas, nämlich zu der Tatsache, dass nicht nur in Brüssel, sondern in allen Haupt- und Regierungsstädten immer mehr Juristen mit dem Spezialgebiet Europarecht benötigt werden. European Law zieht seit Jahren die besten Studenten an und wird der Einfachheit halber, nicht nur in Berlin, sondern auch in Saarbrücken, gleich auf Englisch studiert. Schon die Entstehung des modernen Territorialstaates im 17. und 18. Jahrhundert ging mit dem sprunghaften Anstieg des Bedarfs an Juristen einher. 5. Das Wunder der Realität. An der erstaunlichen Entwicklung Europas zu einem einheitlichen Staatsgebiet verwundern weniger die Details als die Tatsache, dass es überhaupt so weit hat kommen können. Denn wir wissen, die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Kriege. Zwischen den jetzt durch eine Menschenrechtscharta, zahllose Gesetze, einflussreiche Institutionen, eine (gar nicht so große) Behörde und achtzigtausend technische Normen des acquis communitaire verbundenen Staaten und Völkern hat Jahrhunderte lang unablässig Krieg geherrscht. Zwischen einigen von ihnen bestand, wie ich noch Anfang der sechziger Jahre in der Schule lernte, „Todfeindschaft“, und im letzten Jahrhundert haben sich die europäischen Nationen gleich zweimal an den Rand ihrer Existenz gebracht. Zweimal, 1918 und 1945, mussten sie erst durch einen generösen Eingriff von außen vor der Selbstvernichtung bewahrt werden. Und dennoch war es innerhalb einer Generation möglich, ein gemeinsames politisches Haus zu bauen, das neben Wohlstand, Rechtssicherheit, Freizügigkeit und internationalem Ansehen erstmals auch Freiheit und Frieden gebracht hat. Wer das beim Abschluss der Römischen Verträge im Jahre 1957 – oder gar schon bei der Gründung der Europäischen Union für Kohle und Stahl am 18. April 1951 – ernsthaft für möglich gehalten haben sollte, muss entweder ein Gott oder ein Phantast gewesen sein. Rückblickend könnte es sich auch um einen realistisch denkenden Menschen gehandelt haben. Was lässt sich zur Erklärung sagen? Die überzeugendste Antwort liegt gewiss in einem Satz von Jean-Claude Juncker: „Wer an der Europäischen Union zweifelt, der soll einen Soldatenfriedhof besuchen.“ Hier liegt der Schlüssel für den beharrlichen Willen der europäischen Völker. Denn noch nie zuvor waren sie ihrer Vernichtung so nahe; nie zuvor haben das Verbrechen und das Elend

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zweier Kriege so direkt auf die Gemüter gewirkt; nie zuvor wurden die Menschen mit Hilfe einer wachsenden Zahl von Medien so anschaulich und nachhaltig an das Geschehene erinnert. Das also setze ich voraus, wenn ich eine ergänzende Antwort gebe, die weit in die Geschichte zurückführt, und bei der zu beachten ist, dass sie nicht allein eine europäische gewesen ist. 6. Die Politisierung der Menschheit. Die Politik ist älter, als es ihr die Politologen zugestehen. Meist verknüpft man sie mit der Entstehung des neuzeitlichen Territorialstaats, sodass sich auf eine Zeit von maximal vierhundert bis fünfhundert Jahren zurückblicken lässt. Das ist eine viel zu kurze Spanne, um die mehr als viertausendjährige Geschichte der Staatlichkeit zu erfassen. Der umfassende Prozess der Politisierung der Menschheit, der, so zynisch es klingen mag, mit dem Prozess ihrer Humanisierung einhergeht, kommt in der kurzsichtigen Beschränkung auf die Neuzeit gar nicht in den Blick. Althistoriker wissen, dass bereits die Antike konsolidierte Staatsformen kannte. Sie weisen nach, dass die „Entstehung des Politischen“ mit der Entfaltung der griechischen Stadtkultur sowie mit dem Aufstieg der Künste und der Wissenschaften verbunden ist. Geht es jedoch um die Entstehung des Politischen überhaupt, greift auch dies zu kurz. Denn die Politik entsteht mit den frühen Burgsiedlungen in Anatolien, Syrien und Palästina, und sie findet ihre feste Form bereits in den Reichen am Nil und Euphrat – nur wenig später auch am Ganges, am Jangtse und Hoangho. Das allein umfasst einen Zeitraum von mindestens dreitausend Jahren. Jüngste Grabungen lassen vermuten, dass es schon im anatolischen Hochland um das 8. Jahrtausend vor Chr. erste politisch verfasste Siedlungen gegeben hat. Die Politik also kommt, ihrem Ursprung nach, aus dem Nahen Osten. Das könnte für das Gespräch der Europäer mit den Völkern des Vorderen Orients von Bedeutung sein, insbesondere, wenn sie sehen, dass die derzeit überall auf der Welt so bereitwillig aufgenommene Technik bei der Politisierung der Menschheit eine derart herausragende Rolle spielt. Denn am Anfang der Politik stehen ernorme Fortschritte in der technischen Bewältigung des Lebens. Dazu hat insbesondere die jüngere Forschung zahlreiche Belege beigebracht. Hier muss ein Zitat aus dem alttestamentarischen Buch Hiob genügen. Im Kapitel 28 des um 500 vor Chr. geschriebenen Textes wird eine Realität beschrieben, die es bereits um 3000 gegeben haben muss: „Eisen wird aus dem Erdreich hervorgeholt, und Gestein schmilzt man zu Kupfer. Man setzt der Finsternis ein Ende und durchforscht bis zur äußersten Grenze das Gestein der Dunkelheit und Finsternis. Man bricht einen Schacht fern von den [droben] Wohnenden. [. . .] Die Erde, aus der Brot hervorkommt, ihr Unterstes wird umgewühlt wie vom Feuer.“ (Hiob 28, 2–5)

Man darf annehmen, dass die hier mit Hilfe der Technik bis ins Erdreich vorgetriebene Aufklärung nicht die Sache einer bloß priesterlich gelenkten Wis-

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senschaft gewesen ist. Auch der Handel und die Verarbeitung der Erze sowie des edlen Gesteins dürfte nicht allein unter kultischer Leitung gestanden haben. Das gilt auch für die Entstehung des Staates, obgleich Religion und Kultus in ihm lange Zeit eine große Rolle spielen konnten. Zwar kann man sagen, dass sich die Politik bereits in Athen und Rom aus dem direkten Zugriff der Tempeldiener befreit und in autonomer Verantwortung der Bürger betrieben wird. Aber man kennt gerade auch aus der europäischen Geschichte den bis in die Gegenwart beharrlich festgehaltenen Anspruch der Kirchen, die Politik unter ihren Einfluss zu bringen. 7. Die politische Leistung der Technik. Ehe es zur Befreiung der Religion vom Staat kommen konnte, mussten die Staaten gegründet werden. Dazu bedurfte es der Technik und einer entwickelten Ökonomie. Die Entstehung befestigter Reiche und bewehrter Städte zwischen acht- und zweitausend vor Chr. setzte Ackerbau- und Viehzucht voraus. Die erobernden Nomadenstämme verfügten über bestes Kriegsgerät, rasche Kommunikation und eine bewegliche Logistik. Und wo sie durch Unterwerfung einer hoch entwickelten agrarischen Bevölkerung sesshaft wurden, eigneten sie sich auch deren Kenntnisse an. Doch ihre Herrschaft war durch unablässige Innovationen in der Waffentechnik gefährdet, die auf einer permanenten Umwälzung der Metallverarbeitung beruhte, die sich den Fortschritten im Berg-, Schiffs- und Wasserbau verdankte. Pharao heißt ursprünglich: „Herr der Kanäle“. Aber das hat seine Stellung nicht unumstritten gemacht. Der Wechsel der Dynastien und der Umsturz der Reiche erfolgte schnell, was wiederum ein Indiz für das hohe Tempo technischer Veränderungen ist. Mit den technischen Leistungen weiteten sich die Siedlungsräume der Menschen, in denen sie sich nur zur unmittelbaren Gefahrenabwehr verschanzten. Im Übrigen unterhielten sie weitläufige ökonomische und diplomatische Beziehungen zu ihren Nachbarn, unternahmen Reisen bereits zum Zweck der Bildung, für die im Inneren der Staaten durch die Einrichtung von Schulen schon früh eine institutionelle Form gefunden wurde. Alles in allem suchten sie die Wirtschaft zu fördern und den Reichtum zu mehren. Gold hatte damals die Funktion, die heute das Geld übernommen hat. So gesehen, erscheint der Abstand zur Gegenwart der Globalisierung noch nicht einmal besonders groß. Die speziellen Techniken, die dem Staat zu seiner Entstehung verhalfen, sind das Recht und die Schrift. Sie ermöglichten eine arbeitsteilige Verwaltungspraxis, erlaubten die weiträumige Wirkung der Gerichtsbarkeit, verstärkten die symbolische Leistung der Kunst, effektivierten den Handel, aber auch die Arbeit der für die Steuern und Abgaben, für Hofhaltung, Feste und Zeremonien sowie für den Totenkult zuständigen Beamten. 8. Die Produktivkraft Europas. Nicht erst die Staaten verdanken ihre Entstehung einer weit ausgreifenden Technik: Die ganze menschliche Kultur basiert

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darauf. Das ist umso leichter zu verstehen, je mehr es uns gelingt, nicht nur das Recht und die Schrift, sondern auch die Sprache, ja sogar die Ethik zu den Techniken zu rechnen, die der Mensch auf sich selbst zu beziehen versteht. Moral ist die Disziplin, der sich der Mensch in seinem Verhalten unterwirft. Er muss sie einüben, wie den Gebrauch eines Werkzeugs oder die Verwendung der Schrift. „Moral“ besagt zunächst nicht mehr, als dass der Mensch sich berechenbar und verlässlich macht. Kann er darauf Anspruch erheben, kommen Verantwortlichkeit und Wahrhaftigkeit wie von selbst hinzu. Damit ist der für den Beitrag der Europäer zur Geschichte des Politischen entscheidende Punkt erreicht: Mit dem Staat ist die Institution gegründet, die in der Person des Individuums über das für sie unerlässliche Gegenüber verfügt. Die staatliche Organisation mit einem Oberhaupt und vielfältig beamteten Gliedern, durch die sie wahrnehmen, erinnern und handeln kann, ist nach Analogie der Einzelperson konstruiert. Die Organe dieser politischen Organisation sind aus dem Körper gebildet, der aus der Masse des Volkes besteht. Der Staat wird somit nach dem Modell eines sich selbst erkennenden und sich selbst steuernden Menschen verstanden. Doch dieser sich derart selbst zum Modell erhebende Mensch begreift sich wiederum selbst nach dem Modell einer politischen Institution! Er schärft das Verständnis seiner selbst in Relation zu der von ihm getragenen politischen Einrichtung. Er versteht seine widerstreitenden Gefühle und Absichten nach der Art opponierender Parteien, die in seinen eigenen Handlungen zu einem situativen Ausgleich kommen. Gelegentlich lässt er sein eigenes Ich den Vorsitz im Rat seiner unterschiedlichen Gefühle, Absichten und Einsichten übernehmen; wenn er kann, entscheidet er mit seinem Urteil nach der Art eines Richters, oder er setzt seinen eigenen Willen gegen eigene Widerstände nach Art eines Regenten durch. Das heißt: Politische Institution und moralische Person bilden selbst einen funktionalen Zusammenhang. Von beiden wird erwartet, dass sie sich nach Einsichten richten. Beide sind genötigt, Gründe für ihre Entscheidungen zu haben, über ein Gedächtnis zu verfügen, Zwecke zu verfolgen, Absichten zu äußern und Versprechen halten zu können. Beide, politische Institution und moralische Person, sollten so berechenbar sein, dass sie zu dem stehen können, was sie veranlasst, zugelassen oder in Aussicht gestellt haben. Schon diese Aufzählung elementarer Leistungen auf beiden Seiten zeigt, dass der Staat nicht ohne die Person und die Person nicht ohne den Staat zu denken ist. Zwar kennen wir Gesellschaften ohne staatliche Ordnung. Wir sind auch in der Lage, Menschen in einer von jeder Politik unbelasteten Umgebung wahrzunehmen. Aber der Mensch, von dem wir die Verlässlichkeit erwarten, die er im zivilen Verkehr von sich selbst verlangt, hat eine Verfassung, die einer nach technischen Regeln geschaffenen Einrichtung, zu Deutsch: einer Institution, ge-

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nauer: einer politischen Institution und somit dem Staat entspricht. Das braucht schon deshalb nicht zur Selbstentfremdung des Menschen zu führen, weil er es selber ist, der die Institution nach dem Muster seines eigenen Selbstbegriffs errichtet. In diesem Wechselverhältnis haben sich beide, moralische Person und politische Institution, kultiviert. Und es ist die historische Leistung der zweieinhalbtausendjährigen Geschichte der europäischen Politik, diesen Prozess auf der einen Seite bis zu einem autonomen, sich in freier Verantwortung selbst bestimmenden Individuum, auf der anderen aber bis zu einer sich auf der Grundlage der Freiheit nach eigenen Gesetzen selbst bestimmenden und selbst kontrollierenden politischen Verfassung vorangetrieben zu haben. Staatliche Institution und moralische Person haben sich wechselseitig erzogen und in öffentlicher Auseinandersetzung gebildet. 9. Das politische Erbe Europas. Es ist die konstitutive Verbindung von Person und Institution, die in der Politik der Griechen und der Römer erstmals wirklich ernst genommen wird. Sie hat zur Autonomisierung der Politik gegenüber Mythos und Religion geführt, sie hat mit der Idee der (zunächst nur römischen) Republik die Eigenständigkeit des Rechts ermöglicht, hat die Forderung nach dem Ausbau der in aller Politik angelegten Partizipation begünstigt und in der neueren Geschichte zur Transformation des Naturrechts in das Menschenrecht geführt. Die ernst genommene Korrespondenz von Person und Institution wird zum moralischen Motor, der die Dynamik der politischen Entwicklung treibt. Darin liegt die Besonderheit der europäischen Politik in den Jahren zwischen der Beendigung der Königsherrschaft in Athen (um 680 v. Chr.) und dem Abfall der Neuenglandstaaten von der Britischen Krone (um 1780 n. Chr.). Zwar haben die Franzosen in ihrer wenig später in Gang gesetzten und mit amerikanischer Hilfe immerhin zu einem symbolischen Erfolg geführten Revolution von 1789 ihre Politik auf dasselbe grundrechtliche Niveau gehoben. Danach folgen noch etwa zweihundert Jahre europäischer Dominanz – hauptsächlich gegründet auf ihre wissenschaftliche und technische Überlegenheit. Doch es ist nicht nur offenkundig, sondern auch zu wünschen, dass die Vorherrschaft zu Ende geht. Die in Europa aufgekommenen Ideologien des Kommunismus und Rassismus haben diesen Niedergang aufzuhalten versucht. Aber mit dem Jahre 1989 war auch die postrevolutionäre Phase weltgeschichtlicher Retardation vorbei. Seitdem ist Europa nur noch ein Kontinent unter anderen, und es wird mit der Zeit immer auffälliger werden, dass er der kleinste ist. Doch auf dem zerklüfteten eurasischen Westzipfel sind nicht nur Kriege geführt und ferne Länder ausgebeutet worden. Die Politik hat hier vielmehr an sich selbst eine Entwicklung durchexerziert, in der sie sich Schritt für Schritt eigenen Prinzipien unterwerfen musste, die aus der Parallele von eigenständiger

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Person und zuständiger Institution hervorgegangen sind. Sie werden nunmehr überall auf der Welt als unverzichtbar angesehen. Zwar beschränkt sich die Zustimmung zahlreicher Staaten auf verbale Deklarationen. Aber man braucht nur mit jungen Menschen aus China, Indien oder dem Iran zu sprechen, um zu wissen, dass diese Prinzipien in der Form des Menschenrechts zu einem weltweit unverlierbaren Anspruch geworden sind. Je mehr sie in einem Land verweigert werden, umso größer ist die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. 10. Wiederholung auf höherem Niveau. Man wird schwerlich bestreiten können, dass es die Europäer waren, die sich in traumatischen inneren Kämpfen die Einsicht in die Unverzichtbarkeit des Menschenrechts selbst abgerungen haben. Ging es im Streit zwischen Papst und Kaiser zunächst noch um die Wiedergewinnung der erstmals im antiken Athen und im republikanischen Rom praktizierten Autonomie der Politik, so boten die neuzeitlichen Religionskriege am Ende nur noch den Ausweg über die Herrschaft des Rechts. Sie wurde zwar durch die Ideologien des 19. Jahrhunderts, nicht nur durch Kommunismus und Rassismus, sondern auch durch den Nationalismus erneut in Frage gestellt, konnte aber in den rechtsstaatlichen Ordnungen Westeuropas gleichwohl verbindlich gemacht werden. Der moderne Verfassungsstaat garantiert die Freiheit der Individuen durch ein System sich ausbalancierender Prinzipien und Institutionen, zu denen die Wahrung der Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die parlamentarische Repräsentation, die Toleranz und eine alles überwölbende kritische Öffentlichkeit gehören. Wenn diese Regularien heute in Europa als derart selbstverständlich gelten, dass manche es schon für überflüssig halten, sie zu erwähnen, hat das nicht allein mit der dreimaligen Assistenz durch die Amerikaner 1789, 1918 und 1945 zu tun. Es genügt auch nicht, auf die Gründung der Vereinten Nationen zu verweisen, die wesentlich zur Bildung einer selbst an Prinzipien orientierten Weltöffentlichkeit beigetragen haben. Ganz entscheidend war der Aufbau eines innereuropäischen Systems wechselseitiger Verbindlichkeit, zunächst in der Montanunion, dann in der EWG und schließlich in der EU. In den auf manifeste wirtschaftliche Interessen gegründeten Verträgen haben sich die beteiligten Staaten nicht nur an die eigenständige Existenz der anderen, sondern zugleich an die den Vertrag konstituierenden Regeln gebunden. Zugleich waren sie durch den technischen Vollzug der Verträge, also in der alltäglichen Kooperation, zu wechselseitiger Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme genötigt. Prinzipien und handfeste Interessen haben zusammengewirkt und dabei das Netz geschaffen, das Europa trotz der durch nationale und regionale Besonderheiten auftretenden Differenzen zusammenhält. Die Kernphase der staatsförmigen Vereinigung Europas liegt zwischen der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957) und der formellen Gründung der EU (1993). Sie umfasst also einen Zeitraum von weniger als vierzig Jahren.

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In ihr gelang es, auf zwischenstaatlichem Niveau etwas zu wiederholen, was in den Jahrtausenden zuvor im Verhältnis zwischen Institution und Person geschehen ist: So, wie sich Individuen und staatliche Korporation in gegenseitiger Disziplinierung aneinander gebildet haben, so haben sich die beteiligten europäischen Staaten im vertraglich geregelten europäischen Verkehr gegenseitig stimuliert und kontrolliert. Im staats- und völkerrechtlichen Laboratorium Europa hat sich somit erwiesen, dass eine übergeordnete staatliche Organisation mit umfassenden Kompetenzen möglich ist, ohne dass sich die Gründungsstaaten auflösen müssen. Mehr noch: Die fortdauernde Präsenz der Einzelstaaten ist so nötig wie die Existenz von Einzelpersonen in einem Staat. Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Souveränität eines politischen Körpers und der Autonomie der ihn bilden Personen. Wenn die These über die gemeinsame Bildungsgeschichte von Institution und Person richtig ist, dann sind staatliche Souveränität und personale Autonomie wechselseitig aufeinander angewiesen. Eben diese Einsicht stellt sich auch auf dem Niveau zwischenstaatlicher Organisationen ein: Die Eigenständigkeit einer supranationalen Organisation verlangt zwar eine partielle Einschränkung der Souveränität der an ihr beteiligten Mächte, aber sie erfordert keinen Souveränitätsverzicht und schon gar keine Preisgabe ihrer Existenz. Vielmehr gibt es auch hier ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis, das wir seit Langem aus föderalen politischen Ordnungen kennen. 11. Selbstanwendung der Prinzipien. Der geschichtsträchtige Vorgang der europäischen Einigung ist durch zahlreiche Bedingungen begünstigt worden: Auf die Zerrüttung durch den Krieg und die Demütigung durch den wiederholten amerikanischen Eingriff folgte die bleibende Präsenz der Amerikaner, die unter dem Schild der NATO eine atlantische Partnerschaft gewährten. Sie wurde durch die erforderliche Abgrenzung von den Staaten des Ostblocks zur existenziellen Notwendigkeit. Ohne den Druck des Kalten Krieges wäre es vermutlich nicht gelungen, Frankreich in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu halten; zugleich hat die besondere Nähe zwischen England und den USA die politisch zunächst so ungleiche Partnerschaft zwischen Paris und Bonn befördert. Und dass sich England bei aller Distanz zum europäischen Festland dennoch immer stärker mit ihm verband, hat mit dem in eben dieser Zeit erfolgenden Verlust seiner kolonialen Vormacht zu tun. Schließlich darf man nicht vergessen, dass die beispiellose wirtschaftliche Prosperität in den westeuropäischen Ländern das Zusammenwachsen begünstigte. Die staatstragende Rolle von Wissenschaft und Technik ist auch hier für jeden offensichtlich. Allein der Anteil der Technik des Rechts ist gewaltig. Man sollte aber auch nicht unterschätzen, wie wichtig die, meist geringschätzig als „Bürokratie“ abgetane Administration in Europa ist. Schließlich ist die Diszi-

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plin der Politiker zu rühmen, die sich von der Sprachenvielfalt, dem permanenten Reiseaufwand und den schier endlosen Verhandlungsrunden nicht haben schrecken lassen, um ihren Völkern die Zukunft zu sichern. Im Rückblick auf seine wechselvolle Geschichte erscheint Europa somit als ein Laboratorium der politischen Weltgeschichte. Wie in einem geschichtlichen Großexperiment hat es an sich selber durchgespielt, was nunmehr, dank der in Europa entstandenen Wissenschaften und der hier entwickelten Techniken, allen Menschen zur Verfügung steht. Es hat nicht nur im großen Zeitraum einer Antike, Mittelalter und Neuzeit umfassenden Geschichte die Autonomie der Politik so weit entwickelt, dass sie sich in selbst geschaffenen Konstitutionen selbst nach eben den Prinzipien regulieren kann, die ihr erlauben, gleichermaßen individuelle und humanitäre Ziele zu verfolgen. Die Bedeutung dieser praktisch erbrachten Einsicht ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Denn die jetzt entstandene Weltzivilisation ist auf internationale Kooperationen angewiesen. Dem steht, wie man weiß, der nationale Egoismus der Einzelstaaten gegenüber. Tatsächlich kann man von niemandem verlangen, sich selber aufzulösen. Auch hier gilt die Parallele von Person und Institution. Wenn nun aber das Beispiel der europäischen Vereinigung zeigt, dass selbst der Aufbau einer gemeinsamen, die Mitglieder verbindlich integrierenden Organisation nicht zur Auflösung, sondern sogar zur Verbesserung ihrer Leistungen führen kann, kann das die Motivation zur internationalen Organisation nur verbessern. So könnte Europa durch das fortgesetzte Experiment mit seiner autonomen politischen Organisation zum Exempel eines weltweit fortgesetzten Einigungsprozesses werden. 12. Europa als Nabel der Selbstkritik. Die Rede vom „Laboratorium Europa“ könnte den Verdacht auf sich ziehen, hier werde einer neuen Variante des „Eurozentrismus“ das Wort geredet. Doch davon kann schon deshalb keine Rede sein, weil die vermeintliche Diagnose des „Eurozentrismus“ als Ganze in die Irre geht. Natürlich ist der Kolonialismus verwerflich. Der Imperialismus, wo immer er von Europa ausgegangen ist, fordert weltweit Kritik heraus. Man darf aber nicht übersehen, dass die härteste Abrechnung mit den Maßlosigkeiten europäischer Herrschaftsansprüche stets zum jeweils frühesten Zeitpunkt von den Europäern selber vorgetragen worden ist. Der erste uns bekannte Griff nach der Weltherrschaft durch Alexander den Großen hat bei den Opfern in Persien, Indien und Ägypten nicht nur Widerstand, sondern auch Einspruch ausgelöst. Doch die schärfsten intellektuellen Opponenten hielten ihre Reden in Athen. Das Gleiche gilt für den Imperialismus der Römer, über den wir heute nicht eben wenig von den Philosophen, Historikern und Satirikern erfahren, die in Rom geschrieben haben. Der kalt berechnete Völkermord, der mit dem Segen des Heiligen Stuhls die Kolonisierung der Neuen Welt durch die spanische Miliz ermöglichte, wurde

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zeitgleich durch spanische Mönche so hellsichtig und grundlegend erörtert, dass wir aus ihren Schriften die ersten Formeln für die Ansprüche des Menschenrechts herleiten können. Wenig später entwarf der in der grausamen Realität des dreißigjährigen Krieges zum Dauerflüchtling gewordene Hugo de Groot ein humanitäres Friedensrecht, das zwar auf die Realität des politischen Geschäfts bezogen war, aber gleichwohl die denkbar größte Alternative zur Destruktivität der Staatenwelt bot. So ließe sich fortfahren, um mit Montesquieu, Rousseau oder Kant die bis heute lebendige Kolonialismuskritik der Europäer in Erinnerung zu rufen. Romantik und Positivismus setzen die Selbstkritik Europas auf ihre Weise fort. Am Werk und an der Wirkung von Marx und Engels ließe sich zeigen, dass sich romantische und positivistische Impulse in der immer wieder neu einsetzenden Selbstabrechnung der Europäer zwanglos, wenn auch nicht immer zutreffend verbinden. Die wenigen Hinweise müssen genügen, um kenntlich zu machen, dass sich die Europäer wiederholt in grundsätzliche Distanz zu sich selbst begeben haben. Wie keine uns bekannte andere Kultur hat sich die europäische immer wieder selbst in Frage gestellt und sich eben damit auf den Weg gebracht, der nachträglich als Fortschritt des Rechts oder sogar der Kultur erscheint. Jeder einzelne Akt des radikalen Widerspruchs aber war, man denke nur an die Reformation oder Französische Revolution, eine existenzielle Herausforderung mit unabsehbaren Konsequenzen. Man riskierte das Ganze im Interesse einer für grundsätzlich gehaltenen Einsicht, kam aber in keinem einzigen Punkt zu genau dem Ergebnis, das man sich und anderen versprochen hatte. Im Rückblick erscheint es wie ein permanentes Experiment: Es war und ist ein Großversuch mit offenem Ausgang. 13. Pathos für das Andere. Die selbstkritische Obsession Europas hängt mit ihrer Neugier für andere Kulturen auf das Engste zusammen. Europäer sind offen für das Andere, das ihnen gerade deshalb nicht als das (heute von so vielen für konstitutiv gehaltene) „Fremde“ erscheint. Sie kannten das Fremde aus nächster Nähe, vornehmlich von und an sich selbst; dazu brauchten sie nicht in abgelegene Weltgegenden zu reisen. Wenn sie trotzdem mit dem größten Interesse Erkundungsreisen absolvierten, dann geschah es, um sich mit dem Anderen vertraut zu machen. Sie verfassten Reiseberichte, schrieben die Geschichte anderer Völker und Königreiche und suchten sich zielstrebig die so explorierte Welt anzueignen. „Nichts Menschliches“, so zitierten die modernen Europäer ihre antiken Vorbilder, „sei ihnen fremd.“ Mit Menander, Terenz, Seneca und Augustinus erschien ihnen das Andere gerade nicht als das Fremde, denn es gehörte zum Ganzen der Welt, in der sie sich heimisch fühlten. Auch wenn in der kopernikanischen Welt das Zentrum der Bewegung verloren ging und die Räume ins Un-

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ermessliche wuchsen, haben die neuzeitlichen Autoren den Kosmos nicht viel anders betrachtet. Denn er blieb für sie, was er schon für die Griechen war: ihr Lebensraum. In dieser Überzeugung konnten die Europäer die anderen Kulturen immer auch als Objekt ihres Wissens und ihrer Wissenschaft begreifen. Sie haben die ihnen interessant erscheinenden Güter aus fernen Ländern gesammelt, beschrieben und ausgestellt; sie haben sie als Teile eines Weltzusammenhangs angesehen, dem sie im Ganzen und mit allen Anderen zugehören wollten. Gewiss, das hat sie nicht nur zu Entdeckern, sondern auch zu Eroberern sowie zu Kunst- und Grabräubern gemacht. Aber sie wollten die gestohlenen Güter, so viel private und nationale Begehrlichkeiten im Spiele waren, immer auch wissenschaftlich erfassen, künstlerisch gestalten und museal bewahren. Viele der auf diese Weise erhaltenen Fundstücke sind überhaupt nur dadurch dem Gedächtnis der Menschheit erhalten geblieben. Kurz: Was immer die Europäer sonst auch waren, sie haben mit einem offenen Blick für andere Kulturen gelebt. „Eurozentrismus“ kann man das nicht nennen. 14. Die Kraft aus dem Gegensatz. Um „Eurozentrismus“ handelt es sich auch deshalb nicht, weil Europa nie einen in sich ruhenden Mittelpunkt besaß. Die Zentren wechselten und die Unterschiede blieben groß, auch wenn kenntnisreiche Beobachter noch heute überall die Schatten Roms erkennen. Darüber darf man aber nicht vergessen, dass die gebildeten Römer der späten Republik und der frühen Kaiserzeit sich an Athen orientierten. Ihre Nachfahren waren genötigt, sich Ravenna und Byzanz zu fügen. Ehe sich Rom wieder erholte, standen Mailand und die Klosterstandorte der Cluniazenser im Vordergrund. Für die nachfolgenden Jahrhunderte ließen sich Paris, Köln, Oxford, Florenz, Madrid, London, Basel, Amsterdam, Wien oder Berlin aufzählen. Mit Blick auf die Wendepunkte der Geistesgeschichte kann man Prag, Wittenberg oder Zürich ergänzen. Heute darf man Brüssel und Straßburg für Zentren halten. Wichtiger als die geographische Vielfalt ist der in den Zentren herrschende geistige Widerspruch nicht nur zur Peripherie und zu konkurrierenden Metropolen, sondern in ihrem eigenen Machtgefüge. Familien, Gruppen, Klassen und Parteien standen gegeneinander; hinzu kam der Widerstreit der Schulen, Theorien und Religionen. Die europäische Kultur hat sich in Gegensätzen entwickelt. Sie hat ihre Kräfte in der Opposition gegen die eigenen Kräfte entwickelt und ist eben dadurch immer wieder über sich hinausgewachsen. Auch in seinem Selbstbezug hat sich der europäische Geist von Anfang an in Widerspruch zu sich selbst gesetzt. Platons Dialoge vermitteln davon bereits einen komprimierten Eindruck, woraus sich schließen lässt, wie alt der innere Antagonismus des rationalen Denkens ist. Auf Platon, der den Sophisten widersprach, folgte der aristotelische Einspruch gegen ihn, der sich bereits in einer Vielfalt sokratischer Schulen behaupten musste. Die nachfolgende Philosophie

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der Antike bewegte sich zwischen den Gegensätzen der Akademiker und der Peripatetiker, der Epikureer, der Stoiker und der Kyniker. Darauf folgte die Auseinandersetzung mit der christlichen Botschaft, die sich selbst sogleich in Gegensätzen ausgeprägt und auf die spätantiken Neuplatoniker zurückgewirkt hat. Die Oppositionen verschärften sich durch die Konflikte mit der germanischen Kultur und wurden durch die Kirchenspaltung zwischen Byzanz und Rom verdoppelt. Mit dem Erstarken der jüdischen Mystik und den gleichzeitig erfolgenden Vorstößen islamischer Eroberer kam es zum Grundsatzstreit über die Religion, der bereits im Vorfeld der Reformation geführt worden ist. Was danach an unablässigen Kontroversen über den rechten Glauben folgt, ist beispiellos. Wäre die Suche nach dem gottgefälligen Bekenntnis nicht mit so großem Ernst verbunden, könnte man von einer schier unerschöpflichen Lust an der Unterscheidung sprechen. Zwischen 1517 und 1648 kommen mehr als fünfzig neue Konfessionen hinzu. Doch belassen wir es bei der Feststellung, dass es die Einheit Europas ohnehin nur in Gegensätzen gab und gibt. Über einen großen Zeitraum hinweg erzeugen sie das Spannungsfeld, in dem sich das europäische Experiment mit seiner politischen Kultur entfalten kann. Man kann zeigen, dass es seit dem ersten Versuch mit der Demokratie in Athen über die in der Neuzeit immer wieder als vorbildlich angesehenen Erfahrungen mit der altrömischen Republik bis hin zur konstitutionellen Demokratie unter dem Schutz des Menschenrechts ein Ergebnis gezeitigt hat, das für den Aufbau einer politischen Weltgemeinschaft wegweisend ist. Deshalb spricht, zumindest aus europäischer Perspektive, alles dafür, es mit dem weiteren Ausbau der Europäischen Gemeinschaft fortzusetzen. 15. Laboratorium der Weltgeschichte. Der Ausgang des kontinentalen Experiments war so unsicher, wie es bei Experimenten am lebendigen Leibe gar nicht anders sein kann. Um ein Haar wäre es, wie die Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beweist, in einer alles mit sich fortreißenden Katastrophe geendet. Aber die von europäischen Prinzipien ausgehende Politik der Amerikaner hat dies verhindert. Nur dadurch hatten wir noch einmal eine Chance zur Fortsetzung des geschichtlichen Großversuchs. Er wurde mit dem Aufbau der Europäischen Union verheißungsvoll begonnen. Nun dürfen wir die darin liegende Chance nicht durch die europäische Krankheit der Kleinstaaterei gefährden. Vielmehr haben wir die weiterhin lebendigen Gegensätze und Widersprüche der Regionen und der Individuen zum Aus- und Aufbau des europäischen Hauses produktiv zu machen. Dabei kann uns die Tatsache helfen, dass der Generationen übergreifende Dauerversuch im Laboratorium Europa uns nicht nur ein Kaleidoskop fortlaufender Ereignisse, sondern geschichtliche Leistungen hinterlassen hat, die uns in der Form der Technik, des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst und einer sich endlich ihrer Grenzen bewussten Religion weiterhin zu unserer Verfügung stehen.

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III. Beiträge zum politischen Zeitgeschehen und zur politischen Praxis

Sie sind mit Einsichten verbunden, die wir an Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit, der personalen Würde, des Menschenrechts und der Menschlichkeit binden. In und mit ihnen hat sich jeder Anspruch auf eine führende Rolle in der zivilisatorischen Entwicklung von selbst erledigt. Wenn es Europa ernst mit den Grundrechten ist, wenn es versucht, den Humanismus als Leitkultur zu begreifen, dann kann es gar nicht wollen, immer noch das Zentrum zu sein. Was es aber wollen kann, ist, dass sein fortgesetztes Experiment von anderen als exemplarisch begriffen werden kann. Es wäre ein Missverständnis, die Rede vom Laboratorium Europa als eine neue Mittelpunktsvision einer machtverliebten politischen Klasse anzusehen. Der bewusst aus wissenschaftlich-technischen Zusammenhängen genommene Begriff ist vielmehr auf Abschied von den weltpolitischen Hoffnungen der Europäer und auf Ernüchterung angelegt. Im Bewusstsein prinzipiell unabschließbarer Erkenntnis haben die Europäer in mehr als zwei Jahrtausenden mit sich selber experimentiert und sich dabei als Stellvertreter der Menschheit begriffen. Aus der Stellvertretung haben sie einen Missionsauftrag abgeleitet, der nun definitiv erloschen ist. Sie können sich jetzt nur noch als Beispiel begreifen, das sie sich selber geben – so wie jeder ein Beispiel für die Menschheit in seiner Person zu sein hat. Wer Anderen dabei zum Vorbild wird, kann daraus keine Ansprüche ableiten. Er kann nur beglückt feststellen, dass man ihn versteht. Das Exemplarische im Bewusstsein der eigenen Freiheit existenziell zu leben, ist der Grundgedanke des existenziellen Liberalismus.

Nachweis der Erstdrucke Metaphysik und Politik. In: Baier, Horst (Hg.), Helmut Schelsky – ein Soziologe in der Bundesrepublik, Stuttgart 1986, S. 93–113. Die Politik und das Leben. Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität vom 30.6. 1993. In: Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität, Heft 19, Berlin 1994, S. 3–32. Politisches Handeln. Über einen Zugang zum Begriff der Politik. In: Gerhardt, Volker (Hrsg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 291–309. Person und Institution. Über eine elementare Bedingung politischer Organisation. In: Klemme, Heiner F./Ludwig, Bernd/Pauen, Michael/Stark, Werner (Hg.), Aufklärung und Interpretation. Studien zu Kants Philosophie und ihrem Umkreis, Würzburg 1999, S. 231–248. Tod und Politik. Über eine grundlegende Bedingung der politischen Welt. In: Fischer, Peter (Hg.), Freiheit oder Gerechtigkeit. Perspektiven Politischer Philosophie, Leipzig 1995, S. 40–69. Politischer Humanismus. Skizze eines Programms. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Bd. 2, 2003, S. 47–65. Die Lehre von der Verfassung – Politische Theorie in Platons NOMOI. Elektronische Publikation in: Solons Freunde e.V. (Hg.), www.solon-line.de Ideen-Diskurs & Strategische Lage. 02.01.2008, Wiesbaden, 16 S. (http://www.solon-line.de/content/ view/391/1/). Eine kritische Theorie der Politik. Über Kants Entwurf Zum ewigen Frieden. In: Kodalle, Klaus-Michael (Hg.), Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit. Kritisches Jahrbuch der Philosophie 1, 1996, S. 5–20. Vernunft aus Geschichte. Cassirers historisch-rationale Anthropologie am Beispiel seiner Politischen Philosophie. In: Braun, Hans-Jürg/Holzhey, Helmut/Orth, Ernst Wolfgang (Hg.), Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankf./M. 1988, S. 221–247. Existentieller Liberalismus. Zur Konzeption der Politik bei Karl Jaspers. In: Wiehl, Reiner/Kaegi, Dominic (Hg.), Jaspers – Philosophie und Politik, Heidelberg 1999, S. 97–113. Politik und Existenz. Eric Voegelins Suche nach der Ordnung in uns selbst. In: Philosophische Rundschau, Bd. 48, 2001, S. 177–195. Der organisierte Sinn. Politik und Anthropologie bei Eric Weil. In: Mohr, Georg/Siep, Ludwig (Hg.), Eric Weil – Ethik und politische Philosophie, Berlin 1997, S. 123– 146.

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Nachweis der Erstdrucke

Eine politische These, kein philosophischer Satz. Über die 11. These „ad Feuerbach“ von Karl Marx. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Bd. 4, Heft 2, 1995, S. 175–191. Es kommt darauf an. Nachtrag zu einem Anschlag. In: Gerhardt, Volker (Hg.), Eine angeschlagene These. Marx’ 11. These „ad Feuerbach“. Ringvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996, S. 283–291. Europa – Die politische Wirklichkeit einer Idee. Eine Verteidigung gegen intellektuelle Skepsis. In: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, Heft 7, Juli 1998, S. 638–643. Menschenrecht und Rhetorik. In: Brunkhorst, Hauke/Köhler, Wolfgang R./ Lutz-Bachmann, Matthias (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, Frankf./M. 1999, S. 20–40. Laboratorium Europa. In: Merkur, Heft 706, 62. Jahrg., 2008, S. 218–232.