Liberalismus. Traditionsbestände und Gegenwartskontroversen 9783848739073, 9783845282336

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Liberalismus. Traditionsbestände und Gegenwartskontroversen
 9783848739073, 9783845282336

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Schriftenreihe der Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft Herausgegeben von Prof. Dr. Ina Kerner Prof. Dr. Regina Kreide Band 37

Karsten Fischer | Sebastian Huhnholz (Hrsg.)

Liberalismus: Traditionsbestände und Gegenwartskontroversen

Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung zu den ökologischen Menschenrechten auf europäischer und verfassungsrechtlicher Ebene

Nomos

Die dem Band vorgängige Tagung wurde mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung finanziert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-3907-3 (Print) ISBN 978-3-8452-8233-6 (ePDF)

1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhaltsverzeichnis

Liberalismus heute: Zwischen Tradition und Selbstbehauptung Karsten Fischer & Sebastian Huhnholz

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Teil I: Ideengeschichtliche Traditionsbestände Neubestimmungen von Liberalismus bei Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill und Karl Marx Harald Bluhm Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte? Der Konstitutionalismus und die prekären Grundlagen politischer Ordnung Hans Vorländer Judith N. Shklar über die Quellen liberaler Normativität Hannes Bajohr

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Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung? Zur ideengeschichtlichen Bedeutung des Weimarer Erbes Jens Hacke

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Unwahrscheinliche Weggefährten: Gehaltvoller Liberalismus bei Dahrendorf und Habermas Matthias Hansl

121

Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie Astrid Séville

151

Das politische Denken des Neoliberalismus Thomas Biebricher

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Inhaltsverzeichnis

Teil II: Gegenwärtige Kontroversen Welche Märkte, wessen Wirtschaft? Das Rechtfertigungsnarrativ des Marktes und die vernachlässigte Rolle wirtschaftlicher Organisationen Lisa Herzog

195

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern? Andreas Cassee

217

Inklusion oder Exklusion. Zur Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit Thomas M. Schmidt

245

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus Reinhard Schulze

257

Autoritärer Liberalismus Hauke Brunkhorst

291

Feminismus – eine regulative Idee Tatjana Schönwälder-Kuntze

315

„Der Mensch ist Herr, nicht Eigentümer seiner selbst“. Kants Kritik des Selbsteigentumsgedankens Michael Schefczyk

337

Weder eine bürgerliche Ehe noch eine perverse Wahlverwandtschaft. Von Liberalismus und Frauenbewegung zu Neoliberalismus und Postfeminismus 359 Cornelia Klinger Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus. Eine Verteidigung am Beispiel gerechter Bildungspolitik Julian Culp

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Die Autorinnen und Autoren

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Liberalismus heute: Zwischen Tradition und Selbstbehauptung Karsten Fischer und Sebastian Huhnholz

Anders als fast alle anderen politischen Strömungen ist der Liberalismus keine auf modernen Zeitgeist zurückführbare Ideologie. Er wurzelte in sehr frühen und grundlegenden Liberalitätsstrukturen und -überzeugungen,1 bevor er, in den politischen Theorien Lockes und Montesquieus entwickelt, in der Französischen Revolution propagiert und durch ihren Terror sogleich auch verraten worden ist. Nach seiner anschließenden Wiederbelebung und systematischen Weiterentwicklung durch Kant, Constant, Tocqueville, John Stuart Mill und viele andere ist ihm ein beispielloser Erfolg in den westlichen Demokratien gelungen, dessen Ausmaß insbesondere auch daran zu ermessen ist, dass wesentliche Elemente des politischen Liberalismus breite Zustimmung in den Bevölkerungen und in allen Parteien diesseits des links- und rechtsradikalen Spektrums erlangt haben. Aus politiktheoretisch-normativer Sicht zählen zu diesen Kernelementen: der Verzicht auf die potentiell repressive Politisierungs- und Tugendversessenheit des klassischen Republikanismus; die Akzeptanz der Kantischen Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität, derzufolge der liberale Staat nicht mehr verlangen darf als das Befolgen seiner Gesetze; der entsprechende Vorrang rechtsstaatlicher Institutionen gegenüber idiosynkratischen Intentionen sowie die von Furcht vor sozialer Desintegration freie Förderung von gesellschaftlichem Pluralismus und der unbedingte Vorrang des universalistischen Individualismus im Sinne des von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ausgerufenen individual pursuit of happiness, aus dem sich zumal auch wohlfahrtsstaatliche Verpflichtungen ergeben. Diesbezüglich macht Duncan Bell starke historische Schwankungen geltend und betont, dass diejenigen, die man als altehrwürdige ideenpolitische Paten des Liberalismus betrachte, gewöhnlich eher das Gegenteil waren: Newcomer der intellektuellen Szene des 19. beziehungsweise Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, vor allem aber für den antitotalitären Konsens der ____________________ 1

Vgl. Fischer, Das Paradox der Autonomie und seine Entfaltungen; Rosenblatt, The Lost History of Liberalism.

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Karsten Fischer und Sebastian Huhnholz

westlichen Nachkriegszeit selektiv rezipierte Klassiker. Wie schon der Begriffshistoriker Jörn Leonhardt zieht Bell daraus den Schluss, dass der Liberalismus keine klare Essenz aufweise. Was liberal bedeute, sei jeweils entsprechend diskursiv zu bestimmen.2 Insofern ist der Liberalismus immer mehr gewesen als eine selbstverständliche oder gar die einzige „politische Normalphilosophie der bürgerlichen Gesellschaft“.3 Vielmehr war und bleibt er stets herausgefordert nicht nur von antiliberalen Anschauungen, deren politiktheoretische Gestalt im 20. Jahrhundert von Leo Strauss’ Elitismus über Carl Schmitts faschistischen Totalitarismus bis hin zu Alasdair MacIntyres Kommunitarismus reicht,4 sondern auch von Abirrungen, wie sie jene libertäre Schwundstufe eines gesellschaftsvergessenen, ökonomistischen laissez-faire darstellt,5 die mit dem politischen Liberalismus der vorstehend skizzierten Traditionslinie keinerlei Übereinstimmung aufweist.6 Wenn es heutzutage, 30 Jahre nach den politischen Liberalisierungen in Mittel- und Osteuropa,7 erneut „überraschend ungewiss“ ist, ob „liberale Demokratien überleben“, und gleichwohl „die politische Theorie ihren Lesern fast nur die Wahl zwischen liberalen Normalisten und apokalyptischen Ausnahmetheoretikern, sozusagen zwischen Rawls und Agamben, lässt, die zu der jeweils anderen Seite des Problems nichts zu sagen haben“,8 ist diese Krise eine Herausforderung erster Ordnung für das Fach. Die Politische Theorie ist bislang aber noch nicht grundsätzlich über die Kommunikation der neu entwickelten Unzufriedenheit mit der von ihr selber so lange gepflegten Orientierung an John Rawls’ liberaler Gerechtigkeitstheorie hinausgekommen. Statt dessen neigt sie nun selbst zu nicht selten pauschalen Angriffen auf den Politischen Liberalismus. Wahlweise werden ihm seine inhaltliche Offenheit,9 sein Schweigen zu komplexeren Krisenphänomen,10 seine Unfähigkeit zu deren Lösung,11 sein „die Selbst____________________ 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

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Bell, What Is Liberalism?; Leonhard, Liberalismus. So aber Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, S. 58. Vgl. Holmes, Anatomie des Antiliberalismus. Vgl. Keynes, Das Ende des Laissez-Faire. Vgl. Holmes, Passions and Constraint. Dazu Krastev/Holmes, Das Unbehagen an der Nachahmung; Assmann, Let’s Go East! Möllers, Wir, die Bürger(lichen), S. 5f. Vgl. Bell, What Is Liberalism? Vgl. Kreide, Das Schweigen des politischen Liberalismus. Vgl. Schaub, Luftschloss Liberalismus.

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verhältnisse von Subjekten“ transformierender Anspruch auf Alleingültigkeit der liberalistischen Selbstbeschreibungsperspektive12 oder seine zu Entpolitisierung neigende Ausrichtung13 unterstellt und vorgeworfen – und damit sind erst wenige Beispiele gegeben. Die Kritikfreude kann sich in dekontextualisierte Sozialphilosophie steigern,14 oder gar zu einer antiliberalen Kritik individueller Rechte werden, etwa wenn von Christoph Menke die liberale Rechtsform einer eigentümlich geschichtsvergessenen Kontrastierung mit politischer Emanzipation ausgesetzt wird,15 als ob der lange und schwere Kampf um Individualrechte seit der Magna Carta Libertatum von 1215 und dem Habeas Corpus Act von 1679 nicht Anliegen und Erfolg historischer Emanzipationsbewegungen gewesen wären, ohne die weder die moderne Demokratie noch die sozio-ökonomischen Aspirationen des Marxismus hätten entstehen können.16 Besonders markant werden einige Defizite der liberalismuskritischen bis antiliberalen Gesellschaftskritik im Fall von Jean-Claude Michéa. Dessen erst verzögert ins Deutsche übersetzter Essay L’Empire du moindre mal zielt auf Radikalisierung und richtet sich gegen die angeblich „bei den meisten derzeitigen Linken und Linksradikalen“ verbreitete, vermeintliche Illusion, „den politischen und kulturellen Liberalismus (als grenzenloses Fortschreiten des Rechts und permanente Liberalisierung der Sitten) vehement vom wirtschaftlichen Liberalismus abzugrenzen.“17 Der gegenwärtige Liberalismus ist für Michéa ein Einheitsprojekt, dessen Ausdifferenzierungen in Form des nationalen oder sozialen Liberalismus nur vorübergehende, allenfalls taktisch nützliche Abweichungen seien, denn der Liberalismus der Gegenwart sei „die einzige historische Gestalt, zu der sich die ursprüngliche liberale Doktrin konkret entwickeln konnte. Sie ist, mit anderen Worten, der real existierende Liberalismus.“18

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Vogelmann, Liberale Subjekte, S.89. Vgl. Marchert, Liberaler Antipopulismus. Vgl. Honneth, Das Recht der Freiheit; vgl. Möllers, Frei macht, was ohnehin geschieht. Menke, Kritik der Rechte. Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung. Michéa, Das Reich des kleineren Übels. Zur Abgrenzung selbst siehe Wagner, Ökonomischer Liberalismus aus der Perspektive des politischen Liberalismus, sowie ders., Ökonomischer Liberalismus als politische Theorie. Ders., Reich des kleineren Übels, S. 14.

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Michéas konkrete Kritikpunkte sind dabei altbekannt: Kommodifizierung des Privatlebens, Abschottung der Politik, Kommerzialisierung der Öffentlichkeit und Verzicht auf kollektive Moral. Aber seine ideengeschichtlich abwegige Einheitsthese mit dem Versuch, die Diskreditierung des Sozialismus nach 1989 auf den Liberalismus auszudehnen, hat einen verschwörungstheoretischen Gehalt, der verständlich macht, weshalb Michéa von Marine Le Pen als „philosophe percutant“ gepriesen worden ist.19 Solche Wahlverwandtschaften zu ignorieren oder zu beschönigen wäre nichts weiter als ein politisches Hasardspiel mit neofaschistischen Strömungen, das angesichts jahrzehntelanger Bemühungen um politische Korrektheit im Interesse von Vergangenheitsbewältigung und Emanzipation nicht nur ironisch, sondern geradezu tragisch wäre. Die sich offenkundig ausbreitende Neigung, im Trüben antiliberaler Stereotype zu fischen, um dem Überdruss an einst paradigmatischen Sozialphilosophien abzuhelfen, sollte jedenfalls nicht die immer noch aktuelle Einsicht beeinträchtigen, dass sich die Extreme ähneln: Les extrêmes se touchent. So ist der Liberalismus zur beinahe beliebigen Projektionsfläche eines vielschichtigen Unbehagens an den Dynamiken der Moderne avanciert; sein „Sündenregister“ wirkt „lang“.20 Derzeit scheint es kaum einen liberalen Topos zu geben, der sich nicht Zweifeln an seiner Funktionalität und Integrität ausgesetzt sähe. Schon die Reihe der dem Liberalismus typischerweise zugeschriebenen konkreten Probleme war in den vergangenen Jahrzehnten nicht klein. Dazu gehören fast standardmäßig eine Zunahme einer Bürokratisierung sozialer Lebensbereiche durch exzessive Verrechtlichung, eine gefühlte Ritualisierung repräsentativer Verfahren und damit einhergehende „wutbürgerliche“ Frustration gegenüber etablierten Routinen des Parlamentarismus,21 eine Ökonomisierung sozialstaatlicher Institutionen und eine Privatisierung öffentlichen Raums. Zu wenige Antworten scheint der Liberalismus aber auch angesichts des dramatischen Zweifels am Versprechen der Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit zu bieten. Die sozialwissenschaftliche Literatur unserer Zeit verweist jedenfalls immer deutlicher auf eine quasi-feudale Allokation gesellschaftlicher Wohlstandsgewinne und eine demokratiegefährdende Krisenhaftigkeit ihrer vermeintlich oder tatsächlich marktwirtschaftlichen Voraussetzungen.22 ____________________ 19 20 21 22

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Le Pen, Pour que vive la France, S. 113. Heidbrink, Für einen nüchternen Liberalismus, S. 209-225. Dazu jüngst Meinel, Vertrauensfrage. Statt vieler siehe Mau/Schöneck, (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten.

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Genauer besehen ist dennoch nicht nachvollziehbar, warum gerade liberale Annahmen und Normen ein besonders naheliegendes Ziel polemischer Angriffe sind und ihnen gegenüber immer in der Defensive bleiben. Das geradezu klassische Beispiel hierfür ist Carl Schmitt, dessen legendärer Antiliberalismus zwar wenig theoretische Argumente bereithielt, doch „mit unübertroffenem Sinn für Überholtes“23 den Liberalismus als schwächliches Ordnungsmodell verspottet hat, das auf die Frage Christus oder Barrabas? nur mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Untersuchungskommission hätte antworten können.24 Selbst wenn dem so sein sollte, ist es ja gerade eine Stärke des Liberalismus, gegenüber religiösen und paganen Wahrheitsansprüchen skeptisch zu sein und nicht leichtfertig mit seinen Urteilen umzugehen, schon gar nicht in Fragen von Leben und Tod. Wer jedenfalls „sorgsames Erwägen als memmenhaft abtun zu können glaubt“, schreibt die Wirtschaftshistorikerin Karin Horn angesichts der neueren reaktionär-populistischen Aushöhlung der „liberalen Szene“ in Deutschland, der „strebt nicht nach Erkenntnis, sondern maßt sich an, schon alles zu wissen.“25 Genau dies aber wäre zutiefst antiliberal,26 denn der Liberalismus unterscheidet sich von anderen Strömungen politischen Denkens schon dadurch, dass er ein Resultat sozialer Evolution ist,27 insofern er Gestaltungsoptionen für die von Habermas begründete Pluralität gleichermaßen legitimer Lebensformen unter Bedingungen posttraditionalen, nachmetaphysischen Denkens bietet.28 Solche Einsichten zu erinnern, zu begründen, zu reflektieren und zu diskutieren bedeutet mitnichten, Schwächen und Fehlentwicklungen innerhalb des liberalen Paradigmas zu leugnen oder die Diskussion und Umsetzung von Reformen blockieren zu wollen – doktrinäre Selbstimmunisierung wäre ja auch antiberal. Dies gilt zumal für Erblasten. Zuvorderst bedarf es des Eingeständnisses der dunklen Seite des Liberalismus in puncto seiner Komplizenschaft mit dem historischen Kolonialismus und dessen Folgen. Nicht nur hat die interne Ausbildung liberaler Strukturen die westlichen Staaten keineswegs an ____________________ 23 24 25 26 27 28

Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 333. Schmitt, Politische Theologie, S. 66. Horn, Die rechte Flanke der Liberalen, S. 20. Vgl. Fischer, Liberaler Agnostizismus. Vgl. Bellamy, Liberalism and Modern Society. Vgl. Habermas, Nachmetaphysisches Denken.

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kolonialistischen und imperialistischen Praktiken gehindert. Vielmehr betrifft dieser Sündenfall auch die ureigensten Theorien wesentlicher Vordenker des politischen Liberalismus, wie etwa diejenigen von John Locke, James Madison, Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill mit ihren kolonialistischen oder teilweise sogar rassistischen Verstrickungen,29 so dass sogar zentrale liberale Errungenschaften unter dem Schatten ihrer realgeschichtlichen Kontexte und Instrumentalisierungen stehen.30 Eine Aufarbeitung dieses Gesamtkomplexes diskursiver Praktiken im Sinne Foucaults ist trotz einiger einschlägiger Arbeiten immer noch ein Desiderat, zumal in Deutschland und hinsichtlich des sogar in den Arbeiten Kants vorfindlichen, rassistischen Gedankenguts,31 wobei wiederum auch der Satz Adornos zu bedenken ist, dass sich „im Nachleben der philosophischen Werke, der Entfaltung ihres Gehalts“ stufenweise das, was sie ausdrücken, von dem befreit, „was sie bloß dachten“.32 Kaum minder aufklärungsbedürftig ist der Umstand, dass der Liberalismus nach rund drei Jahrhunderten der Ablehnung eines libertären laissezfaire seine Resilienz gegenüber dessen Theorie und Praxis eingebüßt zu haben scheint und damit nicht nur seine Unterscheidbarkeit vom so genannten Neoliberalismus riskiert, sondern vor allem seine politische und lebensweltliche Glaubwürdigkeit.33 Denn eine finanzkapitalistische Verabsolutierung der Geldwirtschaft und eine quasi-feudale Erbschaftsverteilung gehen heute ____________________ 29

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Vgl. u. A. Tully, An Approach to Political Philosophy; Parekh, Liberalism and Colonialism; Arneil: John Locke and America; Mehta, Liberalism and Empire; Armitage, John Locke, Carolina, and the Two Treatises of Government; Morefield, Covenants without Swords; Pitts, A Turn to Empire; Bohlender, Demokratie und Imperium; Einhorn, American Taxation, American Slavery; Losurdo, Liberalism; Muhtu, Empire and Modern Political Thought; Bell, Essays on Liberalism and Empire; Müller, Liberale Kanibalisierung; Ince, Colonial Capitalism and the Dilemmas of Liberalism; Därmann, Damnatio ad bestias in Nordamerika. Vgl. Vasilache, Fixing Missions; Moyn, Imperialismus, Selbstbestimmung und der Aufstieg der Menschenrechte. Vgl. den Überblick zu dieser breiten Debatte bei Huhnholz, Krisenimperialität. Vgl. Sutter, „Kant und die Wilden“; Hentges, Die Erfindung der „Rasse“ um 1800; Mills, Kant’s Untermenschen; Leutgöb, Der Begriff Race und seine wissenschaftlichen Wurzeln bei Immanuel Kant; McCarthy, Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung. Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 125. Vgl. Wagner, Ökonomischer Liberalismus als politische Theorie; ders.: Ökonomischer Liberalismus aus der Perspektive des politischen Liberalismus.

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nicht nur zulasten sozialer Marktwirtschaft. 34 Sie widersprechen marktwirtschaftlichen Grundprinzipien, wie ja auch die im Jahr 2008 ausgebrochene und bis heute nachwirkende globale Wirtschafts- und Finanzkrise nicht allein von einem freien Spiel der Marktkräfte ausgelöst worden ist, sondern von politisch erwünschten Fehlanreizen innerhalb des Systems mit den staatlich geförderten Unternehmen Fannie Mae (Federal National Mortgage Association) und Freddie Mac (Federal Home Loan Mortgage Corporation), wobei „der Drang zu einer expansiven Geldpolitik in den Vereinigten Staaten vielleicht auch an einer unzureichenden sozialen Sicherung“ gelegen hat.35 Ein manifestes Problem für den Politischen Liberalismus besteht zunehmend ferner darin, dass sich ein diffuses Unbehagen von Bevölkerungsteilen in antiliberalen Neigungen auszudrücken scheint,36 die von der – mit einer Hyperprivatisierung in digitalen Echokammern und Filterblasen einhergehenden – massenmedialen Theatralisierung von Öffentlichkeit orchestriert werden und sich auf religiöse Konflikte ebenso beziehen können wie auf emanzipatorische Gender- und LGBTQIA2-Projekte. Dabei spielen auch strukturelle Faktoren wie beispielsweise die anhaltende Unterrepräsentation ostdeutscher Bürger(innen) in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit fraglos eine Rolle,37 Faktoren, die um so stärker wirken, als Menschen ihre soziale Stellung komparativ bestimmen.38 Liberalismustheoretisch kaum minder relevant aber ist es, wenn sozio-ökonomische Sorgen nur vorgeschoben und strategisch instrumentalisiert werden oder aber wenn sie in ihren Konsequenzen hochgradig irrational sind, was sich beispielsweise zeigt, wenn politische Parteien gerade des rechtspopulistischen Spektrums „auch von denen gewählt werden, die als Erste an ihrer Wirtschaftspolitik leiden.“39 Wo aber arrivierte konservative Milieus, agitierende Intellektuelle, von Statusängsten getriebene Mittelschichten oder geringer Qualifizierte gemeinsame Abneigungen bevorzugt gegen humanitär-universalistische, kulturell-kosmopolitische und ökonomische Aspekte ____________________ 34 35 36 37 38 39

Vgl. u.a. Beckert, Erben in der Leistungsgesellschaft; Friedrichs: WIR ERBEN; Hager, Public Debt, Inequality, and Power; Huhnholz, „Refeudalisierung“ des Steuerstaates?; Piketty, Capital in the 21st century. Remsperger, Wahnsinn am Abgrund. Vgl. Müller, Die Kritik der liberalen Gesellschaft und die ambivalente Rolle des ‚Volkes‘. Vgl. Engler und Hensel, Wer wir sind. Vgl. Nullmeier, Politische Theorie des Komparativs. Möllers, Wir, die Bürger(lichen), S. 9.

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der Globalisierung finden und den Liberalismus zum gemeinsamen Feindbild erheben, entsteht ein diffuses politisches Lager, das Meinungsfreiheit und Toleranz reklamiert, um seinen misogynen, nationalistischen und chauvinistischen Kulturkampf auf identitätspolitische Weise zu führen.40 Dass die Demokratie zu dessen ersten Opfern zählen könnte, zeigt sich, wenn, wie im Fall der Gilets Jaunes, unter Berufung auf eine höhere Moral vorgeblicher sozialer Gerechtigkeit die Legitimität demokratisch gewählter Repräsentanten angegriffen wird. Diese sich nach einer Generation wiederholende „Neue Unübersichtlichkeit“41 zeigt sich in den performativen Widersprüchen des autoritären Populismus, der der vorgeblichen „Lügenpresse“ eigene Lügen, so genannte „alternative facts“ (Kellyanne Conway), entgegensetzt, mit dem Vorwurf, von den Massenmedien ausgeschlossen und diffamiert zu werden, in ihnen ein Aufmerksamkeitsprivileg erzielt, Elitenkritik seitens seiner Führungseliten betreibt, gegen technokratisch kommunizierte Sachzwang- und Alternativlosigkeitsrhetorik42 die Alternativlosigkeit vorgeblichen Volksempfindens stellt, von demos spricht, aber ethnos meint und die internationale Verbreitung seines neuen Nationalismus stilisiert. Aber auch die antipopulistische Strategie, die kritikunfähig gegenüber der populistischen Politisierungsstrategie zu sein scheint – vielleicht, weil sie sich zu lange in einer Kritik an der vermeintlichen liberalen Entpolitisierung ergangen hat –, ist ein Krisensymptom, und erst recht die Tendenz zur Moralisierung des Diskurses durch kosmopolitische Trägerschichten der liberalen Demokratie. Denn „durch starke moralische Unterfütterung politischer Positionen werden nicht nur extreme Gegenpositionen ermächtigt, sondern letztlich auch die eigenen Positionen politisch geschwächt. Moralische Positionen erschweren Kompromisse und Koalitionen. Sie verhindern sie nicht, führen aber oft dazu, dass sie nicht mehr als solche bezeichnet werden können – was das Publikum bemerkt, als Heuchelei deutet und zum Anlass nimmt, das politische System umso mehr zu verachten.“43

Dies ist um so problematischer als solche Moralisierungen antiliberale Stereotype über die angebliche Politikverweigerung und vermeintliche Entscheidungsunfähigkeit bürgerlicher Milieus und liberaler Institutionen begünstigen, wie sie sich gleichermaßen in Karl Marx’ Der Achtzehnte Brum____________________ 40 41 42 43

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Vgl. Fukuyama, Identität. Vgl. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit. Vgl. Séville, „There is no alternative”. Möllers, Wir, die Bürger(lichen), S. 11.

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aire des Louis Bonaparte von 1852, Carl Schmitts Schelte über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923 oder Reinhart Kosellecks Kritik und Krise von 1959 finden. Auch daran zeigt sich die fortwährende Richtigkeit der Feststellung, dass sich, wenn wir den „Liberalismus nicht als Ideologiedinosaurier, sondern als treibende ideelle Kraft der liberalen Demokratie“ betrachten möchten, darauf angewiesen sind, politische und gesellschaftliche Krisen „unter dem Aspekt einer Transformation und stetigen Neujustierung liberaler Theoriebildung“ zu reflektieren.44 Die meisten der den skizzierten Traditionsbeständen, Wesenselementen und aktuellen Selbstbehauptungskonflikten des Liberalismus gewidmeten Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine von den Herausgebern organisierte Tagung an der Ludwig-Maximilians-Universität München und in der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung zurück. Einige Beiträge wurden nachträglich erbeten, um einzubeziehen, was sich während der Tagungsdiskussionen an zusätzlichen Aspekten ergeben hatte. Für ihre Mitwirkung und Geduld danken die Herausgeber allen Autorinnen und Autoren. Zudem bedanken wir uns bei der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung für die finanzielle Förderung der Tagung. Der Carl Friedrich von Siemens Stiftung danken wir für die Ausrichtung eines Teils der Tagung. Für redaktionelle Arbeiten und weitere Unterstützung danken wir Alexander Heidelberg, Sebastian Pieper, Manuel Schechtl, Marlene Terstiege, Philipp Tubbe, Merlin Wassermann und Ole Weber, ferner den anonymen Gutachterinnen oder Gutachtern des vorliegenden Bandes sowie für die Organisation dieser Begutachtung Ina Kerner und Regina Kreide. Literaturverzeichnis Armitage, David: John Locke, Carolina, and the Two Treatises of Government, Political Theory 32/5, 2004, S. 602-627. Aleida Assmann: Let’s Go East!, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 73/839, 2019, S. 15-26. Beckert, Jens: Erben in der Leistungsgesellschaft, 2013. Bellamy, Richard: Liberalism and Modern Society. An Historical Argument, 1992. Bell, Duncan: What Is Liberalism?, Political Theory 42/6, 2014, S. 682-715. Ders.: Essays on Liberalism and Empire, 2016.

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Vgl. Hacke, Das Überleben des Liberalismus, S. 125.

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Karsten Fischer und Sebastian Huhnholz Bohlender, Matthias: Demokratie und Imperium. Tocqueville in Amerika und Algerien, Berliner Journal für Soziologie 15/4, 2005, S. 523-540. Conway, Kellyanne: Press Secretary Gave ‚Alternative Facts‘ vom 22.01.2017, unter https://www.nbcnews.com/meet-the-press/video/conway-press-secretary-gave-alternative-facts-860142147643 (letzter Zugriff am 01.03.2019). Denninger, Erhard: Ende der „subjektiven Rechte“?, Kritische Justiz 51/3, 2018, S. 316326. Därmann, Iris: Damnatio ad bestias in Nordamerika. Gehorsamsproduktionen in der kolonialen Philosophie und politischen Zoologie Thomas Hobbes’. In: Sebastian Huhnholz u. Eva Marlene Hausteiner (Hrsg.): Politische Ikonographie und Differenzrepräsentation (= Leviathan-Sonderband 34), 2018, S. 261-286. Einhorn, Robin L.: American Taxation, American Slavery, 2006. Engler, Wolfgang u. Hensel, Jana: Wer wir sind. Die Erfahrung ostdeutsch zu sein, 2018. Fischer, Karsten: Liberaler Agnostizismus, oder: Der Vorrang der Freiheit vor der Wahrheit. Eine politische Sinngeschichte. In: Flügel-Martinsen, Oliver et al. (Hrsg.): Deliberative Kritik – Kritik der Deliberation. Festschrift für Rainer Schmalz-Bruns, 2014, S. 103-134. Fischer, Karsten: Das Paradox der Autonomie und seine Entfaltungen. Eine Urgeschichte politischer Liberalität. In: Bumke, Christian/Röthel, Anne (Hrsg.): Autonomie im Recht. Gegenwartsdebatten über einen rechtlichen Grundbegriff, 2017, S. 411-434. Friedrichs, Julia: WIR ERBEN. Was Geld mit Menschen macht, 2015. Fukuyama, Francis: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, 2019. Habermas, Jürgen: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, 1985. Ders.: Nachmetaphysisches Denken, 2. Aufl., 1988. Ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992. Hacke, Jens: Das Überleben des Liberalismus, Zeitschrift für Ideengeschichte VI/3, 2012, S. 124-125. Hager, Sandy Brian: Public Debt, Inequality, and Power. The Making of a Modern Debt State, 2016. Heidbrink, Ludger: Für einen nüchternen Liberalismus. In: Kersting, Wolfgang (Hrsg.): Verteidigung des Liberalismus, 2009, S. 209-225. Hentges, Gudrun: Die Erfindung der „Rasse“ um 1800 – Klima, Säfte und Phlogiston in der Rassentheorie Immanuel Kants. In: Tautz, Birgit (Hrsg.): Colors 1800/1900/2000 – Signs of Ethnic Difference, 2004, S. 47-66. Holmes, Stephen: Anatomie des Antiliberalismus, 1995. Ders.: Passions and Constraint. On the Theory of Liberal Democracy, 1995. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, 2011.

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Liberalismus heute: Zwischen Tradition und Selbstbehauptung Horn, Karen: Die rechte Flanke der Liberalen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 17. Mai 2015, S. 20. Huhnholz, Sebastian: Krisenimperialität. Romreferenz im US-amerikanischen EmpireDiskurs, 2014. Ders.: „Refeudalisierung“ des Steuerstaates? Vorüberlegungen zu einer politischen Theorie der Steuerdemokratie. In: Boysen, Sigrid et al. (Hrsg.): Verfassung und Verteilung. Beiträge zu einer Grundfrage des Verfassungsverständnisses, 2015, S. 175-216. Ince, Onur Ulas: Colonial Capitalism and the Dilemmas of Liberalism, 2018. Keynes, John Maynard: Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privatund Gemeinwirtschaft, 1926. Krastev, Ivan/Holmes, Stephen: Osteuropa erklären. Das Unbehagen an der Nachahmung, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 73/836, 2019, S. 1428. Kreide, Regina: Das Schweigen des politischen Liberalismus, Mittelweg 36 25/2, 2016, S. 5-20. Le Pen, Marine: Pour que vive la France, 2012. Leutgöb, Andreas: Der Begriff Race und seine wissenschaftlichen Wurzeln bei Immanuel Kant. Eine Zeitreise in die Epoche der Aufklärung und seiner Rassismusdebatte, 2015. Losurdo, Domenico: Liberalism. A Counter-History, 2011. Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, 2000. Marchert, Oliver: Liberaler Antipopulismus. Ein Ausdruck von Postpolitik, Aus Politik und Zeitgeschichte 67/44-45, 2017, S. 11-16. Mau, Steffen/Schöneck, Nadine M. (Hrsg.): (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten, 2015. McCarthy, Thomas: Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung, 2015. Meinel, Florian: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, 2019. Menke, Christoph: Kritik der Rechte, 2015. Mehta, Uday S.: Liberalism and Empire. A Study in Nineteenth Century British Liberal Thought, 1999. Michéa, Jean-Claude: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft, 2014, S. 15. [Original: L’Empire du moindre mal. Essai sur la civilisation libérale, 2007]. Mills, Charles W.: Kant’s Untermenschen. In: Valls, Andrew (Hrsg.): Race and Racism in Modern Philosophy, 2005, S. 169-193. Morefield, Jeanne: Covenants without Swords: Idealist Liberalism and the Spirit of Empire, 2005. Moyn, Samuel: Imperialismus, Selbstbestimmung und der Aufstieg der Menschenrechte. In: Hausteiner, Eva Marlene/Huhnholz, Sebastian (Hrsg.): Imperien verstehen. Theorien, Typen, Transformationen, 2019, S. 169-197. Muhtu, Sankar (Hrsg.): Empire and Modern Political Thought, 2012.

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Teil I: Ideengeschichtliche Traditionsbestände

Neubestimmungen von Liberalismus bei Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill und Karl Marx1 Harald Bluhm

1.

Exposition

Der Liberalismus wird oft zu eng aufgefasst, wiewohl er viele eigensinnige Protagonisten und Kritiker hat, die diesem Konzept besondere Bedeutung zu verleihen wussten. Es lohnt sich, die Analysen über einzelne politische Theorien hinaus zu erweitern und nicht nur auf systematische Begründungen zu blicken, sondern Wirkungsabsichten von Autoren ebenso wie konträre Positionen mit einzubeziehen, da dann die Konturen dessen, was unter Liberalismus verstanden wird, stärker hervortreten. In diesem Sinne möchte ich die anspruchsvollen Reformulierungen des Liberalismus von Tocqueville und Mill sowie Marx’ radikale Kritik am Liberalismus skizzieren.2 Der Vergleich ihrer neuartigen Konzepte erlaubt es, deren Besonderheiten und auch Gemeinsamkeiten zu erkennen. Die drei Autoren des 19. Jahrhunderts verorten sich in einer Ära des wirtschaftlichen und politischen Umbruchs. Der Liberalismus und die Freiheit werden nun von der jeweils spezifisch begriffenen Gesellschaft und deren Dynamik her gedacht. Politik gilt weiterhin als wichtig, hat aber nicht mehr die einstige zentrale Stellung. Für die Darstellung nutze ich Isaiah Berlins Freiheitsverständnis. Er hat bekanntlich zwischen negativer Freiheit, verstanden als individuelle Freiheitsrechte und Chancen, die wesentlich verbriefte Abwehrrechte gegen Übergriffe sind, und positiver Freiheit als individuell bzw. kollektiv selbstbestimmtem Handeln unterschieden. Es ist freilich präziser, nur von einem formalen Freiheitsbegriff auszugehen, der drei Elemente (wessen Freiheit, Freiheit wovon und wozu) hat. Um diesen Begriff inhaltlich zu spezifizieren, ist es üblich geworden, von Konzeptionen der Freiheit zu sprechen wie ____________________ 1 2

Ich danke André Häger, Sebastian Huhnholz, Karsten Fischer und Jürgen Gebhardt für Kommentare. Meine Überlegungen stehen im Rahmen einer Monographie zum politischen Denken von Tocqueville, Mill und Marx. Aus Platzgründen gehe ich kaum auf die jeweils üppige Sekundärliteratur ein.

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Harald Bluhm

negativer, positiver, republikanischer, kommunitaristischer oder sozialistischer Konzeption.3 Tocqueville, Mill und Marx distanzieren sich von vorgefundenen Auffassungen. So grenzt sich Tocqueville vom elitären Liberalismus der Doctrinaires, vor allem eines François Guizots,4 ab und schafft einen republikanischen Liberalismus mit (leistungs-)aristokratischem Akzent, der nach Berlin Momente negativer und positiver Freiheit verbindet. Mill steht dem rationalistischen Liberalismus à la James Mill und Bentham produktiv-kritisch gegenüber. Deren Konzepte gelten ihm als zu rationalistisch, zu exklusiv und zu wenig auf Selbstentfaltung der Anlagen des Individuums bezogen. John Mill entwickelt einen sozialen Liberalismus, der die Frauenrechte und Arbeiterfrage ebenso berücksichtigt, wie er auf Bildung setzt. Auch er verbindet, wie Berlin pointiert hat, Momente positiver und negativer Freiheit miteinander.5 Marx schließlich kritisiert Hegel, die Junghegelianer und sozialistische Konkurrenten massiv, und das vor dem Hintergrund des französischen und des englischen Liberalismus. Er entwickelt dabei sein Konzept von Ideologie als Lehre und Sprache zur Beschreibung der bürgerlichen Welt, in die prinzipielle Vorurteile eingelassen sind. Der Liberalismus ruht für ihn auf einem rein negativen Konzept von Freiheit, demgegenüber mehr soziale Gleichheit als Voraussetzung positiver, kommunistischer Freiheit eingefordert wird. Nach Reinhart Koselleck kristallisiert sich die moderne soziale und politische Sprache bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus.6 Die drei ausgewählten Autoren sind mit ihren Begriffsbildungen Teil dieses Prozesses, der auch die Verschlagwortung und inhaltliche Entleerung der Begriffe Liberalismus und Freiheit einschließt, aber sie reflektieren diesen Prozess kritisch. Tocqueville thematisiert den Wandel der politischen Sprache in der Demokratie und die Verselbstständigung sowie affektive Besetzung politischer Ideen. Mill bindet im Kampf gegen „götzenhaften“ Umgang mit Abstrakta seine Begriffe an Erfahrungen und Tatsachen zurück. Marx wehrt spekulative Begriffe ab und sucht die Genese wie Funktion von Abstrakta der bürgerlichen Welt mittels seiner Ideologielehre zu erklären.

____________________ 3 4 5 6

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Vgl. u.a. Forst, Politische Freiheit. Vgl. Rosanvallon, Le moment Guizot, und Craiutu, Liberalism. Berlin, Freiheit, S. 49f., 207f. Vgl. Koselleck, Einleitung.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx

Die Bestimmungen von Liberalismus durch Tocqueville, Mill und Marx erfolgen – so meine These – innerhalb ihrer gesellschaftstheoretischen Ansätze mit einem neuen Vokabular, das sich gegen Abstrakta und zu schlichte Beschreibungen der sozialen Welt wendet.7 Das Vorgehen der Autoren ist wissenschaftlich, aber nicht eng fachwissenschaftlich, da sich Politikwissenschaft, Soziologie und politische Philosophie erst im 20. Jahrhundert zu distinkten Disziplinen ausdifferenzieren. Man kann die Art der Wissenschaft, welche die ausgewählten Theoretiker vertreten, als Public Political Science bezeichnen. Mit „public“ möchte ich zum einen den Unterschied zu universitärer und rein akademischer Wissenschaft akzentuieren; in diesem Sinne war nämlich keiner der Autoren gebunden. Zum anderen handelt es sich um politische Wissenschaft in mehrfacher Hinsicht. Denn die Autoren intervenieren in die gängigen Beschreibungen der sozialen Welt, sie politisieren eine Reihe von Fragen und sie adressieren ihre Schriften an ein breites Publikum. Im Folgenden umreiße ich die Positionen von Tocqueville, Mill und Marx nacheinander (2. bis 4.). Im fünften Abschnitt wird anhand der Stellungnahmen der drei Autoren zum Recht auf Arbeit ihr Verhältnis zum Sozialismus konturiert. Der letzte Abschnitt resümiert Divergenzen und Gemeinsamkeiten. 2.

Tocqueville – republikanischer Liberalismus

Tocqueville repräsentiert ein republikanisches Konzept und steht hier an erster Stelle, weil Mill (extensiv) und Marx (gelegentlich) auf ihn eingehen.8 Er thematisiert den Liberalismus vor allem in den Bänden De la Democratie en Amerique (1835, 1840), in denen die USA als Modell freiheitlicher Demokratie dienen. Sein erklärtes Ziel ist es, „die Demokratie zu lehren und sie so zu leiten und zu begrenzen“.9 In diese Sentenz sind mehrere ____________________ 7

8 9

Ich zitiere die drei Autoren soweit als möglich anhand deutscher Ausgaben. Im Falle von Tocqueville nutze ich auch die vierbändige Liberty Fund Edition seines Demokratiebuches. Die nur dort vorhandenen Passagen werden auf Englisch zitiert, die französische Fassung ist in der seitenidentischen bilingualen Ausgabe leicht zu finden. Bei Mill sind neben dem Briefwechsel die Rezensionen der Schrift über die amerikanische Demokratie (Tocqueville I und Tocqueville II) zu nennen. Von Marx gibt es acht Verweise auf Tocqueville, die ich anderen Ortes auswerten werde. Brief Tocquevilles an Silvestre de Sachy vom 18. Oktober 1840 zit. nach Jaume, Tocqueville, S. 336.

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Punkte eingekapselt. Zunächst geht es darum, die Demokratie richtig zu verstehen. Zudem ist darin eine Gefahrendiagnose enthalten: wenn die Demokratie falsch verstanden werde, führe sie zu Problemen. Und schließlich ist mit der Begrenzung die Möglichkeit angesprochen, dass die Demokratie zu exzessiv sein könnte. Tritt Letzteres ein, so untergräbt sie sich nach Tocqueville politisch durch Überdehnung des Aufgabenbereiches oder sozial durch Vergleichförmigung. Die Adressaten von Tocquevilles Schriften sind das gebildete Publikum in Frankreich, Politiker und seine Standesgenossen. Der französische Analytiker der Demokratie stellt die unaufhaltsame Zunahme der „Gleichheit der Bedingungen“ heraus, das sind prinzipiell ähnliche Chancen im Leben und Beruf, die nicht an erbliche Vorausetzungen geknüpft sind. Dabei beobachtet er nicht nur divergierende Effekte demokratischer Institutionen, sondern auch deren Selbstbeschreibung, sind es doch affektiv besetzte Ideen, wie jene der Freiheit oder Gleichheit, vermittels derer die Demokratie gedeutet werden. Tocqueville entwickelt eine philosophisch inspirierte Erfahrungswissenschaft, die auf den Transfer von praktisch relevantem Wissen abzielt.10 Die „neue politische Wissenschaft“ denkt Formen der Gesellschaft, Ideen, Institutionen zusammen und betont deren ambivalente Effekte. Schon mit seiner neuartigen Beschreibung von Demokratie wirkt Tocqueville politisch. Er warnt zudem vor Gefahren der modernen Demokratie (Tyrannei der Mehrheit, Zentralisation der Verwaltung, Despotismus der Industrie) und macht deren Vorzüge (Selbstbestimmung, Stiftung von Gemeinsamkeit, gesellschaftliche Dynamik) deutlich. Tocqueville hat sich, ein Jahr nachdem er mit dem ersten Band von De la Democratie en Amerique einen Bestseller gelandet hatte, enttäuscht geäußert, dass er nicht als „Liberaler neuer Art“ verstanden wird.11 Was diese neue Art ist, erhellt sich schon im Unterschied zum elitären juste milieuLiberalismus von Guizot, der Frankreich von vermögenden Bürgern regiert sehen will, die unabhängig sind und über capacité verfügen, d.h. über praktische Urteilskraft. Tocqueville betont demgegenüber, wenn man erst einmal angefangen habe, den Menschen gleiche Rechte zu gewähren, könne dieser Prozess nicht einfach begrenzt werden, da es zu einer autokatalytischen Anspruchssteigerung käme. Die Ausbreitung der Gleichheit der Be____________________ 10 11

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Vgl. Bluhm/Krause, Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Analyse. Craiutu, Liberalism, S. 277. Tocqueville grenzt sich, wie Welch (Tocquevilles neue politische Wissenschaft, bes. S. 119ff.) gezeigt hat, vom utilitaristischen Liberalismus ab.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx

dingungen im Sinne von ähnlichen elementaren sozialen und wirtschaftlichen Chancen ist für ihn der charakteristische und „unaufhaltsame“ Prozess der Demokratie. Aber der Analytiker der Demokratie bleibt dabei nicht stehen. Was ihn interessiert, ist die Aktivität der Bürger. Diesbezüglich werden die freiwilligen Assoziationen, das Jurysystem und die lokale Selbstverwaltung akzentuiert, da durch diese Institutionen sowohl Freiräume wie das nötige „soziale Band“ erzeugt werden könne. Der große Franzose bestimmt Freiheit als höchsten, selbstzweckhaften Wert und definiert: „jeder Mensch [ist, H.B.] von Geburt an Träger eines gleichen und unantastbaren Rechts, in allem, was nur ihn selbst betrifft, unabhängig von seinesgleichen zu leben und sein eigenes Los so zu gestalten, wie er es beabsichtigt.“12

Dabei werden individuelle und kollektive Akteure mit materiellen Mitteln, sozialen und politischen Institutionen sowie in großem Ausmaß soziokulturelle Dispositionen (die Sitten/mœurs) und die dazu gehörenden interpretativen Ideen zusammengedacht. Tocqueville kritisiert die politische Enteignung des Adels im Absolutismus durch Verwaltungszentralisation, ein Prozess, der im modernen Staat fortgesetzt wird.13 Er fordert stattdessen eine zentralisierte, in ihren Kompetenzen begrenzte Regierung und Gewaltenteilung, die freie Entwicklung der Individuen, politische Betätigung und Selbstverwaltung gestattet. Liberalismus wird durch Tocqueville in zwei Richtungen redefiniert: einesteils kommt es zu einer Universalisierung durch Einbeziehung von größeren Gruppen und Schichten, wobei bestimmte Geschlechtergrenzen und nationale Stereotype bestehen bleiben; anderenteils erfolgt eine aktivistische Aufladung des Liberalismus, weil das politische Handeln betont wird, und zwar vom bürgerschaftlichen Engagement angefangen, das individuelles und gemeinschaftliches bzw. gesellschaftliches Tun verbindet, bis hin zur Regierungspraxis. Praktisches Engagement für die Freiheit führe zu verstetigten Einstellungen und Selbsttätigkeit, die Tocqueille in den freiwilligen Assoziationen und dem self-government der amerikanischen Gemeinden feiert. Wer in der Freiheit etwas anderes sucht als die Freiheit und bereit ist, sie gegen andere Güter einzutauschen, begebe sich auf die schiefe Bahn und werde die Freiheit verlieren.

____________________ 12 13

Tocqueville, Die sozialen und politischen Verhältnisse, S. 105. Ders., Ancien Regime, S. 70-73, 141-150, 190-199.

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Die größten Bedrohungen der modernen Freiheit erwachsen für Tocqueville aus egoistischem Individualismus, aus der Nivellierung der Gesellschaft, aus der Bürokratie, wirtschaftlichem Despotismus14 und der möglichen Tyrannei der Mehrheit in der Massendemokratie. Diese Gefahren erklärt Tocqueville strukturell aus der Dynamik der modernen Gesellschaft als einem neuen Typus von Problemen, die aus sachlichen Verhältnissen und nicht aus intentionalen Handlungen oder persönlichen Beziehungen erwachsen. Der Spielraum der Individuen werde zwar größer, aber der Druck komplexer institutioneller Gefüge in Recht, Politik und Wirtschaft nehme ebenfalls zu. Befeuert werde diese Spannung durch einen problematischen Individualismus, der materielle Interessen favorisiert. Um den sachlich-unpersönlichen Restriktionen entgegenwirken zu können, plädiert Tocqueville für eine subsidiäre liberale Ordnung mit Gewaltenteilung, die Pluralität und Handlungsoptionen sichert. Was heißt gesellschaftstheoretische Deutung von Liberalismus vor diesem Hintergrund? Gesellschaft kommt bei Tocqueville in verschiedener Bedeutung vor, im allgemeinen Sinn, aber auch spezifiziert als gesellschaftlicher Bereich. Tocqueville interessiert die Verknüpfung von commercial society und dem Sozialen mit Ideen und Prinzipien. Daher denkt er Klassen auch nicht von der Ökonomie her, sondern begreift sie soziopolitisch. Im Kontext der Struktur der Gesellschaft sei die moderne Freiheit zu verstehen, die vom Individuum her gedacht werden müsse. Der Integrationsdenker, dessen Lieblingsmetapher das soziale Band ist, das fehle, erodiere oder neu geknüpft werden müsse, rückt Konflikte an zweite Stelle. Weil Tocqueville die moderne Gesellschaft durch den Individualismus und die Bürokratie sowie weitere strukturelle Gefahren als bedroht ansieht, erlangen die Möglichkeiten der Politik und politischer Selbsttätigkeit der Bürger, der Vereine, der zivilen Gesellschaft, die in eine liberale gewaltenteilige Ordnung eingepasst sind, einen hohen Stellenwert. Dieses Freiheitsverständnis setzt beim sozial eingebetteten Individuum an und bekommt von dort eine bürgerschaftlich-republikanische Note. Die politischen Freiräume sind für die Entfaltung der Gesellschaft relevant, die Wirtschaft hingegen wird als kaum steuerbar gedacht. Erhellend ist diesbezüglich eine gestrichene Note des Demokratiebuchs. Dort heißt es:

____________________ 14

26

Vgl. Swedberg, Tocqueville’s Political Economy, S. 199-218.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx „What truly constitutes a society is not having the same government, the laws, the same language, it is having on a great number of points the same ideas and the same opinions.“15

Davon gäbe es in den USA (man denke nur an den Glauben an die Freiheit, an den Fortschritt) mehr als in Frankreich. Diese Einsicht läuft keineswegs auf eine idealistische Deutung hinaus, da im nächsten Schritt die Interessen hinzukommen, die stets im Licht bestimmter Ideen und Meinungen interpretiert werden. In diesem Sinne hat Tocqueville das wohlverstandene Eigeninteresse als zentrales Prinzip der amerikanischen Demokratie bestimmt. Das qualifizierte Eigeninteresse reiche dort aus, um Menschen dazu zu führen, das Gute zu tun. Jeder erlange so die Möglichkeit, sich selbst zu regieren, und zugleich werde die Gesellschaft integriert, weil dieses Eigeninteresse im Kontext des Gemeinwohls bzw. der Bürgerschaft steht. Die Sprache der amerikanischen Demokratie interessiert Tocqueville besonders, drückt sie doch für ihn in vielfacher Form die Idee der Selbstregierung aus. Er behauptet darüber hinaus, dass die Demokratie die Sprache beeinflusst, sie führe zur stärkeren Nutzung allgemeiner Begriffe und zur Liebe der Bewegung um ihrer selbst willen. Die Folgerung lautet: „Diese abstrakten Wörter, die die demokratische Sprache füllen und die man bei jeder Gelegenheit verwendet […], erweitern und verschleiern zugleich das Denken“.16

Für Tocqueville bildet die Analyse der Selbstbeschreibungen dieser sozialen und politischen Ordnung im Lichte bestimmter Ideen einen wesentlichen Bestandteil seiner politischen Wissenschaft. Nur so ließen sich Zuschreibungen von Leistungen zur Demokratie richtig stellen, es würden nämlich oft Effekte angenommen, die nicht zutreffen. So führt – um ein Beispiel zu geben – das Jurysystem aus seiner Perspektive nicht zu guten Urteilen, weil wenig kompetente Laien entscheiden. Dafür habe es den Effekt, die Amerikaner in das politisch-rechtliche System einzubinden und ihre politische Urteilskraft zu schulen. Tocquevilles republikanischer Liberalismus mischt Elemente negativer und positiver Freiheit, er zielt auf die Aktivierung des Bürgers, des gebildeten Citoyen, aber auch auf die des Adligen. Sein Konzept ist dabei von aristokratisch-konservativen Motiven des französischen Diskurses seiner Zeit beeinflusst.17 In den USA werden die Koordinaten durch eigene Beobachtung sowie durch amerikanische Autoren in Richtung Demokratie ____________________ 15 16 17

Tocqueville, On Democracy/De la democratie, Bd. II, S. 598. Ders., Über die Demokratie, Bd. II, S. 103. Vgl. Jaume, Tocqueville.

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verschoben. Dem entspricht auch Tocquevilles viel zitierte soziale Selbstverortung in einer Übergangszeit zwischen der Aristokratie, die schwindet, und der Demokratie, die sich ausbreitet. Aristokratische Züge der Freiheit, wie hohe Selbstständigkeit, Gestaltungsspielräume und Bildung, werden im Rahmen des gesellschaftstheoretischen Ansatzes leistungsaristokratisch transformiert. So sehr Tocqueville den Blick auf Funktionseliten wie Juristen, Journalisten und andere professionelle Akteure lenkt, betont er die Bedeutung von gewöhnlichen Bürgern auf der elementaren Ebene der Demokratie in der lokalen und regionalen Selbstverwaltung. Will man Tocquevilles Redefinition des Liberalismus resümieren, so ist der weite Ansatz der Gesellschaft und Politik im Zeitalter sich ausbreitender Gleichheit, die alle politischen und sozialen Bereiche betrifft, herauszustellen, wobei einschränkend bemerkt werden muss, dass – wiewohl die Ausbreitung der Gleichheit bis in die Familie hinein thematisiert wird – Tocqueville die Gleichberechtigung der Geschlechter naturalistisch limitiert.18 Freiheit fungiert ihm als Leitwert, der nicht moralisch, nicht individualistisch, sondern politisch gedacht wird, d.h. in Verbindung von Akteuren (Bürgern, der Bürgerschaft und Politikern), Handlungsmitteln, Institutionen und Ideen. Dieser Liberalismus betont die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Demokratie, hält aber an einer Sonderrolle der Politik fest, sie gilt als Medium, in dem das soziale Band der Gesellschaft geknüpft und gestärkt werden kann. Gegen strikten Individualismus und Überhandnahme materieller Motive bringt Tocqueville eine republikanische Aktivierung der Bürger ins Spiel. 3.

Mills sozialer Liberalismus

Meine gedrängte Skizze zu Mill geht davon aus, dass seine Sozialphilosophie stets auf Aufklärung und eingreifendes Denken zielt. Ich deute ihn als Sozialliberalen, der für ein Ensemble von Sozialwissenschaft plädiert, um neuartige Problemstellungen beschreiben zu können. Dafür schafft er einen theoretischen Rahmen, in dem die Politische Ökonomie, die entstehende Soziologie und Politikwissenschaft ebenso einbezogen sind, wie eine Vielzahl normativer Fragestellungen. Die soziale und politische Inklusion der Frauen und der Arbeiter werden weit über Tocqueville hinausgehend zum ____________________ 18

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Vgl. Bluhm, Expansive Demokratie und maskuliner Republikanismus bei Alexis de Tocqueville.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx

Thema. Die Adressaten von Mills Sozialphilosophie sind die gebildete bzw. sich bildende Öffentlichkeit. Berühmt ist die exemplarische Blickwendung von Mill in On Liberty, denn nun gilt nicht nur wie im klassischen Liberalismus der Staat als Gefahr, vor dessen Übergriffen die Individuen zu schützen sind. Vielmehr geht es Mill um „Wesen und Grenzen der Macht, welche die Gesellschaft über das Individuum ausübt“.19 Gemeint sind damit schon bei Tocqueville angesprochene sachliche Mächte und Mechanismen, wie die Tyrannei der Mehrheit, Gruppendruck und Bürokratie. Normativ liegt diesem Ansatz eine Freiheitskonzeption zugrunde, die Freiheit als hohes Gut betrachtet. Die negative Freiheit wird betont und als Teil eines Selbstvervollkommnungsmodells des Individuums begriffen. Freiheit ist hier weniger Selbstwert, sondern bezeichnet Chancen zur „Bildung des Verstandes und der Hebung des Charakters aller Klassen ihrer Landsleute“.20 Die Prämisse dafür lautet, dass jede/r über sich selbst, ihren/seinen Körper und Geist souverän sein soll, um ein Leben ihrer/seiner Wahl führen zu können.21 Mill will Individualität bewahren, da sich die Gesellschaft im „Krieg“ mit ihr befinde22 – Nivellierung der Vielfalt der Lebensumstände, Tyrannei der Mehrheit und Bürokratie sind dafür die zentralen Stichworte. Diese Problemstellung ist innovativ, und mit seinem Verständnis von Individualität löst sich Mill von Prägungen durch James Mill und Jeremy Bentham. John Mills Public Political Science steht Universitäten ebenso wie Akademien ausdrücklich fern, da diese Institutionen den Geist kaum entwickeln würden. Sein Konzept ist im Sinne von public reasoning und praktischem Utilitarismus zu begreifen, geht es ihm doch um eine erfahrungsnahe, für die literaten Bürger nachvollziehbare Argumentation, die eine Konsequenz des utilitaristischen Ansatzes ist. Denn wenn nach dem Axiom dieser Strömung, jede(r) ihre/seine Interessen am besten artikulieren und vertreten kann, dann hat das Folgen für die Form der Theorie. Nimmt man dies ernst, dann ist eine allgemein verständliche politische Sprache für die Politik wie für die Sozialphilosophie unabdingbar. Das gilt umso mehr, als Mill dieses Axiom generalisiert, was ein Verschmelzen von Liberalismus und Demokratie zur Folge hat. ____________________ 19 20 21 22

Mill, Über die Freiheit, S. 5. Ders., Zivilisation, S. 405. Ders., Über die Freiheit, S. 17. Ebd., S. 99.

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Der Gesellschaftsbegriff (society, social) wird bei Mill häufig verwandet. Gesellschaft gilt ihm als Ansammlung von Menschen, die gemeinsame Zwecke verfolgen und in einer bestimmten politischen Ordnung leben. Einen Teil des gesellschaftstheoretischen Zugangs entwickelt er in seinen Principles of Political Economy (1848),23 als der Wissenschaft, die Gesetzmäßigkeiten untersucht, welche sich beim Zusammenwirken der Menschen in der Produktion von Reichtum zeigen. Die Politische Ökonomie ist für ihn eine von Prinzipien und Abstraktionen ausgehende Wissenschaft und keine Kunstlehre oder von speziellen Erfahrungen geleitet. Die Wirtschaft wird bei ihm analytisch von anderen Bereichen der Gesellschaft getrennt. Wegen des modelltheoretischen Herangehens und der dabei genutzten Figur des homo oeconomicus gelten politökonomische Aussagen immer nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Aber diese Wissenschaft hat für Mill grundsätzliche Bedeutung, da sie Einsichten in die elementaren Bedingungen für die Gesellschaft und die materiellen Möglichkeiten von Lebensführung verschiedener Klassen und Schichten liefert. An die Ökonomie schließt die induktive Sozialwissenschaft an, deren Gegenstand die sozialen und politischen Institutionen wie die Beziehungen von Menschen bilden, wobei hier unter Sozialwissenschaft auch die Politik- und Geschichtswissenschaft verstanden wird. Das bei Mill durchaus prominente Klassenkonzept ist ökonomisch fundiert, aber der Klassenbegriff wird von ihm stets soziologisch und historisch angereichert. Er zielt auf die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft und legt dabei – anders als Tocqueville – den Akzent nicht auf die Sitten, sondern auf die Charakterbildung. Ethologie (Charakterwissenschaft) gilt als ein zentraler Bestandteil der Sozialwissenschaft, wobei Mill die Rolle von Wissen, Praktiken und Institutionen interessiert, die Individuen zur Selbstbestimmung befähigen. Charakter bezeichnet habitualisierte Verhaltensformen, das geronnene Objektive im individuellen Subjekt. Auch wenn Mill seine Ethologie wenig ausgearbeitet hat (die Interpretationen zu diesem Desiderat sind kaum noch zu überblicken), handelt es sich nicht um eine prinzipielle Lücke. Denn er hat dieses Projekt nie aufgegeben, wie Terence Ball zeigt, indem er vier wichtige Schriften von Mill als „applied ____________________ 23

30

Mill rückt bekanntlich 1849 in der zweiten Ausgabe der Principles und noch etwas stärker in der dritten Auflage 1852 weiter nach links. In seinen Chapters on Socialism (1869) tritt die einst starke Skepsis gegenüber dem Sozialismus etwas in den Hintergrund. Er verteidigt aber stets das Privateigentum und den Wettbewerb.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx

ethology“ deutet.24 Georgios Varouxakis arbeitet Mills „political ethology“ heraus, die Volkscharaktere und deren historischen Wandel thematisiert.25 Mit der Enttäuschung über die autoritäre Wende durch Napoleon III. nehmen demnach die Zuschreibungen von Volkscharakteristika der Franzosen bei Mill zu und münden in die Diagnose vom Fehlen sowohl eines historisch verankerten Geistes individueller Freiheit als auch von „mœurs constitutionelle“, d.h. gemeinsamem Respekt für die Verfassung inklusive einer Achtung der Rechte von Minderheiten bzw. in Wahlen Unterlegenen.26 Die Ethologie muss mithin berücksichtigt werden, wenn man den Millschen Liberalismus begreifen will. Denn gerade dadurch tritt hervor, welche über einen schlicht individualistischen Ansatz hinausreichenden Gesichtspunkte der Befähigung von Gesellschaftsmitgliedern (vor allem Bildung, Kompetenzen, um soziale Zugangschancen nutzen zu können) bei seiner Erweiterung des Liberalismus mit Blick auf die Arbeiter- und Frauenfrage in Rechnung zu stellen sind. Zugleich wird der Liberalismus durch die Ethologie von naturalistischen Annahmen befreit und in politische Kulturen eingebettet. In seiner 1840er Rezension des zweiten Bandes von Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika nimmt Mill dessen Diagnose von problematischen Seiten des Individualismus auf. Dort heißt es, „[d]ie Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens gleichen den Sandkörnern am Meeresufer, deren jedes sehr klein ist und an keinem anderen haftet.“27 Beide Autoren diagnostizieren ein fehlendes soziales Band zwischen den Individuen und zugleich soziale bzw. anonyme gesellschaftliche Zwänge. Solche sachlichen Abhängigkeiten befürchten Mill und Tocqueville beinahe ebenso sehr wie den Druck zu mehr Regulierung, der durch das Einströmen neuer Klassen und Schichten in die Politik entsteht, das sie im Prinzip befürworten. Mill grenzt sich bei aller Nähe allerdings deutlich ab, denn Effekte, die Tocqueville der zunehmenden Gleichheit der Bedingungen zuschreibt, differenziert er als Folgen gesellschaftlicher Gleichheit, kommerzieller Gesinnung der Mittelklasse und der demokratischen Regierung.28 Demzufolge ist ____________________ 24

25 26 27 28

Vgl. Ball, Competing theories. Mills Autobiographie gilt als case study von Charakterbildung; Die Schrift über die Unterdrückung der Frauen thematisiere Charakterdeformation und mögliche Reformen; die Betrachtugen über Repräsentativregierung seien eine Studie über den „civic character“ und Über die Freiheit (1859) behandele Bedingungen für die Bildung starker Charaktere. Varouxakis, Victorian Political Thought, S. 123. Ebd., S. 59-63. Mill, Tocqueville (II), S. 191. Ebd., S. 205.

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Harald Bluhm

soziale Desintegration nach Mill oft dem zunehmenden äußeren Wohlstand zuzuschreiben und nicht der Demokratie. Das Freiheitsverständnis von Mill schließt ökonomische Gesichtspunkte stärker ein als das von Tocqueville und wird im Kontext von Klassen und sozialen Konflikten ausbuchstabiert. Beide Theoretiker betonen gegenüber antikisierenden Vorstellungen die Spezifik moderner Freiheit. Sie basiert auf verbrieften subjektiven Rechten und wird nicht monistisch von der commercial society her verstanden, sondern kennt verschiedene Ebenen und Formen sozialer und politischer Integration, die ihrerseits individuelle Voraussetzungen haben. Überhöht Tocqueville die Ausbreitung der Gleichheit und schreibt ihr dekadenztheoretische Züge ein, so ist Mill bei aller Zeitkritik progressistischer. Zugleich nimmt er ein Absinken des wirtschaftlichen Wachstums und der Bevölkerung an, eine Entwicklung, die zu einer „stationären“ Gesellschaft führe. Dies erlaube es, sich qualitativen Fragen selbstbestimmter Lebensführung zuzuwenden, weil der Wettbewerbsdruck gemildert ist. Von Mills neuer Auffassung des Liberalismus lassen sich drei Punkte herausheben. Erstens ist seine Freiheitskonzeption universell und auf individuelle Selbstvervollkommnung angelegt, wird aber immer institutionell und kulturell kontextualisiert. So pointiert er 1858: „The English, of all rank and classes, are at bottom, in all their feelings, aristocrats. They have some conception of liberty, & set some value on it, but the very idea of equality is strange & offensive to them“.29

Zweitens handelt es sich um generalisierten, sozialen Liberalismus, der eng mit der Demokratie verbunden ist. Die breite gesellschaftstheoretische Einbettung der Demokratie, eine Art sozialer Demokratie, wahrt die Eigenlogik von Gesellschaft und der politischen Institutionen. Sie stößt über Analysen zur Kultur, Charakter und Schichtung zu einem weit angelegten Konzept von Individualität vor, die bloß materiellen Orientierungen ebenso entgegengestellt wird, wie einer Vielzahl uniformisierender bürokratisch-sachlicher Zwänge der Moderne. Drittens reflektiert Mill den Wandel der Sprache. Wie kritisch diese Reflektion ausfällt verdeutlich u.a. sein pointierter Satz, dass „die Götzenbilder vor denen wir knieen, […] Abstractionen [sind], die Gottheiten, denen wir unser Hab und Gut opfern, sind Personificationen.“30 Es ist daher nur konsequent, wenn Mill seinen Liberalismus im Gegensatz zu seinerzeit gängigen und für ihn abstrakten Auffassungen, die sich weder auf die neuen sozialen, noch auf die politisch und kulturellen ____________________ 29 30

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Mill, Brief an Mazzini, S. 50f. Ders., Recht und Unrecht des Staates, S. 165.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx

Fragen einlassen, sondern schlicht die Spannung von Individuum und Staat betonen, gerne näher als „advanced“ oder „qualified“ beschreibt. 4.

Marx – Liberalismus als bürgerliche Ideologie

Marx zu historisieren schließt ein, ihn mit anderen Klassikern des 19. Jahrhunderts zu vergleichen, was ich nur im Hinblick auf seine LiberalismusKritik betrachte, die auf einem selten analysierten Freiheitsverständnis ruht. Zu den relevanten Themen gehört hier der Zusammenhang von Wissen, Interesse und Macht. Das dafür entworfenes Ideologiekonzept leitet die Kritik an anderen Theorien, wobei Marx zugleich reflektiert Partei für die aus der bürgerlichen Gesellschaft exkludierten Proletarier ergreift, die als Klasse ein Produkt der modernen Gesellschaft seien. Der radikale Gesellschaftskritiker entfaltet sukzessive eine deterministische Theorie, bei der das Eigentum an Produktionsmitteln den Passepartout zum Verständnis von Gesellschaft, inklusive der Sozialstruktur, dem Staat und den Bewusstseinsformen bildet. Dieser Ansatz nimmt eine Ausweitung des Feldes des Politischen vor, da sämtliche Bereiche der Gesellschaft der Kritik unterzogen werden müssen, weil sie nach der Schlüsseltheorie alle vom kapitalistischen Privateigentum geprägt sind. Die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft als wirtschaftlicher Sphäre von den anderen Bereichen gewinnt bei Marx besondere Bedeutung, da der Arbeiter in der kapitalistischen Produktionsweise faktisch auf sein Dasein als Arbeiter reduziert werde, weshalb dessen Emanzipation nötig sei. Der Adressat der Marxschen Theorie ist primär eine sich erst konstituierende Gegenöffentlichkeit, der ein über die bürgerliche Ordnung hinausreichendes Vokabular und wissenschaftliches Parteiprogramm zur Verfügung gestellt werden soll. In diesem Rahmen entwickelt Marx zwei Konzepte von Liberalismus. Das erste Konzept begreift den Liberalismus als Ideologie des Bürgertums auf klassentheoretische und wissenssoziologische Weise. Das zweite, eher systemtheoretische Konzept findet sich in den späteren Kritiken der Politischen Ökonomie. Die leitende Annahme lautet, dass das Vokabular der bürgerlichen Ökonomie in funktionaler Weise ideologisch sei und die realen Verhältnisse verschleiere. Der erste Ansatz ist eine externe Kritik des Liberalismus. Gegen den Idealismus von Hegel und der Hegel-Schüler bringt Marx nicht nur die Ökonomie, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in Stellung, sondern er untersucht auch die sich verändernde Sprache. Sprache gilt ihm als konstitutiv für das Bewusstsein. Kritisiert wird darum insbesondere das Vokabular, mit 33

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dem die Junghegelianer die soziale Welt beschreiben. Es sei eine Sprache voller Abstraktionen (die Geschichte, das Bewusstsein etc.) und von spekulativen Konstruktionen, vermittels derer die soziale Wirklichkeit deduktiv dargestellt wird. Marx hingegen will eine angemessene Beschreibung der sozialen Welt liefern und zugleich erklären, warum die Liberalen und die liberalen Ökonomen dies systematisch verfehlen. Die klassentheoretische Deutung des Liberalismus wird zuerst in Marx’ Kritik des individualistischen Konzeptes von Max Stirner sichtbar. In dessen Der Einzige und sein Eigentum heißt es: „Die Freiheit kann nur die ganze Freiheit sein; ein Stück Freiheit ist nicht die Freiheit.“31 Stirner treibt hier doppeltes Spiel. Einesteils ironisiert er einen abstrakten Freiheitsbegriff und zugleich hält er an ihm fest. Vor allem aber schüttet er Säure über kollektive Freiheitsvorstellungen aus, wodurch nahezu nichts von ihnen übrig bleibt. Marxens nur partiell treffende Kritik ist eine sozialhistorische Skizze der Geschichte des Bürgertums, die er Stirners Stufenmodell von politischem, sozialem und schließlich mit etwas Feuerbach versetztem humanem Liberalismus entgegenstellt. Dabei lohnt es sich, die Begriffsbildung Stirners zu rekapitulieren. Den politischen Liberalismus geißelt er als abstrakt; das Bürgertum wolle einen unpersönlichen Herrscher (das Gesetz) – hier gibt es übrigens durchaus Nähe zu Marx. Der soziale Liberalismus gilt Stirner als Kritik am Eigentum. Erst soll es keinen Herrscher mehr geben, dann soll niemand mehr etwas besitzen. Auf dieser Stufe wird auch der Kommunismus kritisiert, der eine sonntägliche Seite habe – da werde der Mensch als Bruder angesehen – und eine werktägliche – da komme der Mensch nur als Arbeiter vor.32 Das der doppelten Betrachtung zugrundeliegende Eigentumsverständnis, so Stirner, ist aber eng und müsse in einem humanen Liberalismus aufgehoben werden, der den Egoismus des Menschen ernst nimmt und ihn nicht vom Eigentum abschneidet. Für Marx läuft das auf eine abstrakte Ausdehnung von Liberalismus und Freiheit hinaus, die den Begriffen ihren inhaltlichen Kern nimmt. Er qualifiziert dieses Konzept als Ideologie und dehnt den neuen Begriff dann rasch aus. Danach sind die bürgerlichen Begriffe und Selbstbeschreibungen notwendig abstrakt, weil sie einen bestimmten Schein widerspiegeln und den Kontakt zu den sozialen Grundlagen verlieren. Der individualistische Stirner, der sich an den Einzelnen adressiert, fällt, so Marx, hinter das klassisch ____________________ 31 32

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Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, S. 176. Ebd., S. 129.

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bürgerliche Denken der Franzosen und Briten zurück. Marx begreift den Liberalismus als bürgerliche Ideologie, der sich universell ausgibt und so die eigene soziale Grundlage verdeckt.33 Gerade weil mit der Etablierung des bürgerlichen Staates ein Wandel von einer Emanzipations- zu einer Legitimationsideologie erfolgt, trete der universelle, alle Menschen betreffende, Emanzipationsanspruch als unangemessen hervor, was als beschönigend-apologetische politische Sprache gedeutet wird. Der Marxschen Kritik am Liberalismus liegt nicht nur ein universeller Freiheitsbegriff zugrunde, der alle Menschen, vor allem Proletarier und Unterdrückte, einzubeziehen sucht, sondern ein absoluter Begriff im Hegelschen Sinne.34 Der locus classicus für den Marxschen Freiheitsbegriff findet sich im Manifest der Kommunistischen Partei. Dort heißt es über die Gesellschaft der Zukunft, sie sei eine Assoziation, „in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“35 Hier steht nicht nur die freie Entwicklung des Einzelnen an erster Stelle, sie gilt sogar als Bedingung für die freie Entwicklung aller als assoziierte Individuen. Marx treibt das Freiheitsverständnis enorm in die Höhe, wenn er behauptet, solange England Irland bzw. Indien unterdrückt, könne es nicht frei sein. Die Konsequenz ist, dass man, solange irgendjemand irgendwo unterdrückt wird, politisch nicht frei sein kann. Diese normative Emphase trägt eine prinzipielle Herrschaftskritik, bietet aber für die Analyse und Befestigung konkreter Freiheiten wenig. Marxens Konzeption kommunistischer Freiheit ist von einem uneinholbarem Überbietungsanspruch getragen und verlagert Freiheit letztlich in die Zukunft. Der zweite Ansatz im Verständnis von Liberalismus ist ökonomiekritischer und systemischer Art. Er findet sich vor allem in den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie und im Kapital. Marx setzt sich dort nicht nur mit der verselbstständigten Bewegung von Waren, Geld und Kapital auseinander, sondern zeigt dies als Grundlage für deren Fetischisierung zu Akteuren auf. Die bürgerliche Ökonomie bleibe nicht aus intentionalem Klasseninteresse, sondern aus systemischen Gründen in den Scheinformen und Verkehrungen befangen. In diesem Sinne destruiert Marx die verbreiteten Beschreibungen wie Wert der Arbeit, die trinitarische Formel, nach der Arbeit Lohn, Kapital Profit und Boden Rente abwirft, als „gang und gäbe Denkformen“,36 die dem System zwar entsprechen, das Wesen jedoch ____________________ 33 34 35 36

Marx/Engels, Deutsche Ideologie, S. 176-186. Ich folge Dellavalle, Freiheit und Intersubjektivität. Marx/Engels, Manifest, S. 482. Marx, Kapital, S. 564.

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verdecken. Sie gelten ihm als Ausdruck verselbstständigter sachlicher Verhältnisse. Für den Vertreter der objektiven Wertlehre ist nämlich die Arbeit und deren Ausbeutung die entscheidende Quelle von Einkommen und Reichtum. Nach Marx darf man der Selbstbeschreibung der kapitalistischen Wirtschaft durch deren Akteure und durch die Politische Ökonomie also nicht folgen, weil man sich sonst in den Scheinformen verfängt und bürgerliche Positionen vertritt. Es ist eine Mischung aus immanenter und externer Kritik, die er hier entfaltet. Der Wirtschaftsliberalismus und der Glaube an den Markt gehören für Marx zur kapitalistischen Wirtschaft, weil diese auf dem „formell“ freien Tausch sowie Verträgen beruht. Es sei dieses Faktum, das den Glauben an Freiheit und Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft nährt. Dieser Glaube gilt als funktional und systemkompatibel, aber das System ist für Marx eines, das materiellen Reichtum auf verkehrte Weise produziert, nämlich auf Kosten der Arbeiter. Die Politische Ökonomie unterstellt in ihrem Kampf gegen die feudale Ordnung, dass deren Institutionen künstlich seien, während jene der commercial society natürlich wären. Diese Naturalisierung ist für Marx ideologischer Natur und sie reicht sehr weit, mithin bis zu Prämissen von Vertragstheorien, die den „vereinzelten einzelnen“ als natürlich und nicht als gesellschaftlich produziert begreifen.37 Das kritische Programm enthält noch mehr, jedoch sollten die angedeuteten Punkte ausreichen, um den systemischen Ansatz, der nur in vermittelter Weise auf Klasseninteressen rekurriert, erkennen zu lassen. Der Liberalismus gilt hier als eine ideologische Beschreibungssprache des ökonomischen Systems, die Marx mit der verselbstständigten Dynamik des Kapitals verbindet. Auf der realen und ideologischen Ebene handelt es sich um Versachlichungen und Verselbstständigung von gesellschaftlichen Verhältnissen.38 Die Marxsche Gesellschaftstheorie liegt nur bruchstückhaft vor und keinesfalls handelt es sich bei seinen Schriften um eine „Anwendung“ einer elaborierten Theorie, sondern um problembezogene Untersuchungen, die zugleich politische Interventionen sind. Das unvollendete Kapital hat eine Sonderstellung inne, denn es bietet fachwissenschaftlich eine über viele Stufen führende dialektische Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise. Es ist aber zugleich ein politisches Werk, da es eine gänzlich neue Beschreibung der zu transzendierenden Gesellschaft liefert. Auch in dieser ____________________ 37 38

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Ders., Grundrisse, S. 20. Eine Diskussion von Marxens Verhältnis zum Labor-Republikanismus (Gourevitch, From Slavery) erfordert mehr Raum als mir zur hier Verfügung steht.

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zweiten Variante der Kritik am Liberalismus nutzt Marx seine positive Freiheitskonzeption, die auf faktisches Handeln von Individuen und der Gesellschaft bzw. Gemeinschaften abstellt und deren soziale Voraussetzungen (Verfügung über Mittel der Produktion, Organisation und soziale Gleichheit) betont. Das tritt in seinem alternativen Verständnis von Reichtum hervor, der nicht verdinglicht in Waren, sondern in einer Vielfalt von gesellschaftlichen Beziehungen, in „freier Individualität“ bestehe. Die Marxschen Kritiken am Liberalismus enthalten drei wichtige Punkte. Erstens wird durch die wissenssoziologische Bestimmung von Liberalismus als bürgerlicher Ideologie, Wissen prinzipiell als politisch relevant und politisch konstituiert begriffen. Kritik an diesem Wissen und ein neues kritisches Vokabular sind der Kern von Marxens Public Political Science. Zweitens, die normative Basis der gesamten Marxschen Kritik bildet ein Freiheitsverständnis, das nach den Akteuren, Mitteln und Spielräumen der Freiheit im ökonomischen, sozialen und politischen Sinn fragt. Drittens unterstellt diese Freiheitskonzeption soziale Gleichheit als Voraussetzung von Freiheit, weil sie nur so absolut gefasst werden kann. Die in sich paradoxe Idee absoluter Freiheit, die gleichzeitig individuell und kollektiv sein soll, eignet sich zu radikaler Kritik, aber ihr Ort ist nicht die Gegenwart, sondern die kommunistische Gesellschaft der Zukunft. 5.

Recht auf Arbeit und Sozialismus

Tocqueville, Mill und Marx formen ihre Ansichten in Anbetracht der 1848er Revolution aus und sind von deren Ausgang schockiert. Die Republik und das erweiterte Wahlrecht führen zum neuen Kaiserreich von Napoleon III. Aber nicht die erstaunlichen Ähnlichkeiten in der Kritik des Bonapartismus sollen hier verfolgt werden, sondern die Stellungnahmen zur 1848er Revolution selbst interessieren. In ihnen gelangen das Recht auf Arbeit und der Sozialismus auf die Agenda und in diesem Kontext werden die Liberalismuskonzepte der drei Autoren gegenüber dem Sozialismus profiliert. Tocqueville hält Gleichheit für einen geringeren Wert als Freiheit, denn erstere sei stets mit Materiellem und dem Vergleich von Besitz, Einkommen und Ansehen verknüpft. Der permanente Vergleich gebiert, so der frühe Sozialstaatskritiker, Sozialneid. In seiner Rede vom 12. September 1848 vor der Verfassunggebenden Versammlung geht er bei der Diskussion der Probleme des Rechtes auf Arbeit, das durch einen Zusatzartikel in die Verfassung eingebracht werden sollte, deutlich weiter. Die Protagonisten dieses 37

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Rechtes erhofften sich davon einen Ausgleich zum Eigentumsrecht. Für Tocqueville führt solch ein Recht jedoch direkt in den Sozialismus, der notwendig despotische Züge hat. Es gäbe nur zwei Möglichkeiten, ein Recht auf Arbeit zu realisieren. Zum einen könne der Staat die Industrie verpflichten, Arbeitslose einzustellen. Das würde den Wettbewerb verkümmern lassen und laufe darauf hinaus, dass der Staat den Lohn festlegt. Die andere Möglichkeit sei, dass der Staat selbst Unternehmer wird. Wenn dieser Prozess einmal begonnen habe, müsse der Staat immer mehr wirtschaftliche Aufgaben übernehmen und sei am Ende Monopolist. Beide Lösungen seien problematisch und hätten einen Umbau der ganzen Gesellschaft zur Konsequenz.39 Tocqueville trennt den Staat von der Gesellschaft und gibt seinem republikanischen Liberalismus, der leistungsaristokratische und zivilgesellschaftliche Momente in sich birgt wie eine Verteidigung der Marktwirtschaft, eine antisozialistische Spitze. Während er den Sozialismus als Angriff auf das Privateigentum versteht, versöhnt er moderne Demokratie und liberale Ordnung miteinander. Nutzt Tocqueville einen dekontextualisierten Begriff von Eigentum, so geht Mill konkreter vor und erblickt in der rechtlichen Regulierung des (Privat-)Eigentums eine Möglichkeit des Sozialismus. Diese Einsicht liegt seinem Plädoyer für eine gemischte Wirtschaft mit reguliertem Privateigentum, genossenschaftlichem Eigentum und Formen von Gewinnbeteiligung der Arbeiter in der Industrie zugrunde. Mill steht dem Sozialismus also freundlicher gegenüber als Tocqueville. Dafür spricht das berühmte Kapitel seiner Principles of Political Economy über die „wahrscheinliche Zukunft der arbeitenden Klassen“ (1852).40 Noch wichtiger ist hier sein Aufsatz Vindication of the French Revolution of February 1848,41 in dem Mill erläutert, warum er ein Recht auf Arbeit für problematisch hält. Zwar ist ihm das moralische Axiom verständlich, das dieser Rechtsidee zugrunde liegt, aber ökonomisch und auch mit Blick auf die Bevölkerungszunahme betont er: ____________________ 39 40

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Vgl. Swedberg, Tocqueville’s Political Economy, S. 146-172. Mill hält freilich auch in der zweiten Auflage seiner Principles of Political Economy fest: „[T]he principle of individual property would have been found to have no necessary connexion with the physical and social evils which almost all Socialist writers assume to be inseparable from it“ (CW II, S. 208 (Book II, chp. I, § 3)). Mill, Rechtfertigung, S. 159. Der Mill-Experte Varouxakis (Victorian Political Thought, S. 75) nennt den Aufsatz zu Recht „the most seminal article of his entire output as a political thinker“.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx „Die provisorische Regierung erwog nicht, was übrigens kaum einer ihrer Kritiker erwogen hat, dass zwar jeder Einzelne der lebenden Bruderschaft des Menschengeschlechtes moralisch berechtigt sei, einen Platz an der Tafel zu finden, die durch gemeinsame Anstrengungen des ganzen Geschlechtes hergerichtet werde, dass es aber keinem zustehe, ohne Zustimmung der Übrigen weitere Gäste dazu zu laden. Denjenigen, welche dies tun, sollte das, was diese Fremden verzehren, von ihrem eigenen Anteil abgezogen werden.“42

Das Recht auf Arbeit mutiere unter der Hand zu einem generellen Recht auf Unterhalt durch den Staat, das ökonomisch nicht realisierbar sei. Mill verteidigt die Revolution von 1848 und äußert sich abwägend zur einschneidenden Juniinsurrektion, bei der tausende Arbeiter getötet, mehr als 20.000 festgenommen und über 10.000 inhaftiert oder deportiert wurden: „In den Prinzipien oder der Lehre der sozialistischen Führer lag keine Tendenz, die zwangsläufig zum Ausbruch eines Aufstandes hätte führen müssen. Vielmehr hatte er seinen Ursprung in der Plötzlichkeit und dem überraschenden Charakter der Februarrevolution, die hauptsächlich von Sozialisten ins Werk gesetzt worden war und so die sozialistischen Meinungen in eine Stellung anscheinender Macht versetzte, ehe die intellektuellen Köpfe des Gemeinwesens im Allgemeinen für die Lage vorbereitet waren oder das große Problem ernsthaft ins Auge gefasst hatten.“43

Mills Stellungnahme schließt jedoch Kritik nicht aus. Dezidiert geht er auf die untauglichen Mittel ein, die Sozialisten zur Beseitigung von sozialer Ungerechtigkeit vorschlagen und kommt dabei auf das Ziel der Gleichheit zu sprechen. Er begreift Gleichheit nicht als einen der Freiheit untergeordneten materiellen Wert. Vielmehr gilt: „Wir sind mit Bentham der Ansicht, dass Gleichheit zwar nicht der ausschließliche Zweck, aber doch einer von den Zwecken guter gesellschaftlicher Anordnungen ist und dass ein System von Einrichtungen, das nicht die Waagschale jedes Mal zugunsten der Gleichheit senkt, so oft dies geschehen kann, ohne die Sicherheit des Eigentums zu gefährden, welches das Ergebnis und der Lohn persönlicher Anstrengung ist, ihrem innersten Wesen nach eine schlechte Regierung, eine Regierung der Wenigen zum Nachteil der Vielen ist.“44

Indem Mill Regulierung des Privateigentums und Ausweitung der Gleichheit denkt, die nur graduell im Zuge breiterer Bildung als realistisch erscheint, redefiniert er Sozialismus und kann ihn als Konsequenz seines sozialen Liberalismus ansehen. ____________________ 42 43 44

Mill, Rechtfertigung, S. 157f. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164f.

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Auch Marx hat sich zum 1848 proklamierten Recht auf Arbeit geäußert. In der Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850 betont er zunächst, dass in dieser Revolution die bürgerliche Republik erkämpft wurde und geht dann auf das Recht auf Arbeit und die Nationalwerkstätten ein. Marx springt mit beiden Reformversuchen harsch um und verurteilt sie als Versuch, neben dem Kapital und dem Bürgerlichen etwas zu schaffen, was keinen Bestand haben kann.45 Geschichtsphilosophisch lobt er die Juniinsurrektion als große offene Schlacht von Klasse gegen Klasse, danach passiert in der Revolution für ihn nicht mehr viel, weil das von ihm privilegierte Proletariat kaum noch als selbstständiger Akteur auftritt und das Bürgertum ängstlich agiert. Die Insurrektion zeige allerdings, dass das Terrain der Revolution europäisch geworden ist. Marx hing, als er Die Klassenkämpfe in Frankreich begann, noch der Vorstellung an, dass die Revolution sich wieder radikalisieren und zu sozialistischen Konsequenzen führen könnte. Dies war bekanntlich nicht der Fall. In der 1852er Schrift Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, verfasst nach dem bonapartistischen Staatstreich, ändert sich der Plot. Die Revolution wird nun von Beginn an als eine zum Versagen verurteilte dargestellt, womit eine noch schärfere Bewertung des Handelns der Akteure einhergeht. So ätzt Marx über die parlamentarische Linke, die „neuen Montagne“, und sieht die Geburt der „Social-Demokratie“, von der „demokratisch-republikanische Institutionen verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln“.46 Diese vehemente Abgrenzung stellt sozialistische Konkurrenten komplett ins Lager des bürgerlichen Liberalismus. Marx setzt sein Konzept zudem von anderen Ideen des Kommunismus ab, wobei ähnliche Befürchtungen vor striktem Egalitarismus wie bei Tocqueville und Mill deutlich werden. Schon 1844 in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten heißt es über den forciert egalitären „rohen Kommunismus“. „Dieser Kommunismus – indem er die Persönlichkeit des Menschen überall negiert – ist eben nur der konsequente Ausdruck des Privateigentums, welches diese Negation ist.“47 Diese Aufhebung des Privateigentums sei keine wirkliche Aneignung, sondern ____________________ 45 46 47

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Marx, Klassenkämpfe, S. 31-33. Ders., Der achtzehnte Brumaire, S. 141. Ders., Manuskripte, S. 534f. – Hervorh. im Orig.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx „die abstrakte Negation der ganzen Welt der Bildung und der Zivilisation, die Rückkehr zur unnatürlichen Einfachheit des armen, rohen und bedürfnislosen Menschen, der nicht über das Privateigentum hinaus, sondern noch nicht einmal bei demselben angelangt ist.“48

Auch eine zweite Variante verfällt der Kritik. Dieser „Kommunismus α) nach politischer Natur, demokratisch oder despotisch; β) mit Aufhebung des Staats, aber zugleich noch unvollendetem und immer noch mit dem Privateigentum, d.h. der Entfremdung des Menschen, affiziertem Wesen. In beiden Formen weiß sich der Kommunismus schon als Reintegration oder Rückkehr des Menschen in sich, als Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung, aber indem er das positive Wesen des Privateigentums noch nicht erfaßt hat und ebenso wenig die menschliche Natur des Bedürfnisses verstanden hat, ist er auch noch von demselben befangen und affiziert.“

Das Wesen wäre erst auf einer dritten Stufe erkennbar, denn dort gilt „[d]er Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen“.49

Das ist Marxens formal-dialektische Beschreibung des Kommunismus, deren Variation im Kommunistischen Manifest dann paradox als kommunistischer Individualismus gefasst wird. Normativ wird dem falschen Egalitarismus ein Verständnis von Individualitätsentwicklung in Gemeinschaft und Gesellschaft entgegengestellt, an dem Marx festgehalten hat.50 Der Kritiker der Politischen Ökonomie, der gerne zum Vertreter radikaler sozialer Gleichheitsforderungen gemacht wird, attackiert schlichten Egalitarismus vielmehr vehement. Sein Leitwert ist die positive Konzeption von Freiheit, deren Realisierung erst jenseits von verselbstständigten gesellschaftlichen Verhältnissen und jenseits des Staates möglich sei.

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Ebd., S. 535. Ebd., S. 536 – Hervorh. im Orig. – sowie S. 535, wo es heißt, erst dann wäre der Mensch „in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen“. Vgl. Marx, Grundrisse, S. 91. Hier wird „freie Individalität“ als höchste historische Entwicklungsstufe bezeichnet. Vgl. auch ders., Kapital, S. 791, wo er nicht von gesellschaftlichem, sondern von „individuellem Eigentum und gemeinschaftlichem Besitz“ im Kommunismus spricht. Vgl. allgemein dazu Pies/Leschke, Marx’ kommunistischer Individualismus.

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6.

Resümee

Das diskutierte Dreigestirn innovativer Autoren setzt sich für neue Formen politischer Wissenschaft ein, in deren Rahmen Liberalismus und Freiheit reformuliert werden. Tocqueville hat dies 1835 für die neue Welt der Demokratie gefordert. Mill zitiert die Passage 1836 zustimmend und kommentiert: „Das ganze Bild der Gesellschaft ist umgewandelt – alle natürlichen Grundlagen der Gewalt haben endgültig den Ort gewechselt.“51 Marx schließlich strebt mit seiner Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und Politik ebenfalls eine neue Wissenschaft an, die das Verständnis von Politik ausweitet. Die commercial society hat für die drei Sozialwissenschaftler widersprüchliche bzw. ambivalente Effekte und gilt in unterschiedlicher Weise als regulierbar. Sie nutzen Konzepte sozialer Klassen, aber die Vermittlung zwischen Individuen und Klassen bleibt ungelöst: Tocqueville beschreibt den Wandel der mœurs, kann deren theoretischen Status aber systematisch nicht hinreichend bestimmen; Mills Ethologie ist ein unvollendetes Projekt und in welchem Verhältnis Marx’ politökonomischer Klassenbegriff aus dem Kapital zu seiner historisch konkreten Anwendung steht, ist eine offene Frage. Es gibt also Lücken in der gesellschaftstheoretischen Erklärung von Politik und der Bestimmung von Liberalismus. Zudem fallen die Akzente verschieden aus. Marx erscheint im Vergleich als der größte Progressist, weil er ein Transzendieren der für ihn anarchischen und nur partiell gestaltbaren kapitalistischen Wirtschaftsweise annimmt. Tocqueville hingegen betont die ambivalenten Seiten des Fortschrittes der gesellschaftlichen Dynamik und der Gleichheit, wobei er sich gegen Regulierung der Wirtschaft und für Begrenzung der Politik ausspricht. Mill ist ein begrenzter Progressist, der permanentem Wachstum skeptisch gegenübersteht und eine stationäre Gesellschaft mit geringem oder ohne Wachstum denkt, in der bei gemilderter Konkurrenz mehr Raum für qualitative Fragen der Lebensführung verbleibt. Während für Tocqueville und Mill der Wirtschaftsliberalismus Teil eines weit verstandenen Liberalismus ist, begreift Marx den Liberalismus innerhalb seines ökonomischen Determinismus. Für alle drei Theoretiker ist die Freiheitsidee zentral. Ich habe bei Tocqueville die republikanische Freiheitskonzeption akzentuiert, mit der Freiheit in einer liberalen politischen Ordnung als Selbstzweck begriffen wird und über der Gleichheit rangiert. Das politische Handeln der Einzelnen und ____________________ 51

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Mill, Zivilisation, S. 403.

Neubestimmungen von Liberalismus bei de Tocqueville, Mill und Marx

der Bürgerschaft dient der sozialen Integration einer komplexen, durch ambivalente Tendenzen charakterisierten, Gesellschaft. Mill betont die Gleichheit und soziale Inklusion stärker. Freiheit und Gleichheit denkt er im Rahmen selbstbestimmter Individualitätsentwicklung. Seine Bedrohungsanalysen der Freiheit ähneln jenen von Tocqueville, aber er erkennt strukturellen Reformbedarf auf der Ebene der rechtlichen Regulierung des Eigentums, der Schaffung einer gemischten Wirtschaft sowie sozialer und politischer Inklusion der Arbeiter und Frauen. Auch die Marxsche Kritik am Liberalismus ist von einer Freiheitsidee getragen. Er steigert diese zu einer absoluten Freiheitskonzeption, die individuelle und kollektive Freiheit verbindet, womit zugleich, trotz seiner Skepsis gegenüber schlichten Gleichheitsvorstellungen, auch die soziale Gleichheit stark forciert wird. Der emphatische Marxsche Ansatz erlaubt zwar radikale Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, ist aber in einer transpolitischen Vorstellung von selbstzweckhafter freier Individualitätsentwicklung verankert, die erst im Kommunismus möglich sein soll. Trotz verbaler Nähen tritt der Gegensatz zu den beiden liberalen Klassikern und deren politischen Freiheitskonzeptionen massiv hervor. Gemeinsam ist den drei Deutungen moderner Politik, die alle bei der Gesellschaft ansetzen, nicht nur das geteilte, akteurstheoretische Herangehen (Individualität, Klassen, Vermittlung von Individuum und Gesellschaft). Noch wichtiger ist: Sie stellen alle auf zwei strukturelle Prozesse ab. Erstens die Zunahme sachlicher, anonymer Verhältnisse – freilich gelingt es keinem der Autoren, die akteurs- und strukturtheoretische Perspektive systematisch überzeugend zu verknüpfen. Zweitens ist die von ihnen kritisch erörterte inhaltliche Entleerung von Begriffen einer verselbstständigten, modernen politischen Sprache (Freiheit, Gleichheit, Gesellschaft, Klassen) zu nennen, der sie selbst durch vielfache Spezifikationen zu entkommen suchen. Die Autoren verbindet nämlich die Einsicht, dass das Besondere und Spezielle für die Politik ausschlaggebend ist. Von daher gesehen wenden sich ihre präzisierenden Versozialwissenschaftlichungen der politischen Sprache gegen die Deduktion von Rezepten aus Theorien. Die drei Theoretiker begreifen soziales und politisches Wissen neu, und zwar über die affektive Besetzung von Ideen durch soziale Gruppen (Tocqueville), die interessengeleitete Deutung von Begriffen und Verwandlungen in Abstrakta (Mill) oder über die wissenssoziologische Dekodierung politischer Sprache als Artikulationsform von Klassenbewusstsein bzw. als ideologische Systembeschreibung der Ökonomie (Marx). Die Rollen von politischer und sozialer Selbstbeschreibung, aber auch wissenschaftlicher

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Beschreibung werden jeweils differenziert. Daher sind auch die wissenschaftlichen und publizistischen Möglichkeiten unter den Bedingungen veränderter politischer Sprache zu reflektieren. Im Falle von Tocqueville und Mill wird gegen die Gefahr um sich greifender Tyrannei der öffentlichen Meinung angeschrieben, die Marx in der hegemonialen bürgerlichen Ideologie schon realisiert sieht, wobei das idealisierte Proletariat von Ideologie im Sinne von falschem Bewusstsein und partikularen Klasseninteressen ausgenommen wird. Wiewohl nur Tocqueville und Marx den Wandel der politischen Sprache systematisiert konzeptualisieren, tritt dessen Bedeutung auch bei Mill hervor, wenn man seine konkreten politischen Analysen einbezieht. Wie exemplarisch gezeigt, verbindet er Interessen und politische Ideen miteinander und bettet Deutungen der sozialen Welt in (nationale) politische Kulturen ein. „Die neue politische Wissenschaft“, die neuartige Sozialphilosophie und die radikale Gesellschaftskritik sind Varianten von Public Political Science, die veränderte soziale Beschreibungsvokabulare anbieten und ihr Publikum primär in der allgemeinen Öffentlichkeit bzw. Gegenöffentlichkeiten suchen. Gehalte der drei Reformulierungen des Liberalismus sind nach wie vor aktuell. So haben sich der Liberalismus tocquevilleanischer und millianischer Provenienz wiederholt als Reservoir zur Kritik am schlicht-ökonomischen (Neo-)Liberalismus erwiesen. Marx hat seit einiger Zeit als Kritiker der Marktgesellschaft und des Liberalismus wieder Konjunktur, aber selten in der ideologiekritischen Form, die sich gegen die Abstraktheit politischer Sprache und Konzepte richtet. Vielmehr fungiert (Neo- bzw. Neo-Neo) Liberalismus bei seinen heutigen Kritikern oftmals als inhaltsentleerte Chiffre, die inzwischen ähnlich vage ist, wie Marxens emphatisches Verständnis von Kommunismus.

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Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte? Der Konstitutionalismus und die prekären Grundlagen demokratischer Ordnung Hans Vorländer

1.

Einleitung

Der gestellte Titel „Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte?“ stellt eine Versuchung dar. Die Versuchung besteht darin, eine Erfolgsgeschichte der Verfassung und des Verfassungsstaates zu skizzieren, die ihren Ausgang im 18. Jahrhundert mit den liberalen Ideen und bürgerlichen Bewegungen nimmt, sodann die vor allem im 20. Jahrhundert zu verzeichnenden Wellen von Konstitutionalisierungsprozessen hervorhebt und schließlich zu dem Resultat kommt, dass zu Beginn des 21. Jahrhundert der Triumph des Konstitutionalismus zu konstatieren ist. Eine solche Geschichte linearen Konstitutionalisierungsfortschrittes könnte darauf verweisen, dass sich viele demokratische Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg nach einem ganz bestimmten Modell verfasst haben, welches in den Vereinigten Staaten 1776 und 1787 grundgelegt worden ist. Gewaltenteilung, Schutz der Grundrechte, repräsentativ-demokratische Institutionen, eine starke Gerichtsbarkeit, überwiegend auch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, haben dem Typus der Verfassungsdemokratie beziehungsweise der Grundrechtedemokratie weltweite Geltung verschafft. Insofern waren die Demokratisierungsprozesse nach 1945, der Fall der Diktaturen in Südeuropa (Griechenland, Portugal, Spanien) und nach 1990 in Mittel- und Osteuropa die letzten entscheidenden Etappen zur Durchsetzung des Verfassungsstaates. Was in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 im Artikel 16 so pointiert wie pathetisch formuliert wurde, dass nämlich eine Gesellschaft, in der die Gewaltenteilung und der Schutz der Grundrechte nicht garantiert seien, keine Verfassung habe,1 hat sich damit erfüllt: Wer etwas auf sich hält, hat eine Verfassung. Und wer zum Club der respektablen Demokratien gehören ____________________ 1

Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen de 1789: „Toute Société dans laquelle la garantie des Droits n’est pas assurée, ni la séparation des Pouvoirs déterminée, n’a point de Constitution“.

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möchte, muss schon den Schutz der Grundrechte gewährleisten und die Gewalten trennen. Auch die Tatsache, dass seit Mitte der 1970er Jahre weit mehr als die Hälfte der existierenden Verfassungen einer Reform oder gar Totalrevision unterzogen wurden, spricht zweifelsfrei für die Attraktivität des Verfassungsgedankens. Doch ist das Narrativ vom Triumph des Konstitutionalismus im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert eine zu schöne Autosuggestion der Freunde der Verfassung. Wie alle Selbstbeschreibungen hat auch dieses konstitutionelle Narrativ den entscheidenden Fehler, dass es die dunklen Seiten, das Scheitern liberaler und demokratischer Ordnungen, das Durchbrechen verfassungsstaatlicher Grundsätze und die latente Bedrohung beziehungsweise die manifeste Präsenz diktatorischer, autoritärer oder semiautoritärer Ordnungen ausblendet (wobei selbst diese sich nicht selten hinter konstitutionellen, legalen Anschein erzeugenden Fassaden zu verstecken suchen).2 Wer also glaubt, dass mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts die Geschichte an ihr alternativloses Ende konstitutioneller Erwartungserfüllung gekommen ist, wird jäh aus seinen ‚süßen Träumen‘ gerissen, wenn sich nunmehr herausstellt, dass sich ost- und mitteleuropäische Staaten vom Modell der Verfassungsdemokratie abzuwenden beginnen, die Europäische Union sich in einem Zustand hybrider, ergebnisoffener Konstitutionalisierungsversuche befindet, und Globalisierungsprozesse den Konstitutionalismus seiner territorialstaatlichen Grundlagen berauben. Zwar schien es so, als könnte die Vorstellung eines globalen Konstitutionalismus zu einem neuen, utopischen Sehnsuchtskonzept werden und als „Bewegungsbegriff“ im Sinne Kosellecks eine universale rechtliche Ordnung der Welt projektieren, doch hat sich auch hier Ernüchterung breit gemacht. Der Hype um den Konstitutionalismus, den auch wir, wenngleich etwas verspätet, in der Wissenschaft und der Theorie von der Politik entfacht und dann auch befeuert haben, weil er womöglich das letzte, lange Zeit unbestellte Terrain vermeintlich herrschaftsfreier oder machtdomestizierender Normativitätsdiskurse gewesen sein mochte, hat insgesamt übersehen lassen, dass auch dem Typus des liberalen und demokratischen Konstitutionalismus von Anfang an ein labiles, störungsanfälliges Geflecht von institutionellen, prozeduralen, soziomoralischen und kulturellen Vorkehrungen und Annahmen eingeschrieben war. Denn die Logiken, Voraussetzungen und Kontexte des Konstitutionalismus zeichnen Spannungslagen aus, welche im Normalfall politisch und prozessual abgearbeitet werden können, die aber genauso gut zum historischen ____________________ 2

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So schon für die Fälle des „Scheinkonstitutionalismus“ Löwenstein, Verfassungslehre (im Original: Political Power and the Governmental Process).

Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte?

Scheitern des Modells liberaler und demokratischer Konstitutionalismus geführt haben und auch wieder führen können. In der Folge werde ich in gebotener Kürze vier Spannungslagen näher betrachten. Da ist zum einen die Frage, wie konstitutionelle Ordnungen begründet und erhalten werden. Unter demokratietheoretischen Vorzeichen lässt sich diese Frage als die Spannung zwischen Autonomiebehauptung und Unverfügbarkeitspraxis thematisieren. Da ist, zweitens, die Frage nach dem Verhältnis von Konstitutionalismus und Demokratie, oder anders formuliert: die Frage nach der Souveränität im Verfassungsstaat. Hier geht es um das Spannungsfeld von Ermächtigung und Entmächtigung. Drittens sind die Konstitutionalismen der Moderne überwiegend auf repräsentative Formen der politischen Willens- und Entscheidungsbildung ausgerichtet, welche das Verhältnis von Stellvertretung und Unmittelbarkeit politischen Handelns aufruft. Und schließlich steht das Modell des demokratischen Konstitutionalismus in der Spannung zwischen Universalitätsanspruch und Partikularitätskontext. Hier geht es vor allem um die Bestimmung des politischen Raumes, in dem eine Verfassung gelten soll und will. Wenn ich in der Folge von Konstitutionalismus spreche, so meine ich den liberalen und demokratischen Verfassungstypus, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herauskristallisiert und der das Ergebnis vielfältiger Transformationen, Adaptionen und Anverwandlungen antiker, stadtrepublikanischer und frühneuzeitlicher Traditionen vormoderner Konstitutionalismen ist, die sich in den griechischen Poleis, im republikanischen Rom, im Kommunalismus Oberitaliens, aber auch in den Statuten von Ordensgemeinschaften und Universitäten zu erkennen gegeben haben. Diese historischen Pfade verfolge ich hier nicht, wenngleich sie entwicklungsgeschichtlich äußerst aufschlussreich sind.3 Mir kommt es hier und jetzt auf die theoretischen und systematischen Spannungslagen an, in denen sich ein Liberalismus der Rechte und eine Demokratie, verstanden als bürgerschaftliche Selbstregierung, zu einem Typus konstitutioneller Demokratie gefügt haben.4

____________________ 3 4

Vgl. Vorländer, Die Verfassung, sowie McIlwain, Constitutionalism. Im Folgenden greife ich immer wieder auf bereits veröffentlichte Arbeiten zu Teilaspekten, die in diesen Kapiteln behandelt werden, zurück. Generell sind die Referenzen auf ein Mindestmaß reduziert.

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2.

Konstitutionalistisches Unverfügbarkeitsparadox

Verfassungen werden in der Regel nach politischen oder sozialen Umbrüchen oder Revolutionen gegeben. Dabei erscheint die zu gestaltende zukünftige Ordnung wie ein leeres Blatt Papier: Der pouvoir constituant ist frei, über diese in toto zu verfügen und damit festzulegen, was immer er als Grundlagen zu fixieren für wesentlich hält. Zugleich aber zeigt sich in den Gründungsphasen moderner Verfassungen, dass dort, wo der Demos die verfassunggebende Gewalt innehat, Unverfügbarkeiten geschaffen werden, die für die Zukunft der konstituierten Ordnung Effekte der Selbstbindung erzeugen. Der Schutz der Grundrechte, die Teilung der Gewalten, die Kompetenzordnung, Institutionen, soziale und politische Ziele werden zu den raison d’être konstitutioneller Ordnung und die Verfassung mit einer besonderen Stellung des Vorrangs gegenüber einfachgesetzlichem Recht und der Alltagspolitik ausgezeichnet. Damit wird von der gegebenen Konstitution erwartet, dass sie den Kontingenzen und Dezisionen des politischen Prozesses standhält. Hier wird der Konstitutionalismus zu einem Modus liberaler und demokratischer Ordnungsstabilisierung. Zugleich wird eine Spannungslage geschaffen, die darin besteht, konstituierende Autonomie in konstitutionelle Erwartbarkeit und Selbstbindung zu transformieren, also rechtlich abgesicherte Unverfügbarstellungen mit gleichzeitig potentiell unbeschränkter Verfügbarmachung der politischen Ordnung im demokratischen Prozess vereinbart zu halten. Man kann dies das konstitutionalistische Unverfügbarkeitsparadox nennen.5 In systematischer Hinsicht wird dieser paradoxe Zusammenhang von demokratischer Autonomie und konstitutioneller Unverfügbarkeit bereits in den Diskursen um die Gründung und die Aufrechterhaltung moderner liberaler und demokratischer Systeme diskutiert. So stellte beispielsweise JeanJacques Rousseau in seinen Überlegungen zur Etablierung einer demokratischen Republik die Frage, wie diese begründet und erhalten werden kann. Dabei reichten offensichtlich kontraktualistische und vernunftrechtliche, auf Selbstautorisierung und Selbstgesetzgebung beruhende Begründungen für die Einrichtung des êtat civil nicht aus, um diesen auch für die Zukunft abzusichern. Rousseaus Lösung des Problems bestand in drei Formen einer Sakralisierung des Gründungsvorganges: zum einen in der Transzendierung des Gesellschaftsvertrags zum quasi-göttlichen Schöpfungswerk des grand ____________________ 5

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In etwas anderen Formulierungen vgl. auch Fischer, Zukunft einer Provokation, und, bezogen auf den Konstitutionalismus, ferner Loughlin/Walker, Paradox of Constitutionalism, sowie Vorländer, Demokratie und Transzendenz, S. 11-37.

Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte?

legislateur, zum zweiten in der Kreierung einer religion civile, eines bürgerschaftlichen Glaubensbekenntnisses, welches, zusammen mit der dritten Form, der Etablierung einer republikanischen Festkultur, die als unverfügbar angesehenen Geltungsvoraussetzungen demokratischer Ordnung in rituellen, kultischen und performativen Akten abrufbar und damit präsent und symbolisch verfügbar hält. Auf diese Weise erhoffte sich Rousseau, dass der von einem „großen Gesetzgeber“ vollzogene Einsetzungsakt des Staates céleste et indéstructible gestellt werden konnte. Die Zivilreligion sollte ein über die Befolgung der Gesetze hinausgehendes Maß an Soziabilität sicherstellen, ohne welche die politische Ordnung auf Dauer nicht werde bestehen können. Und in den Festen sollte die Gemeinschaft immer wieder vollzogen, erneuert und bekräftigt werden.6 Worum es hier bei Rousseau, aber keineswegs nur bei ihm, sondern auch bei den amerikanischen Federalists ging, das war die Frage, wie das Paradox bewältigt werden könnte, dass der Konstitutionalismus, der in seiner Begründung auf Autonomie und Selbstgesetzgebung beruht, nun doch, um sein rechtlich-institutionelles Ordnungsarrangement auf Dauer stellen zu können, genau auf jene Voraussetzungen und Ressourcen zurückgreifen muss, auf die er nicht mehr glaubte zurückgreifen zu können oder zu sollen. Deshalb führte Rousseau die Religion – in ihrer sozialen Funktion – durch die Hintertüre wieder ein, um dem Vertrag einen sakralen Rang zuzuweisen und rekurrierten die amerikanischen Federalists auf republikanische Bürgertugenden und religiös inspiriertes Sendungsbewusstsein eines novus ordo saeclorum, um der durch demokratische Ratifikation in Kraft gesetzten Verfassung eine „Heiligung“ zuteilwerden zu lassen und auf diese Weise die „bindende Macht des Gegründeten selbst“7 erzeugen zu können. Empirisch lassen sich seitdem über die zweieinhalb Jahrhunderte vielfältige Formen von „Verfassungssakralisierung“ nachweisen.8 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, selbst zivilreligiös überhöht, glaubte gar, eine Ewigkeitsgarantie als konstitutionelles Normprogramm fixieren zu können. Prekär sind und bleiben indes die Versuche, das konstitutionelle Unverfügbarkeitsparadox zu bewältigen. Denn Verfassungen, in denen die Gründung und die Grundlagen der Ordnung aufbewahrt sind, mögen zwar, ____________________ 6 7 8

Vorländer, Brauchen Demokratien eine Zivilreligion?, S. 143-162. Arendt, Was ist Autorität?, S. 188. Siehe hierzu auch Vorländer, Demokratie und Transzendenz, S. 11-37; zu den empirisch vorfindbaren Formen der Verfassungssakralisierung vgl. etwa Vorländer, Verfassungsverehrung in Amerika, S. 69-82; Schulz, Das Sakrale im Zeitalter seiner politischen Reproduktion, S. 335-353, und mit kritischem Blick auf Deutschland Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?

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aus guten und historischen Gründen, tragende Leitideen, Rechte und Institutionen für unantastbar erklären, doch den Status der „geheiligten“ Unverfügbarkeit erhalten diese erst dann, wenn die Gründe ihrer Sakralisierung diskursiv präsent und in symbolischen Praktiken vergegenwärtigt, erinnert, erneuert und von den Bürger geglaubt, das heißt, für richtig gehalten werden. Das aber ist keineswegs garantiert. Mit den Unverfügbarkeiten und den angelagerten Sakralisierungen ist jedoch auch die strukturelle Gefahr der Überkonstitutionalisierung verbunden. Aus Einhegung wird Einengung – und zwar dort, wo dem demokratischen Prozess der Raum der Willens- und Entscheidungsbildung genommen wird, um Politikwechsel zu vollziehen, die sich durch geänderte Problemlagen oder veränderte Mehrheiten ergeben. Verfassungsgerichte können als „Hüter der Verfassung“ den gesetzgeberischen Handlungsbereich über Gebühr einschränken, Politik wird zum Vollzug konstitutioneller Vorfestlegungen, demokratische Politik wird delegitimiert. In die gleiche Richtung tendiert die Überrepräsentativität eines Regierungssystems, in dem die Skepsis gegenüber dem Volk zur Verselbständigung von Amtsträgern, staatlichen Akteuren und politischen Eliten führt. In beiden Fällen gerät die liberale Demokratie aus ihrer empfindlichen Balance.

3.

Paradox der konstitutionellen Volkssouveränität

Der Konfliktfall rückt die Spannungslage in das Bewusstsein. Wenn der deutsche Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ein Gesetz verabschiedet und dieses Gesetz bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das Verfassungsgericht das Testat der Verfassungswidrigkeit ausgestellt bekommt, dann wird deutlich, dass der Gesetzgeber nicht das letzte Wort hat. Die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland kennt eine Reihe von Fällen, in denen der Bundestag ein Gesetz verabschiedet hat und dieses in der Folge vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig und damit für null und nichtig erklärt wurde.9 Die konflikthafte Verfassungslage wird deutlich: Demokratie und Konstitutionalismus befinden sich in einem Spannungsverhältnis. Verfassungen beschränken den Mehrheitswillen. Sie legen ihm inhaltliche und prozedurale Grenzen auf. Der Volkswille kann keineswegs alles, er ist gebunden. Nicht nur werden der staatlichen Gewalt, der Exekutive, Ketten angelegt, ____________________ 9

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Hier folge ich meinen Überlegungen in Vorländer, Die Suprematie der Verfassung, S. 373-383.

Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte?

nicht nur wird die staatliche Gewalt an Recht und Gesetz gebunden. Auch der demokratische Gesetzgeber, das Parlament als stellvertretende, repräsentative Betätigung des Volkswillens unterliegt rechtlichen Grenzen. Was aber heißt das? Das heißt doch nichts anderes, als dass Themen, Entscheidungs- und Regelungsgegenstände dem politischen Prozess entzogen sind, weil Mehrheiten nicht Gewähr bieten, dass sie wichtige, für besonders wichtig gehaltene Rechtsgüter schützen. Mehr noch, es heißt auch, dass der Verfassungsgeber, der pouvoir constituant, den verfassten Gewalten Auflagen erteilt hat, an die sich die pouvoirs constitués in der Folge auch binden lassen müssen. „Es ist ein Widerspruch“, so sagt Rousseau, „dass die souveräne Macht sich selbst Fesseln anlege“.10 Und doch ist es so: Der Verfassungsgeber bindet die durch die Verfassung konstituierten Gewalten. Und nicht nur das, die Verfassung durchbricht das demokratische Majoritätssystem und domestiziert den Demos. Der Ermächtigung durch den Verfassungsgeber folgt die Entmächtigung der verfassten Gewalten auf dem Fuße. Konstituiert die Verfassung die demokratischen Gewalten, so limitiert die Verfassung das Demokratieprinzip in grundlegender Weise. Die Verfassung rückt hier in den Platz ein, der historisch zuerst von einer souveränen Person, dem Herrscher, dem Monarchen, und dann, in der Figur der reinen Demokratie, von der Souveränität des Volkes besetzt gehalten wurde. Zuerst wird Schutz vor dem König in den spätmittelalterlichen constitutiones, den lois fondamentales bzw. den leges fundamentales, den Herrschaftsverträgen gesucht. Sodann, das ist das theoretische Problem bei John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville und das praktische Problem der amerikanischen Verfassungsgebung, wird der Schutz vor der Souveränität des Volkes und der potentiell immer für möglich gehaltenen Majorztyrannei gesucht. Der konstitutionellen Räson nach löst die Verfassung das Souveränitätsproblem auf, und zwar mithilfe des Rechts. Um zu verdeutlichen, wie hier die Verfassung zu verstehen ist, kann auf Luhmanns Beschreibung der evolutionären Errungenschaften von Verfassungen zurückgegriffen werden.11 Luhmann führt aus, dass die Verfassung eine Asymmetrie im Verhältnis von zwei verschiedenen Textsorten einführt, nämlich zwischen der Verfassung und dem übrigen Recht. Diese Asymmetrie der verschiedenen Textsorten schneidet den infiniten Regress in der Geltungs- und Begründungsfrage ab. Die Referenz auf Unverfügbarkeiten, wie sie vorher im Natur- und ____________________ 10 11

Rousseau, Betrachtungen über die Regierung Polens, S. 593. Vgl. Vorländer, Die Suprematie der Verfassung, S. 373-383; siehe hierzu auch Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, S. 176-220.

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Vernunftrecht als den Grenzen souveräner Entscheidungsgewalt zum Ausdruck kam, wird durch den Verfassungstext ersetzt. Die Verfassung hierarchisiert die Rechtsnormen und löst damit das Problem des einfachen Rechts, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu müssen. Die Paradoxie wird durch die Hierarchisierung der Rechtsnormen bearbeitet. Damit werden Konflikte durch Recht und nicht mehr auf Kosten des Rechts gelöst. Das ist die eine Sicht der Dinge. Die Verfassung löst also einen Souveränitätskonflikt. Die andere Seite ist, dass die Verfassung durch ihren Suprematieanspruch indes auch einen neuen Konflikt, nennen wir ihn einen institutionell manifest werdenden Souveränitätskonflikt, begründet. Verfassungen sind Texte, Texte aber sind interpretationsbedürftig. Sie sprechen nicht unmittelbar zu den politischen Akteuren. Sie bedürfen der Auslegung, Konkretisierung und Anwendung. Eine Verfassung gilt nicht, ist rein nominalistisch, wenn sie nicht jemanden bestimmt, der sie – vor allem im Konfliktfall – zur Anwendung bringt und ihre Durchsetzung garantiert. Verfassungen benötigen eine ihre auctoritas verkörpernde Institution, une bouche de la constitution.12 Die Konsequenz indes liegt auf der Hand: Mit der Interpretation einer Verfassung geht die ursprünglich vom souveränen Verfassungsgesetzgeber ausgeübte Normsetzungsbefugnis in eine Interpretationsbefugnis des zur Auslegung der Verfassung Berufenen über. Der zu Ende gedachte Konstitutionalismus führt also zur Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die autoritativ die Interpretation und Geltung der Verfassung verbürgt, damit aber die Suprematie der Verfassung in institutionell-politischer Hinsicht in eine Jurisdictio des Verfassungsgerichts überführt. Der eigentliche Souveränitätsgewinner im Verfassungsstaat ist der Verfassungsinterpret: aus dem demokratisch-parlamentarischen Gesetzgebungsstaat wird der verfassungsgerichtliche Jurisdiktionsstaat.13 Der Gesetzgeber ist in der Vorhand, das Verfassungsgericht hat den Vorrang. Die Suprematie der Verfassung beruht mithin in letzter Konsequenz auf einer doppelten translatio potestatis. Der Demos bindet sich selbst im und durch den Verfassungsstaat, überträgt seine Souveränität auf die prozedural und materialinhaltlich eingebundenen verfassten Gewalten. Diese wiederum unterwerfen sich in institutioneller Hinsicht der verfassungsgerichtli____________________ 12 13

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In leichter Abwandlung von de Montesquieu, De l’esprit des lois: [L]es juges de la nation ne sont […] que la bouche qui prononce les paroles de la loi“, S. 57 (Buch XI, Kap. VI); vgl. auch Vorländer, Deutungsmacht, S. 9-33. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 189ff.

Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte?

chen Jurisdiction. Wo sich der Verfassungsinterpret im Konzert der verfassten Gewalten auf eine eigene Institution stützen kann, ist das Verfassungsgericht der Souveränitätsgewinner. Ihm wächst Deutungsmacht zu – in einem Maße, wie es zunächst, in der Entstehungsphase des modernen Konstitutionalismus nicht vorstellbar, wenngleich in der Logik angelegt gewesen ist. Wenn dann zugleich der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie empirisch vielfach beobachtbar, ein erhebliches Maß an Auratisierung und Sakralisierung zuteil wird, so sind die Probleme für den politischen Prozess und die Spannungsbalance zwischen den politischen und den judikativen Gewalten offensichtlich. Es mag zwar sein, dass sich diese Spannung bei Betrachtung der mittlerweile fast zweihundertfünfzigjährigen Tradition des demokratischen Verfassungsstaates längst zu einem geregelten Nebeneinander demokratischer und konstitutioneller Prinzipien ‚entschärft‘ hat. Alle funktionierenden Demokratien, so scheint es, arbeiten innerhalb von Grenzen, die durch Beschränkungen gezogen sind. Doch innerhalb des demokratisch-verfassungsstaatlichen Systems kommt es immer dann zu Konkurrenzen, die sofort auch zu institutionell-politischen Spannungen und Konflikten zwischen den verfassten Gewalten führen, wenn das demokratische Prinzip der Souveränität in Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Vorentscheidungen und ihren jeweiligen – verfassungsgerichtlichen – Interpretationen gerät. Und der Konflikt spitzt sich dramatisch zu einem Konflikt zwischen zwei Souveränitätsansprüchen: dem demokratischen und dem konstitutionellen, zu, wenn die kontrollierende und korrigierende Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Gänze in Frage gestellt wird. Diskussionen um eine „Entgrenzung“ der Verfassungsgerichtsbarkeit, ihre aktive politische Rolle und die damit einhergehende Politisierung der Judikative bzw. die Juridifizierung des politischen Prozesses lassen das Verhältnis zwischen Konstitutionalismus und Demokratie immer wieder als ein prekäres erscheinen.14 Das gilt auch dort, wo auf der einen Seite eine „Überkonstitutionalisierung“15 ins Feld geführt wird, die die politischen Räume souveräner staatlicher Gestaltung überlagert, und andererseits, in einem ganz anderen Kontext, der „Wille des Volkes“ gegen die Herrschaft der Verfassungsrichter und Verfassungsrichterinnen in Stellung gebracht wird. In beiden Fällen droht die Balance zu kippen, im ersten Fall lässt sie ____________________ 14 15

Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht. In einem anderen Kontext wird der Begriff von Dieter Grimm verwendet; vgl. Grimm, Europa ja – aber welches?, S. 116; siehe auch Grimm, Freund der Verfassung, S. 241.

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sich neu justieren, im letzteren aber wird der Typus der konstitutionell gebundenen Demokratie grundsätzlich in Frage gestellt und seiner kontrollierenden Wirksamkeit beraubt.

4.

Das konstitutionelle Repräsentationsparadox

Konstitutionelle Ordnungen, soweit sie sich aus der liberalen Entwicklungsgeschichte herausgebildet haben, sind repräsentativdemokratische Systeme. Ihnen eignet die Überzeugung, dass sich Selbstregierung unter den Bedingungen von großer Zahl der Bürger, flächenstaatlicher Organisation und Diversität von Interessen und Wertvorstellungen nicht anders als in institutionell vermittelten Formen der Willens- und Entscheidungsbildung demokratisch verfassen lässt. Zu paradoxen Effekten scheint das Prinzip der Repräsentativität aber dort zu führen, wo es zu einer Überrepräsentativität politischen Entscheidungshandelns kommt und/oder das Vermittlungsverhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten derart gestört ist, dass die Legitimität repräsentativer Formen und Verfahren zugunsten des Modus unverstellter Unmittelbarkeit politischen Handelns infrage gestellt wird. Repräsentative Demokratien sind als robuste politische Systeme konzipiert worden. Ein ausgeklügeltes institutionelles Arrangement politischer Ordnung hat den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess auf verschiedenen Ebenen organisiert und dabei weniger die direkte Beteiligung der Bürger – jenseits von Wahlen – als vielmehr die stellvertretende Erledigung von Entscheidungs- und Kontrollaufgaben präferiert. Ein komplexes System wechselseitig aufeinander einwirkender Institutionen sucht der Demokratie Stabilität, Legitimität und Effizienz zu geben. Nicht zuletzt das Problem eines brüchig gewordenen gesellschaftlichen Zusammenhaltes sollte durch die repräsentative Form der Demokratie gelöst werden. Vor allem die amerikanischen Federalists sahen in Ungleichheit, Gruppenbildungen und einer Pluralität von Interessen die Kennzeichen der modernen, kommerziellen Gesellschaft und folgerten daraus den strukturellen Umbau des alten, antiken Systems „reiner Demokratie“.16 Thomas Paine, der aus England stammende Revolutionär in Nordamerika, brachte es in seiner viel gelesenen Schrift Rights of Man von 1791/92 auf einen einfachen Nenner:

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Hamilton et al., The Federalist Papers.

Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte? „Simple democracy was society governing itself without the aid of secondary means. By engrafting representation upon democracy, we arrive at a system of government capable of embracing and confederating all the various interests and every extent of territory and population“.17

Zudem schien die repräsentative Demokratie auch ein Instrument zu sein, die Leidenschaften der Massen zu zähmen. Durch die Institution der Stellvertretung sollten die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse ‚rationaler‘, nicht rein emotional und unter dem Druck der öffentlichen Meinung, von statten gehen. John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville, beides liberale Denker der Mitte des 19. Jahrhunderts, zeigten sich besorgt über eine mögliche „Tyrannei der Mehrheit“, die aus dem Konformitätsdruck der öffentlichen Meinung zu entstehen und in einer neuen Form der Willkürherrschaft zu enden drohte.18 Die repräsentative Demokratie schien hier am ehesten in der Lage zu sein, Emotionen und Leidenschaften, Meinungen und Stimmungen ihrer unmittelbaren Durchschlagskraft zu berauben und durch Mechanismen institutioneller Filterung entschärfen zu können. Gerade weil die repräsentative Demokratie ihre Willensbildungsund Entscheidungsprozesse im Widerspiel unterschiedlicher Institutionen, also mit den Mitteln der Kontrolle und Verschränkung der Gewalten von Legislative, Exekutive und Judikative, organisierte, ließen sich die verschiedenen Affekte durch Affekte hemmen; politischer Ehrgeiz konnte durch Ehrgeiz selber balanciert und die „Flammen der Empörung“19 vermochten rechtzeitig erstickt zu werden. Die repräsentative Demokratie war somit zu einem Modell politischer Ordnung geworden, welches in ihrer repräsentativen Verfassung das – schon aus der Antike bekannte und immer wieder als Schwäche der Demokratie identifizierte – Problem emotionalisierter Massen und Meinungen zu neutralisieren versuchte. In der repräsentativen Demokratie kommt es entscheidend auf das Verhältnis von Repräsentierten und Repräsentanten, von politischem Entscheidungssystem und gesellschaftlicher Lebenswelt an. Denn die Stärke der repräsentativen Demokratie ist zugleich auch ihre Schwäche: Das politische Entscheidungssystem droht sich von den Bürgern, ihren Interessen, Vorstellungen und Emotionen zu entfernen. Wo eine Kluft zwischen dem Volk ____________________ 17 18 19

Paine, Rights of Man, S. 180. Mill, Über die Freiheit; ders., Betrachtungen über die repräsentative Demokratie; de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. John Millars The Advancement of Manufactures, Commerce, and the Arts; and the Tendency of this Advancement to diffuse a Spirit of Liberty and Independence, zit. n. Hirschman, Leidenschaften und Interessen, S. 100.

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und seinen Repräsentanten entsteht, verliert das System der Demokratie seine Legitimität.20 Deshalb ist die Verkoppelung der beiden Ebenen von so entscheidender Bedeutung. In manchen Ländern werden repräsentative Formen mit direktdemokratischen Elementen, Referenden, Befragungen, Volksentscheiden, gemischt. Die Bundesrepublik Deutschland war hier nach 1949 sehr zurückhaltend, glaubten die Väter und Mütter des Grundgesetzes (nicht immer zutreffende) Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Verfassung zu ziehen und richteten deshalb ein stark repräsentatives System ein, ohne direkte Entscheidungsbefugnisse der Bürger auf Bundesebene vorzusehen. In den Ländern und Kommunen indes gab und gibt es vielfältige, nach 1990 noch einmal erweiterte direktdemokratische Beteiligungsverfahren. Eine andere Arena der Verkoppelung von demokratischem Entscheidungssystem und demokratischer Lebenswelt konstituiert sich durch die individuellen und politischen Grund- und Kommunikationsrechte. Der Schutz von Meinungs- und Pressefreiheit, das Versammlungsrecht, das Recht, Vereine und Parteien zu gründen, erlauben es, einen intermediären Raum sozialer und politischer Institutionen auszubilden, in dem die Zivilgesellschaft agiert und das politische System – auch weit über Wahlen hinaus – in vielfältigen Formen zu adressieren und zu beeinflussen versteht. Die Öffentlichkeit ist hier das wichtigste Medium, in dem die Vermittlung beider Ebenen gelingen, aber auch scheitern kann. Hier werden Interessen und Vorstellungen artikuliert, aggregiert, gefiltert und in das politische Entscheidungssystem eingespeist. Der Meinungsstreit, der Austrag von Konflikten erzeugt und konstituiert Resonanzräume der über sich selbst bestimmenden Gesellschaft und erzeugt Perspektiven der Verallgemeinerbarkeit, zumindest aber der Zustimmungsfähigkeit von politischen Entscheidungen. Weil zudem moderne Gesellschaften angesichts ihrer nicht hintergehbaren Pluralität von Werten, der Vielheit von Interessen und der Unterschiedlichkeit von individuellen Lebensentwürfen und politischen Vorstellungen nicht (mehr) über vorgängige Ressourcen gesellschaftlichen Zusammenhaltes verfügen, die Bindekräfte von Religion, Tradition und geteilten Lebensweisen also abnehmen, kann sich in den Räumen der Öffentlichkeit auch erst so etwas wie Gemeinsinn, also der individuelle Sinn für das Gemeinsame und der gemeinsame Sinn der Individuen, unter den Mitgliedern einer politischen Gesellschaft herstellen. Vielfach ist dieser dann das Ergebnis komplexer, auch konfliktreicher Aushandlungsprozesse und ____________________ 20

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Hier wird der Argumentation in Vorländer, Wenn das Volk gegen die Demokratie aufsteht, S. 59-74, gefolgt.

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eingeübter gesellschaftlicher Kooperationspraktiken. Letztere entspringen, wie Alexis de Tocqueville 1835/1840 schon in seiner Analyse der ersten Massendemokratie, den Vereinigten Staaten von Amerika, feststellte, dem Handeln von Bürgern, die zwar ihre – wohlverstandenen – Eigeninteressen wahrnehmen, sie aber mit ihren Mitbürgern zu einem Ausgleich zu bringen in der Lage sind und auf diese Weise soziales Kapital wechselseitigen Vertrauens und Zusammenarbeit aufbauen. Ohne Austausch von Meinungen, Abgleich von Interessen, Regulierung von Konflikten, ohne zivile Formen bürgerschaftlicher Kooperation, kurzum: ohne Vertrauen und Zusammenarbeit kommt letztlich auch eine repräsentative Demokratie nicht aus. Tatsächlich haben viele soziale Formen und Institutionen sowohl gesellschaftlichen Zusammenhalt verbürgt wie auch eine wichtige Rolle bei der Transmission von Interessen und Bedarfen der Gesellschaft in den politischen Raum gespielt. Allerdings hat das Scheitern der demokratischen Regime im 20. Jahrhundert auch gezeigt, wie prekär gesellschaftlicher Zusammenhalt ist und wie leicht Spaltung und Polarisierung einer Gesellschaft der Demokratie die notwendige Legitimität zu entziehen in der Lage sind. Damit ist aber auch gesagt, dass es entscheidend auf diese zivilgesellschaftlichen ‚Schaltstellen‘ zwischen dem einzelnen Bürger und dem politischen Entscheidungssystem ankommt. Seit Jahren sind indes Entwicklungen beobachtbar, die als Störung des Vermittlungsprozesses diagnostiziert und teils als Krise, teils als grundlegende Veränderung der Demokratie beschrieben werden.21 Zum einen sind fortschreitende Auflösungserscheinungen des politischen Vorfeldes, der sozialen Infrastruktur der Demokratie, zu verzeichnen. Parteien, Gewerkschaften, Stammtische und Vereine verlieren immer mehr ihren politisch bindenden, organisierenden, aber auch integrierenden Charakter. Damit verliert die Zivilgesellschaft wichtige soziale, intermediäre, zwischen der politischen und der lebensweltlichen Ebene vermittelnde Institutionen. Zugleich nimmt die Bereitschaft zu einem verstetigten politischen Engagement ab, während Ad-hoc-Initiativen und der anonyme Foren-Kommentar im Internet zu neuen Aktivitätsformen avancieren. Die neuen sozialen Medien bewirken eine grundlegende Transformation der Öffentlichkeit. War bislang der öffentliche Meinungs- und Willensbildungsprozess stark von den audio-visuellen und den Print-Medien geprägt, so treten nun die Formen der Internetkommunikation in den Vordergrund. Diese operieren schneller und vermögen anlassbezogen politische Artikulation und Protest zu organisieren und eruptive Aufwallungen politischer ____________________ 21

Vgl. Vorländer, Krise, Kritik und Szenarien, S. 267-277.

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Stimmungslagen zu erzeugen. Zugleich bilden sich hermetisch geschlossene Netzwerke heraus, die als geteilte Echoräume Gemeinschaften Gleichgesinnter entstehen lassen, die den Widerspruch ausschließen. Wo Wut, Zorn und Aggression, Skandalisierung und Verschwörungstheorien das Meinungsbild bestimmen, scheint das digitale Zeitalter einen neuen politischen Typus, den der Empörungsdemokratie hervorzubringen. Die „vernetzten Vielen“ (Bernhard Pörksen) besitzen Macht, besitzen aber keine institutionelle Anbindung an das politische Entscheidungssystem. Sie setzen aber die repräsentativen Prozesse unter Zeit-, Reaktions- und Entscheidungsdruck. Diese in ihrer Gesamttendenz noch nicht wirklich abschätzbaren Veränderungen lassen den Eindruck entstehen, dass die repräsentative Demokratie, die angetreten war, das Problem des prekären Zusammenhaltes in der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft produktiv zu wenden, nunmehr selber zu einem Problem geworden ist. Vor allem wird ihre Bruchstelle deutlich: Das System der Stellvertretung von Willens- und Entscheidungsbildung scheint sich weitgehend verselbständigt, den Kontakt zu den Vertretenen verloren zu haben. In der Wahrnehmung vieler Bürger hat sich eine „gefühlte“ Distanz zu den Repräsentanten herausgebildet, politische Entfremdung wächst, die Unzufriedenheit mit der Demokratie ebenfalls. In die Bruchstelle strömen Populismen ein, die sich einer dichotomen Weltsicht von ‚oben‘ und ‚unten‘, von Volk und Elite, bedienen und damit die Legitimität der repräsentativen Demokratie bestreiten. Dort, wo sie besonders erfolgreich sind und sich in Regierungsfunktionen wiederfinden, wird offensichtlich, dass es ihnen vor allem um die Beseitigung jener machthemmenden Mechanismen und zivilgesellschaftlichen Räume geht, die für den Typus der repräsentativen Demokratie konstitutiv sind. Im Modell der „illiberalen Demokratie“ werden Justiz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Medien in ihrer Autonomie beschnitten oder gar direkt dem majorzdemokratischen Führungsanspruch von Populisten unterworfen. 5.

Das konstitutionelle Globalisierungsparadox

Jene Prozesse, die wir etwas vereinfachend im Containerbegriff der „Globalisierung“ einzufangen versuchen, erzeugen auch für den Konstitutionalismus eine neue Lage, die als Spannung von Universalitätsanspruch auf der einen Seite und Verwiesenheit auf räumliche Partikularitätskontexte andererseits beschrieben werden kann. Denn die ökonomischen, technologischen und kommunikativen Prozesse halten sich immer weniger an die 60

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mehr oder minder künstlichen Grenzen von Nationalstaaten. Damit, so scheint es, wachsen nicht nur die Probleme, sondern auch die konstitutionellen Regelungsbedarfe in den überstaatlichen Bereich hinein. Verfassungen aber haben sich in staatlich definierten und territorial umgrenzten Räumen entwickelt, sie nun mit einer ‚grenzenlosen‘ Ordnungsaufgabe zu betrauen, mag dann paradox erscheinen, weil sie aus ihren partikularen Geltungskontexten entlassen werden. Entscheidend für das Evolutionsnarrativ des modernen Konstitutionalismus ist die Entfaltung moderner Staatlichkeit gewesen, unter deren Voraussetzungen – Vereinheitlichung des Herrschaftsgebietes, zentrale Steuerung, einheitlicher Rechtsraum – die Verfassung ihr Normprogramm erst materialisieren sollte. So könnte die Konzeption moderner Verfassung als epochenspezifischer Ausdruck in dem Moment defizient werden, wo sich der starke, wechselseitige Bezug von Konstitution und Staatlichkeit auflöst, aber ein supra- und transnationales oder sozietäres Verfassungskonzept entweder nicht sichtbar ist oder jene normative Geltungskraft vermissen lässt, welche die Attraktivität des Verfassungsgedankens lange Zeit ausgemacht hat. Gerade der Fall der Europäischen Union gibt Anlass, eine Lockerung wenn nicht gar eine Auflösung der exklusiven Verknüpfung von Konstitutionalität und Staatlichkeit zu diagnostizieren. Zugleich aber ist die Idee einer gemeinsamen Verfassung, die sich als normative Grundlage des europäischen Integrationsprozesses verstehen ließe, gescheitert. Damit muss nicht vorschnell ein Ende des modernen Konstitutionalismus, wie wir ihn zu kennen glauben, prognostiziert werden, er könnte aber unter Druck geraten. Die Leitfrage, die in der Konstitutionalismusdebatte der letzten Jahre deshalb verhandelt wurde, war, ob sich Verfassungen auch ‚oberhalb‘ des Staates, im inter-, supra- und transnationalen Raum konzipieren lassen und damit ihre grundlegende Funktion von rechtlicher Gestaltung und Regulierung politischer Ordnungen auch in post-nationalstaatlichen Zusammenhängen behaupten können. Oder sind Verfassungen so eng mit der Struktur moderner Staatlichkeit verbunden, dass sie ‚jenseits‘ des Staates nicht anwendbar sind und ihrer grundlegenden Funktionen verlustig gehen? In der Debatte um den für die heutige Zeit adäquaten Begriff des Konstitutionalismus wird die Frage unterschiedlich beantwortet.22 Ein demokra____________________ 22

Vgl. Vorländer, Die Verfassung vor, nach, über und unter dem Staat, S. 23-42. Zu den unterschiedlichen Ansätzen, diese neuen Entwicklungen auf den Begriff zu bringen, vgl. etwa Grimm, Gesellschaftlicher Konstitutionalismus, S. 81; vgl.

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tisch-etatistischer Ansatz ist von der Untrennbarkeit von moderner Verfassung und modernem Staat überzeugt. In der Zuspitzung, dass ohne Staat die Verfassung ihre Wirkung, ihre Funktion und ihre normative Bedeutung verliert, ist zugleich auch entschieden, dass es eine Verfassung jenseits des Staates nicht geben kann. Eine jede Form von Konstitutionalismus, die diesen Grundzusammenhang leugnet, bleibt defizitär. In der Perspektive eines auf die Evolution von Systemen bezogenen Ansatzes ist ein auf den Staat restringierter Verfassungsbegriff falsch konzipiert. Die Moderne hat danach in ihrer Entwicklung ausdifferenzierter Gesellschaften systemische Eigenlogiken erzeugt, die sich von vornherein nicht mehr unter einen einzigen ‚Verfassungshut‘ bringen lassen. Verfassungen sind als Programme für die seriellen Operationen von Rechtssystemen zu verstehen, deren Aufgabe die Herstellung der Konsistenz des Entscheidens nach dem Code von Recht/Unrecht ist und die mit den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, insbesondere der Politik, allenfalls eine Form struktureller Koppelung aufweisen. Damit ist eigentlich die Frage nach der Verfassung, der Übertragung konstitutioneller Ideen und Prinzipien auf einen überstaatlichen Zusammenhang, verfehlt. Eine Verfassung jenseits des Staates gibt es deshalb hier ebenso wenig wie in der etatistischen Lesart von Verfassungen, es sei denn, systemische Regularien und ihre jeweilige Kodifizierung werden in der Semantik des Konstitutionalismus als Verfassung beschrieben. Eine dritte Grundposition akzeptiert den Zusammenhang von Staat und Verfassung, ist aber unentschieden in der Frage, ob es bereits Verfassungen im vollgültigen Sinne der etatistischen Semantik in inter-, supra-, transnationalen Kontexten gibt. An und für sich scheint hier eine konstitutionelle Grundordnung auch jenseits des Staates wünschbar und notwendig zu sein. Globale, kosmopolitische Konstitutionalismen könnten hier nur eine Frage der Zeit zu sein, einzelne konstitutionelle Elemente werden in internationalen Ordnungen, die auf völkerrechtlicher Grundlage entstanden sind, bereits identifiziert. Vorsichtiger, wenngleich doch in dieser Grundposition verbleibend, argumentieren Pragmatisten und Funktionalisten, die die Funktionen, die traditionellen Verfassungen zugeschrieben werden, in inter- und

____________________ auch die Aufsätze in Grimm, Die Zukunft der Verfassung II; Sciulli, Theory of Societal Constitutionalism; Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, S. 317-359; Krisch, Beyond Constitutionalism; Kumm, The Cosmopolitan Turn in Constitutionalism, S. 258-325; Peters, The Merits of Global Constitutionalism, S. 397-411; Schwöbel, Global Constitutionalism; Teubner, Verfassungsfragmente.

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transnationalen Institutionen und Regeln erkennen und hierin dann verfassungsadäquate oder zumindest verfassungskompensatorische Formen des Konstitutionalismus identifizieren. Eine adäquate Beantwortung der Frage nach den Möglichkeiten und Leistungen des Konstitutionalismus ‚jenseits‘ des Staates wird auf jeden Fall in Erwägung ziehen müssen, dass Verfassungen keineswegs Erfindungen moderner Staatlichkeit sind, auch vormoderne, sektorale, partikulare und kleinräumige Assoziationen kannten die Ordnungsfunktionen und Leistungen von Statuten und Verfassungen. Unbestritten hat die flächenstaatliche Hochmoderne mit dem sich gleichermaßen auf Territorium und Bevölkerung erstreckenden umfassenden Herrschaftsanspruch auch den normativen Geltungsanspruch von Verfassungen erheblich ausgedehnt. Damit ist aber noch keine Aussage über die tatsächlichen Geltungsverhältnisse getroffen. Über, unter, hinter und vor Gesamtrechtsordnungen, als die sich moderne Verfassungen verstehen, haben sich schon immer „Nebenverfassungen“ herausgebildet, die in ihrer normativierenden Faktizität den rechtlichen Normativitätsanspruch leerlaufen lassen und die sog. Verfassungswirklichkeit in polemische Frontstellung zum Verfassungsrecht bringen. Zu diesen Einwendungen von verfassungsrealistischer Seite gesellen sich jene der Komparatisten, Historiker und Sozialwissenschaftler: Nicht-schriftliche Verfassungskulturen vertrauen auf orale Überlieferungen, eingeübte Praxen, auf canones des Selbstverständlichen. Und auch schriftliche, urkundlich ‚besiegelte‘ Verfassungstraditionen schreiben sich performativ, durch Inszenierungen ihrer selbst, ihrer Gründungsmomente wie ihrer tragenden Institutionen, auch durch einen stream of interpretations and narratives fort.23 Erst recht gilt dies für solche scheinbar ungefestigten Ordnungen wie das Alte Reich, die von den einen als „Monstrum“ (Pufendorf), von den anderen als „nicht mehr zu begreifen“ (Hegel) bezeichnet wurden und die letztlich nur durch ihre Symbolsprache zu verstehen und als Verfassungen zu bezeichnen sind.24 Diese Erinnerungen sind kein prinzipieller Einwand gegen die Genese und die Erfolgsgeschichte moderner Verfassungen, sie öffnen aber in analytischer Hinsicht den Blick darauf, dass sich unter veränderten Kontextbe____________________ 23 24

Vgl. Vorländer, Verfassungen und Rituale, S. 135-147. Verfassungen als komplexe Narrative zu analysieren und zu vergleichen schlägt ebenfalls Frankenberg, Comparing constitutions, S. 439-459 vor. Vgl. beispielsweise die herausragende Analyse von Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider.

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dingungen auch Rolle, Bedeutung und Funktion konstitutioneller Ordnungsprinzipien wandeln können. So kann argumentiert werden, dass gegenwärtige Entwicklungen den Charakter von Verfassungen als einer emergenten Ordnung zu erkennen geben, deren normative Geltungsansprüche keineswegs durch den Akt ihrer Inkraftsetzung auf ewig garantiert, sondern sich erst durch einen komplexen Prozess von Anerkennung und Akzeptanz in einem Raum politischer und gesellschaftlicher Bedeutungszuschreibungen und politisch-gesellschaftlicher Praktiken erzeugt oder aber eben auch verweigert wird.25 Das gilt gleichermaßen für staatliche Verfassungen wie für Verfassungen ‚jenseits‘ des Staates. Mit diesem ‚anderen‘ Begriff von Verfassung als emergenter Ordnung lassen sich auch transnationale, regionale und globale Konstitutionalisierungsprozesse als Verfassungsprozesse beobachten – und daraufhin befragen, ob in ihnen eine Zuschreibung als normative politische Ordnung mit umfassendem regulativem Geltungsanspruch erfolgt. Offensichtlich ist der Charakter der Emergenz konstitutioneller Ordnungen dort, wo es keine geschriebene Verfassung gibt, wo also nicht der vermeintliche „Normalfall“ konstitutioneller Ordnung vorliegt, der sich in einem schriftlich fixierten, einheitlichen, uno actu gesetzten Verfassungsdokument zum Ausdruck bringt. Hier zeigt sich ein historisch-evolutionäres Verständnis von Verfassung. Die Verfassung ist Ausdruck einer konkreten historisch-politischen Verfasstheit eines Gemeinwesens und insofern Ausdruck existierender und historisch bewährter Gesetze, Sitten, Bräuche und Gewohnheiten.26 So entspricht das Modell der Konstitutionalisierung Europas dem englischen Muster emergenter konstitutioneller Ordnungen.27 Es ruht auf der kontinuierlichen, durch Verträge zwischen den Mitgliedsstaaten initiierten Rechtsordnung auf, die über ihre kontraktuelle Genese hinaus eine ständige Fortbildung und Interpretation erfahren hat, die nicht allein durch die im engeren Sinne politischen Organe, durch Rat und Kommission vorgenommen wurde, sondern auch, und sehr entscheidend, durch den Europäischen Gerichtshof. So hat sich faktisch eine Verfassungsordnung der Europäischen Union herausgebildet, die die ursprüngliche Grundlage der Verträge hinter sich ließ und in ihrer Dynamik durchaus die transformative Qualität eines genuin europäischen Konstitutionalismus erreichte.28 ____________________ 25 26 27 28

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Vgl. zu diesen Zusammenhängen Vorländer, Gründung und Geltung, S. 243263. Vorländer, Die drei Entwicklungswege des Konstitutionalismus in Europa, S. 21-42. Zum Folgenden vgl. Vorländer, Europas multiple Konstitutionalismen, S. 178ff. Vgl. Weiler, Transformation of Europe, S. 2403-2483.

Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte?

Diese Form einer evolutionären Verfassungsordnung stieß offensichtlich in dem Moment an ihre Grenzen, als, nicht zuletzt aufgrund der Erweiterung der Gemeinschaft nach 1989, die gradualistische Methode der schrittweisen Integrationsverdichtung politische Folgeprobleme erzeugte, die nach einer umfassenden institutionellen, ja neuen konstitutionellen Grundlegung verlangten. Das nach der Jahrtausendwende verfolgte Projekt einer Europäischen Verfassung konnte deshalb auch als der Versuch gewertet werden, die eng begrenzte, segmentäre Gemeinschaft von Juristen, Richtern und ‚Brüssel-Europäern‘ durch den Akt einer genuin europäischen Verfassunggebung zu erweitern. Aus der Konstitutionalisierung Europas sollte die europäische Konstitution werden. Wenn der Entwurf einer Europäischen Verfassung auch im Wesentlichen ‚nur‘ darin bestanden hatte, die bisherigen Verträge zusammenzuführen und eine institutionelle Reform zu ermöglichen, so änderte sich doch entscheidend die Semantik und damit auch der symbolische Verweisungszusammenhang. Von einer Verfassung war die Rede, Grundrechteerklärung, Zielbestimmungen und europäische Zeichen (Flagge, Hymne) schienen Europa das zu geben, was bislang dem kontinentaleuropäischen Nationalstaat vorbehalten geblieben war, eine ‚vollgültige‘ Verfassung, wie sie bislang nur in der Symbiose mit moderner Staatlichkeit vorstellbar erschien. Aus der „stillen“ Integration Europas war ein sichtbarer Plan geworden, der emergente Konstitutionalisierungsprozess mutierte zu einem intendierten, planvollen Verfassungsgebungsakt. Weil der Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages die Europäische Union als ‚konstitutionalisierten‘, transnationalen Raum sichtbar machte, diente er zugleich auch als ideale Projektionsfläche nationalstaatlicher Abwehrreflexe. Der symbolische Bedeutungsüberschuss, der dem Verfassungsprojekt eignete, wurde dem Europäischen Verfassungsvertrag zum Verhängnis. Die Bürger in Frankreich und in den Niederlanden lehnten, aus welchen konkreten Gründen auch immer, die mit der Verfassung symbolisch verbundenen Integrations- und Orientierungsvorstellungen eines supra- und transnationalen politischen Raumes ab. Obwohl damit das EU-Europa keineswegs ohne Verfassung im empirisch-deskriptiven Sinne dasteht und von der Rechtsordnung verfassungsanaloge normative Wirkungen ausgehen, zeigte das Projekt der Europäischen Verfassung deutlich die nationalstaatlichen Abwehrreflexe auf, die sodann mit dem „Brexit“ eine Zuspitzung erfahren und in Mitteleuropa, in Polen, Ungarn und Tschechien, zu erheblichen Widerständen gegenüber Regulierungsansprüchen aus „Brüssel“, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Zuwanderungskrise 2015, geführt haben.

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6.

Schlussbemerkung: Die Sollbruchstellen des Konstitutionalismus

So wie der Verfassungsgedanke und der Konstitutionalismus in seiner spezifischen, auf Staat und Demokratie bezogenen Prägung vor etwa 250 Jahren in die Geschichte eingetreten ist, so könnte der Konstitutionalismus auch wieder aus ihr austreten oder aber im Zuge von Transnationalisierungsprozessen zu Formen konstitutioneller Unübersichtlichkeit zurückfinden, die schon das sog. Alte Reich auszeichneten. Auf jeden Fall kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Konstitutionalismus so ohne weiteres seine Fortschrittsgeschichte fortschreiben kann. Dazu sind die im Modell liberal-demokratischer Verfassungsstaatlichkeit eingelassenen Sollbruchstellen zu offensichtlich geworden. So kann durchaus auch die Sorge artikuliert werden, dass es um die Verfassung des liberal-demokratischen Typus derzeit nicht nur deshalb nicht gut steht, weil, wie Dieter Grimm betont, die demokratische Verfassungsstaatlichkeit durch nicht oder unzureichend legitimierte supra- und transnationale Regime ausgehöhlt zu werden droht.29 Dazu müssten im Übrigen ebenfalls die global agierenden Akteure der Finanz-, Digital- und Güterwirtschaft gerechnet werden. Sie alle drohen die dem demokratischen Verfassungsstaat eigentümliche Identität von öffentlicher Gewalt und kollektiver Selbstbestimmung zu unterlaufen. Die Sorge um den demokratisch verfassten Staat lässt sich auch im Blick auf eine andere Konfliktlage artikulieren: den in letzter Zeit diesseits und jenseits des Atlantiks mächtig in Erscheinung tretenden Nationalpopulismus. In diesen Fällen geht es um nichts weniger als um den allseitigen Verlust von verfassungsstaatlicher Qualität. Ein rekurrenter „Vulgärdemokratismus“, der mit dem vermeintlichen Willen des Volkes die Beseitigung zentraler Errungenschaften des Konstitutionalismus, von Gewaltenteilung, Grundrechten, Unabhängigkeit von Justiz und Medien, rechtfertigt, führt zu weniger Verfassung – zerstört sie und die konstitutionelle Demokratie. Die gegenwärtige Herausforderung liegt darin, die Verfassung gegen ihre plebiszitär-autokratische Überformung zu retten. Nimmt man beide, sicher auch korrespondierende, Phänomene – den Supra- und Transnationalismus auf der einen Seite, den Nationalpopulismus auf der anderen Seite – in den Blick, dann ist die Vermutung, auch die Diagnose nicht von der Hand zu weisen, dass sich der Konstitutionalismus, wie wir ihn kennen, in einer Zangensituation befindet. Der demokratische ____________________ 29

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Vgl. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, S. 581-632, und ders., Europa ja – aber welches?, S. 112ff.

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Verfassungsstaat leidet zum einen unter einer konstitutionellen Überlagerung von Regimen und der konstitutionellen Aushebelung durch ökonomische, finanzkapitalistische und kommunikative Machtkonzentration; er leidet zum anderen und erst recht, wenn er von Nationalpopulismen in seiner Freiheit und Demokratie verbürgenden Räson entwertet, ausgehöhlt und zerstört wird. Literaturverzeichnis Arendt, Hannah: Was ist Autorität? Zwischen Vergangenheit und Zukunft. In: Lutz, Ursula (Hrsg.): Übungen im politischen Denken I, 1955, S. 159-200. Assemblée nationale française: Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen de 1789, unter https://www.legifrance.gouv.fr/Droit-francais/Constitution/Declar ation-des-Droits-de-l-Homme-et-du-Citoyen-de-1789 (letzter Zugriff am 13.06. 2018). Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik. In: ders. (Hrsg.): Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, 1991, S. 159-199. Dreier, Horst: Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, 2009. Fischer, Karsten: Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat, 2009. Frankenberg, Günter: Comparing constitutions. Ideas, ideals, and ideology. Toward a layered narrative, International Journal of Constitutional Law 4/3, 2006, S. 439-459. Grimm, Dieter: Ich bin ein Freund der Verfassung. Wissenschaftsbiographisches Interview von Oliver Lepsius, Christian Waldhoff und Matthias Roßbach, 2017. Ders.: Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, 2016. Ders.: Die Zukunft der Verfassung II. Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, 2012. Ders.: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus. Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung? In: Herdegen, Matthias/Klein, Hans H. (Hrsg.): Staatsrecht und Politik, Festschrift für Roman Herzog, 2009, S. 67-81. Ders.: Braucht Europa eine Verfassung?, JuristenZeitung 50/12, 1995, S. 581-632. Hamilton, Alexander et al.: The Federalist Papers. In: Rossiter, Clinton: The Federalist Papers. Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, 1961, S. 1-495 [1787/88]. Hirschman, Albert: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, 1987. Jestaedt, Matthias et al: Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011. Krisch, Nico: Beyond Constitutionalism. The Pluralist Structure of Postnational Law, 2010.

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Hans Vorländer Kumm, Matthias: The Cosmopolitan Turn in Constitutionalism. On the Relationship Between Constitutionalism in and Beyond the State. In: Dunoff, Jeffrey L./Trachtman, Joel P. (Hrsg.): Ruling the World? International Law, Global Governance, Constitutionalism, 2009, S. 258-325. Löwenstein, Karl: Verfassungslehre, 2., erw. Aufl., 1969. Loughlin, Martin/Walker, Neil: The Paradox of Constitutionalism. Constituent Power and Constitutional Form, 2007. Luhmann, Niklas: Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9, 1990, S. 176-220. McIlwain, Charles Howard: Constitutionalism. Ancient and Modern, 1966. Mill, John Stuart: Betrachtungen über die repräsentative Demokratie. Hrsg. v. Shell, Kurt, 1971 [1861]. Ders.: Über die Freiheit. Hrsg. v. Brandt, Horst D., 2009 [1859]. Montesquieu, Charles de: De l’esprit des lois. In: ders.: Œuvres complètes, 1964 [1748]. Paine, Thomas: Rights of Man. Hrsg. v. Collins, Henry, 1984 [1791]. Peters, Anne: The Merits of Global Constitutionalism, Indiana Journal of Global Legal Studies 16, 2009, S 397-411. Rousseau, Jean-Jacques: Sozialphilosophische und politische Schriften. Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform, 1981 [1782]. Schulz, Daniel: Das Sakrale im Zeitalter seiner politischen Reproduktion. Die Französische Revolution zwischen Verfassungsfest und Missionierungskrieg. In: Vorländer, Hans (Hrsg.): Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen, 2013, S. 335-353. Schwöbel, Christine E. J.: Global Constitutionalism in International Legal Perspective, 2011. Sciulli, David: Theory of Societal Constitutionalism. Foundations of a Non-Marxist Critical Theory, 1992. Stollberg-Rilinger, Barbara: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, 2008. Teubner, Gunther: Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, 2012. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Hrsg. v. Mayer, Jacob-Peter, 1984 [1835]. Vorländer, Hans: Wenn das Volk gegen die Demokratie aufsteht. Die Bruchstelle der repräsentativen Demokratie und die populistische Herausforderung. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Vielfalt statt Abgrenzung. Wohin steuert Deutschland in der Auseinandersetzung um Einwanderung und Flüchtlinge, 2016, S. 59-74. Ders.: Krise, Kritik und Szenarien. Zur Lage der Demokratie, Zeitschrift für Politikwissenschaft 23/2, 2013, S. 267-277. Ders.: Demokratie und Transzendenz. Politische Ordnungen zwischen Autonomiebehauptung und Unverfügbarkeitspraktiken. In: ders. (Hrsg.): Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen, 2013, S. 11-37.

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Die Verfassung – eine liberale Erfolgsgeschichte? Ders.: Brauchen Demokratien eine Zivilreligion? Über die prekären Grundlagen republikanischer Ordnung. Überlegungen im Anschluss an Jean-Jacques Rousseau. In: ders. (Hrsg.): Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen, 2013, S. 143-162. Ders.: Die Verfassung vor, nach, über und unter dem Staat. Die Konstitutionalismusdebatte in der Suche nach einem anderen Verfassungsbegriff. In: Lindemann, Helena et al. (Hrsg.): Erzählungen vom Konstitutionalismus, 2012, S. 23-42. Ders.: Verfassungen und Rituale in Vormoderne und Moderne. In: Kitts, Margo et al. (Hrsg.): State, Power, and Violence, 2010, S. 135-147. Ders.: Die Verfassung. Idee und Geschichte, 2009. Ders.: Deutungsmacht. Die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit. In: ders. (Hrsg.): Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, S. 9-33. Ders.: Europas multiple Konstitutionalismen, Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 5/2, 2006, S. 160-180. Ders.: Die drei Entwicklungswege des Konstitutionalismus in Europa. Eine typologische Skizze. In: Institut für Europäische Verwaltungswissenschaften (Hrsg.): Die Europäische Union als Verfassungsordnung, 2004, S. 21-42. Ders.: Gründung und Geltung. Die Konstitution der Ordnung und die Legitimität der Konstitution. In: Melville, Gert/Vorländer, Hans (Hrsg.): Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, 2002, S. 243-263. Ders.: Die Suprematie der Verfassung. Über das Spannungsverhältnis von Demokratie und Konstitutionalismus. In: Leidhold, Wolfgang (Hrsg.): Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung, 2000, S. 373-383. Ders.: Verfassungsverehrung in Amerika. Zum konstitutionellen Symbolismus in den USA, Amerikastudien 34, 1989, S. 69-82. Walker, Neil: The Idea of Constitutional Pluralism, Modern Law Review 65, 2002, S. 317. Weiler, Joseph: Transformation of Europe, The Yale Law Journal 100/8, 1991 S. 24032483.

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Judith N. Shklar über die Quellen liberaler Normativität1 Hannes Bajohr

1.

Einleitung

Judith Shklar und Hannah Arendt vergleichend schrieb Axel Honneth kürzlich von der „Differenz im metaphysischen Hitzegrad“ der beiden politischen Theoretikerinnen.2 In der Tat: Zwar stimmte Shklar mit Arendt darin überein, dass die politische Theorie in der Gegenwart tot sei,3 Arendts Rede vom großen historischen Bruch und dem „zerrissenen Faden der Tradition“4 erschien Shklar hingegen verdächtig metaphysisch und voller unbeweisbarer Annahmen; in ihrem Versuch, eine Theorie des Liberalismus zu schreiben, folgte sie eher John Rawls Diktum, „politisch und nicht metaphysisch“ vorzugehen.5 Gleichzeitig aber kritisierte Shklar auch, obzwar weniger intensiv, was ihr als Rawls’scher Formalismus (und der seiner „kleinen Armee sich zankender Erben“)6 erschien, der, zu weit von wirklicher Politik entfernt, immer in Gefahr sei, die kleinen Grausamkeiten zu übersehen, die so leicht durch das Netz des starren, regelorientierten „gewöhnlichen Modells von Gerechtigkeit“ fallen.7 Verglichen mit ihren an der kontinentalen Tradition geschulten und ihren analytisch geneigten Kollegen, war Shklar ____________________ 1

2 3 4 5 6 7

Dieser Essay ist eine leicht veränderte deutsche Version von Bajohr, Sources of Liberal Normativity. Zitate aus dem Nachlass Judith Shklars und John Rawls’ sind mit freundlicher Genehmigung Michael Shklars und der Harvard University Archives wiedergegeben. Ich danke Rieke Trimçev, Julia Pelta Feldman, Samuel Moyn, Hubertus Buchstein, Eno Trimçev sowie Samantha Ashenden und Andreas Hess für hilfreiche Anmerkungen zu diesem Aufsatz. Honneth, Historizität, S. 252; vgl. zu Arendt und Shklar Bajohr, Arendt-Korrekturen. Arendt, The Tradition of Political Thought; Shklar, Intellectual Pluralism, S. 276. Arendt, Religion und Politik, S. 310. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß. Shklar, Injustice, Injury, and Inequality, S. 14; vgl. auch Forrester, Realism, S. 261. Shklar, Ungerechtigkeit, S. 33; vgl. auch Whiteside, Justice Uncertain.

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metaphysischen Begründungen ebenso abgeneigt wie sie die Produktion hochabstrakter Theorien ablehnte. Viele Verteidiger Shklars loben diesen Zug als ihren „Skeptizismus“ und betrachten sie als Vertreterin des „Antifundamentalismus“ (antifoundationalism) in der politischen Theorie. Ihre Bereitschaft, die Frage des Grundes zu übergehen, erstrecke sich sowohl auf Methode wie auf Inhalt ihres Denkens.8 Ihre Kritiker halten dies wiederum für ihren größten Fehler: Entweder verberge ihr Skeptizismus einen Kern positiver Überzeugungen9 oder er führe zu „allgemeinen Behauptungen relativistischer Natur.“10 Beide Faktionen der Shklar-Interpreten scheinen mir ihrem Denken nicht gerecht zu werden. Im Folgenden will ich die Position verteidigen, dass Shklar zwar eine Skeptikerin war, aber nicht vom Typus, von dem Antifundamentalisten für gewöhnlich sprechen; und dass sie zwar universalistische Annahmen machte, aber auf eine Weise, die sie von einem Großteil der gewöhnlichen Kritik gegen Universalismen ausnimmt. Hierzu zeige ich im nächsten Teil (2.), dass Shklar nicht den epistemischen Skeptizismus des Antifundamentalismus teilt; ihre Skepsis ist politischer Natur, was sie dazu nötigt, eine Reihe positiver Annahmen, die als Wertquellen wie als Unterscheidungskriterien fungieren, von epistemischen Zweifeln auszunehmen. Mit einem Blick auf die in der Tat nicht klar zu trennende Verquickung zwischen Methode und Inhalt ihrer politischen Theorie werde ich diese Differenz anschließend illustrieren und verfeinern (3.) und mich im letzten Abschnitt auf drei von Shklars Normativitätsquellen konzentrieren, die sich aus der Spätphase ihres Werkes ergeben und die ihren positiven Annahmen zugrunde liegen (4.). Hierbei werde ich in meiner Rekonstruktion bewusst spekulativ vorgehen, was aber, wie ich hoffe, durch die Klarheit der Ergebnisse heuristisch zu rechtfertigen ist. Die erste, empirische Quelle plädiert für physischen Schmerz als normative Basis ihrer Überzeugung, dass Grausamkeit das größte Übel ist; die zweite, formale Quelle finde ich in Shklars ____________________ 8

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Benhabib, Dystopischer Liberalismus, S. 69; Stullerova, Suffering. Ich korrigiere in diesem Text auch meine eigene frühere Auffassung, die der Zuweisung des Antifundamentalismus noch zu unkritisch gegenüberstand, vgl. Bajohr, ‚Am Leben zu sein‘. Walzer, Negative Politik; Gutmann, Liberal Government?; Jaeggi, Kein Einzelner‘; Robin, Fear, S. 131-160 (Kap. 5); Northcott, Peace. Nussbaum, Misfortune Teller, S. 34. – Im Folgenden stammen, so nicht anders angezeigt, alle Übersetzungen fremdsprachlicher Quellen von mir; bei unveröffentlichtem Archivmaterial gebe ich zusätzlich den Originaltext in der Fußnote an.

Judith N. Shklar über die Quellen liberaler Normativität

Formulierung von der „Furcht vor der Furcht“, die fähig ist, das je zu Fürchtende zu historisieren; und die dritte, transzendentale Quelle versteht die Möglichkeitsbedingung, Ungerechtigkeitsempfinden zu artikulieren, als ein Kriterium, das Shklars Liberalismus zu einer aktivistischeren politischen Konzeption erweitert. 2.

Bestimmter und unbestimmter Skeptizismus

„Es gibt natürliche Skeptiker, die fröhlich mit ihren Zweifeln leben, doch die meisten Menschen können Unsicherheit nicht ertragen“, schrieb Judith Shklar einmal und verwies auf Rousseau und Voltaire als Exemplare unsicherer Skeptiker, die verzweifelt nach Wegen suchten, „den aus ihrer Ungläubigkeit geborenen Ängsten zu entkommen.“11 Shklars eigene Interpreten hatten hingegen wenig Skrupel, sie unter die Naturtalente zu zählen,12 auch wenn sie dabei oft übersahen, die genaue Art ihres Skeptizismus zu bestimmen. Worauf, kann man fragen, waren Shklars Zweifel gerichtet? Auf überhaupt alles? Diese pyrrhonische Lesart Shklars, wie James Miller sie genannt hat,13 nimmt an, dass ihre Theorie auf einem radikalen epistemologischen Zweifel beruht. Das ist relevant für den Vorwurf des Relativismus und ihre Einordnung als Antifundamentalistin. Richard Rorty rekrutierte Shklar bekanntermaßen für die antifundamentalistische Sache, als er ihre Definition des Liberalen als einer Person übernahm, die Grausamkeit für das Schlimmste hält, was wir einander antun können; für Rorty war das die Aussage einer „Ironikerin“, wie er seine Figur der antifundamentalistischen Liberalen nannte.14 Weniger radikal und in jüngerer Zeit hat Kamila Stullerova Shklar dem antifundamentalistischen Kanon einverleibt, indem sie in ihrem Denken wiederfand, was Stephen White eine „schwache Ontologie“ genannt hat.15 ____________________ 11 12

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Shklar, One Doubts, S. 36. Bereits 1992, kurz nach Shklars Tod, erschien eine Sammlung von Gedenknoten ihrer Freunde und Kollegen, in denen sich der Konsens abzeichnete, dass sie „bis in ihr Innerstes skeptisch“ gewesen sei (Isaac Kramnick) und „einen vollkommenen Skeptizismus an den Tag legte, den nicht die leiseste Spur Zynismus kontaminiert“ habe (Stanley Hoffmann – je in: Memorial Tributes, S. 17, 13). Miller, Pyrrhonic Liberalism. Rorty, Contingency, S. 74, 146. Stullerova, Suffering, S. 41; White, Affirmation, S. 8.

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Es gibt jedoch gute Gründe anzunehmen, dass Shklar der epistemologischen Position, die solche Zuschreibungen unterstellen, einigen Widerstand entgegengebracht hätte. Seyla Benhabib berichtet von ihrer letzten Unterhaltung mit Shklar 1992, die sich um postmodernes Denken und sogar um White selbst drehte: „Als sie davon hörte, dass ihr Werk in einem Buch von Stephen White über Political Theory and Postmodernism behandelt wurde, war sie verblüfft, amüsiert und fasziniert, dass sie nun im Licht dieser Kategorie interpretiert werden sollte.“16 White hatte Shklar einer „wachsenden Ungläubigkeit gegenüber fundamentalistischen (foundationalist) großen Erzählungen“ zugeordnet und sah sie einem „epistemologischen Projekt“ verpflichtet, das das Ziel verfolge, „alle totalisierenden, universalistischen Anstrengungen, die Gerechtigkeit und das gute Leben theoretisieren möchten, zu unterlaufen.“17 Trocken beschreibt Benhabib Shklars Reaktion: „Sie schüttelte den Kopf voller Skepsis.“18 Dass Shklar Skeptizismus mit Skepsis begegnete, hat mit ihrem Unbehagen an jenem epistemischen Zweifel zu tun, auf dem der Antifundamentalismus wesentlich beruht. Der Begriff selbst bezeichnet in seiner Kernbedeutung „jegliche Epistemologie, die eine Berufung auf Letztbegründungen oder Erkenntnisfundamente ablehnt.“19 In Shklars Verständnis riskiert diese Position, einem Misstrauen gegen plausible Objektivitätsansprüche das Wort zu reden, das sich gefährlich einer politischen Romantik annähert, wie sie Shklar in After Utopia analysiert hatte, und einen Relativismus zu fördern, der politisch quietistisch zu sein droht. Dass dies oft übersehen wird, wenn Shklar als Antifundamentalistin tituliert wird, mag der Tatsache geschuldet sein, dass Shklar ihren eigenen ____________________ 16 17 18

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Benhabib, Remembering Dita, S. 27. White, Postmodernism, S. 122 – meine Hervorh., H.B. Benhabib, Remembering Dita, S. 27. Shklar nannte den Postmodernismus „modisches Gegenwartsgeschwätz“ (Shklar, Montaigne in Motion, S. 656) und schien ihn nah am „Romantizismus der Niederlage“ zu verorten, den sie in After Utopia angegriffen hatte. Foucaults Behandlung des Panopticons wird indirekt in Ganz normale Laster erwähnt: Anders als Bentham, der wenigstens die Grausamkeit ernst genommen und versucht habe, „zur Reform der Gefängnisse und Hospitäler“ beizutragen um „die Brutalität des täglichen Lebens zu mindern“, setzen seine Kritiker eine metaphysische, keine körperliche Grausamkeit an erste Stelle (dies., Laster, S. 46). In einem Brief an einen Kollegen, der sich mit Bentham beschäftigte, stellte Shklar fest: „Foucault gehört nicht zu meinen Lieblingen“ („Foucault is no favorite of mine“, Shklar, Brief an Joel Schwartz). Bevir, Anti-Foundationalism, S. 53.

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Skeptizismus selten öffentlich reflektierte; tat sie es, verblieben ihre Bemerkungen im Allgemeinen.20 Ihr Nachlass aber enthält Texte, die auf eine dauerhafte, detaillierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Skeptizismus und seinen konkurrierenden Formen hinweisen. In The Beginnings of Modern Scepticism,21 einem Vortrag, den Shklar 1987 am Jerusalemer Van Leer Institute hielt, untersuchte sie die „enorme Reichweite und Komplexität“ eines Phänomens, das normalerweise unter einem Namen zusammengefasst wird.22 Nicht alle Skeptizismen sind gleich geschaffen und Shklars Differenzierungen sind dazu geeignet, den Typus zu erhellen, dem sie selbst anhing. Shklar beginnt ihren Vortrag mit der Unterscheidung zwischen antikem und neuzeitlichem Skeptizismus.23 Obwohl die moderne Form ihre unmittelbare Motivation aus der Wiederentdeckung Pyrrhos im 16. Jahrhundert beziehe, besäßen beide Formen doch unterschiedliche Schwerpunkte. Der antike Skeptizismus konzentriere sich vornehmlich auf ethische Belange und betrachte epistemologischen Zweifel lediglich als Trittstein hin zur ataraxia – sein Ziel sei es nicht, fehlendes Wissen wettzumachen, sondern aus diesem Mangel die richtige Konsequenz für die Gelassenheit der Seele zu ziehen. Da er nur das Individuum betrifft, ist für Shklar wenig politisch an diesem Skeptizismus, wenn überhaupt, dann sei er so konservativ wie Pyrrhos Rat, sich den herrschenden Sitten und Gebräuchen anzupassen. Der neuzeitliche Skeptizismus habe dagegen kein unmittelbar ethisches Ziel. „Sein Streben ist auf die Formen sicheren Wissens schlechthin gerichtet.“24 Die Geburt der Neuzeit fällt so für Shklar mit dem Kampf zusammen, der mit dem epistemischen Skeptizismus ausgefochten wird; sei er nun das methodische Sprungbrett zu sicherem Wissen oder die radikale Leugnung aller Sicherheit, die Skepsis durchziehe alles neuzeitliche Denken und habe eine Reihe von Unterarten hervorgebracht, die theologisch, moralisch, psychologisch und historisch ausgerichtet seien. ____________________ 20 21 22 23 24

Shklar, Ungerechtigkeit, S. 38; dies., Laster, S. 40-46; vlg. auch Hess, Exile, S. 123f. In Shklars Nachlass befinden sich zwei Versionen dieses Vortrags, beide in Form nicht ausformulierter Notizen. Ich werde im Folgenden beide verwenden. „enormous range and complexity“ (Shklar, Jerusalem Scepticism, S. 1). Shklar orientiert sich vornehmlich an Burnyeat, Skeptical Tradition. – Ich unterscheide im Folgenden nicht zwischen „Skepsis“ und „Skeptizismus“, weil den diskutierten Haltungen oft keine eigens artikulierte Doktrin unterliegt. „Its pursuit was the forms of certain knowledge per se“ (Shklar, Beginnings, S. 5).

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Epistemischer Zweifel nimmt Shklar zufolge zunächst die Form theologischer Skepsis an. Sie entspringe dem Verdacht, die heiligen Schriften könnten faktisch falsch und ihrer Provenienz nach dubios sein, und stehe deren internen Widersprüchen mit solchem Unbehagen gegenüber, dass sie schließlich über einige Umwege einerseits im Antiklerikalismus der Aufklärung münde und andererseits im Fideismus als innertheologischer Ablehnung aller Vernunft und Doktrinen zugunsten eines bewusst blinden Glaubens.25 Beide Entwicklungen individualisierten den Gläubigen und unterminierten „die Forderung nach Einigkeit (agreement), Konformität, Zustimmung“,26 die eine jede Bekenntnisuniversalität voraussetzen müsse. Zumindest implizit untergrabe dieser Mangel an Einigkeit die göttliche Legitimität weltlicher und klerikaler Autorität. Wichtiger aber sei, dass daraus ein Bewusstsein für die Pluralität von Glaubensrichtungen überhaupt entstehe, das wiederum moralischen Skeptizismus hervorrufe – die Unmöglichkeit, plausibel universelle moralische Ansprüche aufrechtzuerhalten. Er erscheine zuerst als der „Kulturrelativismus“,27 der in Europa im Zeitalter des Kolonialismus aufgekommen sei. Wieder besteht Shklar darauf, dass dies kein säkularer oder humanistischer Standpunkt ist: Bereits bevor Montaigne fragte, wer die wirklichen Barbaren seien, die amerikanischen Indianer oder ihre spanischen Eroberer, hatte Francisco Vitoria sich für ihre Menschlichkeit über den Weg des Thomismus stark gemacht.28 Vom Zweifel daran, ob der Glaube der anderen ihnen nicht auch angemessen sein könnte, und der Frage, ob „wir“ wirklich besser sind als „sie“, folgt für Shklar sowohl logisch als auch historisch der psychologische Skeptizismus: „Wie man Fremde versteht.“29 Die Unfähigkeit, das innere Leben selbst der Mitglieder der eigenen Gesellschaft zu erkennen, mache das Fundament einer jeden Universalitätsannahme zunichte: „Was teilen wir miteinander? Nicht Glaube, nicht Sitten und zunehmend nicht Geschlecht.“30 Weil diese Unsicherheit aber nicht nur die eigene Zeit, sondern auch die Vergangenheit betreffe, folge aus diesem Zweifel eine historische Skepsis – die Ablehnung der Geschichte als Erkenntnisquelle. Die Hauptfrage sei hier: „Welche Beweise, so es überhaupt welche gibt, wären ____________________ 25 26 27 28 29 30

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Dies., Jerusalem Scepticism, S. 1. „the demand for agreement, conformity, assent“ (dies., Beginnings, S. 11). „cultural relativism“ (dies., Jerusalem Scepticism, S. 2). Montaigne, Menschenfresser; Vitoria, American Indians. „How to know strangers“ (Shklar, Jerusalem Scepticism, S. 3). „What do we share? Not faith, not customs, not, increasingly, gender“ (ebd.).

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[…] auch nur für unsere eigenen Vorfahren hinreichend?“31 Dieser „Pyrrhonismus der Geschichte“ lehnt entweder historische Erkenntnis vollständig ab oder weist ihr einen bloß pädagogischen Nutzen zu, wie Locke dies tat, der von „Helden der Wissenschaft, nicht den ‚großen Schlächtern‘“ in der Geschichte erzählt wissen wollte.32 Zu ihrer kurzen Skizze der Spielarten des Skeptizismus lassen sich zwei Beobachtungen machen: Erstens beschreibt der epistemische Skeptizismus für Shklar schlicht die unentrinnbare Situation der Neuzeit. Ganz gleich, ob man ihn überwinden oder hinnehmen will, die übergreifende „Einigkeit“ ist endgültig zerstört, es gibt keinen Weg zurück in die unfragliche Sicherheit früherer, geschlossener Weltbilder.33 Zweitens sind, wenn es also unmöglich ist, vom epistemischen Skeptizismus unberührt zu bleiben, „die verschiedenen Reaktionen, die er evoziert“34 von zentraler Wichtigkeit. Nur wenn diese Reaktionen politische Folgen haben, werden sie für die politische Theorie relevant. Wie Shklar betont, habe eine rein epistemische Skepsis nur minimale politische Konsequenzen. „Abgesehen davon, dass er das Fundament der Einigkeit zerstört“, schreibe „das Problem des Wissens keine bestimmte gesellschaftliche Richtung“ vor.35 Der theologische Skeptizismus möge zwar die Autorität von Kirche und Staat untergraben, aber er empfehle kaum eine bestimmte radikale Veränderung, könne sogar zu allgemeiner „Passivität“ führen.36 Es sei allerdings richtig, dass moralischer und psychologischer Skeptizismus ein gewisses Grundniveau an Toleranz förderten – eine Entwicklung, die Shklar natürlich gutheißt –,37 doch auch das ist von einer umfassenden politischen Position noch weit entfernt. Shklar rechnet es Hume ____________________ 31 32 33 34

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„What evidence, if any, would suffice […] even for our own ancestors“ (ebd.). „heroes of science, not the ‚great butchers‘“ (ebd.). Shklar verwendet den Ausdruck „historischer Pyrrhonismus“, den sie Pierre Bayle zuschreibt, bereits früher (dies., D’Alembert, S. 297). Vgl. Bajohr, Harmonie und Widerspruch. Bereits an dieser Stelle könnte tentativ man von einer Normativitätsquelle sprechen: Diversität als Faktum generiert Diversität als Norm. „the various reactions it evokes“ (Shklar, Jerusalem Scepticism, S. 3). Das war bereits ihr Fokus in After Utopia, wo sie die Bandbreite von Positionen sondierte, deren Reaktion auf die Ungewissheit der Moderne entweder pessimistische Resignation oder ein erneuertes Christentum waren. „Apart from destroying [the] basis of agreement, [the] problem of knowledge [yields] no specific soc[ial] direction“ (dies., Beginnings, S. 11). „passivity“ (ebd., S. 14). Dies., Legalism, S. 64.

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an, diesen Effekt auf den Charakter des Skeptikers gezeigt zu haben, und betont zugleich, dass er sich nichtsdestotrotz auf den Rat des Pyrrho zurückzog, sein Leben „in Übereinstimmung mit den Sitten und Gesetzen der eigenen unmittelbaren Gesellschaft“ zu führen. Für Shklar ist das ein eindeutig „konservativer Impuls“,38 den sie der Tatsache zuschreibt, dass Humes Erkenntnistheorie keine Spuren in seinem politischen Denken hinterlassen habe.39 Hume stellt Shklar Montaigne entgegen: Sein Skeptizismus sei zuallererst gegen gesellschaftliche Konvention gerichtet, oft mit der Folge, sie zu verwerfen. Das macht ihn in Shklars Augen nicht primär zu einem epistemischen, sondern zu einem politischen Skeptiker, der, anders als der epistemische Skeptiker, nicht an den Bedingungen sicheren Wissens interessiert ist, sondern an „Gesellschaftskritik und einer radikalen Neubewertung von Traditionen, Überzeugungen, dem Konsens und der Reichweite staatlichen Handelns.“40 Auch Shklar zählt zu den politischen, nicht den epistemischen Skeptikern.41 Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass letztere eine Form bestimmter Skepsis vertreten, ihre Skepsis also einen genau umgrenzten Gegenstand hat. Das trennt sie von der unbestimmten epistemischen Skepsis, die noch vor der Bestimmung bezweifelnswerter Gegenstände die Möglichkeit der Erkenntnis an sich in Zweifel zieht. Während unbestimmter Skeptizismus also eine erkenntnistheoretische Position ist, hängt der bestimmte Skeptizismus „nicht von irgendeiner spezifisch philosophischen Voraussetzung über Wissen im allgemeinen ab“42 und kann viele Gesichter annehmen. In Shklars Fall ist er eine politische Reaktion auf den Versuch, mit epistemischer Unsicherheit umzugehen, die seine inakzeptablen Folgen zu vermeiden trachtet. Eine solche Position kann den Zweifel am Vertrauen in sicheres Wissen einschließen, relevant ist er aber nur, insofern die Gefahren epistemischer Versicherung politische Wirkungen zeitigen. Darüber hinaus muss, weil diese Wirkungen zu beurteilen auf der Artikulation zumindest einigermaßen stabiler Kriterien beruht, epistemische Skepsis zu einem gewissen Grad suspendiert werden. Shklar mag ____________________ 38 39 40 41 42

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Im Original: „in conformity with usages and laws of one’s immediate society“, „conservative impulse“ (dies., Jerusalem Scepticism, S. 2). Ebd., S. 3. Im Original: „soc[ial] crit[icism] and a radical reconsideration of traditions, beliefs, of consensus and the scope and limits of governmental action“ (ebd.). Vgl. für einen ähnlichen Standpunkt Whiteside, Justice Uncertain, S. 503; Shklar, Laster, S. 34; vgl. auch Levine, Cruelty. Shklar, Ungerechtigkeit, S. 38.

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die großen Metaphysiken und Philosophien der Geschichte ablehnen „Keine Muster. Keine Nostalgie. Keine übergreifende Theorie“,43 wie sie in ihrer Jerusalemer Vorlesung schreibt –, aber sie zweifelt nicht an der Existenz normativ relevanten Wissens und der Möglichkeit, dieses Wissen hinreichend objektiv auf konkrete Situationen anzuwenden. Tatsächlich ist Shklars Haltung, vor allem im Vergleich zu den von ihr präsentierten Spielarten des Skeptizismus, epistemisch eher nuanciert: Während sie die Notwendigkeit betont, sich gegen eurozentrische Annahmen zu wappnen,44 lehnt sie relativistische Argumente ab,45 eben weil sie keine politische Orientierung geben können;46 während die Unfähigkeit, sich völlig in andere hineinzuversetzen, Toleranz und Individualismus als politische Güter betont, verlässt sich ein Großteil ihres Werks auf psychologische Spekulation;47 und während sie dem Diktum historia magistra vitae misstraut,48 betont sie oft, dass „ein besonders stark entwickeltes historisches Gedächtnis“49 für jedes Verständnis gegenwärtiger Gesellschaft notwendig ist und Schutz gegen politische Naivität bietet. Eine der „Gefahren des Pyrrhonismus“ in der Geschichte sei es, dass er „dazu neigt, in ein Gefühl gesellschaftlicher Vergeblichkeit übersetzt zu werden“50 – und wo in der Geschichte sich das Böse als allesbeherrschend erweist, könnte man anzunehmen genötigt sein, dass jede gesellschaftliche Verbesserungsbestrebung aussichtslos ist. Shklar aber stellt sich einem solchen höchst unpolitischen Fatalismus entgegen – wie schon in ihrem ersten Buch After Utopia, wo es hieß, dass „ohne jenes Körnchen grundlosen Optimismus keine echte politische Theorie konstruiert werden“ könne.51 Shklar war ohne Frage keine Optimistin – „politische Philosophie ist tragisches Denken“, ____________________ 43 44 45 46

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„No patterns. No nostalgia. No overarching theory“ (dies., Jerusalem Scepticism, S. 4). Dies., Legalism, S. 128; dies., Intellectual Pluralism, S. 278f. Dies., Furcht, S. 54f. In Legalism schreibt Shklar, dass die Affinität zwischen Liberalismus und Relativismus allein auf die kritische Funktion des letzteren beschränkt gewesen sei. „Nur negativ, nur in Opposition zu jener moralischen Selbstsicherheit, die sich durch Unterdrückung Ausdruck verschafft, gedieh diese Allianz“ (dies., Legalism, S. 65). Dies., Laster, S. 249-273 (Kap. 6). Wie es etwa Edward Gibbon vertreten habe, vgl. dies., Learning, S. 109f. Dies., Furcht, S. 39. Dies., Learning, S. 106f. Dies., After Utopia, S. 271.

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schrieb sie einmal –,52 aber sie hegte reformistische Hoffnungen, wie Katrina Forrester überzeugend gezeigt hat.53 Vom epistemischen Skeptizismus des Antifundamentalismus war sie in jedem Fall meilenweit entfernt.

3.

Objektivität und Interpretation

Bevor ich mich Shklars positiven Annahmen und deren Rechtfertigung zuwende, mag es sinnvoll sein zu betonen, dass ihr bestimmter, politischer Skeptizismus sowohl Substanz wie auch Methode ihres Denkens betraf; tatsächlich ist die Trennlinie zwischen beiden Sphären oft schwer zu ziehen. Das wird besonders deutlich im Essay Squaring the Hermeneutic Circle, ihrem Angriff auf die hermeneutische oder interpretative Sozialwissenschaft.54 In dieser Polemik gegen Charles Taylor und Paul Ricœur kritisiert Shklar den hermeneutischen Ansatz einerseits als eine ungenügend objektive und objektivierbare Forschungsmethode, andererseits als in seinen Konsequenzen politisch gefährlich. Im Folgenden werde ich mich auf ihre Auseinandersetzung mit Taylor beschränken, in der die politische in Verbindung mit der Methodenkritik schärfer zutage tritt. In seinem Aufsatz Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen von 1971 greift Taylor an, was er die „Hauptströmung der Politischen Wissenschaft“ nennt.55 Diese versuche, die Methodologie der Naturwissenschaften auf die „Wissenschaften vom Menschen“ zu übertragen. Nach Taylors Darstellung behandelt sie kulturelle Bedeutungen wie „data bruta“,56 objektive und verifizierbare Fakten, aus denen kausale Erklärungen, gar Prognosen abgeleitet werden könnten. Das Problem dieser atomistischen Auffassung von Bedeutung besteht für Taylor in der Unfähigkeit zu erkennen, dass alle kulturelle Bedeutung sich vor einem Hintergrund intersubjektiver und geteilter Bedeutungen abhebt und daher im Zusammenhang mit ihm verstanden werden muss. Dieser Bedeutungshintergrund könne dabei weder empirisch isoliert, objektiv verifiziert noch Teil kausaler Erklärungen werden. Stattdessen könne man sich ihm nur durch hermeneutische Einsicht nähern und das heißt: durch das empathische Urteil eines ____________________ 52 53 54 55 56

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Dies., Triumph, S. 10. Vgl. Forrester, Hope. Shklar, Squaring. Taylor, Interpretation, S. 176. Ebd., S. 160.

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situierten Interpreten. Das Ergebnis ist für Taylor, dass kein Verifikationsprozess existiert, der zwischen konkurrierenden Interpretationen schlichten kann, und so eine Art von Relativismus entsteht, in dem wir „lediglich weiterhin Interpretationen geben“ können, aber keine realistische Hoffnung auf eine objektive und kausale Darstellung kultureller Phänomene mehr hegen dürfen.57 „Dies“, meint Taylor, „ist der Schlußpunkt jeglichen Strebens nach einer wertfreien oder ‚ideologiefreien‘ Wissenschaft vom Menschen.“58 Shklar stimmt mit Taylors Grundidee überein, dass die Politikwissenschaft nicht wie die Naturwissenschaften behandelt werden kann und dass die Suche nach völliger epistemischer Gewissheit in die Leere laufen muss. Vehement widerspricht sie aber Taylors epistemischem Skeptizismus, der ihn dazu bringt, jeglichen empirischen Zugang zu den „Wissenschaften vom Menschen“ abzulehnen und sich allein auf Interpretation zu verlassen. Weil Taylor als epistemischer Holist argumentiert, meint Shklar, will er nicht zwischen der Darstellung der Tatsachen, kausaler Erklärung und der Interpretation geteilter Bedeutungen in der Lebenswelt unterscheiden; selbst die Sprache, in der Beschreibungen gegeben werden, sei nicht neutral sondern Teil eines umfassenden Bedeutungskontextes.59 Shklar lehnt diese Position ab und verweist stattdessen auf W. G. Runcimans Differenzierung zwischen dem Aspekt des Berichtens, Erklärens und Interpretierens in den Sozialwissenschaften.60 Methodologisch ist es für Shklar weder die Interpretation von geteilten Bedeutungen noch die kausale Erklärung, von denen die größten Schwierigkeiten ausgehen; beide seien vergleichsweise leicht zu erreichen.61 Die größte Herausforderung bereite die Erfassung der Tatsachen selbst, auf der Interpretation und Erklärung aufbauen. Shklar betont, dass, auch wenn offensichtlich ist, „wie unzureichend selbst die besten unserer sozialwissenschaftlichen Erhebungen oft sind“, dies „doch nicht im Prinzip so sein muss“.62 Und ebenso wenig meint sie, in einem polemischen Seitenhieb gegen Taylor, „dass wissenschaftliche Forschung eine ethische ____________________ 57 58 59 60

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Ebd., S. 212. Ebd., S. 214. Shklar, Squaring, S. 81. Ebd., S. 86ff. Runciman unterscheidet zwischen reportage, explanation und description, wobei nur die (kontraintuitiv benannte) description tatsächlich auch intrakulturelle Interpretation meint, vgl. Runciman, Methodology, Bd. 1; vgl. Stullerova, Suffering, S. 39f. Shklar, Squaring, S. 88f. Ebd., S. 88.

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Katastrophe darstellt“.63 Oftmals sei es möglich, eine hinreichende Darstellung von Tatsachen und Ereignissen zu liefern – und weil diese Aufgabe sowohl schwierig als auch die Bedingung aller weiteren Forschung sei, habe es desaströse Folgen, sie für rundheraus unerreichbar zu erklären und durch Divination zu ersetzen.64 Es ist genau diese Stelle – die Schwierigkeit, eine vollständige Tatsachendarstellung zu liefern –, an der Shklars politische Skepsis ihre epistemische übertrumpft. In den Sozialwissenschaften ist ihr zufolge das wesentlichste Problem bei der Faktenerfassung, an die Selbstbeschreibung der involvierten Akteure zu gelangen. Für Shklar sind diese Beschreibungen noch keine kulturell überformten Interpretationen, sondern erscheinen – zumindest prinzipiell – als basale, isolierbare Propositionen, die durch Studien oder öffentliche Diskussionen gesammelt und zum Gegenstand politischer Deliberation gemacht werden können.65 Was aber die Politik betrifft, so hätten nur wenige Akteure die Chance zu sprechen; viele sind stumme oder zum Verstummen gebrachte wirkliche oder mögliche Opfer, deren Selbstbeschreibungen, Beschwerden und Klagen nicht gehört werden. Wie JanWerner Müller schreibt, gehe es Shklar grundsätzlich darum, „unsere Augen zum Blick auf die Wehrlosesten zu erziehen“, jene, die am ehesten Gefahr laufen „unsichtbar und unhörbar“ gemacht zu werden.66 Anders dagegen Taylors hermeneutischer Interpret: Dieser ist damit beschäftigt, „verschüttete Mentalitäten freizulegen“,67 die unter dem Sicht- und Hörbaren von Selbstaussagen verborgen seien. Er behauptet, „eine allen gemeinsame Anzahl von Bedeutungen“68 zum Ausdruck bringen zu können – auch solche, deren sich die sie angeblich Besitzenden nicht einmal selbst bewusst ____________________ 63 64

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Ebd., S. 77. Interessanterweise kommt Shklar damit Arendts Lob der Tatsachenwahrheit sehr nah. Wenn sie als Beispiel einer Tatsachenwahrheit schreibt, dass „Norwegen, wie wir uns mit Erleichterung erinnern, 1940 nicht in Deutschland eingefallen ist“ (ebd., S. 92), ist das eine direkte Adaption einer Anekdote, die Arendt über Clemenceaus Antwort auf die Frage nach der Kriegsschuld erzählt: „‚Das weiß ich nicht‘, soll Clemenceau geantwortet haben, ‚aber eine Sache ist sicher, sie werden nicht sagen: Belgien fiel in Deutschland ein.‘ Wir haben es hier mit elementaren Daten dieser Art zu tun, und ihre Unumstößlichkeit haben auch die extremsten und überzeugtesten Vertreter des Historismus immer als selbstverständlich vorausgesetzt“ (Arendt, Wahrheit, S. 339). Vgl. Stullerova, Doubt, S. 73. Müller, Fear, S. 54. Shklar, Squaring, S. 81. Ebd., S. 80.

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gewesen sein mögen. Damit, so Shklar, maße er sich die Fähigkeit an, für die Betroffenen zu sprechen, und beraube sie so schlimmstenfalls der Möglichkeit, ihre Empfindungen von Furcht, Ungerechtigkeit und Opfersein selbst zu artikulieren. Taylors stellvertretender Interpret trage so eine Mitschuld an ihrem Ungehörtbleiben. Mehr noch: Weil Taylor zugleich die Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften prinzipiell infrage stelle, sei seine Idee von Verstehen nicht durch die Aufforderung: „‚entwickle deine Intuition‘“, sondern radikaler: „‚ändere dich‘“ zu erreichen.69 Das Ziel einer Interpretation, wie Taylor sie verstehe, könne daher nur sein, die Welt des Interpreten und die des Zuhörers in Übereinstimmung zu bringen; diese Form von Horizontverschmelzung aber lehnt Shklar als zu radikaltransformativ ab, da ihr das zugrundeliegende Projekt, Einigkeit zu erzielen, nicht nur als epistemisches, sondern auch als politisches Projekt erscheint, das ihrem reformistischen Liberalismus zuwider läuft.70 Taylor vertritt in ihren Augen eine „Ideologie der Einigkeit“, wie sie es in Legalism nennt.71 Eine solche Ideologie könne den liberalen Gesellschaften innewohnenden Pluralismus und die Vielfalt an Sichtweisen nicht ertragen und versuche, mit allen Mitteln, auch um den Preis erzwungenen Konformismus, Konflikt in Übereinstimmung zu verwandeln. Auch zwischen Shklar und Taylor macht die Differenz zwischen bestimmter und unbestimmter Skepsis den wesentlichen Unterschied: Shklars Argumentation bringt zwar epistemische Skepsis in Anschlag – wie kann Taylor wissen, worin die unartikulierten Überzeugungen bestehen? –, doch sind es je nur die möglichen politischen Folgen, die diesen epistemischen Verdacht für Shklar relevant machen. In ihren Augen reagiert Taylor auf epistemische Skepsis dagegen so wie Rousseau und Voltaire, nämlich mit der Drift in den Dogmatismus; als politische Konsequenz fürchten Theoretiker dieses Schlages „Skepsis mehr als das Böse.“72 Für die bestimmte Skeptikerin Shklar ist das Gegenteil der Fall: Die Ablehnung des politisch Schlechten muss die Versuche, den Skeptizismus zu überwinden, einhegen; Methode und Substanz fallen hier in eins.

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Taylor, Interpretation, S. 214. Shklar, Squaring, S. 81. Shklar will „zwischen der prophetischen Hoffnung transformativer Politik und der realistischen Hoffnung auf reformistische Politik unterscheiden“, Forrester, Hope, S. 595. Shklar, Legalism, S. 88-110; vgl. Bajohr, Harmonie. Shklar, Sources, S. 109.

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Taylor ist nicht der einzige, den Shklar in dieser Hinsicht angreift. Ihre Abneigung gegen Kommunitaristen wie Michael Walzer73 und hermeneutisch operierende Theoretiker wie Ronald Dworkin74 ist ein Thema, das sich durch ihre Schriften der Achtziger- und Neunzigerjahre zieht. Es gibt allerdings auch Beispiele vom anderen Ende des Spektrums politischer Philosophie; auch hier sticht Shklars politischer ihren epistemischen Skeptizismus aus. Shklar mag die John Rawls’ „Urzustand“75 zugrundeliegenden Annahmen in ihrer Abstraktion ebenso bezweifeln wie Taylors Behauptung, dass ein Interpret unartikulierte aber von allen geteilte Bedeutungen zutage fördern könne, doch reagiert sie auf Taylor sehr viel vehementer, weil sie ihn verdächtigt, illiberal zu sein, während sie Rawls’ Liberalismus nie in Zweifel zieht. Sobald Rawls aber auf die unter anderem von Kommunitaristen vorgebrachte Kritik, sein normatives Modell universalisiere eine bestimmte westliche Erfahrung, mit einer historisierten Version des „übergreifenden Konsenses“ reagiert, wird Shklars Kritik eindringlicher. „Die wesentlichen Intuitionen einer Gesellschaft“ seien, so Rawls, „ein Fundus implizit geteilter fundamentaler Ideen und Prinzipien“, die wiederum „in einen politischen Begriff von Gerechtigkeit ausgearbeitet werden“ könnten.76 In einem Brief an Rawls, der ihren Punkt gegen Taylor wieder aufgreift, kritisiert Shklar „die grundlegende Annahme, auf die du dein Denkgebäude errichtest: die impliziten ‚Werte‘ einer wirklichen politischen Gesellschaft. Die Aufgabe, die du dir damit stellst, besteht darin, diese Andeutungen auszuformulieren und explizit zu machen. Die historische Beweispflicht lastet damit sehr schwer auf dir. Du kannst der Forderung, mit nachweisbar korrekten historischen Belegen zu zeigen, dass dies in der Tat die latenten Werte sind, nicht aus dem Weg gehen. Wie latent? Wie weit verbreitet? Wie tief empfunden und von wem und wo? Im Krieg und im Frieden, zu sicheren und zu unsicheren Zeiten?“77 ____________________ 73 74

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Dies., Walzer. „Unglücklicherweise hat Dworkin sich die literarische Hermeneutik als Modell auserkoren, mit all ihrer Feindseligkeit gegen kausale Erklärung und ihrem Vertrauen auf Empathie und Intuition beim Verständnis gesellschaftlicher Phänomene“ (dies., Law’s Empire, S. 261). Rawls, Gerechtigkeit, S. 140-221 (Kap. 3). Ders., Overlapping Consensus, S. 6. Diese Sätze finden sich nicht in der umgearbeiteten Version des Aufsatzes, die schließlich in Political Liberalism einging. „[T]he basic assumption on which you build your edifice: the implicit ‚values‘ of an actual political society. The task you then set yourself is to draw out these intimations and make them explicit. The burden of historical proof then becomes very heavy. You cannot evade the demand for demonstrably accurate historical

Judith N. Shklar über die Quellen liberaler Normativität

Während klar artikulierte Werte aus der politischen Philosophie, aus geltendem Rechtsdenken und der Geschichte bestimmter Institutionen hergeleitet werden können – was Shklars eigener Praxis entspricht –, läuft ihr zufolge „implizite Werte“ ans Licht bringen zu wollen immer Gefahr, einen allwissenden Interpreten einzusetzen, der in seiner hermeneutischen Anstrengung jene Stimmen übertönt, für die er zu sprechen beansprucht. Shklar drängt Rawls daher zur Suche nach „einem weit weniger spekulativen Grund, von dem zu beginnen ist. Diese latenten Werte müssen genauso Stück für Stück belegt werden wie die offenen.“78 Weniger polemisch im Ton mahnt Shklar doch dasselbe Risiko an wie bei Taylor; und nun spricht sie auch ganz explizit von der Notwendigkeit eines „Grundes“. Wenn selbst Rawls diese Kritik traf, dann ist leicht zu sehen, warum Rorty – wie Taylor ein „Postempirist“79 – ihren Ärger sehr viel mehr auf sich gezogen hätte. Dennoch ist Shklar freilich keine reine Empiristin; sie macht sich keine Illusion über die wissenschaftliche Präzision ihres Feldes und war bereits in den Fünfzigerjahren darauf bedacht, den vorherrschenden positivistischen und behavioristischen Ansätzen in der Politikwissenschaft ein Gegengewicht in Form historischer Gelehrsamkeit zu schaffen.80 Sobald diese empirischen Methoden aber ihren Anspruch aufgeben, die Politikwissenschaft in eine hard science zu verwandeln, sind Shklar ihre Beiträge im Methodenpluralismus einer unvollkommenen Disziplin sehr willkommen.81 „Being scientific without science“, wie der Titel eines Vortrags von 1986 lautet, ist sowohl Mangel als auch Aufgabe des Fachs. In diesem kurzen Text, den sie bei einer Diskussionsrunde auf einem Treffen der American Political Science Association vortrug, besteht Shklar darauf, dass sie durchaus „die Interpretation zusammen mit der Beschreibung und der Erklärung zu einem integralen Bestandteil politischen Verstehens“ machen wolle, aber ebenso, dass ____________________

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evidence to show that these are indeed the latent values. How latent? How widely shared? How deeply held and by whom at what times? In peace and in war, in secure and insecure times?“ (Shklar, Brief an John Rawls). Im Original: „a far less speculative ground to start from. Those latent values have to be accounted for every bit as much as more overt ones“ (ebd.). Bernstein, Objectivism, S. 20-25. Vgl. zum historischen Kontext Forrester, Liberalism and Realism. Shklar führt Quentin Skinners Kontextualismus als exemplarisch für die politische Theorie an und zitiert zustimmend Skinner, Social Meaning (Shklar, Squaring, S. 93).

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Hannes Bajohr „sie als einen Ersatz zu gebrauchen bedeutet, sich in Pseudowissenschaft zu ergehen. […] Es bedeutet Wissenschaftsschelte, um seine eigene Sache machen zu können, und basiert auf dem willkürlichen Glauben, dass tief unten in der geteilten Mentalität Einigkeit und Sicherheit vor Zweifeln zu finden sind.“82

Gegen eine solche „Pseudowissenschaft“ erscheint die begrenzte aber erreichbare wissenschaftliche Strenge der politischen Theorie für Shklar in Form des akademischen Prozeduralismus rechenschaftspflichtiger Diskurse, in Klarheit der Argumentation und Aufnahmebereitschaft für die Fakten der empirischen Wissenschaften.83 Gerade weil die politische Theorie nicht exakt sein kann, müsse sie sich auf jene Tatsachenwahrheiten verlassen, die ihr die empirischen Wissenschaften bereitstellen; und gerade weil politische Konsequenzen epistemische Zweifel ausstechen, sei es wichtig, plausible Methoden zur Hand zu haben, um mit jenen Situationen fertig zu werden, in denen „notwendiges wissenschaftliches Wissen schlicht nicht verfügbar ist.“ Besonders für die so wichtige Perspektive der Opfer mahnt Shklar daher Techniken an, die glaubwürdige Hilfsannahmen zu liefern imstande sind. Erst an diesem Punkt, in Abwesenheit etablierter Tatsachenwahrheiten, kämen dann auch „narrative Geschichte und literarische Psychologie“ ins Spiel (in denen Shklar eine fast virtuose Fertigkeit besaß), die beide „versuchen, die Wissenschaften ohne alle Rivalitätsrituale zu ergänzen.“84 ____________________ 82

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„I am not arguing for non-contextual explanations of discrete phenomena nor denying interpretation its place along the side of explanation. We do indeed want to relate particular instances to more general contexts and we do want to know what the attitudes of the observed are in their own terms and integrate that into any account of social conduct. But that is to make interpretation along with description and explanation an integral part of political understanding. To use it as a substitute is to indulge in pseudo-science. We do not read our fellow citizens as if they were text, nor impute meanings to their conduct that must be revealed to them in order to alter them. There is nothing scientific about that at all. It is science bashing in order to do your own thing, on the randomly held belief that down there deep in the common mentality there is agreement and security from doubt. Whether the end is socially radical or conservative makes no difference, it is overtly a turning away from the scientific discipline of the mind“ (dies., Being Scientific). Für eine gute Erklärung von Shklars eigenem Erklärungsansatz, vgl. dies., Purposes, S. 1018. Denselben Punkt macht Shklar in Bezug auf Michael Walzer (vgl. dies., Walzer, S. 378). „If it means anything at all, being scientific without science can refer to at least three styles of thought, and I expect many more. I shall concentrate here on one of these that I regard as mistaken and on two that seem to me to be worth pursuing. The first, interpretation that claims to be a substitute for and an improvement

Judith N. Shklar über die Quellen liberaler Normativität

Eine solche Wissenschaft erlangt für Shklar einen Typus von Objektivität, der von den Naturwissenschaften weit entfernt ist, aber ganz sicher nicht in Taylors Relativismus aufgeht. Shklar formuliert dieses Argument explizit in Der Liberalismus der Furcht. Dem Vorwurf, der vom Liberalismus in Anspruch genommene Universalismus sei ethnozentrisch (wie u.a. Taylor meint), weil er gewisse kulturelle Praktiken wie das Kastensystem ablehnt, tritt Shklar entgegen: „Sich von diesen Gebräuchen zu entfernen ist, anders als die Relativisten meinen, keineswegs besonders anmaßend und aufdringlich. Nur die Einwände, die aus dem Nirgendwo hervorgebracht werden, und die Ansprüche, die eine universelle Menschlichkeit und das in allgemeinen Begriffen formulierte rationale Argument erheben, können auch durch eine umfassende Prüfung und öffentliche Kritik auf die Probe gestellt werden.“85

Einerseits wiederholt Shklar hier ihren Glauben an öffentliche Vernunft und akademischen Prozeduralismus, andererseits erhellt gerade die Betonung der „Einwände aus dem Nirgendwo“ ihr Objektivitätsverständnis, greift diese Formulierung doch den Titel von Thomas Nagels antirelativistischem Buch Der Blick von nirgendwo auf, dem Shklar bescheinigt, das „philosophische[] Panorama dieser Nichtposition“ zu präsentieren.86 Nagel entwickelt einen Begriff von Objektivität, in dem die radikale Partikularität subjektiver Erfahrung nicht reduziert wird. Stattdessen denkt er Objektivität als „Autotranszendenz“,87 als eine selbstreflexive Sicht, die Perspektivität nicht ausschließt, sich aber vom Einnehmen dieser Perspektive unterscheidet. Es ist, wie Bernard Williams schreibt, „eine Art der Erkenntnis dieses Blickpunkts, der nicht von diesem Blickpunkt aus entwickelt wird.“88 Shklars Verweis auf Nagel legt nahe, dass auch sie sich diesem Objektivitätsbegriff verschrieben hat – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Dass sie auf den Tatsachen und einem „weniger spekulativen Grund“ besteht, ist allerdings nicht die Folge einer starken Epistemologie, sondern ihrer Entscheidung, einer politischen Skepsis vor einer epistemischem den ____________________

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upon explanation, strikes me as an unfounded rejection of scientific thought. The other two, narrative history and literary psychology, which try to supplement the sciences without the rituals of rivalry, come close to fitting the title of this symposium. […] It refers to occasions when needed scientific knowledge is simply not available, though we ideally would work with it and often take it for granted for no good reason“ (dies., Being Scientific). Dies., Furcht, S. 56. Ebd., S. 66. Nagel, Blick, S. 130. Williams, View, S. 262.

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Vorrang zu lassen. Dennoch hebt die eingeschränkte Affirmation von Objektivität Shklar noch mehr vom Lager der Antifundamentalisten ab. Was Rorty und Nagel angeht, so ist eindeutig, auf wessen Seite Shklar in den „Science Wars“ der Neunzigerjahre gestanden hätte. Dennoch basiert die politische Entscheidung für den Glauben an eine plausible Objektivität selbst auf normativ relevanten Annahmen, die ihrerseits begründet werden müssen und von Shklar auch begründet werden. 4.

Empirische, formale und transzendentale Normativitätsquellen

In den Achtzigerjahren eröffnet Ganz normale Laster (1984), Shklars Erkundung Montaigne’scher Essayistik, ihre Suche nach fundierteren Normativitätsquellen.89 Das berühmteste Ergebnis dieser radikal neuen, letzten Werkphase ist sicherlich ihr „Liberalismus der Furcht“. Im gleichnamigen Essay von 1989 geht Shklar nicht von einem höchsten Gut, sondern einem höchsten Übel aus: „Dieses Übel ist die Grausamkeit und die Furcht, die sie hervorruft, und schließlich die Furcht vor der Furcht selbst.“90 Dieser Liberalismus artikuliert negativ einen universellen normativen Anspruch – oder vielmehr zwei solcher Ansprüche: Während die Furcht vor der Grausamkeit ein empirisches Prinzip setzt, konstituiert die Furcht vor der Furcht, einmal ernstgenommen, ein formales Prinzip. Shklar unterscheidet nicht immer klar zwischen dem Empirischen und dem Formalen, aber sie stellen zwei radikal verschiedene Normativitätsquellen dar. Beide sind wiederum eng mit einem dritten, transzendental zu nennenden Prinzip verwoben, das auf den Möglichkeitsbedingungen für die Artikulation eines Sinnes für Ungerechtigkeit beruht. In diesem letzten Abschnitt werde ich versuchen, diese drei Quellen zu rekonstruieren, selbst, wenn ich dabei Gefahr laufe, Shklar begründungstheoretischer erscheinen zu lassen, als sie es in Wirklichkeit war – aber in der bewussten rekonstruktiven Überzeichnung ihrer Normativitätsquellen wird, so hoffe ich, endgültig deutlich, wie unzureichend Shklar mit dem Etikett des Antifundamentalismus beschrieben ist.91 Aus Grausamkeit und Furcht Normen ableiten zu wollen ist philosophisch nicht unumstritten, und auch Shklar ist wiederholt von dieser Warte aus kritisiert worden. Die Grausamkeit an erste Stelle zu setzen, wurde als ____________________ 89 90 91

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Vgl. Stullerova, Suffering, S. 29. Shklar, Furcht, S. 43. Vgl. zum Argument gegen Shklar als Begründungstheoretikerin Bülte, Furcht.

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naturalistischer Fehlschluss kritisiert, der die kulturelle Konstruktion von Emotionen ignoriere.92 Auch wurde Shklar der Einführung ahistorischer Konstanten geziehen, die der Komplexität sozialer Situationen nicht gerecht werden könnten.93 Shklar ist sich dieses Kritikpotentials bewusst und versucht es vorwegzunehmen, indem sie eine bestimmte zugunsten einer ganzen Bandbreite möglicher Rechtfertigungen aufgibt und eine formale Struktur in Anschlag bringt, die den Vorteil hat, historisch und kulturell hochflexibel zu sein. Nichtsdestotrotz lässt sich Shklar, vor allem zu Anfang dieser Werkphase, auf einen gewissen Naturalismus ein und schreibt Furcht und Grausamkeit Normativität zu. In Ganz normale Laster definiert Shklar Grausamkeit, sie bedeute, einem Wesen „willentlich körperlichen Schmerz zuzufügen“.94 Furcht ist hier wesentlich die Furcht vor schmerzhafter Grausamkeit.95 Es ist offensichtlich, dass Shklar mit primären und sekundären Begriffen von Furcht operiert, es also für möglich hält, Schmerz und die Furcht vor Schmerz als universale Übel zu bestimmen, die „wir alle kennen und nach Möglichkeit zu vermeiden trachten“,96 ohne etwas über den Bereich historisch und kulturell relativer Furcht sagen zu müssen.97 Mit dieser Form von Realismus ist Shklar nicht allein. Für Nagel, dessen Objektivitätsbegriff Shklar bereits affirmativ gegenüberstand, ist „die objektive Schlechtheit von Schmerzen“98 eines der klarsten Beispiele eines „akteurneutralen“99 universellen Werts, der „dem objektiven Selbst natürlich ebenso verhaßt [ist] wie dem subjektiven Individuum.“100 Shklar folgt diesem Argument – wieder zu einem gewissen Grad. Wie Nagel lehnt sie ____________________ 92 93 94 95

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Robin, Fear, S. 131-160 (Kap. 5). Weiss, Fear, S. 4. Shklar, Laster, S. 17. Damit ist diese Furcht eben noch nicht die Furcht vor politisch-sozialen Übeln, die Robin dazu verleitet, Shklars Furchtbegriff vorschnell mit antitotalitärem Schrecken (terror) zu identifizieren und ihr einen liberalism of terror zu unterstellen (Robin, Fear, S. 144). Shklar, Furcht, S. 43. Interessanterweise gibt auch Charles Taylor diesen Unterschied zu, wenn er das Faktum des Schmerzes von sozial konstruierten Emotionen wie der Scham (oder eben kulturell relativer Furcht) unterscheidet (Taylor, Irrtum, S. 136). „the objective badness of pain“ (Nagel, View, S. 144; im Deutschen sehr unzureichend übersetzt als der „Aspekt, objektiv schlecht zu sein, den wir etwa Schmerzen zuschreiben“ (ders., Blick, S. 249)). „[A]gent neutral“ (ders., View, S. 156); auf Deutsch nur mit „neutral“ übersetzt (ders., Blick, S. 269). Ebd., S. 277.

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relativierende Interpretationen von Schmerz ab, die ihn Schöpferkraft oder Genie unterordnen – etwa bei Nietzsche oder Elaine Scarrys Der Körper im Schmerz –,101 und nimmt mit Rousseau an, „dass unsere Fähigkeit, uns mit dem körperlichen Leid anderer Sinneswesen zu identifizieren, unser einziger natürlicher sozialer Impuls ist.“102 Doch Shklar folgt Nagels Argument nicht völlig. Sie gibt zu, dass Grausamkeit nur dann „zum Prinzip politischer Moral werden“ könne, wenn es einmal universalisiert sei, sieht aber davon ab, das voll ausgeführte Argument für eine solche Universalisierung zu liefern.103 Shklar lässt daher eine willentliche Rechtfertigungslücke, die zu überbrücken sie einer Vielzahl von Erklärungen zugesteht, seien sie nun utilitaristisch oder kantisch, wie sie meint, oder eben in der Art von Nagels moralischem Realismus.104 Die Existenz einer solchen Lücke bedeutet allerdings nicht, dass Shklar Rechtfertigung als solche ablehnt, wie es antifundamentalistische Skeptiker täten; es kann Rechtfertigungen geben und Shklar akzeptiert verschiedene Beweisführungen, solange sie ihren Überlegungen zum summum malum entsprechen. Man kann daher sagen, Shklar vertrete keinen Universalismus der Gründe, sondern einen Universalismus der Zwecke.105 Allerdings bleibt es nicht bei dieser Argumentationslinie. Die Furcht vor Grausamkeit steht am Anfang des Liberalismus der Furcht, wie er in Ganz normale Laster erstmals formuliert worden ist; aber in ihrer letzten öffentlichen Iteration, dem Essay Rechte in der liberalen Tradition aus ihrem Todesjahr 1992, tritt die Normativität physischer Grausamkeit zugunsten einer reflexiven Argumentationsfigur zurück: „In seiner elementarsten Form fürchtet dieser Liberalismus die Furcht selbst“.106 Die Formel des fear of fear ist mehr als eine bloße Anspielung auf Montaigne oder Franklin D. Roosevelt,107 sondern kann selbst als Kriterium gelesen werden, das nicht empirisch, sondern formal zu verstehen ist: Weil die Furcht vor der Furcht ein reflexives Argument ist, kann es die eigene Universalität garantieren, ohne auf einen starken Naturalismus zurückgreifen zu müssen. ____________________ 101 102 103 104 105 106 107

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Shklar, Laster, S. 50-56; dies., Torturers. Ebd., S. 27. Dies., Furcht, S. 46. Vgl. Korsgaard, Sources of Normativity, S. 40. Dass hier eine negative Anthropologie im Spiel ist, habe ich an anderer Stelle gezeigt (vgl. Bajohr, Furcht). Shklar, Furcht, S. 34. Montaigne, Furcht, S. 44; Roosevelt, Inaugural Address, S. 11. Ich betrachte hier ebenfalls nicht klinische Bedeutungen, etwa der Phobophobie oder der Angstsensitivität.

Judith N. Shklar über die Quellen liberaler Normativität

Dieses Argument, das Shklar nur andeutet, wäre etwa folgendermaßen zu rekonstruieren: Nur, wenn man sicherstellen kann, dass ein Erfahrungsinhalt stets eine negative Erfahrungsqualität besitzt, darf man annehmen, er sei auch universell negativ. Während Schmerz die erste von Shklars Normativitätsquellen ist, wäre es doch möglich, ihre negative Universalität infrage zu stellen. Nikola Grahek hat etwa die Schmerzasymbolie ins Feld geführt – „Schmerz, dem es wortwörtlich an Schmerzhaftigkeit mangelt“. In diesem klinischen Extremfall fallen Erfahrungsinhalt (das Gefühl von Schmerz) nicht mit seiner Qualität (als negative Empfindung) zusammen. Anhand der Schmerzasymbolie zeigt Grahek, dass die Annahme, Schmerz sei „etwas intrinsisch oder wesentlich Unangenehmes“ nicht universalisierbar ist.108 Einen ähnlichen, wenn auch weniger überzeugenden Fall könnte man für die Furcht mit Michael Balints Begriff der „Angstlust“ vorbringen, dem als positiv empfundenen „Aufgeben und Wiedererlangen von Sicherheit“.109 Sowohl Schmerzasymbolie als auch Angstlust zeigen, wie sich der Erfahrungsinhalt von der gewöhnlichen Erfahrungsqualität dissoziieren lässt – Schmerzen zu fühlen ohne Schmerzen zu haben, Furcht zu fühlen ohne Furcht zu ‚haben‘ –, es also äußert schwierig ist, eine Quelle konstant negativer Erfahrung anzugeben, die verlässlich Universalisierungen ermöglicht. Anders aber im Fall der Furcht vor der Furcht. Diese Formulierung stellt sicher, dass, ganz gleich, welcher Erfahrungsinhalt vorliegt, die Erfahrungsqualität universal negativ ist – die erste Furcht stellt dabei die Qualität, die zweite Furcht den Inhalt dar; ein Phänomen wie Angstlust kann in so einer Konstellation nicht mehr beschrieben werden. Es ist dieser Formalismus, auf den Shklar anspielt, wenn sie schreibt: „Die Furcht vor der Furcht verlangt keine weitere Rechtfertigung, weil sie sich auf nichts Weiteres zurückführen lässt.“110 Mehr noch, dank dieser reflexiven Struktur muss das Objekt der Furcht an keine naturalistisch abgeleiteten Konstanten gebunden sein, sondern kann sich mit der Zeit verändern und so auch seinen Geltungsbereich über die „Universalkonstante physischer Grausamkeit“111 hinaus ausweiten.

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Grahek, Pain, S. 37f. Balint, Angstlust, S. 23. Shklar, Laster, S. 261. Forrester, Realism, S. 252.

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Erstaunlicherweise erweist sich diese formale Struktur der Furcht vor der Furcht als Möglichkeit, Shklars höchstes Übel zu historisieren. Sie produziert einen kontextuellen Universalismus, der, wie Axel Honneth schreibt, eine „Historizität von Furcht und Verletzung“ setzt.112 Je mehr die Formulierung von der Furcht vor der Furcht ab Mitte der Achtzigerjahre eine Rolle in Shklars Denken spielt, desto mehr rückt sie von der Vermeidung bloßer Grausamkeit ab und weitet den Umfang der Furchtquellen aus. In „Rechte in der liberalen Tradition“ (1992) schreibt sie, dass der Liberalismus der Furcht zwar in seiner Entstehungszeit während der Religionskriege des 16. Jahrhunderts vor allem darauf bedacht war, „religiös motivierten Mord zu beenden“, er aber heute „größere Erwartungen als nur die Forderung nach ‚Frieden um jeden Preis‘“ hege: „Er steckt sich höhere Ziele. Er will nicht nur die Beseitigung des Terrors, sondern auch die Einhegung aller Quellen vermeidbarer Furcht, dabei immer darauf bedacht, die persönliche Freiheit aller zu vergrößern.“ Für Shklar beinhaltet dies auch „die Verringerung jeder Form von sozialer Ungleichheit“ und das Streben nach einer Gesellschaft, die es niemandem erlaubt, „in lähmender Krankheit oder Armut zu versinken.“113 Eine solche Charakterisierung des Liberalismus der Furcht ist meilenweit vom minimalistischen – und antifundamentalistischen – Negativismus entfernt, als der er normalerweise gezeichnet wird.114 In American Citizenship (1990) eruiert Shklar dann ganz konkret eine historisch neue Furchtquelle – die Furcht vor Arbeitslosigkeit – und leitet aus ihr ein Recht auf Arbeit ab.115 Wenn die Gegenstände der Furcht in diesem Argument in ihrer historischen Vielfalt zentral werden, dann muss allerdings sichergestellt sein, dass diese Befürchtungen auch wirklich artikuliert werden können. Hier verbirgt sich die dritte Normativitätsquelle. Nach der empirischen und der formalen Quelle scheint sie die Form eines transzendentalen Argumentes zu besitzen, das die Bedingungen der Möglichkeit bezeichnet, dem eigenen Sinn für Ungerechtigkeit eine Stimme zu verleihen. Sie verbietet jegliche Praxis, die eine solche Artikulation einschränken würde, und verlangt Prozesse und

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Honneth, Historizität. Shklar, Rechte, S. 35f., 42. In dieser Hinsicht hat Michael Walzer vollkommen Recht, wenn er rein negative Politik als leer bezeichnet, aber Unrecht, wenn er Shklar diese Position zuschreibt (Walzer, Negative Politik). Shklar, Citizenship, S. 95, 100.

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Prozeduren, die dabei helfen, die „unsere fast universelle Verweigerung zuzuhören“ zu überwinden.116 Nur wenn die Opfer ihrer Situation und ihrem Unmut selbst Ausdruck verleihen können, kann man sich ihrer Intentionen und der Abwesenheit aller usurpatorischen Interpretation sicher sein. Aus diesem Grund betont Shklar die Tugenden unpersönlicher Regierung und der Verfahrensgerechtigkeit. Vor allem letztere „ermöglicht es jedem, sein Unrechtsempfinden mit einem gewissen Erfolg auszudrücken“ – „zumindest gelegentlich,“ wie sie vorsichtig hinzufügt, denn auch diese Gesellschaft ist ein Ideal, keine Realität.117 Dieses transzendentale Kriterium, das aus dem fear of fear-Argument folgt, ist direkt mit dem empirischen verbunden: Nicht nur liefert die Negativität der Grausamkeit und des Schmerzes Shklar ein Kriterium, nach dem sie politischen gegen epistemischen Skeptizismus in Stellung bringen kann; sie stellt auch die minimalste kognitive Kompensation für die Situation bereit, in der die Opfer stumm bleiben, eben nicht selbst sprechen können. Wann immer die direkte Zeugenschaft der unmittelbar Betroffenen nicht zu haben ist, ist die Annahme, dass sie Grausamkeit ablehnen würden, die plausibelste und am wenigsten schädliche. Man mag dies Shklars argument du pari nennen: Das Risiko, das in der Unterstellung besteht, die Menschen seien „mit ihren Ketten wirklich zufrieden“,118 ist größer als die Konjektur, dass sie die universelle Ablehnung der Grausamkeit teilen; daher ist es besser, auf letztere zu setzen. Und doch ist diese Konjektur eben dies: eine Spekulation, ein kognitives Hilfsmittel. Es muss beiseitegelegt werden, sobald die Stimme der Opfer gehört werden kann – ein Zustand, dem der Liberalismus der Furcht entgegenzuarbeiten hat. Auch hier wieder sind Methode und Substanz ihrer politischen Theorie nicht zu trennen. Dies sind Shklars drei wichtigsten Normativitätsquellen. Sie sind – in verschiedenen Graden und in ihrer Struktur als empirisch, formal und transzendental – hinreichend universalisierbar, um einen Kern positiver Überzeugungen zu rechtfertigen, die als Kriterien politischen Urteilens dienen können. Shklar ist eine politische, keine epistemische Skeptikerin; ihre Bindungen sind nicht einfach argumentationslos gesetzt, wie es Rortys liberale ____________________ 116 117

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Dies., Torturers, S. 26. Dies., Ungerechtigkeit, S. 200. Es liegt auf der Hand, in diesem transzendentalen Argument eine Parallele zu Habermas’/Apelts Transzendentalpragmatik zu entdecken. In der Tat lobt Shklar in einem posthum publizierten Essay Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, selbst, wenn sie dem Lob die beißende Einschränkung beifügt, sie sei „weniger originell“ als Rawls’ normativer Ansatz (dies., Utopia, S. 189). Dies., Furcht, S. 55.

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Ironikerin täte. Dies mag vielleicht noch bei Legalism (1964) der Fall sein, aber was Shklars letzte Werkphase seit Ganz normale Laster betrifft, geht die Etikettierung als Antifundamentalistin wesentlich an ihrem Denken vorbei. Der Bogen dieser Entwicklung lädt zu Spekulationen darüber ein, wie sie ihren Liberalismus weitergedacht hätte, wäre ihr noch die Zeit dazu geblieben. Das transzendentale Kriterium, das verlangt, die Bedingungen für die Artikulation des Ungerechtigkeitsempfindens zu sichern, bringt Shklar in die Nähe dessen, was Steven Lukes eine „enge Moralität“ genannt hat. Diese bietet uns „einen Test an, den Lebensweisen […] bestehen müssen um annehmbar zu sein.“ Lukes hat hier keine aristotelischen oder Befähigungsansätze im Sinn, sondern eine kantische Lösung, den Test, dass eine Lebensform „für alle an ihr Beteiligten und von ihr Betroffenen zu rechtfertigten ist.“119 In ihrem transzendentalen Kriterium ist es dieser Gedanke, sehr viel mehr als Grausamkeit oder Furcht, den Shklar am Ende ihres Lebens verfolgt hat. Es liegt ein erstaunliches kantisches Potential in Shklars Liberalismustheorie, das weiter verfolgt zu werden verdiente – ernst nehmend, was Patrick Riley über sein letztes Gespräch mit Shklar schrieb: „Als sie im August 1992 im Scherz als heimliche Kantianerin bezichtigt wurde, sagte sie: ‚Ja. Nun… was kann man denn anderes sein?‘“120 Literaturverzeichnis Arendt, Hannah: The Tradition of Political Thought. In: The Promise of Politics, 2005, S. 40-62. Dies.: Religion und Politik. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 1994, S. 305-326. Dies.: Wahrheit und Politik. In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 1994, S. 327370. Bajohr, Hannes: Harmonie und Widerspruch. Mit Judith Shklar gegen die „Ideologie der Einigkeit“. In: Schauer, Hendrikje/Lepper, Marcel (Hrsg.): Distanzierung und Engagement. Wie politisch sind die Geisteswissenschaften?, 2018, S. 75-85. Ders.: The Sources of Liberal Normativity. In: Ashenden, Samantha/Hess, Andreas (Hrsg.): Between Utopia and Realism. The Political Thought of Judith N. Shklar, 2019, S. 158-178.

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Lukes, Relativism, S. 144. „When in August 1992 she was jokingly accused of being a closet Kantian, she said, ‚Yes. Well… what else can one be?‘“ (Riley, Memorial Tribute, S. 99).

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Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung? Zur ideengeschichtlichen Bedeutung des Weimarer Erbes Jens Hacke

1.

Probleme einer Ideengeschichte des Liberalismus

Der Versuch, sich über den Liberalismus als Ganzes zu verständigen, beginnt meist mit der Anstrengung, eine Definition zu finden, und endet mit dem Eingeständnis, dass dieses Vorhaben scheitern muss oder zumindest unzulänglich bleibt. Dabei kann man sich salomonisch auf die von Michael Freeden und anderen vertretene Einsicht zurückziehen, dass es eine große Familie von Liberalismen gibt und dass für den Liberalismus seine Vielheit konstitutiv ist.1 Die Beschreibung dieser „Großfamilie“ bleibt schwierig genug, erst recht wenn man ideengeschichtliche und theoretisch konzeptuelle Aspekte gleichermaßen berücksichtigen möchte. Hinzu kommen die jeweiligen nationalspezifischen Ausprägungen des Liberalismus, die es mit sich bringen, dass beispielsweise in den USA eine weithin geteilte „liberal tradition“ besteht, die Titulierung „liberal“ jedoch im europäischen Verständnis eigentlich eine sozialdemokratische Haltung bezeichnet.2 Den Anforderungen einer begrifflichen Eingrenzung möchte ich zwar nicht ausweichen, mich aber weitgehend auf den deutschen Traditionszusammenhang beschränken, der mir immer noch unklar genug und daher aufklärungsbedürftig erscheint.3 Der Liberalismus hat in Deutschland in den letzten Jahren wenig Aufmerksamkeit erhalten und ist kaum zum Gegenstand ideengeschichtlicher Forschung gemacht worden. Zwar hat auch Jürgen Habermas von einer „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren gesprochen4, aber es ist bezeichnend, dass Liberalisierung hierzulande ohne ____________________ 1 2 3 4

Vgl. Freeden, Europäische Liberalismen, S. 1028-1046; ders, Liberalism. Siehe die klassische Schrift von Hartz, The Liberal Tradition in America. In diesem Beitrag fasse ich Überlegungen zusammen, die ich ausführlicher dargestellt habe in Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Habermas, Die nachholende Revolution, S. 26.

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eine ausdrückliche Thematisierung des Liberalismus auskommt. Liberalismus oder Neoliberalismus werden stattdessen eher als ideologische Streitvokabeln gebraucht, deren historischer Wandel lange nicht problematisiert worden ist. Ist die derzeitige Dominanz der Demokratiegeschichte also ein Beleg dafür, dass der Liberalismus inzwischen als „sekundäres Phänomen“ hinter die Demokratie zurückgetreten ist?5 Dies würde bedeuten, dass er eine vorher bestehende hegemoniale Stellung eingebüßt habe. Davon kann eigentlich keine Rede sein, wurde doch gerade für den politischen Liberalismus in Deutschland stets seine Schwäche ins Feld geführt. Zwar hatten Elemente bürgerlich-liberaler Lebensform durchaus den Rang gesellschaftlicher Leitwerte, und auch Errungenschaften wie der Rechtsstaat und sein Bürgerliches Gesetzbuch (1896/1900) ließen sich allgemein dem Liberalismus zurechnen. Daraus aber eine ideologische Hegemonie abzuleiten, wäre missverständlich, zumal eine solche Rechnung stets auf einem schiefen Vergleich beruht: Während die Demokratie als Idee der Volksherrschaft mit der konkreten Frage nach ihrer institutionellen Implementierung verbunden bleibt, verschränkt der liberale Gedanke einen Modus des Normativen mit bestimmten Forderungen formaler Art. Zwar ging er zunächst von der Sicherung der Freiheit für den Einzelnen aus, die prinzipiell gegen jede Art von Herrschaft, auch die demokratische, zu verteidigen ist, doch erschöpft er sich darin nicht. Wolfgang Kersting hat den Liberalismus als eine spezifische „Reflexionsform der politischen Moderne“ charakterisiert und damit verdeutlicht, dass die demokratische Organisation der Herrschaftsausübung ein wichtiger Aspekt neben anderen ist: Markt, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Gewährung des sozialen Friedens, deliberative Verständigung in einer offenen Gesellschaft – dies sind heute weitere liberale Kernelemente.6 Kersting bietet freilich eine auf die Gegenwart des 21. Jahrhunderts gemünzte „Verteidigung des Liberalismus“, die diese Bestandteile gewissermaßen im ideengeschichtlichen Arsenal der liberalen Klassiker auffindet. Dass die politische Theorie sich aus dem Archiv der Ideengeschichte des Liberalismus bedient und auf alte Bestände zurückgreift, diese aktualisiert, ____________________ 5

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So Müller in seinem Beitrag: Die liberale und soziale Demokratie als handlungsleitende Ordnungsvorstellung nach dem Ersten Weltkrieg zu einer von Ernst Wolfgang Becker und mir organisierten Tagung: „Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Krise, Reform, Neuansätze“. Als Beispiele für die Konjunktur eine Demokratiegeschichte, die Wandel und Transformation einer Idee beschreibt, siehe v.a. Nolte, Was ist Demokratie?; Keane, The Life and Death of Democracy; Müller, Das demokratische Zeitalter. Kersting, Verteidigung des Liberalismus, S. 74f.

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

neu kombiniert und für gegenwärtige Problemlagen nutzbar macht, ist legitim.7 Diese Praxis darf allerdings nicht dazu verleiten, den Liberalismus als ein konstantes und in sich geschlossenes Ensemble von Ideen zu begreifen und seine Wandelbarkeit zu ignorieren. Die vielfältigen Rekonstruktionen eines idealen Liberalismus in der politischen Philosophie und Theorie, die genretypisch im Dialog mit den Klassikern den überzeitlichen Geltungscharakter liberaler Werte und Normen suggerieren, sind zweifellos selbst historisierbare Deutungsversuche, die selektiv auf das ideengeschichtliche „Archiv“ zugreifen. Es bleibt der Befund, dass die Politikwissenschaft sich zwar seit Jahrzehnten in einer andauernden Hochkonjunktur liberaler Theorieproduktion befindet und auch politische Philosophie mindestens seit John Rawls vom Paradigma des politischen Liberalismus dominiert wird. Man wird kaum gerechtigkeitstheoretische, vertragstheoretische, deliberative, republikanische oder kommunitaristische Konzepte der Demokratie finden, die sich außerhalb des Liberalismus situieren. Doch dies hat keineswegs dazu geführt, sich mit der Ideengeschichte des Liberalismus zu beschäftigen. Im Gegenteil: Es stellt sich der Verdacht ein, dass die weitläufigen liberalen Theoriearchitekturen und Theorierekonstruktionen zunehmend ahistorisch geworden sind und sich vom geschichtlichen Erfahrungshintergrund des Liberalismus abschotten. Die wichtigsten Ausläufer liberaler politischer Philosophie von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit über die Kommunitarismusdebatte bis hin zu den verschiedenen Modellen demokratischer Deliberation verzichten auf ideengeschichtliche Sondierungen.8 Beiträge zu liberalen Standortbestimmungen befassen sich bis heute generell weitaus intensiver mit der Auslegung von Klassikern wie Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill, um eine Rekonstruktion der reinen Lehre anzustreben, als mit der Ideengeschichte des Liberalismus im 20. Jahrhundert.9 ____________________ 7

8

9

Zur Funktion der Ideengeschichte für die Politikwissenschaft siehe Münkler, Politische Ideengeschichte, S. 103-131, sowie im Anschluss daran Llanque, Politische Ideengeschichte, S. 1-3. – Für die im angloamerikanischen Raum selbstverständliche Praxis der liberalen Klassikeraktualisierung vgl. z.B. Ryan, The Making of Modern Liberalism; Holmes, Passions and Constraint. Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit; Habermas, Faktizität und Geltung.; ders., Einbeziehung des Anderen., sowie ferner Bienfait, Freiheit, Verantwortung, Solidarität. Zur Kritik an Rawls siehe auch Geuss, Kritik der politischen Philosophie., insbesondere S. 97ff. Wichtige Anregungen, die Verwandlung des Liberalismus im 20. Jahrhundert zu beschreiben, liefert Doering-Manteuffel/Leonhard, Liberalismus im 20. Jahrhundert.

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2.

Konstellationsabhängigkeit und Pragmatik liberalen Denkens

Die Fixierung auf die großen Texte oder auf die Identifizierung von klassischen Denkern stößt an ihre Grenzen, je näher wir der Gegenwart kommen. Das „Gewebe politischer Diskurse“ (Llanque) wird engmaschiger,10 und es sind nicht unbedingt die herausragenden Einzeldenker, deren Klassizität bestimmte politische Ideen mitdefiniert oder deren große Werke die maßgeblichen Fragen klären. Vielleicht noch stärker als in früheren Epochen prägt die anlass- und problembezogene tagespolitische Reflexion die Produktion, Modifikation oder Revision politischer Ideen. „Die einzige Geschichte der Ideen, die geschrieben werden kann“, formulierte Quentin Skinner, „ist die Geschichte ihrer Verwendungen in bestimmten Argumentationen.“11 In diesem Sinne wurden und werden auch die liberalen Ideen weiter verwendet und in neue Kontexte eingepasst. Politische Theorie lässt sich deshalb immer besser als Reparaturwerkstatt oder als Modus flexibler Antworten auf neue Herausforderungen begreifen; sie knüpft an Vorgefundenes an und verzichtet immer häufiger darauf, ihre Grundannahmen explizit zu machen. Dies gilt insbesondere für ein liberales Denken, das pragmatisch und mit realistischen Zielsetzungen den demokratischen Verfassungsstaat zu verteidigen und zu verbessern strebt. Drei grundlegende Überlegungen möchte ich deshalb voranstellen: Erstens: So wichtig es ist, sich über liberale Ideen und die normative Substanz des Liberalismus zu verständigen, so notwendig wird es auch, die Konstellationsabhängigkeit und die Historizität liberalen Denkens zu berücksichtigen. Der Liberalismus ist nur verständlich zu machen als Geschichte von liberalen Ideen und die mit ihnen verbundenen Anpassungsund Lernprozesse. Friedrich Naumann hat hier einmal richtig gelegen, als er feststellte, dass die Freiheit nichts sei, „was zu allen Zeiten und an allen Orten genau die gleiche Form und Farbe“ habe: „Jede Zeit hat ihre Freiheiten, die sie sucht.“12 Zweitens: Gegen die sozialhistorisch fundierte These vom Liberalismus als ausrinnender Ideologie des Bürgertums, die spätestens nach dem Ersten Weltkrieg keine parteipolitische oder milieuspezifische Kohäsion zu stiften vermochte, lässt sich argumentieren, dass die Krise der Weltkriegsepoche als eine zweite Sattelzeit des Liberalismus begriffen werden kann. Denn eigentlich schält sich in den Krisendebatten der damaligen Zeit erst eine ____________________ 10 11 12

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Siehe Llanque, Politische Ideengeschichte. Skinner, Visionen des Politischen, S. 60. Naumann, Das Ideal der Freiheit , S. 366.

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

neue Konzeption von liberaler Demokratie heraus, welche Parlamentarismus und Massendemokratie verbindet sowie eine gestaltende Rolle des Staates auf dem Feld der Ökonomie und der Sozialpolitik vorsieht. Diese „Demokratisierung des Liberalismus“ ist ebenso nachhaltig wie die Anerkennung, dass liberale Politik eigentlich nur noch mit wohlfahrtsstaatlicher Grundausstattung möglich ist.13 Drittens schließlich hat es aufgrund der Diffusion liberaler Werte in die verschiedenen demokratischen Parteien kaum noch einen heuristischen Wert, sich auf den parteipolitischen Liberalismus zu konzentrieren. Wir müssen zwar alle diejenigen berücksichtigen, die sich selbst im Lager des Liberalismus verorten. Man kommt aber nicht umhin, normativ interessiert die Diskurse in den Blick zu nehmen, die sich um die Bestands- und Gelingensvoraussetzungen der liberalen Demokratie drehen. 3.

Lernerfahrungen und Traditionslinien

Die Titelfrage meines Beitrags, ob die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrungen zu begreifen ist, lässt sich natürlich relativ einfach zurechtrücken: Selbstverständlich war es kaum der Geist des Liberalismus (was immer das ist), der bei der Gründung der Bundesrepublik Pate stand, sondern die Kriegsniederlage, der umfassende und katastrophale Bankrott des NS-Regimes und schließlich die Interessen bzw. die Vorgaben der Westalliierten. Vor diesem Hintergrund wäre es vermessen, von einem liberalen Gründergeist zu sprechen. Die Aktivierung des Weimarer Erbes und der Wiederanschluss an die Diskussionen der 1920er Jahre waren allerdings eine ideelle Ressource liberalen Denkens in der frühen Bundesrepublik. Damit ist sicherlich nicht hinreichend die Genese einer neuen politischen Kultur zu erklären, die häufig mit den Schlagworten Liberalisierung oder Westernisierung beschrieben wird. Gegen eine Gründung der Bundesrepublik aus dem Geist des Liberalismus würde einiges sprechen, wenn man ein emphatisches Verständnis des Neuanfangs im Sinne Hannah Arendts favorisiert.14 Oder um es anders zu wenden: Wäre diese liberale Gründung so offensichtlich, wie es Arendts Lieblingsbeispiel von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassungsgenese tatsächlich ist, dann läge kein Grund vor, die lange gepflegte Kritik am bundesrepublikanischen ____________________ 13 14

Schieder, Die Krise des bürgerlichen Liberalismus, S. 71. So vor allem Arendt, Über die Revolution.

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Provisorium als Staat ohne Idee, am aufs Materielle fixierte Wirtschaftswunderland besonders ernst zu nehmen. Offensichtlich war die politische Identität – zumindest unter kritischen Intellektuellen rechts und links – lange Zeit so fraglich, dass einiges für die Plausibilität einer nachträglichen Selbstanerkennung bzw. einer verzögerten geistigen Gründung respektive „Umgründung“ (Manfred Görtemaker) spricht.15 Trotzdem stand die Bundesrepublik in den Traditionen des deutschen Liberalismus. Die Etablierung der Nachkriegsdemokratie bewegte sich in ideengeschichtlichen Kontexten, und es erfolgten vielfältige Rezeptionen liberaler Denkmotive. Vermutlich lassen sich am ehesten drei liberale Traditionslinien herausarbeiten, die sich für die Bundesrepublik anboten. Da wäre zunächst eine liberale Verfassungstradition, die von der Paulskirche über die Weimarer Nationalversammlung bis zum Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee reicht. Weiterhin bedeutsam, wenn auch nicht unbedingt nachhaltig erfolgreich, war die vor allem vom ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss forcierte Anknüpfung an den Sozialliberalismus Friedrich Naumanns. Und schließlich nahm die liberale Ordnungsökonomik, der sogenannte Ordoliberalismus, der ein Produkt der Weltwirtschafts- und Staatskrise, also der Endphase Weimars war, eine wichtige Rolle ein. Auf diffuse Weise verbunden mit der Sozialen Marktwirtschaft und dem Wirtschaftswunder gehört der Ordoliberalismus zum Gründungsmythos der Bundesrepublik. Die mittlerweile viel diskutierte Deutung Michel Foucaults lässt diesen Ordoliberalismus geradezu als wichtigste neoliberale Innovation erscheinen. Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn es bei dieser Beschränkung auf verfassungspolitische, gesellschaftspolitische und ordnungspolitische Überlieferungszusammenhänge bliebe. Nimmt man Wolfgang Kerstings Definition des Liberalismus als „Reflexionsform der politischen Moderne“ ernst, dann wird man seinen übergreifenden Charakter berücksichtigen müssen. Zu ihm gehören die demokratische Organisation der Herrschaftsausübung, eine eigentumsbasierte Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Gewährleistung des sozialen Friedens, deliberative Verständigung in einer offenen Gesellschaft – diese Kernelemente des Liberalismus lassen sich zwar aus den Klassikern des 18./19. Jahrhunderts herleiten; es brauchte aber lange, bis sie zu verbindlichen programmatischen Elementen avancierten. In den liberalen Krisendiskursen der Weimarer Republik, so die hier

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Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 475ff. Zu dieser Problematik siehe auch Hacke, Die Bundesrepublik als Idee.

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

vorgestellte Überlegung, wurde ein großer Teil der theoretischen Arbeit dafür geleistet. Und diese Vorbereitung kam der liberalen Demokratie im Nachkriegsdeutschland auf verschiedenen Wegen zugute. Man muss die Bedeutung kollektiver Identitätsbildung nicht allzu hoch hängen, um zu mutmaßen, dass die vielbeschriebene Liberalisierung und Verwestlichung der Bundesrepublik nicht allein einer prosperierenden Wirtschaft geschuldet war, sondern die kritische Aufarbeitung autoritärer Dispositionen und eine einigermaßen überzeugende Wiederaneignung politischer Traditionen benötigte. Dass die Weimarer Republik dabei als erste deutsche Demokratie der wichtigste Bezugspunkt wurde – erst einmal vornehmlich negativer Art –, ist nicht weiter überraschend. Sie war der Erfahrungsraum der bundesrepublikanischen Gründergeneration, wie vor allem die Debatten um das Grundgesetz belegen.16 Die Sorge, dass Bonn nicht Weimar werden dürfe und dass man die richtigen Lehren aus dem Scheitern Weimars ziehen müsse, bestimmte die Staatsräson der frühen Bundesrepublik. Gleichwohl prägte der Ideenhaushalt der Weimarer Debatten das politische Denken nach 1945.17 Für das liberale Denken im 20./21. Jahrhundert, insbesondere in Deutschland, scheint sich die politische Ideengeschichte erst seit kurzem wieder zu interessieren. Dies hat vermutlich auch mit dem Abschied vom Sonderwegstheorem zu tun.18 Lange ging es lange darum, das Scheitern des Liberalismus in Weimar, seine Versäumnisse und Fehler sowie die Ideologieproduktion der antiliberalen und radikalnationalistischen Kräfte umfassend zu erklären, während die Impulse einer ideengeschichtlich orientierten

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Siehe dazu die gelungene Studie von Bommarius, Das Grundgesetz. Dies betont auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, S. 414. Die Sonderweg-These kehrt gleichsam eine „Ideologie des deutschen Weges“ um, die vom Kaiserreich bis in die NS-Zeit eine deutsche Geistesgeschichte gegen den Westen zu profilieren suchte und ihre absurdesten Höhepunkte in den „Ideen von 1914“ oder in der NS-Selbstdeutung fand. Plessners bereits in den 1930er Jahren unter noch anderem Titel entstandene Schrift Die verspätete Nation oder etwa Dahrendorfs Gesellschaft und Demokratie in Deutschland hatten schließlich großen Einfluss auf eine kritische Geschichtsschreibung, deren führende Repräsentanten Wehler (Deutsche Gesellschaftsgeschichte,) und Winkler (Der Lange Weg nach Westen) sind.

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Würdigung liberalen Denkens verpufften.19 Das Sündenregister des (zumeist als Entität begriffenen) Liberalismus ist lang: die innere Distanz zur „Massendemokratie“, eine elitäre Politikkonzeption, die (vergebliche) Ausrichtung auf die politische Führerpersönlichkeit, das fehlende Verständnis für die Sozialpolitik als Mittel demokratischer Integration, das Festhalten am Primat nationaler Machtpolitik, die Preisgabe des Parlamentarismus etc. Seit einiger Zeit wendet sich jedoch die historische, politikwissenschaftliche und staatsrechtliche Forschung auch den Innovationen des „demokratischen Denkens“ in Weimar zu. Dies stellt die Reformansätze, das Modernisierungsstreben und die Verdienste eines nicht mehr abschätzig zu behandelnden Vernunftrepublikanismus in ein neues Licht. Die Arbeiten von Christoph Gusy, Oliver Lepsius, Marcus Llanque, Christoph Schönberger oder Kathrin Groh seien an dieser Stelle stellvertretend genannt.20 Vor allem ist unser Bewusstsein dafür geschärft worden, dass wir es in den Jahren vor 1933 noch mit einem völlig anderen Demokratieverständnis zu tun hatten: Es war unbestimmter und vielfältiger, reichte von rousseaustischen Idealen bis zu Volksgemeinschaftskonzeptionen, konnte den Rätegedanken beinhalten, national oder korporatistisch geprägt sein.21 Die repräsentative parlamentarische Demokratie war jedenfalls nur eine unter vielen Vorstellungen. Dass die Weimarer Debatten in den Kontext gesamteuropäischer Krisendiskussionen um den Parlamentarismus und die Demokratie gehörten, sticht dabei immer klarer heraus. Richard Bellamy und jüngst die inspirierende Überblicksdarstellung von Edmund Fawcett haben die Vorstellung eines Sonderwegs mit Fragezeichen versehen.22 Zudem hat der Nimbus der „Weimar Intellectuals“ schon dazu geführt, von einem „Weimar Century“ (Udi Greenberg) zu sprechen23 – gemeint war hier vor allem die internationale Wirkung von deutschen Emigranten, die vor allem auf die amerikanischen Sozial- und Politikwissenschaften großen Einfluss ausübten und schließlich auch in Westdeutschland nach dem Krieg rezipiert wurden.

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Wichtige Anregungen finden sich bereits bei Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Republik, und Langewiesche, Liberalismus in Deutschland. Vgl. die Beiträge in Gusy, Demokratisches Denken in der Weimarer Republik; ders., Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit, sowie Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Boldt, Demokratie in krisengeschüttelter Zeit, S. 608-634. Bellamy, Liberalism and Modern Society; Edmund Fawcett, Liberalism Greenberg, The Weimar Century.

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

4.

Weimars liberales Erbe

Aus der Konkursmasse des realpolitisch gescheiterten Liberalismus lassen sich einige Denkbewegungen und Motive identifizieren, die die Transformation liberaler Theorie verdeutlichen und die nach 1945 substantielle Bedeutung erlangten. Im Folgenden liegt der Akzent auf den modernisierenden und demokratisierenden Aspekte liberaler Theoriebildung. Die Existenz eines autoritären, zunehmend parlamentarismusskeptischen Liberalismus, der wesentliche liberaldemokratische Positionen unter dem Eindruck der Weimarer Krise räumte, sind weitgehend bekannt. Ich möchte deswegen einen Blick auf die hellere Seite werfen und in gebotener Knappheit drei Bereiche ansprechen: 1. den Weg zu einem umfassenden Verständnis von liberaler Demokratie, 2. die Renormativierung liberalen Denkens durch die totalitäre Herausforderung, 3. die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von demokratischem Staat und Kapitalismus. Punkt 1: Max Webers funktionale Deutung der parlamentarischen Demokratie und seine Überlegungen zur plebiszitären Führerdemokratie übten auch nach seinem Tod einen prägenden Einfluss aus. Weber war bekanntlich kein Demokrat aus innerer Überzeugung. Er verstand die Demokratie auch als notwendigen Ausgleich für soziale Ungleichheiten, die der Kapitalismus verursachte. Die Gewährung der Demokratie gehörte also zum grand bargain, den der Liberalismus an die gesellschaftliche Modernisierung zu entrichten hatte.24 Da weiterhin mit einer „Ungleichheit der äußeren Lebenslage, vor allem des Besitzes“ zu rechnen sei und die dadurch bedingten sozialen Abhängigkeitsverhältnisse allenfalls gemildert, jedoch nie ganz beseitigen werden könnten, würden nämlich ohnehin soziale und bildungsbedingte Privilegien fortbestehen.25 Das war ein erster Durchbruch zur Akzeptanz der Demokratie unter Liberalen. Allerdings wurde bald offensichtlich, dass sich normative Erwägungen und partizipatorische Bedürfnisse in der Massendemokratie nicht ignorieren ließen; vor allem trat sehr schnell ins Bewusstsein, wie schwierig es auf der Folie eines weberianischen Funktionalismus sein würde, mithilfe der parlamentarischen Demokratie die sich zuspitzenden Ideologie- und Klassenkonflikte auszubalancieren bzw. für Integration zu sorgen. Es reichte fortan nicht mehr, Demokratie reduktionistisch als Instrumentarium zur Auslese politischer Eliten zu akzeptieren. Man konnte sich nicht ____________________ 24 25

Diese Annäherungsgeschichte zwischen Liberalismus und Demokratie macht zum Thema die kluge Darstellung von Fawcett, Liberalism. Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland S. 170.

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einseitig darauf verlassen, dass eine demokratisch legitimierte Führung für Wohlfahrt, Sicherheit und generell die Leistungsfähigkeit des Staates sorgen würde. Max Weber hatte in den Grundzügen noch ein solchermaßen kalkuliertes Demokratieverständnis aus Top-down-Perspektive für den Liberalismus in Anspruch genommen. Aber die Verteidigung der Demokratie aus instrumentellen und rationalen Gründen wurde zusehends schwieriger, als das Argument der Effizienz angesichts eines blockierten Parlamentarismus kaum mehr zu halten war. Bei den demokratischen Staatsrechtlern wie Hans Kelsen, Hugo Preuß oder Richard Thoma spielte deshalb der Gedanke der demokratischen Teilhabe der Bürger, der Schutz ihrer Grund- und Freiheitsrechte sowie die herausgehobene Rolle der politischen Parteien eine zentrale Rolle. In viel stärkerer Weise als Weber betonten sie demokratische Gleichheit, die Rechte von Minderheiten und die sozialintegrative Kraft der Demokratie. Der liberale Nationalökonom Moritz Julius Bonn hob die politische Selbstverantwortung der Staatsbürger hervor und warb für Methoden „bürgerlichen Regierens“26; Hermann Heller verteidigte die Demokratie als sozialen Rechtsstaat, der auf relative soziale und politische Homogenität angewiesen war.27 Punkt 2: Einen Einschnitt bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, die zu einer Renormativierung liberalen Denkens führte. Liberale erkannten in der faschistischen Politik der Gewalt, in der Suspendierung des Rechtsstaates, im Antiparlamentarismus und im Führerkult die Symptome einer neuartigen europaweiten Bedrohung. Die Berichterstattung der Frankfurter Zeitung etwa, die Schriften von Bonn oder von Hermann Heller lassen darüber keinen Zweifel aufkommen. In den Grundzügen entwickeln die Verteidiger der Republik, die sich in den 1920er von den links- und rechtsideologischen Massenbewegungen bedroht sehen, bereits eine Vorform der Totalitarismustheorie. Die Erfahrung des Faschismus und des Nationalsozialismus führten schließlich zu einer strengen kategorialen Trennung von Diktatur und Demokratie. Weder konnte die Diktatur als Verfassungsinstitut der Demokratie inkorporiert, noch die Vorstellung aufrechterhalten werden, dass eine kombinatorische Lösung möglich sei, die den Diktator abseits von ihm selbst initiierter Plebiszite wirklich demokratisch legitimierte. Gegen Rechtsbrüche, Terror und die Beseitigung bürgerlicher Freiheiten gab es keinen Schutz mehr, sobald der Weg des demokratisch verfassten Rechtsstaates verlassen war. ____________________ 26 27

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Bonn, Die Krise des Parlamentarismus, S. 217. Heller, Politische Demokratie und soziale, S. 421-433.

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

Die Erkenntnis, dass die demokratische Lebensform einen besonderen Schutz benötigte und kontinuierlicher Pflege bedurfte, war von der Peripherie ins Zentrum liberalen Denkens gerückt. Auch dies zeigten die vielfältigen Beiträge zur notwendigen Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Demokratie in den 1930er Jahren, wie z.B. Karl Loewensteins Konzept der „militant democracy“, das sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung verdankt. Loewenstein hatte auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 in Halle bereits erste Ansätze dazu formuliert. „Der Staat, der von zwei radikalen Flügelparteien bewußt bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen.“28 Loewenstein sollte später aber auch herausstellen, dass der wirksamste Schutz in der Einübung und Pflege einer demokratischen Kultur liege: „Die Existenz einer demokratischen Tradition muss als wichtigste Sicherung für die Erhaltung der Demokratie in denjenigen europäischen Ländern gelten, die immer noch an der parlamentarischen Regierungsform festhalten.“29 Den Kern einer streitbaren Demokratie sah er – wie sein Biograph Markus Lang zutreffend schreibt – also nicht nur „in bestimmten verfassungsrechtlichen Befugnissen und Zwangsmaßnahmen, […] sondern in der Verwurzelung demokratischer Traditionen in den Verhaltensweisen ihrer Bürger und Politiker“.30 Oder noch pointierter gesagt: Nur eine Demokratie, deren politische Kultur vital und mehrheitsfähig ist, findet sich in der Lage, die nötigen Maßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen. So beinhaltete die liberale Thematisierung der „wehrhaften Demokratie“ beides: das Nachdenken über Maßnahmen zum Schutz von Staat und Verfassung und zugleich eine Renormativierung der Demokratietheorie. Denn angesichts existentieller Bedrohung durch Gewaltregime gewann für Liberale die demokratische Lebensform als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne an Gewicht. Charakteristisch dafür war der neuerliche Rekurs auf den Humanismus und die Menschenrechte. Das Bekenntnis zu Werten und die Frontstellung gegen den Totalitarismus schuf den neuen common ground für einen demokratischen Liberalismus. Die klare Feindbestimmung erlöste Liberale davon, Toleranz und Relativismus als konstitutive Eigenschaften der eigenen Weltanschauung verteidigen zu müssen. Vielmehr war es zwingend geworden, die Grenzen der Toleranz zu bestimmen, und dies war angesichts der politischen Verhältnisse nicht mehr nur eine theoretische, sondern eine praktische Operation. ____________________ 28 29 30

Loewenstein, Diskussionbeitrag S. 193. Loewenstein, Autocracy versus Democracy in Contemporary Europe S. 588. Lang, Karl Loewenstein, S. 210f.

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Punkt 3: Ein zentraler Aspekt des liberalen Krisendiskurses betraf die politische Gestaltung der ökonomischen Ordnung. Auch hier zeichnete sich die Pluralität liberaler Positionen ab. Zwar gab es orthodoxe Liberale wie Ludwig von Mises, der radikal marktliberale Positionen vertrat und jede Form sozialliberaler Reform vehement bekämpfte. Mises bekämpfte den Reformliberalismus als den theoretisch unzureichenden Versuch, die aus seiner Sicht wahre und reine Lehre durch eine „Ideologie des Wohlfahrtsstaates“ zu verwässern: „Entweder Kapitalismus oder Sozialismus. Tertium non datur.“31 Doch immerhin sah Mises die Demokratie als geeignete Staatsform für eine liberale Marktwirtschaft an.32 Die meisten liberalen Ökonomen nahmen aber Abschied vom Laissez-faire-Gedanken und erkannten im Staat das wichtigste Steuerungsinstrument zur notwendigen Rahmung bzw. Einhegung des Kapitalismus. Es gab den engagierten Sozialliberalismus der Brentano-Schule, die Brücken zur Sozialdemokratie und zur Gewerkschaftsbewegung schlagen wollte. Vordenker eines sozialen Kapitalismus suchten nach dritten Wegen. Und es gab die Impulse einer neuliberalen Ordnungsökonomik, die mit Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke die Rolle des Staates völlig neu konzipierte, nämlich unter der Prämisse, dass ideale Marktbedingungen erst herzustellen seien.33 Freilich sahen insbesondere Eucken und Rüstow die Interessengruppen einer pluralistischen Gesellschaft eher als Störfaktoren an, und für die parlamentarische Parteiendemokratie hegten sie kaum Sympathien. Walter Eucken gestand nach 1945 selbstkritisch ein, in der Endphase der Weimarer Republik „das Unbedingte“ angestrebt zu haben. Sinnvoller wäre es gewesen, an die gesellschaftlichen „Bedingungszusammenhänge“ anzuknüpfen. Damit meinte er die Berücksichtigung von öffentlicher Meinung und den Ausgleich der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen. Zu seinem intellektuellen Läuterungsprozess, der eine Öffnung hin zur liberalen Demokratie nach 1945 bedeutete, gehörte die Anerkennung der „Öffentlichkeit als ordnende Potenz“, denn gegen die öffentliche Meinung, so Eu-

____________________ 31 32 33

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Von Mises, Sozialliberalismus, S. 265, 269. Ders, Liberalismus, S. 34-37. Siehe vor allem Eucken, Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus; Röpke: Die Intellektuellen und der Kapitalismus, S. 87-107; Rüstow, Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftspolitischen Liberalismus S. 249-258.

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

ckens Einsicht nach den Erfahrungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, könne keine Wirtschaftsordnung durchgesetzt werden.34 Innerhalb des breiten Spektrum des Weimarer Liberalismus artikulierte sich allerdings auch eine pragmatische Position, die wie der bereits erwähnte Nationalökonom Moritz Julius Bonn einen „demokratischen Kapitalismus“ im Sinn hatte, der sich über seine Leistungsfähigkeit legitimierte, sozialstaatliche Elemente stärkte und den Wohlstand breiter Teile der Bevölkerung förderte.35 Bonn thematisierte damit die Output-Legitimität der Demokratie als leistungsfähigem Wohlfahrtsstaat; seine Kritik galt vor allem den Verantwortlichen in Industrie und Wirtschaft, welche die Ökonomie dem Einfluss demokratischer Politik zu entziehen versuchten. Schon dieser kursorische Blick zeigt, wie vielstimmig und uneins sich der Weimarer Liberalismus präsentierte, wenn es um eine Einhegung des Kapitalismus ging. Die Erfahrung von Inflation und Wirtschaftskrise bewies lediglich, dass es ohne eine politische Rahmung nicht funktionierte; wie diese jedoch zu konzeptualisieren war, blieb umstritten. Dass es vor allem darum ging, die Demokratie über sozialstaatliche Leistung und wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit zu legitimieren, zeigten nicht zuletzt die – vom Weimarer Personal weitergeführten – Debatten im Exil. Walter Lippmanns Entwurf The Good Society von 1937 eröffnete den exilierten Ökonomen eine neue gesellschaftliche und politische Dimension des Liberalismus.36 Nicht zuletzt fanden sich in der nach dem legendären LippmannColloquium gegründeten Mont Pelerin Societé verschiedene Schulen zusammen, die für den Cold War Liberalism wichtig werden sollten.37 Zur Signatur dieser zweiten Sattelzeit des Liberalismus gehörten – neben der unumkehrbaren Hinwendung zur Demokratie – ein neues Kontingenzbewusstsein, eine Wende zur Skepsis und der geschärfte Sinn für politische Gewalt. Das Wissen um die Gefahr, dass demokratische Gesellschaften nicht davor gefeit sind, in zivilisatorische Regression und eine Herrschaft des Unrechts abzugleiten, prägte zunächst einen ernüchterten Liberalismus. ____________________ 34

35 36 37

Euckens Gelehrtenbiographie als Läuterungsgeschichte zum demokratischen Liberalen erarbeitet überzeugend Dathe, dessen Vortrag „Franz Böhm und Walter Eucken“ ich den Hinweis auf Euckens unveröffentlichtes Manuskript „Öffentlichkeit als ordnende Potenz“ verdanke. Siehe vor allem die programmatische Schrift Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus. Lippmann, Die Gesellschaft freier Menschen. Es ist zu beachten, dass ein Liberaler die „gute Gesellschaft“ und damit soziale Ordnung zum Ausgangspunkt macht, also bereits einen komplexen Begriff der Freiheit voraussetzt. Vgl. Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus.

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5.

Konsensliberalismus nach 1945

So konnte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein liberaler Konsens etablieren, der auf eine übergreifende letztgültige theoretische Fixierung verzichtete und der den Primat politischer Gemeinsamkeiten und das Verbindende der Demokratie als Lebensform herausstellte. Dies fiel umso leichter, weil man das „Böse“ im Totalitarismus ausgemacht hatte und die politische Systemfrage für beantwortet hielt. Der Cold War Liberalism profitierte von der Eindeutigkeit der Feindbestimmung, von der Stabilität der bipolaren Welt und der Konkurrenz der Systeme, die die Vorzüge westlicher Gesellschaften relativ klar erkennen ließ. Die Lektion aus Weimar hatte auch gelehrt, Menschen- und Freiheitsrechte nicht mehr als Idealismus anzusehen, sondern ins Zentrum des liberalen Politikverständnisses zu stellen. Dieser Konsensliberalismus, der nicht an eine liberale Partei gebunden war, sondern im Spektrum der demokratischen Parteien insgesamt fußgefasst hatte, trägt erst einmal im Rahmen des Verwestlichungsnarrativs alle Merkmale einer Erfolgsgeschichte. Formeln wie die „geglückte Demokratie“ (Edgar Wolfrum) und die „Ankunft im Westen“ (Axel Schildt) prägten die konsensliberale Bundesrepublik. Diese durchlief zwar kleinere Akzeptanzkrisen, im Großen und Ganzen aber schien sie in der Lage, Lernerfahrungen produktiv zu verarbeiten, Kritik zu absorbieren und Kritiker zu integrieren. Statt vergeblich die demokratische oder nationale Volksgemeinschaft zu schmieden und Homogenität herzustellen, sah man aus liberaler Perspektive die Aufgabe nun darin, gesellschaftlichen Pluralismus zu organisieren und auszugleichen. Lang anhaltende Prosperität und weitgehende internationale Stabilität schufen die Illusion eines relativ störungsfreien liberalen Äquilibriums. Diese integrative Klammer scheint ebenso hinfällig wie die lange Zeit gültige Voraussetzung der nationalstaatlichen Ordnungsperspektive bzw. der interessenbasierten und automatisch fortschreitenden europäische Integration. In mancherlei Hinsicht scheinen also die Hoffnungen des demokratischen Liberalismus nach 1989 nicht weniger illusionär als diejenigen rund sieben Jahrzehnte zuvor.38 Ambivalenzen kehren zurück, innen- und außenpolitisch drängen sich manche Erinnerungen an die Krise der Zwischenkriegszeit auf. Die Auseinandersetzung mit der Krise des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit führt nicht zu Patentrezepten, liefert uns aber Hinweise auf bestimmte Charakteristiken liberalen Denkens, die seither in ____________________ 38

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Vgl. Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

Blickfeld getreten sind. Vier Aspekte sind in diesem Kontext hervorzuheben. Erstens zeigt der Blick auf Weimar, dass es wenig aussichtsreich ist, nach einer letztgültigen und verbindlichen Theorie für den politischen Liberalismus zu suchen. Der Widerstreit zwischen Ideal- und Realpolitik, zwischen positiver und negativer Freiheiten, zwischen Markt und Regulierung – diese Spannungsfelder sind konstitutiv für liberales Denken, das sich nur als Ganzheit konkurrierender Liberalismen begreifen lässt. Die Diffusion liberaler Ideen in alle demokratischen Parteien – bereits in der Zwischenkriegszeit beobachtet – macht deutlich, dass eine Pluralität liberaler Überzeugungen und Praktiken zur Verfügung steht, um politische Herausforderungen zu bewältigen. Eine Einsicht in die Vielfalt liberaler Theoreme und ihre konstellationsabhängige Anwendungsmöglichkeit dementiert nicht die Anstrengungen einer normativen politischen Philosophie des Liberalismus. Durch das theoretische Reinheitsgebot von liberalen Gerechtigkeits-, Vertrags- und Deliberationstheorien verliert man allerdings die situativ-korrigierende Praxis und das ausgleichende Balancedenken im Liberalismus aus dem Blick. Liberaler Eklektizismus zeigt die Grenzen einheitlicher Theoriebildung auf. Es leistet Verzicht auf den Anspruch, eine in sich geschlossene politische Ideologie zu sein, und präsentiert sich stattdessen als eine Kombination aus leitenden Wertvorstellungen, akzeptierten Verfahren und Regeln und der Bereitschaft zur Selbstverbesserung. Diese Erkenntnis bedingt zweitens, dass der Liberalismus auf die ökonomische Doktrin verengt werden kann, monothematisch freien Markt und weniger Staat zu fordern. Die Unausweichlichkeit, dass die wirtschaftliche Ordnung nur als mixed market economy denkbar und politisch gestaltbar ist, trägt auch der Tatsache Rechnung, dass ein „reiner“ Kapitalismus für Liberale weder wünschbar noch realisierbar ist. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg betonten liberale Ökonomen die historische Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus und die Notwendigkeit seiner staatspolitischen Rahmung. Zwar überschätzten Ordoliberale dirigistische Staatskompetenzen und verkehrten die traditionelle liberale Staatsskepsis in ihr Gegenteil, nämlich in den Glauben an den starken Staat als neutrale Instanz. Aber insgesamt demonstriert der heterogene Diskurs über das Verhältnis von Kapitalismus und Politik, dass man sich jedenfalls keiner Logik kapitalistischer Sachzwänge ergab, denen alternativlos Folge zu leisten war. Die ökonomischen Debatten der Zwischenkriegszeit ließen den demokratischen Staat als Akteur hervortreten, dessen soziale Verantwortung und Gestaltungsspielraum hoch eingeschätzt wurden.

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Diese Erwartung an einen im sozialliberalen Sinne gestaltenden Staat lässt drittens das normative Anliegen des Liberalismus erkennbar werden. Liberales Denken konnte nicht darauf reduziert werden, in utilitaristischer Weise für den relativen Wohlstand der größtmöglichen Zahl zu sorgen, sondern zielte in seiner reformistischen Variante darauf, den Einzelnen zu befähigen, persönliche Freiheitsräume zu nutzen und sein Glück zu finden. Abseits der distributiven Anstrengungen des Wohlfahrtsstaates geht es darum, die Gesellschaft durchlässiger und offener zu machen, Klassen- und Herkunftsschranken zu beseitigen. Diese Offenheit als ein attraktives zivilisatorisches Modell der Freiheit zu verstehen und sie gegen ideologisch geschlossene unfreie Gesellschaften zu verteidigen, begriffen die Liberalen der Zwischenkriegszeit als existentielle Herausforderung. Viertens sollte die liberale Idee als essentielles Komplement zur Demokratie ernst genommen werden. Es war die Erkenntnis von Liberalen in der Weimarer Demokratiedebatte, dass nur eine repräsentative und damit liberale Demokratie praktikabel sei und dass identitäre Demokratiekonzepte notwendig freiheitseinschränkend wirken müssten. Die vordemokratischen Quellen der parlamentarischen Institutionen und der Gewaltenteilung wurden nicht zum Argument gegen den parlamentarischen Verfassungsstaat, solange er sich liberalen Werten von Freiheit und Rechtsgleichheit verschrieb und emanzipatorischen Entwicklungen nicht verschloss. Eine einseitige Thematisierung demokratischer Legitimation, welche das spannungsvolle Wechselverhältnis von liberaler Idee und Demokratie unberücksichtigt lässt, tendiert dazu, den Missbrauch demokratischer Formen durch de facto autoritäre Regime zu verkennen – auch diese Problematik ist in Auseinandersetzung mit dem Faschismus bereits in den 1920er Jahren gesehen worden.

6.

Ausblick

Die Aporien der Weimarer wie auch der aktuellen Krise der Demokratie sind heute klar ersichtlich: Wie kann überzeugend für eine freie Bürgergesellschaft und ihre verantwortliche Selbstregierung geworben werden, wenn (wie etwa in Ungarn oder gar Russland) das Fehlen moderater zivilgesellschaftlicher Akteure offensichtlich ist? Auf welche Weise ist eine Gesellschaft zu integrieren, die durch zunehmende Klassenspaltung, Interessengegensätze und ideologische Verfeindung breiter Gruppen geprägt ist? Wie kann ein Parlamentarismus verteidigt werden, dessen Funktionstüchtigkeit und Integrationskraft beständig nachzulassen scheinen? Und wie 114

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

sind den Zeitgenossen die Vorzüge der pluralistischen Gesellschaft in einer Zeit plausibel zu machen, in der irrationale Losungen von Gemeinschaft, Homogenität und nationaler Einheit Konjunktur haben? Demokratische Lebensform, die Gleichheit der Staatsbürger und die politischen Institutionen der Demokratie duldeten keine Relativierung, vielmehr benötigten sie die Akzeptanz und tätige Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger. Insofern ließ sich die liberale Demokratie nicht als ein rationales und kaltes politisches Ordnungsmodell begreifen, sondern beruhte auf den republikanischen, verfassungspatriotischen und solidarischen Anstrengungen ihrer Subjekte. Wie anspruchsvoll die Ausbildung und Pflege eines solchen Bewusstseins war und wie viel Verteidigungsbereitschaft es verlangte, mussten die Weimarer Liberaldemokraten leidvoll erfahren. Der Ernstfall der Bedrohung, die Schwäche der politischen Eliten und der Untergang der Demokratie erwiesen nicht die praktische Untauglichkeit des liberaldemokratischen Modells, sondern lediglich den Mangel an Glauben und Willen, den demokratischen Staat lebensfähig zu halten. Seit einigen Jahren beginnen die politische Theorie und die Ideengeschichte die Kontingenz und die Fragilität der liberalen Demokratie zu problematisieren.39 Was anfangs wie eine originelle intellektuelle Spielerei wirkte, um neue Perspektiven auf einen allmählich überraschungsfrei wirkenden Gegenstand zu gewinnen, steht heute vor der Erprobung des Ernstfalls. Mittlerweile geht es nicht mehr allein um die „Demokratisierung der Demokratie“, deren Aussicht sich darin erschöpfte, dass Partizipation und Engagementvertiefung der Bürger die einzigen Desiderata westlicher Gesellschaften sind. Auch neoliberale Governance-Modelle, die Regierungsund Organisationsaufgaben einem gut geölten Apparat aus Funktionseliten überantworten und die normativen Voraussetzung demokratischer Gesellschaften für selbstverständlich nehmen, haben sich mittlerweile überlebt.40 Es geht womöglich nicht mehr allein um die Optimierung eines politischen Systems, sondern die Existenzsicherung eines zivilisatorischen Modells, und das Leben in Freiheit könnten insgesamt zur Disposition stehen. Sicherlich, die Geschichte wiederholt sich nicht – und es gibt keine Blaupausen zur Bewältigung heutiger Probleme, die in den Debatten um die Demokratie der Zwischenkriegszeit aufzufinden sind. Aber der Blick in diese Epoche lehrt, dass Loyalität zu den demokratischen Institutionen nötig ist und dass die demokratische Lebensform Hingabe erfordert. ____________________ 39 40

Müller/Tooze, Normalität und Fragilität. Vgl. Wilke, Demokratie in Zeiten der Konfusion.

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Auf die Pfadabhängigkeit, die die Verbindung von Demokratie, individuelle Freiheit und Marktwirtschaft zu garantieren schien, sollte sich niemand mehr verlassen. Aber umgekehrt gilt: Der „Weg in die Unfreiheit“ (Snyder) oder der „Zerfall der liberalen Demokratie“ (Mounk) sind trotz aller Krisenzeichen nicht unumkehrbar.41 Die Stärke der liberalen Demokratie liegt eben darin, dass sie verbesserungsfähig ist und dass die Bürgerinnen und Bürger in vielfältiger Weise Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen können. Dazu ist ein geschärftes Problembewusstsein nötig, und die bewusste Vergegenwärtigung der zentralen Werte der Demokratie, die eben nur als liberale leb- und praktizierbar ist. Wohin Experimente führen, die Zustimmung zu autoritär-nationalistischen Regimen als alternative Demokratiemodelle verbrämen, lässt sich präzise erkennen, wenn man die politische Rhetorik und das politische Handeln des heutigen antiliberalen Populismus an seinen Vorläufern misst. Der Blick auf Weimar und auf die Zwischenkriegszeit bietet eine reiche Phänomenologie, „wie Demokratien sterben“ (Levitsky/Ziblatt) und wie vor allem ihre Eliten versagen.42 Natürlich reicht nicht allein das Glaubensbekenntnis zur liberalen Demokratie. Sie wäre nicht in gefährdeter Lage, wenn sie keine Schuld an ihrem derzeitigen Zustand trüge, und das Register der Fehlentwicklungen ist lang: die Technokratie der Europäischen Union, die neoliberale Inkaufnahme wachsender sozialer Ungleichheit, die unzureichende Regelsetzung für den Finanzkapitalismus, die verspäteten Anstrengungen sozialer und politischer Integration von Zuwanderern, die Versäumnisse in der Prävention globaler Migration u.a.m. Neben überzeugenden Problemlösungen braucht es, wie der Blick in die Ideengeschichte lehrt, vor allem liberale Standfestigkeit, demokratisches Selbstbewusstsein und Wehrhaftigkeit. Die Demokratiedebatte der Zwischenkriegszeit gehört fraglos zu den Sternstunden der politischen Ideengeschichte. In der Auseinandersetzung mit den Vordenkern der liberalen Demokratie lässt sich der existenzielle Ernst der damaligen Situation nachempfinden. Die heutige Lage ist nicht dazu angehalten, im Modus einer distanzierten Historisierung zu verharren, denn Garantien für den Bestand einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ gibt es nicht. Die Einsichten der damaligen Streiter bleiben aktuell, weil sie uns daran erinnern, wie voraussetzungsreich und fragil das Projekt der liberalen Demokratie bis heute tatsächlich ist. ____________________ 41 42

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Snyder, The Road to Unfreedom. Levitsky/Ziblatt, Wie Demokratien sterben.

Die Bundesrepublik als Ergebnis liberaler Lernerfahrung?

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Unwahrscheinliche Weggefährten: Gehaltvoller Liberalismus bei Dahrendorf und Habermas Matthias Hansl

1.

Einleitung

Eigentlich genügt schon ein versierter Griff in die Trickkiste des Zeithistorikers, um ein intellektuellengeschichtliches Doppelporträt von Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas zu begründen: Die beiden 1929er konnten als adoleszente Nachzügler der 45er-Generation1 die politisch-symbolische Zäsur nach der deutschen Kriegsniederlage entschiedener als andere dazu nutzen, an der Liberalisierung und Demokratisierung der politischen Kultur ihres kompromittierten Heimatlandes mitzuwirken. Stellt man ihr Wirken in der frühen Bundesrepublik in einen systematischen Zusammenhang, so haben die beiden engagierten Ausnahmeintellektuellen „die intellektuelle Szene der Bundesrepublik entscheidend geprägt und zeitweise sogar beherrscht“.2 Dass Dahrendorf und Habermas dabei auf je eigene Weise als theoriepolitische Wegbereiter des sozialliberalen Bonner Machtwechsels auf den Plan traten, ist rückblickend umso erstaunlicher, als sie sich zunächst unterschiedlichen bis unversöhnlichen geistesgeschichtlichen Lagern zugehörig fühlten: Dahrendorf dem angelsächsischen Liberalismus in der Tradition Poppers und Hayeks, Habermas dem unorthodoxen Marxismus der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos. Im ersten Teil des vorliegenden Vergleichs soll diese unwahrscheinliche intellektuelle Koalition, die unter dem Eindruck der Planungs- und Steuerungseuphorie der Trente Glorieuses zustande kam, genauer unter die Lupe genommen werden. Auf die Erschöpfung des christdemokratischen Paternalismus folgte eine Blütezeit gesellschaftspolitischer Reform, für die der soziale Liberale und der liberale Sozialist gemeinsam die Werbetrommel rührten. Freilich blieben die Unterschiede zwischen Dahrendorf und Habermas in demokratietheoretischer Hinsicht stets schlagend. Dahrendorf ____________________ 1 2

Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, S. 55ff. Hacke, „Mehr Demokratie wagen“, S. 8.

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Matthias Hansl

nannte sich einen „Radikalliberalen, für den soziale Anrechte des Staatsbürgers eine ebenso wichtige Voraussetzung des Fortschritts“ seien „wie die Wahlchancen, die sich aus Innovationsgeist und Unternehmerinitiative ergeben“.3 Dabei setzte er von Anbeginn aus elitentheoretischer Perspektive auf politische Führung durch eine überschaubare Aktivbürgerschaft. Rousseaus Fundmentaldemokratie lehnte er genauso ab wie die hegelsche und marxsche Geschichtsphilosophie, wohingegen er den Zwang zu sozialem Konformismus – das „Ärgernis der Gesellschaft“4 – mittels der hobbesschen Vertragstheorie zu unterlaufen versuchte. Zwischenzeitlich versuchte sich der überzeugte Marktwirtschaftler sogar als parteiliberaler Berufspolitiker.5 Ganz anders verhielt es sich mit Habermas. Der legte seine Skepsis gegenüber der kapitalistischen Wirtschaftsweise nie ab, hielt die ideengeschichtliche Tradition eines mit Hobbes und Locke einsetzenden „Besitzindividualismus“6 stets auf Distanz und verfocht bereits in seinen frühen sozialphilosophischen Studien die freiwillige Assoziation und Deliberation breiter Bevölkerungsschichten in der Öffentlichkeit. Dennoch ist genauso unübersehbar, dass sich Dahrendorf und Habermas im Zuge der neoliberalen Wende in Politik und Gesellschaft in den 70erund 80er-Jahren einander merklich angenähert haben. Beide fanden ihren neuen intellektuellen Fluchtpunkt nunmehr in einem moralisch qualifizierten Fortschrittsbegriff, der fortan vor allem auf die defensive Bewahrung der liberalen Aufklärung zielte. Um der Gefahr vorzubeugen, eine verkürzte und ganz und gar undialektische „politisch-konstitutionelle ‚Heilsgeschichte‘ des Liberalismus“7 für die Bundesrepublik fortzuschreiben, wird im zweiten Teil Dahrendorfs und Habermas’ skeptische Wende in den Vordergrund gerückt. Für ihre Hinwendung zu einem gehaltvollen Liberalismus war in beiden Fällen eine epochale Zäsur ausschlaggebend: Dahrendorf relativierte seinen konflikttheoretisch untermalten Markt- bzw. Westminsterliberalismus und stellte sein Konfliktmodell der Gesellschaft unter aristotelische Vorzeichen, wogegen Habermas seine gesellschaftskritischen Ambitionen ab Mitte der 80er-Jahre zugunsten eines Zweckbündnisses mit dem Liberalismus zurückstellte. ____________________ 3 4 5 6 7

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Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, S. 41. Dahrendorf, Homo Sociologicus, S. 91. Hacke, Das politische Scheitern eines liberalen Hoffnungsträgers, S. 123ff. Die einschlägige Kritik liefert Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Leonhard, Liberalismus, S. 30.

Unwahrscheinliche Weggefährten

Habermas hat der Kritischen Theorie dabei „nicht nur in politischer Hinsicht, als Aussöhnung mit der bürgerlichen Theorie, ihr ‚Godesberg‘ beschert“, sondern „noch viel grundlegender eine Aussöhnung mit dem Vernunftpotenzial der Moderne und des Zivilisationsprozesses überhaupt bewirkt“.8 Bei ihm scheint es sich gerade so verhalten zu haben, dass er angesichts der mangelnden Problemlösungskapazitäten des korporatistischen Sozialstaats und der evidenten sozialen Folgekosten der neoliberalen Wende nur noch eine gangbare Option sah: eine auf den demokratischen Rechtsstaat verpflichtete Vorwärtsverteidigung der kantischen Idee des „Ausgang[s] des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“.9 Unbestritten hat sich Habermas mit der Ausarbeitung seines deliberativen Demokratiemodells später auf den Liberalismus zubewegt und seine Auseinandersetzung mit Rawls folglich auch „in den engen Grenzen eines Familienstreits“10 angesiedelt. Diese liberale Wende lässt einen Vergleich mit Dahrendorf umso aussichtsreicher erscheinen, zumal der deutsch-britische Lord später selbst eine republikanische Wende vollzog11 und in Habermas’ Sinne für einen Verfassungspatriotismus eintrat. Abstrakt gesprochen, zeichnet sich der gehaltvolle Liberalismus durch die Verschränkung zweier demokratietheoretischer Teilargumente aus: Seine Verfechter setzen zu einer Kritik der entpolitisierten Massendemokratie an und treten für einen ambitionierten Begriff politischer Autonomie ein, lassen aber gleichzeitig keinen Zweifel daran, dass Demokratisierung und Politisierung stets an einen kosmopolitischen und universalistischen Sozialcharakter zurückgebunden bleiben müssen. In der idealen liberalen Demokratie soll es rauchen, wenn auch nicht brennen dürfen. Nach dieser Lesart läuft die moderne Massendemokratie endemisch Gefahr, in den Routinen eines bürokratisch verkümmerten Politikbetriebs und einer totprivatisierten Marktgesellschaft auszutrocknen, so dass die Staatsbürger zu mehr bürgerschaftlichem Engagement und politischem Widerspruch und Risiko ermuntert werden sollen. Die Antipoden des gehaltvollen Liberalismus sind der Neoliberalismus, der allein auf die Ausweitung des Prinzips der Marktfreiheit setzt, der Liberalkonservatismus, der fantasievolle gesellschaftspolitische Reformen scheut und sein Heil in der Beschwörung einer sozialmoralischen Tradition sucht, und der technokratische Konservatismus, der einer expertengestützten Modernisierung von oben das Wort redet. Konkret ____________________ 8 9 10 11

Fischer/Ottow, Das „Godesberg“ der Kritischen Theorie, S. 656. Kant, Was ist Aufklärung?, S. 20. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, S. 65f. Dazu auch Münkler, Sozio-moralische Grundlagen liberaler Gemeinwesen.

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rekurriert der Begriff des gehaltvollen Liberalismus bei Dahrendorf und Habermas auf eine Theoriepolitik, in der sozialwissenschaftliche Theoriebildung und politischer Interventionismus symbiotisch miteinander verschmelzen. Im Falle Dahrendorfs mag diese Annahme nicht weiter überraschen, zielte er in seinen oft themen- und kontextgebundenen Essays doch generell eher darauf ab, „ein gebildetes Laienpublikum zu erreichen als Forschungsdesigns für sozialwissenschaftliche Projektanträge zu entwerfen“.12 Luhmann sah sich deshalb gar zu der Bemerkung veranlasst, Dahrendorf müsse man als „soziologische[n] Schriftsteller, nicht [als] soziologische[n] Theoretiker“13 behandeln. Es scheint deshalb auch nur wenig aussichtsreich, seine Konflikttheorie sozialen Wandels nachgerade zu einem sozialwissenschaftlichen Klassiker zu stilisieren. Dahrendorf war eben kein akribischer Theoriearbeiter im Elfenbeinturm, hatte als rastloser Tausendsassa entweder nicht genug Zeit oder nahm sie sich nicht, um ein größeres theoretisches Vermächtnis zu hinterlassen. Habermas zufolge zeichnete ihn jedoch früh das „avantgardistische Selbstbewusstsein“ aus, „mit alten Hüten aufzuräumen“.14 Dieses rückblickende Lob ist aus politiktheoretischer Perspektive allerdings verschenkt, wenn man dahinter allein Dahrendorfs Rolle bei der bundesrepublikanischen „Umstellung der deutschen Selbstbeschreibung vom Nationalen und Staatlichen auf das Gesellschaftliche“15 vermutet und ihn in dem „klassische[n] Rang eines konstitutiven Vordenkers und Demokratielehrers“16 musealisiert. Bei Habermas ist es genau spiegelverkehrt. Seit Beginn der 80er-Jahre achtete er schon publikationsstrategisch darauf, seine „Aufsätze und Reden, mit denen“ er sich, „in einem etwas bürgerlichen Sinne, politisch-publizistisch betätigt“17 habe, von seinen fachwissenschaftlichen Arbeiten abzugrenzen. Sein Werk reiht sich mittlerweile längst in einen disziplinübergreifenden Kanon ein und muss in Teilen als derart überforscht gelten, dass der interessierte Beobachter sprichwörtlich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Deshalb kann und soll der Fokus im vorliegenden Vergleich auch gar nicht auf dem akribischen Architekten der Kommunikationstheorie und hyperpräzisen Diskursphilosophen liegen. Das vorherrschende Bild ____________________ 12 13 14 15 16 17

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Neckel, Ungesellige Geselligkeit, S. 247. Dammann, Wie halten Sie’s mit Außerirdischen, Herr Luhmann, S. 136. Habermas, Im Sog der Technokratie, S. 162. König, Die Bundesrepublik – eine Philosophiegeschichte, S. 685. Hacke, Das Scheitern eines politischen Hoffnungsträgers, S. 137. Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 9.

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vom „Hegel der Bundesrepublik“ (Jan Ross) dürfte aber selbst dann keinen Schaden nehmen, wenn es um die Skizze eines bruchreichen und widersprüchlichen Theoriepolitikers ergänzt wird, der in einer Biografie „ohne gravierende Einschnitte und Diskontinuitäten“18 vielleicht doch zu kurz kommen könnte. 2.

Distanzierte Nähe: Dahrendorf und Habermas als theoriepolitische Wegbereiter des Machtwechsels

Dahrendorfs und Habermas’ frühe karrierebiografische Parallele einer gescheiterten Habilitation im „Grand Hotel Abgrund“ (Georg Lukács) beruhte noch auf höchst unterschiedlichen Motiven: Hielt Dahrendorf den dialektischen Ansatz der Frankfurter, der laut Adorno geradeheraus zu benennen hatte, „was insgeheim das Getriebe zusammenhält“,19 von Anbeginn für ein typisch deutsches Hirngespinst im Geiste Hegels, schickte sich Habermas hingegen an, das hegelmarxistische Erbe der Kritischen Theorie in der frühen Bundesrepublik zu reaktivieren. Adorno wertete Dahrendorfs Flucht nach nur vier Wochen. der Zusammenarbeit zu Recht als Symptom eines Grundsatzkonflikts zwischen der Kritischen Theorie und Dahrendorfs formal- bzw. wissenssoziologisch informierter Erfahrungswissenschaft. Folglich bedauerte er in einem Brief an Horkheimer zwar den Abgang „eine[s] sehr begabte[n] Mensch[en], der sich aber geradezu vor Ehrgeiz“ verzehre und „im Grunde das“ hasse, „wofür wir einstehen. Mir ist es eine ziemliche Enttäuschung, denn er hatte sich in der Arbeit wirklich gut angelassen – aber er ist wohl der stärkste Beweis für unsere These, dass in einem strengen Sinne nach uns nichts kommt“.20 Aus der Gegenperspektive begründete Dahrendorf seine rasche Kündigung aus einigen Jahrzehnten Abstand mit Horkheimers und Adornos „Usurpierung des Begriffes der Kritik für eine eigentümlich geschlossene Gesellschaft“.21 Die Institutspaten hätten sein Habilitationsvorhaben verschleppt und ihm stiefmütterlich erklärt, „daß dafür noch viel, viel Zeit“, ja dass „es doch nicht nötig sei, die Leute (in Adenauers Bundesrepublik der ____________________ 18 19 20 21

Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 19. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, S. 81. Adorno/Horkheimer, Briefwechsel, S. 277. Dahrendorf, Über Grenzen, S. 172.

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50er Jahre) mit so etwas wie ‚sozialen Klassen’ zu schockieren“.22 Retrospektiv wirkt es geradezu wie ein selbstverschuldetes Missverständnis, dass Dahrendorf 1954 überhaupt eine Assistentenstelle bei Horkheimer annahm, um für die Kritischen Theoretiker empirische Sozialforschung zu betreiben. Sein Engagement am Institut für Sozialforschung (IfS) war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil er sich bereits in seiner philosophischen Marx-Dissertation auf die Rolle eines protoliberalen Antipoden des dialektischen Kritikbegriffs festgelegt hatte, noch bevor er überhaupt einen Fuß auf die Frankfurter Senckenberganlage setzte. Hier hatte Dahrendorf im Gestus des Empirikers die Position vertreten, innerhalb des marxschen Theoriebaukastens müsse eine „sorgfältige Scheidung des Richtigen vom Falschen“23 vorgenommen werden. Die Schlussthesen enthielten eine deutliche Absage an eine von Hegel entlehnte „spekulative Geschichtskonzeption“.24 Und Dahrendorfs Impulsentscheidung für ein Engagement an der wiedereröffneten Heimstätte des Hegelmarxismus in Deutschland erscheint noch einmal unverständlicher, wenn man bedenkt, dass er zuvor noch ein PhD-Programm der Soziologie an der London School of Economics and Political Science (LSE) absolviert und bereits dort sein akademisches Erweckungserlebnis Popper – dem späteren Antipoden Adornos im Positivismusstreit – verdankte. Ganz anders erregte der Adorno-Assistent Habermas Ende der 50erJahre Horkheimers Missfallen, indem er sich in seinen ersten selbstständigen sozialphilosophischen Arbeiten am IfS allzu offen als marxistischer Gesellschaftskritiker zu erkennen gab und die Dialektik als „das schlechte Gewissen der Herrschaft“25 und die „logische Spur“26 in der Geschichte pries. Zu Beginn der 80er-Jahre beschrieb der arrivierte Habermas die Optionen am Ausgangspunkt seiner akademischen Karriere deshalb rückblickend mit der Alternative, sich entweder „weiterhin in dem illuminierenden Exerzitium einer negativen Philosophie“ zu bewegen, „um einzusehen und vor dieser Einsicht auszuhalten, daß es, wenn überhaupt, einen Vernunftfunken nur noch in der esoterischen Kunst gibt“, oder aber – und damit meinte er seinen sozialphilosophischen Königsweg – „wieder hinter die Dialektik der ____________________ 22 23 24 25 26

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Ders., Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 237. Ders., Marx in Perspektive, S. 19. Ebd., S. 166. Habermas, Theorie und Praxis, S. 318. Ebd., S. 319.

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Aufklärung“ zurückzugehen, „weil man mit den Aporien einer sich selbst verneinenden Philosophie als Wissenschaftler nicht leben kann“.27 Nur war Horkheimer in Habermas’ Assistentenzeit längst „zu einem überzeugten Verfechter der CDU-Parole ‚Keine Experimente‘“28 geworden, las in seinem Wohnsitz in Montagnola am Luganer See in resignativer Pose wieder verstärkt Schopenhauer und hatte die mit gehörigem Revolutionspathos durchsetzten alten Ausgaben der Zeitschrift für Sozialforschung in der sagenumwobenen „Frankfurter Kiste“ im Institutskeller verschlossen.29 Vor allem in seiner professionspolitischen Paranoia spiegelte sich in nuce der verbreitete Antikommunismus der Adenauerjahre wieder, der Habermas Ende der 50er-Jahre vorübergehend zum Verhängnis werden sollte. Horkheimer sah sich durch ein vermeintlich zur Revolution anstachelndes Vokabular dazu veranlasst, Habermas die gewünschte Habilitation in Frankfurt aus fadenscheinigen Gründen zu verwehren.30 Allen anders lautenden Bekenntnissen zum Trotz kaufte er es Adornos talentiertem Assistenten schlichtweg nicht ab, einem „als Staatsideologie ausgehaltene[n], grundsätzlicher Diskussion längst entzogene[n] und im Innersten leblose[n] Kanon“31 des orthodoxen Marxismus abgeschworen zu haben. An Adorno schrieb Horkheimer einen regelrechten Brandbrief: „Revolution bildet bei ihm [Habermas – M.H.] eine Art affirmativer Idee, ein verendlichtes Absolutum, einen Götzen […], der Kritik und kritische Theorie, wie wir sie meinen, gründlich verfälscht. […] Was es heute zu verteidigen gilt, scheint mir ganz und gar nicht die Aufhebung der Philosophie in Revolution, sondern der Rest der bürgerlichen Civilisation zu sein […] Lassen Sie uns zur Aufhebung der bestehenden Lage schreiten, und ihn in Güte dazu bewegen, seine Philosophie irgendwo anders aufzuheben und zu verwirklichen.“32

Nach Beruhigung der Lage und Habermas’ temporärer Flucht aus Frankfurt setzte in der ersten Hälfte der 60er-Jahre eine „atmosphärische[] Verbesserung“33 im Verhältnis zwischen Horkheimer und Habermas ein. Nach seiner Emeritierung warb Horkheimer sogar aktiv für Habermas’ Berufung auf seinen mittlerweile vakanten Frankfurter Lehrstuhl für Sozialphilosophie. ____________________ 27 28 29 30 31 32 33

Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 172. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 616. Dazu Schlak, Wilhelm Hennis, S. 45ff. Dazu Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 616. Habermas, Theorie und Praxis, S. 266. Adorno/Horkheimer, Briefwechsel, S. 516ff. Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 128.

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Mitte der 60er-Jahre kehrte der verlorene Sohn schließlich an den Ursprungsort der Kritischen Theorie zurück. Zur gleichen Zeit hatte der Tübinger Ordinarius Dahrendorf die Brücken zu den Frankfurtern hinter sich längst abgebrochen. Habermas gab für sein der Kritischen Theorie entlehntes Programm einer „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“, die „das Mißverständnis einer ontologischen Auslegung des Marxismus“34 durchschaut habe, noch Ende der 60er-Jahre die utopische Zielbestimmung einer „Organisation der Gesellschaft auf der ausschließlichen Grundlage herrschaftsfreier Diskussion“35 aus. Dahrendorf gelangte im Zuge seiner frühen Rezeption der liberalen politischen Philosophie Karl Poppers hingegen zu der Überzeugung, dass die Repräsentativdemokratie angelsächsischer Prägung die beste aller vorstellbaren Welten war und Politik folglich „immer eine Sache aktiver Minderheiten bleiben“36 musste. Dieser Grundsatzkonflikt zweier unterschiedlicher Politikverständnisse – Eliten- vs. radikale Demokratie – trat im Zuge des Positivismusstreits offen zutage. Dahrendorf setzte auf eine liberale Wendung der marxschen Klassentheorie und erhob die Forderung, nur einen von der philosophischen Spekulation geläuterten und in seine formalsoziologischen Einzelteile zerlegten Marx gelten zu lassen, dem zufolge „Gegensätze und Auseinandersetzungen […] ein Strukturprinzip der Gesellschaft“37 seien. Gestützt auf die Annahme, dass „[e]in Wissenschaftler, der nicht als solcher Eklektiker ist, kein Wissenschaftler oder zumindest ein schlechter“38 sei, versprach er „die Formulierung einer allgemeineren Theorie, die sowohl die empirischen Inhalte der alten Theorie als auch die neuen Befunde in sich“39 umgreife. Die erste Hälfte seiner liberalen Wendung der marxschen Klassentheorie lautete anhand des weberschen Herrschaftsbegriffs: „Wo immer es Herrschaft gibt, gibt es […] auch Klassen und Klassenkonflikte.“40 Dieses Diktum ergänzte er um das formalsoziologische „Dreigespann Norm-Sanktion-Herrschaft“, aus dem nicht nur „alle

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Habermas, Theorie und Praxis, S. 234. Ders., Erkenntnis und Interesse, S. 76. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 81. Ders., Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 25. Ebd., S. 122. Ebd., S. 119. Ebd., S. 145.

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übrigen Kategorien der soziologischen Analyse“41 abgeleitet werden könnten, sondern auch die herrschaftskritische Pointe folge, „daß jedes System sozialer Schichtung den Keim zu seiner Überwindung in sich trägt“.42 In politischer Hinsicht lief Dahrendorfs Konfliktsoziologie darauf hinaus, dass die „funktionalen Eliten“ in den unterschiedlichen Herrschaftssphären moderner westlicher Industriegesellschaften – in „Wirtschaft und Politik, Erziehung und Religion, Kultur, Militär und Recht“43 – unter den günstigen Bedingungen der Trente Glorieuses Handlungsspielräume vorfanden, die sie – nahezu befreit von ökonomischen Zwängen – für drängende gesellschaftspolitische Reformen nutzen konnten. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, schlüpfte er gleich selbst in die Rolle des Bildungsreformers und verfocht in Bildung ist Bürgerrecht „die soziale Ausweitung der Bildungschancen, die nur durch die innere Reform der Hochschulbildung nach angelsächsischem Vorbild zu erreichen sei“.44 Dass Dahrendorf damit keine kollektiven Lösungen anstrebte, sondern nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten wollte, dürfte angesichts seines damals beinahe grenzenlosen Fortschrittsoptimismus nicht weiter verwundern: „Wenn der einzelne seine Stellung verbessern kann, indem er im Sinne des Status aufsteigt, braucht er sich nicht mit anderen zusammentun, um dieses Ziel zu erreichen. Im Sinne des Status aufsteigen, Teilnahmechancen verbessern, kann in vielen verschiedenen Weisen geschehen: durch Beförderung, durch einen Einkommenszuwachs, durch Wechsel des Arbeitsplatzes oder Wohnorts, durch die Akkumulation von Positionen, durch Anerkennung usw. Moderne marktrationale Gesellschaften bieten typisch solche individuellen Chancen des Vorankommens an.“45 Dem in der Habilitationsschrift noch ausbuchstabierten Modus eines organisierten und politisch regulierten Gruppenkonflikts sprach Dahrendorf Ende der 60er-Jahre sogar die Rolle des Triggers rationalen sozialen Wandels ab: „kollektive Solidarität“ sei Nach dem Klassenkonflikt durch „individuelle Konkurrenz“46 ersetzt worden. Auf intellektueller Ebene grenzte er sich – stets einen Funken zu polemisch – von allen Formen eines vermeintlich an Rousseaus volonté ____________________ 41 42 43 44 45 46

Ders., Pfade aus Utopia, S. 375. Ebd., S. 379. Ders., Gesellschaft und Freiheit, S. 179. Söllner, Mehr Universität wagen!, S. 103. Siehe dazu auch Meifort, Liberalisierung der Gesellschaft durch Bildungsreform. Dahrendorf, Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, S. 25 Ebd., S. 26.

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générale orientierten, „harmonisierende[n] hierarchische[n] Gesellschaftsbild[s]“ 47 ab. Sein konflikttheoretisches Programm zündete Dahrendorf früh gegen Talcott Parsons, um die „Sklerosis des Strukturfunktionalismus, die sich in den soziologischen Debatten am Ende der fünfziger Jahre abzuzeichnen begann“,48 aufzubrechen. Dabei stellte er die Vermutung an, das Problem der amerikanischen Sozialtheorie habe historisch schon immer darin bestanden, „den Stoffwechsel an die Stelle der Geschichte“49 zu setzen und ganz ohne Marx auskommen zu wollen. Parsons qualifizierte er deshalb als „Dogmatiker“ ab, der sich „stets nur für relativ wenige äußere Einflüsse“ geöffnet habe, „schon früh seinen eigenen systematischen Überlegungen unbeirrt um die Eigenart anderer Autoren“50 nachgehangen und zu einem „über den Status quo hinausgreifenden Gedanken“ unfähig sei. Seinen eigenen Ansatz präsentierte er hingegen als tentativen Beitrag zu einer „Loseblatt-Sammlung“, deren Begriffe sich im Gegensatz zu den „taxonomischen Phantasien der Systematiker“51 immer erst an der sozialen Wirklichkeit bewähren mussten. Noch vom Geist seines hegelmarxistischen Programms beseelt, hielt Habermas diesen theoriepolitischen Angriff für positivistische Schaumschlägerei. Zwischen Dahrendorfs vermeintlich „galileische[r] Wende des Denkens“52 und Parsons’ strukturfunktionalistischem Konservatismus ließ er keinen Unterschied gelten, gehe doch in beiden Fällen „in die Wahl der fundamentalen Kategorien eine vorgreifende Deutung der Gesellschaft im ganzen ein“.53 Die von Dahrendorf favorisierte experimentelle Prüfung isolierter „‚Bestandteile‘ des Marxismus nach Gesichtspunkten sozialwissenschaftlicher Arbeitsteilung“ behielt Habermas zufolge letztlich „nur die disjecta membra“ zurück, „die aus dem dialektischen Sinnverständnis einer auf Praxis bezogenen Theorie der Gesellschaft als Totalität herausgebrochen sind“.54 Es genügte Habermas folglich auch nicht, dass Dahrendorf im Homo Sociologicus ein auf die Emanzipation des Individuums abzielendes, kritisches Rollenverständnis vertrat, um die konservativen Rollenklischees der restaurativen Adenauerjahre zu unterlaufen. Der Kritische Theoretiker ____________________ 47 48 49 50 51 52 53 54

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Ders., Gesellschaft und Freiheit, S. 211. Neckel, Ungesellige Geselligkeit, S. 248. Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung, S. 141f. Ebd., S. 155. Ders., Pfade aus Utopia, S. 62. Ders., Gesellschaft und Freiheit, S. 108. Habermas, Theorie und Praxis, S. 177. Ebd., S. 172.

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wandte vielmehr ein, Dahrendorf bleibe aufgrund seines „wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses“ nur der sehr begrenzte „Spielraum seiner Doppelrolle als Wissenschaftlicher und Staatsbürger“. So könne er zwar „die Aufgaben, die er soziologisch bearbeiten möchte, nach Gesichtspunkten politischer Relevanz auswählen“, ohne damit aber „auf die wissenschaftliche Arbeit selbst“55 Einfluss zu nehmen. Noch hinter Dahrendorfs Selbstverpflichtung auf eine liberal angeleitete sozialwissenschaftliche Forschungs- und Reformpraxis witterte Habermas den auf Max Webers Wertfreiheitspostulat beruhenden „Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen“, der – vermittelt über Popper – „zu einer Reduktion zulässiger Erkenntnis auf strikte Erfahrungswissenschaften und […] einer Eliminierung von Fragen der Lebenspraxis aus dem Horizont der Wissenschaften überhaupt“ nötige. Diese positivistische Zwangsjacke musste nach Habermas den unheilvollen politischen Effekt zeitigen, dass „des abgeschiedenen Bereichs der Werte, Normen und Entscheidungen […] sich nun die philosophischen Deutungen eben auf der Basis einer mit der reduzierten Wissenschaft geteilten Arbeit von neuem“56 bemächtigten: dass Aufklärung also – wie in der Dialektik der Aufklärung – in Mythologie umschlug. Habermas stellte sich hier – wie in seinem Schlagabtausch mit dem Popper-Schüler Hans Albert – „voll und ganz hinter die Position Adornos“.57 Dabei ist es wichtig, die hinter dem Positivismusstreit stehenden politischen Motive zu reflektieren. Der Soziologe Jürgen Ritsert hat herausgestellt, dass Poppers hypothetisch-deduktive Wissenschaftstheorie vor allem darauf abzielte, „einzelne gesellschaftliche Institutionen kritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie die Funktionen erfüllen, die ihnen zugedacht sind. Wenn das nicht der Fall ist, müssen sie“ – Dahrendorfs bildungs- und hochschulpolitische Ambitionen wiesen in diese Richtung – „schrittweise umgebaut oder – wie eine falsifizierte Hypothese – durch funktionstüchtigere ersetzt werden“. Dagegen hat Adorno mit seiner hegelianischen Totalitätsphilosophie, der bis Ende der 60er-Jahre auch Habermas anhing, „eine politische Praxis vor Augen“ gehabt, „die unter anderem auf die Abschaffung gesamtgesellschaftlicher Strukturen und Prozesse zielt, welche den freien Willen des einzelnen Subjekts als ‚stummer Zwang der Verhältnisse‘ (Marx) oder im Interesse bestehender Herrschaftsverhältnisse unterdrücken“.58 ____________________ 55 56 57 58

Ebd., S. 215. Ders., Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, S. 171. Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 155. Ritsert, Der Positivismusstreit, S. 116.

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Analog zu seinem Lehrer Adorno misstraute auch Habermas allen Formen eines elitengestützten Reformismus zunächst aus Prinzip. Horkheimer hatte bereits 1937 gegen die „traditionelle Theorie“ eingewandt, die Zweckmäßigkeit wissenschaftlicher Forschung hänge „in Wahrheit nicht bloß von der Einfachheit und Folgerichtigkeit des Systems, sondern unter anderem auch von Richtung und Zielen der Forschung ab, die aus ihr selbst weder zu erklären noch gar letztlich einsichtig zu machen sind“.59 Sein frühbundesrepublikanischer Schüler Habermas erneuerte zu Beginn der 60er-Jahre diesen Verdacht auch im Hinblick auf die liberale Popper-Schule, der er vorwarf, sich mit einem „richtungsneutralen Begriff des sozialen Wandels“60 zu begnügen und damit letztlich den konservativen Christdemokraten in die Hände zu spielen: „Gerade in der Kooperation mit den Planungsbürokratien, die in der Soziologie folgenreicher denn je wirksam werden kann, muß sie [die analytisch-empirische Wissenschaft; MH] sich also der strengen Arbeitsteilung von Analyse und Dezision, Diagnose und Programm fügen: je mehr sie sich (wenn nicht in praktische, so doch) in technische Gewalt umsetzen lassen kann, um so sicherer verschließt sich die Dimension, in der sie aus eigener Verantwortung kritische oder konservative Aufgaben übernehmen könnte.“61

In der zweiten Hälfte der 60er-Jahre machten Habermas’ grundsätzliche Zweifel am liberalen Reformgeist der Popper-Schule einer wohlwollenden Position Platz. Auf einmal führte Habermas Dahrendorfs liberale Konfliktsoziologie, die er zuvor noch so hart kritisiert hatte, als gelungenes Beispiel einer „systematisch anspruchsvollen soziologischen Geschichtsschreibung“62 und „historisch gerichteten soziologischen Forschung“ an, „die in praktischer Absicht auf Gegenwartsanalyse“63 ziele, um „unter Preisgabe des Anspruchs, allgemeine Theorien des sozialen Handelns aufzustellen, zu einer historisch gehaltvollen funktionalistischen Erforschung gesellschaftlicher Systeme“64 vorzudringen. Habermas war nicht entgangen, dass Dahrendorf – wenngleich im Gewand des angelsächsischen Liberalen, der die Wettbewerbsmetapher für seinen Geschmack überstrapazierte –65 genauso sehr am christdemokratischen Status quo rüttelte wie er selbst. ____________________ 59 60 61 62 63 64 65

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Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S. 212. Habermas, Theorie und Praxis, S. 223. Ebd., S. 226. Ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 137. Ebd., S. 143. Ebd., S. 198. Dazu ders., Die verzögerte Moderne.

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Habermas’ Kritik am sozialwissenschaftlichen Funktionalismus in seinem sozialwissenschaftlichen Literaturbericht Zur Logik der Sozialwissenschaften wirkte denn auch passagenweise wie eine direkte Fortsetzung von Dahrendorfs Parsons-Kritik aus den späten 50er- und frühen 60er-Jahren. Zwar hätte Dahrendorf nach seiner Selbstdistanzierung vom Hegelmarxismus der Kritischen Theorie gegen Parsons niemals eingewandt, dessen strukturfunktionalistische Systemtheorie entrate „eines weltgeschichtlichen Subjektes“.66 Dennoch hätte es auch seiner Feder stammen können, als Habermas Parsons nun darüber belehrte, „die bis dahin anerkannten kulturellen Werte“ dürften „nicht nur als Maßstab fungieren“, um einen vermeintlichen Sollzustand des Systems zu erhalten, sondern müssten vielmehr konsequent „in die Diskussion hineingezogen“ werden, um sie „von ihren ideologischen Bestandteilen“67 zu reinigen. Anders als Adorno, der in seinem unvollendeten Spätwerk über Ästhetische Theorie in der Erschütterung des individuellen bürgerlichen Bewusstseins durch das authentische Kunstwerk die letztverbliebene Möglichkeit zur – im Grunde vergeblichen – kritischen Transzendierung des Status quo erkannte,68 vermittelte Habermas Ende der 60er-Jahre in Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ die Zuversicht, anhand einer immanenten Kritik der sozialwissenschaftlichen Ausläufer des technokratischen Bewusstseins den Weg zu einer rationalen Demokratisierung der Gesellschaft und gemeinverträglichen Nutzung der verwissenschaftlichten Technik angeben zu können.69 Sein Optimismus gründete wie im Fall des liberalen Reformers Dahrendorfs, der von seinem Londoner Lehrer T.H. Marshall die These von der bürgerrechtlichen Zivilisierung des Klassenkamps70 übernommen hatte, in der scheinbaren Krisenresistenz des keynesianistischen Nachkriegskapitalismus. Nach der Großen Depression und den politischen Verwerfungen im Europa der 30er- und 40er-Jahre garantierte das internationale Finanzregime von Bretton Woods unter der Ägide der benevolenten Hegemonialmacht USA in den 50er- und 60er-Jahren insbesondere im Land des „Wirtschaftswunders“ einen krisenfreien Weg in die Zukunft. Die erfolgreiche Einbettung des Liberalismus nach Ende des Zweiten Weltkriegs führte viele ____________________ 66 67 68 69 70

Ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 187. Ebd., S. 195f. Adorno, Ästhetische Theorie. Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ S. 98f. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen.

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Beobachter zur Verabschiedung des Klassenbegriffs. Zudem gab es vermehrt Zweifel an der Angemessenheit des Kapitalismusbegriffs, der in seinem apokalyptischen Beiklang den Vertretern des sozialwissenschaftlichen Mainstreams nicht länger geeignet schien, den wichtigen Transformationsprozessen moderner Industriegesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rechnung zu tragen. Im Vorwort zur englischen Neuausgabe seiner Habilitationsschrift hielt auch Dahrendorf in diesem Sinne fest, seine soziologischen Bemühungen zielten auf die „post-capitalist society“.71 Dieses Urteil ging Habermas zu weit. Fest steht aber, dass auch die Kritische Theorie von der langfristigen Stabilität des staatlich orchestrierten Kapitalismus ausging. Seit der Rückkehr aus dem erzwungenen Exil spielte die Analyse des langjährigen Institutsmitarbeiters Henryk Grossmann über Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems72 aus den späten 20er-Jahren am IfS im Prinzip keine Rolle mehr. In Frankfurt gehörte es mittlerweile zum guten Ton, die marxsche Krisentheorie selbst einer immanenten Kritik zu unterziehen. Folglich stand für Habermas bereits in seiner Assistentenzeit außer Frage, dass Marx’ aus der Zeit des liberalen Kapitalismus im 19. Jahrhundert stammende Prognosen über die revolutionäre Zuspitzung des Klassenkonflikts revisionsbedürftig waren.73 Die Ähnlichkeit mit Dahrendorfs zeitgleich unternommenem Überwindungsversuch der marxschen Klassentheorie sticht in diesem Punkt ins Auge. Auf Basis seiner Re-Lektüre der Grundrisse kam Habermas Ende der 60er-Jahre in einer eigentümlich optimistischen Kreuzung von Marx mit Freud in Erkenntnis und Interesse zu dem Ergebnis, dass „der institutionelle Rahmen, der die Distribution der Lasten und Entschädigungen regelt und eine den Kulturverzicht sichernde Herrschaftsordnung stabilisiert, mit fortschreitender Technik lockerer werden und zunehmend Teile der kulturellen Überlieferung, die zunächst projektiven Gehalt haben, in Realität verwandeln, nämlich virtuelle Befriedigung in institutionell anerkannte umsetzen“ könne. Im Vorlaufhorizont des Bonner Machtwechsels schwebte Habermas eine durch den technischen-wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichte „Kritik an den geschichtlich obsolet gewordenen Herrschaftsformationen“74 vor, ____________________ 71 72 73 74

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Dahrendorf, Class and Class Conflict in Industrial Society, S. XII. Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. Habermas, Theorie und Praxis, S. 330f. Ders., Erkenntnis und Interesse, S. 340.

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die nun auf entgegenkommende politische Eliten hoffen durfte. Folgerichtig kündigte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner nachgerade denkwürdigen ersten Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 an, „durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik“ darauf hin zu wirken, dass „jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken“. Allerdings fügte Brandt auch hinzu: „Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen; jene jungen Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen – und sollen. Diese jungen Menschen müssen aber verstehen, daß auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben.“75

Habermas blies ins gleiche Horn und erinnerte die revolutionswütigen 68er daran, dass „bei einem Test, der die Bedingungen einer möglichen ‚Einschränkung des Leidens‘ erproben soll“, „das Risiko erhöhten Leidens nicht zum Bestandteil der Versuchsanordnung selber gemacht werden“ dürfe: „Diese Vorsicht hemmt nicht die kritisch-revolutionäre Tätigkeit, wohl aber die totalitäre Gewißheit, daß die Idee, von der sie sich mit guten Gründen leiten läßt, unter allen Umständen realisierbar ist.“76

Demgegenüber führte Adorno auf dem Höhepunkt der Studentenproteste noch einmal eine denkwürdige Auseinandersetzung mit Dahrendorf über die Möglichkeiten und Grenzen einer wissenschaftlich angeleiteten Reformpolitik. In seiner Rolle als scheidender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) vertrat er auf dem Frankfurter Soziologentag über Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? die These von der „Präponderanz der [spätkapitalistischen] Produktionsverhältnisse über die [industriegesellschaftlichen] Produktionsverhältnisse, die doch längst der Verhältnisse spotten“.77 Demnach waren die Menschen mehr denn je „Anhängsel an die Maschinerie, […] bis in ihre intimsten Regungen hinein genötigt, dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln“.78

So eindrucksvoll sich die Produktivkraftentwicklung in westlichen Industriegesellschaften auch ausnehmen mochte, so undurchdringlich, irrational und zerstörerisch erschien Adorno Ende der 60er-Jahre auch deren Kanali____________________ 75 76 77 78

Brandt, Regierungserklärung. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 345. Adorno, Einleitungsvortrag, S. 20. Ebd., S. 18.

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sierung, die jeden noch so gut gemeinten politischen Reformismus zu pervertieren drohte. Dahrendorf holte auf der Tagung zum Gegenschlag aus und provozierte den Frankfurter Gastgeber mit zwei rhetorischen Fragen, die den politischen Kerngehalt des Positivismusstreits letztlich noch einmal treffend zusammenfassten: „Ist das Verhältnis von Theorie und Praxis in der hier erörterten Form mehr als das Verhältnis zu einer Praxis, die nur die Organisation eines lokal geprägten Jargons der Eigentlichkeit ist? Muß nicht derjenige, der die Praxis will, etwas tun? Muß er nicht mindestens gewisse Wege dazu angeben, wie etwas getan werden kann?“79

Am Schluss seiner Polemik gegen den der Kritischen Theorie vermeintlich „zugrunde liegende[n] Blütentraum von der herrschaftslosen Gesellschaft“80 sprach Dahrendorf noch einmal die Überzeugung aus, sein popperscher Forschungspragmatismus bringe ihn „der Praxis sehr viel näher […] als eine noch so verlockende Totalanalyse jemals“81 könne. In seiner Erwiderung verwarf Adorno Dahrendorfs Konfliktsoziologie sogleich als eine allzu bedenkenlose, formalistische Apotheose des Streits, während sich die Welt durch das atomare Wettrüsten der beiden Supermächte doch dauernd am Rande der Zerstörung befinde: „Daß auf die gegenwärtig zerrissene, antagonistische Gesellschaft mit Mitteln des gesellschaftlichen Kampfes zu antworten ist, darf nicht dazu führen, daß man die Kategorie des Streites als Invariante der menschlichen Natur absolut setzt. […] Angesichts der destruktiven Potentiale der gegenwärtigen Technik, andererseits auch der Absehbarkeit eines wirklich radikal friedlichen Zustands glaube ich nicht, daß jene Vorstellung von der beflügelten Kraft des Streites noch gilt. Sie stammt eben wirklich aus einer relativ harmlosen Konkurrenzphase, die ihre Harmlosigkeit verloren hat.“

Und Adorno fügte aus ideengeschichtlicher Perspektive hinzu: „Ich bekenne mich lieber zu der Kantschen Idee des ewigen Friedens als zum Idealismus von Fichte, bei dem die Dynamik Selbstzweck wird, wenn nur die freie Tathandlung der Menschen sich fessellos entfaltet.“82

Doch tat sich an jener Stelle jetzt auch ein Graben zwischen Adorno und Habermas auf. Habermas berief sich – durchaus an Popper anknüpfend – mittlerweile offen auf Fichtes Losung vom „Vernunftinteresse“, das in sei____________________ 79 80 81 82

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Dahrendorf, Herrschaft, Schichtung und soziale Klassen, S. 91. Ebd., S. 97. Ebd., S. 99. Adorno u.a., Protokoll der Diskussion, S. 104f. Siehe dazu auch ders., Einleitung in die Soziologie, S. 114ff.

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ner materialistischen Wendung auf die „fortschreitende[ ] kritisch-revolutionäre[ ], aber versuchsweise[ ] Verwirklichung der großen Menschheitsillusionen“83 hinwirke und anders als im Konflikt praktisch gar nicht realisierbar war. Die Rhetorik von Versuch und Irrtum – das Signum der Lehre Poppers – sollte sich als ein Indiz des radikalen Reformismus fortan auch in Habermas’ Denken festsetzen. 3.

Gemeinsame Skepsis: Errettung der Aufklärung zwischen Rechtsstaat und Demokratie

Vorab lässt sich festhalten, dass Dahrendorf und Habermas in den 70er- und 80er-Jahren weiter aufeinander zusteuerten, ihre theoriepolitischen Projekte dabei aber zunehmend defensiven Charakter annahmen. Kontrafaktisch betrachtet hätte sich Dahrendorf in dieser Zeit auch offen auf die Seite des Neoliberalismus schlagen können. Stattdessen war ihm die politische Ehe zwischen der Chicagoer Apotheose des freien Markts und dem Neokonservatismus von Anbeginn suspekt. Auf der anderen Seite ist erstaunlich, dass die Rückkehr eines allgemeinen politikökonomischen Krisenbewusstseins den Kritischen Theoretiker Habermas dazu veranlasste, ein Zweckbündnis mit dem klassischen Liberalismus einzugehen.Sowohl in Dahrendorfs als auch in Habermas’ Fall handelte es sich um kontingente theoriepolitische Entscheidungen unter dem Druck eines gesellschafts- und weltpolitischen Epochenwandels hin zur „regressiven Modernisierung“.84 Dahrendorf stimmte mit seinem Wechsel nach England pessimistischere Töne an, während Habermas den globalen politikökonomischen Bruch in der bundesrepublikanischen Provinz zunächst regelrecht zu verschlafen drohte. Wichtig waren in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die unterschiedlichen Umwelten, denen beide in dieser Zeit ausgesetzt waren. Der kaltgestellte EG-Kommissar Dahrendorf folgte in den siebziger Jahren mit einer „durchwachsenen Brüsseler Bilanz“ und in der „Ernüchterung über die Handlungsmöglichkeiten in der praktischen Politik“85 einem Ruf als Rektor an die LSE und verlagerte seinen Lebensmittelpunkt in die von politischem Dauerzwist, ökonomischer Malaise und infrastruktureller Lähmung geplagte englische Metropole. Dort nahm er die politikökonomischen und gesellschaftspolitischen Verwerfungen der Zeit – die in Großbritannien, dem ____________________ 83 84 85

Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 350. Dazu Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, S. 71ff. Meifort, Der Wunsch nach Wirkung, S. 204.

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Sick Man of Europe, deutlich stärker zum Tragen kamen als in der Bunderepublik – kurzerhand zum Anlass, die sakrosankte Stellung des sozialen Wandels in seiner Theorie zu überdenken. Zeitgleich verlor Habermas die brodelnde Moderne im abgeschiedenen Starnberger Forschungslabor aus dem Blick. Seine Krisentheorie begann, den Ereignissen hinterherzuhinken, bevor er seine gesellschaftskritischen Ambitionen auch aus theoriestrategischen Gründen begrub und sich stattdessen in die Gefilde der politischen Philosophie wagte. Der Ärger über die studentischen „Scheinrevolutionäre“86 wog Ende der 60er-Jahre derart schwer, dass Habermas seinen Flirt mit der Geschichtsphilosophie beendete. Mit seinem Weggang nach Starnberg erarbeitete er in Zusammenarbeit mit seinem kongenialen Mitarbeiter Claus Offe ein neues Krisentheorem für den Spätkapitalismus. Die These war, dass der Interventionsstaat unter Inkaufnahme eines verkraftbaren Maßes an Inflation und öffentlicher Verschuldung „in die wachsenden Funktionslücken des Marktes“ einspringen konnte, um die zyklischen Wachstumskrisen kapitalistischer Marktökonomien „administrativ [zu verarbeiten] und stufenweise über das politische ins soziokulturelle System [zu verschieben]“.87 Im Vergleich zu den späten 50er-Jahren hatte sich in Habermas’ Denken diesbezüglich nicht viel geändert. Der keynesianische Nachkriegskapitalismus erschien ihm selbst dann noch stabil, als das internationale Finanzregime von Bretton Woods bereits aus den Fugen geraten war. Deshalb hat Habermas vor kurzem auch eingestanden, dass seine „Theorie der Verschiebung des Krisenpotentials in den Steuerstaat und in die kulturellen Muster der Sozialisation“ mittlerweile von Autoren wie Wolfgang Streeck „aus guten Gründen wegen des seinerzeit suggerierten Vertrauens in die ökonomische Selbststabilisierungsfähigkeit des Kapitalismus“88 kritisiert worden sei. Anfang der 70er-Jahre ruhten seine Hoffnungen zunächst weiterhin auf der demokratischen Überwindung eines „staatsbürgerlichen“ und „familialberuflichen Privatismus“,89 obwohl in „unser Institutionensystem eine strukturelle Gewalt eingebaut“ sei, „die Versuchen der Erweiterung partizipatorischer Demokratie“90 entgegenstehe. Optimistisch stimmte ihn nicht ____________________ 86 87 88 89 90

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Habermas, Kleine Politische Schriften I-IV, S. 249ff. Ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 50f. u. 60. Ders., Entgegnung von Jürgen Habermas [auf Smail Rapic], S. 199. Ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 117. Ders., Kleine Politische Schriften I-IV, S. 326.

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länger die Idee eines kontinuierlichen Fortschreitens der menschlichen Gattung im Ganzen, sondern – in Anlehnung an die Entwicklungspsychologie Kohlbergs und Piagets – ein „kollektiv erreichter Stand des moralischen Bewußtseins“91 in der modernen Gesellschaft, der die Möglichkeit einer „kommunikative[n] Ethik“92 als Modus der Auslotung „verallgemeinerungsfähiger Interessen“93 zumindest in Aussicht stellte.94 Die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus standen längst im Zeichen einer Rekonstruktion des Historischen Materialismus, von der sich Habermas „eine konkurrenzfähige Alternative zu den Theorien der sozialen Evolution, die damals von Parsons bis Luhmann auf dem Tisch lagen“,95 erhoffte. Im Zuge seiner kommunikationstheoretischen Wende, nach der „die formalen Eigenschaften der Intersubjektivität möglicher Verständigung den Platz der Bedingungen der Objektivität möglicher Erfahrung“96 einnehmen konnten, betätigte er sich auf einmal selbst als Eklektiker. Hatte Habermas seinen Altersgenossen Dahrendorf Anfang der 60er-Jahre noch dafür gescholten, durch die Verwendung der formalen Bestandteile der marxschen Klassentheorie deren herrschafts- und kapitalismuskritische Pointe preiszugeben, zog er in der Theorie des kommunikativen Handelns jetzt selbst den formalistischen Schluss, „System- und Handlungstheorie“ „als die disjecta membra [der] Hegel-Marxschen Hinterlassenschaft“97 analytisch miteinander verschränken zu müssen. Auch in ihm meldete sich mittlerweile der Theoriedarwinist zu Wort, der Marx’ Theorie auseinandernehmen und „in neuer Form“ wieder zusammensetzen wollte, „um das Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen: das“ sei „der normale […] Umgang mit einer Theorie, die in mancher Hinsicht der Revision bedarf, deren Anregungspotential aber noch (immer) nicht ausgeschöpft ist“.98 ____________________ 91 92 93 94

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Ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 24. Ebd., S. 125. Ebd., S. 156. Die alten Weimarer Frontstellungen behielten in der Bonner Republik indessen ihren Sinn: Hatte sich Habermas im Strukturwandel der Öffentlichkeit noch vom „Hobbismus“ und der „akklamatorischen Demokratie“ (Ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 268f.) Carl Schmitts abgesetzt, warf ihn Mitte der siebziger Jahre ausgerechnet der Smend-Schüler Wilhelm Hennis mit dem „Alten aus Plettenberg“ in einen Topf. Ders., Entgegnung von Jürgen Habermas [auf den Vortrag von William Outhwaite], S. 48f. Ders., Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 279. Ebd., S. 303. Ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 9.

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Aus der entgegengesetzten Richtung unterzog auch Dahrendorf sein Theorieprogramm einer gründlichen Revision und räumte in seinem Buch über Lebenschancen ein, mittlerweile an einer „überaus verkehrseichen Kreuzung von sozialwissenschaftlicher Theorie, Geschichtsphilosophie und politischer Theorie“99 angekommen zu sein. In seinen Reith Lectures über Die neue Freiheit mahnte er an, „daß wir unsere Währung ändern müssen, wenn wir die großen Probleme des Tages in liberaler Weise lösen wollen“,100 und entwarf ein idealistisches Zukunftsszenario, in dem die „bewegende Kraft der politischen Ökonomie der Freiheit […] nicht mehr Ausweitung, Expansion, sondern Besserung“ sei und „qualitative an Stelle quantitativer Entwicklung“101 trete. Seine Trennung zwischen „Problemen des Überlebens“ und „Problemen der Gerechtigkeit“102 sollte der veränderten Herausforderung Rechnung tragen, dass wir „sozusagen nicht mehr aus unseren Problemen [herauswachsen], sondern […] statt dessen mit ihnen fertig werden [müssen]“.103 Habermas würdigte Dahrendorfs Überlegungen als gelungenen Beitrag zu einer Zeitdiagnostik, die „die Entwicklungsprobleme des gegenwärtigen Gesellschaftssystems mit dem Blick auf strukturelle Möglichkeiten analysiert, die noch nicht institutionalisiert“104 seien. Gleichzeitig fischte Dahrendorf, der einstmals unversöhnliche Kritiker der spekulativen Geschichtsphilosophie, nun selbst in trüben Gewässern. Den „mögliche[n] Sinn von Geschichte“105 vermutete er dabei in der konfliktiven Auslotung von Lebenschancen bzw. der „Verteidigung ihres einmal erreichten Niveaus“.106 Mit seiner theoriepolitischen Neuausrichtung verband Dahrendorf die Hoffnung, „den Anspruch der Freiheit in das sogenannte Reich der Notwendigkeit“107 hineintreiben und ein „neues Verhältnis von heteronomer Arbeit und autonomer Tätigkeit“108 aufzeigen zu können. Damit verpflichtete er sich auf die kantische Idee eines „regulativen Fortschritts“, der „durchaus unterschiedliche Realitäten an moralischen Regeln [messe] und […] sowohl ____________________ 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108

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Dahrendorf, Lebenschancen, S. 7. Ebd., S. 21. Ebd., S. 27. Ebd., S. 71. Ebd., S. 70. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 250. Dahrendorf, Lebenschancen, S. 26. Ebd., S. 91. Ebd., S. 127. Ders., Der moderne soziale Konflikt, S. 217.

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Fortschritt als auch Rückschritt [kenne]“.109 Seine materialen Überzeugungen, „daß das Potential von Lebenschancen in gegebenen Gesellschaften oft größer“ sei, „als die bestehenden Strukturen erlauben“,110 und Geschichte als „ein ständiger, möglicherweise nie abgeschlossener Prozeß des (möglichen) Wachsens“111 verstanden werden müsse, waren nahezu deckungsgleich mit Habermas’ evolutionstheoretischer Pointe aus der zweiten Hälfte der 70er-Jahre. Überraschenderweise sprach Dahrendorf gegen Habermas in dieser Zeit aber den popperschen „Verdacht des Historizismus“ aus, weil er sich an dessen Versuch stieß, zwischen verschiedenen Rechtfertigungsniveaus im Geschichtsablauf „einen entwicklungslogischen Zusammenhang“112 herstellen zu wollen. Dieser Vorwurf war vor dem Hintergrund von Dahrendorfs eigener moralischer Wende völlig unverständlich, dürfte also vor allem der mangelnden Lektürebereitschaft eines vielbeschäftigten Wissenschaftsmanagers geschuldet gewesen sein. Denn Habermas suggerierte mit dem Kriterium der „Entwicklungslogik“ in seiner Evolutionstheorie jedenfalls „weder Unilinearität, noch Notwendigkeit, noch Kontinuität, noch Nichtumkehrbarkeit der Geschichte“,113 sondern zielte damit allein auf die Festsetzung eines „logischen Spielraum[s]“, in dem moderne Gesellschaften unter „kontingenten Randbedingungen“ zu „umfassendere[n] Strukturbildungen“114 kommen können. Diese Annahme konnte Dahrendorf, der in Lebenschancen ja selbst eine Reihe von „Argumente[n] für den moralischen Fortschritt“115 in der Geschichte in die Waagschale geworfen hatte, nicht ernsthaft kassieren wollen. Gleichwohl gestand Habermas zu Beginn der 80er-Jahre ein, mit seiner Evolutionstheorie „etwas Bauchschmerzen“ zu haben, lauerten hier doch „auf der einen Seite die II. Internationale und auf der anderen Seite der Luhmann, und drittens vielleicht sogar noch die Gespenster einer naturalisierten Geschichtsphilosophie“.116 Die Euphorie, die Dahrendorf früher noch dem Prinzip der „Marktrationalität“117 entgegengebracht hatte, wich dabei einer grundlegenden Skepsis ____________________ 109 110 111 112 113 114 115 116 117

Ders., Lebenschancen, S. 30. Ebd., S. 28. Ebd., S. 71. Ebd., S. 152f. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 154. Ebd., S. 155. Dahrendorf, Lebenschancen, S. 184. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 193. Dahrendorf, Konflikt und Freiheit, S. 240ff.

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gegenüber den Verheißungen einer ins Stocken geratenen Arbeits- und Leistungsgesellschaft insgesamt. Dahrendorfs Ausblick auf eine Gesellschaft der sinnvollen Tätigkeit, die an Marx’ philosophischen Frühschriften und Hannah Arendts Neo-Aristotelismus orientiert war, klang dabei im Sound utopisch: „Könnte es nicht sein“, fragte er Ende der achtziger Jahre, „daß das Prinzip der freien Tätigkeit zur treibenden Kraft einer anderen Welt wird?“118 Der nunmehr „einsame Liberale“119 erkannte den größten Fehler seines klassentheoretischen Ansatzes rückblickend in dem mangelnden „Bezug der Klassen auf Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte“.120 Die frühere These vom Primat der politischen vor der ökonomischen Herrschaft mochte vielleicht „als Resümee eines historischen Prozesses richtig“121 gewesen sein, mehr aber auch nicht. Während Habermas zeitgleich am Konzept der Lebenswelt feilte, spekulierte Dahrendorf über eine „Tiefenkultur“ moderner Ligaturen, die die Menschen untereinander mit der nötigen Solidarität ausstatten sollten, um „ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden“,122 ohne dabei „fundamentalistische Ansprüche“123 zu stellen. Seine Skizze einer modernen Gesellschaft, die für pathologische Nebenprodukte der Globalisierung wie „[e]xtremen Nationalismus und militante[n] Fundamentalismus“124 sensibel bleiben musste, beruhte auf einer kreativen Kreuzung von Tocqueville mit Marx, die „gar nicht so weit voneinander entfernt“125 seien. Die Zweckheirat „zwischen intellektuellem Neokonservatismus und Thatcherismus“126 war ihm ein Graus, weil sie die pathologischen Begleiterscheinung der Globalisierung und falsche Bindungen wie „[e]xtremen Nationalismus und militante[n] Fundamentalismus“127 noch begünstigte. Deshalb hatte Dahrendorf mittlerweile nur noch Verachtung für „jene negative Haltung“ übrig, „die sich liberal“ nenne, „aber tatsächlich kaum etwas anderes“ sei „als die Verteidigung der Positionsinteressen der Besitzenden“. Gegen den ehemaligen Stichwortgeber Hayek forderte er einen „aktive[n] Begriff der Freiheit“, der „keine Ruhe“ erlaube, ____________________ 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127

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Ders., Fragmente eines neuen Liberalismus, S. 186. Ebd., S. 78. Ebd., S. 248, Anm. 2. Ebd., S. 63. Ders., Der moderne soziale Konflikt, S. 41. Ebd., S. 8. Ebd., S. 76f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 249. Dazu auch Dahrendorf, Law and Order, S. 77. Ders., Der moderne soziale Konflikt, S. 76f.

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„bevor nicht alle Wege zur Erweiterung menschlicher Lebenschancen erkundet“128 seien. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hielt Dahrendorf an seiner skeptischen These vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters129 fest und nahm dabei auch Anleihen bei Habermas’ früheren Zeitdiagnosen. Zum Herzstück seiner Theoriepolitik stilisierte er im Rückgriff auf Amartya Sen den Kampf gegen „traditionelle Anrechtsstrukturen“, die es gegen den Widerstand einer besitzstandswahrenden „Mehrheitsklasse“ sukzessive aufzubrechen gelte, wenn „makroökonomisches Wachstum“ nur noch „wenig für die vielen“ 130 bedeute. Habermas war mittlerweile davon überzeugt, dass „eine immer noch von der arbeitsgesellschaftlichen Utopie zehrende Sozialstaatsprogrammatik“131 in globalisierten multikulturellen Einwanderungsgesellschaften ihre Strahlkraft eingebüßt habe. Abhilfe konnte hier auch kein „Neo-Neo-Keynesianismus“ schaffen, ganz zu schweigen von den grassierenden neoliberalen Patenrezepten, die allenfalls zu einer weltweiten Verschärfung sozialer Anomie führten.132 Dahrendorf sah die Moderne analog zu einer nachgerade berühmt gewordenen habermasschen Losung an einem Scheideweg, nachdem „Jahrzehnte des Wirtschaftswachstums und des sozialen Fortschritts in einer Periode der Unübersichtlichkeit“ geendet und die „Erfolge der Vergangenheit“ eine Reihe von Problemen geschaffen hätten, „die sich mit den bewährten Methoden nicht mehr lösen“133 ließen. 4.

Schlussbetrachtung

Im Kontext der Wiedervereinigung stieß sich Dahrendorf an der heimatversessenen Rhetorik des Einheitskanzlers Kohl, dem er die gänzlich unromantische Pointe entgegenhielt, dass die Demokratie immer noch „eine Regierungsform und kein Dampfbad für das Volksempfinden“134 sei. Habermas ____________________ 128 129 130 131 132 133 134

Ders., Lebenschancen, S. 61. Dazu ders., Das Elend der Sozialdemokratie. Ders., Der modernde soziale Konflikt, S. 35. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 147. Ebd., S. 182. Dazu auch ders., Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 256. Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, S. 207. Ders., Betrachtungen über die Revolution in Europa, S. 14.

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warnte gleichzeitig vor einer „Sogwirkung des nationalen Syndroms“.135 Auffällig ist, dass beide ihr Hauptaugenmerk angesichts der populistischen Anfechtungen der liberalen Demokratie jetzt zunehmend auf den Rechtsstaat verlagerten. Das war bei Dahrendorf insofern interessant, als er die notorisch schwache Stellung des liberalen Prinzips in Deutschland in den 60er-Jahren noch maßgeblich auf die historische Ausnahmestellung der „deutschen Juristen“ im deutschen Gesellschaftsgefüge zurückgeführt hatte. Diese hätten doch „den Rechtsstaat durch alle Versionen und Perversionen seiner Gestalt in den letzten hundert Jahren begleitet“.136 In den frühen Nullerjahren gelangte er hingegen zu der „melancholischen Schlussfolgerung, dass wir manche Probleme, die sich heute stellen, eher durch die internationale Ausweitung des Rechtsstaates lösen können als durch den Aufbau scheinbar demokratischer Institutionen in neuen, größeren politischen Räumen“.137

Dahrendorfs Nähe zu Habermas offenbarte sich dabei nicht allein an seinem Plädoyer für eine „Weltbürgergesellschaft“, die von der Schaffung effektiven internationalen Rechts und der Stärkung internationaler Organisationen mit Anrechtscharakter abhänge,138 sondern auch an seiner Bekräftigung der mit Habermas’ Losung vom Verfassungspatriotismus verbundenen Einsicht, „daß es beim Nationalstaat um die Verfassung und die Herrschaft des Rechts“ gehe, „lange bevor das Nationaleinkommen aufgerechnet wird und die Dämpfe des Nationalgefühls hochsteigen“.139 Habermas schien ein kosmopolitisch erweiterter Konstitutionalismus gebotener denn je: „Gegenüber der pubertären Phantasie, Freund-Feind-Verhältnisse außerrechtlich zu ritualisieren, ist der energische Versuch eines ersten Schrittes zur effektiven Verrechtlichung des Naturzustandes zwischen den Staaten der pure Realismus. Was sonst?“140

Freilich konnte es der Polemiker Dahrendorf trotzdem nicht lassen, seinem späten Freund Habermas noch zu dessen 60. Geburtstag das Laster vorzuhalten, „[a]us seinem Kant […] immer wieder ein[en] kleine[n] Rousseau“141 herauszulassen. Aus dem hegelmarxistischen war mittlerweile ____________________ 135 136 137 138 139 140 141

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Habermas, Die nachholende Revolution, S. 164. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 260. Ders., Die Krisen der Demokratie, S. 12. Ders., Der moderne soziale Konflikt, S. 284ff. Ders., Betrachtungen über die Revolution in Europa, S. 124. Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, S. 115. Dahrendorf, Zeitgenosse Habermas, S. 482.

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aber ein liberaler Radikaldemokrat geworden, wenngleich kein glühender Liberaler. Mit dem Projekt einer „radikalen Demokratisierung“ verband Habermas nicht mehr „schlechthin die ‚Aufhebung‘ eines kapitalistisch verselbständigten Wirtschafts- und eines bürokratisch verselbständigten Herrschaftssystems“, sondern nur mehr die „demokratische Eindämmung der kolonialisierenden Übergriffe der Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche“.142 Gleichzeitig revidierte er seine frühere Kritik am Liberalismus Tocquevilles und J. St. Mills, sei beiden im Nachhinein doch noch zuzustimmen, wenn sie „die öffentliche Meinung allenfalls als gewalteinschränkende Instanz zulassen [wollten], keineswegs als ein Medium der möglichen Rationalisierung von Gewalt überhaupt“.143 Konträr zu seiner These einer „Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie“144 war Habermas noch in der Theorie des kommunikativen Handelns davon ausgegangen, „[a]n die Stelle des als Medium benutzten Rechts“ müssten angesichts der fortschreitenden Bürokratisierung und Monetarisierung der Lebenswelt flexiblere „Verfahren der Konfliktregelung treten, die den Strukturen verständigungsorientierten Handelns angemessen“145 seien. Seine politiktheoretischen Komplementärschriften über Faktizität und Geltung und Die Einbeziehung des Anderen stellten nunmehr den Versuch dar, eine durchaus affirmative Perspektive auf den Rechtsstaat zu eröffnen, um einem „autoritären Legalismus“146 dezisionistischer, rechtspositivistischer und naturrechtlicher Provenienz das Wasser abzugraben. Dass die deliberative Demokratie allein innerhalb des Rechtsstaats verwirklicht werden konnte, stand für Habermas längst außer Frage, oder wie er es später formulierte: „Die demokratische Idee der Selbstgesetzgebung muß sich im Medium des Rechts selbst Geltung verschaffen.“147 Im Unterschied zum „skeptischen Europäer“148 Dahrendorf forderte Habermas noch im Jahr der Deutschen Einheit einen „europäische[n] Verfas____________________ 142 143 144 145 146 147 148

Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 36. Ebd., S. 32. Ders., Faktizität und Geltung, S. 135. Ders., Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 544. Ders., Die neue Unübersichtlichkeit, S. 91. Ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 301. Dahrendorf, Warum EUropa? Nachdenkliche Anmerkungen eines skeptischen Europäers.

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sungspatriotismus“, der „aus verschiedenen nationalgeschichtlich imprägnierten Deutungen derselben universalistischen Rechtsprinzipien zusammenwachsen“149 solle. Interessant nahm sich daran auch das mittlerweile implizit mitgeführte elitentheoretische Argument aus: Habermas erhoffte sich von einer verfassungsmäßigen institutionellen Vertiefung der Europäischen Union im Geiste Tocquevilles „eine induzierende Wirkung“,150 damit sich auf lange Sicht ein inklusions- und integrationsfreundlicher Sozialcharakter innerhalb der Mitgliedsstaaten kollektiv ausbreiten werde. An dieser idealistischen Idee einer demokratischen Konstitutionalisierung Europas hielt er bis zuletzt demonstrativ fest. Folglich hat Habermas vor wenigen Jahren noch einmal darauf hingewiesen, er verteidige die Umstellung der „europäische[n] Einigung von einem Elitenprojekt auf den Bürgermodus“ nun „seit mehr als zwei Jahrzehnten“.151 Hinter dem technokratischen „‚Exekutivföderalismus‘“ auf europäischer Ebene witterte er „die Scheu der politischen Eliten, das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der breiten Öffentlichkeit umzupolen“.152

Aus dem Abstand eines Vierteljahrhunderts lässt sich heute nur mehr mit Wehmut verfolgen, wie sich seine demokratietheoretischen Hoffnungen „im Dampfbad des Volksempfindens“ (Dahrendorf) sukzessive auflösen. Weil Habermas im Vorwort zu Faktizität und Geltung selbst „eine oft verkannte pluralistische Anlage der Theorie des kommunikativen Handelns“ verdeutlicht hat, die „sich in den vorgefundenen Argumentationskontexten bewähren“153 müsse: Im Zeitalter eines postfaktischen Populismus bewährt sie sich denkbar schlecht. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Soziologie, 2012. Ders.: Ästhetische Theorie, 1973. Ders.: Einleitungsvortrag. In: ders. (Hrsg.): Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, 1969, S. 12-26.

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Habermas, Faktizität und Geltung, S. 651. Ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 191. Ders., Im Sog der Technokratie, S. 86, Fn. 2. Ders., Zur Verfassung Europas, S. 43. Ders., Faktizität und Geltung, S. 9.

Unwahrscheinliche Weggefährten Ders.: Soziologie und empirische Forschung. In: ders. et al.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969, S. 81-101. Ders./Horkheimer, Max: Briefwechsel. Bd. IV: 1950-1969, 2006. Ders. et al.: Protokoll der Diskussion. In: ders. (Hrsg.): Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, 1969, S. 100-116. Brandt, Willy: Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag in Bonn vom 28. Oktober 1969, unter www.willy-brandt.de/fileadmin/brandt/Downloads/Regierungs erklaerung_Willy_Bramdt_1969.pdf (letzter Zugriff am 05.03. 2017). Dammann, Klaus (Hrsg.): Wie halten Sie’s mit Außerirdischen, Herr Luhmann. Nicht unmerkwürdige Gespräche mit Niklas Luhmann, 2014. Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der Rolle, 2010. Ders.: Über Grenzen. Lebenserinnerungen, 2003. Ders.: Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Polito, 2002. Ders.: Warum Europa? Nachdenkliche Anmerkungen eines skeptischen Europäers, Merkur 568, 1996, S. 559-577. Ders.: Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, 1994. Ders.: Betrachtungen über die Revolution in Europa in einem Brief, der an einen Herren in Warschau gerichtet ist, 1990. Ders.: Zeitgenosse Habermas, in: Merkur 484, 1989, S. 478-487. Ders.: Das Elend der Sozialdemokratie, Merkur 466, 1987, S. 1021-1038. Ders.: Fragmente eines neuen Liberalismus, 1987. Ders.: Law and Order, 1985. Ders.: Soziale Klassen und Klassenkonflikt: Zur Entwicklung und Wirkung eines Theoriestücks. Ein persönlicher Bericht, Zeitschrift für Soziologie 3, 1985, S. 236-240. Ders.: Die neue Freiheit. Überleben und Gerechtigkeit in einer neuen Welt, 1980. Ders.: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, 1979. Ders.: Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft, 1972. Ders.: Herrschaft, Schichtung und soziale Klassen. In: Adorno, Theodor W. (Hrsg.): Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, 1969, S. 88-99. Ders.: Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik. Sieben Reden und andere Beiträge zur deutschen Politik 1967-1968, 1968. Ders.: Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, 1967. Ders.: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965. Ders.: Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika, 1963. Ders.: Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, 1961. Ders.: Class and Class Conflict in Industrial Society, 1959. Ders.: Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, 1957. Ders.: Marx in Perspektive. Die Idee des Gerechten im Denken von Karl Marx, 1952.

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Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie Astrid Séville

1.

Einleitung

Die Eurozonenkrise verlieh der Debatte um das Verhältnis zwischen Demokratie und Technokratie neue Fahrt. Fachwelt, Feuilleton und Bürger diskutierten, ob sich die EU endgültig als technokratisch entpuppt habe,1 wir allgemein mit einer „Expertifikation“ politischer Entscheidungsprozesse konfrontiert seien2 und undemokratische Entscheidungsgremien wie Gerichte, Zentralbanken und Expertenkommissionen größere Macht erlangt hätten.3 Verteidiger dieser Entwicklung wie etwa der Neo-Technokrat Helmut Willke entgegnen,4 man müsse Parteipolitik, politische Irrationalität und Ergebniskontingenz begrenzen. Eine langfristige Perspektive der Handelnden ohne steten Blick auf Wiederwahl, ihre Vernunft, Expertise und Sachlichkeit dienen hier als produktives Gegengewicht zur Demokratie, in der Politiker doch strukturelle Opportunisten seien und im kurzweiligen Zyklus politischer Legislaturperioden agierten. Doch vor allem populistische Bewegungen fordern heute eine als „technokratisch“ inkriminierte Politik heraus. Populisten setzen nicht länger auf Verfahren kompromissorientierter Verhandlung und parlamentarischer Repräsentation oder auf sachliche Richtigkeit. Stattdessen berufen sie sich auf einen „wahren Volkswillen“. Einige dieser Parteien, wie etwa die deutsche AfD, wenden sich gegen die vorgebliche Alternativlosigkeit des etablierten Parteiensystems – und tatsächlich sahen wir in den letzten Jahren den Auf-

____________________ 1 2 3 4

Vgl. Mair, Ruling the Void. Vgl. Weingart, Scientific Expertise; Majone, Rethinking the Union of Europe Post-Crisis. Vgl. Vibert, The Rise of the Unelected; Olsen, Governing through Institution Building. Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion.

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Astrid Séville

schwung einer Diskursstrategie, die demokratische und deliberative Verfahren tendenziell verschleierte bzw. verhinderte.5 Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel rechtfertigte etwa mit dem sogenannten TINASlogan („There is no alternative“) den griechischen Bailout und die rigide Sparpolitik in Europa. Auch diese Redeweise gilt vielen als „technokratisch“.6 Demokratie scheint in einer Zwickmühle zwischen technokratischer Aushöhlung und populistischer Bedrohung. Während der TINA-Slogan in der angelsächsischen Welt gemeinhin mit Margaret Thatcher und ihrer neoliberalen sowie neokonservativen Politik assoziiert wird, verbindet die deutsche Debatte „Alternativlosigkeit“ sowohl mit einem Glauben an wirtschaftliche Liberalisierung und Vermarktlichung als auch mit der Debatte um eine technokratische Regierungsweise im Namen von Sachzwängen. Dabei verweist das Schlagwort „Sachzwang“ auf eine Kontroverse der Nachkriegszeit: Sachzwang war ein Schlüsselbegriff der Debatte um technokratische Politik bzw. Politik in einem „technischen Staat“,7 die von dem Soziologen Helmut Schelsky Anfang der 1960er befeuert und unter anderem von Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf aufgegriffen wurde. Nicht nur in dieser Konstellation wurde Schelsky die Rolle eines antidemokratischen Entpolitisierers zuteil, der dem Staat den Schein ideologiebefreiter Herrschaftslosigkeit verleihen wollte8 und der einer liberalen Konfliktkultur im Namen von Nivellierung, Sachzwang oder Sachlichkeit entgegenarbeitete.9 Selten spielte Schelsky die Rolle eines emanzipatorisch gesinnten, liberalen Denkers, wurde er doch dem technokratischen Konservatismus zugeordnet. Allerdings verortete er sich selbst Mitte der 1970er als „klassisch liberal“, und das trotz seines Unbehagens an den „immer gröberen Begriffskeulen“10 des 19. Jahrhunderts: „Inzwischen habe ich an dieser Kennzeichnung Geschmack gewonnen: Wenn man schon dem etikettierenden Denken Beschilderungen anbieten muß, dann fühle ich mich in der Absicht, die klassischen Überzeugungen des Liberalismus von Kant und Wilhelm von Humboldt, von Adam Smith und J.S. Mill für die Gegenwart und innerhalb der modernen Gesellschaftsstruktur wieder zu aktualisieren, am wenigsten mißverstanden.“11

____________________ 5 6 7 8 9 10 11

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Vgl. Séville, „There is no alternative“. Münkler, Mürrische Gelassenheit. Vgl. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. Vgl. Habermas, Technik und Wissenschaft. Vgl. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, S. 527. Ders., Der selbständige und der betreute Mensch, S. 10.

Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie

Es fragt sich, was es mit diesem „Liberalismus“ Schelskys auf sich hat. Ist diese Selbstverortung überhaupt plausibel und inwiefern kann Schelskys Position für die heutige Zwickmühle der Demokratie lehrreich sein? Die Motive und Ziele eines Autors wie Helmut Schelsky geraten dank der zunehmenden ideen- und intellektuellengeschichtlichen Aufarbeitung der deutschen Nachkriegszeit wieder in den Blick.12 Sein Verständnis von Staatlichkeit in der Industriegesellschaft, seine Sicht auf die Folgen von Technisierung und Verwissenschaftlichung sowie seine Erörterungen zu Demokratie, Technokratie, Ideologie und fehlender Sachlichkeit moderner Politik lohnen sich wiederzuentdecken. So kann gerade Schelskys 1961 entwickeltes Modell eines „technischen Staates“ und einer Politik unter dem Diktat des „Sachzwangs“ die eingangs zitierten Diskussionen um Technokratie, Alternativlosigkeit und Demokratie erhellen. Schelskys „technischer Staat“ wurde als Apologie technischer Rationalität und einer ideologiebefreiten Politik der Sachzwänge gedeutet und als weiterer Nachweis seines demokratiefernen, antiliberalen Politikverständnisses verstanden. Die nachstehende Analyse will hingegen nicht nur die in diesem Text verborgenen politiktheoretischen Potenziale und politischen Leitgedanken freilegen, sondern auch fragen, ob es sich bei Schelsky tatsächlich um einen Advokaten einer technokratischen Regierung – und also um einen antidemokratischen Winkeladvokaten – handelt. Im Folgenden wird argumentiert, dass seine Ideologie der Ideologielosigkeit einem bürgerlich-liberalen Impuls entsprang. Der Soziologe justiert seine Perspektive und Haltung im Laufe der Zeit: von einer Kultur der Skepsis zu einem Modell des technischen Staats bis hin zu einem mitunter polemischen, aber sich selbst als liberal verstehenden Plädoyer für eine Politik, die sachlich und rational entscheidet, die Selbständigkeit des Individuums priorisiert, Freiheit als politischen Wert hochhält und stets Verwaltung und wissenschaftliche Expertise einbezieht. Dies, so die These, entpuppt sich in der Rückschau als normative Konsequenz von Schelskys kontrafaktischer Sachzwang-These.

____________________ 12

Vgl. z.B. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft; Hacke, Die Bundesrepublik als Idee; Felsch, Der lange Sommer der Theorie; Wöhrle, Zur Aktualität von Helmut Schelsky.

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2.

Konservative Modernisierung und modernisierter Konservatismus in Nachkriegsdeutschland

Im kollektiven Gedächtnis der Westdeutschlands wirken die Nachkriegsjahrzehnte als eine Zeit des „Wirtschaftswunders“, der allmählichen Liberalisierung und Demokratisierung nach; Nachgeborene imaginieren sie entweder als ein sozioökonomisches Arkadien vor dem vermeintlichen Verfall der Demokratie in postdemokratische und neoliberale Zustände oder tun sie als eine Zeit staubiger Restauration ab. Im Deutschland der Nachkriegszeit fand schließlich Modernisierung unter konservativen Vorzeichen statt.13 Für den technokratischen Konservatismus fungierte die „Bonner Republik“ als politischer Resonanzraum. Neben den spezifischen theoretischen, also juristischen, soziologischen oder philosophischen Arbeiten des technokratischen Konservatismus zeugen die politischen Interventionen seiner Autoren von einer Identitätssuche des neuen deutschen Staats. Vor allem Ernst Forsthoff, Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky adressierten entscheidende Fragen der Zeit: Welche Bezugsgrößen gäbe es für einen Staat, der weder ein leidenschaftliches Verständnis politischer Bürgerschaft aktivieren, noch heroischen Gemeinsinn oder emphatische, ideologische Identifikation seiner Bürger mit staatlichen Institutionen einfordern konnte? Wie ließe sich Vergangenheit und Tradition als Ressource konservativen Denkens reklamieren, wenn doch die turbulente deutsche Geschichte unter dem Weckruf einer „Stunde Null“ hinter sich gelassen werden sollte, zumindest aber stetige, strapaziöse Differenzierung erforderte? Die Bürger sollten ja liberale und demokratische Werte erlernen und verinnerlichen. Die Vertreter des technokratischen Konservatismus suchten eine Antwort auf diese Fragen und diskutierten hierbei die Folgen von Rationalisierung, Bürokratisierung und Mechanisierung sowie die Dimensionen des Wohlfahrtsstaats. Wohlfahrt, kritisierten sie, fungiere als politisches Substitut, um einen Staat zu legitimieren, der nicht länger eine sittliche Idee im Sinne Hegels verwirklichte. Forsthoff suchte nach einer Staatstheorie für den neuen Staat und fand doch nur instrumentelle Rationalität.14 Der Staat schaffe sozialen Zusammenhalt und Gehorsam, indem er Wohlfahrt und Sicherheit bereitstelle; das Individuum sei abhängig von einem System der Daseinsvorsorge, ____________________ 13 14

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Vgl. Müller, Another Country, S. 33. Vgl. Forsthoff, Die Bundesrepublik Deutschland, S. 812.

Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie

ohne das es den Alltag nicht länger bestreiten könne.15 Freyer diagnostizierte in anthropologisch-soziologischer Reflexionsarbeit ein „sekundäres System“, das in die Lebenswelt eingreife.16 Gehlen kritisierte den Sozialstaat als „pleasure dome“17 und den Verlust an Gemeinsinn. Er formulierte seine Theorie des Menschen als Mängelwesen und entdeckte eine „Superstruktur“ von Wissenschaft, Technik und Industrie, die einen „Apparat“ in der rationalisierten Gesellschaft forme.18 Schelsky wiederum sprach von objektiven Sachgesetzlichkeiten im wissenschaftlich-technischen Zeitalter. Jene Autoren begriffen die Moderne somit als einen „Verstrickungszusammenhang“,19 als ein stählernes Gehäuse von Rationalisierung. Nebenbei verwarfen sie eine Kernannahme marxistischer Gesellschaftskritik: Man könnte den Sachgesetzlichkeiten des modernen Zeitalters nicht entkommen, indem man die Produktionsverhältnisse oder das sozial-wirtschaftliche System ändere. Jene Gesetzlichkeiten seien geradezu der Kern der Moderne. Statt auf ein Emanzipationsprogramm setzten Gehlen, Schelsky und Co. rechtshegelianisch auf Institutionen und auf die schwierige Aufrechterhaltung sozialer und politischer, bürgerlicher Ordnung. Forsthoff, Freyer, Gehlen und Schelsky bejahten die moderne Wissenschaft sowie Wandel und Fortschritt. Technik wurde als eine konstituierende Kraft der Industriegesellschaft begriffen. Zugleich kritisierten sie Phänomene kultureller Modernisierung, vor allem Individualismus und Pluralismus. Daher schlussfolgert Jens Hacke, dass jene Autoren einen „modernitätsoffenen Konservatismus“ zur Schau stellten.20 Doch der Optimismus einer emanzipatorisch gewendeten Fortschrittserzählung war verflogen. 3.

Schelskys Wirklichkeit. Zwischen kongenialen Schlagworten und empirischer Analyse

Helmut Schelsky wurde 1912 in Chemnitz geboren und verstarb 1984 in Münster. Nach einem Studium der Geschichte, Pädagogik, Philosophie und Soziologie an den Universität Königsberg und Leipzig arbeitete er zunächst ____________________ 15 16 17 18 19 20

Vgl. ders., Der Staat der Industriegesellschaft; Kersten, Daseinsvorsorge; Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Vgl. Freyer, Schwelle der Zeiten. Gehlen, Diskussion, S. 203. Vgl. ders., Die Seele im technischen Zeitalter. Vgl. Séville, „There is no alternative“, S. 51. Hacke, Der Intellektuelle und die Industriegesellschaft, S. 233.

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als Assistent Arnold Gehlens. 1940 habilitierte er sich mit einer Arbeit zu Thomas Hobbes21 und ging zu Hans Freyer an die Universität Budapest. Nach Kriegsende und Verwundung als Wehrmachtssoldat baute er zunächst den Suchdienst des Roten Kreuzes auf und bekleidete daraufhin Professuren in Hamburg, Bielefeld und Münster. Schelsky sollte man in seinem Einfluss auf Debatten der jungen Bonner Republik nicht unterschätzen. Er formulierte prominente Schlagworte zur deutschen Gesellschaft wie etwa „die skeptische Generation“22 und „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, 23 die sich hervorragend als politisch opportune Selbstbeschreibung der Republik des Wirtschaftswunders eigneten. Das Konzept der „skeptischen Generation“ akzentuierte die Idee, dass nach der politischen Desillusionierung durch das totalitäre Nazi-Regime und angesichts der Reeducation-Programme der Alliierten die davon betroffene Generation jeglicher ideologischen Orientierung beraubt war und schließlich Ideologien an sich zu misstrauen gelernt hatte. Somit sei sie gegenüber politischem Engagement und Eifer skeptisch. Mit dem Schlagwort der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ diagnostizierte der Soziologe, dass Deutschland eine Mittelstandsgesellschaft ohne grundlegende Klassenkonflikte geworden sei. Ein Jeder begreife sich allmählich als Teil des Mittelstands – dieser gesellschaftliche Wandel sei, so Schelsky, durch wirtschaftlichen Wandel und Einebnung sozialer Hierarchien erfolgt. Das nationalsozialistische Regime, der Verlust an Staatsgebiet, an privatem Reichtum und Besitzständen hatten den Weg für diese Entwicklung geebnet. Ralf Dahrendorf kritisierte diesen Befund als tendenziös; er diene dazu, real existierende Klassenkonflikte, soziale Spaltungen und Unterdrückungsverhältnisse zu negieren, zumindest aber außer Sicht zu manövrieren. Schelsky verlängere die „deutsche Ideologie“ von Einheit, Homogenität und sozialer Befriedung zu Ungunsten einer als produktiv zu begreifenden politischen Konfliktkultur.24 Doch sollte Schelsky in einem Recht behalten: Es erfolgte eine gewisse sozioökonomische Nivellierung. Ulrich Becks „Fahrstuhleffekt“ griff diesen Umstand später ebenso schlagkräftig auf. Und bis heute orientiert sich Sozialpolitik in Deutschland an dem Ideal einer sozialen Mittellage. Die ____________________ 21 22 23 24

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Schelsky, Thomas Hobbes. Vgl. Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit. Vgl. ders., Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 148. Dazu auch der Beitrag von Matthias Hansl in diesem Band.

Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie

„Mitte“ ist eine zentrale Diskursfigur deutscher Politik, um sich gegen konservative Fantasien von der autoritären Elite und linke Ideen politischer Masse abzugrenzen.25 Treffenderweise nannte sich Schelsky selbst einen „Argumentationslieferanten“26 und begriff sich zugleich als „Anti-Soziologe“.27 Seine Ressentiments gegen die eigene Profession fanden ein Vorspiel in seiner wissenschaftstheoretischen Positionierung: Neben seinen öffentlichen politischen Interventionen deklarierte Schelsky eine Wendung zur „Realität“.28 Auf seiner proklamierten „Suche nach Wirklichkeit“ insistierte er auf einer faktenorientierten, empirischen Analyse von Gesellschaft und Sozialstruktur und veröffentlichte Studien etwa zum Wandel der Sexualität, der Familie, zu Jugendarbeitslosigkeit etc. Doch statt Strukturen fernab sozial- oder politiktheoretischer Ambition zu beschreiben, diskutierte er immer wieder eine Transformation des Politischen, einen allgemeinen Werte- bzw. Verhaltenswandel und integrierte seine Analysen in weitgefächerte theoretische Zusammenhänge. Seinem Modell der „Wirklichkeitswissenschaft“ lag nämlich das Schlüsselkonzept von Wirklichkeit als einer „regulative[n] Idee“29 zugrunde – Realität muss interpretiert werden. Schelsky war nicht nur auf der Suche nach Wirklichkeit, sondern zunehmend auch nach „Wirklichkeitskontrolle“.30 Im Anschluss an Freyers Konzeptualisierung interessierte sich Schelsky für „Humantechniken“31 und ihre sozialen Akteure: Intellektuelle, Publizisten, Sozialwissenschaftler, Techniker.32 Nahezu all seine Analysen artikulierten eine grundlegende Spannung: Freiheit versus Planung, versus paternalistische Bevormundung in einem „betreuenden Staat“, versus „Priesterherrschaft“ der Intellektuellen, versus Demokratie und versus Sachzwänge. Auch sein Modell des „technischen Staats“ artikulierte letztlich das Problem freier politischer Entscheidungen im Angesicht von Sachzwängen, Gesetzlichkeiten und Einschränkungen. Seine Sorge um Freiheit war auch hier der Impuls, von dem aus Schelsky argumentierte. In der dokumentierten ____________________ 25 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. nur beispielhaft: Münkler, Maß und Mitte. Schelsky, Der „Begriff des Politischen“, S. 330. Ders., Rückblicke eines „Anti-Soziologen“. Vgl. ders., Ortsbestimmung der deutschen Soziologie; ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit; ders., Rückblicke eines „Anti-Soziologen“. Albrecht, „Soziale Wirklichkeit“, S. 53. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, S. 122. Ders., Wie bewältigen wir den technischen Fortschritt, S. 33. Vgl. Barheier, Arnold Gehlens Theorie des technischen Zeitalters.

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Diskussion seines Vortrags zum technischen Staat nannte er als seine eigentliche, implizite Fragestellung: „Welche Freiheit hat der Mensch noch gegenüber diesen Sachzwängen der wissenschaftlichen Zivilisation? Meine Darstellung lief zunächst auf die Antwort hinaus: Offensichtlich immer weniger, gemessen an alten Vorstellungen […] Und trotzdem habe ich ja selbst den ganzen Vortrag hindurch diese ‚Freiheitsfrage‘ gestellt, da ich überzeugt bin, daß es möglich und notwendig ist, auch diesen Entwicklungen gegenüber wiederum den Punkt der Freiheit zu finden und zu begreifen.“33

4.

Der technische Staat als dystopisches Modell

In Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation untersuchte Schelsky die Rolle technischer und wissenschaftlicher „Sachzwänge“ auf Leben und Politik in der Moderne und diskutierte eine drohende Aushöhlung demokratischer Politik. Er selbst verdeutlichte, dass er „modellhaft die Ratio eines rein ‚technischen Staates‘ entwickeln“ wolle. Es handelte sich um ein im Weber’schen Sinne idealtypisches Modell, von dem er selbst meinte: „[S]elbstverständlich trifft das nicht die Wirklichkeit unserer gegenwärtigen Staaten“; es „hebt Strukturgesetzlichkeiten ans Licht, die meinem Urteil nach zugleich Entwicklungstendenzen darstellen.“34 Webers drei Modelle legitimer Herrschaft, also charismatische, traditionale und legal-bürokratische, ergänzte Schelsky um einen vierten Geltungsgrund, der Webers Ansatz eines wertrationalen Herrschaftsglaubens ins Technische wendete.35 So sei im „technischen Staat“ Staatsraison „nichts anderes als der Sachzwang der vielfachen Techniken, mit denen der Staat sich heute verwirklicht.“36 Schelsky formulierte die Souveränitätsdefinition Carl Schmitts zugunsten seines radikal antidezisionistischen Politikbegriffs um: „[S]ouverän ist, wer über die höchste Wirksamkeit der in der Gesellschaft angewandten wissenschaftlich-technischen Mittel verfügt“.37 Politik im technischen Staat bzw. demokratisches Regieren würden somit obsolet.38 Entgegen James Burnhams These einer „Managerherrschaft“ sei personale Herrschaft desavouiert, denn auch machtlose Manager führten nur aus, „was ____________________ 33 34 35 36 37 38

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Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 474. Ebd., S. 455. Vgl. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 319. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 455. Ebd. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 456.

Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie

sich im Widerspiel von Apparaturgesetzlichkeit und jeweiliger Lage als Sachnotwendigkeit ergibt“.39 Indem die Akteure einer solchen Apparatur Marionetten blieben, seien sie austauschbar, ob nun Parteienvertreter, Parlamentarier oder Manager – Herrschaft selbst sei abgeschafft.40 Schelsky beschrieb hiermit einen fiktiven Zustand politischer Herrschaftslosigkeit und das Ende politischer Entscheidungen. Sein „technischer Staat“ formulierte die technokratische Version der Utopie vom Ende der Politik. Es handelte sich um kein konservatives Plädoyer für einen autoritären, starken Staat. Wollte man eine Analogie zu neuzeitlichen Vertragstheorien bemühen, könnte man zuspitzen, dass er eine spiegelbildliche Fiktion zum herrschaftslosen Naturzustand verfasste: einen Zustand totaler Zivilisierung durch Rationalisierung und Technisierung. So folgten Politiker technisch und wissenschaftlich komplexen Gesetzlichkeiten und Zwängen; „Sachgutachten“ würden politische Handlungsund Entscheidungsspielräume auf die Auswahl des politisch opportunen Gutachtens samt Politikempfehlungen reduzieren. In der damit angesprochenen Konfliktlage zwischen Expertokratie und demokratischer Politik kam Schelsky zu dem Schluss, dass der bisherige Entscheidungsspielraum der Politik lediglich ein temporäres Problem sei: „Je besser die Technik und Wissenschaft, um so geringer der Spielraum politischer Entscheidung“.41 So sei es nur eine Frage des Fortschritts von Wissenschaft und Technik, die interne Fraktionierung von Fachleuten und die Optionalität politischen Handelns aufzuheben; Experten und Techniker kämen auf lange Sicht zu Konsens und zu eindeutigen Handlungsanleitungen. Doch was Schelsky verkannte: Expertise substituiert nicht, sondern komplementiert Politik. Bei ihm finden wir die Idee des „one best way“, die einer „projektiven Konsenstheorie unzweideutiger Sachzwänge“42 gleichkam. Der Soziologe saß einer Illusion wissenschaftlicher Eindeutigkeit auf. Mit Aaron Wildavsky kann man dieses Wissenschaftsverständnis in der Ära von ‚Big Science‘ (Alvin M. Weinberg) und die Vorstellung einer evidenzbasierten und also konsensorientierten Politikberatung mit „science speaking truth to power“ umschreiben.43 Bei Schelsky müsste man angesichts des eigentümlich zwanglosen Zwangs der evidenten Lösung korrigieren: „science speaking constraint to power“. ____________________ 39 40 41 42 43

Ebd., S. 457; vgl. Burnham, The Managerial Revolution. Vgl. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 457. Ebd., S. 458. Saretzki, Technokratie, S. 365. Vgl. Wildavsky, Speaking Truth to Power.

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5.

Vom Modell zur politischen Haltung: Sachlichkeit im Dienste der Demokratiekritik

Was hat nun dieses dystopisch anmutende Modell des „technischen Staats“ mit Schelskys politischem Denken, geschweige denn mit seinem „Liberalismus“ zu tun? Handelt es sich um mehr als ein provokatives Gedankenexperiment jenseits politischer Aussagekraft? Schelsky sah einen Konflikt zwischen politischen Interessen und einer jeweils „optimale[n] Sachlösung“;44 er erkannte ein Spannungsverhältnis zwischen dem „technische[n] Staat und dem ‚Staat der Interessengruppen‘“.45 Nicht demokratisch gewählte Politiker, sondern „Fachleute“ hätten im Zeitalter vollendeter Technisierung und Verwissenschaftlichung ein allgemeines Interesse im Blick – Gemeinwohlorientierung korreliere folglich mit wissenschaftlich-technischer Rationalität und interessenneutraler Sachlichkeit. Ein Leitgedanke in Schelskys Denken wird deutlich: In der modernen Industriegesellschaft wird Sachlichkeit zum Substitut des öffentlichen Vernunftgebrauchs. In diesem Zusammenhang ist Schelskys Beschreibung des Zeitgeists von 1961 instruktiv: Die öffentliche Meinung habe sich „zugunsten einer sich sachlich-technisch als beste Lösung empfehlenden Position“ verschoben, „während ‚politische‘ Lösungen häufig prinzipiell als ‚Korruption‘ angesehen werden“.46 Schelsky beschrieb hier mit kritischem Gestus die Diskreditierung interessengeleiteter Politik im Namen einer epistemischen Wahrheits- bzw. Evidenzsuche; politische Autorität werde durch den Autoritätsglauben an Wissenschaft und Technik unterhöhlt. Er erkannte zwei problematische Resultate: „die Politikferne der Jugend“ und „das Bedürfnis, politische Streitfragen vor ‚sachliche‘ Entscheidungsinstanzen (Gerichte, Schiedsurteile usw.) zu bringen“.47 „Der ‚technische Staat‘ entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz.“48 Schelsky problematisierte diese Entwicklungen, er sah die Möglichkeiten und Gefahren eines Bedeutungsverlusts des demokratischen, parlamentarischen Prozesses der Entscheidungsfindung sowie politischer Entmündigung. Gegen jene „Entwicklungstendenzen“ setzte der Soziologe aber nicht wie Carl Schmitt auf ein Umschalten parlamentarischer auf plebiszitäre ____________________ 44 45 46 47 48

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Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 458. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 459.

Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie

Herrschaft oder auf eine Ausweitung von Demokratie. Die Urteilsbildung des Bürgers werde nämlich paternalistisch angeleitet, geradezu publizistisch manipuliert, und die Struktur der Sachverhalte verunmögliche schließlich ein rein demokratisches Entscheiden und Regieren, da „die Sachverhalte, die es zu entscheiden gilt, ja gar nicht mehr von einer vernünftigen Urteilsbildung des normalen Menschenverstandes oder einer normalen Lebenserfahrung her angemessen intellektuell zu bewältigen sind, so daß immer mehr ‚Informationen‘ erforderlich sind, jede sachlich tiefer gehende Information aber die politische Urteilsbildung eher suspendiert als erleichtert. Die Gefahr einer Entpolitisierung und d.h. zugleich Entdemokratisierung der Staatsbürger durch Überinformation ist längst aktuell.“49

Richtigerweise bedarf Urteilsbildung nicht nur der Möglichkeit, etwas intellektuell zu durchdringen, sondern auch der Überschaubarkeit und Begrenzbarkeit des Meinungs- und Willensbildungsprozesses. Statt also auf demokratische Ausweitung der demokratischen Kampfzone zu bauen, verunmöglichte die moderne Industriegesellschaft für Schelsky nachgerade rationale Bürgerbeteiligung oder die von Habermas anvisierte deliberative Debattenkultur. Spekulierte Schelsky zu Beginn der 1960er noch auf die Suggestivkraft und Plausibilität seiner Thesen, wurde sein Modell angesichts politischer Entwicklungen und Polarisierung hinfällig. Zwar ließen sich Prozesse der Verwissenschaftlichung von Politik erkennen, doch führten diese keineswegs zu einer substanzlosen, expertokratischen Demokratie.50 Neue, die politische Wirklichkeit in den Blick nehmende Perspektiven waren notwendig, um aus der argumentativen Sackgasse eines technischen Staats als ‚selffulfilling prophecy‘ herauszukommen und sich angesichts der manifesten „Reideologisierung des politischen Meinungsstreits“51 zu positionieren. Schelsky konnte sich einen Prozess wie bürgerschaftliche Deliberation unter den von ihm diagnostizierten Umständen nicht vorstellen. Mehr als zehn Jahre nach seinem Vortrag „Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation“ aktualisierte er in Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung (1973) sein Argument, dass Bürger nicht ‚objektiv‘, interessenlos urteilen könnten. Ihm galt nun weniger Überinformation als Problem, sondern die moderne Arbeitsteilung führe zu einem begrenzten kognitiven Horizont. Der kleine Ausschnitt partikularer Lebenswelten verhindere ____________________ 49 50 51

Ebd. Vgl. Metzler, Konzeptionen politischen Handelns. Hacke, Der Intellektuelle und die Industriegesellschaft, S. 236.

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eine verallgemeinerungsfähige Perspektive. Mit diesem Argument verschloss sich der Soziologe gegenüber einem liberalen Verständnis der öffentlichen Debatte als „normative[m] Konstituens des Politischen“.52 Schelsky forderte, dass politische Gestaltung unter dem Primat rationaler, sachlicher Expertise erfolgen müsse. Mit diesem Argument spielte er in den 1970ern den Rechtsstaat gegen Demokratie aus, da ersterer auf Freiheit beruhe und es diese zu verteidigen gelte.53 Mit Willy Brandts Slogan „Mehr Demokratie wagen“ sah er die Grundlagen der Gewaltenteilung in Gefahr, denn ‚mehr Demokratie‘ bedeute schlussendlich weniger Freiheit. Schelsky kontrastierte zwei Prinzipien: das der Demokratie im rousseauistischen Sinne einer „Herstellung von Identität von Herrschenden und Beherrschten“ und das einer freiheitsgewährenden Machtbalance oder „der Herrschaftsaufteilung“.54 Er selbst verortete sich auf der Seite der Freiheit. Der Konflikt bundesrepublikanischer Intellektueller und Professoren entzündete sich an der liberalkonservativen Verortung der Demokratie in der institutionellen, verfassungsgemäßen Ordnung und der Affirmation des bisherigen repräsentativen Systems. Demgegenüber lasen etwa Wolfgang Abendroth und Jürgen Habermas mit ihrem partizipatorischen, bisweilen radikaldemokratischen oder republikanischen Demokratieverständnis aus der Verfassungsordnung die Aufgabe heraus, vermeintlich vorpolitische Sphären zu demokratisieren und eine maximal partizipatorische, „soziale Demokratie“ zu instituieren.55 Diesem dezidiert expansiven Demokratieverständnis folgte Willy Brandts Losung zur Demokratisierung der Gesellschaft.56 Schelsky empfahl, gegenüber dem Slogan „mehr Demokratie“ auf „mehr Freiheit“ und „Selbständigkeit“ zu setzen.57 Seine Argumentation war getragen von einer Sorge vor einer Tyrannei der teilhabenden Menge, der irrationalen und überforderten Mehrheit. Für ihn galt es, die gesellschaftli____________________ 52 53

54 55 56 57

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Ebd., S. 241. Vgl. Schelsky, Rückblicke eines „Anti-Soziologen“, S. 101. Aus diesem Standort eines Verteidigers ergebe sich, so Schelskys Selbstbeschreibung, sein „Konservatismus“. Dieser sei nicht ideologisch, sondern diene nur einer „Bewahrung eben der personalen und politischen Grundlagen der Bundesrepublik“ (ebd). Ders., Systemüberwindung, S. 50. Wehrs, „Pronunciamento“, S. 126. Vgl. ebd.; vgl. auch Scheibe, Suche nach der demokratischen Gesellschaft. Dies las sich als ideenpolitische „Blaupause“ für den Wahlkampf der Union 1976 mit dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“.

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chen Lebensbereiche vor dem politischen Staat zu schützen, ja ihre Autonomie zu verteidigen. In seinen Augen politisierte „mehr Demokratie“ die Gesellschaft; die Erhöhung der Teilhabechancen polarisiere und verschärfe politische Konflikte. Das wiederum führe zu einer unterkomplexen Debatte, zu Ideologisierung und Personalisierung – letztlich zu einer „Senkung der politischen Rationalität“.58 Demokratisierung und Politisierung mit dem Ziel von Partizipation würden also Rationalität und Sachlichkeit unterhöhlen und gleichzeitig die Konfliktivität der Gesellschaft mittels vermehrter Herrschaftsansprüche steigern. Die zunehmende politische Teilhabe der Massen habe zur Konsequenz, dass Entscheidungen in ein binäres Schema von Entweder-oder, von Freund-Feind gepresst würden. Indem so Fragen der Sachlogik deformiert und vereinfacht würden, führe Demokratisierung zu Irrationalität und Emotionalisierung.59 Der durchschnittliche Bürger der Industriegesellschaft könne seinen beschränkten Horizont eben nicht in eine Prozedur bürgerschaftlicher Deliberation überführen. Die Bundesrepublik laufe Gefahr, in einen schmittianischen Atavismus zurückzufallen, zumal langfristig die Menschen wieder nach einem charismatischen ‚Führer‘ rufen würden.60 „Mehr Demokratie“ drohte in den Augen Schelskys zudem, funktionale Differenzierungen aufzuweichen. Auch die Freiheit des Bürgers bestehe darin, in seiner jeweiligen Rolle in Politik-, Bildungs-, Finanz- oder Wirtschaftssphären unterschiedliche Ansprüche und Ziele zu verfolgen. Die gewaltenteilende Autonomie von Institutionen und Organisationen baue sich nach der Logik „einer Funktionenteilung innerhalb einer komplexen Gesellschaft“ auf.61 In proto-luhmannianischer Manier führte Schelsky aus, dass deren Eigenlogik zu institutionellen Freiräumen und einem spezifischen „Sachbezug“, also zu „Sachverstand und […] Anerkennung der Sachgesetzlichkeiten“ führe.62 Diese würden durch Demokratisierung unterwandert, denn „[d]ie Sachdienstleistung tritt gegenüber dem politischen Bekenntnis und Engagement […] zurück“.63 ____________________ 58 59 60 61 62 63

Schelsky, Systemüberwindung, S. 51. Daher war für Schelsky die Wahlbeteiligung von über 90 Prozent bei der Bundestagswahl 1972 ein böses Omen. Von Krockow, Mehr Demokratie – weniger Freiheit? Schelsky, Systemüberwindung, S. 61, 63. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58; Schelsky sprach von „Sacherfüllung“, „der Vertretung von Sachinteressen“ und von „Sachkompetenz“. Ebd., S. 54.

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Schon früh hatte Schelsky argumentiert, dass „[e]ine gute […] [Verwaltung] die Voraussetzung jedes Funktionierens demokratischer Methoden“64 sei. Er konturierte weberianisch Politik gegen Verwaltung und konstatierte deren logische „Arbeitsteilung“, vor deren Politisierung er warnte. 1975 registrierte er als Kennzeichen einer Legitimitätskrise und Unregierbarkeit, „die aus der Vernachlässigung der Gewaltenteilung stammende Politisierung der leitenden Staatsbeamten aus Gründen der Parteizuverlässigkeit und die damit einhergehende Zurückdrängung des Sachverstands, ja der steigende Verlust der Fähigkeit zur verfassungskonformen Gesetzgebung“.65

Die in den 1970ern diskutierte Unregierbarkeit wäre somit nicht nur das Resultat einer Anspruchsinflation von Bürgern, sondern zuvorderst ein Effekt von Politisierung. Durchgehend fand sich also bei Schelsky die Spannung zwischen Gewaltenteilung, Rationalität, Expertise und Kompetenz versus (Partei-) Politik.66 Das Kompetenzprinzip in gewaltenteilig organisierten Institutionen würde vorschnell als „Technokratie“ verunglimpft, schließlich bestehe auch das von Wilhelm Hennis gelobte Amtsethos in der „Sachdienstleistung“ und der Absehung von eigenen, politischen Interessen. Gewaltenteilung im Sinne Schelskys neutralisiert gleichsam Partei- und Machtpositionen.67 Man müsse Kompetenz und Verantwortung nach dem Prinzip der Sachlichkeit und nicht nach dem übergriffigen Prinzip der Demokratie verteilen. Nur so bliebe die Autonomie und Freiheit der Bürger gewahrt. So sei der Vorteil vermeintlicher „Technokratie“ die Bewahrung der Errungenschaften eines bürgerlichen, klassischen Liberalismus. Dass sein Plädoyer für politische wie institutionelle Freiräume eine Tendenz zu autoritärem, obrigkeitsstaatlichem Denken barg, reflektierte Schelsky nicht, sondern meinte, an zwei Fronten zu kämpfen: für die Autonomie der Institutionen und des Individuums. Er erklärte, immer wieder die „Spannung zwischen freiheitlicher Selbstbestimmung des Subjekts und den institutionell gesetzten Zwängen“68 problematisieren zu wollen. Entsprechend geriet auch der Wohlfahrts- und Sozialstaat in das Visier des Soziologen, denn dieser griff in das auszubalancierende Verhältnis zwischen „Person und freiheitliche[n] Institutionen“69 maßgeblich ein. Wie für ____________________ 64 65 66 67 68 69

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Schelsky, Der Pfahlbau, S. 340. Ders., Der selbständige und der betreute Mensch, S. 160. Vgl. auch Saretzki, Technokratie, S. 368. Vgl. Thümmler, Mehr Demokratie oder mehr Freiheit?, S. 207. Schelsky, Rückblicke eines „Anti-Soziologen“, S. 98. Ders., Der selbständige und der betreute Mensch, S. 18.

Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie

Gehlen und Forsthoff kippte aus Schelskys Sicht der westdeutsche Wohlfahrtsstaat im Laufe der 1960er und 70er Jahre in ein Zuviel der „Daseinsvorsorge“:70 „Der Wohlfahrtsstaat als Schutz der sozial Schwachen wird unversehens sehr bald zum planstaatlich-bürokratischen Vormundschaftsstaat und bleibt es.“71 Dadurch entstehe „eine Herrschaft der sozialen Betreuer“.72 Schelsky übernahm auch hier die Rolle einer mutmaßlich liberalen Kassandra, die Paternalismus und Verletzungen des harm principle im Sinne J.S. Mills monierte. Später tauchte sein Argument als neoliberale Kritik an der „dependency culture“ des Wohlfahrtstaats wieder auf. Schelsky deklinierte seinen Befund einer omnipräsenten Betreuungslogik anhand verschiedener politischer, gesellschaftlicher und kultureller Phänomene durch, da „[d]iese Herrschaft der Betreuer […] politisch in verschiedenen Formen erscheinen [konnte]: als Wohlfahrtsstaatdiktatur, als Erziehungsdiktatur, als Herrschaft der Funktionäre, als Meinungsbeherrschung und manipulierung usw.“73 So wurde das Motiv Freiheit und Sachlichkeit versus Bevormundung und Demokratie vielstimmig auf diversen Klaviaturen durchgespielt: die Suche nach Freiheitsgraden mal in der technischen Welt, mal im sich ausdifferenzierenden Wohlfahrtsstaat, mal in der kommunikativen und publizistischen Vermittlung von Politik gegenüber dem Bürger, mal im Rechtssystem: „Diese Formen der Betreuungs-Herrschaft ließen sich im gegenwärtigen politischen Leben der Bundesrepublik sehr eindrücklich nachweisen.“74 6.

Freiheit gegen Demokratie

Bei Schelsky lässt sich schließlich ein argumentativer Nexus von Sachlichkeitspostulat, Demokratiekritik, Sozialstaatsskepsis und einer Sorge um Freiheit erkennen. Sein Freiheitsbegriff folgte einem liberal-konservativen ____________________ 70 71 72

73 74

Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, S. 301. Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch, S. 18. Ebd.; Schelsky verwischte hiermit den fundamentalen Unterschied zwischen einem Wohlfahrtsstaat, der über einen indirekten Zugriff, ja über die Handlungsdimension die Fähigkeiten und Voraussetzungen der Bürger verändern will, um deren Teilhabechancen zu erhöhen, und einem Betreuungsstaat wie zu Zeiten der Nationalsozialisten und in der DDR, der den Einzelnen einem System der (totalen) Kontrolle unterwirft. Ebd. Ebd.

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Plädoyer für bürgerliche Selbständigkeit. Für ihn war Freiheit durch politische Rahmensetzungen zu ermöglichen, aber nicht politisch plan- und steuerbar und daher nicht mit einem partizipationsfreundlichen, gesellschaftskritischen, linken Emanzipationsbegriff zu verwechseln. So fragte er mit einer antidemokratischen, ideologie- und politikskeptischen Stoßrichtung, wie politische Gewalt zugunsten individueller Freiheit beschränkt sein müsse.75 Auch um die Freiheit von und vor ideologisierter Politik zu verwirklichen, bedürfe es eines sachorientierten Herrschaftssystems. Schelskys Vorstellung politischer Entscheidungsprozesse riskierte, zu einem Äquivalent von Forsthoffs Daseinsvorsorge zu kippen: Die Experten, Sachverständigen und die technisch- wissenschaftlich präjudizierten Zwänge versorgen die Bürger idealiter ohne ideologische Zumutungen mit wünschenswerten politischen Entscheidungen. Denn für Schelsky wurde die Freiheit des Staatsbürgers vor allem durch die Verwaltung bzw. durch Körperschaften gesichert – Freiheit bedeute also „kein bloßes Freisein von Schranken […], sondern selbst eine Summe aufbauender Kräfte“.76 Da Freiheit durch den Staat hergestellt werden müsse, ging es dem Soziologen um die – klassische, (alt-)liberale – Vermittlung von Individuum und staatlicher Ordnung, und nicht bloß eine Abgrenzung oder Loslösung der Sphären und um ein Konzept ‚negativer Freiheit‘ im Sinne Isaiah Berlins. Schelsky profilierte aber bei seiner „Akzentsetzung zugunsten individueller Freiheit“ vor allem negative Freiheiten gegenüber Teilhaberechten.77 Schelsky war gegenüber Demokratisierung und Pluralismus ‚skeptisch‘ und betonte stattdessen eine spezifische, freiheitlich motivierte Rationalität politischen Handelns. Freiheit und soziale Gerechtigkeit seien als politische Zielvorstellungen kaum miteinander zu vereinbaren, ohne die eine gegen die andere auszuspielen. Ihm zufolge verstellte die der Demokratie inhärente Tendenz zur Polarisierung eine Debatte um ihre richtige politische Balance – Politik verspreche zwar die gleichzeitige Verwirklichung jener konfligierenden Ziele, konterkariere aber schließlich deren Verwirklichung. Es war seine stete Sorge vor Paternalismus, vor einer Tyrannei unvernünftiger Mehrheiten und einer plebiszitär-demokratischen Ermächtigung, die Schelsky immer wieder umtrieb. Aus diesen Überlegungen heraus setzte er, wohlgemerkt innerhalb eines regulativen Rahmens, auf die Freiheit und ____________________ 75 76 77

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Schelsky, Systemüberwindung, S. 47. Schelsky (1946), nach Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1945, S. 263. Ebd., S. 260.

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Individualität der Bürger – und plädierte spätestens ab Mitte der 1970er für einen Abbau von Versorgung, Planung und Regulierung und opponierte vehement gegen den paternalistischen, betreuenden Sozialstaat. Doch man sollte Schelsky nicht vorschnell das Lager wechseln lassen. Sein „liberaler Impuls“ bleibt zwiespältig zu sehen. Eine Kritikerin urteilt gar harsch: Sein Modell einer „nur schemenhafte[n] Verfahrensdemokratie unter rationaler Führung schimmert als Gelehrten-Obrigkeitsstaat, dessen Ideale von Weisheit und Wahrheit an eine unpolitische Philosophenherrschaft erinnern“.78 Bei Schelsky amalgamierte ein liberaler Impuls mit einem konservativen Plädoyer für die bürgerliche Gesellschaft als Gegenüber zum Staat. Es gilt also eine Ambivalenz in Schelskys „liberalen“ Politikverständnis festzuhalten, insofern er zwar prima facie für die Verteidigung der formalen Institutionen einer liberalen Demokratie wie der Bundesrepublik plädierte, aber sein Politik- und Demokratieverständnis und sein Plädoyer für Bestandswahrung, sei es vorgeblich weniger aus ideologischer Motivlage denn angesichts der Wahrnehmung institutioneller Bedrohung formuliert, eben jene demokratischen Institutionen langfristig konterkarierten und unterliefen. Sein Politikentwurf führte stets die demokratietheoretische Pointe einer Entagonalisierung mit sich: Er vernachlässigte, ja negierte einen liberalen Ideenwettbewerb oder eine demokratische Deliberation, die politische, strittige und interessenbasierte Entscheidungen hätten vermitteln können. Sein Regierungsverständnis war nicht das eines „government by discussion“. Schelskys liberale Sorge um die Freiheit war weniger demokratisch als expertokratisch anschlussfähig. Daher konzeptualisierte Schelsky zwar eine ursprünglich liberal gesonnene, aber eben nicht demokratische ‚Politikvorsorge‘ – Politik drohte zu einer Dienstleistung im Verstrickungszusammenhang der Industriegesellschaft zu werden. Die Ambivalenz von Freiheitssuche und Skepsis dank ‚Wirklichkeitsbeobachtung‘ ist schlussendlich für Schelskys Denken charakteristisch. 7.

Schlussbemerkung

Schelskys Überlegungen zu Technokratie, Sachzwang und Sachlichkeit stellten einer gesellschaftlich-politischen Selbstkommunikation Begriffe bereit und spiegelten mitunter zeitgenössische Debatten wider. Paradoxerweise ermöglichten sein kontroverses Werk und seine öffentlichen Interventionen eine funktionale Selbstreflexion gesellschaftlicher Eliten und ____________________ 78

Thümmler, Mehr Demokratie oder mehr Freiheit?, S. 218.

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halfen so dem Lernprozess hin zu Liberalisierung und Demokratisierung der jungen Bundesrepublik auf die Sprünge. Die liberal-konservative Berufung auf Bürgerlichkeit, die Kritik an Pluralismus und Interessengruppen, die Sorge um Freiheit und die Warnrufe vor einer Herrschaft der politisierten ‚Masse‘ verdeutlichen bis heute, dass die Bonner Republik um Maß und Gestalt der parlamentarischen Demokratie, ihrer Institutionen, Verbände und Bürgergesellschaft rang und diese Suche auch vor dem Hintergrund einer „politischen Unerfahrenheit der Deutschen nach dem Krieg“79 zu sehen ist. Die Nuancen des technokratischen Konservatismus zeugen daher von den Versuchen gesellschaftlicher Restabilisierung und Modernisierung.80 Der Verweis auf die notwendige Sachlichkeit politischer Entscheidungen kann auch als ein Symptom eines Demokratisierungsprozesses gedeutet werden, bei dem „die sachliche Autorität des nach universalistischen Prinzipien produzierten Wissens als der sozialen Autorität der Angehörigen einer bestimmten Schicht oder der persönlichen Autorität charismatischer Personen übergeordnet verstanden wird“.81 Selbst demokratiekritische Einlassungen können dann als Teil eines politischen ‚Lernprozesses‘ verortet werden, bei dem „das Eingewöhnen in eine funktionierende Parteiendemokratie, das Erlernen von Spielregeln und Funktionsweisen von Parlamentarismus und Pluralismus […] sich so als Voraussetzung für die allmähliche Anverwandlung, schließlich für die Kritik und Ausweitung des in den 50er Jahren etablierten Demokratiemodells [erweisen].“82

Schließlich war die Debatte um Technokratie, Sachzwang und um die daraus bei Schelsky abgeleitete Forderung nach mehr Sachlichkeit ein Element dieses Prozesses. Verweise auf Sachgesetzlichkeit konnten damals – und können auch heute noch – als Plädoyer für Entideologisierung und Rationalität, für Freiheit und bürgerliche Autonomie eine stabilisierende, staatskonsolidierende Wirkung entfalten. Ralf Dahrendorfs Missbilligung der deutschen „Harmoniesehnsucht“,83 die er allerorten zu erkennen glaubte, lässt sich sodann kritisch wenden: Die ____________________ 79 80 81 82 83

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Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß, S. 25. Vgl. ebd., S. 39. Weingart, Die Stunde der Wahrheit?, S. 28 (Hervorh. im Original entfernt). Ebd., S. 25. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt, S. 238. Gegen den Vorwurf der „Harmoniesehnsucht“, den Dahrendorf an Schelsky adressierte, lässt sich einwenden, dass Schelsky gerade als Publizist zu einer „Perpetuierung der politisch-intellektuellen Polarisierung“ beitrug. Wehrs, „Pronunciamento“, S. 135.

Ein „altliberaler“ Denker? Helmut Schelsky zwischen Sachlichkeit und Demokratie

politische und gesellschaftliche Selbstkommunikation der Bonner Republik bediente sich inmitten des Kalten Krieges mitunter zu ihrer eigenen Beruhigung der Semantiken von Sachlichkeit, Rationalität, Wissenschaft und Technik. Ob man sich auf diese Weise auch gegen heutige Anfeindungen der Demokratie und gegen politische Polarisierung wehren kann, bleibt allerdings offen. Literaturverzeichnis Albrecht, Clemens: „Soziale Wirklichkeit“. Helmut Schelsky und die Tragödie einer regulativen Idee, Zeitschrift für Ideengeschichte 7/2, 2012, S. 53-62. Barheier, Klaus: Arnold Gehlens Theorie des technischen Zeitalters im Kontext der ‚Leipziger Schule‘. In: Klages, Helmut/Quaritsch, Helmut (Hrsg.): Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften, 1994, S. 89-111. Breuer, Stefan: Max Webers Herrschaftssoziologie, Zeitschrift für Soziologie 17/5, 1988, S. 315-327. Burnham, James: The Managerial Revolution. What is happening in the World, 1941. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965. Ders.: Soziale Klassen und Klassenkonflikt. Zur Entwicklung und Wirkung eines Theoriestücks. Ein persönlicher Bericht, Zeitschrift für Soziologie 14/3, 1957, S. 236240. Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, 2015. Fischer, Frank: Democracy and Expertise: Reorienting Policy Analysis, 2009. Forsthoff, Ernst: Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 1971. Ders.: Die Bundesrepublik Deutschland. Umrisse einer Realanalyse, Merkur: Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 14/9, 1960, S. 807-821. Freyer, Hans: Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur, 1965. Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, Gesamtausgabe Arnold Gehlen, Bd. 6, Hrsg. Rehberg, Karl-Siegbert, 2004 [1957]. Ders.: Diskussion. In: Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung (Hrsg.): Leistungsbereitschaft, Soziale Sicherheit, Politische Verantwortung, 1967, S. 189-205. Greven, Michael Th.: Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, 2007. Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, 1969. Hacke, Jens: Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, 2009.

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Das politische Denken des Neoliberalismus Thomas Biebricher

1.

Einleitung

Heutzutage insbesondere im deutschsprachigen Raum über Neoliberalismus zu sprechen, ist eine schwierige Angelegenheit, da es sich bei ihm mittlerweile geradezu um ein Unwort handelt, das stigmatisiert ist, und dessen Verwendung dementsprechend mit dem Risiko behaftet ist, sich als Sprecher zu disqualifizieren. Die Gründe liegen auf der Hand: Als neoliberal werden fast ausschließlich politische und intellektuelle Gegner bezeichnet und nur in Ausnahmefällen macht es sich die Sprecherin als Selbstbeschreibung zu eigen. Die Verwendung des Begriffs, so die gängige Vermutung, deutet also eher auf polemische Zielsetzungen denn auf das Interesse am Austausch von Argumenten hin. Wer umgekehrt als Diskussionspartner ernstgenommen werden will und sich nicht dem Vorwurf des ideologischdogmatischen Antikapitalismus aussetzen möchte, tut in der aktuellen Diskurslage gut daran, mit der Anklage des neoliberalen Marktfundamentalismus sparsam umzugehen. Der Verdacht der Polemik ist aber nicht einmal der schwerwiegendste, mit dem sich konfrontiert sieht, wer den „Kampfbegriff“1 Neoliberalismus im Munde führt. Vielmehr ist es der der Fabrikation von Pseudowirklichkeit durch die beständige Beschwörung eines Neoliberalismus, welcher aber eigentlich nur in der Vorstellungswelt seiner Kritiker und nicht in der Realität existiert.2 Interessanterweise wird dieser Vorwurf zudem nicht nur von denjenigen erhoben, die substantiell mit neoliberalen Positionen sympathisieren und denen die tatsächlichen Neoliberalisierungsprozesse oftmals nicht weit genug gehen, sondern auch von denjenigen, die ebenso auf die ver____________________ 1 2

Vgl. Willgerodt, Neoliberalismus. Interessanterweise hat vor kurzem der Internationale Währungsfonds als zumindest ehemalige Bastion dessen, was gemeinhin als Neoliberalismus gilt, in einem Working Paper eingeräumt, dass es zumindest aus seiner Perspektive durchaus einen real existierenden Neoliberalismus gibt – dessen Erfolgsbilanz aber eher gemischt ausfalle. Vgl. Ostry et al., Neoliberalism: Oversold?

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Thomas Biebricher

meintliche Diskrepanz zwischen neoliberaler Theorie und Praxis hinweisen, daraus aber eine Selbstkritik der Linken ableiten, die nicht nur das Objekt ihrer eigenen Kritik missverstanden habe, sondern darüber hinaus durch seine beständige Beschwörung jenem „Zombie-Neoliberalismus“3 immer wieder neues Leben einhauche, der eigentlich seit der Wirtschaftsund Finanzkrise 2008 intellektuell tot sei.4 Ist es also angesichts dieser mehr als misslichen Konstellation an der Zeit, das N-Wort endlich aus dem sozialwissenschaftlich-zeitdiagnostischen Sprachbestand herauszustreichen? Der vorliegende Beitrag wendet sich gegen diese Schlussfolgerung und wird vielmehr zeigen, dass es durchaus möglich ist, auf sinnvolle Weise mit dem Begriff des Neoliberalismus zu operieren. Damit dies gelingt, muss jedoch zweierlei geleistet werden: Zum einen muss die Bedeutung des Begriffs, wenn nicht definiert, so doch zumindest eingegrenzt werden, damit er nicht als frei flottierender Signifikant für jedwede Zielsetzung instrumentalisiert werden kann. Zum anderen geht es darum zu zeigen, dass es zumindest missverständlich ist, Neoliberalismus mit Marktfundamentalismus oder Ökonomismus gleichzusetzen und so beinahe zwangsläufig auf den Pfad der Polemik zu geraten. Was das neoliberale Denken vielmehr auszeichnet, so die These, ist eine geteilte und inhärent politische Problemstellung, die gerade nicht den Markt verabsolutiert, sondern ihn zum Gegenstand eben jener Problematisierung macht. 2.

Was bedeutet Neoliberalismus?

Zwar gibt es Ausnahmen wie das britische Adam-Smith-Institut, das sich 2016 wieder offensiv zur Selbstdarstellung als Think Tank entschloss, dem es um die Verbreitung von „free market, neoliberal ideas through research, publishing, media outreach, and education“5 gehe, doch im Allgemeinen findet sich im zeitgenössischen Diskurs kaum jemand, der bereit wäre, sich zum Neoliberalismus zu bekennen.6 Doch dies war nicht immer der Fall ____________________ 3 4 5 6

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Peck, Zombie Neoliberalism. Vgl. Birch, We Have Never Been Neoliberal. https://www.adamsmith.org/about-the-asi/ (letzter Zugriff am 03.11. 2017). Allerdings scheint der Begriff in neuester Zeit wieder in bestimmten politischen Milieus der USA positiv besetzt zu werden. Bislang handelt es sich hierbei jedoch nur um ein diskurspolitisches Randphänomen. Vgl.

Das politische Denken des Neoliberalismus

und so bietet sich als erster Ansatzpunkt zu einer Klärung des Begriffs Neoliberalismus die Untersuchung der Verwendungsweise von Seiten derjenigen an, die sich tatsächlich als Neoliberale bezeichneten und mit dem Begriff eine geteilte Agenda verbanden. Um zu verstehen, was der Neoliberalismus für seine Erfinder bedeutete und welche Zielsetzungen damit verknüpft waren, bedarf es also zunächst einer Rekonstruktion des neoliberalen Entstehungskontextes, der in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu verorten ist.7 Genauer gesagt ist es das Colloquium Walter Lippmann, das im August 1938 in Paris stattfindet, welches gleichsam die ‚Geburt‘ des Neoliberalismus bezeichnet, denn in den Protokollen jener Kleinkonferenz findet sich erstmals der Begriff, auf den sich die Teilnehmer mehr oder weniger ausdrücklich – darauf wird zurückzukommen sein – als Label für ein gemeinsames politisch-intellektuelles Projekt einigten. Zum Colloque waren unter anderem Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises wie auch Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow als Vertreter dessen, was später als Ordoliberalismus bezeichnet wurde, angereist, um mit dem amerikanischen Journalisten Walter Lippmann über dessen Buch The Good Society (dt. als Die Gesellschaft freier Menschen) zu diskutieren, das im Jahr zuvor erschienen war. Das Buch, das der Tagung die thematische Struktur gab, war eine Streitschrift gegen den laut Lippmanns Diagnose vorherrschenden Zeitgeist des Kollektivismus, unter den nicht nur „totalitarian regimes“ wie die Sowjetunion und Nazi-Deutschland subsumiert wurden; auch der eben erst in den USA angelaufene New Deal Roosevelts (den dieser wiederum als „liberal reform“ anpries) wurde als „gradual collectivism“ ebenso darunter gefasst.8 Die Analyse Lippmanns ließ so keinen Zweifel daran, dass in seinen Augen der Liberalismus in eine existenzielle Krise geraten war und auch wenn die Teilnehmer des Colloques nicht in jeder Hinsicht Lippmanns Einschätzungen teilten, wie die Diskussionsprotokolle zeigen, so lässt sich doch feststellen, dass grundsätzliche Einigkeit bezüglich jener Krise herrschte, die für die Entstehung des Neoliberalismus von ursprünglicher Bedeutung war.9 ____________________

7 8 9

https://www.vice.com/en_us/article/8xab5b/everyone-hates-neoliberals-so-wetalked-to-some (letzter Zugriff am 03.11 2017). Zum folgenden siehe auch Biebricher, Neoliberalismus zur Einführung. Lippmann, An Inquiry, S. 106. Vgl. zu den Diskussionen des Colloques Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus; Walpen, Die Gesellschaft; Burgin, The Great Persuasion Die Protokolle sind mittlerweile auch in englischer Übersetzung zugänglich in Reinhoudt/Audier, Lippmann Colloquium.

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Thomas Biebricher

Die Facetten des liberalen Krisensyndroms waren vielfältig. Die Kriegswirtschaft des Ersten Weltkrieges hatte demonstriert, dass planwirtschaftliche Elemente durchaus in die staatliche Wirtschaftspolitik integriert werden konnten (von der Existenz der staatssozialistischen Sowjetunion ganz zu schweigen) und die entsprechenden Erfahrungen schienen die liberalen Skeptiker wie etwa Hayek und Mises Lügen zu strafen, die in den darauffolgenden Jahren im Rahmen der Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus nachzuweisen versuchten, dass staatliche Planung ohne marktvermittelte Preise zum Scheitern verurteilt war. So überzeugend auch die theoretischen Nachweise sein mochten, die planerische Praxis, die auch nach Kriegsende nicht völlig verschwand, erschien als überzeugender Beleg für die prinzipielle Möglichkeit einer (sozialistischen) Wirtschaftsplanung. Noch schwerwiegender waren jedoch die ökonomischen Verwerfungen der zwanziger Jahre, zu deren Mitte hin zwar eine gewisse Stabilisierung einsetzte, welche aber nur von kurzer Dauer war und in die Weltwirtschaftskrise mit ihren politisch und sozial desaströsen Auswirkungen mündete. Angesichts des ökonomischen Kollapses, der Millionen ins Elend stürzte, konnte die liberale Verteidigung kapitalistischer Märkte als Wohlstandsgeneratoren kaum überzeugen und noch weniger konnte es die althergebrachte liberale Empfehlung hinsichtlich des Krisenmanagements: Die Krise müsse ihren Lauf nehmen und nach dem notwendigen Abbau von Überkapazitäten würde die Wirtschaft wieder von selbst in Schwung kommen. Noch der junge Hayek vertrat diese Meinung in den frühen dreißiger Jahren an der London School of Economics und wurde so in gewisser Weise zur Personifizierung der Überforderung des Liberalismus, während im nahegelegenen Cambridge der Stern John Maynard Keynes’ aufging, dessen Denken wiederum ein wichtiges Element im liberalen Krisensyndrom darstellte: Den stoischen Durchhalteparolen des Liberalismus hielt Keynes eine aktive Wirtschaftspolitik, die gleichzeitig Krisenmanagement war, entgegen, die mit jedem weiteren Quartal, um das sich die Krise verlängerte, attraktiver erschien – nicht zuletzt für Politiker, denen die Maxime des ruhigen Abwartens nicht unbedingt als überzeugende Strategie erscheinen konnte, um sich angesichts der sozioökonomischen Verwerfungen an der Macht zu halten. Sowohl die Weltwirtschaftskrise selbst, als auch ihre Auswirkungen in Form des Krisenmanagements, zu dem im amerikanischen Kontext ja auch der schon erwähnte New Deal gehörte, drängten so den Liberalismus weiter in die Defensive. Das letzte Element im liberalen Krisensyndrom, das den Teilnehmern des Kolloquiums womöglich auch als das bedrohlichste erschien, war der Aufstieg extrem illiberaler politischer Bewegungen und Parteien. Von der 176

Das politische Denken des Neoliberalismus

Sowjetunion auf der einen Seite des politischen Spektrums bis zum italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus auf der anderen, waren die ‚kollektivistischen‘ Bewegungen, wie sie die Neoliberalen nannten, scheinbar überall auf dem Vormarsch und bei allen Unterschieden zwischen Kommunismus und Faschismus/Nationalsozialismus blieb doch der gemeinsame Nenner der Feindschaft gegenüber dem Liberalismus, so dass die Diagnose dessen existenzieller Krise im Jahr 1938 alles andere als abwegig erschien. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Neoliberalismus als Reaktion auf die Krise des Liberalismus verstanden werden muss und als Versuch, dem illiberalen Zeitgeist einen ‚neuen‘ Liberalismus entgegenzusetzen. Wie lässt sich nun diese Reaktion inhaltlich genauer fassen? Trivialerweise ging es den Teilnehmern des Colloquiums wie auch ihren Brüdern im Geiste – und tatsächlich ist das neoliberale Denken auffällig männlich, um nicht zu sagen maskulinisch geprägt, –10 die sich nach dem Krieg auf Initiative Hayeks zum internationalen Neoliberalismus-Netzwerk der Mont Pelèrin Society zusammenschlossen, um eine Revitalisierung liberaler Positionen und Theoreme zu erreichen. Doch sowohl im Rahmen des Colloques wie auch in den frühen Jahren des Nachkriegsneoliberalismus herrschte weitgehende Einigkeit, dass dies nicht allein durch eine entschlossene Rückbesinnung auf den harten Kern liberaler Gedankensysteme gelingen kann, so wichtig es auch sei, sich gegen gewisse Fehlentwicklungen zu wenden, auf die zurückzukommen sein wird. Eine rein restaurative Ausrichtung könne der Aufgabe einer Wiederbelebung des Liberalismus nicht gerecht werden, denn bei aller Wertschätzung die etwa die schottische Aufklärung und insbesondere Adam Smith auch bei den Neoliberalen der ersten Stunde genießen, bestehen doch beträchtliche Zweifel, ob in The Wealth of ____________________ 10

Die Kategorie Geschlecht wird im neoliberalen Schrifttum mehr oder weniger ausführlich thematisiert. Der maskulinische Einschlag im neoliberalen Denken zeigt sich aber vor allem an der teils explizit, teils implizit vertretenen deskriptiven und normativen Anthropologie: Der homo oeconomicus wird zwar als geschlechtsneutrales und rein analytisches Konzept eingeführt, doch die individualistische Ausrichtung und Fokussierung auf Nutzenmaximierung ruft eher männliche Assoziationen hervor. Und auch bei denjenigen, die dem Konzept des homo oeconomicus ablehnend gegenüberstehen, wie etwa die Ordoliberalen, verweist das immer wieder betonte Ideal der Unabhängigkeit und Autarkie ebenfalls auf eher männlich konnotierte Stereotypen - abgesehen davon, dass Röpke und Rüstow ausdrücklich die rigide Zuweisung von traditionellen Rollenmustern zwischen den Geschlechtern verteidigen. Vgl. zum Maskulinismus des Neoliberalismus Kreisky, Maskuline Ethik.

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Thomas Biebricher

Nations schon alle Antworten auf die Herausforderungen des Keynesianismus und diverser ‚Kollektivismen‘ zu finden sind. Vonnöten ist vielmehr eine konsequente Modernisierung des Liberalismus, doch dies bedeutet beinahe zwangsläufig, dass als solche erkannten Fehleinschätzungen revidiert und obsolete Vorstellungen verabschiedet werden müssen. Voraussetzung für die Revitalisierung des Liberalismus ist also eine kritische Revision seiner tradierten Agenda und für diese kritische Erneuerungsbewegung erscheint demnach der Begriff des Neoliberalismus durchaus passend. Damit ist der erste Schritt hin zu einer inhaltlichen Einkreisung getan, denn diese Rekonstruktion der Stoßrichtung des neoliberalen Projekts ermöglicht eine weitere indirekte Konkretisierung dieses Unterfangens, indem herausgearbeitet wird, gegen wen/was es sich richtet. In dem, was Foucault als das „Feld der Gegnerschaft“11 bezeichnet, nimmt der Kollektivismus zweifellos die Position des diametral entgegengesetzten Antagonisten ein. Angesichts der zentralen funktional-normativen Bedeutung von (kapitalistischen) Märkten für das neoliberale Denken definiert es sich in erster Linie gegen diejenigen Ideologien und politischen Bewegungen, die fundamentale Zweifel gegenüber den Vorzügen jener hegen und sie in welcher Weise auch immer überwinden wollen. Es stellt sich hier allerdings die Frage, wie weit das Feld des Kollektivismus zu fassen ist, denn wie schon oben angedeutet, gilt manchem im Lager des Neoliberalismus auch der New Deal zumindest als gradueller Kollektivismus und auch Foucault sieht in seinen Vorlesungen eine Art totalitäre Invariante im neoliberalen Denken, womit letztlich ein verallgemeinertes Slippery slope-Argument bezeichnet ist: Auch nicht-sozialistische Planungsversuche münden demnach mehr oder weniger zwangsläufig in den Totalitarismus/Kollektivismus. Mit Blick auf die Metapher des Feldes der Gegnerschaft ließe sich davon sprechen, dass der idealtypische Kollektivismus im Mittelpunkt eine Anziehungskraft gegenüber den peripheren Sektoren des Feldes entfaltet, so dass schon der „graduelle Kollektivismus“ des New Deal, die staatliche Planung im Rahmen einer ‚Mixed Economy‘ oder auch nur die vermeintlich kapitalismuserhaltende keynesianische Globalsteuerung letztlich in Richtung jenes Zentrums gravitieren. Das überzeugendste Beweisstück für diese Interpretation ist sicherlich Hayeks The Road to Serfdom von 1944, das als ein einziges Slippery slopeArgument in Buchform gelesen werden kann. Doch selbst jenes Werk enthält eine Reihe von Aspekten, die dagegen sprechen, dass noch die moderatesten Formen staatlicher ‚Planung‘ etwa in Form von sozialstaatlichen ____________________ 11

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Foucault, Biopolitik, S. 155.

Das politische Denken des Neoliberalismus

Elementen letztlich in den Totalitarismus führen. So hält Hayek bestimmte soziale Sicherungssysteme wie auch eine Mindestsicherung für vereinbar mit kapitalistischen Märkten, und überhaupt sei die staatliche Planung an sich überhaupt nicht das Problem, sondern eher der Zweck. Planung könne sich zwar gegen den Wettbewerb richten, aber gegen „planning for competition“12 sei schließlich nichts einzuwenden. Festzuhalten ist also, dass im neoliberalen Diskurs zwar stellenweise suggeriert wird, dass sich der Aufbau sozialstaatlicher Strukturen wie auch die keynesianische makroökonomische Steuerung unter Umständen zu einem genuin kollektivistischen System auswachsen könnten, doch lassen sie sich offensichtlich doch nicht allein auf Erscheinungsformen des Kollektivismus in nuce reduzieren. Vielmehr werden sie als eigenständige Gegner bzw. Gegenstände neoliberaler Kritik verstanden, die aber für den frühen Neoliberalismus (zunächst) eher zweitrangige Bedeutung haben, wie etwa Ben Jackson mit Blick auf die Kritik des Sozialstaates herausgearbeitet hat, die in den Nachkriegsjahrzehnten noch vergleichsweise moderat ausfällt.13 Doch mit dem Hinweis auf Kollektivismen, Keynesianismus und Sozialstaat ist das Feld der Gegnerschaft noch nicht erschöpfend beschrieben. Denn wie schon erwähnt, grenzt sich der Neoliberalismus auch gegen bestimmte Entwicklungen innerhalb des Liberalismus ab, die stellenweise gar indirekt für das Aufkommen des Kollektivismus verantwortlich gemacht werden. Von welchen Fehlentwicklungen ist hier die Rede? Zunächst ist es die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnende Verknüpfung von liberalen und sozialistisch/sozialdemokratischen Vorstellungen, die sich sowohl im kontinentaleuropäischen wie auch im angloamerikanischen Kontext beobachten lassen. Für das entsprechende intellektuelle Projekt stehen Namen wie T.H. Green im Vereinigten Königreich und John Dewey in den USA. Das politische Projekt firmiert im britischen Kontext unter dem Begriff des New Liberalism, als dessen Repräsentant Lloyd George sogar Premierminister wird. Dass die Neoliberalen dieser ‚Sozialdemokratisierung‘ des Liberalismus ablehnend gegenüberstehen, kann nicht wirklich überraschen, wohingegen die komplementäre Abgrenzbewegung gerade vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussionen über den Neoliberalismus als Doktrin sich selbst regulierender Märkte durchaus für Verwunderung sorgen könnte: Denn gerade derartige radikalliberalen Vorstellungen werden von den frühen Neoliberalen teils mit beträchtlicher Verve zurückgewiesen. Es sind vor allem die Ordoliberalen Röpke und Rüstow, die dem ____________________ 12 13

Hayek, The Road to Serfdom, S. 43. Vgl. Jackson, Origins of Neo-Liberalism, S. 129-151.

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‚alten‘ Liberalismus das vorwerfen, was sie als ‚Soziologieblindheit‘ bzw. Ignoranz hinsichtlich der gesellschaftlichen Verwerfungen ansehen, die von Märkten ausgingen.14 Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts habe sich ökonomisch radikalisiert und im gleichen Maße auch vulgarisiert. Doch mit dieser Ausrichtung habe er nicht zuletzt sozialistischen Bewegungen den Weg geebnet, die die liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik etwa unter dem Begriff des ‚Nachtwächterstaates‘ (Ferdinand Lasalle) – zu Recht – anprangern und so daraus politisches Kapital schlagen konnten. Doch es sind nicht nur die Ordoliberalen, die sich diese Diagnose so oder in ähnlicher Weise zu eigen machen, selbst der heute oft als Säulenheiliger der quasi-libertären „Österreichischen Schule“ gehandelte Hayek positionierte sich eindeutig gegen den Vulgärliberalismus des 19. Jahrhunderts, wenn er etwa in The Road to Serfdom darauf hinweist, dass wohl kaum eine Formel dem Liberalismus mehr geschadet habe als die des ‚Laissez faire‘.15 Es zeigt sich also, dass die revisionistische Komponente des neoliberalen Projekts nicht nur der Verwässerung des Liberalismus und seiner Verquickung mit im weitesten Sinne sozialdemokratischen Vorstellungen entgegenwirken soll. Mit an oberster Stelle auf der Liste von obsoleten und fehlgeleiteten Konzepten des ‚alten‘ Liberalismus findet sich die Idee selbstregulierender Märkte bzw. eine damit korrespondierende Wirtschaftspolitik des Laissez faire. 3.

Definitionsstrategien und -probleme

Die Ablehnung des Laissez faire-Liberalismus von Seiten Hayeks, Röpkes oder Rüstows verdeutlicht bereits, dass die Deutung des neoliberalen Denkens als Marktfundamentalismus nur begrenzte Überzeugungskraft entfalten kann. Mit einem letzten Schritt vom Feld der Gegnerschaft hin zur Problematik des Neoliberalismus soll nun zum einen dessen inhaltliches Profil noch weiter geschärft, und zum anderen herausgearbeitet werden, dass diese Problematik eine inhärent politische ist, was die Verabsolutierung des Marktes als neoliberaler Kerndoktrin wenig glaubhaft erscheinen lässt. Zuvor gilt es allerdings, noch einmal die Schwierigkeiten einer Definition des Neoliberalismus in Erinnerung zu rufen.

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Vgl. z.B. Rüstow, Religion der Marktwirtschaft. Hayek, Road to Serfdom, S. 18.

Das politische Denken des Neoliberalismus

In der Literatur findet sich eine Vielzahl mehr oder weniger überzeugender Definitionsversuche des Neoliberalismus bzw. des neoliberalen Denkens und typischerweise dominieren hier zwei Strategien. Die erste unternimmt die Definition des Neoliberalismus über seine Policy-Dimension und bestimmt ihn anhand charakteristischer Politiken bzw. Politikziele. Weit verbreitet ist etwa die Vorstellung eines Dreiklangs neoliberaler Politik der Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung.16 Andere Autoren wie Noam Chomsky setzen den Neoliberalismus kurzerhand mit dem Washinton Consensus und seinem Politikkatalog des ‚Good Governance‘ gleich.17 Jedoch bleibt diese Strategie in zweierlei Hinsicht fragwürdig. Zunächst ist unklar, warum es nun eben genau die drei genannten Politiken oder die zehn Maximen des Washington Consensus sein sollen, die den Neoliberalismus auszeichnen, und warum nicht mehr, weniger oder andere: Responsibilisierung, Mobilisierung und diverse weitere ließen sich hinzufügen, so dass der enumerativen Methode immer etwas Willkürliches anhaftet. Zudem dürfte es sich als schwierig erweisen, auf dieser Grundlage eine überzeugende Unterscheidung zwischen liberaler und neoliberaler Politik zu entwickeln, gilt doch etwa für Privatisierungspolitik, dass sie von Liberalen unterschiedlichster Couleur unterstützt werden könnte. Neben der ‚induktiven‘ Strategie, die das ‚Wesen‘ des Neoliberalismus aus den Politiken, die ihn vermeintlich kennzeichnen, abzulesen versucht, findet sich auch das ‚deduktive‘ Gegenstück, das von einem Kern neoliberaler Theorie und Praxis in Form von Prinzipien oder fundamentalen Überzeugungen ausgeht, welche sich in eine bestimmte Bandbreite an Politiken ausbuchstabieren ließen. Das prominenteste Beispiel für diese Vorgehensweise liefert wohl Colin Crouch, der in seinem The Strange Non-Death of Neoliberalism tatsächlich von der „Essenz“ des Neoliberalismus spricht, die im Glauben an die uneingeschränkte Überlegenheit von Märkten gegenüber alternativen Verfahren gesellschaftlicher Koordination bestehe.18 Mit anderen Worten ist es abermals die Überhöhung oder gar Verabsolutierung des Marktes, die hier als Kern des Neoliberalismus erscheint, der damit von vornherein als irregeleitete Marktgläubigkeit vorgestellt wird, gegen die allzu leicht polemisiert werden kann und muss. Doch auch diesen Versuchen einer Klärung des Neoliberalismus-Begriffs mit Verweis auf ein wie auch immer geartetes Wesen oder eine KernDoktrin wird in der Literatur zu Recht mit Skepsis begegnet. Zu vielfältig ____________________ 16 17 18

Vgl. Steger und Roy, Neoliberalism, S. 14. Vgl. Chomsky, Profit over People, S. 19. Crouch, Non-Death of Neoliberalism, S. vii.

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und wandlungsfähig erscheint den meisten Kommentatoren vor allem der ‚real existierende Neoliberalismus‘, um eine weit verbreitete Formulierung aufzugreifen, als dass er sich definitorisch eindeutig dingfest machen ließe. So ist etwa die Rede von einem Neoliberalismus, der nicht nur „variegiert“, sondern auch „contradictory and polymorphic“ sei.19 Es liegt nahe, dass mit solchen Charakterisierungen auch allen allgemeinen, nicht-kontextuellen Definitionsversuchen eine Absage erteilt wird, doch die Schlussfolgerung mancher Kommentatoren,20 man müsse eben von unterschiedlichen Neoliberalismen ausgehen, führt kaum weiter, da dann schließlich immer noch zu klären ist, was das einende Band zwischen diesen darstellt. Nun liegt zunächst die Vermutung nahe, dass die hier gewählte Vorgehensweise diesen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen versucht, indem sie nicht am sich ewig wandelnden real existierenden Neoliberalismus, sondern am Neoliberalismus als intellektuelles Projekt ansetzt: Die Welt der tatsächlichen Politik ist chaotisch und zeichnet sich vor allem durch die Abwesenheit von reinen Typen aus, wohingegen das neoliberale Denken in seiner intellektuellen Klarheit und vor allem an seinem Ursprung – dem Colloque – noch in einer geradezu apriorischen Eindeutigkeit, womöglich gar in seinem Wesen herauspräpariert werden kann. Solchen platonistischursprungsphilosophischen Hoffnungen muss hier allerdings eine klare Absage erteilt werden. Denn auch als intellektuelles Projekt gilt für den Neoliberalismus, dass er nie – auch nicht in den Debatten des Colloques – im emphatischen Sinne ‚eins‘ war, um eine berühmte Formulierung von Luce Irigaray abzuwandeln. Keiner der Neoliberalen war in der Lage, der Denkschule insgesamt seinen Stempel aufzudrücken, und so existiert auch kein Urtext, der als Nukleus des sich entfaltenden neoliberalen Denkens gelten könnte. Sicherlich lieferte Lippmanns The Good Society wichtige Stichworte für das Projekt einer liberalen Renaissance und Selbstkritik, doch ähnliche Motive finden sich etwa bei den deutschen Ordoliberalen schon in den frühen dreißiger Jahren. Und so trifft die metaphorische Rede von der Geburt des Neoliberalismus im Rahmen des Colloques auch nur dann zu, wenn festgehalten wird, dass die Geburt keineswegs den Anfang eines Prozesses darstellt, der vielmehr schon längst vorher begonnen hat. Im Falle des Neoliberalismus finden sich die verstreuten Anfänge jenes Prozesses in Freiburg, Wien, Paris, London und Chicago, wo Hayek, Walter Eucken aber auch ____________________ 19 20

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Jessop, Neoliberalismen, S. 123; Peck, Neoliberal Reason, S. 15. Roy et al., Introduction, S. 5.

Das politische Denken des Neoliberalismus

Lionel Robbins und andere zu anfangs noch weitgehend unabhängig voneinander arbeiten, so dass von einem gemeinsamen Ursprung keine Rede sein kann. Bezeichnenderweise gibt es zuletzt sogar bezüglich des Auftauchens des Begriffs Neoliberalismus in den Protokollen des Colloques divergierende Darstellungen: Gemäß einer Version wurden diverse Labels, etwa gar ‚Liberalismus von links‘ und eben ‚Neoliberalismus‘ von den Teilnehmern diskutiert und man einigte sich auf letzteren.21 Folgt man jedoch Bernhard Walpen in seiner historisch gut informierten Studie zur Mont-PèlerinSociety, dann konnte sich die Pariser Runde noch nicht einmal auf ein Label einigen, welches dann erst nachträglich vom Organisator des Colloques, Louis Rougier, in die Protokolle hineingeschrieben wurde.22 Es bleibt also festzuhalten, dass der Neoliberalismus nicht nur in seiner real existierenden Form, sondern auch bereits als intellektuelles Projekt von einer beträchtlichen internen Heterogenität und Wandlungsfähigkeit geprägt ist, was die Frage nach einer Definition umso dringlicher aber auch schwieriger erscheinen lässt. 4.

Die neoliberale Problematik

Vor diesem Hintergrund schlage ich folgende definitorische Strategie vor: Der Versuch, einen eindeutigen Kern neoliberaler Politik oder auch Kernüberzeugungen des neoliberalen Denkens zu identifizieren, die über die gesamte Bandbreite neoliberaler Theorie und Praxis geteilt werden, scheint mir mit großen Schwierigkeiten verbunden zu sein und zudem läuft er Gefahr, die unbezweifelbare Vielfalt des Neoliberalismus im Namen eines gemeinsamen Kerns wegzudefinieren. Das einende Band kann also nicht in Form einer positiven Doktrin gefunden werden, vielmehr ist es eine geteilte Problematique, die dem neoliberalen Denken seine spezifische Ausrichtung gibt: Die Frage, die die Neoliberalen beschäftigt, ist diejenige nach den Bedingungen der Möglichkeit funktionierender Märkte, auf denen die Souveränität des Preissystems gewährleistet bleibt. Die Antwort auf diese Frage bzw. die vorgeschlagene Lösung der neoliberalen Problematik kann offensichtlich recht unterschiedlich ausfallen, doch genau dies macht es auch möglich, die Bandbreite der vertretenen Positionen in einem Spektrum zu verorten oder gar Einzelpositionen in Un____________________ 21 22

Vgl. Burgin, The Great Persuasion, S. 73. Vgl. Walpen, Die Gesellschaft, S. 60.

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terströmungen oder Variationen des neoliberalen Denkens zusammenzuführen. So lässt sich die Heterogenität des Neoliberalismus erfassen, ohne ihn in verschiedene Neoliberalismen aufzulösen. Vielmehr bleiben die unterschiedlichen Variationen dadurch miteinander verbunden, dass sie als divergierende und teils auch sich widersprechende Antworten auf die gleiche Frage interpretiert werden können.23 Auch der diachronen Dynamik des neoliberalen Diskurses kann auf der Grundlage dieser Konzeptualisierung Genüge getan werden, indem der Wandel der jeweiligen Entwürfe nachvollzogen wird, die sich wiederum auch zumindest teilweise als Verschiebung innerhalb des Feldes der Gegnerschaft abbilden lassen. Ein konkretes Beispiel liefert etwa James Buchanan, der mit seiner Kombination aus PublicChoice-Theorieelementen und „Konstitutionenökonomik“ den zeitgenössischen Neoliberalismus nachhaltig geprägt hat. Nach dem Ende des OstWest-Konflikts gehe die größte Gefahr für im neoliberalen Sinn funktionierende Märkte nicht mehr vom Sozialismus, und auch nicht unbedingt von einem ungezügelten Keynesianismus, sondern von einem beständig expandierenden (Sozial-)Staatsapparat („Leviathan“) aus, wie es der Titel des 1990 gehaltenen Vortrags auf den Punkt bringt: „Socialism Is Dead But Leviathan Lives On“.24 Darüber hinaus lässt sich aber auch bei aller internen Ausdifferenzierung des neoliberalen Diskurses immer noch eine hinreichend klare Unterscheidung zwischen diesem und seinen ideologischen Nachbarn, insbesondere dem klassischen Liberalismus vornehmen: Die Bedingtheit des Marktes ist der entscheidende konzeptionelle Schritt weg von einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Passivität des Laissez faire in seinen unterschiedlichen Formen hin zu einer geradezu aktivistischen Ausrichtung. War der klassische Liberalismus von einer kategorischen Sorge geprägt, dass möglicherweise zu viel regiert werde, um eine Foucaultianische Formulierung zu wählen, so geht es dem Neoliberalismus nicht mehr einfach nur um ein Weniger, sondern es geht darum, qualitativ zu bestimmen, was getan werden muss und was nicht getan werden darf, damit die Bedingungen für funktionierende Märkte verwirklicht sind.25

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Am Rande sei darauf hingewiesen, dass Karl Mannheim in seiner berühmten Studie über den deutschen Konservatismus eine ähnliche Herangehensweise wählt. Vgl. Mannheim, Konservatismus. Buchanan, Socialism Is Dead. Vgl. dazu auch Biebricher, Einleitung.

Das politische Denken des Neoliberalismus

Die Konditionalität von Märkten ist zudem der Innovationsschritt, mit dem die neoliberale Problematik zu einer ausdrücklich und inhärent politischen Problematik wird. Denn zwar kreist der neoliberale Diskurs tatsächlich um das Funktionieren von Märkten, wie auch die Rede vom Marktfundamentalismus unterstellt, und in diesem Sinne lässt sich auch von einem marktzentrierten Denken sprechen. Doch ist es gerade nicht der Fall, dass Märkte verabsolutiert werden als existierten sie in einem Vakuum und könnten sich in diesem gemäß den Modellen der Neoklassik in ein allgemeines Gleichgewicht einpendeln. Im Gegenteil, der Markt wird in seiner Bedingtheit eben zum zentralen Problem des Neoliberalismus, und die entsprechenden Lösungsvorschläge weisen zwangsläufig über die Sphäre des strikt und ausschließlich Ökonomischen hinaus in die Sphäre des Gesellschaftlich-Politischen. Denn konkret sind mit der allgemeinen Frage des Neoliberalismus nach den Funktionsbedingungen von Märkten ja Fragen aufgeworfen wie etwa: Welchen Beitrag darf/soll/muss etwa der Staat zur Realisierung dieser Bedingungen leisten? Von welchen Politiken muss er Abstand nehmen, welche positiven Aufgaben muss er wahrnehmen? Welche Rolle spielt die Demokratie für die neoliberale Problematik und wie verkompliziert sie möglicherweise die Funktion des Staates? Und fällt der Wissenschaft möglicherweise die Aufgabe einer wissenschaftlichen Politikberatung zu oder überschätzt das ihre Kräfte und wirkt sich eine Politisierung von Wissenschaft eher negativ auf die Möglichkeit der politischen Herstellung funktionierender Märkte aus?26 Es zeigt sich also, dass dem Vorwurf des Ökonomismus in Richtung des Neoliberalismus eine zumindest stark verengte Lesart zugrunde liegt, die die Originalität, die in der neoliberalen Problematik gegenüber überkommenen liberalen Vorstellung liegt, gerade nicht zur Kenntnis nimmt, so dass die zeitgenössische Debatte teils auf höchst ironische Art und Weise die Diskussion reproduziert, aus der das neoliberale Denken einstmals mit hervorging, nur eben unter umgekehrten Vorzeichen: „The current debate on the financial and economic crisis that focus on the danger of ‚market fundamentalism‘ and the lack of morals in markets lead to the conclusion that market regulation and morals could save capitalism from its worst tendencies. Unknowingly, most participants in these discussions re-enact the debates of the

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Eine detaillierte Analyse der Variationen in den Antworten, die der Neoliberalismus auf diese Fragen gibt, findet sich in Biebricher, Political Theory of Neoliberalism.

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Thomas Biebricher 1930s that led to the invention of neo-liberalism. Are those who ignore the lessons of economic history condemned to reinvent neo-liberalism?“27

Vielmehr handelt es sich bei der neoliberalen Theorie um Politische Ökonomie in dem Sinne, dass sie systematisch die Interdependenz zwischen ökonomischen und nicht-ökonomischen (politischen, gesellschaftlichen) Sphären thematisiert, und sich tatsächlich mindestens in gleichem Maße für letztere interessiert. Blickt man auf das Werk neoliberaler Denker wie etwa Hayek oder Buchanan, dann zeigt sich, dass der Unruheherd, der die Theoriebildung immer weiter antrieb, nicht durch streng ökonomische Fragen befeuert wurde, mit denen sich beispielsweise Hayek nach dem Zweiten Weltkrieg immer seltener auseinandersetzte, sondern durch Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, in deren richtiger Austarierung – zuungunsten der Demokratie – Hayek den Schlüssel zur Ermöglichung funktionierender Märkte sah. In immer neuen Anläufen von Die Verfassung der Freiheit (1960) bis zu den drei Bänden von Recht, Gesetzgebung, Freiheit und darüber hinaus unternimmt er immer neue Anläufe, so die neoliberale Problematik zu bewältigen. James Buchanan hat immer wieder selbst darauf hingewiesen, wie ihn die Dynamik seiner Fragestellungen in disziplinarische Kontexte jenseits der Wirtschaftswissenschaften führte: „I am fully conscious of the fact that, as a professional economist, I am straying beyond my disciplinary boundaries. I am motivated by the importance of the issues and by the conviction that contributions in many subjects may be made by outsiders looking in as well as by insiders talking among themselves.“28

Das Ringen mit der neoliberalen Problematik führte unweigerlich zu einer Beschäftigung mit Fragen der Politik und der politischen Theorie. Damit steht am Ende dieser Ausführungen die Forderung einer ‚Dezentrierung‘ in der (kritischen) Beschäftigung mit Neoliberalismus in Theorie und Praxis. Wie weiter oben erwähnt, kann ja kaum ein Zweifel an dessen Marktzentriertheit bestehen, doch dies bedeutet eben nicht, dass der Markt auch tatsächlich den neuralgischen Punkt für Analyse und Kritik des Neoliberalismus darstellt. Vielmehr sollte verstärkt der Versuch unternommen werden, den Neoliberalismus von der politisch-gesellschaftlichen Infrastruktur der Märkte her zu verstehen. Eine derart ‚dezentrierte‘ Herangehensweise hätte diverse Vorteile für sich zu verbuchen: Nicht nur würde sie schlichtweg ein angemesseneres Verständnis des Neoliberalismus in seiner Komplexität dokumentieren, ____________________ 27 28

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Amable, Morals and politics, S. 27. Buchanan, Limits of Liberty, S. xvi.

Das politische Denken des Neoliberalismus

sondern gerade für diejenigen, die dem Neoliberalismus kritisch gegenüberstehen, könnte es auch aus strategischen Gründen sinnvoll sein, eine stärker politische Akzentuierung vorzunehmen. So liefe man weit weniger Gefahr, sich dem Polemik-Vorwurf auszusetzen, wenn man die Kritik des Markfundamentalismus suspendierte, und zudem könnte die Verlagerung der Diskussion auf die politisch-gesellschaftlichen Bedingungen neoliberaler Märkte auch offene Flanken im neoliberalen Diskurs offenbaren. Dann müsste man sich nicht auf ökonomisch-moralische Debatten über das einlassen, was sich auf Märkten vollzieht und wie dies normativ einzuordnen ist, die bei aller Bedeutung die ihnen fraglos zukommt, doch in einem schon Jahrzehnte währenden Unentschieden fundamentaler Überzeugungen, wenn nicht gar Glaubenssätze feststecken. Stattdessen könnte man sogar konzedieren, dass möglicherweise die ökonomischen Argumente des Neoliberalismus durchaus ihre Triftigkeit haben. Doch selbst für den (unwahrscheinlichen) Fall, dass Märkte sowohl effiziente als auch gerechte Resultate hervorbrächten, wären die politischen Kosten die für die Ermöglichung solcher Märkte anfielen – etwa in Form eines autoritären Staates in manchen Variationen des Neoliberalismus oder in Form einer weitgehenden Entdemokratisierung von Politik in anderen – prohibitiv hoch zu veranschlagen, so dass es gerade diese politisch-gesellschaftlichen Bedingungen sind, die als zentraler Einspruch gegen neoliberale Projekte apostrophiert werden könnten. 5.

Vom Ende und Anfang des Neoliberalismus

Dies bringt uns zu einigen abschließenden Bemerkungen, anhand derer deutlich wird, wie stark sich die zeitdiagnostischen Befunde unterscheiden, je nachdem, ob man den Neoliberalismus als ökonomistischen Marktfundamentalismus oder polit-ökonomische Problematik im hier vorgeschlagenen Sinn interpretiert. Mit dem Ausbruch der Finanzkrise vor etwa zehn Jahren war in den Augen mancher Beobachter auch das Ende der Doktrin selbstregulierender Märkte angebrochen, die nach deren Einschätzung ein entscheidender Faktor in der Entwicklung eines zusehends deregulierten Finanzsektors war, der als Ursache oder doch zumindest als Katalysator der Finanzkrise identifiziert wurde. Doch trotz eines kurzzeitigen Stimmungsumschwungs, der sich in einer breiten gesellschaftlichen Verurteilung eines von Gier getriebenen Marktradikalismus äußerte, schien das so gescholtene Regime des Neoliberalismus zwar zu taumeln, aber doch nicht zu fallen. Unweigerlich führte dies zu Einschätzungen, die sich der kulturellen Figur 187

Thomas Biebricher

der letzten zehn Jahre schlechthin bedienten, und das Bild eines ZombieNeoliberalismus entwarfen, der zwar intellektuell tot sei, aber bis zu seinem endgültigen Ableben weiterhin sein zerstörerisches Werk fortführe.29 Doch die silberne Kugel, um dies zu bewerkstelligen, blieb unentdeckt, oder zumindest ungenutzt, um im Bild zu bleiben. Bedeutet dies tatsächlich, dass der Neoliberalismus unverändert aus seiner vermeintlichen Krise hervorgegangen ist? Folgt man den Einschätzungen einiger einflussreicher Beobachter, so muss diese Frage bis zum Krisenjahr 2016 (wobei zu fragen wäre, welches Jahr der letzten Dekade nicht als Krisenjahr zu bezeichnen ist) bejaht werden. Erst die Ereignisse jenes Jahres hätten einen dramatischen Umschwung in der Großwetterlage der westlichen Welt auch und insbesondere im Hinblick auf den Neoliberalismus herbeigeführt: Die Rede ist natürlich vom Aufstieg des ‚Rechtspopulismus‘, dessen vermeintlicher Siegeszug sich im Wahlsieg Donald Trumps, der Brexit-Entscheidung und beispielsweise auch den österreichischen Parlamentswahlen niederschlage; nicht zu vergessen die Achtungserfolge in Frankreich und den Niederlanden. Wie das Phänomen Rechtspopulismus zu erklären ist und ob sich dieser überhaupt als sinnvolle analytische Kategorie bestimmen lässt, sind Fragen, die nun seit einigen Jahren kontrovers diskutiert werden und hier selbstverständlich nicht ausführlich erörtert werden können. Es gibt aber einen Diskursstrang, der sich über die diversen ideologischen Gräben hinweg herausgebildet hat, der sich zwar uneinig über die Ursachen des Rechtspopulismus ist, aber doch zumindest dahingehend Übereinstimmung verzeichnet, dass dieser nun zweifellos das Ende des Neoliberalismus markiere. Als habe es die voreiligen Todesanzeigen im Zuge der Finanzkrise nie gegeben, stellte etwa Cornel West mit Blick auf die Präsidentschaftswahl in den USA umgehend fest: „The age of Obama was the last gasp of neoliberalism. […] The neoliberal era in the United States ended with a neofascist bang.“30 Im britischen Kontext wurde das Ende der neoliberalen Ära unter dem Eindruck der Brexit-Entscheidung sogar schon etwas früher verkündet, und zwar immerhin von Martin Jacques, einem der profiliertesten Analytiker des ‚Thatcherismus‘ der 1980er Jahre.31 Selbstverständlich gibt ____________________ 29 30

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Vgl. Peck, Zombie Neoliberalism. West, Goodbye, American Neoliberalism. In ähnlicher Weise sieht Nancy Fraser das „Ende neoliberaler Hegemonie“ gekommen, wobei ihr Verständnis von (reaktionärem und progressivem) Neoliberalismus in diesem Zusammenhang allerdings eher unscharf bleibt. Vgl. Fraser, Neue Linke, S. 71. Jacques, Death of Neoliberalism.

Das politische Denken des Neoliberalismus

dieser Befund selbst bei denjenigen, die das vermeintliche Ende des Neoliberalismus herbeigesehnt haben mögen, keinerlei Anlass zur Beruhigung, da hier ja gleichwie nur der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben worden sei. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass nach dieser Lesart die neoliberale Vorherrschaft gebrochen und an ihre Stelle eine Allianz politischer Kräfte getreten ist, die durch eine Kombination von ‚Rechtspopulismus‘, Nationalismus und Autoritarismus gekennzeichnet sei, die gerade das Gegenteil der kosmopolitischen Marktgläubigkeit der neoliberalen Ära bezeichne. Diese Sichtweise mag einiges für sich haben, letztlich überzeugend ist sie aber nur unter der Prämisse, dass der Neoliberalismus schlicht für die Diffusion staatlicher Macht bzw. ihrer Entäußerung an die Autorität des Marktes steht. Insofern die hier vertretene Lesart einer polit-ökonomischen Problematik des Neoliberalismus eben jener Prämisse eine Absage erteilt, gelangt sie auch zu sehr unterschiedlichen, wenn nicht gar gegensätzlichen zeitdiagnostischen Einschätzungen. Denn zwar hatten die Neoliberalen sicherlich wenig für Protektionismus übrig, wie sie auch insgesamt einem übertriebenen Nationalismus skeptisch gegenüberstanden, und insoweit diese Elemente tatsächlich die derzeitige Politik prägen, bezeichnet sie wohl wirklich eine Antithese zu neoliberalen Vorstellungen. Doch sieht man den gemeinsamen politischen Nenner der Gegenwart vor allem in einer zunehmenden Dominanz autoritärer politischer Formen, deren tendenziell globale Ausweitung von den üblichen Verdächtigen Russland, China und neuerdings der Türkei bis tief hinein in die westliche Welt reicht (inklusive einer zusehends autoritären weil demokratisch defizitär legitimierten Wirtschaftsordnung der Europäischen Union), muss man festhalten, dass dieser autoritäre Zug keineswegs im Gegensatz zu dem steht, was die deutschen Ordoliberalen, Hayek und sogar Milton Friedman oder James Buchanan als mögliche Lösungsansätze der politischen Problematik des Neoliberalismus in Betracht zogen. Zwischen den genannten Autoren bestehen sicherlich Unterschiede, was die genauen Modalitäten derartiger Lösungen angeht, so dass es auch in diesem Zusammenhang wichtig ist, die Variationsbreite neoliberalen Denkens nicht aus den Augen zu verlieren. Doch bei den intellektuellen Bemühungen um die effektive Umhegung der vermeintlichen Exzesse der Massendemokratie als ein wichtiges Teilproblem der neoliberalen Problematik, werden unterschiedlich geartete (semi-)autoritäre Lösungsentwürfe keineswegs ausgeschlossen. Diese reichen von einem dem demokratischen Zugriff entzogenen Regelsystem eines Buchanan bis zum liberalen Autoritarismus (inklusive vorübergehende Diktatur) eines Hayek und die über das 189

Thomas Biebricher

ordoliberale Spektrum hinweg geteilte Vision eines über den gesellschaftlichen Interessen thronenden ‚starken Staates‘. Dementsprechend müsste also eigentlich die vorherrschende Zeitdiagnose vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Im Lichte der neoliberalen Problematik und der intellektuellen Ansätze zu ihrer Lösung ist festzustellen, dass die Charakterisierung der letzten Dekaden als Ära des Neoliberalismus streng genommen ein Fehlurteil darstellt und zwar nicht nur, weil derartig globale Attributionen immer fragwürdig sind, sondern vor allem, weil sie auf einem Missverständnis des Neoliberalismus als Inbegriff entstaatlichter Marktgläubigkeit beruhen. Umgekehrt bezeichnet die autoritäre Wende der Gegenwart mitnichten das Ende des Neoliberalismus. Vielmehr erleben wir, pointiert formuliert, erst jetzt den Anbruch des Neoliberalismus, verstanden als in autoritäre politische Systeme eingefasste kapitalistische Marktwirtschaften oder, in der prägnanten Formel Alexander Rüstows, den die neoliberale Selbstgeschichtsschreibung immerhin als Erfinder des Begriffs Neoliberalismus führt: „Freie Wirtschaft, Starker Staat.“32 Wenn es überhaupt etwas gibt, was sich – vereinfachend und zugespitzt – als Ära des Neoliberalismus bezeichnen ließe, so ist sie nicht soeben zu Ende gegangen; möglicherweise beginnt sie gerade erst.

Literaturverzeichnis Amable, Bruno: Morals and Politics in the Ideology of Neo-Liberalism, Socioeconomic Review 9/1, 2010, S. 3-30. Biebricher, Thomas: Neoliberalismus und Staat: Ziemlich beste Feinde. In: Ders. (Hrsg.): Der Staat des Neoliberalismus, 2016. Ders.: Neoliberalismus zur Einführung, 3. Aufl., 2018. Ders.: The Political Theory of Neoliberalism, 2019. Birch, Kean: We Have Never Been Neoliberal: A Manifesto for a Doomed Youth, 2015. Bruff, Ian: The Rise of Authoritarian Neoliberalism, Rethinking Marxism 26/1, 2014, S. 113-129. Burgin, Angus: The Great Persuasion: Reinventing Free Markets since the Depression, 2012. Buchanan, James: The Limits of Liberty: Between Anarchy and Leviathan. The Collected Works of James M. Buchanan Volume 7, 2000 [1975].

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Rüstow, Freie Wirtschaft – Starker Staat. Vgl. zur autoritären Dimension des Neoliberalismus auch Bruff, Authoritarian Neoliberalism, sowie Biebricher, Political Theory of Neoliberalism.

Das politische Denken des Neoliberalismus Ders.: Socialism Is Dead But Leviathan Lives On, 1990. Chomsky, Noam: Profit over People: Neoliberalism and Global Order, 1999. Crouch, Colin: The Strange Non-Death of Neoliberalism, 2011. Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978/79, 2004. Fraser, Nancy: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, Blätter für deutsche und internationale Politik 2, 2017, S. 71-76. Hayek, Friedrich August: The Road to Serfdom, 2008 [1944]. Jackson, Ben: At the Origins of Neo-Liberalism: The Free Economy and the Strong State, 1930-1947, The Historical Journal 53/1, 2010, S. 129-151. Jacques, Martin: The Death of Neoliberalism and the Crisis of Western Politics, The Guardian vom 21.08. 2016, unter https://www.theguardian.com/commentisfree /2016/aug/21/death-of-neoliberalism-crisis-in-western-politics (letzter Zugriff am 29.01. 2018). Jessop, Bob: Neoliberalismen, kritische politische Ökonomie und neoliberale Staaten. In: Biebricher, Thomas (Hrsg.): Der Staat des Neoliberalismus, 2016, S. 123-152. Kreisky, Eva: Die maskuline Ethik des Neoliberalismus – Die neoliberale Dynamik des Maskulinismus, femina politica 5/2, 2001, S. 76-91. Lippmann, Walter: An Inquiry into the Principles of The Good Society, 1937. Mannheim, Karl: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, 1984. Ostry, Jonathan et al.: Neoliberalism: Oversold?, Finance & Development 53/2, 2016, S. 38-41. Peck, Jamie: Zombie Neoliberalism and the Ambidextruous State, Theoretical Criminology 14/1, 2010, S. 104-110. Ders.: Constructions of Neoliberal Reason, 2010, Plickert, Philip: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society“, 2008. Reinhoudt, Jurgen und Serge Audier (Hrsg.): The Walter Lippmann Colloquium: The Birth of Neoliberalism, 2018. Roy, Ravi, Arthur Denzau und Thomas Willett: Introduction: Neoliberalism as a Shared Mental Model. In: Roy, Ravi (Hrsg.): Neoliberalism: National and Regional Experiments with Global Ideas, 2007, S. 3-13. Rüstow, Alexander: Freie Wirtschaft – Starker Staat (Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftspolitischen Liberalismus). In: Boese, Franz (Hrsg.): Deutschland und die Weltkrise. Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik in Dresden, 28. und 29. September 1932, 1932, S. 62-69 Ders.: Die Religion der Marktwirtschaft, 2009. Steger, Manfred und Ravi Roy: Neoliberalism: A Very Short Introduction, 2010. Walpen, Bernhard: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, 2004. West, Cornel: Goodbye, American Neoliberalism. A New Era is here, The Guardian vom 17.11. 2016, unter https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/no

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Thomas Biebricher /17/american-neoliberalism-cornel-west-2016-election (letzter Zugriff am 29.01. 2018). Willgerodt, Hans: Der Neoliberalismus: Entstehung, Kampfbegriff und Meinungsstreit, ORDO 57, 2006, S. 47-89.

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TEIL II: Gegenwärtige Kontroversen

Welche Märkte, wessen Wirtschaft? Das Rechtfertigungsnarrativ des Marktes und die vernachlässigte Rolle wirtschaftlicher Organisationen Lisa Herzog

1.

Einleitung

Es ist eine weitverbreitete und sicherlich nicht falsche Auffassung, dass „der Markt“ eine Herausforderung für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft darstellt. Gerade für die Kritiker des sogenannten „Neoliberalismus“,1 dessen Wind seit den 1980ern in westlichen Gesellschaften weht, scheint „der Markt“ oft der Gegner schlechthin zu sein, ein Gegner, der an allen Übeln schuld sei und mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Verteidiger des Marktes halten dem oft entgegen, dass dieser bei allen Problemen eine notwendige Institution2 zur Lösung von Allokations- und Koordinationsproblemen sei, und deshalb innerhalb klar abgesteckter Grenzen Teil einer gerechten Gesellschaft sein müsse. Die Frontlinie scheint dann entlang der Frage zu verlaufen, wieviel gesellschaftlicher Raum dem „Markt“ zugestanden wird bzw. welche sozialen Sphären anderen Institutionen oder anderen sozialen Logiken vorbehalten bleiben sollen.3 In diesem Beitrag möchte ich dieses Bild verkomplizieren, und dies nicht nur, indem ich die Rede von einem einheitlichen, homogen operierenden „Markt“ hinterfrage – können doch Märkte je nach den Akteuren, die in ihnen aktiv sind, den Gütern, die gehandelt werden, und den rechtlichen und kulturellen Kontexten, in denen sie stattfinden, völlig unterschiedliche Formen annehmen – sondern auch, indem ich darauf hinweise, dass die Rede ____________________ 1

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Ich meine mit diesem Begriff nicht dessen ursprüngliche Verwendung durch Walther Lippmann oder Angehörige der Freiburger Schule in den 1930ern, sondern das Denken der „Mont Pelerin Society“ und der „Chicago School“, das sich seit den 1980ern durchgesetzt hat. Zu dessen Genese siehe z.B. Ciepley, Liberalism in the Shadow of Totalitarianism. Das hier zugrunde gelegte Institutionenverständnis ist breit und kann z.B. anhand von North, Institutions, Institutional Change, and Economic Performance gefasst werden. Ein Beispiel einer solchen Lesart der sozialen Wirklichkeit bietet z.B. Walzer, Spheres of Justice.

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Lisa Herzog

von „dem Markt“ den Blick dafür verstellen kann, welche anderen Mechanismen in unserem Wirtschaftssystem ebenfalls eine zentrale, und aus normativer Sicht problematische, Rolle spielen. Ich diskutiere zwei Argumente, die in dieser Debatte bislang verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden haben. Zum einen gehe ich darauf ein, welche Form der Binnengerechtigkeit nach einer Logik von „Verdienst“ sich in Märkten finden kann; diese Argumentationslinie, die von Befürwortern des Marktes oft vorgetragen wird, ist in der Theorie schlüssig, in der Praxis allerdings nur schwer anwendbar. Damit wird ein gerne zur Verteidigung von Märkten vorgebrachtes Argument brüchig: reale Märkte sind nicht „gerecht“ in dem Sinne, dass sie allen Teilnehmerinnen das zuteilen, was sie „verdienen“. Zum zweiten möchte ich die These verteidigen, dass die Rede vom „Markt“ als normativem Problem oft den Blick davon ablenkt, in welchem Maß andere Institutionen für die problematischen Ergebnisse, die Märkten zugeschrieben werden, mit- oder auch alleine verantwortlich sind. Ich konzentriere mich dabei besonders auf große wirtschaftliche Organisationen, insbesondere Aktiengesellschaften (die angelsächsischen „corporations“).4 Denn das Wirtschaftsleben westlicher Gesellschaften besteht nicht nur aus Märkten, sondern wird in hohem Maß von derartigen Organisationen beherrscht, deren normative Dimensionen, besonders in Bezug auf ihre interne Gestaltung, bislang in der politischen Theorie wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Ich diskutiere drei Hinsichten, in denen die Logik von Organisationen von der Logik von Märkten abweicht, und diese deswegen normativ anders bewertet werden müssen: deren interne Strukturen, in der nicht Austauschverhältnisse, sondern Hierarchien vorherrschen; ihren rechtlichen Charakter, der ebenfalls nicht rein aus der Logik des Marktes heraus verstanden werden kann; sowie ihre Rolle bei der Setzung der Spielregeln von Märkten, die den Annahmen widerspricht, die in den meisten Modellen von Märkten gemacht werden. Als Ergebnis dieser Diskussion ergibt sich ein Bild, das dem vom „freien Markt“ an entscheidenden Stellen widerspricht, und das neue Fragen nach Gerechtigkeit, und nach der Möglichkeit der Gestaltung der Wirtschaft nach demokratisch legitimierten Spielregeln, aufwirft. ____________________ 4

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Natürlich sind auch Gewerkschaften, Verbände, Lobbyorganisationen „Wirtschaftsorganisationen“; teilweise können intern ähnliche Probleme vorliegen wie innerhalb von großen Unternehmen. Ich konzentriere mich hier auf letztere, da in Bezug auf sie die unten diskutierten Argumente in der heutigen Situation besonders dringlich erscheinen.

Welche Märkte, wessen Wirtschaft?

Aus dieser Perspektive erscheint die Rede vom „Markt“ entweder als ein naives Missverständnis – oder aber als ein ideologischer Vorwand, der dazu dient, die Interessen großer Organisationen zu verschleiern und sie gegen regulierende Eingriffe oder gegen Verantwortungszuschreibungen zu immunisieren. Wenn z.B. der marktliberale US-Philosoph John Tomasi die unternehmerische Freiheit verteidigt und sich dabei vor allem auf Beispiele im Bereich kleiner Familienunternehmen, z.B. Hundesalons, beruft,5 unterschlägt er damit wesentliche Aspekte des Wirtschaftslebens: die Walmarts, Googles, oder auch Uebers der heutigen Welt – und er spielt ihnen damit, ob gewollt oder nicht, in die Hände. Es ist daher dringend geboten, die Rede vom „Markt“ zu hinterfragen. Zugespitzt gesagt: wir hätten viele reale Probleme nicht, wenn die wirtschaftliche Wirklichkeit dem Bild entspräche, das die Befürworter des Marktes von ihm zeichnen; die Kritiker realer Märkte und die Verteidigerinnen idealer, den Lehrbuchmodellen entsprechender Märkte, können hier teilweise an einem Strang ziehen. Für die politische Theorie ist diese Situation nicht nur interessant, weil sich daraus neue politische Allianzen ergeben könnten, sondern auch, weil sie ein interessantes Lehrstück für die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist: es ist Vorsicht geboten, wenn es darum geht, Wirklichkeitsbeschreibungen aus anderen Disziplinen zu übernehmen, und damit möglicherweise implizite Beschreibungen und auch Wertungen zu übernehmen, die quer zur gesellschaftlichen Wirklichkeit liegen. 2.

Die Binnengerechtigkeit des Marktes

2.1. Zum Begriff des Marktes Umgangssprachlich meint der Begriff des Marktes Orte des Austausches, z.B. Wochenmärkte oder Großmärkte, an denen sich im Spiel von Angebot und Nachfrage ein Preis bildet. Damit freilich ist noch sehr wenig darüber gesagt, welche Akteure – natürliche oder juristische Personen, in größerer oder kleinerer Zahl, innerhalb eines Kreises persönlicher Bekanntschaft oder in der Anonymität der Masse? – innerhalb welcher rechtlicher, sozialer und kultureller Kontexte mit welchen Gütern – materielle oder immaterielle Güter, lebensnotwendige Güter oder Luxusartikel, harmlose oder gefährliche Gegenstände? – handeln. Es ist deshalb eine Binsenweisheit, darauf ____________________ 5

Tomasi, Free Market Fairness, S. 182. Für Kritik daran siehe auch Néron, Rethinking the Very Idea of Egalitarian Markets and Corporations, S. 107.

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hinzuweisen, dass aus einer normativen Perspektive heraus nicht alle Märkte gleich bewertet werden können, weil mit den unterschiedlichen Phänomenen auch unterschiedliche normative Anliegen auf dem Spiel stehen, wenn es z.B. um die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse oder um Luxusgüter geht. Manche der unterschiedlichen Züge von Märkten sind kontingent und veränderbar, während andere in der Natur der Sache liegen und nicht ohne Weiteres geändert werden können, z.B. weil Netzwerkeffekte dazu führen, dass manche Märkte hin zu einer kleineren Zahl von Anbietern tendieren als andere, in denen Güter ohne Netzwerkeffekte gehandelt werden. Um zu verstehen, weshalb Vertreterinnen des Marktes in ihm nicht nur eine effiziente, sondern auch eine in einem gewissen Sinne gerechte Institutionen sehen, ist es hilfreich, sich klar zu machen, dass die Modelle des Marktes, die sich in den Lehrbüchern der Ökonomie finden, und insbesondere das Allgemeine Gleichgewichtsmodell der Mikroökonomie, von Annahmen geprägt sind, die weit über das umgangssprachliche Verständnis des Begriffs des „Marktes“ hinausgehen. Für normative Fragen relevante Annahmen sind dabei insbesondere: •





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die Annahme unabhängig gegebener („exogener“) Präferenzen, d.h. die Marktteilnehmer formen vor dem Eintritt in den Markt ihre Präferenzen darüber, welche Güter sie zu welchen Preisen erwerben möchten. Sie werden nicht erst durch den Markt, oder konkret durch andere Marktteilnehmerinnen, dazu gebracht, ihre Präferenzen („endogen“) zu entwickeln oder zu verändern. Sämtliche Fragen nach dem kulturellen Einfluss des Marktes, nach der Rolle der Werbung oder anderen Formen der Einflussnahme fallen dadurch weg. die Annahme, dass Marktteilnehmerinnen nur ihre jeweils eigenen Präferenzen im Blick haben; Fragen nach („positionalen“) Gütern, deren Wert sich durch ihre relative Position bemisst, fallen dadurch ebenso weg wie psychologische Fragen nach Nachahmung, Neid oder Missgunst. die Annahme vollständiger Information und vollständiger Rationalität aller Marktteilnehmer; dadurch fallen Fragen nach selbstschädigendem Verhalten aufgrund unvollständiger Information und/oder Rationalität, z.B. zeitinkonsistentem Verhalten, ebenso weg wie Fragen nach Täuschungs- oder Irreführungsversuche unterhalb der Schwelle rechtlich fassbarer Verstöße, die z.B. irrationale Verhaltenstendenzen ausnutzen.

Welche Märkte, wessen Wirtschaft?









die Annahme „atomistischer“ Märkte, d.h. einer so großen Zahl an Teilnehmern, dass niemand von ihnen direkten Einfluss auf die Preissetzung nehmen kann; alle Marktteilnehmer sind „Preisnehmer“ und passen lediglich die Menge von Angebot oder Nachfrage an. Dadurch fallen alle Fragen nach Marktmacht und der durch sie möglicherweise verzerrten Verteilungswirkung von Märkten weg. die Annahme der Existenz von Exit-Optionen, d.h. kein Marktteilnehmer muss an einem bestimmten Markt teilnehmen; hierdurch entfällt eine andere mögliche Quelle ungleicher Macht, nämlich das Bewusstsein der Tatsache, dass die anderen Alternativen, die einem Akteur offenstehen, für ihn sehr viel schlechter sind als die Teilnahme an einem bestimmten Markt. die Annahme, dass keine negativen oder positiven Externalitäten, also nicht eingepreiste Effekte, auf Dritte ausgeübt werden; dadurch entfallen zahlreiche Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und/oder der Machtausübung, die durch Externalitäten entstehen können. die Annahme der Abwesenheit von Transaktionskosten, inklusive der Kosten, die für die Durchsetzung von Verträgen notwendig sind; dadurch entfallen Fragen nach ungleichen und damit potentiell ungerecht verteilten Fähigkeiten, Verträge rechtlich durchzusetzen, sowie den sich daraus ergebenden Verzerrungen von Märkten.

Natürlich gibt es zahlreiche Modelle, die eine oder mehrere dieser Annahmen lockern. Dennoch ist es dieses Bild vollkommener Märkte, das von Verteidigern des Marktes in der Regel hochgehalten wird – oft mit der Begründung, dass Abweichungen in der realen Welt selbstverständlich vorlägen, diese aber so selten oder so klein seien, dass an der allgemeinen Botschaft des Modells keine Abstriche gemacht werden müssten. Es bildet die Grundlage ökonomischen Denkens in zahlreichen Lehrbüchern, wo diesem klassischen Modell ein prominenter Platz eingeräumt wird.6 Die Botschaft ist dabei nicht nur, dass derartige Märkte effizient sind, sondern begleitend – und oft nicht explizit gemacht – auch, dass derartigen Märkten eine Art Binnengerechtigkeit innewohne, die normativ hochattraktiv sei.

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Siehe z.B. das einflussreiche Lehrbuch von Mas-Colell et al., Microeconomic Theory.

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2.2. „Verdienst“ als Gerechtigkeitsnorm Die Vorstellung, die Befürworterinnen des Marktes veranlasst, ihm gewisse Gerechtigkeitseigenschaften zuzuschreiben, beruht auf diesen Annahmen, insbesondere dem Vorliegen von Exit-Optionen und der Abwesenheit von Marktmacht, die gemeinsam ein Bild von Märkten als Sphären der Freiwilligkeit und der glatten, geräuschlosen Anpassung an die durch Preisveränderungen signalisierten Veränderungen der Umwelt oder der Präferenzen der Teilnehmer suggerieren. In so einem Markt spiegeln Preise die Grenzkosten der Produktion wieder – und, so die Vorstellung, wer mehr leistet, kann entsprechend auch mehr verdienen. Harte Arbeit lohne sich, und hohe Einkommen seien Ausdruck dessen, dass man viel geleistet haben müsse; wäre die eigene Leistung nicht angemessen für ihren Preis, würde die Konkurrenz der Marktteilnehmer dafür sorgen, dass man von andere Anbieterinnen überholt würde. Knapp gesagt: Der Markt sei effizient, weil er Leistung belohne, und deswegen müsse das, was vom Markt belohnt werde, Leistung sein – so das Bild. Explizit gemacht hat diese weit verbreitete Vorstellung vor kurzem zum Beispiel der Nobelpreisträger N. Gregory Mankiw, unter anderem in einem Aufsatz mit dem bemerkenswerten Titel „Defending the One Percent.“7 Hinzu kommt oft die Vorstellung, dass Regulierung, die über die Bereitstellung eines „Nachtwächterstaats“ zur Sicherung von Eigentumsrechten und Vertragsfreiheit hinausgehen würde, den Zusammenhang von Leistung und Effizienz auflösen und damit letztlich alle Beteiligten schlechter stellen würde. Auch auf Seiten der Konsumenten kann man in dieser Modell-Welt eine Art von Gerechtigkeit ausfindig machen. Weil die Grenzkosten ihrer Aktivitäten von den Individuen selbst getragen würden, zahlten diese sozusagen einen gerechten Preis für das, was sie konsumieren: gehen z.B. Arbeit, Rohmaterial und Energie in ein Produkt ein, das ich kaufe, dann – so die Vorstellung – zahle ich genau dafür, dass die entsprechenden Einheiten Arbeit, Rohmaterial und Energie hierfür und nicht für andere Zwecke verwendet werden. Wer zahlen müsse, trage Verantwortung und verhalte sich entsprechend klug, er oder sie hat z.B. den Anreiz, sich nach Alternativen umzusehen. Wer eine Alternative finde, die tatsächlich günstiger sei, tue damit – in der Logik der Modellwelt – etwas dafür, dass im System insgesamt keine Ressourcen verschwendet würden, was ebenfalls verdienstvoll scheint. Das ____________________ 7

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Siehe z.B. Mankiw, Spreading the Wealth Around; ders., Defending the One Percent.

Welche Märkte, wessen Wirtschaft?

gesamte System einer Marktwirtschaft, wie es im Allgemeinen Gleichgewichtsmodell dargestellt wird, ist von dieser Logik des rationalen, verantwortlichen Handelns und des „Verdienstes“ durchzogen, die mit der ParetoEffizienz des Marktes Hand in Hand geht – zumindest in der Welt des Modells. 2.3. Die Grenzen des „Verdienens“ Allerdings ist das Allgemeine Gleichgewichtsmodell so idealisiert, dass es erheblicher Fantasie oder des bewussten Verschließens der Augen bedarf, um die ökonomische Wirklichkeit, in der wir leben, nach dieser Logik zu verstehen. Dass heutige Märkte hinreichend frei von Informationsasymmetrien, Machteffekten oder Externalitäten – um nur drei der oben aufgelisteten Bedingungen wiederaufzugreifen – seien, wie es das zentrale Lehrbuchmodell Semester für Semester zahlreichen Ökonomie-Studentinnen vermittelt, ist schlicht und einfach falsch; die fehlende Einpreisung von Umwelt- und Klimaeffekten in der Produktion zahlreicher Güter ist das vielleicht offensichtlichste Gegenbeispiel. Und: die Logik des Allgemeinen Gleichgewichtsmodells ist eine Logik kommunizierender Röhren; liegen irgendwo im System Verzerrungen vor, z.B. durch den Einfluss von Marktmacht, kann dies Auswirkungen in anderen Märkten haben und dort ebenfalls Verzerrungen erzeugen.8 Im theoretischen Extremfall kann schon ein einziger Fall von Marktmacht oder eine einzige andere Abweichung vom Marktgleichgewicht dazu führen, dass die Preise im gesamten System nicht mehr als „verdient“ im Sinne des Grenzkostenkalküls verstanden werden können. Darüber hinaus kann man tiefergehende philosophische Fragen nach der Grundlage von „Verdienst“ aufwerfen. Auf einer grundlegenden Ebene kann man fragen, ob nicht schon die Tatsache der von Rawls treffend bezeichneten „natürlichen Lotterie von Talenten“9 der Rede von „Verdienst“ den Boden entzieht. Aber selbst, wenn man sich nicht auf philosophische ____________________ 8

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Ein Beispiel wären z.B. die Wohnungsmärkte in Städten, in denen viele Finanzinstitutionen aktiv sind. Man kann aufgrund verschiedener Effekte davon ausgehen, dass die Gehälter im Finanzsystem nach oben verzerrt sind (siehe Herzog, Can incomes in financial markets be deserved?). Diese erhöhten Gehälter haben Auswirkungen auf die Wohnungs- und Immobilienpreise in den entsprechenden Städten. Rawls, A Theory of Justice, S. 73f., S. 104.

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Lisa Herzog

Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen individueller Verantwortung und Zurechenbarkeit – und auch die komplexen epistemischen Fragen, die daraus entstehen –10 einlassen möchte, kann man leicht erkennen, dass die Annahmen des Allgemeinen Gleichgewichtsmodells in der Wirtschaftswelt nicht oder nur sehr lückenhaft vorliegen; wo sie es tun, ist dies oft das Ergebnis sorgfältiger staatlicher Regulierung durch demokratische Regierungen, und nicht einer „spontanen“ Ordnung durch eine mysteriös im Hintergrund agierende „unsichtbare Hand.“ Anders formuliert: Wenn, und insofern überhaupt, eine gewisse Angleichung von moralisch verstandener „Leistung“ und Markteinkommen vorliegt, dann vermutlich nicht deshalb, weil der entsprechende Markt möglichst wenig reguliert ist – sondern, im Gegenteil, deshalb, weil er durch kluge Regulierung so gestaltet wurde, dass er dem Lehrbuchmodell möglichst nahekommt. Das bedeutet zum Beispiel, dass gesetzlich vorgeschrieben ist, dass bestimmte Informationen allen Marktteilnehmerinnen zugänglich gemacht werden müssen, dass Externalitäten durch Regulierung oder Besteuerung verhindert werden, und dass irreführender Werbung, die bewusst an psychologischen Schwächen der Konsumenten ansetzt, Einhalt geboten wurde. Aber auch dann bleiben zahlreiche Fragen offen, was die Anwendbarkeit der Logik von „Verdienst“ angeht. So spielt z.B. in realen Märkten oft eine entscheidende Rolle, wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist11 – während im Allgemeinen Gleichgewichtsmodell zeitliche Dynamik überhaupt keine Rolle spielt. Allenfalls in eng begrenzten Nischen, in Fällen, in denen verzerrende Faktoren ausgeschaltet sind oder für unterschiedliche Akteure gleich stark wirken, lässt sich das Modell anwenden: wenn etwa eine von zwei ansonsten vergleichbaren Bäckereien bessere Ware liefert als die andere und somit höhere Gewinne erzielt. Von derartigen anekdotischen Fällen aber auf das System insgesamt schließen zu wollen, wäre ein Trugschluss der Komposition: nur weil in einzelnen Fällen die Binnenmoral von „Verdienst“ anwendbar scheint, bedeutet dies nicht, dass sie auf das System insgesamt anwendbar ist. Die Beweislast liegt hier bei denjenigen, die – auch gegen zahlreiche offensichtliche Gegenbeispiele, z.B. den Einkommensverhältnissen ____________________ 10 11

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Siehe dazu z.B. Moriarty, The Epistemological Argument against Desert. Für zahlreiche historische Beispiele, z.B. zu bahnbrechenden technischen Erfindungen und deren unterschiedlichen finanziellen Erträgen, vgl. eindrucksvoll Alperovitz/Daly, Unjust Deserts: How the Rich Are Taking Our Common Inheritance.

Welche Märkte, wessen Wirtschaft?

in sozial notwendigen Bereichen wie der Alten- und Kinderpflege versus sozial fragwürdigeren Bereichen wie Sekundärmärkten im Finanzbereich12 – dennoch von einer Verteilung nach „Verdienst“ im Gesamtsystem ausgehen. Im Folgenden möchte ich vertieft auf eine Ursache der Differenzen zwischen dem Allgemeinen Gleichgewichtsmodell und der heutigen realen Wirtschaftswelt eingehen, die auch aus normativer Perspektive höchst relevant ist, aber selten thematisiert wird: die Tatsache, dass nicht alle Markteilnehmer natürliche Individuen sind, sondern dass in vielen Märkten die wichtigsten Player große Organisationen sind, die in der Regel als Aktiengesellschaften oder als andere Konstrukte mit eigener Rechtspersönlichkeit auftreten.13 Damit verschiebt sich das Bild weg von „atomistischer“ Konkurrenz, in der die Einzelnen keinen Einfluss auf das anonyme Wirken der Marktkräfte haben, hin zu einem Bild, in dem Marktkräfte und andere Formen der Machtausübungen auf komplexe Weise verschränkt sind. 3.

Märkte, Hierarchien und Gerechtigkeit

3.1. Das Innere von Organisationen – die „Theorie der Firma“ Man mag es als traurige Ironie bezeichnen, dass gerade Erwägungen der Effizienz, also des Kernprinzips der ökonomischen Wissenschaft, die Grundlage der „Theorie der Firma“ bilden, die erklärt, wieso im modernen Wirtschaftsleben nicht nur „Märkte,“ sondern auch „Hierarchien“ vorliegen – und dass dies in vielen Marktmodellen trotzdem in keinerlei Hinsicht abgebildet wird. Schon 1937 legte Ronald Coase in dem zum Klassiker gewordenen Aufsatz „The Nature of the Firm“ dar, wie die Existenz von Transaktionskosten dazu führt, dass Allokationsfragen, die theoretisch in Märkten lösbar wären, innerhalb von hierarchischen Strukturen effizienter gelöst werden können.14 Aus diesem „Transaktionskostenansatz“ heraus ____________________ 12 13

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Siehe hierzu im Detail auch Herzog, Can incomes in financial markets be deserved? Das bedeutet z.B., dass diese Organisationen Verträge abschließen und Eigentum besitzen können. Die Details, ob z.B. auch strafrechtliche Haftung vorliegt, unterscheiden sich von Rechtssystem zu Rechtssystem; im Folgenden geht es jedoch um die Grundfigur des Unternehmens als Rechtsperson, die weitgehend einheitlich gehandhabt wird. Coase, The Nature of the Firm.

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entwickelte sich der Forschungsstrang der „Theorie der Firma“, innerhalb dessen verschiedene Mechanismen analysiert wurden, die erklären können, wo die Grenze zwischen „Märkten“ und „Hierarchien“ verläuft.15 Aufgeführt wurde z.B. der Gedanke, dass in Situationen der „Teamproduktion“, in der die Beiträge der einzelnen Teammitglieder nicht einfach messbar sind, ein Anreiz besteht, sich von den anderen mitziehen zu lassen, ohne selbst einen angemessen Beitrag zu leisten. Es kann dann für alle Beteiligten sinnvoll sein, einen Manager anzustellen, der die Arbeit der Teammitglieder überwacht.16 Ein weiterer Argumentationsstrang beschäftigt sich mit der Natur von Arbeitsverträgen als „offenen“ Verträgen, bei denen nicht alle Details im Vornhinein festgelegt werden können bzw. dies nicht effizient wäre, sondern sich die Angestellten verpflichten, innerhalb gewisser Grenzen und gegen Zahlung eines Gehalts den Anweisungen ihrer Vorgesetzten Gehorsam zu leisten. Derartige Verträge ermöglichen transaktionsspezifische Investitionen, die ebenfalls effizienzsteigernd wirken können.17 Manche Theoretiker sehen „Hierarchien“ insgesamt als Strukturen, die unterschiedlichen Akteuren erlauben, spezifische Investitionen, z.B. in Produktions- oder Humankapital, zu tätigen, da durch die Strukturen Mechanismen der Vermittlung und der Konfliktlösung bereitgestellt werden.18 ____________________ 15

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Die Grundannahmen waren dabei ursprünglich diejenigen der „Rational Choice“-Theorie (teilweise mit gewissen Einschränkungen, die unvollständige menschliche Rationalität berücksichtigten), d.h. von soziologischen und psychologischen Faktoren wurde abstrahiert. Letztere können zusätzliche Argumente für die Existenz von „Hierarchien“ liefern, z.B. weil Individuen die Arbeit in Teams sogar dann der individuellen Arbeit vorziehen könnten, wenn dies keine Effizienzvorteile im engen Sinne bietet, weil sie soziale Wesen sind und gemeinsames Arbeiten schätzen. Alchian/Demsetz, Production, information costs, and economic organization. Williamson, Markets and Hierarchies: Some Elementary Considerations; ders., Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications. Ein weiterer Aspekt von Arbeitsverträgen ist das sogenannte „endogenous enforcement“, also die Möglichkeit, sie ohne den Gang vor Gericht durchzusetzen, und zwar dadurch, dass ein etwas höherer Lohn als im Marktgleichgewicht gezahlt wird, so dass der Verlust des Arbeitsplatzes für Arbeitnehmer mit Kosten verbunden ist. Dadurch setzen die Arbeitgeber Anreize für Arbeitnehmer, sich anzustrengen und gute Arbeit zu leisten, auch wenn es um Dinge geht, die aufgrund mangelnder Evidenz oder wegen der zu hohen Transaktionskosten vor Gericht nur schwer ausfechtbar wären, z.B. die Frage, wie kooperativ eine Mitarbeiterin war und ob sie wirklich ihr Bestes gegeben hat (Gintis/Bowles, Power and Wealth in a Competitive Capitalist Economy). Blair/Stout, A Team Production Theory of Corporate Law.

Welche Märkte, wessen Wirtschaft?

Wo „Hierarchien“ vorliegen, herrscht also gerade nicht das Gesetz von Angebot und Nachfrage, wie dies in Lehrbuchmodellen des Marktes beschrieben wird, sondern dieses wird bewusst unterdrückt, weil es effizienter ist, stattdessen auf Anweisungen und Gehorsam zu setzen. Viele der Annahmen, die in Märkten theoretisch vorliegen müssten, damit diese effizient arbeiten, liegen hier nicht vor, und umgekehrt ändert sich durch die großflächige Einführung von Hierarchiestrukturen das Bild noch weiter, weil z.B. Angebot und Nachfrage im Arbeitsmarkt ganz anders funktionieren, als das Bild von „atomistischen“ Märkten suggeriert. Auch wenn manche Theoretiker versucht haben, Firmen als reine „Netzwerke von Verträgen“ zu verstehen,19 lässt sich schwer leugnen, dass innerhalb von Firmen nicht das Prinzip der freien Auswahl und des „Exit“ vorherrscht, sondern in vielen Fällen Verhältnisse von Abhängigkeit und dadurch bedingter ungleicher Macht vorliegen. Der Verlust des Jobs bringt für viele Individuen hohe Kosten – im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne – mit sich, weshalb die Drohung mit Entlassung eine starke Wirkung entfalten kann. Andererseits kann der „psychologische Vertrag“ zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auch positive Effekte haben, und trotz ungleicher Macht auch Formen der Solidarität und der Unterstützung ermöglichen. „Hierarchien“ sind also ihrer Natur nach etwas völlig anderes als „Märkte“; auch psychologisch und soziologisch bewegt man sich hier in einer ganz anderen Sphäre als der des anonymen Tausches. Dass dennoch oft marktbasierte Theorien mit Verhaltensannahmen der „Rational Choice“ im Management angewandt werden, ist daher kritisch zu sehen. Wie Joseph Heath kritisiert: wenn die Annahmen des rational choice-Modells korrekt wären, müsste man innerhalb von Hierarchien noch weit mehr Fälle von Betrug, Sabotage oder schlicht Faulenzertum geben, als dies de facto der Fall ist, weil Kontrolle oftmals unmöglich oder zu teuer ist – vor allem dann, wenn man individuellen Arbeitnehmern oder Teams gewisse Handlungsspielräume lassen muss, damit sie komplexe Aufgaben sinnvoll erledigen können.20 Nicht zuletzt aufgrund des Phänomens der „Verdrängung“ intrinsischer Motivation durch externe Anreize21 ist es problematisch, wenn innerhalb von Firmen versucht wird, durch zielgenaue Boni und eine gene____________________ 19 20 21

Jensen/Meckling, Theory of the Firm: Managerial Behavior, Agency Costs, and Ownership Structure. Heath, The Uses and Abuses of Agency Theory. Z.B. Frey, Not Just for the Money.

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relle Logik von „Zuckerbrot und Peitsche“ das erwünschte Verhalten zu erzielen. Der Management-Theoretiker Sumantra Ghoshal fällt ein vernichtendes Urteil über derartige Ansätze: „Bad Management Theories Are Destroying Good Management Practices.“22 Das bedeutet freilich nicht, dass sich innerhalb von Hierarchien keine Gerechtigkeitsfragen stellen würden – im Gegenteil. Gerade, weil Individuen hier im direkten Kontakt miteinander stehen und tagtäglich in ihrer Arbeit aufeinander angewiesen sind, lassen sich Fragen nach Moral und Gerechtigkeit in diesem Kontext kaum vermeiden. Wie Truman F. Bewley in einer aufsehenerregenden Studie nachwies, hat die Tatsache, dass man das Gerechtigkeitsempfinden von Belegschaften nicht ungestraft verletzen kann, handfeste makroökonomische Auswirkungen: entgegen der Vorhersage ökonomischer Modelle fallen in Rezessionen die Löhne nicht, weil dies von den Arbeitnehmern als so problematisch empfunden würde, dass die Arbeitsmoral stark absinken würde, was wiederum aus Sicht der Arbeitgeber ineffizient wäre.23 Innerhalb von Hierarchien stellen sich zahlreiche Gerechtigkeitsfragen, z.B. in Bezug auf Gehälter und deren Verhältnis untereinander, bei der Verteilung von Aufstiegschancen (auch für nicht-typische Kandidatinnen), und generell im Bereich des „Prozeduralen“ (wie wird mit Beschwerden umgegangen? Wo kann man Einspruch gegen ungleiche Behandlung erheben? etc.). Sie sind teilweise durch gesetzliche Vorgaben beantwortbar, aber keineswegs immer, da das feinmaschige soziale Gewebe von Hierarchien nicht in jeder Hinsicht gesetzlich regulierbar ist, insbesondere, wenn es um die Feinheiten des sozialen Miteinanders geht. Deswegen ist hier auch ein Ethos der Gerechtigkeit gefragt, das unterhalb der Schwelle der gesetzlichen Regulierbarkeit ansetzt, und das Fragen des Umgangs miteinander, des Nicht-Ausnützens von Informationsvorsprüngen, oder der Integration untypischer Bewerber betrifft. 3.2. Der rechtliche Charakter von Organisationen Neben diesen Überlegungen zum Inneren von Organisationen zeigt auch eine genauere Betrachtung des rechtlichen Charakters vieler Organisationen, dass es nicht ausreicht, diese nach der Logik des freien Marktes zu ____________________ 22 23

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Ghoshal, Bad Management Theories Are Destroying Good Management Practices. Bewley, Why Wages don’t Fall in a Recession.

Welche Märkte, wessen Wirtschaft?

verstehen. Dies betrifft insbesondere Aktiengesellschaften, wie David Ciepley kürzlich in einem wichtigen Aufsatz gezeigt hat;24 ähnliche Argumente lassen sich aber auch auf andere Organisationen mit beschränkter Haftung anwenden. Die Aktiengesellschaft („corporation“) ist kein Geschöpf des freien Marktes; sowohl historisch als auch systematisch ist sie ein privat-öffentliches Hybrid. Historisch stammt die Rechtsform der „corporation“ von Gesellschaften ab, die von Regierungen eine Verfassung („charter“) erhielten, um spezifische Aufgaben zu erfüllen, für die privates Kapital und private Initiative gebraucht wurden, die aber insgesamt als im öffentlichen Interesse liegend gesehen wurden. Damit wurde begründet, dass die „corporations“ eine eigene Rechtspersönlichkeit erhielten, so dass sie selbst Vertragspartner und Eigentümer von Produktionsmitteln werden konnten. Die Aktionäre sind, entgegen der landläufigen Redeweise, keineswegs Eigentümer der Produktionsmittel im rechtlichen Sinne: sie haften nicht mit ihrem Privatvermögen, sondern nur mit dem eingesetzten Kapital; gleichzeitig ist das Firmenvermögen vor Zugriff geschützt, falls einer der Aktionäre bankrottgeht und seine Gläubiger sein Vermögen unter sich aufteilen. Zwischen den Privatvermögen der Aktionäre und dem Vermögen der Firma besteht jeweils eine rechtliche Schranke. Bei Fehlverhalten des Managements haftet die Firma als Rechtspersönlichkeit; oft haften weder Aktionäre noch Manager persönlich. Die normative Pointe von Ciepleys Analyse ist, dass diese Konstruktion ein rechtliches Privileg darstellt, nicht nur aufgrund des Haftungsausschlusses, sondern auch, weil dem Management derartiger Firmen das Recht zugestanden wird, für das interne Geschehen Regeln aufzustellen, die weitreichende Auswirkungen für Angestellte und andere Stakeholder haben können. Historisch wurde dieses Privileg genutzt, um sozial nützliche Aufgaben zu erledigen; bedeutsam war z.B. die Bereitstellung von Infrastruktur, besonders von Eisenbahnlinien, im 19. Jahrhundert. Dafür mussten große Mengen an Kapital gesammelt werden, die langfristig gebunden und mit relativ hohem Risiko behaftet waren; die Fungibilität der Anteile erleichterte dies, weil für die einzelnen Aktionäre trotzdem eine gewisse Liquidität erhalten blieb. Allerdings ist höchst fraglich, ob es logisch stimmig und sinnvoll ist, dieses Privileg auch Firmen zu gewähren, die mit reiner Gewinnerzielungsabsicht handeln, ohne dass eine direkte Verbindung zum Gemeinwohl – verstanden im minimalen Sinne einer Nichtschädigung und der ____________________ 24

Ciepley, Beyond Public and Private: Toward a Political Theory of the Corporation.

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Bereitstellung gesellschaftlich wertvoller Güter oder Dienstleistungen – erkennbar wäre. Dadurch wird das Paket aus Rechten und Pflichten, die „corporations“ besitzen, stark zugunsten der Rechte verschoben; außerdem werden ihnen gerade in den USA auch Rechte zugesprochen, die eigentlich Privatpersonen vorbehalten bleiben sollten, z.B. das Recht, sich politisch zu äußern und Wahlkampfspenden zu tätigen. Wie Ciepley zeigt, entstehen Dysfunktionalitäten, wenn der Charakter von „corporations“ falsch verstanden und sie nach dem Modell von Partnerschaften als Eigentum der Aktionäre, entlang der Maxime der „shareholder value maximization“, verstanden werden. Der Blick wird dann vor allem auf das Prinzipal-Agenten-Verhältnis zwischen den Aktionären und dem Management gerichtet, das durch diverse Anreiz-Mechanismen im Sinne der Aktionäre gestaltet werden soll. Allerdings führte dies zu einem kurzfristigen Fokus auf die Optimierung der Aktienkurse anstelle einer langfristigen Orientierung am Weiterbestehen der Firma, wie dies ihrem Rechtscharakter entsprechen würde. Wie Joel Bakan beschreibt, macht die derzeitige rechtliche Situation Aktiengesellschaften zu „Externalisierungsmaschinen“, die Anreize haben, Kosten so weit wie möglich auf Dritte abzuwälzen und nur Gewinne für sich zu behalten.25 Beide Autoren plädieren dafür, die Frage neu zu stellen, ob die vorherrschende rechtliche Konstruktion von Aktiengesellschaften aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive effizient und sinnvoll ist, oder ob nicht Änderungen vorgenommen werden müssten, um derartigen Organisationen wieder eine längerfristige Ausrichtung zu geben.26 Auch in diesem Bereich zeigt sich also: es stellen sich zahlreiche normative Fragen, die aber nicht denen entsprechen, die man in Bezug auf Märkte stellen würde; fast ließe sich umgekehrt behaupten, dass viele der normativen Fragen, die heutige Aktiengesellschaften aufwerfen, durch eine vorschnelle Anwendung von Marktprinzipien auf ein seinem Charakter nach anderes rechtliches Konstrukt entstanden sind. Es geht hier um Fragen des rechtlichen Zuschnitts von Rechten und Pflichten, Haftung und Verantwortung. Während das Allgemeine Gleichgewichtsmodell durch den Gedan____________________ 25 26

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Bakan, The Corporation. The Pathological Pursuit of Profit and Power. Als Minimum einer Orientierung am Gemeinwohl kann hierbei ein Gebot der Nicht-Schädigung und der Einhaltung formeller und informeller gesellschaftlicher Normen vorausgesetzt werden; als anspruchsvolleres Ideal die Pflicht, einen Beitrag zu einer Gesellschaft zu leisten, die bestimmten Gerechtigkeitsnormen entspricht.

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ken, dass jeder Teilnehmer die Grenzkosten des eigenen Handelns trägt, individuelle Verantwortung stärken will, besteht innerhalb von Aktiengesellschaften – sowie in den zahlreichen, oft extrem komplexen und Ländergrenzen überschreitendende Rechtskonstruktionen, mit denen Haftung und Steuerlast minimiert werden sollen – oftmals die Möglichkeit, Haftung zu verschieben oder völlig zu vermeiden. Das bedeutet, dass im Fall von Schädigungen die Opfer keine Möglichkeit haben, angemessene Ausgleichszahlungen zu erhalten, und dass der Anreiz entfällt, riskantes oder direkt schädigendes Verhalten zu unterlassen, weil man mit dem eigenen Vermögen dafür haftet. Hier stellen sich zahlreiche Gerechtigkeitsfragen an der Schnittstelle von Verteilungsgerechtigkeit – im Sinne des „who gets what?“ – und Rechtsphilosophie – als der breiteren Beschäftigung mit dem Charakter, der Ontologie und der Struktur des Rechts. Ihre Beantwortung würde nicht nur real vorliegende und praktisch höchst relevante Gerechtigkeitslücken schließen, sondern wahrscheinlich auch indirekt dazu beitragen, Märkte insgesamt gerechter zu machen, da in ihnen dann haftbare Akteure und keine „Externalisierungsmaschinen“ aktiv wären. Diejenigen, die reale Märkte kritisieren, und diejenigen, die ideale Märkte hochhalten, könnten an dieser Stelle an einem Strang ziehen – die zahlreichen Haftungslücken im derzeitigen System sind aus beiden Perspektiven heraus problematisch. 3.3. Die Macht von Organisationen beim Setzen der Regeln Eine dritte Dimension der Abweichungen zwischen dem Allgemeinen Gleichgewichtsmodell und der heutigen ökonomischen Wirklichkeit, die ebenfalls stark durch die Rolle großer Organisationen geprägt wird, betrifft das Setzen der Regeln, innerhalb derer Märkte stattfinden. Im Allgemeinen Gleichgewichtsmodell werden die Regeln als extern gesetzt angenommen; schon Adam Smith sprach von der Ökonomie als der „Wissenschaft des […] Gesetzgebers“, also des wohlwollenden Landesvaters, der die Märkte zugunsten des Gemeinwohls einrichtet.27 Heute ist es, der allgemeinen Vorstellung nach, nicht ein derartiger benevolenter Despot, sondern ein demokratisch legitimierter Gesetzgeber, der die Regeln des Wirtschaftslebens setzt. ____________________ 27

Smith, Wealth of Nations, Bd. 2, S. 1 (Buch IV, Einleitung) – eigene Übersetzung.

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Smith schrieb im 18. Jahrhundert an gegen das merkantilistische System, in dem große Firmen und mächtige Einzelpersonen übermäßigen Einfluss auf den Gesetzgeber hatten und sich Monopole und Privilegien sicherten, die dem eigenen Gewinn dienten, aber auf Kosten des Gemeinwohls gingen.28 Bis heute ist das Bild vom freien Markt unter seinen Befürwortern stark von der Vorstellung geprägt, dass er sich durch gleiche Ausgangschancen für alle (das berühmte „level playing field“) auszeichne und seine Ergebnisse der Gesellschaft als ganzer zugute kommen würden (wofür sich die Metaphern des „trickle down“ und der „Flut, die alle Boote anhebe“ eingebürgert haben). Ob Märkte diese Eigenschaften jemals in dem Maß hatten, wie ihre Befürworter das behaupten, kann hier dahingestellt bleiben, denn klar ist in jedem Fall: wenn die Regeln von Märkten nicht von einem wohlwollenden, am Gemeinwohl orientierten Gesetzgeber gestaltet werden, sondern von denjenigen (mit-)gestaltet werden, die in ihnen spielen sollen, und dabei besonders von den wirtschaftlich mächtigsten Playern, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie sich den von Lehrbüchern angenommen Eigenschaften auch nur annähern. Es ist fraglich, ob Adam Smith die heutige Wirtschaft als ein System der freien Märkte betrachten würde – oder als eine Wiedergeburt der feudalen und merkantilistischen Verhältnisse, gegen die er anschrieb, in denen die politische und wirtschaftliche Macht einer kleinen Elite sich immer weiter gegenseitig verstärkte, auf Kosten des Rests der Bevölkerung.29 Der amerikanische Politikwissenschaftlicher Robert Reich beschreibt in seinem 2015 erschienenen Buch Saving Capitalism. For the Many, not the Few, in welchem Maß in den USA der Einfluss privater Firmen auf die Rahmenbedingungen des Marktes gewachsen ist;30 ähnliche Phänomene lassen sich jedoch auch in anderen Ländern oder Ländergruppen wie der EU beobachten. Unter diesen Umständen ist es wenig hilfreich, ausschließlich von einer Dichotomie von „Markt versus Staat“ auszugehen und beide getrennt voneinander betrachtet; entscheidend ist vielmehr, wie Märkte durch rechtliche Regeln gestaltet werden und wer darauf Einfluss hat – sind es alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen, wie es einer Demokratie angemessen ist, oder sind es mächtige Interessensgruppen? Reich unterscheidet dabei fünf Dimensionen der Gestaltung von Märkten: Eigentumsrechte, den Umgang mit Monopolmacht, das Vertragsrecht und dessen Aus____________________ 28 29 30

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Siehe insb. ebd., S. 1-291 (Buch IV). Siehe auch Herzog, Inventing the Market, S. 147-162. Reich, Saving Capitalism. For the Many, not the Few

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gestaltung, das Insolvenzrecht, sowie die Frage der Kontrolle und Durchsetzung von Recht und Gesetz. In all diesen Dimensionen diskutiert er Beispiele dafür, wie im Prozess der Entstehung von Gesetzen der Einfluss von privaten Individuen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Gruppen zurückgedrängt wurde zugunsten des Einflusses von „corporations“, die große Summen aufwenden, damit die Gestaltung zu ihren eigenen Gunsten ausfällt. Das betrifft z.B. die Frage danach, ob Patentrechte an neuartigen Medikamenten rein zu dem Zweck aufgekauft werden dürfen, Konkurrenz zu eigenen Produkten zu verhindern; wie viel Monopolmacht Internetprovider erhalten; ob Verträge, bei denen Insiderhandel im Spiel sein könnte, als rechtskräftig angesehen werden oder nicht; welche Parteien bei Insolvenzen als erste am Zug sind und ob z.B. Insolvenzen gezielt genutzt werden können, um Pensionsansprüche zu vernichten; ob Aufsichtsbehörden schlagkräftig genug sind, um z.B. Sicherheits- und Hygienestandards zu überprüfen – oder ob im Gegenteil der Siegeszug der Ideologie vom „schlanken Staat“ dazu führte, dass Regulierungskapazitäten abgebaut wurden und eine Überwachung von Firmen de facto nicht mehr möglich ist. In diesem Bereich ist besonders offensichtlich, dass es irreführend, ja gefährlich wäre, normative Fragen in Bezug auf Märkte in einem verkürzten Sinne zu verstehen, ohne die Rolle mächtiger Player bei der Gestaltung der Spielregeln von Märkten ebenfalls zu berücksichtigen. Oft, wenn auch nicht ausschließlich, sind die mächtigsten Player große Organisationen, die im Interesse von Management und Shareholdern handeln – nicht, weil die beteiligten Individuen notwendigerweise einen schlechten Charakter hätten, sondern weil die Anreizstrukturen, innerhalb derer sie agieren, sie dazu drängen, und die Ideologie vom „freien Markt“ ihnen dabei möglicherweise ein ruhiges Gewissen verschafft. Das Spannungsverhältnis von Demokratie – als, ganz allgemein gesprochen, einer Form des Regierens, die die politische Gleichheit aller Individuen verwirklichen will – und der derzeit vorherrschenden Variante des Kapitalismus als einer Form des Wirtschaftens, die systematisch bestimmte Interessen bevorzugt, zeigt sich hier besonders stark. Über die Frage nach dysfunktionalen Märkten hinaus geht es hier um Fragen nach dem Einfluss von Geld auf die Politik, um personelle Verflechtungen und Interessenskonstellationen – und letztlich um die Frage, ob die Vorstellung vom „Primat der Politik“,31 die die Regeln für das Wirtschaftsleben souverän setzt, der sozialen Wirklichkeit angemessen ist, bzw. was ____________________ 31

Zu dessen Geschichte siehe auch Berman, The Primacy of Politics.

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passieren müsste, um dieses Primat aktiv zu verteidigen.32 Nur durch ein „Primat der Politik“ kann sichergestellt werden, dass die Rahmenordnung für das Wirtschaftssystem, also sowohl für Märkte als auch für die in ihnen tätigen Organisationen, so gestaltet wird, dass es den demokratisch legitimierten normativen Vorstellungen einer Gesellschaft entspricht. 4.

Schlussbetrachtung

Märkte stellen Herausforderungen für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft dar – diese Grundthese bleibt gültig, aber sie reicht nicht aus, um das heutige Wirtschaftsleben zu verstehen. Wer auf „den Markt“ und seine angeblich „ehernen Gesetze“ verweist, muss sich die Rückfrage gefallen lassen, welcher spezifische Markt gemeint ist, welche Interessenskonstellationen dort vorherrschen und was genau mit „Marktfreiheit“ gemeint ist. Allzu oft scheinen damit Anliegen gemeint, die der – sowieso eng begrenzten und in der Realität quasi nie in Reinform vorliegenden – Binnengerechtigkeit des Marktes mit ihrer Logik des „Verdiensts“, wie sie das Allgemeine Gleichgewichtsmodell vorstellt, diametral entgegengesetzt sind. Im Allgemeinen Gleichgewichtsmodell ist es das Prinzip des Wettbewerbes, das für Effizienz und für diese Binnengerechtigkeit sorgt; viele der Mechanismen in der heutigen Wirtschaft aber dienen gerade dazu, das Prinzip des Wettbewerbs auszuschalten oder zu unterminieren. Dies nützt oft den großen etablierten Playern, während kleinere Player und die Gesellschaft als Ganze das Nachsehen haben. Es geht eben nicht gerade um „Joe the Plumber“, den kleinen, hart arbeitenden Handwerker, der von der Marktfreiheit Gebrauch machen will, um ein eigenes Geschäft aufzumachen.33 Es geht vielmehr um die Walmarts, Googles, oder Amazons der heutigen Welt, ganz zu schweigen von den Unternehmen der Finanzbranche.34 ____________________ 32

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An dieser Stelle könnte noch viel mehr darüber gesagt werde, wie die internationale Dimension von Märkten, aber auch von Organisationen, deren Position gegenüber nationalen Regierungen verändert hat. Dies führt zu unterschiedlichen Mechanismen, u.a. zu Steuerwettbewerb nach unten (siehe dazu Dietsch, Catching Capital). Siehe in Mankiw, Spreading the Wealth Around: Reflections Inspired by Joe the Plumber. In der Finanzbranche liegen neben den in diesem Aufsatz analysierten Phänomenen noch zahlreiche andere Besonderheiten vor, z.B. aufgrund der Natur von Geldschöpfung und der Tatsache des „too big to fail“. Für Diskussionen siehe z.B. Herzog, Just Financial Markets? Finance in a Just Society.

Welche Märkte, wessen Wirtschaft?

Es ist eine interessante, aber nur durch empirische Forschung zu beantwortende Frage, ob diejenigen, die im öffentlichen Diskurs für „den Markt“ eintreten, und dabei oft implizit oder explizit dessen angeblich vorliegende Binnenmoral von Verdienst und Verantwortlichkeit beschwören, dies in dem tatsächlichen Glauben tun, dass es einen von staatlicher Regulierung freien Markt überhaupt geben könne und dass er all die positiven Eigenschaften hätte, die sie ihm zuschreiben.35 Bei Adam Smith ist diese Vorstellung eingebettet in ein deistisches Bild von einem wohlgeordneten Kosmos,36 dessen Schöpfer die Möglichkeit einer blühenden, freien Marktgesellschaft vorsah, die ein guter Gesetzgeber gegen die egoistischen Absichten der „merchants and manufacturers“ realisieren müsse – selbst erlebt hat Smith dies freilich nie, war die Marktgesellschaft zu seinen Lebzeiten doch nur rudimentär ausgeprägt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein religiöser Hintergrund, in Verbindung mit einer einseitigen Lesart geschichtlicher und sozialwissenschaftlicher Tatsachen, bei einzelnen Individuen auch heute noch einer gutgläubigen, wohlmeinenden Befürwortung „des Marktes“ zugrunde liegt. Bei zumindest einem Teil der Betroffenen muss aber wohl auch davon ausgegangen werden, dass hier eine bewusste ideologische Positionierung zugunsten der eigenen Interessen vorliegt. Abschließend bleibt die Frage, was die Rede vom „Markt“ so wirkmächtig gemacht hat – wieso ausgerechnet diese Rhetorik auf so fruchtbaren Boden fiel und so ergiebig für bestimmte Interessen genutzt werden konnte und bis heute kann. Auch dies ist letztlich eine empirische Frage, die mit Mitteln der Ideen- und Zeitgeschichte beantwortet werden muss, doch eine Reihe möglicher Ansatzpunkte sei zum Ausklang angedeutet. Die einseitige Verbindung von „Märkten“ und „Freiheit“, entstanden in den 1940ern in Abgrenzung von faschistischen und sowjetkommunistischen Ideologien und Regimen, wirkt vermutlich bis in die heutige Zeit nach.37 Dass Freiheit ein vielschichtiges Konzept ist, dass manche Formen der Freiheit und die Freiheit mancher auch gegen die Freiheit der Märkte durchgesetzt werden muss, ist eigentlich keine neue Einsicht, Vertreter dieser Position befanden sich jedoch rhetorisch oft in der Defensive. Ein zweiter Punkt wird von Ghoshal in seiner Kritik an heutigen Management-Ideologien hervorgehoben: das skeptische, negative Menschenbild derjenigen, die Individuen als ____________________ 35 36 37

Die Möglichkeit, dass auch demokratische Staaten bei ihrer Regulierungsaufgabe versagen können, wird damit natürlich nicht ausgeschlossen. Siehe dazu z.B. Herzog, Inventing the Market, S. 17-40. Siehe z.B. Ciepley, Liberalism in the Shadow of Totalitarianism.

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grundsätzlich egoistisch sehen.38 Dieses Menschenbild kann von sich in Anspruch nehmen, nicht „utopisch“ in dem Sinne zu sein, dass es übermäßig moralisch oder altruistisch motivierte Individuen voraussetzt; die Tatsache, dass es dafür an anderer Stelle, z.B. bei der Darstellung der rationalen Fähigkeiten von Individuen und deren Fokussierung nur auf den eigenen Nutzen, grob von der Wirklichkeit abweicht, wird dabei oft übersehen.39 Last but not least haben Vertreter des Marktes im Anschluss an Friedrich August von Hayeks berühmten Aufsatz The Use of Knowledge in Society von 1945 immer wieder darauf hingewiesen, dass Märkte dezentrales Wissen durch die Verwendung von Preissignalen verarbeiten können.40 Soziale Planer seien demgegenüber im Nachteil und würden stets Gefahr laufen, massive Ineffizienzen zu erzeugen. Dieses Argument hat eine gewisse Plausibilität, es muss aber stark qualifiziert werden: nicht nur, weil es mit sehr unterschiedlich ausgestalteten Märkten kompatibel ist, sondern auch, weil aus dieser Perspektive die Rolle großer Organisationen – und zwar hier nicht nur Aktiengesellschaften, sondern auch andere Organisationen wie Gewerkschaften, Verbände, etc. – sehr skeptisch gesehen werden muss. Intern funktionieren diese Gebilde im Grunde genommen nach dem Prinzip der Planwirtschaft: es werden Ziele vorgegeben, die die Mitglieder in den unteren Hierarchie-Ebenen erfüllen sollen. All die Probleme des Umgangs mit Wissen, die von Hayek in Bezug auf sozialistische Planwirtschaften beschrieb, stellen sich auch dort, noch verschärft durch die Machtunterschiede zwischen verschiedenen Hierarchieebenen, die zu zusätzlichen Verzerrungen im Umgang mit Informationen führen können.41 Dabei würden heutige Informations- und Kommunikationstechnologien ganz neue Alternativen anbieten, die zur Zeit von Hayeks Aufsatz nicht zur Verfügung standen, so dass sich im Vergleich unterschiedlicher Wissensregime einiges verschoben haben könnte.

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Ghoshal, Bad Management Theories Are Destroying Good Management Practices. Eine normative Lesart von „rational choice“-Ansätzen als dem, was – nach einem bestimmten Rationalitätsverständnis – rational ist, kann dies problemlos anerkennen; oft allerdings werden derartige Ansätze implizit oder explizit als deskriptiv verstanden. Siehe dazu auch Herzog, Freiheit gehört nicht nur den Reichen, S. 48ff. Von Hayek, The use of knowledge in society. Für eine Diskussion siehe Herzog, Reclaiming the System. Moral Agency in Organizations, S. 103ff.

Welche Märkte, wessen Wirtschaft?

All diese Punkte deuten darauf hin, dass heutige Debatten über Markt und Gerechtigkeit noch stark in den Denkmustern des Kalten Krieges geführt werden. Aber es ist fraglich, ob dies ein angemessenes Raster ist, um die heutigen Herausforderungen zu verstehen. Keine Theorie, die nur auf Märkte fokussiert, ohne auch die Rolle großer Organisationen – insbesondere großer privater Unternehmen mit beschränkter Haftung, auf die ich mich hier konzentriert habe – zu berücksichtigen, kann eine vollständige Diagnose der gegenwärtigen Gerechtigkeitsprobleme in der wirtschaftlichen Sphäre liefern. Die normative Theoriebildung darf hier nicht ungesehen die Modelle anderer Disziplinen übernehmen. Ökonomische und politische, deskriptive und normative, Fragestellungen sind der Sache nach, in der sozialen Wirklichkeit, so eng verwoben, dass ökonomische Modelle kaum ohne implizite Annahmen auskommen, die auch politisch und normativ aufgeladen sind; umgekehrt muss sich auch die politische Theorie die Frage stellen lassen, welche impliziten Annahmen über den ökonomischen Bereich sie macht. Nur eine Analyse, die die Verwobenheit dieser Phänomene ernst nimmt, kann eine adäquate Diagnose des Status quo liefern. Eine nüchterne Diagnose aber ist die Voraussetzung dafür, Gerechtigkeitsfragen auch in der Praxis anzugehen. Nicht nur Märkte, sondern auch Organisationen – in erster Linie privatwirtschaftliche Organisationen wie Aktiengesellschaften, aber darüber hinaus auch Gewerkschaften, Verbände, etc. – müssen dabei ein zentraler Ansatzpunkt sein. Literaturverzeichnis Alchian, Armen A./Demsetz, Harold: Production, information costs, and economic organization, American Economic Review 62/5, 1972, S. 777-795. Alperovitz, Gar/Daly, Lew: Unjust Deserts: How the Rich Are Taking Our Common Inheritance, 2008. Bakan, Joel: The Corporation. The Pathological Pursuit of Profit and Power, 2004. Berman, Sheri: The Primacy of Politics: Social Democracy and the Making of Europe’s Twentieth Century, 2006. Bewley, Truman F.: Why Wages Don’t Fall in a Recession, 1999. Blair, Margaret M./Stout, Lynn A.: A Team Production Theory of Corporate Law, Virginia Law Review 85/2, 1999, S. 247-328. Ciepley, David: Beyond Public and Private: Toward a Political Theory of the Corporation, American Political Science Review 107/1, 2013, S. 139-158. Ders.: Liberalism in the Shadow of Totalitarianism, 2007. Coase, Ronald H.: The Nature of the Firm, Economica, New S. 4/16, 1937, S. 386-405.

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Lisa Herzog Dietsch, Peter: Catching Capital. The Ethics of Tax Competition, 2015. Frey, Bruno S.: Not Just for the Money: An Econ. Theory of Personal Motivation, 1997. Ghoshal, Sumantra: Bad Management Theories Are Destroying Good Management Practices, Academy of Management Learning & Education 4/1, 2005, S. 75-91. Gintis, Samuel/Bowles, Herbert: Power and Wealth in a Competitive Capitalist Economy, Philosophy & Public Affairs 21/4, 1992, S. 324-353. Hayek, F.A. von: The Use of Knowledge in Society, The American Economic Review 35/4, 1945, S. 519-530. Heath, Joseph: The Uses and Abuses of Agency Theory, Business Ethics Quarterly 19/4, 2009, S. 497-528. Herzog, Lisa (Hrsg.): Just Financial Markets? Finance in a Just Society, 2017. Dies.: Can incomes in financial markets be deserved? A justice-based critique. In: dies. (Hrsg.): Just Financial Markets? Finance in a Just Society, 2017. S. 103-124. Dies.: Moral Responsibility, Divided Labour, and the Role of Organizations in Society, 2018. Dies.: Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus, 2013. Jensen, Michael/Meckling, William H.: Theory of the Firm: Managerial Behavior, Agency Costs, and Ownership Structure, Journal of Financial Economics 3/4, 1976, S. 305-350. Mankiw, N. Gregory: Defending the One Percent, Journal of Economic Perspectives 27/3, 2013, S. 21-34. Ders.: Spreading the Wealth Around: Reflections Inspired by Joe the Plumber, Eastern Economic Journal 36/3, 2010, S. 285-298. Mas-Colell, Andreu et al.: Microeconomic Theory, 1995. Moriarty, Jeffrey: The Epistemological Argument against Desert, Utilitas 17/2, 2005, S. 205-221. North, Douglas: Institutions, Institutional Change, and Economic Performance, 1990. Néron, Pierre-Yves: Rethinking the Very Idea of Egalitarian Markets and Corporations: Why Relationships Might Matter More Than Distribution, Business Ethics Quarterly 25/1, 2015, S. 93-124. Rawls, John: A Theory of Justice, 1971. Reich, Robert: Saving Capitalism. For the Many, not the Few, 2015. Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776. Tomasi, John: Free Market Fairness, 2012. Walzer, Michael: Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, 1983. Williamson, Oliver: Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications, 1975. Ders.: Markets and Hierarchies: Some Elementary Considerations, American Economic Review 63/2, 1973, S. 316-325.

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Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?1 Andreas Cassee

1.

Der Konfiskationsvorwurf und das Rechtfertigungsverhältnis von Eigentum und Steuern

Der Vorwurf, dass eine Steuer2 „konfiskatorische“ Wirkung entfalte, gehört zum Standardrepertoire der verteilungspolitischen Auseinandersetzung. Er wird insbesondere dann laut, wenn über Steuern diskutiert wird, die nicht bei Flussgrößen (also verschiedenen Arten von Einkommen) ansetzen, sondern direkt auf Bestandsgrößen (also bereits angehäufte Vermögen) zugreifen. Dieser Beitrag untersucht die philosophische Plausibilität dieses Vorwurfs, oder genauer: Er nimmt eine Prämisse in den Blick, die Argumenten über die steuerliche Enteignung meist stillschweigend zugrunde liegt. Natürlich wird fast jede Gerechtigkeitstheorie Urteile der Art zulassen, dass Steuern zu hoch ausfallen können. Doch damit Steuern im eigentlichen Sinn als konfiskatorisch kritisiert werden können, muss ein bestimmtes Verständnis des Verhältnisses zwischen Eigentumsrechten und Steuern vorausgesetzt werden: Menschen erwerben in einem ersten Schritt individuelles Eigentum, von dem sie in einem zweiten Schritt einen Teil als Steuer an den Staat abtreten. Ist die Besteuerung nicht nur als Eingriff in bereits bestehende Eigentumsrechte, sondern als Verletzung derselben zu werten, so macht sich der Staat der Konfiskation schuldig. ____________________ 1 2

Für wertvolle Hinweise zu früheren Versionen dieses Aufsatzes möchte ich mich bei Sabine Hohl und Sebastian Huhnholz bedanken. Unter „Steuern“ verstehe ich im Folgenden sämtliche Abgaben, die der Finanzierung öffentlicher Tätigkeiten und Programme dienen und keinen Strafzweck verfolgen. Dieser weite Steuerbegriff unterscheidet sich von einem engeren juristischen Begriff, der Steuern etwa von Gebühren oder Sozialversicherungsbeiträgen abgrenzt. In der normativen Debatte hat ein weiter Steuerbegriff den Vorteil, dass substanzielle Auseinandersetzungen über die gerechte Finanzierung öffentlicher Institutionen nicht von begrifflichen Auseinandersetzungen darüber überlagert werden, ob ein bestimmtes Finanzierungsmodell überhaupt als Steuersystem zu bezeichnen ist.

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Andreas Cassee

Gemeint ist an dieser Stelle nicht eine Annahme über die zeitliche Abfolge von Eigentumserwerb und Besteuerung,3 sondern vielmehr die These, dass Eigentumsrechte der Besteuerung normativ vorausgehen: Steuern werden auf Besitztümer erhoben, deren normativer Status als legitimes (oder gegebenenfalls auch illegitimes) Eigentum bereits feststeht. Menschen haben einen Anspruch auf ihr legitimes vorsteuerliches Eigentum, in den zwar möglicherweise in einem gewissen Maß eingegriffen werden darf, der aber doch auch eine Schranke der legitimen Besteuerung darstellt. Im Hintergrund steht dabei ein traditionell-liberales Verständnis von Eigentumsrechten als vorpolitischen Rechten, die aus individuellen Aneignungsakten hervorgehen und bereits im Naturzustand Geltung besitzen. Wenn sich Menschen zu einer staatlichen Gemeinschaft zusammenschließen und beginnen, Steuern zu erheben, so tun sie das dieser „besitzindividualistischen“4 Position zufolge immer schon als individuelle Eigentümer; die Eigentumsbegründung geht jeder staatlichen Aktivität – und folglich auch der Frage nach einer gerechten Besteuerung – logisch voraus. Im Folgenden soll diese aneignungstheoretische Denktradition zunächst von John Locke über Robert Nozick bis hin zu den „alltagslibertären“5 Positionen der policy-orientierten Steuerliteratur kurz nachgezeichnet werden (Abschnitt 2). Anschließend wird diesem traditionellen Bild eine alternative Ansicht gegenübergestellt, wie sie in der liberalen Tradition etwa bei John Rawls auszumachen ist. Gerechte Regeln für den Erwerb individuellen Eigentums und Prinzipien der Steuergerechtigkeit erhalten ihre Rechtfertigung dieser alternativen Position zufolge im gleichen normativen Moment. Eigentum kann erst in Verbindung mit einem gerechten Steuersystem legitim sein; Eigentumsrechte stehen von vornherein unter Steuervorbehalt (Abschnitt 3). Schließlich wird in zwei Schritten für die letztere Position argumentiert. Im ersten Schritt wird Nozicks Ansicht zurückgewiesen, dass ein redistributives Steuersystem ständige Eingriffe in die individuelle Lebensgestaltung erfordere und mit Zwangsarbeit gleichzusetzen sei (Abschnitt 4). Im zweiten Schritt wird ein Dilemma für aneignungstheoretische Positionen konstruiert: Entweder formulieren sie die Bedingungen für die Aneignung bisher herrenloser Gegenstände so stark, dass sie unerfüllbar ____________________ 3

4 5

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Ob der Eigentumserwerb der Besteuerung zeitlich vorausgeht, dürfte davon abhängen, ob eine Steuer nachträglich erhoben oder als Quellensteuer bereits abgezogen wird, bevor das entsprechende Guthaben auf dem Konto der Eigentümerin gutgeschrieben wird. Macpherson, Possessive Individualism. Murphy/Nagel, Myth of Ownership, S. 15, 31-37.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

werden. Oder aber sie formulieren diese Bedingungen schwach – dann gelingt es ihnen nicht, das präferierte System von Eigentumsrechten gegen alle relevanten Alternativen zu verteidigen (Abschnitt 5). Ein kurzes Fazit beschließt den Beitrag (Abschnitt 6). 2.

Steuern auf legitimes Eigentum

Aneignungstheorien des Eigentums haben eine lange Tradition. Gemeinsam ist Theorien dieses Typs, dass sie Eigentumsrechte in erster Linie von der Beziehung einer Person (der Eigentümerin) zu einem bestimmten Gegenstand (ihrem Eigentum) her denken. Dabei kann grob zwischen zwei Vorstellungen darüber unterschieden werden, wie bisher herrenlose Gegenstände zum Eigentum einer bestimmten Person werden können: Theorien der ersten Inbesitznahme behaupten, dass die Person, die als erste Besitz von einem bisher herrenlosen Gegenstand ergreift, dadurch Eigentümerin dieses Gegenstands wird. Arbeitsbasierte Theorien behaupten dagegen, dass eine über die bloße Inbesitznahme hinausgehende Bearbeitung eines Gegenstands oder Stücks Land notwendig ist, um erfolgreich ein Eigentumsrecht zu etablieren.6 Der wohl wichtigste historische Vertreter einer Aneignungstheorie der letzteren Art ist John Locke (Abschnitt 2.1). Libertäre wie Robert Nozick greifen Lockes Überlegungen auf, um steuerliche Umverteilung prinzipiell zurückzuweisen (Abschnitt 2.2). Aber auch zahlreiche traditionelle Prinzipien der Steuergerechtigkeit, die eine redistributive Besteuerung grundsätzlich gutheißen, scheinen implizit auf aneignungstheoretischen Prämissen zu basieren (Abschnitt 2.3). 2.1 Von Locke… Lockes Begründung für individuelle Eigentumsrechte ist teilweise eine religiöse: Gott habe den Menschen die Erde zunächst als Gemeineigentum übertragen, aber damit sie aus diesem gemeinsamen Eigentum einen Nutzen ziehen könnten, müssten sie doch die Möglichkeit haben, sich die Früchte der Natur je individuell anzueignen. Den scheinbaren Widerspruch zwischen ursprünglichem Gemeineigentum und individueller Aneignung versucht Locke aufzulösen, indem er auf das „Eigentum“ an der eigenen Per____________________ 6

Für eine Übersicht siehe Waldron, Property and Ownership.

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son verweist, das von vornherein individueller Art sei. Aus diesem Selbsteigentum folge ein Eigentum an der eigenen Arbeit und mithin ein Eigentum an äußeren Gegenständen einschließlich Land, die mit der eigenen Arbeit „gemischt“ und so ihrem natürlichen Zustand entrückt würden.7 Das so begründete Recht, sich Teile des Gemeineigentums durch Arbeit anzueignen, ist zunächst zwei Einschränkungen unterworfen. Erstens sei die individuelle Aneignung nur dann unproblematisch, wenn „genug und ebenso Gutes den anderen gemeinsam verbleibt“8 (das sogenannte „Proviso“). Und zweitens habe Gott den Menschen die Reichtümer der Erde zu einem bestimmten Zweck übertragen, nämlich um sie zu genießen. Wer sich etwas zu eigen mache, nur um es anschließend verderben zu lassen, verletze diese Zweckbestimmung. Jeder Mensch dürfe sich deshalb ursprünglich nicht mehr aneignen, als er tatsächlich gebrauchen könne.9 Zumindest die letztere Aneignungsschranke verliert Locke zufolge mit der Einführung von Geld als unverderblichem Wertspeicher ihre Bedeutung.10 Den Übergang zur Geldwirtschaft verortet Locke immer noch im vorstaatlichen Zustand. Dasselbe gilt für die Institution der Lohnarbeit.11 Wenn sich Menschen später durch einhellige Zustimmung zu einer staatlichen Gemeinschaft zusammenschließen und ihr Recht auf Selbstjustiz an den Staat abtreten, um im Gegenzug in ihren individuellen Rechten besser geschützt zu sein,12 so tun sie das Locke zufolge also immer schon als individuelle Eigentümer und vor dem Hintergrund eines bereits weitgehend ausdifferenzierten Wirtschaftssystems. Dazu, was genau dies mit Blick auf Fragen der Besteuerung bedeutet, finden sich bei Locke unterschiedliche Hinweise. An einer Stelle schreibt ____________________ 7 8 9 10

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Locke, Zweite Abhandlung, S. 29-48 (Kap. 5). Ebd., S. 30 (§27). Ebd., S. 33 (§31). Ebd., S. 37f. (§37). Ob mit der Einführung des Gelds auch das Proviso außer Kraft gesetzt wird, ist in der exegetischen Literatur umstritten. Eine positive Antwort gibt Macpherson, Possessive Individualism, S. 211-214. Kritik an dieser Interpretation findet sich bei Waldron, Enough and as Good, der allerdings insgesamt bestreitet, dass die „genug und ebenso Gutes“-Formulierung als eigenständige Aneignungsschranke zu verstehen ist. Für eine Übersicht über die unterschiedlichen Möglichkeiten, Lockes Aneignungsschranken zu interpretieren, siehe Widerquist, Lockean Theories. Darauf deutet jedenfalls Lockes Aussage hin, dass „der Torf, den mein Knecht gestochen“, ohne Zustimmung der übrigen Menschheit zu meinem Eigentum werde. Siehe Locke, Zweite Abhandlung, S. 31 (§28). Ebd., S. 82-103 (Kap. 8).

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

er, dass der Staat „keinem Menschen einen Teil seines Eigentums ohne seine Zustimmung wegnehmen“ dürfe, da die Menschen sonst „gerade das verlieren würden, was der Zweck war, weshalb [sie] in die Gesellschaft eingetreten sind“.13 An anderer Stelle scheint er hingegen anzunehmen, dass es genügt, wenn die Steuererhebung von einer Mehrheit der Bürger gutgeheißen wird.14 Das legt die Vermutung nahe, dass die Individuen dem Staat beim Eintritt in die politische Gesellschaft doch gewisse Besteuerungskompetenzen übertragen haben. Unzweifelhaft ist aber, dass Fragen der Besteuerung, die sich erst in der politischen Gesellschaft stellen, individuellen Eigentumsrechten, die schon im Naturzustand ihre Rechtfertigung finden, logisch nachgelagert sind.15 Wenn überhaupt, kann die Besteuerung nur als nachträglicher Eingriff in bereits bestehende Eigentumsrechte legitim sein. 2.2. …über Nozick… Am offensichtlichsten lebt Lockes Vorstellung vorpolitischer Eigentumsrechte im Rahmen libertärer Ansätze fort, die individuelle Eigentumsrechte als harte Schranke für staatliches Handeln verstehen. Der wohl prominenteste Vertreter einer solchen Position ist Robert Nozick.16 Mit Locke nimmt Nozick an, dass Individuen bereits im Naturzustand wohldefinierte Eigentumsrechte besitzen. Im Unterschied zu Locke weist er aber die Idee zurück, dass sich beim Eintritt in die politische Gesellschaft etwas Wesentliches an der normativen Situation ändert. Eine einhellige, explizite Zustimmung zu einem Gesellschaftsvertrag habe es nie gegeben,17 und die Vorstellung einer stillschweigenden Zustimmung sei „das Papier nicht wert […], auf das sie nicht geschrieben ist“.18 Vor diesem Hintergrund erweist sich schon die Rechtfertigung eines Nachtwächterstaates, der sich gänzlich auf die Durchsetzung individueller Eigentumsrechte beschränkt, als Herausforderung; ____________________ 13 14 15

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Ebd., S. 115 (§138). Ebd., S. 117 (§140). Das gilt jedenfalls, wenn wir annehmen, dass die in der politischen Gesellschaft positivierten Eigentumsrechte in einer gewissen Kontinuität zu den Eigentumsrechten im Naturzustand stehen. Für die gegenteilige (aber unter Locke-Exegetinnen sicher minoritäre) Ansicht, dass Eigentumsrechte in der politischen Gesellschaft bei Locke als rein konventionelle Rechte zu verstehen sind, siehe Tully, Discourse, S. 157-176. Nozick, Anarchie. Vgl. ebd., S. 193. Ebd., S. 403.

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jede über die Durchsetzung privater Eigentumsrechte hinausgehende staatliche Aktivität hält Nozick für ungerechtfertigt. Das gilt ganz besonders für staatliche Eingriffe in die Verteilung. Ob eine Verteilung gerecht sei, ergebe sich einzig und allein aus ihrem historischen Zustandekommen. Prinzipien für die ursprüngliche Aneignung und die Übertragung von Eigentumsrechten sowie Grundsätze für die Kompensation früherer Rechtsverletzungen erschöpften das Terrain der Erwägungen, die für eine gerechte Verteilung von Besitztümern relevant seien. Die Frage, welchem Muster die Verteilung folge, sei diesbezüglich unerheblich. Der Versuch, ein bestimmtes Verteilungsmuster zu erzwingen, laufe vielmehr zwangsläufig auf eine Verletzung von Eigentumsrechten hinaus: Sofern sie auf legitime Weise an ihren Besitz gelangt sind, haben Menschen einen moralischen Anspruch auf ihr vorsteuerliches Eigentum, in den der Staat nicht eingreifen darf.19 2.3 …zu den „Alltagslibertären“ Wäre die Annahme eines moralischen Anspruchs auf vorsteuerliches Eigentum auf libertäre Positionen beschränkt, so wäre sie zwar philosophisch interessant, aber politisch doch von untergeordneter Bedeutung, immerhin sind libertäre Positionen im politischen Diskurs (jedenfalls im europäischen Raum) höchstens eine Randerscheinung. Wie Liam Murphy und Thomas Nagel zeigen, reicht diese Annahme aber weit ins Lager derjenigen hinein, die libertäre Positionen zurückweisen und ein Steuersystem mit redistributiver Wirkung grundsätzlich befürworten.20 Sämtliche traditionellen Prinzipien der Steuergerechtigkeit, welche die policy-orientierte Literatur zum Thema dominieren, sind implizit dieser Annahme verpflichtet. Das gilt nicht nur für das umverteilungskritische Äquivalenzprinzip (benefit principle), sondern etwa auch für Prinzipien der Opfersymmetrie (equal sacrifice principle) oder der Besteuerung nach Zahlungsfähigkeit21 (ability to pay principle). ____________________ 19 20 21

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Ebd., S. 217-328 (Kap. 7). Murphy/Nagel, Myth of Ownership, S. 12-39 (Kap. 2). Im deutschen Sprachraum ist in diesem Zusammenhang manchmal von einer „Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit“ die Rede, was allerdings insofern irreführend ist, als normalerweise eine Besteuerung nach Maßgabe des tatsächlich erzielten Einkommens oder Vermögens gemeint ist (und nicht etwa eine Besteuerung nach Maßgabe des Einkommens oder Vermögens,

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

Sämtliche dieser Prinzipien bemessen die Gerechtigkeit eines Steuersystems nämlich daran, wie sich die nachsteuerliche Situation von der vorsteuerlichen unterscheidet. Das Äquivalenzprinzip verlangt, dass das, was die Steuerzahlerinnen gegenüber der vorsteuerlichen Situation verlieren, durch den Wert der staatlichen Leistungen aufgewogen wird, die sie im Gegenzug bekommen. Das Prinzip der Opfersymmetrie verlangt, dass alle Besteuerten gegenüber der vorsteuerlichen Situation (in einem näher zu bestimmenden Sinn) vergleichbare Opfer bringen. Und auch die Besteuerung nach Zahlungsfähigkeit verlangt, dass sich die Besteuerung (gemäß einem festzulegenden Schlüssel) danach richtet, welches Einkommen oder Vermögen Individuen vor der Besteuerung aufzuweisen hatten. Die vorsteuerliche Verteilung in dieser Weise als normativ relevante Vergleichsgröße zu behandeln, ist aber nur dann sinnvoll, wenn wir von der Annahme ausgehen, dass Menschen einen moralischen Anspruch auf ihr vorsteuerliches Eigentum besitzen, der zwar (anders als in Nozicks Theorie) nicht absolut gilt, aber doch ein relevanter Gesichtspunkt für die Beurteilung des Steuersystems bleibt. Nun wäre es wohl voreilig, diese „alltagslibertären“22 Positionen schon deshalb als inkohärent zurückzuweisen, weil sie scheinbar auf libertären eigentumsrechtlichen Prämissen beruhen, aber vor den radikalen Konklusionen libertärer Theorien zurückschrecken. Eine wohlmeinende Rekonstruktion dieser Prinzipien dürfte einfach dahingehen, dass Menschen zwar einen aneignungstheoretisch begründeten Anspruch auf ihr vorsteuerliches Eigentum besitzen, aber zugleich erzwingbare Pflichten haben, die vermittels der Steuererhebung durchgesetzt werden. Das Äquivalenzprinzip beruht demzufolge auf der Ansicht, dass alle Menschen auf einem staatlichen Territorium verpflichtet sind, einen fairen Beitrag zur Bereitstellung öffentlicher Güter leisten, der sich daran bemisst, welchen Nutzen sie selbst aus diesen Gütern ziehen. Prinzipien der Besteuerung nach Zahlungsfähigkeit oder der Opfersymmetrie basieren zusätzlich auf der Annahme, dass die Bessergestellten erzwingbare Pflichten gegenüber den weniger Begünstigten haben, die durch entsprechend höhere Beiträge zur Finanzierung öffentlicher Institutionen erfüllt werden. ____________________

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das eine Person erzielen könnte). Umgekehrt sollte der Begriff der „Zahlungsfähigkeit“ aber auch nicht zu eng verstanden werden: Wer ein hohes Einkommen erzielt, hat der Standardinterpretation des ability to pay-Prinzips zufolge eine hohe Zahlungsfähigkeit, selbst wenn er zum Zeitpunkt, an dem die Steuer fällig wird, bereits sein ganzes Einkommen verprasst hat. Ebd., S. 15, 31-37.

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„Alltagslibertäre“ Positionen sind also nicht von vornherein abwegig. Dennoch glaube ich aber, dass wir sie letztlich zugunsten einer Position verwerfen sollten, die Steuern nicht als Eingriff in bereits gerechtfertigte Eigentumsrechte versteht, sondern vielmehr als Voraussetzung dafür, dass Eigentumsrechte überhaupt überzeugend gerechtfertigt werden können.23 Diese alternative Position soll hier zunächst kurz skizziert werden. 3.

Legitimes Eigentum durch Steuern

Während die aneignungstheoretische Tradition Eigentumsrechte in erster Linie von der Beziehung der individuellen Eigentümerin zu ihrem Eigentum her denkt, versteht eine zweite Theorielinie Eigentumsrechte in erster Linie als institutionell zugeschriebene Rechte. Das Eigentumsregime, so die Grundidee dieser Auffassung, ist Teil einer institutionellen Ordnung, die allen ihr Unterworfenen gegenüber zu rechtfertigen ist; eine eigentumsbegründende Relation zwischen einer individuellen Eigentümerin und einem äußeren Gegenstand kann erst im Rahmen einer solchen institutionellen Ordnung überhaupt zum Tragen kommen. Als historische Vorläufer dieser alternativen Position können Jean-Jacques Rousseau24 und Immanuel Kant25 gelten, die aneignungstheoretische Elemente auf je unterschiedliche Weise mit der Vorstellung verknüpfen, dass Eigentumsrechte erst in der politischen Gesellschaft ihre volle Rechtfertigung finden: Eigentumsrechte sind dem Gesellschaftsvertrag nicht vollumfänglich vorgeordnet, sondern gehen als umfassend begründete Rechte erst aus diesem hervor. Eine vollständige Abkehr von der Idee vorvertraglicher Eigentumsrechte ist in der kontraktualistischen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls auszumachen. Rawls zufolge genießen Eigentumsrechte gegenüber den anderen politischen und wirtschaftlichen Institutionen keinen privilegierten Status, sondern sind vielmehr ein Bestandteil eines insgesamt auf seine Gerechtigkeit hin zu untersuchenden politisch-ökonomischen Gesamtsystems – Rawls würde sagen: einer „gesellschaftlichen Grundstruktur“.26 Diese Grundstruktur kann unterschiedlich ausgestaltet sein, und die Frage ist, wel____________________ 23 24 25 26

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Ebd., S. 33. Rousseau, Gesellschaftsvertrag. Kant, Metaphysik der Sitten. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 23-27 (§2).

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

che Kombination von Eigentums- und Steuerregeln (sowie weiteren einschlägigen Institutionen) aus Gerechtigkeitssicht insgesamt zu bevorzugen ist. Rawls entwickelt seine eigene Antwort auf diese Frage, indem er uns zunächst dazu auffordert, darüber nachzudenken, welchen Prinzipien für die gesellschaftliche Zusammenarbeit wir unsere Zustimmung geben würden, wenn wir nicht wüssten, in welcher gesellschaftlichen Position wir selbst mit diesen Regeln leben müssen.27 Auf dieser Grundlage formuliert er eine Gerechtigkeitsvorstellung, die in ihrer allgemeinsten Form besagt, dass „gesellschaftliche Grundgüter“ wie Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen und Vermögen „gleichmäßig zu verteilen [sind], soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht“.28 Aus dieser allgemeinen Vorstellung werden dann konkretere Gerechtigkeitsgrundsätze abgeleitet (das System gleicher Grundfreiheiten, das Differenzprinzip und die faire Chancengleichheit), die schließlich ihrerseits herangezogen werden, um zwischen unterschiedlichen Modellen der wirtschaftlichen Organisation zu wählen. Welches Wirtschaftssystem nach Maßgabe dieser Kriterien letztlich zu bevorzugen ist, ist eine offene Frage. Rawls selbst meint, dass sowohl ein „liberaler Sozialismus“ mit freier Berufswahl als auch eine „Demokratie mit Privateigentum“ (property owning democracy) seine Gerechtigkeitsgrundsätze erfolgreich verwirklichen könnten, wobei sich die Produktionsmittel im ersten Fall in öffentlichem und im zweiten Fall breit gestreut in privatem Besitz befinden.29 Die institutionellen Details sind in unserem Zusammenhang nicht entscheidend; wichtig ist an dieser Stelle aber, dass das System von Eigentumsrechten und das Steuerregime in Rawls’ Rechtfertigungslogik auf derselben Stufe stehen. So schreibt er mit Blick auf die „Demokratie mit Privateigentum“: „Die (nötigenfalls) progressive Besteuerung des Erbes und Einkommens und das Eigentumsrecht sollen in einer Demokratie mit Privateigentum die Institutionen der gleichen Freiheit und den fairen Wert der von ihnen gewährten Rechte gewährleisten.“30

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Ebd., S. 34-39, 140-274 (§§4, 20-25). Ebd., S. 83 (§11). Ebd., S. 298-318 (§§42f.); Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 211-218 (§§41f.). Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 313 (§43).

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Die Besteuerung von Erbschaften und Einkommen ist in diesem Fall nicht als Eingriff in bereits gerechtfertigte Eigentumsrechte zu verstehen, sondern vielmehr als Voraussetzung für eine gelingende Rechtfertigung eines ökonomischen Gesamtsystems, das überhaupt ein Privateigentum an den Produktionsmitteln vorsieht. Und weil die Eigentumsfrage der Steuerfrage nicht vorgeordnet ist, können traditionelle Prinzipien der Steuergerechtigkeit höchstens eine untergeordnete Rolle spielen: „Nirgends wurden die herkömmlichen Kriterien für die Besteuerung herangezogen, etwa daß sich die Steuern nach den genossenen Vorteilen oder der Zahlungsfähigkeit zu bemessen hätten. […] Ist einmal das Problem der Verteilung als das der Schaffung von Rahmeninstitutionen erkannt, so erkennt man, daß die herkömmlichen Vorschriften kein eigenes Gewicht haben, wie angemessen sie auch für bestimmte begrenzte Fälle sein mögen.“31

Wenn ein System gerechter Eigentumsregeln (einschließlich der Steuerregeln) einmal in Kraft ist, können Individuen unter Einhaltung dieser Regeln legitimes Eigentum erwerben, und sie dürfen (unter Vorbehalt der Besteuerung und unter Berücksichtigung allfälliger sonstiger vorher festgelegter Einschränkungen) frei über ihr Eigentum verfügen. Auch Rawls’ Theorie kennt also „historische“32 Grundsätze für spezifische Besitztümer. Ob eine bestimmte Sache das legitime Eigentum einer Person ist, hängt davon ab, ob sie unter Einhaltung der einschlägigen Regeln an diese Sache gelangt ist.33 Aber diese Regeln sind ihrerseits in einen übergeordneten Rechtfertigungszusammenhang eingebettet, und bei ihrer Festlegung genießt ein Laissez-faire-Kapitalismus keinen Plausibilitätsvorschuss gegenüber einem System, das starke redistributive Elemente enthält. Nun sind die Kriterien, die Rawls zur Beurteilung der Gerechtigkeit eines Wirtschaftssystems vorschlägt, natürlich keineswegs alternativlos. So kann man sich fragen, ob rawlsianische Grundgüter tatsächlich die richtige Währung der Gerechtigkeit sind und ob es nicht überzeugender wäre, stattdessen beispielsweise individuelles Wohlergehen oder die Möglichkeiten zur Entfaltung menschlicher Fähigkeiten zum Gegenstand von Erwägungen über eine gerechte Verteilung zu machen.34 Auch zu Rawls’ favorisiertem Verteilungsmuster gibt es Alternativen: Weshalb sollten sich die Vertrags____________________ 31 32 33 34

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Ebd., S. 313f. (§43). Vgl. Nozick, Anarchie, S. 222-225. Siehe dazu die Ausführungen zur reinen Verfahrensgerechtigkeit bei Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 105-110 (§14). Sen, Equality.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

partner im Urzustand gänzlich auf die Verbesserung der schlechtestmöglichen Situation konzentrieren, in der sie sich nach der Lüftung des „Schleiers des Nichtwissens“ wiederfinden könnten, statt beispielsweise ihren Erwartungsnutzen zu maximieren?35 Aber mir geht es an dieser Stelle gar nicht darum, eine bestimmte Gerechtigkeitstheorie zu verteidigen, sondern vielmehr darum, die Attraktivität eines bestimmten Theorietyps herauszustellen. Die Gemeinsamkeit der Theorien dieses Typs besteht darin, dass sie Eigentumsrechten keinen privilegierten Status einräumen. Eigentumsrechte sind solchen Theorien zufolge nicht als „gerechtigkeitsbestimmende“ Rechte zu verstehen, die als unabhängiger Maßstab zur Beurteilung anderer Institutionen herangezogen werden könnten, sondern vielmehr als „gerechtigkeitsbestimmte“ Rechte,36 deren Inhalt sich aus der Vorstellung eines insgesamt gerechten politischökonomischen Systems ergibt. Wenn irgendeine Theorie dieser Art überzeugend ist, dann kommen Vorwürfe der konfiskatorischen Besteuerung, wie ich sie eingangs erwähnt habe, gewissermaßen einen Schritt zu spät. Denn vorsteuerliche Einkommen und Vermögen sind im Rahmen solcher Theorien rein buchhalterische Größen.37 Natürlich könnte es sein, dass staatliche Besteuerungskompetenzen auch auf der Grundlage solcher Theorien in gewissen Hinsichten beschränkt werden sollten. Aber die bloße Tatsache, dass die nachsteuerliche Situation stark von der vorsteuerlichen abweicht, ist für sich genommen kein Grund anzunehmen, dass wir es mit einem ungerechten Steuersystem zu tun haben. 4.

Besteuerung, Freiheit und Zwangsarbeit

Welche dieser Positionen zum Rechtfertigungszusammenhang von Eigentum und Steuern sollten wir akzeptieren? Ist die Eigentumsfrage der Steuerfrage logisch vorgelagert, sodass eine redistributive Besteuerung allenfalls noch als gerechtfertigter Eingriff in bereits bestehende Eigentumsrechte in Frage kommt? Oder ist ein redistributives Steuersystem vielmehr eine Voraussetzung dafür, dass private Eigentumsrechte überhaupt überzeugend gerechtfertigt werden können? ____________________ 35 36 37

Harsanyi, Maximin Principle. Vallentyne, Taxation, S. 294. Murphy/Nagel, Myth of Ownership, S. 36.

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Im Folgenden soll in zwei Schritten für die letztere Ansicht argumentiert werden. Dieser Abschnitt nimmt zwei Einwände gegen steuerliche Redistribution in den Blick, von denen Nozick meint, dass sie auch Theoretikerinnen in Schwierigkeiten bringen, die noch nicht seine ganze Theorie akzeptiert haben. Erstens könne „kein Endzustands-Grundsatz und kein struktureller Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit ohne ständigen Eingriff in das Leben der Menschen auf die Dauer verwirklicht werden“.38 Und zweitens sei die Besteuerung von Arbeitseinkommen „mit Zwangsarbeit gleichzusetzen“, da sie die Aneignung der Arbeit anderer Personen bedinge.39 In abgeschwächter Form könnten diese Einwände auch von „Alltagslibertären“ herangezogen werden, um für die Ansicht zu argumentieren, dass die Besteuerung zumindest als Eingriff in individuelle Rechte zu werten sei: Vielleicht ist es legitim, dass der Staat zu einem gewissen Grad in die individuelle Lebensgestaltung eingreift bzw. sich die Arbeit der Menschen auf seinem Territorium aneignet, um seine Aufgaben zu erfüllen; zumindest handelt es sich dabei aber um Eingriffe in individuelle Rechte, die möglichst klein gehalten werden sollten. Meine These wird allerdings lauten, dass Nozicks Einwände nur dann aufrechterhalten werden können, wenn wir bereits voraussetzen, dass Individuen nicht nur Selbsteigentümer sind, sondern auch die Möglichkeit haben, umfassende Eigentumsrechte an äußeren Gegenständen zu erwerben. Im nächsten Abschnitt werde ich dann die Ansicht vertreten, dass die aneignungstheoretische Rechtfertigung von Eigentumsrechten genau an dieser Stelle, am Übergang vom Selbsteigentum zum Eigentum an äußeren Gegenständen, lückenhaft bleibt. 4.1. Wilt Chamberlain Implizieren Gerechtigkeitstheorien, die auf die Realisierung eines bestimmten Verteilungsmusters abzielen, ständige Eingriffe in die individuelle Freiheit? Um diese Ansicht zu verteidigen, formuliert Nozick ein Beispiel, dessen Eleganz darin besteht, dass es scheinbar unabhängig ist von seinen eigenen Annahmen über die ursprüngliche Aneignung bisher herrenloser Gegenstände.40 Nozick fordert seine Gegner auf, sich vorzustellen, dass zu einem Zeitpunkt t1 eine völlig gerechte Verteilung V1 von Eigentumsrechten ____________________ 38 39 40

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Nozick, Anarchie, S. 236. Ebd., S. 243. Ebd., S. 232-238.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

gemäß ihrem eigenen favorisierten Verteilungsgrundsatz bestehe (beispielsweise eine strikt gleiche Verteilung). Nun wollen aber sehr viele Menschen dem talentierten Basketballspieler Wilt Chamberlain beim Spielen zusehen. Sie sind gerne bereit, einen Aufpreis von 25 Cent auf jedes Eintrittsticket zu einem Heimspiel des Ausnahmetalents zu bezahlen, und Chamberlains Team ist bereit, diesen Aufpreis an Chamberlain weiterzugeben. Nach dem Verkauf einer Million Tickets wird Chamberlain zum Zeitpunkt t2 um 250’000 Dollar reicher sein. Der fragliche Verteilungsgrundsatz wird nun erfordern, dass dieses Geld umverteilt wird – obschon die neue Verteilung durch freiwillige Transaktionen aus einer völlig gerechten Ausgangsverteilung hervorgegangen ist. Gerechtigkeitstheorien, die auf die Realisierung eines bestimmtes Verteilungsmusters abzielten, erforderten deshalb ständige Eingriffe in die individuelle Lebensführung: „Wenn man eine Verteilung aufrechterhalten will, muß man entweder die Menschen ständig davon abhalten, Güter nach ihrem Willen zu übertragen, oder man muß ständig (oder in Abständen) Menschen Güter wegnehmen, die andere ihnen aus irgendwelchen Gründen übertragen haben.“41

Soweit Nozick hier suggerieren will, dass der Staat immer wieder ad hoc in die Verteilung eingreifen („Menschen Güter wegnehmen“) muss, um Verteilungsziele zu realisieren, beruht sein Argument auf einer Karikatur der Gegenposition. Denn die vielversprechendste Gegenposition zu seiner Theorie ist natürlich nicht eine, die von uns verlangt, zu jedem beliebigen Zeitpunkt die Verteilung spezifischer Güter zu analysieren und immer wieder von Neuem zu entscheiden, welche Eingriffe gerade nötig sind, um das gewünschte Verteilungsziel zu erreichen. Die vielversprechendste Gegenposition ist vielmehr eine, welche die allgemeinen Regeln für Eigentum und Besteuerung mit Blick auf ihre Verteilungswirkung festlegt und diese Regeln dann fortlaufend anwendet.42 Dennoch ist Nozick recht zu geben, dass ein Eigentumssystem mit redistributiver Besteuerung fortwährend zwangsbewehrte Eingriffe in die Handlungsfreiheit der Menschen vornimmt. Das gilt allerdings für jedes System von Eigentumsrechten. Auch Nozicks Theorie verlangt schließlich, dass Menschen fortwährend unter Androhung von Zwang daran gehindert werden, Ressourcen zu nutzen, die als das Eigentum einer anderen Person gelten.43 ____________________ 41 42 43

Ebd., S. 236. Nagel, Libertarianism, S. 146. Vallentyne, Taxation, S. 296f.; Wolff, Nozick, S. 97f.

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An dieser Stelle stehen Nozick zwei Wege offen, sein Argument zu verteidigen. Erstens könnte er behaupten, dass sein Eigentumsregime den Individuen doch größere Handlungsfreiheit einräume, als sie beispielsweise in einem rawlsianischen Eigentumssystem bestehe. Immerhin genießen Individuen in einer libertären Welt eine umfangreichere Freiheit, mit ihrem Eigentum zu tun und zu lassen, was immer sie wollen. Das Problem dieses Arguments ist allerdings, dass das Maß an individueller Handlungsfreiheit nicht nur davon abhängt, was wir mit unserem Eigentum tun dürfen, sondern auch davon, wie viel Eigentum wir besitzen. Wie G.A. Cohen überzeugend darlegt, lässt sich Geld mit einem Gutschein für Handlungsfreiheiten vergleichen.44 Ich kann einen Geldschein gegen die Erlaubnis eintauschen, ein Museum zu besuchen, Lebensmittel aus einem Supermarkt mitzunehmen oder eine Reise in eine andere Stadt zu unternehmen; wenn ich kein Geld habe, bleiben mir all diese Freiheiten verwehrt. Diejenigen, die in einer libertären Welt besitzlos sind oder nur wenig Eigentum haben, werden deshalb weniger Handlungsfreiheit genießen als in einem redistributiven System, das ihnen ein höheres verfügbares Einkommen garantiert. Die zweite Möglichkeit, die insgesamt eher Nozicks philosophischem Programm entspricht, besteht darin, auf einen normativ gehaltvollen lockeanischen Freiheitsbegriff zurückgreifen, dem zufolge nur solche Beschränkungen des individuellen Handlungsspielraums überhaupt als Eingriffe in die „Freiheit“ zählen, die zugleich Eingriffe in individuelle Rechte darstellen.45 Nozicks Argument würde dann auf der Prämisse beruhen, dass die steuerliche Aufrechterhaltung des präferierten Verteilungsmusters im Chamberlain-Beispiel (im Gegensatz zur zwangsbewehrten Durchsetzung von Eigentumsrechten) als Verletzung der Eigentumsfreiheit zu werten ist. Ob das zutrifft, hängt allerdings davon ab, welches Bündel von Rechten wir einer Eigentümerin im Einzelnen zuschreiben.46 Wenn wir von einem starken Bündel von Eigentumsrechten (sogenannten „vollen liberalen Eigentumsrechten“) ausgehen, das neben der uneingeschränkten Kontrolle über die Nutzung eines Gutes auch ein uneingeschränktes Recht auf (unverkürzte) freiwillige Transfers und eine uneingeschränkte Immunität gegen den (teilweisen) Verlust des Eigentums beinhaltet, so ist Nozicks Diagnose ____________________ 44 45 46

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Cohen, Self-Ownership, S. 56-59. Siehe für diese Argumentation ebd., S. 59-62; Wolff, Nozick, S. 93-96. Zur Ansicht, dass Eigentum als Bündel von Rechten aufzufassen ist, siehe Honoré, Ownership.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

zuzustimmen.47 Jede Besteuerung wird entweder (wie bei der Vermögensbesteuerung) die Immunität oder (wie bei Einkommens-, Schenkungs- oder Erbschaftssteuern) das Recht auf unverkürzte Transfers verletzen. Doch die Frage ist hier gerade, ob wir ein solches System von vollen liberalen Eigentumsrechten einem System vorziehen sollten, das die Immunität und/oder die Transferrechte unter Steuervorbehalt stellt. Der Trick des ChamberlainBeispiels besteht also einfach darin, dass uns Nozick zwar auffordert, uns eine völlig gerechte Ausgangsverteilung V1 gemäß einer anderen Gerechtigkeitstheorie als der seinen vorzustellen, zugleich aber implizit voraussetzt, dass die gerechte Ausgangsverteilung eine Verteilung von vollen liberalen Eigentumsrechten sein muss, wie sie seiner eigenen Theorie zufolge bestehen.48 4.2. Einkommensbesteuerung als Zwangsarbeit? Kommen wir damit zu Nozicks zweitem Einwand. Ist die Besteuerung von Arbeitseinkommen eine Form von (oder jedenfalls ein vergleichbares moralisches Übel wie) Zwangsarbeit?49 Auf den ersten Blick scheint auch dieser Einwand wenig überzeugend. Denn Unterschiede zwischen der Einkommensbesteuerung und typischen Fällen von Zwangsarbeit sind leicht zu finden: Steuerzahlerinnen werden in der Regel nicht unter Androhung physischer Gewalt zum Arbeiten gezwungen, und sie haben normalerweise eine Wahl, welcher Tätigkeit sie wann, wo und in welchem Umfang nachgehen wollen.50 Nozick gesteht zu, dass die Besteuerung von Arbeitseinkommen den Menschen mehr Wahlmöglichkeiten lässt als typische Fälle von Zwangsarbeit. Dabei handle es sich aber bloß um einen graduellen Unterschied – man könne sich ja auch ein System von Zwangsarbeit vorstellen, das den Betroffenen die Wahl zwischen zwei oder mehr Tätigkeiten lasse.51 Nun fragt sich natürlich, was genau daraus folgen würde, wenn tatsächlich ein Konti____________________ 47 48 49 50 51

Vallentyne, Taxation, S. 292-294, 297. Nagel, Libertarianism, S. 147. Nozick legt sich nicht fest, ob die Eigentumsbesteuerung Zwangsarbeit ist, oder ob sie bloß aus ähnlichen Gründen moralisch problematisch ist. Siehe Nozick, Anarchie, S. 243, Fn. 101. Vallentyne, Taxation, S. 297; Wolff, Nozick, S. 91. Nozick, Anarchie, S. 243.

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nuum zwischen Zwangsarbeit und Einkommensbesteuerung bestünde. Jedenfalls ließe die Existenz eines solchen Kontinuums kaum den Schluss zu, dass der Unterschied zwischen beiden Praktiken unerheblich ist. Denn was sich entlang des (angeblichen) Kontinuums zwischen Zwangsarbeit und Einkommensbesteuerung verändert, ist moralisch alles andere als unbedeutend – dieser graduelle Unterschied betrifft ja gerade das Maß an Handlungsfreiheit (im deskriptiven Sinn), das Individuen genießen.52 Vor allem aber scheint mir zwischen Zwangsarbeit und Einkommensbesteuerung nicht bloß ein gradueller, sondern ein kategorischer Unterschied zu bestehen. Denn wie viele Optionen wir Nozicks Szenario der „Zwangsarbeit mit Wahlmöglichkeiten“ auch hinzufügen, eine Option wird sicher nicht dazu zählen – die Option nämlich, gar nicht zu arbeiten. Für Menschen, die nicht auf Kapitaleinkommen zurückgreifen können, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, wird das zweifellos eine sehr unattraktive Option sein, und man könnte deshalb der Ansicht sein, dass Lohnabhängige in gewissem Sinn doch gezwungen sind, zu arbeiten und in der Folge Steuern auf ihr Einkommen zu entrichten. Doch würde Nozick sein Argument auf diese Weise verteidigen, so würde er sich in Teufels Küche begeben. Denn zum einen lässt auch ein solch erweiterter Zwangsbegriff kaum den Schluss zu, dass jede mögliche Ausgestaltung einer Einkommenssteuer mit Zwangsarbeit vergleichbar ist. Werden nur sehr hohe Einkommen besteuert, so scheint es wenig plausibel zu behaupten, dass Menschen gezwungen sind, diese Steuer zu entrichten. Die Alternative der Gutverdienenden, die Steuer durch eine entsprechende Reduktion ihrer Arbeitszeit zu vermeiden, wäre nicht derart unattraktiv, dass faktisch ein Zwang bestünde, mehr zu arbeiten.53 Vor allem aber müsste Nozick unter dieser Interpretation des Arguments zugestehen, dass auch formal freiwillige Transaktionen zwischen Lohnabhängigen und Kapitaleignern unter Umständen nicht im eigentlichen Sinn freiwillig sind (was natürlich die Grundannahme der marxistischen Kritik an Ausbeutungsverhältnissen im Kapitalismus ist).54 Dieses Zugeständnis will Nozick aber unbedingt vermeiden.55

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Wolff, Nozick, S. 91f. Otsuka, Libertarianism, S. 18. Siehe dazu die Qualifikation der Lohnarbeit als „vermittelte Zwangsarbeit“ bei Marx, Grundrisse, S. 245. Nozick, Anarchie, S. 369-372.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

Unattraktive Alternativen genügen also nicht, um eine Handlung nach Nozicks Verständnis unfreiwillig zu machen. Weshalb sollte die Besteuerung von Arbeitseinkommen dann mit Zwangsarbeit gleichzusetzen sein? Nozicks Antwort lautet, dass die Einkommensbesteuerung genau wie Zwangsarbeit (und im Unterschied zur Lohnarbeit) das Recht auf Selbsteigentum verletze,56 weil es sich um eine Aneignung der Arbeit anderer Menschen handle, die ohne Zustimmung der Betroffenen erfolgt. Menschen wird zwar die Wahl gelassen, ob sie arbeiten wollen – wenn sie das tun, wird ihnen aber ein Teil des Produkts ihrer Arbeit weggenommen. Das jedoch sei moralisch genauso verwerflich wie Zwangsarbeit im engeren Sinn: „Nimmt man jemandem die Früchte seiner Arbeit weg, so ist das gleichbedeutend damit, daß man ihm Stunden wegnimmt und von ihm bestimmte Tätigkeiten verlangt.“57

Auch dieser Vorwurf ist allerdings bei genauerer Betrachtung unhaltbar. Denn was sich der Staat mit der Einkommensbesteuerung aneignet, ist nicht die Arbeit einer Person, sondern ein Teil des Werts des Produkts, das aus der Verausgabung dieser Arbeit unter Verwendung äußerer Gegenstände hervorgeht.58 Diesen Aspekt blendet Nozick aus, wenn er von den „Früchten der Arbeit“ einer Person spricht. Und diese Auslassung ist entscheidend für seine Ansicht, dass die Einkommensbesteuerung notwendig die Selbsteigentumsrechte von Personen verletzt. Zwei Variationen des Chamberlain-Beispiels mögen helfen, den Punkt zu illustrieren. Im ersten Fall zwingt die Betreiberin des Stadions Chamberlain unter Gewaltandrohung, weiterhin in ihrem Stadion zu spielen, und nimmt einen Teil der Ticketeinnahmen an sich – in diesem Fall verletzt die Stadionbetreiberin Chamberlains Selbsteigentumsrecht, es handelt sich um Zwangsarbeit. Im zweiten Fall spielt Chamberlain freiwillig, doch die Stadionbetreiberin verlangt, dass dieser einen Teil seines Einkommens abtritt, um den Unterhalt des Stadions zu finanzieren. Es steht Chamberlain frei, nicht mehr zu spielen, doch wenn er weiterhin in diesem Stadion spielen will, muss er einen Teil seiner Einnahmen abgeben. In diesem Fall handelt es sich natürlich nicht um Zwangsarbeit – was sich die Betreiberin des Stadions aneignet, ist nämlich nicht Chamberlains Arbeit, sondern ein Teil der ____________________ 56

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Wie schon der Freiheitsbegriff ist auch der Zwangsbegriff bei Nozick stärker normativ aufgeladen, als man zunächst denken könnte: Ob eine Handlung freiwillig ist, hängt Nozick zufolge davon ab, ob eine Beschränkung des Handlungsspielraums einer Person aus Rechtsverletzungen resultiert. Siehe ebd., S. 370; dazu kritisch Wolff, Nozick, S. 83-85. Nozick, Anarchie, S. 247. Vallentyne, Taxation, S. 298.

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Einnahmen, die Chamberlains Arbeit unter Verwendung der Infrastruktur des Stadions erwirtschaftet. Und an dieser Diagnose ändert sich auch dann nichts, wenn die Stadionbetreiberin die Gebühr in redistributiver Absicht erhebt (etwa um einen zusätzlichen Sportplatz für Kinder aus armen Verhältnissen zu bauen). Nun würde Nozick natürlich bestreiten, dass sich der Staat normativ in einer ähnlichen Situation befindet wie unsere Stadionbetreiberin. Das Recht der Stadionbetreiberin, Chamberlain zu „besteuern“, beruht auf Eigentumsrechten, die sich bis auf die legitime Erstaneignung des Stücks Land zurückverfolgen lassen, auf dem sich das Stadion befindet; Staaten haben Nozick zufolge kein analoges Eigentumsrecht an ihrem Territorium. Aber der springende Punkt ist an dieser Stelle, dass die Besteuerung nicht ohne weitere Annahmen (und insbesondere nicht ohne Annahmen über Eigentumsrechte an äußeren Gegenständen) als Verletzung des Selbsteigentumsrechts zu qualifizieren ist. Die Überzeugungskraft von Nozicks Einwand gegen an Verteilungsmustern orientierte Gerechtigkeitstheorien hängt deshalb gänzlich davon ab, ob seine Prinzipien für die ursprüngliche Aneignung bisher herrenloser Gegenstände überzeugend sind. 5.

Das Problem der ursprünglichen Aneignung

Nozick betont verschiedentlich, dass die Dinge in der Welt immer schon „an Menschen geknüpft [seien], die Ansprüche auf sie haben“. Es verhalte sich „nicht so, daß etwas entstünde und die Frage noch offen wäre, wer es bekommen soll“.59 Nun könnten wir uns zwar eine Welt vorstellen, in der diese These richtig wäre, etwa wenn die einzigen Dinge von Wert Kleidungsstücke wären, die Menschen aus ihren eigenen Haaren herstellen.60 Unter der Annahme, dass Menschen Selbsteigentümer sind (was ich um des Arguments willen zugestehen möchte), würden diese Kleidungsstücke immer schon als das Eigentum bestimmter Personen gelten. Aber das ist natürlich nicht die Welt, in der wir leben. So gut wie alle Dinge in unserer Welt waren irgendwann natürliche Ressourcen, auf die noch niemand einen besonderen Anspruch hatte. Die Annahme voller liberaler Eigentumsrechte an irgendwelchen Gegenständen steht und fällt deshalb mit der Annahme, dass Individuen die Möglichkeit haben, volle liberale Eigentumsrechte an natürlichen Ressourcen zu erwerben. Und diese Annahme scheint mir die ____________________ 59 60

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Nozick, Anarchie, S. 231. Otsuka, Libertarianism, S. 18.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

entscheidende Schwachstelle von Eigentumstheorien in Lockes Tradition zu sein. Weshalb sollten wir gerade dieses System von Eigentumsrechten an natürlichen Ressourcen akzeptieren? Weshalb sollte die „Vermischung“ der Arbeit einer Selbsteigentümerin mit einem natürlichen Gegenstand, der Locke zufolge zunächst als Gemeineigentum der Menschheit gilt, dazu führen, dass der aus der Verschmelzung beider Komponenten hervorgehende Gegenstand individuelles Eigentum im stärkstmöglichen Sinn wird und die Gemeinschaft jeden Anspruch verliert? Weshalb sollten wir nicht stattdessen annehmen, dass das Produkt (mittels eines geeigneten Steuersystems) unter der Gemeinschaft und dem Individuum aufzuteilen ist oder gar gänzlich in der Hand der Gemeinschaft verbleibt?61 Die letztere Annahme scheint auf den ersten Blick sogar naheliegender als Lockes Position. Immerhin entscheidet das Individuum und nicht die Gemeinschaft, dass die „Vermischung“ der Arbeit mit einem natürlichen Gegenstand überhaupt stattfindet.62 Auch im Rahmen aneignungstheoretischer Ansätze wird aber normalerweise davon ausgegangen, dass die „Vermischung“ der eigenen Arbeit mit einem Gegenstand, der bereits das Eigentum einer anderen Person ist, nicht dazu führt, dass die andere Person ihr Eigentumsrecht verliert. Wenn ich ungefragt ein Haus renoviere, das einer anderen Person gehört, kann ich nicht geltend machen, dass es nun mein Haus sei, weil ich als Selbsteigentümer einen Anspruch auf die Früchte meiner Arbeit habe. Weshalb sollte es sich anders verhalten, wenn ich meine Arbeit auf eine Sache richte, die nicht das Privateigentum einer einzelnen Person ist, sondern das gemeinsame Eigentum der Menschheit? 5.1. Das Proviso und der Ausschluss relevanter Alternativen Eine starke Antwort auf diese Herausforderung hätten die Vertreterinnen lockeanischer Theorien wohl dann, wenn sie zeigen könnten, dass die unilaterale Aneignung äußerer Gegenstände niemandem zum Nachteil gereicht. Wenn unilaterale Aneignungsakte in einem starken Sinn „ebenso Gutes“ für alle anderen übrigließen,63 dann hätte niemand Grund, sich über ____________________ 61 62 63

Vgl. Nozick, Anarchie, S. 250f. Waldron, Private Property, S. 190. Locke, Zweite Abhandlung, S. 30 (§27).

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ein System privater Eigentumsrechte zu beklagen. Ob die unilaterale Aneignung voller liberaler Eigentumsrechte an natürlichen Ressourcen mit dieser Bedingung vereinbar ist, hängt allerdings davon ab, im Vergleich zu welcher Situation solche Aneignungsakte niemanden schlechter stellen dürfen.64 Eine erste, schwache Interpretation des Proviso nimmt eine Situation als Vergleichsgröße, in der alle natürlichen Ressourcen Gemeingut im Sinne einer frei zugänglichen Allmende bleiben. Auf diese Interpretation des Proviso stützt sich Nozick: „Ein Vorgang, der gewöhnlich zu einem dauernden, erblichen Eigentumsrecht an einem bisher herrenlosen Gegenstand führt, tut dies nicht, wenn dadurch die Lage anderer verschlechtert würde, die den Gegenstand nicht mehr frei nutzen können.“65

Nun seien zwar hypothetische Fälle denkbar, in denen diese Bedingung verletzt würde – etwa wenn es einer Person gelänge, ein Monopol über eine lebenswichtige natürlichen Ressource wie Wasser zu erlangen und von anderen Personen exorbitante Preise dafür zu verlangen. Aber angesichts der enormen Vorteile eines Systems des Privateigentums sei die Bedeutung dieser Bedingung in der Praxis sehr beschränkt.66 Nozicks Idee scheint hier die zu sein, dass eine Person ohne Landeigentum, die sich beispielsweise als lohnabhängige Erntehelferin verdingen muss, immer noch besser dastehen dürfte als eine Person, für die das entsprechende Stück Land frei zugänglich bliebe und die ihren Lebensunterhalt als Jägerin und Sammlerin bestritte. Nehmen wir einmal an, das sei richtig. Würde das genügen, um zu zeigen, dass die unilaterale Aneignung voller liberaler Eigentumsrechte an natürlichen Ressourcen niemanden zum Nachteil gereicht? Das wird schnell zweifelhaft, wenn wir andere Vergleichsgrößen in Betracht ziehen. Weshalb sollte sich unsere Erntehelferin beispielsweise nicht auch dann beklagen können, wenn sie schlechter dasteht als in einer Situation, in der sie sich ihrerseits ein gleich großes und fruchtbares Stück Land aneignen könnte wie der Gutsbesitzer, für den sie arbeitet? Eine zweite, stärkere Interpretation des Proviso lautet entsprechend, dass die unilaterale Aneignung natürlicher Ressourcen anderen ebenso Gutes lassen muss, das sie sich ihrerseits individuell aneignen können. ____________________ 64 65 66

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Dazu Cohen, Self-Ownership, S. 67-91 (Kap. 3). Nozick, Anarchie, S. 255. Ebd., S. 250-261.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

Vielleicht glaubte Locke, dass unilaterale Aneignungsakte zu seiner Zeit auch in diesem stärkeren Sinn niemanden schlechter stellten, weil unbebautes Land seiner Ansicht nach schlicht kein (in relevantem Maß) knappes Gut war. In diese Richtung deuten jedenfalls seine Verweise auf die „unbebauten Einöden Amerikas“,67 und an einer Stelle schreibt er explizit, dass es immer noch große brachliegende Landstriche gebe, an denen keine privaten Eigentumsrechte bestünden: „Diese Flächen sind größer, als die darauf wohnenden Menschen wirklich gebrauchen oder nutzen können, und sind aus diesem Grunde auch jetzt noch Gemeingut“.68 Der kolonialistische Einschlag dieser Einschätzung ist offensichtlich.69 Vor allem aber dürfte unstrittig sein, dass Land heute ein knappes Gut ist. Und wenn dies heute der Fall ist, so war es das in gewisser Hinsicht immer schon: Wer sich zu früheren Zeiten etwas aneignete, trug bereits dazu bei, dass analoge Aneignungsakte den heutigen Menschen verwehrt bleiben. Nozick erwähnt dieses Problem,70 weist die stärkere Interpretation des Proviso aber letztlich ohne weiteres Argument zurück. Der Linkslibertäre Hillel Steiner spricht sich hingegen für einen Anspruch auf gleiche Aneignungsmöglichkeiten aus und zieht ihn heran, um ein Argument für eine redistributive Ressourcenbesteuerung zu formulieren.71 Unter heutigen Bedingungen, unter denen es keine nennenswerten Bestände herrenloser Ressourcen mehr gebe, transformiere sich der Anspruch auf die Aneignung eines gleichen Teils der natürlichen Ressourcen in einen Anspruch auf einen gleichen Teil des (Markt-)Werts bereits angeeigneter natürlicher Ressourcen. Die Eigentümerinnen natürlicher Ressourcen müssten alle anderen Individuen weltweit für die ihnen entzogenen Aneignungsmöglichkeiten entschädigen, indem sie eine Ressourcensteuer an einen globalen Fonds entrichten, dessen Einnahmen zu gleichen Teilen an alle Individuen ausgeschüttet werden. Auch in einem aneignungstheoretischen Rahmen kann also die These verteidigt werden, dass gewisse Formen der Besteuerung nicht als Eingriff in, sondern als Voraussetzung für legitime Eigentumsrechte zu verstehen sind.

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Locke, Zweite Abhandlung, S. 38 (§37). Ebd., S. 44 (§45). Zu Lockes Verhältnis zum Kolonialismus, an dem er als Sekretär der Lords Proprietors von Carolina auch praktisch mitwirkte, siehe Armitage, Carolina; ders., Theorist of Empire; Arneil, Locke. Nozick, Anarchie, S. 252f. Steiner, Essay.

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Es könnte nun scheinen, dass nach der Einrichtung eines solchen Fonds tatsächlich niemand mehr einen berechtigte Einwand gegen private Eigentumsrechte an natürlichen Ressourcen erheben könnte: Alle Individuen hätten nach der Ausschüttung aus dem globalen Fonds die Mittel, einen gleichen Teil der natürlichen Ressourcen zu erwerben; zudem würde das Steiner’sche Eigentumsregime (wie wir einmal annehmen wollen) auch niemanden schlechter stellen gegenüber einer Situation, in der die natürliche Umwelt eine frei zugängliche Allmende bliebe. Wenn sich in einer Steiner’schen Welt (etwa aufgrund unterschiedlicher Arbeitsproduktivitäten) mit der Zeit doch erhebliche materielle Ungleichheiten ergäben, so wäre dies nicht auf eine Verletzung des Proviso zurückzuführen. Ich glaube jedoch, dass diese Diagnose voreilig ist, oder genauer: Sie trifft nur unter der zusätzlichen Annahme zu, dass die einzigen für die Erfüllung des Proviso relevanten Alternativen darin bestehen, Individuen entweder ein gleiches Bündel möglichst starker individueller Eigentumsrechte zuzuschreiben oder aber die natürlichen Ressourcen in einer primitiven Form von Gemeineigentum zu belassen. Weshalb aber sollten das die einzigen relevanten Alternativen sein? Weshalb sollten wir beispielsweise die Möglichkeit außer Betracht lassen, dass die entsprechenden Ressourcen gemeinschaftliches Eigentum in einem stärkeren Sinn sein könnten – nicht im Sinne einer frei zugänglichen Allmende, sondern im Sinne einer kollektiven Kontrolle über die Nutzung dieser Ressourcen?72 Auch ein solches System der joint ownership könnte Personen (jedenfalls in einem formalen Sinn73) als Selbsteigentümerinnen respektieren: Niemand hätte einen direkten Anspruch auf die Arbeit anderer Personen; Zwangsarbeit wäre verboten. Aber es wäre zulässig, die Zustimmung zur Nutzung der gemeinsam kontrollierten natürlichen Ressourcen an Bedingungen zu knüpfen. Wie Cohen zeigt, wäre ein solches Modell für einige Individuen vorteilhafter als Steiners System privater Eigentumsrechte. Das gilt insbesondere für Individuen, die selbst nicht in der Lage sind, Land produktiv zu bearbeiten (man denke etwa an Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen). Wenn diese „unproduktiven“ Individuen ein Vetorecht mit Blick auf die Nutzung natürlicher Ressourcen haben, können sie mit „produktiven“ Individuen einen Vertrag aushandeln, der ihr Überleben sichert. Auch „produktive“ Individuen bedürfen des Zugangs zu natürlichen ____________________ 72 73

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Cohen, Self-Ownership, S. 83f. Für die Debatte über eine mögliche stärkere Interpretation der SelbsteigentumsThese und ihre Vereinbarkeit mit egalitaristischen Positionen siehe ebd., S. 92115, 209-244 (Kap. 4, 9f.); Otsuka, Libertarianism.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

Ressourcen, um zu überleben, und sofern sie genug herstellen können, um sowohl sich selbst als auch die „Unproduktiven“ zu unterhalten, werden sie einem entsprechenden Vertrag zur Nutzung der gemeinsam kontrollierten Ressourcen zustimmen. Unter einer Steiner’schen Gleichverteilung privater Eigentumsrechte an natürlichen Ressourcen werden die „Unproduktiven“ hingegen kein gleich starkes Druckmittel haben, um ihr Überleben zu sichern.74 Auch Steiners System privater Eigentumsrechte gereicht also einigen Individuen zum Nachteil gegenüber einer Situation, in der natürliche Ressourcen Gemeineigentum (in einem stärkeren Sinn) bleiben. Cohen meint deshalb, dass „ein angemessen starkes lockeanisches Proviso die Formierung vollen liberalen Privateigentums verbieten wird. Denn es wird immer einige geben, die unter einer alternativen Regelung, die außer Betracht zu lassen arbiträr wäre, besser dastünden.“75 Als institutioneller Vorschlag wäre Cohens joint ownership-Modell zweifellos unattraktiv. Immerhin dürfte niemand auf irgendeine Weise mit der physischen Welt interagieren, ohne alle anderen Menschen um Erlaubnis bitten zu müssen.76 Aber möglichst starke individuelle Eigentumsrechte (Nozicks und Steiners Modelle) und volle kollektive Eigentumsrechte (Cohens in kritischer Absicht formuliertes Modell) sind natürlich nicht die einzigen Möglichkeiten, Ansprüche auf äußere Gegenstände zu organisieren. Denkbar wäre eben auch ein System, das zwar individuelle Eigentumsrechte an äußeren Gegenständen vorsieht, diese aber unter einen stärkeren Besteuerungsvorbehalt stellt, als Steiner dies tut, oder ein System, das einen Teil der Ressourcen unter individuelle, einen anderen Teil aber unter kollektive Kontrolle stellt. Auch ein solches Eigentumsregime würde vermutlich das Proviso unter Nozicks schwacher Interpretation erfüllen: Die Aneignung entsprechend schwächerer Eigentumsrechte würde niemanden schlechter stellen im Vergleich zu einer Situation, in der alle natürliche Ressourcen frei zugänglich blieben. Weshalb also sollten wir ein System voller liberaler Eigentumsrechte diesen Alternativen vorziehen? Man mag einwenden, dass die hier diskutierten Alternativen zu vollen liberalen Eigentumsrechten im Naturzustand schlicht nicht zur Verfügung stehen. Tatsächlich scheint Lockes Eigentumsbegründung an entscheiden____________________ 74 75 76

Cohen, Self-Ownership, S. 94-106. Ebd., S. 87, eigene Übersetzung. Ebd., S. 93f.

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der Stelle auf der Annahme zu beruhen, dass im Naturzustand nur zwei Alternativen zur Auswahl stehen: Entweder ist das Land privates Eigentum (im umfassendsten Sinn) und wird kultiviert, oder aber es ist Gemeineigentum im Allmende-Sinn, bleibt aber unkultiviert.77 Doch selbst wenn wir annehmen, dass das im Naturzustand tatsächlich die einzigen Alternativen sind (und von der Möglichkeit absehen, dass ganze Communities ein Stück Land gemeinschaftlich bewirtschaften könnten78), fragt sich immer noch, weshalb das System von Eigentumsrechten, das unter den beschränkten Möglichkeiten des Naturzustands vorzuziehen war, auch gegenüber den weiteren Alternativen favorisiert werden sollte, die erst in der politischen Gesellschaft realisierbar sind.79 Wenn es darum geht, einen Kuchen gerecht aufzuteilen, beginnen wir unsere Überlegungen kaum je mit der Frage, wie eine gerechte Verteilung dieses Kuchens in einer Situation aussähe, in der uns kein Messer zur Verfügung stünde. Wenn wir doch einmal in die missliche Lage geraten, einen Kuchen ohne Messer aufteilen zu müssen, werden wir uns zwar möglicherweise mit einer suboptimalen Verteilung zufriedengeben (wir wollen annehmen, es sei unmöglich, den Kuchen von Hand genau in Stücke der gewünschten Größe zu brechen). Aber wir würden eine solche Verteilung natürlich nicht zum Maßstab dafür machen, wie Kuchen bis in alle Zukunft verteilt werden sollen. Analoges scheinen lockeanische Theorien aber zu tun, wenn sie die Frage nach einem gerechten Eigentumsregime unter den beschränkten Möglichkeiten des Naturzustands beantworten und annehmen, dass genau dieses Eigentumsregime auch in der politischen Gesellschaft Bestand haben soll. Wie das Messer im Beispiel ermöglichen die Instrumente eines modernen Steuersystems Verteilungen, die ansonsten nicht zugänglich wären. Die Frage nach einem allseitig akzeptablen Eigentumssystem unter der Annahme zu stellen, dass diese Instrumente nicht zur Verfügung stehen, kommt einer unzulässigen Verengung der Alternativen gleich.

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Locke, Zweite Abhandlung, S. 34f. (§34). Waldron, Private Property, S. 171. Ebd., S. 190f.

Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

5.2. Jenseits des Proviso Spätestens an dieser Stelle scheinen mir lockeanische Eigentumstheorien vor einem Dilemma zu stehen: Entweder geben sie dem Proviso eine schwache Deutung, sodass es von mehreren unterschiedlichen Systemen von Eigentumsregeln erfüllt werden kann. Dann genügt das Proviso nicht, um ein bestimmtes Eigentumsregime gegen alle einschlägigen Alternativen zu verteidigen. Die Befürworterinnen unterschiedlicher Eigentumssysteme könnten dann argumentieren, dass die Implementierung ihres jeweils präferierten Eigentumssystems im relevanten Sinn niemandem einen Nachteil bringt. Oder aber das Proviso wird stark interpretiert, sodass es nur dann erfüllt wäre, wenn ein System von Eigentumsregeln im Vergleich zu allen relevanten Alternativen niemandem zum Nachteil gereicht. Dann aber dürfte das Proviso schlicht unerfüllbar sein: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass irgendein Eigentumsregime für alle Betroffenen gegenüber allen Alternativen vorzuziehen ist.80 Ich glaube deshalb, dass wir letztlich nicht umhinkommen, das Proviso zugunsten eines Prinzips aufzugeben, das eine Wahl zwischen unterschiedlichen Eigentumssystemen zulässt, von denen keines für alle Individuen vorteilhafter ist als jedes andere. Und an dieser Stelle scheint mir eine Theorie wie diejenige von Rawls einem aneignungstheoretischen Ansatz überlegen zu sein: Sie hat die theoretischen Ressourcen, eine Entscheidung zwischen verschiedenen Eigentumsregimen zu treffen, von denen das eine für die einen, das andere aber für andere Individuen am günstigsten ist. Das Differenzprinzip verlangt, dass wir in solchen Fällen dasjenige System wählen, das den Schlechtestgestellten die beste Ausstattung mit Grundgütern gewährleistet. Diejenigen, die in diesem System zu den am wenigsten Begünstigten zählen, haben keine Grundlage, sich zu beklagen, wenn ihre Besserstellung nur durch ein System zu erreichen wäre, das andere noch schlechter stellt.81 Es scheint mir offensichtlich, dass das präferierte Eigentumsregime unter diesen Vorzeichen kein Laissez-faire-Kapitalismus sein wird, sondern ein System, das individuelle Eigentumsrechte unter den Vorbehalt einer redistributiven Besteuerung stellt. Nun ist Rawls’ Gerechtigkeitstheorie wie gesagt nicht alternativlos. Um abschließend zu zeigen, dass ein redistributives Steuersystem tatsächlich eine Voraussetzung für legitime Eigentumsrechte ist, müssten weitere Theorien in Betracht gezogen werden, die zu diskutieren mir hier der Platz fehlt. ____________________ 80 81

Cohen, Self-Ownership, S. 87. Ebd., S. 87f.

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Was ich aber hoffe deutlich gemacht zu haben, ist, dass die vielversprechendste aneignungstheoretische Begründung eines moralischen Anspruchs auf vorsteuerliche Einkommen und Vermögen an entscheidender Stelle auf einem leap of faith beruht: Die Annahme, dass Individuen durch ihre Arbeit volle liberale Eigentumsrechte an äußeren Gegenständen erwerben, in die mit der Besteuerung eingegriffen wird, vermögen Locke und Nozick nicht überzeugend zu begründen. 6.

Fazit

Wenn wir im Alltag Steuern bezahlen, liegt der Eindruck nahe, dass uns etwas weggenommen wird, auf das wir zunächst einen legitimen Anspruch hatten. Dieser Eindruck ist wohl dann am stärksten, wenn sich der entsprechende Geldbetrag bereits auf unserem Konto befindet, bevor die Steuerrechnung in den Briefkasten flattert. Aber auch im Fall einer Quellenbesteuerung wird der Unterschied zwischen Brutto- und Nettobeträgen auf dem Lohnzettel oft dahingehend interpretiert, dass der Fiskus etwas an sich nimmt, was zunächst unser eigen war. Dieser Eindruck ist politisch wirkmächtig. Er liegt dem Einwand zugrunde, dass allzu hohe Steuersätze einer kalten Enteignung gleichkommen. Und manchmal wird er gar herangezogen, um Steuerhinterziehung als eine Form von Notwehr gegen die ausufernden Ansprüche des Fiskus zu rechtfertigen. Wenn die Argumente dieses Beitrags überzeugen, ist dieser Eindruck jedoch trügerisch. Er beruht auf einer Eigentumstheorie, deren Begründung letztlich lückenhaft bleibt. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir davon absehen sollten Kritik zu üben, wenn Menschen nach der Besteuerung nicht genug zum Leben bleibt. Aber wir sollten von der Idee abkommen, dass die Überzeugungskraft solcher Kritik wesentlich davon abhängt, welches vorsteuerliche Einkommen oder Vermögen eine Person vorzuweisen hat. Am Ende bemisst sich die Gerechtigkeit eines Wirtschaftssystems daran, was Individuen nach der Besteuerung ihr eigen nennen können. Vorsteuerliche Einkommen und Vermögen sind in diesem Zusammenhang eine rein buchhalterische Größe ohne eigenständige moralische Bedeutung.

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Steuern auf legitimes Eigentum oder legitimes Eigentum durch Steuern?

Literaturverzeichnis Armitage, David: John Locke: Theorist of Empire? In: Muthu, Sankar (Hrsg.): Empire and Modern Political Thought, 2012, S. 84-111. Ders.: John Locke, Carolina, and the „Two Treatises of Government“, Political Theory 32/5, 2004, S. 602-627. Arneil, Barbara: John Locke and America. The Defence of English Colonialism, 1996. Cohen, G. A.: Self-Ownership, Freedom, and Equality, 1995. Harsanyi, John C.: Can the Maximin Principle Serve as a Basis for Morality? A Critique of John Rawls’s Theory, American Political Science Review 69/2, 1975, S. 594-606. Honoré, Anthony M.: Ownership. In: Guest, Anthony G. (Hrsg.): Oxford Essays in Jurisprudence, 1961, S. 107-147. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften Bd. 6, 1969 [1797]. Locke, John: Zweite Abhandlung über die Regierung, 2007 [1689]. Macpherson, C. B.: The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, 1962. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der pol. Ökonomie (MEW Bd. 42), 1983 [1858]. Murphy, Liam/Nagel, Thomas: The Myth of Ownership. Taxes and Justice, 2002. Nagel, Thomas: Libertarianism without Foundations, Yale Law Journal 85/1, 1975, S. 136-149. Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopia, 2011 [1974]. Otsuka, Michael: Libertarianism without Inequality, 2003. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, 2006 [2001]. Ders.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979 [1971]. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, 2011 [1762]. Sen, Amartya: Equality of What? In: McMurrin, Sterling M. (Hrsg.): The Tanner Lectures on Human Values Bd. 1, 1980, S. 197-220 Steiner, Hillel: An Essay on Rights, 1994. Tully, James: A Discourse on Property. John Locke and his Adversaries, 1980. Vallentyne, Peter: Taxation, Redistribution and Property Rights. In: Marmor, Andrei (Hrsg.): The Routledge Companion to Philosophy of Law, 2012, S. 291-301. Waldron, Jeremy: Property and Ownership. In: Zalta, Edward N. (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (2012), unter http://plato.stanford.edu/archives/spr2012 /entries/property/ (letzter Zugriff am 16.07.2017). Ders.: The Right to Private Property, 1988. Ders.: Enough and as Good Left for Others, The Philosophical Quarterly 29/117, 1979, S. 319-328. Widerquist, Karl: Lockean Theories of Property. Justifications for Unilateral Appropriation, Public Reason 2/1, 2010, S. 3-26. Wolff, Jonathan: Robert Nozick. Property, Justice and the Minimal State, 1991.

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Inklusion oder Exklusion. Zur Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit Thomas M. Schmidt

In der Einleitung zu dem zusammen von ihm mit Heinrich Meier hrsg. Sammelband „Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart“ hat Friedrich Wilhelm Graf auf den Eigensinn des religiösen Bewusstseins, seine unaufhebbare Ambivalenz und notorische Gefährlichkeit hingewiesen. Aus diesem zutiefst ambigen Charakter von Religion ergibt sich für eine Politik, die sich den Prinzipien eines liberaldemokratischen Rechtsstaates verpflichtet weiß, die Aufgabe einer entsprechenden religionspolitischen „governance“. Die „hohe institutionelle Vielfalt des liberalen Trennungsmodells“, allein in Europa, wird von Graf ebenfalls eindrücklich geschildert. Trotz dieser komplexen Lage lassen sich in der politischen Theorie seit den neunziger Jahren jedoch grob zwei große Strömungen unterscheiden, die zur Frage der Begründung und Bestimmung religionspolitischer Governance divergierend Stellung nehmen. Es handelt sich einerseits um exklusivistische Modelle des Liberalismus, die, wie der Name verrät, einen unterschiedlich gestuften Ausschluss von Religion aus der politischen Öffentlichkeit fordern; auf der andere Seite inklusivistische Modelle, die einen partiellen bis umfassenden Einschluss fordern. Differenzen gibt es mit Blick auf die begrifflichen Mittel der Rechtfertigung von Einschluss und Ausschluss der von Religion und hinsichtlich der unterschiedlichen Grade und Nuancen der geforderten praktischen Ausgestaltung. Einige der Grundzüge dieser Positionen möchte ich im Folgenden diskutieren; im Zentrum werden die Arbeiten von Nicholas Wolterstorff stehen, der auf energische und anspruchsvolle Weise eine stark inklusivistische Auffassung vertritt. Thomas Nagel kann als Ausgangspunkt gewählt werden, um mit der Schilderung einer stark exklusionistischen Position zu beginnen. Nagel1 zufolge muss vernünftige, öffentliche Rechtfertigung ein kontrollierbares Maß an Objektivität enthalten. Objektivität setzt die Möglichkeit und Fähigkeit voraus, zu den eigenen Überzeugungen die Einstellung eines Beobachters einnehmen zu können. Dies führt nach Nagel zu einem Gebot der ____________________ 1

Nagel, Moralischer Konflikt und politische Legitimtät.

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Thomas M. Schmidt

Trennung zwischen der Einstellung gegenüber meiner Überzeugung und dem Gehalt dieser Überzeugung. Diese Trennung soll gewährleisten, dass die Überzeugung mit Gründen gerechtfertigt wird, die auch diejenigen teilen können, die nicht von der Wahrheit der Überzeugung überzeugt sind. Die Grundlage einer Überzeugung muss so dargelegt werden können, dass andere Personen, welche diese Überzeugung nicht teilen, auf der gleichen Grundlage zu einem Urteil über diese Überzeugung gelangen können. Nagel zufolge ist ein solcher gemeinsamer Rechtfertigungsgrund bei religiösen Überzeugungen nicht gegeben, denn sie speisen sich wenigstens zum Teil aus nicht für alle einsehbaren Quellen wie persönlicher Glaube oder Offenbarung. Religiöse Überzeugung sind daher prinzipiell nicht verallgemeinerungsfähig und kommen daher nicht als Kandidaten öffentlicher Rechtfertigung in Betracht. Etwas abgeschwächter erscheinen die Anforderungen, die Robert Audi2 an religiöse Argumentation in politischen Debatten stellt. Er konzentriert sich auf Kriterien, die religiöse Überzeugungen erfüllen können müssen, wenn sie als Gründe für ein politisches Handeln geltend gemacht werden, das rechtliche Konsequenzen besitzt. Rechtszwang, staatliche Sanktionsgewalt kann in einer pluralistischen Gesellschaft nur mit Gründen gerechtfertigt werden, die von allen geteilt werden können. Daher sind religiöse Überzeugungen nur dann öffentlich legitimierbare Gründe, wenn für sie adäquate säkulare Gründe angegeben werden können. Audi nennt dieses Kriterium das Prinzip einer säkularen Vernunftbasis (secular rationale). Es muss ergänzt werden durch das Prinzip einer säkularen Motivation. Danach sind nur solche religiösen Überzeugungen gerechtfertigte Grundlagen politischen Handelns, für die auch entsprechende nichtreligiöse Motive benannt werden können. Audi fordert also, dass religiöse Gründe und Motive in säkulare übersetzt werden können müssen, wenn sie beanspruchen, legitime Gründe und Motive politischen Handelns, vor allem rechtssetzenden politischen Handelns zu sein. Voraussetzung dieser Übersetzungsleistung ist ein theologisch-ethisches Reflexionsgleichgewicht, das Audi nach dem Vorbild des Rawlsschen Reflexionsgleichgewichts modelliert. Gegen dieses exklusivistische Modell von politischer Öffentlichkeit ist mit unterschiedlichen Argumenten der Vorwurf erhoben worden, dass sich die weltanschaulich neutrale Vorstellung von Gerechtigkeit als eine Form von Unfairness darstelle. Sie führe nämlich zu einem ungerechtfertigten, weil überproportionalen Ausschluss religiöser Überzeugungen aus dem Raum der Öffentlichkeit. Religiöse Überzeugungen würde auf diese Weise ____________________ 2

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Audi, Liberal Democracy and the Place of Religion in Politics.

Zur Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit

so relevant für eine demokratische Öffentlichkeit wie das Basteln von Modellflugzeugen - Religion werde zu einem Hobby. Dieser Hinweis wird oft verstärkt mit dem Argument, dass die Exklusion der Religion aus dem Raum der Öffentlichkeit zum Austrocknen von ethischen Quellen führe, auf die auch pluralistische und demokratische Gesellschaften angewiesen bleiben. Besonders schwer scheint der Vorwurf zu wiegen, das liberale Gerechtigkeitsmodell im Fall religiöser Überzeugungen seine eigenen Prinzipien verletze, nämlich unfair sei. Hier wird vor allem auf ungleiche Einlassbedingungen für öffentliche Debatten verwiesen. Nach dieser Einschätzung müssen religiöse Personen ungleich mehr ihrer identitätsstiftenden Grundüberzeugungen einklammern als solche mit säkular-liberalen Vorurteilen, wenn sie sich an politischen Diskursen als gleichberechtigte Partner beteiligen wollen. Es herrsche somit eine ungleiche Verteilung argumentativer Lasten und ein Zwang zur Schizophrenie: das religiöse Subjekt müsse vitale Komponenten seiner Persönlichkeit abspalten, wenn es als anerkannter Bürger in politischen Diskursen auftreten will. In diesem Sinn hat Christoph Eberle auch die moderaten Formen eines qualifizierten Exklusivismus à la Audi kritisiert. Aus der moralischen Verpflichtung, unterstützende säkulare Gründe für religiöse Vorstellungen zu suchen, folge nicht zwingend, sich in öffentlichen Debatten nur auf solche Gründe zu stützen. Denn aus der Tatsache, dass für bestimmte Auffassungen keine säkularen Gründe gefunden werden können, dürfe der Schluss gezogen werden, dass sie eben anders begründet werden müssten und auch nur so begründet werden können. Die Forderung, auf den Gebrauch solcher Auffassungen in öffentlichen Debatten zu verzichten, muss also unabhängig davon begründet werden, ob die Suche nach adäquaten säkularen Gründen Erfolg verspricht oder nicht. Die Forderung, sich im politischen Diskurs auf säkulare Argumente zu beschränken und die Forderung, für religiöse Argumente unterstützende säkulare Gründe zu suchen, sind logisch unabhängig. Die Unabhängigkeit dieser Verpflichtungen lässt sich auch daran erkennen, dass die Ablehnung der liberalen Forderung nach Beschränkung nicht notwendig zur Ablehnung der Suche nach säkularer Bestätigung führen muss. Auch wenn das liberale Prinzip der Beschränkung nicht akzeptiert wird, kann dennoch der Versuch sinnvoll erscheinen, für die eigenen Überzeugungen so viel unterstützende Gründe wie möglich zu finden, also auch säkulare. Ebenso erscheint es auch bei einer Ablehnung liberaler Neutralitätsprinzipien immer noch attraktiv für die eigenen, religiös motivierten politischen Optionen eine möglichst breite Unterstützung in Form allgemein akzeptierter, eben auch säkularer Gründe zu suchen. Die entscheidende 247

Thomas M. Schmidt

Frage lautet: Welches Verhalten ist geboten, wenn diese Suche fehlschlägt? Warum sollten Bürger, die alles getan haben, um eine säkulare Bestätigung für ihre religiösen Moralvorstellungen zu finden, aber letztlich erfolglos blieben, nun darauf verzichten, auf der Basis dieser Vorstellungen in politischen Auseinandersetzungen zu argumentieren, auch in solchen, in denen es um die Begründung rechtlicher Sanktionen geht? Die liberale Antwort auf diese Frage lautet schlicht: weil solche Vorstellungen nicht von allen Bürgerinnen und Bürgern geteilt werden. Normen, für die keine Begründungen angegeben werden können, die von einer bestimmten, nicht von allen Bürgern geteilten Doktrin unabhängig wären, sind nicht gerechtfertigt. Ihre Befolgung kann daher nicht allen Bürgen im gleichen Maße erwartet, schon gar nicht rechtlich erzwungen werden. Die Begründung sanktionierender Gewalt kann nur auf einer allen prinzipiell zugänglichen Basis vernünftiger Argumentation erfolgen. Wie Eberle hat Nicholas Wolterstorff wiederholt und nachdrücklich diese Auffassung kritisiert. Er wendet sich gegen die von Rawls und Audi formulierten Kriterien einer Trennung von religiösen Überzeugungen und säkularen Gründen.3 Ziel seiner Kritik ist allerdings nicht die Ablehnung der liberalen Demokratie, sondern der politischen Philosophie des Liberalismus. Wolterstorff zufolge bietet der politische Liberalismus eine unangemessene Explikation der Prinzipien der politischen Praxis liberaler Demokratie. Auf der Grundlage dieser unangemessenen Theorie formuliere der Liberalismus in seiner exklusivistischen Variante ungerechtfertigte Ausschlussbedingungen des Religiösen aus dem Raum der politischen Öffentlichkeit. Zurückgewiesen wird daher von Wolterstorff die so genannte „liberale Position“, das heißt eine Form politischer Theorie, welche die Legitimitätsgrundlagen moderner Gesellschaften mit Mitteln „neutraler“ Vernunft bestimmt. Ausdrücklich unterstützt wird aber die Idee der liberalen Demokratie. Hauptstoßrichtung der Kritik ist es also, die liberale Theorie als eine unsachgemäße Explikation der politischen Praxis liberaler Demokratien zu entlarven. Die Unangemessenheit der liberalen Position zeige sich vor allem daran, dass die besonderen Restriktionen, die sie dem Gebrauch religiöser Argumente in öffentlichen Debatten auferlegt, weder epistemologisch noch politisch überzeugend begründet seien. ____________________ 3

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Die Diskussion der Position von Wolterstorff bezieht sich im Folgenden auf seine Beiträge Why We Should Reject What Liberalism Tells Us about Speaking and Acting in Public for Religious Reasons und The Role of Religion in Decision and Discussion of Political Issues.

Zur Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit

Wolterstorffs zentrale Kritik richtet sich gegen die Forderung des politischen Liberalismus nach einer unabhängigen Begründungsbasis politischer Ordnung. Durch das Verfahren der Abstraktion von ihren umfassenden Überzeugungen und der Elaboration unabhängiger vernünftiger Elemente – so Wolterstorffs Beschreibung der Rawlsschen Methode des Reflexionsgleichgewichts – sollen die Bürger zu einem vernünftigen Konsens in den essentiellen politischen Fragen gelangen können. Es scheint aber genauso gut begründet, als Ergebnis eines solchen Verfahrens Dissens zu erwarten. Damit zu rechnen, dass Bürger, die unterschiedlichen umfassenden Lehren anhängen, in vielen entscheidenden Fragen nicht zu einem Konsens gelangen, erscheint jedenfalls nicht irrational. Diese Erwartung scheint zudem eine angemessenere Beschreibung politischer Entscheidungsprozesse in liberalen Demokratien zugrunde zu legen. Demokratische Deliberationsprozesse führen in der Regel zu Mehrheitsentscheidungen auf einer ad-hocBasis, nicht zu Konsensbildungen auf der Grundlage allgemein anerkannter Vernunftprinzipien. Zu verlangen und zu erwarten, dass der Prozess einer abstrakten Verallgemeinerung von essentiellen Elementen der divergierenden umfassenden Lehren als Ergebnis eine neutrale Konzeption der Gerechtigkeit hervorbringt, erscheint so wahrscheinlich und so gut begründet wie die Annahme, die Bürger könnten sich auf eine ganz bestimmte umfassende Lehre einigen. Die Wahrscheinlichkeit eines Konsenses auf der Basis einer freistehenden Konzeption öffentlicher Vernunft skeptisch einzuschätzen bedeutet jedoch nicht darauf zu verzichten, die seine Mitbürger als freie und gleiche Personen zu respektieren und ihnen gegenüber die eigenen Handlungen und Überzeugungen zu rechtfertigen. Dieser Respekt bedarf Wolterstorff zufolge jedoch gerade der Fundierung in Gestalt gehaltvoller ethischer Überzeugungen; diesem Bedürfnis laufe die von der liberalen Theorie proklamierte Trennung von Religion und Politik gerade zuwider. Eine Fundierung des liberalen Prinzips des gleichen Respekts in einer umfassenden religiösen Lehre erscheint Wolterstoff nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil nach seiner Auffassung die Rawlssche Rekonstruktion einer unabhängigen Vernunftbasis scheitert. Wenn die Begründung der unabhängigen Vernunftbasis moral- und rationalitätstheoretisch nicht überzeugend geleistet wird, dann bleibt nur der Bezug auf die rationalen, politischen und gegebenenfalls religiösen Tugenden der Bürger übrig. Eine Rekonstruktion der Geltungspriniizpien liberaler Demokratie sollte sich daher von Anfang an auf jene Tugenden konzentrieren, die erforderlich sind, um den öffentlichen Diskurs

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auf eine Weise zu führen, die dem Prinzip der liberalen Demokratie angemessen ist: in Respekt vor der Freiheit und Gleichheit aller an diesem Diskurs beteiligten Bürgerinnen und Bürger. Hinter Forderungen nach säkularer Beschränkung, wie sie etwa von Audi erhoben werden, verbirgt sich Wolterstorff zufolge eine unrealistische Epistemologie. Es könne nicht erwartet werden, dass gewöhnliche Bürger immer in der Lage seien, zusätzlich zu ihren ursprünglich religiösen Überzeugungen, die sie faktisch motivieren und zu bestimmten Handlungsoptionen gelangen lassen, noch andere Arten von Gründen kennen und ihre Adäquatheit beurteilen können.4 Es scheint dann schon einleuchtender zu fordern, sich in politischen Angelegenheiten prinzipiell nur auf solche Auffassungen und Argumente zu berufen, die auf einer unabhängigen, neutralen Grundlage gewonnen wurden; sollte es für diese unabhängigen Vernunftgründe dann noch entsprechende religiöse Argumente geben, so wäre dies ein Fall harmloser und unproblematischer Überdetermination der fraglichen politischen Überzeugungen. Dazu müsste der politische Liberalismus aber eine Epistemologie verteidigen können, die rechtfertigt, warum überhaupt nur auf einer unabhängigen Basis gewonnene Überzeugungen vertreten werden sollten. Die Forderung nach einer säkularen Übersetzung wäre dann überflüssig, da generell, auch auf der Ebene der Individuen, nur solche Überzeugungen zulässig wären, die nach allgemeinen Standards gerechtfertigt werden können. Ein solch starkes epistemisches Kriterium scheint jedoch nur schwer zu verteidigen, wie Wolterstorff in seiner Auseinandersetzung mit Locke zu zeigen versucht. Da aber auch die Rawlssche Strategie, den Vorrang neutraler Prinzipien nicht unter Berufung auf epistemologische Argumente, sondern mit Bezug auf den öffentlichen Charakter politischer Vernunft zu begründen, nicht verfängt, erscheinen die Restriktionen, welche das Prinzip säkularer Übersetzung oder Beschränkung gerade religiösen Überzeugungen auferlegt, nicht gerechtfertigt. Wolterstorff weist nämlich auch das Argument zurück, den Ausschluss der Religion aus der politischen Öffentlichkeit durch ihre besondere Gefährlichkeit zu begründen, etwa durch den Verweis auf die großen Leidenschaften, die durch religiöse Überzeugungen entfesselt werden. Diese Überlegung mag historisch betrachtet für die neuzeitliche Gesellschaft der Religionskriege richtig gewesen sein, aber nicht für die spätmoderne pluralistische Gesellschaft. Die Ideologien des 20. Jahrhundert, von denen im hohen Maße die Gefährdung des politischen Friedens, der liberalen Freiheiten und ____________________ 4

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Das gleiche Argument wird von Quinn vorgebracht in: Political Liberalisms and Their Exclusions of the Religious, S. 140f.

Zur Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit

der sozialen Gerechtigkeit ausgingen, waren in der Regel im hohen Maße antireligiös. Das Argument von der besonderen Gefährlichkeit der Religion verfange also nicht also eine Rechtfertigung ihrer Exklusion aus der politischen Öffentlichkeit; hierfür müssten epistemologische Gründe geltend gemacht werden. Aber gerade der Versuch einer epistemologischen Fundierung der „liberalen Position“ erweist sich in Wolterstorffs Augen als unhaltbar. Weder dem klassischen Liberalismus Lockes noch dem politischen Liberalismus Rawls‘ gelinge ein überzeugender Nachweis für eine von substantiellen Überzeugungen unabhängige Begründungsbasis politischer Gerechtigkeit. Wolterstorff erscheint das theoretische Verfahren des politischen Liberalismus zu idealistisch, vor allem wegen der starken Konsenserwartung. Gleichgültig, welche Gerechtigkeitskonzeption vorgeschlagen werde, es erscheint prinzipiell vernünftig, Dissens zu erwarten. Nicht alle rationalen und vernünftigen Bürger werden einer bestimmten, theoretisch erarbeiteten Gerechtigkeitsvorstellung zustimmen. Nach dieser Auffassung unterschätzt das Rawlssche Modell des Konsenses den stark konfliktiven Charakter, den politische Entscheidungsprozesse auch in liberalen Demokratien besitzen; zugleich tendiert es dazu, die Möglichkeit einer rationalen Übereinstimmung auf dem Gebiet der normativen politischen Theorie zu überschätzen. Die praktische Stabilität der liberalen Demokratie ist robuster, die theoretische Akzeptanz der liberalen Gerechtigkeitskonzeption fragiler als Rawls annimmt. So variiert Wolterstorff hier im wesentlichen Argumente gegen den politischen Liberalismus, die aus den Diskussionen um eine „Politik der Differenz“ bekannt sind: Der Andere ist in seiner Andersheit zu respektieren und nicht auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten; die Forderung nach vernünftigem Konsens verdecke den eigentlichen Grund reziproken Respekts, die Differenz der Individuen, im Namen eines abstrakten Identitätszwanges. Gesellschaftlicher Konsens sei nicht nötig; es bedürfe keiner normativ einheitlichen politischen Gemeinschaft, um in einer pluralistischen Gesellschaft den wechselseitigen Respekt der Mitbürger zu garantieren. Dem Ideal eines solchen Respekts werde am besten gedient durch eine größtmögliche Inklusion divergierender Auffassungen. Daher besteht nach Wolterstorff auch kein zwingender Grund, aus Sorge um diesen Respekt bestimmte Arten von Überzeugungen aus politischen Debatten über wesentliche Verfassungsfragen und elementare Fragen der Gerechtigkeit auszuschließen.

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Wolterstorff zieht aus diesen Überlegungen den Schluss, dass ein Verhältnis von Religion und politischer Öffentlichkeit zu fordern sei, welches stärker inklusivistisch angelegt ist als Rawls’ Konzept der öffentlichen Vernunft. Dieses inklusivistische Modell würde im Unterschied zu Rawls, der von gemeinsam vernünftigen Prämissen und Argumentationsweisen ausgehe, stärker divergierende, auch prinzipiell nicht konsensfähige Auffassungen im öffentlichen Diskurs zulassen. Wolterstorff zufolge braucht eine pluralistische Gesellschaft keinen Konsens, um den wechselseitigen Respekt der Mitbürger zu garantieren. Benötigt wird vielmehr eine ethische Fundierung der Staatsbürgerrolle in einer liberalen Demokratie. Als Variante einer solchen perfektionistischen Begründung des Liberalismus bietet sich dann auch eine religiöse Rechtfertigung der Demokratie an. Die Tatsache, dass eine liberale politische Ordnung dem Schutz der bürgerlichen Freiheiten und Grundrechte eine hohe Priorität einräumt, ist Wolterstorff zufolge Ausdruck dafür, dass es sich dem obersten Ziel verpflichtet weiß, die Verletzung von Personen zu verhindern und zu vermeiden. Die leitende Idee hinter den bürgerlichen Freiheiten und Grundrechten ist nicht Autonomie im Sinne der freien Wahl der eigenen Überzeugungen, sondern das große Übel zu vermeidender Angriffe auf die Integrität der Person. Diese Interpretation, welche die Vermeidung dieses Übels als das leitende Ideal einer demokratischen Verfassung ansieht, biete einen angemesseneren Begriff der wirklichen Struktur liberaler Gemeinwesen als der konzeptuelle Vorschlag der liberalen politischen Theorie. Nur unter der Bedingung des zentralen Wertes der unbedingten Vermeidung der Verletzung der Person werde das jedem liberalen Gemeinwesen zugrunde liegende Ideal zutreffend beschrieben; und nur unter einer solchen Beschreibung zeige sich zugleich, dass etwa Christen gute interne religiöse Gründe besitzen, eine liberaldemokratische Ordnung als Ausdruck ihrer eigenen Werte und Aspirationen zu begreifen. Wenn dagegen dem Schutz der verletzlichen menschlichen Person weder in der liberalen Theorie noch in der christlichen Doktrin diese zentrale, alle politischen Verhältnisse fundierende und legitimierende Funktion zugesprochen werde, dann könne ein liberales politisches System bestenfalls eine pragmatische Rechtfertigung erfahren. Nur wenn liberale Politik und christliche Überzeugung den Wert der menschlichen Person und ihre unbedingte Schutzwürdigkeit ins Zentrum stellen, kann Wolterstorff zufolge gezeigt werden, dass der liberalen Demokratie ein unverzichtbarer und immanenter Wert zukommt. Wolterstorff wählt als Ausgangspunkt Aussagen liberaler Theoretiker wie Rawls und Audi, die sich so verstehen lassen, als erklärten sie die Idee des reziproken Respekts zum entscheidenden normativen Prinzip. Worin 252

Zur Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit

würde dann aber der Grund dieses Respekts liegen? Ein solcher Grund muss ja so beschaffen sein, dass er in der politischen Ordnung einer Demokratie verkörpert ist und zugleich von religiösen Personen als authentischer Ausdruck ihrer eigenen Tradition interpretiert werden kann. Wolterstorff begründet diesen Respekt, wie gesehen, unter Berufung den immanenten Wert und die inhärente Würde der Person; sie bilden den Grund für die unbedingte Verpflichtung, den anderen nicht zu verletzen, und das heißt, ihn zu respektieren. Wert und Würde der Person entstammen, in der Perspektive des Christentums, der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Damit würde ein zentraler Wert der christlichen Religion dem höchsten und äußersten Wert liberaler Verfassungen entsprechen. Die Einsicht in den Wert der Autonomie wird Woltertorff zufolge auf eine negative Weise gewonnen wird, nämlich durch die Erfahrung von Verletzungen der Person. Wolterstorff wählt ein negatives Verfahren der Begründung des Autonomieprinzips; Autonomie wird unter Bezug auf die Idee der Schutzwürdigkeit der Person begründet. Ein erster möglicher Einwand könnte daher darauf hinauslaufen, stattdessen eine positive Bestimmung von Autonomie zu fordern. Der Wert der Autonomie würde nach dieser Auffassung nicht defensiv oder negativ begründet, sondern positiv, als ein Wert, der an sich selbst erstrebenswert ist. Bei einer positiven Bestimmung von Autonomie droht nach Wolterstorff aber die Gefahr einer unendlichen Reihe möglicher Bestimmungen von Autonomie und heftige Auseinandersetzungen darüber, was Autonomie letztlich zu einem positiven Wert macht, der alle anderen Werte übertrumpft. Auf dem Weg einer positiven Begründung könnte nur schwer eine abschließende Definition und Begründung des Autonomieprinzips erreicht werden. Es erscheint daher ratsamer, Autonomie nicht von seinen positiven Wirkungen her zu bestimmen, sondern auf negative Weise. Das bedeutet, dass die Frage in den Mittelpunkt gerückt werden sollte, welche Werte durch dieses Prinzip realisiert werden, sondern welche Übel es vermeiden hilft. Wie lassen sich aber diese Übel bestimmen? Was ist genauer hin unter der „Verletzung“ der Person zu verstehen? Verletzungen sind Wolterstorff zufolge Eingriffe in die Integrität, genauer in die Identität einer Person. Unter Berufung auf Locke bestimmt er personale Identität als Verfügung über den eigenen Körper und die eigene narrative Identität. Die letztere Bestimmung wird verstanden als privilegierter Zugang zu den eigenen moralischen und religiösen Überzeugungen und als ursprüngliche Verfügungsgewalt über die eigenen fundamentalen Bindungen und Orientierungen. Die Identität einer Person zu verletzen heißt demnach, in die Verfügungsgewalt einer Person über ihre eigene Identität 253

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eingreifen. Die grundlegende Form der Verletzung ist also Enteignung, genauer der Eingriff in Besitzrechte, in die legitime Verfügungsgewalt einer Person über ihre eigene Identität. Daher sind diese Verletzungen nicht rein physischer Natur, sondern enthalten bereits auf der Ebene der Beschreibung eine intersubjektive Komponente. Da die normative Dimension der Verletzung in Form von Besitzrechten artikuliert wird, geht in sie notwendig der Aspekt einer sozialen Beziehung ein. Es ist eine Form gemeinschaftlicher Praxis, die darüber entscheidet, ob etwas in den Besitz von Individuen übergeht. Mit dem Besitztitel auf eine Sache erwirbt eine Person immer auch einen Anspruch gegenüber anderen Personen. Aus diesem Grund wird die physische Bedeutung des Ausdrucks „Angriff auf die Person“ von Wolterstorff ausdrücklich ausgeweitet und durch soziale Kategorien ergänzt. Damit gibt Wolterstorff zu erkennen, dass moralische Verletzungen generell den Charakter der Beschädigung einer gemeinsamen Lebensform besitzen. Der moralische Grund des Respekts ist eine bestimmte kommunikative Lebensform, die wir teilen. Verletzungen machen uns bewusst, dass wir immer schon in einem intersubjektiven Zusammenhang bewegen, in dem wir die Anerkennung unserer Ansprüche unterstellen. Nur in intersubjektiven Begriffen kann daher definiert werden, was die Natur der Person ausmacht, die den Grund und Gegenstand des Respekts bildet. Die semantische Differenz zwischen Respekt und Verletzbarkeit zeigt allerdings, dass auch eine prozedurale Theorie der Gerechtigkeit, wie sie der politische Liberalismus darstellt, darauf angewiesen ist, dass ihre Leitbegriffe in ethische Kontexte dichter Beschreibung eingebettet werden, wie sie durch die Religionen, „metaphysische Lehren und humanistische Überlieferungen“5 verkörpert werden. Als partikulare Kontexte der Einbettung konstituieren sie aber nicht den Grund der universalen Geltung jener moralischen Rechte, die allen Personen qua Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung zukommen. Dieser universale Anspruch gründet vielmehr in einer Erfahrung, die über die konkreten ethischen Situationen hinausweist und kontexttranszendent von allen moralischen Personen geteilt werden kann. Sobald es nämlich um jene „intuitiven Selbstbeschreibungen“ geht, unter denen wir uns überhaupt als Menschen identifizieren, reden wir von einer ethischen Einbettung ganz anderer Art, nämlich von einer über die Kulturen und Weltanschauungen hinausgreifenden ethische Selbstdeutung der menschlichen Gattung im Ganzen. Die universale „Gesamtstruktur unserer ____________________ 5

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Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 74.

Zur Rolle von Religion in der politischen Öffentlichkeit

moralischen Erfahrung“6 ist nicht nur in partikulare ethische Lehren eingebettet, sondern auch in das von allen moralischen Personen geteilte ethische Selbstverständnis der menschlichen Gattung. Dies ändert allerdings nichts am Gebot der Übersetzung: Wenn religiöse Überzeugungen als Begründungen von Gesetzen und Handlungen staatlicher Sanktionsgewalt herangezogen werden, müssen sie in eine Sprache übersetzt werden, die auch den säkularen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht prinzipiell unverständlich bleiben darf. Literaturverzeichnis Audi, Robert: Liberal Democracy and the Place of Religion in Politics. In: ders./Wolterstorff, Nicholas (Hrsg.): Religion in the Public Square. The Place of Religious Convictions in Political Debate, 1997, S. 1-65. Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4., erw. Aufl., 2002. Nagel, Thomas: Moralischer Konflikt und politische Legitimtät, in: van den Brink, Bert/van Reijen, Willem (Hrsg.): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, 1995. Quinn, Philip L.: Political Liberalisms and Their Exclusions of the Religious Presidential Address to the American Philosophical Association’s Central Division Meeting. Nachdruck in: Weithman, Paul J. (Hrsg.): Religion and Contemporary Liberalism, 1997, S. 138-161. Wolterstorff, Nicholas: Why We Should Reject What Liberalism Tells Us about Speaking and Acting in Public for Religious Reasons. In: Weithman, Paul J. (Hrsg.): Religion and Contemporary Liberalism, 1997, S. 162-181. Ders.: The Role of Religion in Decision and Discussion of Political Issues. In: Audi, Robert/Wolterstorff, Nicholas (Hrsg.): Religion in the Public Square. The Place of Religious Convictions in Political Debate, 1997, S. 67-120.

____________________ 6

Ebd.

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Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus Reinhard Schulze

1.

Zur Genese eines „religiösen Liberalismus“

Der Begriff Liberalismus, der zwischen 1816 und 1819 Einzug in das Vokabular fast aller westeuropäischen Sprachen gefunden hatte, spiegelte das Bedürfnis, das heterogene Geflecht liberaler Ideen in einer geschlossenen Vorstellungswelt zu bündeln. Dabei versicherte man sich schon im frühen 19. Jahrhundert einer Genealogie, die den Eigensinn modernen Liberalismus mit der Rückbindung an eine historische Welt rechtfertigte und begründete. Religion spielte in dieser rückblickenden affirmativen Genealogie eine maßgebliche Rolle.1 Natürlich war umstritten, ob der Religion überhaupt das Privileg zugewiesen werden sollte, diese liberalen Ideen freigesetzt zu haben, und wenn ja, welcher Konfession hier das Primat zukommen sollte. Typisch hierfür waren Setzungen wie des württembergischen Juristen Paul Pfizer (1801-1867): „Der denkende Liberalismus verkennt also keineswegs den engen Zusammenhang von Recht, Moralität und Glauben; er weiß, daß dem Staate Religion und Sitte nicht gleichgültig sein dürfen.“2 Entsprechend der modernen normativen Ordnung, die auf einer Verzahnung von Religion und Gesellschaft beruht, konnte sich der Liberalismus so als religiöser oder als politischer Liberalismus ausgestalten. Kaum so angesprochen, entfaltete sich ein vehementer Streit darum, wem das Primat gehöre. Religionsakteure klagten selbstverständlich ein, dass es der religiöse Liberalismus gewesen sei, der dem politischen Liberalismus den Weg gebahnt habe. Hingegen pochten Säkularisten darauf, dass es der politische Liberalismus gewesen sei, der die Ausformulierung eines religiösen Liberalismus überhaupt erst möglich gemacht habe. Das Gerangel um den Primat wurde noch durch die innerreligiöse Debatte verschärft, die sich darum drehte, ob der katholischen oder der protestantischen Konfession das Privileg gebühre, Urbild des religiösen Liberalismus zu sein. Unabhängig davon ____________________ 1 2

Zur besonderen Positionierung der Religion in liberalen Gesellschaften (u.a. in Differenz zu rein ethischen Ordnungen) siehe Laborde, Liberalism’s Religion. Pfizer, Liberal, Liberalismus, S. 718.

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Reinhard Schulze

hatten Theologen kaum Zweifel daran, dass der Religion hier der Primat zukäme. Die Debatten in diesem Prioritätenstreit setzten sich munter im 20. Jahrhundert fort. Der Zürcher Theologe Walter Nigg unterstrich, dass ein religiöser Liberalismus von einem politischen Liberalismus grundsätzlich zu unterscheiden sei: „Es ist eine direkte Umkehrung des wahren historischen Sachverhaltes, wenn man den religiösen Liberalismus zu einer bloßen Folgeerscheinung des politischen Liberalismus degradiert. Der religiöse Liberalismus ist älter als der politische, und dieser ist vielmehr aus jenem hervorgegangen.“3

Und doch verfließen hier die Grenzen zwischen Religion und Politik. Martin Rade, kommentierte entsprechend: „[D]as Schlagwort des ‚religiösen Liberalismus‘ ist zunächst rein begriffsmäßig dadurch interessant, daß es zwei entgegengesetzte Welten gleichsam mühelos verbindet: die einer Freiheitsbewegung ohne Grenzen und einer schlechthinigen Abhängigkeit.“4

Ganz in diesem Sinne hatten sich die Anhänger von Albert Ritschl wie Adolf von Harnack und Martin Rade für eine Befreiung von dem älteren protestantischen Kirchenliberalismus ausgesprochen und letztendlich für einen religiösen Liberalismus plädiert, gewissermaßen als „ein Sauerteig, dessen das Christentum nicht entbehren kann“, wie es der protestantische Theologe Werner Zager nannte.5 Tatsächlich aber ist die Differenz zwischen einem religiösen und einem politischen Liberalismus nur aus der Sicht der um Hegemonie wetteifernden Akteure verständlich. Schon ein oberflächlicher Blick auf die entsprechenden Debatten vor allem zwischen 1820 und 1920 macht deutlich, dass der religiöse Liberalismus kaum von einem politischen Liberalismus zu trennen war. Und auch politische Akteure, allen voran aus kirchlichen, nationalkonservativen und antisemitischen Kreisen, nutzten konfessionsbezogene Attribute, um dem politischen Liberalismus zu verunglimpfen und zu verdammen. Vertreter der katholischen Kirche brandmarkten den Liberalismus als protestantisch und jüdisch, protestantische Kirchenvertreter agitierten gegen einen katholischen und gleichfalls jüdischen Liberalismus. Das konfessionsbezogene Attribut schien subversive Kraft zu haben: Der jüdi-

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Nigg, Geschichte des religiösen Liberalismus, S. 68. Rade, Religiöser Liberalismus, S. 247. Dahms, Politischer und religiöser Liberalismus.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

sche Liberalismus wurde verdächtigt, nicht nur, wie Heinrich Mann es nennen wird, „die Vorfrucht der Sozialdemokratie“ zu sein, sondern im Bündnis mit dem Wirtschaftsliberalismus den Staat zu unterwandern. Andererseits war man sich in Theologenkreisen um die diskursive Macht des Begriffs Liberalismus bewusst. So stimmte der Tübinger katholische Moraltheologe Franz Xaver Linsenmann (1835-1898) 1868 dem Jesuiten Theodor Meyer (1821-1913) zwar zu, dass der politische Liberalismus ein „Grundübel unserer Zeit“ sei, da er der „absolute(n) und durchgreifende(n) Gegensatz zur normalen Unterwerfung unter göttliche und menschliche Autorität sei“;6 doch gälte es, die protestantische Inanspruchnahme des Liberalismus zu kritisieren, demnach „aller und jeder Liberalismus, der Liberalismus in jedem Sinne […] unmittelbar als Urchristenthum, näherhin als Abfall vom katholischen Auktoritätsprincip“ zu verstehen sei. Linsenmann fuhr fort: „Wir müssen dem entgegen nachdrücklich bestreiten, daß alle Tendenzen moderner Gelehrten und Politiker, die man liberal zu nennen beliebt, unchristlich und unkirchlich seien.“7 Im Kontext der belgischen Revolution 1830 notierte der französische Bischoff Olympe-Philippe Gerbet (1798-1864): „Der katholische Liberalismus begeht nicht die Thorheit, die Völker glauben machen zu wollen, Gott trage die rothe Mütze, aber er tragt mit der Freiheit alle Keime des socialen Lebens in seinem Schooße, indem er den Völkern mit der einen Hand den Ölzweig des Friedens und der Ordnung, mit der andern den Lorber unsterblicher Freiheit anbietet.“8

Bisweilen wurde der Liberalismus gar als interkonfessionelles Anliegen verstanden. Der französische Anwalt André Marie Dupin (1783-1865), damals Generalprokurator am Kassationsgerichtshof, erklärte 1845: „Der protestantische Liberalismus findet sich in seinen Ansprüchen [auf die Freiheit der Kulte] unterstützt von dem katholischen Liberalismus; in einigen Tagen werden wir ohne Zweifel sehen, wie der protestantische Liberalismus (zur Vergeltung) dem vorgeblichen katholischen Liberalismus hülfreich zur Seite steht.“9

Andererseits war es gerade die katholische Presse, die den protestantischen Liberalismus10 heftig anging. Gar nicht selten wurden dabei selbst wieder Protestanten in Dienst genommen. So stellte ein Autor in der Zeitschrift Der ____________________ 6 7 8 9 10

Dirsch, Solidarismus und Sozialethik, S. 269ff. Linsenmann, Besprechung von Theodor Meyer, S. 641. Reuchlin, Das Christenthum in Frankreich, S. 265. Zitiert in: Anonymus: Frankreich, S. 1189. Bartley, Retreat to Commitment.

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Katholik 1842 süffisant fest: „Schelling sticht in das Wespennest der Intoleranz des protestantischen Liberalismus.“11 Höhepunkt der pejorativen Verwendung des Begriffs „Liberalismus“ war die antisemitische Konstruktion eines „jüdischen Liberalismus“.12 Der jüdische radikaldemokratische Politiker in Preußen, Johann Jacoby (18011877), der vehement den Liberalismus mit der Herstellung der Rechtsgleichheit der Juden verband, karikierte diese Konstruktion in seinem 1833 veröffentlichten Buch Bilder und Zustände aus Berlin, wo er seinen Barbier, den er als den „Stimmführer“ der Berliner Liberalen bezeichnete, fragte: „So haben Sie Ihren Liberalismus bei dem ersten besten Schacherjuden eingekauft?“ Der Barbier antwortete: „Das läßt sich schon eher hören; es hat wenigstens Wahrscheinlichkeit. Denn viele Juden legen sich jetzt auf den Liberalismus, weil er leicht an den Mann zu bringen ist und gute Procente trägt. Aber glauben Sie mir – so’n jüdischer Liberalismus ist keinen Dreier werth; der riecht noch zu sehr nach Schachergeist und nach anderen Ingredienzien. Man kann sich mit ihm in keine noble Gesellschaft wagen.“13

In den 1870er Jahren steigerte sich dieses Ressentiment zu einer wahren antisemitischen Hasspropaganda. Man denke nur an das Traktat des Wieners, damals in Bern lebenden Satirikers Moritz von Reymond (1833-1919) Wo steckt der Mauschel? oder Jüdischer Liberalismus und wissenschaftlicher Pessimismus, das als Antwort auf Wilhelm Marrs (1819-1904) Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum gedacht war.14 Während von Reymond noch dem Juden dann einen Platz in der Gesellschaft zuweisen wollte, wenn dieser auf sein Jüdisch-Sein verzichtete, hatte Marr die Judenemanzipation überhaupt als entscheidenden Grund seine Abneigung gegen den Liberalismus, der sich den „jüdischen Kapitalinteressen“ verschrieben habe, angeführt. Auch vielen Katholiken galt der „jüdische Liberalismus“ als „Todfeind“ der Kirche.15 Angesichts dieser radikalen Propaganda verwundert es nicht, dass die positive Selbstzuordnung jüdischer Autoren zu ____________________ 11 12

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Anonymus, Kirchliche Nachrichten, S. XI. Kremer, Deutsche Juden, S. 162ff. Auf einer 1870 in Wien abgehaltenen „Katholikenversammlung“ beschwor ein Redner: „Wien ist nicht blos liberal, jüdisch, freimaurerisch und konfessionslos, wie die neueste Erfindung des modernen Liberalismus heißt. Ganz neu ist übrigens diese Erfindung gerade nicht, denn schon das erste Roß war konfessionslos. (Minutenlanger Beifall.)“ (Anonymus, Wiener Katholikenversammlung, S. 4). Jacoby, Bilder und Zustände aus Berlin, S. 168. Reymond, Wo steckt der Mauschel?; Marr, Der Sieg des Judenthums. Kaplan, Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland, S. 273; Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus, S. 27.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

einem jüdischen Liberalismus erst um die Wende zum 20. Jahrhundert möglich wurde. Dabei galt der „jüdische Liberalismus“ primär der jüdischen Tradition selbst und grenzte sich unter anderem von einem „konservativen Judentum“ oder einer „jüdischen Orthodoxie“ ab.16 Hier wurde deutlich, dass die Attribuierung des Liberalismus durch das Prädikat „jüdisch“ Teil einer politischen Typologie jüdischen Traditionsgebrauchs geworden war.17 Liberalismus setzte so liberale Auffassungen voraus, die zunächst noch nicht als geschlossene Vorstellungswelt identifiziert worden waren. So war seit etwa 1800 von „liberalen Katholiken“, etwas später von „liberalen Protestanten“ und dann ab den 1820er Jahren auch von „liberalen Juden“ die Rede. „Liberale Mohammedaner“ hingegen waren zunächst unvorstellbar.18 Erst in den 1880er Jahren sollten „liberale Muslime“ in der europäischen Öffentlichkeit wahrgenommen werden.19 Aus all dem ergab sich aber kaum die Vorstellung, dass Liberalismus explizit einer religiösen Rechtfertigung bedürfe oder sie gar verlange. Eher war ein Liberalismus, der sich auf Konfessionen bezog, verdächtig, kein „echter“ Liberalismus zu sein, sondern nur zur Rechtfertigung der Geltungsansprüche der eigenen Partei diene. Religiöser Liberalismus schien so immer ein parteiischer Liberalismus zu sein.20 Religion und Liberalismus zusammenzudenken, war so nicht einfach. Meist erschöpfte sich die Rede in der Auffassung, die entsprechenden Religionen sollten zum einen beweisen, dass sie einen Beitrag zur Rechtfertigung des Liberalismus leisten können und zum anderen bereit seien, ihre interne Religionsordnung selbst nach den Prinzipien des Liberalismus auszugestalten. Franz Silberstein, deutschjüdischer Journalist und Schriftsteller, nach 1933 in Argentinien im Exil, unterstrich daher:

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Lattki, Benzion Kellermann, S. 24f. u. 339; Montefiore, Liberal Judaism. Als Altmeister des jüdischen Liberalismus galt Hermann Cohen. Die Bezeichnung „liberal Moslem“ (so in Clarke, Travels in Various Countries, S. 438) meinte oft „freigiebiger Muslim“. Blunt, The Future of Islam S. 701. In früheren Schriften hatte der „religiöse Liberalismus“ noch eine andere Bedeutung. Krug (Geschichtliche Darstellung des Liberalismus, S. 65) meinte, dass die Reformation einen religiösen Liberalismus erzeugt habe, „den man späterhin Protestantismus, als Gegensatz des Katholizismus genannt hat. Krugs Auffassungen blieben nicht unwidersprochen, siehe Leonhard, Liberalismus, S. 303305.

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Reinhard Schulze „Es handelt sich nur darum, was der politische Liberalismus, der liberale Staat will, nicht um das, was der religiöse Liberalismus will. Religiöser Liberalismus darf mit politischem nicht verwechselt werden.“21

2.

Islamische Rechtfertigungen von Freiheit und Liberalität

Dass nun liberale Ideen auch im Kontext islamischer Traditionen ausformuliert wurden, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Hierüber ist schon viel publiziert worden.22 So wurde der Zeitraum von 1798 bis 1939 insgesamt als „liberales Zeitalter“ im Nahen Osten bezeichnet23 und jüngst gar zu einer „islamischen Aufklärung“ verdichtet.24 Erste explizite Bemühungen um eine Bündelungen solcher Ideen in Form eines affirmativ ausgestalteten Liberalismus sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts belegt. Dabei spielte der Islam selbst aber zunächst keine Rolle.25 Die Rechtfertigung eines Liberalismus wurde etwa im Osmanischen Reich oder in Indien stets grundsätzlich abgeleitet beziehungsweise als moderne Selbstverständlichkeit ausformuliert. Genealogische Rückprojektionen liberaler Ideen in die islamischen Traditionen wurden erst um die Wende zum 20. Jahrhundert wichtig. Sie gingen dabei bis auf die islamischen theologischen und juristischen Debatten des 9. und 10. Jahrhunderts um die Willensfreiheit und um den Rechtsstatus des Muslims zurück. Begründet wurde dies unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass die europäische Öffentlichkeit den „Orientalen“ das Recht auf eine Partizipation am Liberalismus abspräche, da der Liberalismus sui generis eine europäische Angelegenheit sei. Daher bedürfte es einer authentischen, „echten“ islamischen Rechtfertigung, um den Liberalismus unter den „Orientalen“ heimisch zu machen.26 ____________________ 21 22 23

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Silberstein, Die unteilbare Freiheit, S. 152. Recker, Die Entdeckung der Freiheit. Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age. Im Vorwort zur Neuausgabe 1982 (ebd., S. iv) relativiert Hourani allerdings die Bedeutung des „liberal age“ und weist auf manche illiberalen Traditionen hin, die schon bis 1939 an Bedeutung gewinnen hätten. Die Vorstellung, in einem „aufgeklärten und liberalen Zeitalter“ zu leben, wurde schon Ende des 18. Jahrhunderts ausformuliert. De Bellaigue, The Islamic Enlightenment. Für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung, dass nicht jede Erwähnung eines Begriffs von politischer Freiheit als Beleg für einen Liberalismus angesehen werden sollte. Diese Rede war besonders unter den spätosmanische Liberalen beliebt, siehe z.B. Nūrī, ʿAbdülḥamīd-i ṯānī ve devr-i salṭanatı. ḥayāt-i ḫuṣūṣīye ve siyāsāyesi.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

Und selbstverständlich wurde auch der Koran in Dienst genommen, um nachzuweisen, dass Liberalität ein urislamisches Anliegen gewesen sei.27 Zu Hilfe kam dabei den muslimischen Liberalen die Tatsache, dass der arabische Begriff „Freiheit“ (ḥurrīya) dreierlei bezeichnete: den juristischen Status einer Person, die Wahlfreiheit im Rahmen der Theodizee und vor allem die Tugend der liberalitas. In der klassischen arabischen Poesie wie in der späteren klassischen arabischen Prosa bezeichnete ḥurrīya zudem die Eigenschaft und die Gesinnung eines Menschen, „vornehm“, „edel“ und „freigebig“ zu sein.28 Es passte also ziemlich genau zum vorpolitischen Konzept der Liberalität. Weiter erlaubte diese Konnotation, das aristotelische Tugendkonzept eleutheriotēs (ἐλευθεριότης, „nicht durch Leidenschaften gebunden“) direkt mit ḥurrīya zu übersetzen.29 „Freiheit“ war somit schon früh ein Tugendbegriff, den al-Farābī (gest. 950) und Ibn Rušd (Averroes) in ihrer Rezeption des griechischen philosophischen Kanons aufgriffen und stellenweise mit der politischen Theorie des platonischen Idealstaats in Bezug gesetzt hatten. Der Tugendcharakter der Freiheit – also die Bestimmung der Freiheit nicht als Qualität einer Norm oder einer Idee, sondern als Ausdrucksweise eines Subjekts – erlaubte es vor allem sufischen Autoren, „Freiheit“ absolut zu setzen. Kurzum, wie Franz Rosenthal bemerkte, Freiheit als Ideal war unter islamischen Denkern und Autoritäten keineswegs unbekannt, jedoch fehlte ihr jene soziale Unterstützung, die aus diesem Ideal eine politische Kraft hätten werden lassen.30 Orientalisten wie Bernard Lewis aber bestritten vehement die Legitimität solcher genealogischen Rückprojektionen und meinten, dass der semantische Gehalt des arabischen Worts ḥurrīya in keiner Weise etwa dem Begriff ____________________ 27 28 29

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Ǧāwīš, al-Islām; Benattar et al., L’esprit libéral du Coran; al-Ḫiḍr Ḥusayn, alḤurrīya fī al-Islām. Dies wurde auch auf die Charakterisierung von Nobilität im Kontext der arabischen Stammesordnung bezogen. Die in einer Reihe mit ἐλευθεριότης stehenden aristotelischen Begriffe (Aristoteles, Nikomachische Ethik, IV/3 = 1249.b30) „Großmut“ (µεγαλοψυχία) und „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη) wurden von arabischen Übersetzern im 9. und 10. Jh. meist mit nafas (eigentlich „Atem“, „Hauch“, dann auch „Freiheit“) respektive konsequent mit ʿadl wiedergegeben. Zur Konzeptualisierung einer politischen Liberalität in der griechischen Tradition siehe Fischer, Das Paradox der Autonomie und seine Entfaltungen. Rosenthal, The Muslim Concept of Freedom, S. 122. Die hierzu analoge europäische Begriffsverwendung ist oft untersucht worden, cf. Vierhaus, Liberalismus; Rosales, Liberalism's Historical Diversity.

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von liberty entspräche, den John Locke entwickelt hatte und der als Ausgangspunkt eines neuzeitlichen Liberalismus zu verstehen sei.31 Doch alle frühen Versuche, den Liberalismus genealogisch mit dem Islam in Beziehung zu bringen, hatten stets den politischen Liberalismus im Sinn. Natürlich war dies auch dadurch begründet, dass nach 1870 der klassische politische Liberalismus von den meisten Intellektuellen der islamischen Welt als partikular und „westlich“ begriffen wurde. Ihn also in den eigenen Gesellschaften wirkungsmächtig werden zu lassen, setzte voraus, ihn irgendwie islamisch zu rechtfertigen ohne damit eine Gleichsetzung mit einem religiösen Liberalismus zu behaupten. Der Islam diente hier also nur der symbolischen Verortung einer Vorstellungswelt. Solche Rechtfertigungsdiskurse dominierten bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein die Wahrnehmung des Liberalismus. Wir haben es mit zwei distinkten Prozessen zu tun: Der erste Prozess betrifft die Herausbildung eines politischen Liberalismus. Zunächst lässt sich hier eine Konvergenz erkennen, die die Passung islamisch versprachlichter Tugendvorstellungen einschließlich eines ethischen Freiheitsbegriffs an europäische Vorstellungen eines politischen Liberalismus bedeutete. Rückblickend lässt sich der Beginn dieser Konvergenz nicht feststellen. Doch spätestens in den 1830er Jahren zeichnete sich die Einbettung der arabischen Freiheitsdiskurse in einen Kommunikationsraum mit europäischen Diskursen ab; ab den 1850er Jahren war tatsächlich eine Diskursgemeinschaft entstanden, sodass sich auch nahöstliche Autoren nach und nach der hegemonialen Rechtfertigungsstrategien eines Liberalismus durch Rückbezüge zum Beispiel auf John Locke bedienten. Doch zwischen 1870 und 1900 zerbrach diese Diskursgemeinschaft.32 Europäische Autoren wie Ernest Renan hatten explizit dazu aufgerufen, die nahöstlichen, vor allem muslimischen und jüdischen Traditionen aus den sich universalistisch verstehenden „europäischen“ Weltdeutungen auszuschließen. Die Hegemonie dieses Orientalismus hatte zur Folge, dass nahöstliche Denker die ihnen zugewiesene Rolle als Verfechter einer kulturellen Partikularität annahmen und nun ihrerseits die Vorstellungswelten partikularisierten. Mithin wurde nun auch dem Liberalismus eine „eigene“ Geschichte zugewiesen. Da der Islam wie auch das orientalische Christentum ____________________ 31

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Lewis, Political Language of Islam. Heute wird liberty meist mit ḥurrīya oder nafas übersetzt. Im 19. Jahrhundert überwog noch die Parallelisierung liberty und arabisch ibāḥa („jemanden seinem eigenen Willen überlassen“). Im Persischen wurde schon āzādmardi oder einfach āzād verwendet, Begriffe, die im Kontext der neuen Öffentlichkeit „politische Freiheit“ meinten. Hierzu mehr in Schulze, Genealogie bürgerlicher Selbstkonzepte.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

die „eigene“ Tradition zu repräsentieren hatten, erschien die Rechtfertigung des Liberalismus nun mehr und mehr als ein religiöser Liberalismus. Doch von symbolischen Rückbezügen abgesehen waren weder Affirmationen noch Negationen des Liberalismus religiös. Vor allem zwischen 1920 und 1950 dominierte in den arabischen Ländern – anders als in der Türkei und in Iran – der Liberalismus die politische Öffentlichkeit, auch wenn er schon damals stark mit sozialistischen und nationalreligiösen Ordnungsmustern konkurrierte.33 Mit der Durchsetzung der urbanen sozialistischen Entwicklungsutopien in den 1950er Jahren verschwand er fast ganz aus der politischen Öffentlichkeit nahöstlicher Länder.34 Der zweite Prozess betraf die Konfiguration eines religiösen Liberalismus als Rahmung für eine weitgehende Neuinterpretation der islamischen Tradition. Erste Hinweise auf die Einbettung der islamischen Deutungswelten in diesen Liberalismus lassen sich für die 1970er Jahre finden. Schon bei diesen frühen Konfigurationen wurde ein genealogischer Rückbezug auf die Reformbewegung des islamischen Modernisten.35 Hierdurch wurde Liberalismus zu einer Eigenschaft der Islamdeutung, durch die schließlich ein „liberaler Islam“ gestaltet wurde.36 Natürlich gab es keinerlei Konsens darüber, ob der Liberalismus als normative Rahmung einer Islamdeutung zu verstehen sei oder als Haltung, die sich affirmativ zu einer Pluralität von Islamdeutungen bekennt, und wie die Beziehung zu einem politischen Liberalismus gestaltet sein soll. Bei allen Unterschieden lassen sich fünf Vorgaben identifizieren, auf denen sich eine Relation von Islam und Liberalismus bestimmen ließ: ____________________ 33 34 35

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Detailreiche Einzelstudien bietet der Sammelband Schumann, Liberal Thought in the Eastern Mediterranean. Schulze, Geschichte der islamischen Welt, S. 227-300. Anders als im Fall der katholischen Kirche gab es seitens der Konservativen für die islamischen Modernisten keine pejorative Fremdbezeichnung wie im Französischen modernisme. Der arabische Begriff iṣlāḥ („Reform“) galt schon früh als Signet der islamischen Modernisten. Der Sache nach teilten sich muslimische und katholische Modernisten das Ansinnen, eine Passung der religiösen Deutungswelten an die Modernitätserfahrungen und ihre Ordnungsmuster durchzusetzen. Einen ersten Versuch einer historischen Bestandsaufnahme bieten Ṭāhā (Qiṣṣat al-Islām al-lībrālī) und der ägyptische Philosoph Mabrūk (al-Islām al-lībirālī). In der europäischen Öffentlichkeit wurde erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die islamische Reformbewegung die Bezeichnung „liberaler Islam“ verwendet.

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1. Islamdeutungen sollten das Subjekt in Wert setzen und Wahrheit als intersubjektives Einverständnis bestimmen. 2. Islamdeutungen sollten inklusiv sein, das heißt andere, konkurrierende Islamdeutungen zulassen, sofern sie ihrerseits keinen Exklusivitätsanspruch durchzusetzen versuchen. 3. Islamdeutungen sollten eine soziale Komponente bestimmen, durch die der Liberalismus auch als „Tugend“ in der Gesellschaft wirksam werden kann. 4. Islamdeutungen sollten die Pluralität von Möglichkeiten auch in den islamischen Ordnungsvorstellungen bejahen. 5. Islamdeutungen sollten Geschichte nicht als Vorschrift für die Gegenwart nutzen, sondern als symbolische Bebilderung von religiösen Vorstellungen.37 Über diese fünf Vorgaben gab und gibt es einen gewissen Konsens der muslimischen Liberalen. Hingegen gab es keinerlei Konsens darüber, ob der Islam selbst durch eine „liberale Theologe“ neu erschlossen werden solle, ob der Islam seine Freiheit in einem politischen Liberalismus gewinnen solle oder ob der Liberalismus eine spezifische islamische Rechtfertigung bedürfe, um als soziale und politische Ordnung wirksam zu werden.38 Für die Kritiker des islamischen Liberalismus waren solche Unterschiede ohne Belang. Sie erachteten jeden Verweis auf den Liberalismus als neokoloniale Bevormundung. In einer „Botschaft an den Westen“, den eine Gruppe von islamischen Gelehrten anlässlich der Konferenz „Ehrung der islamischen Unantastbarkeiten“, die im Januar 2007 in Kuwait stattgefunden hatte, verfassten, ist zu lesen: ____________________ 37 38

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Dies erinnert natürlich an Tillich: „Myths are symbols of faith combined in stories about divine-human encounters. Myths are always present in every act of faith, because the language of faith is the symbol“ (Dynamics of Faith, S. 49). Im letzten Fall wäre ein „islamischer Liberalismus“ gefordert. Hiervon war in englischer Sprache seit den 1950er und 1960er Jahren die Rede. Der kanadische Religionswissenschaftler und Theologe Wilferd Cantwell Smith nannte den indischen Juristen Syed Ameer Ali (1849-1928) „the most effective Illustration of Islamic liberalism“ (Cantwell, Islam in Modern History, S. 86, der Sache nach ähnlich in ders., Modern Islam in India, S. 48-56 u. 79f.). Eine eher unsystematische Verwendung findet sich schon in der Buchbesprechung von Widgery, Les Penseurs de l’Islam aus dem Jahr 1923. In arabischer Sprache war das Syntagma „islamischer Liberalismus“ (al-lībirālīya al-islāmīya) seit den 1980er Jahren geläufig, allerdings zunächst in einem pejorativen Sinne (z.B. Ṣāliḥ, Tārīḫ al-ʿarab al-siyāsī).

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

„Die Arroganz bei einigen Denkern und Theoretikern im Westen - wie wir sehen und merken – führte sie zum Aufruf zur Durchführung von religiösen und geistigen Reformationen in einer Religion, von der sie nur wissen, dass diese Religion nicht mit dem festgestellten christlichen Glauben übereinstimmt, der seinerseits jetzt mit dem westlichen Liberalismus verbunden. Damit bilden die beiden (der christliche Glaube und der Liberalismus) eine gemischte Religion, dessen Anhänger glauben, dass jeder, der damit in Widerspruch steht, seine Position ändern muss, um sich mit dieser neuen Religion übereinzustimmen.“39

Liberalismus und Religion seien mithin zwei völlig verschiedene Ordnungen. Sie zu vermischen würde bedeuten, eine neue Religion zu stiften; und genau hiergegen müssten sich die Muslime zu Wehr setzen.40 Damit verteidigten sie nicht nur den Islam, sondern Religion überhaupt, deren Grundbestand durch den Liberalismus gefährdet sei. Diese Position, die deutlich erkennbar die damalige offizielle Haltung Saudi-Arabiens und des wahhabitischen Gelehrtentums spiegelt, wurde zwar nur von einer Minderheit vertreten, doch ist zu fragen, warum sich muslimische Denker so schwer damit getan haben, „Freiheit“ islamisch zu verwirklichen. Gedacht wurde der liberale Islam seit Jahrzehnten, doch schafften es Verfechter eines liberalen islamischen Denkens offenbar nicht, den Liberalismus zu einer Vorstellungswelt auszugestalten, die hegemonial die sozialen Welten und mit ihnen die Politik ordnen oder die dem Islam einen neuen Deutungshorizont erschließen könnte. 3.

Grundmuster eines islamischen Liberalismus

Stellungnahmen, die eine islamische Rechtfertigung des Liberalismus enthalten und die die islamischen Traditionssymbole, mithin vor allem den Koran, für eine islamische Genealogie des Liberalismus in Wert setzen, gibt es zuhauf, und dies nicht erst in der Gegenwart. Der Sache nach finden sich solche Ableitungen schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Heute gibt es größere islamische liberale Netzwerke, an denen zahlreiche Denker und ____________________ 39 40

Maǧallat al-bayān, Mu᾽tamar taʿẓīm ḥuramāt al-Islām. Antwort auf die Frage: „Warum ist es nicht erlaubt, von einem ‚islamischen Liberalismus‘ zu sprechen?“ (http://fatwa.islamweb.net/fatwa/index.php?page =showfatwa&Option=FatwaId&Id=51488 vom 25.07. 2004, letzter Zugriff am 01.04. 2018).

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Theologen teilnehmen. Die arabische Allianz für Freiheit und Demokratie erfreut sich einer großen Beliebtheit, und auch im deutschsprachigen Raum wurden verschiedene islamisch-liberale Vereine gegründet wie 2010 der Liberal-islamische Bund mit Sitz in Duisburg oder die Initiative Liberaler Muslime Österreich. Seit 2007 führte die arabische Tageszeitung aš-Šarq al-awsaṭ eine intensive Debatte um die „Liberalität des Islam“.41 Es gibt selbst behauptete liberale Koranübersetzungen,42 es gibt eine Nur-KoranBewegung, die den Raum für eine islamische Begründung des Liberalismus durch eine Ablehnung jeglicher Normativitätsansprüche der Prophetentradition (Sunna) zu schaffen versucht, es gibt Koraninterpretatoren wie Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā und seine Republikanischen Brüder, die zwischen einer ersten, ethisch-liberalen Botschaft und einer zweiten, historischen und damit obsoleten Botschaft des Koran unterscheiden. Es gibt Korankommentatoren wie Amīn al-Ḫūlī, Muḥammad Ḫalafallāh, Ǧamāl alBannā oder Naṣr Ḥāmid Abū Zayd, die den Koran ausschließlich als Text einer liberalen Tugendordnung verstanden; es gibt gar einen islamischen Gelehrtenrepublikanismus in Iran, der die prinzipielle Unterscheidung zwischen Spiritualität und Sozialität, zwischen Religion und Gesellschaft beziehungsweise Staat als Kern islamischer Selbstauslegung behauptet. Es gibt Philosophen wie ῾Abdalkarim Soruš, die den Islam als „säkulare Religion“ (ad-dīn al-῾almānī) verstehen, die den Raum dafür schaffe, dass die innere Freiheit zur Voraussetzung für eine äussere Freiheit werden könne. Es gibt seit den frühen 1990er Jahren auch eine breite türkische Debatte um den İslâmî liberalizm, die unter anderem von dem Politikwissenschaftler Davut Dursun angestoßen worden war. Explizite Ausformulierungen eines islamischen Liberalismus im strengen Sinne des Wortes finden sich so vor allem nach 199043 und spiegelten einen Umbruch in den politischen Vorstellungswelten der Eliten. All diesen liberalen Denkformen ist gemein, 1. den Islam als moralische Ordnung zu begreifen, die die Autonomie und innere Freiheit des Menschen begründe. ____________________ 41 42

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http://archive.aawsat.com/leader.asp?section=3&article=406843&issue=10309/ leader.asp#.VN8jPC7MzW4 (letzter Zugriff am 14.02. 2015). Yüksel, The Monotheist Group. Dahinter steht der kurdische Publizist Edip Yüksel, der selbst The Quran: A Reformist Translation publiziert hat. In ähnlicher Weise behaupten auch Vertreter der sogenannten Gülen-Bewegung, einen islamischen Liberalismus zu verfechten, siehe z.B. Yavuz, Towards an Islamic Liberalism? Fakkar, Naḥw naẓarīya ḥiwārīya islāmīya.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

2. die Traditionssymbole – mithin den gesamten Bestand an islamischen Texten einschließlich des Koran – einem freien Räsonnement zu unterstellen und einer offenen, auch und gerade historischen Kritik zu unterziehen. 3. eine vollkommene Geschlechtergleichheit herbeizuführen. 4. Modernität und Pluralität in der individuellen Lebensführung als islamischen Wert anzuerkennen. 5. die Universalität der Menschenrechte mit einer affirmativen islamischen Genealogie zu verbinden und anzuerkennen. 6. Säkularität als ein den Islam konstituierendes Moment erkennen zu wollen. 7 die Wahlfreiheit jeglichen Bekenntnisses, und damit auch des religiösen, politischen oder sexuellen Bekenntnisses, als islamischen Wert zu begründen. 8. die islamischen Lebenswelten von normativen Vorgaben aus der islamischen Überlieferung, insbesondere der Sunna zu befreien. Dieser liberale Islam hat also viele Gesichter und viele Namen.44 Und schon im Kontext islamischer Bürgerlichkeit der 1920er Jahre galt der Islam geradezu als Musterbeispiel für eine „liberale Religion“.45 Leopold Weiss (1900-1992), der 1926 in Berlin zum Islam konvertiert war und sich fortan Muhammad Asad nannte, schrieb 1933 in Indien: „Aber die Form seines [d. h. des Menschen] Lebens ist in keinem Fall durch einen Maßstab festgelegt. Er ist frei, zwischen all den grenzenlosen rechtmäßigen Möglichkeiten auszuwählen. Die Grundlage dieses islamischen ‚Liberalismus‘ findet sich in dem Gedanken, dass die menschliche Natur im Wesentlichen gut ist. Ganz gegensätzlich der christliche Gedanke, dass der Mensch sündenvoll geboren ist; o-

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Abshar-Abdalla, (geb. 1967, Indonesien), Mohammed Arkoun (1928-2010, Frankreich), Soheib Bencheikh (geb. 1961, Frankreich), Abdelmajid Charfi (geb. 1941, Tunesien), Farid Esack (geb. 1959, Südafrika), Mohamed Talbi (geb. 1921, Tunesien), Nasr Hamid Abu Zaid (1943-2010, Ägypten), Fatima Mernissi (geb. 1940, Marokko), Chandra Muzaffar (geb. 1947, Malaysia), Amina Wadud-Muhsin (geb. 1952, USA), Seyyed Hossein Nasr (geb. 1933, USA), Fazlur Rahman (1919-1988, Britisch-Indien, England, USA), Abdul Karim Sorush (geb. 1945, Iran), Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā (1909/1911-1985, Sudan), Ömer Özsoy (geb. 1963, Türkei, Frankfurt/M.), ʿAbdallāh al-ʿAlāylī (1914-1996, Libanon), Saʿd ad-Dīn al-Hilālī (geb. 1954, Ägypten) und viele andere mehr. Hierzu Graf, Einleitung, S. 7-45.

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Reinhard Schulze der die Lehren des Hinduismus, in denen der Mensch ursprünglich gering und unrein ist und schmerzvoll durch eine lange Kette von Seelenwanderungen zum endgültigen Ziel der Vollkommenheit taumeln muss. Dagegen vertritt die islamische Lehre, dass der Mensch rein geboren und in dem oben beschriebenen Sinn potenziell vollkommen ist.“46

Für Weiss bildete die Säkularisierung eine Verlusterfahrung, zugleich aber kritisierte er ähnlich wie Joseph Roth das Abdrängen der Tora an den Rand der Glaubenserfahrung und damit die „Talmudisierung“ des Religiösen. Der Islam galt ihm als religiöse Ordnung, die die Auswirkungen der Säkularisierung wie der Talmudisierung begrenzte. Diese doppelte Abgrenzung definierte seinen „islamischen Liberalismus“. Und sicher war er einer der ersten, die überhaupt dem Liberalismus das Prädikat „islamisch“ zuwiesen. Hugo Marcus (1880-1966), der ebenfalls in Berlin zum Islam konvertierte, nutzte ihn als symbolischen Raum für eine Pluralität Daseinsformen: Als Muslim war er Mitglied der Jüdischen Gemeinde, Mitglied des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft, Mitstreiter im George-Kreis, bekennender Homosexueller und Philosoph. Der Islam diente ihm als Rechtsfertigungsraum für die Möglichkeit, diese Pluralität zu leben. Für ihn war der Islam liberal, es brauchte keine liberale Theologie, um ihn liberalismusfähig zu machen. Eher schon hätte es den Islam gebraucht, um die Liberalismus gesellschaftsfähig zu machen.47 Diese Pluralität gibt es auch heute noch: man denke an bekennende homosexuellen Imame wie Daayiee Abdullah, der der 2006 gegründeten Gruppe Muslims for Progressive Values in Detroit vorstand. In muslimischen Gemeinschaften wie in Köln und Berlin wurde das Gebet von Frauen und Männern gemeinschaftlich geführt; ja, muslimische Frauen erhoben mehr und mehr den Anspruch, das Gebet leiten zu dürfen. Selbst der jüngst verstorbene Vordenker der sudanesischen Muslimbrüder, Ḥasan at-Turābī, hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Frauen das Gebet auch für Männer ____________________ 46

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Asad, Islam at the crossroads, S. 23: „But the form of his individual life is in no way fixed by a single standard. He is free to make his choice from among all the limitless lawful possibilities open to him. The basis of this ‚liberalism‘ in Islam is to be found in the conception that man’s original nature is essentially good. Contrary to the Christian idea that man is born sinful, or the teachings of Hinduism that he is originally low and impure and must painfully stagger through a long chain of transmigrations towards the ultimate goal of perfection, the Islamic teaching contends that man is born pure and -in the sense explained above potentially perfect.“ Bisweilen wird zumindest für die 1920er Jahre in Ägypten gar ein Aufschwung säkularer liberaler Islam-Interpretationen diagnostiziert, so Scharbrodt, Islam and the Baha᾽i Faith, S. 24, 156. Zu ihm Schulze, Adopting the Topos of Andalusian Convivencia.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

leiteten. Es gibt eine islamische konsumorientierte Erlebnisfrömmigkeit, die darauf beruht, den Islam als pluralen Möglichkeitsraum zu erschließen, in dem es keine fixen Normen und Regeln gäbe. Es gibt ehemalige salafitische Denker wie den Libanesen Aḥmad ῾Akkārī (geb. 1978), der 2005 zusammen mit Abū Laban das berüchtigte „Gutachten“ über die zwölf Karikaturen in Jyllands-Posten am 30. September 2005 veröffentlicht und damit die islamische Protestbewegung in Gang gesetzt hatte, der sich dann aber 2013 als Sprecher eines islamischen Liberalismus in Dänemark profilierte. Es gibt sogar islamische Gelehrte, die im alten Bildungssystem sozialisiert worden waren und die einem islamischen Liberalismus das Wort reden, dessen Rechtfertigung sich allein durch die islamischen Traditionstexte ergebe.48 Diese gelebte islamische Liberalität aber hat kaum bislang nur begrenzt einen islamischen Liberalismus hervorgebracht, der den Islam selbst zum Gegenstand hat. Eine islamische liberale Theologie gibt es dem Begriff nach nur in Ansätzen, wohl auch deshalb, weil diese zu sehr nach einer Protestantisierung des Islam klingt. Dennoch ist unübersehbar, dass in bestimmten Gelehrtenmilieus in der islamischen Welt die Rahmung der islamischen Deutungswelten durch eine liberale Theologie an Attraktivität gewinnt. Dabei steht der Koran deutlich im Mittelpunkt einer liberalen islamischen Theologie. Hier seien nur ein paar entsprechende theologische Grundannahmen zusammengestellt, die seit den 1970er Jahren Aufmerksamkeit erregt haben: 1. Kritik der Verrechtlichung der islamischen ethischen Normenordnungen durch die frühislamischen Wissenschaften (Fazlur Rahman, 1919-1988). 2 Historisierung des Korantextes (Ankara-Schule im Anschluss an Fazlur Rahman). 3. Koran als formal geschlossener Text, dessen Gestalt stets neue Deutungen erschafft (Hermeneutik Amīn al-Ḫūlī, Naṣr Ḥāmid Abū Zayd). 4. Sprachkritik und Zurückweisung als falsch erachteter Verallgemeinerungen koranischer Aussagen (ʿAbdallāh al-ʿAlāyilī). ____________________ 48

Zu ihnen gehörten ʿAbdalḥalīm al-Ǧundī, ʿAlī ʿAbdalwāḥid Wāfiẓ, Aḥmad Kammūn al-Anṣārī, Ḥasan Ṣaʿb u.v.a. Zum Libanesen ʿAbdallāh al-ʿAlāyilī siehe Sing, Progressiver Islam. Zu ʿAbdallāh al-Qaṣīmī siehe Wasella, Vom „Fundamentalisten“ zum Atheisten.

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5. Differenzierung zwischen ethisch verpflichtender Offenbarung und historischer Exegese im Koran selbst (Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā). 6. Der Koran ist anthropologisch zu verstehen (Mouhanad Khorchide). 7. Der Koran ist der ethische Rahmen für einen politischen Liberalismus (Indonesien). 8. Die historische Kritik des Koran erlaubt eine radikale Pluralisierung des Korantexts selbst (ʿAbdalmaǧīd aš-Šarfī49). Die liberale Theologie hat so einen neuen Rahmen geschaffen, der an einem wesentlichen Punkt das bis dahin in der islamischen politischen Öffentlichkeit dominante Schema durchbrach: Besonders seit dem späten 19. Jahrhundert galt die Prophetentradition (Sunna) dem Koran als Autoritätstext dem Koran übergeordnet, da sie die Exegese des Korans durch den Propheten Muḥammad selbst darstelle. Nun aber wurde diese Rangordnung umgekehrt und der Koran zur Primärquelle einer islamischen religiösen Ordnung erhoben. Die Prophetentradition galt nun nur noch als zeitlich gebundene, eben spezifische Koranexegese, die sich schon längst überlebt habe. In manchen Kreisen von Kritikern, die heute „Koranisten“ genannt werden, bedeutete dies sogar die Ablehnung der Sunna als Autorität überhaupt. Solch eine Ablehnung der Sunna hatte in der islamischen Wissensgeschichte durchaus Tradition.50 Seit dem späten 19. Jahrhundert gab es ein neues pietistisches Interesse an koranistischen Islamdeutungen. Berühmt wurde der ägyptische Publizist Muḥammad Tawfīq Ṣidqī (1881-1920), der in der Zeitschrift der ägyptischen islamischen Reformisten Al-Manār einen oft kommentierten Beitrag unter dem Titel „Der Islam ist einzig und allein der Koran“ veröffentlicht hatte.51 In Indien gründete Moulvi Abdullah

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Er hat zusammen mit seinem Team 2016 eine fünfbändige, historisch-kritisch genannte Ausgabe des Korans publiziert; in ihr sind alle bislang bekannten Lesarten und Textvarianten des Korans zusammengestellt (aš-Šarfī, al-Muṣḥaf waqirā᾽atuhū). Manch ein Muʿtazilit des 8. und 9. Jh. wurde später – zurecht oder zu unrecht – als „Koranist“ bezeichnet. Ṣidqī, al-Islām huwa l-qur᾽ān waḥdahū, S. 515-524. Hierzu Juynboll, The Authenticity of the Tradition Literature, S. 23f.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

Chakralawi (gest. 1930) 1902 eine „koranistische Moschee“ und eine „koranistische“ Bruderschaft.52 Sicher, die Koranisten kann man kaum als Verfechter liberaler Theologie bezeichnen. Wie aber die Position der Koranisten in Iran (Šariʿat Sangelači) zeigt, gibt es eine wachsende Tendenz, pietistische Koranisten auch in das Diskursfeld der „Liberalen“ aufzunehmen. Doch kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen, witterte man Gefahr. Patrick Bahners, bekannt unter anderem für sein Buch Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift53, nahm 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Geltungsanspruch eines liberalen Islam gleich zum Anlass, die „Irrwege einer liberalen Theologie“ aufzuzeigen und den liberalen Islam als Habitus und als bloße Funktionsstelle von Vermittlungstheologen zu demaskieren. Deutlicher machen die sogenannten Islamkritiker Front gegen einen liberalen Islam. Sie behaupten, dass es objektiv keinen liberalen Islam geben könne, denn Muslime könnten nicht die angeblichen objektiv-dogmatischen („identitären“) Grundlagen des Islam „grenzenlos“ soweit umdeuten bzw. ausser Kraft setzen, auf dass etwas existiere, was Islam und liberal zugleich wäre. Machte man den Islam liberal, bliebe von ihm nichts übrig.54 Bahners’ Skepsis beruht darauf, dass er eben keine liberale islamische Theologie erkennen könne. Das Kernanliegen einer liberalen Theologie – über die Problematik dieses Begriffs als Eigen- und Fremdbezeichnung ist schon viel gesagt worden –55 bestehe gemeinhin: 1. in der Anerkennung ihrer Wissenschaftlichkeit, die auch Erkenntnisse erlaube, die im Gegensatz zur Dogmatik stehen, 2. in einer Kritik an der Normativität, die aus dem religiösen Wissen abgeleitet wird, 3. in der Betonung subjektiver Glaubenserfahrung gegenüber dogmatischen Objektivitätsansprüchen und 4. in der Hoffnung, sie verhelfe den Menschen zu einer moralisch verantwortlichen Persönlichkeit, die Differenz prinzipiell anerkenne.56

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Diese Tradition wurde von Khwaja Ahmed-ud-Din Amritsari und Ghulam Ahmed Parwez fortgeführt. Bahners, Panikmacher. Z.B. Hartmut Krauss unter www.citizentimes.eu/2013/06/02/es-gibt-keinen-liberalen-islam/ (letzter Zugriff am 14.02. 2015). Chapman, Troeltsch. Wasmuth, Protestantismus und die russische Theologie, S. 304f.

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Kurzum, Bahners privilegiert die Liberalität jener Religion, die sich theologisch rechtfertigt und/oder die theologisch verwirklicht wird. Das Problem, das sich hier für die Muslime ergibt, ist leicht zu erkennen. Wenn die Liberalität einer Religion ihren institutionellen Ort in einer akademischen Theologie hat, dann kann auch nur die Religion liberal sein, die über eine akademische liberale Theologie verfügt. Eine solche Theologie will nicht allein der Rechtfertigungsraum für einen Liberalismus sein, sondern die Auslegeordnung bezüglich der Religion, über die sie handelt, neu bestimmen. Sie will also die jeweilige Religion liberalisieren, indem sie diese historisiert, sie ihrer Normativität entkleidet, sie subjektiviert und personalisiert. Sie will also Freiheit als Voraussetzung des Religiösen durchsetzen. Die oben skizzierten Beispiele liberaler Korankritik aber zeigen, dass manchen muslimischen Denkern das Kernanliegen liberaler Theologie sehr am Herzen liegt, doch fehlt ihnen die institutionelle akademische Umgebung und die mit ihr verbündete Öffentlichkeit, die dieser Theologie breiteres Interesse bescheren könnte. Bahners steht mit seiner Skepsis nicht allein: Auch Mohammed Arkoun, Olivier Roy und Gilles Kepel bezweifelten, dass die Annäherung „des Islam“ an den Liberalismus „aufrichtig“ gewesen sei. Muslimische Denker eines solchen Liberalismus stossen hier bisweilen an die Grenzen des Möglichen.57 Dies hängt zunächst damit zusammen, dass es in der islamischen Tradition eigentlich keine Theologie im engeren Sinne gab. Die islamische Auslegeordnung war in vormoderner Zeit immer plural und partikular: Sie konnte in juristischer Absicht erfolgen, um eine Kohärenz sozialer Regeln zu erzielen. Sie konnte deduktiv rationalistisch den Islam als Wahrheitsordnung auslegen, um die Pluralität von islamischen Denkmöglichkeiten zu bewältigen. Sie konnte den Islam als individuelles Frömmigkeitsgeschehen auslegen, um das Frömmigkeitserleben des Menschen von der sozialen und rechtlichen Bindung zu befreien. Sie konnte den Islam als erzählten Erinnerungsraum ausgestalten, sie konnte den Islam als eine stoisch anmutende Tugendlehre auslegen, oder sie konnte den Islam als gelebte Reproduktion der Verhaltensweise des Propheten Muḥammad deuten. Diese interne Pluralität der islamischen Auslegeordnung lebte von einer gegenseitigen Duldung, der nur Traditionarier (9./10. Jh.), Moralisten (13./14. Jh.) und später Puritaner (17./18. Jh.) widersprechen sollten. Aber es gab kein institutionelles akademisches Feld, das für sich in Anspruch ____________________ 57

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Samad, John Locke and Muslim Liberalism, war da 2010 noch optimistischer. Er verglich die innerislamischen Debatten mit jenen, auf die im späten 17. Jahrhundert John Locke mit seiner politischen Philosophie reagiert hatte.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

nahm, die Gesamtheit der islamischen Auslegeordnung in Form einer Theologie im neuzeitlichen Sinne zu repräsentieren. Kurz, es gab keine theologischen Fakultäten. Liberale Theologie aber setzt eine unabhängige und freie akademische Gemeinschaft, kurzum eine Universität voraus. Genau hier stoßen wir auf das erste Problem, dass es islamischem liberalen Denken so schwermacht. Es entfaltet sich nur unter den Bedingungen einer liberalen Staatsordnung, die den akademischen Institutionen ein hohes Maß an Autonomie zuweist. Die Verstaatlichungsprozesse islamischer akademischer Institutionen aber, die nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in der Türkei und Iran, dann ab den 50er Jahren in fast allen arabischen Ländern einsetzten, verhinderten die Bemühungen islamischer Denker, eine akademische islamische Theologie zu begründen. So verwundert es kaum, dass die Ansätze einer islamischen liberalen Theologie keine Fortschreibung fanden. Allerdings haben sich 2011 an der Azhar-Universität in Kairo verschiedene muslimische Gelehrte zu Wort gemeldet, die die Wiederherstellung der Autonomie der Universität forderten. Sie haben einen Forderungskatalog entworfen, der elf Punkte umfasst und in dem es im Kern um die Etablierung der akademischen Freiheit geht. Die Universität solle der Grundfreiheiten des Denkens und der Meinung, unter voller Achtung der Menschenrechte, der Frauen- und Kinderrechte, garantieren und schützen und jede Diskriminierung, sei es aufgrund des Geschlechts oder der religiösen Zugehörigkeit, bekämpfen sowie den Pluralismus und die Achtung aller Religionen zum Prinzip erheben. Dazu gehöre es, die Kultur der Meinungsverschiedenheit und des wissenschaftlichen Dialogs zu Grundlage der akademischen Arbeit zu machen. Die Universität habe hier Vorbild für die Nation zu sein, die sich auf der Grundlage der genannten Freiheitsordnung neu zu definieren habe.58 Das Gesamtfeld der islamischen Auslegeordnung solle die Hermeneutik, die Geschichte und die Philosophie umfassen mit dem Ziel, der ägyptischen Gesellschaft eine neue freie Bildungselite bereitzustellen. Im Kern erkennt man hier das Bemühen, den Islam einer differenzierten kritischen Theologie zu unterstellen und die akademische Hegemonie über die islamische Selbstauslegung wiederherzustellen. Doch dieser Geltungsanspruch ist nicht unwidersprochen. Das Establishment an der Azhar wie auch die verbliebenen Parteigänger der Muslimbrüder wehrten sich vehement gegen die Theologisierung ihrer Wissenswelten. Hingegen boten die akademischen Institutionen in Iran eine weitaus güns-

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Fatḥī, Waṯīqat tārīḫīya li-l-Azhar.

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tigere Ausgangsposition, insofern in der schiitischen Tradition die Geistlichkeit (ruḥāniyat) schon seit dem 18. Jahrhundert explizit „Theologie“ (persisch meist elāhiyat) praktizierte. Die iranischen Universitäten beherbergen theologische Institutionen, an denen mit wachsendem Interesse der Möglichkeitsraum einer islamischen liberalen Theologie erörtert wird. Die Liberalen wie Moṣṭafā Malekyān, ῾Abdalkarim Soruš, Moḥammad Moǧtahed Šābestari, Moḥsen Kadivar oder Akbar Ganǧi, um nur einige wenige zu nennen, verstehen sich als akademische Repräsentanten einer Theologie, die nun Front macht sowohl gegen die sogenannten „Heideggerianer“, die staatstragenden Theologen, als auch die „Hegelianer“, die nicht religiös gebundenen Säkularisten. Diese Frontstellung bestimmt ihr Programm, doch darüber hinaus entwickeln sie vielfach entgegengesetzte Positionen. Soruš will eine Autonomie des Islam begründen, die der Gesellschaft den Freiraum für die Entwicklung von Liberalismus und Pluralismus zugesteht. Malekyān hingegen will Liberalität und Pluralität als Eigenschaft eines Islam verstanden wissen, der auf einer Fusion von Spiritualität und Rationalität beruhe. Die iranischen Debatten sind – ganz der schiitischen Tradition verpflichtet – eng an zeitgenössische philosophische Erörterungen angebunden.59 An türkischen Universitäten, an denen es vielfach vom Staat finanzierte theologische Fakultäten gibt, ist die Debatte um den Liberalismus sehr viel mehr der historischen Kritik der islamischen Traditionstexte verpflichtet. In Indonesien, dem einzigen Land in der islamischen Welt, in dem es einen expliziten affirmativen Bezug auf einen liberalen Islam gibt, hat die Debatte schon längst die politische Öffentlichkeit erreicht und in der Parteienpolitik Widerhall gefunden. 4.

Die liberale Rahmung

Trotz dieses Befunds ist nicht zu übersehen, dass sich islamische Denker schwertun, einen islamischen Liberalismus theologisch in zweifacher Hin____________________ 59

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Hierzu gibt es eine breite Literatur. Ich nenne nur Dabashi, Theology of Discontent; ders., Islamic Liberation Theology; Mohammadi, Political Islam; SadeghiBoroujerdi, Disenchanting Political Theology; Ashraf/Banuazizi, Iran's Tortuous Path toward „Islamic Liberalism“. Früher wurden sogar Vertreter einer islamistischen Linken wie Maḥmud Ṭāleqāni oder ʿAli Šarīʿati als Vertreter eines islamischen Liberalismus angesehen, so z.B. Chehabi, Society and State in Islamic Liberalism.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

sicht zu begründen, zum einen als auf den Islam bezogene liberale Auslegeordnung, zum anderen als Rechtfertigungsfeld für einen politischen Liberalismus. Dies hat verschiedene Gründe, ich nenne nur folgende sechs. 1. Der Liberalismus verlangt einen sozialen Ort, in dem er sinnstiftend wirkt. Gemeinhin ist dies die bürgerliche Gesellschaft, die der soziale Ort politischen Handelns ist. Die liberale Bürgerlichkeit kann sich des Islam bedienen, um ihre Vorstellungswelt moralisch zu rechtfertigen. Diese hat es in der islamischen Welt seit den 1860er Jahren in verschiedenen Metropolen gegeben. Dabei bestand schon ein gewisser Konsens über die Geltungsansprüche, die aus einem politischen Liberalismus abgeleitet werden konnten. Der ägyptische Pädagoge Rifā῾a Rāfi῾ī aṭ-Ṭahṭāwī fasste diese 1872 wie folgt zusammen: „Die Freiheit ist Folgendes: Die Erlaubnis zum legalen Handeln, ohne das zu verbieten, was erlaubt ist und ohne jede Beschränkung. Denn die Rechte aller Menschen des zivilisierten Staats gehen zurück auf die Freiheit. Und ein Staat zeichnet sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Ordnung dadurch aus, dass er ihre Freiheit garantiert, dass jeder Einzelne dieser Gesellschaftsordnung frei ist, dass es ihm erlaubt ist, sich allen Ortens frei zu bewegen, ohne Einengung oder Zwang, dass er handeln kann, wie er will, in seinem Geist, seiner Zeit und seiner Arbeit, und dass er davon durch nichts abgehalten wird als durch die begrenzenden Verbote in Gesetz und Verwaltung, wie sie die Grundlagen eines gerechten Staats vorschreiben. Und zu den Rechten der bürgerlichen Freiheit gehört, dass ein Mensch nicht gezwungen werden kann, sein Land zu verlassen, dass er in dem Staat nur bestraft werden kann durch rechtmäßige und legale Urteile in Übereinstimmung mit den Staatsgrundlagen, dass ihm die Verfügungsgewalt über seinem Besitz, so wie er will, nicht beschnitten wird, und dass ihn nichts [bei der Äußerung seiner Meinung] bedrängt, unter der Bedingung, dass das, was er sagt oder schreibt, den Gesetzen des Staats nicht zuwiderläuft.“60

Für aṭ-Ṭahṭāwī war unzweifelhaft, dass Freiheit der Naturzustand des Menschen sei. Zwar bediente sich er wie andere Autoren seiner Zeit auch gerne islamischer Begriffe, doch hielt er eine gesonderte islamische Rechtfertigung des Liberalismus nicht von Nöten. Im Gegenteil: Da der Liberalismus als Bestreben zu verstehen sei, den freiheitlichen Naturzustandes des Menschen zu verwirklichen, könne es eben wegen dieser Freiheit keine konfessionelle Begrenzung der Rechtfertigung der Freiheit geben. Das Bedürfnis, einen islamischen Liberalismus in doppelter Hinsicht auszuformulieren, wuchs erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Gewiss spielte dabei der Streit zwischen Orthodoxie und Liberalen in der islamischen Öffentlichkeit eine wichtige Rolle. Vielleicht bedeutsamer aber war ____________________ 60

Aṭ-Ṭahṭāwī, al-Muršid al-amīn li-l-banāt wa-l-banīn, S. 473.

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der Legitimationsverlust, den der Liberalismus angesichts kolonialer Hegemonie in der islamischen Welt erlitten hatte. Zugleich erwarten Verfechter des Liberalismus vom „Islam“, er möge seine Liberalismus- und Pluralismusfähigkeit begründen, andernfalls müsse er einen prinzipiellen Ausschluss aus der westlichen Gemeinschaft erdulden. Muslimische Denker bezeichneten diese Forderung als „illiberalen Liberalismus“.61 Der Schwenk hin zu einer islamischen Rechtfertigung rettete so in mancherlei Hinsicht den Liberalismus. Doch die Hinwendung zum Islam schuf zugleich ein neues, fundamentales Problem. Zwar ließ sich die Freiheitsidee ohne große Probleme mit der islamischen Tradition genealogisch verknüpfen. Doch da die islamische Traditionsordnung die Gerechtigkeit als ein prinzipielles Gut bestimmt hatte, erwuchs dem Islam im Sozialismus ein neuer Bündnispartner. In Kairo war einer der Verfechter dieser islamischen liberalen Vorstellungswelt der Mufti Muḥammad ῾Abduh (1849-1905), der schon 1891 als Sprecher eines „liberalen Islam“ bezeichnet worden war.62 Missionare berichteten 1906, dass in Ägypten der liberale Islam zu einer radikalen Antithese zur Orthodoxie geworden sei.63 In Indien war der liberale Islam zu einer realen Option des neuen Bürgertums geworden. Auch wenn so ein liberaler Islam zur Rechtfertigung einer liberalen Vorstellungswelt genutzt wurde, war die soziale Reichweite einer sie tragenden Bürgerlichkeit begrenzt. Bürgerlichkeit in der arabischen Welt erzielte nie die soziale Reichweite wie etwa in Deutschland oder Frankreich.64 Das Bedürfnis, den Islam als Rechtfertigung eines Liberalismus auszuformulieren war daher sozial begrenzt. 2. Wie Joseph Massad gezeigt hat, spielt der Islam im Liberalismus eine wichtige Rolle. Er galt als klassisches Beispiel eines Illiberalismus. Die hegemoniale Stellung europäischer Liberalismusrede hatte damit die Rolle definiert, die der Islam zu erfüllen hatte. Liberale Ideen, die islamische Denker vorbrachten, wurden, wenn überhaupt zur Kenntnis genommen, schlicht als ____________________ 61 62 63 64

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Zum illiberalen Liberalismus siehe z.B. Hamburger, Illiberal Liberalism; Orgad, Illiberal liberalism cultural restrictions; Guild et al., Illiberal Liberal States; Adamson et al., The limits of the liberal state. Blunt, My Diaries, S. 60 (14.03. 1891): Muḥammad ʿAbduh als „chief hope of Liberal Islam in Egypt“. „There is a wide gulf, growing wider every year, between orthodox and liberal Islam“ (Thomas, Some Results, S. 923). Zur Herausbildung einer „neuen islamischen Bürgerlichkeit“ im späten 20. Jahrhundert siehe Nasr, Forces of Fortune.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

Entlehnung und Plagiate zurückgewiesen. Dies delegitimierte jeden liberalen Versuch islamischer Denker. Für sie war daher eine positive Bezugnahme auf den Liberalismus, der sie in ihrer Würde herabzusetzen schien, kaum machbar. Da zudem Liberalismus fast immer genealogisch auf die europäische Aufklärung bezogen wurde, bestand für islamische Gelehrte das Problem, Liberalismus jenseits der Aufklärung begründen zu müssen, es sei denn, sie sahen sich selbst in der Tradition der Aufklärung. 3. Die islamische Theologie als Theologie des Bürgertums hatte eine entsprechend kleine Reichweite. Sie bildete weder eine Diskursgemeinschaft noch war sie – zumindest in der arabischen Welt – Teil einer Gelehrtenrepublik. Anders als die liberale Theologie des Protestantismus verfügte sie damit über keinerlei kulturelles oder symbolisches Kapital, das ihren Vertretern einen besonderen Habitus in einem privilegierten sozialmoralischen Milieu ermöglicht hätte. Der Ort der Bewährung islamischer Theologie war so sehr viel stärker an die Gemeinden gebunden. Hier konkurriert aber eine mögliche liberale islamische Theologie aber mit einer Vielzahl von Laienauslegungen des Islam, deren Sinnstiftungspotenzial sich weiter erfolgreicher entfaltet hat. Damit war aber der Ort der Bewährung einer islamischen liberalen Theologie ungemein begrenzt. 4. Eine islamische liberale Theologie oder besser ein islamisches liberales Denken steht vor dem Problem, dass es sich überhaupt als solche rechtfertigen muss. Anders als der Protestantismus muss sich „der Islam“ die Frage gefallen lassen, ob eine islamische Rechtfertigung des Liberalismus überhaupt möglich sei. Im Kern geht es darum zu fragen, ob islamischen Institutionen, Gruppen oder Persönlichkeit die islamischen Symboltraditionen (sprich den Koran) in den Dienst der Verwirklichung von Freiheit stellen. Es wird behauptet, dass sie erst dann die Fähigkeit erlangen würden, reflexionsbereite Toleranz zu fördern, weltanschaulichen Pluralismus zu akzeptieren und die eigene Geltung zugunsten demokratischer Verfahren zu begrenzen. Aus der Sicht eines islamischen Denkers impliziert diese Forderung das Axiom, dass die Religion in den Dienst der Freiheit zu treten habe, was notwendig bedeuten würde, der Freiheit ein Primat über die Religion zuzuweisen. Genau dies war nun eines der Hauptprobleme, die im Rahmen des arabischen Frühlings definiert wurden. Galt der Ruf nach Freiheit dem Koran oder der Ruf nach dem Koran der Freiheit? 5. Eine islamische liberale Theologie steht zudem vor dem Problem, dass die überkommene liberale Rechtsfertigungslehre sich darin erschöpft, Setzungen des Liberalismus wie die Freiheitsrechte, Pluralismus, Demokratie und Toleranz, im Koran positiv zu begründen.

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6. Die liberale Theologie hat das alte Axiom „non est libertas sine iustitia“, das der Florentiner Coluccio Salutati (1333-1404) Cicero aufgreifend geprägt hatte,65 umgekehrt. Freiheit galt nun als Voraussetzung für Gerechtigkeit. Dies hatten auch arabische Denker des 19. Jahrhunderts so gesehen. Der schon genannte ägyptische Pädagoge Rifā῾a Rāfi῾ aṭ-Ṭahṭāwī hatte in einem frühen Werk aus dem Jahre 1838 festgestellt, dass der französische politische Begriff liberté mit dem islamischen Begriff ῾adl (auch ʿadāla, „Gerechtigkeit“) gleichzusetzen sei. So konnte er später sagen: „Freiheit und Gleichheit sind die Bedingungen für Gerechtigkeit.“66 Damit revidierte er gleich zwei Ordnungen: den bislang allgemein anerkannten „Zyklus der Gerechtigkeit“ und die islamische Selbstauslegung als Religion der Gerechtigkeit.67 Der klassische islamische Diskurs hatte ja im Kern das Thema „Gerechtigkeit“ besetzt. Da Gerechtigkeit das Privileg habe, müsse gelten, dass ohne Gerechtigkeit, mithin ohne Islam keine Freiheit möglich sei.68 Eine islamische liberale Theologie müsste nun die Umdeutung nachvollziehen und sagen, dass ohne Freiheit kein Islam möglich sei. Dieses liberale Prinzip aber müsste außerislamisch bestimmt werden können, da Freiheit ja erst den Islam ermögliche. Mithin würde erst der politischer Liberalismus einen islamischen, sprich religiösen Liberalismus ermöglichen.69 ____________________ 65 66 67

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Gemeint ist Ciceros viel zitierter Satz „Legum ministri magistratus, legum interpretes iudices, legum denique id circo omnes servi sumus, ut liberi esse possimus“ (Cicero, Cluentio Habito, S. 78). Aṭ-Ṭahṭāwī, al-Muršid al-amīn, S. 476, Z. 11. In der osmanischen Reichsverwaltung wurden die sich gegenseitig bedingenden und schützenden Institutionen der Staatsverwaltung Militär, Steuer und Justiz in eine enge Beziehung gesetzt, so dass der Hof stets darum bemüht war, in einem „Zyklus der Gerechtigkeit“ (dā᾽ire-i ʿadlīye)einen internen Ausgleich der Macht und der Ressourcen zwischen diesen Institutionen zu erreichen, (Qinālīzādeh, aḫlāq-i ʿalāyī, S. 49). Typisch hierfür al-Quraš, al-ʿAdāla wa-l-ḥurrīya, S. 12: „Es ist gerecht, dass der Mensch frei ist, und Freiheit wird nur durch Gerechtigkeit vollständig.“ So auch der palästinensische, in Frankreich ausgebildete Historiker Ǧadʿān, alḤurrīya wa-l-ʿadl, mit positiver Bezugnahme auf den libanesischen politischen Philosophen Nāṣīf Naṣṣār. Ǧadʿān, der seine Sympathie für islamische Anschauungen offen zeigt, positioniert sich näher an Rawls als an Michael J. Sandel oder Michael Walzer. Auch der Ökonom Ḥāzim al-Biblāwī, 2013/4 ägyptischer Premierminister, sah in der Freiheit die Bedingung für Etablierung von Gerechtigkeit (al-Biblāwī, al-Ḥurrīya šarṭ al-ʿadl). Ähnlich, aber unter Betonung der moralischen Verantwortung auch der israelisch-palästinensische Autor Bišāra, Maqāla fī l-ḥurrīya.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

5.

Freiheit oder Gerechttigkeit, wem gebührt das Primat?

Soweit die sechs Problemfelder. Tatsächlich hat sich in der jüngeren Geschichte gezeigt, dass islamischer, religiöser Liberalismus nur unter den Bedingungen eines erfolgreichen politischen Liberalismus wirkungsmächtig geworden ist. Hierzu nur ein abschließendes Beispiel. Es war der amerikanische Politikwissenschaftler Leonard Binder, der Mitte der 1980er Jahre auf einen „islamischen Liberalismus“ aufmerksam gemacht hat.70 Binder arbeitete in Chicago eng mit dem indisch-britischen Gelehrten Fazlur Rahman (1919-1988, seit 1969 an der Universität Chicago tätig) zusammen, der sich schon 1982 für eine liberale Neuauslegung der islamischen Tradition ausgesprochen hatte.71 Rahmans Indonesienbesuch im Jahre 1973 war der Beginn für die Selbstzuordnung indonesischer „Erneuerer“ um Nurcholish Madjid (1939-2005) als islamische Liberale.72 Madjid wurde seinerseits 1984 an der University of Chicago bei Leonard Binder und Fazlur Rahman promoviert.73 Kurze Zeit später schon wurde Fazlur Rahmans Bestimmung von „Neo-Modernismus“ als Kombination von Traditionalismus und Modernismus und als Oberbegriff für einen liberalen und frommen Diskurs von indonesischen Intellektuellen übernommen74 und historisiert.75 Auf Fazlur Rahman haben sich in den letzten Jahrzehnten zahlreiche islamische Theologen berufen, ich denke zum Beispiel an Mehmet Paçacı von der sogenannten Ankara-Schule. Charles Kurzman nahm Rahman dann auch in seinem Quellenbuch zum „liberal Islam“76 auf, das schon bald ins

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Binder, Islamic Liberalism. Zum Hintergrund Stauth, Leonard Binder and the Hermeneutic of Authenticity. Rahman, Islam and Modernity. „Most studies on the intellectual history of Indonesian Islam make reference to Nurcholish Madjid’s landmark ‚secularization‘ speech on 2 January 1970. It marked a turning point in Madjid’s career, where he went from a student leader to a nationally recognized and controversial public intellectual. It also marked an important milestone in the development of a new Islamic liberalism that was to significantly contribute to the transformation of Muslim thinking in Indonesia.“ Hashemi, Islam, Secularism, and Liberal Democracy, S. 160. Das ganze Beziehungsgeflecht untersuchen gekonnt Baso, NU studies, sowie Saleh, Modern trends, und Sohirin, Emergence and Development. Ali et al., Merambah Jalan Baru Islam. Munawar-Rachman, Dari Tahapan Moral ke Periode Sejarah, S. 4-29; Aziz, Neo-modernisme Islam di Indonesia; Fathimah, Modernism. Kurzman, Liberal Islam, S. 304ff.

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Indonesische übersetzt wurde. Damit bestätigte sich erneut, dass jede „islamische liberale Theologie“ in eine Diskursgemeinschaft eingebunden ist, an der auch die nichtislamische akademische Öffentlichkeit beteiligt ist und die in irgendeiner Art und Weise einen politischen Liberalismus voraussetzt. Leonard Binder, Charles Kurzman, Greg Barton und John Esposito gehören zu den vielen, die durch ihre Arbeiten Profile eines islamischen Liberalismus und/oder eines liberalen Islam nicht nur mitteilen, sondern auch selbst mitgestalten. Ähnlich verhält es sich mit den zeitgenössischen Versuchen, in der vormodernen islamischen Traditionsgeschichte Präfigurationen eines Liberalismus avant la lettre zu erkennen.77 Liberalismus wird so mehr und mehr zu einem transkonfessionellen Anliegen. Das bedeutet aber auch, dass sich der Liberalismus nicht mehr dadurch rechtfertigen kann, dass er den Islam zu seiner Antithese ausgestaltet. Dies aber bedeutet zugleich, dass der Zuschnitt des islamischen Liberalismus immer auch von der Akzeptanz einer nichtislamischen Öffentlichkeit abhängig ist, die ihre Erwartungen auf eine radikale Umdeutung des Islam selbst in Richtung eines „liberalen Islam“ ausrichtet. Muslimische Akteure hingegen erkennen zwar die Notwendigkeit einer liberalen Theologie an. Doch zugleich machen sie geltend, dass der islamische Liberalismus in erster Linie als moralische Unterfütterung des politischen Liberalismus zu verstehen sei. Das moralische Prinzip des Islam sei die Gerechtigkeit, mithin sei es die Aufgabe des Islam, die Entfaltung der sozialen Gerechtigkeit als Freiheit der Gesellschaft zu ermöglichen und damit Gerechtigkeit aus Freiheit und Freiheit aus Gerechtigkeit zu begründen. Eben deshalb betonen muslimische liberale Theologen den Gerechtigkeitsgedanken.78 Sie gehen von der Vorstellung aus, dass der Liberalismus Vorstellung sei, die vom Menschen geschaffen wurde, während die Idee der Gerechtigkeit göttlichen Ursprungs sei. Daher müsse jeder Liberalismus notwendig auch die Gerechtigkeit zum Zwecke haben. Damit sind auch Muslime an den Kern der zeitgenössischen Debatte um den Liberalismus gelangt. Denn wenn, wie John Rawls meint, Gerechtigkeit nicht als Tugend-, sondern als Rechtsprinzip zu gelten habe, dann stellt sich auch für die islamische liberale Theologie die Frage, in welcher Weise der ____________________ 77 78

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Bauer, Kultur der Ambiguität. Die von Bauer rekonstruierte „Kultur der Ambiguität“ bietet zahlreiche Anküpfungspunkte für die islamische Rechtfertigung einer modernen Liberalität. Mōrō, al-Ḥurrīya fī l-minhaǧ al-islāmī; al-Quraš, al-ʿAdāla wa-l-ḥurrīya bayna al-mafhūm al-islāmī.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

Islam überhaupt zur Rechtfertigung eines politischen Liberalismus beitragen kann oder soll. Als religiöser Liberalismus gefasst öffnet sich heute der islamischen Theologie hingegen ein sehr breites Debattenfeld. Dabei geht es nicht um die Erfüllung der Vorschriften, die die protestantische Theologie als „liberal“ definiert hatte, also nicht um die Erfüllung einer liberalen Norm, sondern um die Kritik an der Liberalität verhindernden Auslegeordnung der islamischen Tradition. Diese Kritik kann ganz andere Gestalt annehmen als die, die wir seit dem 19. Jahrhundert in der christlichen Theologie kennen. Es ist damit auch ein Anachronismus, von der islamischen Theologie jene Festlegungen einzufordern, die in der liberalen protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts entworfen worden waren und die längst als überwunden gelten. Allerdings weckt die protestantische Diskussion um ein Wiederanknüpfen an die liberale Theologie79 die Hoffnung, dass das liberale Anliegen der Theologien nicht konfessionell begrenzt bleibt. Denn angesichts der aktuellen Dominanz ultrareligiöser Islaminterpretationen und wertkonservativer Islamdeutungen wird dem Liberalismus nicht nur politisch, sondern gerade auch religiöse eine neue Bedeutung zukommen, auch und gerade bei einer affirmativen Rekonstruktion einer „religiösen Liberalität“ als islamische Tugend. „Religiöse Liberalität“ meint hier auch die freiwillige Anerkennung des Vorrangs demokratischer normativer Ordnungen und ihrer Entscheidungen und wie auch anderer religiöser Überzeugungen. Dies deshalb, weil mit der Anerkennung gleichzeitig ein Freiheitsgewinn für die eigene Religion verbunden sei. Ein politisches Problem wäre „religiöse Liberalität“ dann, wenn sie als Tugend, Gesinnung oder „Wert“ im öffentlichen Raum verhandelt wird. Es geht also um einen Bejahungsdiskurs, und zwar nicht im Sinne einer mit Achselzucken begleiteten Haltung, die eine demokratische Ordnung einfach gewähren lässt. „Religiöse Liberalität“ wäre also nach José Casanova ein Konzept öffentlicher Religion. Da der Islam heute vornehmlich öffentliche Religion ist,80 ist zu erwarten, dass auch der islamische Diskurs diese Anerkennung verhandelt. Die islamische Religionsgeschichte gibt allerdings über die Bedingungen Auskunft, denen solche islamischen Debatten unterliegen. Solange sich die Meinungsführer islamischer Diskurse in einer Kulturkampfsituation wähnen, wird sicherlich die Anerkennung einer de____________________ 79 80

Lauster, Liberale Theologie. Andere nicht als öffentliche Religion standardisierte Formen der Islamität können hier also nicht berücksichtigt werden, obwohl gerade sie in der sozialen Praxis Liberalität stiften können [oder auch diese untergraben].

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mokratischen normativen Ordnung nur dadurch gelingen, wie sich die islamischen Diskurse selbst als demokratische Ordnung definieren. Der Wettbewerb zwischen den islamischen und anderen normativen Ordnungen bliebe dann bestehen. Liberalität würde hingegen bedeuten, dass aus Gründen der eigenen Freiheitsansprüche auf eine eigene Gouvernanz verzichtet wird, der Islam also nicht mehr Objekt wie Subjekt politischen Handelns ist, seinen Geltungsansprüchen keinen Vorrang mehr einräumt. Das hieße, der öffentliche Islam müsse die demokratische Ordnung wollen, ohne ihre Normen zu definieren, weil hierdurch der Islam einen Gewinn an Freiheit erleben könnte. Ausgangspunkt wäre somit das Ansinnen, dass politische Freiheit (und nicht nur tugendhafte Liberalität) dem Telos des Islam entspreche oder dieses Telos befördere. Sinn macht das allerdings nur dann, wenn Freiheit auch sozial tatsächlich als positive Ordnung erfahren würde, wenn sie, wie es aṭ-Ṭahṭāwī ausdrückte, „das beste Mittel zu Beglückung der Menschen eines Staates ist.“81 Genau hier aber liegt das politische Problem. Die Glückserfahrungen lassen sich zwar religiös interpretieren, sind aber zumindest in vielen Staaten, in denen mehrheitlich Muslime leben, kaum durch das politische System generiert oder gar geschützt. Das heisst, dass viele muslimische Intellektuelle ihren Staaten keinerlei Liberalitätskompetenz zuweisen, und dies hat gewiss zur Folge, dass auch der islamische Diskurs nicht mit dem Staat um eben diese Kompetenz konkurriert. Der Mehrheitsdiskurs in der islamischen Öffentlichkeit bleibt so weiterhin von Kompetenzansprüchen im Bereich der Gerechtigkeit dominiert. Aus all dem Gesagten lassen sich vier Hypothesen entwickeln, die zumindest für das islamische Feld eine gewisse Rechtfertigung haben: 1. Der religiöse Liberalismus hat den politischen Liberalismus zur Voraussetzung um erfolgreich zu sein. 2. Der politische Liberalismus muss in sich selbst begründet sein und kann nicht durch eine religionsbezogene Genealogie rechtfertigt werden. 3. Der politische Liberalismus muss die Beziehung von Freiheit und Gerechtigkeit prinzipiell definieren und regeln, ohne dabei auf das Gerüst religiöser Diskussionen angewiesen zu sein. 4. Ein sich religiös rechtfertigender politischer Liberalismus droht, partikular zu werden. Eine Pluralität von Liberalismen ist zwar denkbar, doch zugleich droht eine Verkehrung der Ordnung: Denn ____________________ 81

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Aṭ-Ṭahṭāwī, al-Muršid al-amīn, S. 475.

Liberalität im Islam und die Suche nach einem islamischen Liberalismus

es ist gerade auch der Religionsbezug, der diese Pluralität stiftet, und damit könnte das Gleichgewicht von politischen und religiösen Liberalismus infrage gestellt werden. Die Annahme, dass erst ein politischer Liberalismus die Konfiguration einer liberalen islamischen Theologie ermöglicht, bedeutet zugleich, nicht jede innerislamische Traditions- und Fundamentalismuskritik als Nachweis eines „islamischen Liberalismus“ und damit der Konstruktion eines „liberalen Islam“ zu identifizieren. So sind Aussagen, die für einen „islamische Säkularismus“ und damit für einen „säkularen Islam“ werben, nicht notwendig liberal.82 Vielmehr gibt es gute Gründe, die islamischen Debatten um den Liberalismus in einer von den Diskursteilnehmern als „postsäkular“ empfundenen Situation zu verorten.83 Die Absicherung eines politischen Liberalismus durch einen islamisch-theologische Rechtfertigung, die ihrerseits als liberal verstanden wird, kann somit durchaus als Hinweis auf die Konfiguration einer postsäkularen Bedingung islamischer Öffentlichkeit gedeutet werden.

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Hierzu u.a. Masud, The Construction and Deconstruction of Secularism as an Ideology in Contemporary Muslim Thought; Rabasa, Building Moderate Muslim Networks, S. 121-138; Asad, Responses; Ismail, Muslim Public Self-Presentation: Interrogating the Liberal Public Sphere. Honnacker, Post-säkularer Liberalismus; al-Masīrī, al-ʿAlmānīya al-ǧuz᾽īya wa-l-ʿalmānīya aš-šāmila. Der ägyptische Anglist al-Masīrī (1938-2008) war einer der ersten arabischen Autoren, die den von Jürgen Habermas 2001 in die Debatten eingebrachten Begriff „post-säkular“ arabisierten (mā ba᾽da ʿalmānī). Al-Masīrī hatte die 2004 gegründete Graswurzelbewegung kifāya („genug!“, ein Slogan der Ägyptischen Bewegung zum Zweck des Wandels) massgeblich mitgeprägt. Bemerkenswert ist die eindringliche Schlussfolgerung von Karsten Fischer, die er unter die Überschrift Transzendenzparadox religiöser Liberalität stellt: „Während man prima facie meinen kann, eine Religion sei desto liberaler, je weltoffener und politisch engagierter sie ist, scheint vielmehr eine theologische und religionspsychologische Bedingung religiöser Liberalität in einer starken Transzendenzorientierung zu bestehen, die weltlichen Fragen Eigengesetzlichkeit und Freiheit lassen kann“ (Fischer, Die Zukunft einer Provokation, S. 212).

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Reinhard Schulze

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Autoritärer Liberalismus Hauke Brunkhorst

Autoritärer Liberalismus ist Liberalismus ohne Demokratie. Da nur solche Gesellschaften demokratisch sind, in denen durch gleichheitssichernde Verfahren gewährleitet ist, dass sich alle Adressaten einer beliebigen Rechtsnorm (vom Gesetz bis zur polizeilichen Anordnung, von internationalen bis zum lokalen, vertraglich assoziierten, familialen usw. Recht) als deren Autoren (bzw. Co-Autoren) verstehen können, sind nur solche Gesellschaften demokratisch, in denen die Inklusion (1) aller sozialen Klassen, (2) aller Männer, Frauen und sexuellen Orientierungen sowie (3) aller Nationalitäten und Hautfarben etc. so gewährleistet ist, dass deren Stimmen im öffentlichen, politisch, sozial und kulturell inklusiven Streit um die Wahrheit und Verallgemeinerbarkeit von Ideen und Interessen (volonté générale) und seiner parlamentarischen Fortsetzung im Streit zwischen Regierung und Opposition ebenso zur Geltung kommen wie in den nachgeordneten Mehrheitsentscheidungen (volonté des tous). Eine oppositionslose Demokratie, die das nicht gewährleistet, aber die, vom Privateigentum abgesehen, weitgehend wertlos gewordenen, gerichtlichen, partizipativen und sozialen Freiheitsrechte in Kraft lässt wie beispielsweise Ungarn unter der faschistischen Regierung Orban, wäre keine illiberale Demokratie (so bezeichnet sie sich selbst), sondern eine Formation des autoritären Liberalismus (mit Scheindemokratie).1 Die soziale Evolution hat, wie man an der kurzen, ein____________________ 1

Die Herrschaft der Fidesz-Partei Orbans ist durch die Einbindung ins Europäische Recht eben nicht nur an die Marktfreiheit, sondern unter deren Vorrang auch an die Gleichheit vor dem Gesetz, alle öffentlichen und politischen Rechte und in engen Grenzen auch an soziale Grundrechte gebunden, aber sie ist so wenig wie die Europäische Union und deren Mitgliedstaaten an die Existenz einer parlamentarischen Opposition mit substanziellen Alternativen (insbesondere in der makroökonomischen Wirtschaftssteuerung) zur Regierungspolitik gebunden. Im Gegenteil, die Garantie aller bürgerlichen und demokratischen Rechte unter Ausschluß parlamentarischer Opposition ist das Markenzeichen der derzeitigen Verfassung der EU und ihrer Gliedstaaten – einschließlich der scharfen Sanktion von Abweichungen (statt aller Mair, Ruling the Void, S. 138ff.).

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führenden Erklärung des Begriffs schon sieht, sehr verschiedene Formationen des autoritären Liberalismus hervorgebracht. Sie beginnt mit der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals.

1.

Ursprüngliche Akkumulation

Das Zeitalter der „ursprünglichen Akkumulation“ des Kapitals ist das Zeitalter der ersten Formation des autoritären Liberalismus, der im Wesentlichen ein ökonomischer oder kapitalistischer Liberalismus ist.2 Den markantesten intellektuellen Kopf dieser Epoche, Edmund Burke, charakterisiert Marx in einer Fußnote des Kapitals wenig freundlich, aber so treffend, dass das Band, das den ökonomischen Liberalismus mit dem Autoritarismus eint, erkennbar wird, als „Sykophant(en), der im Sold der englischen Oligarchie den Romantiker gegenüber der Französischen Revolution spielte, ganz wie er, im Sold der nordamerikanischen Kolonien beim Beginn der amerikanischen Wirren, gegenüber der englischen Oligarchie den Liberalen gespielt hatte, (er) war durch und durch ordinärer Bourgois: ‚Die Gesetze des Handels sind die Gesetze der Natur und folglich die Gesetze Gottes.‘ (Burke, l.c., p. 31, 32) Kein Wunder, dass er, den Gesetzen Gottes und der Natur getreu, stets sich selbst auf dem besten Markt verkauft hat. […] Bei der infamen Charakterlosigkeit, die heutzutag herrscht und devotest an die, Gesetze des Handels‘ glaubt, ist es Pflicht, wieder und wieder die Burkes zu brandmarken, die sich von ihren Nachfolgern nur durch eins unterscheiden – Talent!“3

In Gestalt besonderer Gewaltverhältnisse in der inneren (Familien, Slums, Landregionen, Beamtenapparat, Schulen, Kasernen, Gefängnisse) und äußeren Peripherie (Kolonialismus/Imperialismus) begleitet der autoritäre Liberalismus bis heute die mittlerweile demokratische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft wie ein Schatten.4 Die Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts hat dem Liberalismus intersubjektiver Rechtsverhältnisse noch ohne ideologische Verklärung eine Sphäre des „Nicht-Recht“ (Paul Laband) vorausgesetzt, in der der Staat, der pater familias oder der Kolonialherr mit sich und den Seinen allein zu Hause ist – ohne Recht, denn Recht gibt es nur zwischen Staaten, Familienvätern und Kolonialherren.5 ____________________ 2 3 4 5

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Marx historische Darstellung der „ursprünglichen Akkumulation“ ist immer noch wegweisend, so Kocka, Marx – From Industrial to Present-Day Capitalism. Marx, Kapital I, S. 788 (Anm. 248). Das Burke-Zitat ist aus Burke, Thoughts and Details on Scarcity, 1795. Knapp Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, S. 232f. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 90.

Autoritärer Liberalismus

Der Liberalismus war seit den Anfängen des Handelskapitalismus eng mit der Entstehung einer (unpolitischen) bürgerlichen Gesellschaft verbunden, die vom Staat (der politischen Gesellschaft) getrennt ist und ihr Zentrum im kapitalistischen Wirtschaftssystem hat. Er hat den materiellen Interessen des wachsenden urbanen Kapitals die weichenstellenden Ideen geliefert und die ideellen Interessen des bürgerlichen Zeitalters geformt (kulturelle Hegemonie). 1.1 Rechtsstaat Der „moderne Kapitalismus“ (Max Weber) ist ein System des Privateigentums oder, mit McPherson, eine Eigentumsmarktgesellschaft, die Thomas Hobbes vorgreifend und Hegel bereits auf eine alt gewordene Gestalt des Lebens rückblickend (und noch bevor es richtig losging) in Gedanken gefasst hat.6 Ihre Basis sind universelle Arbeits-, Immobilien und Geldmärkte (Polanyi), die mit der Trikolore, der Grande Armée und dem Code civil „die Tour durch Europa“ (Marx) machten und seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Evolution der Weltgesellschaft prägen.7 Die Kommodifizierung der Arbeit verwandelt alle sozialen Klassen in Erwerbsklassen. Das System des modernen Kapitalismus wird durch subjektive (Eigentums-)Rechte konstituiert, die (inhärent universalistisch) allen Subjekten (Herrschaftsunterworfenen/Rechtsadressaten) gleichermaßen zugeschrieben werden. Ihre Stabilität verdankt diese Gesellschaft dem modernen Rechtsstaat, der eine vordemokratische Erfindung ist, deren Anfänge bis auf die päpstliche Rechtsrevolution des 12. Jahrhunderts zurückgehen.8 Zwar sind die subjektiven Rechte latent universelle Rechte, die, wie der späte Kant gezeigt hat, als Staatsbürgerrechte das „einzige, ursprüngliche“ ____________________ 6

7 8

Vgl. MacPherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Die subjektiven Rechte entstehen keineswegs auf einen Schlag, sondern in einem langen evolutionären Prozess, der bis auf die früheste Kombination des römisch-kanonischen Zivilrecht mit dem städtischen Handel und Fernhandel in der Epoche der Päpstlichen Revolution zurückgeht und (oft durch subkutane Umwandlung von Klöstern in Banken) das erste protomoderne Kreditwesens in Westeuropa entstehen ließ (vgl. Berman, Law and Revolution; Lopez, Commercial Revolution of the Middle Ages, S. 72, 76ff.; Brundage, Medieval Canon Law; Génestal, Rôle des monastères comme établissements de credit). Polanyi, The Great Transformation. Das Zitat ist aus Marx, Der achtzehnte Brumaire, S. 129. Berman, Recht und Revolution.

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Menschenrecht egalitärer Selbstbestimmung voraussetzen und erst im antikolonialistischen Weltbürgerrecht ihren Abschluss („notwendige Ergänzung“) finden.9 Aber die subjektiven Rechte sind, solange ihr Universalismus latent und implizit bleibt und nicht in Emanzipationskämpfen eingefordert („Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“) oder von demokratischen Gesetzgebern konkretisiert wird, mit bürgerlicher Klassenherrschaft und kolonialer Sklaverei nicht nur kompatibel, sondern ermöglichen und befördern sie auch.10 Das Latente und Implizite existiert nur, wo es manifest und explizit gemacht wird.11 Dafür sind Gesetzgeber zuständig, die eine herrschende Klasse mit allgemeinem Anspruch repräsentieren (Kant, Marx).12 Faktisch kann dieser Anspruch aber nur durch eine Klasse „universellen Charakters“ (Marx) erfüllt werden, und das heißt, nur in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem das Recht die demokratische Willensbildung aller Gesetzesadressaten nicht einschränkt, sondern ermöglicht und das ermöglichende Recht seinerseits aus der egalitären und ungezwungenen Willensbildung seiner Adressaten hervorgeht (Selbstgesetzgebung, Autonomie).13 Realisiert ist demokratische oder die „Herrschaft Beherrschter“ (Möllers) nur, wenn sie alle sozialen Klassen, alle Männer und Frauen und alle Nationalitäten und Hautfarben und schließlich alle Weltbürger deliberativ und partizipativ einschließt (Thornhill).14 Der autoritäre (oder kapitalistische) Liberalismus hat sich jedoch im Kampf um die Staatsmacht von Anfang mit antiautoritären, herrschaftskritischen und republikanischen Motiven verbunden, die seinen inhärenten Universalismus zur Geltung bringen. Spätestens seit Hobbes greift die politische Theorie auf den modernen, nicht mehr substanziellen, wohl aber universalisierbaren Begriff individueller Willensfreiheit zurück, um sich im ____________________ 9 10 11 12

13 14

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Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 345f., 475ff.; ders., Zum Ewigen Frieden, S. 213ff. Brunkhorst, Legal Revolutions. Brandom, Making it Explicit. In diesem Punkt sind sich Rousseau, Kant und Marx einig. Ohne den universellen Anspruch, alle Gesetzesadressaten zu vertreten, gibt es keine Repräsentation des Volkswillens Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 28ff., 72f.; Kant, Streit der Fakultäten, S. 358f.; ders., Zum ewigen Frieden, S. 191-251; Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 388; ders., Zur Judenfrage, S. 370. Ders., Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 390; Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat; Thornhill, Sociology of Law and Global Transformation of Democracy.

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europaweiten, noch weitgehend höfisch organisierten, öffentlichen Diskurs der Intellektuellen des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer ersten, vordemokratischen, aber republikanischen Formation des politischen Liberalismus (Rawls) zu verdichten (Rousseau, Kant). Er wird durch diese, von Anfang an spannungsreiche Liaison ökonomisch und politisch mit der Monarchie, die – vor allem in Gestalt des sog. Absolutismus – dem städtischen Kapital im Zuge seiner ursprünglichen Akkumulation gute Dienste geleistet hat, immer weniger vereinbar. Die progressive Unvergesslichkeit der Französischen Revolution – ein „Ereignis, das sich“, weil es in den Augen Kants einen realen, normativen Fortschritt republikanischer und moralischer Freiheit darstellt, „nicht vergisst“15 – ist ein Resultat dieser Politisierung des Liberalismus, die aber im 18. und 19. Jahrhundert mit dem ökonomischen Liberalismus und damit der bürgerlichen Klassengesellschaft (gut sichtbar auch noch in John Stuart Mills Repräsentationstheorie) eng verbunden blieb. Politisch beschränkt sich die republikanische Freiheit auf ökonomisch „selbständige“, der „Feder“ mächtige, weiße Männer.16 Und so wurde die Sache auch umgesetzt. Schon bald nach Ausbruch der Revolution unterdrückten die Jakobiner ihre normative Begeisterung für die Menschheit – eine Begeisterung, die von Kant und Marx deshalb als „wahrer Enthusiasmus“ gefeiert wurde, „weil er nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann“ –17 und begannen damit, so Charles Tilly, „die alten Träger intermediärer Gewalt: Pächter, Feudalbeamte[], bestechliche Amtsinhaber, Kleriker und kommunale Oligarchen” durch Angehörige ihrer eigenen sozialen Klasse: Rechtsanwälte, Beamte, Kaufleute, Notare, Banker, Richter, Zöllner, Unternehmer, Ärzte, Akademiker und Intellektuelle zu ersetzen.18 Ganz zu schweigen vom einträglichsten Geschäft der Aufklärungs- und Revolutionsepoche, dem Sklavenhandel, der Europa und die beiden Amerikas mit ihrer damals größten und produktivsten Arbeitskraft versorgte.19 Die Jakobiner und ihre Nachfolger haben tatsächlich den Rechtsstaat durchgesetzt, aber zu keinem Zeitpunkt die Demokratie. Der cash value, der von der Revolution blieb, war der Code Civil. Das war mehr als nichts, befreit sein Formalismus doch von informeller Herrschaft (Möllers) – nicht ____________________ 15 16 17 18 19

Kant, Streit der Fakultäten, S. 361. Ders., Über den Gemeinspruch. Ders., Streit der Fakultäten, S. 359; ähnlich Marx, Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie, S. 388; Ypi, On Revolution in Kant and Marx. Tilly, European Revolutions, S. 167f. Rasmussen, American Uprising, S. 40f.; Bayly, The Birth of the Modern World, 1780–1914, S. 234; Marx, Kapital I, S. 787f.

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aber von Klassenherrschaft und von der Herrschaft weißer Männer über Frauen und Farbige, die er verewigt, wenn es den Beherrschten nicht gelingt, den Formalismus des Rechts gegen diese Herrschaft des Rechts in Stellung zu bringen. 1.2 Verfassungsstaat Das Zweckbündnis des urbanen Kapitals mit dem höfischen Kriegsführungsstaat, das für die erste Formation des autoritären Liberalismus charakteristisch ist, zerfällt noch im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution und wird von intellektuellen Beobachtern wie dem späten Kant zum unversöhnlichen Antagonismus kollektiver Akteure zugespitzt (Volk vs. Adel, Republik vs. Monarchie). Die Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts haben die monarchische schließlich und definitiv durch die republikanische, aber noch nicht demokratische Souveränität des Volkes substituiert. Normativ jedoch war die moderne republikanische Theorie (Rousseau, Kant) und ihre Verfassung (Sieyès, Madison) der Gleichursprünglichkeit von Volkssouveränität und individuellen Rechten verpflichtet, verstand Volkssouveränität als Selbstgesetzgebung aller Rechtsadressaten (auch wenn Tugendhats Frage, „Wer sind alle?“ in aller Regel zuerst im Sinne ihrer eigenen Klassen-, Geschlechts- und Rassenzugehörigkeit beantwortete) und überließ die Bestimmung (und Konkretisierung) der im Bestimmungsprozess (Staatsorganisationsrecht) vorausgesetzten Rechte diesem Prozess, also der Gesetzgebung selbst. Das ist bis auf die freilich entscheidende Frage der Inklusion (Bürgerstatus) immer noch der Kern der modernen Demokratie- und Verfassungstheorie.20 ____________________ 20

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Gut erkennbar in Hegels Theorie der konstitutionellen Monarchie, die bei ihm nicht nur den Liberalismus des Code civil schlucken musste, sondern mit ihm die volonté générale (Hegel, Grundlinien, § 258). Ohne den allgemeinen Willen ist der Rechtsstaat schon bei Hegel nichts als ein besonders brauchbares Instrument der Expansion von Kapital und Imperium. Der berühmte Satz, das Recht sei das Dasein des freien Willens, schlägt die Brücke, die von der normativen Theorie (freier Wille) zur Wirklichkeit der modernen, kapitalistischen Gesellschaft (Dasein) führt. Er bleibt damit aber der inneren Verbindung von Volkssouveränität und Rechten treu, die erst der Staatswillenspositivismus und autoritäre Liberalismus des 19. Jahrhunderts gekappt hat. Auch der Vertrag zweier Privateigentümer kann nur durch die gesetzgebende Tätigkeit des allgemeinen Willens wirklich werden (ebd., §86). Erst wenn das „Recht an sich“ durch die legislative Tätigkeit des „existierenden allgemeinen

Autoritärer Liberalismus

Das machte den Übergang vom Rechts- zum Verfassungsstaat für alle Regimes, die im europäisch-nordamerikanischen Raum überleben wollten, zwingend. Als die Revolution nach knapp fünfzehn Jahren vor den in Paris versammelten Monarchen Europas bedingungslos kapitulieren musste, hatte Emanuel Josef Sieyès, der 1793 im Wohlfahrtsausschuss für die Hinrichtung des Königs gestimmt hatte, es ein weiteres Mal geschafft, zu den Autoren der neuen, diesmal explizit restaurativen Verfassung zu gehören, um ihr, statt der alten Bezeichnung des Königs als König von Frankreich, die neue, napoleonische und republikanische eines Königs der Franzosen einzuschreiben. Der reaktionäre Verhandlungsführer Preußens, Friedrich von Gentz, roch den Braten und sah darin den Kotau der Fürsten Europas vor der Volkssouveränität. So sah es auch Metternich. Aber er hatte längst erkannt, dass es kein Zurück mehr gab und billigte die Formulierung. Der normative Fortschritt der Revolution war zur Schranke der weiteren Staatsentwicklung geworden, ein normative constraint, der sich auch die alten Monarchien anpassen mußten, wenn sie noch ein wenig fortbestehen wollten.21 Die konstitutionelle Monarchie und der vordemokratische Republikanismus wurden zur zweiten Gestalt des autoritären Liberalismus, in Gedanken gefasst von intellektuellen Figuren wie Constant, Say, Guizot und Marx, politisch verkörpert in Metternich, Louis Bonaparte, Bismarck und Disraeli.22 ____________________

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Willens“ „zum Gesetze wird“, ist der freie Wille durch sich selbst in sein gesellschaftliches Dasein getreten (ebd., § 217). Hegel spricht mit Bezug auf den allgemeinen Willen deshalb auch von der „objektiven“, „realen Seite des Begriffs der Freiheit“ (ebd., §106). Dieser Unterscheidung von Recht an sich (objektiv) und für sich (subjektiv) entspricht bei Kant die Unterscheidung von provisorischem Privatrecht und peremtorischem öffentlichen Recht (Kant, Metaphysik der Sitten). Hegel konnte den absoluten Gegensatz des bei weitem produktivsten, aber auch bei weitem unsittlichsten Wirtschaftssystems der Weltgeschichte nur dadurch mit der Idee des sittlichen Staats versöhnen, dass er Privateigentum und Vertrag (wie Rousseau und Kant) unter den Vorbehalt des gesetzgebenden Willens aller Bürger stellte. Das hatte in seinem Verfassungsentwurf zwar keinen cash value für alle, aber von hier führt der Weg der Kritik über Marx zum „demokratischen“ und „sozialen“ Staat des Grundgesetzes (Art. 20 und 28 GG) und zur Verfassungsinterpretation von Franz Neumann, Helmut Ridder und Wolfgang Abendroth. Zum Begriff des „normative constraint“ Brunkhorst, Legal Revolutions. Auf die zweite Formation des autoritären Liberalismus bezieht sich Carl Schmitt mit seiner übergeneralisierten Behauptung, Demokratie und Liberalismus wären unvereinbar, wobei er die atemberaubend schlichte, von vornherein totalitäre Idee hat, „Demokratie“ als ein Regime des rechts-frei anwesenden und

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Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die konstitutionelle Monarchie aber immer schwächer und der Staatsapparat – wofür Lois Bonaparte, Bismarck und Disraeli stehen – immer stärker und wuchs auch seinen starken Männern über den Kopf. Er nahm die demokratische Wahrheit der Revolution, die gesetzgebende Gewalt des allgemeinen Willens in sich auf, um sich an deren Stelle zu setzen und seine Macht ins Unermeßliche zu steigern. Er – natürlich vermittelt und ermöglicht durch die hegemonialen Klasseninteressen – führte (hoch restriktive Varianten) des allgemeinen Männerwahlrechts am Ende des 19. Jahrhunderts ein, um die Volkssouveränität im Nationalismus zu ertränken, den Legitimationsgewinn einzustreichen und das Staatsorganisationsrecht so zu programmieren, dass durch Ausschluss und Neutralisierung der Sozialisten ein Parlamentarismus ohne Opposition, die der Staatsmacht gefährlich werden konnte, entstand, so dass sich die „Interessen“ und die „gesellschaftlichen Einrichtungen“ nicht mehr durch „den debattierende[n] Klub im Parlament“ und die debattierende[n] Klubs in den Salons und in den Kneipen“ in „allgemeine Gedanken verwandeln“ und „als Gedanken verhandeln“ ließen, aus denen sich schließlich die „wirkliche Volksmeinung“ bilden muss.23 Im Gegenteil, nach Ausschaltung jeder Opposition, die reale Macht erringen konnte, musste sich die dem ____________________

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passiv akklamierenden Volkes zu definieren (Schmitt, Verfassungslehre, S. 83, 243ff. Treffende Kritik bei Möllers, Staat als Argument, S. 179, Anm. 179). Das aber heißt, dass nicht nur der kapitalistische Liberalismus, sondern das positive Recht überhaupt mit der Demokratie unvereinbar wäre, während Marx im achtzehnten Brumaire, auf den Schmitt sich beruft, im Gegenteil gezeigt hatte, dass der kapitalistische Liberalismus mit der komplexen parlamentarischen Demokratie unvereinbar ist und sich, um die Freiheit der Märkte zu retten, politisch der Autorität unterwirft und mit der Despotie verbündet, in der sich zwar Elemente akklamierender Anwesenheit, aber keine der Demokratie mehr finden (Marx, Der achtzehnte Brumaire). Dort spricht Marx davon, dass die Bourgeoisie aus „Feigheit“ und aus „Liebe zu ihrem Geldbeutel“ nicht bereit war, „dem Klassenkampf“ innerhalb des parlamentarischen Regimes den „kleinen Spielraum“ zu „gewähren“, der nötig gewesen wäre, um noch zu einem halbwegs fairen Klassenkompromiss zu kommen, der es ihr ermöglicht hätte, „die Exekutive von sich abhängig zu erhalten“, die Verfassung zu verteidigen und die Diktatur zu verhindern. Sie hätte sich dann aber darauf einlassen müssen, mit Alternativen zum Kapitalismus im Kapitalismus zu experimentieren und das Risiko einzugehen, dass die parlamentarische Mischung aus inklusivem Diskurs und egalitärer Entscheidung sie zum Experiment des Sozialismus und damit zur Vernichtung ihrer eigenen, unpolitischen Klassenherrschaft getrieben hätte. Marx, Der achtzehnte Brumaire, S. 154.

Autoritärer Liberalismus

Volk enteignete Wahrheit des gesetzgebenden Willens auf systemfunktionale Mehrheitsbildung einschränken. Das allgemeine Wahlrecht wurde aus einem Instrument der Inklusion in ein Instrument politischer Unterdrückung und ethnischer, rassischer und sozialer Exklusion zurückverwandelt.24 Statt die Regierung durch das Volk zu konstruieren, konstruierte die Regierung das Volk und die politischen Parteien wurden aus Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen im Staat zu Repräsentanten der Regierung in der Gesellschaft.25 An der Wahrheit der Revolution, am allgemeinen Willen kam keiner vorbei, aber im Vorbeigehen hat der kapitalistische Staat ihre Wahrheit verwirklicht, indem er sie zur Beschleunigung seiner eigenen Verselbständigung genutzt hat: „Die erste französische Revolution [1789-1814] mit ihrer Aufgabe, alle lokalen, territorialen, städtischen und provinziellen Sondergewalten zu brechen, um die bürgerliche Einheit der Nation zu schaffen, mußte entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte: die Zentralisation, aber zugleich den Umfang, die Attribute und die Handlanger der Regierungsgewalt. Napoleon vollendete diese Staatsmaschinerie. Die legitime Monarchie [1814-1830] und die Julimonarchie [1830-1848] fügten nichts hinzu als eine größere Teilung der Arbeit, in demselben Maße wachsend, als die Teilung der Arbeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft neue Gruppen von Interessen schuf, also neues Material für die Staatsverwaltung. Jedes gemeinsame Interesse wurde sofort von der Gesellschaft losgelöst, als höheres, allgemeines Interesse ihr gegenübergestellt, der Selbständigkeit der Gesellschaftsglieder entrissen und zum Gegenstand der Regierungstätigkeit gemacht, von der Brücke, dem Schulhaus und dem Kommunalvermögen einer Dorfgemeinde bis zu den Eisenbahnen, dem Nationalvermögen und der Landesuniversität Frankreichs. Die parlamentarische Republik [1848-1851] endlich sah sich in ihrem Kampfe wider die Revolution [die gescheiterte soziale Revolution vom Juni 1848 und die große Angst vor ihrer Wiederkehr] gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die

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Thornhill, Sociology of Law and Global Transformation of Democracy, S. 61, 134ff.; Goldstein, Political Repression in 19th Century Europe, S. 334; s. a. Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 124ff.; Brunkhorst, Legal Revolutions, S. 294ff. Thornhill, Sociology of Law and Global Transformation of Democracy, S. 103. „Generally, strategically selective democratization was the dominant pattern of political organization from the midway into the nineteenth century until midway into the twentieth century“ (ebd., S. 134); Andeweg, Political recruitment and party government, hier S. 140, zit. n. Mair, Ruling the Void, S. 94. Andeweg schreibt an der zitierten Stelle: „The party […] becomes government’s representative in the society rather than the society’s bridgehead in the state“ (ebd.).

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Hauke Brunkhorst Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten die Maschine statt sie zu brechen. […] Erst unter dem zweiten Bonaparte [1851-1970] scheint sich der Staat völlig verselbständigt zu haben.“26

Dieses Regime ist das Wahrheitsregime des autoritären Liberalismus, der die Ziele der Revolution in ihr Gegenteil verkehrt. Aus der Republik, Monarchie, Demokratie wird der Anstaltsstaat (Weber), und die Anstalt, Ervin Goffmans totale Institution, Michel Foucaults Gefängnisse und Kliniken ist sein Paradigma, sein Modell, sein Musterbeispiel.

2.

Kapitalistischer Staat

Die Einsicht, dass, so Claus Offe, „Märkte nichts anderes sind als […] mittels Staatsgewalt durchgesetzte politische Entscheidungen“ und „nicht weniger politisch veranstaltet“ als „die Wirtschaftspläne im Staatssozialismus“, hat sich in der Realität und in der Theorie nur langsam durchgesetzt.27 Man kann fünf Stufen unterscheiden, in deren Entwicklung sich die Eigenlogik legislativer Allzuständigkeit sukzessive gegenüber dem kapitalistischen System der Ökonomie zur Geltung bringt. (1) Schon Friedrich Engels hat den Staat zum „ideellen Gesamtkapitalisten“ promoviert, der den Hang des Kapitals zur Selbstvernichtung auch gegen unternehmerische Sonderinteressen durchsetzen soll. So denkt auch noch Friedrich August von Hayek. Der Staat solle die Rolle eines „Wartungstrupps in einer Fabrik“ erfüllen, der die

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Marx, Der achtzehnte Brumaire, S. 179f. Die Passage nimmt die gesamte heutige Parteien- und Parlamentarismusforschung vorweg, s. o. die vorgerige Fussnote mit den Zitaten von Thornhill und Andeweg. Obwohl Marx im achtzehnten Brumaire seiner Parlamentarismusanalyse (ein solches Parlament wie 1848 gab es vor 1848 nirgends) durchgängig die normative Theorie des 18. Jahrhunderts (und auch in dieser Passage im Begriff des gemeinsamen Interesses) zugrunde legt, versteht er das Parlament und seine Aktivitäten durchgängig als gesellschaftliche Praxis inmitten gesellschaftlicher Verhältnisse und verwendet damit den modernen Begriff der Gesellschaft, der dem 18. Jahrhundert noch fremd war. Dadurch verändert sich alles. Zum Problem des soziologischen Paradigmenwechsels als Praxis im Kontext gesellschaftlicher Praktiken jüngst Haker, Die soziologische Differenz. Offe, Europa in der Falle, S. 20f.

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„marktwirtschaftlichen Gesamtordnung“ gewährleistet, aber fest in sie „eingebettet“ bleibt.28 (2) Damit der kapitalistische Staat seine Funktion für die kapitalistische Gesellschaft erfüllen kann, muss er aber nicht nur ideeller Gesamtkapitalist, sondern auch Staat sein. Das aber kann er nur, wenn er ein scharf ausgeprägtes „Interesse […] an sich selbst“ und der Mehrung seiner Eigenmacht nimmt.29 Der Staat setzt nicht nur das Gesamtinteresse des Kapitals durch, sondern gegebenenfalls auch sein eigenes Selbstbehauptungsinteresse gegen das des Kapitals.30 (3) Um mit den Krisen und Problemen des seit Mitte des 19. Jahrhunderts rasant wachsenden ökonomischen und politischen Komplexes fertig zu werden, musste der Staat eine wachsende Vielzahl von Funktionssystemen für Wissenschaft, Erziehung, Verkehr, Internationale Beziehungen, Gesundheit usw. rechtlich konstituieren und weitgehend finanzieren. Diese Systeme bringen ihrerseits organisierte, oft gegenläufige Eigeninteressen hervor, die nicht mit denen von Kapital und Staat identisch sind.31 (4) Mit der Formierung inter- und transnationaler Organisationsmacht im 20. Jahrhundert pluralisieren sich die Konflikt- und Konfrontationsmöglichkeiten ein weiteres Mal, um dem Staat buchstäblich über den Kopf zu wachsen. Er erweitert sich unter Souveränitätsverlusten vom market-embedded (1) über den market-embedding (2, 3) zum transnationally embedded state (4).32 (5) Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wächst dem Staat die demokratische Aufgabe zu, die politische Gleichheit aller sozialen Klassen, aller Geschlechtszugehörigkeiten und aller Nationalitäten und Hautfarben zu gewährleisten. Der Gegensatz von Kapitalismus ____________________ 28

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Engels, Die Entwicklung des Sozialismus, S. 222; von Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, S. 49f. Hayek hat, ohne ihn zu zitieren, Karl Polanyis Begriff der institutionellen „Einbettung“ der Wirtschaft entführt und seine Bedeutung umgedreht. Offe, Berufsbildungsreform, S. 13. Marx hat das gesehen, aber nicht mehr systematisch in Rechnung gestellt: „Alle Umwälzungen vervollkomneten diese Maschine statt sie zu brechen“ (Marx, Der achtzehnte Brumaire, S. 179). Luhmann, Grundrechte als Institution; vgl. auch Brunkhorst, Legal Revolutions, S. 390ff., 396ff. Albert/Stichweh, Weltstaat und Weltstaatlichkeit; Thornhill, Sociology of Transnational Constitutions; Brunkhorst, Solidarität; ders., Legal Revolutions, S. 59ff., 319ff.

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und Demokratie wird durch Internalisierung zum „existierenden Widerspruch“ des kapitalistischen Staats.33 3.

Der demokratische und soziale Staat

Nach einem Jahrhundert heftiger, blutiger und grausamer Klassenkämpfe, Weltbürgerkriege und Weltrevolutionen wurde der kapitalistische in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum kosmopolitisch verfassten, demokratischen und sozialen Staat. Ausgelöst und angetrieben wurde dieser weltgesellschaftliche Fortschritt durch die sozialistischen Revolutionen in Rußland und China, die 1918 und 1925 ausbrachen, in den Regionen ihres Ursprungs in jedoch autoritären Sackgassen endeten. In der zweiten, demokratischen und sozialen Formation des politischen Liberalismus verbindet sich Kants noch vordemokratischer, politscher Liberalismus mit dem demokratischen Sozialismus von Marx. Die Idee des sozialen Fortschritts materialisiert sich in der mixed economy eines Kapitalismus mit sozialistischen Merkmalen, der politisch progressiv auf umfassendes Wachstum und eine wachsende, sozialistische Prägung programmiert ist.34 Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit bringt, derjenigen Hegels nicht unähnlich, die Errungenschaften der, in den 1970er Jahren bereits alt gewordenen Epoche des capitalism with socialist characteristics in einem zweistufigen Gedanken zum Ausdruck: (1) Ein universalisierbares System gleicher Grundfreiheiten ist die notwendige Bedingung, und (2) die progressive Minimierung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit ist die hinreichende Bedingung einer gerechten Einrichtung der Gesellschaft, ohne die politische und private Grundfreiheiten keine fairen Wert haben.35 Dem entspricht das globale, im globalen Süden weitgehend „nominalistische“, wenn nicht bloß „symbolische“, im Zentrum der Kapital- und Staatsmacht des Nordwestens „normative“ (also wirksame) Verfassungsrecht.36 Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes bindet das Privateigentum von vorherein ans (wenig bestimmte) Allgemeinwohl, Artikel 15 erlaubt ausdrücklich die einfachgesetzliche „Vergesellschaftung“ der „Produktionsmittel“, des „Grundbesitzes und der Naturschätze“, Artikel 20 I und 28 ____________________ 33 34 35 36

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Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 59, 424. John Deweys Theorie der Demokratie ist paradigmatisch für diesen Progressivismus des 20. Jahrhunderts. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 148ff.

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I erklären (in Verbindung mit der due process clause des Art. 3 GG) die Verwirklichung der „demokratischen und sozialen […] Republik“ zum obersten Staatsziel und überlassen den (liberalen oder sozialistischen) Weg dorthin der demokratischen Willensbildung.37 Kaum anders in den Vereinigten Staaten.38 Die due process clause (14. Amendment) und commerce clause (Art. I, 8, 3 US) wurden aus Rechtsnormen, die einen nahezu absoluten Schutz des Privateigentums und der kapitalistischen Verkehrsfreiheiten gewährleisteten, in ein legales Instrument zur Emanzipation der Arbeiterklasse von der Herrschaft des Kapitals verwandelt, und das oberste Gericht wurde von den andern Staatsgewalten in den 1930er Jahren gezwungen, die legislative Trendwende juristisch nachzuvollziehen und zu verstärken.39 Die Produktionsverhältnisse wurden teilsozialisiert. Im „institutionalisierten Klassenkampf“ verschoben sich die Gewichte zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Arbeit.40 Das Wertgesetz wurde durch das immense Wachstum öffentlicher Ausgaben für den immer länger werdenden Sozialisationsprozeß, die Formung, Reparatur, Disziplinierung, Überwachung, Fortbildung und Verwissenschaftlichung der Arbeitskraft außer Kraft gesetzt. Es entstanden überall ganz (Großbritannien) oder teilweise (Bundesrepublik Deutschland) sozialistische Erziehungs- und Gesundheitssysteme. Die eine und einzige Form des Privateigentums, die der französische Code Civil im Revolutionsjahr 1804 kodifiziert hatte und auf die sich noch der Art. 903 BGB bezieht, wurde in hunderte, wenn nicht tausende Formen ____________________ 37

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Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats, S. 114144. Abendroths 1954 gegenhegemoniale Grundgesetzinterpretation war seit den 1970er Jahren bis Ende des 20. Jahrhunderts herrschende Meinung zumindest des BVerfG, (vgl. Möllers, Staat als Argument, S. 141). Vgl. nur Ackerman, We the People; Sunstein, The Second Bill of Rights, S. 403ff. Die due-process clause wurde wie der Art. 3 GG in Verbindung mit dem Demokratieprinzip (und in den USA dem common law) zum Hebel umfassender Sozialgesetzgebung (bis hin zur affirmative action) und durch die Uminterpretation der commerce clause (aus einer Schutzklausel der Staaten in eine Interventionsklausel der Bundesgewalten) abgesichert und um eine nation-wide Arbeits-, Wirtschafts-und Verwaltungsgesetzgebung in ein Instrument des zentralen Interventionsstaats verwandelt, knapp Sunstein, The Second Bill of Rights. Eine common law orientierte Interpretation der due process clause findet sich in Dworkin, Taking Rights Seriously. Hoss, Der institutionalisierte Klassenkampf; Korpi, The Democratic Class Struggle.

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zwischen den Grenzfällen rein privaten und rein öffentlichen Eigentums zersplittert und demokratischer Kontrolle unterworfen.41 Die Reichen konnten sich ihre Sommerhäuser in Newport und Kalifornien, die von fern an europäische Burgen und Schlösser erinnerten, aber viel größer waren, nicht mehr leisten. Sie wurden öffentliches Eigentum und in Museen, Schulen und Universitäten verwandelt. Die verbliebenen, immer noch großen Klassendifferenzen wurden durch Massenkonsum und das rasch expandierende Bildungssystem kompensiert, das unter Bedingungen schrumpfender sozialer Ungleichheit und egalitärer Erwartungshorizonte den Unteren vielfältige Aufstiegschancen eröffnete.42 Nur durch das hart erkämpfte Minimum sozialer Gleichheit konnte die politische Gleichheit, die für die Demokratie konstitutiv ist, wenigstens halbwegs gewährleistet werden.43 Kapitalist und Arbeiter fuhren an dieselbe Ferienküste, der eine mit Blick aufs Meer, der andere mit Blick auf die Straße. Aber sie mußten im selben Wasser baden, am selben Strand spielen und ihre Kinder – das ist der springende Punkt – auf dieselbe öffentliche Schule schicken. Der Arbeiter fuhr ein kleines Auto, sein Boss ein großes, aber beide steckten im selben Stau, gab es doch noch keine Hochhäuser mit Helikopterlandeplätzen für die Reichen und Hochhäuser ohne Brandschutz für die Armen.44 4.

Krise der 1970er Jahre

Aber zur Nostalgie besteht kein Anlass. Der national beschränkte Wohlfahrtsstaat war weiß, männlich und heterosexuell. Die egalitäre Demokratie endete überall an der color line und der gender line, und die weiße, männliche und heterosexuelle Arbeiterklasse partizipierte und profitierte von der ____________________ 41 42

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Denninger, Von der bürgerlichen Eigentumsgesellschaft zum demokratischen Rechtsstaat, S. 815, 839ff.; Bellomo, The Common Legal Past of Europe, S. 2531. Fallen diese Bedingungen (sinkende soziale Unterschiede, kultureller Egalitarismus) wie im gegenwärtigen Zeitalter des Neoliberalismus weg, ist es auch mit den Aufstiegschancen schon wieder vorbei, wie Wilkinson und Pikket nachgewiesen haben Wilkinson/Pickett, The Spirit Level. Vgl. auch Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen., vgl. auch Hirsch/Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus.

Autoritärer Liberalismus

Unterdrückung der farbigen, weiblichen und homosexuellen Bevölkerungsmehrheit der Weltgesellschaft.45 Die Lektoratsarbeit an unseren Büchern machen unterbezahlte Frauen in Kalkutta, denen wir zum Dank unseren giftigen, verseuchten und strahlenden Abfall vor Haustür und Badestrand kippen, und deren Flüsse wir mit resistenten Erregern verseuchen, um Antibiotika zu produzieren, die uns schützen, wenn Migrantenströme der Erreger auf dem Luftweg zu uns zurückkehren. Seit Mitte der 1960er Jahre entstehen in immer wieder neuen Schüben globale politische, kulturelle und soziale Bewegungen, die sich für Bürgerrechte der Farbigen, Frauenemanzipation, kosmopolitische Friedenspolitik, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, gegen Umweltzerstörung und sogar für die Rechte nichtmenschlicher Entitäten stark machen.46 Die jetzt als einseitig erkannte Fixierung von Sozialdemokraten und orthodoxen Marxisten auf Probleme vertikaler Ungleichheit (Arbeit/Kapital), die politisch dem Nationalstaat zugerechnet wurden, sah sich durch transnationale Ansprüche von Mehrheiten (Farbige, Frauen) und Minderheiten (Homosexuelle) auf Emanzipation von horizontaler Ungleichheit herausgefordert.47 Als im Mai 1968 in Paris Studenten und Arbeiter gemeinsame Sache machten, schien der Traum der Linken von einer Vereinigung der Künstlerkritik an der horizontalen („Kult des Individuums“) mit der Sozialkritik an der vertikalen Ungleichheit des modernen Kapitalismus („Vergesellschaftung der Produktionsmittel“) wahr zu werden.48 Es wurde realistisch, das Unmögliche zu verlangen.49 Die Künstlerkritik verband sich mit der Sozialkritik zum politischen Programm eines „revolutionären“ oder „radikalen ____________________ 45

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„White Workers have generally been part of the problem, either active participants in or at least complicit with imperialism, colonial conquest, white settlement (sometimes genocidal), slavery, apartheid, segregation, and so forth“, so Mills, Some Comments on Hauke Brunkhorst’s Critical Theory of Legal Revolutions (i.E.). Zu letzteren Fischer-Lescano, Natur als Rechtsperson. Wallerstein spricht mit Blick auf die Anfänge nicht ganz zu Unrecht von der „world-revolution of 1968“, vgl. Wallerstein, Structural Crisis, S. 24ff. Zur Unterscheidung vertikaler von horizontaler Ungleichheit Stewart/Langer, Horizontal Inequalitie; Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Boltanski/Chiapello, The New Spirit of Capitalism, S. 419ff. „Enteignet Springer!“ brachte beide Kritiken auf einen Nenner, die an der Ungleichheit und Unterdrückung der Redefreiheit mit der am Privateigentum und Monopol der Verbreitungsmedien. Zur immer wiederkehrenden Aktualität der Debatte: Cole, Why Free Speech is not Enough. „Soyez réalistes, demandez l’impossible“ – war eine der vielen surrealistischen Parolen des Pariser Mai 1968.

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Reformismus“.50 Aber dann kam die Krise, die sich, der neoliberalen Propaganda, die sie Keynes in die Schuhe schob, zum Trotz als eine säkularer Stagnation erwies. Die strukturelle Wachstumskrise, die Paul Sweezy schon in den 1960er Jahren als Unterkonsumtionskrise beschrieben hatte, wurde durch das Ende des Zeitalters der fünf großen, industriellen Innovationen (elektrisches Licht, fließendes Wasser, Benzinmotor, Massenkommunikationsmittel, Manipulation von Molekülen) ausgelöst und auf Dauer gestellt.51 5.

Die dritte Formation des autoritären Liberalismus

In dem Jahrzehnt zwischen 1975 und 1985 hat der Liberalismus die Schlacht gewonnen – die blutigen, neoliberal motivierten und vom Westen ____________________ 50 51

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Brunkhorst, Radical Reformism; Möller, Auf der Suche nach einer europäischen Verfassungspolitik. Gordon, Rise and Fall of American Growth; ders., The Demise of U.S. Economic Growth; Crafts, Is Secular Stagnation the Future for Europe?; Baran/Sweezy, Monopoly Capital, S. 76ff. Marx schreibt im dritten Band des Kapital: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde“ (Marx, Kapital III, S. 501). Die neuen Technologien, die seit der Erfindung von Smart-Phone und PC von unerfüllten Wachstumsversprechen begleitet werden, haben die Globalisierung, vor allem die Finanztransaktionen beschleunigt, hatten bislang aber nur geringe Wachstumseffekte. Stattdessen bedrohen sie die auf 30 bis 50% der arbeitsfähigen Bevölkerung angewachsene Akademikerschicht mit technologischer Massenarbeitslosigkeit, die derjenigen der Handwerker in der düsteren zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – The Heart of Darkness: „The horror! The horror!“ – in nichts nachstehen dürfte (vgl. Collins, The End of Middle Class Work). Die von Bourdieu entwickelte Theorie der Prekarisierung bringt die absehbaren Folgen der Explosion der reflexions- und disseminationstechnischer Innovationen (AI) auf den Begriff (vgl. Bourdieu, Gegenfeuer), zumal wenn man sie mit Collins Prognose akademischer Arbeitslosigkeit zusammenführt, sieht man, dass die Entfesselung aller Reflexions- und Disseminationsmedien heute schon 90 Prozent der Bevölkerung des reichen Nordwestens und 99% der Weltbevölkerung in einen prekären Zustand stürzt, der alle halbwegs rationalen Erwartungen auf lebenslange Daseinsvorsorge und -planung von vornherein zunichtemacht (van Dyk, Die soziale Frage in der (Post-)Wachstumsökonomie). Diese niederschmetternde Wahrheit hat Occupy Wallstreet in eine welterschließende Parole umgemünzt. Sie führt die Künstlerkritik mit der Sozialkritik in einem elementaren Existenzsatz zusammen: „We are 99 percent.“

Autoritärer Liberalismus

großzügig unterstützten Militärputsche und Militärdiktaturen in Chile und Argentinien eingeschlossen. Nach der (mit Khrushchevs Sturz programmierten) Selbstzerstörung des bürokratischen Sozialismus wurde die neoliberale, dritte Formation des autoritären Liberalismus zum Programm hegemonialer Weltpolitik. Sie hat einen rudimentären, weitgehend intergouvernemental koordinierten Weltstaat hervorgebracht. Dessen Netzwerk aus kapitalistischen und imperialen Zentren (Europa/USA) und internationalen Organisationen unterminiert den demokratischen Vorrang des öffentlichen Rechts durch eine wachsende Vielzahl zumeist transnationaler Privatrechtsregime (Teubner). Sie sind das funktionale Äquivalent des alten, römischen jus gentium, das – wie alles Zivilrecht – allein die Funktion hatte, die Interessen der herrschenden Klassen des Imperiums zu koordinieren und die Ungleichheit zwischen den haves und den have-nots dieser Welt zu zementieren.52 Der Rechtsformalismus, der uns von informeller Herrschaft emanzipiert und unabdingbare Voraussetzung demokratischer Selbstgesetzgebung ist, wurde Zug um Zug durch eine zweite Formation hoch dynamischen, informellen Rechts abgelöst, das Züge eines neuartigen Doppelstaats aus Gesetzes- und Maßnahmerecht angenommen hat.53 Paradigmatisch ist die „Euro-Gruppe“, eines im Lissabon-Vertrag extrem schwach institutionalisierten, informellen Treffens der Finanzminister der Union, das aber faktisch alle wesentlichen, geld-und wirtschaftspolitischen Entscheidungen Europas trifft. Als der griechische Finanzminister auf dem Höhepunkt der Währungs- und Legitimationskrise von 2015 ausgeschlossen wurde, fragte er nach der Rechtsgrundlage. Der Vorsitzende ließ seine Juristen kommen und die erklärten, die Gruppe habe keine Verfahrensnormen, sei rechtlich praktisch inexistent und könne, solange sie niemanden umbringe, tun und lassen, was sie wolle und mit faktisch bindender Wirkung entscheiden.54 Der Staat verschwindet nicht vollständig wie in der Postsowjetunion der Jelzin-Ära, in der die Einführung der Marktwirtschaft zu dessen völliger ____________________ 52

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So Eric Georges Panel-Beitrag zu „Transnational Commercial Arbitration and arbitrators“ am Kings College, London. Die Wende der amerikanischen Rechtsprechung seit Citizens United (2010), in dem der Supreme Court privatkapitalistische Korporationen mit politischen Aktivrechten ausgestattet hat (Parteispenden als free speech), ist ebenso exemplarisch wie die marktkonforme Rechtsprechung des EuGH seit Viking (2007) und Laval (2008). Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 500ff. Varoufakis, As It Happened.

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Abschaffung und zur Regression gesellschaftlicher Beziehungen auf (vorrechtliche) Familienbeziehungen führte, was weder dem Kommunismus noch der Marktwirtschaft, sondern allein den Mafiabossen zugutekam.55 Aber das Netzwerk nationaler Staaten, regionaler und globaler Organisationen muss von dieser Form patrimonialer Regression unterschieden werden. Es ist die aktuelle, rechtsstaatliche Formation von Engels „ideellem Gesamtkapitalisten“ und Hayeks „Wartungstrupp“. Das national, regional, global gegliederte Drei-Ebenen-System neoliberaler Weltstaatlichkeit hat die ermutigenden Fortschritte des globalen Konstitutionalismus (Habermas) und des internationalen öffentlichen Rechts (Bogdandy) blockiert und durch regressive Reformen auf allen drei Ebenen die Finanz-, Arbeits- und Immobilienmärkte dereguliert, eine wettbewerbsrechtliche Lage geschaffen, in der Investoren sich die Staaten, die Staaten aber nicht die Investoren aussuchen können und die vertikalen Differenzen zwischen sozialen Klassen, Nationen und Generationen in schwindelerregende Höhen getrieben. Der Fußball wird zum Spiegel der Weltgesellschaft. Verdiente ein Spieler der englischen Premier League 1985 gerade mal doppelt so viel wie der durchschnittliche Fan, so verdient er jetzt das 250-fache. Das erzeugt im Fußball wie in der übrigen Gesellschaft unten erst politische, dann totale Apathie, auf die der Staatsapparat mit Ministerien für Einsamkeit und Selbstmord reagiert, und oben die Illusion, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren, zumal, wenn es mit Fortschritt nichts wird, immer noch der Geldbeutel bleibt. The winner takes all. Die Wahlbeteiligung derer, die im Dunkeln sind, sinkt unter 30%, während sie bei denen, die im Lichte sind, auf über 90% steigt. Die Parteien der Linken rücken nach rechts. Die soziale Ungleichheit erzeugt politische Ungleichheit. Die großen feministischen und multikulturellen Errungenschaften, die Jahrtausende alte Herrschaftsverhältnisse ins Wanken gebracht haben, verlieren ihren fairen Wert, kann doch die arbeitslose, jüdische, lesbische und vorbestrafte Schwarze das Ghetto nicht mehr verlassen, in dem sie allen nur erdenklichen antisemitischen, homophoben und misogynen Vorurteilen ebenso schutzlos ausgeliefert ist wie dem Sexismus und der brutalen Gewalt der Polizei und der Männerbanden.56 Wenn in Wahlkämpfen nur noch technische Alternativen zwischen verschiedenen mikroökonomischen Strategien der Anpassung an den Weltmarkt, aber keine politischen Alternativen zur ordo- oder neoliberalen ____________________ 55 56

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Derluguian, What communism was, S. 120f. Vgl. nur Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit; Merkel, Is Capitalism compatible with Demovcracy?

Autoritärer Liberalismus

Makroökonomie mehr wählbar sind, gibt es keine Demokratie mehr und ihre Verfassung wird Makulatur. Das „schimmernde Elend“ (Kant) der shopping malls zeigt in der libyschen Wüste, auf dem offenen Meer und in den Lagern an unserer Südgrenze sein schimmerloses Schreckensgesicht. In der zum Abschiebegefängnis umfunktionierten Geflüchtetenunterkunft Moria auf Lesbos opfert die Europäische Union das, wofür sie einst stehen wollte. Der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 4 AEUV), in dem „die Grundrechte […] geachtet“ (Art. 67 AEUV), das internationale „Recht auf Asyl“ (Art. 18 Grundrechtecharta) und die „Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung“ gewährleistet (Art. 78 AEUV), „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ „verhütet und bekämpft“ werden (Art. 67 AEUV), wird in dem sanitär und medizinisch unterversorgten, vollkommen überfüllten Lager Moria auf Lesbos durch drei Grenzen in konkretes Recht umgesetzt. Der Cash-Value der Menschenrechte. Die erste, gemauerte Grenze umschließt das Detention-Camp, in dem abgelehnte Asylbewerber und rechtswidrig zur Abschiebung freigegebene Neuankömmlinge einsitzen. Die zweite aus Stacheldraht, Wachtürmen und bewaffneten Wächtern umschließt die Geflüchtetenunterkunft mit dem Detention-Camp in der Mitte, die dritte, das Meer, die Insel, die niemand verlassen darf. Durch das Meer, das die Natur unserer Märkte schützt, wird die Grenze zum Naturrecht. Wer ankommt, wird „eingesperrt […], als wäre Flucht ein Verbrechen. […] Orte wie Moria sollen jetzt rund um die EU entstehen. Sie sollen ‚Kontrollierte Zentren‘ heißen. Man möchte sich ein Kürzel für diesen Namen lieber nicht vorstellen.“57 6.

Gibt es Auswege?

Keiner weiß es. Aber wenn, dann vermutlich nur durch das, was national nicht mehr und transnational noch nicht wählbar ist: die substantiellen Alternativen zur neoliberalen Formation des autoritären Liberalismus, also den egalitären politischen Liberalismus und den demokratischen Sozialismus, den Rawls selbst für die aussichtsreichste Variante des politischen Liberalismus hielt.58 Programmatisch hieße das: ____________________ 57 58

Wiedemann, Der Knast im Knast im Knast, S. 49. Brunkhorst, Privateigentum, Verdinglichungskritik und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel.

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Hauke Brunkhorst

Massive Umverteilung des Reichtums und der Vermögen von oben nach unten, was, wenn es klappt, gerecht und wachstumsfördernd wäre.59 Hinzukommen müsste gleichzeitig ein universelles Grundeinkommen, das ausreicht, das Studium an einer amerikanischen Eliteuniversität zu finanzieren. Grünes Wachstum, das die ökologischen Katastrophen vielleicht noch aufschieben und mildern könnte, ohne die Wasserspülung dem grünen Kommissar zu opfern. Aber das wird ohne die massive Transnationalisierung demokratischer Staatsmacht und die gleichzeitige, deliberative Egalisierung der Demokratie auf allen Ebenen der Weltgesellschaft nicht gehen. Organisierbar wäre eine solche deliberative Demokratie, wie zahllose Modelle und experimentelle Forschungen zeigen und, als Alternative zum vermachteten Pseudodiskurs der Medienoligopole und blinden Volksabstimmungen, in der ein Viertel der Wahlberechtigten Verfassungen ändern kann (Brexit), auch unter Bedingungen direkter Demokratie, wie jüngst Claus Offe noch gezeigt hat.60 Aber das würde eine alte Frage wieder auf die Tagesordnung setzen: die nach dem Privateigentum an den (globalisierten) Verbreitungsmedien. Literaturverzeichnis Abendroth, Wolfgang: Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. In: Forsthoff, Ernst: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968 [1954], S. 114-144. Ackerman, Bruce: We the People, Bd. 2: Transformations, 1998. Albert, Matthias/Stichweh, Rudolph (Hrsg.): Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildungen, 2007. Andeweg, Rudy B.: Political recruitment and party government. In: Blondel, Jean/Cotta, Maurizio (Hrsg.): The Nature of Party Government, 2000, S. 119-140. Baran, Paul A./Sweezy, Paul M.: Monopoly Capital. An Essay on the American Economic and Social Order, 1966. Bayly, C.A.: The Birth of the Modern World, 1780-1914: Global Connections and Comparisons, 2004. Bellomo, Manlio: The Common Legal Past of Europe 1000-1800, 1995. Berman, Harold: Recht und Revolution, 1995.

____________________ 59 60

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Siehe nur zuletzt die Diskussion zwischen Stieglitz, Summers und Krugman in Social Europe und der New York Times vom 12.09. 2018. Offe, Referendum vs. Institutionalized Deliberation.

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Feminismus – eine regulative Idee Tjana Schönwälder-Kuntze

1.

Einleitung

Liberalismus, Feminismus – beide Begriffe fordern eine Vorbemerkung. Als ich die Einladung erhielt, „einen Vortrag über das Spannungsfeld Feminismus und Liberalismus zu halten“, war meine unmittelbare Reaktion von dreierlei Unbehagen geprägt. Erstens scheint es nie so ganz klar, ob eine solche Anfrage der political correctness oder echtem Interesse geschuldet ist. Zweitens handelt es sich um zwei Themenfelder, deren – eventuell – spannungsgeladenes Zusammenspiel unmöglich in einem einzigen Beitrag angemessen beizukommen ist. Zwar gibt es sehr brauchbare und gute überblicksartige Texte dazu, aber es liegt in der Natur der Sache, dass sie im Detail argumentarm bleiben (müssen).1 Und drittens suggerieren die abstrakten Oberbegriffe Einheitlichkeit von Theorien oder theoretischen Standpunkten, die in Wirklichkeit aber in beiden Fällen wesentliche Binnen-Differenzen einziehen. In diesem Sinne gibt es weder ‚den‘ Liberalismus noch ‚den‘ Feminismus,2 sondern allenfalls eine liberale wie feministische (Diskurs-)Tradition, die sehr unterschiedliche Erscheinungsformen ____________________ 1

2

Ich denke hier beispielhaft an drei gute Texte: Zum einen an Barbara Vinkens Einleitung zum Sammelband Dekonstruktiver Feminismus – Literaturwissenschaft in Amerika (1992), und zum anderen an Martha Nussbaums Aufsätze Einleitung: Ein Begriff des Feminismus sowie Die feministische Kritik des Liberalismus (beide 1999). Zur Genealogie des Liberalismus insgesamt und zur staatstragenden Funktion der Ökonomie empfehlenswert sind Michel Foucaults Gouvernementalitätsvorlesungen am Collège de France von 1977/1978 sowie jüngst Wendy Browns kritische Auseinandersetzung mit Foucaults Rekonstruktion in Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört (2015), in der sie dem homo oeconomicus einen andersartigen homo politicus zur Seite stellt. Der Begriff féminisme wurde wohl im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Frankreich zum ersten Mal geprägt; vgl. Offen, Sur l’origine des mots „féminisme“ et „féministe“. Interessant ist, dass das Wort im deutschen Kaiserreich zu weiten Teilen nicht verwendet wurde, um sich gegen die Franzosen abzugrenzen.

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Tatjana Schönwälder-Kuntze

hat. Was beide Traditionen je eint, ist zum einen die Verbindung zur namensgebenden Freiheit – libertas –; zum anderen lassen sich vielleicht all diejenigen, die sich dem Feminismus irgendwie verpflichtet fühlen, unter Herta Nagl-Docekals Definition fassen: Es gehe ihm um die „Überwindung der Geschlechterasymmetrie“.3 Wobei die Bemühungen zur Überwindung auf mehreren Ebenen stattfinden, da es sich sowohl um eine theoretische als auch um eine soziale Bewegung mit nunmehr mindestens drei, sich zeitlich über fast 150 Jahre verteilende Phasen handelt. Es ist diese Minimalbasis, auf der im Folgenden Anmerkungen zum Verhältnis von Freiheit und Feminismus gemacht werden, nicht ohne die Beschränkung auf die Geschlechterasymmetrie selbst als zu überwindende zu fordern, d.h. das feministische Anliegen auf andere Andere zu erweitern. Ich beginne mit einer bzw. der modernen Auffassung des Begriffes Freiheit, wie sie exemplarisch und elaboriert bei Kant vorliegt (2.). Daran anschließend wird in einer Art kritischem Zwischenspiel im Anschluss an Gayatri C. Spivak und den Germanisten Hans Mayer die Frage gestellt, was bei der Umsetzung von der Theorie zur Praxis schief gegangen ist (3.). Von dort aus gehe ich zur zuweilen ‚post-modern‘ oder ‚post-feministisch‘ genannten Bedeutung des Begriffes Feminismus im Anschluss an Judith Butler, aber – bei aller Diskrepanz – auch an Martha Nussbaum über, um diese Auffassung dennoch im Sinne Kants als ‚regulative Idee‘ zu qualifizieren (4.). Eine solche regulative Idee zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein unerreichbares, weil nicht zur Gänze realisier- bzw. abschließbares Ideal bezeichnet, das aber dennoch nicht aufgegeben werden darf, weil es zur Orientierung dient. Das ist eine der Funktionen, die dem Freiheitsbegriff in Kants Œevre zukommt.4 ____________________ 3 4

316

Nagl-Docekal, Feminismus, S. 10. Zwar findet sich der Terminus „regulative Idee“ nur ein einziges Mal bei Kant und zwar in Bezug auf den Weltbegriff (Kritik der reinen Vernunft, A 684 / B 712). Aber es findet sich sehr häufig die Unterscheidung zwischen einem konstitutiven und einem regulativen Gebrauch, den wir von den Vernunftideen, d.s. transzendentale Ideen, machen. Der erste erzeugt Irrtümer; der zweite ist sinnvoll: „die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz

Feminismus – eine regulative Idee

2.

Polysemie und Theoriefunktion von Freiheit bei Immanuel Kant

Es gibt in der Philosophie viele Auffassungen darüber, welche Bedeutungen dem Begriff Freiheit zukommen oder zukommen sollten. Ich werde auf zwei Felder eingehen, in denen er eine wesentliche Funktion einnimmt: im Feld der Anthropologie bzw. der Subjekt-Ontologie, in denen Freiheit das genuin menschliche Denk-Potential bezeichnet, und im Feld des Politischen, um dort Institutionen verschiedenster Couleur zu begründen oder, um als Waffe im öffentlichen Diskurs zum Einsatz zu kommen. Im ersten Feld haben zwar die unaufhörlichen Debatten um die Frage Freiheit vs. Determination dazu geführt, dass Freiheit in den philosophischen Kontexten, die diesen Gegensatz nicht aufmachen wollen, als Begriff eher in Misskredit geraten ist. Dennoch bleibt er meines Erachtens der beste Begriff, um das zu bezeichnen, was er spätestens seit Kant bezeichnen soll: Das proto-reflexive, unmittelbare ebenso wie das reflexive, mittelbare Denkvermögen als allgemeines, menschliches Potential auf der ontologischen Seite sowie seine diskursive Begründungs- und Orientierungsfunktion für die Ordnung des menschliche Miteinander, also des Politischen im weitesten Sinne, auf der theoretisch-diskursiven Seite. Auf diese Weise kommen dem Begriff Freiheit zwei Bedeutungen zu: Er bezeichnet das zunächst gänzlich unbestimmte, daher universelle Denkvermögen und übernimmt als solches eine theoretische Begründungs-, aber auch Orientierungsfunktion zur Gestaltung des Sozialen. Bei Kant wird mit Freiheit oder auch Spontaneität vereinfacht gesagt das menschliche Denkvermögen insgesamt bezeichnet.5 Das liegt darin begründet, dass Denken für ihn ein Akt ist, der nicht kausal bestimmt sein kann, sondern von selbst stattfindet. Das heißt freilich nicht, dass das Denken nicht auf Gegebenes re-agieren würde und sich strukturell anpasste – aber all das ‚tut‘ es nicht unausweichlich. Das Denken erfährt in Kants Konzeption noch weitere zahlreiche Binnendifferenzierungen. So unterscheidet er ____________________

5

außerhalb den [sic!] Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größtmögliche Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 644 / B 672). In diesem Sinne findet dann der Ausdruck ‚regulative Idee‘ im Anschluss an Kant Verwendung; vgl. beispielhaft Derrida, Gastfreundschaft, S. 107, oder ders., Gesetzeskraft. „Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 428 – Hervorh. im Orig.).

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genauer den unmittelbaren, proto-reflexiven, Erfahrungen machenden Verstand von der sowohl reflektierenden (theoretischen) wie auch erfindenden (praktischen) Vernunft. Der Verstand, der die Möglichkeitsbedingungen zur Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung umfasst,6 besteht nach Kant aus den zwei „Anschauungsformen a priori“ „Raum und Zeit“ sowie den zwölf „reinen Verstandesbegriffen“ den „Kategorien“. Mit diesem Apparat lassen wir uns die unbestimmte Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke als geordnete Phänomene erscheinen. Den zwölf Kategorien kommt dabei eine zusammenfassende (synthetisierende), ordnende Funktion zu.7 Die Vernunft, ebenfalls Teil des freien Denkvermögens insgesamt, hat sich aber selbst bislang Denk-Irrtümer beschert, weil sie – unweigerlich, solange sie das nicht reflektiert – den Verstand in seinen Synthesisformen kopiert. Aber sie kann sich von diesen Irrtümern befreien, d.h. sie kann sich durch kritische Reflexion reinigen, und auf diese Weise das praktische Potential entdecken wie auch entfalten, das sie nach Kant ist: Freiheit. „Gesetzt aber, es fände sich […] in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs, Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen, so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir innewerden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz, doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligible (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen, dienen kann.“8

____________________ 6

7

8

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„Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung gedacht. […] Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgendeine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand“ (ebd., A 50ff./ B 74ff. – Hervorh. im Orig.) „Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke“ (ebd., A 68 / B 73). Auch diese Synthesisleistung erfolgt spontan: „Allein die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, daß dieses Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen sei, aufgenommen, und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. Diese Handlung nenne ich Synthesis“ (ebd., A 77 / B 102). Ebd., B 430f. – meine Hervorh., T.S.K.

Feminismus – eine regulative Idee

Weil sie an sich selbst Spontaneität bzw. Freiheit ist, ist unsere befreite Vernunft dazu in der Lage, sich eine soziale ‚Ordnung nach Ideen zu entwerfen‘, von der sie sogar ‚Wirkungen erwartet‘: „[S]o gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie sogar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen s i n d und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne; denn ohne das, würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten.“9

Denken bezeichnet nach Kant folglich erstens die Fähigkeit, überhaupt mithilfe der spontan erzeugten wie arbeitenden Kategorien geordnete Erfahrungen machen zu können; zweitens auf das eigene Denken reflektieren zu können und sich in kritischer Absicht von mancherlei Irrtümern aufgrund falscher Synthesen zu befreien, sowie drittens wenigstens in Bezug auf die soziale Ordnung tatsächlich vollkommen Neues erfinden zu können – und das in Anlehnung an ein Ideal, das Kant ebenfalls mit Freiheit bezeichnet. So stellt Freiheit für Kant auch die regulative Idee des Politischen dar. Auf diese Weise lässt sich jedenfalls in aller Kürze zusammenfassen, was Kant in der ersten Kritik macht: Er zeigt zunächst, wie wir denken, wenn wir Erfahrungen machen. Dann zeigt er, welche fatalen Folgen es hat, wenn die reflexive Vernunft dieses Wie des erfahrenden Verstandes unkritisch nachmacht. Und schließlich zeigt er, dass ein kritischer Abstand dazu die reflektierende Vernunft reinigen kann, um sie so als freie praktisch werden zu lassen. Wobei ‚praktisch werden‘ heißt, sich eine soziale bzw. politische Ordnung nach der Idee der Freiheit zu entwerfen. Mit anderen Worten verbindet Kant auf diese Weise die beiden eingangs genannten Felder – das ontologisch-anthropologische und das politische im Begriff Freiheit. Freiheit kommt so eine systematische, die einzelnen Theorieteile verbindende Theoriefunktion zu: Freiheit als kritisches Vernunftdenken begründet auch im Kantischen Rechtsgrundsatz das sittliche Miteinander, also die staatliche Verfassung.10 Freiheit als regulative Idee dient ____________________ 9 10

Ebd., A 548 / B 576 – Hervorh. im Orig. „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Ders., Metaphysik der Sitten, S. 230). Betrachtet man das Zitat nicht negativ unter der Zwangs- oder der Beschneidungsperspektive (wie etwa in Habermas, Faktizität und Geltung, S. 45f.), sondern

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zur Gestaltungsorientierung der Institutionen ebenso wie des eigenen Verhaltens. So erwächst aus der so aufgefassten Freiheit die Möglichkeit, das soziale Miteinander in Form eines Verfassungs- oder Rechtsstaates gleichsam aus der Bewusstseinsontologie zu begründen, aber auch immer wieder durch Reflexion auf das faktisch Gewordene selbstkorrigierend an der per definitionem uneinholbaren Freiheitsidee orientiert zu gestalten. Kants Auffassung von Freiheit ernst nehmen bedeutet daher, sie ex ante prinzipiell offen und d.h. als unbestimmt zu denken bzw. als über das bereits Etablierte, Errungene immer wieder hinausgehend – mit unbestimmtem Ausgang. Darin besteht nach Kant das Wesen der Freiheit, an dem es sich zu orientieren gilt. Deshalb orientiert Freiheit als regulative Idee, ohne je erreicht zu werden: sie wird immer wieder überschritten. Mit den unterschiedlichen Bedeutungen erhält ‚Freiheit‘ demnach einen dreifachen Theoriestatus: Der Begriff bezeichnet das allgemeine Denkpotential und seine Realisierung; er begründet als solche die gesellschaftlichen Institutionen und er dient als regulative Idee zur Orientierung. Ein politisches System, das dafür sorgt, dass jede und jeder sein Denken frei benützen, sich entsprechend frei äußern und sein Leben so frei wie möglich selbst gestalten kann, das aber dennoch Gehorsam gegenüber den auf der Freiheitsidee aufbauenden Gesetzen fordert, wäre dann das, was wir eine freiheitliche Grundordnung oder Staatsverfassung nennen. Soweit jedenfalls in aller Kürze die politisch-philosophische Begründung bzw. Rahmung einer Form des Liberalismus.11 Anders als Kant gehen dann Georg W.F. Hegel und jüngere Philosophen davon aus, dass auch die Formen des unmittelbaren Verstandesdenkens nicht nur spontan erzeugt, sondern onto- wie phylogenetisch geworden sind, d.h. re-aktiv erzeugt werden, ohne deshalb determiniert zu sein. Die proto____________________

11

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positiv als Beschreibung eines Ermöglichungssettings, ja sogar als notwendige Bedingung, um überhaupt individuell-subjektive Entwürfe realisierbar zu machen, dann erscheinen Recht oder Gesetz viel weniger als einschränkende Verbotsmaschinen, als vielmehr als die Eröffnung eines Raumes, in dem allererst frei gewähltes, vielfältiges Handeln in sozialen, politischen Gemeinschaften möglich wird. In diesem Sinne spricht Kant auch davon, die Freiheit sei durch die sittlichen Gesetze „teils bewegt, teils restringiert“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 809 / B 837). So betrachtet, eröffnet das Recht Handlungsspielräume – unter dem allgemeinen Verbot, so zu handeln, dass es andere vernichtet. Die Auffassung, dass der Liberalismus auf einer Freiheitsidee gründet und dass es ihm – als Theorie – darum geht, den Staat sowie staatliches Handeln nur dann zu legitimieren, wenn beides am Recht auf Freiheit der Staatsmitglieder orientiert ist, vertreten bspw. jüngst auch Christine Bratu und Moritz Dittmeyer in Theorien des Liberalismus zur Einführung (2017).

Feminismus – eine regulative Idee

reflexiven, unmittelbaren Verstandeskategorien sind in diesem Sinne entsprechend ihrer sozio-kulturell-historischen Zeit formiert. Das reflektierende, vernünftige Denken gebraucht dann zwar ebenfalls diese Denkmuster oder Kategorien, ist aber dennoch in der Lage, sie zu erkennen und einen kritischen, d.h. immer auch überschreitenden Abstand zu ihnen einnehmen zu können – mithin auch in diesem Sinne Freiheit zu realisieren. Sodass hier eine (weitere) Freiheit zu vorbereitet wird, die in der Möglichkeit zur Transformation auch dieser unmittelbaren Denkmuster besteht, das heißt in der Möglichkeit, durch den reflexiven Abstand nicht nur falsche Reflexionen aufzudecken, sondern auch die gewohnten, sozio-kulturell übernommenen, unmittelbaren Denkmuster zu verändern, indem sich denkend zum Gegebenen oder Vorgefundenen transformierend in ein Verhältnis gesetzt wird. Die klassische Unterscheidung zwischen negativer Freiheit von und positiver Freiheit zu findet sich folglich nicht erst bei Isaiah Berlin u.a.,12 sondern schon bei Kant und Nachfolgern.13 Allerdings in zweifacher Hinsicht, weil es einmal um die proto-reflexive und einmal um die reflexive Ebene geht. Auf der basalen, proto-reflexiven, ontologischen Ebene haben wir es mit einer Freiheit zur Anpassung an die oder Übernahme der vorgegebenen Denkmuster, -strukturen und Sprache zu tun. In der Reflexion kann die Vernunft als Freiheit von schon bei Kant von diesen Denkmustern Abstand gewinnen, um als Freiheit zu ihre sozialen Regeln zu erfinden. Darüber hinaus sehen Kants Nachfolger aber eben auch noch die Möglichkeit, dass sich das Denken als Freiheit von auch auf der Verstandeseben von den proto-reflexiven sozio-kulturell übernommenen Denkmustern befreien kann, weil diese nicht nur kritisch-reflektierend erkannt werden, sondern sogar, wiederum als Freiheit zu, als transformierbar angenommen werden.14 Neben ____________________ 12 13

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Berlin, Four Essays on Liberty. Wobei das ‚nach‘ hier im dreifachen Sinne chronologisch, mimetisch und transformativ zu verstehen ist. Freilich ließe sich an dieser Stelle viel dazu ausführen, wie Hegel Freiheit realisiert sieht bzw. konzipiert, oder die an ihn – transformierend – Anschließenden. Mir geht es aber um den grundlegenden Gedanken, wo Freiheit ontologisch verortet wird – im Denken – und welche Funktion ihm dann in der Theoriebildung zugeschrieben wird. Das scheint im Großen und Ganzen bei allen Nachfolgern wenigstens ähnlich. Aus dieser Perspektive ist entgegen der Kantischen Festlegung der Kategorien sogar auf der Verstandesebene ein Anders-als-bisher-Denken möglich, denkbar, erfindbar – und sei es nur durch Verschiebungen. Darin liegt eine der grundlegenden Bedeutungen von Freiheit, wenn Denkerinnen und Denker der sog. Lebensphilosophien wie Henri Bergson oder Georg Simmel, aber auch Jean-Paul

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diesen beiden Ebenen, die die Denkprozesse betreffen, ist aber die erfindende Dimension bei Kant diejenige, die beiden Auffassungen auch im politischen Zusammenhang eine großes Gewicht verleiht: als Freiheit zur je individuellen Lebensgestaltung ebenso wie zur Gestaltung der institutionellen, immer auch einschränkenden Bedingungen, die eine individuelle Lebensführung erst ermöglichen. Aber auch als Freiheit von Unterdrückung, sei sie staatlicher und/oder sozialer Natur, und von Not auf der anderen Seite – für Judith Shklar ist das das Merkmal des Liberalismus schlechthin.15 In dieser Theorietradition wurzelt also die Begründung des Liberalismus im menschlichen Denkvermögen und folglich im transformativen Reflexions- und Gestaltungspotential, das prinzipiell allen Menschen zugesprochen wird. So lautet jedenfalls das Credo und der Imperativ der Aufklärung: sapere aude!16 Es mangelt folglich den Einzelnen, wenn überhaupt, an Mut, nicht an Potential. – Hier lässt sich dann die Frage anschließen, warum es so etwas wie den Feminismus, der strukturelle Ungleichheit erkennt und anprangert, eigentlich gibt? Sind Frauen keine denkenden Menschen? Verfügen sie nicht über das gleiche vernünftig genannte Denkpotential? Können sie nicht reflektieren, verändern, erfinden und gestalten? Oder sind sie nicht mutig genug? Kants Auffassung ist hier ambivalent: In der Aufklärungsschrift deutet er zwar implizit an, dass auch das ‚schöne Geschlecht‘ mitgemeint ist, auch weil es „für jeden einzelnen Menschen schwer ist, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten“;17 in der Kritik der reinen Vernunft heißt es aber in Bezug auf die historischen Schritte, die die Vernunft bei ihrer Reinigung zu gehen hat(te): ____________________

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Sartre, Foucault, Pierre Bourdieu, Jacques Derrida oder Butler – bei aller Differenz – entweder diesen Begriff benutzen oder die Möglichkeiten des Denkens beschreiben. „Der Liberalismus der Furcht [fear] […] muss […] jeder Versuchung widerstehen, allgemeine ethische Ratschläge zu erteilen. […]. [Er] muss ich auf die Politik beschränken und darauf, Vorschläge zur Verhinderung von Machtmissbrauch zu unterbreiten, um erwachsene Frauen und Männer von Furcht und Vorurteil zu befreien., damit sie ihr Leben ihren eigenen Überzeugungen und Neigungen gemäß führen können, solange sie andere nicht davon abhalten, dasselbe zu tun“ (Shklar, Liberalismus der Furcht, S. 49). Kant, Was ist Aufklärung?, S. 35. Ebd., S. 36. Damit spricht Kant zumindest den Frauen nicht prinzipiell ab, auch selber denken zu können. Vgl. aber die aktuellen Diskussionen um Kants Rassismus; Dhawan, Aufklärung.

Feminismus – eine regulative Idee „Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet ist dogmatisch. Der zweite Schritt ist skeptisch, und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzigten Urteilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nötig, der nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukommt, welche feste und ihrer Allgemeinheit nach bewährte Maxime zum Grunde hat“.18

Dieser letzte Schritt, so führt Kant weiter aus, ist natürlich der kritische, der dann alles Folgende aus einem Prinzip, das ist die Freiheit(sidee), zu denken vermag. Selbst wenn es Frauen unmöglich wäre, wie auch von Kant angenommen, das zu denken, so gilt doch das, was aus Freiheit denkbar wird, was aus ihr abgeleitet bzw. begründet wird, für sie gleichermaßen, oder? Aber so einfach ist es nicht – sagt jedenfalls der Feminismus. Was heißt das und warum? Bzw.: Warum gibt es überhaupt eine feministische politische Bewegung und feministische theoretische Reflexionen, wenn doch das Gesagte prinzipiell für alle gilt und die sog. bürgerliche Revolution am Höhepunkt der Aufklärung auch relativ erfolgreich dafür gekämpft zu haben scheint? Weil es eben nicht so klar ist, wie es scheint. So kommt an dieser Stelle neben der positiven Freiheit von und der negativen Freiheit zu eine dritte Relation von Freiheit ins Spiel: Freiheit für wen (eigentlich)?19 Hier ließe sich nun einiges über ungleiche Chancen, über naturalistische Begründungsfiguren, die auf einer wie auch immer definierten Geschlechterdifferenz beruhen, über das Zusammenspiel von Wissenschaft und Ungleichheitslegitimation etc. wiederholen – dazu gibt es seit den 1970ger Jahren viel Literatur, die die faktische Asymmetrie nachweist und vielfältig zu erklären sucht.20 Dennoch darf die Frage nochmals gestellt werden, warum der Liberalismus und die mit ihm verbundene Theoriebildung nach Kant, die m.E. auch in einem positiven Sinne damit zu tun haben, dass es einen Feminismus gibt, weil seine Zielsetzung gewissermaßen intrinsisch notwendig aus den Versprechen des Liberalismus bzw. der Aufklärung hervorgegangen ist, nicht für alle hält, was er versprochen hat? Obwohl also der Liberalismus dafür steht, im Freiheitsbegriff die prinzipiell allen Menschen zukommende Denkfähigkeit, die Begründung und die Formierung der gesellschaftlichen Ordnung koinzidieren zu lassen, scheint auf dem Weg von ____________________ 18 19 20

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 761 / B 789 – Hervorh. im Orig. Dazu auch der Beitrag von Harald Bluhm in diesem Band. Zuweilen wird dort auch das gesamte liberale Denken für die Asymmetrien mitverantwortlich gemacht und daher verworfen. Dem würde ich mich nicht anschließen. Vgl. zur sehr divergierenden feministischen Kritik Butler/Scott, Feminists theorize; am Liberalismus Nussbaum, Konstruktionen, S. 15-89; an seinen universellen Grundlagen Benhabib, Selbst, S. 33-76 sowie S. 221-256.

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der theoretischen Idee zum faktisch Anzutreffenden etwas verloren gegangen zu sein bzw. nicht funktioniert zu haben. Mit Spivak gefragt: „What went wrong with the best of Enlightenment?“21 Was lässt sich antworten? 3.

Kritisches Zwischenspiel: „What went wrong with the best of Enlightenment?“

Eine erste, eventuell ziemlich simpel anmutende, aber dennoch naheliegende Antwort lautet: Bei aller Ungeduld gilt es zur Kenntnis zu nehmen, dass Veränderungen Zeit brauchen – insbesondere, wenn es sich um Veränderungen der „Denkungsart“ handelt.22 Angesichts von zweieinhalbtausend Jahren aristotelisch-christlichem Hierarchisierungsdenken, macht der Zeitraum, der seit dem Höhepunkt der Aufklärung vergangen ist, gerade mal ein Zehntel aus. Wenn also der politische Feminismus westlicher Spielart erst auf dem Boden liberaler Ideen (für uns) denk- und realisierbar geworden ist, dauert die Überwindung eingefahrener Denkmuster und Praxen, weil tiefgreifende Veränderungen Zeit brauchen. Sämtliche therapeutische Bemühungen, denen es um Denk- und Verhaltensänderungen geht, zeigen, dass vieles, was als fehlerhaft erkannt wird, nicht ohne Verzögerung verändert wird oder verändert werden kann.23 Zudem reicht die bloße Einsicht nicht – das muss eingeübt, auch in einer neuen Haltung zum Ausdruck gebracht, praktisch werden. Gesellschaftliche Strukturen und Normen existieren nicht jenseits der Menschen, die sie leben, sondern ausschließlich in deren Verhaltensmustern und in den durch sie geschaffenen Institutionen.24 ____________________ 21 22

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Spivak, What is Enlightenment?, S. 198. Foucault (Schriften, Bd. IV, S. 841ff.) weist darauf hin, dass nach Kant – in Der Streit der Fakultäten (1798) – die Revolution erst dann stattgefunden hat, wenn sich die „Denkungsart der Zuschauer“ (Kant, Streit der Fakultäten, S. 85) verändert hat, und nicht dann, wenn die Barrikaden brennen. Vgl. etwa die Unterscheidung zwischen schnellem und langsamem Denken, die der Verhaltensökonom Daniel Kahnemann im gleichnamigen Buch macht. Das lehren uns Sozialphilosophen wie etwa Bourdieu mit seinem Habituskonzept (bspw. Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 97-121), aber auch Butler: „Subjekte werden durch Normen konstituiert, die in ihrer wiederholten Anwendungen die Bedingungen erzeugen und verschieben, unter welchen die Subjekte anerkannt werden. Diese normativen Bedingungen der Hervorbringung des Subjekts erzeugen eine geschichtliche Ontologie, sodass bereits unsere Fähigkeit zur Erkenntnis und Benennung des ‚Seins‘ des Subjekts von Normen abhängt, die diese Erkennung erst ermöglichen“ (Butler, Raster, S. 11f.).

Feminismus – eine regulative Idee

Daher stellt sich die Überwindung der Asymmetrie mit Sicherheit nicht von selbst ein – die Option, sich hier getrost zurückzulehnen und abzuwarten, ist nicht aussichtsreich. In dieser Hinsicht ist es aber vielleicht kein Wunder, dass wir strukturell und denkend insgesamt noch nicht da angekommen sind, wo Ausnahmedenkerinnen und -denker wie John Stuart Mill und Harriet Taylor Mill und andere vor ihnen schon waren – übrigens ja auch Platon, der in der Politeia (noch) keinerlei Problem mit Frauen im Wächterstand hatte,25 während sie im Timaios, also in der Naturphilosophie des platonischen Spätwerks, nicht mehr gut wegkommen.26 So ist dem Germanisten Hans Mayer zuzustimmen, wenn er diagnostiziert: „dass die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist. Dem wird kaum widersprochen werden, wenn man der Gleichheitspostulate gedenkt. Formale Gleichheit vor dem Gesetz ist nicht mit der materialen Egalität einer gleichen Lebenschance zu verwechseln“.27

Zu den „Außenseitern“ seit der bürgerlichen Aufklärung zählt Mayer Frauen, Homosexuelle und Juden. Ich würde dem ‚Scheitern‘ vorsichtig optimistisch ein ‚noch‘ voranstellen, denn es hat sich einiges verändert. So wäre es bis vor gut einhundert Jahren einer Wissenschaftlerin hierzulande nicht erlaubt gewesen, in der Universität zu studieren oder gar zu sprechen. Aber dennoch haben Frauen immer noch keine egalitären Lebensgestaltungschancen, und es ist unbestritten, dass der Feminismus deshalb weiterhin die Überwindung dieser Asymmetrie verfolgen muss – obwohl auch ____________________ 25

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Nachdem Sokrates im Gespräch mit Glaukon festgestellt hat, dass Frauen ebenso Wächter sein müssen wie ihre Männer, fährt er fort: „Also, o Freund, gibt es gar kein Geschäft von allen, durch die der Staat besteht, welches dem Weib oder dem Manne als Mann angehörte, sondern die natürlichen Anlagen sind auf ähnliche Weise bei beiden verteilt, und an allen Geschäften kann das Weib teilnehmen ihrer Natur nach, wie der Mann an allen; […] so haben also Mann und Weib dieselbe Natur, vermöge deren sie geschickt sind zur Staatshut, außer inwiefern die eine [körperlich] schwächer ist, die andere stärker (Platon, Politeia, Buch V, 455d-456a). „Wer aber die ihm zukommende Zeit […] verfehle, […] werde […] bei seiner zweiten Geburt in die Natur des Weibes übergehen. Lasse er jedoch dann von seiner Schlechtigkeit noch nicht ab, dann werde er, der Verschlechterung seiner Sinnesart gemäß […] stets die ähnlich beschaffene tierische Natur annehmen“ (ders., Timaios, 42b). Am Ende des Dialogs heißt es dann: „Unter den als Männern Geborenen gingen die Feiglinge, und die während ihres Lebens Unrecht übten, der Wahrscheinlichkeit nach, bei ihrer zweiten Geburt in Frauen über“ (ebd., 90e). Mayer, Außenseiter, S. 9.

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darüber bis heute kein common sense besteht.28 Dennoch: Auch wenn sich bereits einiges im Sinne des Feminismus verändert hat, beispielsweise in der deutschen Gesetzgebung,29 kann faktisch nicht die Rede davon sein, dass die Ziele des Feminismus erreicht wären. Das gilt gleichermaßen für alle anderen, auch neue ‚Außenseiter‘. Da es also die Zeit allein nicht richtet, stellt sich erneut Spivaks Frage, was falsch gelaufen ist mit der Aufklärung, und auf welche Weise die Überwindung der Asymmetrien aus theoretischer Perspektive vorangetrieben werden kann. An der Antwort auf die zweite Frage scheiden sich die Geister innerhalb der feministischen Theorie. Diese Differenz ist zum einen tatsächlich der ausdifferenzierten Arbeitsteilung in den Wissenschaften geschuldet.30 Zum anderen gibt es innerhalb der Gruppe derer, die sich als feministisch orientierte Philosophinnen und Philosophen bezeichnen würden, unterschiedliche Auffassungen darüber, auf welchen Ebenen die Asymmetrie entsteht bzw. wodurch sie auch bedingt ist. Holzschnittartig betrachtet gibt es diejenigen, die bei Kant, Habermas oder Aristoteles die ____________________ 28

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Das zeigt sich derzeit an einigen roll back-Phänomenen in Europa, den USA und der Türkei. Hier vermischt sich das ‚noch nicht‘ (z.B. Lohngleichheit) mit einem erstarkendem ‚nicht mehr‘ (z.B. das Recht darauf, religiöse Symbole in der Öffentlichkeit zu tragen). Um ein paar Beispiele zu nennen: Bis 1958 konnten Ehemänner das Dienstverhältnis ihrer Frauen fristlos kündigen; bis 1977 mussten Frauen – laut BGB – ihre Männer um Erlaubnis fragen, wenn sie einem Beruf nachgehen wollten. Das Schließen eines Ehevertrages zwischen beliebigen Menschen, d.h. gleich welchen Geschlechts, ist rechtlich seit 2017 möglich. Für ‚behinderte‘ Menschen bzw. als solche diagnostizierte Embryos gelten nach wie vor andere Schutzrechte. Die Ausübung der Religionsfreiheit als öffentliches Bekenntnis anhand von Kleidung wird derzeit in Europa rechtlich beschränkt. Philosophische Analysen unterscheiden sich bspw. von den feministisch orientierten Analysen der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, weil die kritischen Reflexionen den Denkmustern und ihrer Verwendung gelten. Also, wenn man so will, den Logoi, die die Ordnung des gesellschaftlichen Status quo bzw. seine manifest gewordenen Strukturen immer auch legitimieren, weil sie sie begründen und damit aufrechterhalten. Keinesfalls werden deshalb sozialwissenschaftliche Analysen abgewertet oder gar obsolet. Während die einen den – zu überwindenden – Status quo, mit Hegel und anderen gesagt ‚das Gewordene‘ oder ‚Realisierte‘ in den Blick nehmen, fragen die anderen nach den grundlegenden Ordnungsmustern, die auch – nicht nur – teilweise eben daran beteiligt sind, den asymmetrischen Status quo zu erhalten. Beide Arten von Analysen leisten Aufklärungsarbeit, aber auf unterschiedlichen Ebenen – das fordert die Komplexität der Zusammenhänge von feministischen Analysen.

Feminismus – eine regulative Idee

philosophische Aufklärungs- und Theoriearbeit geleistet sehen und versuchen, deren Ergebnisse vielleicht ein wenig modifiziert normativ umzusetzen. Hier ließe sich beispielhaft der capability-Ansatz von Martha Nussbaum und Amartya Sen im Anschluss an Aristoteles anführen, aber auch Seyla Benhabib, die an (vermeintlich) unumgehbaren Grundlagen liberaler politischer Theorie und damit auch emanzipatorischer Bewegungen, wie etwa den Anspruch auf Universalität oder etwa einer bestimmten Auffassung des Subjekts festhält.31 Dem gegenüber sehen etwa Butler und Spivak in der Tradition Ador-nos, Arendts und im Anschluss an Foucault und Derrida nach wie vor Aufklärungsbedarf – und zwar auch und gerade bezüglich moderner Grundüberzeugungen, -begriffe und Legitimationsmuster.32 Deshalb werden sie nicht müde, immer wieder die Weisen, in der sich das Denken bislang formiert hat, also die zugrundeliegenden Denkmuster, Kategorien, Reflexionsformen, die grundlegenden material bestimmten Werte und Normen bzw. normativen Ansprüche in Frage zu stellen, um u.a. nach deren ausschließender Funktion bzw. ihren ausschließenden Effekten zu fragen. Um also ganz kantisch zu fragen, inwiefern das Denken und unsere Auffassungen Teil des Problems und nicht der Lösung sind. Das bedeutet, die Formen und Muster, in denen sich das Denken, gesellschaftliche Strukturen und Institutionen auch und gerade seit der Aufklärung realisiert haben, auf den Prüfstand zu stellen. Und es bedeutet auch zu prüfen, ob Freiheit in ihrer aktuellen Formierung tatsächlich leistet, was sie begründend und orientierend vorgibt zu leisten. Dabei geht es darum, übernommene Denkmuster und Ideale ggf. kritisieren, überwinden, verschieben zu können, falls sie sich als Asymmetrie- bzw. Hierarchieunterstützer oder gar -generierer erweisen. In diesem Sinne lässt sich hinsichtlich der Zwecke, denen philosophische Analysen dienen, folgende Differenz ausmachen: Die einen suchen normativ nach Letztbegründungen bzw. glauben diese bereits sicher zu kennen, weil sie davon ausgehen, dass ohne unbezweifelbare inhaltlich bestimmte Grundlagen, auf die sich der Feminismus insgesamt und die feministische Theorie im Besonderen zu beziehen hat, die Überwindung der faktischen Asymmetrie unmöglich ist. Die anderen decken im Sinne Kants gleichsam deskriptiv auf und legen die konstitutive Gestaltungsmacht ____________________ 31 32

Zum Begriff des Universalismus vgl. etwa Benhabib, Selbst. Zur Verteidigung des Subjektbegriffs vgl. Benhabibs Beiträge in Benhabib et al., Streit. Vgl. hierzu Schönwälder-Kuntze, Haben philosophische Methoden politisches Gewicht?, sowie dies., Antigones Verletzungen.

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der herrschenden Denkmuster offen, um sie zu verschieben.33 Die Verschiebung orientiert sich dabei an der Möglichkeit im Sinne freier Entfaltungschancen, Ausschlüsse zu minimieren, und damit die Produktion von ‚Außenseitern‘ zu verhindern. Der Streit um Differenz innerhalb der feministischen‘ Theorie dreht sich also um die angemessen Mittel zur Überwindung der Asymmetrien, nicht um die Zwecksetzung selbst.34 4.

Feminismus als regulative Idee

Kants Freiheitsbegriff habe – so wurde eingangs ausgeführt – u.a. die Theoriefunktion, die ontologische und die politische Ebene zu verbinden. Durch den ontologischen Status wird Allgemeinheit beansprucht, die einerseits der normativen Begründung der politischen Ordnung und andererseits zur Gestaltungsorientierung dient – sei es subjektiv oder allgemein. Sofern Freiheit zur Orientierung dient, gebrauchen wir diese Idee ‚regulativ‘, d.h. als perspektivischen Fluchtpunkt, an dem einerseits die Institutionen und Normen des Gemeinwesens und andererseits das eigene Verhalten immer wieder gemessen und beurteilt werden können. Wobei es sich, weil es Freiheit ist, um einen prinzipiell unerreichbaren bzw. nicht endgültig oder abschließend realisierbaren, immer wieder zu überschreitenden Punkt oder Zustand handeln muss. Alles andere wäre ein Widerspruch in sich selbst. Daher ist auch schon für Kant Freiheit in diesem Sinne ein prinzipiell offener Begriff, der ein unbestimmtes Darüberhinaus bezeichnet. So heißt es in der Kritik der reinen Vernunft in Bezug auf eine richtige Verfassung:

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Der Terminus Verschiebung bedeutet, sich der sozio-kulturell-historischen Konstitution und Verwobenheit des eigenen Denkens bewusst zu sein und nicht dem Glauben aufzusitzen, man könne es ohne Bezug auf das Gelernte gleichsam ex nihilo ganz neu gestalten. Vgl. Feustel, Kunst. Hier wäre Kants theoretische Antwort wohl eindeutig: Auch die als vernünftig angenommenen Denkprinzipien müssen immer wieder aufklärend geprüft und ggf. verworfen werden: „Man kann nur philosophieren lernen, d.i. das Talent der Vernunft in Befolgung ihrer allgemeinen Prinzipien an gewissen vorhandenen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 837 / B 866 – meine Hervorh., T.S.K). Erlauben wir uns das nicht, kommen wir dem genuinen Anspruch der Aufklärung nicht nach – und behindern die weitere Realisierung von Freiheit.

Feminismus – eine regulative Idee „Denn welches der höchste Grad sein mag, bei welchem die Menschheit stehenbleiben müsse, […] das kann und soll niemand bestimmen, eben darum, weil es Freiheit ist, welche jede angegebene Grenze übersteigen kann.“35

Vielleicht sollte noch schärfer formuliert werden: Weil Freiheit nicht anders kann als jede angegebene Grenze zu übersteigen– muss jede angegebene Grenze immer wieder auf den Prüfstand – und das heißt auch die Art und Weise, in der sich Freiheit realisiert oder etabliert hat und in der sie je gedacht bzw. konzeptualisiert wird. Wenn aber in der Mainstream-Philosophie oder in der politischen Theorie mit Freiheit nur eine einzige Art des Menschseins verbunden wird, der theoriebestimmende Status von Autonomie und Souveränität als Grundbegriffe des Politischen für unantastbar erklärt wird, dann hat das Denken selbst aufgehört, Freiheit zu realisieren. Auch hier gilt also, was schon für die Reflexion galt: dass Freiheit darin besteht, über das gewordene, inzwischen unmittelbare Denken hinauszugehen und es deshalb kritisieren und verändern zu können.36 Kant stellt sehr eindeutig klar, dass kein Zeitalter, wie er in der Aufklärungsschrift schreibt, sich erdreisten darf, für das Nachfolgende festzulegen, was und wie es zu denken hat.37 Es geht ihm also nicht darum, Ende ____________________ 35

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Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 316f./ B 373f. – meine Hervorh., T.S.K. Das Zitat findet sich in folgendem Kontext „Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann […] ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muss […]. Je übereinstimmender die Gesetzgebung und Regierung mit dieser Idee eingerichtet wären, desto seltener würden Strafen werden, und da ist es dann ganz vernünftig, (wie Plato behauptet), daß bei einer vollkommenen Anordnung derselben gar keine dergleichen nötig sein würden. Ob nun gleich das letztere niemals zustande kommen mag, so ist die Idee doch ganz richtig, welches dieses Maximum zum Urbilde aufstellt, um nach demselben die gesetzliche Verfassung der Menschen der möglichen größten Vollkommenheit immer näher zu bringen. Denn welches der höchste Grad sein mag, bei welchem die Menschheit stehenbleiben müsse, […] das kann und soll niemand bestimmen, eben darum, weil es Freiheit ist, welche jede angegebene Grenze übersteigen kann“ (Hervorh. im Orig.). Zum Zusammenhang von gewordenen Denkmustern, die sozial vermittelt gelernt und in das unmittelbare Denken übergehen vgl. Schönwälder-Kuntze, Partizipative Subjektivitäten. „Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine […] Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen und überhaupt in Aufklärung weiterzuschreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die

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des 18. Jahrhunderts die gesellschaftliche Ordnung ein für alle Mal festzulegen. Stattdessen seien immer wieder und unaufhörlich die eigenen Grundlagen, Denkmuster, Formierungen und Realisierungen in den Blick zu nehmen und daraufhin zu prüfen, ob sie halten, was ihre Begründung versprochen hat. In dieser reflexiven Dynamik steckt die Bedeutung der regulativ zu gebrauchenden Idee.38 Nimmt man diesen unablässigen Aufklärungsanspruch Kants ernst, bedeutet das, an der Überwindung der Asymmetrie bzw. der Realisierung gleichwertiger gesellschaftlicher Partizipationstickets dadurch mitzuwirken, dass immer wieder gefragt wird, ob insgesamt der Aufgabe, einen Beitrag zur Ermöglichung maximaler Freiheitsrealisation jeder Person unter den Bedingungen menschlicher Pluralität zu leisten, noch nachgekommen wird – auch und gerade in der philosophischen Theoriebildung, die sich normativen Zwecken verschrieben hat. In diesem Sinne muss man die post-moderne oder vielmehr die poststrukturalistische Kritik an der feministischen Theoriebildung verstehen – sei sie an die o.g. Ethikerinnen und Ethiker im weitesten Sinne, oder an die Differenzverfechterinnen39 gerichtet. So denkt Butler – im Anschluss an Hegel, Nietzsche, de Beauvoir, Foucault, Derrida u.a. – das menschliche Gewordensein in einer radikalen Offenheit an beiden Enden des Spektrums: d.h. in seiner unmittelbar übernehmenden, adaptiven Formierung als auch in seinem unaufhörlichen transformativen Werden. Deshalb überschreitet sie jede scheinbar gegebene Festlegung: sei es auf eine Geschlechterrolle,40 ____________________

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Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen“ (Kant, Was ist Aufklärung?, AA 8, S. 39). Im gleichen dynamischen wie offenen, „irreduktiblen“ Sinne verwendet Derrida den Begriff ‚Gerechtigkeit‘, die eine Erfahrung des Unmöglichen ist, weil sie nicht vorherbestimmbar ist – wobei er, obwohl „sie sich ziemlich ähnlich sind“ zögert, ihn tatsächlich eine regulative Idee zu nennen (Derrida, Gesetzeskraft, S. 52). Butler dekonstruiert vor allem in Das Unbehagen der Geschlechter den feministischen Diskurs, der sich auf eine essentielle Geschlechterdifferenz beruft, um u.a. die (falsche) Problemstellung, die entweder Gleichheit oder Differenz postuliert, zu überwinden; vgl. Butler, Unbehagen, S. 15-64. Im gleichen Sinne rekonstruiert Joan W. Scott in Only Paradoxes to Offer die Geschichte des französischen politischen Feminismus. Vgl. Butler, Undoing Gender, oder auch dies., Antigones Verlangen – dort geht es um Verwandtschaftsbeziehungen, die bestimmte Rollen auf bestimmte Geschlechter festlegen. Butler schlägt dagegen vor, Verwandtschaft auf Praxen zu gründen und sie so denjenigen Beziehungen zuzuschreiben, die diese Praxen ausführen.

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sei es auf Kategorien, die über die Zugehörigkeit zur Gesellschaft entscheiden,41 seien es die scheinbar unhinterfragbaren Grundlagen in der politischen Theorie.42 In Anlehnung an Lukács und Adorno ließe sich hier von ‚transzendentaler Obdachlosigkeit‘ sprechen, angesichts des „bacchantischen Taumels, an dem kein Glied nicht trunken ist“,43 wie Hegel das unaufhörliche Werden und Vergehen, das das Leben in all seinen Facetten, und das bedeutet von den Denkprinzipien bis zur Gesellschaftsformation, ausmacht, beschreibt. Positiv konnotiert bedeutet diese Obdachlosigkeit, die Augen nicht vor den permanent stattfindenden Veränderungen zu verschließen, um sie dort mitzugestalten, wo dies möglich ist. Aus diesem Grund können diejenigen Philosophinnen und Philosophen, die sich in einem ganz kantischen Sinne kritisch mit den etablierten präreflexiven wie reflexiven Denkformen bzw. -mustern und deren diskursiven Erscheinungsweisen auseinandersetzen, den Feminismus weder essentialistisch verstehen, noch auf apriorischen Grundlagen beruhen lassen und auch nicht nur auf Frauen beschränken. Sie müssen gleichermaßen andere ‚Außenseiter‘ miteinbeziehen. Feminismus bezeichnet in diesem Verständnis eine kritisch-philosophische Denkweise, der es darum geht, über kategoriale, begriffliche, diskursive, normative, situative Ausschlussmechanismen aufzuklären, die u.a. dazu führen, dass Individuen aufgrund scheinbarer Gruppenmerkmale aus den gesellschaftlichen Spielen ausgeschlossen bzw. nicht-egalitär behandelt werden. Das kann staatlicher oder nicht-staatlicherseits der Fall sein. So heißt es bei Mayer „Die Gleichheitsforderung mit der pathetischen Berufung auf alles, was Menschenantlitz trage, […] ist solange widerspruchsvoll, wenn nicht unaufgeklärt, wie sie von einer scheinbaren Regelmäßigkeit des Menschlichen auszugehen sucht. Dann bedeutet Egalität die Norm […]. Bestand Menschheit wahrhaftig nur aus egalitären Männern und Frauen, Rassen, geistigen, körperlichen und seelischen Komplexionen? Genauer: gehörten die Monstren aller Art zur Menschheit, so daß auch ihnen das Licht der Aufklärung leuchten durfte? An dieser Antinomie ist Aufklärung bis heute gescheitert. Sie versagt vor ihren Außenseitern.“44

Wenn sich ‚Freiheit‘ positiv nur als ein unaufhörliches Darüberhinaus bestimmen lässt, an dem wir gestaltend teilhaben können, dann lautet der Vorschlag, ein negatives Kriterium zu nehmen, an dem messbar wird, ob das ____________________ 41 42 43 44

Vgl. dies., Raster, S. 9-29. Vgl. Benhabib et al., Streit, und Butler, Universalität, sowie SchönwälderKuntze, Haben philosophische Methoden politisches Gewicht? Hegel, Phänomenologie, S. 46. Mayer, Außenseiter, S. 13.

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Gewordene leistet, was uns die Aufklärung versprochen hat. Dieses Kriterium bestünde im Grad an Ausschlüssen und dadurch erzeugtem Leid, die unsere Ordnung, unser Verhalten, unser Denken produziert. Ausschlüsse werden auf allen Ebenen generiert: Auf der Ebene der Kategorien, also der unmittelbaren Denk-Muster, in denen wir denkend die Welt ordnen; auf der Ebene der Reflexion, d.h. der Art und Weise, wie wir Schlüsse ziehen und damit auch zu wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen kommen; auf der Ebene der Ideale freier Selbstgestaltung und auf der Ebene der rechts-staatlichen normativen Beschränkungen, die idealiter der Ermöglichung pluraler Entwürfe dienen sollten. Die tiefergehende philosophische Frage muss daher lauter: Mit welchen Denkweisen und Begriffen werden politische Teilnahme und Teilhabe bzw. Ausschlüsse legitimiert?45 In diesem Sinne verfolgt die feministische Theorie in ihrer Praxis und Haltung die regulative Idee, durch unaufhörliche Reflexion auf das je Gewordene, dessen spezifische Ausschlussmechanismen aus der Latenz zu heben und überwindbar zu machen. Es wäre naiv anzunehmen, diese Arbeit käme je zu einem Ende – weil das Werden die Grenzen genauso setzt, wie es sie überwindet. Und weil institutionelle Verbote auch dazu dienen, individuelle Freiheit zu ermöglichen. Das gilt es immer wieder im Sinne und mit Blick auf Freiheit zu reflektieren und neu auszutarieren. Gleichermaßen gilt zu fragen, ob nicht von einer positiven Bestimmung des Menschen, die, wie Mayer es formuliert, „von einer scheinbaren Regelmäßigkeit des Menschlichen auszugehen sucht“, die folglich auch scheinbar nachgewiesen und festgeschrieben wird, ganz abzusehen ist. Ob es nicht zielführender wäre, von zuschreibenden Urteilen gänzlich abzusehen bzw. sich allgemeiner wie festschreibender Urteile häufiger zu enthalten; bestimmte abstrahierende Begriffsbildungsverfahren auf den Menschen einfach nicht anzuwenden; zu fragen, ob statistische Erkenntnisse irgendetwas ____________________ 45

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Aus einer philosophischen (Hegel und Nachfolger), aber auch systemtheoretischen Perspektive betrachtet, schließt jeder Begriff, jedes Prädikat aus, weil er sich durch die Unterscheidung von anderem konstituiert. Mit Niklas Luhmann gilt es, über die (kontingent) zugrunde gelegten Leitunterscheidungen aufzuklären; mit Derrida oder Butler geht es nicht nur darum zu zeigen, dass es sich hierbei um konstitutive Ausschlüsse handelt, sondern dass zudem die begriffliche Definition nur scheinbar leistet, was sie verspricht: ihren Gegenstand festzuschreiben. Übertragen auf das Thema des vorliegenden Beitrages heißt das, dass Feminismus im Sinne der letztgenannten eine Aufforderung darstellt, über festschreibende Legitimationsgrundlagen und -muster – auch und gerade des Liberalismus – unaufhörlich weiter nachzudenken.

Feminismus – eine regulative Idee

mit der Realität der Einzelnen zu tun haben und ob all das begründende und folglich handlungsleitende Funktionen haben sollte.46 Auf dieser Ebene klagt der als regulative Idee verstandene Feminismus die Reformierung Ausschlüsse produzierender Kategorien und Denkmuster ein, die zu falschen Zuschreibungen, zu folgenreichen Urteilen und gesellschaftlichen Deplatzierungen führen. Auf der Ebene der philosophischen Reflexionen und Theoriebildungen ist es das gleiche: Welche Denk-Muster leiten unsere Argumentationen und Schlüsse? Was folgt aus der Festlegung auf bestimmte Begriffe, wie etwa den modernen Subjektbegriff, oder Autonomie, die falsch verstanden gänzliche Unabhängigkeit und Souveränität implizieren? Was bedeutet ein Verantwortungsbegriff, der die vollständige Verfügbarkeit über Handlungsgründe und eine ebenso vollständige Bestimmungsfähigkeit behauptet? Oder die Auffassung von universellen rationalen, begründenden Diskursformen, in denen es zu denken gilt, weil man sonst als Gesprächspartner nicht ernst genommen wird? Welche Ausschlüsse also provozieren, produzieren und reproduzieren philosophische Reflexionen, indem sie nur bestimmte Begründungen liefern und anerkennen? Indem sie überhaupt Begründungen fordern, die nicht nur Möglichkeitsräume eröffnen, sondern zwingend bestimmte Ereignisse herbeizuführen sehnen, wie es etwa das Paradigma vom hinreichenden Grund immer noch suggeriert? Bei Kant heißt das, den „transzendentalen Schein“, also die Aporien, in die sich das vernünftige Denken verstrickt, deutlich zu machen. Im aktuellen Kontext heißt das, nicht aufzuhören, immer wieder im Sinne der die angegebenen Grenzen überschreitenden Freiheit die kritische Reflexion anzumahnen – denn die „politischen Ziele des Feminismus sind nicht […] überholt, weil die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht durchschaut ist. [(…) Vielmehr] sucht der dekonstruktive Feminismus die Naturalisierung der symbolischen Ordnung zu zersetzen und die in der symbolischen Ordnung verdrängte Differenz zurück ins Spiel zu bringen“.47

Das gilt gleichermaßen für die Vorschläge zur Gestaltung der politischen Ordnung wie auch in Bezug auf die scheinbar idealen Formen subjektiver ____________________ 46

47

Die Liste der Denkmuster, die derzeit unsere Welt gestalten und immer auch ausschließende Effekte erzeugen, ließe sich freilich unendlich erweitern, so wie das etwa die erste Generation der Kritischen Theorie noch im Sinn hatte; vgl. Max Horkheimers Initialaufsatz Traditionelle und kritische Theorie sowie die Einleitung in der Dialektik der Aufklärung, wo etwa das, was Derrida ‚Tauschökonomie‘ (z.B. in Den Tod geben) nennt, als grundsätzliches theoriebildendes Denkmuster entlarvt wird. Vinken, Feministische Literaturwissenschaft, S. 26.

333

Tatjana Schönwälder-Kuntze

Lebensentwürfe. – Gibt es aus dieser Perspektive ein Spannungsfeld zwischen Freiheit und Feminismus? – Ich meine nicht, wenn man der unbestimmbaren, unaufhörlich überschreitenden Freiheit zur Beurteilung des Gewordenen das negative Kriterium ausschließender Effekte zur Seite stellt, an der sich die gestaltende Überschreitung in vermeidender Absicht und bei aller Offenheit für das unendlich Plurale zu orientieren hat. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, 1988 [1944]. Benhabib, Seyla: Selbst im Kontext, 1995 [1992]. Dies. et al.: Der Streit um Differenz – Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, 1993. Berlin, Isaiah: Liberty, 2002. Ders.: Four Essays on Liberty, 1969. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn – Kritik der theoretischen Vernunft, 1993 [1980]. Bratu, Christine/Dittmeyer, Moritz: Theorien des Liberalismus zur Einführung, 2017. Brown, Wendy: Die schleichende Revolution – Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, 2015. Butler, Judith: Raster des Krieges – Warum wir nicht jedes Leid beklagen 2010 [2009]. Dies.: Die Macht der Geschlechternormen 2009 [2004]. Dies.: Antigones Verlangen – Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, 1997 [2000]. Dies.: Das Unbehagen der Geschlechter 1991 [1990]. Dies./Scott, Joan W. (Hrsg.): Feminists theorize the Political, 1992. Dies. et al.: Universalität, Kontingenz, Hegemony, 2013 [2000]. Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft, 2015 [1997]. Ders.: Den Tod geben. In: Haverkamp, Anselm (Hrsg.): Gewalt und Gerechtigkeit – Benjamin – Derrida, 1992, S. 331-445. Ders.: Gesetzeskraft – Der „mystische“ Grund der Autorität, 1991 [1990]. Dhawan, Nikita: Die Aufklärung retten – Postkoloniale Interventionen, Zeitschrift für Politische Theorie 7/2, S. 245-251. Feustel, Robert: Die Kunst des Verschiebens, 2015. Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung – Studien zur Gouvernementalität I, 2006 [1977/78]. Ders.: Die Geburt der Biopolitik – Studien zur Gouvernementalität II, 2006 [1978/79]. Ders.: Was ist Aufklärung? In: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits – Band IV. 1980-1988, 2005, S. 847-848 [1984].

334

Feminismus – eine regulative Idee Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1989. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Phänomenologie des Geistes, 1986 [1807]. Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4 – Schriften 1936-1941, 1988, S. 162-226 [1937]. Kant, Immanuel: Der Streit der Fakultäten, 1798 (zitiert nach der Akademieausgabe 1901ff., Bd. 7, S. 5-116). Ders.: Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797 (zitiert nach der Akademieausgabe 1901ff., Bd. 6, S. 205-372). Ders.: Zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784 (zitiert nach der Akademieausgabe 1901ff., Bd. 8, S. 35-42). Ders.: Kritik der reinen Vernunft, 1781/1787. Kahnemann, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, 2012 [2011]. Mayer, Hans: Außenseiter, 2007 [1970]. Nagl-Docecal, Herta: Feministische Philosophie – Ereignisse, Probleme, Perspektiven, 2000. Nussbaum, Martha: Konstruktionen der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge, 2002 [1999]. Dies.: Women and Human Development – The Capabilities Approach, 2000. Offen, Karen: Sur l’origine des mots „féminisme“ et „féministe“, Revue d’histoire moderne et contemporaine 34/3, 1987, S. 492-496. Platon: Politeia. Sämtliche Werke Band 2. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher, 1994 (zitiert nach der Stephanus-Nummerierung). Ders.: Timaios. Sämtliche Werke Band V. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher und Hieronymos Müller, 1989 (zitiert nach der Stephanus-Nummerierung). Schönwälder-Kuntze, Tatjana: Haben philosophische Methoden politisches Gewicht? In: Posselt, Gerald et al. (Hrsg.): Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren, 2018, S. 23-43 (i.E.). Dies.: Partizipative Subjektivitäten – Sartre mit Butler quergelesen. In: Betschart, Alfred (Hrsg.): Demokratie in der Krise – Die politische Philosophie des Existentialismus heute, 2017, S. 45-61. Dies.: Antigones Verletzungen. In: Nassehi, Armin/Felixberger, Peter (Hrsg.): Kursbuch 192. Frauen II, 2017, 46-61. Scott, Joan W.: Only Paradoxes to Offer, 1996. Shklar, Judith N.: Der Liberalismus der Furcht, 2013 [1989]. Spivak Gayatri C.: What is Enlightenment? In: Gallop, Jane (Hrsg.): Polemic – Critical or Uncritical, 2004, S. 179-200. Vinken, Barbara (Hrsg.): Dekonstruktiver Feminismus – Literaturwissenschaft in Amerika, 1992.

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„Der Mensch ist Herr, nicht Eigentümer seiner selbst“. Kants Kritik des Selbsteigentumsgedankens Michael Schefczyk

1.

Einleitung

Der Gedanke, dass Menschen „Eigentum an ihrer eigenen Person“ haben, dass sie Selbsteigentümer sind, hat eine lange und bedeutende Geschichte in der Philosophie. Ihr Beginn wird zumeist mit John Lockes Zweiter Abhandlung über die Regierung datiert. Im berühmten fünften Kapitel dieser Schrift baut Locke seine Theorie des Erwerbs gegenständlichen Eigentums auf den Gedanken des Selbsteigentums auf. Wir erwerben Eigentum an einer Sache, indem wir sie mit etwas, was uns gehört, mit unserer Arbeit, vermischen.1 Auseinandersetzungen über den Gehalt und normativen Status des Selbsteigentumsgedankens – insbesondere seine Rolle für die Begründung der Eigentumsordnung – haben in den letzten Dekaden eine kaum zu überschätzende Rolle in der Politik- und Sozialphilosophie gespielt. Die großen Debatten zwischen Liberalen und Kommunitaristen sowie zwischen Libertären und Egalitaristen standen auch und vor allem in seinem Zeichen.2 Die Bedeutung des Gedankens ist aber nicht auf die Politik- und Sozialphilosophie beschränkt. In den vergangenen Jahren ist Selbsteigentum ein wichtiger Begriff an der Schnittstelle von Bioethik, Anthropologie und Rechtsphilosophie geworden. Dies hat insbesondere mit der Entwicklung der Bio- und Medizintechnologie zu tun, die neue Formen der Verfügung über den menschlichen Körper ermöglicht und uns so mit der Frage konfrontiert, was Menschen mit ihrem Körper tun dürfen und was sie zu unterlassen haben. Eine einflussreiche Strömung in diesem Debattenfeld interpretiert den Gedanken des Selbsteigentums im Lichte des Mill’schen Freiheitsprinzips: Selbsteigentümer, Selbsteigentümerin zu sein bedeutet, mit seinem Leben ____________________ 1 2

Locke, Two Treatise of Government, §§ 27ff.; zu den Schwierigkeiten dieser Theorie siehe insbesondere Waldron, The Right to Private Property, S. 137-252. Siehe Forst, Kontexte der Gerechtigkeit.

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Michael Schefczyk

alles anstellen zu dürfen, was anderen nicht schadet. Sofern kommerzielle Leihmutterschaft oder Organhandel als Transaktionen zwischen ‚consenting adults’ zustande kommen, handelt es sich um moralisch erlaubte Verfügungen über den eigenen Körper.3 Jedoch steht diese Beurteilungsweise in beträchtlicher Spannung zur Rechtssituation in den meisten Ländern.4 Der Wunsch, am Gedanken des Selbsteigentums festzuhalten, ihn aber restriktiver zu interpretieren und insbesondere die Möglichkeit des Verkaufs von Körperteilen auszuschließen, ist ein wichtiger Faktor für ein neuerlich erwachtes Interesse an Kant.5 Denn nicht nur hat sich Kant ungewöhnlich ausführlich zu Fragen des Körpereigentums geäußert; er hat auch eine dezidiert kommerzialisierungs- und (wenn man möchte) verdinglichungskritische Haltung eingenommen. Er bietet sich insofern als eine attraktive Theoriealternative innerhalb der liberalen Tradition an. In den oberflächlicheren Inanspruchnahmen wird dabei übersehen oder zumindest nicht thematisiert, dass Kant sich nicht nur gegen den Organhandel, sondern auch gegen die Organspende ausspricht; und dass er den Gedanken des Selbsteigentums nicht nur restringieren wollte, sondern gänzlich zurückweist. Exegetisch sorgfältigere Arbeiten nehmen daher entweder – wie Nicole Gerrand –6 in Kauf, dass aus kantischer Sicht die Entäußerung von Körperteilen grundsätzlich abzulehnen ist - dies nenne ich die rigoristische Lesart; oder sie legen – wie Jean-Christophe Merle, Ronald Green oder Robert Taylor –7 dar, dass sich aus Kants systematischen Grundannahmen weder eine Ablehnung des Selbsteigentums noch ein Verbot der Organspende zwingend ergibt – dies nenne ich die gemäßigte Lesart. Ich möchte im Folgenden beiden Arten, an Kant anzuschließen, entgegentreten. Die rigoristische Lesart trifft zwar Kants Aussagen zum Thema Körpereigentum richtig. Doch verkennt sie, dass diese Aussagen mit Kants ____________________ 3 4

5 6 7

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Siehe Arneson, Commodification and Commercial Surrogacy, O’Neill, Between Consenting Adults. Eine Ausnahme von dem verbreiteten Verbot des Organhandels findet sich im Iran, in dem 1988 ein regulierter Markt für Nierentransplantationen ermöglicht wurde. Zu den Erfahrungen: Ghods/Savaj, Iranian Model of Paid and Regulated Living. Radin, Contested Commodities; Dickenson, Property in the Body; Kerstein, Kantian Condemnation of Commerce in Organs, S. 148f. Gerrand, The Misuse of Kant. Merle, A Kantian Argument for a Duty to Donate One’s Own Organs; Green, What Does it Mean to Use Someone as ‚A Means Only’; Taylor, A Kantian Defense of Self-Ownership.

„Der Mensch ist Herr, nicht Eigentümer seiner selbst“

eigenem systematischen Ansatz nicht zu begründen sind. Philosophisch führt der Rigorismus daher nicht weiter. Die gemäßigte Lesart hat zwar Recht, dass Kants offizielle Argumente gegen das Selbsteigentum nicht zugkräftig sind. Doch übersieht sie, dass sich für Kants Ablehnung des Selbsteigentums als eines Rechtsinstituts gewichtige Gründe vortragen lassen. Die Formulierung des § 11 der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre, dass der Mensch Herr, aber nicht Eigentümer seiner selbst sei, enthält eine grundlegende und in der einschlägigen Debatte bislang unzureichend gewürdigte Einsicht. Die Erläuterung des systematischen Kontexts des in § 11 artikulierten Gedankens bildet das zentrale Anliegen der folgenden Ausführungen. Ich beginne mit einer Erörterung der Aussagen Kants zum Körpereigentum. Es wird sich zeigen, dass Kant im Rahmen seiner Vorannahmen Einschränkungen des Körpergebrauchs plausibel machen kann, nicht aber seine diesbezüglichen strikten Verbote, auf die sich die rigoristische Lesart beruft. Im dritten Abschnitt werde ich zwei Argumente Kants gegen den Gedanken des Selbsteigentums als unzureichend zurückweisen, um im vierten Abschnitt das von mir so genannte A-Fortiori-Argument zu rekonstruieren. Das A-Fortiori-Argument hat zum Ergebnis, dass der Selbsteigentumsgedanke in Verbindung mit einem plausiblen deontischen Prinzip (A-FortioriPrinzip) intuitiv inakzeptable Eingriffsrechte Dritter in die körperliche Integrität einer Person legitimiert. Dies verweist auf die Frage, welche Alternative zum Selbsteigentumsgedanken aus dem Kantischen Ansatz zu gewinnen ist. Der fünfte Abschnitt untersucht, was seine Theorie demokratischer Gesetzgebung für seine Konzeption moralisch erlaubter Verfügungen über den eigenen Körper bedeutet. In einer peremtorischen Rechtsordnung würden, Kants rechts- und moralphilosophischen Prinzipien folgend, Individuen nicht über Selbsteigentum verfügen, weil andere Personen aus dem Autonomieprinzip folgende rechtliche Ansprüche auf den eigenen Körper hätten. 2.

Kants Aussagen zum Körpereigentum

Die – neben der Vorlesung über Ethik – am häufigsten konsultierte Fundstelle zum Körpereigentum bei Kant ist § 6 der Tugendlehre, der von der Selbstentleibung handelt. Hier erklärt es Kant für unmoralisch, „sich eines integrierenden Teils als Organs“ zu berauben und spricht in diesem Zusammenhang vom „partialen Selbstmord“. Die Beispiele, die Kant anführt, 339

Michael Schefczyk

leuchten jedoch nicht unmittelbar als solche ein. So spricht er davon, „z.B. einen Zahn zu verschenken, oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines Andern zu pflanzen, oder die Kastration vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können.“ In demselben Absatz qualifiziert er den Verkauf von Haaren zwar nicht als partialen Selbstmord, nennt ihn aber „nicht ganz schuldfrei“.8 Fragen wir zunächst, was Kant in § 6 zur Begründung des Selbstentleibungsverbots vorträgt. Der springende Punkt lautet, das Subjekt der Sittlichkeit könne nicht befugt sein, sich selbst zu vernichten. Der Selbstmord ist entsprechend nicht deshalb moralisch verboten, weil dem Körper ein intrinsischer Wert zukäme; er ist es deshalb, weil und insofern er für den Menschen notwendig ist, um als Subjekt von Sittlichkeit zu existieren. Dies deckt sich mit der Aussage der Vorlesung über Ethik, dass der Mensch völlig frei über seinen Körper verfügen dürfte, wenn er nur zufälligerweise zu seiner Existenz als eines moralischen Subjekts gehören würde. Könnten wir, schreibt Kant, „den Körper ablegen“ und „aus (ihm, MS) uns ausschlüpfen“, um in einen „anderen einzugehen“,9 so wären wir zur Selbstentleibung befugt. Nun sind sicherlich Entäußerungen von Teilen des Körpers denkbar, durch die sich ein Mensch als Subjekt von Sittlichkeit partial oder sogar gänzlich zerstört. Wenn jemand, um ein Beispiel Kants aus der Vorlesung über Ethik zu verschärfen, seine beiden Arme für 10.000 Reichstaler verkaufte, so wäre damit zweifellos seine Handlungsfähigkeit, sein Vermögen moralische Verbindlichkeiten einzugehen und zu erfüllen und somit auch sein Status als Subjekt von Sittlichkeit teilweise vernichtet. In noch höherem Maße gälte dies, wenn jemand sich Hirnareale zerstören ließe, die für das moralische Deliberieren und Handeln notwendig sind. Für den Fall des verschenkten Zahns, der verkauften Haare oder der Kastration sind solche Überlegungen jedoch nicht einschlägig. Es ist daher zu fragen, ob sich zur Rechtfertigung der von Kant gegebenen Beispiele für einen verbotenen Umgang mit dem Körper andere Argumente aus seinen Texten gewinnen lassen. Betrachten wir das von Kant aufgebrachte Kastratenbeispiel und sehen davon ab, dass die Kastration gefährlich war, an Kindern und keineswegs freiwillig vorgenommen wurde und zudem nur in seltenen Ausnahmefällen ein – wie Kant schreibt – „bequemes ____________________ 8 9

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Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 555. Kant, Eine Vorlesung über Ethik, S. 160.

„Der Mensch ist Herr, nicht Eigentümer seiner selbst“

Leben“ zur Folge hatte;10 zu untersuchen ist lediglich die moralische Möglichkeit der Maxime: ‚Ich will mich meines Fortpflanzungsvermögens berauben, um ein angenehmes Leben führen zu können!‘ Eine solche Maxime besteht den Verallgemeinerungstest nicht: Das Leben eines Kastraten wäre nicht bequem, wenn alle ein bequemes KastratenLeben führen wollten. Die Verallgemeinerung der Maxime höbe die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit auf. Das Problem einer solchen Überprüfung ist freilich, dass die Anwendung des Kategorischen Imperativs auf die Wahl einer bestimmten Position innerhalb eines differenzierten Systems der Arbeitsteilung durchgängig das Verbot beruflicher Spezialisierung zum Ergebnis hat.11 Wenn man also argumentieren wollte, die besagte Maxime des prospektiven Kastraten sei nicht universalisierbar und daher moralisch verboten, dann müsste man in Kauf nehmen, dass dies für alle Spezialisierungen gälte und nur das Leben in Subsistenzwirtschaft moralisch erlaubt wäre. Mir scheint dies wenig überzeugend zu sein, und ich gehe entsprechend davon aus, dass Vertreterinnen und Vertreter der rigoristischen Lesart auf diesem Wege nicht zeigen können, worin der moralische Fehler im Kastratenfall besteht. Nun könnte man erwägen, ob der Kastrat womöglich gegen das von Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten begründete Verbot verstoße, der eigenen Vervollkommnung entgegenzuwirken. Eine Maxime, die zum Inhalt hat, die eigenen Vermögen nicht zu entwickeln oder gar zu zerstören, kann nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden und ist daher unmoralisch.12 Obwohl die Maxime des Kastraten letztlich auf ein angenehmes Leben ausgerichtet ist, ist das Mittel hierzu die Ausbildung eines hoch entwickelten Vermögens.13 Da das Gebot der Selbstkultivierung von weiter Verbindlichkeit ist und nach Art und Ausmaß unbestimmt, schreibt kein Vernunftprinzip vor, wie ihre Erfüllung im Detail auszugestalten ist. Den Fortpflanzungszweck aufzuopfern, um sangliche Vollkommenheit zu entwickeln, scheint somit nicht pflichtwidrig. Denn wenn es den Menschen in gewissen ____________________ 10 11 12 13

Drexler, Die kastrierten Sänger. Siehe hierzu Parfit, On What Matters, S. 276-300; ein Lösungsversuch des Problems findet sich bei Henning, Kants Ethik, S. 118-126. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 53f.; Timmermann, Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals, S. 83ff. „Auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit feierte Farinelli in London Triumphe. Eine begeisterte Zuhörerin fasst nach einer Vorstellung den allgemeinen Gefühlszustand folgendermaßen zusammen: ‚One God. One Farinelli“ (Drexler, Die kastrierten Sänger, S. 354).

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Michael Schefczyk

Grenzen erlaubt ist, selbst zu bestimmen, welche Vermögen sie perfektionieren, so muss es ihnen auch erlaubt sein, die Verfolgung bestimmter Zwecke zu opfern. Denn weil Kräfte, Ressourcen und Lebenszeit knapp sind, hat jede Entscheidung, wie die Ökonomen sagen, Opportunitätskosten. Die Entwicklung eines Vermögens hat die Nicht-Entwicklung anderer Vermögen notwendigerweise zur Folge. Ein weiteres Rettungsmanöver der rigoristischen Lesart könnte in der Behauptung bestehen, dass die irreversible Zerstörung eines physischen Vermögens pflichtwidrig wäre, weil – wie es in der Tugendlehre heißt – zur Vervollkommnung gehörte, „sich das Vermögen zu[r] Ausführung allerlei mögliche[r] Zwecke“ zu erhalten. 14 Der Mensch wäre demnach kein Eigentümer seines Körpers, weil er ihn in seiner Ganzheit zu erhalten hätte, entsprechend der Maxime: „baue deine Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen können“.15 Der moralische Fehler desjenigen, der sich verstümmeln ließe, um ein bequemes Leben führen zu können, bestünde darin, dass er sich nicht als ein Subjekt aller möglicher Zwecksetzungen achtete. Das Problem dieses Rettungsmanövers besteht darin, dass es ein spezifisches Vollkommenheitsideal – das der zu „mehrerem“ fähigen Person – dogmatisch voraussetzt und nicht begründet. Ich schließe, dass auch dieser Versuch der rigoristischen Lesart, die Kastration als „partialen Selbstmord“ und somit als moralisch und rechtlich verboten zu klassifizieren, nicht zum Erfolg führt. Dieser Schluss ist aber nicht in dem Sinne zu verstehen, dass mit Kants Überlegungen zum Körpereigentum nichts anzufangen wäre. Hierin ist den Vertretern der gemäßigten Auslegung recht zu geben. Zwar ist das Kastratenbeispiel ungünstig gewählt, doch ist im Zuge der Analyse deutlich geworden, dass Kant – im Rahmen der Grundgedanken seines Ansatzes – zwei einschränkende Bedingungen für den Gebrauch des eigenen Körpers plausibel machen kann. Zum einen ist mit Kant zu prüfen, ob der Körpergebrauch den Status der Person als eines Subjekts von Sittlichkeit bedroht. Ich möchte dies die Selbsterhaltungsbedingung nennen. Zum anderen ist zu fragen, ob der Körpergebrauch einer Maxime folgt, die gegen das Verbot verstößt, der Selbstkultivierung entgegenzuwirken. Dies nenne ich die Perfektionierungsbedingung.

____________________ 14 15

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Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 522. Ebd., S. 523.

„Der Mensch ist Herr, nicht Eigentümer seiner selbst“

3.

Zwei Argumente gegen den Selbsteigentumsgedanken

Ich möchte nun zum zweiten Abschnitt und damit zur Untersuchung zweier Argumente gegen den Selbsteigentumsgedanken übergehen. Eines dieser Argumente ist im § 11 der Rechtslehre enthalten; das andere findet sich in der Vorlesung über Ethik. Das eine Argument möchte ich als Pflichtenargument bezeichnen, das andere als Kategorienfehlerargument. Ich beginne mit dem Kategorienfehlerargument, weil es von Kant unmittelbar auf die Frage des moralischen und rechtlichen Verhältnisses angewendet wird, in dem Menschen zu ihrem Körper stehen. Wendet man das Argument auf die Beispiele in § 6 der Tugendlehre an, so ergibt sich, dass man Körperteile nicht verschenken, beschädigen oder verkaufen dürfe. Denn man darf nur verschenken, beschädigen oder verkaufen, was einem selber gehört. Das Kategorienfehlerargument gegen den Gedanken vom Selbsteigentum lässt sich in folgender Weise zusammenfassen: (A) Kategorienfehlerargument (Eine Vorlesung über Ethik) 1. Etwas kann nicht zugleich Person und Sache sein. 2. Nur Sachen können Gegenstand von Eigentumsrechten sein. 3. Menschen sind Personen. 4. Also können sie keine Sachen sein. (wg. 1) 5. Folglich können Menschen kein Gegenstand von Eigentumsrech-ten sein. (wg. 2) 6. „Demnach kann der Mensch nicht über sich selbst disponieren. Er ist nicht befugt, einen Zahn oder ein anderes Glied von sich zu verkaufen.“16 Der Schwachpunkt dieser Argumentation liegt bei Prämisse (1), und es ist, denke ich, kein Zufall, dass Kant sie in der Rechtslehre und anderen Schriften nicht wieder aufgreift. Versteht man unter einer Sache einen Einzelgegenstand in Raum und Zeit, so sind Personen – als verkörperte Wesen – auch Sachen, wenn auch von besonderer Art. Die Verkörperung in Raum und Zeit, also das Sachesein, ist – wie Kant in der Vorlesung ja selbst betont – eine notwendige Bedingung des Personseins. Das Argument zeigt entsprechend nicht, dass Personen in keiner Weise Gegenstand von Eigentumsrechten zu sein vermögen. Unter Voraussetzung ____________________ 16

Kant, Eine Vorlesung über Ethik, S. 179.

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von Prämisse (2) legt es lediglich dar, dass Personen in ihren nicht-dinglichen Eigenschaften nicht jemandes Eigentum sein können. Es schließt aber nicht aus, dass Eigentumsrechte an den dinglichen Hinsichten des Personseins bestehen. Dieses Ergebnis ist für Kant nicht zuletzt deshalb unbefriedigend, weil es alle möglichen Formen der Ausbeutung des Körpers durch andere Personen zulässt. Mir scheint, dass Kant diesen Schwachpunkt später gesehen hat. Zwar heißt es beispielsweise auch in der Grundlegung, der Mensch sei keine Sache, doch ist dies im Zusammenhang der Zweckformel zu lesen, die verbietet, den Menschen bloß als Mittel und nicht immer auch als Zweck an sich selbst zu betrachten. Ein Mensch darf nicht behandelt werden, als wäre er nur eine disponible Sache, sondern muss immer auch in seinen nicht-dinglichen Hinsichten – als Subjekt von Sittlichkeit – geachtet werden. In der Rechtslehre trägt Kant denn auch ein anderes Argument gegen den Selbsteigentumsgedanken vor, das Pflichtenargument. Seine Begründung in § 11 stützt sich zum einen auf sein Verständnis von dem, was es bedeutet, ein Eigentumsrecht zu haben, zum anderen auf den Gedanken von Pflichten gegen sich selbst. Beide Begründungselemente führt er in einer gedrängten Passage zusammen, die ich folgendermaßen wiedergeben möchte: (B) Pflichtenargument (Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 11) (1) Menschen haben Pflichten gegen sich selbst. (2) Wer Pflichten gegen sich selbst hat, darf nicht beliebig über sich verfügen. (3) Also: Menschen dürfen nicht beliebig über sich verfügen. (4) Wer etwas besitzt als sein Eigentum, darf beliebig darüber verfügen. (5) Menschen besitzen sich nicht selbst als ihr Eigentum (und sind somit keine Selbsteigentümer). Die erste Prämisse, dass Menschen Pflichten gegen sich selbst haben, möchte ich hier und im Folgenden nicht zur Diskussion stellen, sondern mich auf die vierte konzentrieren: dass Eigentum im Recht beliebiger Verfügung bestehe. Sie ist es, die Kant zu einer Ablehnung des menschlichen Selbsteigentums zwingt. Denn: a.

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Ein Eigentümer darf eine Sache zerstören: Also müsste es dem Selbsteigentümer erlaubt sein, sich zu entleiben.

„Der Mensch ist Herr, nicht Eigentümer seiner selbst“

b. Der Eigentümer ist berechtigt, eine Sache zu entäußern: Also müsste es dem Selbsteigentümer gestattet sein, sich freiwillig zum Sklaven zu machen. c. Der Eigentümer darf eine Sache nach Gutdünken modifizieren, verwenden oder vernachlässigen: Folglich wäre es für den Selbsteigentümer statthaft, sich zu verstümmeln, sich zu entwürdigen oder zu verwahrlosen. d. Der Eigentümer ist befugt, mit der Sache Einkommen zu erzielen, indem er sie ganz oder teilweise verkauft oder vermietet: Entsprechend dürfte der Selbsteigentümer seinen Körper oder seine Körperteile verkaufen oder zur zeitweisen Nutzung durch andere anbieten. Diese Aufzählung verdeutlicht, weshalb Kant der Meinung war, dass Menschen keine Selbsteigentümer sein können. Selbsteigentum würde Befugnisse im Umgang mit der eigenen Person implizieren, die nach Kant dem Kategorischen Imperativ widersprächen. Kants Negativbefund beruht nun aber auf einem speziellen und keineswegs alternativlosen Verständnis von Eigentum als dem Recht ‚beliebiger Verfügung‘. Versteht man den Eigentumsbegriff als ein vieldimensionales und in seinen Dimensionen variierbares Konzept, so entfällt – auch in einem kantischen Bezugsrahmen – der Grund, Selbsteigentum als moralisches Recht rigoros zurückzuweisen. So hat John Christman argumentiert, das Selbsteigentum bestehe in einer Reihe von Kontrollrechten über den eigenen Körper und die eigene Person, umfasse jedoch nicht das Recht auf Einkommen.17 Er schränkt also eine Dimension des Eigentums ein. Dies erlaubt ihm zu sagen, dass eine Zwangs-Umverteilung von Organen das Selbsteigentum verletze, nicht aber eine Zwangs-Umverteilung von Verdienst und Vermögen. Wenn der Gebrauch einer Sache in bestimmten Hinsichten begrenzt werden kann, ohne dass damit der Eigentümerstatus selbst in Frage gestellt werden müsste, so folgt aus dem Gedanken von Pflichten gegen sich selbst nicht zwingend, dass der Mensch kein Eigentum an sich haben könnte. Es folgt lediglich, dass der Gebrauch, den der Mensch von seinem Körper und seinen Vermögen machen darf, entsprechend restringiert wird – so wie der Gebrauch, den die Eigentümerin eines denkmalgeschützten Hauses oder eines Haustieres von ihrem Gebäude oder ihrem Hund machen darf, durch die Regeln des Denkmal- und des Tierschutzes restringiert wird. ____________________ 17

Christman, Self-Ownership, Equality, and the Structure of Property Rights.

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Zusammenfassend: Kant argumentiert überzeugend, dass Individuen unter der Voraussetzung von Pflichten gegen sich selbst über kein uneingeschränktes Selbsteigentum verfügen. Doch der Verweis auf Pflichten gegen sich selbst liefert keinen Grund, den Selbsteigentumsgedanken überhaupt zu verwerfen. Auf diesen Punkt weisen die Vertreter der gemäßigten Lesart mit Recht hin. Sie wollen bei Kant entsprechend eine attraktive Alternative zur libertären Auslegung des Selbsteigentumsgedankens finden. 4.

Das A-Fortiori-Argument gegen den Selbsteigentumsgedanken

Die Verfechter der gemäßigten Lesart bemerken zurecht, dass die Selbsterhaltungs- und die Perfektionierungsbedingung den Gebrauch des eigenen Körpers restringieren, jedoch nicht zu einer Zurückweisung menschlichen Selbsteigentums zwingen. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und argumentieren: Der Begriff eingeschränkten Selbsteigentums ist in Kants Idee vernünftiger Selbstherrschaft immer schon vorausgesetzt; denn nur wenn der Mensch Eigentümer der eigenen Person und des eigenen Körpers ist, sind die Verfügungen des moralischen Akteurs über sich erlaubt. Kant lag jedoch offensichtlich viel daran, das mit der vernünftigen Selbstherrschaft notwendig verbundene Recht der Verfügung über den eigenen Körper vom Selbsteigentum zu unterscheiden und als Recht eigener Art einzuführen. Die Frage, die es zu beantworten gilt, ist insofern, was dagegen spricht, das Verfügungsrecht über den Körper als Eigentumsrecht zu fassen. Wie gesehen, geben weder das Kategorienfehler- noch das Pflichtenargument eine befriedigende Antwort auf diese Frage. Aus Annahmen Kants lässt sich allerdings ein Argument konstruieren, das zu einer Schlussfolgerung führt, die intuitiv betrachtet moralisch absurd erscheint. Ich nenne es das A-Fortiori-Argument. Zunächst ist festzuhalten, dass weder die Vervollkommnungs-, noch die Selbsterhaltungsbedingung ausschließen, dass eine Person ein Körperteil oder ein entbehrliches Organ verschenkt oder verkauft, um eine unvollkommene Pflicht des Wohlwollens zu erfüllen. Nehmen wir daher mit den Vertretern der gemäßigten Lesart an, es stehe nicht im Konflikt mit dem Kategorischen Imperativ, einen Finger oder Haare zu verkaufen oder eine Niere zu spenden, um damit die Not anderer zu lindern. Nun gilt folgendes Prinzip:

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„Der Mensch ist Herr, nicht Eigentümer seiner selbst“

A-Fortiori-Prinzip: Alle Handlungen, die erlaubt sind, um unvollkommene Pflichten zu erfüllen, sind auch erlaubt, um vollkommene Pflichten zu erfüllen. Folglich muss, wenn es erlaubt ist, einen Finger zu verkaufen, um damit jemandes Not zu lindern (unvollkommene Pflicht), es auch erlaubt sein, einen Finger zu verkaufen, um damit eine Schuld zu begleichen (vollkommene Pflicht). Der vollkommenen Pflicht, die Schulden zu begleichen, entspricht jedoch ein Recht des Gläubigers gegen das Vermögen des Schuldners; und dies bedeutet, dass er die Begleichung der Schuld aus dem Vermögen des Schuldners erzwingen kann. Nehmen wir nun an, eine Person sei Selbsteigentümerin im Sinne der gemäßigten Lesart. Als Selbsteigentümerin dürfte sie entbehrliche Organe und Körperteile verschenken oder verkaufen, um unvollkommene Pflichten zu erfüllen. Doch wenn der Körper einer Person in diesen Hinsichten ihr Eigentum ist, so hat der Gläubiger in diesen Hinsichten einen Anspruch gegen den Körper des Schuldners. Wenn also – wie die gemäßigte Auslegung ja annimmt – eine Person als Selbsteigentümerin ein Körperteil verkaufen dürfte, um eine Pflicht des Wohlwollens zu erfüllen, dann könnte von ihr auch der Verkauf eines Körperteils verlangt werden, um eine Schuld zu begleichen. Wären Personen also tatsächlich Selbsteigentümer, so hätte man bei der Prüfung ihrer Vermögensverhältnisse und ihrer Zahlungsfähigkeit mit in Betracht zu ziehen, welche Teile ihres Körpers gegebenenfalls zu Geld zu machen wären. Es wäre nicht nur erlaubt, dass die Schuldner Körperteile verkaufen, um Schulden zu begleichen; es wäre sogar eine vorrangig zu erfüllende, vollkommene Pflicht, die überdies durch den Gläubiger zu erzwingen wäre. Aus dem A-Fortiori-Argument folgt, dass entgegen der weit verbreiteten Einschätzung, Selbsteigentum stelle den wirksamsten Schutz gegen Eingriffe in die körperliche Integrität und Selbstverfügung dar, genau das Gegenteil zu befürchten wäre: Indem der Gedanke vom Selbsteigentum den Körper der Person zu einem Vermögensgegenstand unter anderen macht, wird er dem Zugriff anderer ausgesetzt. (C) A-Fortiori-Argument (1) Personen sind Eigentümer ihres Körpers. (2) Handlungen, die erlaubt sind zur Erfüllung unvollkommener Pflichten, sind auch erlaubt zur Erfüllung vollkommener Pflichten. (3) Pflichten des Wohlwollens sind unvollkommene Pflichten.

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(4) Die Entäußerung eines entbehrlichen Organs oder Körperteils ist erlaubt, wenn dies der Erfüllung einer Pflicht des Wohlwollens dient. (gemäßigte Lesart) (5) Die Begleichung einer Geldschuld ist eine vollkommene Pflicht. (6) Also: Die Entäußerung eines entbehrlichen Organs oder Körperteils zur Begleichung einer Geldschuld ist erlaubt. (wg. 2 und 4) (7) Ein entbehrliches Organ, das zur Begleichung einer Geldschuld entäußert werden darf, gehört zum veräußerlichen Eigentum einer Person. (8) Der Gläubiger hat einen erzwingbaren Anspruch gegen das veräußerliche Eigentum des Schuldners. (9) Also: Der Gläubiger kann die Entäußerung eines entbehrlichen Organs oder Körperteils zur Begleichung einer Geldschuld erzwingen. (reductio ad absurdum) Die Schlussfolgerung des A-Fortiori-Arguments erscheint intuitiv als moralisch so abwegig, dass sich eine weitere Erörterung zu erübrigen scheint. Aus Kantischer Sicht kann der Überlegungsgang an dieser Stelle jedoch noch nicht Halt machen. Da die Geltungsansprüche moralischer Überzeugungen auf die Gebote der praktischen Vernunft zurückzuführen sind, ist darzulegen, dass das Recht eines Gläubigers auf Entäußerung entbehrlicher Organe des Schuldners dem Sittengesetz zuwiderlaufen würde. Wie eine solche Argumentation aussehen könnte, ist eine weitgehend offene Frage, da die einschlägige Literatur den Organhandel unter moral- und nicht unter rechtsphilosophischen Aspekten betrachtet. Gefragt wird nach der moralischen Erlaubtheit von Handlungen unter gegebenen institutionellen und situativen Bedingungen – die Frage der rechtlichen Form bleibt unberührt. So erörtert Samuel Kerstein in Kantian Condemnation of Commerce in Organs den fiktiven, aber an realen Gegebenheiten orientierten Fall des Verkaufs einer Niere, um Schulden begleichen zu können.18 Ob ein solcher ____________________ 18

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„A 25-year-old, married man in a developing country has struggled as a laborer to make ends meet. Expenses for food, housing, and, especially, medical care for his wife have landed him in debt. His creditors are harassing him to pay what he owes. He agrees to sell one of his kidneys to a broker for $2,500. As the seller is aware, the broker is an agent of a nearby clinic, one that provides services to transplant tourists from wealthy countries. The broker tells the seller that it is easy to explain the risks he will face: the surgery necessary to harvest the kidney poses little threat to his well-being; in all likelihood, he will be fine in a few weeks. In addition to giving the laborer the cash, the broker pays for the surgery,

„Der Mensch ist Herr, nicht Eigentümer seiner selbst“

Verkauf das Sittengesetz verletzt, überprüft er mit Hilfe zweier Auslegungsvarianten der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs; diese schreibt vor, so zu handeln, dass man die rationale Natur sowohl in der eigenen Person als auch in der Person eines jeden anderen Menschen (a) jederzeit zugleich als Zweck und (b) niemals bloß als Mittel brauche.19 Die erste Auslegungsvariante der Menschheitsformel bezieht sich auf (b) und hebt auf das so genannte Instrumentalisierungsverbot ab. Was es bedeutet, eine Person „bloß als Mittel“ zu behandeln, versteht sich nicht von selbst. Jede Inanspruchnahme einer Dienstleistung scheint eine Form von Instrumentalisierung zu beinhalten. Wer eine Anwältin beauftragt oder sich die Haare schneiden lässt, benutzt die betreffenden Personen, um eigene Ziele zu erreichen. Die Nutzung der Leistungen für eigene Ziele allein ist nach Kant auch nicht moralisch verboten. Verboten ist der Formel zufolge lediglich, wenn die andere Person nichts anderes als ein Mittel ist. In den Beispielfällen ließe sich sagen, dass die zu erbringende Gegenleistung, die Bezahlung für die Dienstleistung, eine Rolle dafür spielt, dass die andere Person nicht bloß als Mittel benutzt wird. Der ausschlaggebende Faktor ist hierbei – einer einflussreichen Auslegung des Instrumentalisierungsverbots zufolge –20 die genuine Zustimmung der betroffenen Person. Stimmt eine Person in genuiner Weise zu, dass sie als Mittel zu einem Zweck behandelt wird, so fungiert sie nach dem Zustimmungsansatz nicht bloß als Mittel. Genuin ist die Zustimmung, wenn sie nicht durch Zwang oder Täuschung erlangt wird. Unter realen Bedingungen, so argumentiert Kerstein, ist nun aber in dem beschriebenen Fall21 Täuschung im Spiel. Fast 90% von 239 Personen, die in Pakistan ihre Niere verkauft haben, konnten ihre wirtschaftliche Situation nicht verbessern und leiden überdies unter einem Stigma, das mit dem der Prostitution vergleichbar ist.22 Da dies den professionellen Käufern der Nieren bewusst sein müsse, sei davon auszugehen, dass sie potentielle Spender systematisch täuschten. Folglich behandelten ____________________

19 20 21 22

as well as for the medical expenses incurred during the seller’s recovery. The surgeon is experienced and competent, and the facilities for surgery and recovery are adequate“ (Kerstein, Kantian Condemnation of Commerce in Organs, S. 150). Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61. Kerstein, Treating Oneself Merely as a Means; ders., Kantian Condemnation of Commerce in Organs; ders., Treating Others as Mere Means. Siehe Fußnote 18. Kerstein, Kantian Condemnation of Commerce in Organs, S. 154; ders., Autonomy, Moral Constraints, and Markets in Kidneys, S. 576.

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die professionellen Käufer die Verkäufer „bloß als Mittel“ um ihr Erwerbsziel zu erreichen. In anderen Beispielfällen – wie dem einer Unternehmerin, die eine Niere verkauft, um Startkapital für die Umsetzung einer Geschäftsidee zu erlangen –23 findet Kerstein keine Verletzung der Menschheitsformel, da weder Täuschung noch Zwang vorliegt und die Zustimmung der Unternehmerin daher als genuin gelten kann. Die Pointe des A-Fortiori-Arguments lautet nun, dass der Selbsteigentumsgedanke in Verbindung mit dem A-Fortiori-Prinzip zu deontischen Aussagen führt, die in Konflikt mit den Resultaten der Menschheitsformel stehen. Haben Menschen Selbsteigentum an ihrem Körper, so verfügt der Gläubiger über ein erzwingbares Recht auf die Veräußerung eines entbehrlichen Organs oder Körperteils völlig unabhängig davon, ob diese Veräußerung für die Schuldnerin zweckdienlich ist oder nicht. Anders gewendet würde der Selbsteigentumsgedanke in einer Klasse von Fällen mit den Forderungen der Menschheitsformel in Konflikt geraten und ist daher abzulehnen. Das Recht der Person, im Rahmen des moralisch Gebotenen und Möglichen über den eigenen Körper und seine Teile zu verfügen, sollte daher nicht unter die Eigentumskategorie gebracht werden. Dies scheint hinter Kants Diktum in § 11 der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre zu stehen, der Mensch sei sein eigener Herr (sui iuris), aber nicht Eigentümer von sich selbst (sui dominus). 5.

Selbstherrschaft im Rahmen volkssouveräner Verfahren

Es ist bemerkenswert, dass Kants Betrachtungen zum Verfügungsrecht über den Körper bislang kaum in den Kontext seiner eigentumsphilosophischen Überlegungen in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre gestellt wurden. Ein Grund hierfür könnte sein, dass in der einschlägigen Literatur unterstellt wird, bei Kant seien die Rechte am eigenen Körper durch den Begriff des „inneren Meinen“ abgedeckt, das er gegen das „äußere Meine“ abgrenzt.24 Im Gegensatz zum „äußeren Meinen“ – das erworben werden muss – ist das „innere Meine“ angeboren. Kant betont zu Beginn der Anfangsgründe, dass das „angeborene Recht nur ein einziges“25 sei: die Freiheit unter einem allgemeinen Gesetz. Aus diesem Recht ergeben sich ____________________ 23 24 25

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Ders., Kantian Condemnation of Commerce in Organs, S. 149f. So etwa Morelli, Commerce in Organs, S. 318; Hruschka, The Permissive Law of Practical Reason, S. 66. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 47 (Einteilung).

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ihm zufolge eine Reihe von „Befugnissen“, wie die angeborene Gleichheit, „d.i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“ sowie „die Qualität des Menschen sein eigener Herr (sui iuris) zu sein“. Auf das angeborene Recht beziehen sich die Attribute des Staatsbürgerstatus, wie die „gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“.26 Inwiefern Kant das Recht am eigenen Körper zu den angeborenen zählt, ist unklar; doch spricht einiges dafür, dass das angeborene Recht bei ihm nur diejenigen Aspekte des eigenen Körpers umfasst, die für dieses Recht konstitutiv oder instrumentell notwendig sind. Das angeborene Recht schützt dieser Deutung zufolge das individuelle Vermögen vernunftgeleiteter Handlungsfähigkeit. Der rechtliche Status aller anderen Aspekte des menschlichen Körpers wäre demnach erworben. Um die Beispiele aus der Tugendlehre abermals aufzugreifen, hätten Individuen keine angeborenen, sondern erworbene Rechte hinsichtlich ihrer Zähne oder Haare. Im Unterschied zum Erwerb eines Rechts an einer äußeren Sache ist der Erwerb des Rechts am eigenen Körper durch die Unmittelbarkeit des „Besitzverhältnisses“ gekennzeichnet. Eine Person ist, um Kants Terminologie aufzugreifen, Inhaberin, empirische Besitzerin, ihres Körpers. Innehabung ist aber nach Kant weder notwendige noch hinreichende Bedingung für Eigentum (intelligiblen Besitz). Entsprechend ist es grundsätzlich moralisch möglich, dass Menschen Rechte am Körper anderer Personen haben. Ausdrücklich bejaht Kant diese Möglichkeit im Falle der ehelichen Geschlechtsgemeinschaft.27 Den Ehevertrag erklärt er zu einem durch das Gesetz der Menschheit notwendig vorgeschriebenen Vertrag; denn die Beteiligten machten sich in der wechselseitigen Nutzung ihrer Geschlechtsorgane zu Genusszwecken selbst zur Sache. Die vertraglich geregelte Wechselseitigkeit dieser Nutzung in der Ehe ist geboten, um solche Herabsetzung aufzuheben und die Persönlichkeit wiederherzustellen.28 Man mag hier einwenden, dass es nicht besonders plausibel sei, dass eine gemeinsame, auf Genuss ausgerichtete Tätigkeit die beteiligten Personen notgedrungen zu Sachen degradiere. Einleuchtend ist ____________________ 26 27

28

Ebd., S. 130 (§ 47). „Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale) ist der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines Anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht (usus membrorum et facultatum sexualium alterius) […].“ (ebd., S. 93 (§ 24)) Ebd., S. 94f. (§ 25).

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aber, dass gemeinsame Tätigkeiten in herabsetzender Weise betrieben werden können, etwa dann, wenn Personen als bloße Genussmittel benutzt werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn keine genuine Zustimmung vorliegt und die Menschheitsformel verletzt wird. Dass Kants Auffassung zur Ehe als Voraussetzung moralisch erlaubter Sexualität revisions- und präzisierungsbedürftig ist, braucht hier nicht weiter zu interessieren. Wichtig für unseren Zusammenhang ist die Feststellung, dass Kant soziale und rechtliche Bedingungen benennt, unter denen Ansprüche auf die Organe anderer Personen bestehen. Die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Kantischen Überlegung drängt sich auf. Wenn es erlaubt ist, sich im Eheverhältnis der Geschlechtsorgane des Partners zu bedienen, warum sollte dann nach Kant nicht auch der nach einem moralischen Gesetz geregelte Gebrauch anderer Organe zu moralisch erlaubten oder gebotenen Zwecken statthaft sein? Oben hatte ich angemerkt, dass Innehabung für Kant weder notwendige noch hinreichende Bedingung von Eigentum sei. Damit ist zum einen gemeint, dass eine Person Eigentümerin einer Sache sein kann, ohne über diese Sache physisch zu verfügen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn jemand anderes die Sache ausgeliehen hat oder im Auftrag der Eigentümerin zu bestimmten Zwecken benutzt. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Person, die etwas ausleiht oder im Auftrag von jemandem benutzt, darüber nicht zur Eigentümerin wird. Obwohl Innehabung weder hinreichend noch notwendig für Eigentum ist, spielt der Wille und das Vermögen, eine Sache zu kontrollieren, bei Kant eine herausgehobene Rolle für die Etablierung vorläufiger Eigentumsansprüche. „Akte der Besitznehmung und Zueignung“29 sind in einem vorrechtlichen Zustand nach dem Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft (lex permissiva)30 möglich und bilden die Grundlage für die Etablierung einer staatlichen Verfassung. Da es sich bei der Besitznehmung um einen einseitigen Akt handelt, ist die für andere resultierende Verbindlichkeit jedoch nur vorläufig. Die Besitznehmung hat, wie Kant an anderer Stelle sagt, die „Präsumtion für sich“, durch die „Vereinigung mit dem Willen Aller [sic] in einer öffentlichen Gesetzgebung“31 zu vollgültigem Eigentum zu werden. Was ist aber unter dem „vereinigten Willen aller“ zu verstehen? Eine Deutungsmöglichkeit lautet, die Rede vom vereinigten Willen beziehe sich auf den Vereinigungsvertrag (pactum unionis) der ver____________________ 29 30 31

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Ebd., S. 77 (§ 17). Ebd., S. 58 (§ 6). Ebd., S. 64f. (§ 9).

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tragstheoretischen Tradition, durch den sich die Individuen zu einer politischen Gemeinschaft zusammenschlössen. Kants Unterscheidung zwischen provisorischem und peremtorischem Eigentum entspräche dieser Deutung zufolge der Differenz zwischen Eigentumsansprüchen im vorstaatlichen und im staatlichen Zustand. Erst im staatlichen Zustand gibt es die Möglichkeit, über Eigentumsansprüche auf rechtlicher Grundlage zu entscheiden und die entsprechenden Entscheidungen auch durchzusetzen. Wenn Kant von „peremtorischem Besitz“ spreche, so meine er diese Sicherheit, Eindeutigkeit und Durchsetzbarkeit von Eigentum im rechtlichen Zustand. Ingeborg Maus hat demgegenüber herausgearbeitet,32 dass die Rede von einem „vereinigten Willen“ demokratische Volkssouveränität meine. Aufbauend auf Arbeiten von Reinhard Brandt und Wolfgang Kersting argumentiert sie entsprechend, dass eine endgültige (peremtorische) Eigentumsordnung nach Kant erst unter Bedingungen der Kantischen Republik etabliert wird, einer Ordnung, „die von keiner realexistierenden Demokratie je eingeholt wurde“.33 Erst in der Kantischen Republik ergibt sich „das Mein und Dein“ aus dem vereinigten Willen aller. Jede Eigentumsordnung, die sich nicht aus einem solchen volkssouveränen Willen ergibt, hat vorläufigen Charakter. Sie ist zwar rechtlich bindend, hat aber den Status einer Übergangsverfassung. Dies wirft die Frage nach den allgemeinen Merkmalen des peremtorischen Besitzes auf. Auf formaler Ebene wäre – wie gesagt – festzuhalten, dass er dem „gemeinsamen Willen“ aller entsprechen müsste; auf inhaltlicher Ebene hätte er Kant zufolge die Anforderung vernünftiger Universalisierbarkeit zu erfüllen.34 Das Diktum in § 11 der Anfangsgründe, der Mensch sei sein eigener Herr (sui iuris), aber nicht Eigentümer von sich selbst (sui dominus), greift zunächst einmal die von Kant verschiedentlich vertretene Auffassung auf, dass der Eigentümer (dominus) nach Belieben über sein Eigentum verfügen könne (ius disponendi de re sua).35 Aufschlussreich ist die Formulierung, die Kant an dieser Stelle zur Erläuterung ____________________ 32 33 34 35

Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Ebd., S. 1; „Die Materie des Privatrechts ist, soweit sie über einen minimalistisch definierten Wesensgehalt hinausgeht, vom demokratischen Gesetzgeber zu gestaltendes Material“ (ebd., S. 169). Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 39 (§ C). Die Passage im vollen Wortlaut: „Der äußere Gegenstand, welcher der Substanz nach das Seine von jemandem ist, ist dessen Eigentum (dominum), welchem alle Rechte in dieser Sache (wie Accidenzen der Substanz) inhärieren, über welche also der Eigentümer (dominus) nach Belieben verfügen kann (ius disponendi de

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benutzt: Der Mensch könne kein Eigentümer seiner selbst sein, weil er gegen sich und andere Personen Verbindlichkeiten habe. Dass Personen nicht Eigentümer ihrer selbst sind, liegt demnach daran, dass sie Subjekte moralischer Rechte sind – diese Rechte binden nach Kant auch den Umgang mit sich und dem eigenen Körper. Rechtssubjektivität hat wiederum bei Kant ihren Grund in Autonomie. Die peremtorische Besitzordnung wäre entsprechend eine, deren Ziel in der Sicherung und Ermöglichung individueller Autonomie bestünde. Wenn nun aber nach Kant der Gebrauch der eigenen Organe durch andere Personen moralisch möglich oder sogar gefordert sein kann, wird der „gemeinsame Wille“ vernünftiger Gesetzgebung sich auf das gesamte „äußere Mein“ erstrecken: einschließlich derjenigen Teile des menschlichen Körpers, die nicht unter das „innere Mein“ fallen. Wenn dieser Befund zutreffend wäre, so ergäben sich bei Kant die Umrisse einer Position, die derjenigen ähnlich wäre, die von Cécile Fabre in Whose Body is it Anyway? ausformuliert wurde. Das Prinzip der Autonomie gibt bedürftigen Personen Ansprüche auf den Körper und die Leistungen von Gesunden: Die Grenzen dieser Ansprüche werden ihrerseits durch das Prinzip der Autonomie umrissen. Dieses Resultat steht augenscheinlich in grellem Gegensatz zu Kants Aussagen über die moralische Fragwürdigkeit der Entäußerung entbehrlicher Organe, und mag daher dem Vorbehalt ausgesetzt sein, sich zu weit von dem Kantischen Text entfernt zu haben. Zu betonen ist aber, dass es sich auf den peremtorischen Zustand bezieht, in dem die Rechtsordnung im Zeichen des Autonomieprinzips steht. Wenn Kant sich in der Tugendlehre dagegen ausspricht, sich „eines integrierenden Teils als Organs“ zu berauben,36 dann dürften diese Äußerungen als Ausdruck einer provisorischen Ordnung zu lesen sein, in der das „äußere Mein und Dein“ in vielen Hinsichten moralisch kontingent geregelt ist. Die moralische Verurteilung der Handelbarkeit von Körperteilen oder anderer Eingriffe in die körperliche Integrität wäre insofern als Schutz der armen und damit verwundbaren Teile der Bevölkerung zu lesen.

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re sua). Aber hieraus folgt von selbst: dass ein solcher Gegenstand nur eine körperliche Sache (gegen die man keine Verbindlichkeit hat) sein könne, daher ein Mensch sein eigener Herr (sui iuris), aber nicht Eigentümer von sich selbst (sui dominus) (über sich nach Belieben disponieren zu können), geschweige denn von einem anderen Menschen sein kann, weil er der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist“ (ebd., S. 70 (§ 11)). Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 555 (§ 5).

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6.

Schluss

Die Berücksichtigung der rechtsphilosophischen Überlegungen Kants rückt das A-Fortiori-Argument aus Abschnitt IV in ein neues Licht. Während es sich zunächst nahelegt, die reductio ad absurdum darin zu sehen, dass der Selbsteigentumsgedanke dem Gläubiger den Eingriff in den absolut geschützten Raum körperlicher Integrität des Schuldners erlauben würde, habe ich in Abschnitt V exegetische Hinweise dafür angeführt, dass Kant kein Recht auf einen derartig geschützten Raum postuliert. Das angeborene Recht deckt lediglich das „innere Meine“ ab, welches meiner Auffassung zufolge lediglich die konstitutiven und instrumentell notwendigen Bedingungen der Vernunftnatur bezeichnet (und nicht den gesamten menschlichen Körper). Ob und in welcher Weise ein solcher rechtlich geschützter Raum besteht, hängt von der Gesetzgebung ab, die in der realen Welt nur provisorische Geltung beanspruchen kann. Unter Bedingungen der realen Welt würde der Selbsteigentumsgedanke zu einer evidentermaßen ungerechten Zuspitzung bestehender Ungleichheiten führen. So besteht die Absurdität, auf die das A-Fortiori-Argument hinausläuft, nicht darin, dass andere Personen überhaupt Ansprüche auf Körperteile eines Menschen haben können. Das Problem ist vielmehr, dass das Eingriffsrecht des Gläubigers in den Körper des Schuldners nicht aus einer dem Prinzip der Autonomie verpflichteten Gesetzgebung folgen würde, sondern aus den Versuchen, die je eigene Wohlfahrtsposition in einer unvollkommenen Eigentumsordnung zu optimieren. Interpreten – wie Kerstein – meinen, Kants Humanitätsformel spreche in bestimmten Fällen jedoch keineswegs kategorisch dagegen, über den eigenen Körper als Eigentümer zu verfügen. Dies kann zu der Lesart verleiten, dass Kant in einer gerechten Ordnung nichts gegen den Selbsteigentumsgedanken einzuwenden hätte. Wie in Abschnitt V deutlich geworden sein sollte, spricht jedoch einiges dafür, dass in einer gerechten Eigentumsordnung andere Personen aus dem Prinzip der Autonomie folgende Ansprüche auf Körper und Leistungen von Mitbürgern haben, die ihrerseits mit dem Gedanken des Selbsteigentums unvereinbar wären.

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Weder eine bürgerliche Ehe noch eine perverse Wahlverwandtschaft. Von Liberalismus und Frauenbewegung zu Neoliberalismus und Postfeminismus Cornelia Klinger

1.

Am Anfang: Freiheit, Gleichheit und Solidarität

Im Liberalismus sind die Ideen von Aufklärung und Revolution, die Postulate der Freiheit, Gleichheit und Solidarität in eine Gesellschaftsordnung gebracht und das heißt herrschaftsförmig gemacht worden. Liberalismus ist die spezifische und einzig adäquate Herrschaftsform der Moderne. In dieser Gestalt hat er drei Säulen: Der demokratisch verfasste Rechtsstaat im territorialen Rahmen bildet die Grundlage des Liberalismus als politischem System, der moderne Industriekapitalismus ist die Basis der liberalen Weltwirtschaft, die Ideen von Selbstbestimmung und Selbständigkeit der Individuen fundieren die liberale Ideologie des Individualismus. Ein bequemer Sitz ist dieser ‚Dreifuß‘ nicht – der Liberalismus ist von vielfältigen Spannungen zwischen seinen Grundlagen geprägt. Das Gebäude der liberalen Moderne ist kontingentes Menschenwerk. Es ist unter bestimmten historischen, kulturellen, gesellschaftlichen Bedingungen entstanden; es schwankt zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Ausbau oder Rückbau. Der Bau wankt aber nicht nur vor und zurück in der Zeit, er ist er auch beweglich im Raum, partikular und plural im Hin und Her zwischen rechts und links, zwischen anderen Strömungen an seinen Seiten, zwischen unterschiedlichen Koalitions- und Kohabitationspartnern. Das Gebäude ist in allen Hinsichten instabil und volatil; so wie es einen kontingenten Anfang genommen hat, wird es irgendwann enden, wie alles, was da ist und zumal wie alles, was da von Menschenhirn und -hand gemacht ist. Die vielleicht bedeutendste Leistung des Liberalismus als Idee liegt in der Anerkennung dieser Gegebenheit in den vier Hinsichten von Anfänglichkeit und Endlichkeit, Partikularität und Pluralität, das heißt in der Einsicht in das unhintergehbare Datum der Kontingenz. Der einzige Vorrang,

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den der Liberalismus als Idee und Gedankengebäude vor anderen beanspruchen kann, besteht in seiner daraus resultierenden Selbstbescheidung: Liberalismus ist nicht im Besitz der Wahrheit, ist keine comprehensive theory; er schafft keine vollkommene Gesellschaftsordnung. Aber eben weil die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte keine Wahrheit verkünden, keine Totalität erzwingen, sind sie universal anschlussfähig. Politische Gruppierungen, Parteien und soziale Bewegungen unterschiedlicher Orientierung und Couleur, die in der Zeit des Liberalismus an seinen Seiten (ent-)stehen, sind immer wieder bereit und auch genötigt, ihr Verhältnis zu ihm zu bestimmen, Anschlussmöglichkeiten zu suchen und Bündnisse einzugehen. Das gilt auch für jene politische, soziale und theoretische Bewegung, welche die revolutionären Ideen und Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für Frauen in Anspruch nehmen will. Ohne auf die Geschichte der Relation Liberalismus – Frauenbewegung/Feminismus eingehen zu können, würde ich behaupten, dass unter den verschiedenen politischen und ideologischen ‚Partnern‘ des Feminismus der Liberalismus keineswegs der ideale, aber doch jedenfalls der nächstbeste und langfristig wichtigste (gewesen) ist. 2.

Der liberale Feminismus der frühen Frauenbewegung Oder: Das Frauen-Auch-Konzept

Ich kann hier keine Darstellung des Liberalismus oder auch nur des liberalen Feminismus in seiner historischen Entwicklung und seinen verschiedenen Positionen anbieten. Das ist nicht nur dem Mangel an Gelegenheit an dieser Stelle geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass der Liberalismus viele Gesichter hat. Und schon gar nicht hat der liberale Feminismus die Gestalt einer Partei angenommen und demzufolge gibt es auch kein festes Programm. In meiner Wahrnehmung abstrakt und vereinfachend zusammengefasst, sehe ich den liberalen Feminismus der frühen Frauenbewegung von Forderungen nach gleichen Rechten geprägt. Über die zivile Rechtsstellung (Rechtsfähigkeit, Mündigkeit) hinaus sind das Zugangsrechte: die politischen Rechte (an erster Stelle das Wahlrecht) und das Recht auf Bildung (namentlich Hochschulzugang) sowie darüber hinaus die durch bessere (Aus-)Bildung eröffnete avancierte Berufstätigkeit in allen Sparten. Zusammengefasst richten sich die Forderungen auf politische Selbst- bzw. demokratische Mitbestimmung sowie wirtschaftliche Selbständigkeit.

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Weder eine bürgerliche Ehe noch eine perverse Wahlverwandtschaft

Etwas respektlos nenne ich diese liberale Zielsetzung das Frauen-AuchKonzept. Dabei geht es primär um Zutritt und Beitritt, um Teilhabe an allem, was Frauen vorenthalten und verweigert wurde. Es wird erwartet, dass alle Probleme der asymmetrischen Geschlechterordnung – wenn schon nicht gleich gelöst – so doch in absehbarer Zukunft lösbar wären, wenn Frauen sich aus dem finsteren häuslichen Verlies befreien könnten und alle Türen und Treppen zu den höheren Etagen des Gesellschaftsgebäudes sich öffnen ließen, die ihnen bis dahin verschlossen waren. Um im Bild zu bleiben: Die Gründe des Ausschlusses werden nur im Mechanismus des Türschlosses oder der Abwehr böser Türhüter gesucht, nicht aber im Bauplan der Gesellschaftsarchitektur. Die Frage, ob jene dunklen Orte des Gebäudes, an die die Frauen gefesselt waren, evtl. unverzichtbare Funktionen im Sozialgefüge hätten, wird kaum vor den Blick genommen. Die Ursachen der asymmetrischen Geschlechterordnung werden nicht in den Strukturen gesehen, sondern scheinen ausschließlich in der personalen Geschlechtszugehörigkeit zu liegen. Das führt zwei Implikationen mit sich: Entweder sind bzw. werden jene Bereiche, die infolge geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung den Frauen zugeordnet waren, im Zuge des Modernisierungsprozesses bedeutungslos; das heißt, die westliche Moderne imaginiert „eine Gesellschaft, in der niemand Fürsorge vollbringt und zugleich niemand der Fürsorge bedarf […] Dies wäre das Menschenbild einer konsequent umgesetzten Modernisierung“.1 Oder es wird stillschweigend angenommen, dass Frauen auch weiterhin den Lebenssorge-Dienst in Küche und Keller, Schlaf-, Kinder- und Krankenzimmern versehen werden. – Die erste Alternative mag der Traum der modernen Gesellschaft (gewesen) sein, die zweite ist (bis heute) ihre Realität.2 ____________________ 1 2

Schnabl, Gerecht sorgen, S. 13. Der Unterschied zwischen liberalen und radikalen, sozialistischen, namentlich marxistischen oder marxistisch inspirierten Strömungen im Feminismus liegt darin, dass die letzteren Ungleichheit nicht oder nicht nur auf den personalen Einschluss-Ausschluss-Tormechanismus zurückführen, sondern als strukturelles Problem kapitalistischer Gesellschaften begreifen. Allerdings bleibt auch hier die Aufmerksamkeit auf die öffentlichen Sektoren beschränkt, wobei die Ökonomie und namentlich die Industriearbeit im Vordergrund stehen. Als Erwerbstätige sind Frauen mit denselben Problemen konfrontiert wie männliche Arbeiter; dem berühmten ‚kleinen Unterschied‘ als allenfalls zusätzlichem Handicap wird in der klassischen marxistischen Perspektive ebenso wenig eigene Aufmerksamkeit zuteil wie im liberalen Lager. Sehr grob vereinfachend beschränkt sich die Differenz zwischen einer liberalen und einer marxistischen Sicht der ‚Frauenfrage‘ darauf, dass es vom liberalen Standpunkt aus genügt,

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Gewiss will und kann keine andere Bewegung von Frauen, sofern sie sich als feministisch versteht, hinter die Forderungen des liberalen Feminismus zurück. In diesem Sinn gehören die Prinzipien des Liberalismus zu dem, was Wendy Brown Gyatri Spivak zitierend als das bezeichnet, „which one ‚cannot not want‘“,3 „a dependency we are not altogether happy about, an organization of desire we wish were otherwise“.4 Es scheint mir unnötig und abwegig, Freuds Trieb- oder Melancholie-Theorie zu bemühen, um daraus „a left melancholia about liberal democracy“ zu konstruieren. Es handelt sich auch nicht um Abhängigkeit („dependency“), sondern um Affinität. Das Naheverhältnis resultiert aus der gemeinsamen Filiation aus dem neuzeitlich-westlichen Prozess der Säkularisierung, namentlich aus dem Denken der Aufklärung und aus den Idealen der bürgerlichen Revolution. So oder ähnlich wie auch die anderen großen sozialen und politischen Bewegungen, Arbeiterbewegung und Bürgerrechtsbewegungen, gehen Frauenbewegung und Feminismus auf eben jene Prinzipien zurück, die auch für den Liberalismus den Ausgangspunkt bilden. Das begründet so etwas wie ‚Familienähnlichkeit‘.

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den Frauen die Türen zu einer Gesellschaft zu öffnen, die vom Manko des Ausschlusses abgesehen als gerecht und gut eingerichtet aufgefasst wird. Genau das wird aus marxistischer Sicht bestritten. Es bedürfte einer Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit, um den 'Nebenwiderspruch' einer ungerechten Geschlechterordnung im Zuge der Beendigung von Klassenherrschaft gleich mit auf den Scherbenhaufen der Geschichte zu werfen. Da also das ganze Gebäude in die Luft gesprengt werden müsste, wird auch hier der Nachfrage, was die Frauen im ‚Unterbau‘ des Systems getan und geleistet haben, kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Vermutung wird durch die realsozialistischen Experimente bestätigt, deren Fantasie sich mehr oder weniger auf eine fabrikmäßige bzw. staatlich-bürokratische Anstalts-Organisation der Lebenssorge beschränkt hat – mit der Folge, dass die Menschen, die diesem historischen Experiment ausgesetzt waren, dieses durch den Ausbau von gigantischen Höhlensystemen des Privaten untergraben haben. Brown, Neoliberalism, S. 53. Ebd.

Weder eine bürgerliche Ehe noch eine perverse Wahlverwandtschaft

3.

Die Gender-Dynamik im Neoliberalismus – eine (üble) List der Geschichte oder eine (perverse) unterirdische Wahlverwandtschaft?

Wenn Liberalismus seine Gestalt wandelt, so wie es für die Zeit seit den mittleren 1980er Jahren allgemein beobachtet wird, dann entsteht Bewegung in der Beziehung. Also ist es kaum überraschend, wenn Raewyn Connell konstatiert: „There is a gender dynamic in neoliberalism, a capacity to construct and reconstruct gender orders“.5 In demselben Jahr 2009, in dem Connell zu ihrer Feststellung gelangt, hat Nancy Fraser die kurze Geschichte der Beziehung zwischen Feminismus und Neoliberalismus nachgezeichnet. In dem seither weit rezipierten Aufsatz „Feminism, Capitalism and the Cunning of History“ beschreibt sie, wie eine „Zweite Welle“ der Frauenbewegung in den westlichen Industrieländern im Gefolge der „68er Bewegung“ in den 1970er Jahren ins Rollen kommt. Gleich hier sei ergänzt, dass diese zweite Welle in etwa zeitgleich mit anderen entsteht, die als „Neue Soziale Bewegungen“ zusammengefasst werden. Den Aufstieg des Neoliberalismus datiert Fraser auf die Mitte der 1980er Jahre. Das bedeutet: „[T]he rise of second-wave feminism coincided with a historical shift in the character of capitalism from the state-organized variant […] to neoliberalism“.6 Durch dieses Zusammentreffen mit dem unter dem Vorzeichen Neoliberalismus veränderten Kapitalismus wird die zweite Welle des Feminismus (ähnlich wie auch die anderen im Gefolge der 68er Jahre entstehenden Bewegungen) gleichsam überrollt. Fraser sieht das negativ und bezeichnet das feministische Projekt als „casualty of deeper historical forces“, durch deren Wirkung das Projekt und seine Theoriebildung etwa Mitte/Ende der 1990er zu einem Stillstand gekommen sei: „remained largely stillborn“. Noch schärfer formuliert es die australische Juristin Margaret Thornton: „By the millenial turn, the embrace of neoliberalism had caused virtually all traces of feminist influence to be erased from official discourses, including government policies […] Taken unawares while preoccupied with 'the capillaries', feminists have discovered that they lack either a politics or a theory to deal with the neoliberal swing that has pulled the rug under our feet“.7

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Connell, Neoliberal Parent, S. 29. Fraser, Feminism, Capitalism and the Cunning of History, S. 107. Thornton, Feminism and the Neoliberal State, S. 45.

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Die Ansicht eines Verebbens der Zweiten Welle und die Datierung etwa auf die Mitte der 1990er Jahre teile ich und würde deshalb (ohne Rücksicht auf das publizistische und rhetorische Aufhebens darum herum) von einer Phase des Post-Feminismus sprechen, die bis heute andauert – oder vorsichtiger gesagt, von einem ‚Tal‘ in der bekanntlich wellenförmig verlaufenden Geschichte von Frauenbewegung und Feminismus. Obwohl sie den Feminismus als „Opfer“ (casualty) bezeichnet, spricht Nancy Fraser diesem eine Art Mitschuld am Stillstand zu und behauptet, dass die feministischen Intentionen die neoliberale Transformation der Gesellschaft regelrecht befördert, wenn nicht sogar gerechtfertigt hätten: „[T]he cultural changes jump-started by the second wave, salutary in themselves, have served to legitimate a structural transformation of capitalist society that runs directly counter to feminist visions of a just society […] In a fine instance of the cunning of history, utopian desires found a second life as feeding currents that legitimated the transition to a new form of capitalism: post-Fordist, transnational, neoliberal“.8

Die Frage nach den Ursachen der Affinitäten zwischen Feminismus und Neoliberalismus fertigt Fraser überraschend kurz ab: „it lies in the critique of traditional authority“9. Nun ist das zwar zweifellos richtig, aber die Aussage ist zu allgemein. Und sie wird nicht genauer, wenn Fraser eine untergründige Wahlverwandtschaft („some perverse, subterranean elective affinity“) zwischen Feminismus und Neoliberalismus unterstellt oder gar eine geheimnisvolle List der Geschichte („cunning of history“) am Werk sieht.10 Ähnlich vage spricht ____________________ 8 9 10

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Fraser, Feminism, Capitalism and the Cunning of History, S. 99. Ebd., S. 115. In einem jüngsten Aufsatz hat Nancy Fraser ihre Kritik am Feminismus als Bündnispartner des Neoliberalismus auf andere soziale Bewegungen der Zeit erweitert: „Die US-amerikanische Form des progressiven Neoliberalismus beruht auf dem Bündnis ‚neuer sozialer Bewegungen‘ (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und LGBTQ) mit Vertretern hoch technisierter, ‚symbolischer‘ und dienstleistungsbasierter Wirtschaftssektoren (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie etc.). In dieser Allianz verbinden sich echte progressive Kräfte mit einer ‚wissensbasierten Wirtschaft‘ und insbesondere dem Finanzwesen. Wenn auch unbeabsichtigt leihen sie Letzteren dabei ihren Charme und ihr Charisma. Seither bemänteln […] Ideale wie Diversität und Empowerment neoliberale Politiken, die zu einer Verheerung der alten Industrien mitsamt den Mittelklasse-Lebenswelten der in ihnen Beschäftigten geführt haben“ (Fraser, Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus, S. 78f.). Die Frage, ob Fraser zusammen mit dem Verständnis, das sie den Trump-Wählerinnen mit Blick auf „die Katastrophe der

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Angela McRobbie von „a kind of symbiotic relationship“ zwischen „contemporary neoliberalism“ und „liberal feminism“.11 In Hinblick auf die Verhältnisbestimmungen zwischen feministischer Theorie und anderen zeitgleichen Theorieströmungen haben sich solche Metaphorisierungen schon seit jeher großer Beliebtheit erfreut. Allerdings tragen sie zur Klärung der in Rede stehenden Phänomene und Prozesse wenig bei. Die Affinität zwischen Neoliberalismus und Feminismus verdient mehr Interesse als es die Metaphern einer besitzbürgerlich-langweiligen Ehe oder einer bildungsbürgerlich-literarischen Wahlverwandtschaft vermuten lassen. Tatsächlich ist die Gemeinsamkeit ein richtiger Aufreger: Feminismus und neoliberale Politik haben dasselbe Ziel, nämlich die Auflösung eben der asymmetrischen Geschlechterordnung, die der klassische bürgerliche Liberalismus im 19. Jahrhundert nicht bloß als Überbleibsel vormoderner Gesellschaftsverhältnisse geerbt und als bequemes „Traditionspolster“ besessen, sondern neu konfiguriert hat – womit sich der mainstream der Frauenbewegung und ein liberaler Feminismus über weite Strecken nolens volens abgefunden haben. Um das vor den Blick bringen zu können, müssen wir zurückschauen.

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Deindustrialiserung“ (ebd., S. 83) entgegenbringt, selbst so etwas wie Nostalgie im Rückblick auf „die alten Industrien mitsamt den Mittelklasse-Lebenswelten“ entwickelt, mag auf sich beruhen. Wichtiger ist, dass ihre Überlegungen in den vielen Jahren, die zwischen den beiden Aufsätzen liegen, nichts an analytischer Schärfe gewonnen haben. Gründe und Motive, warum sich „die Vertreter der Emanzipationsbewegungen […] mit den Partisanen des Finanzkapitalismus zum Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme“ (ebd. S. 82f.) vereinigen, nennt sie nicht; worauf das Bündnis zwischen „eingeschränkte[n] Emanzipationsideale[n]“ und einem „menschenfressende[n] Kapitalismus“ (ebd., S. 83) sich gründet und wie es funktionieren soll, das alles bleibt im Dunkel. Die „epochale Transformation des Kapitalismus, die in den siebziger Jahren begann und ihn heute aus allen Fugen treten lässt“ (ebd., S. 81) wird beschworen, aber die Ursachen, die Faktoren und Strukturen werden nicht analysiert, sondern zu quasi selbstläufigen „Transformationen“ vernebelt. So bleibt es bei einer diffusen Sehnsucht nach den guten alten wohlfahrtsstaatlichen Zeiten nebst Sympathie für einige ephemere, epigonale linke Führerfiguren wie Sanders oder Corbyn und Bewegungen wie Syriza oder Podemos. Ein leider nicht ganz untypisches Beispiel für den Schwächezustand linker Kritik heute, die dem schwächlichen Populismus auf der Rechten mehr korrespondiert als uns allen lieb sein kann. McRobbie, Feminism, the Family and the Mediated Maternalism, S. 124.

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4.

Im Rückblick: Die asymmetrische Geschlechterordnung der Moderne Oder: der liberale Naturschutzpark im Inneren der modernen Systemmaschine

Im Zuge des Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesses tritt eine bis dahin unbekannte Art der Trennung ein zwischen den Orten und Funktionen der politischen sowie der wirtschaftlichen Tätigkeit auf der einen Seite und dem Leben, den Lebenstätigkeiten von Menschen auf der anderen. Während Arbeit, Verwaltung und Verkehr sich infolge grundstürzender technologischer Innovation rationalisieren und systematisieren, automatisieren und mechanisieren, ist es das Spezifikum liberaler Ordnungsversuche, die von diesen Entwicklungen nicht unmittelbar tangierten Bereiche unter Schutz zu stellen. Auf diese Weise kann die moderne Privatsphäre als eine Art Protektorat entstehen,12 in dem andere, eigene, ja geradezu gegenstrebige Gesetze gelten, eine Lebenswelt, in der Menschen abseits der zum System mutierenden Gesellschaft, relativ geschützt sein sollen, sowohl vor den Zwängen der System-Maschine des bürokratischen Staates als auch vor den Anforderungen des Maschinen-Systems der kapitalistischen Industrie. Die spezifisch moderne Privatsphäre erscheint als „Biotop des wahrhaft Humanen“,13 als „haven in a heartless world“ (Christopher Lasch). Sie dient dem Schutz der Natur und der Kultur der Menschen vor dem Zugriff des politischen und ökonomischen Systems, das sie schaffen und das ihnen doch zunehmend fremd, entfremdet gegenübersteht. An diese gänzlich neuartige, spezifisch moderne Segregierung zweier Sphären wird in der dual oder separate spheres Theorie des 19. Jahrhunderts die alte Segregation zwischen zwei Geschlechtern angehängt. In neuer Gestalt, das heisst in der physiologisch/psychologisch gefassten Polarisierung zwischen homo politicus et oeconomicus und femina privata werden die Geschlechterrollen neu kodiert. Im modernen, wissenschaftlichen Gewand ist das eine askriptive, geburtsständische Zuordnung von Rollen und Funktionen an beide Geschlechter. Während das dominante bürgerliche ____________________ 12

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Die Privatsphäre ist nicht die einzige Schutzzone, die in einer liberalen Ordnung dem allzu direkten Zugriff durch Staat und Markt, Macht und Geld entzogen sein soll. In mehr oder weniger engem Zusammenhang zum Schutz von Kultur und Natur der Menschen in der Privatsphäre stehen die Freiheit der Religion, die Freiheit von Forschung und Lehre, Erziehung und Bildung sowie der Kunst und der Kommunikation, also des Glaubens, Wissens und Meinens, der Kreativität und der Fantasie im Allgemeinen. Heinz, Geschlechtertheorien, S. 8.

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männliche Subjekt als citoyen, bourgeois und homme zum Wanderer zwischen drei Welten wird, ist diese Schnittlegung für seine Frau von erheblichem Nachteil, weil es den strikten Ausschluss (Exklusion) des weiblichen Geschlechts aus allen Handlungsfeldern bedeutet, die der Öffentlichkeit zugeordnet werden und im Gegenzug den beinahe haremsartigen Einschluss (Seklusion) im Privaten besiegelt. Die asymmetrische „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“14 wird unter den Schutz der liberalen politischen Ordnung gestellt, im modernen nationalstaatlichen Rechtssystem verankert und in den neuen Wissenschaften begründet und legitimiert – trotz des eklatanten Widerspruchs zu den Prinzipien von Freiheit eines jeden und der Gleichheit aller Menschen. Frauen bezahlen ihren Schutz, den ihrer Kinder und anderer ‚Schutzbefohlener‘ in der Privatsphäre mit der Abhängigkeit vom Familienoberhaupt; nach dem feudalen Prinzip Schutz gegen Dienst. In einer Relation von Befehl und Gehorsam sind sie zum Leib- und Liebes-Dienst am male breadwinner verpflichtet, dessen Namen sie tragen müssen, von dessen Status, Erwerb und Erfolg draußen in der Welt sie abhängig sind. Kurzum, der klassische Liberalismus schafft eine Schutzzone für das menschliche Leben, eine Lebenswelt außerhalb des Systems, einen Freiraum der Entfaltung von Natur und Kultur in sozialen Nahbeziehungen. Aber er restituiert und installiert damit zugleich eine asymmetrische Geschlechterordnung, die nicht zu ihm passt.15 An diesem Widerspruch zwischen der liberalen Gesellschaftsordnung und einer post- bzw. neo- oder sekundär-patriarchalen Geschlechterordnung hat sich die Frauenbewegung im 19. Jahrhundert entzündet: „The separation and opposition between the public and private spheres in liberal theory and practice […] is, ultimately, what the feminist movement is about“.16 Die Problematik der asymmetrischen, nicht-liberalen Geschlechterordnung beschränkt sich nicht auf ein massives Gerechtigkeitsproblem zwi____________________ 14 15

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Hausen, Polarisierung. Der englische Historiker Eric Hobsbawm empört sich über diesen „apparent conflict“ „between nineteenth-century family structure and bourgeois society“ that „has rarely been noticed. Why should a society dedicated to an economy of profit-making competitive enterprise, to the efforts of the isolated individual, to equality of rights and opportunities and freedom, rest on an institution which so totally denied all of these? It’s basic unit, the one-family household, was both a patriarchal autocracy and a microcosm of the sort of society which the bourgeoisie as a class […] denounced and destroyed: a hierarchy of personal dependence“ (Hobsbawm, Age of Capital, S. 278). Pateman, Feminist Critiques, S. 103.

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schen Frauen und Männern, sondern dieses Konzept ist zugleich in die Ausbildung bzw. Umbildung und Fortschreibung der Ungleichheitsrelation zwischen HerrInnen und Knechten/Mägden zu modernen Klassen involviert. Denn für die nicht-bürgerlichen Schichten der Gesellschaft hat diese als natürlich propagierte und damit als unabänderlich akzeptierte Geschlechterordnung keine Geltung: Zum einen verfügen Männer der sog. Unterschichten nicht über genügend ererbten Besitz oder selbst erworbenes Einkommen, um die Rolle des alleinigen Brötchenverdieners ausfüllen und eine Familie erhalten zu können; zum anderen scheinen die Frauen der Unterklassen (und nicht einmal ihre Kinder) von Natur aus ungeeignet, zu schwach oder zu zart – auch noch für die schwersten Arbeiten in den Bergwerken oder an den Fließbändern.17 Die Verschonung des Lebens der Kultur und Natur in der geschützten Zone der Privatsphäre als Reich von Freiheit, Liebe und Bildung hat für sie keine Geltung. Das wohlgepflegte und -gehegte Eigen-Heim ist sowohl ein Geschlechter- als auch ein Klassenprivileg, das den Bedürfnissen des bürgerlichen Mannes entspricht, indem es ein Refugium des Mensch-Seins und der Bildung seiner individuellen Persönlichkeit bereitstellt. So gänzlich frei wie es auf den ersten Blick aussieht, ist dieses Refugium allerdings nicht; vielmehr dient es gerade in seiner Zweckfreiheit der Bildung eben der individuellen selbstbestimmten und selbständigen Persönlichkeit, die das moderne Subjekt als citoyen ebenso entwickeln muss wie als bourgeois – ein Persönlichkeitskonzept, das in der Generationenfolge der Firma Vater & Sohn vererbt wird. Im Zuge seines Aufstiegs zur hegemonialen politischen Ordnung der Moderne konstituiert der Liberalismus sowohl Geschlechter- als auch Klassenherrschaft in eklatantem Widerspruch zu den Ideen, auf denen er basiert, aber gleichwohl systematisch und systemtragend. Daraus erwachsen Probleme, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bedrohlich akkumulieren: Die laut schreiende Not der Pauperisierung, das ____________________ 17

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In der Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts ist der Klassenunterschied und die klassenspezifische Beschränkung der Zwei-Sphären-Theorie gesehen und kritisiert worden, z.B. von Hedwig Dohm: „O über dieses Geschwätz von der Sphäre des Weibes, den Millionen Frauen gegenüber, die auf Feld und Wiese, in Fabriken, auf den Straßen und in Bergwerken, hinter Ladentischen und in Bureaus im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot erwerben. Wenn die Männer vom weiblichen Geschlecht sprechen, so haben sie dabei nur eine ganz bestimmte Klasse von Frauen im Sinn: Die Dame. […] Geht auf die Felder und in die Fabriken und predigt Eure Sphärentheorie den Weibern, die die Mistgabel führen und denen, deren Rücken sich gekrümmt hat unter der Wucht centnerschwerer Lasten!“ (Dohm, Natur und Recht, S. 126 – ich danke Gudrun-Axeli Knapp für die Mitteilung dieses Zitats).

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Elend der arbeitenden Klasse und das etwas leiser schreiende Unrecht von Exklusion/Seklusion, die Misere der Frauen (aller Klassen) gefährden den Bestand der Gesellschaft und stoßen auf den Widerstand der sich formierenden Arbeiter- und Frauenbewegungen. Um die aus dieser doppelten Ungerechtigkeit resultierende Dysfunktionalität der bürgerlichen Lebensordnung und das in weiterer Folge drohende Systemversagen zu verhindern, tritt der Nationalstaat auf den Plan. Durch die Schaffung von staatlich getragenen oder garantierten vorsorgenden, Lebensrisiken absichernden Versicherungssystemen und Fürsorge leistenden Einrichtungen werden – beginnend mit Bismarcks Sozialgesetzgebung im ausgehenden neunzehnten und weiter im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts – Korrekturen an der Sphärentrennung von Öffentlichkeit und Privatheit vorgenommen, in deren Folge der Staat (mit zunehmender Tendenz) in die Privatsphäre ‚hineinregiert‘, so dass die privaten Lebenstätigkeiten zu Feldern bürokratischer Verwaltung und professioneller Tätigkeit werden. In der Perspektive des klassisch-bürgerlichen Liberalismus erscheinen solche Ansätze zur Überwindung der Sphärentrennung notwendigerweise problematisch und namentlich unter den Vorzeichen autoritärer oder totalitärer staatlicher Regime sind sie das auch zweifellos. Entsprechend wird die als Vor- und Fürsorglichkeit camouflierte Biopolitik, die weniger den BürgerInnen als dem Machterhalt bzw. Machtgewinn des Staates dient, weit über den liberalen Horizont hinaus von Menschen (unabhängig von ihrer Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit) als Zwang und Verletzung ihrer Lebenswege und Lebensweisen erlebt. 5.

Der sozial-liberale Wohlfahrtsstaatskompromiss nach 1945 – Das Stütze-Regime Oder: Der Luxus und die Proletarisierung der bürgerlichen Hausfrau

Erst in den Jahrzehnten nach 1945 gelingt es allmählich, einen Kompromiss zwischen den verschiedenen an diesem Problemfeld beteiligten Parteien und ihren divergierenden Interessen herzustellen. Dieser Kompromiss nimmt in den westlichen Industrienationen die Gestalt des – mal etwas mehr sozialen, mal etwas mehr liberalen – demokratischen Wohlfahrtsstaates an. Dieser soll die familiale Privatsphäre in ihrem Bestand wahren und schützen, sie im Bedarfsfall in ihren Funktionen unterstützen, im Notfall aushelfen und bei Ausfall ersetzen – kurzum, das Stütze-Regime. Auf der einen Seite wird dadurch die Not der arbeitenden Klasse gelindert. Der von Gewerkschaften und Unternehmen in Tarifpartnerschaft unter 369

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staatlicher Patronanz allmählich durchgesetzte, mehr oder weniger ausreichende Familienlohn nebst verschiedenen Zuwendungen aus Steuermitteln (z.B. Kindergeld, Wohngeld, Invaliditäts- und Altersrenten usw.) ermöglicht den Männern ‚einkommensschwacher Schichten‘ die Illusion, den Haushaltsvorstand spielen und sich den Luxus einer Hausfrau erlauben zu können, die sich um ihn und die Kinder, die alten Eltern und den Hund kümmert.18 Sobald die Frau nicht mehr mitspielen will und die Scheidung einreicht, findet dieser quasi ‚tertiär-patriarchale‘19 Traum ein Ende. Denn auf der anderen Seite gewinnen Frauen zeitgleich Zutritt zur politischen Öffentlichkeit sowie zu höherer Bildung und Ausbildung. In weiterer Folge münzt sich das um in exit options aus der Hausfrauenrolle durch bezahlte und zunehmend qualifizierte Berufsarbeit. Besonders seit der Jahrhundertmitte dürfen Frauen – zumal die Töchter der bürgerlichen Familien – ungehindert Bildungstitel und Zertifikate erwerben, die ihnen allerdings in den entsprechenden Berufskarrieren in der Regel weniger förderlich sind als ihren männlichen Mitbewerbern. Für die Frauen mit weniger Grundausstattung an Bildungschancen bedeutet das, weiterhin tun zu dürfen, was sie immer schon leisten mussten: a double shift, nämlich morgens vor und abends nach teilzeit-schlecht-bezahlter Hilfsarbeit im Betrieb unbezahlte und allein verantwortete Arbeit am häuslichen Herd bis zum holding hands at midnight. Dabei werden auch sie zunehmend unterstützt: durch öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten, Ganztagsschulen, Krankenanstalten, Pflegeheime, Müttergenesungswerke usw., in denen andere Frauen den breiten Fächer im häuslichen Raum unbezahlter Sorge-Arbeit gegen relativ schlechte Bezahlung übernehmen. Nicht zuletzt infolge der Mutation häuslich-privater Lebenssorgepflichten zu öffentlichen Veranstaltungen entsteht ____________________ 18

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„Die Verwandlung der Frauen in eine heimliche Dienerklasse war eine ökonomische Leistung ersten Ranges. Diener für niedere Arbeiten konnte sich nur eine Minderheit der vorindustriellen Gesellschaft leisten; im Zuge der Demokratisierung steht heute fast dem gesamten männlichen Bevölkerungsanteil eine Ehefrau als Dienerin zur Verfügung. Würden diese Arbeiten mit Geld entlohnt, so bildeten die Hausfrauen die mit Abstand größte Gruppe der ganzen Arbeiterschaft“ (Galbraih, Wirtschaft für Staat und Gesellschaft, S. 51f.). Damit hänge ich der von Ute Gerhard im Anschluss an René König eingeführten Bezeichnung des bürgerlichen Privatpatriarchats als „Sekundärpatriarchalismus“ noch eine Nummer drei an. Tertiärpatriarchalismus entsteht durch die gewerkschaftlich und sozialstaatlich mit dem Familienlohn durchgesetzte Erweiterung der für den Unterhalt Abhängiger erforderlichen Mittel auf Männer der nicht-bürgerlichen Klasse im 20. Jahrhundert (vgl. Gerhard, Patriarchat/Patriarchalismus).

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und wächst der „Hunger nach Tertiärem“ (Jean Fourastié), das heißt der Dienstleistungssektor wird erheblich größer, allerdings ohne dass sich die Erwartung besserer Bezahlung und höherer gesellschaftlicher Anerkennung flächendeckend durchgesetzt hätte.20 Vielmehr setzt sich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auf dem Arbeitsmarkt sowie in allen anderen Sphären der Öffentlichkeit fort. Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass die Flexibilisierung der klassischmodernen Geschlechterordnung zum double shift für Frauen aller Klassen einen gewissen Charme zu entfalten vermag: Aus dem bornierten und verächtlichen Dasein der ‚Nur-Hausfrau‘ in der Isolation des Eigenheims bedeutet der Mini-Job im Pflegeheim, an der Supermarktkasse nebenan oder die auch nicht besser bezahlte, vielleicht sogar ‚ehrenamtliche‘, aber dafür ehrenvolle und selbstbefriedigende Tätigkeit in einer Wohltätigkeitsorganisation oder in der Galerie für moderne Kunst zwar keinen Ausweg, aber doch wenigstens eine Abwechslung. Umgekehrt kann das selbstbestimmte Kochlöffel-Kommando am mehr oder weniger allein gemanagten heimischen Herd im Vergleich zum Stress untergeordneter, marginaler Erwerbsarbeit durchaus attraktiv erscheinen. Während einerseits die Sicherheit eigenen Geldes (so wenig es sein mag) die Verhandlungsposition gegenüber dem male-breadwinner stärkt, bleibt andererseits doch die – nicht zuletzt durch die entsprechenden Produkte der Kulturindustrie wirksam beflügelte – Hoffnung, irgendwann ‚den Richtigen‘ zu finden, den Märchenprinzen, der die Prinzessin vom Pendelverkehr zwischen zwei Arten von Aschenputtel-Existenzweisen endlich erlösen würde. Darüber mögen orthodoxe Marxistinnen und strenge Feministen die Nasen rümpfen, während liberale Beobachterinnen an diesem Punkt ihr Ziel erreicht sehen und sich für alles Weitere als nicht zuständig verabschieden. Wenn Frauen freiwillig die tradierten Rollen übernehmen, dann ist daran aus liberaler Perspektive nichts auszusetzen oder jedenfalls nichts zu machen: „[T]he division of labor is largely perpetuated through women’s autonomous choices about the life they wish to lead, which liberal neutrality requires us to respect […] There is nothing more that a liberal can or should ____________________ 20

Die Professionalisierung der von Frauen geleisteten Für- und Vorsorge-Arbeit hat ein ‚Loch‘, durch das der aufgrund wachsender Nachfrage zunehmende Druck auf adäquate Bezahlung entweichen kann: da ist die nach wie vor unbezahlte und wohl nicht vollständig bezahlbare private Eigenarbeit und Selbstsorge sowie der sog. tertiäre Sektor zahlreicher Non-Profit Organisationen, sei es in der Tradition der Barmherzigkeit um Gotteslohn, sei es im Sinne säkularhumaner Solidarität oder Genossenschaftlichkeit.

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do“.21 Mit dem Verweis darauf, dass die Art und Weise wie Frauen die hart umkämpften und endlich errungenen „autonomous choices“ nutzen, ihre ‚Privatangelegenheit‘ sei, wird die Verantwortung an die Individuen überwiesen. Falls Frauen die ihnen gebotenen Zutrittschancen nicht nutzen? Ja, dann haben bzw. sind sie eben ‚selbst schuld‘. Wenn die verschiedenen Trumpfkarten der Freiheit – Selbstbestimmung, Selbständigkeit, Selbstverwirklichung – nicht stechen, wird im liberalen Lager regelmäßig diese AKarte gezogen, auf der auch noch Selbst steht. Ob der Liberalismus an diesem Punkt sein Limit erreicht? Das Ziel freier Gleichheit und gleicher Freiheit wird jedenfalls verfehlt. Das Ziel freier Gleichheit wird auf der Seite des Öffentlichen verfehlt. Hier müssen sich Frauen in die Hosenrolle zwängen (für die jüngeren Frauen in den Junior-Positionen heißt das, in immer kürzere und engere Röcke) und sich den geltenden Spielregeln unterwerfen, dem Gebaren und Habitus anpassen, den Sprech- und Verhaltensweisen, die sich in diesen Bereichen infolge über lange Zeiträume hinweg exklusiv männlicher Bewirtschaftung zu einer spezifisch männlichen Betriebs- und Geschäftskultur entwickelt haben. Das Ziel gleicher Freiheit wird auf der Seite des Privaten verfehlt, insofern Frauen hier weiterhin die Kinder-, Krankenzimmer- und Küchenschürze tragen, die sie allenfalls (mit schlechtem feministischen Gewissen) an andere Frauen weitergeben können, um ein paar Stunden länger im business-suit herumlaufen zu dürfen, wenn sie nicht überhaupt nur die Schürze wechseln, um für ein paar peanuts mehr oder weniger ‚Zuverdienst‘, endlich auch Erwerbsarbeit zu leisten. So wie beim freien Arbeiter, der auf dem freien Markt nichts anderes anzubieten hat als seine Arbeitskraft, ist und bleibt die Wahlfreiheit der Frauen durch den Mangel an attraktiven Alternativen beschränkt. Am Ende bleiben Frauen in beiden Sphären, sowohl in Politik und Ökonomie als auch in der Privatsphäre auf nachgeordnete, sekundäre Positionen verwiesen, wobei sich dazwischen gerade aufgrund der charmanten access & exit-options nicht echte Wahlfreiheit, sondern ein circulus vitiosus ergibt: je mehr Frauen sich infolge ihrer schlechteren Chancen in den Betrieben auf ihre häusliche Rolle verwiesen sehen, desto mehr behindert die Wahrnehmung ihrer vielfältigen häuslichen Pflichten ihr berufliches ‚Fortkommen‘. Aber Frauen wollen nicht nur beide Rollen spielen, sondern sie müssen es auch, denn für sehr viele Familien reicht auch der zum ‚Familienlohn‘ aufgerundete pay cheque, den the male breadwinner allein nach ____________________ 21

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Barcley, Liberal Daddy Quotas, S. 167.

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Hause bringt, nicht aus. Und auf alle Fälle, für alle Frauen bedeutet die Abhängigkeit von Einkommen oder Verdienst des Lebens-(Abschnitts-)Partners ein beträchtliches Risiko. Wollte ich zynisch sein, würde ich behaupten: Die Flexibilisierung der Geschlechterordnung durch access & exit options erweitert die Last der „doppelten Vergesellschaftung“,22 die im 19. Jahrhundert das traurige Los der Arbeiterinnen war, auf Frauen aller Klassen. Die Liberalisierung bewirkt nicht viel anderes als die Proletarisierung der bürgerlichen Hausfrau. Jedenfalls hat sich für alle Frauen trotz zunehmender und (je nach Herkunft und Klassenzugehörigkeit unterschiedlicher Partizipation am politischen und ökonomischen Prozess) an ihrer primären Zuständigkeit für die Familien(arbeit) kaum etwas geändert. So flexibel bis prekär wie die Situationen und die ambivalenten Wünsche von Frauen sind die Positionen der Sozial- und Frauenpolitik – wobei sich die berühmte Henne-Ei-Frage stellt: Bedient die Politik die widersprüchlichen Interessen und Aspirationen ihrer Klientel oder wird deren Hängepartie zwischen unzulänglichen Alternativen strukturell durch eine ambivalente Politik verstärkt, wenn schon nicht verursacht, so doch mit bedingt? Auf der einen Seite hat das Gleichheitsgebot in der Mitte des 20. Jahrhunderts Verfassungs- und Menschenrechtsrang erlangt.23 Also soll dem Streben von Frauen nach Partizipation am politischen und ökonomischen Prozess der Gesellschaft durch staatliche Gleichstellungspolitik entsprochen werden. Allerdings steht Artikel 3 des Grundgesetzes nicht gerade im Mittelpunkt des demokratischen Prozesses. An den Mauerblümchenrändern bleibt Frauenpolitik Frauensache, die – auf dem höheren Niveau der Verwaltung – so ähnlich von Frauen an andere Frauen weitergereicht wird wie die pedestre Hausarbeit. Die ‚Frauenfrage‘ wird delegiert an Berufspolitikerinnen, Verbandsakteurinnen in Kirchen, Gewerkschaften und anderen Organisationen nebst allerlei ‚Frauenbeauftragten‘ in diversen Institutionen und als nebensächlich auf die lange Bank geschoben. Das jahrzehntelange Auf-der-Stelle-Treten der Gleichstellungspolitiken ist nicht verwunderlich. Denn auf der anderen Seite sind auch „Ehe und Familie […] Werte im Verfassungsrang […] Der Gesetzgeber ist durch Art. ____________________ 22 23

Becker-Schmidt, Doppelte Vergesellschaftung u.ö., Knapp, Vergesellschaftung von Frauen u.ö. Die Aufnahme des Gleichheitsgrundsatzes in die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen und in nationale Verfassungen (wie z.B. das Grundgesetz der Bundesrepublik) erfolgt in etwa zeitgleich auf dem Hintergrund der Erfahrungen von Totalitarismus und Krieg in den Jahren nach 1945.

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6 Abs. 1 GG zum Erlaß ehe- und familienfreundlicher Regelungen verpflichtet“. Der Bundesverfassungsrichter Udo Steiner bezeichnet Artikel 6 als „eine der großen verfassungsdogmatischen Herausforderungen im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes […] Die intensive Fortentwicklung und Anpassung des Familienrechts in der Nachkriegszeit“ sieht der Jurist allerdings nicht in diesem Artikel selbst begründet, sondern sie ist diesem „eher durch andere Verfassungsnormen aufgedrängt […] worden. Dies gilt ganz besonders für die Entscheidung des Grundgesetzes, Mann und Frau gleich zu behandeln und gleichzustellen“. Mit anderen Worten: Zwischen Artikel 3 und 6 besteht ein „verfassungsdogmatisch“ interessantes Spannungsverhältnis. Dem Gebot zur Aufrechterhaltung und Adaptierung der bürgerlich-patriarchalen Privatfamilie kommt die Politik durch allerlei steuerpolitische ‚Anreize‘ und sonstige Maßnahmen vom Ehegatten-Splitting bis zur Hausfrauenrente nach, über die sich zwischen liberal-konservativen und sozial-liberalen Parteien langatmig streiten lässt. In der Namensgebung des deutschen Bundesministeriums findet die komplexe juristische Materie unmittelbar sinnfälligen Ausdruck. Die Agenden „Familie, Senioren, Frauen und Jugend“ fallen in ein und dasselbe Ressort. Die Reihenfolge der Nennung der Zuständigkeitsbereiche lässt am Vorrang der Familie ebenso wenig Zweifel aufkommen wie an der ungebrochenen Zugehörigkeit von Frauen zur Familie und konkret heißt das, an ihrer Zuständigkeit für die anderen ‚Klienten‘ der Ministerialbürokratie für die Alten, die Kinder und Jugendlichen. Um die Spannungen zwischen patriarchalischer Familienpolitik und Gleichstellungspolitik in Karriere und Beruf auszugleichen, haben sich die Expertinnen einigermaßen kostenneutrale work-life-Balance-Akte ausgedacht, mit denen kaum Männer, sondern Frauen auf die Vereinbarkeitsschaukel von Haushalt und Beruf geschickt werden. Der den Frauen zugemutete Spagat, the double shift, das ist nicht nur das quantitative Problem von mehr Arbeits- und weniger Freizeit. Die doppelte Vergesellschaftung bringt zusätzlich auch das qualitative Problem mit sich, diametral entgegengesetzten Anforderungen und Leitbildern gerecht werden zu sollen. Auf der einen Seite steht das ‚Mutter-ist-die-Beste‘-FamilienModell des bürgerlichen Sekundär- plus Tertiär-Patriarchalismus; auf der anderen Seite der Anpassungsdruck an ein männlich definiertes Handlungsund Subjektkonzept. Das Bild des unencumbered self des freien Unternehmers oder des freien Arbeiters bildet die default-line in Ausbildung und Beruf. Laut fordert der Chor seit Jahrzehnten: Mehr Frauen in die MINT-Fächer, mehr Frauen in Männerberufe.

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Das von Bürgern und Bürgerinnen mehrheitlich, wenn schon nicht gewünschte, so doch akzeptierte, politisch geschützte und gestützte Konzept produziert ein Patt, einen „verharrenden Wandel“.24 Während einerseits die reale Gleichstellung der Geschlechter noch nach zweihundertundzig Jahren auf Verwirklichung auch nur in ihrer basalsten, banalsten Form des gleichen Lohns für gleiche Erwerbsarbeit harrt,25 weil die Frauen wohl zu dumm oder zu träge sind, die vielen Chancengleichheitsangebote anzunehmen, schreitet die ‚Erosion der Familie‘ trotz aller Hege und Pflege voran – woran doch nur der Feminismus schuld sein könne. Bleibt hinzuzufügen, was damit selbstverständlich verbunden ist, obwohl diese Aspekte in diesem Beitrag weniger im Blickpunkt stehen: So wie die Geschlechterordnung bleiben auch die Linien der Klassengesellschaft erhalten. Nicht zuletzt spiegeln sich ihre Konturen wider in den Versicherungs- und Vorsorgesystemen, in den Versorgungs- und Pflege-Einrichtungen, sowie in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, die es allesamt in doppelter Ausfertigung gibt entlang der privat-öffentlich-Scheidelinie zwischen jenen, die sich mit Privatvermögen im Rücken den Luxus des Privaten von der Wiege bis zur Bahre leisten können oder wollen und denen, die auf die öffentlichen Bedürftigenanstalten angewiesen sind. Vielleicht nicht einmal trotz, sondern gerade wegen der unermüdlichen Versuche, das ganze Wergel ‚sozialverträglich‘ auszustopfen und einzubalsamieren,26 besteht in allen Veranstaltungen und Einrichtungen der Lebenssorge in den modernen Demokratien ein Zweiklassensystem fort. Solange die Decke auch am unteren Ende noch irgendwie reicht, hält sich der Widerstand dagegen, dass andere größere, schönere und wärmere Decken haben, in Grenzen: Vor allem hält der allgemeine Fortschrittsglaube die Hoffnung auf ein besseres ____________________ 24 25

26

Oppen/Simon, Verharrender Wandel. Übrigens liegt die Ungleichheitsmarge, die inzwischen trendig zur „Entgeltdiskriminierung“ umgetauft wird, auch nach mehreren Jahrzehnten neoliberaler Hegemonie bei über 20%, obwohl sich die verschiedenen politischen Parteien und Organisationen unter eben diesem neoliberalen Regime etwas mehr Mühe geben. „Auf der Makroebene der empirisch überprüfbaren Ressourcen-Verteilung kann […] von objektiver Klassenlosigkeit keine Rede sein, also davon, daß der soziale Zugang zu materiellen (Geld-, Haus- und Grundbesitz, Produktionsanlagen) und nicht-materiellen (Bildungszertifikate) Wohlfahrtsgütern von der jeweiligen sozialstrukturellen Lage in einem starken Sinne abgekoppelt sei (Entstrukturierungshypothese). Vielmehr ist auch weiterhin eine negative Determinationskraft der Sozialstruktur im Hinblick auf die Realisierung sozialer Chancen zu unterstellen (Strukturierungshypothese)“ (Bittlingmayer/Kraemer, Klassenlosigkeit als Konstrukt, S. 279).

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Cornelia Klinger

Morgen wach. – Die Hoffnung auf morgen eine warme Decke und ein Zuckerbrot mehr motiviert autonome und rationale Esel, den Karren schneller, höher und weiter zu ziehen. Als Zwischenfazit lässt sich zusammenfassen: Der sozial-liberale Kompromiss akkomodiert die defiziente bürgerliche Klassen- und Geschlechterordnung – ohne sie abzuschaffen. Im Gegenteil, national-liberal-sozialstaatlich gerahmt und abgefedert, erweitert sich ihr Geltungsbereich auf die nicht-bürgerlichen Schichten, die sich nun auch ein mehr oder weniger bescheidenes Privatleben leisten können, während sie gleichzeitig nun auch Frauen ein mehr oder weniger bescheidenes Maß an Selbstbestimmung und Selbständigkeit ermöglicht, wobei sich die bescheidenen Fortschritte allerdings wechselseitig konterkarieren und ausbremsen. In der Folge ihrer Erweiterung auf alle Männer und ihrer Flexibilisierung für alle Frauen ist die bürgerliche Klassen- und Geschlechterordnung zum weithin akzeptierten Lebensmodell avanciert. Das ist nicht verwunderlich, denn in Anbetracht der Beschaffenheit des modernen Apparate- und Betriebssystem bleibt allen Menschen nicht viel anderes übrig, als im Winkel des Privaten Schutz zu suchen. Nicht zuletzt durch den gewaltigen Aufschwung der Konsumgüterindustrie ist dieses Modell regelrecht zur Komfortzone ausgebaut und massentauglich geworden. Die Privatsphäre als Freizeitpark und Freilichtbühne zur Erholung, zur Entfaltung der Individualität und zum Genuss des Lebens, wie es im 19. Jahrhundert das Privileg der bürgerlichen Väter und Söhne war, hat sich im 20. Jahrhundert auf weitere Kreise ausgedehnt – ein Demokratisierungsfortschritt?! 6.

Cui bono? Oder: Die große Schattenwirtschaft der Moderne27

Das jahrzehntelange Fortbestehen dieser als weitgehend alternativlos akzeptierten, aber gleichwohl unbefriedigenden Konstellation wird erst verständlich, wenn wir den beharrenden Wandel aus einer anderen Perspektive vor den Blick nehmen und sehen, dass der wohlfahrtsstaatliche Kompromiss in der Öffentlich-Privat-Sozialtopologie weniger den menschlichen AkteurInnen nützt, sondern dass es vielmehr die Systeme sind, die aus dieser Konstellation Vorteile ziehen: Das Maschinensystem der kapitalistischen Wirtschaft (die in der sozialen Marktwirtschaft des Wohlfahrtsstaates ____________________ 27

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Zu diesem Abschnitt vgl. Klinger, Freiheit und Gleichheit der Personen – Unfreiheit und Ungleichheit in personalen Beziehungen.

Weder eine bürgerliche Ehe noch eine perverse Wahlverwandtschaft

gebändigt wird) sowie die Systemmaschine des bürokratischen Nationalstaates (der zum Sozialstaat umgebaut, aber nicht abgeschafft wird) profitieren von der Aufrechterhaltung einer vor ihrem direkten Zugriff geschützten, zum Exterritorium deklarierten Privatsphäre. Diese sozialtopologische Strukturierung ermöglicht die Externalisierung von Kosten und beschert beiden Handlungssystemen eine Ungleichheitsrendite, da sie für die Gestehungskosten ihrer Akteure, für das Leben und die Lebenshaltung ihrer BürgerInnen nicht in vollem Umfang aufkommen müssen. Sie können auf die in der Privatsphäre erzeugte und gepflegte menschliche Arbeitskraft und Lebensenergie, Prokreativität und Kreativität, Generativität und Regeneration, Persönlichkeits- und informelle Wissensbildung als externe Quellen, als quasi natürliche Ressource zugreifen – so wie es dieses System auf alle anderen natürlichen Rohstoffe meint, tun zu können. Die unbezahlte Eigen- und Beziehungs-, Erziehungs- und Bildungs-, Pflege- und Betreuungsarbeit, kurzum die gesamte, als privat verschonte und zugleich kostensenkend externalisierte Lebensführung ist die große Schattenwirtschaft der modernen Gesellschaft. „Ein großer Teil der Sorgearbeiten wird […] noch immer überwiegend von Frauen als unbezahlte Arbeit in Haushalten verrichtet und von der Privatwirtschaft als externe Gratisressource behandelt“28. Tatsächlich wird – und zwar überall auf der Welt „ähnlich viel bezahlt wie unbezahlt gearbeitet“, wobei „Frauen erheblich mehr unbezahlt arbeiten als Männer“, während umgekehrt „Männer erheblich mehr bezahlt arbeiten als Frauen und […] in den meisten Ländern die gesamte Arbeitsbelastung von Männern und Frauen ähnlich ist oder Frauen sogar mehr arbeiten“.29 Was lange im Schatten gestanden und unbeachtet geblieben ist, nämlich, „dass Sorgearbeiten […] sowohl ein Außen […] als auch eine unverzichtbare Voraussetzung der Akkumulation dar[stellen]“,30 kann inzwischen als unbestritten gelten.31 ____________________ 28 29 30 31

Dörre et al., Landnahme, S. 113. Knobloch, Unbezahlte Arbeit, S. 13. Dörre et al., Landnahme, S. 110. Wie groß der Anteil dieser Schattenwirtschaft am Reichtum und an der Leistung der Gesellschaft ist, das lag für die männlich dominierte wissenschaftliche Beobachtung lange Zeit im Dunkel. Die allenfalls einmal als ‚informell‘ apostrophierten, abgetanen privaten Verhältnisse kamen kaum vor den Blick der Gesellschafts-, Politik- oder Wirtschaftswissenschaften. In den 1970er Jahren stellt das einer der einflussreichsten US-amerikanischen Ökonomen seiner Zeit wenigstens einmal kurz und bündig fest: „der Wirtschaftswissenschaftler dringt nicht in die Privatsphäre des Haushalts ein“ (Galbraith, Wirtschaft für Staat und Gesellschaft, S. 54; ähnlich Sen, Economics, S. 369). Für das Verständnis der

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Wohl nicht zufällig entsteht das Bewusstsein für die Kosten der menschlichen und der nicht-menschlichen Naturresourcen in etwa zur gleichen Zeit. Und wohl nicht zufällig sind es zwei der Neuen Sozialen Bewegungen, die in den 1970er Jahren mit dem Nachrechnen anfangen. Die Debatten um Lohn für Hausarbeit und Subsistenzwirtschaft in der ‚Dritten Welt‘ beginnen in dieser Zeit weniger im liberalen mainstream als an den Rändern und in radikaleren Zirkeln der neuen Frauenbewegung, während die Ökologiebewegung das Bewusstsein für den Raubbau an der äusseren Natur weckt. Aus beiden Richtungen ergeben sich Forderungen nach einem tiefgreifenden Umbau der Gesellschaft. Die von hier ausgehenden Überlegungen stehen bis heute zur Diskussion – während die sie tragenden Bewegungen etwa seit den 1980er Jahren von der Welle des Neoliberalismus überrollt worden sind.

____________________ Geschlechterordnung hat diese Abblendung gravierende Folgen: Die Leistungen der Frauen werden „weder beim Nationaleinkommen noch beim Bruttosozialprodukt berücksichtigt“ (Galbraith, Wirtschaft für Staat und Gesellschaft, 1974, 52). Seit den 1970er Jahren sind Fortschritte erzielt worden; inzwischen ist „die Grössenordnung unbezahlter Arbeit […] bekannt und unbezahlte Arbeit wird in der Wissenschaft […] zunehmend zum Thema“ (Knobloch, Jonglieren mit Zeiten, S. 25). Tatsächlich ist in den letzten Jahrzehnten sowohl im näheren deutschsprachigen Raum und im weiteren, internationalen Kontext im Rahmen von feministischer Forschung und Gender Studies ein eigener wirtschaftswissenschaftlicher Forschungszweig entstanden, der sich diesen Fragen widmet. Mag dieser vom mainstream der Ökonomie und Ökonomik immer noch marginalisiert und ignoriert werden, so sind es vor allem die großen internationalen Organisationen die zur statistischen Erfassung Methoden und Instrumente entwickelt haben, um das Volumen und den Wert der unbezahlten Arbeit zu bestimmen. Trotzdem gelangt Ulrike Knobloch auch in der Mitte der 2010er Jahre zu dem Fazit: „Eine Wirtschaftstheorie, die die unbezahlte Arbeit konsequent in ihre Analyse einbezieht, also eine Theorie der bezahlten und unbezahlten Arbeit, gibt es […] noch nicht“ (Knobloch, Jonglieren, S. 25). Ob es am Ende auch daran liegt, dass es prinzipiell schwierig sein dürfte, den ökonomischen Wert der häuslichen Schattenwirtschaft in den Termini einer Wissenschaft zu analysieren, die es nicht nur zufällig über weite Strecken versäumt hat, diesen Fragen Aufmerksamkeit zu schenken, sondern deren gesamtes konzeptuelles Gerüst und methodisches Rüstzeug unter Ausschluss dieser Perspektive gebildet wurde.

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Weder eine bürgerliche Ehe noch eine perverse Wahlverwandtschaft

7.

Neue Befreiungsbestrebungen und das große roll-over des Neoliberalismus

Nach jahrzehntelangem Hin- und Her-Lavieren und Herumdümpeln im verharrenden Wandel sozial-liberaler Gesellschaft und Politik schiebt der Neoliberalismus nun auf einmal den Riegel weg vor der sakrosankt gestellten Privatsphäre, stellt den liberalen Respekt vor den zur ‚Privatsache‘ erklärten Entscheidungen von Akteurinnen beiseite, und schlägt sich überraschend plötzlich und entschieden auf die egalitäre Seite. Aus nationalen und internationalen Chefetagen kommen seit den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts auf einmal stramme en-marche-Befehle in Form von ministeriellen Erlassen, Strategiepapieren von internationalen Enquete-Kommissionen und Management-Manualen von consulting-Agenturen, um das weibliche Geschlecht nun endlich zu mainstreamen und gleich im selben Aufwasch auch noch die Differenzen diverser andersartiger oder anders orientierter Minderheiten – von den vielfarbigen Fremden, über die vielfältig Behinderten, Sperrigen und Widerspenstigen bis zu den armen Alten – als diversity zu managen – mit dem Ziel, nun alle samt und sonders undiskriminiert in den gesellschaftlichen Prozess zu integrieren. Was lange Zeit bottom-up verlangt wurde, soll hoppla-hopp top-down durchgesetzt werden. Was im Zuge des Übergangs der politischen Macht in die Hände liberalkonservativer Regierungen in den 1980er Jahren (in Großbritannien, USA, Deutschland usw.) im Abbau des Wohlfahrtsstaates zunächst als Strategie zur Armutsbekämpfung beginnt, nämlich als Bewegung von welfare to workfare, ist nicht einfach ein kurzer Rückweg von Keynes zu Schumpeter.32 Hier geschieht etwas Anderes und Neues seit das Sparprogramm international – in Europa hauptsächlich getragen von der Europäischen Union – zu einem allgemeinen adult worker model (AWM) ausgebaut wird – mit dem Ziel, to „end welfare as we have come to know it“.33 Mit dem adult worker model wird der Abschied vom geschlechtsspezifischen Zuschnitt der modernen Gesellschaft in der Division zwischen male breadwinner und female homemaker entlang der Scheidelinie zwischen öffentlich und privat zu einem umfassenden, im mainstream von Staat und Wirtschaft stehenden Projekt – zum ersten Mal ‚seit Menschengedenken‘ wird damit die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung grundsätzlich in Frage gestellt! ____________________ 32 33

Vgl. Jessop, Towards a Schumpeterian Workfare State?; Bertram, The Workfare State. Clinton, Hope and History, S. 66-68.

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Cornelia Klinger „[W]e are moving into a period where the boundaries between public and private domains, so well laid down in the nineteenth century and continued into the second half of the twentieth century, are beginning to crumble away“.34

Wer könnte bestreiten, dass die Forderungen von Frauen nach gleichberechtigtem Zugang zur Gesellschaft, nach Selbstbestimmung und Selbständigkeit via Berufs- und Erwerbsarbeit auf diese Weise neuen Auftrieb erhalten? Mit seinen intensivierten Anstrengungen und handfesten Maßnahmen zur Integration von Frauen schließt der Neoliberalismus an egalitäre feministische Forderungen an, die Ordoliberalismus samt liberal-feministischem Anhang im Kompromiss mit dem Konzept von Naturschutzzone und Freizeitpark im Privaten, wenn schon nicht aufgegeben, so doch kompromittiert und behindert haben. Daher ist nicht einzusehen, warum die Allianz (Post-)Feminismus – Neoliberalismus problematischer oder gar ‚perverser‘ sein sollte, als irgendeine andere Allianz, die der Feminismus im Laufe seiner Geschichte eingehen wollte, konnte oder musste. Frauen im Allgemeinen oder den Post-Feminismus im Besonderen als Opfer zu bedauern oder ihnen gar eine untergründige Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus zu unterstellen, greift daneben bzw. viel zu kurz. 8.

Ende gut Oder: alles schlecht auf Kafkas langer Bank vor dem Gleichstellungsgesetz?

Damit ist nur gesagt, dass der Neoliberalismus kein schlechterer Partner ist als andere. Aber es sind Zweifel daran erlaubt, dass er ein besserer sein könnte. Nach etwa dreißig Jahren neoliberaler Hegemonie zeigt sich, dass der neue Apfel so weit vom alten Stamm nicht fällt. Denn längst sind die Zeiten vorüber, in denen die ehrgeizigen Strategien zur radikalen Erhöhung der Beschäftigungsquote von Frauen Aussicht auf Erfolg versprachen.35 In der Lissabon-Strategie wurde im Jahr 2000 für Europa bis 2010 der Aufstieg zur dynamischsten wissensbasierten, das heißt hightech-getriebenen Wirtschaftszone der Welt anvisiert. Um dieses Ziel erreichen zu können, sollten energische Modernisierungsmaßnahmen ergriffen werden. Dazu gehörte eine Beschäftigungsstrategie, die alle Humanressourcen zum Einsatz bringen müsste, da Europa gerade in dieser Hinsicht gegenüber den ____________________ 34 35

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Ungerson, Social Politics and the Commodification of Care, S. 363. Propagiert werden sie unbeschadet der inzwischen eingetretenen Enttäuschungen noch bis heute. Als Beispiel unter vielen vgl. http://www.faz.net/aktuell/ berufchance/arbeitswelt/frauenbeschaeftigungsquote-13369727.html. (Letzter Zugriff am 29.05. 2017).

Weder eine bürgerliche Ehe noch eine perverse Wahlverwandtschaft

Konkurrenten USA und namentlich im Vergleich zu den demografischen Riesen China, Indien usw. mit ihrer mehrheitlich jungen Bevölkerung alt und schwach zurückbleiben könnte. Daher wurde die „Gleichstellung der Geschlechter […] eine der vier Säulen der ‚Europäischen Beschäftigungsstrategie‘“.36 Es ist der Konkurrenzkampf um Weltmacht- und Weltmarktstellung der (einzelnen oder zu supranationalen Verbünden zusammengeschlossenen) global players, der Politik und Ökonomie dazu antreibt, dem anderen Geschlecht sowie diversen anderen bisher an der Teilnahme am rat race Ge- oder Behinderten die Offerte gleicher Rechte und Freiheiten zu machen mit dem Argument universaler Menschenrechte als Trumpfkarte.37 Spätestens seit den Krisenjahren um 2008 rudert das neoliberale Regime zurück. Anstatt bis 2010 das allumfassende adult worker-Modell zu verwirklichen, das neben den Frauen als care-giver auch die care-receiver, die

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Schmid, Gleichheit und Effizienz, S. 2. Unter der Hand werden dabei die großen kollektiven Achsen globaler gesellschaftlicher Ungleichheit (Klasse, Geschlecht, Nationalität/Ethnizität/Rasse) entkontextualisiert; das heißt, einerseits werden Ansprüche auf Partizipation am gesellschaftlichen Prozess zum universalen Menschenrecht erhöht, ja überhöht, während die Vorenthaltung oder Kränkung dieser Rechte entpolitisiert und zum Problem personaler Diskriminierung individualisiert und individuell justiziabel gemacht wird, was durchaus im Einklang steht mit einer allgemeinen Tendenz des Liberalismus zur Verrechtlichung politischer und gesellschaftlicher Problemlagen.

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Alten, Kranken und Behinderten38 an die Arbeitsfront geschickt hätte, deklariert die EU das Jahr 2011 zum „Jahr des Ehrenamts“.39 Zwar mögen Politik und Wirtschaft mit scharfen Antidiskriminierungsgeschützen auf ‚die armen Spatzen‘ zielen, die sich gegen die billigere Konkurrenz von ____________________ 38

39

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Wenn mit dem adult worker model die Geschlechterordnung grundsätzlich in Frage gestellt wird, dann steht damit auch die Generationenordnung zur Disposition. Denn als „adult“, das heißt als arbeitsfähig sollen nicht nur erwachsene Personen unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit gelten, sondern die Arbeitsfähigkeit wird zeitlich erweitert und zwar namentlich in Richtung der älteren Generation, da an der Verschonung der Kinder von der Arbeit durch die Schulpflicht nicht zu rütteln ist. – Indes wäre zu fragen, ob das, was Jugendliche inzwischen in den Schulen leisten sollen, nicht als neue Form von Kinderarbeit bezeichnet werden muss. In immer zarterem Alter wird Nachwuchs in Vorschulen und Kindergärten eingeschleust, bis ganz zurück an den Lebensanfang, in die ‚Krippen‘ (diese Bezeichnung mag in der Erinnerung an die behelfsmäßige Aufbewahrung des Gottessohns im Stall von Bethlehem noch mit einem blassen Heiligenschein versehen sein, aber dennoch lässt sie eher an Tiere denken als an Kinder, die in der Wiege liegen). Unter dem Etikett der Praxisorientierung mutiert auch akademische Bildung zu Ausbildung, die direkt auf die Verwendung/ Verwertung auf dem Arbeitsmarkt abzielt. Es fragt sich, ob die Ächtung von Kinderarbeit zugunsten einer freien Bildungsphase, die nach bürgerlichem Vorbild unter wohlfahrtsstaatlichem Schutz durchgesetzt werden konnte, heute noch Geltung beanspruchen kann. Dem widerspricht es nicht, wenn gleichzeitig das hohe, zweckfreie bürgerliche Bildungsideal neu entdeckt und regelrecht gefeiert wird. „[A]uf allen Bildungsebenen (von der Grundschule bis zu den Universitäten) [gilt es im Gegensatz zum herrschenden Trend, C.K.] systematisch und umfassend allgemeine Persönlichkeits- und Lebenskompetenzen auszubilden – womit in gewisser Weise das klassische Persönlichkeits- und Bildungsideal der europäischen Moderne in neuer Form revitalisiert würde, statt es über Bord zu werfen. Nur so ist ein ökonomisch nutzbarer, sozial verträglicher und individuell lebbarer Übergang zu dem […] neuen Arbeitskrafttypus denkbar“ (Voß, Arbeitskräfte, S. 155). Das ist der Arbeitskraftunternehmer oder Kreativarbeiter und Selbstunternehmer, zu dem die immer weniger fest Beschäftigten, sondern freigesetzten und prekarisierten AkteurInnen umgelogen werden. Das Leitbild der Persönlichkeitsbildung des bürgerlichen Mannes in der Privatsphäre und auf den Bildungsreisen der jungen gentlemen des 19. Jahrhunderts wird hier bis zur Unkenntlichkeit entstellt. In Großbritannien wird inzwischen das „adult carer“-Konzept propagiert, in der Absicht, junge Personen für unbezahlte Lebenssorgedienste zu mobilisieren und zu organisieren („A young adult Oxfordshire carer is someone aged 18 to 25 who provides unpaid support for another adult who lives in Oxfordshire. The cared-for person may be a partner, family member or friend, with an illness or disability, mental health condition or an addiction who could not manage without this help“ (http://www.carersoxfordshire.org.uk/cms/content/ young- adultcarers (letzter Zugriff am 07.07. 2017)).

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Frauen, Fremden und anderweitig Behinderten um ihre Arbeitsplätze zu wehren versuchen,40 aber das vermag nichts daran zu ändern, dass die Gehandicapten weiterhin auf Kafkas langer Bank vor dem (Gleichstellungs)Gesetz sitzen und warten.41 Die Ursachen der Probleme liegen nicht (nur) in dem bösen Willen oder den konträren Interessen von unterschiedlich situierten AkteurInnen, sondern (auch) in den Strukturen eines politischen und ökonomischen Systems, das die Arbeit und das Leben von Menschen nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu politischem und ökonomischem Machterhalt und Machtgewinn einsetzt. – Ein Liberalismus von morgen, um den zu bitten wir alle Grund haben, müsste sich auf die aufklärerischen und revolutionären Ziele der Freiheit und Gleichheit der Weltbürgerschaft besinnen statt auf die Freiheit des Wettbewerbs von Staaten oder Märkten zu setzen, die in der Geschichte der Moderne in periodischen Abständen zu Kriegen führt. Literaturverzeichnis Barclay, Linda: Liberal Daddy Quotas: Why Men Should Take Care of the Children, and How Liberals Can Get Them to Do It, Hypatia 28/1, 2013, S. 164-178. Becker-Schmidt, Regina: Die doppelte Vergesellschaftung – die doppelte Unterdrückung: Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften. In: Wagner, Ina/Unterkircher, Lilo (Hrsg.): Die andere Hälfte der Gesellschaft, 1987, S. 1027. Bertram, Eva: The Workfare State: Public Assistance Politics from the New Deal to the New Democrats (= American Governance: Politics, Policy, and Public Law), 2015. Bittlingmayer, Uwe/Kraemer, Klaus: Klassenlosigkeit als Konstrukt. Anmerkungen zum Wandel kollektiver symbolischer Sinnwelten. In: Rademacher, Claudia/Wiechens, Peter (Hrsg.): Geschlecht, Ethnizität, Klasse. Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz, 2001, S. 275-296.

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Inzwischen ist gender mainstreaming und diversity management nicht nur eine Strategie, sondern eine Technik geworden, die in Coaching-Programmen trainiert wird. In seinem Gender Gap Report 2016 prognostiziert das Weltwirtschaftsforum, dass die weltweite Gleichstellung der Geschlechter erst in 170 Jahren erreicht sein werde. Im Bericht derselben Institution wurde ein Jahr zuvor noch mit 118 Jahren gerechnet, was einen allgemeinen Hinweis auf die Unsinnigkeit vorgeblich exakter Berechnungen gibt, aber an der Tatsache, dass die Welt von den 1948 deklarierten Rechten weit entfernt ist, keinen Zweifel lässt (http://www3.weforum.org/docs/GGGR16/WEF_Global_Gender_Gap_Report_2016.pdf (letzter Zugriff am 09.12. 2016)).

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Cornelia Klinger Brown, Wendy: Neoliberalism and the End of Liberal Democracy. In: dies.: Edgework: Critical Essays on Knowledge and Politics, 2005, S. 37-59. Clinton, Bill: Between Hope and History: Meeting America’s Challenges for the 21st Century, 1996. Connell, Raewyn: The Neoliberal Parent: Mothers and Fathers in the New Market Economy. In: Villa, Paula-Irene/Thiessen, Barbara (Hrsg.): Mütter Väter: Diskurse – Medien – Praxen, 2009. Dohm, Hedwig: Der Frauen Natur und Recht, 1986 [1876]. Dörre, Klaus et al.: Landnahme im Feld der Sorgearbeit. In: Aulenbacher, Brigitte et al. (Hrsg.): Sorge: Arbeit, Verhältnisse, Regime Care: Work, Relations, Regimes (= Soziale Welt. Sonderband 20), 2014, S. 107-124. Fraser, Nancy: Feminism, Capitalism and the Cunning of History, New Left Review 56, 2009, S. 97-117. Fraser, Nancy: Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus. In: Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, 2017. S. 77- 91. Galbraith, John Kenneth: Wirtschaft für Staat und Gesellschaft, 1974. Gerhard, Ute: Patriarchat/Patriarchalismus: Kampfparole und analytisches Konzept. In: Kortendiek, Beate et al. (Hrsg.): Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung (= Geschlecht und Gesellschaft Bd. 65) (i.E.). Hausen, Karin: Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘. Ein Spiegel der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, Werner (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, 1976, S. 363-393 (Wiederabdruck in: Hausen, Karin: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 202), 2012, S. 19-49). Heinz, Marion et al. (Hrsg.): Philosophische Geschlechtertheorien. Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart, 2002. Hobsbawm, Eric J.: The Age of Capital, 1848-1875, 1997 [1975]. Jessop, Bob: Towards a Schumpeterian Workfare State? Preliminary Remarks on PostFordist Political Economy, Studies in Political Economy 40, 1993, S. 7-40. Klinger, Cornelia: Freiheit und Gleichheit der Personen – Unfreiheit und Ungleichheit in personalen Beziehungen. In: Schlette, Magnus (Hrsg.): Ist Selbstverwirklichung institutionalisierbar? Axel Honneths Freiheitstheorie in der Diskussion, 2018, S. 237286. Knapp, Gudrun-Axeli: Zur widersprüchlichen Vergesellschaftung von Frauen. In: Hoff, Ernst-H. (Hrsg.): Die doppelte Sozialisation Erwachsener. Zum Verhältnis von beruflichem und privatem Lebensstrang, 1990, S. 17-93. Knobloch, Ulrike: Jonglieren mit Zeiten. Wirtschaftstheorie der bezahlten und unbezahlten Arbeit. In: Budowski, Monica et al. (Hrsg.): Unbezahlt und dennoch Arbeit, 2016, S. 25-54. Knobloch, Ulrike et al.: Unbezahlte Arbeit als interdisziplinäres Forschungsfeld – Eine Einleitung. In: Knobloch, Ulrike et al. (Hrsg.): Unbezahlt und dennoch Arbeit, 2016, S. 7-22.

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Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus. Eine Verteidigung am Beispiel gerechter Bildungspolitik1 Julian Culp

1.

Einleitung

Den Liberalismus dafür anzugreifen, dass dieser wirklichkeitsfremd sei, ist ein wiederkehrender Topos in der westlichen Tradition moralischen und politischen Denkens. Marx’ Kritik etwa, dass die Rede subjektiver Rechte ideologisch sei, weil die sozialen Voraussetzungen dieser dabei aus dem Blick gerieten, wirft dem Liberalismus eine Verzerrung der Wirklichkeit vor.2 Ende des 20. Jahrhunderts greifen die Kommunitaristen den Liberalismus dafür an, dass dieser auf einer verkürzten Sozialontologie beruhe, welche Individuen als sozial entwurzelte und vollkommen unabhängige Wesen auffasse.3 In dem 2016 erschienenen Sonderheft „Politische Theorie in der Krise“ der Zeitschrift Mittelweg 36 haben nun einige politische Theoretiker diesen Topos erneut aufgegriffen. Darin warfen sie dem politischen Liberalismus rawlsianischer Prägung vor, dass dieser aufgrund seiner Abstraktheit und Weltferne für drängende politische Fragen praktisch irrelevant sei.4 Dies zeige sich daran, so die Argumentation, dass sich die gegenwärtigen Vertreter des politischen Liberalismus nicht zu den vielen Krisen in und um ____________________ 1 2 3 4

Im Folgenden verwende ich aus Gründen besserer Lesbarkeit auch bei nicht geschlechtsneutralen Begriffen die männliche Form. Diese schließt die weibliche Form mit ein. Vgl. Buchanan, Marx and Justice. Vgl. Honneth, Kommunitarismus. Wenn ich im Folgenden vom politischen Liberalismus spreche, so beziehe ich mich durchgängig auf einen politischen Liberalismus rawlsianischer Prägung. Es ist ein zentrales Merkmal dieser Art des politischen Liberalismus, dass er nicht nur von vernünftigen Meinungsverschiedenheiten bzgl. unterschiedlicher Auffassungen des guten Lebens ausgeht, sondern auch von vernünftigen Meinungsverschiedenheiten bzgl. idealer Gerechtigkeitsauffassungen. Vgl. Hinsch, Zur Idee des politischen Liberalismus.

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Julian Culp

Europa äußerten. Da außerdem der politische Liberalismus die zeitgenössische politische Theorie dominiere, sei dies der Grund dafür, weshalb die politikwissenschaftliche Disziplin als Ganze zu den aktuellen Krisen schweige.5 In diesem Aufsatz verteidige ich den politischen Liberalismus gegen diese Kritik der praktischen Irrelevanz auf zwei verschiedene Weisen. Zunächst zeige ich, dass diese Kritik, wenn sie spezifisch auf Rawls’ politisch liberale Gerechtigkeitstheorie zielt, allzu vereinfachend ist, da sie nicht hinreichend das Verhältnis zwischen idealer und nicht-idealer Theorie berücksichtigt (2.). Anschließend stelle ich einen politisch liberalen Ansatz öffentlicher Erziehung und Bildung vor. Anhand dieses Beispiels veranschauliche ich, wie es der politische Liberalismus vermochte, zur Lösung der gegenwärtigen Bildungs- und Erziehungskrise beizutragen, die durch eine zunehmende Ökonomisierung öffentlicher Bildung und Erziehung entstanden ist (3.). 2.

Zur praktischen Relevanz von Rawls’ idealer Theorie

Die im Mittelweg 36 geäußerte Kritik am politischen Liberalismus ähnelt sehr stark dem Einwand, der seit längerem gegenüber Rawls’ Idealtheorie angeführt wird.6 Bekanntermaßen versucht Rawls’ ideale Theorie die Grundsätze der Grundstruktur einer vollkommen gerechten sozialen Ordnung zu begründen, während nicht-ideale Theorie anstrebt, Grundsätze zu rechtfertigen, die unter ungerechten Bedingungen zu befolgen sind; diese Unterscheidung entspricht unterschiedlichen, obgleich miteinander zusammenhängenden, Untersuchungsgegenständen politischer Philosophie. Nun lautet der Einwand an Rawls’ idealer Theorie, dass sie verfehle, politische Handlungsempfehlungen auszusprechen, die zur Verringerung von Ungerechtigkeiten praktisch brauchbar wären. Da sich die Idealtheorie mit der Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen für eine nahezu vollkommen gerechte Gesellschaft beschäftige, versäume sie es, zu drängenden Gerechtigkeitsproblemen Stellung zu nehmen. Dies sei ein erhebliches Manko von ____________________ 5 6

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Vgl. Kreide, Das Schweigen des politischen Liberalismus; Nonhoff, Krisenanalyse und radikale Theorie der Demokratie; Vogelmann, Liberale Subjekte. Vgl. Mills, Ideal Theory as Ideology; Brennan/Pettit, The Feasibility Issue; Sen, What Do We Want From A Theory of Justice?; Farrelly, Justice in Ideal Theory.

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

Rawls’ Gerechtigkeitstheorie, da eine solche Theorie eine praktische Orientierungsfunktion zu erfüllen habe.7 Im Genaueren richtet sich diese Kritik gegen zwei unterschiedliche Operationen idealer Theorie – die Idealisierung einerseits und die Abstraktion andererseits.8 Während bei der Idealisierung Annahmen getroffen werden, die nicht der Realität entsprechen, werden bei der Abstraktion Tatsachen ausgeklammert. So besagt die Kritik zum einen, dass die Idealisierung gegebener Tatsachen, wie etwa der mangelnden Bereitschaft, bestimmten Gerechtigkeitserfordernissen nachzukommen, dafür verantwortlich sei, dass Rawls’ ideale Theorie unter gegenwärtigen Bedingungen nicht handlungsrelevant sei. Die Forderung, einem bestimmten Gerechtigkeitsanspruch nachzukommen, der unter der Annahme einer allgemeinen Befolgung dieses Anspruchs gerechtfertigt wird, besitze schlicht keine Gültigkeit, sofern diese Annahme nicht zuträfe.9 Die Einwände gegen ideale Theorie lauten zum anderen, dass durch die Abstraktion von bestimmten Umständen, wie etwa denen vergangenen Unrechts, die aus der Idealtheorie sich ergebenden Handlungsimplikationen moralisch falsch seien. So hätten z.B. Individuen und Gruppen, die Nachfahren der Opfer vergangenen Unrechts sind, unter heutigen Bedingungen womöglich größere Gerechtigkeitsansprüche als dies der Fall wäre, wenn das vergangene Unrecht, wie die Idealtheorie voraussetzt, nicht stattgefunden hätte.10 Die Entgegnungen derjenigen, die Rawls’ Gerechtigkeitstheorie dennoch für plausibel halten, machen geltend, dass diese aus zwei Teilen bestehe, der Idealtheorie und der nicht-idealen Theorie.11 Die Idealtheorie sei daher ____________________ 7 8 9

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Dementsprechend stellt Farrelly, Justice in Ideal Theory, S. 845, fest: „[A] theory of social justice, and the principles of justice it endorses, must function as an adequate guide for our collective action.“ O’Neill, Abstraction, Idealization and Ideology in Ethics, S. 39-44. Farrelly, Justice in Ideal Theory, S. 853, kritisiert Rawls’ Ansatz auf diese Weise wie folgt: „By ignoring the realities of non-compliance […], Rawls’ theory of ‚justice as fairness‘ insulates itself from the most pressing concerns that face every real society.“ Für eine analoge Kritik an utilitaristischen Moralphilosophien, die in der Formulierung ihrer akteursspezifischen Grundsätze nicht berücksichtigen, welcher Anteil moralischer Akteure sich an die utilitaristischen Grundsätze hält, vgl. Murphy, Moral Demands in Non-ideal Theory. Mills, Ideal Theory as Ideology, S. 168-169. Vgl. Stemplowska, What’s Ideal about Ideal Theory?, Robeyns, Ideal Theory in Theory and Practice; Swift, The Value of Philosophy in Nonideal Circumstances; Simmons, Ideal and Nonideal Theory; Culp, Two Conceptions of Ideal and Nonideal Theory.

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nicht eigenständig, sondern komplementär zu nicht-idealer Theorie zu betrachten.12 Diese komplementäre Sichtweise verdeutliche, dass Rawls’ Idealtheorie nicht primär beanspruche, nur für sich genommen unter gegenwärtigen Bedingungen unmittelbar handlungsrelevant zu sein. Es sei vielmehr die Aufgabe nicht-idealer Theorie, Aussagen zu treffen, die im Hier und Jetzt von praktischer Bedeutung seien. Rawls bestimmt dementsprechend den Gegenstandsbereich nicht-idealer Theorie als die Begründung von „politischen Programmen und Handlungsmöglichkeiten, die [unter nicht-gerechten Umständen] moralisch zulässig, politisch möglich und aller Wahrscheinlichkeit nach auch wirksam sind.“13 Insbesondere müsse nichtideale Theorie wohlbegründete Aussagen darüber treffen, wie unter momentanen Bedingungen politisch zu entscheiden sei, um dauerhaft Gerechtigkeit herzustellen. Sie sei deswegen im Wesentlichen eine Transitionsbzw. Übergangstheorie.14 Zudem erkläre dieser Wesenszug nicht-idealer Theorie auch, weshalb diese nicht unabhängig von der idealen Theorie sei. Vielmehr diene die ideale Theorie der nicht-idealen Theorie dazu, sich zu vergewissern, dass die konkreten Handlungsempfehlungen letzterer tatsächlich zu einer langfristigen Realisierung der idealtheoretischen Grundsätze beitrügen bzw. einer solchen zumindest nicht entgegenstünden.15 So ließe sich u. U. argumentieren, dass, sofern eine faire zwischenstaatliche Kooperation das ideale Ziel internationaler Gerechtigkeit sei, eine paternalistisch betriebene Entwicklungshilfe selbst dann nicht zu rechtfertigen wäre, wenn diese unter gegenwärtigen Umständen extreme sozioökonomische Armut verringere. Diese Argumentation könnte zumindest dann zutreffen, wenn ein solcher Paternalismus das Erreichen des Ziels internationaler Gerechtigkeit nachhaltig erschweren würde, und alternative Wege existierten, extreme sozioökonomische Armut zu reduzieren. ____________________ 12

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Zum komplementären Verhältnis idealer und nicht-idealer Theorie vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 7-11, 142-150, 243-251, 300-3, 350-355 und 541-544; Feinberg, Duty and Obligation in the Non-Ideal World; Cooper, The Perfectly Just Society; Philips, Reflections on the Transition from Ideal to Non-Ideal Theory; Korsgaard, The Right to Lie; Buchanan, Justice, Legitimacy, and Self-Determination, S. 64-68. Rawls, Das Recht der Völker, S. 113. Ebd., S. 114. Simmons, Ideal and Non-Ideal Theory, S. 22; Sreenivasan, What is Non-Ideal Theory?, S. 234; Hinsch, Ideal Justice and Rational Dissent, S. 374.

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

Vielen Kritikern erscheint ein solcher Verweis auf die Komplementarität idealer und nicht-idealer Theorie jedoch ungenügend, um ihre Kritik zu entkräften. Schließlich hat sich Rawls nahezu ausschließlich mit idealtheoretischen Fragestellungen beschäftigt.16 Insofern stimmt es, dass Rawls’ gesamtes Werk wenige Beiträge dazu liefert, wie mit aktuellen Gerechtigkeitsproblemen umzugehen ist. Gleichwohl wäre es falsch, daraus zu schließen, dass die dem politischen Liberalismus verpflichtete politische Theorie es insgesamt verfehle, im Modus nicht-idealer Theorie zur Lösung aktueller Krisen beizutragen. Schließlich bemühen sich eine Vielzahl liberaler Philosophen und politischer Theoretiker darum, Rawls’ Ideen für gegenwärtige praktische Probleme nutzbar zu machen. Sie sind wie Rawls liberal in dem Sinne, dass sie Menschen prinzipiell bzw. universell als Freie und Gleiche ansehen, die aus vernünftigen Gründen nicht nur unterschiedliche Auffassungen des guten Lebens, sondern auch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich vollkommen gerechter sozialer Verhältnisse haben. Solche Philosophen und politische Theoretiker erarbeiten sehr wohl praktische Ansätze, die Krisen in und um Europa sowie in anderen Erdteilen betreffen. Stichpunktartig seien hier lediglich die Themen genannt, die diese Ansätze behandeln: Entwicklungshilfe,17 europäische Solidarität,18 Klimawandel,19 Kriegsführung,20 Migration,21 Sezession22 und staatliche Souveränität.23 Darüber hinaus lässt sich aber auch argumentieren, dass sogar Rawls’ Idealtheorie bereits nur für sich genommen von praktischer Bedeutung für die Lösung politischer Krisen ist. Denn Rawls’ Idealtheorie beansprucht eine motivationale Wirkung zu entfalten, indem sie politische Akteure mit ihrer sozialen Welt versöhnt und dadurch deren moralische Einstellungen

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Rawls behandelt für den innerstaatlichen Kontext lediglich die nicht-ideale Fragestellung der Bedingungen, unter denen ziviler Ungehorsam zu rechtfertigen ist; vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 420-430 (§ 57). Für den internationalen Kontext diskutiert er die nicht-idealen Fragen des gerechten Krieges und der Entwicklungshilfe; vgl. Rawls, Das Recht der Völker, S. 113-149 (§§13-16). Lloyd-Williams, Rawls, Development and Global Justice. Sangiovanni, The Bounds of Solidarity. Jamieson, Reason in Dark Times; Moellendorf, Dangerous Climate Change. Fabre, Cosmopolitan War; Cosmopolitan Peace. Carens, The Ethics of Immigration. Buchanan, Justice, Legitimacy and the Use of Force. Ronzoni, The Global Order.

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gegenüber dieser positiv beeinflusst.24 Schließlich soll die Idealtheorie zeigen, dass eine dauerhaft fundamental gerecht eingerichtete soziale Ordnung prinzipiell möglich ist.25 Prinzipiell möglich heißt, dass die Realisierung einer solchen Ordnung weder unvereinbar wäre mit naturwissenschaftlichen Gesetzen, noch „mit tief gehenden Strömungen und Tendenzen der sozialen Welt“.26 Ihr Ziel ist somit das Aufzeigen einer realistischen Utopie.27 Dadurch kann Rawls’ Idealtheorie, zumindest wenn sie ihrem selbstgesetzten Ziel gerecht wird, zynischen und pessimistischen Einstellungen effektiv entgegenwirken. Genau solche Einstellungen können nämlich andernfalls dadurch entstehen, dass angesichts allseits grassierender Ungerechtigkeiten Auffassungen sozialer und politischer Gerechtigkeit nur noch als reine – also prinzipiell unrealisierbare – Utopie aufgefasst werden würden. Die Idealtheorie kann hingegen zu der Einsicht verhelfen, dass Ungerechtigkeiten, so allgegenwärtig sie momentan auch sein mögen, nicht notwendigerweise menschliche Verhältnisse charakterisieren. Dies ermöglicht eine Versöhnung mit der sozialen Welt, welche die Motivation befördert, sich zuversichtlich für soziale und politische Gerechtigkeit einzusetzen. Es ist dieses spezifische Ziel von Rawls’ Idealtheorie – der Nachweis der Möglichkeit einer realistischen Utopie –, das dazu führt, dass Rawls’ Werk von relativ abstrakten Überlegungen gekennzeichnet ist. Denn dieses Ziel wirft die Frage auf, wie, wenn überhaupt, sich eine gerechte soziale Ordnung als stabil erweisen kann. So trifft Rawls u.a. die moralpsychologische Annahme, dass Bürger, die unter gerechten sozialen und politischen Institutionen aufwachsen, einen Gerechtigkeitssinn ausbilden, der sie dazu motiviert, diese Institutionen aufrecht zu erhalten.28 Zu Rawls’ wirtschaftlichen Prämissen zählt, dass ein fairer Wettbewerb unter gut ausgebildeten Personen, die gleichermaßen talentiert und einsatzbereit sind, zur Konse____________________ 24 25 26 27 28

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Vgl. Rawls, Politischer Liberalismus, S. 61-4; Das Recht der Völker, S. 157-63; Gerechtigkeit als Fairness, S. 22-24; vgl. auch Schaub, Gerechtigkeit als Versöhnung. Rawls, Das Recht der Völker, S. 4. Ebd., S. 162. Ebd., S. 13-4. Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, 226-227, 298. Vgl. auch Rawls, A Theory of Justice, S. 493-556 (Kap. 8); dort behandelt Rawls die Herausbildung eines Gerechtigkeitssinns in Anlehnung an Jean Piaget und Lawrence Kohlberg; er unterscheidet dementsprechend zwischen autoritätsorientierter (S. 503-508 (§70)), gruppenorientierter (S. 508-513 (§71)) und grundsatzorientierter (S. 514521 (§72)) Moralität.

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

quenz hat, dass Oligopole und damit einhergehende Einkommens- und Vermögensunterschiede vermieden werden.29 Des Weiteren entnimmt Rawls der politischen Soziologie die Überlegung, dass liberale Gesellschaften permanent durch einen weltanschaulichen Pluralismus gekennzeichnet sind, während eine gesellschaftlich einheitliche Weltanschauung nur mittels staatlicher Unterdrückung zu erreichen ist.30 Insofern ist es Rawls’ spezifischem Forschungsinteresse geschuldet, dass viele Leser seine liberale politische Theorie als ‚abstrakt‘ und ‚weltfern‘ wahrnehmen.31 Diese Wahrnehmung verkennt jedoch, dass, wie eben dargestellt, die Idealtheorie auf diese Weise politische Einstellungen positiv zu affizieren versucht. Daher ist selbst Rawls’ Idealtheorie zumindest eine indirekte praktische Handlungsrelevanz nicht abzusprechen. Nun könnte man zwar diese Art praktischer Relevanz anerkennen, dennoch aber verneinen wollen, dass hiermit eine konkrete politische Krise adressiert werden würde. Hierauf ließe sich zunächst entgegnen, dass es ebenso als Vorteil verstanden werden kann, dass Rawls’ Idealtheorie nicht eine einzelne politische Krise in den Blick nimmt, sondern im Grunde im Kontext aller politischen Krisen von praktischer Relevanz ist. Schließlich ist in allen solchen Krisen die Motivation gerecht zu handeln von unmittelbarer praktischer Bedeutung. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass Rawls’ Arbeiten zu einem Zeitpunkt veröffentlich wurden, in der es angemessen erschien, von einer in westlichen Ländern relativ weit verbreiteten moralischen Krise zu sprechen, die im Zuge der Wahrnehmung eines durch den Holocaust verursachten Zivilisationsbruchs aufgezogen ist. Sie besteht in einer selbstkritischen Hinterfragung der bislang gemeinhin für gültig anerkannten Ideale der Aufklärung, und im Besonderen im Aufkommen des Zweifels daran, dass es Sinn macht, nach Gerechtigkeit zu streben. Rawls’ ideale Theorie schlägt einen Umgang mit genau dieser Krise vor. Die Einsicht in die Möglichkeit einer dauerhaft gerechten politischen Ordnung ____________________ 29

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Diese Annahme verwendet Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 11, auch, um der Kritik entgegenzutreten, dass sein Differenzprinzip zu viele sozioökonomische Ungleichheiten zulassen würde. Das Differenzprinzip erlaubt Einkommens- und Vermögensungleichheiten nur unter der Bedingung, dass diese zum größtmöglichen Vorteil der schlechtestgestellten gesellschaftlichen Gruppierung sind; vgl. ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 66-67. Nota bene haben aber nicht alle Leser diesen Eindruck bei der Lektüre von Rawls Schriften. Ein besonders prominentes Gegenbeispiel ist G.A. Cohen, der Rawls’ Gerechtigkeitsgrundsätze gerade deswegen für verfehlt hält, weil Rawls zu viele empirische Annahmen in der Begründung seiner Grundsätze verwende. Vgl. Cohen, Rescuing Justice and Equality, S. 229-273 (Kap. 6).

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kann dazu motivieren, sich trotz dieser Gräuel und der damit vermeintlich verbundenen Aussichtslosigkeit um Gerechtigkeit zu bemühen. Insofern ist Rawls durch die Formulierung seiner idealen Theorie um die Lösung einer historisch gegebenen Krise bemüht. 3.

Politisch liberale Bildungspolitik

In diesem Abschnitt verfolge ich nun auf eine zweite Weise das Ziel, die praktische Relevanz des politischen Liberalismus aufzuzeigen. Hierfür lege ich dar, wie sich der politische Liberalismus zu praktischen Fragen gerechter Bildungspolitik äußert. Dessen Beitrag kann als Reaktion auf eine Krise öffentlicher Bildung und Erziehung verstanden werden, die sich aus der zunehmenden Ökonomisierung dieser ergeben hat. Diese Ökonomisierung besteht darin, dass öffentliche Bildungs- und Erziehungspolitik in den meisten westlich geprägten Ländern zunehmend privaten ökonomischen Interessen bzw. wirtschaftlichem Wachstum dienen soll. Öffentliche Erziehung fokussiert sich zunehmend auf die Mehrung von Humankapital und wird dadurch zur Gehilfin einer überwiegend eindimensional kapitalistisch organisierten sozialen Ordnung. In Philosophie einer humanen Bildung analysiert Julian Nida-Rümelin treffend die Entwicklungen europäischer Bildungspolitik wie folgt: „Während erfolgreiche Bildungsreformen der Vergangenheit das durchgängige Charakteristikum aufwiesen, die Bildungsanstrengungen von unmittelbaren Verwertungsinteressen abzukoppeln, scheint es zur hidden agenda geworden zu sein, diesen Prozess umzukehren.“32

Martha Nussbaum spricht in Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht gar von einer weltweiten Bildungskrise, die zur Folge habe, dass es zu einer Verringerung geisteswissenschaftlicher und musischer zugunsten anwendungsorientierter Fächer käme, da letztere einen größeren wirtschaftlichen Nutzen versprächen.33 Bevor ich die praktisch-philosophischen Einsichten darstelle, die der politische Liberalismus angesichts dieser Bildungs- und Erziehungskrise befördert, entgegne ich aber zunächst dem grundsätzlichen Einwand, dass ein politisch liberaler Ansatz aus theorieinternen Gründen zu Fragen der Bildung und Erziehung zu schweigen habe. ____________________ 32 33

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Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, S. 12. Nussbaum, Nicht für den Profit!, vgl. Crouch, Commercialization or Citizenship.

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

3.1. Liberales Schweigen – Probleme der Böckenförde-These Im deutschen Sprachraum dürfte eine Kritik der Sprachlosigkeit des Liberalismus gerade in Bildungs- und Erziehungsfragen kaum neu erscheinen. Die sogenannte Böckenförde-These wird mithin häufig so verstanden, dass eine liberale staatliche Ordnung auf moralisch-sittlichen Grundlagen beruhe, deren soziale Reproduktion sie selbst nicht gewährleisten könne.34 Liberale politische Philosophie sei aus internen Gründen unfähig, bildungsund erziehungspolitische Handlungsempfehlungen zu liefern, die zur Realisierung ihrer eigenen Ideen beitrügen. Warum aber genau, und inwiefern, wird der liberalen politischen Philosophie nachgesagt, nicht im Stande zu sein, praktische Vorschläge dieser Art vorzubringen?35 Die Böckenförde-These kann zum einen so verstanden werden, dass der liberale Staat deswegen nicht in der Lage sei, seine eigene Reproduktion zu sichern, da individuelle moralische Entwicklung lediglich in außer- bzw. vorpolitischen Gemeinschaften wie etwa der Familie, religiösen Gemeinden oder Freundeskreisen stattfände. Auf diese hätte der liberale Staat jedoch keinen Einfluss. Die auf diese Weise gedeutete Böckenförde-These stellt keine besonders herausfordernde Kritik liberaler politischer Philosophie dar. Zunächst scheint es willkürlich, Prozesse individueller moralischer Entwicklung lediglich außerhalb politischer Institutionen anzusiedeln. Wie bereits erwähnt geht Rawls – unter Berufung auf Kohlberg – im Gegenteil davon aus, dass Bürger, die unter gerechten politischen Institutionen aufwachsen, moralische Einstellungen ausbilden, die den Erhalt dieser Institutionen gewährleisten.36 Dies stellt zwar nicht in Frage, dass die in außer- bzw. vorpolitischen Gemeinschaften gemachten Erfahrungen ebenfalls darüber entscheiden, welche moralische Entwicklung Bürger durchlaufen. Dennoch scheint es abwegig, zu behaupten, dass die durch politische Institutionen vermittelten Erfahrungen keinerlei Implikationen für die moralische Entwicklung von Bürgern hätten. ____________________ 34

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Böckenförde, Freiheit und Recht, Freiheit und Staat; Honneth, Demokratie und öffentliche Erziehung, S. 433-434, stellt aber heraus, dass „Böckenförde seine Einsicht ursprünglich wohl viel enger verstanden hat, nämlich als Hinweis auf die sittlichen Bestandsvoraussetzungen allein des modernen Rechts“, bemerkt jedoch, dass „sie inzwischen doch viel weiter gedeutet und als Beleg für eine kulturelle Unselbständigkeit aller demokratischen Rechtsstaaten genommen“ wird. In der folgenden, zweifachen Interpretation der Böckenförde-These folge ich Honneth, Demokratie und öffentliche Erziehung. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 226-7; vgl. auch Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 298-301.

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Zusätzlich können politische Institutionen auch auf die Gestaltung vorbzw. außerpolitischer Gemeinschaften einwirken. Obwohl die Beeinflussung solcher Gemeinschaften sich nur indirekt vollzieht und nicht die gesamte Regulierung bzw. Organisation dieser Gemeinschaften betrifft, ist sie dennoch nicht folgenlos für die moralische Entwicklung ihrer Mitglieder. So hängen beispielsweise die Formen familiärer Arbeitsteilung, welche die genderspezifischen Rollenbilder des Nachwuchses prägen, damit zusammen, wie Einkommen besteuert werden, sowie welche monetären Ansprüche den verschiedenen Familienmitgliedern nach formaler Auflösung der Familie zukommen. Auch wenn eine solche indirekte staatliche Einflussnahme die normativen Ordnungen vor- bzw. außerpolitischer Gemeinschaften nur partiell bestimmt und zudem die Mitglieder solcher Gemeinschaften nicht von ihren erzieherischen Verantwortlichkeiten entlastet, so lässt sich ihre Wirksamkeit dennoch wohl kaum grundsätzlich bestreiten.37 Einer zweiten Deutung der Böckenförde-These folgend kann der liberale Staat deswegen nicht seine moralisch-sittlichen Bestandsvoraussetzungen sichern, weil dieser einem ethischen Neutralitätsgebot folge, und deswegen keine moralischen Ziele verfolgen darf.38 Daher darf ein liberaler Staat im Bereich der Bildungs- und Erziehungspolitik nicht bestrebt sein, die moralischen Dispositionen seiner Bürger in einer Weise zu formen, die dem Erhalt oder der Errichtung liberaler politischer Institutionen förderlich wäre.39 Axel Honneth kritisiert diese Auffassung des liberalen Staates vehement, denn „desto stärker die öffentliche Schule [in diesem Sinne] als ethisch

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Vgl. zum Zusammenspiel zwischen institutionellen politischen Normen und den Normen, die sich auf vor- bzw. außerpolitische Gemeinschaften beziehen, den erhellenden Aufsatz von Ronzoni, What makes a basic structure just? Alternative Lesarten des ethischen Neutralitätsgebots besagen, dass Lehrpersonen in Schulen entweder keine moralischen Fragen diskutieren dürfen oder sich in solchen Diskussionen nicht selbst positionieren dürfen. Meyer, Bildung, S. 33, vertritt die Auffassung, dass Lehrpersonen notwendigerweise Wertediskussionen thematisieren müssen, weil Kinder und Jugendliche ansonsten nicht in die Lage versetzt werden, kritisch über Werte zu reflektieren; zusätzlich erachtet Meyer – wie auch Schaber, Moralische Neutralität und Autonomie, S. 93 – eine moralische Positionierung der Lehrperson als zulässig, sofern die Argumente der Gegenposition ebenfalls hinreichend erörtert werden. Diese Deutung entspricht einer verbreiteten Interpretation der BöckenfördeThese, weder aber Honneths noch Böckenfördes Auffassung der Bedeutung dieser These.

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

neutral gedacht würde […] desto stärker geht der demokratischen Gesellschaft das beinahe einzige Instrument verloren, über welches sie zur Regenerierung ihrer eigenen moralischen Grundlagen verfügt.“40 Den liberalen Staat für „ethisch neutral“ in dem Sinne zu halten, dass er gewissermaßen „amoralisch“ sei und keine moralischen Ziele verfolge, beruht jedoch auf einem Missverständnis. Die politisch liberale Idee ethischer Neutralität ist eine moralische, deren Realisierung die Verfolgung bestimmter moralischer Ziele erfordert. Beispielsweise verteidigt die liberale politische Philosophie – und dementsprechend auch ein liberaler Staat – bestimmte Grundfreiheiten wie etwa die Religions- und Gewissensfreiheit als moralisch anzuerkennende subjektive Rechte. Sofern die Verwirklichung dieser Rechte erfordert, dass der liberale Staat durch ein öffentliches Bildungs- und Erziehungssystem die moralischen Dispositionen der Bürger bewusst formt, so ist dem aus liberaler Perspektive prinzipiell nichts entgegenzusetzen.41 In der Tat hat eine bewusste Formung moralischer Dispositionen Konsequenzen, die den Anhängern verschiedener, vernünftiger Vorstellungen des Guten in unterschiedlichem Maße zum Vorteil gereichen. Für diejenigen Bürger, die etwa in der politischen Partizipation ihre Vorstellung eines guten Lebens realisieren, ist die staatliche Gewährleistung dieser Partizipation von größerem Vorteil als für jene, für die eine solche irrelevant mit Blick auf die Realisierung ihrer Vorstellung des guten Lebens ist. Dennoch verhält sich der liberale Staat, der politische Freiheit zu sichern bestrebt ist, gegenüber solch unterschiedlichen Vorstellungen des Guten neutral, solange sich seine politischen Maßnahmen gegenüber allen Bürgern rechtfertigen lassen.42 Dass eine solche Rechtfertigung für politische Freiheit möglich ist, liegt aus liberaler Perspektive daran, dass weder Angehörige der einen noch der anderen Vorstellung des Guten vernünftigerweise bestreiten können, dass die Garantie politischer Freiheit in einer sozialen Welt, die von einem weltanschaulichem Pluralismus gekennzeichnet ist, notwendig ist. Da keine gesellschaftlich geteilte Vorstellung des Guten besteht, kann eine solche nicht als Basis verwendet werden, um zu klären, wie politisch zu verfahren und zu entscheiden ist. Deswegen muss die Gewährleistung ____________________ 40 41

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Honneth, Demokratie und öffentliche Erziehung, S. 435. Allerdings ist es in der Tat als Problem anzuerkennen, dass die staatlich beförderte moralische Entwicklung der Bürger die normative Relevanz ihrer Zustimmung in Frage stellen könnte. Vgl. hierzu Brighouse, Civic Education and Liberal Legitimacy. Waldron, Theoretical Foundations of Liberalism.

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politischer Freiheit allen Bürgern erlauben, sich an öffentlichen Meinungsund Willensbildungsprozessen zu beteiligen. Die ethische Neutralität des liberalen Staates wäre nur dann verletzt, würde dieser politische Maßnahmen vornehmen, die von Anhängern vernünftiger Vorstellungen des Guten aus guten Gründen zurückgewiesen werden könnten. Ethische Neutralität beweist sich in der moralischen Rechtfertigbarkeit politischer Maßnahmen und nicht in dem Verzicht auf die Verfolgung moralischer Ziele.43 Es widerspricht also nicht den Ideen des politischen Liberalismus, dass dieser sich zur Gestaltung des öffentlichen Bildungs- und Erziehungssystems äußert, und dass ferner der liberale Staat gezielt erzieherische Anstrengungen unternimmt, um die Herausbildung bestimmter moralischer Einstellungen seiner Bürger zu befördern. Dennoch ließe sich womöglich den Theoretikern des politischen Liberalismus vorwerfen, zu wenige Beiträge zu konkreten Fragen der Gestaltung des öffentlichen Bildungs- und Erziehungssystems zu liefern. Bei genauerer Betrachtung von Rawls Werk lässt sich jedoch feststellen, dass sich in diesem einige Anhaltspunkte dafür identifizieren lassen, welche Ziele ein solches System zu verfolgen hätte. Diese Ziele konstituieren ein Ideal demokratischer Bildung, mittels welchem sich die gegenwärtige Fixierung auf die ökonomische Verwendbarkeit von Bildung kritisieren lässt. Zusätzlich haben Bildungsphilosophen auch einige pädagogische Implikationen herausgearbeitet, die sich aus einem solchen Ideal ergeben. 3.2. Demokratische Bildung als Ziel öffentlicher Erziehung Ein politisch liberaler bildungspolitischer Ansatz zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass er die Entwicklung und Förderung demokratischer Dispositionen ins Zentrum rückt. Fragen fairer Chancengleichheit, die ansonsten bei normativ-theoretischen Diskussionen der Bildungspolitik häufig Erwähnung finden, sind hingegen von nachrangiger Bedeutung.44 Im Rahmen ____________________ 43

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Rawls, Politischer Liberalismus, S. 223, behauptet dementsprechend, „dass unsere Ausübung politischer Macht nur dann völlig angemessen ist, wenn sie sich in Übereinstimmung mit einer Verfassung vollzieht, deren wesentliche Inhalte vernünftigerweise erwarten lassen, dass alle Bürger ihnen als freie und gleiche im Lichte von Grundsätzen und Idealen zustimmen, die von ihrer gemeinsamen menschlichen Vernunft anerkannt werden.“ Gerechtigkeitstheoretische Ansätze zur Bildungspolitik, die sich auf die Herstellung fairer Chancengleichheit konzentrieren, finden sich insbesondere in

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

der rawlsschen Theorie ergibt sich diese Rangordnung schlicht daraus, dass Rawls Ansprüche politischer Gerechtigkeit gegenüber denen sozioökonomischer Gerechtigkeit priorisiert.45 Insbesondere in Politischer Liberalismus weist Rawls sozioökonomischen Fragen fairer Chancengleichheit eine nachrangige Bedeutung zu. In diesem Spätwerk bestimmt Rawls nämlich jene Bedingungen, deren Erfüllung eine lediglich grundsätzlich – und nicht vollkommen – gerechte Ordnung nach sich ziehen würde; faire Chancengleichheit zählt nicht zu diesen.46 Folglich muss eine im politisch liberalen Sinn gerechte öffentliche Erziehung zunächst um die Herausbildung jener moralischen Dispositionen bemüht sein, die der Herstellung politischer Gerechtigkeit dienen. Da politisch liberale Gerechtigkeit demokratische Institutionen erfordert, heißt dies, dass die Vermittlung demokratischer Dispositionen das primäre Ziel eines politisch liberalen, öffentlichen Bildungsund Erziehungssystems ist.47 Dies bedeutet zwar keineswegs, dass öffentliche Erziehung deswegen nicht auch der späteren beruflichen Tätigkeit bzw. wirtschaftlicher Eigenständigkeit dienen sollte. Wie Rawls explizit betont, sollten Kinder und Jugendliche „durch ihre Erziehung darauf vorbereitet werden […] für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können.“48 Jedoch darf dieses Ziel nicht auf Kosten der Herausbildung demokratischer Dispositionen verfolgt werden; es muss vielmehr der Entwicklung dieser Dispositionen dienlich sein, etwa dadurch, dass Individuen sich durch wirtschaftlich nutzbare Fähigkeiten in ihrem Selbstwert bestätigt fühlen. Es sollte daher lediglich als instrumentelles Ziel verstanden werden, dass nicht jene Wichtigkeit erlangen darf, die es im Zuge der aktuellen Ökonomisierung der Bildung erhalten hat. Als demokratische Dispositionen zählen an erster Stelle jene zwei moralischen Vermögen, die Rawls den Bürgern einer ideal gerechten Gesellschaft zuschreibt. Diese moralische Vermögen bestehen zum einen in der ____________________

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Brighouse, School Choice and Social Justice; Swift, How Not to Be a Hypocrite; Brighouse/Swift, Equality, Priority, and Positional Goods; dies., Educational Equality versus Educational Adequacy. Dies betont auch Walzer, Spheres of Justice, S. 197-226 (Kap. 8). Rawls, Politischer Liberalismus, S. 59, fordert lediglich eine „gewisse Chancengleichheit, besonders in Bildung und Ausbildung,“ da sich sonst „nicht alle Teile der Gesellschaft an den Debatten der öffentlichen Vernunft beteiligen und ihren Beitrag zu sozialen und politischen Programmen leisten“ können. Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 211-275 (Teil IV). Ebd., S. 241-242.

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Fähigkeit, Gerechtigkeitsgrundsätze zu begreifen, zu kontextualisieren und sich von diesen motivieren zu lassen, sowie zum anderen in der Fähigkeit, eine Vorstellung des Guten zu entwickeln, zu revidieren und zu verfolgen.49 Die zweite Fähigkeit drückt personale Autonomie aus und ist im Kontext neuzeitlicher und gegenwärtiger Bildungsphilosophie wenig überraschend.50 Das Besondere der politisch liberalen Verteidigung dieses Bildungs- und Erziehungsziels besteht darin, dass personale Autonomie nicht im Sinne eines „ethischen“ Ideals begriffen wird, dessen Realisierung konstitutiv für ein gutes Leben sei. Anders als der perfektionistische Liberalismus, den u.a. John Stuart Mill und Joseph Raz vertreten, rechtfertigt der politische Liberalismus personale Autonomie auf eine politische Art und Weise, welche deren Realisierung „bloß“ als moralisch-politische Gerechtigkeitsforderung ansieht. Der politische Liberalismus folgt also nicht der perfektionistischen Argumentation, wonach personale Autonomie deswegen ermöglicht werden muss, weil das authentische Streben nach einer individuellen Lebensweise moralisch intrinsisch wertvoll ist.51 Vielmehr lautet dessen grundlegende normative Überlegung, dass es niemandem zusteht, für andere zu entscheiden, welche Werte sie für ihr Leben als bedeutsam anerkennen sollen, und dass dies deswegen jedem selbst überlassen werden muss.52 Daher betont Rawls, dass eine dem politischen Liberalismus entsprechende öffentliche Bildung und ____________________ 49 50

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Ebd., S. 44-52 (§7), insb. S. 44. Der neuzeitliche locus classicus sind Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Rousseaus Émile oder Über die Erziehung lässt sich auch derart interpretieren, dass darin ein Ideal der Erziehung im Sinne einer Vorstellung von personalen Autonomie vorgelegt wird, das sich in einer authentischen Lebensführung ausdrückt. Raz, The Morality of Freedom, S. 321-399 (Kap. 13 und 14); Mill, Über die Freiheit, S. 81-107 (Kap. 3). In diesem Sinne vertritt Rawls ein Ideal der Freiheit als Nicht-Beherrschung, wie Costa, Rawls, Citizenship, and Education, S. 72-90 (Kap. 6), überzeugend argumentiert. Ebd., S. 86, erläutert die Bedeutung, personale Autonomie derart zu rechtfertigen, wie folgt: „[T]he case for educating citizens against domination is critically different from the case for educating citizens towards the cultivation of any ideal of personal autonomy. The positive value that reasonable people may give to ideals of personal autonomy can vary, since any such ideals will be controversial. But one can expect much wider agreement on the claim that domination is prima facie bad and that there are good reasons to avoid or prevent it […]. The reasonable expectation of widespread agreement regarding the badness of domination allows the case for the education for freedom as non-domination to be framed within the boundaries of political justification.“

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

Erziehung „keine […] Versuche macht, die charakteristischen Tugenden und Werte der auf Autonomie und Individualität bedachten Formen des Liberalismus oder irgendeiner anderen Globallehre zu kultivieren.“53 Dadurch kann Rawls das Problem umgehen, dass für manche Bürger – und insbesondere manche religiöse Bürger – personale Autonomie kein Ideal eines guten Lebens sein mag. Vielmehr darf personale Autonomie lediglich moralisch vom Standpunkt eines zukünftigen Bürgers aus gerechtfertigt werden. Ein solcher müsse über seine bürgerlichen und politischen Rechte informiert sein, damit dieser nicht lediglich aufgrund der Unkenntnis dieser von anderen dazu verleitet werde, einer bestimmten Weltanschauung zu folgen. Die Wichtigkeit der Kenntnis dieser Rechte besteht also nicht darin, den intrinsischen moralischen Wert einer individuellen Lebensführung zu befördern. Vielmehr geht es darum, zu verhindern, dass Bürger andere Bürger in der Wahl ihrer Lebensführung auf eine Art und Weise beeinflussen, die verkennt, dass jeder einzelne Bürger selbst entscheiden darf, ob er oder sie sich zu einer bestimmten Vorstellung des Guten bekennen will oder nicht. Daher betont Rawls, dass es dem politischen Liberalismus entspricht, „dass die Erziehung der Kinder solche Dinge wie die Kenntnis ihrer verfassungsmäßigen und bürgerlichen Rechte umfasst, damit sie z.B. erfahren, dass es in ihrer Gesellschaft Gewissensfreiheit gibt und dass Glaubensabtrünnigkeit unter dem Gesetz nicht als Verbrechen gilt.“54 Das andere Bildungs- bzw. Erziehungsziel ist die Herausbildung eines Gerechtigkeitssinns, womit die Fähigkeit gemeint ist, Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen, zu kontextualisieren und sich von diesen motivieren zu lassen. Einer politisch liberalen Verständnisweise zufolge hat ein solcher Gerechtigkeitssinn in weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften eine besondere Bedeutung, da in solchen politische Gerechtigkeitsgrundsätze nicht als Ausfluss eines geteilten Verständnisses des guten Lebens begriffen werden können.55 Vielmehr sind Gerechtigkeitsgrundsätze gemäß eines Kriteriums der Reziprozität zu rechtfertigen, demzufolge diese Grundsätze von Anhängern unterschiedlicher Vorstellungen des guten Lebens wechselseitig anerkannt werden können müssen.56 Daher müssen Bürger, die diese Art von Gerechtigkeitsgrundsätze verstehen, anwenden und sich von diesen motivieren lassen können, Rawls’ Terminologie gemäß „vernünftige“ Bürger sein. ____________________ 53 54 55 56

Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 241-242. Ebd. Rawls, Politischer Liberalismus, S. 67, 219; Gerechtigkeit als Fairneß, S. 63-64. Ders., Politischer Liberalismus, S. 43-44, 83-4.

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Vernünftige Bürger müssen zum einen nachvollziehen können, welche Grundsätze sich entsprechend des Reziprozitätskriteriums rechtfertigen lassen. Rawls spezifiziert, dass vernünftige Bürger in der Lage sind, faire Bedingungen sozialen Zusammenlebens vorzuschlagen, die für Anhänger jeglicher Vorstellungen des Guten akzeptabel sind; zusätzlich sind sie fähig, diesen auch Folge zu leisten – zumindest sofern sich die übrigen Bürger ebenfalls an diese halten. Daher „sollte die Erziehung zur Förderung der politischen Tugenden beitragen, so dass die Kinder den Wunsch haben, bei ihren Beziehungen zum Rest der Gesellschaft die fairen Modalitäten der sozialen Kooperation zu respektieren.“57 Zum anderen müssen vernünftige Bürger die Tatsache des in liberalen Gesellschaften existierenden weltanschaulichen Pluralismus anerkennen. Sie müssen begreifen, dass die Inanspruchnahme bürgerlicher Freiheiten zu unterschiedlichen Weltanschauungen führt. Bürger, die in ihren Lebenswelten unterschiedlichen Erfahrungen ausgesetzt sind und diese verschiedenartig interpretieren, kommen zu variierenden Weltanschauungen. Kritiker des politischen Liberalismus würden vermutlich in Anbetracht des bislang Erläuterten einwenden, dass Rawls sich nur mit relativ abstrakten normativen Zielen öffentlicher Bildung und Erziehung beschäftigt, nicht aber mit anwendungsorientierten pädagogischen Fragen, die sich bei der Realisierung dieser ergeben. Ein solcher Einwand ist nicht unberechtigt. In der Tat beschäftigt Rawls sich nur kaum mit solchen Fragen, welche (vor)schulische und akademische Erziehung und Bildung betreffen.58 Dies hat mindestens zwei Gründe. Zum einen zählt Rawls das öffentliche Bildungsund Erziehungssystem nicht zur gesellschaftlichen Grundstruktur, welche der Untersuchungsgegenstand seiner politisch liberalen Gerechtigkeitstheorie ist.59 Zum anderen nimmt er an, dass Bürger, die unter gerechten politischen Institutionen aufwachsen, aufgrund der sozialisatorischen Wirkung dieser genau jene moralischen Dispositionen ausbilden, welche den Fortbestand einer gerechten politischen Ordnung sichern.60 ____________________ 57 58 59 60

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Ders., Gerechtigkeit als Fairneß, S. 241-2. Ebd., S. 250-259, macht zumindest mit Blick auf die innerhalb von Familien geltenden normativen Grundsätze klar, dass diese der Realisierung gerechter politischer Institutionen nicht im Wege stehen dürfen. Vgl. Ders., Politischer Liberalismus, S. 367-403 (Kap. 7). Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, S. 226-227; S. 97: „Damit die Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft einander als freie und gleiche Personen anerkennen, müssen sie von den Grundinstitutionen erzogen und zur Einsicht in diese Auffassung ihrer selbst gebracht werden.“

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

Daher scheint es, wie Victoria Costa zu Recht betont, dass unter nichtidealen Umständen pädagogische Überlegungen erheblich an Gewicht gewinnen, da eben genannte sozialisatorische Wirkung politischer Institutionen nicht vorhanden ist. Unter solchen Bedingungen erscheint die öffentliche Erziehung daher als geeignetes Instrument, um zur Herausbildung demokratischer Dispositionen beizutragen.61 Schließlich lässt sich auch befürchten, dass politische Institutionen, die im liberalen Sinne ungerecht sind, Bürger abhalten, einen Gerechtigkeitssinn auszubilden. Denn gerechtes politisches Verhalten wird unter solchen Bedingungen nicht auf reziproke Weise honoriert. Daher sei abschließend zumindest auf eine zentrale pädagogische Implikation hingewiesen, die sich aus einer Erweiterungen von Rawls Gedanken mit Blick auf nicht-ideale Umstände erschließt. Eammon Callan und Costa argumentieren beide, dass eine Auseinandersetzung mit einer Vielzahl unterschiedlicher, umfassender Weltanschauungen in öffentlichen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen zur Herausbildung demokratischer Dispositionen notwendig ist. Schließlich müssen sich vernünftige Bürger in die Perspektive anderer Bürger, die eine andere Vorstellung des Guten vertreten, hineinversetzen können, um aus dieser Perspektive zu prüfen, ob bestimmte Grundsätze dem Kriterium der Reziprozität genügen. Costa drückt diesen Punkt folgendermaßen aus: „Reasonability requires exposure to diversity because this requires the capacity for reciprocity, which involves being capable of making proposals that one considers fair, and being willing to listen and discuss others proposals, all of which requires understanding the others points of views.“62

Nur mittels einer gründlichen Beschäftigung mit anderen Weltanschauungen bzw. dem Erlernen deren Methodik, sind Bürger dazu in der Lage, zu unterscheiden, ob aus der Perspektive anderer Bürger bestimmte Grundsätze tatsächlich nicht rechtfertigbar sind, oder ob Bürger dies nur deswegen behaupten, um ihr Eigeninteresse zu verfolgen. Bürger müssen also über eine gewisse hermeneutische Sensibilität verfügen, die es ihnen erlaubt, sich zumindest bis zu einem bestimmten Grad den Standpunkt anderer zu erschließen.63 Costa schlussfolgert daher: „[G]iven the plurality of compre____________________ 61 62 63

Vgl. Costa, Rawls, Citizenship, and Education, S. 57-59. Ebd, S. 67. Diese Argumentation beruht auf folgendenden Gedanken von Callan, Creating Citizens, S. 26: „[O]nly through empathic identification with your viewpoint can I appreciate what reason might commend in what you say. For if I am to weigh

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hensive doctrines that citizens endorse, it is also necessary to encourage attitudes of understanding [and] mental openness“.64 Zweifelsohne gedeiht eine solche geistige Offenheit eher dann, wenn eine respektvolle Auseinandersetzung mit anderen, umfassenden Weltanschauungen im Schulalltag eingeübt wird. 4.

Fazit

Es ist eine wiederkehrende Kritik am Liberalismus, dass dieser nicht hinreichend die spezifischen Eigenschaften der sozialen und politischen Wirklichkeit reflektiere, auf die er sich bezieht. In jüngster Vergangenheit haben einige politische Theoretiker von diesem Einwand ausgehend dem politischen Liberalismus vorgeworfen, dass dessen Vertreter sich nicht zu aktuellen Krisen äußerten. In diesem Aufsatz habe ich diesen Vorwurf auf zwei verschiedene Weisen entkräftet. Zum einen habe ich darauf verwiesen, dass sowohl eine politisch liberale Idealtheorie als auch eine solche nicht-ideale Theorie für die Bewältigung dieser Krisen von praktischer Bedeutung sind. Die Idealtheorie kann die Einstellung politischer Akteure in einer Art und Weise affizieren, welche deren Motivation steigert, sich für mehr Gerechtigkeit einzusetzen. Zudem setzen sich derzeit eine Vielzahl liberaler politische Theoretiker im Modus nicht-idealer Theorie mit genau jenen Themen auseinander – beispielsweise Migration –, welche von zentraler Bedeutung für die Lösung gegenwärtigen Krisen sind. Zum anderen habe ich anhand des Beispiels öffentlicher Bildung und Erziehung verdeutlicht, dass der politische Liberalismus selbst in dem Bereich, in dem ihm besonders häufig Sprachlosigkeit nachgesagt wird, praxisrelevante Aussagen zu begründen im Stande ist. Aufgrund dieser Überlegungen scheint es mir als unangemessen, den politischen Liberalismus für dessen vermeintliche praktische Irrelevanz im Status Quo zu kritisieren.65

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your claims as a matter of fairness rather than a rhetorically camouflaged expression of sheer selfishness, I must provisionally suspend the thought that you are simply wrong and enter imaginatively into the moral perspective your occupy.“ Costa, Rawls, Citizenship, and Education, S. 66. Sebastian Huhnholz, Regina Schidel, Cord Schmelze und Thorsten Thiel bin ich für kritische Hinweise zu früheren Versionen dieses Textes sehr dankbar.

Die praktische Relevanz des politischen Liberalismus

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Die Autorinnen und Autoren Dr. Hannes Bajohr ist wiss. Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Jüngere Publikationen Judith N. Shklar: Der Liberalismus der Rechte, Berlin 2017 (als Hrsg.); Code und Konzept. Literatur und das Digitale, 2017. PD Dr. Thomas Biebricher ist derzeit Postdoktorand im Bereich Politische Theorie am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität in Frankfurt, wo er zuvor diverse Vertretungsprofessuren für Politische Theorie innehatte. In den letzten Jahren hat er vor allem zu Theorie und Praxis des Neoliberalismus und der Geschichte des deutschen Konservatismus geforscht und publiziert. Jüngere Publikationen: Neoliberalismus zur Einführung, 3. erw Aufl., 2018; Geistig-moralische Wende: Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, 2018; The Political Theory of Neoliberalism, 2019. Dr. Harald Bluhm ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Jüngere Publikationen: Rousseau im Bann der Institutionen, 2016 (hrsg. mit Konstanze Baron); Zur Analytik von Krisenrhetoriken. Metaframes, Narrative und Topoi, Studia Philosophica Bd. 74/2 (Über Krise und Kritik. Crise et critique), 2015, S. 39-54. Dr. Hauke Brunkhorst ist Seniorprofessor für Soziologie an der EuropaUniversität Flensburg. Seiene Arbeitsgebiete sind politische Soziologie, Verfassungssoziologie, Theorie der sozialen Evolution. Jüngere Publikationen: Das doppelte Gesicht Europas. Zwischen Kapitalismus und Demokratie, 2014; Critical Theory of Legal Revolutions – Evolutionary Perspectives, 2014. Dr. Andreas Cassee ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bern. Er arbeitet u.a. zu Fragen der Steuergerechtigkeit, zur Ethik der Migration und zur Theorie der Komplizenschaft. Jüngere Publikation: Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, 2016.

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Julian Culp ist Assistant Professor of Philosophy an der American University of Paris. Er arbeitet momentan an der Schnittstelle von Bildungsphilosophie und politischer Philosophie, u.a. zu normativen Fragen internationaler politischer Bildung und Bildungsgerechtigkeit. Jüngere Publikationen: Global Justice and Development, 2014; Democratic Education in a Globalized World, 2019. Dr. Karsten Fischer ist Professor für Politische Theorie an der LudwigMaximilians-Universität München. Jüngere Publikationen: The Paradox of Autonomy. A Prehistory of Political Liberality, in: Dimitrios Iordanoglou u. Johan Tralau (Hrsg.): The Origins of Political Thinking in Ancient Greece, 2018, S. 121-142; Über Wahrheit und Täuschung im verschwörungstheoretischen Sinne, in: Günter Blamberger et al. (Hrsg.): Vom Umgang mit Fakten. Antworten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, 2018, S. 65-77; Mullahs, Monster und Ministerräte. Der neutrale Staat im religionspolitischen Handgemenge, Kursbuch 196, 2018, S. 59-73. Dr. Jens Hacke vertritt zur Zeit die Professur für Politische Theorie an der Universität Greifswald und ist Privatdozent an der Humboldt Universität Berlin. Zu seinen Forschungsthemen zählen Demokratietheorie, Liberalismus, Konservatismus, Zivilgesellschaft. Jüngere Publikationen: Philosophie der Bürgerlichkeit, 2006; Die Bundesrepublik als Idee, 2009; Existenzkrise der Demokratie, 2018. Matthias Hansl ist Lektor beim Verlag C.H.Beck (Literatur – Sachbuch – Wissenschaft) München. Jüngere Publikation: Lüge, Bluff & Co.: Über das Ende tugenddemokratischer Selbstbeherrschung, Kursbuch 189, 2017. Dr. Lisa Herzog ist Professorin für Politische Philosophie und Theorie an der Hochschule für Politik München an der Technischen Universität München. Sie arbeitet an der Schnittstelle von politischer Philosophie und Ökonomie, u.a. zu Ethik in Organisationen und politischer Epistemologie. Jüngere Publikationen: Reclaiming the System. Moral Responsibility, Divided Labour, and the Role of Organizations in Society, 2018; Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf, 2019. Dr. Sebastian Huhnholz ist Akad. Rat auf Zeit am Lehrbereich Politische Ideengeschichte und Theorien der Politik der Leibniz-Universität und Redaktionsmitglied von www.theorieblog.de. Er forscht zu Demokratietheo-

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Die Autorinnen und Autoren

rien der Staatsfinanzierung sowie über Imperiumstheorien und Erinnerungspolitik. Jüngere Publikationen: Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungskontexte und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks „Kritik und Krise“, 2019; Demokratieprobleme des Steuerstaates im 21. Jahrhundert, PVS-Schwerpunktheft 2018 (hrsg. mit Daniel Mertens u. Thomas Rixen). Dr. Cornelia Klinger ist apl. Professorin für Philosophie an der EberhardKarls-Universität Tübingen. Jüngere Publikationen: Die andere Seite der Liebe. Das Prinzip Lebenssorge in der Moderne. Frankfurt am Main und New York: Campus (i.E.). Zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit. Stehen die Ideen von Aufklärung und Revolution im Neoliberalismus zur Disposition?, in: Brigitte Aulenbacher (Hrsg.): Leistung und Gerechtigkeit. Das umstrittene Versprechen des Kapitalismus, 2017, S. 28-45. Dr. Thomas M. Schmidt ist Professor für Religionsphilosophie am Fachbereich Katholische Theologie und kooptierter Professor am Institut für Philosophie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist dort Geschäftsführender Direktor des Instituts für Religionsphilosophische Forschung, stellv. Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs 1728 „Theologie als Wissenschaft“ und Principal Investigator des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Jüngere Publikationen: Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch (hrsg. mit Annette Pitschmann), 2014; Discorso Religioso e Religione Discorsiva nella Societá Postsecolare, 2009; Religion in der pluralistischen Öffentlichkeit (hrsg. mit Michael Parker), 2008. Dr. Tatjana Schönwälder-Kuntze ist apl. Professorin für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie arbeitet im Bereich der reflexiven Sozialphilosophie mit Schwerpunkt ethisch/politische Theoriebildung. Jüngere Veröffentlichungen: Authentische Freiheit. Zur Begründung einer Ethik nach Sartre, 2001; George Spencer Brown. Eine Einführung, 2009 (2. Aufl.); Freiheit als Norm? Moderne Theoriebildung der Effekt Kantischer Moralphilosophie, 2010; Philosophische Methoden zur Einführung, 2015 (2. Aufl.); Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren (Co-Hrsg.), 2018. Prof. Dr. Reinhard Schulze ist Professor em. für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Er leitet ebenda das transdisziplinäre Forum Islam und Naher Osten. Schwerpunkte seiner 411

Die Autorinnen und Autoren

Forschungen sind die Geschichte der Neuzeit und Moderne in der islamischen Welt, die islamische Wissensgeschichte und die Frühgeschichte des Islams und des Korans. Jüngere Publikationen: Der Koran und die Genealogie des Islam, 2015; Geschichte der islamischen Welt – von 1900 bis in die Gegenwart, 2016; Zur Genealogie bürgerlicher Selbstkonzepte in nahöstlichen Gesellschaften, 2019. Dr. Astrid Séville ist Akademische Rätin auf Zeit am Geschwister-SchollInstitut für Politikwissenschaft an der LMU München. Sie studierte Politikwissenschaft, Romanistik und Historische Anthropologie an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg und an der Université Denis Diderot Paris. 2015 wurde sie mit einer Arbeit zur politischen Rhetorik der Alternativlosigkeit promoviert; ihre Forschung wurde 2016 mit dem Deutschen Studienpreis ausgezeichnet. Sie ist Mitglied des Jungen Kollegs der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Jungen Akademie Mainz. Jüngere Publikation: Der Sound der Macht. Eine Kritik der dissonanten Herrschaft, 2018. Dr. Hans Vorländer ist Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft, insbesondere für Politische Theorie und Ideengeschichte, sowie Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung und des Mercator Forums für Migration und Demokratie an der TU Dresden. Zahlreiche Publikationen zu den Themenbereichen von Verfassung, Demokratie, Liberalismus, Populismus und zu Fragen der politischen Kultur der USA.

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