Cavour und Bismarck: Zwei Staatsmänner im Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus 9783486719338, 9783486715330

Zwei Staatsmänner und ihr Politikverständnis Otto von Bismarck and Camillo Cavour were the founders of the German and

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Cavour und Bismarck: Zwei Staatsmänner im Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus
 9783486719338, 9783486715330

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Gian Enrico Rusconi Cavour und Bismarck

Gian Enrico Rusconi

Cavour und Bismarck Zwei Staatsmänner im Spannungsfeld von Liberalismus und Cäsarismus

Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann

Oldenbourg Verlag München 2013

Die Übersetzung dieses Buches wurde mit Unterstützung des S E   P S erstellt

Via Val d’Aposa 7 – 40123 Bologna – Italien [email protected] – www.seps.it Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Cavour e Bismarck. Due leader fra liberalismo e cesarismo“, © 2011 Società editrice il Mulino, Bologna

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 143, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagentwurf: hauser lacour Umschlagabbildungen: Otto von Bismarck, ca. 1860, Bundesarchiv, Bild 183-RI15449; Camillo Cavour. Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: Grafik+Druck GmbH, München ISBN 978-3-486-71533-0 E-ISBN 978-3-486-71933-8

Inhalt 1. Einführung Zwei Nationalstaaten, zwei Führungsstile Man erfindet keine Nation, sondern erbaut einen Staat Unterschiedliche historische Auswirkungen Verspätungen und Ungleichzeitigkeiten Das Italien des Risorgimento, ein Vorbild für Deutschland? Ein „deutscher Cavour“ „Revolutionäre“ Politiker Parlamentarische Diktatur, Cäsarismus, Realpolitik Welcher Parlamentarismus? Das Erbe Cavours für seine unmittelbaren Nachfolger 2. Italien: Eine europäische Frage. Ein Modell für Preußen und Deutschland? Vom Krimkrieg zum Krieg gegen Österreich Cavours siegreiche Strategie Die Reaktionen der preußischen Regierung auf die Ereignisse in Italien 1859–61 Der konservative Bismarck steht auf der Seite des „revolutionären“ Italien Deutsche Publizisten und Historiker über die italienische Einigung 3. Die deutsche Einigung „mit Eisen und Blut“. Die Kompromisse der Liberalen

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Bismarck als „Konfliktminister“ und die Probleme der Liberalen Bismarck sucht ein Bündnis mit Italien Der Krieg von 1866: Preußischer Triumph, italienische Enttäuschung Der deutsche Liberalismus: Kapitulation vor Bismarck oder Hoffnung auf eine „stillschweigende Änderung der Verfassung“? Die Neubewertung Cavours im Vergleich zu Bismarck

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4. Cavourismus und Bismarckismus. Eine Bilanz

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Begriffsbestimmung

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Cavourismus und Bismarckismus Realpolitik Bonapartismus und Cäsarismus Das Verhältnis Napoleons III. zu Cavour und Bismarck Der Cäsarismus Bismarcks bei Max Weber Politische Verfassungen und die Rolle der Persönlichkeit Jenseits der nationalen Mythen

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Anmerkungen

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1. Einführung 2. Italien: Eine europäische Frage. Ein Modell für Preußen und Deutschland? 3. Die deutsche Einigung „mit Eisen und Blut“. Die Kompromisse der Liberalen 4. Cavourismus und Bismarckismus. Eine Bilanz

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Register

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1. Einführung Zwei Nationalstaaten, zwei Führungsstile Camillo Benso, Graf von Cavour und Otto von Bismarck-Schönhausen sind die Schöpfer ihrer Nationalstaaten in Italien und Deutschland und repräsentieren zugleich zwei Modelle herausragender politischer Führung. Cavour steht für einen am Verfassungsliberalismus orientierten, von Widersprüchen geprägten Politikstil, der sich in lebhaften und harten Auseinandersetzungen mit starken Persönlichkeiten (Giuseppe Garibaldi, Giuseppe Mazzini und König Vittorio Emanuele) entwickelt; der überzeugte Liberale setzt sich im und mit Hilfe des Parlaments durch. Bismarck dagegen verkörpert das Prinzip monarchischer Autorität und benutzt in seinen ständigen spannungsreichen Auseinandersetzungen mit dem Parlament skrupellos Elemente der Demokratie wie das allgemeine Wahlrecht; ihm stehen keine gleichwertigen Politiker gegenüber, und er kann über das außerordentliche Potential des preußischen Militärapparates verfügen. In der Innenpolitik legen beide Staatsmänner gegenüber den Liberalen und der öffentlichen Meinung, nacheinander, aber in zeitlicher Nähe, einen Politikstil an den Tag, der von vielen Beobachtern als „diktatorisch“ oder „cäsaristisch“ bezeichnet wurde. Ihr Handeln und ihre Persönlichkeit oszilliert demnach zwischen Liberalismus und Cäsarismus. Aus diesen Elementen speiste sich in der Vergangenheit auch ihr Mythos: der machtvolle, bürgerliche und volkstümliche Mythos des Junkers bei Bismarck, der gemäßigt bürgerliche und elitäre bei Cavour. Beide Mythen sind heute verblasst, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Bei der Betrachtung Cavours und Bismarcks haben wir es mit der ersten Blüte des politischen Liberalismus zu tun, mit den entscheidenden Etappen des Parlamentarismus im 19. Jahrhundert, mit den verschiedenen Ausprägungen der Verfassungsfrage und mit dem Erbe der 48er Revolution, die den Begriff der Demokratie durch und durch geprägt hat. Wir stehen aber auch vor den entgegen wirkenden konservativen, illiberalen, autoritären, traditionalistischen und klerikalen Kräften, vor Phänomenen wie Bonapartismus und Cäsarismus, Vorboten langfristiger Transformationen, die erst in den späten Massendemokratien vorherrschend werden sollten. An der Politik Cavours und Bismarcks lassen sich nicht nur die historische Notwendigkeit und der unwiderrufliche

Wert des Nationalstaats ablesen, sondern auch tiefgreifende Wurzeln unser gegenwärtigen politischen Kultur.

Man erfindet keine Nation, sondern erbaut einen Staat Weder Cavour noch Bismarck „erfanden“ die Nation als Realität, mit der sich ein Kollektiv identifiziert und der es sich mit leidenschaftlicher Hingabe zugehörig fühlt. Diese Züge waren bereits vorhanden oder angelegt, zumindest bei einer nicht unbeträchtlichen Minderheit in kulturellen Kreisen und im Bürgertum. Die Kulturnation existierte also bereits, aber es ging darum, die Staatsnation zu erschaffen. Cavour und Bismarck gründeten den jeweiligen Nationalstaat auf vorhandenen kulturellen Grundlagen, die sich bereits als national verstanden, weil sich in den Zivilgesellschaften signifikante Minderheiten als „Nation“ oder als „nationale Gemeinschaft“ fühlten, bevor ein National„staat“ existierte. Diesen Zivilgesellschaften drückten die beiden Staatsmänner ihren Stempel auf und bezogen dabei auch die wachsende gesellschaftliche Rolle der öffentlichen Meinung ein. Die Nationalstaaten in Italien und Deutschland entstanden dank der diplomatischen Fähigkeiten und der Skrupellosigkeit der beiden Staatsmänner, dank der Begeisterung und Hingabe von Minderheiten der Bevölkerung, aber auch durch den Einsatz von Gewalt, durch „Eisen und Blut“: Ohne Krieg, ohne den für notwendig erklärten Krieg hätte es keine nationale Einheit gegeben. Ausgehend von prinzipiell unvereinbaren politischen Wertvorstellungen, nämlich liberaler Werte bei Cavour, illiberaler bei Bismarck, entwickelten beide Staatsmänner einen sehr ähnlichen Führungsstil und äußerst riskante Methoden, mit denen sie die Entstehung der Nationalstaaten in Italien und Deutschland ihren Stempel prägten. Weite Teile der älteren italienischen Geschichtsschreibung haben beim Vergleich der Einigung Italiens mit der Deutschlands das italienische Risorgimento als Meisterwerk aus liberalem Geist und als „Volksbewegung“ beschrieben, wohingegen die deutsche Einigung ausschließlich als Ergebnis großen diplomatischen Geschicks und militärischer Leistung unter autokratischer Führung gewürdigt wurde. In Wirklichkeit müssen wir jedoch nicht nur die Rolle des Liberalismus im Risorgimento relativieren und dabei vor allem die tatsächliche Ak8

zeptanz demokratischer Werte und Verhaltensweisen , sondern auch die autokratische Strategie Bismarcks in seiner Auseinandersetzung mit dem deutschen Liberalismus.

Unterschiedliche historische Auswirkungen Im historischen Rückblick hatte das Entstehen der beiden Nationalstaaten außerordentlich unterschiedliche Auswirkungen. Im heutigen Deutschland distanziert man sich kritisch von seinem Staatsgründer, obwohl der von ihm geschaffene Nationalstaat, der später traumatische Phasen durchlief, in der deutschen Identität fest verankert bleibt. Nach einem tief greifenden Prozess der Neubewertung ihrer Geschichte fühlen sich die Deutschen nicht mehr als geistige Nachkommen Bismarcks, auch wenn seine historische Bedeutung unbestritten bleibt. Die durch ihn geschaffene deutsche Einheit wird nicht in Frage gestellt, aber er selbst gilt nicht mehr als vorbildlich. Die Italiener dagegen werden gleichgültig gegenüber allem, was mit dem Nationalstaat und seiner Geschichte zu tun hat. Sie lehnen ihn nicht ab, aber er berührt sie nicht mehr. Die Italiener erkennen sich in Gewohnheiten und Eigenschaften wieder, identifizieren sich aber nicht mit dem Staat und dem Gemeinwesen. In der öffentlichen Meinung und in einer weit verbreiteten Subkultur werden die Nation und die Schaffung des Einheitsstaates als wenig relevante historische Ereignisse verstanden, und deshalb verlieren auch die Protagonisten dieser Epoche ihre politische und gesellschaftliche Bedeutung: Dies gilt in erster Linie für Cavour, der ohnehin nie so verklärt und populär wurde wie (aus Gewohnheit) heute noch Garibaldi und Mazzini. Es überrascht deshalb kaum, dass politische Kräfte wie die Lega Nord, die mehr oder weniger überzeugend eine Föderalisierung Italiens betreiben, ihre Politik mit einem starken antinationalen und antiunitarischen Ressentiment unterlegen. Bei genauerer Betrachtung verleiht der verschwommene Revisionismus der Lega jedoch lediglich einer Subkultur ihre Stimme, die von der Unfähigkeit der offiziellen Kultur profitiert, den Einigungsprozess mit überzeugenden Argumenten als positiv darzustellen und zu betonen, dass Cavours Rolle auch im geänderten historisch-politischen Kontext bis heute vorbildlich ist. Der vorliegende Text will jedoch nicht untersuchen, wie und warum in Italien die Nation und ihre Schöpfer bedeutungslos geworden sind 9

oder wie die schweren Probleme des Südens ursprünglich entstanden sind und warum sie nie gelöst werden konnten, so dass ihre Hinterlassenschaft auch heute noch den Sinn der nationalen Einheit in Frage stellt und uns zu einer noch gründlicheren und kritischeren Bewertung der Ereignisse unmittelbar nach der Proklamation des Königreichs Italien zwingt. Nicht zufällig starb Cavour (allzu früh am 6. Juni 1861) im klaren Bewusstsein, dass Italien plötzlich vor der ungeheuren Aufgabe stehe „den Norden mit dem Süden in Einklang“ zu bringen.

Verspätungen und Ungleichzeitigkeiten Wenn man die Gründung des italienischen Staates betrachtet und dabei die Prozesse im Auge hat, die zur Gründung des Deutschen Reiches geführt haben, stößt man nicht nur auf die Parallele zwischen zwei „verspäteten“ Nationen, sondern auch auf Ungleichzeitigkeiten. Die Einigungsprozesse in Italien und Deutschland haben ein unterschiedliches Timing: 1861 wurde das Königreich Italien proklamiert; der erste Schritt zur deutschen Einigung (in Form des Norddeutschen Bundes) fand 1867 statt, die Proklamation des deutschen Kaiserreichs erst 1871. In einem komplizierten Zusammenspiel von Volksaufständen, piemontesischer Diplomatie und der Kriegführung regulärer und irregulärer Freiwilligenverbände (unter Führung Garibaldis) vollzog sich die nationale Einigung Italiens zwischen Mai 1859 und März 1861 als Anschluss der vorher existierenden Staaten Italiens an das Königreich Sardinien-Piemont und mündete in das Verfassungssystem der im piemontesischen Königreich gültigen parlamentarischen Monarchie. Als Italien zum Einheitsstaat wurde, blieb der deutschsprachige Raum – einschließlich Österreichs – ein Bund kleiner und mittlerer Staaten, in dem zwei einander immer feindlich gesonnene Mächte um die Hegemonie kämpften, im Norden Preußen, im Süden Österreich. Die nationale Einheit erschien nur schwer realisierbar, auch weil die Deutschen zu zerrissen waren zwischen einer so genannten kleindeutschen Lösung, in der Preußen als Führungsmacht Österreich verdrängte, und einer großdeutschen Lösung, bei der abgesehen von einer möglichen Reform des Deutschen Bundes der Status quo ebenso erhalten bleiben sollte wie die Vorrangstellung Österreichs. Beide Konzepte waren in der Tat unvereinbar. Erst 1866 ergriff Preußen unter Bismarck „von oben“ diplomatisch und militärisch die Initiative, wobei 10

er sich auf das fast autokratische Verfassungssystem und vor allem auf das Heer seines Landes stützen konnte. In der bisherigen Geschichtsschreibung werden diese Ungleichzeitigkeiten lediglich als Ausdruck der „verspäteten“ Nationalstaatsbildung beider Staaten im Verhältnis zu den anderen großen Nationen Europas gesehen, aber diese Sichtweise muss historisch sicher revidiert werden. Die Entwicklung in Italien und Deutschland verbindet nicht einfach die „Verspätung“, sondern auch die Notwendigkeit, das bestehende System von Bündnissen und Feindschaften im Rahmen der in Europa herrschenden Machtkonstellationen zu berücksichtigen. Es ging nicht nur darum, auf die Einheit zuzusteuern und als Letzte dieses Ziel zu erreichen; das Königreich Italien und das Kaiserreich Deutschland mussten zu ihrer Verwirklichung die Gelegenheit nutzen, dass die Interessen der Mächte, denen die Erhaltung des aus dem Wiener Kongress hervorgegangenen Status quo am Herzen lag, zu divergieren begannen. Das beinhaltete die endgültige Auflösung der Heiligen Allianz, die Europa seit 1815 lähmte, aber bereits durch die Revolutionen von 1848/49 erschüttert war. Dieser Prozess, der unmittelbar nach der Jahrhundertmitte (mit der Krimkrise) begann, erklärt auch die Ungleichzeitigkeit zwischen der Einigung Italiens und Deutschlands. Daher muss man zwei Grundgedanken festhalten: a) Die Einigung Italiens und Deutschlands bedeuteten nicht nur Umwälzungen innerhalb der beiden Länder, sondern waren Ergebnis eines Konflikts im bestehenden System der europäischen Mächte. Die Realpolitik, die Cavour und Bismarck verbindet, entsprang der Einsicht, dass Europa als „Machtsystem“ auf der Konfrontation und den Konflikten zwischen den großen westeuropäischen Nationalstaaten (England und Frankreich) und den mittel- und osteuropäischen Kaiserreichen (Österreich und Russland) basierte. b) Angesichts der wachsenden Feindseligkeit Sardinien-Piemonts und später Preußens gegenüber Österreich, der Russland gleichgültig, England dagegen mit vorsichtigem Wohlwollen begegnete, wurde die explizite und implizite Zustimmung oder Ablehnung zum Einigungsprozess in Italien und Deutschland durch das Frankreich Napoleons III. zum entscheidenden Faktor. Für Piemont war Frankreich im Kampf gegen Österreich ein zwar unangenehmer und störender, aber unerlässlicher Bündnispartner; für Preußen/Deutschland dagegen war Frankreich anfangs ein latenter, unberechenbarer Gegenspieler, den man umschmeicheln und hinhalten musste, um dann (1870) unbarmherzig loszuschlagen, sobald Österreich aus dem Deutschen Bund ausgeschlossen war. 11

Das Italien des Risorgimento, ein Vorbild für Deutschland? Die Ereignisse der Jahre 1859–61 in Italien erregten bei den Deutschen Verwunderung, Bewunderung und Besorgnis. Für die konservativen Staaten des Deutschen Bundes boten sie das schlechte Vorbild einer „Revolution“, die alle moralischen und politischen Werte des Kontinents umstürzte. Bei den gemäßigteren, liberal geprägten Regierungen dagegen stieß die italienische Nationalbewegung gerade deshalb auf Bewunderung, weil sie als genuin liberal erschien. Aber auch bei diesen hatte die Bewegung einen schweren Fehler: Da die Einigung nur durch französische Militärpräsenz möglich wurde, bedeutete sie eine gefährliche Bedrohung für Deutschland und das europäische Mächtegleichgewicht. Selbst die Liberalen, die Italien besonders wohlwollend gegenüberstanden, waren in Sorge, und viele von ihnen unterstützten Österreich in seinem schweren Kampf um den Bestand des Königreichs Lombardo-Venetien. Man fürchtete, Napoleon III. ziele auf eine umfassendere geopolitische Umwälzung, um die Rheingrenze zu erreichen. Deshalb entstand das populäre Schlagwort von der „Verteidigung des Rheins am Po“. Bismarck, der um diese Zeit kein Regierungsamt innehatte, sondern als Gesandter in Sankt Petersburg weilte, war ganz anderer Ansicht. Ihm ging es in erster Linie um das Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund, das möglichst mit einem Konflikt erreicht werden sollte, der den österreichisch-preußischen Gegensatz ein für alle Mal aus der Welt schaffte. Wien durfte deshalb in seiner Auseinandersetzung mit Italien nicht unterstützt werden. Daran wird deutlich, dass die Strategie Bismarcks punktuell mit der Cavours im Einklang stand: Demnach war Österreich der Feind des nationalstaatlichen Prinzips und die Macht in Europa, die den geopolitischen Status quo am nachdrücklichsten erhalten wollte. Deshalb plädierte Bismarck für eine Taktik wohlwollender Unterstützung Frankreichs, um dessen eigennützige Neutralität in einer möglichen innerdeutschen Auseinandersetzung zu erreichen. Schließlich kam er dem politischen Liberalismus in der nationalen Frage entgegen. Im Dezember 1860 schrieb Bismarck über Italien, „dass es für Preußen heilsam sei, wenn sich im Süden zwischen Frankreich und Österreich ein kräftiger italienischer Staat bildet“. Zu dieser Überzeugung war der preußische Junker nach der Prüfung der Entwicklung in Italien ge12

langt und kam zu dem Ergebnis: „Meiner Überzeugung nach müssten wir das Königreich Italien erfinden, wenn es nicht von selbst entstände.“ Ebenso unmissverständlich hat Bismarck aber einige Monate später, als er preußischer Ministerpräsident werden sollte, festgehalten: „Ich fühle nicht den Beruf, Preußen in die Bahnen Cavour’scher Politik zu drängen, und wenn ihn jemand in meiner Lage fühlte, so würden ihm alle Unterlagen fehlen, um die Theorie zur Praxis zu machen.“ In ihrer Zuspitzung ist diese Einschätzung sehr klar. Cavours Handeln war für Bismarck nicht nur aus Gründen des Politikverständnisses oder der Ideologie kein Vorbild, da es sich von liberalen und parlamentarischen Grundsätzen leiten ließ, sondern weil die „Unterlagen“, die Bedingungen seiner Verwirklichung fehlten: Bismarck musste sich mit anderen politischen Faktoren und anderen Machtverhältnissen auseinandersetzen. Darüber hinaus hätte der preußische Minister nicht mit einer innenpolitischen Situation wie der in Italien umzugehen gewusst. „Demokratische“ Volksbewegungen wie die von Garibaldi geführte und die von Mazzini inspirierte konnte nur Cavour unter Kontrolle bringen. Der direkte Einsatz von Gewalt dagegen hätte das Ende jeder nationalen Politik bedeutet. Trotz dieser unüberbrückbaren Unterschiede in ihrer politischen Grundeinstellung waren jedoch beide Staatsmänner davon überzeugt, dass Piemont und Preußen als Staaten auf internationaler Ebene übereinstimmende Interessen hatten, angefangen von der Feindschaft gegen Österreich und der wohlwollenden Haltung gegenüber Frankreich.

Ein „deutscher Cavour“ Bismarck hatte guten Grund zu betonen, dass er dem Beispiel Cavours weder folgen könne noch wolle. Angesichts der Entwicklung in Italien hatten viele Liberale in Deutschland das Auftreten eines „deutschen Cavour“ herbeigewünscht. Das Modell Cavours war so attraktiv, dass ein bedeutender Liberaler noch 1866 – als das Preußen Bismarcks Österreich gerade besiegt und damit den ersten entscheidenden Schritt zur deutschen Einigung getan hatte – schrieb: „Wie habe ich seit Jahren die Italiener beneidet, dass ihnen gelungen, was uns das Geschick noch auf eine ferne Zukunft hinaus zu versagen schien, wie habe ich den deutschen Cavour und Garibaldi als politischen Messias Deutschlands herbeigewünscht. Und über Nacht ist er uns erstanden in dem vielgeschmähten Bismarck. Soll man nicht glauben zu träumen, wenn das Unmögliche möglich wird?“

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Bismarck war bei den deutschen Liberalen „vielgeschmäht“, denn seit seinem Regierungsantritt 1862 hatte er eine äußerst harte und langwierige politische Auseinandersetzung gegen deren Weigerung geführt, der kostspieligen Erhöhung des Heeresetats zuzustimmen. Der Monarch wollte die militärische Schlagkraft des preußischen Heeres erhöhen, und Bismarck unterstützte ihn darin unnachgiebig. Am 29. September 1862 gab er vor der parlamentarischen Budgetkommission eine Erklärung ab, die auch heute noch in allen Geschichtsbüchern als Ausdruck seiner politischen Philosophie zitiert wird: „Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; Bayern, Baden-Württemberg, Baden mögen den Liberalismus indulgieren, dadurch wird ihnen doch keiner Preußens Rolle anweisen; Preußen muss seine Macht zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpasst ist: [. . . ] nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut.“

Cavour hätte natürlich niemals eine Erklärung dieser Art abgegeben, obwohl auch er auf „Blut und Eisen“ gesetzt hatte, als er nach dem Geheimabkommen von Plombières mit Napoleon III. den Krieg gegen Österreich im Jahr 1859 provozierte. Bei dieser Gelegenheit sagte er, es gebe für die „italienische Frage nur eine Lösung: die Kanone“ – diese Aussage hätte aus dem Mund Bismarcks stammen können. Cavour aber hätte die Entscheidung für den Krieg nie den „Reden und Majoritätsbeschlüssen“ als Alternative gegenübergestellt. Er blieb vom Verfassungsliberalismus zutiefst überzeugt und hielt an den parlamentarischen Verfahrensregeln und Mehrheitsentscheidungen fest. Den Kampfgeist und die politische Dialektik im parlamentarischen Prozess betrachtete Cavour keineswegs als „parlamentarisches Geschwätz“, über das Bismarck sich so gern sarkastisch äußerte. Cavour und Bismarck hatten vollkommen unterschiedliche Vorstellungen vom „Volk“ und vor allem von seiner Art, sich politisch zu artikulieren. Für den Verfassungsliberalen Cavour kam „das Volk“ in den politischen Parteien des Abgeordnetenhauses und in der öffentlichen Meinung zu Wort, die „Radikalität“ außerparlamentarischer demokratischer Bewegungen dagegen bekämpfte er rückhaltlos. Der Monarchist Bismarck betrachtete königstreue Untertanen als das „wahre Volk“, sofern sie sich bereitwillig gegen demokratische Demagogen, zu denen Bismarck gern auch die Liberalen im Parlament rechnete, mobilisieren ließen. Diese Überzeugung war in den Jahren der antidemokratischen Reaktion nach 1848 herangereift und begleitete ihn bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahr 1866. 14

„Revolutionäre“ Politiker Inwiefern lassen sich Cavour und Bismarck als „Revolutionäre“ bezeichnen? In Italien war der Begriff Revolution vom Erbe der Jahre 1848/49 geprägt. Im darauf folgenden Jahrzehnt aber reklamierten Mazzinianer und radikale Demokraten, erbitterte Gegner des streng parlamentarischen Liberalismus Cavours, den Begriff immer mehr für sich. So sprach der piemontesische Politiker selbst davon, „revolutionäre“ Initiativen zu ergreifen, als er Kontakt zu Mazzinianern und Garibaldinern aufnahm. Um den Waffenstillstand von Villafranca, der den siegreichen Feldzug gegen Österreich abbrach, als Verrat des französischen Kaisers an der nationalen Sache Italiens zu brandmarken, rief Cavour aus: „Ich werde zum Verschwörer! Ich werde Revolutionär! Dieser Waffenstillstand darf nie in die Tat umgesetzt werden!“ Solche Worte waren freilich nur Ausdruck spontaner Entrüstung. Sobald er im Januar wieder die Zügel der Regierung in die Hand nahm, trat in seinem Verhalten gegenüber Garibaldi die ganze Ambivalenz seiner Vorstellung von „Revolution“ zutage: Die „Revolution“, die Cavour im Sommer 1860 in Umbrien und Neapel auslösen wollte, um mit Garibaldi zu konkurrieren, verfolgte bereits ausdrücklich das Ziel, die demokratische „Revolution“ einzudämmen. Als Garibaldi der Versuchung nachzugeben drohte, im Süden ein radikaldemokratisches Regierungssystem einzuführen, erklärte Cavour, er werde alles daran setzen „zu verhindern, dass die italienische Bewegung statt einer nationalen eine revolutionäre Bewegung“ werde. Man beachte die Trennung in der Abfolge der Adjektive: italienische, nationale und revolutionäre Bewegung. Noch skrupelloser und empörender für Freund und Feind war das Vorgehen des konservativen Bismarck in Deutschland. Bezeichnend für seine Absichten und seine Taktik war der berühmte Satz: „Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden.“ Bismarck verstand unter „Revolution“ in erster Linie die Änderung des geopolitischen Status quo im deutschsprachigen Raum zum Schaden Österreichs und nicht einen Umsturz oder eine Veränderung der Gesellschaft oder des politischen Systems im demokratischen Sinn. Das „revolutionäre“ Instrument der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer, das er von seinen politischen Gegnern übernahm, diente ihm zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Der konservative Bismarck wurde zum „weißen Revolutionär“, weil er dank seines außerordentlichen politischen Gespürs erkannt hatte, dass nicht 15

das allgemeine Wahlrecht, sondern der parlamentarische Liberalismus mit seiner indirekten Vertretung die eigentliche Gefahr für das von ihm verteidigte soziopolitische System Deutschlands bedeutete. „Direkte Wahlen [. . . ] und allgemeines Stimmrecht“, versicherte Bismarck, „halte ich für größere Bürgschaften einer konservativen Haltung als irgendein künstliches auf Erzielung gemachter Majoritäten berechnetes Wahlgesetz.“ Das Volk stehe instinktiv auf der Seite des Königs und der bestehenden Ordnung. Diese „revolutionäre“ Strategie Bismarcks (die freilich eher das Etikett „cäsaristisch-populistisch“ verdienen würde) passte weder bei seinen liberalen Gegnern noch bei seinen konservativen Freunden ins Bild ihrer Wertungen und institutionell-politischen Erwartungen.

Parlamentarische Diktatur, Cäsarismus, Realpolitik Cavours Umgang mit dem Parlament in politischen Krisen wurde als „Diktatur“ gebrandmarkt. Der Premierminister wies derartige Vorwürfe mit Ironie von sich , erklärte aber 1859 mit Blick auf den bevorstehenden Krieg: „Der Ernst der Lage und die zahllosen Schwierigkeiten, die sie [die Regierung] zu überwinden hat, verlangen nach einer Art Diktatur. Die Regierung glaubt an den Erfolg, aber dafür muss sie unbegrenztes Vertrauen einflößen und gewinnen.“ Besser lässt sich der Charakter der „parlamentarischen Diktatur“ Cavours nicht definieren. Seine politische Autorität erlaubte es ihm nicht nur, die Abgeordneten mit fester Hand zu führen, sondern auch mit Verweis auf den weit über den institutionellen Rahmen hinausgehenden Konsens des „Volkes“ den Monarchen zu beeinflussen. Auf dieser Basis konnte der Premierminister bis an die Grenze des Verfassungskonflikts gehen, um sich gegen König Vittorio Emanuele als Inhaber der monarchischen Souveränität durchzusetzen. Und auf dieser Basis konnte er gegen Garibaldi, der sich im Königreich beider Sizilien als Vertreter einer „demokratischen“ und „revolutionären“ Bewegung formal zum „Diktator“ erklärt hatte, sein „liberales“ und „gemäßigtes“ Programm behaupten. Unzweifelhaft war Cavour fest entschlossen, auf antiparlamentarische Umsturzpläne manu militari zu reagieren. „Ich stehe persönlich dafür ein, dass es mit Hilfe des Parlaments ein geeintes Italien geben wird“, schrieb er kurz vor den Wahlen am 9. Januar 1861: „Die Garibaldiner haben im Parlament kei16

nen Einfluss und werden nicht wagen, auf die Straße zu gehen. Falls sie es aber doch täten, würden La Marmora, Cialdini und La Rocca sie schnell zur Vernunft bringen. Im Heer herrscht ein hervorragender Geist; es wird sich nicht von anarchischen Ideen verführen lassen.“ Cavour konnte diese Haltung auch deshalb einnehmen, weil er mit dem Konsens der bürgerlichen „öffentlichen Meinung“ rechnete, und er bezog sich in entscheidenden Momenten ausdrücklich auf diese neue politische und gesellschaftliche Macht. Durch das Zusammenspiel dieser Elemente – die zentrale Rolle des Parlaments unter seiner Führung und die Berufung auf die öffentliche Meinung – ist Cavours Politik mehr als lediglich eine Variante des Cäsarismus. Vollkommen anders verstand Bismarck selbst sein Verhältnis zum Parlament und zur monarchischen Autorität: „Der innenpolitisch hochkonservative Mann im Bündnis mit der Demokratie, sprich mit den sozialen Unterschichten, gegen die traditionellen wie gegen die neuen, bürgerlichen Eliten – ein solches hochmachiavellistisches Konzept besaß und besitzt eine außerordentliche Faszinationskraft.“ Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts (für Männer) etwa war eine Provokation sowohl für seine konservativen Freunde als auch für seine liberalen Gegner, so dass die Konservativen seiner Zeit neue Definitionen wie „Revolution von oben“, „konservative Politik mit revolutionären Mitteln“ oder eben „Cäsarismus“ erfinden mussten. Der deutsche Liberalismus wurde von der Strategie Bismarcks nicht einfach an den Rand gedrängt und überwältigt, sondern ließ sich verführen und schließlich mit mehr oder weniger Überzeugung erobern. Viele deutsche Liberale begeisterten sich für die militärische „nationale Revolution“ von oben, weil sie wider Erwarten ihren Traum von der deutschen Einheit hatte wahr werden lassen. Sie nahmen die Herausforderung Bismarcks an, der mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1867 alles andere als demokratische Ziele verband. Das allgemeine Wahlrecht beinhaltete nämlich keineswegs eine Anerkennung der Volkssouveränität, sondern war eine rein populistische Maßnahme im Rahmen einer nach wie vor nicht parlamentarischen Verfassungsstruktur. Die Monarchie behielt gegenüber dem Parlament ihre Souveränitätsprärogativen, die vom Kanzler „cäsaristisch“ gehandhabt wurden. Cäsarismus ist ein vieldeutiger, verschwommener Begriff, der bei vielen Demokraten auf Skepsis stößt und sich auf ganz unterschiedliche politische Strukturen, Regime und Regierungsstile anwenden lässt. In jedem Fall setzt er eine starke Persönlichkeit voraus, die sich direkt auf 17

das „Volk“ oder die „Nation“ beruft und dabei die vorhandenen Institutionen, seien sie demokratisch-parlamentarisch oder monarchisch-autoritär, verändert oder umfunktioniert. In diesem Sinne bezeichnete die von der Jahrhundertmitte bis 1870 erschienene politische Publizistik keineswegs zu Unrecht strukturell unterschiedliche Erscheinungen wie die Politik Napoleons III. in Frankreich (dessen Bonapartismus in zeitlicher Reihenfolge den Prototyp bildete), die Cavours in Italien und die Bismarcks in Deutschland als Cäsarismus. Dennoch sollte man vorsichtig sein mit einer solchen Phänomenologie, die oft mehr mit literarischen und rhetorischen Charakterisierungen als mit begrifflich strengen Konzepten arbeitet. Im selben Zusammenhang bürgerte sich in Deutschland die Bezeichnung Realpolitik ein, verstanden als eine an konkreten Fakten statt an großen Idealen oder moralischen Prinzipien orientierte Politik, die sich in den Augen der „Realpolitiker“ als unrealisierbar und lähmend erwiesen hatten. Sowohl Cavour als auch Bismarck wurden als große Realpolitiker bezeichnet, bei denen Führungsstil, Umgang mit der Öffentlichkeit, Handlungsstrategien gegenüber Feinden und Verbündeten in der Innen- und Außenpolitik trotz aller offensichtlichen Gegensätze ihrer politischen Kultur als durchaus vergleichbar betrachtet wurden: Cavours politische Grundeinstellung war prinzipiell liberal, die Bismarcks illiberal. Natürlich ist es nicht immer einfach zwischen liberaler und illiberaler Realpolitik zu unterscheiden.

Welcher Parlamentarismus? Zwei Zitate, eines von Bismarck, eines von Cavour, verdeutlichen die Haltung der beiden Staatsmänner zur Volksvertretung. Der preußische Ministerpräsident schrieb 1863 an einen englischen Freund: Im „Haus der Phrasen [. . . ] sitze ich nun wieder, höre die Leute Unsinn reden und beendige meinen Brief; [. . . ] die Leute [. . . ] schelten einander mit der größten Heftigkeit, als ob jeder den anderen umbringen wollte; sie sind über die Motive nicht einig, aus denen sie übereinstimmen, darum der Zank; echt deutsch, leider Streit um des Kaisers Bart, querelle d’Allemand“ Trotzdem löste Bismarck das Abgeordnetenhaus nie auf, sondern trat ihm immer mit offenem Visier entgegen. In starkem Gegensatz dazu steht die Haltung Cavours, der sechs Monate vor seinem Tod schrieb: 18

„Ich habe keinerlei Vertrauen zu Diktaturen und am wenigsten zu bürgerlichen Diktaturen. Nach meiner Überzeugung kann man mit einem Parlament viele Dinge durchsetzen, die mit einer absoluten Macht nie möglich wären. Die Erfahrung von dreizehn Jahren hat mich gelehrt, das ein ehrlicher und energischer Minister, der sich vor Enthüllungen der Abgeordneten nicht zu fürchten braucht und sich von der Aggressivität der radikalen Parteien nicht einschüchtern lässt, aus den parlamentarischen Auseinandersetzungen nur Gewinn ziehen kann. Auf der anderen Seite könnte ich auch meine Herkunft nicht verleugnen und die Prinzipien, die mein ganzes Leben geprägt haben, aufgeben. Ich bin ein Sohn der Freiheit und verdanke ihr alles, was ich bin. Wenn ihr Standbild verhüllt werden müsste, würde ich es bestimmt nicht tun. Wenn die Italiener zu der Überzeugung kämen, dass sie einen Diktator brauchen, würden sie nicht mich, sondern Garibaldi wählen. Und damit hätten sie Recht. Der parlamentarische Weg ist länger, aber sicherer.“

Diese Worte bringen Cavours prinzipielle Haltung zum Ausdruck, die freilich nicht ausschließt, dass er sich im konkreten politischen Handeln weniger eindeutig verhielt und eine Art von „gelenktem“ Parlamentarismus entwickelte, um ihn der rein hypothetischen „Diktatur“ Garibaldis, wie sie oben erwähnt war, entgegenzusetzen.

Das Erbe Cavours für seine unmittelbaren Nachfolger Bei Cavours Tod fehlte zur italienischen Einheit noch der Erwerb Venetiens, der nur durch freundschaftliche Beziehungen zu Preußen möglich war. Deshalb führt die vorliegende Untersuchung bis zum preußischitalienischen Abkommen von 1866 und dem darauf folgenden Krieg. Mit diesem Datum endet auch unsere Analyse der Politik Bismarcks, der durch den Sieg über Österreich im Juli des Jahres den entscheidenden Schritt zur nationalen Einigung tat und die Voraussetzungen für die militärische Auseinandersetzung mit Frankreich fünf Jahre später legte, die zur Gründung des deutschen Kaiserreichs führte. Für die Beziehungen zwischen Piemont/Italien und Preußen gebrauchte Cavour nicht nur häufig den Topos der „natürlichen Freundschaft“ beider Staaten, sondern fasste für den Erwerb von Venetien auch ein italienisch-preußisches Militärbündnis gegen Österreich ins Auge, wobei er ein beherztes italienisches Vordringen über Venetien hinaus nach Triest und Istrien plante. Dieses strategische Ziel hätte 1866 erreicht werden können, denn die preußischen Bündnispartner empfahlen die von Cavour angedeutete Strategie. Doch die Heeresführung und Ministerpräsident Alfonso La Marmora nahmen davon Abstand. 19

Die langwierigen Verhandlungen zwischen Bismarck und den italienischen Gesandten 1865 und 1866 sind ein Meisterstück Bismarck’scher Diplomatie, der die Italiener nichts Entsprechendes entgegenzusetzen hatten. Die Entscheidung auf dem Schlachtfeld war ein glänzender Erfolg für Preußen, eine tiefe Enttäuschung für Italien. Die Italiener erlitten bei Custoza und Lissa demütigende Niederlagen, während das preußische Heer bei Sadowa/Königgrätz einen großen Sieg errang. Zwischen Preußen und Italien kam es zu Unstimmigkeiten und Missverständnissen, weil Bismarck ohne Einverständnis des Bündnispartners den Konflikt mit einem insgesamt ziemlich großzügigen Friedensschluss rasch beendete, während die Italiener erneut zum Angriff übergehen wollten, um die erlittene Scharte auszuwetzen. Doch dazu war es zu spät: Habsburg trat Venetien nicht an Italien, sondern an Napoleon III. ab, der es als wohlwollender Vermittler der italienischen Regierung aushändigte. Für Italien endete damit der in den Jahren 1859–60 an der Seite Frankreichs so erfolgreich begonnene Prozess 1866 an der Seite Preußens höchst glücklos. Zunächst erschien die Situation lediglich als Missgeschick auf dem Weg zur Vervollständigung der Einheit: In Wahrheit aber offenbarte sich bereits die Unfähigkeit der politischen Klasse nach Cavour, die enormen Aufgaben zu bewältigen, vor die sie der neue Einheitsstaat gestellt hatte. Der frühe Tod Cavours hindert uns daran zu ermessen, ob der piemontesische Politiker, wäre er weiter Ministerpräsident geblieben, politische und strategisch-militärische Bündnisse mit Bismarcks Deutschland eingegangen wäre, wie einige seiner Äußerungen vor 1860/61 vermuten lassen. Diese Fragen müssen wir einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung überlassen.

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2. Italien: Eine europäische Frage. Ein Modell für Preußen und Deutschland? Vom Krimkrieg zum Krieg gegen Österreich Der Ausgangspunkt unserer Analyse kann nur die internationale Krise sein, die zum Krimkrieg (1853–56) führte. In dieser Krise, in der sich das 1815 entstandene europäische Bündnissystem auflöste, wurde die durch den Wiener Kongress geschaffene, von der Heiligen Allianz (Österreich, Russland, Preußen) aufrecht erhaltene geopolitische Ordnung zur Disposition gestellt. Dadurch war der Weg für neue Konstellationen geebnet, die die italienische und die deutsche Einigung ermöglichten und für Deutschland die Basis seiner künftigen Rolle als neue europäische Großmacht legten. Obwohl sich unsere Untersuchung auf den relativ kurzen Zeitraum von 1850 bis 1870 beschränkt, darf diese historische Perspektive nicht aus den Augen verloren werden. In diesen beiden Jahrzehnten entstand die Struktur der Machtbeziehungen zwischen den europäischen Mächten, die für den Rest des Jahrhunderts Gültigkeit behalten sollte. Eine führende Rolle spielte Frankreich unter Louis Bonaparte, der seit dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 als Napoleon III. „Kaiser der Franzosen“ war. Er machte sein Land wieder zu einem Hauptakteur der internationalen Politik und verfolgte das Ziel einer Revision der Verträge des Wiener Kongresses, ohne eine Neuauflage der Bündniskonstellation zu fürchten, die das erste Kaiserreich zu Fall gebracht hatte. Als Vorkämpfer für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen gab er nicht nur den Anstoß für eine geopolitische Neuordnung Europas, sondern war zugleich Vorbild für ein neues Regierungssystem: den Bonapartismus. Großbritannien reagierte vorsichtig und passte sich diesen Neuerungen an, denn es hielt sich für stark genug, um einen gänzlichen Umsturz des bestehenden Mächtegleichgewichts zu verhindern: England achtete vor allem darauf, dass Frankreich nicht übermäßig stark aus den Konflikten hervorging. Die Regierungen auf der Insel ließen sich jedoch – angefangen von der Krimkrise – in die internationale Dynamik hineinziehen und schwankten zwischen Attendismus und Vermittlungsversu-

chen. Diese alles andere als widerspruchsfreie Politik kam auf lange Sicht der nationalen Einigung in Italien und Deutschland zugute. Mit den größten Schwierigkeiten hatten die beiden anderen konservativen Großmächte und Hüter der bestehenden Ordnung, Russland und Österreich, zu kämpfen. Ihre bilateralen Beziehungen kühlten sich ab und gerieten mehrmals an den Rand offener Feindseligkeit. Gegenüber den anderen westlichen Mächten und gegenüber der aufsteigenden Großmacht Preußen verhielten sie sich sehr unterschiedlich. Die Habsburger Monarchie war von den Veränderungen am meisten betroffen, reagierte ungeschickt darauf und ging schließlich als politischer und militärischer Verlierer daraus hervor. Folgen wir dem Verlauf der Ereignisse: Im Februar 1853 spitzte sich die vom unaufhaltsamen Niedergang des Osmanischen Reiches und dem Expansionismus Russlands ausgelöste sogenannte „Orientalische Krise“ gefährlich zu. Russland hatte die zum Osmanischen Reich gehörigen Donaufürstentümer Moldau und Walachei besetzt und machte deutlich, dass es die Hegemonie über die gesamte Schwarzmeer- und Donauregion anstrebte. Die Westmächte Frankreich und England waren alarmiert und erklärten nach ergebnislosen diplomatischen Vermittlungsversuchen Russland den Krieg. Der öffentlichen Meinung Europas präsentierten sie ihr Eingreifen als eine Art „Kampf der Kulturen“ zwischen den liberalen Werten des Westens und dem Despotismus und Expansionismus des Ostens. Natürlich verbargen sich unter diesem ideologischen Schleier handfeste Interessen des Westens in dieser strategisch wichtigen Region: England wollte die russische Kriegsflotte vom Mittelmeer fernhalten, und Frankreich bediente sich der „Orientalischen Frage“, um Russland als wichtigste Stütze der bestehenden geopolitischen Ordnung zu schwächen. Das eigentlich Neue war jedoch, dass Österreich aus Sorge über das russische Expansionsstreben in der Donauregion, wo die Habsburgermonarchie selbst die Rolle der Hegemonialmacht beanspruchte, nicht an die Seite seines traditionellen Bündnispartners Russland trat, sondern sich an die Westmächte annäherte und eine „Germanisierung“ der Orientalischen Frage anvisierte. Ohne aktiv in das Geschehen einzugreifen begann Österreich damit die „diplomatische Revolution“ der Annäherung an die Westmächte. Preußen, das ebenfalls zu den traditionellen Verbündeten Russlands gehörte, war unsicher, auf welche Seite es sich stellen sollte. Nur der als Politiker noch wenig bekannte, im diplomatischen Dienst innerhalb Deutschlands aber sehr aktive Otto von Bismarck forderte die preußi22

sche Regierung (vergebens) dazu auf, die Krise zu nutzen, um sich von Österreich zu distanzieren und eine aktivere Rolle in Deutschland zu spielen. Bismarck sah also in der Krimkrise die Chance zur Emanzipation des Königreichs Preußen und ganz Deutschlands von der erstickenden Übermacht, die Österreich innerhalb des Deutschen Bundes ausübte. Darüber schrieb er selbst: „Österreich missbraucht den Bund und nutzt ihn dadurch ab, er soll Mittel sein, unseren Einfluss in Deutschland zu neutralisieren und auf uns selbst malgré nous zu wirken, nicht deutschen, sondern österreichischen Zwecken soll er dienen, und jede Abwehr oder Zurückhaltung Preußens diesem Streben gegenüber wird mit einem pharisäischen Befremden als Verrat an der deutschen Sache stigmatisiert. Die guten Österreicher sind wie der Weber Zettl im Sommernachtstraum. Sie haben im Orient ihr Kreuz zu tragen, wollen in Italien die große Rolle spielen und in Deutschland auch den „Löwen“ machen und für die europäische Politik über uns disponieren, ohne uns in der deutschen auch nur ein Gott vergelts zu sagen.“

Zu diesem Zeitpunkt nahm kein Regierungsmitglied Bismarck ernst. Überraschend tauchte im Spiel der Großmächte das kleine Königreich Sardinien-Piemont auf, das keinerlei konkretes Interesse an dem weit entfernten Konflikt im Osten hatte, aber im Namen der nationalen Frage daran erinnerte, dass zu den zivilisatorischen Zielen, mit denen die Westmächte ihr Eingreifen legitimierten, auch die Befreiung der Völker gehörte. Der piemontesischen Regierung (in der Person des Grafen Camillo Benso di Cavour) gelang es, die Orientalische Krise und die mögliche militärische Intervention an der Seite Frankreichs, Großbritanniens und Österreichs in den Augen der italienischen und europäischen Öffentlichkeit als ein Vorgehen des westlichen Liberalismus gegen jede Form von Despotismus darzustellen. An diesem zivilisatorischen Kreuzzug sticht natürlich der merkwürdige Umstand ins Auge, dass Österreich sich nun plötzlich dem Westen öffnete, obwohl es die Nationalbewegungen bekämpfte. Für Piemont war es eigentlich unvorstellbar, sich an der Seite des ärgsten Feindes der nationalen Einigung Italiens wiederzufinden. Bei genauerem Hinsehen war jedoch die gesamte antirussische Koalition ziemlich scheinheilig, denn die parlamentarische Regierung Englands verbündete sich mit dem bonapartistischen Kaiserreich Frankreich und dem mittelalterlichen osmanischen Absolutismus. Die politische Logik, die die sardischen Bersaglieri schließlich auf die Krim schickte, war somit alles andere als eindeutig. Zum Glück für Piemont löste sich das Problem der österreichischen Teilnahme an der Koalition der Westmächte schnell, denn Wien wollte sich nicht gemeinsam mit Paris und London militärisch engagieren. 23

Um sich den militärischen Beistand Piemonts rasch zu sichern, sorgten die Westmächte gleichzeitig dafür, dass Österreich sich verbürgte, während des Krieges keinerlei feindliche Initiativen gegen Piemont zu ergreifen. Schwieriger und letztlich ungelöst blieb dagegen die Frage, welche politischen Garantien Piemont für sein Engagement erhalten sollte. Es ging nicht nur um die gleichberechtigte Teilnahme Piemonts an künftigen Friedensverhandlungen, sondern auch darum, den juristischen Status quo seines Expeditionskorps (zunächst 15 000, dann 18 000 Mann) von Anfang an zu klären. Die englische Regierung lud das Königreich Sardinien nämlich nicht zum förmlichen Beitritt als gleichberechtigtes Mitglied der Koalition ein, sondern verlangte nur militärischen Beistand, ohne eine entsprechende Anerkennung am Ende des Konflikts in Aussicht zu stellen. Die Frage der Finanzierung des piemontesischen Unternehmens wurde durch einen am Ende des Konflikts rückzahlbaren britischen Kredit über zwei Millionen Pfund Sterling gelöst. Der Forderung des sardischen Königreichs, an den künftigen Friedensverhandlungen teilzunehmen, wich man aus. Weil sich Cavour mit Nachdruck dafür einsetzte, entschied die Regierung in Turin trotzdem, der englischen Aufforderung Folge zu leisten. Wenn Cavour in diesem Zusammenhang davon sprach, dass man sich der „Notwendigkeit zu beugen“ habe, dann meinte er damit, Piemont müsse um jeden Preis die Chance zum Eintritt in den Kreis der großen Mächte nutzen: „Wenn der Krieg weitergeht und sich ausweitet“, sagte er, „können wir uns Rechte erwerben und daraus echte Vorteile für Italien und uns ziehen“. Die Demokraten und die Linke innerhalb und außerhalb des piemontesischen Parlaments betrachteten die Beteiligung am Krieg dagegen als ein Abenteuer, das nichts mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu tun hatte, denn in ihren Augen ging es nicht um große Prinzipien, sondern um einen Interessenskonflikt zwischen den Großmächten. Trotz dieses Widerstands wurde am 10. Februar 1855 ein Abkommen zwischen Piemont und den Westmächten geschlossen. Der Verlauf des Krimkriegs entsprach den politischen Erwartungen der piemontesischen Regierung nicht, obwohl die öffentliche Meinung das schwierige Unternehmen des italienischen Expeditionskorps unter General La Marmora mit großer Anteilnahme verfolgte. Die siegreiche Schlacht an der Tschernaja wurde begeistert gefeiert, auch wenn sie objektiv für den Ausgang des Krieges nicht entscheidend war. Das piemontesische Kontingent war faktisch von den strategischen Entscheidungen 24

der Engländer abhängig. Zu La Marmoras „größtem Bedauern“ durfte er nicht am entscheidenden Angriff auf Sewastopol teilnehmen und äußerte dazu: „Schade, dass Frieden geschlossen wird, ohne dass wir mehr haben tun können.“ Dennoch war der Blutzoll hoch: 2000 Mann kamen vor allem durch Krankheit um, während auf dem Schlachtfeld nur einige Dutzend fielen. Dennoch wurde die Krimexpedition in der italienischen Öffentlichkeit sehr positiv aufgenommen und lenkte auch die Aufmerksamkeit der europäischen Diplomatie auf die italienische Frage. Besonders ansprechbar zeigte sich Napoleon III., der Cavour bei einem Treffen in Compiègne aufforderte, seine desiderata zu konkretisieren und seinem Außenminister vertraulich mitzuteilen, was Frankreich seiner Meinung nach „für Piemont und Italien tun“ könne. Zunächst gab es keinerlei Garantie für ein konkretes Engagement Frankreichs, aber eine nie dagewesene Öffnung. Für diese ersten Annäherung zwischen Turin und Paris sind drei Aspekte entscheidend: Napoleon III. war persönlich an der italienischen Sache interessiert, weil sie gegen die geopolitische Ordnung Wiens gerichtet war; beide Seiten waren überzeugt davon, dass eine Lösung nicht durch politisch-diplomatische Verhandlungen, sondern nur durch einen bewaffneten Konflikt zu erreichen sei, und beide Seiten hielten die Kontakte und Vereinbarungen geheim. Auf der Pariser Friedenskonferenz (Februar/März 1856), wo Cavour Piemont vertrat, genoss die italienische Frage große Aufmerksamkeit, auch wenn sie vor allem wegen der hartnäckigen Weigerung Österreichs offiziell nicht verhandelt und auf keinen Fall gelöst werden sollte. Trotz der geringfügigen praktischen Resultate vermochte Cavour den internationalen Imagegewinn seines Vorgehens voll auszunutzen, was auch innenpolitisch große Wirkung erzielte. Dadurch, dass er die internationale Unterstützung stärker erscheinen ließ, als sie tatsächlich war, wollte er nicht nur die gemäßigten Liberalen um sich scharen, sondern auch die ungeduldigen Demokraten, die von den Niederlagen der Strategie Mazzinis enttäuscht waren. Es ging nun darum, durch geschickte Provokationen den als Lösung ersehnten Krieg gegen Österreich herbeizuführen. Darauf zielten Cavours harte Worte vom 6. Mai 1856 ab, mit denen er in Wien große Irritation auslöste: „Die beiden Länder“, sagte der Ministerpräsident mit Blick auf Piemont und Österreich, „stehen politisch weniger denn je im Einklang miteinander.“ Vielmehr seien „die Prinzipien, die das eine und das andere Land verfolgt, vollkommen unvereinbar.“ 25

Sehr früh erkannte Bismarck die Bedeutung der italienischen Frage, obwohl er damals als Gesandter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt am Main ein scheinbar weiter entfernter Beobachter war. In einem Schreiben an den preußischen Außenminister Otto von Manteuffel fasste Bismarck die Auswirkungen des Krimkrieges zusammen: Wegen seines Prestigegewinns in Deutschland und Europa bezeichnete er Napoleon III. als den eigentlichen Gewinner der Auseinandersetzung, und sprach davon, dass die „Krankheit der dortigen Zustände, der Ehrgeiz Sardiniens, die buonapartistischen und muratistischen Reminiszensen [. . . ]“ für Napoleon vorteilhaft seien und er nun auf Piemont zählen könne. Ebenso wie dieser Brief auf rein realpolitischen Überlegungen basiert, lässt sich auch die piemontesische Intervention im Krimkrieg mit seinem hohen anfänglichen Risiko (eines militärischen Unternehmens ohne politische Garantien) als typisches Beispiel von Realpolitik klassifizieren, nämlich als ein Unternehmen, dass nicht zu den Idealen passt, die ihm zugrunde liegen sollten. „Mit dem Eintritt Piemonts als subsidiärer Bundesgenosse in den Krimkrieg diente Cavour nationalen Fernzielen, die jenseits der Möglichkeiten seines gegenwärtigen Staates, jedoch nicht jenseits seiner politischen Vorstellungen lagen.“, schrieb Siegfried August Kaehler mit Bezug auf den Krimkrieg und nahm damit die Parallele zu Bismarck vorweg. Weiter führte er aus: „Ebenfalls gewann Bismarck im bewussten Gegensatz zum ideologischen Charakter des Krimkrieges mit der von ihm bewirkten Ablehnung der deutschen Teilnahme, also der von Buol [dem österreichischen Außenminister] erstrebten „Germanisierung“ der Orientalischen Frage, einen ersten Ansatzpunkt für nationale Fernziele, die nicht nur jenseits der Grenzen des gegenwärtigen Preußens, sondern auch jenseits seiner eigenen politischen Vorstellungen noch auf Jahre hinaus lagen. Eine „Politik der Tatsachen“ zu machen, war beiden Staatsmännern aus natürlichem Instinkt selbstverständlich, ohne dass die mit ihrem ersten Eingreifen in die europäische Politik fast gleichzeitig verkündete Theorie der Realpolitik einem von ihnen auch nur dem wirkungsvollen Namen nach bekannt geworden sein dürfte.“

Die „Theorie“, von der hier die Rede ist, ist der 1853 erschienene Aufsatz von Ludwig August von Rochau, Grundzüge der Realpolitik, der mit seinem bis heute gebräuchlichen Begriff/Paradigma Realpolitik einige Jahrzehnte lang Sprache und Analyse der Politik in Deutschland und Europa beeinflusst hat. Rochau bezieht sich in seinem Aufsatz auf das „Beispiel Sardinien“, wo die Verbindung von Konstitutionalismus und Diktatur die Grundlage für ein herausragendes Beispiel der Nationwerdung gelegt habe. Der Autor erkannte frühzeitig und besser als viele Gesellschaftswissenschaftler seiner Zeit den Wandel des Zeitgeistes und 26

fasste ihn in einem Moment, in dem die „öffentliche/veröffentlichte Meinung“ von der Politik in Rechnung gestellt werden musste, öffentlichkeitswirksam in neue Begriffe. Die Realpolitik stellt nicht eigentlich eine Theorie im Sinne einer mehr oder weniger systematischen und umfassenden politischen Philosophie dar, sondern ein spezifisches analytisches Schema, um konkret die Einigung Deutschlands und seine Etablierung als Machtstaat zu beschreiben. Bei der Realpolitik geht es nicht um ein politisches Ideal, sondern um das Erreichen konkreter Ziele. Es handelt sich nicht um einen Mangel an großen Visionen und um platten Pragmatismus, sondern um die Frage, wie Entscheidungen getroffen und welche Risiken eingegangen werden, um Fakten zu schaffen. Dabei können demagogische öffentliche Verlautbarungen notwendig sein, die an Unwahrheit grenzen, denn der Realpolitiker schafft auch durch seinen Umgang mit der Öffentlichkeit Fakten. So gelang es dem kleinen Königreich Sardinien-Piemont, ein politisch-militärisch relativ unbedeutendes Unternehmen wie seine Beteiligung am Krimkrieg in ein Ereignis von großer Tragweite zu verwandeln und Europa den „Ehrgeiz Sardiniens“ kundzutun. Das Thema Realpolitik wird uns noch beschäftigen. In jenen Jahren verfolgten in Deutschland viele politische Beobachter mit bewundernder Aufmerksamkeit die piemontesische Politik. 1855, mitten in der Krimkrise erschien in den „Grenzboten“, einer der wichtigsten liberalen Zeitschriften, ein Aufsatz über Die italienische Frage, in dem der Autor beklagte, dass die deutsche Presse den „hohen Wert“ des Königs von Sardinien noch immer nicht genügend würdige „als Beherrscher eines geordneten, militärisch tüchtigen und dabei verfassungsmäßigen Staats, in welchem die Bürger Hand in Hand mit der Regierung gehen“. Bezeichnenderweise betonte der Artikel, den „gemäßigten“ und alles andere als „republikanischen“ Charakter des Königreichs und seiner Ziele in der nationalen Frage, und wies auch auf das enge Bündnis zwischen England, Frankreich und Sardinien hin. Im Falle eines Konflikts zwischen Frankreich und Österreich werde „der Kampf nicht an der Donau, sondern am Po ausgefochten“. Während der Pariser Konferenz, die den Krimkrieg beendete, schrieb Max Duncker in einem Brief an Johann Gustav Droysen sogar: „Wie anders stünde es in Deutschland, wenn unsere Freunde Manteuffel und Balan durch Cavour und d’Azeglio ersetzt werden könnten.“ 1857 kritisierte Julian Schmidt, einer der besten Kenner der italienischen Verhältnisse, in dem Artikel Zur italienischen Frage die Abstraktheit der republikanischen Ideen der Mazzinianer ebenso wie die Vorstellungen der Ultramontanen oder Kle27

rikalen. 1858 ging Gustav Freytag in den „Grenzboten“ sogar so weit, „[. . . ] nur die Beistimmung derer“ gut zu heißen, „welche Sardinien als den natürlichen Verbündeten Preußens betrachten, welche den Italienern eine staatliche Konzentration schon deshalb wünschen müssen, weil wir Deutsche durch unsere eigenen Verhältnisse mit bitterem Leid erfahren haben, wie viel Unglück, Demütigung und Schande aus dem Mangel an politischer Einheit entsteht“. Kehren wir zu den Ereignissen in Italien zurück. In Turin eröffnete König Vittorio Emanuele am 10. Januar 1859 das Parlament mit dem berühmten Satz: „Wir können uns nicht gegenüber den Schmerzensschreien verschließen, die aus vielen Teilen Italiens an unser Ohr dringen.“ Diese Worte waren mit Napoleon III. wortwörtlich abgesprochen, und der Kaiser der Franzosen wollte seine politischen und militärischen Ziele mit einer großen publizistischen Kampagne begleiten. Am 4. Februar erschien ein Pamphlet mit dem Titel Napoleon III et l’Italie, das als beste Lösung für die nationale Frage Italiens einen Bundesstaat propagierte. In Europa wuchs die Beunruhigung. London verlangte von Cavour die Zusicherung, nicht absichtlich einen Konflikt mit Österreich zu provozieren. Auch Deutschland war alarmiert, und Napoleon III. bekam Skrupel. Am 5. März 1859 erschien in dem offiziösen „Moniteur“ ein Artikel, der die Existenz des bis dahin nur durch Indiskretionen bekannten Abkommens zwischen Frankreich und Sardinien-Piemont offiziell bestätigte, seinen Inhalt jedoch als rein defensiv bezeichnete. Napoleon versicherte den europäischen Nachbarn, er habe sich in dem Abkommen dazu verpflichtet Sardinien-Piemont gegen jedwede Aggression Österreichs zu schützen, darüber hinaus aber habe er, so hieß es in dem Artikel, „nicht mehr versprochen, und man weiß, dass er sein Wort halten wird“. Cavour war von dieser französischen Darstellung „buchstäblich am Boden zerstört“, denn sie stand in scharfem Kontrast zu seiner gegen Österreich gerichteten Betriebsamkeit. An diesem Punkt versuchte er kaltblütig – als perfekter Realpolitiker – „vollendete Tatsachen“ zu schaffen und eine österreichische Aggression gegen Piemont zu provozieren, die Wien ins Unrecht setzte. „Wenn man den jähzornigen und heftigen Charakter von Kaiser Franz Joseph in Betracht zieht, kann man darauf hoffen, ihn durch dauernde Nadelstiche zu einem unbedachten Schritt zu verleiten, der ihn diplomatisch ins Unrecht setzt.“ Wir werden den Ablauf der Ereignisse der Monate vor der Eröffnung der Feindseligkeiten zwischen der habsburgischen Monarchie und dem Königreich Sardinien-Piemont nicht in allen Einzelheiten 28

verfolgen. Eine wichtige Rolle auf diesem Weg spielte das Scheitern eines von Russland angeregten Kongresses der europäischen Mächte, der einen Interessenausgleich zwischen Turin und Wien erzielen sollte. Auf diesem Kongress unterstützte Preußen die Forderungen Wiens nicht uneingeschränkt, schloss aber seinen Beistand im Falle eines Konflikts nicht aus, sofern er auch Deutschland berührte. Wir können hier vorausschicken, dass Bismarck in diesem Zusammenhang von seinem Beobachterposten in Sankt Petersburg aus vorschlug, die Krise zu nutzen, um Wien in Schwierigkeiten zu bringen: Mit dieser Einstellung gehörte er unter den preußischen Politkern zu einer verschwindenden Minderheit. Natürlich konnte es für Preußen keineswegs darum gehen, „wie Piemont zu handeln“, wie einige radikale Liberale etwas naiv und unüberlegt forderten. Bereits nach der Krise von 1848/49 hatte Bismarck in einer Rede vor der preußischen Kammer klargemacht, dass Preußen nicht die Rolle von Piemont übernehmen dürfe. Die gemeinsame Feindschaft gegenüber Österreich könne nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die piemontesische Politik sich von liberalen Prinzipien leiten ließ, die für Bismarck inakzeptabel waren. In Italien stürzten das Taktieren Frankreichs und das Misstrauen der anderen europäischen Mächte gegenüber dem Königreich SardinienPiemont Cavour in eine tiefe persönliche Krise. Doch Wien kam ihm dadurch zu Hilfe, dass es auf keines der piemontesischen Anliegen einging und auch nicht zur Teilnahme an dem Kongress bereit war, der die Streitfragen zwischen Österreich und Piemont klären sollte. Der habsburgische Hof ging in seiner kompromisslosen Haltung so weit, den Rücktritt der Regierung Cavour zu fordern, und setzte sich deshalb vor der öffentlichen Meinung Europas ins Unrecht. Viele Historiker kritisieren diese politische Haltung als einen schwerwiegenden Fehler. Ich dagegen bin der Ansicht, dass die habsburgische Monarchie den Ernst der Herausforderung durch Frankreich und Piemont richtig erkannte, und es daher für notwendig hielt, ihr sofort im offenen Konflikt entgegenzutreten. Ein (als wahrscheinlich eingeschätzter) militärischer Sieg hätte das allmählich unhaltbare Problem endgültig aus der Welt geschafft. Für Cavour dagegen war die Kompromisslosigkeit Wiens eine Bestätigung dafür, dass seine Provokationen keineswegs als grundlos, zwecklos und politisch unverantwortlich zu betrachten waren, sondern als mutige Demaskierung der tatsächlichen Ziele Wiens. Am 19. April verlangte Österreich vom Königreich Sardinien-Piemont, innerhalb von drei Tagen abzurüsten. Am 26. April wies die 29

Regierung dieses Ultimatum zurück. Damit brach der Krieg so aus, wie Cavour es gewünscht hatte, denn er erschien als „Aggression gegenüber dem kleinen Piemont“. Anders als erwartet drangen die österreichischen Truppen unter Gyulai jedoch nicht auf piemontesisches Gebiet vor, um sich schon vor dem Eintreffen der Franzosen eine günstige strategische Ausgangsposition zu sichern. Zu diesem Vorgehen entschloss man sich unter anderem wahrscheinlich deshalb, weil mit einem Eingreifen des Deutschen Bundes und Preußens gerechnet wurde, wodurch sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzung automatisch nach Deutschland verlagert hätte. Schon am 23. April hatte die preußische Regierung nämlich die Aufstellung von drei Armeekorps als Bündniskontingent beschlossen. Am 11. Juni (nach den ersten franko-piemontesischen Siegen in der Lombardei) wurden sechs Armeekorps mobilisiert und ein Beobachtungsposten am Rhein eingerichtet. Weiter unten werden wir das Verhalten der preußischen Regierung detailliert betrachten. Zunächst unterstreichen wir einen entscheidenden Punkt: Im deutschsprachigen Raum wurde der im April 1859 ausgebrochene Krieg vor allem, wenn nicht ausschließlich als französische Initiative gesehen. Die Versuche Cavours, in seinem umfangreichen Briefwechsel mit der preußischen Regierung den „italienischen“ Charakter des Krieges zu betonen, liefen ins Leere. Wo aber genau lag genau die Grenze des Deutschen Bundes, die gegen die französische Aggression verteidigt werden musste? Ende März erläuterte der Historiker Heinrich von Sybel das Dilemma, aus dem die deutschen Regierungen bei der Entscheidung über einen Kriegseintritt an der Seite Österreichs einen Ausweg finden mussten: „Ist es nötig für die deutschen Interessen, dass Österreich die ganze Lombardei besitzt, oder reicht dafür die Minciolinie aus? – Und: Ist es besser, jetzt oder später den wahrscheinlich doch unvermeidlichen Krieg gegen Frankreich zu führen?“ Der Autor empfiehlt: „Die Heilung und Lösung der italienischen Frage ist also an der Minciolinie zu finden.“ Unerwartet wurde der Krieg nach den blutigen, von Franzosen und Piemontesen gewonnen Schlachten von Solferino und San Martino ausgerechnet am Mincio abgebrochen. Zur allgemeinen Überraschung unterzeichneten Napoleon III. und der österreichische Kaiser einen Waffenstillstand, der bald durch den Friedensvertrag von Villafranca (11. Juli) bestätigt wurde. Für diese Entscheidung gab es vielfältige Gründe: der hohe Blutzoll der Franzosen, ihre Enttäuschung über den ungenügenden piemontesischen Beistand und das Ausbleiben eines großen Volksaufstandes in Lombardo-Venetien, der dem Kaiser erlaubt hätte, sein militärisches Eingreifen 30

in den Augen Frankreichs und Europas als Hilfe zu nationaler Befreiung darzustellen. Es spielte aber auch eine wichtige Rolle, dass Preußen und die deutschen Staaten ein Ausgreifen Piemonts über den Mincio als Grenze zwischen der Lombardei und Venetien strikt ablehnten. Auch Russland, das der französischen Initiative anfangs wohlwollend gegenüber gestanden hatte, teilte nun direkt oder indirekt derartige Bedenken. Die auch von Vittorio Emanuele unterzeichneten Friedensbedingungen sahen die Abtretung der Lombardei an Piemont vor, wobei Peschiera und Mantua nach wie vor in österreichischer Hand blieben. Diese Bedingungen waren in den Augen Cavours inakzeptabel, da er (nach dem Geheimabkommen von Plombières) mit dem Vorrücken der siegreichen Truppen sogar bis Triest gerechnet hatte. Nach heftigen verbalen Auseinandersetzungen mit dem König trat Cavour zurück, denn er war in eine depressive Krise verfallen, die den Hintergrund für seinen bereits erwähnten Plan bildet, als Verschwörer und Revolutionär die Verwirklichung des Friedensvertrags zu hintertreiben. Dennoch hatte die Beendigung der Kriegshandlungen unvorhersehbare Auswirkungen. Statt den Status quo einzufrieren, kamen die Dinge wieder in Bewegung. Wiewohl der Krieg von 1859 an die Ideale von 1848/49 anknüpfte, veränderte sich der „revolutionäre“ Charakter des Einigungsprozesses grundlegend. Der Krieg war einerseits eine Form des „Kabinettskriegs“, da er von den Regierungen geplant, entschieden, geführt und unterbrochen worden war, andererseits aber spielten die Freiwilligen Garibaldis eine aktive Rolle, die sich als Vertreter der „Revolution“ empfanden. Diese „revolutionäre“ Seite des Einigungsprozesses trat nach dem Abbruch des Kabinettskriegs dadurch in den Vordergrund, dass Volksbewegungen zum Anschluss der mittelitalienischen Staaten an Piemont führten, vor allem aber dadurch, dass Garibaldi wenige Monate später nach Süditalien aufbrach. Sein „Zug der Tausend“ war zwar nach wie vor ein Gegenmodell zum Kabinettskrieg, aber dennoch nicht mehr ein „revolutionärer“ Krieg in der Tradition der 48er Revolution. Garibaldi befehligte zwar tatsächlich kein reguläres Heer im Namen eines Staates, sondern (im militärischen Sinne irreguläre) Freiwillige, und bezeichnete sich selbst als politischen „Diktator“. Gleichzeitig aber kämpften die Garibaldiner im Namen eines künftigen Italien unter Vittorio Emanuele. Die Sache war keineswegs so eindeutig, wie es scheinen mag, und es bedurfte der ganzen Geschicklichkeit Cavours, um das umstürzlerische Potential zu entschärfen und die Revolution in „verfassungsmäßige“ Bahnen zu lenken. 31

Aus deutscher Sicht hatte der italienische Krieg von 1859 zwei Konsequenzen: Er beschleunigte das Wiedererwachen der Einigungsbestrebungen, veranlasste aber die Regierungen der großen und kleinen Staaten des Deutschen Bundes, die auf die französische Präsenz in Italien starrten, dazu, sich um die Begrenzung des Krieges auf Italien zu bemühen. Die Befürchtung und Drohung, dass sich der Krieg auf Europa ausweiten könnte, führte schließlich dazu, ihn stärker als ursprünglich vorgesehen zu begrenzen. Nach den zwischen Cavour und Napoleon III. abgeschlossenen geheimen Abmachungen hätte Italien durch den Krieg Venetien bis zum Isonzo erhalten sollen. Auch in diesem Falle wäre der Krieg begrenzt geblieben, selbst wenn es gelungen wäre, ein oberitalienisches Königreich unter dem Hause Savoyen im Rahmen eines (nur in großen Linien und ohne die Zustimmung der alten und neuen betroffenen Staaten skizzierten) Italienischen Bundes zu bilden.  Paradoxerweise führte aber gerade der Abbruch des Krieges zu einer Radikalisierung der Bewegung, die in der unerwarteten Eroberung des Königreichs Beider Sizilien durch Garibaldi gipfelte. Aber das Prinzip der Realpolitik verlangt, sich schnell den Gegebenheiten anzupassen, und mit unvorhergesehenen neuen Tatsachen umzugehen. Nachdem er am 16. Januar 1860 wieder die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, bewies Cavour die Fähigkeit eine solche Politik zu entwerfen und durchzusetzen, an den durch Villafranca abgerissenen Faden wieder anzuknüpfen und ein in vieler Hinsicht neues Bild der Einheit zu entwerfen.

Cavours siegreiche Strategie Durch eine Kombination kühner Unternehmungen, der Schaffung vollendeter Tatsachen und riskanter Entscheidungen wurde 1860 das entscheidende Jahr der italienischen Einigung, in dem die wichtigsten Persönlichkeiten des politischen und militärischen Lebens sich aneinander maßen und gegeneinander antraten. Wir werden die, in allen Einzelheiten zur Genüge erforschten Ereignisse dieses Jahres nicht nachzeichnen, sondern uns auf die Analyse einiger Stellungnahmen Cavours in der Auseinandersetzung mit Garibaldi beschränken. Cavours Vorstellungen von Revolution, Diktatur und parlamentarischer Vertretung verdichten sich darin zu einer Art politischer Philosophie, die mit seiner politischen Taktik eins wird. All dies Pragmatismus 32

oder Realpolitik zu nennen, wäre zu kurz gegriffen, es als Abart des Cäsarismus zu bezeichnen wäre ungenügend. Es ist Cavourismus. Die Haltung und das Verhalten Cavours in den verschiedenen Phasen des Zugs der Tausend , seine politisch-militärischen Gegenmaßnahmen (die Invasion der Marken und Umbriens und damit das Eindringen in das Königreich Beider Sizilien), um der „Revolution“ im Süden eher entgegenzutreten und sie zu begrenzen als sie zu befördern, vor allem aber die politischen Spannungen mit dem „Diktator“ Garibaldi und der Umgang mit der Zweideutigkeit und dem Schwanken von König Vittorio Emanuele sind das Kapitel in der Biographie Cavours, das am schwierigsten zu rekonstruieren und zu bewerten. ist. Die großen Risiken, die die Hauptakteure dieser Ereignisse eingingen, erscheinen nur im Licht des glücklichen Ausgangs rational. Nur weil Cavours Strategie sich am Ende als erfolgreich erwies, waren und sind sich alle politischen Analysen und historischen Darstellungen von Freund und Feind darin einig, dass er eine politische Meisterleistung vollbracht hat. Im Gegensatz zu vielen politischen Akteuren seiner Zeit verlor der piemontesische Premierminister nie die Reaktionen der europäischen Mächte im Westen aus dem Blick, die 1860 weniger den Untergang des Königreichs Neapel als die mögliche Einnahme Roms oder Venedigs fürchteten. Napoleon III., der der vorrangige Gesprächspartner der Piemontesen blieb, stützte Cavours Strategie mit gewohnter Zweideutigkeit und Zurückhaltung. Sein unverzichtbares Ziel blieb die Erhaltung des Kirchenstaates in den Händen des Papstes. Deshalb setzte er darauf, dass Cavour fest entschlossen war, Garibaldi zu stoppen, und überließ ihm als schwierigste Aufgabe die geschickte Eindämmung der demokratischen „Revolution“. Dass Cavour das Ringen mit Vittorio Emanuele und Garibaldi in seinem Sinne erfolgreich zu Ende brachte, darf mit Fug und Recht als ausschlaggebend für das Schicksal des Königreichs Italien bezeichnet werden. Man muss sich jedoch davor hüten, allzu sehr die Psychologie zu bemühen und alles auf die Charaktereigenschaften der Protagonisten zu reduzieren, oder, noch schlimmer, nur Intrigen, Täuschungsmanöver, bösen Willen und umgekehrt Großherzigkeit und Naivität der Akteure zu sehen. Als handle es sich um ein Drama, in dem auf der einen Seite der schlaue, gegenüber dem Volk und der Revolution misstrauische Cavour stand und auf der anderen der ehrliche, großherzige, anständige Garibaldi, dem die Bedürfnisse des einfachen Volkes im Süden am Herzen lagen und der in seiner Naivität dem opportunistischen Souverän Vittorio Emanuele vertraute. Die Personen und ihre Charak33

tereigenschaften sind jedoch Teil einer historischen Entwicklung von außerordentlicher Bedeutung, an der uns hier die politische Substanz interessiert. Cavour war ein Staatsmann mit einer großen politischen Vision, der auf seine liberalen Überzeugungen gestützt der entstehenden Nation dadurch mit Nachdruck und Geschick zum Durchbruch verhalf, dass er die „Revolution in verfassungsmäßige Bahnen“ lenkte. Garibaldi dagegen war der Mann der Tat, der zwar leidenschaftlich und loyal, aber theoretisch und in seiner politischen Praxis kurzsichtig war; der General war kein Staatsmann und das wusste er. Seine revolutionäre Politik fokussierte sich auf die Befreiung Roms von der Herrschaft des Papstes und auf die Befreiung Venedigs von der Herrschaft der Habsburger; alles Übrige überließ er dem „Gentlemankönig“. Wenn er erklärte, er wolle den Anschluss des Südens an das Königreich Sardinien-Piemont nur „auf dem Quirinal“ in Rom proklamieren, so war er ganz ehrlich. Von diesem Ziel nahm er nur deshalb Abstand, weil er den Weisungen des Königs folgte, während er Cavour so sehr hasste, dass er sogar seinen Rücktritt forderte. Garibaldi konnte Cavour – unter anderem – die Abtretung seiner Heimatstadt Nizza an Napoleon III. nicht verzeihen („Ich werde mich nie mit Menschen aussöhnen, die die nationale Würde mit Füßen getreten und einen Teil Italiens verschachert haben“) und die Cavoursche „Kunst des Regierens“ erschien ihm als ein Gespinst aus Intrigen, um die demokratische Volksbewegung zu stoppen. Historisch ebenso wenig korrekt ist es, die Haltung Cavours gegenüber Garibaldi als reines Täuschungsmanöver und Intrigenspiel darzustellen. Trotz des äußerst scharfen Tons, den er gegen Garibaldi gebrauchte, besaß der Graf genügend politische Intelligenz, um seine Bedeutung, ja seine Unersetzlichkeit zu sehen; ganz zu schweigen von dem enormen Prestige und der Popularität, die Garibaldi in Europa genoss, vor allem in England, und auf England richtete sich immer der besondere Augenmerk Cavours. Ein ähnlich abwertendes Urteil über den „Realismus, die Doppelzüngigkeit, den Mangel an Großherzigkeit und die finsteren Machenschaften Cavours mit Napoleon III. – alles durch und durch intrigant“ findet sich übrigens auch aus der Feder der Kritiker Bismarcks. Die politische Substanz der Politik der beiden Staatsmänner lässt sich aus der tatsächlichen oder vorgeblichen Übereinstimmung der hier aufgezählten Eigenschaften jedoch sicher nicht ermessen. In diesem Zusammenhang spielte jedoch auch das alles andere als geradlinige Verhalten des Königs eine wesentliche Rolle: „Zweifellos 34

spielte Vittorio Emanuele ein doppeltes Spiel mit Cavour und Garibaldi und hatte damit mehr Erfolg bei dem General als bei seinem Ministerpräsidenten.“ Der Souverän ging von der realistischen politischen Einschätzung aus, dass er seine Macht nicht auf die demokratische Bewegung Garibaldis stützen konnte, obwohl er persönlich Garibaldi und seine tapferen Männer aufrichtig schätzte. Die Krone fußte auf dem soliden Grund des liberalen Parlamentarismus, den der Ministerpräsident trotz seiner zahllosen Auseinandersetzungen mit ihm verkörperte. Zudem sollte man nicht vergessen, dass sich auch Garibaldi trotz aller Konflikte und Misstrauensäußerungen am Ende in die parlamentarische Ordnung Italiens einfügte. Somit entfaltete sich durch das Zusammenwirken der führenden Persönlichkeiten und ihrer unterschiedlichen Temperamente im Italien des Jahres 1860 eines der faszinierendsten und erfolgreichsten Kapitel der nationalen Geschichte, in dem die Politik in ihrem besten Wortsinn die Hauptrolle spielte. Betrachten wir jetzt einige Stellungnahmen Cavours in den kritischen Monaten von August bis Oktober 1860 aus seinem Briefwechsel. Wir beginnen mit dem wichtigen Brief an Costantino Nigra vom 9. August über die politische Lage in Italien und die Gefahr der Radikalisierung durch Garibaldi, durch die Cavour seine Politik und sein persönliches Prestige bedroht sah. Der Ministerpräsident lehnt Nigras Vorschlag ab, unverzüglich eine Sitzung der Kammern einzuberufen, um im Parlament gegen Garibaldi zu vorzugehen und die von ihm ausgehende Gefahr zu verurteilen und zu bannen: „Ich bin davon überzeugt, dass ich damit, auch wenn ich mein Ansehen retten könnte, Italien verlieren würde. An dieser Stelle, mein lieber Nigra, erkläre ich Ihnen ganz ohne Emphase, dass ich es vorziehen würde, meine Popularität und meine Reputation zu verlieren, wenn Italien geeint würde. Um Italien entstehen zu lassen, darf man jetzt nicht Vittorio Emanuele als Gegner Garibaldis hinstellen.“ Es folgt ein Urteil über Garibaldi, das den Schlüssel zu Cavours künftigem Verhalten enthält: „Garibaldi besitzt großes moralisches Gewicht und übt enormen Einfluss nicht nur in Italien, sondern vor allem in Europa aus. Meiner Ansicht nach haben Sie Unrecht, wenn sie sagen, wir stünden zwischen Garibaldi und Europa. Wenn ich mich morgen auf eine Konfrontation mit Garibaldi einließe, könnte ich zwar die Mehrheit der alten Diplomaten auf meine Seite ziehen, aber die öffentliche Meinung Europas wäre gegen mich. Und die öffentliche Meinung hätte Recht, denn Garibaldi hat Italien den größten Dienst geleistet, denn ein Mensch ihm leisten kann: Er hat den Italienern Selbstvertrauen eingeflößt und Europa bewiesen, dass sie auf den Schlachtfeldern zu kämpfen fähig und zu sterben bereit sind, um sich ihr Vaterland zurückzuerobern. Wir können gegen Garibaldi nur unter zwei Voraussetzungen in die Schranken treten: 1) Wenn er uns in einen Krieg gegen Frankreich hineinziehen würde, 2) wenn

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er sein politisches Programm ändern und an die Stelle der Monarchie unter Vittorio Emanuele ein anders politisches System proklamieren würde. Solange er zu seiner Fahne steht, müssen wir mit ihm marschieren.”

Cavour hatte ganz klare Vorstellungen. In den folgenden Wochen schien sich die erste von Cavour genannte Möglichkeit eines offenen Konflikts mit Garibaldi abzuzeichnen (ein Krieg gegen Frankreich, der unvermeidlich war, weil der General darauf bestand, bis Rom vorzudringen), während sich an dessen absoluter Treue zu Vittorio Emanuele und damit zur Monarchie nichts änderte. Was Cavour allerdings nicht vorausgesehen hatte, war die Aufforderung Garibaldis an den König selbst Cavour zu entlassen. Doch bevor es soweit war (Garibaldi wandte sich am 11. September offiziell an den König), überstürzten sich die Ereignisse. Der Brief an Nigra schließt mit dem Wunsch, in Neapel möge vor dem Eintreffen Garibaldis eine „Revolution“ ausbrechen. Cavour wollte seinem Gegner also direkt auf dessen ureigenstem Terrain zuvorkommen. Am 18. August setzte Garibaldi aufs Festland über und näherte sich schnell Neapel. Am 27. August schrieb Cavour an den Kommandanten der sardischen Flotte Persano: „Die Regierung wünscht, dass Sie, wenn in Neapel eine Revolution ausbricht, die Diktatur annehmen, wenn sie ihnen vom Volk angeboten wird. Mit oder ohne Diktatur müssen Sie sofort das Kommando über die neapolitanische Flotte übernehmen.“ Die gleiche Nachricht erhielt Salvatore Pes di Villamarina: „Wenn in Neapel eine Revolution stattfindet, müssen Sie und Persano die Diktatur übernehmen. In diesem Augenblick muss man sich mehr um eine Revolution bemühen als um Diplomatie.“ Aus diesen wenigen Sätzen geht hervor, dass Cavour die „Revolution“ und die daraus folgende „Diktatur“ im politisch-institutionellen Sinn wie in der 48er Revolution oder sogar unter den Jakobinern als grundlegende Veränderung der Regierungsform durch den Aufstand einer Minderheit verstand, die in der Lage ist, alle Macht in der Hand eines „Diktators“ zu bündeln. Wie aber passte eine solche Vorstellung zu der Tatsache, dass Garibaldi nach der Eroberung Siziliens faktisch bereits die Diktatur über den ganzen Süden innehatte? Nachdem sein Plan, in Neapel eine Revolution unter Führung der gemäßigten Liberalen zu entfachen, gescheitert war, musste Cavour auf eine andere Karte setzen: „Um zu verhindern, dass sich die Revolution bis in unser Reich ausbreitet, bleibt als einziger Ausweg die Eroberung Umbriens und der Marken. Die Regierung ist zu diesem kühnen Vorgehen entschlossen, was auch immer die Konsequenzen sein mögen.“ 36

Es ist hervorzuheben, dass der Begriff Revolution bei Cavour an dieser Stelle lediglich zum Synonym für die Gefahr eines politischen Umsturzes geworden ist. Einige Tage später sprach Cavour den „antirevolutionären“ Charakter des Einmarsches in die Marken ganz offen aus: „Wir können nicht mehr in Neapel den moralischen Einfluss gewinnen, um die Revolution zu beherrschen, sondern nur noch in Ancona.“ In einem Brief an Eugenio di Savoia-Carignano musste er zugeben, dass er sich Garibaldi nicht mehr entgegenstellen konnte: „Die öffentliche Meinung Europas wäre damit nicht einverstanden. Unsere Politik würde als kleinlich und undankbar gescholten und von allen verurteilt werden.“ Die Krise gipfelte schließlich in dem Telegramm Persanos vom 7. September: „Garibaldi beharrt mit den besten Absichten mehr denn je auf seinen Plänen und ist empört über Eure Exzellenz. Er verwechselt Sie mit den Anhängern Murats und Napoleons; er hat gesagt, er fürchte Napoleon nicht; er wolle Rom einnehmen und dort Vittorio Emanuele zum König Italiens ausrufen.“ Cavour entschloss sich, direkt auf Vittorio Emanuele einzuwirken und erbat für den folgenden Tag zusammen mit Farini um eine Audienz. Dort bot er seinen Rücktritt zugunsten einer neuen Regierung an, die in der Lage sein könnte, die „wahrscheinlich auftretenden Konflikte mit dem Diktator über Süditalien“ beizulegen. Von diesem Gespräch ist in Cavours Briefwechsel ein Aide-mémoire erhalten, das sicher nicht den Wortlaut wiedergibt, aber wegen der „politisch korrekten“ Art der Formulierung interessant ist, um nicht deutlich werden zu lassen, dass Cavour den König eigentlich dazu bringen wollte, Garibaldi Einhalt zu gebieten. In diesem Sinne zieht Cavour eine klare Trennungslinie zwischen der rechtmäßigen, vom Parlament und dem König getragenen Politik und den möglichen „revolutionären“ Entgleisungen Garibaldis. Dazu schreiben die Verfasser der Notiz: „Sie gaben ihm zu bedenken ob Sie [Seine Majestät] es nicht für angebracht hielte, andere Ratgeber zu wählen, die, auch wenn sie die bisherige Politik weiterverfolgten, doch mehr Möglichkeiten hätten, etwaigen Konflikten mit dem Diktator in Süditalien aus dem Weg zu gehen. Seine Majestät erklärte wiederholt, weder Politik noch Minister auswechseln zu wollen, da diese sein Vertrauen und das des Parlaments genössen. Die Minister machten darauf aufmerksam, dass ein Austausch der Minister von Seiner Majestät im Augenblick ohne Verlust an Ansehen und Würde vorgenommen werden könne, und dies umso mehr als sie bereit wären, ihm einen plausiblen Vorwand zu geben und ihren Nachfolgern loyal zur Seite zu stehen. Wenn dagegen die Gewalt öffentliche Rechtfertigung erführe, geschähe dies nicht ohne Schaden für die Verfassung und ohne der Revolution unaufhaltsam Vorschub zu leisten. Seine Majestät erwiderte, er habe alles erwogen und sei daher entschlossen, Garibaldi sei-

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ne Absichten zur Kenntnis zu geben und an seinen Entscheidungen festzuhalten, was auch immer daraus hervorgehen sollte, einschließlich der Notwendigkeit, aufs Pferd zu steigen und Gewalt anzuwenden.“

Am selben Tag noch schrieb Vittorio Emanuele Garibaldi tatsächlich einen Brief in freundschaftlichem und maßvollem Ton und gratulierte ihm zu seinen Siegen. Er fügte jedoch hinzu, dass die Lage schwieriger geworden sei, weil ein österreichischer Angriff drohe. Deshalb „muss das militärische Vorgehen in Italien eine einzige gemeinsame Linie haben und es darf keinen Feldzug oder Angriff ohne meinen Befehl geben.“ Die Aufforderung an Garibaldi, nicht auf Rom vorzurücken, ist deutlich: Der General soll sich an die Weisungen des Königs und seiner Regierung halten. Gleichzeitig ließ Vittorio Emanuele das Ansinnen, Cavour aus der Regierung zu entfernen, ins Leere laufen. Es folgten Tage voller Anspannung, auch wenn die beiden Konfliktparteien die Situation nicht auf die Spitze treiben wollten. Cavour verfolgte weiter seine Strategie, dem Parlament die volle Verantwortung für die Kontrolle über die „Revolution“ zu übergeben: „Der Minister ist entschlossen, sich jedes Schrittes zu enthalten, der einen vollkommenen Bruch bedeuten würde, hat aber dem König geraten, für den 2. Oktober das Parlament einzuberufen.“ Cavours Kritik an Garibaldi und seiner Bewegung wurde immer schärfer. In einem Brief an Nigra wiederholte er, dass es darum gehe „die Sache Italiens vor den Exzessen der Revolution zu bewahren. Da es nicht gelungen ist, Garibaldi in Neapel aufzuhalten, musste er um jeden Preis im Kirchenstaat aufgehalten werden, andernfalls hätte er uns in den sicheren Untergang getrieben, selbst wenn er nicht nach Rom gezogen wäre. Hätte man ihn nicht gestoppt, wäre er bis an unsere Grenzen vorgestoßen und hätte das Land zugrunde gerichtet.“ Cavour sieht Garibaldi viel negativer als zuvor: „Garibaldi ist ein Illuminat und von seinen unerwarteten Erfolgen berauscht. Er bildet sich ein, von der Vorsehung mit einer Mission betraut und ermächtigt zu sein, sie mit allen Mitteln zu Ende zu führen. Jetzt stellt er sich vor, mit den Vertretern der Revolution zu marschieren, und das bedeutet, dass er auf seinem Weg Unruhen und Anarchie verbreiten wird. Wenn wir dem nicht einen Riegel vorschieben, wird Italien untergehen, ohne dass Österreich sich einmischen muss. Wir sind fest entschlossen, das nicht zuzulassen. Wenn Garibaldi seinen verhängnisvollen Weg fortsetzt, werden wir in zwei Wochen in Neapel und Palermo die Ordnung wiederherstellen, auch wenn dies bedeutet, alle Garibaldiner ins Meer zu treiben. Die übergroße Mehrheit der Nation steht auf unserer Seite. Das wird deutlich werden, wenn das Parlament zusammentritt. Man musste solange warten, bis diese Herren ihre Monarchistenmasken ablegten. Jetzt haben sie es getan und wir werden zum Angriff übergehen. Der König ist entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten.“

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Der Inhalt dieses an Nigra gerichteten Briefes vom 22. September sollte Napoleon III. referiert werden (etliche hier nicht wiedergegebene Stellen machen dies deutlich). Man könnte also annehmen, dass die besonders heftigen Äußerungen dazu dienen sollten, Napoleon zu versichern, Turin werde Garibaldi, der in Frankreich für große Irritation sorgte, ausschalten. Dennoch tritt klar zutage, dass zwischen Cavour und Garibaldi ein unüberwindlicher Gegensatz bestand, denn Cavours Politikverständnis stand in diametralen Gegensatz zu den dem General unterstellten Ideen. Cavour verwies erneut auf seine liberale Überzeugung, die im Widerspruch zu jeder Form von Diktatur stand. Auch in diesem Punkt hatte sich gegenüber früheren Äußerungen seine Meinung (oder seine Sprache) geändert. Dieser Aspekt muss vertieft werden, denn er berührt ein ungelöstes Problem bei Cavour. Am 2. Oktober lehnte der Ministerpräsident den Vorschlag ab, das (soeben einberufene) Parlament solle dem König bis zur Klärung der italienischen Frage unbeschränkte Vollmachten erteilen: Diese Ablehnung stand im Widerspruch zu der Haltung, die der Ministerpräsident, wie wir gesehen haben, 1859 eingenommen hatte. Cavour war sich dessen bewusst, erinnerte aber daran, wie sehr „die englischen Zeitungen die Italiener wegen der Aussetzung der verfassungsmäßigen Garantien während des Krieges im letzten Jahr kritisiert haben“. Diese Ausnahmeregelung nun in einem Augenblick des – wenn auch nur scheinbaren – Friedens zu erneuern, hätte auf die öffentliche Meinung in England und den anderen liberalen Staaten des Kontinents gewirkt. Nicht einmal das eigene Land könne daraus einen Vorteil ziehen: „Die beste Methode, um zu zeigen, dass das Land den Theorien Mazzinis und den Vorwürfen Bertanis und Crispis fremd gegenübersteht, ist es, dem Parlament die vollkommenste Freiheit zum Eingreifen und zur Kontrolle zu lassen. Die Zustimmung der großen Mehrheit der Abgeordneten wird dem Ministerpräsidenten ein weit höheres moralisches Gewicht geben als jede Form der Diktatur.“ Cavour wies also im Vertrauen auf die Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der Abgeordneten die Übertragung unbeschränkter Vollmachten ab. Ausdrücklich wandte er sich „gegen Garibaldis Konzept, das darauf abzielt, eine sehr umstrittene revolutionäre Diktatur zu übernehmen, die er ohne Kontrolle durch die freie Presse, ohne persönliche und parlamentarische Freiheitsrechte im Namen des Königs ausübt. Italien wird sich dagegen, so betone ich nochmals, nicht zuletzt dessen rühmen können, dass es sich als Nation konstituiert hat, ohne die Freiheit der Unabhängigkeit geopfert zu haben, ohne die Diktatur eines Cromwell, sondern dass es sich vom monarchischen Absolutismus befreit hat, ohne in revolutionären Despotismus zu verfallen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es für mich keinen anderen Weg als die Zusammenarbeit

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mit dem Parlament als der einzigen moralischen Instanz, die die Sekten besiegen und uns die Sympathien des liberalen Europa erhalten kann. Auf Wohlfahrtsausschüsse oder, was das gleiche wäre, auf revolutionäre Diktaturen eines Einzigen oder Mehrerer zu rekurieren, hieße die gesetzmäßige Freiheit im Entstehen zu ersticken, die wir uns als untrennbare Begleiterin der nationalen Unabhängigkeit wünschen.“

Diese liberale Grundhaltung verbindet Cavour – das muss betont werden – mit dem festen Vorsatz, allen gegen Österreich gerichteten Volksaufständen, wenn nötig auch militärisch, entgegenzutreten, weil sie die europäischen Mächte beunruhigen und dadurch das Königreich Italien am Vorabend seiner Proklamation gefährden. Derartige Überlegungen finden sich auch in der Rede Cavours vor dem Parlament wieder. Der Ministerpräsident wies die Vorstellung zurück, dass Parlament sei einberufen worden, um über das Vorgehen Garibaldis zu urteilen, für den Cavour sehr konziliante Worte hat. Zur Frage der Revolution stellte er jedoch klar: „Wenn die Revolution in Neapel und Palermo andauert wird in kurzer Zeit die Autorität und Herrschaft aus den ruhmvollen Händen dessen, der ,Italien und Vittorio Emanuele‘ auf seine Fahnen geschrieben hat in diejenigen von Leuten übergehen, die diese Worte durch das mystisch-düstere Symbol der Sektierer von ,Gott und das Volk‘ ersetzen werden.“ Das Parlament stimmte fast einstimmig (mit 290 gegen 6 Stimmen) den Vorschlägen der Regierung zu. Cavour hatte gewonnen. Am Ende dieses höchst dramatischen politischen Kapitels sei hervorgehoben, wie außerordentlich gut es Cavour (trotz gelegentlicher Unsicherheiten) gelungen ist, eine Verbindung zwischen Diktatur, Parlament und Revolution herzustellen, also zwischen all den Elementen, die in Deutschland und Europa mit dem Begriff des Cäsarismus verbunden sind. Dieser Begriff taucht zwar, wie wir gesehen haben, in Cavours Vokabular nicht auf und wird auch nicht gegen ihn ins Feld geführt. Er spielt dagegen in Deutschland bei der Beurteilung seiner Persönlichkeit und seiner Politik eine bedeutende Rolle.

Die Reaktionen der preußischen Regierung auf die Ereignisse in Italien 1859–61 Im Jahr 1860 standen die diplomatischen Beziehungen zwischen Piemont und Preußen kurz vor dem Bruch. Nur dem unermüdlichen Einsatz Cavours, der Unterstützung durch den preußischen Gesandten in 40

Turin, Anton Brassier de Saint-Simon und den objektiven Unsicherheiten der preußischen Regierung über ihre geopolitischen Ziele in Europa ist es geschuldet, dass die Beziehungen hielten und den Grundstein für künftige Bündnisse legten. Um die politischen und diplomatischen Beziehungen zwischen dem Königreich Sardinien-Piemont und Preußen zu verstehen, müssen wir zeitlich einen Schritt zurückgehen. Seit 1858 wurde Preußen auf der Grundlage einer stark von den Prärogativen der Krone geprägten Verfassung (im Namen seines geistig erkrankten Bruders) von Prinzregent Wilhelm regiert. Trotz seiner konservativen Grundhaltung hatte er sich vorsichtig dem Liberalismus geöffnet und die gewöhnlich als „neue Ära“ bezeichnete Periode preußischer Politik eingeleitet. Doch der Regent verteidigte eifersüchtig seine herrscherlichen Rechte und geriet deshalb einige Jahre später gerade mit den Liberalen in einen äußerst harten Konflikt um die Heeresreform. In der Außenpolitik verfolgte Preußen sehr vorsichtig die traditionelle Linie. Während des Krimkrieges hatte man die österreichische „Öffnung nach Westen“ vorsichtig unterstützt, ohne sich zu weit vorzuwagen, um die hervorragenden Beziehungen zu Russland nicht zu gefährden, das nach wie vor als der wichtigste Verbündete galt. Im Inneren stand bei den in der Öffentlichkeit einflussreichen Liberalen die nationale Einigung auf der Tagesordnung, die man ohne Vorbedingungen, ja durch eine Stärkung des preußischen Staate und seines monarchischen Prinzips erreichen wollte. Die Liberalen hatten jedoch keinerlei realistische Strategie und vor allem keinen ernsthaften Rückhalt in der Bevölkerung: In dieser Hinsicht ist sie nicht mit der entsprechenden Bewegung in Piemont und Italien vergleichbar. Die preußische Krone hatte nicht das Ziel, die nationale Einheit durch Initiativen anzustreben, die das Gefüge des Deutschen Bundes und die darin führende Stellung Österreichs hätten gefährden können. Die offizielle Strategie der preußischen Regierung zur Erreichung der nationalen Einheit bestand darin, auf der Grundlage der bestehenden Rechtsordnung die Deutschen „moralisch“ für sich zu gewinnen. Diese überaus moderate Position – die mit der nationalen Politik des Hauses Savoyen ebenfalls nicht vergleichbar ist – entfernte sich allerdings von den bis dahin vorherrschenden ultrakonservativen Vorstellungen, die die Idee der Nation und des Nationalismus prinzipiell ablehnten und zu Österreich tendierten. In der nationalen Frage war die politische und kulturelle Öffentlichkeit gespalten in Anhänger einer „großdeutschen Lösung“, die den gesamten Raum deutscher Sprache und Kultur einschließlich 41

Österreichs umfassen sollte, und einer „kleindeutschen“ Lösung um Preußen und die norddeutschen Staaten ohne Österreich. Anhänger der großdeutschen Lösung fanden sich vor allem in Süddeutschland unter dem niederen Adel, den Bauern und Bürgern der kleineren Städte und den politisch aktiven Katholiken; die Kleindeutschen waren dagegen im Norden unter den Protestanten, in der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht, bei Kaufleuten, Industriellen, im Bankwesen, unter Freiberuflern und Intellektuellen vertreten. In diesem politischen Milieu erfuhr man im Frühjahr 1859, dass die mit den Westmächten verbündete liberale konstitutionelle Monarchie in Piemont sich an die Spitze einer nationalen Unabhängigkeitsbewegung gesetzt hatte, in der „demokratische“ Gruppen und Bewegungen mit beachtlichem Rückhalt beim Bürgertum und im einfachen Volk eine aktive Rolle spielten. Für dieses Vorhaben hatte der piemontesische Ministerpräsident, Graf Cavour, die Unterstützung Napoleons III. von Frankreich gewonnen, das als die stärkste Militärmacht in Europa galt. Doch ein umsichtiger Politiker wie Cavour musste sich dessen bewusst sein, dass dieses Vorgehen in den deutschen Ländern auf starkes Misstrauen stoßen musste. Deshalb begann er rechtzeitig vor der zu erwartenden bewaffneten Auseinandersetzung mit Österreich eine diplomatische Offensive, um die Ziele des Königreichs SardinienPiemont in Berlin bekannt zu machen. Sein vorrangiges Ziel war es, der preußischen Regierung zu versichern, dass ihre Interessen nicht tangiert würden, und Piemont Napoleon III. nicht bedingungslos folgen werde: Das Bündnis zwischen Piemont und Frankreich sei lediglich gegen Österreich eine militärische Notwendigkeit. Dennoch waren die Leitgedanken der diplomatischen Offensive, die über die Jahre 1859 und 1860 andauerte und sich den Ereignissen anpasste, nicht nur apologetischer und/oder defensiver Natur. Cavour betonte im Gegenteil von Anfang an die Übereinstimmung der deutschen und italienischen nationalen Ziele und die Tatsache, dass Österreich der gemeinsame Feind beider Länder und sie deshalb „natürliche Verbündete“ seien. Das Argument des „natürlichen Bündnisses“ zwischen Piemont und Preußen taucht als Topos in allen Reden über die italienisch-preußischen Beziehungen auf. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Cavour ausgerechnet in der Zeit seiner geheimen Kontakte mit Napoleon III. in Plombières Prinzregent Wilhelm am 22. Juli 1858 in Baden-Baden traf und dabei den Eindruck gewann, Preußen hege eine latente Feindschaft gegenüber Österreich. 42

Die preußische Regierung ihrerseits verfügte in Turin in der Person von Anton Brassier de Saint-Simon über einen Gesandten, der mit der Politik des Königreichs Sardiniens vollkommen übereinstimmte, Cavour sehr schätzte und die Berliner Regierung mit ausgezeichneten politischen Analysen versorgte. Man kann also keineswegs behaupten, die preußische Regierung sei nicht aus erster Hand über die italienische Situation informiert gewesen. Dass Berlin das Königreich Sardinien-Piemont nicht unterstützte und nicht eine aggressivere Haltung gegenüber Österreich einnahm, lag also nicht an der ungenügenden Kenntnis der Lage in Italien, sondern an der objektiv schwierigen Position Preußens innerhalb des Deutschen Bundes. 1859 schwankte Berlin zwischen der Loyalität gegenüber den Staaten des Deutschen Bundes, die die französische Gefahr überschätzten und um ihre territoriale Integrität fürchteten, und dem Willen, Österreich nicht zu sehr in einem Konflikt zu begünstigen, in dem es nur um dessen Hegemonialinteresse ging. Mit diesem Argument wollte Bismarck, wie wir sehen werden, 1859 seine Regierung davon abbringen, sich auf die Seite Österreichs zu stellen, um stattdessen das piemontesische Vorgehen mit Wohlwollen zu beobachten. Verfolgen wir den Gang der Ereignisse anhand einiger diplomatischer Quellen, beginnend mit einer Note des piemontesischen Vertreters in Berlin, Edoardo di Launay, an Cavour vom 10. März 1859, die die vom preußischen Außenminister Alexander von Schleinitz vertretene Position Preußens zusammenfasst. Nachdem er Piemont davor gewarnt hat, den Rubicon zu einem Krieg zu überschreiten, der zu einem Flächenbrand führen würde, heißt es in der Note aus Berlin weiter: „Preußen könnte nicht nur einfacher Zuschauer bleiben, sondern müsste der Äußerungen der öffentlichen Meinung Rechnung tragen. Inmitten der Feindseligkeiten, deren Schauplatz viele Fronten umfassen würde, hätte die italienische Frage lediglich untergeordnete Bedeutung. Piemont müsse einen Sieg Österreichs fürchten und sollte wenig Hoffnung auf Frankreich setzen, sobald es am Rhein Erfolg hätte, denn dort läge wahrscheinlich der Hauptkriegsschauplatz. Wenn ein gesamteuropäischer Konflikt dagegen nicht zu fürchten wäre, besäßen wir mehr Handlungsspielraum und wären freier in unserem Wohlwollen für Piemont, so dass wir eher unsere Stimme zu seinen Gunsten erheben würden.“

Schleinitz stellt dann einen Vergleich an, der angesichts dessen, was sich vier, fünf Jahre später ereignet, äußerst interessant ist. Wenn sich die augenblicklich in Europa herrschende feindselige Atmosphäre nicht bessere, so glaubt der Minister, wären „die italienische und die schleswigholsteinische Frage nicht zu lösen außer durch einen Waffengang und 43

nach einer großen europäischen Katastrophe, was in niemandes Interesse sein kann“. Der Krieg von 1859 brach durch die Kriegserklärung Österreichs aus, so dass die piemontesische Diplomatie entlastet war. Doch nach Kriegsbeginn kam es im Mai wegen eines von Cavour am 9. Mai an den Deutschen Bund gerichteten Promemoria beinahe zu einem diplomatischen Unfall. Darin warf Cavour Österreich vor, den „Charakter dieses Krieges zu verändern, der rein italienisch ist und bleiben muss“, und erklärte dann ganz ohne Umschweife, es sei das Ziel des Königs von Sardinien-Piemont, „Österreich über die Alpen zu jagen“, dabei jedoch die deutschen Rechte nicht anzutasten. „Eine territoriale Änderung Italiens kann keine Gefahr für die Sicherheit Deutschlands bergen“. Diese Äußerungen, die für Cavour bloße Feststellungen waren, trugen nicht der Tatsache Rechnung, dass einige Regierungen des Deutschen Bundes ganz anders darüber dachten, was „Deutschland“ sei, und die österreichischen Besitzungen (einschließlich Lombardo-Venetien) als integralen Bestandteil des deutschen Territoriums betrachteten. Die piemontesische Note wurde zurückgezogen. In der zweiten Junihälfte warnte der Deutsche Bund mehrmals vor einer Verletzung seines Territoriums. In einer Mitteilung des preußischen Außenministeriums vom 20. Juni an seinen Gesandten in Turin, Brassier de Saint-Simon, warnte man scharf davor, dass Garibaldi diese Hinweise missachten und in das Trentino vordringen könnte. Der Abbruch des Krieges entschärfte die Lage vorübergehend, aber die Probleme blieben ungelöst. Im September führte der Prinzregent während seines traditionellen Aufenthalts in Baden-Baden ein Gespräch mit den beiden preußischen Vertretern in Italien, Brassier, der in Turin residierte, und Reumont, dem Gesandten in Florenz, der Hauptstadt des Herzogtums Toskana. Unvermeidlich stellten sie ihm zwei unterschiedliche Italien vor. Der Erstere teilte Cavours Sichtweise und bekräftigte, dass ein von Frankreich und Österreich unabhängiger norditalienischer Nationalstaat unter Einschluss der ehemaligen Herzogtümer Toskana, Modena und Parma eine optimale Lösung für Europa und Preußen sei. Der Vertreter aus Florenz dagegen versicherte, der größte Teil der Bevölkerung der Herzogtümer stehe nach wie vor loyal zu den alten Souveränen, die zu Unrecht vertrieben worden seien. Cavour hatte aus Protest gegen den Frieden von Villafranca die politische Bühne verlassen und übernahm erst im Januar 1860 wieder die Regierungsgeschäfte. Sofort versuchte er wieder den Berliner Hof davon 44

zu überzeugen, dass der Anschluss der mittelitalienischen Staaten an Piemont ein stabilisierender Faktor für das europäische Gleichgewicht sei. Bezeichnenderweise äußerte sich Bismarck, der, ohne Regierungsmitglied zu sein, in ständigem Kontakt mit Minister Schleinitz stand, mehrmals in dem Sinne, der für seine Haltung zur piemontesischen Frage bestimmend blieb. Er hielt Piemont für einen möglichen Verbündeten Preußens sowohl gegen Frankreich als auch gegen Österreich: denn „wenn es [Piemont] sich auf Preußen stützen könnte, würde Frankreichs Allianz aufhören, gefährlich und herrisch zu sein.“ Es ist verblüffend, dass Cavour genau zur selben Zeit in einer Note an Botschafter Brassier dem Prinzregenten ein Militärbündnis zwischen Turin und Berlin vorschlug. „Es erscheint ihm unmöglich“, gibt Brassier die Meinung Cavours wieder, „dass die preußische Regierung nicht den Vorteil sehen würde, den ihr für alle Fälle ein natürlicher Verbündeter jenseits der Alpen bringen würde, der sowohl gegen Frankreich als auch gegen Österreich ein Kontingent von 200 000 Mann zu bieten hätte.“ Diese Worte hätten von Bismarck stammen können. Es mag in dieser Hinsicht irritierend wirken, wenn Cavour wenig später in einem Brief über die „langfristigen Pläne“ Napoleons III. Costantino Nigra auffordert, dem Kaiser zu versichern, dass „wir uns mit all unserer Kraft bemühen werden sie zu realisieren; er soll uns deshalb nicht daran hindern, unabhängig und stark zu werden, und kann darauf zählen, dass wir ihn als den großen Führer der lateinischen Rasse anerkennen und ihm alle unsere Kräfte zur Verfügung stellen, damit die Orientfrage an den Ufern des Rheins ebenso vollständig geklärt wird wie an der Donau.“ Ist in diesen Worten ein Beweis für den politischen Zynismus und die Gleichgültigkeit Cavours gegenüber moralischen Grundsätzen, also den „Cavourismus“ im negativen Wortsinn zu sehen, wie seine Kritiker behaupten? Oder sind sie ein Zeichen für seine tiefe Verunsicherung? Oder sind sie einfach nur ein besonders skrupelloser Ausdruck der Realpolitik Cavours, durch die er sich alle taktischen Mittel, auch in der entgegengesetzten Richtung, opportunistisch offen hält um seine vorrangigen Ziele (die militärische und politische Autonomie Piemonts) zu erreichen? Bismarck wird sich in einem anderen Zusammenhang, aber unter vergleichbaren Bedingungen, 1866 gegenüber Napoleon III. genauso verhalten und die gleiche empörte Kritik ernten. Der 1. März 1860 war ein Glückstag für die italienische Sache in Preußen, denn in der preußischen Abgeordnetenkammer stand eine Debatte über die italienische Frage auf der Tagesordnung. Im Namen der Libera45

len brachte deren bekanntester Vertreter Georg von Vincke einen Antrag zur Unterstützung der nationalen Bewegung Italiens ein. Er erklärte, die Entstehung eines starken italienischen Einheitsstaats sei eine Barriere gegen den französischen Expansionismus und liege deshalb im Interesse Deutschlands. Die führenden liberalen Zeitschriften, die „Preußischen Jahrbücher“ aus Berlin und die „Grenzboten“ aus Leipzig, forderten die preußische Regierung zur Anerkennung des Anschlusses der mittelitalienischen Staaten an Piemont auf. Einige Kommentatoren gingen sogar so weit, der preußischen Regierung vorzuwerfen, sie habe die Gelegenheit einer Annäherung an Piemont, das sich so aus der zu engen Bindung an Frankreich hätte lösen können, versäumt. Die These von der Notwendigkeit der Unterstützung für Piemont fand in immer breiteren Kreisen von den Liberalen bis hin zu den „realistischen“ Konservativen Zustimmung, mit Ausnahme der „feudalen“ und der „legitimistischen“ Konservativen, die weiterhin Einfluss auf die preußische Krone ausübten. Außenminister Schleinitz selbst musste zugeben, der Ausgang der Plebiszite in Mittelitalien sei ein Beweis dafür, dass die große Mehrheit der Bevölkerung den Anschluss an Piemont gutheiße. Aber die Regierung in Berlin konnte sich, hin- und hergerissen zwischen den legitimistischen Skrupeln des Prinzregenten, dem Druck der liberalen Öffentlichkeit und der Staatsräson, nicht für eine klare Linie entscheiden. Sie folgte nicht dem Vorbild der pragmatischen englischen Regierung. Am 5. März setzte Cavour noch einmal nach und versicherte: „Das große Ziel der Politik Sardinien-Piemonts besteht darin, die Erfordernisse der Gegenwart mit den Rechten der Monarchie in Einklang zu bringen, den laut verkündeten Wünschen der Bevölkerung Genüge zu tun und gleichzeitig Macht und Ansehen des Königtums zu steigern.“ Doch die offizielle und endgültige Abtretung von Savoyen und Nizza an Frankreich hinderte die preußische Krone wiederum daran, auf die von Cavour gewünschte politische Linie einzuschwenken. Über die Abtretung war in den Vereinbarungen von Plombières zwischen Cavour und Napoleon III., wie wir wissen, ausdrücklich gesprochen worden, dann aber war das Thema nach dem Abbruch des Krieges von 1859 fallengelassen worden. Die Frage tauchte erneut und unabweislich auf, als es nach den Plebisziten um die Kompensationen Frankreichs für den Anschluss der ehemaligen toskanischen Herzogtümer an Piemont ging. Die Vereinbarungen von Plombières wurden den neuen Gegebenheiten angepasst und erhielten eine neue Legitimation. Diese Tatsache irritierte die preußische Regierung und die deutsche öffentliche Meinung, auch 46

wenn sie Piemont grundsätzlich wohlwollend gegenüberstand, denn die Abtretung erschien als Beweis für das französische Expansionsstreben und die piemontesische unterwürfige Abhängigkeit. Man warf Cavour vor, er sei illoyal, doppelzüngig und schwach, ein Vorwurf, der ihm übrigens auch in weiten Kreisen Italiens gemacht wurde. Einzig der Ausgang der Plebiszite in Savoyen und Nizza sprach zu seinen Gunsten, weil sie (unter großzügiger Missachtung der geringen Aussagekraft dieser Volksbefragungen) als legitime Form der Anerkennung des Nationalitätsprinzips betrachtet wurden. Am Ende beschränkten sich Preußen und Russland auf diplomatische Proteste ohne praktische Konsequenzen, so dass die Abtretung von Nizza und Savoyen für Piemont ohne weitere Nachteile vonstatten ging. Bei einer wichtigen Regierungssitzung am 26. März fasste der Prinzregent die Situation folgendermaßen zusammen : „Es herrschte Einstimmigkeit darüber, dass Frankreich mit seinem unberechenbaren Kaiser eine für Europa, Deutschland und Preußen gefahrdrohende und gefahrbringende Macht sei, indem nach den Erlebnissen von Villafranca-Zürich und Savoyen-Nizza nichts mehr sicher sei, was die Verträge von 1815 stipuliert haben.“ Preußen fühlte sich vor allem von der Reunionspolitik Frankreichs bedroht, die stets auf das linke Rheinufer zielte: „Dass Preußens Macht allein schwerlich hinreichen dürfte, dem französischen Gelüste auf das linke Rheinufer zu widerstehen, wird allgemein anerkannt, wenngleich auch vor dieser Möglichkeit eintretendenfalls nicht zurückzuweichen wäre.“ Deutschland als Ganzes, der Deutsche Bund, sollte natürlich auf Preußens Seite stehen, aber seit einiger Zeit sei in den süddeutschen Staaten die Feindseligkeit gegen Preußen gewachsen. Preußen könnte sie eindämmen, wenn nicht Österreich dazwischen stünde, das sich als Gegenspieler Preußens betrachte und „mit seiner eigenen Feindschaft gegen uns das bewegende Prinzip der Opposition Deutschlands gegen Preußen wäre“. Trotzdem war die Mehrheit der Regierungsmitglieder nicht dafür, die Feindseligkeiten gegen Wien auf die Spitze zu treiben, sondern wollte im Gegenteil eine Einigung anstreben, über deren Form man sich jedoch nicht einig war. Auf keinen Fall wollte man in Deutschland wie in Italien einen Bruch zwischen den Untertanen und ihren Herrschern heraufbeschwören. In diesem Zusammenhang konnte sich der Prinzregent eine Spitze gegen Vittorio Emanuele nicht verkneifen. Er betonte, dass er „niemals in Deutschland eine Rolle wolle, welche Viktor Emanuel in Italien spielt“, weil dieser einen Keil zwischen die Untertanen und ihre legitimen Herrscher treibe. 47

Die Ministerkonferenz hielt jedoch kein neues Bündnis mit Österreich für notwendig, vor allem dann, wenn es außerdeutschen Zielen dienen sollte. Vor allem erschien „eine Allianz zur Erhaltung Venetiens, solange es nur mit Sardinien in seiner neuen Ausdehnung zu tun hat, durchaus überflüssig“, denn diese Frage betreffe, wenn auch in seiner neuen Ausdehnung, allein das Königreich Sardinien-Piemont. In der Frage von Savoyen und Nizza, die die preußische Regierung ausschließlich unter dem Blickwinkel der französischen Begehrlichkeiten am Rhein betrachtet, ist man bereit den Anschluss an Frankreich zu akzeptieren, sofern Napoleon sich verpflichte, den Status quo anderswo – also am Rhein – zu garantieren. Wie man sieht, blieb die preußische Politik vorsichtig, unsicher und abwartend. Aber Cavour ließ nicht locker. In einem langen Gespräch mit Brassier wiederholte er seine Thesen, damit dieser sie dem Prinzregenten berichten sollte: Piemont sei nur deshalb von Frankreich abhängig, weil es von den anderen Mächten vollkommen im Stich gelassen werde („England wird nie über schöne Worte hinausgehen, Preußen und Russland sind ohne bösen Willen aus Prinzip dagegen“), aber „morgen könnte die Freundschaft mit dem Papst und Österreich in den Augen Napoleons einen höheren Wert besitzen als die Sympathie und Dankbarkeit Piemonts, das dann den beiden benachbarten Mächten ohnmächtig ausgeliefert wäre“. Außerdem fügte er hinzu: „Ich bin so wenig Franzose wie ich Österreicher bin, sondern Italiener. Frankreich hat uns große Dienste erwiesen, wir gehören der gleichen Rasse an wie die Franzosen und haben ein ähnliches Rechtssystem; heute ist Frankreich unsere einzige Stütze. Doch in dem Augenblick, in dem diese Stütze sich in Druck verwandeln und die Unabhängigkeit Italiens in Gefahr geraten sollte, wäre ich gegen Frankreich, wie ich gegen Österreich war.“ Im Norden hatten sich die Debatten über die Anschlüsse noch nicht beruhigt, da überstürzten sich die Ereignisse erneut durch den Zug Garibaldis, denn dieser ließ von Sizilien ausgehend den Anschluss des Südens an das Königreich Sardinien-Piemont und die Entstehung eines künftigen Königreichs Italien möglich erscheinen, in dem das Königreich beider Sizilien aufging. Vor diesem Hintergrund bestand die weit beunruhigendere Aussicht einer Invasion des Kirchenstaats, die – darüber waren sich alle einig – schwerwiegende internationale Konsequenzen zeitigen würde. Sobald er von Garibaldis Aufbruch aus Quarto erfuhr, sprach Brassier bei Cavour vor und übergab ihm eine Note, die Außenminister 48

Schleinitz einige Tage zuvor in „pikanter Koinzidenz“ mit dem Bekanntwerden des Aufbruchs der Tausend verfasst hatte. Schleinitz verlangte explizit Erklärungen, aber Cavour antwortete, er sei von der Initiative Garibaldis nicht in Kenntnis gesetzt gewesen, und gebrauchte dabei starke Worte: „Falls Garibaldi, an dem ich die guten Eigenschaften immer geschätzt und dem ich die schlechten immer verziehen habe, aufgebrochen sein sollte, was mir bisher nicht bekannt ist, dann hat er mich getäuscht und hat sich wie ein Lump benommen; im Übrigen wird er genau wie die anderen Schwachköpfe am Galgen enden, denn soviel ich weiß endet es in Sizilien so.“ Log Cavour den Vertreter Preußens bewusst an? Oder wollte er vor Brassier, obwohl er mit ihm auf vertrautem Fuß stand, seine eigene Verblüffung über die Ereignisse verheimlichen? Angesichts der Vorwürfe der internationalen Politik, die Vorbereitungen Garibaldis für sein Unternehmen nicht unterbunden und sich dadurch einer Verletzung internationalen Rechts mitschuldig gemacht zu haben, „versichert mir Graf Cavour immer wieder“, wie Brassier festhält, „er sei von Garibaldi getäuscht worden und nichts könne für die Interessen der Regierung schädlicher sein als diese missratene Expedition.“ Offensichtlich wollte Cavour seine Karten gegenüber seinem Gesprächspartner nicht aufdecken und verheimlichte vor ihm, dass er abwarten wollte, wie das Unternehmen Garibaldis ausging. Es lässt sich aber auch nicht ausschließen, dass Brassier sich in gewisser Weise zum Komplizen der offiziellen Haltung Cavours machte. Jedenfalls war man in der preußischen Hauptstadt ziemlich unzufrieden mit ihm. Der Außenminister schickte ihm einen langen, vertraulichen Brief und machte ihm klar, wie sehr seine Beurteilung der Lage in Italien von der Linie der Regierung, die er vertrat, abwich. Schleinitz zählte erneut alle Gründe auf, warum man den politischen Abenteuern der Italiener misstraue, die unbedacht das europäische Gleichgewicht gefährdeten, und legte noch einmal explizit die „abwartende“ Haltung seiner Regierung dar: „Unsere Politik muss abwartend und zurückhaltend bleiben und die Ereignisse beobachten statt sie zu forcieren; dazu sind wir durch die Erwägung dringend veranlasst, dass wir nicht wüssten, wie wir eine weitere europäische Krise vermeiden könnten, ohne die Organisation unseres Heeres zu Ende geführt zu haben.“ In der diplomatischen querelle, in die er verwickelt war, machte Cavour einige interessante Feststellungen: „Ich weiß sehr wohl, dass ich für Sie ein enfant terrible bin. Ich spreche die Tatsachen ganz unverblümt an, aber glauben Sie mir: die Italiener wollen Italiener sein, und wer-

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den früher oder später dahin kommen – genauso wie Deutschland vereint sein wird. Unsere Epoche ist von dem unwiderstehlichen Drang der Völker beherrscht, sich als Nationen fest zusammenzuschließen. Deshalb wird ihnen niemand die Rheinprovinzen wegnehmen können, denn sie sind deutsch, und ganz Deutschland wird sie verteidigen. Sie haben die deutsche Flagge gehisst: das wird Ihre Stärke sein, wie die italienische Flagge die unsere ist. Sie haben prinzipielle Skrupel, die ich verstehe und respektiere: Diese Prinzipien lassen es Ihnen als Frevel erscheinen, dass ich eine Analogie zwischen Ihrer Position und der unseren herstelle – aber Ihre Prinzipien werden den Gang der Ereignisse nicht aufhalten können.“

Diese leidenschaftlichen Worte sind ein praktisches Beispiel von Realpolitik in einem der dramatischsten Augenblicke der italienischen Geschichte. Unterdessen kühlten die Beziehungen zwischen den Vertretern der öffentlichen Meinung in Deutschland und Italien ab. Das lässt sich an einem Briefwechsel zwischen Giuseppe La Farina, dem Präsidenten der Società nazionale italiana, und Rudolf von Bennigsen, dem Präsidenten des Nationalvereins (der sich am Vorbild der Società italiana orientiert hatte) von Ende August bis Anfang September 1860 ablesen. In dieser für die italienische Nationalbewegung heiklen Situation forderte La Farina die deutschen Liberalen auf, mit den italienischen Liberalen tatkräftig zusammenzuarbeiten und sich nicht von der österreichischen Verleumdungskampagne täuschen zu lassen, die von sklavischer Abhängigkeit Italiens vom französischen Imperialismus spreche. Die beste Antwort auf den Vorwurf der Hörigkeit gegenüber Frankreich sei der Wunsch der Italiener, die Freundschaft und Interessengemeinschaft zwischen Deutschland und Italien zu festigen, um sich aus der französischen Vormundschaft zu befreien. Die Antwort des Nationalvereins war zwar formal höflich, inhaltlich aber zurückhaltend und ließ klar erkennen, dass trotz grundsätzlicher Solidarität die neuerlichen Turbulenzen auf der Halbinsel und die erneut vorgebrachten territorialen Forderungen (Tirol und Triest) gegen die Interessen des Deutschen Bundes verstießen. In den von November bis Dezember 1860 ausgetauschten Noten der beiden Regierungen kamen die unterschiedliche Beurteilung der Ereignisse dieses Jahres und zugleich der Wille zum Ausdruck, die guten Beziehungen aufrechtzuerhalten. In einem Erlass an seinen Gesandten in Turin, mit dem er auf ein piemontesisches Memorandum antwortete, kritisierte der preußische Außenminister die Politik des Königreichs Sardinien-Piemont als unvereinbar mit den wahren Rechtsgrundsätzen: „Alle Argumente gipfeln in dem Prinzip des absoluten Rechts der Nation. Wir sind gewiss weit davon entfernt, der Idee der Nation ihren Wert absprechen zu wollen. Sie

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ist ein wesentlicher Beweggrund und hat einen hohen Stellenwert in unserer eigenen Politik, die in Deutschland immer das Ziel haben wird, die nationalen Kräfte in einer wirkungsvolleren und mächtigeren Organisation zu entwickeln und zu einen. Trotz der großen Bedeutung, die die preußische Regierung deshalb dem Nationalitätsprinzip beimisst, vermag sie darin keine ausreichende Rechtfertigung für eine Politik zu sehen, die das Prinzip des Rechts nicht achtet. Weit entfernt davon die beiden Prinzipien als unvereinbar zu betrachten, ist sie im Gegenteil der Meinung, dass eine legitime Regierung nur auf dem Weg der gesetzlich vorgeschriebenen Formen und unter Beachtung bestehender Rechte die legitimen Wünsche der Nationen befriedigen kann.“

Schleinitz wirft der piemontesischen Regierung vor, ihre nationalen Interessen ohne Rücksicht auf die vorhandenen legitimen Herrscher voranzutreiben, die dem Drängen der öffentlichen Meinung nachgeben und abdanken müssten. Dies heiße, so Schleinitz, den Weg der Reformen zu verlassen und den der Revolution einzuschlagen, wie dies bereits gegenüber dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Neapel geschehen sei, die gegen internationales Recht von piemontesischen Truppen überfallen worden seien: „Obwohl die sardinische Regierung sich auf das Prinzip der Nichteinmischung berufe, scheue sie nicht davor zurück, dieses Prinzip gegenüber den anderen italienischen Staaten aufs gröbste zu verletzen.“ Deshalb bedauerte und verurteilte der Außenminister das Verhalten der piemontesischen Regierung heftig. Cavour antwortete am 9. November mit einem langen Brief und erklärte unumwunden: „Die Frage der Marken, Umbriens und der beiden Sizilien betrifft ausschließlich Italien und berührt als solche in keiner Weise bestehende Rechte anderer Mächte. Das öffentliche Recht aller Zeiten hat nämlich jeder Nation die Befugnis zugestanden ihr Schicksal selbst zu gestalten und sich Institutionen zu geben, die ihren Interessen entsprechen, mit einem Wort, sich die Verfassung zu geben, die sie für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Wohlergehen ihres Staates für besonders geeignet hält.“ Cavour geht dann direkt auf die Frage ein, ob die bestehenden internationalen Verträge den wahren Interessen Italiens entsprechen: „Kann die Tatsache als solche, d. h. die Bestimmungen eines Vertrages, bedeuten, dass eine Nation auf die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten vollständig und dauerhaft verzichtet?“ Verantwortlich zu machen seien vielmehr die kleinen Staaten Mittelitaliens, der Heilige Stuhl und die Regierung von Neapel, weil sie sich jeder Reform zugunsten der unterdrückten Bevölkerung verweigert hätten. Das piemontesische Eingreifen folge Grundsätzen, die zu anderen Zeiten andere Interventionen gerechtfertigt hätten: 51

„Traten etwa Frankreich und England internationales Recht mit Füßen, als sie dem aufständischen Flandern Beistand leisteten? Wurden diese Gesetze von Ludwig XIV. gebrochen, als er den ungarischen Aufstand unterstützte? Von den Generalstaaten, als sie gegen Jakob II. auf der Seite Wilhelms von Oranien standen? Von Ludwig XVI., als er einen sehr großmütigen Beitrag zur Befreiung der Vereinigten Staaten von Amerika leistete? Von Europa, als es Griechenland der osmanischen Herrschaft entzog?“

Cavour führt ein Argument an, das Berlin einleuchten muss: „Europa sollte nicht aus den Augen verlieren, dass die Regierung des Königs in Italien als einzige konservative Kraft in der Lage ist, den wirklich revolutionären Geist einzudämmen und zu beherrschen.“ Die abschließenden Worte des Briefes sind ein Musterbeispiel wirksamer politischer Rhetorik, um die Monarchen zu überzeugen: „Wir haben nichts zu verbergen, nichts zu vertuschen. Wir sind Italien, wir handeln in seinem Namen. Wir sind aber gleichzeitig die Gemäßigten der nationalen Bewegung, und unsere dauernden Anstrengungen und Bemühungen haben keinen anderen Zweck als sie auf legale Wege zu führen, zu halten und zu verhindern, dass sie durch falsche Bündnisse verfälscht wird. Wir sind die Vertreter des monarchischen Prinzips, das in Italien schon nicht mehr in den Herzen der Menschen verankert war, bevor es von der Rache des Volkes umgestürzt wurde. Dieses Prinzip haben wir aufgegriffen, wiederhergestellt und ihm neue Weihe verliehen. Wenn das Königreich Italien auf den unerschütterlichen Grundlagen des Naturrechts und der Monarchie entstanden ist, wird Europa, davon sind wir überzeugt, das harte Urteil, das es heute gegen uns fällt, revidieren.“

Die Beziehungen zwischen Italien und Preußen standen zu Beginn des Jahres 1861 unter einem guten Stern. In der zweiten Januarhälfte wurde General Alfonso La Marmora in außerordentlicher Mission nach Berlin geschickt, um das Beileid der Turiner Regierung zum Tod Friedrich Wilhelms IV. und die Glückwünsche zur Thronbesteigung seines Bruders, des bisherigen Prinzregenten, als Wilhelm I. zu übermitteln. Während seines Besuchs folgte der piemontesische General bei seinen offiziellen Gesprächen der Linie Cavours, die ihm als Begleitschreiben mitgegeben worden war (dem bezeichnenderweise die beiden oben zitierten Schriftstücke von Oktober und November beigefügt waren). Darin bekräftigt der Ministerpräsident die Leitlinien seiner Politik, die auf eine institutionelle Konsolidierung und auf die Kontrolle der revolutionären Kräfte abzielt. In der Frage Venetiens ist seine Haltung grundsätzlich unnachgiebig, ohne jedoch eine friedliche Lösung auszuschließen: „Wir betrachten die italienische Frage als offen, solange Venetien nicht wieder an Italien restituiert ist, aber wir hegen immer noch die Hoffnung, dass dieser Konflikt zu gegebener Zeit eine friedliche und natürliche Lösung finden wird.“ Es ist nicht klar, inwieweit Cavour eine „friedliche und 52

natürliche“ Lösung wirklich für realistisch hält, aber er fügt hinzu: „Unserer Meinung nach ist es unmöglich, dass die in Österreich im Namen des Nationalprinzips begonnene große Reform die Nationalität Venetiens auf Dauer einfach mit Füßen treten und verhindern kann, dass es sich wieder mit dem Leib der Nation vereinigt, von der es heute nur durch Gewalt getrennt gehalten wird.“ Es ist schwer zu sagen, was die preußischen Ansprechpartner aus der Unterscheidung zwischen „Nationalität Venetiens“ und „Leib der italienischen Nation“ hätten schließen können. Sicher fühlte man sich in Berlin von den Worten Cavours geschmeichelt, der in sehr positiven (oder einfach sehr diplomatischen) Wendungen von den gemeinsamen nationalen und liberalen Werten Piemonts und Preußens sprach und der Meinung war, dass „unsere beiden Regierungen ihre Stärke auf das nationale Prinzip und die Loyalität gegenüber den liberalen Institutionen gründen und daraus ihr Ansehen gewinnen und dass beide vor der schwierigen Aufgabe stehen, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, von welcher Seite auch immer Gefahren und Komplikationen drohen mögen.“ Der Besuch La Marmoras in Berlin wurde durch einen Besuch von Generalleutnant Adolf von Bonin in Turin erwidert, der König Vittorio Emanuele offiziell die Thronbesteigung Wilhelms I. bekannt machte. Es war ein glücklicher Zufall, dass die erste Sitzung des neuen italienischen Parlaments am 18. Februar in die Zeit des Besuchs fiel. An der Einweihungszeremonie nahmen sowohl Bonin als auch Brassier teil. Als der König in seiner Rede die „edle deutsche Nation“ erwähnte, wandten sich die Anwesenden zur preußischen Delegation und applaudierten begeistert. Diese Episode war keineswegs selbstverständlich und wurde sogar von Bismarck auf seinem Diplomatenposten im fernen Sankt Petersburg registriert. Wenige Tage zuvor, am 6. Februar, war in der preußischen Abgeordnetenkammer ein von Georg Vincke im Namen der Liberalen eingebrachter Antrag zur Unterstützung der italienischen Nationalbewegung mit 159 gegen 146 Stimmen angenommen worden. Darin wird festgehalten, dass die Konsolidierung Italiens in der vom Königreich Sardinien-Piemont unternommenen Form ganz im Interesse Deutschlands und Preußens liege. Das Urteil der preußischen Regierung über die Ereignisse in Italien sei in kurzsichtigen legitimistischen Kriterien befangen. Der Antrag war ein großer Erfolg für die Politik Turins, blieb aber ohne praktische Folgen, weil – wie Minister Schleinitz in seiner Gegenrede ausführte – die preußische Verfassung der Kammer 53

zwar eine Meinungsäußerung in außenpolitischen Fragen zugestand, nicht aber ein praktisches Eingreifen. Jenseits der Differenzen zwischen Regierung und liberaler Parlamentsmehrheit macht dieser Vorgang jedoch erneut deutlich, dass der kritische Punkt der italienischen Frage aus preußischer Sicht die Abhängigkeit Piemonts bzw. Italiens von Frankreich war. Aber genau an diesem Punkt lag auch – wie Vincke nachdrücklich betonte – der innere Widerspruch der preußischen Politik. Durch die Zurückweisung eines Bündnisses mit dem Königreich Sardinien-Piemont stärkte Preußen dessen Bindung an Frankreich statt sie zu durchbrechen. Es blieb die Frage Venetiens. Die Gegner des Antrags fürchteten, seine Annahme werde Italien zur Einnahme Venetiens ermuntern, das viele als einen strategisch wichtigen Teil des Deutschen Bundes betrachteten, ganz zu schweigen von anderen Territorien (Triest und Südtirol), die man als integralen Bestandteil des Bundes betrachtete. Die Befürworter des Antrags dagegen betrachteten es keineswegs als vorweggenommene Billigung der Eroberung Venetiens, das in ihren Augen aber ohnehin für die Verteidigung Deutschlands als Ganzes nur einen begrenzten Wert besaß. Cavour, der sich des Zusammenhangs zwischen der Frage Venetiens und der Abhängigkeit von Frankreich bewusst war, verwahrte sich gegenüber dem preußischen Gesandten gegen die unhaltbaren Unterstellungen der Presse über die angebliche „Absicht [Piemonts], Frankreich an den Rhein vorstoßen zu lassen, um Venetien zu gewinnen. Ich muss Ihnen jedoch gestehen, falls ein allgemeiner Krieg ausbräche, in dem Österreich (woran ich zweifle) bündnistreu genug wäre, die Hälfte seiner Truppen zu Ihrer Verteidigung am Rhein einzusetzen, sollten Sie mich nicht für so tugendhaft halten, mir diese Gelegenheit zur Eroberung Venetiens entgehen zu lassen, wenn ich die Hoffnung auf ein friedliches Erreichen dieses Ziels hätte aufgeben müssen. Dies nicht zu tun, wäre Verrat an meinem Vaterland, das sich so lange nicht vollständig von Frankreich lösen kann, solange es dessen Hilfe gegen die vom Quadrilatero ausgehenden Gefahren benötigt.“

In diesem Zusammenhang ist die Frage des Ungarnaufstandes und das italienische Hilfsversprechen für die ungarischen Flüchtlinge erwähnenswert, von denen anlässlich des Krieges von 1866 wieder die Rede sein sollte. In einem Brief vom 27. August 1860 schrieb Cavour darüber: „Die ungarische Frage ist für uns von außerordentlicher Bedeutung, denn sie ist aufs engste mit der unseren verknüpft. Ohne die Unterstützung Ungarns ist die Eroberung des Quadrilatero äußerst schwierig, obwohl man sie versuchen muss, nicht nur um Italien von den Deutschen zu befreien, sondern, um es vor der revolutionären Anarchie zu 54

bewahren.“ Einige Monate später äußerte sich Cavour gegenüber dem Botschafter in Paris, Ottaviano Vimercati, dazu folgendermaßen: „Seit dem Krieg von 1859 unterhalten wir enge Beziehungen zu den ungarischen Emigranten. Diese Beziehungen hatten jedoch bis zum letzten August keinerlei politische Auswirkungen. Da Österreich zu diesem Zeitpunkt eine drohende Haltung annahm und die Entwicklung, die sich in Süditalien vollziehen musste, in eine Krise treiben konnte, hielt ich es für angebracht, mich mit den Führern der ungarischen Emigranten ins Benehmen zu setzen. Kossuth und Klapka kamen nach Turin. Wir kamen überein, ihnen Geld zur Verfügung zu stellen, die Aufstellung einer ungarischen Legion zu unterstützen und die Lieferung von Waffen zu erleichtern, die Garibaldi General Thur überlassen hatte. Die Ungarn ihrerseits versprachen, nur mit unserer Zustimmung einen Aufstand zu entfachen. Darüber hinaus war vereinbart, dass wir nur in Übereinstimmung mit Frankreich handeln und außer im Falle eines österreichischen Angriffs nichts ohne dessen Zustimmung unternehmen würden. Falls der österreichische Kaiser seine Repressionspolitik, die er seit seiner Thronbesteigung verfolgt hatte, fortführen würde, rechneten wir nach diesem Abkommen im Frühjahr mit dem Ausbruch eines allgemeinen Aufstandes in Ungarn und allen slawischen Gebieten des Kaiserreichs, den wir dadurch mit ganzer Kraft unterstützen würden, dass wir Österreich in Venetien und Istrien angriffen. In diesem Fall hätte Garibaldi eine wichtige Rolle spielen müssen. Ihm wäre der Feldzug in Istrien anvertraut worden.“

Danach aber – so fährt der Brief fort – führten die Zugeständnisse Wiens die „ungarische Revolution in ein legales Fahrwasser“, das man durch einen Waffengang zum falschen Zeitpunkt nicht gefährden wolle. Abschließend sei noch einmal Alfonso La Marmora erwähnt, der – als Ministerpräsident und Oberbefehlshaber – 1866 gedrängt wurde, den letzten Plan Cavours zu verwirklichen: zeitgleich mit einem möglichen ungarischen Aufstand Venetien (aber auch Triest, Südtirol und Istrien) durch ein kühnes militärischen Vorgehen zu erobern. La Marmora lehnte beides – wie wir sehen werden – ab. Bereits im März 1861 äußerte er sich im Laufe einer hitzigen parlamentarischen Debatte über die schwierige Frage der Eingliederung der Freiwilligen Garibaldis ins reguläre Heer äußert hart über die Garibaldiner und wurde dafür heftig kritisiert. Cavour bemerkte dazu: „La Marmora hatte einen bedauernswerten Auftritt. Aber Sie kennen ihn ja: Je mehr er im Unrecht ist, desto weniger lässt er sich zur Vernunft bringen“. Dieses niederschmetternde Urteil bestätigte sich fünf Jahre später, als La Marmora den Krieg von 1866 politisch und diplomatisch falsch vorbereitete und militärisch fehlerhaft führte.

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Der konservative Bismarck steht auf der Seite des „revolutionären“ Italien Als der Krieg von 1859 ausbrach, korrespondierte Otto von Bismarck als preußischer Gesandter in Sankt Petersburg mit zahlreichen hochrangigen Persönlichkeiten des politischen Lebens in Berlin, mit denen er die denkbaren Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf Preußen erörterte. Aus den Briefen lässt sich keine besondere Sympathie oder Antipathie für Piemont ablesen, doch sie sind beherrscht von einer realpolitischen Sichtweise, die dem Königreich Sardinien-Piemont eine zwar untergeordnete, aber nicht zu unterschätzende Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Österreich beimisst; gleichzeitig eröffnet sich für Bismarck die interessante Perspektive eines Bündnisses mit Preußen. Über Italien hinaus lässt sich an den ausgewählten Stellen unmittelbar ablesen, wie sich Bismarcks politische Strategie allmählich konkretisiert. Nach Ausbruch des „italienischen Krieges“ berichtete Bismarck Außenminister Schleinitz von Sankt Petersburg aus über die Haltung Russlands, damit sich die preußische Regierung darauf einstellen konnte. Russland – so referiert er – werde eine Niederlage Frankreichs gegen Österreich nicht tolerieren, da es in diesem äußerst riskanten Spiel im Erfolgsfall einen hohen Gewinn erzielen könne: „Wenn es ihm [Österreich] gelänge, die ausschließlich unter österreichischen Impulsen entstandene und durchweg österreichisch gefärbte deutsche Bewegung siegend gegen Frankreich, vielleicht gar mit unserer Hilfe bis Paris zu führen, so würde Österreich nicht nur die unbedingte Herrschaft über Italien, sondern auch [. . . ] eine so dominierende Stellung in Deutschland gewinnen, dass Preußen auf lange Sicht in den Schatten und in die zweite Linie gestellt wäre.“ Nachdem er die Vor- und Nachteile für Preußen erwogen hatte, falls der Krieg auf Italien beschränkt bleiben oder sich zu einem allgemeinen Krieg ausweiten würde, kam Bismarck zu folgendem Ergebnis: „Ich ziehe daraus den Schluss, dass wir die Teilnahme am Krieg insoweit vermeiden müssen, als wir sie nicht zu einer vorteilhaften Umgestaltung unseres Bundesverhältnisses benutzen können oder wollen; dass wir ferner ein Interesse haben, den Sieg Österreichs über Frankreich ebenso wenig zuzulassen als eine Verletzung des deutschen Territoriums durch Frankreich.“ Sich nicht an dem Konflikt zu beteiligen, entsprach jedoch in Wirklichkeit nicht ganz den Vorstellungen Bismarcks. Sehr viel expliziter äußerte er sich einige Tage später brieflich gegenüber dem Adjutanten 56

des Prinzregenten, Gustav von Alvensleben. Im Falle eines österreichischen Sieges in Italien würde Österreich, so argumentiert Bismarck, die unbeschränkte Herrschaft über den Stiefel ausüben und Piemont zu einem Vasallenstaat wie die Toskana und die Lombardei degradieren. Gleichzeitig bedeute dies die vollständige Hegemonie Wiens auch in Deutschland. Die österreichischen Kriege würden deutsche Kriege und die deutschen Heere die Reservearmee der österreichischen Politik. Die geschickte Lüge, dass ausschließlich die Interessen Österreichs die Interessen jedes einzelnen deutschen Staates repräsentieren, würde zum Inhalt der deutschen Institutionen werden. Deshalb empfiehlt Bismarck eine Art Parallelkrieg: „Die gegenwärtige Lage hat wieder einmal das große Los für uns im Topf, falls wir den Krieg Österreichs mit Frankreich sich scharf einfressen lassen und dann mit unsrer ganzen Armee nach Süden aufbrechen, die Grenzpfähle im Tornister mitnehmen und sie entweder am Bodensee oder da, wo das protestantische Bekenntnis aufhört vorzuwiegen, wieder einschlagen.“ Nach Bismarcks Ansicht warteten außerhalb Preußens achtzehn oder ohne die katholischen Bayern und Oberschwaben mindestens vierzehn Millionen Deutsche nur darauf, zu Preußen zu gehören, und würden unter seiner Führung lieber ins Feld ziehen als unter ihren einstigen Herrschern, vor allem dann, wenn der Prinzregent ihnen den Gefallen tue, „das Königreich Preußen in Königreich Deutschland umzutaufen“. Auch wenn das für Bismarck „das sicherste Spiel ist, was wir spielen können“, so weiß er sehr wohl, dass ein solches Vorgehen allzu abenteuerlich aussähe. Dennoch sollte man seiner Meinung nach den günstigen Augenblick beim Schopfe packen, um den Zustand des Deutschen Bundes zu verändern, der Preußen „keine würdige Stellung und keine unseren Pflichten und unserer Macht entsprechenden Rechte gewährt“. Bismarck war acht Jahre lang preußischer Vertreter beim Sitz des Deutschen Bundes in Frankfurt gewesen und zog nun eine negative Bilanz dieser Erfahrung. Die Institutionen des Bundes, die ausschließlich dem Interesse Österreichs dienten, schrieb er an Außenminister Schleinitz, seien für Preußen eine drückende Fessel in Friedenszeiten und eine Gefahr in Kriegszeiten. Ganz Deutschland müsse sich davon befreien und sich ohne Österreich vereinen: „Das Wort ,deutsch‘ für ,preußisch‘ möchte ich gern erst dann auf unsere Fahne geschrieben sehen, wenn wir enger und zweckmäßiger mit unseren Landsleuten verbunden wären als bisher; es verliert von seinem Zauber, wenn man es schon jetzt in Anwendung auf seinen bundestäglichen Nexus abnutzt. 57

[. . . ] Ich sehe in unserem Bundesverhältnis ein Gebrechen Preußens, das wir früher oder später ferro et igni werden heilen müssen.“ Deutlicher hätte sich Bismarck wohl kaum ausdrücken können – und das bereits im Mai 1859. Monate später zeigte Bismarck in einem anderen Brief, dass er auch in der Frage der Gefährlichkeit des französischen Expansionsstrebens gegen den Strom schwamm: „Aus dem Misstrauen, mit welchem ganz Europa ein vergleichsweise so unbedeutendes Vergrößerungsgelüste Frankreichs wie das savoyische aufnimmt, lässt sich wenigstens abnehmen, dass ein so unverhältnismäßiger Machtzuwachs Frankreichs, wie die Rheingrenze gewähren würde, von allen Staaten, auch abgesehen von ihrem Verhältnisse zu Preußen, lediglich im Interesse des Gleichgewichts, mit dem Schwerte bestritten würde, und dass wir uns von diesem Popanz so sehr nicht einschüchtern zu lassen brauchen. ,La préponderance que donnerait à la France un agrandissement aussi démesuré, ne manquerait pas „d’engendrer“ une coalition de l’Europe entière, qui viendrait nous reprendre ces provinces; cela ne serait qu’un dépôt‘, sagte mir buchstäblich der Kaiser Napoleon im Jahre 1857, und ich halte es noch heute für wahr.“

Diese äußerst wichtige Äußerung lässt erkennen, dass Bismarck seit seiner Begegnung mit Napoleon davon überzeugt war, ein französisches Streben nach der Rheingrenze sei unrealistisch. Diese Sicherheit erlaubte es ihm, sich im nächsten Jahrzehnt zur Verwirklichung seiner Pläne skrupellos die in der öffentlichen Meinung und bei vielen deutschen Politikern verbreitete gegenteilige Ansicht zu nutzen. Eine andere Äußerung über die Rolle Piemonts und damit Italiens verleiht dem Nachdruck: „Wir brauchen deshalb nicht Komplize und Genosse für allerhand verwegene Pläne zu sein; für unsere natürlichen Bundesgenossen, ganz unter vier Augen gesagt, halte ich vielmehr Piemont, gegen Frankreich vorkommendenfalls ebenso wie gegen Österreich. Für Piemont, wenn es sich auf Preußen stützen könnte, würde Frankreichs Allianz aufhören, gefährlich und herrisch zu sein.“ In diesen Worten ist im Kern bereits die ganze Politik Bismarcks nach 1865 enthalten. Auf den stärksten Widerstand stieß Bismarck mit seiner positiven Einstellung gegenüber Piemont bei den ultrakonservativen Brüdern von Gerlach, die einst seine engen Freunde und Förderer gewesen waren. Leopold von Gerlach berichtete seinem Bruder Ernst Ludwig über eine Äußerung Bismarcks, die ihm zugetragen worden war: „Die Zeiten der heiligen Allianz sind vorbei, daran hängen nur noch die ,Gerlachs‘, mit Russland ist nichts anzufangen, es ist mit sich selbst beschäftigt, England ist unzuverlässig, und Österreich hat uns nur Perfidien gemacht, Bonaparte ist ein kluger Mann, den man nicht erzürnen muss und die Franzosen eine ausgezeichnete Nation.“ Gerlach zieht daraus die 58

drastische Schlussfolgerung, Bismarck argumentiere wie Cavour: „Kurz gesprochen, so ist Bismarcks Politik die von Cavour, wenn man statt Savoyen Rheinland und statt Toskana, Modena, Parma, Hannover, Hessen usw. setzt. Den Papst kann man allenfalls mit Österreich vergleichen.“ Einige Monate später erläuterte Bismarck Leopold von Gerlach seine Haltung in einem langen Brief, der sich wie ein Vortrag über Realpolitik liest: „Sie wollen grundsätzlich mit Bonaparte und Cavour nichts zu tun haben; ich will nicht mit Frankreich oder Sardinien gehen, nicht, weil ich es für Unrecht halte, sondern, weil ich es im Interesse unserer Sicherheit für bedenklich halte. Wer in Frankreich oder Sardinien herrscht, ist mir dabei, nachdem die Gewalten einmal anerkannt sind, ganz gleichgültig, und nur eine tatsächliche, keine rechtliche Unterlage. Mit meinem eigenen Lehnsherrn stehe und falle ich, auch wenn er meines Erachtens sich töricht zugrunderichtete, aber Frankreich bleibt für mich Frankreich, mag Louis Napoleon oder Ludwig der Heilige dort regieren, und Österreich bleibt mir Ausland. [. . . ] ich fühle keine Verantwortlichkeit für auswärtige Zustände in mir.“

Gegenüber dem vorhersehbaren Einwand des Adressaten, man dürfe die Dinge nicht derart trennen und müsse auch in der Außenpolitik moralische Verantwortung und Anstand wahren, erwidert Bismarck: „Vom Standpunkt der politischen Nützlichkeit lässt sich hierüber diskutieren; wie Sie aber den Unterschied stellen zwischen Recht und Revolution, Christentum und Unglauben, Gott und Teufel, so kann ich nicht mit Ihnen diskutieren, sondern einfach sagen, ich bin nicht Ihrer Meinung [. . . ]“ Die Freimütigkeit dieser Zeilen zeugt von den längst unüberwindlichen Meinungsverschiedenheiten. Besonders deutlich ist der Unterschied der Einschätzung über Napoleon III., den von Gerlach (nach Bismarcks Meinung) „überschätzt“, da er ihn zu Unrecht in einer Linie mit Napoleon I. sehe. Bismarck versteht zwar den tief sitzenden Hass, den viele Deutsche dem neuen Napoleon entgegenbringen, er respektiert ihn aber nur, wenn dieser Hass nicht von feiger Angst begleitet ist: „Diesem feigen Hass trete ich entgegen, wie ich kann, und schimpft man mich dafür Bonapartist, so lasse ich mir’s gefallen. Ich fühle mich frei vom Laster der love of approbation.“ Leopold von Gerlach lässt sich nicht überzeugen und geht im August im nächsten Brief an seinen Bruder auch auf Italien ein: Er ist der Meinung, „dass es eine völlig falsche Rechnung ist, wenn man glaubt, in Garibaldi und Cavour Gegner und Gegengewichte gegen Bonapartes Despotismus zu finden. Schon Hobbes hat den bornierten Engländern entwickelt, wie die Basis des Despotismus le suffrage universel ist. Garibaldi und Cavour sind und bleiben Bonapartes Alliierte.“ 59

In der Zwischenzeit überschlugen sich in Italien die Ereignisse und wurden immer unübersichtlicher: Garibaldi eilte mit seinen Tausend von Sieg zu Sieg, piemontesische Truppen fielen im Kirchstaat ein, die Frage Venetiens stellte sich erneut, und noch viel gefährlicher die Frage Roms, wo Frankreich als Garant der päpstlichen Herrschaft auftrat. Es gab Gerüchte über mögliche Manöver Habsburgs. Bismarck verfolgte die Entwicklung von Sankt Petersburg aus. Er war beunruhigt darüber, dass sich Preußen – wenn auch nicht schriftlich und nicht in offizieller Form – zur Unterstützung Österreichs verpflichtet hatte, falls Frankreich in Italien eingreifen würde: „Hat Österreich die Sicherheit, dass wir für Venedig eintreten werden, so wird es den Angriff Frankreichs zu provozieren wissen [. . . ] Seit der Garibaldinischen Expedition geht die Wiener Politik dahin, es in Italien so schlimm wie möglich werden zu lassen, damit dann, wenn Napoleon selbst es nötig finden werde, sich gegen die italienische Revolution zu wahren, allseitig eingeschritten und der frühere Zustand annähernd hergestellt werde. Diese Rechnung mit und auf Napoleon kann sehr trügen.“

Anfang September 1860 verurteilte Bismarck die preußische Außenpolitik erneut als schwach, schwankend und von Österreich gegängelt. In einem Rückblick auf das vergangene Jahr (1859) geht er sogar so weit zu sagen, Preußen wäre ohne den Frieden von Villafranca in einen Krieg mit Frankreich hineingezogen worden, dessen Ausgang völlig ungewiss gewesen wäre und dessen Früchte im Falle eines Sieges der deutschen Truppen ausschließlich Österreich und die mittelgroßen Staaten des Deutschen Bundes hätten ernten können. Im Bezug auf die Ereignisse des Sommers war Bismarck davon überzeugt, dass Kaiser Napoleon vom Erfolg Garibaldis und dem Zusammenbruch des Königreichs Neapel wirklich überrascht wurde und in großer Verlegenheit war, wie er sich verhalten solle. Das Königreich Sardinien-Piemont wurde mit Protestnoten vieler europäischer Staaten über seine „Eroberungspolitik“ überhäuft. Frankreich und Russland zogen ihre Botschafter aus Turin ab. Preußen wusste nicht, wie es sich verhalten sollte. Bismarck drängte, obwohl er kein Regierungsamt innehatte, den Außenminister dazu, den preußischen Gesandten nicht abzuberufen. Er schlug vor, Sardinien-Piemont ein freundlicheres Gesicht als bisher zu zeigen, ohne aber prinzipielle Zustimmung zu dessen „Eroberungspolitik“ erkennen zu lassen. Man müsse sich – wie stets – nicht an den Rechten der Neapolitaner, der Franzosen und Österreicher orientieren, sondern sich fragen, was für die Sicherheit und Macht Preußens vorteilhafter sei:

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„Unser Königshaus und unser Staat wurzeln in dem Boden eines treuen Volkes und eines guten Heeres, und weder die Treue des einen, noch die Güte des anderen hat etwas mit der Frage zu tun, ob wir in Italien für die legitimistische Doktrin eingetreten sind oder nicht. Ich kann mich in der Prämisse irren, dass es für Preußen heilsam sei, wenn sich im Süden zwischen Frankreich und Österreich ein kräftiger italienischer Staat bildet; aber ich bin von der Wahrheit derselben durchdrungen [. . . ]“

In Berlin kam es zu einer Regierungsumbildung. Dem neuen Außenminister Graf Albert von Bernstorff schickte Bismarck 1862 einen langen „vertraulichen Bericht“ , in dem er auf die Lage in Italien einging. Das neu entstandene Königreich Italien war mit einiger Verzögerung von England und Frankreich anerkannt, von Preußen dagegen nach dem Vorbild Russlands und anderer Staaten des Bundes nur als feststehende Tatsache hingenommen worden. Bismarck erläuterte die Position des russischen Außenministers Alexander Michailowitsch Gortschakow, der das Königreich Italien zwar nicht anerkannte, sich aber weiterhin für einen den europäischen Mächten gegenüber neutralen italienischen Bundesstaat aussprach. Diese Lösung, die von einer europäischen Konferenz bestätigt werden müsse, würde auch das Problem Venetien lösen. „Die heutigen Italiener seien [laut Gortschakow] für eine kriegerische Machtentfaltung nicht geeignet und von tiefer Abneigung gegen das piemontesische Soldatenregiment beseelt. Ihre nationale Begabung weise sie mehr darauf an, eine hohe Entwicklung der friedlichen Errungenschaften europäischer Zivilisation zu erreichen und auf dem Gebiete der Künste und Wissenschaften eine befruchtende Tätigkeit, wie seit Jahrhunderten, so auch ferner zu üben; er glaube, dieser ihrer nationalen Bestimmung würden sie unter einer föderativen Verfassung besser genügen als unter der einheitlichen Herrschaft der sardinischen Regierung. Seiner Meinung nach werde das Schicksal Italiens endgültig nur auf einem Kongress entschieden werden.“

Ein solcher Kongress könnte einem föderativen Italien einen mit der Schweiz und Belgien vergleichbaren Status der Neutralität garantieren, „damit die Hilfsquellen Italiens aufhörten als ,appoint‘ in den politischen Berechnungen anderer Mächte zu figurieren. Sollte Österreich der Verwirklichung dieses Systems Venetien zum Opfer bringen müssen, so würde er ,ne pas rompre beaucoup de lances pour a lui conserver‘.“ Natürlich würde die Neutralität Italiens Österreich dazu bringen, sich auf den Donauraum zu konzentrieren, und zum Konflikt mit Russland führen, aber für den russischen Minister wäre es für Europa ein großer Vorteil, wenn Italien nicht mehr Schlachtfeld auswärtiger Mächte sei. Bismarck verbarg hier seine Skepsis gegenüber der Vorstellung, Italien könne ein Staatenbund werden, der sich der Pflege der Kunst und der Wissenschaften widmete und nach außen militärisch neutral blieb, ganz abgesehen von den Nachteilen, die daraus für Preußen 61

erwachsen könnten. Er war der Meinung, der russische Außenminister messe der italienischen Frage im Vergleich zu der des Donauraums ein „ein unverhältnismäßig geringes Gewicht“ bei. Der Grund für diese Haltung sei darin zu suchen, dass Russland die italienische Frage Frankreich überlasse, wo Napoleon III. auch angesichts der jüngsten Entwicklung immer noch den Plan einer Bildung eines italienischen Bundes zu verfolgen scheine. Auch in Italien sei der Unmut über Frankreich gewachsen: Das „dringendste Bedürfnis“ für die Konsolidierung des Königreichs Italien wäre deshalb für Bismarck die der „Emanzipation von Frankreich und dessen Übergewicht“. Wenn Napoleon von einem vereinten Italien träume, das sich einem Bündnis lateinischer Völker unter französischer Führung anschließe, so mache er einen großen Fehler: „Sobald der neue Staat glauben wird, ohne seinen Beschützer bestehen zu können, wird er sich durch kein Gefühl nationaler Dankbarkeit abhalten lassen, gegen die Bevormundung zu reagieren, und wird notwendig in die Rolle eines wegen Bedrohung seiner Unabhängigkeit misstrauischen Nachbarn dem mächtigeren und anspruchsvollen Frankreich gegenüber verfallen.“ Diese Thesen hatte Bismarck schon seit Langem aufgestellt, vertrat sie jetzt aber mit noch mehr Nachdruck: „Vom Standpunkt der politischen Zweckmäßigkeit aber kann ich mich der Überzeugung nicht verschließen, dass die Schöpfung eines lebensfähigen italienischen Reiches ein für Preußen günstiges Ergebnis wäre, und dass wir unsere eigenen Interessen fördern, wenn wir die Selbständigkeit Italiens durch unsere Anerkennung befestigen helfen und uns freundschaftliche Beziehungen mit dem neuen Reiche sichern. England, unser natürlichster Bundesgenosse, ist uns auf diesem Wege bereits vorausgegangen [. . . ]“ Das Experiment des neuen italienischen Staates sei für Europa weniger gefährlich als die Aufrechterhaltung der alten Dynastien. „Ohne fremde Intervention und vorgängige Republikanisierung ist es nicht wahrscheinlich, dass auf dem von Turin aus beherrschten Teile der Halbinsel eine geordnete Regierung außer der piemontesischen sich werde herstellen und erhalten können.“ Einige Tage später griff Bismarck das Thema in einem weiteren Brief an Bernstorff erneut auf und erklärte sogar: „Meiner Überzeugung nach müssten wir das Königreich Italien erfinden, wenn es nicht von selbst entstände.“ Aus dieser Einschätzung ergebe sich zwingend, nicht auf andere deutschen Staaten zu warten, sondern als Vorbild für die anderen das Königreich Italien offiziell anzuerkennen. Bismarck versteht zwar die Schwierigkeiten des preußischen Königs, die Rechte der von der ita62

lienischen „Revolution“ verjagten legitimen Dynastien außer Acht zu lassen: „Aber Preußen hat gar keine Reziprozität zu erwarten, wenn es für dieselben [die italienischen Fürsten] einsteht. Weder vom Papst noch von Österreich, noch von den vertriebenen Dynastien haben wir auf Dank zu rechnen, wenn wir ihnen unser Interesse und das Einverständnis mit England opfern. Gestützt auf unsere und Englands Anerkennung hat der neue Staat einige Bürgschaft des Bestehens [. . . ], so hängt daran vielleicht der ganze Bestand des status quo in Italien. Bricht derselbe zusammen, so eröffnet sich eine weite Perspektive von Krieg und Unruhen, wie dies Ricasoli m.E. nicht mit Unrecht Herrn von Brassier [dem preußischen Gesandten in Piemont] entwickelt hat. Ich kann mich überhaupt nicht recht von der Richtigkeit der Theorie überzeugen, dass die Anerkennung eines neuen Staates irgendwelche rechtliche Billigung der Art, wie derselbe entstanden ist, in sich schließe; sie besagt vielmehr nur, dass man der neuen Regierung eine hinreichende Dauer zutraut, um im Interesse der eigenen Untertanen die regelmäßigen Geschäftsbeziehungen mit ihr einzurichten.“

Am 9. Juli 1862 teilte Bismarck seinem Chef in Berlin mit, dass Russland seine Einstellung zum Königreich Italien geändert habe und es anerkennen werde. Damit verwende sich Russland nicht für die Eingliederung Venetiens oder Roms in das neue Königreich, ganz im Gegenteil betone Gortschakow nachdrücklich, er warne Italien vor riskanten Manövern und empfehle, endgültig von den „revolutionären Methoden“ Abschied zu nehmen. Am 31. Juli 1862 erkannte endlich auch Preußen das Königreich Italien an. Am 23. September wurde Bismarck zum Minister und vorläufigen Vorsitzenden des Staatsministeriums ernannt. Am 8. Oktober erfolgte die endgültige Ernennung zum Ministerpräsidenten und Außenminister. Damit begann eine neue Phase der Beziehungen zwischen Preußen und Italien.

Deutsche Publizisten und Historiker über die italienische Einigung Nachdem wir uns mit den Reaktionen der offiziellen Politiker Preußens und des künftigen starken Mannes, Otto von Bismarck, auf die Entwicklung in Italien beschäftigt haben, werfen wir nun einen kurzen Blick auf die deutsche Publizistik in einer Zeit, in der die öffentliche Meinung als Rahmen und (direkter oder indirekter) Bezugspunkt der Politik selbst immer mehr in den Vordergrund rückte. Diese Analyse führt uns zeitlich wieder zurück und macht einige Wiederholungen unvermeidlich. 63

Im Jahr 1859 entdeckte die öffentliche Meinung in Deutschland erstmals das politische Italien, das das idealisierte Bild des „bel paese“ als Erbe der Kultur von Antike und Renaissance überlagerte. Weite Kreise der liberalen Öffentlichkeit hegten Sympathie für die anscheinend vom Volk getragene, nüchterne und aktive italienische Nationalbewegung. Besondere Wertschätzung brachte man Piemont entgegen, seiner parlamentarischen Verfassung und Cavour, der als Staatsmann hohes Ansehen genoss. Neben ihm fand natürlich Giuseppe Garibaldi große Beachtung, der als charismatische Persönlichkeit galt (ein Ausdruck, der allerdings nicht gebraucht wurde, man sprach stattdessen vom Zauber oder der „Dämonie“ seiner Person). Giuseppe Mazzini dagegen stand man wegen seines angeblich abstrakt-doktrinären Republikanismus misstrauisch bis feindselig gegenüber, die Vertreter der demokratischen Linken in Deutschland waren natürlich anderer Meinung. In den konservativen, antiliberalen, legitimistischen und klerikalen Kreisen dagegen überwog ein Bild Italiens als verarmtes, heruntergewirtschaftetes und korruptes Land, das den destruktiven Einflüssen extremistischer Minderheiten, den Feinden der verfassungsmäßigen Ordnung und Zerstörern der überlieferten Sitten ausgeliefert war. Der gemäßigte Liberale Cavour wurde als einer der Hauptverantwortlichen für diesen Zustand betrachtet, und nicht zufällig hatte der Ausdruck Cavourismus bei den Ultrakonservativen immer einen sehr negativen Klang. Sowohl die liberale als auch die konservative öffentliche Meinung Deutschlands war besorgt wegen der politischen Abhängigkeit der italienischen Nationalbewegung von Frankreich. Die tatsächliche oder angebliche Instrumentalisierung der italienischen Bewegung durch Napoleon III. betrachtete man als das größte Hindernis für die italienische Politik und besonders für Cavour. Daraus ergaben sich vor allem für die Liberalen schwierige Fragen: Wie konnte man Sympathie mit der italienischen Nationalbewegung hegen, wenn sie militärisch mit Frankreich verbündet war, das – ganz abgesehen von dem zweideutigen bonapartistischen Regierungssystem im Inneren – in Italien die territoriale Integrität des Deutschen Bundes bedrohte und das linke Rheinufer in seine Hand bringen wollte? Die sich überstürzenden Ereignisse im Frühjahr und Sommer 1859 und die rasche Abtretung der Lombardei durch Wien nach den Siegen der französischen und piemontesischen Truppen zerstreuten eine Zeitlang die Sorgen wegen des Rheins und der territorialen Integrität Deutschlands, beschworen jedoch die Frage herauf, wo die neue Süd64

grenze des Bundes liege, am Mincio oder in Triest? Damit stand das Problem Venetien bereits auf der Tagesordnung. Diese komplexe Entwicklung löste eine lebhafte und vielfältige publizistische Debatte unter Journalisten, Historikern und Juristen aus. Von den liberalen Zeitschriften veröffentlichten vor allem die „Preußischen Jahrbücher“, die „Grenzboten“ und die „Wochenschrift“ des Deutschen Nationalvereins umfangreiche Analysen und Diskussionen; bei den radikalen „Demokraten“ oder der demokratischen Linken widmete sich „Das Jahrhundert“ dem Thema, auf Seite der Konservativen dagegen die als „Kreuzzeitung“ bekannte „Neue Preußische Zeitung“. Sowohl die deutsche als auch die italienische Geschichtsschreibung hat sich ausführlich mit den Zeitschriften beschäftigt und sie durch Briefwechsel, Memoiren und Biographien ergänzt, so dass sich eine eingehende Analyse an dieser Stelle erübrigt. Aus der Fülle des Materials gewinnt man den Eindruck, dass das gebildete Publikum und die Politiker über die Ereignisse in Italien ausreichend informiert waren und sich eine eigene Meinung bilden konnten. Wir beschränken uns deshalb darauf, einige Autoren herauszugreifen, die sich besonders mit Cavour beschäftigten, der im Laufe der Zeit immer mehr mit Bismarck verglichen wurde. Wir widmen uns einigen „gemäßigten“ Liberalen, die später zu Nationalliberalen (und implizit zu Unterstützern Bismarcks) wurden. Besondere Erwähnung verdienen die (linken oder radikalen) „Demokraten“, die zwar auf die offizielle preußische Politik keinen Einfluss ausübten, in der italienischen Frage und ganz allgemein im Bezug auf die Rolle Preußens in Europa jedoch Vorstellungen vertreten, die mit denen des „weißen Revolutionärs“ Bismarck übereinstimmten. Zu den ersten und bedeutendsten Publizisten und Historikern, die in den „Preußischen Jahrbüchern“ über Italien schreiben, gehört Hermann Reuchlin. In einer Reihe bereits von Juni bis September 1858 veröffentlichten Artikeln sind alle jene Elemente enthalten, die die Haltung der Zeitschrift künftig charakterisieren: Sympathie für das liberale Piemont Cavours, gleichzeitig aber Misstrauen wegen der Einmischung Napoleons III. Der Autor bezeichnet das kleine stolze Piemont als „italienisches Preußen“, hält jedoch mit Bedauern die Abhängigkeit von französischer Hilfe fest. Wie bereits ausführlich dargestellt, spielte dieser Gesichtspunkt bei den deutschen Intellektuellen eine derart große Rolle, dass daraus eine ganz verfälschte Sicht der italienischen Ereignisse zu entstehen drohte. Angesichts der gemeinsamen französischen und piemontesischen Kriegführung in der Lombardei im Frühjahr 1859 stellten fast alle 65

angesehenen Publizisten, Intellektuellen und Wissenschaftler (Johann Gustav Droysen, Heinrich von Sybel, August Ludwig von Rochau, Heinrich von Treitschke, Max Duncker und Hermann Baumgarten, um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen) reflexartig – wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen – die territoriale Integrität des Deutschen Bundes in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Während sich einige politisch sehr naiv wünschten, dass Österreich die Lombardei freiwillig an Piemont überlasse, gab es jedoch auch Stimmen, die den offenen Bruch mit Österreich herbeisehnten und damit faktisch auf der Linie des konservativen Bismarck lagen, dessen Analyse und Wertsystem auf einer ganz anderen Grundlage fußte. Vor allem die „kleindeutsche“ und daher „großpreußische“ Linke (die auch als autoritär-regierungsfreundliche Linke bezeichnet wurde), die alle spontaneistischen Utopien hinter sich gelassen hatte und entschieden auf die Linie der Macht (und daher auch auf eine starke politische Führung) eingeschwenkt war, sah in der habsburgischen Monarchie ihren Hauptfeind, der vor allem militärisch, und das hieß durch Preußen, bekämpft werden müsse. Trotz seines „unsympathischen Polizeistils“ könne Deutschland nur durch Preußen vor „den Jesuiten und den Reaktionären in der Politik“ bewahrt werden. Mit diesen Thesen unterstrich der Radikaldemokrat Arnold Ruge im „Jahrhundert“ den Unterschied zwischen den österreichischen Interessen in Italien und denen der deutschen Staaten und griff damit auf seine Weise ein Argument der gemäßigten Liberalen auf: Österreich stoße objektiv die revolutionären Erhebungen an, die Cavour unter Kontrolle zu bringen versuche. Die wahre deutsche National- und Befreiungsbewegung habe nichts mit der österreichischen Unterdrückungspolitik zu schaffen. In einem langen Brief an Max Duncker vom Mai 1859 ging Ruge ausführlich auf die radikale Veränderung der preußischen Politik ein, die er erhoffte: „Ich wünsche, dass Preußen die Gelegenheit benutze, zunächst die militärische Hegemonie des außerösterreichischen, des eigentlichen Deutschlands und infolgedessen die politische Hegemonie, wenn nicht die Mediatisierung aller Kleinen zu erreichen. Das Ausschließen Österreichs ist der erste Schritt zu unserer Rettung. Er würde, konsequent und mit der nötigen politischen Freiheit und Kühnheit verfolgt, notwendig zur Einheit führen. Sogar eine feste Konföderierung, ein außerösterreichischer Bund, wäre eine Wahrheit, während der Bund, wie er jetzt ist, immer eine Unwahrheit bleibt, da wir niemals die österreichische Politik haben können und dürfen, und Österreich nie die preußische haben kann.“

Diese Worte könnten von Bismarck stammen. In Wirklichkeit setzen sie allerdings ein den Vorstellungen Bismarcks entgegen gesetztes Preußen 66

der „politischen und geistigen Freiheit“ voraus, auch wenn Ruge zu seiner Verwirklichung sogar eine „Militärdiktatur“ in Kauf nehmen würde. Vor diesem Hintergrund erklärt sich seine Bewunderung für die Bewegung in Italien: „Von der Freiheit wollen sie jetzt gar nicht hören, nur von der Nationalunabhängigkeit, und wenn nicht von der Einheit, doch von einem starken Norditalien. [...] Diese exklusiv-national und unitarische Stimmung machen den Italienern Ehre.“ Deshalb stimmt Ruge der „Diktatur des Königs von Sardinien“ zu. Über die Ereignisse des Jahres 1860 fällt der Historiker Julian Schmidt in den „Grenzboten“ ein sehr ausgewogenes Urteil. Er erklärt sich zwar nicht dazu bereit, den „freibeuterischen Zug“ Garibaldis und den völkerrechtswidrigen Einfall in den Kirchenstaat moralisch zu beschönigen, fordert aber dazu auf, die Vergrößerung des Königreichs Sardinien-Piemont als vollendete Tatsache zu akzeptieren. Ungeachtet des Prinzips der Legitimität warnt er die preußische Regierung davor, in Neapel die bourbonische Herrschaft wiederherstellen zu wollen, die „den Namen der Legitimität mit ewiger Schande bedeckt“ habe. In Italien sei ein neues Königreich entstanden, das sich auf eine neue Legitimität stützen könne. Wie viele andere liberale Publizisten unterstreicht Schmidt die historischen Analogien zwischen den Ereignissen in Italien und der „illegitimen“ Aneignung Schlesiens durch Preußen: „Es ist wahr, die Art wie Sardinien sich vergrößert hat, ist rechtswidrig und verdient Tadel, aber uns fällt es doch auch nicht ein Schlesien herauszugeben; und in unseren Tagen nach der Erfindung der Eisenbahn und des Telegraphen wächst das Gras viel rascher über alte Geschichten als früher.“ In einem weiteren Artikel (vom Frühjahr 1861) wird Schmidt noch deutlicher und fordert die deutschen Moralisten auf, sich ihre eigene Geschichte anzuschauen, wo die deutschen Fürsten im 18. Jahrhundert ihre Landeskinder nach Amerika „verkauften“ oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Napoleon I. paktierten. Kurz: „Wir nehmen an den Erfolgen der Italiener teil, weil dadurch ein neues Prinzip der politischen Moral ins Leben geführt wird.“ Auch in der Frage Venetiens rangen sich die deutschen Liberalen schrittweise zu einer klaren Haltung durch: „Die Herrschaft Österreichs über Venetien liegt nicht so sehr im deutschen Interesse, dass wir das Recht hätten, sie mit unserem Gut und Blut zu erhalten.“ In diesem Sinne verlangte Gustav Freytag von der Regierung in Berlin, Wien keine Garantien für Venedig zu geben. Ähnlich argumentierte Schmidt, denn eine Garantie für Venedig würde eine ganze Reihe ähnlicher Entscheidungen nach sich ziehen: Garantien für Ungarn, für die Bourbonen 67

von Neapel, für die Wiederherstellung der ehemaligen Herzogtümer Toskana, Modena und Parma, für die Rückeroberung von Mailand und schließlich für einen Angriff auf Piemont. Sobald Österreich seine alte Stellung in Italien wiederhergestellt habe, werde es seine „nächste natürliche Aufgabe“ sein, auch in Deutschland „reinen Tisch zu machen“. Daher die Schlussfolgerung: „Wie Italien ohne Venedig unfrei, d. h. auf Frankreich angewiesen ist, so ist auch Österreich mit Venedig unfrei, d. h. der natürliche Feind Italiens und dadurch abgelenkt von seiner Aufgabe im Osten, der einzigen, welche es im Interesse Europas verfolgen kann.“ Mit Blick auf das Bündnis zwischen Frankreich und Piemont unterschieden sich die „Grenzboten“ von den „Preußischen Jahrbüchern“ insofern, als diese peinlich berührt waren von der Vorstellung einer „societas leonina“ zwischen Paris und Turin. Die „Grenzboten“ hingegen fanden den Tadel, dass Sardinien sich der französischen Politik in die Arme werfe „bodenlos lächerlich“. In einem 1860 erschienen Artikel entwickelte Freytag darüber hinaus ganz ähnlich wie Bismarck demgegenüber die These, dass ein italienisch-preußisches Bündnis wünschenswert wäre: „Nichts Willkommeneres kann für Preußen im Mittelmeer heraufwachsen als eine Macht, deren natürlicher Feind das übergreifende Frankreich und die despotischen Überlieferungen der alten spanischen Monarchie sind. Die zweideutige Protektion, welche Frankreich dem Turiner Kabinett noch gewährt, naht ihrem Ende. Der Tag ist vorauszusehen, an welchem die italienische Bewegung so weit gestiegen ist, dass Frankreich mit offener oder versteckter Feindseligkeit gegen sie arbeitet. Sobald diese Empfindung in Italien allgemein wird, ist die Stunde einer Annäherung zwischen Preußen und Piemont gekommen.“

Für den Realismus und die Übereinstimmung mit Bismarcks Ansichten ist auch ein weitere Passus interessant: „Wir sind keine Gegner des Kaisers, wir lieben ihn nicht, wir hassen ihn auch nicht [. . . ] Er vermag schwerlich unsere Zuneigung für sich zu gewinnen, er vermag schwerlich unsere Furcht zu erregen. Er ist uns aber sehr lehrreich gewesen.“ Ein kurzer Blick auf die konservative Publizistik zeigt, dass sie in Übereinstimmung mit Österreich gegen die italienische Nationalbewegung eine dauerhafte und unüberwindliche Feindschaft hegte. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr hatte Österreich 1859 im Vorfeld eine Pressekampagne eingeleitet und zu seinen Gunsten dynastisch-legitimistische, historische, militärstrategische und nicht zuletzt religiöse Gründe ins Feld geführt. Wien zögerte dabei nicht, moralische oder moralisierende Argumente zu benutzen, denn man verleumdete das italienische Volk und vor allem die neu entstehende na68

tionale Elite des Landes mit dem Vorwurf des Verrats, der Korruption, der Böswilligkeit, der mangelnden Kirchentreue und der Gewaltbereitschaft. Diese Themen fanden ein breites Echo nicht nur in den klerikalen Zeitschriften, sondern auch in den führenden Presseorganen der Konservativen in Preußen. In den Augen der Ultrakonservativen war der Krieg von 1859 ein Kampf zwischen dem Europa der Tradition und dem der Revolution, zwischen legitimem historischen Recht und der systematischen straflosen Usurpation im Namen der Religion. Piemont erschien als willfähriges Werkzeug des Bonapartismus und damit des revolutionären Prinzips in seiner gefährlichsten Form als Absolutismus, der sich auf die Volkssouveränität stützt. In alldem verband Cavour die Methoden einer alten Militärmonarchie mit denen einer zügellosen Revolution und versah die verabscheuungswürdigsten Vergewaltigungen von Recht und Gesetz mit dem Anstrich des Liberalismus. Seine Politik galt den Konservativen als diabolische Verschmelzung machiavellistischer Außenpolitik mit autoritärer Innenpolitik und wurde mit den treffenden Neologismen Cavourismus und Cavourilla diskreditiert. Zum Abschluss werfen wir noch einmal einen Blick auf die liberale Publizistik. Ende Oktober schrieb der Historiker Sybel, dass Garibaldis Zug nach Süden die politischen Qualitäten Cavours erst im rechten Licht erscheinen ließen: „Was mich betrifft, so bin ich Garibaldis Operationen mit etwas geteiltem Herzen, der Intervention Piemonts aber mit voller Teilnahme gefolgt. Was das Schwerste in allen revolutionären Bewegungen ist, das Heft in der Hand zu behalten und inmitten alles Getümmels Autorität zu bewahren, scheint mir Cavour im fest ergriffenen Moment geleistet zu haben.“ Diesen Zusammenhang sehe die preußische Regierung nicht, da sie in ihrer Ablehnung und ihrem Misstrauen gegenüber Piemont gefangen bleibe. Europa müsse Cavour stattdessen dankbar sein, denn er habe inmitten des Aufruhrs ein Banner errichtet, in dessen Zeichen die Rückkehr zur Ordnung zumindest möglich sei: „[. . . ] welch ein Interesse hätten wir für die Erhaltung des Kirchenstaats oder der neapolitanischen Bourbonen?“, fragt sich Sybel. In diesem Kontext erschien die „Diktatur“ Cavours in einem positiven Licht, die an preußische Qualitäten erinnerte: „Cavour revolutioniert die italienischen Nachbarlande, aber soweit einmal piemontesische Herrschaft eingerichtet ist, waltet eine an Diktatur grenzende Autorität, eine oft harte, preußisch stramme Ordnung.“ Deshalb fehlte auch der Hinweis auf Machiavelli selten. In den „Grenzboten“ wurde Cavour deshalb einfach als typischer Italiener der „alten Schule Machiavellis“ bezeichnet. 69

Besonders schätzte man an ihm die Verbindung seiner „diktatorischen“ Politik mit seiner persönlichen Herzlichkeit und seinem weltgewandten Auftreten. Nach dem plötzlichen frühen Tod des piemontesischen Staatsmannes hob Duncker lobend seinen „menschlichen und leicht zugänglichen Liberalismus“, sein gewinnendes Auftreten und die einnehmende Art seiner Rede hervor. Andere Beobachter stellten fest: Auch wenn seine Gesprächspartner und Gegner mehr äußere Macht und Temperament besaßen, so beherrschte er sie doch durch seine geistigen Fähigkeiten; Europa sei nicht so reich an großen Männern, dass es den Verlust leicht hätte verschmerzen können. Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass das positive Bild Cavours bei den Liberalen zwar von liberalen Grundwerten geprägt war, dass man an ihm aber vorwiegend seine Fähigkeit schätzte, mit starker Hand zu führen und die als Radikalismus und Extremismus gefürchtete demokratische „Revolution“ zu bändigen. Cavour verkörperte den entscheidungsfreudigen Liberalismus. Aufgrund dieses inneren Widerspruchs vermochte der illiberale Bismarck – trotz der Unvereinbarkeit der von ihm verkörperten politischen Wertvorstellungen mit denen der Liberalen – 1862 die Liberalen auf seine Seite ziehen, denn er war in der Lage die Fragen zu lösen, die die Liberalen selbst lähmten. Bismarck setzte sich mit Nachdruck für den deutschen Nationalgedanken ein und konnte dafür die Macht des preußischen Staates ins Feld führen, der den beiden feindlichen Mächten, Österreich und Frankreich, gewachsen war. In den folgenden Jahren lag den deutschen gemäßigten Liberalen nicht mehr die Durchsetzung und Weiterentwicklung eines liberalen politischen Systems am Herzen, das ihnen zwar von Repression bedroht, aber nicht ernsthaft in Gefahr schien, sondern die nationale Einigung. Zuerst die Einheit und dann die Konsolidierung und Erweiterung der Freiheitsrechte: Diese Strategie lähmte allerdings auf lange Sicht den deutschen Liberalismus selbst.

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3. Die deutsche Einigung „mit Eisen und Blut“. Die Kompromisse der Liberalen Bismarck als „Konfliktminister“ und die Probleme der Liberalen „Bismarck-Schönhausen bedeutet: Regieren ohne Etat, Säbelregiment im Innern, Krieg nach außen. Ich halte ihn für den gefährlichsten Minister für Preußens Freiheit und Glück.“ Mit diesen Worten kommentierte Max von Forckenbeck, einer der führenden Vertreter der Fortschrittspartei, am 24. September 1862 die Ernennung Otto von Bismarcks zum neuen preußischen Ministerpräsidenten. Der Junker, der 1849 an der Spitze des „wahren preußischen Volkes“ gegen die demokratische Revolution zu marschieren bereit war, stand nun als preußischer Ministerpräsident einer starken liberalen Opposition gegenüber. Mit seinen ersten Stellungnahmen bestätigte er die Befürchtungen seiner Gegner. Am 30. September hielt er vor der Budgetkommission die berühmte „Eisen und Blut“-Rede. Parlament und Regierung standen sich in der Frage der Heeresreform unversöhnlich gegenüber: „Wenn kein Budget zustande kommt, dann ist tabula rasa; die Verfassung bietet keinen Ausweg, denn da steht Interpretation gegen Interpretation; summum ius, summa iniuria; der Buchstabe tötet.“ Als der Liberale Rudolf Virchow ihm verfassungswidriges Verhalten vorwarf, erwiderte Bismarck, er äußere sich nicht dazu, wie über den Militärhaushalt abzustimmen sei. Da die Verfassung für diesen Fall keine klare Bestimmung enthalte, hielt Bismarck gemäß seiner „Lückentheorie“ das Ministerium nicht nur für berechtigt, sondern sogar dazu verpflichtet, auch ohne genehmigten Haushalt weiter zu regieren. Da er sich auf die Seite des Königs stellte, der fest entschlossen war, lieber abzudanken als die Heeresreform aufzugeben, zielte Bismarck auf eine weitere Stärkung der Rolle des Königs, der nach der preußischen Verfassung ein größeres Gewicht als das Parlament hatte. Von dieser Position der Stärke aus wollte er das Parlament herausfordern: „In Betreff unserer inneren Angelegenheiten ist es meine nächste Absicht, gegen das wachsende Übergewicht des Hauses der Abgeordneten und des parlamentarischen

Beamtentums die Schwerkraft der Krone zu wahren und zu stärken. Ich halte diese Aufgabe für lösbar, ohne mit positiven Bestimmungen der Verfassung zu brechen, und werde dabei bemüht sein, konstitutionelle Empfindlichkeiten, soweit es möglich ist, zu schonen und die unbestrittene Heerstraße des Verfassungslebens, sobald es geht, wieder zu gewinnen, immer aber eingedenk sein, dass unser Verfassungseid ,Treue dem König‘ voranstellt.“

Bismarck wurde so zum „Konfliktminister“. Über die Abgeordneten, mit denen er täglich zu tun hatte, gab er in einem Brief an einen englischen Freund ein sarkastisches Urteil ab: „I hate politics, aber, wie Du sehr richtig sagst, like the grocer hating figs, ich bin nichtsdestoweniger genötigt, meine Gedanken unablässig mit jenen figs zu befassen. Auch in diesem Augenblicke, während ich Dir schreibe, habe ich die Ohren davon voll. Ich bin genötigt, ungewöhnlich abgeschmackte Reden aus dem Munde ungewöhnlich kindischer und aufgeregter Politiker anzuhören, und habe dadurch einen Augenblick unfreiwilliger Muße, die ich nicht besser nutzen kann, als indem ich Dir von meinem Wohlbefinden Nachricht gebe. Ich habe niemals geglaubt, dass ich in meinen reifen Jahren genötigt sein würde, ein so unwürdiges Gewerbe wie das eines parlamentarischen Ministers zu betreiben. Als Gesandter hatte ich, obschon Beamter, doch das Gefühl, ein gentleman zu sein. Als Minister ist man Helot. Ich bin heruntergekommen und weiß doch selber nicht, wie.“

Bismarck verfolgte nun eine Politik, die von einem seiner bedeutendsten Biographen als „Periode der Diktatur“ bezeichnet wurde, denn er griff zu Einschränkungen der Pressefreiheit und anderen restriktiven Maßnahmen, so dass man sogar einen Staatsstreich fürchtete. Daran wurde allerdings auch in Kreisen des Hofes von verschiedener Seite Kritik laut: Vor allem der Kronprinz machte sich zum Vorkämpfer liberaler Positionen, vermied es jedoch sorgfältig, offen und in der Öffentlichkeit mit seinem Vater und der Regierung in Konflikt zu geraten. Bismarck beugte sich dem Willen seiner Minister nicht, die das Parlament auflösen und Neuwahlen ausschreiben wollten, denn er selbst wollte so lange wie möglich mit dem gelähmten Parlament regieren. Neuwahlen hätten als Eingeständnis der Schwäche der Krone gegolten, die damit zugeben würde, dass sie zum Regieren eine Parlamentsmehrheit benötigte. Aus diesem Grunde war das erste Regierungsjahr für Bismarck eine einzige Abfolge von heftigen Auseinandersetzungen. Doch gerade in dieser Zeit bewies er seine Fähigkeit, nicht nur politisch zu überleben, sondern seine künftige Revanche vorzubereiten. Der Durchbruch gelang ihm nicht so sehr bei den innenpolitischen Fragen der Heeresreform und der Einschränkung der Bürgerrechte, sondern im Rahmen des Deutschen Bundes in der Krise um die Herzogtümer Schleswig und Holstein, denn hier konnte er der (auch liberalen) öffentlichen Meinung die 72

preußische Machtpolitik als den richtigen Weg zur deutschen Einheit präsentieren. Die liberale Partei, die sich als einzige legitime Vertreterin der deutschen Einheitsbewegung verstand, war in die Ecke gedrängt. Vor diesem Hintergrund ist der lange und gewundene Weg zu sehen, auf dem einige der bedeutendsten Wissenschaftler und Publizisten unter den Liberalen so weit kamen, Bismarck zu tolerieren und sein Handeln und seine Person schließlich sogar zu schätzen. Beginnen wir bei dem Historiker, politischen Wissenschaftler und Publizisten Heinrich von Treitschke, der an einen Freund schrieb: „Du weißt, wie leidenschaftlich ich Preußen liebe; höre ich aber einen so flachen Junker, wie diesen Bismarck, von dem ,Eisen und Blut‘ prahlen, womit er Deutschland unterjochen will, so scheint mir die Gemeinheit nur noch durch die Lächerlichkeit übertroffen. Dass die erstaunliche Entschlossenheit des preußischen Volks in einigen Jahren zum Siege gelangen wird und muss, daran ist mir kein Zweifel. Doch leider, einige Jahre Verzögerung können in dieser raschen Zeit die verhängnisvollsten Folgen haben. [. . . ] Der Phrasendunst, den die Österreicher so geschickt aufzuregen wissen, betäubt den gemütlichen Deutschen, und die Menschen gewöhnen sich wieder zu meinen, die nationale Arbeit sei abgetan mit einigen tönenden Reden.“

Kurz gesagt, Treitschke betrachtete den „ränkesüchtigen Junker“ an der Regierung als vollkommen ungeeignet, dem deutschen Publikum das Wesen der Realpolitik näherzubringen. Auch Rochau äußerste sich in der Zeitschrift des Nationalvereins unverblümt: „[Das Land wird] jetzt durch die Berufung des Herrn von Bismarck-Schönhausen gezüchtigt. – Damit ist denn freilich das Strafpersonal, welches der Potsdamer Politik zu Gebote steht, erschöpft. [. . . ] Es ist immerhin möglich, dass Herr v. Bismarck-Schönhausen, seitdem er den öffentlichen Schauplatz mit der diplomatischen Laufbahn vertauscht, Einiges gelernt und Anderes verlernt hat; dass aber aus dem übermütigen Junker nicht etwa ein vollwichtiger Staatsmann geworden, dafür bedarf es keines Beweises.“ Und auch Max Duncker schrieb unmissverständlich: „Er [Bismarck] ist ein Spieler, der die Existenz Preußens, die Existenz der Dynastie ohne Bedenken einsetzt.“ Ein anderer sah schon das Ende der Regierung voraus, und „dass es nämlich ein Ende mit Schrecken sein werde“. Das Ende war keineswegs nahe, denn dem „Konfliktminister“ gelang es, in der Außenpolitik allmählich – wenn auch anfänglich nur passive – Unterstützung auf Seiten der Liberalen zu gewinnen. Freimütig gestand dies einer der Ihren, Johannes Miquel, am 30. Oktober 1864 ein: „Wir hatten zuerst praktisch zu agitieren um Wiederherstellung der Verfassung in Kurhessen, und wer hat den Ausschlag gegeben und geben müssen? Bismarck. Wer hat den Zollverein wiederhergestellt? Es ist 73

unter der Regierung Bismarcks geschehen. Wer hat das österreichische Reformprojekt vereitelt? Bismarck. Wer hat Schleswig-Holstein befreit? Bismarck.“ Der wichtigste der hier aufgezählten Erfolge Bismarcks war ohne Zweifel die „Befreiung“ der Herzogtümer Schleswig und Holstein, die von der dänischen Krone beansprucht wurden. Die Lage in den beiden Herzogtümern war kompliziert, da sie mit Dänemark verbunden und von ihm abhängig waren, von der einheimischen Dynastie der Augustenburger aber als selbständiges Staatsgebilde in den Deutschen Bund eingegliedert werden sollten. Wir beschränken uns an dieser Stelle auf die Feststellung, dass Bismarcks Taktik zum deutsch-dänischen Krieg führte, den Preußen und Österreich gemeinsam im Namen des Deutschen Bundes führten. Daraus ging die gemeinsame Verwaltung der Herzogtümer hervor, die Anlass für ständige Reibereien und eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen den beiden Rivalen im Deutschen Bund wurden. Da es Bismarck gelang, das Streben nach der Einverleibung der Herzogtümer als einen Schritt auf dem Weg zur nationalen Einigung erscheinen zu lassen, waren die Liberalen bereit, ihn im Konflikt mit Österreich, das jede Form der nationalen Einigung hartnäckig ablehnte, zu unterstützen. Der Gegensatz gipfelte im preußisch-österreichischen Krieg von 1866. Zu den Publizisten, die die Einverleibung der Herzogtümer durch Preußen besonders begeistert begrüßten, gehörte Treitschke, der an Theodor Mommsen schrieb: „Ich halte für möglich, dass die Vergrößerung Preußens uns dem Ziele der deutschen Einheit näher bringt. Es ist denkbar – so lächerlich es heute klingen mag – dass in zehn Jahren die Preußen von den Hessen ins Land gerufen werden um eine unverbesserliche Dynastie zu beseitigen. In diesem Falle müssten wir doch wie heute mit Preußen gehen und die Annexion als einen Fortschritt zur Einheit begrüßen.“ 1865 teilten viele Liberale diese Meinung auf die eine oder andere Weise und stellten sich auf die Seite Bismarcks, weil sie seine Politik rückhaltlos als nationale Politik interpretierten. Die Aussicht darauf, dass sich Preußen staatlich und militärisch durchsetzen werde, wurde positiv aufgenommen oder zumindest toleriert, denn man glaubte, nur mit Waffengewalt und durch den Ausschluss Österreichs aus dem Deutschen Bund sei die Einheit zu erreichen. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Mehrheit der Liberalen davon überzeugt war, durch ihre Unterstützung für die nationale Politik Bismarcks und die Tolerierung der übrigen Aspekte dem künfti74

gen Einheitsstaat ihren Stempel aufdrücken zu können. Bismarck schien dieser unausgesprochenen Übereinkunft mit den Nationalliberalen zuzustimmen, denn im konservativen Lager, dem er entstammte, überwog immer noch der Partikularismus der Klein- und Mittelstaaten, die die nationale Einheit ablehnten und mit der habsburgischen Monarchie sympathisierten. Um die öffentliche Meinung gegen Österreich auf seine Seite zu ziehen, musste Bismarck sich den Liberalen annähern. Mit dieser Absicht schlug Bismarck die Lösung des schwierigen Problems der mangelnden parlamentarischen Billigung des Militäretats durch das so genannte „Indemnitätsgesetz“ vor, das im Falle eines preußischen Sieges über Österreich zur Anwendung kommen sollte. Dieses Gesetz sollte die Militärausgaben seit 1862, seit dem Beginn des Verfassungskonflikts, rückwirkend billigen. Als Gegenleistung erkannte die Regierung die Unrechtmäßigkeit ihres Vorgehens in den zurückliegenden Jahren an und bekräftigte das parlamentarische Budgetrecht. Damit waren die liberalen Grundsätze genau in dem Augenblick bestätigt worden, in dem Bismarck mit seiner Politik der Nötigung auf den Krieg zusteuerte. Damit lieferte Bismarck ein Musterbeispiel für Realpolitik, denn er stellte die von den Liberalen im Militäretat bekämpfte Aufrüstung des preußischen Staates so hin, als liege sie im Interesse der deutschen Nation, die den Liberalen besonders am Herzen lag. Ein militärisch starker Staat konnte seiner Meinung nach einen Krieg in großem Stil nicht mehr als Kabinettskrieg, sondern nur im Namen der Nation führen: „[. . . ] da nach der heutigen Situation Europas, nach dem heutigen Stand der Zivilisation es unmöglich ist, aus heimlichen, vielleicht später von der Geschichte zu erratenden Kabinettsgründen große politische und vielleicht sogar kriegerische Aktionen vorzunehmen. Man kann nur aus nationalen Gründen – aus Gründen, die in dem Maß national sind, dass ihre zwingende Natur von der großen Mehrheit der Bevölkerung erkannt wird, Krieg führen, wenigstens meiner Auffassung nach.“ Aus diesem Grunde musste das Problem der Billigung des Militärhaushalts durch ein Entgegenkommen gegen die Liberalen gelöst werden. Verfolgen wir jetzt kurz, wie sich die politische Einstellung des bedeutendsten liberalen Denkers seiner Zeit, Heinrich von Treitschke, entwickelte. Wie bereits erwähnt, hatte er die harte Haltung Preußens in der Frage der Herzogtümer Schleswig und Holstein begeistert begrüßt, und deshalb änderte sich sein Ton gegenüber Bismarck. Dieser Wandel lässt sich aus einem Brief an den Ministerpräsidenten ablesen, in dem es um seine wissenschaftliche Arbeit ging. Die Bitte, das Archiv des 75

Ministeriums („unter den Beschränkungen, die Sie für nötig halten“) benutzen zu dürfen, brachte Treitschke in dem ergebenen Ton eines Wissenschaftlers vor, der seinen guten politischen Willen zeigen will. Von Anfang an betonte er, dass seine historische Arbeit nicht „Preußens innere Zustände“, sondern „nur die gesamtdeutsche Politik und die Wandlungen des geistigen und wirtschaftlichen Lebens der Nation zu behandeln“ habe. Da der Ministerpräsident ihn nicht persönlich kannte, stellt sich Treitschke außerdem vor: „Ich bin liberal, und mein Geschichtswerk wird natürlich den Stempel dieser Gesinnung tragen. Aber ich glaube bewiesen zu haben, dass ich bestrebt bin, mich von den Vorurteilen meiner Partei freizuhalten, und dass mir der preußische Staat und das Recht seiner Selbsterhaltung höher steht als das Parteiinteresse. Überdies habe ich an mir selbst erfahren, dass jeder Unbefangene durch die Betrachtung der Details der Regierungsgeschäfte und ihrer Schwierigkeiten unwillkürlich zu einem billigen, zweckmäßigen Urteile über die Regierenden veranlasst wird. [. . . ] Versprechen kann ich nur das Eine, dass ich in meinem Buche die Wahrheit sagen werde, wie sie sich mir nach den Quellen ergibt, und die Berliner Akten nicht tendenziös zum Nachteile Preußens missbrauchen werde.“

In diesem Brief ist bereits die Verteidigung der Politik der Krone gegen die „falschen landläufigen Meinungen“ angelegt, und Treitschke geht auch schon fast so weit, sich der Regierung zur Verfügung zu stellen. Es ist deshalb wenig überraschend, dass Bismarck ihm sehr wohlwollend antwortete: Sicherlich war der Ministerpräsident der Meinung, ein bekannter begeisterter Freund Preußens wie Treitschke werde der Regierung als Publizist nützlich sein können, wenn eines nicht so fernen Tages der Krieg gegen Österreich ausbrach. Seit den ersten Monaten des Jahres 1866 arbeitete Treitschke mit seinen Freunden und Kollegen Hermann Baumgarten und Theodor von Bernhardi intensiv in den Berliner Archiven. Sein Urteil über den deutschen Liberalismus wurde immer negativer: Er sprach vom „Ruin unseres Liberalismus“ und nahm sich vor, eine „kleine kritische Geschichte des deutschen Liberalismus“ zu schreiben. Diese Idee hatte auch Baumgarten und veröffentlichte 1866 einen Aufsatz mit dem vielsagenden Titel Selbstkritik des Liberalismus. Nach einer kurzen Begegnung mit Bismarck sah sich Treitschke in seinem Urteil bestärkt, dass man zwischen der Außen- und der Innenpolitik (der Bundesreform) der Regierung unterscheiden müsse: „Bismarck hat mir einen sehr angenehmen Eindruck gemacht, persönlich; politisch einen desto schlechteren. Er sprach viel von seinen Bundesreformplänen, so dass ich mich vor Erstaunen über diese phantastischen Tollheiten kaum fassen konnte. [. . . ] Über den Krieg sprach Bismarck sehr gemäßigt und vernünftig; er wünscht ihn nicht, glaubt ihn aber im Notfalle durchsetzen zu können und sieht vollkommen ein, dass

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die Annexion nach allem, was geschehen, eine Ehrensache für Preußen geworden ist.“

Durch Bernhardi kam Treitschke in Kontakt mit den „hohen Herren“ des Außen- und des Kriegsministeriums. Er fühlte sich zwar geschmeichelt, ließ sich jedoch nicht „vereinnahmen“. Offensichtlich versuchten die Mitarbeiter Bismarcks, auf die dafür empfänglichen Liberalen Einfluss zu gewinnen: „Ich denke, man wird [. . . ] im Herbst ebenda stehen, wo wir vor 14 Tagen waren – nämlich an der Schwelle eines Krieges mit Österreich. [. . . ] Der Unwille über Bismarcks innere Politik, den ich vollkommen teile, verführt mich dazu, die dauernden Interessen unseres Staates zu vergessen. [. . . ] Die preußische und die deutsche Geschichte müssen schlechterdings ein Werk sein. [. . . ] Die preußischen Verhältnisse sind geradezu der Schlüssel zu allem, was in Deutschland geschah. [. . . ] Mit Österreich steht es anders; das ist wirklich eine Welt für sich, die nur durch einige lose Fäden mit uns verknüpft ist.“

In einem Ende Mai unter der Überschrift Der Krieg und die Bundesreform erschienenen Aufsatz wird Bismarck von Treitschke als „kühner, aber auch ein vorsichtiger Spieler“ charakterisiert, der trotz „aller Kühnheit und Beweglichkeit seines Geistes ein sehr geringes Verständnis für die sittlichen Kräfte des Völkerlebens“ besitzt. Gleichzeitig hat sich seine Haltung gegenüber Bismarck bereits geändert: „Heute macht die Geschichte mit einem Schlage dem doktrinären Streite über Macht und Freiheit ein Ende. Sie fragt wenig nach unseren Theorien, sie zermalmt den Toren, der das Schicksal mit seinen Wünschen zu meistern wähnt. Der Kampf um die Macht bricht an, und es wäre der Gipfel der Torheit, wenn wir das Parlament, das längst ersehnte, jetzt zurückwiesen, da die einzige Hand, die stark genug ist, es zu verwirklichen, die Krone Preußens, es uns bietet.“ Anscheinend hatte Treitschke seine Meinung über die von Bismarck vorgeschlagene Bundesreform und das allgemeine Wahlrecht geändert, auch wenn er selbst noch davon überzeugt war, dem Ministerpräsidenten nicht nachzugeben, denn er forderte nach wie vor die ausdrückliche Anerkennung des parlamentarischen Budgetrechts und daher das bindende Versprechen, nach einem möglichen Sieg über Österreich die bisher ungelöste Frage der Heeresreform (der Ursache des Verfassungskonflikts der vorangegangenen Jahre) im Einvernehmen mit dem Parlament zu lösen. Diese Stellungnahme verband er allerdings mit der Aufforderung an die Liberalen, keine weiteren Kompetenzen für das Parlament zu fordern, da andere Aufgaben dringender seien. Treitschke verlangte außerdem von den Liberalen, die Politik Bismarcks trotz ihrer offensichtlichen Mängel ernster zu nehmen. 77

Es ist deshalb nicht überraschend, dass Bismarck Treitschke Anfang Juni 1866 nach Berlin einlud, um die preußische Politik publizistisch zu unterstützen, von deren Richtigkeit im Interesse der deutschen Einheit er überzeugt war. Treitschke lehnte das Angebot in einem Brief an den Ministerpräsidenten mit den Argumenten des oben erwähnten, dem Brief beigefügten Artikels dennoch ab. Auch wenn sich der Aufsatz gegen die Liberalen wandte, enthalte er „genau meine Meinung“. Treitschke erscheint „die unbedingte Anerkennung des Budgetrechts der Abgeordneten als eine unabweisliche Notwendigkeit“, und eine Zusammenarbeit mit der Regierung kommt für ihn deshalb solange nicht in Frage, „solange der Rechtsboden der Verfassung nicht hergestellt ist“. Ganz abgesehen von seiner persönlichen Anschauung warnt er davor, „dass diese Rechts- und Freiheitsfrage sehr leicht zu einer Machtfrage für Preußen werden kann“. Eine verlorene Schlacht gegen Österreich würde, so malt Treitschke diese unheilvolle Annahme realistisch aus, die kleinen süddeutschen Staaten in ihrer Feindschaft gegen Preußen ermutigen, das angesichts der geringen Zustimmung im Inneren in große Schwierigkeiten gerate. Treitschke zeichnet ein düsteres Bild der Ablehnung, die dem preußischen Ministerpräsidenten in Deutschland entgegenschlägt. Gegen diesen „Fanatismus der liberalen Parteigesinnung“ helfe deshalb nur „die Herstellung des Budgetrechts und die fortreißende Kraft des Krieges [. . . ] Selbst nach einem Siege unserer Waffen wird, wenn der Konflikt im Inneren nicht beigelegt ist, das unüberwindliche Misstrauen der Liberalen den Bundesreformplänen die größten Schwierigkeiten bereiten.“ Bismarck reagierte sehr positiv auf diesen Brief und zeigte Verständnis für Treitschkes unterschiedliche Bewertung der Außen- und Innenpolitik. Er erkannte aber auch, dass diese Kohärenz des Wissenschaftlers kein unüberwindliches Hindernis dagegen sein würde, ihn als Verfechter des Krieges und damit für das wichtigste Vorhaben des Augenblicks auf die Regierungsseite zu ziehen. Bismarck schlug Treitschke deshalb vor, in einem großen Aufsatz den Zusammenhang des bevorstehenden Krieges mit der nationalen Frage und der Bundesreform zu erklären. Treitschke lehnte auch dieses Ansinnen, ein Kriegsmanifest zu verfassen, jedoch ab und vertraute seinem „alten Freund“ Gustav Freytag an, „die Versuchung“ sei groß gewesen und sie anzunehmen hätte unter anderem auch seine wissenschaftliche Karriere durch einen Ruf an die Berliner Universität befördert: „Aber ich musste ablehnen; ich konnte nicht mich einer Politik verpfänden, deren letzte Ziele nur Ein Mann kennt, deren Sünden zu bessern ich keine Macht besitze; ich konnte nicht um eines 78

sehr zweifelhaften Erfolges willen meinen ehrlichen Namen aufs Spiel setzen.“ Nach einer bewegten Klage über die Verblendung und den Fanatismus sowohl der liberalen Opposition als auch der Regierung macht Treitschke einige Zeilen weiter die überraschende, aber erhellende Bemerkung: „Unsere Hoffnung ruht allein auf dem Heere; zwei gewonnene Schlachten werden hoffentlich beiden Parteien zur Besinnung verhelfen.“ Damit eröffnet sich für den Mann der Wissenschaft ein Ausweg aus dem Hin- und Hergerissensein zwischen der Begeisterung für ein starkes Preußen und dem Misstrauen gegen Bismarck: Er setzt sein Vertrauen darein, dass das Militär alle Schwierigkeiten würde lösen können. In einem weiteren Brief an Bismarck lobt der Historiker dessen Bundesreformplan, den er noch wenige Monate zuvor als „fantastische Tollheit“ apostrophiert hatte, nun als „Meisterwerk“: „Er ist so gemäßigt, dass man hoffen darf, nach zwei gewonnenen Schlachten die deutschen Höfe dafür zu stimmen.“ Kurz, Treitschke sieht darin den Weg zu einer besseren Zukunft für Deutschland. Trotzdem lehnt er es mit Bedauern wiederum ab, ein Manifest zur Unterstützung der Reform zu schreiben, und begründet seine Ablehnung mit seinem Loyalitätskonflikt: Als badischer Untertan und Beamter könne er sich nicht explizit und wirksam für Preußen einsetzen. Jenseits dieser formalen Hindernisse tritt der eigentliche Grund seiner Weigerung jedoch in einer anderen Äußerung zutage: „Worte sind dann machtlos; nur von siegereichen Schlachten können wir dann noch eine Umstimmung der Nation erwarten.“ Diesmal traf Treitschke ins Schwarze, es bleibt jedoch anzumerken, dass er trotz seiner guten Beziehungen zu den politischen Kreisen in Berlin nichts von den Verhandlungen Bismarcks mit Italien über ein Militärbündnis wusste, das als notwendige Voraussetzung für die Eröffnung des Krieges gegen Österreich galt.

Bismarck sucht ein Bündnis mit Italien Die italienischen Quellen liefern „wegen der preußisch-italienischen Allianz oft einen erstaunlich tiefen Einblick in Bismarcks Motive“, stellte jüngst der Herausgeber der kritischen Quellensammlung zur preußischen Außenpolitik der Jahre 1858 bis 1871 fest. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil die absolute Vormachtstellung Preußens nach dem Sieg über Österreich und die ganz von Preußen gestaltete weitere Entwicklung die deutsche Historiographie 79

mit wenigen Ausnahmen dazu verleitet haben, das Bündnis zwischen Preußen und Italien als marginal (wenn nicht gar als unnötig) zu bewerten. Umso wichtiger ist es, sowohl die langwierigen Verhandlungen zwischen den Vertragsparteien als auch die Rolle des Bündnisses im internationalen Rahmen (vor allem die Rolle Frankreichs und die Reaktionen Österreichs) richtig zu bewerten. Bei den 1866 eingeleiteten Verhandlungen standen Bismarck auf italienischer Seite Ministerpräsident Alfonso La Marmora, der italienische Vertreter in Berlin Camillo Barral und seit März 1866 der Sondergesandte General Giuseppe Govone gegenüber. Sie führten nicht nur bilaterale Gespräche, sondern waren auch über den engen Zusammenhang zwischen dem Krieg und der Bundesreform und über Bismarcks Kontakte zu Napoleon III. informiert. Aus diesem Grund werde ich den Gang der Ereignisse genau rekonstruieren. Als ersten Schritt forderte Bismarck den preußischen Gesandten in Italien, Guido Usedom, am 26. Juli 1865 auf, bei der (inzwischen nach Florenz übersiedelten) italienischen Regierung anzufragen, wie sich Italien im Falle eines Konflikts zwischen Österreich und Preußen verhalten werde. Auf die ihm am nächsten Tag gestellte Kriegsfrage reagierte Ministerpräsident Alfonso La Marmora positiv, stellte aber sofort präzise Bedingungen, die Usedom Bismarck übermittelte: „Er könne bis jetzt nur so viel mit Bestimmtheit sagen, dass Italien eine gute Gelegenheit, Venedig zu erobern, nicht unbenutzt lassen, sondern dann unverzüglich zum Kriege schreiten werde. Die Gelegenheit eines preußisch-österreichischen Krieges wäre gut, wenn derselbe im großen geführt und nicht etwa, sowie Italien in denselben eingetreten, durch raschen preußisch-österreichischen Separatfrieden ohne Rücksicht auf Italien beendet würde. Damit wäre Italien alsdann kompromittiert, und das dürfte man doch nicht leichthin wagen. Ein vorgängiger Traktat mit Preußen könnte für Italien allerdings eine Garantie gegen Separatfrieden gewähren. Aber schwerlich könne man denselben abschließen, ohne den Kaiser der Franzosen vorher zu befragen. Dieser möchte etwa Anfrage benutzen, um seinen europäischen Kongress herbeizubringen; denn an sich würde er einen preußisch-österreichischen Krieg vielleicht nicht gern sehen. Italiens Entschlüsse würden immer vornehmlich davon abhängen, was man von Preußen erwarten könne.“

In diesem Notenaustausch sind bereits alle Grundelemente der künftigen Verhandlungen für das Militärbündnis enthalten. Die Italiener waren also bereit, an einem Krieg teilzunehmen, sofern dieser „im großen“ geführt und nicht vorzeitig durch Vereinbarungen zwischen Österreich und Preußen (offensichtlich wegen der Elbherzogtümer) zum Nachteil Italiens abgebrochen würde. Für Italien ging es um Venetien, ohne dass weitere Gebietsabtretungen wie insbesondere das italienische Tirol oder 80

das Trentino ausgeschlossen wären. In jedem Fall sollte Frankreich informiert sein und das Vorgehen billigen. Bismarck antwortete darauf folgendermaßen: „Dass es ein ernster Krieg (une guerre sérieuse) werde, ist selbstverständlich. Wenn es einmal zum wirklichen Bruch zwischen Preußen und Österreich kommt, so ist damit selbstverständlich die Periode bloßer Demonstrationen überwunden. Wir werden den Krieg alsdann mit aller Macht führen und führen müssen. Welche Vorteile wir schließlich erlangen werden, hängt natürlich von den Erfolgen der Kriegsführung ab. Ich kann aber nicht umhin zu erwähnen, dass, wenn sich bei dem italienischen Minister die unverkennbare Neigung zeigt, abzuwarten, bis der Krieg größere Dimensionen angenommen habe, er daneben auch die Möglichkeit nicht aus den Augen verlieren sollte, dass der Krieg einen raschen Verlauf nehmen kann, und dass alsdann Italien den günstigen Augenblick versäumt hätte, durch seine Beteiligung auf den Abschluss einzuwirken. Auch die Stellung Frankreichs kann eine andere sein bei der Zögerung, eine andere dem fait accompli eines raschen Entschlusses Italiens gegenüber. [. . . ] Eroberungen hängen von dem Kriegsglück ab und lassen sich nicht im Voraus garantieren. So wenig Italien uns die letzten Ziele einer Kriegsführung mit Österreich zusichern kann, so wenig können wir es ihm.“

Diese Erklärung schickte Bismarck am 1. August 1865 an den preußischen Gesandten in Italien, um die italienische Regierung von der Ernsthaftigkeit eines Krieges gegen Österreich und den Vorteilen eines Militärbündnisses mit Preußen zu überzeugen. Einige Zeilen zuvor stellt Bismarck folgende Überlegung an: „Wenn wir die Mitwirkung Italiens nicht mit Sicherheit in unsere Berechnungen ziehen können, so fragt es sich, ob wir nicht lieber unsere Forderungen an Österreich mäßigen und uns mit den immer nicht unbedeutenden Vorteilen begnügen, welche wir auf friedlichem Wege erlangen können.“ War diese Äußerung der Beweis dafür, welche wichtige Rolle die Beteiligung Italiens für Bismarck in der Kriegsfrage spielte, oder diente sie nur als Notbehelf zur Rechtfertigung einer (bereits getroffenen?) Einigung mit Österreich? Diese Befürchtung hegten die Italiener und sahen sich darin durch den Gasteiner Vertrag vom 14. August bestätigt, in dem die Streitigkeiten vorläufig beigelegt wurden. Die Italiener waren sehr enttäuscht, fühlten sich hintergangen und wurden diesen Verdacht auch bei der Wiederaufnahme der Gespräche in den folgenden Monaten nicht los. Die innenpolitische Lage im Deutschen Bund verschlechterte sich nämlich wegen der Frage der Elbherzogtümer bald wieder und die Beziehungen zwischen Berlin und Wien kühlten sich erneut ab. Offensichtlich musste die deutsche Frage mit Waffengewalt entschieden werden, und Italien hatte dabei unversehens eine wichtige Rolle zu übernehmen. 81

Bismarck erkannte sofort, dass der kritische Punkt für Italien die Beziehung zu Frankreich war. Er machte La Marmora auf den Widerspruch aufmerksam, dass dieser einerseits seine Kriegsbereitschaft an der Seite Preußens beteuere, andererseits aber seine Entscheidung von Frankreich abhängen lasse, als ob dieses Einwände hege. Bismarck nämlich wusste, dass Costantino Nigra, der gut informierte und einflussreiche italienische Botschafter in Paris, geäußert hatte: „der Kaiser werde nicht nur Italien nicht am Kriege verhindern, sondern im Fall des Krieges eine wenn auch neutrale, doch für Preußen und Italien günstige Stellung einnehmen.“ Diese Einschätzung widersprach der Aussage La Marmoras, Napoleon plane die Einberufung eines Kongresses, um den Konflikt zu vermeiden und eine für alle befriedigende friedliche Lösung zu finden. Dadurch, dass er den Widerspruch „in den Äußerungen der italienischen leitenden Staatsmänner“ herauskehrte, wollte Bismarck wahrscheinlich indirekt die wahren Absichten Napoleons erkunden und in einem Punkt Klarheit gewinnen, über den in Paris große Unsicherheit herrschte. Bismarck war sehr beunruhigt über den Plan Frankreichs, einen europäischen Kongress einzuberufen. Deshalb forderte er die italienische Regierung durch seinen Gesandten zu einer eindeutigen Aussage auf: „Ew. pp. begreifen aber, dass es für uns von der größten Wichtigkeit und von wesentlichem Einfluss auf unsere Entschließungen sein muss, uns darüber klar zu machen, ob wir im Fall eines Krieges mit Österreich mit Sicherheit auf ein entschiedenes und schleuniges Eingreifen Italiens rechnen können oder ob wir darauf gefasst sein müssen, dass Italien zögere, abwarte und seine eigene Aktion von fremden Impulsen abhängig mache, vielleicht gar hierfür durch bestimmte Verpflichtungen gebunden sei.“ Am Ende seiner Note formuliert der Ministerpräsident noch einmal die Schlüsselfragen: „Wird Italien, sobald der Bruch Preußens mit Österreich erklärt und der Krieg ausgebrochen ist, sofort vorgehen und angreifen? Hat Italien irgendwelche Verpflichtungen gegen Frankreich, welche es an einem eigenen freien Entschluss in dieser Beziehung hindern, oder will es auch ohne solche sein Vorgehen von der Zustimmung Frankreichs abhängig machen?“ Inzwischen aber hatte Wien seine Taktik geändert. Angesichts eines drohenden Zweifrontenkrieges überlegte man, Venetien gegen eine entsprechende finanzielle Entschädigung an Italien abzutreten. In diesem Fall – so glaubte man – würde das italienische Interesse an einem Militärbündnis mit Preußen sinken. Als er von diesen Überlegungen erfuhr, ließ Bismarck Italien durch Usedom wissen, dass es auch im Falle einer 82

Abtretung Venetiens enge Beziehungen zu Preußen unterhalten müsse, denn Österreich könnte versuchen, Norditalien wieder unter seine Herrschaft zu bekommen. Nicht zu vergessen die andere Seite der Frage: „Auf der anderen Seite aber würden die Gelüste Italiens durch den Erwerb Venetiens nicht befriedigt sein, sondern sich dann weiter auf Triest, das österreichische Küstengebiet Dalmatien und auf Südtirol ausdehnen.“ Bismarck war sich offensichtlich der ganzen Bandbreite der territorialen Hoffnungen Italiens bewusst, ohne sie freilich erfüllen zu wollen. Am 24. Februar 1866 war die italienische Regierung (nach entsprechenden Konsultationen mit Paris) endlich zum Abschluss eines auf drei Monate begrenzten Kriegsbündnisses unter der Voraussetzung bereit, dass keiner der beiden Kontrahenten einen separaten Friedensvertrag abschloss. In Berlin war man befriedigt und kündigte zur Festigung des Einvernehmens an, den Chef des Generalstabs, Helmuth von Moltke, zur Klärung von Einzelheiten nach Florenz zu schicken, ohne jedoch gemeinsame Militäroperationen zu planen. Wie Moltke später schrieb, lag der Vorteil nicht im gemeinsamen, sondern im gleichzeitigen Vorgehen. Die Instruktionen, die Bismarck am 12. März für die geplante Reise des Generals (die freilich nicht zustande kam) vorbereitet hatte, geben einen guten Einblick in seine eigentlichen Ziele, aber auch in sein taktisches Verhalten gegenüber der italienischen Regierung. Diese sollte davon überzeugt werden, dass der Kriegsausbruch nicht von einem innenpolitischen Konflikt des Deutschen Bundes, sondern von der europäischen Gesamtsituation abhänge. Von Anfang an stellt Bismarck klar: „Wir können uns nicht schon in diesem Augenblicke verpflichten, einen Angriffskrieg gegen Österreich zu führen, sondern nur eventuelle gegenseitige Verbindlichkeiten für den Fall eingehen, dass es zu diesem Kriege kommt. Als Motiv, welches uns abhält, den Krieg schon jetzt zweifellos zu beschließen, wolle Eure Exzellenz indessen dort nicht die Möglichkeit, dass wir uns mit Österreich über die Herzogtümer noch friedlich verständigen [...], sondern einerseits die Ungewissheit geltend machen, in welcher wir uns noch über die schließliche Haltung Frankreichs befinden, andererseits auf den Eindruck Rücksicht nehmen, welchen ein unvorhergesehener und scheinbar willkürlicher Angriffskrieg in Europa machen wird.“

Das Problem der Elbherzogtümer solle gegenüber den italienischen Verhandlungspartnern „lediglich als eine Episode der großen deutschen Frage“ behandelt werden. „Der gesamte Konflikt [...] leitet seinen Ursprung aus dem unnatürlichen Verhältnisse ab, dass Preußen der einzige der deutschen Staaten ist, welcher sein Heerwesen den Anforderungen der Zeit entsprechend eingerichtet hat, und dass wir dadurch genötigt sind, die Kräfte des Landes so anzuspannen, dass sie zur Ver83

teidigung des Territoriums auch aller derjenigen deutschen Staaten hinreichen, welche mit uns dasselbe Verteidigungsgebiet bewohnen, ohne verhältnismäßig zu den Lasten der Verteidigung beizutragen.“ Bei dem bevorstehenden Krieg gehe es demnach eigentlich um die nationale Frage, bei der Preußen den gleichen Gegner habe wie Italien, nämlich Österreich. Zu der Hypothese einer Abtretung Venetiens gegen finanzielle Entschädigung vermutet Bismarck halb zynisch, halb realistisch, Wien werde das Geld dazu verwenden, die Rückeroberung vorzubereiten: „Ein österreichischer Krieg könnte Italien niemals dieselbe Summe kosten wie ein solcher Kauf, und siegreich im Bunde mit Preußen geführt, würde er Österreich für längere Zeit außerstand setzen, Pläne zur Wiedergewinnung seiner früheren Stellung in Italien auszuführen.“ Bei den territorialen Ansprüchen Italiens unterscheidet Bismarck ansonsten explizit zwischen Venetien und Tirol, Triest und dem Küstengebiet, Forderungen, die „wegen der Zugehörigkeit dieser Länder zu Deutschland [sic!], aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung im Lande“ abgelehnt werden müssten. Sobald dies alles geklärt sei, wäre Preußen bereit, „den Krieg in großen Dimensionen zu führen“ und einen Separatfrieden auszuschließen. Der preußische Ministerpräsident betonte ausdrücklich, die öffentliche Meinung Europas reagiere sehr empfindlich auf Kriege, die als ungerechtfertigt erschienen. Deshalb komme es ganz darauf an, dem Krieg dadurch Legitimität zu verschaffen, dass es um die Beseitigung der Hindernisse gehe, „welche Österreich den berechtigten Forderungen der deutschen Nationalität und dem nicht länger abzuweisenden Bedürfnisse der Neugestaltung Deutschlands entgegensetzt.“ Aus all diesen Gründen brauche Preußen bis zum Kriegseintritt noch Zeit und müsse auf die gradlinige Haltung Italiens zählen können: „Die Art, wie Italien sich zu unserem Vorschlage stellt, die größere oder geringere Sicherheit, welche es uns durch ein eventuelles Bündnis zu gewähren bereit ist, wird ein wesentliches Element für unseren Entschluss bilden, ob wir eine kriegerische Politik definitiv einschlagen oder nicht. [...] Wenn es daher für uns unmöglich ist, im Augenblick schon den Termin des Krieges festzustellen oder denselben willkürlich zu beginnen, so erfordert es auch der Vorteil Italiens, uns nicht zu drängen, sondern der Entwicklung Raum zu lassen, uns aber schon jetzt die in dem eventuellen Bündnis liegende Sicherheit zu gewähren.“

Diese hier in Form von Instruktionen formulierten Thesen wiederholte Bismarck am 14. März gegenüber General Giuseppe Govone persönlich, der von La Marmora nach Berlin gesandt worden war, um die Bedingungen der preußisch-italienischen Übereinkunft zu besprechen. Die Informationen des Generals über seine Berliner Mission bilden 84

den Schwerpunkt der von seinem Sohn veröffentlichten Frammenti di memoria. Dem Augenzeugenbericht dieses klugen, aufmerksamen und nüchternen Beobachters hat die Geschichtsschreibung zu Recht große Bedeutung beigemessen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass der offizielle Vertreter Italiens in Berlin, der zu möglichen Entscheidungen autorisiert war und in direktem Kontakt mit Florenz stand, der Gesandte Camillo Barral war. Die Bemerkungen und Reaktionen Govones, der offensichtlich in engem Kontakt mit dem italienischen Vertreter stand, müssen deshalb immer in diesem Kontext gesehen werden. Govone hatte das Glück, Bismarck in einem entscheidenden Moment von dessen politischem Leben zu begegnen, und wurde freundlich aufgenommen. Der Italiener verglich Bismarck spontan mit Cavour, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass er tatsächlich wörtlich gesagt hat: „Er ist unser Cavour, ganz unser Cavour, wie er leibt und lebt.“ Diesen Satz, den ihm Bruno Bauer in den Mund legte , soll er nach seiner Rückkehr aus Berlin auf die Frage nach dem Auftreten Bismarcks gesagt haben. Der Vergleich zwischen Cavour und Bismarck spiegelt das, was die Italiener hören wollten, als es zu einer Wiederannäherung an Berlin kam, aber in seinen schriftlichen Erinnerungen beschränkte sich Govone auf die Beobachtung, dass „Italien durch das Genie Cavours früher als andere die Analogie zwischen der historischen Mission Piemonts und Preußens erkannt“ habe. Dem italienischen General entging nicht, dass Bismarck in der öffentlichen Meinung und auch innerhalb der politischen Klasse selbst weitgehend isoliert war. Später schrieb er darüber: „Bis zum Vorabend des deutschen Sieges ertrugen die Deutschen die Politik ihres großen Staatsmanns eher als dass sie ihr zustimmten. Mehr als Preußen erschien Österreich, obwohl es wenig deutsch ist, der öffentlichen Meinung in fast ganz Deutschland als legitime Vertretung der Nation und der Idee des Deutschtums. Weder die Nation noch das Heer noch der König wünschten einen Krieg. Graf Bismarck ging fast allein, entschlossen und unbeirrt seinen Weg weiter und verkündete lautstark sein Ziel. Sagte er aber die Wahrheit? Und auch wenn er dies wollte, konnte es ihm gelingen? Sogar an seinen Zielen waren, wenn auch zu Unrecht, Zweifel angebracht.“

Govone beobachtete aus der Nähe das „komplizierte und gefährliche Spiel“ des preußischen Ministerpräsidenten, das es ihm erschwerte, „das Terrain zu sondieren und zu prüfen, wie vertrauenswürdig die preußischen Beteuerungen und Versprechen“ seien. Der General hatte weder genaue noch bindende Instruktionen erhalten und noch weniger die Vollmacht, ein Abkommen zu unterschreiben, sondern hatte ein „zugleich umfassendes und eingeschränktes Mandat, das die Möglichkeit zu 85

einer einfachen und allgemeinen Einigung auf ein gemeinsames Vorgehen ausschloss, das Preußen in keiner Hinsicht definitiv gebunden hätte, wie es Bismarck (wie man später sehen sollte) einzig und allein wünschte.“ Deshalb herrschte sowohl in Florenz als auch in Berlin das gleiche „untergründige Misstrauen“. Unter den Diplomaten war man davon überzeugt, dass die internen Meinungsverschiedenheit der „deutschen Denker“, statt mit „Eisen“ gelöst zu werden, sich immer mehr verwirren würden, um dann „durch diplomatische Noten und gelehrtes Gerede geduldig entwirrt zu werden.“ So dachte auch der italienische Vertreter in Berlin, Camillo Barral, von dem Govone sagte, er sei „aufrichtig und ehrlich und fühlt sich in den Verwicklungen und Unsicherheiten, zu denen die Umstände die preußische Politik zwingen, nicht wohl; er ist ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Verhältnisse und der Gedankenwelt Bismarcks.“ Barral warnte den jungen, unerfahrenen General vor der Gewitztheit des preußischen Ministerpräsidenten, der versuchen würde, den Italienern „einen Vertragsentwurf abzuluchsen, um ihn Österreich vorzulegen und ohne einen Schuss abzugeben die Elbherzogtümer zu bekommen.“ Es lässt sich schwer beurteilen, ob Govone sich von den Thesen des Berufsdiplomaten an seiner Seite oder von den Vorstellungen Bismarcks während der privaten Gespräche überzeugen ließ, aus denen hervorging, dass Bismarck mit seinen Reformplänen für den Deutschen Bund ganz Deutschland in eine „Verwirrung stürzen wollte, aus der es nur den Ausweg des Kampfes um die Vorherrschaft Preußens in Norddeutschland“ geben könnte. In dieser Hinsicht hatte Bismarck Recht, wenn er die Gleichsetzung der Frage Venetiens mit der der Elbherzogtümer zurückwies: Der Spieleinsatz unterschied sich wesentlich. Deshalb stand ein „ernster“ Krieg bevor. Bismarck sprach in diesen Wochen oft von einem sicher bevorstehenden Krieg, wie viele Augenzeugen berichten. Am bekanntesten ist die auch von Govone (vom Hörensagen) berichtete Episode, dass Bismarck bei einem Abendessen der Gastgeberin Gräfin Hohenthal halb im Ernst, halb im Scherz von einem Aufenthalt in ihrem böhmischen Landsitz abriet, weil sie dort bald vom Krieg eingeholt werden würde. Doch es gab andere, glaubwürdigere Hinweise aus Diplomatenkreisen. Der immer gut informierte französische Botschafter in Berlin, Vincent Benedetti, teilte seinem Dienstherrn Drouyn de Lhuys mit: „Unterredung mit Bismarck: Die Anwesenheit des Prinzen Napoleon macht Bismarck misstrauisch, als ob die italienische Regierung zweigleisig fahren wolle.

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Bismarck will in Frankfurt einen Antrag auf Berufung einer nach dem allgemeinen Wahlrecht zu wählenden Volksversammlung einbringen; diese solle Preußen die militärische Oberhoheit und das Recht auf völkerrechtliche Vertretung des Bundes überantworten. Falls der Antrag in Frankfurt abgelehnt werde, wolle er aus dem Bund austreten. Dieser Plan soll Österreich zu Rüstungen und zur Kriegserklärung reizen. Er will mit Frankreich ein Einvernehmen arrangieren, um dadurch die Widerstände seines Königs zu überwinden. – Benedetti meint, dass Bismarck mit diesem Kalkül den Krieg mit Österreich unweigerlich provozieren und den König zwingen will, ihn angesichts dieses innenpolitischen Streichs auf seinem Posten zu behalten. Wenn der Plan nicht aufgehe – so Bismarck – habe er mindestens den Gegensatz zu Österreich unüberbrückbar gemacht und einer nachfolgenden liberalen Regierungsform in Preußen den Weg bereitet.“

General Govone zeigte Verständnis für Bismarcks Strategie, verlor die italienischen Interessen aber nicht aus den Augen, da sie mit den preußischen keineswegs ganz übereinstimmten. Rückblickend stellt er fest: „Er legte seine Karten offen und war von seiner Seite aus ehrlich entschlossen, die Partie wenn möglich bis zu Ende zu spielen; weil er aber nicht wusste, was er erreichen konnte, wollte er die Karten in der Hand behalten und für sich – wohlgemerkt nicht für uns – das Recht vorbehalten, aus dem Spiel auszusteigen und seinen Gewinn mitzunehmen, falls er dazu gezwungen wäre.“ Dies alles erschien ihm aus deutscher Sicht ganz selbstverständlich. „Für uns dagegen war es ganz offensichtlich nachteilig, uns durch ein derart einseitiges Abkommen zu binden, sofern nicht auch für Italien sichere Vereinbarungen getroffen wurden.“ In den Augen des Generals war das Abkommen, das Bismarck erzielte, einseitig und riskant für Italien, das an Preußen gebunden war, Preußen an Italien dagegen nicht. Um die Risiken zu beschränken, wurde der Vertrag auf Drängen Barrals auf drei Monate begrenzt, und Preußen verpflichtete sich, den Krieg zu beginnen. Zustande kam der Vertrag überhaupt nur, als Napoleon III. den Text gesehen und persönlich gebilligt hatte. In den folgenden Wochen gab es widersprüchliche Meldungen, aber man kann nicht behaupten, dass die italienische Regierung, insbesondere Ministerpräsident La Marmora und König Vittorio Emanuele, über die Kriegsvorbereitungen Preußens nicht ständig unterrichtet gewesen wären und den Krieg nicht vorhergesehen hätten. Dies zeigen der Briefwechsel mit Govone und Barral ebenso wie der Notenwechsel zwischen den Herrschern Preußens und Italiens. Am 22. Mai informierte General Govone nach einem Gespräch mit Bismarck seine Regierung in Florenz darüber, dass die Kriegsvorbereitungen Preußens kurz vor dem Abschluss standen. 310 000 Mann standen unter Waffen. Nur der Vorschlag zur Einberufung eines europäischen Kongresses und die Unsicherheit über die von Napoleon 87

geforderten territorialen Kompensationen, unabhängig davon, wie das Duell der beiden deutschen Mächte ausgehen würde, verzögerten den Kriegsausbruch: „Moltke rechnet mit einer Entscheidung nach der ersten Schlacht, die Preußen dank seiner zahlenmäßigen Überlegenheit gewinnen wird.“ Nach dem Scheitern der Kongresspläne Napoleons konnte es sich nur noch um Tage handeln, und am 14. Juni kam es in Böhmen zu ersten Kriegshandlungen. Die italienische Regierung setzte ihren Kriegseintritt auf den 23. Juni fest, wobei einige Irritationen auf Seiten Preußens nicht ausblieben, auf die wir noch zurückkommen werden. Betrachten wir zunächst das Verhalten Napoleons III. Dadurch, dass er die italienische Seite unterstützte, griff der Kaiser direkt in die Auseinandersetzung der beiden deutschen Mächte ein. Durch die Billigung des preußisch-italienischen Abkommens gab er Bismarck sein Plazet für die antihabsburgische Politik Preußens und erwartete dafür entsprechende territoriale Kompensationen. Über den Umfang der Kompensationen (vor allem im Rheingebiet) äußerte sich Napoleon III. nie genau. Auf der anderen Seite kam am 12. Juni von Wien das Angebot der Abtretung Venetiens gegen die strikte Neutralität Frankreichs in dem unvermeidlichen und unmittelbar bevorstehenden Krieg. In diesen diplomatischen Ränken spielte Italien auch im Hinblick auf den so gut wie sicheren Erwerb Venetiens die Rolle einer abhängigen Variablen. Dabei ist daran zu erinnern, dass Österreich Italien die Abtretung Venetiens gegen die Verpflichtung zur Auflösung des Militärbündnisses mit Preußen angeboten hatte. Das Anerbieten war von den Italienern als unehrenhaft zurückgewiesen worden, wobei sie sich allerdings in Paris rückversichert hatten. Deshalb forderte Govone angesichts der „unsicheren Haltung der preußischen Politik“ die Rückkehr der italienischen Regierung zur „festen, alten Bindung an Frankreich“ und machte dem Kaiser klar, dass Italien nicht ein Abkommen mit Preußen brechen könne, das es mit dessen Billigung geschlossen hatte. Sicherlich werde „der Kaiser nicht zur Annahme eines unehrenhaften Angebots raten und sich deshalb in Zukunft auf unsere Seite stellen.“ Über die ganze delikate Angelegenheit der beiden unterschiedlichen Angebote der Abtretung Venetiens hat sich Costantino Nigra (allerdings später) gegenüber einem deutschen Gesprächspartner geäußert. Demnach hatte er bei dem ersten Angebot Österreichs (im Mai) persönlich bei Napoleon nachgefragt, wie man sich verhalten solle: „Napoleon hat uns gar keinen bestimmten Rat gegeben, er stellte es uns ganz anheim, was wir, nachdem einmal das Bündnis mit Preußen 88

abgeschlossen war, machen sollten.“ Das zweite direkt an Napoleon gerichtete Angebot Österreichs stand in einem anderen Rahmen, denn Frankreich beanspruchte die Rolle des Schiedsrichters in dem Konflikt. Nigra äußerte dazu: „Ja, Napoleon III. ermutigte Preußen. [. . . ] Ich sagte ihm, dass es für Italien gleichgültig sei, mit welcher der beiden streitenden Mächte, Österreich oder Preußen, es in Verbindung trete, wenn nur Venedig von der Fremdherrschaft befreit werde. Napoleon sagte: ,Es ist ratsam, dass Italien den Vertrag mit Preußen abschließe. Denn dann erst wird Preußen es wagen, den Kampf mit Österreich aufzunehmen. Dann erst sind die Streitkräfte ausgeglichen (égalisé) und das Gleichgewicht hergestellt, welches Preußen die Aussicht auf Erfolge eröffnet. Auf diese Weise wird Italien Venedig erhalten, Frankreich aber genießt den Vorteil, dass die beiden Mächte, die es durch ihr Bündnis beengen, mit einander in Krieg geraten. Während ihr Venedig gewinnt, werde ich erhalten, was ich für notwendig erachte. Frankreich kann während dieses Kampfes sein Gewicht in die Waagschale werfen. Es ist zu erwarten, dass es Herr der Ereignisse und Schiedsrichter wird. Ich kann mich dann auf jene Seite stellen, auf welcher Frankreich größere Vorteile winken. Wenn ich während dieses Kampfes 100 000 Mann in die Rheinlande einrücken lasse, kann ich die Bedingungen des Friedens vorschreiben.‘“

Nach diesen Worten gibt Nigra ein Urteil ex post: „Diese Politik war vom Standpunkte Frankreichs aus die richtige. Aber es war das Unglück Napoleons, dass bei ihm zwischen dem Gedanken und der Tat ein Abgrund klaffte. Er war ein Mann von großen Ideen; aber es genügt nicht, Ideen zu fassen, man muss ihnen auch den Körper der Tat verleihen.“ Dazu zieht Nigra einen bezeichnenden Vergleich heran: „Cavour organisierte für ihn den Kampf um Italien. Er selbst aber war nicht der Mann, den Augenblick rasch zu nützen.“ Auch die Worte Nigras bestätigen, dass sich hinter der vordergründigen Großzügigkeit Napoleons gegenüber Italien die Unsicherheit über den Verlauf des Konflikts und die daraus hervorgehenden territorialen Veränderungen verbarg: Diese Haltung sollte sich angesichts des geschickten Agierens Bismarcks (für ihn) als fatal erweisen. Der preußische Ministerpräsident gab dem Kaiser nämlich (abgesehen von der bereits früh geklärten Frage Venetiens) keinerlei konkrete Zusage, ließ ihn aber weiter im Glauben an territoriale Zugeständnisse. Nach dem Sieg über Österreich war er dann nicht nur zu keinerlei territorialer Kompensation bereit, sondern drohte sogar als Repressalie einen „revolutionären“ Krieg an. In der Geschichtsschreibung ist es nach wie vor umstritten, ob Bismarck im Falle ernsthafter Schwierigkeiten während des Krieges an kleinere territoriale Zugeständnisse im Rheinland gedacht hat. In diese Richtung deutet die Aussage Govones, dass Bismarck in seiner letzten 89

Unterredung mit ihm am 2. Juni zur Abtretung deutscher Gebiete an Frankreich bereit gewesen wäre, sofern Frankreich eindeutige Forderungen gestellt hätte. Das eigentliche Hindernis sei König Wilhelm, der davon nichts wissen wolle und erst überzeugt werden müsse: „Der Inhalt dieses letzten Gesprächs des Generals Govone, das er pflichtgemäß an seine Regierung berichtete, wurde von General La Marmora unvorsichtigerweise öffentlich bekannt gemacht“, schreibt sein Sohn als Herausgeber der Erinnerungen Jahre später, „Daraufhin erhoben sich selbstverständlich wütende Proteste auf preußischer Seite, und der große Kanzler dementierte aufs heftigste.“ Die Polemiken darüber zogen sich über Jahre hin, und Bismarck wies noch am 16. Januar 1874 in einer Parlamentssitzung diese „dreiste, tendenziöse Lüge“ zurück. In dem ausführlichen Bericht, den General Govone nach seiner Mission an La Marmora übergab, wird die objektiv zweideutige Haltung Napoleons, der Bismarck aber große Aufmerksamkeit schenkte, bestätigt. „,Ich hätte gern mit dem Kaiser gesprochen‘, sagt Bismarck, ,um die maximalen Zugeständnisse zu kennen, die Frankreich von uns fordert‘. Ich [Govone] fragte, ob außer dem Rheingebiet andere Teile des Landes als mögliche Abtretungen an Frankreich in Frage kämen, und fügte hinzu, dass ich damit nicht auf das ganze linke Rheinufer anspielen wollte. Aber gäbe es nicht eine andere geographische Linie, die für Frankreich von Wert sein könnte? Graf Bismarck antwortete: ,Ja, es gäbe die Mosel, ich bin viel weniger deutsch als preußisch; und hätte keinerlei Probleme damit, die Abtretung des ganzen Gebiets zwischen Rhein und Mosel an Frankreich zu unterzeichnen: Pfalz, Oldenburg, einen Teil Preußens. Der König aber, der von der nicht aus Preußen stammenden Königin beeinflusst ist, hätte die größten Skrupel und würde sich dazu nur in allergrößter Gefahr entschließen, wenn es um alles oder nichts ginge. Um aber beim König auf irgendeine Einigung mit Frankreich hinzuarbeiten, müsste man dessen Mindestforderungen kennen. Sofern Frankreich aber das ganze linke Rheinufer verlangen sollte (Mainz, Koblenz und Köln), wäre es besser, sich mit Österreich zu einigen und auf die Elbherzogtümer und viele andere Dinge zu verzichten.“

Inhalt und Ton der hier wiedergegebenen Äußerungen wirken sehr glaubhaft: Warum hätte Govone sie erfinden sollen? Das ganze Gespräch zeigt die für Bismarck charakteristische Art der Argumentation, indem er stets plausible Alternativen (in diesem Fall eine Einigung mit Österreich) durchspielt. „Das hartnäckige Schweigen, in das sich Kaiser Napoleon hüllte“, könnte nicht nur als Zeichen von Unsicherheit interpretiert werden, sondern auch als bewusste Zurückhaltung, um seine Karten nicht vorzeitig aufzudecken. Doch der General kommt zu dem Schluss: „Ich habe den Eindruck, dass Bismarck auf jede Art und Weise die Dinge rasch vorantreiben und schnell auf den Krieg zusteuern will.“ 90

Wenden wir uns nun den rein militärischen Aspekten zu, die dem preußisch-italienischen Abkommen vorausgingen. Es gab weder ein gemeinsame und koordinierte Kriegsplanung noch offizielle Kontakte auf Generalstabsebene (wie es General Govone gewünscht hätte). Ob diese Situation stillschweigend oder ausdrücklich zwischen den Regierungen vereinbart war, lässt sich nicht klären. Auf italienischer Seite ließ sich La Marmora sicher nicht gern von Berlin hineinreden, denn die preußische Regierung hatte seit Beginn der Gespräche deutlich zu verstehen gegeben, nicht nur die Strategie ihres Heeres veranschaulichen, sondern ausdrücklich (wenn nicht sogar entschieden) auch vorgeben zu wollen, was man von Italien erwarte. Schließlich übermittelte die preußische Regierung ihre Information durch den renommierten Wissenschaftler Theodor von Bernhardi, der als „Legationsrat“ ohne spezifischen Geschäftsbereich nach Italien geschickt wurde. Die entscheidende Rolle in den bilateralen Beziehungen spielte jedoch der sehr betriebsame preußische Vertreter in Florenz, Guido von Usedom. Daraus ergaben sich zahlreiche Missverständnisse. Bernhardi unterhielt in Italien intensive persönliche Kontakte zu den wichtigsten Persönlichkeiten (König Vittorio Emanuele, La Marmora, Cialdini, Ricasoli, Visconti Venosta und dem Neffen Napoleons III., um nur die wichtigsten zu nennen), über die er in seinen Erinnerungen ausführlich berichtete und nicht nur ihre offiziellen Stellungnahmen, sondern auch ihre Reaktionen, Meinungen und persönlichen Empfindungen wiedergab. Bernhardi brachte Italien ehrliche Sympathie entgegen, übte manchmal strenge Kritik, blieb aber immer verständnisvoll. Er war überzeugt von der Übereinstimmung der italienischen und preußischen Interessen, auch wenn er diese letztendlich so auslegte, dass das, was gut für Preußen war, auch für Italien gut sein musste. Seiner festen Überzeugung nach existierten in Italien unter Politikern, Generälen und in der öffentlichen Meinung „zwei Parteien“, eine „piemontesische“ profranzösische und eine zweite „italienische“ oder nationale Partei. Die „piemontesische Partei“ unter Führung La Marmoras (über den Bernhardi sehr ausführlich schreibt) war nach Meinung Bernhardis völlig von den Direktiven Napoleons III. abhängig; ihre Ansichten über den Krieg schienen ihm beschränkt und kurzsichtig und drehten sich einzig und allein um den Erwerb Venetiens ohne weitere strategische Perspektive und nur darauf bedacht, sich streng an die Vorgaben aus Paris zu halten. Die „nationale“ oder „italienische“ Partei unter Führung von Bettino Ricasoli sah die Rolle Italiens dagegen im größeren Rahmen Europas und maß deshalb dem Bündnis mit Preußen auch im 91

Blick auf die Emanzipation von Frankreich große Bedeutung bei. Die nationale Partei war jedoch in der Minderheit und schwach. Bernhardi konzentrierte sich bei seinen Betrachtungen ganz auf den Gegensatz und die Feindschaft Frankreichs gegenüber Preußen, das in seinen Augen reagieren musste und sogar einen Krieg nicht ausschließen durfte. Die meisten Ereignisse von 1866, vor allem die Endphase (Waffenstillstand und Friedensschluss), beurteilt Bernhardi aus diesem Blickwinkel. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Florenz hatte Bernhardi am 8. Juni eine ausführliche Unterredung mit La Marmora, dem er die preußische Strategie, der sich Italien anpassen sollte, ziemlich detailliert auseinandersetzte. Hier einige Passagen daraus: „Der Kriegsplan der Österreicher im Großen und Ganzen ist leicht zu erraten, und daraus ergibt sich dann von selbst, was Preußen von seinem Verbündeten verlangen und erwarten muss. Österreich will zunächst seine Hauptmacht – einen möglichst großen Teil seiner Gesamtmacht – offensiv gegen Preußen verwenden, und um das zu können, sich in Italien auf der Defensive halten. Später, wenn Preußens Macht, wie man in Wien hofft, gebrochen wäre, würde dann Österreich seine gesamte Macht nach Italien zurückwenden. Damit das nicht geschehen, damit Österreich nicht einen ganz unverhältnismäßigen Teil seiner Gesamtmacht im Norden verwenden, nicht mit einer großen Übermacht gegen Preußen in das Feld rücken könne, müssen die Italiener einen bedeutenden Teil der österreichischen Streitkräfte in der Lombardei festhalten und beschäftigen. Das ist im Wesentlichen ihre Aufgabe in diesem gemeinschaftlichen Kampfe – das ist, was wir von unseren Verbündeten verlangen. Es muss also den Operationen der italienischen Armee eine Richtung gegeben werden, die es den Österreichern unmöglich macht, die Italiener bloß durch das Festungsviereck [wie erwähnt bestand das österreichische Verteidigungssystem in der Lombardei aus den Festungen Peschiera del Garda, Mantua, Legnano und Verona] und eine geringe Heeresmacht in freiem Felde aufzuhalten. La Marmora: [Orig. franz.:] ,Oh nein! So wird es nicht sein! Wir werden in das Festungsviereck eindringen. Wir werden eindringen! Sie werden sehen.‘“

An dieser Stelle sagte sich Bernhardi mit einer gewissen Bitterkeit, dass sein Gesprächspartner genau das tun wollte, was die Österreicher am liebsten hätten. Das Gespräch zwischen dem Preußen und dem Italiener ging dann ins Detail und offenbarte lediglich die Unvereinbarkeit der Standpunkte. Ihren Höhepunkt erreichten die Missverständnisse, als Bernhardi von einem italienischen Feldzug jenseits des Isonzo sprach und ein Unternehmen Garibaldis gegen Dalmatien, Fiume und Triest mit Unterstützung durch die Flotte in der Adria ins Auge fasste. Als wünschenswert erwähnte Bernhardi in diesem Zusammenhang auch, einen nationalistischen Aufstand der Ungarn zu provozieren, um das Kaiserreich zu schwächen. Wie wir gesehen haben, hatte schon Cavour mit diesem Gedanken gespielt: „Der preußische Generalstab glaubt, die 92

italienische Armee werde nach Triest vorgehen, sich mit Hilfe der Flotte dieser Stadt und der Eisenbahn von dort bemächtigen, um so eine neue Basis für neue Operationen zu gewinnen und uns an der Donau die Hand bieten zu können.“ Doch La Marmora wies die Idee eines Feldzugs gegen Triest kategorisch zurück und ließ sich von den Erörterungen Bernhardis nicht im Mindesten von seinem strategischen Konzept abbringen, das ausschließlich auf die Eroberung Venetiens konzentriert war. Der Angriff sollte in zwei getrennten Aktionen der Streitkräfte vorgetragen werden, wobei die eine direkt auf das Quadrilatero, die andere vom Po aus ins Landesinnere vorstoßen sollte. Während die Preußen einen Angriff Garibaldis auf Dalmatien als „unerlässlich und das einzige Mittel, die Dinge in die richtige Bahn zu leiten“, betrachteten, wollten ihn die Italiener im Trentino einsetzen. Der preußische Gesandte war nach dem Gespräch mit La Marmora ziemlich entmutigt und wollte sich direkt an Vittorio Emanuele wenden, musste jedoch sehr bald erkennen, wie gering der Entscheidungsspielraum des Königs war: „Er [Vittorio Emanuele] habe die Eroberung von Venetien, die Expedition nach Dalmatien, die Insurgierung Ungarns, den Heereszug nach Wien – Alles schon vor zwei Jahren ganz allein ohne fremde Hilfe unternehmen wollen, aber seine sämtlichen Generäle seien dagegen gewesen.“ In der Zwischenzeit erhielt Bernhardi einen Brief des preußischen Generalstabschefs Moltke, der voller Pessimismus davon ausging, dass der Beitrag der Italiener, wenn sie bei der angekündigten Strategie blieben, für den Krieg bedeutungslos sei. Auch Moltke forderte Bernhardi auf, sich an den König zu wenden, da offensichtlich auch er seine Einflussmöglichkeiten überschätzte und seine persönliche Tapferkeit mit strategischer Weitsicht verwechselte. La Marmora dagegen war über die preußischen Einmischungsversuche sehr irritiert und beschwerte sich in einem Brief an Barral in Berlin darüber, dass es schon vor Kriegsausbruch zu Reibungen zwischen den Alliierten komme. Ihren Höhepunkt erreichten die Misshelligkeiten mit einer Note des preußischen Gesandten Usedom vom 17. Juni (die anscheinend am 19. überreicht wurde), die als die Stoß-ins-Herz-Depesche in die Geschichte eingegangen ist und La Marmora aufs Höchste empörte. Inhaltlich unterschied sich die Depesche in nichts von dem, was Preußen seit Monaten verlangt und Bernhardi La Marmora einige Tage zuvor erneut vorgetragen hatte; allerdings war es nun der offizielle Vertreter Preußens, der eine Note überreichte, die in einem befehlsmäßigen Ton gehalten war und einen Satz enthielt, der als Beleidigung aufgefasst werden konnte. Dort hieß es, die italienische Strategie (vor allem 93

die Weigerung, durch die Entfachung eines ungarischen Aufstands „ins Herz des Kaiserreichs“ zu treffen) sei für Preußen schädlicher als eine neutrale Haltung Italiens. „Wenn Italien den Krieg nicht in unserem Sinne führen will, wäre es besser gewesen für uns, wenn Italien sich nicht an dem Krieg beteiligt hätte.“ Diese Worte wurden von verschiedenen Seiten als untragbar für eine diplomatische Note kritisiert. Aber auch wenn Preußen hier wenig diplomatisches Taktgefühl an den Tag legte, muss gesagt werden, dass auch hohe italienische Offiziere (zum Beispiel Cialdini und Govone) die Strategie billigten, nach Triest vorzustoßen und in Istrien ein Korps unter Garibaldi einzusetzen. Das Gleiche gilt für einen Umsturzversuch in Ungarn, wie er zur Tradition des italienischen Risorgimento passte. In diesem Zusammenhang trat wiederum General Stephan Thur in den Vordergrund, der an der Seite Garibaldis gekämpft hatte und von dem schon in den Briefen Cavours aus den Jahren 1860/61 die Rede war. Thur nahm nicht nur in Florenz mit Usedom Kontakt auf, sondern fuhr direkt nach Berlin, um mit Bismarck und Moltke zusammenzutreffen. Aus seinem Bericht über das Gespräch mit dem preußischen Ministerpräsidenten entnehmen wir einige Passagen : „Bisher ist es mir nicht gelungen, den König von der Notwendigkeit eines sofortigen Krieges zu überzeugen“, sagte ihm Bismarck, „Aber was macht das? Ich habe das Pferd bis an den Graben geführt und nun muss es springen!“ Thur, über diese Äußerung hocherfreut, informierte Bismarck über den italienischen Plan, das Quadrilatero anzugreifen. „Bismarck war wie von einem elektrischen Schlag gerührt und fragte: ,Wie können sie das vorhaben?‘“ Der ungarische General erklärte, dies sei die Überzeugung La Marmoras, er selbst aber habe in einem Memorandum an Usedom und General Cialdini eine Alternative entworfen und als Antwort einen Brief Cialdinis erhalten, den er Bismarck zeigte: „Lieber General Thur,“, schreibt Cialdini, „ich teile ihre Ansicht vollkommen. Um aber alle Fäden zusammenzuhalten, die Sie nennen, bräuchten wir die Hand eines Cavour. Leider weilt er nicht mehr unter uns. Und wir können keinen Krieg à la Napoleon führen, die Kartoffeln von Gyulay kann man nicht mit Ananas servieren. Und wenn sich ein Zwerg die Hosen eines Riesen anzieht, fällt er hin. Lassen wir also General La Marmora seine Ideen weiter verfolgen.“ Dann kam man auf Ungarn zu sprechen, und Thur forderte Bismarck auf, bei Ausbruch des Krieges eine ungarische Legion zu bilden. Der preußische Ministerpräsident versicherte, er werde am nächsten Tag mit dem König und Moltke sprechen, um erneut bei ihnen um Unterstützung für den Krieg und die Zusammenarbeit mit den 94

Ungarn zu werben. Tatsächlich sicherte Bismarck am nächsten Tag den Kriegsausbruch und die Unterstützung für den ungarischen Aufstand zu, wobei die Kosten zur Hälfte von Preußen und zur Hälfte von Italien getragen werden sollten. Thur sollte mit General Klapka Kontakt aufnehmen, mit dem die Bildung einer ungarischen Legion vereinbart war. Tatsächlich wurde im August ein ungarisches Korps aufgestellt und in Marsch gesetzt, es diente wegen seines „revolutionären“ Charakters jedoch mehr als Drohgebärde denn als Teil der Kriegsmaschinerie.

Der Krieg von 1866: Preußischer Triumph, italienische Enttäuschung Der Krieg im Juni und Juli 1866 nahm auf den parallelen Schlachtfeldern in Venetien und Böhmen einen sehr unterschiedlichen Verlauf und führte zum entgegengesetzten Ergebnis: In Italien ging der Feldzug schleppend voran und führte zur italienischen Niederlage von Custoza am 24. Juni, in Böhmen errangen die Preußen nach ihrem massiv vorgetragenen Angriff am 3. Juli den Sieg von Sadowa/Königgrätz. Ohne koordinierten Aktionsplan zogen die Italiener in zwei Heereszügen ins Feld: Alfonso La Marmora mit 90 000 Mann am Mincio von Westen, um „in das Quadrilatero zu springen“, und Enrico Cialdini mit 70 000 Mann, um über den Po nach Venetien einzudringen. Einige Formationen marschierten langsam und unvorsichtig auf das Quadrilatero zu, wo sie am 24. Juni bei Custoza auf den massiven Gegenangriff der zahlenmäßig unterlegenen, aber von Erzherzog Albrecht und seinem Generalstabschef John hervorragend geführten österreichischen Truppen stießen. Die überrumpelten Italiener wichen zurück, leisteten aber an einigen Stellen hartnäckigen Widerstand, so dass der Rückzug geordnet stattfinden konnte und das Heer nicht aufgerieben wurde. Die Österreicher mussten ihren Sieg mit einem hohen Blutzoll bezahlen (3852 österreichische Gefallene gegen 1178 Italiener) und verfolgten den Feind nicht, sondern machten, zufrieden mit dem Ergebnis, halt, um einen Teil der Truppen nach Böhmen zu verlegen, wo die Preußen zwei Tage zuvor die Grenze überschritten hatten. Am 25. Juni notierte Bernhardi lakonisch: „Die Italiener haben gestern jenseits des Mincio eine Schlacht verloren“, und bemerkte dazu: „Die italienische Begeisterung ohne militärische Zucht, ohne die Erziehung zu militärischer Tätigkeit tut es eben nicht.“ Zwei Tage später traf 95

er bei einem Abendessen mit La Marmora und anderen Offizieren zusammen, und auf die unvermeidliche Frage, was nun zu geschehen habe, erwiderte La Marmora laut Bernhardi: „Wir werden die Streitkräfte ein bisschen hinter den Po verlegen, und dann wird man sehen.“ In Böhmen bewiesen die Preußen bei Sadowa/Königgrätz ohne Zweifel große militärische Stärke, auch wenn einige Militärhistoriker den Erfolg nicht als den „überwältigenden Sieg“ betrachten, als der er zum Mythos geworden und auch in die Militärhandbücher eingegangen ist. Die Strategie Moltkes war der des österreichischen Oberkommandierenden Ludwig Benedek unzweifelhaft überlegen, die preußische Infanterie war besser ausgebildet und mit Kanonen mit gezogenen Läufen besser bewaffnet als die österreichische. Doch der Ausgang der Schlacht hing wie in allen Kriegen letztlich von Unwägbarkeiten ab. Darüber war sich auch Bismarck im Klaren, wie er am Abend des Sieges auf dem Schlachtfeld in einem aufschlussreichen Gespräch mit einem Offizier zu erkennen gab: „Der Flügeladjutant Freiherr von Steinäcker sagte beim Nachhausereiten zu Bismarck: ,Exzellenz, jetzt sind Sie ein großer Mann. Wenn der Kronprinz zu spät kam, waren Sie der große Bösewicht.‘ Bismarck lachte herzlich. Doch hat er später manchmal ernsthaft geäußert, bei unglücklichem Ausgang der Schlacht würde er sich einer Kavalliersattacke angeschlossen und den Tod gesucht haben.“ Auch Govone nahm unmittelbar nach der Schlacht das unter den preußischen Offizieren weit verbreitete Gefühl wahr, großes Glück gehabt zu haben. Prinz Friedrich Karl, der eine wichtige Rolle gespielt hatte, sagte, er sei sich vorgekommen wie ein Lansquenet-Spieler, der eine Million eingesetzt hat, ohne zahlen zu können. Vor allem die Österreicher hätten eine ganze Reihe von Fehlern begangen, und der Sieg sei vor allem der Dummheit von Benedek geschuldet. Schließlich sprach selbst Bismarck davon, dass man in dieser Kampagne großes Glück gehabt habe, und fürchtete auch nach dieser Schlacht das österreichische Heer, das zwar geschlagen, aber nicht aufgerieben war. Doch die militärstrategischen und diplomatischen Rahmenbedingungen hatten sich durch Sadowa/Königgrätz tiefgreifend verändert. Während die Preußen nach Wien marschierten, bewegten sich die Italiener unerklärlicherweise nicht von der Stelle. Sie hatten sich von der Niederlage von Custoza noch nicht erholt, da die militärische Führungsebene gelähmt war. General Cialdini wagte mit seinem Kontingent am Po keinerlei Initiative zu ergreifen, obwohl er wusste, dass der Gegner zahlenmäßig unterlegen war. Die zögerliche Haltung der Italiener führ96

te zu Irritationen bei den Preußen, die für eine erfolgreiche Beendigung des Feldzuges immer noch auf einen energischen Vorstoß des Bündnispartners von Süden her hofften. Für die Misserfolge der Italiener führen die Militärhistoriker verschiedene Gründe an, angefangen von der ungenügenden Vorbereitung und Organisation des italienischen, nach wie vor aus regionalen Truppenverbänden zusammengesetzten Heeres. Die Verbände waren nicht aufeinander eingespielt und wurden von mittelmäßigen Offizieren befehligt. Die Führungsebenen des italienischen Heeres waren nicht mit Theorie und Praxis des modernen Krieges vertraut, wie er von Preußen vorbildlich geführt wurde: Charakteristisch dafür war es, nach sorgfältiger, systematischer, „wissenschaftlicher“ Vorbereitung und durch den Einsatz moderner technischer Mittel (Eisenbahntransport und neue Waffen) auf dem Schlachtfeld eine schnelle „Entscheidung“ zu suchen. Das österreichische Heer war dem preußischen zwar technisch unterlegen, schlug sich aber aufgrund der größeren Erfahrung sehr gut gegen die Preußen und erzielte eine ehrenvolle Niederlage. Bei Custoza spielte trotz der numerischen Unterlegenheit ebenfalls die militärische Erfahrung eine große Rolle, aber man hat sich dennoch gefragt, warum die Österreicher mit so großer Verbissenheit kämpften. Denn in vieler Hinsicht war es absurd, eine Region zu verteidigen, die von der Diplomatie ohnehin bereits abgetreten war. Für diese Haltung der Österreicher lassen sich zwei mögliche Gründe finden. Psychologisch und kulturell sind die Wurzeln in der Verachtung und Feindschaft zu suchen, die weite Teile der politisch-militärischen Führungsschicht in Österreich gegenüber den Italienern hegten, verstärkt durch das Ehrgefühl und die Loyalität gegenüber dem Kaiser, der von seinen Soldaten verlangte, das Reichsgebiet in jedem Fall mit Waffengewalt zu verteidigen. Eine rationalere politische Erklärung liegt jedoch in dem Gedanken, dass es bei der Verteidigung von Venedig und Padua, auch wenn beide schon verloren waren, eigentlich um die Verteidigung von Trient, Meran, Bozen, Triest, Gorizia, Fiume und Zara ging, auf die die Italiener Anspruch erhoben. Und wahrscheinlich wussten die Österreicher, dass ihre Verbissenheit mit der stillschweigenden Billigung der Preußen rechnen konnte. Die Niederlage von Custoza war nach Meinung vieler italienischer und österreichischer Historiker zwar kein Ruhmesblatt für das italienische Heer, aber durchaus wieder auszubügeln: „Auch unter einer mittelmäßigen Führung hätte das italienische Heer siegen können; die unverdiente Niederlage des jungen Heeres war an sich nichts Schlim97

mes; es waren die Generäle, die daraus in der Folgezeit eine Katastrophe machten.“ Heißt das, Italien hätte angesichts der verringerten Truppenstärke der Österreicher nach Custoza den Kampf „im Herzen des Kaiserreichs“ wieder aufnehmen können, wie Berlin vorgeschlagen hatte? Verhinderte demnach die rasche Beendigung des Krieges durch Preußen die italienische Initiative und enttäuschte ihre Erwartungen? War es die Schuld des preußischen Ministerpräsidenten, der in aller Eile mit Wien Frieden schließen wollte, dass Italien verbittert zurückblieb? Ähnlich wie La Marmora, der sich damit entschuldigen wollte, hat man nämlich behauptet, dass „die unvorhergesehene Niederlage von Custoza wieder gut gemacht und unser Waffenglück hätte wiederhergestellt werden können, wenn Preußen den Krieg nach seinem Blitzsieg nicht zu früh abgebrochen hätte.“ Diese These lässt sich meiner Meinung nach weder in militärischer, noch in politisch-diplomatischer Hinsicht aufrechterhalten. Es ist nicht einzusehen, wie die unfähige Heeresführung plötzlich die nötige Kühnheit und strategische Intelligenz dafür hätte entwickeln können. Es gelang Cialdini zwar, in Venetien weiter vorzurücken, aber als wenige Tage später die italienische Marine bei Lissa geschlagen wurde – eine in strategischer Hinsicht sehr viel schlimmere Niederlage als Custoza – war die Chance vertan, durch die Kontrolle über die Adria abgesichert, tiefer ins Habsburgerreich einzudringen. In den diplomatischen Quellen geht es im Wesentlichen um drei Probleme: Erstens wollte Preußen den zeitlichen und formalen Ablauf der Beendigung des Krieges selbst bestimmen; zweitens fürchtete Italien, von den Friedensverhandlungen ausgeschlossen zu werden; und drittens wollte Frankreich Nutzen aus dem Krieg ziehen, der eine so unerwartete Wendung genommen hatte. Unmittelbar nach dem preußischen Sieg drängte Napoleon III. auf Betreiben Wiens die italienische Regierung dazu, den Krieg zu beenden, weil Italien durch seine Vermittlung Venetien erhalten werde. Wie bereits im Vorfeld des Krieges sollte Italien zum Bruch des Bündnisses mit Preußen verleitet werden, das seinerseits gerade in diesem Augenblick von Italien höchste Anstrengungen erwartete. Es ist interessant, die Entwicklung anhand der Aufzeichnungen Bernhardis zu verfolgen, der Vittorio Emanuele besuchte, nachdem dieser von Napoleon das Telegramm mit der Aufforderung zum Abbruch des Krieges erhalten hatte. Der italienische König war besonders über die vom Kaiser gebrauchte Formulierung wütend: „Venedig, das Österreich an mich abtritt.“ Vittorio Emanuele wies darauf hin, dass Napoleon nicht die Vergangenheits98

form benutzte (also nicht: „das Österreich an mich abgetreten hat“), und interpretierte das so, dass Napoleon von Wien noch keinerlei sichere Zusage in der Hand habe. Vor allem beunruhigten den König die Worte, es sei leicht „eine Einigung zu erzielen“. „Worüber“, frage er. „Ich will ihm nichts geben.“ Es gab jedoch Gerüchte, dass Frankreich Italien mit seiner Offerte erpressen wolle, ja man sprach sogar von der Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts zwischen Frankreich und Italien, falls es das französische Angebot zurückweisen sollte. Das war zwar sehr unwahrscheinlich, aber der König schloss es in seiner Erregung nicht aus: „Wenn sich Napoleon aber quer legt? Wenn er erklärt: Stopp! Venedig ist mein und ich schicke Besatzungstruppen? Er ist dazu fähig.“ In diesem Fall, so der König, werde er „mit dem ganzen Heer vor der Adriaküste und Triest usw. landen!“ Auch wenn es sich in diesem Fall um haltlose Annahmen handelt, sagen sie doch viel über die Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen aus. Die preußische Regierung dagegen erwog die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts zwischen Preußen und Frankreich sehr viel ernsthafter und fragte auch Italien um seine Meinung. In der ersten Julihälfte ging es Preußen vor allem darum, dass Italien den Krieg energisch weiterführte: Bismarck schrieb in diesem Sinne an den Gesandten Usedom in Florenz, damit dieser Druck auf die italienische Regierung ausübe und alle Gerüchte über einen bevorstehenden einseitigen Waffenstillstand zwischen Preußen und Österreich dementiere. Bismarck fügte noch hinzu, La Marmora errege durch seinen Attendismus den schweren Verdacht einer Übereinkunft mit Napoleon III. Am 13. Juli übergab Bernhardi Außenminister Visconti Venosta ein offizielles Schreiben seiner Regierung, in dem die bereits bekannten dringenden Forderungen gestellt werden, die Bernhardi folgendermaßen wiedergibt: „Wenn man die Österreicher nicht aufriebe, sondern sie intakt und unverfolgt sich aus dem Quadrilatère herausziehen ließe, um uns vor Wien entgegenzutreten, so wäre offenbar, dass wir alsdann einen schlechten Frieden schließen müssten.“ Diese Worte enthielten eine neue, vielsagende Drohung. La Marmora war zutiefst empört darüber, dass Berlin ihm mangelnde Loyalität vorwarf. Er betonte, dass er es war, der seinerzeit das österreichische Angebot der Abtretung Venetiens abgelehnt hatte, um dem Bündnis mit Preußen treu zu bleiben. Bernhardi gegenüber griff er zu starken Worten: „Ich lasse mir von niemanden Vorhaltungen über meine Loyalität gefallen, nicht einmal von Herrn Bismarck. Usedom hat sich niederträchtig verhalten.“ 99

Am 15. Juli schrieb Barral, der italienische Gesandte in Berlin, an Visconti Venosta: „König Wilhelm I. ist über die Passivität der italienischen Armee beunruhigt; auch Bismarck drängt, dass diese die Österreicher in Venetien verfolge. Beide wollen notfalls einen Krieg mit Frankreich riskieren.“ Diese Drohung war nach Meinung Barrals zumindest als Vorwand oder Motiv für beschleunigte Friedensverhandlungen durchaus ernst zu nehmen. Doch die preußischen Vertreter in Florenz – Usedom und Bernhardi – übten weiterhin Druck auf die italienische Regierung aus, die zu diesem Zeitpunkt den Vormarsch anscheinend tatsächlich energischer betreiben wollte, und bemerkten nicht, dass die Berliner Regierung ihre Einstellung zu raschen Waffenstillstandsverhandlungen mit Wien geändert hatte. Besonders Bernhardi glaubte immer noch, Österreich werde die wichtigste von Berlin gestellte Bedingung für den Waffenstillstand, nämlich den Austritt aus dem Deutschen Bund, niemals annehmen können. Govone erhielt den Befehl, im preußischen Hauptquartier zu versuchen, „den Abschluss eines Waffenstillstands zu verhindern, den Krieg zu verlängern und uns die Möglichkeit zur Revanche zu verschaffen.“ Dazu sollte er die neuen italienischen Forderungen für einen eventuellen Waffenstillstand überbringen, der in jedem Fall entsprechend der Bestimmung des Bündnisvertrages, keinen Separatfrieden zu schließen, gemeinsam ausgehandelt werden müsse. Als jedoch am 22. Juli die „leidige“ Nachricht von der italienischen Niederlage in der Seeschlacht von Lissa bekannt wurde, notierte Bernhardi: „Das ist schlimm, sehr schlimm! – Es vernichtet vollends mit der Waffenehre auch das politische Ansehen Italiens und möglicherweise auch das Vertrauen Italiens bei uns.“ Zu diesem Zeitpunkt zögerte Bismarck nicht mehr, die Waffenstillstandsbedingungen zu veröffentlichen, die in den vorangegangenen Tagen in Nikolsburg mit den Österreichern im Geheimen ausgehandelt worden waren und als Vermittlungsvorschläge Napoleons III. präsentiert wurden. Am 22. Juli erhielt Usedom ein Telegramm aus Berlin mit den wesentlichen Punkten der Vereinbarung: „Kaiser Napoleon hat hier und in Wien vorgeschlagen: Erstens: Österreich anerkennt Auflösung des alten Bundes und Rekonstruktion eines neuen ohne Österreich. Zweitens: Norddeutscher Bund, dessen Militär unter Preußen steht. Drittens: Süddeutscher Bund mit völkerrechtlicher Selbständigkeit. Viertens: Nationalverbindung zwischen Nord- und Süddeutschland demnächst frei zu regulieren.

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Fünftens: Elbherzogtümer an Preußen; nördlichstes Schleswig, wenn es wünscht, an Dänemark. Sechstens: Österreich und Verbündete zahlen Preußen Teil der Kriegskosten. Siebtens: Integrität der österreichischen Monarchie. Der Kaiser erklärt Venetien, im Fall der Annahme, sofort an Italien zu zedieren.“

Die italienische Regierung fühlte sich überrumpelt und war nicht bereit, den Waffenstillstand als vollendete Tatsache zu akzeptieren. Bernhardi selbst wusste keine Erklärung für diese unerwartete Sinnesänderung seiner Regierung und fragte sich: „Sind es Drohungen Napoleons, oder ist es eine gänzliche Verständigung mit ihm? – Eines von beiden muss es sein – aber welches von beiden ist es?“ Vorsichtig fügte er jedoch hinzu: „Ich muss mich nun zunächst und bis auf weiteres ganz passiv verhalten und schweigen, um mich nicht zu kompromittieren.“ Diese nüchterne Bemerkung bestätigt indirekt, dass die heftige Entrüstung der italienischen Regierung in seinen Augen keineswegs ganz unberechtigt war. Am 23. Juli telegrafierte Barral, der italienische Gesandte in Berlin, aus Nikolsburg an seinen Außenminister Visconti Venosta, die österreichischen Bevollmächtigten seien am Abend im preußischen Hauptquartier eingetroffen. Auf seine Einwendung, Preußen könne nicht ohne die Zustimmung Italiens verhandeln, habe Bismarck Versicherungen in diesem Sinne abgegeben. Man werde sich über die bereits vereinbarten fünf Tage noch weitere drei oder vier Tage bis zum Inkrafttreten des Waffenstillstandes Zeit nehmen, so dass Italien bis dahin noch einen Erfolg erzielen könne. In juristischer und diplomatischer Hinsicht redete man sich damit auf die Unterscheidung zwischen einem noch nicht unterschriebenen „Waffenstillstand“ und der bloßen „Einstellung der Kampfhandlungen“ hinaus. Diese Nachricht erreichte Florenz erst am 25. Juli. Die italienische Regierung wollte die Waffen nicht ausgerechnet in dem Augenblick niederlegen, als die Streitkräfte sich gerade wieder in Bewegung gesetzt hatten. Der König erklärte, er werde den Krieg gegen Österreich auch ohne Preußen fortsetzen. Sogar Usedom, der in Florenz von der Entscheidung seiner Regierung überrascht worden war, riet Italien dazu, die Feindseligkeiten selbstständig fortzusetzen und seine Truppen vor die Tore Wiens marschieren zu lassen. Doch Govone notierte am 26. Juli trocken, Bismarck habe, „ohne uns zu konsultieren oder Barral zu informieren, einen Waffenstillstand und Präliminarfrieden geschlossen, der heute Abend unterzeichnet werden wird“. Der General hatte zwei Unterredungen mit Bismarck, bei denen er die ita101

lienischen Forderungen für einen Waffenstillstand vortrug, und bekam jedes Mal die Antwort, die preußische Regierung würdige die „Gründe der Regierung, weshalb sie Tirol und die anderen italienischen Gebiete fordere; die Erfüllung dieser Wünsche müsse jedoch auf andere künftige Gelegenheiten verschoben werden“. Am 27. Juli wurde Visconti Venosta von Paris darüber informiert, dass Preußen den Waffenstillstand unter dem Vorbehalt „nicht der Zustimmung, sondern lediglich der Ratifizierung durch Italien“ unterzeichnet habe. Die Diplomatie Bismarcks trieb den italienischen Verbündeten mit heftigen Vorwürfen in die Enge. Man habe nicht zuletzt auf Anraten von General Govone die Rheingrenze nicht geschützt und deshalb mit Recht erwarten dürfen, dass Italien den Krieg mit Nachdruck führe und in Triest lande. Das sei aber nicht geschehen. Am 28. Juli teilte der italienische Außenminister dem preußischen Vertreter in Italien mit, dem Waffenstillstand unter folgenden Bedingungen zuzustimmen: „1.) Der Waffenstillstand wird auf der Grundlage des militärischen uti possidetis abgeschlossen, 2.) Venetien wird ohne Bedingungen an Italien zurückgegeben. Italien behält sich ausdrücklich vor, in den Friedensverhandlungen Vorschläge zur Grenzfrage zu machen.“ Außerdem rechne man damit, „dass die Verhandlungen für den endgültigen Friedensschluss nach Buchstaben und Geist des Vertrags vom 8. April im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Preußen und Italien erfolgen werden.“ Tatsächlich aber entwickelten sich die Dinge ganz anders. Bismarck wurde nervös und ungeduldig, weil er die Unzufriedenheit Frankreichs wegen der fehlenden territorialen Kompensationen als Drohung auslegte. Er schloss einen bewaffneten Konflikt mit Frankreich nicht mehr aus und wollte deshalb so schnell wie möglich mit Österreich Frieden schließen. Govone stellte bei seinen Gesprächen fest, dass man „bei den Streitkräften allgemein von einem Krieg mit Frankreich ausgeht. General Hetzel sagte mir: ,Im nächsten Krieg werden wir nur noch Kanonen mit gezogenem Lauf haben.‘ Auf meine Frage: ,In welchem Krieg?‘, antwortete er: ,Natürlich mit Frankreich! Es wird nicht zulassen, dass Deutschland friedlich vereint wird.‘ Ich antwortete ihm, der Kaiser sei zu weise um sich dem entgegenzustellen, was der Menschheit vom Geschick vorgegeben ist.“ Wieder sahen sich die Italiener ausmanövriert. Bismarck ließ durch Govone anfragen, ob Italien in einem möglichen Konflikt mit Frankreich auf der Seite Preußens stehen werde. Da er auf diese Frage offensichtlich keine Antwort erhielt, was man auch als Ablehnung deuten konnte, zögerte Bismarck nicht mehr, mit Österreich Frieden zu schließen, ohne auf die Italiener zu warten. 102

Am 13. August telegrafierte Barral an Visconti Venosta: „Bismarck hat es wegen der von Frankreich drohenden Gefahr rundweg abgelehnt, auf eine italienische Friedensdelegation zur Teilnahme an den Prager Verhandlungen zu warten. Im Übrigen genüge es, wenn der Erwerb Venetiens für Italien gesichert sei.“ Die Hintergründe dieser Entwicklung werden aus den Gesprächen Bismarcks mit zwei Persönlichkeiten deutlich, die wir bereits kennen. Das erste Gespräch führte Govone am 10. August bei seinem Abschiedsbesuch, wo Bismarck weit ausholend seine Gedanken erläuterte, angefangen von den Schwierigkeiten im Verhältnis zu Frankreich: „Der Kaiser hat uns immer erklärt, dass er nichts für sich wolle; wir haben alles getan, um ihn zufrieden zu stellen, nun kommt er mit unmöglichen Forderungen [...] mit ganz unzulässigen, durch deren Bewilligung wir das ganze in Deutschland gewonnene Ansehen verlieren würden. [...] Ich will wissen, ob der Kaiser mit uns Krieg will, denn nach den Forderungen, die er stellt, muss man fast glauben, dass er Streit sucht. – In diesem Falle würden wir uns nicht mehr für an die Mainlinie gebunden erachten; Wir würden an Deutschland appellieren und es würde ganz zu uns stehen.“

Govone fragte: „Sprechen Euer Exzellenz von den Völkern oder von den Souveränen, z. B. vom Könige von Bayern?“ Etwas zögernd erwiderte Bismarck: „Ja. Die Könige werden es wenigstens mit uns halten.“ Und stellte dann dem italienischen Vertreter eine allgemein gehaltene Frage, von der er wohl wusste, dass dieser sie nicht beantworten konnte: „Welche Haltung würde Italien bei einem Angriff Frankreichs auf uns einnehmen?“ Der General antwortete: „Eure Exzellenz wünschen ,meine Ansicht‘ als eine Probe der öffentlichen Meinung Italiens zu hören. Sie haben bereits erraten, dass ich nicht antworten kann. Indes würden wir nach meinem Dafürhalten gegen Frankreich nur Kriege führen, wenn es uns absolut dazu zwänge. Über unsere gegenwärtigen Beziehungen zu Frankreich bin ich in Unkenntnis. Undankbarkeit ist eine hässliche Sache.“ Bismarck bemerkte dazu unmissverständlich: „,Wir verlangen von Italien nur eine wohlwollende Neutralität und eine Haltung, die Österreich beunruhigen könnte.‘ [...] Bismarck sagte noch, dass die Politik des Kaisers töricht sei; [...] ,mag er nun im Einverständnis mit Österreich stehen, was wir bald aus der Art des Fortganges der Unterhandlungen in Prag erkennen werden; oder mag er sich, was ich für unwahrscheinlicher, weil schwieriger halte, ins Einvernehmen mit Russland gesetzt haben. – Aber auf jeden Fall würden wir einen Revolutionskrieg führen; wir würden Ungarn zum Aufstand bringen und provisorische Regierungen in Prag und in Brünn organisieren. Dann würde ich mich auch nicht mehr an die Friedenspräliminarien und an die Mainlinie gebunden erachten.‘ (das bedeutet, Deutschland würde sofort die Einigung vollziehen).“

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Das zweite Gespräch führte Bernhardi nach seiner Rückkehr aus Italien am 21. August mit Bismarck. Er illustrierte dem Ministerpräsidenten seine Theorie, nach der in Italien eine „piemontesische“ und eine „italienische“ Partei existierte, und erklärte den ungünstigen Verlauf des Krieges damit, dass sich politisch und militärisch die „piemontesische“ Seite durchgesetzt habe, die zugleich die „französische“ sei und sich nur für den Erwerb Venedigs interessiere. Für die „italienische“ Partei dagegen sei der Erwerb Venedigs sekundär: „Worum es sich für sie handelt, das ist, die Vormundschaft Frankreichs abzuschütteln, Italien zu emanzipieren und als eine wirklich unabhängige Großmacht hinzustellen.“ Dabei wäre die „italienische Partei“ gern den strategischen Vorgaben Preußens gefolgt und hätte an dessen Seite den Frieden von Prag geschlossen. Als sich Bismarck kritisch über Barral äußerte, wies Bernhardi darauf hin, dass der italienische Vertreter seine Berichte nach Florenz so formuliere, „als sei Italien schnöde von uns behandelt worden“. Bismarck erwiderte, Barral habe ihn nicht richtig verstanden und die Italiener hätten mit ihren übermäßigen Forderungen (Tirol, Triest usw.) die Lage nur verschlimmert. An diesem Punkt erlaubte sich Bernhardi, der die Kontakte zwischen Preußen und Italien in den zurückliegenden Monaten in Italien aus unmittelbarer Nähe hatte verfolgen können, die Bemerkung: „Diese übermäßigen Forderungen haben die Italiener zunächst gewissermaßen uns zu Gefallen gemacht; sie glaubten uns einen Dienst zu erweisen und nach unseren Wünschen zu verfahren, wenn sie ihre Forderungen in der Weise steigerten, dass Waffenstillstand und Friede dadurch unmöglich wurden.“ Auf diese Weise waren sie dem entgegengekommen, was Preußen selbst anfangs gewünscht hatte. Bismarck gab das zu, bemerkte aber dazu: „,Damit sind sie zu spät gekommen.‘ – Es gab tatsächlich einen Moment, wo wir dergleichen Schwierigkeiten wünschten. – Aber das war etwas früher wir wünschten sie nicht mehr, als die Möglichkeit eines Krieges mit Frankreich nahe rückte.“ Schließlich ging er auf das Gespräch mit Govone und dessen Zurückhaltung ein: „Govone aber habe in so schwankender, unsicherer (NB. eigentlich wohl ablehnender) Weise geantwortet, dass wir uns hätten sagen müssen, es sei auf Italien eben nicht zu rechnen, und da sei dann der Friede mit Österreich notwendig gewesen, um sich gegen Frankreich gehörig vorsehen zu können.“ Hier bog sich Bismarck ganz offensichtlich Vorgänge und Zeiten ex post zurecht, die in Wirklichkeit sehr viel weniger linear und eindeutig gewesen waren. Er benutzte Italien – wie gewöhnlich – als Werkzeug, um den Friedenschluss nach seinen zeitlichen und inhaltlichen Vorstellungen zu gestalten. 104

Nach dem Sieg im Felde tat Bismarck selbst sich schwer, seinen König und die militärische Führung von der Notwendigkeit zu überzeugen, den Konflikt mit Wien schnell und relativ großzügig beizulegen: „Der König und eine starke Strömung unter den Militärs vertraten wesentlich andere Kriegsziele als er. Die Eigengesetzlichkeit der neuen Militärmonarchie brachte sich mit altertümlichen Sieges- und Beutevorstellungen zur Geltung. Der König, der aus alten Loyalitätsvorstellungen so lange die Auseinandersetzung mit dem Kaiserhaus gescheut hatte, wehrte sich jetzt gegen Bismarcks rationale und modern konzipierten Ziele. [. . . ] Der König wollte den militärischen Triumph, er wollte als Sieger in Wien einmarschieren.“

Der preußische König nahm also, wenn überhaupt, nur sehr spät die französische Drohung wahr. In diesem Zusammenhang benutzte Bismarck auch Italien, um den Friedensschluss durchzusetzen: Zunächst setzte er den Widerstand der Italiener gegen den in ihren Augen verfrühten Abbruch des Krieges taktisch dazu ein, um Österreich zum sofortigen Waffenstillstand zu zwingen, beteiligte die Italiener dann aber nicht an den Friedensverhandlungen. Diese formale Brüskierung änderte jedoch nichts daran, dass Italien wie vereinbart Venetien erhalten sollte. Zwischen dem 26. Juli, an dem Preußen und Österreich die Grundzüge des Friedensvertrages festlegten, und dem 23. August, an dem die Verträge in Prag unterschrieben wurden, zeichnete sich am Horizont eine gefährliche internationale Krise ab. Die großen europäischen Mächte, die nicht am Krieg beteiligt waren – Frankreich, Russland und England – waren aufgeschreckt durch den unerwarteten und überwältigenden militärischen Erfolg Preußens und schlugen die Einberufung einer Konferenz vor, um die preußischen Forderungen aus nächster Nähe zu prüfen und eventuell zu mäßigen. Bismarck reagierte nicht nur für diplomatische Gepflogenheiten heftig. Am 3. August ließ er entsprechend den erwähnten Abmachungen eine ungarische Legion auf österreichisches Gebiet einmarschieren (bestehend aus zwei Bataillonen, einer Reiterschwadron und einer Batterie mit insgesamt 1700 Mann). Diese Aktion wurde zwar bald wieder zurückgepfiffen und hatte rein demonstrativen Charakter, machte aber unmissverständlich klar, dass Bismarck im Notfall auch zu „revolutionären“ Mitteln greifen, die „ganze nationale Kraft Deutschlands“ einsetzen und die angrenzenden Länder zum Widerstand auffordern würde, falls die ausländischen Mächte mehr Druck ausübten. Die Drohung galt auch dem Zaren, der über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Deutschland beunruhigt war, wodurch die „revolutionäre“ Verfassung von 1849 wieder eingeführt zu werden schien. Daraus erwuchs in seinen Augen die Gefahr, dass Aufständische in Polen Selbstbestimmung fordern könnten. 105

Die Drohung galt aber besonders Frankreich. In dem oben erwähnten Gespräch mit Govone hatte Bismarck erklärt, dass Napoleon es bald bereuen würde, falls er sich mit Russland und Österreich gegen Preußen verbünde, da Preußen dann „einen revolutionären Krieg“ entfachen und Prag und Brünn helfen würde, sich aus dem Habsburgerreich zu lösen. „Wenn es eine Revolution geben muss, dann machen wir sie statt sie über uns ergehen zu lassen“. Bluffte Bismarck nur, oder war er wirklich dazu bereit, eine Revolution wie 1848 auszulösen, falls Frankreich Preußen angreifen oder der Neugestaltung Deutschlands unter preußischer Führung unüberwindliche Hindernisse in den Weg legen sollte? Es ist zwar wahr, dass „kein Staatsmann wie Bismarck gewohnt war, mit hohem Risiko zu bluffen“, doch die Drohung, das gesamte europäische Gleichgewicht und besonders das Fundament der Habsburger Monarchie zu sprengen, scheint außerhalb jeder politischen Rationalität zu liegen: „1859 hatte auch Napoleon mit Kossuth und Klapka die Anstiftung eines Aufstands in Ungarn verabredet – aber Bismarck war kein Abenteurer, sondern ein preußischer Junker. Hätte er wissentlich die Minen nationaler Unzufriedenheit scharf gemacht, die eines der Bollwerke der konservativen Ordnung in Europa zu sprengen drohten? Hatte bei ihm wirklich die Staatsräson so gründlich über das konservative Prinzip triumphiert? Oder hielt er, wie im Fall der Frankfurter Verfassung, irgendein Mittel in der Reserve, um die entfesselten revolutionären Mächte doch wieder an die Kette des konservativen Interesses zu legen?“

Auf diese Fragen lässt sich natürlich nicht leicht eine Antwort finden: „Im schlimmsten Fall war Bismarck 1866 also bereit, Kräfte zu entfesseln, die er, wie er wusste, nicht lenken konnte. Er stand gewissermaßen mit dem Streichholz in der Hand über dem Pulverfass der nationalen Revolution. [...] Was er opferte, war das Legitimitätsprinzip. Nur unter Napoleon hatte man ein ähnlich rücksichtsloses Verfahren in Europa erlebt. Echte Konservative sahen nun mit Schrecken Preußen auf dem Weg zum Cäsarismus.“

Königgrätz war nicht einfach eine siegreiche und Custoza eine verlorene Schlacht innerhalb ein und desselben Bündnisses: Königgrätz war der Ausdruck einer nationalen Machtpolitik, die ein strategisch und technisch fortgeschrittenes militärisches Werkzeug in der Hand hatte; Custoza war das Ergebnis einer kurzsichtigen Strategie und begrenzter, aber durchaus legitimer politischer Ziele (Eroberung Venetiens), gestützt auf Streitkräfte, die überholte Taktiken und Operationsschemata anwandten. In Deutschland gewann der militärische Sieg sofort epochale Bedeutung, und durch ihn erkannten Bewunderer und Widersacher Bismarck als großen Staatsmann an, wie zwei Beispiele aus entgegen gesetzten Lagern zeigen. Der erste Kommentar stammt von Friedrich Engels, einem 106

überzeugten Gegner der politischen Entwicklung, die sich in Deutschland und Europa anbahnte. In zwei Briefen an seinen Freund Karl Marx schrieb er: „Die Geschichte, d. h. die Weltgeschichte wird immer ironischer. Gibt es etwas Feineres, als diese praktische Verhöhnung Bonapartes durch seinen Schüler Bismarck, der Krautjunker, wie er ist, seinem Meister plötzlich über den Kopf wächst und der ganzen Welt auf einmal handgreiflich klarmacht, wie sehr on sufferance [nur geduldet] dieser arbitre de l’Europe [Schiedsrichter Europas] existiert? Und dann dieser Bismarck selbst, der, um im Innern einige Monate scheinbar feudal und absolutistisch regieren zu können, nach außen die Politik der Bourgeoisie with a vengeance [mit Besessenheit] verfolgt, der Bourgeoisie die Herrschaft präpariert, Wege einschlägt, auf denen nur mit liberalen, selbst revolutionären Mitteln voranzukommen ist, und dabei seine eignen Krautjunker ihren eignen Prinzipien tagtäglich ins Gesicht schlagen lässt.“

Diese scharfsinnige Analyse zeigt jedoch zugleich die Unfähigkeit der radikalen sozialistischen (kommunistischen) Bewegung politisch auf diese Entwicklung zu reagieren. Bezeichnenderweise sieht Engels Bismarck immer noch als einen Nachahmer Napoleons III. und unterschätzt seine Eigenständigkeit. Deshalb kommt er zu dem Ergebnis: „Wir können also meiner Ansicht nach gar nichts andres tun, als das Faktum einfach akzeptieren, ohne es zu billigen, und die sich jetzt jedenfalls darbieten müssenden größeren Facilitäten [Erleichterungen] zur nationalen Organisation und Vereinigung des deutschen Proletariats benutzen, soweit wir können. “ Das zweite Beispiel stammt aus den konservativen Kreisen Deutschlands, die sich in Vertreter der neuen Patriotenpolitik und der traditionellen Prinzipienpolitik gespalten hatten. Zu Letzteren gehörte Ernst Ludwig Gerlach, der Ende August 1866 mit seinem Freund Adolf von Thadden über die Ähnlichkeiten zwischen Napoleon III. und Bismarck debattierte. Als Thadden die Frage, ob er Napoleon für einen Verbrecher halte, bejahte, antwortete Gerlach: „Dann auch Bismarck.“ Harte und bittere Worte eines Mannes, der politisch an den Rand gedrängt war, wie ein Beobachter anmerkte: „nach Hrn. v. Bismarck wird es keine konservative Partei in dem bisherigen Sinne mehr geben. [...] Sie [die Konservativen] wissen und können nichts als die Macht üben im Sinne des bürokratischen Absolutismus. In der auswärtigen Politik haben dieselben Männer bisher das Bündnis mit Österreich als das eigentlich konservative gepriesen, sie haben nicht genug Worte der Entrüstung zu finden gewusst gegen ein Vorgehen Preußens in Deutschland, welches gleichen könnte dem Vorgehen Cavours in Italien. Sie haben von dem ,Räuberkönige‘ Viktor Emanuel gesprochen und haben Franz Bourbon einen Ehrenschild überreicht, und jetzt, meine Herren, schüren diese selben Männer unter der Ägide des Herrn v. Bismarck zum Kriege gegen Österreich im Bunde mit Viktor Emanuel! Meine Herren, Prinzipien gibt es auf jener Seite nicht

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mehr, nur noch den einen Wunsch zu regieren und die Vorteile des Regierens zu genießen.“

Auch Treitschke äußerte sich, und zwar ebenso ambivalent wie immer: Der Historiker und Publizist überhöhte das, was sich auf dem böhmischen Schlachtfeld vollzogen hatte, zur Theorie einer „Revolution von oben“ und stellte bezeichnende Vergleiche mit der Entwicklung in Italien an: „Es gab eine Zeit, da die Ideen der französischen Demokratie die deutsche Welt beherrschten und jene raschen, glücklichen Straßenschlachten, welche in der herrschenden Hauptstadt eines zentralisierten Staates das Schicksal des Landes entschieden, bei uns als die Urbilder glorreicher Revolutionen galten. Das jüngste Jahrzehnt hat uns belehrt, dass die großen Staatsumwälzungen gesitteter Völker sich in der Regel durch andre Mittel, durch geordnete militärische Kräfte vollziehen. Das Königreich Italien ward durch die Heere Frankreichs und Piemonts gegründet, und Garibaldis kühner Zug gegen Süden wäre ein vermessenes Abenteuer geblieben, wenn nicht hinter seinen kühnen Freischaren schirmend und stützend die organisierte Macht des piemontesischen Staates gestanden hätte. [. . . ] Auch die deutsche Revolution, darin wir heute gehobenen Herzens mitteninne stehen, erhielt ihren Anstoß von oben, von der Krone Preußens. [. . . ] glänzende Ziele, die vor wenigen Wochen auch dem träumerischen Schwärmer unerreichbar schienen, stehen greifbar vor uns in nächster Nähe. [. . . ] Gewiss, der Friede, welcher diesen Akt der deutschen Revolution beendigen soll, wird nach dem Ermessen der Kabinette geschlossen werden: seine Bedingungen werden großenteils sich richten nach der Gunst der europäischen Lage.“

Diese Worte sind repräsentativ für die Neuorientierung derjenigen, die sich bald als Nationalliberale bezeichnen und Bismarck unterstützen sollten, weil sie davon überzeugt waren, als Liberale am Aufbau des in Königgrätz gegründeten Staates mitwirken zu können und zu müssen. Was war also der „deutsche Krieg“ von 1866? „Ein deutscher ,Bruderkrieg‘? Der erste Einigungskrieg? Ein Kabinettskrieg des 18. Jahrhunderts mit den Mitteln des 19.? Ein bereitwillig gewählter Ausweg aus inneren Konflikten? Oder ein historisches Fatum, Ergebnis einer unheilvollen, nicht mehr wirklich auf friedliche Weise regulierbaren Konstellation?“ In Wirklichkeit war das eigentlich Neue des deutschen Krieges von 1866 die enge Verknüpfung mit einer Reform des Deutschen Bundes, deren Ablehnung durch Österreich nicht nur unausweichlich zum bewaffneten Konflikt führen musste, sondern ihn auch als nationales Unterfangen legitimierte. Auf diese Weise nahm der Krieg den Charakter einer „nationalen Revolution“ an und wurde begeistert aufgenommen. Die Machtinteressen des preußischen Staates fielen in eins mit denjenigen der kleindeutschen nationalen Lösung. Der Krieg in Italien, der als dritter Unabhängigkeitskrieg in die Geschichtsbücher eingegangen ist, hatte dagegen einen ganz anderen 108

Charakter. Der Krieg zielte auf die Rückeroberung Venetiens, während andere als italienisch beansprucht Gebiete noch ausgeschlossen blieben: Südtirol, Triest (und Teile Dalmatiens). In dem mit Preußen geschlossenen Bündnis war offiziell nur von Venetien die Rede, alles andere blieb unbestimmt. Die Unsicherheit über die territorialen Ziele schlug sich in der Unzulänglichkeit der Strategie des Feldzugs nieder, eine Strategie, die auch durch die zögerliche und wirre Wiederaufnahme der Feindseligkeiten nach der Niederlage von Custoza nicht korrigiert wurde. Die Niederlagen von Custoza und Lissa hatten auch negative Auswirkungen auf die öffentliche Meinung und wurden zum dauerhaften Trauma. Berühmt dafür sind die Worte von Pasquale Villari: „Durch diesen Krieg haben wir viele Illusionen verloren, er hat uns unser unbegrenztes Selbstvertrauen genommen. [. . . ] Der Krieg ist beendet, beendet zum Schaden und zur Schande Italiens. [. . . ] Wir haben die trägen Deutschen wie Blitze stürmen und die feurigen Italiener wie Schildkröten schleichen sehen. [. . . ] Der Krieg ist ein großes Übel für die Völker, aber schlimmer noch ist ein Frieden, der das Ehrgefühl nicht befriedigt. [. . . ] Wir werden Venedig erhalten, aber nicht Trient und Triest, und wir werden für immer entehrt sein. [. . . ] Nicht das Quadrilatero von Mantua und Verona hat unseren Vormarsch aufgehalten, sondern das Quadrilatero aus 17 Millionen Analphabeten und 5 Millionen Schwärmern.“

„Das negative Bild des unkriegerischen Italieners verwandelte sich 1866 zum Gemeinplatz“, so eine spätere Einschätzung, „und zugleich zum Schuldgefühl, von dem sich ein Teil der öffentlichen Meinung erst durch Vittorio Veneto wieder befreit fühlte.“

Der deutsche Liberalismus: Kapitulation vor Bismarck oder Hoffnung auf eine „stillschweigende Änderung der Verfassung“? Der unerwartet klare Sieg von Sadowa/Königgrätz kam für die Mehrheit der deutschen Liberalen ebenso überraschend wie die vorbehaltlose Annahme der von Bismarck auferlegten Friedensbedingungen durch Österreich, besonders die Auflösung des Deutschen Bundes durch den Austritt Österreichs. Selbstironisch schrieb der Historiker und Publizist Hermann Reuchlin im Oktober an Max Duncker: „Ich höre, dass Sie große Dinge von Bismark halten, welcher mir neben meinem Cavour bedenklich erschien. Nun weiß ich, dass er mehr als ein Junker ist, und 109

unsere liebe demokratische Presse hat einigen Grund zu dem Signalement, dass ich neben einem hübschen Cavourschen auch ein hässliches Bismarcksches Gesicht habe. Es scheint mir eine Hauptaufgabe des Moments, dass sich Norden und Süden besser verstehen lernen...“ Bedingungslos positiv reagierten diejenigen, die sich in den vorangegangenen Monaten der Regierung Bismarck vorsichtig genähert hatten. Treitschke konnte seine Begeisterung nicht verhehlen: „Ja, die Geschichte ist in den jüngsten Wochen mit Riesenschritten vorwärts gegangen [. . . ] Nun denn, die deutsche Kleinstaaterei ist vor unseren Waffen in einer Weise zusammengebrochen, wie ich es in meinen rosigsten Träumen doch kaum erwartet hatte.“ Das Leitmotiv seiner Argumentation lautete, die deutsche Revolution habe von oben, von der preußischen Krone, ihren Anstoß erhalten. Aber in einigen Briefen nannte er neben der „Revolution von oben“ auch persönliche Erwägungen: „Wer nicht mit zur Regierung gehört, bedeutet sehr wenig. Die Wirksamkeit in der Presse war niemals undankbarer als heute. Nun gar die Jahrbücher haben freilich, seit mein Name auf dem Titel steht, an Abonnenten gewonnen, doch sie bleiben ein Blatt für einen anständigen aber kleinen Leserkreis. Parlamentarische Tätigkeit ist mir leider durch mein Leiden verschlossen.“ Tatsächlich begann ein neues Kapitel der publizistischen Tätigkeit Treitschkes, der nun immer heftiger gegen die Liberalen zu Felde zog, ohne jedoch ganz von seiner Kritik an Bismarcks Innenpolitik abzurücken. Gleichzeitig vollendete er seine Biographie Cavours, von der später die Rede sein wird. Auch Rochau schrieb einen Aufsatz, der schon im Titel Recht und Macht  ein zentrales Thema seiner Überlegungen zur Realpolitik aufgreift. Der Gegensatz zwischen bestehendem Recht und Macht bildet für ihn das Kriterium zur Beurteilung der Ereignisse in Deutschland im Sommer 1866: Für Rochau hat der Erfolg das entscheidende Wort in der Geschichte, ist „Weltgericht“ und oberste Instanz, gegen deren Urteil in irdischen Dingen keine Berufungsmöglichkeit existiert. An dieser Stelle zieht der Autor wiederum den Vergleich mit Italien: Auch wenn Bismarck nicht Garibaldi und alles andere als ein Liberaler sei, so seien die Anwendung von Gewalt und Blutvergießen für die italienische Einigung doch ebenso notwendige Bedingungen gewesen wie für Deutschland. Wesentlich ist für Rochau nur, dass für Krieg und Sieg von 1866 allein das nationale Interesse ausschlaggebend war und sie so zum „glücklichsten Ereignis“ des Jahrhunderts wurden. In einem weiteren Artikel unter der nicht minder emblematischen Überschrift Blut und Eisen betont Rochau nicht ohne Stolz, dass seine früheren Aufsätze keineswegs 110

Liebedienerei gegenüber Bismarck gewesen wären, den er im Gegenteil scharf kritisiert habe. Jetzt aber sehe er sich gezwungen, ihn gegen all die zu verteidigen, die Bismarck aus rein moralischen Erwägungen nach wie vor ablehnten. Auf der Tagesordnung stehe die Verfassung für den Norddeutschen Bund. Rochau wendet sich energisch gegen die hohle Polemik derjenigen, die darin die Formulierung der bürgerlichen Grundrechte und die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, das nur wenige Rechte haben sollte, vermissten. Mit dieser Stellungnahme verließ Rochau den Boden des Liberalismus viel entschiedener, als Treitschke das tat. Zu behaupten die „gegenwärtige Verfassung Deutschlands“ beruhe auf Königgrätz war nicht nur eine griffige publizistische Formulierung, sondern der Abschied von liberalen Grundsätzen. Trotz ihrer unterschiedlichen Akzentuierung fußte die Distanzierung Treitschkes und Rochaus vom Liberalismus auf der gemeinsamen (unbewiesenen) Voraussetzung und Erwartung, die Liberalen könnten, auch ohne zunächst im Parlament auf institutionelle Anerkennung und Festigung ihrer Rechte zu pochen, auf Regierung und Staatsführung Einfluss nehmen, denn beide gaben sich der Illusion hin, Bismarck sei gezwungen, nach der Vollendung der nationalen Einheit mit den Liberalen zusammenzuarbeiten. Der Trumpf in Bismarcks Hand war nicht nur der militärische Sieg Preußens und der Ausschluss Österreichs aus dem Bund, sondern sein „revolutionäres“ Vorhaben, in dem neu zu bildenden Norddeutschen Bund das allgemeine Wahlrecht einzuführen. Schon lange plante Bismarck die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für die männliche Bevölkerung, nicht etwa, weil er damit die Volkssouveränität anerkannte, sondern als Mittel, um das Parlament unter Kontrolle zu bringen, d. h. es dem Einfluss der liberalen Mehrheit, die nach dem alten Wahlrecht zustande kam, zu entziehen. Schon im Juni 1865 hatte Bismarck in einem Gespräch mit Max Duncker erklärt, entweder müsse eine Versammlung für die Verfassungsreform einberufen oder das allgemeine Wahlrecht eingeführt werden. Später wiederholte er, Preußen und Deutschland seien mit der gültigen Verfassung unregierbar und nur das allgemeine Wahlrecht könne die höchste Autorität im Staat, d. h. die Monarchie wieder stabilisieren: Es sei eine „auf langer Erfahrung begründete“ Einsicht, „dass das künstliche System indirekter und Klassenwahlen ein viel gefährlicheres ist, indem es die Berührung der höchsten Gewalt mit den gesunden Elementen, welche den Kern und die Masse des Volkes bilden, verhindert.“ Weiter führte er aus: „Nach 111

unseren Beobachtungen sind die Massen ehrlicher an der staatlichen Ordnung interessiert als die Führer derjenigen Klassen, welche man durch die Einführung irgendeines Zensus in der aktiven Wahlberechtigung privilegieren kann.“ Die Masse des Volkes war in Bismarcks Augen an der Aufrechterhaltung der Monarchie mehr interessiert als die Vertreter des Bürgertums. Doch die gesamte politische Klasse von den Erzkonservativen bis hin zu den Liberalen der Fortschrittspartei – mit Ausnahme der Radikaldemokraten und der Lassallianer – betrachteten das allgemeine Wahlrecht als einen Sprung ins kalte Wasser oder als demagogische Finte. Nach Baumgarten untergrub die „cäsaristische Demagogie“ Bismarcks die Autonomie der Institutionen und führte lediglich dazu, den Radikalismus der Sozialdemokraten und der Ultramontanen zu verschärfen. Als Zeichen dieses Cäsarismus deutete Baumgarten vor allem Bismarcks Rückgriff auf das allgemeine Wahlrecht, das dieser selbst in seinen Gedanken und Erinnerungen als die „damals stärkste der freiheitlichen Künste“ pries, die er 1866 „mit in die Pfanne zu werfen“ bereit war, „um das monarchische Ausland abzuschrecken von Versuchen, die Finger in unsere nationale Omelette zu stecken.“ Baumgarten sah katastrophale Folgen voraus, denn seiner Meinung nach bedrohe das suffrage universel nicht nur den Staat, sondern auch die ganze Kultur, denn es führe „auf allen Feldern“ zur Herrschaft der rohen Instinkte der Massen. Bismarck ging darauf am 8. März 1867 direkt ein, als er vor dem Reichstag des Norddeutschen Bundes erklärte: „Das allgemeine Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbteil der Entwicklung der deutschen Einheitsbestrebungen überkommen; wir haben es in der Reichsverfassung gehabt, wie sie in Frankfurt entworfen wurde; [...] und ich kann nur sagen: Ich kenne wenigstens kein besseres Wahlgesetz. [...] ...ich will damit nur motivieren, dass ,verbündete Regierungen‘ [...] keineswegs ein tief angelegtes Komplott gegen die Freiheit der Bourgeoisie in Verbindung mit den Massen zur Errichtung eines cäsaristischen Regiments beabsichtigt haben können.“ Sich ausdrücklich auf den Vorwurf des Cäsarismus zu beziehen, um ihn dann zu widerlegen, war ein brillanter rhetorischer Schachzug, der jedoch seine Gegner nicht zum Schweigen brachte. Einige Jahre später übernahm Max Weber in der Rückschau den Vorwurf der Liberalen und nannte die Reichstagssitzung vom 8. März 1867 ein Ultimatum, das nicht nur außenpolitische, sondern auch innenpolitische Gründe hatte und dazu diente, dem noch unbotmäßigen Bürgertum seinen „Cäsarismus“ aufzuzwingen. 112

Tatsächlich gab die Verfassung des Norddeutschen Bundes trotz des allgemeinen Wahlrechts dem König von Preußen als Bundespräsidenten gegenüber dem Parlament große Vorrechte, mit dem offensichtlichen Ziel, jede Entwicklung hin zu einem wirklich parlamentarischen System zu unterbinden. Der Kanzler war nicht vom Vertrauen des Reichstags abhängig, auch wenn er die freie Meinungsäußerung im Parlament garantieren und auf dessen Anfragen antworten musste. Die Krone besaß den Oberbefehl über die Streitkräfte und die Kontrolle über die Außenpolitik einschließlich des Rechts, internationale Verträge abzuschließen, Krieg zu erklären und Friedensverhandlungen zu führen. Ansonsten war die Verfassung des Norddeutschen Bundes ein Meisterwerk des politischen Realismus, denn sie wies allen wichtigen politischen Kräften einen Platz in dem neuen Staatswesen zu: der deutschen Nation, den verschiedenen Parteien, der Krone der Hohenzollern, der preußischen Regierung und den Dynastien und Regierungen der kleineren deutschen Staaten. Neben dem eigentlichen Parlament, dem Reichstag, besaß der Bundesrat gesetzgebende Kompetenz. Das komplizierte System der verschiedenen Organe hatte seinen Dreh- und Angelpunkt in Kanzler Otto von Bismarck. Im Lauf der Jahre „hatte Bismarck durch seine mehrfachen Ämter als Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident und preußischer Außenminister die Wahl zwischen zwei Exekutiven, der im Reich und der in Preußen. Je nachdem, wie die Situation es zu fordern schien, konnte er die Bedeutung des einen auf Kosten des anderen Organs ausbauen oder seine Autorität innerhalb der einen Exekutive einsetzen, um seinen Einfluss in der anderen zu verstärken. Aufgrund dieser Schlüsselposition hatte er ebenfalls die Alternative, Gesetzesvorlagen entweder im Zentralparlament oder im preußischen Landtag einzubringen. [...] Bismarck war jedoch keiner dieser Kammern gegenüber, sondern ausschließlich seinem König und Kaiser politisch verantwortlich.“

Die Liberalen – bereits gespalten in willige Unterstützer Bismarcks (seit 1867 Nationalliberale) und andere, die der neuen Lage kritisch gegenüberstanden – erfassten nicht vollständig, dass die neue Verfassung die von allen erhoffte liberale Entwicklung blockieren würde, und verzichteten auf eine harte parlamentarische Auseinandersetzung darüber. Selbstkritik überwog alle anderen Motive: Jetzt galt es, guten Willen zu zeigen und an der Entstehung der Verfassung mitzuarbeiten. Selbst Hermann Baumgarten, der den kritischen Liberalismus dieser Phase wie kein anderer repräsentierte, schrieb im Mai 1866 an Sybel, es gelte die Gelegenheit zu ergreifen, um das Gewicht der ganzen Nation auf die Seite Preußens zu verlagern. Wenn Bismarck mit der eindeutigen Unterstützung der Kräfte des Volkes siegen werde, sei der eigentliche Sieger das liberale Preußen. Voraussetzung für einen derartigen Er113

folg musste eine Selbstkritik der Liberalen sein, wie Baumgarten selbst sie in einem langen Aufsatz der „Preußischen Jahrbücher“ unter der Überschrift Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik übte. Dieser Text wurde für „die deutsche Politik der zweiten Hälfte der sechziger Jahre“ ebenso „grundlegend“, „wie es die Grundsätze der Realpolitik für das vorausgegangene Jahrzehnt gewesen waren.“ In unserem Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass die Selbstkritik Baumgartens von Italien als „Vorspiel“ für die „nationale deutsche Erhebung“ ausgeht. In diesem Zusammenhang hebt der Autor Cavour lobend hervor: „Italien besaß einen Mann, der großen Mut mit größerer Klugheit verband, und es besaß einen König, in dem wirklich königliche Empfindungen lebten. Italien war nicht zerfressen von eigensinnigem Doktrinarismus [...] Während der Kontinent unter einer von Preußen bis nach Spanien reichenden Restauration seufzte, wagte das kleine Sardinien konstitutionell zu sein und, ein Land der modernen Volkswirtschaft, einen Stoß vorzubereiten, der die Lage des Weltteils von Grund aus ändern sollte.“ Zur schwierigen Frage des Verhältnisses zwischen Piemont/Italien und dem Frankreich Napoleons III., das bei den Liberalen in Deutschland mit großem Misstrauen betrachtet worden war, nimmt Baumgarten eine entschiedene Haltung ein. Er zieht nämlich eine eindeutige Trennungslinie zwischen der Politik Napoleons, der den Antagonismus zwischen Österreich und Russland nutzte und sich der nationalen Sache Italiens bediente, um Österreich zu treffen, und der Fähigkeit des „großen Italieners“ Cavour, diese politische Großwetterlage zugunsten der italienischen Einigung zu nutzen. Baumgarten sieht einen großen Unterschied zwischen Louis Bonaparte, der durch einen kriminellen Verfassungsbruch an die Macht gekommen und stets ein Feind der deutschen Einheit geblieben sei, und Cavour, der ein mit Deutschland vereinbares liberales und nationales Prinzip verkörpere. Die bedingungslose Bewunderung Baumgartens für Cavour ist deshalb besonders interessant, weil er in dem piemontesischen Staatsmann – fast schon im Sinne Max Webers – den Idealtypus des großen Berufspolitikers und der Führerpersönlichkeit sieht. Bezeichnenderweise findet sich bei Baumgarten die Formulierung „Politik ist ein Beruf “, und zwar der „höchste und schwierigste Beruf, dem sich der Mann widmen kann.“ Es ist zu betonen, dass die Selbstkritik der deutschen Liberalen nicht die liberalen Prinzipien als solche betraf, sondern ihre operative Umsetzung als „Regierungsfähigkeit“. Im Gegensatz zur lebhaften Tätigkeit der Italiener lag für Baumgarten der wesentliche Fehler der deutschen Li114

beralen in ihrer doktrinären Regierungsunfähigkeit. In dieser Hinsicht hätten die Ereignisse des Jahre 1866 in Deutschland die Lage grundlegend verändert und etwas „Gewaltiges“ geschaffen. Mit diesen Worten ging Baumgarten auf Bismarck zu, obwohl es ihm nicht leicht fiel : „Denn liegt nicht auch ein wenig Trauer in dem Satz: ,Der einzige, große Sieg des Liberalismus, den unser Jahrhundert kennt, wurde in Italien erfochten.‘“ Es ist freilich nicht leicht festzustellen, wie Baumgarten 1866 wirklich über Bismarck dachte. Sein Aufsatz enthält Passagen über die entscheidende Rolle einzigartiger Persönlichkeiten, aber dafür zieht er ein weiteres Mal das italienische Beispiel heran: „Die wahrhaft entscheidenden Impulse gingen nicht von dem italienischen Volke, auch nicht von irgendeiner italienischen Partei, sondern von Cavour aus [...] Gewiss ist unsere Zeit in wichtigen Beziehungen von demokratischen Tendenzen beherrscht, aber eben dieser demokratische Charakter macht ihr hervorragende Einzelne nur um so unentbehrlicher. Denn die Demokratie bedarf des Hauptes. Nur Aristokratien können die Masse der Auserlesenen eine Kollektivtätigkeit üben lassen.“

„Mit dieser Erkenntnis scheint sich der liberale Publizist eine Brücke zu der Führerpersönlichkeit Bismarcks gebaut zu haben.“ Trotz dieser Vorwegnahme Weberscher Gedanken ist bei Baumgarten der Begriff des Adels nicht Synonym für Berufspolitikertum, sondern meint den Adel als soziale Schicht in der Geschichte, der in den Rang der eigentlichen politischen Klasse erhoben wird. Natürlich müssten sich alle modernen Staaten im Wesentlichen auf die „Arbeit des Bürgertums“ stützen und deshalb den „bürgerlichen Kräften“ oder dem „Mittelstand“ einen wichtigen Platz einräumen. Der Mittelstand aber sei für das politische Handeln im eigentlichen Sinn wenig geeignet, vor allem mangele ihm die Fähigkeit zu führen: „Der Bürger ist geschaffen zur Arbeit, aber nicht zur Herrschaft, und des Staatsmannes wesentliche Aufgabe ist zu herrschen.“ Angesichts der großen Ereignisse, die seine Generation miterlebt habe, sei deutlich geworden, wie wenig tragfähig die bisherigen Grundlagen der nationalen liberalen Politik waren: „Fast alle Elemente unseres politischen Systems sind durch die Tatsachen als irrtümlich erwiesen. [. . . ] Ich bin der festen Überzeugung, dass eine befriedigende Lösung unserer politischen Aufgaben nur dann gelingen wird, wenn der Liberalismus aufhört, vorwiegend Opposition zu sein, wenn er dazu gelangt, gewisse unendlich wichtige Anliegen der Nation, für die nur er ein volles und aufrichtiges Verständnis hat, in eigener gouvernementaler Tätigkeit zu befriedigen, wenn wir einen wohltätigen erfrischenden Wechsel liberaler und konservativer Regierungen bekommen. Der Liberalismus muss regierungsfähig werden. Wer darin eine Verkümmerung der liberalen Größe findet, dass er statt als Opposition ein Unbegrenztes zu fordern, als Regierung ein Geringes tun soll, dem kann ich freilich nicht helfen.“

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Es sei noch einmal betont, dass diese Selbstkritik nicht den Liberalismus als solchen meint. Vielmehr wird damit die Herausforderung Bismarcks angenommen, mit ihm gemeinsam zu regieren, weil man sich davon eine „stillschweigende Änderung der Verfassung“ erhofft: „Mit der Verfassung, einem ,dilatorischen Formelkompromiss‘ (Wolfgang J. Mommsen), waren auch die Nationalliberalen nicht zufrieden, weder 1867 noch 1871, denn sie hatten gehofft, ein parlamentarisches Regierungssystem durchsetzen zu können. Wenn sie der Verfassung dennoch zustimmten, obwohl ihnen das nicht gelungen war, geschah das nicht, wie so oft behauptet wurde, aus Resignation und Schwäche oder aus Furcht vor der jungen Arbeiterbewegung. Die Nationalliberalen waren vielmehr überzeugt, dass die wirtschaftliche Stärke des Bürgertums bald zwangsläufig die politische Struktur des Nationalstaats zugunsten des Liberalismus verändern würde. Wer in der Gesellschaft dominiert, wird auch den Staat beherrschen, davon zeigten sich die Nationalliberalen überzeugt.“

Dieser Punkt ist sehr wichtig: Der Liberalismus erscheint in den Augen der Nationalliberalen als siegreich in der Wirtschaft, und die Politik Bismarcks bewegt sich auf dieser Linie. Das beweisen die „Preußischen Jahrbücher“, die liberale Zeitschrift, die die Regierung so oft kritisiert hatte: „Die Volkswirtschaft hat sich zu Bismarck nie in einem prinzipiellen Gegensatz befunden wie die praktische Politik und staatsrechtliche Doktrin, da sie seiner Festigkeit den bedeutendsten handelspolitischen Fortschritt der Nation in den letzten Jahrzehnten, den Abschluss des französisch-preußischen Handelsvertrages und die Wiedererneuerung des Zollvereins auf der Grundlage eines freisinnigen Tarifs, verdankte.“

Deshalb: „Die innenpolitischen Rückwirkungen von Bismarcks Handelspolitik waren beträchtlich. Die Erfolge des Ministerpräsidenten hatten zur Folge, dass sich das Verhältnis zwischen Unternehmerschaft und Regierung zunehmend positiv gestaltete. Für den Liberalismus, der zur selben Zeit einen erbitterten Konflikt mit Bismarck auszufechten hatte, war das kein Grund zur Genugtuung. Er musste der aktiven Unterstützung jener Bourgeoisie entbehren, für deren materielle Interessen er sich beharrlich einsetzte.“

Kehren wir zur Politik zurück. Wie erwähnt, hatten die Liberalen während des von 1862 bis 1866 dauernden Verfassungskonflikts mit der Krone und Bismarck den Rechtsstaat gegen die illiberale Willkür verteidigt. Nach dem Krieg schien die von Bismarck vorgeschlagene Beilegung des Konflikts durch das so genannten Indemnitätsgesetz eine neue Phase der Zusammenarbeit zu eröffnen, obwohl die bestehende Verfassung alles andere als liberal war , aber die Liberalen nährten die Hoffnung auf eine Veränderung der Lage, die ihrer Meinung nach zu einer Weiterentwicklung der Verfassung selbst führen musste. Tatsächlich handelten die 116

Nationalliberalen einige Jahre lang als eine Art informelle Regierungspartei, die mit Bismarck kollaborierte, ohne offiziell an der Regierung beteiligt zu sein. Das deutsche Verfassungssystem entwickelte sich so zu einer Zwischenform zwischen einer parlamentarischen Monarchie nach englischem Muster und einer Form der Autokratie, aber in Deutschland war der Glaube weit verbreitet, das deutsche System müsse einen eigenen Weg finden und verwirklichen, der besser sei als die viel gelobten liberalen Regime in Europa. Man kann mit Recht sagen, dass der entscheidende Schritt durch das von Bismarck 1867 geschaffene System getan wurde: der Bismarckismus als erste Form des deutschen „Sonderwegs“. Im Laufe der Jahre passte der Reichskanzler die Institutionen immer mehr seiner faktisch übermächtigen Stellung an: „Bismarck hat versucht, alle Institutionen – die Monarchie, das Parlament und fast alle anderen politischen Kräfte – zu Werkzeugen seiner Macht zu formen. Aus einer zentralen Position heraus zielte er darauf ab, sie gegeneinander auszuspielen. Keiner Institution wollte er die ganze Macht nehmen, aber keine durfte mehr Macht als die anderen gewinnen. Am Ende aber kam es zu Turbulenzen.“

Dieses Urteil reicht natürlich weit über die Zeit hinaus, die für unser Thema relevant ist, umreißt aber einige Charakteristiken des Modells, das als Cäsarismus bezeichnet werden kann.

Die Neubewertung Cavours im Vergleich zu Bismarck Noch im Herbst 1866 stellte Hermann Baumgarten Cavour als ein auch für Deutschland gültiges Vorbild des politischen Liberalismus dar, aber die Entwicklung in Deutschland in den Jahren 1866/67 und die immer stärkere Dominanz Bismarcks wirkte sich auch auf das Urteil über Cavour aus: „Bei den ersten Wahlen für den Norddeutschen Reichstag war der Vergleich Bismarcks mit dem Gründer der italienischen Einheit ein Lieblingsthema der Kandidatenreden und in den Zeitungen stritt man sich über die Grenzen, in denen eine Zusammenstellung beider Männer zulässig sei.“ Ich bin der Meinung, dass dieses gewichtige Urteil genauer präzisiert werden muss. Bis 1866 war die Mehrheit der Liberalen noch skeptisch gegenüber dem preußischen Ministerpräsidenten und hatte immer Cavour als Vorbild vor Augen, doch nach den Ereignissen von 1866 waren sie vom Erfolg der Bismarckschen Strategie dermaßen 117

überwältigt, dass das Vorbild Cavours allmählich verblasste, wenn nicht ganz vom Schatten Bismarcks verdunkelt wurde. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels haben wir gesehen, wie die deutschen liberalen Publizisten und Historiker, wenn auch in unterschiedlichem Maße, zwischen 1858 und 1861 Cavour positiv bewerteten, ja ihn bewunderten. Noch im Januar 1865 stellte die „Wochenschrift“ des Nationalvereins unter der Überschrift Bismarck der Große Cavour als nüchternen und tatkräftigen Politiker mit nationalen und liberal-konstitutionellen Überzeugungen Bismarck gegenüber, der nur als „beschränkter Partikularist“ und „plumper Reaktionär“ bezeichnet wurde. Ein Cavour hätte an der Stelle Bismarcks die SchleswigHolstein-Frage so gehandhabt, dass Macht und Prinzipientreue gewahrt geblieben wären. Der preußischen politischen Führung mangelte in den Augen der Liberalen gerade diese Synthese: Die Rettung des Vaterlandes erfordere unbedingt Willensstärke, jedoch gepaart mit einem auf liberalen Grundsätzen basierenden Programm. Für den Nationalverein war Bismarck nicht der richtige Mann, weil ihm beides fehlte. Diese Linie verfolge der spiritus rector der „Wochenschrift“ August Ludwig von Rochau, für den hinter seiner Kritik an Bismarck immer einige italienische Politiker standen, vor allem Cavour, auch wenn er diesen Vergleich zwischen dem piemontesischen und dem preußischen Ministerpräsidenten nicht explizit formulierte. Dabei ist zu betonen, dass Rochau das Ergebnis der italienischen Einigungsbewegung insgesamt negativ bewertete. In dieser Hinsicht hat ihm ein gründlicher Analytiker der deutschen Publizistik allerdings folgenden impliziten Vorwurf gemacht: „Auch fehlte ihm [Rochau] [. . . ] unseres Erachtens der rechte Sinn für die Leistungen der italienischen Erhebung. Zwar hatte er billigerweise im ersten Teil der ,Realpolitik‘ des starken, edlen und klugen Charakters der sardinischen Politik seit der Niederlage von Novara gedacht und den Zusammenhang der konstitutionellen Innenpolitik des Hauses Savoyen mit dessen ehrgeizigen Plänen begriffen, von der Lebenskraft der romanischen Völker aber scheint Rochau nicht hoch gedacht zu haben und vornehmlich die Italiener sind es, welche in seiner Bilanz sehr schlecht abschneiden.“

In Rochaus Augen waren die Italiener innerlich nicht reif für echte politische Einheit: „Die italienischen Annexionen sind viel mehr Ereignisse als Taten, das Volk hat sie geschehen lassen, aber nicht verlangt und nicht gemacht.“ Die Menge habe nur nachträglich zugejauchzt. Schon sah er Partikularismus die kaum gewonnene italienische Einheit zerstören. In der Neuauflage von 1869 seines inzwischen berühmten Buches tauchte der Name Cavour nicht auf, obwohl der Autor an einem – in Auszügen 1871 veröffentlichten – Aufsatz über den piemontesischen Po118

litiker arbeitete. Der Text verfolgt sehr genau den Weg des Werdegangs und der Politik Cavours bis zum Vorabend des Krieges von 1859, aber es ist nicht leicht, daraus Rochaus Urteil über den Piemontesen zu entnehmen, um es mit den gleichzeitigen Thesen von Treitschke zu vergleichen. Dennoch wollen wir uns einige Passagen aus Rochaus Aufsatz vornehmen, vor allem diejenigen, wo er auf die piemontesische Beteiligung am Krimkrieg zu sprechen kommt, die schnell sein Interesse fand. Rochau zitiert eine Rede Cavours vor der Kammer: „Genug, Italien sei bisher in Europa falsch beurteilt worden, dieser Irrtum sei jetzt durch Sardinien berichtigt, und das wolle viel sagen für jeden, der weniger an die brutale Gewalt glaube als an die Macht der Ideen.“ Die Wahl dieses Zitats wirkt einigermaßen überraschend in einem Aufsatz des Erfinders der Realpolitik, der sich besonders in seinem Spätwerk nachdrücklich von idealistischen Positionen distanzierte. Aber Rochau betont gleich darauf den politischen Realismus, den Cavour in diesem Zusammenhang bewies: „denn jede Verzögerung in der Ausbeutung der gegen Russland geleisteten Dienste drohte die Teilnahme am Krimkrieg in die Perspektive einer romantischen Vergangenheit zu rücken und dem lebendigen Interesse des Tages zu entfremden.“ Der piemontesische Ministerpräsident habe auf das Ziel der nationalen Einigung vorausgewiesen, obwohl er sie noch nicht klar definieren konnte, „ohne anderen festen Kern als den wilden Hass gegen Österreich, welcher der Politik Cavours als Schwurgrund diente. Seine Absicht, die Österreicher aus Italien zu vertreiben, war öffentliches Geheimnis, sein Gedanke, die Lombardei und Venetien dem sardinischen Staat einzuverleiben, zwar nicht eingestanden, aber doch kaum weniger einmütig gebilligt.“ Was aus den übrigen Teilen Italiens werden sollte, habe Cavour nur sehr vorsichtig benannt, denn er habe sich nicht einem Traum hingeben wollen, den nur „eine beispiellose Gunst des Glücks einige Jahre später verwirklichte.“ Nachdem er auf die „beinahe diktatorische Gewalt“ Cavours nach 1859 eingegangen ist, kritisiert Rochau scharf die seiner Meinung nach bestehende Abhängigkeit der piemontesischen Politik von Napoleon III.: „In der Unentbehrlichkeit dieses schielenden Verhältnisses lag die Schwäche der Cavourschen Politik, deren Schicksal damit unter allen Umständen, die sich vernünftigerweise in Berechnung ziehen ließen, einem Fremden auf Gnade und Ungnade in die Hand geliefert war. Sardinien hatte sich damit von vorneherein nicht einen Bundesgenossen, sondern einen Schutzherrn gegeben, mit dessen Beistand es nimmermehr hoffen durfte, eine wirklich selbständig italienische Nationalmacht zu gründen.“

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Es ist festzuhalten, dass Treitschke in diesem Punkt anderer Meinung war als Rochau, obwohl auch er die „Abhängigkeit Piemonts von Frankreich“ sehr ernst nahm. Wenden wir uns nun den Thesen zu, die Heinrich von Treitschke in seiner Biographie Cavours entwickelt. Die Geschichtsschreibung ist sich darin einig, dass dieses Werk das Italienbild der Deutschen in der Gründungsphase des Deutschen Reiches und Jahrzehnte darüber hinaus wesentlich geprägt hat. Doch man hat auch gesagt, die 1869 erschienene Cavour-Biographie Treitschkes will „durch historische Belehrung die Deutschen zum Verständnis des Staatsmannes erziehen, den er ihnen noch nicht offen als Vorbild zu nennen wagt: Otto von Bismarck.“ Das Problem ist jedoch noch vielschichtiger und im Grunde interessanter. Denn mitten in der Biographie steht ein Satz, der die ganze Unsicherheit des Historikers und Publizisten enthüllt: „Wir überlassen es der Zukunft, dereinst zu richten zwischen dem Gründer des italienischen und dem Gründer des deutschen Staates – eine Aufgabe, die heute nur den vorlauten Propheten oder die buhlerische Eitelkeit reizen kann.“ Obwohl der Autor Bismarck nie ausdrücklich nennt, kann er doch seine Überzeugung nicht verhehlen, dass der Piemontese durch die sich abzeichnende Rolle des preußischen Ministerpräsidenten starke Konkurrenz bekommen hat. Treitschke arbeitete an seiner Biographie Cavours in den Jahren, in denen sich seine eigenen Grundüberzeugungen änderten und er von der Analyse des „genialen Realpolitikers“ in Italien auf die Seite des mächtigen „Ungenannten“ auf der politischen Bühne Deutschlands überwechselte. Etwa 1865 beschloss Treitschke, eine Monographie über den piemontesischen Staatsmann zu schreiben, deren politischpädagogisches Ziel es war, in der durch Bismarck ausgelösten Konfliktsituation dem Publikum das exemplarische Bild eines Staatsmanns vor Augen zu führen. Die Bismarcksche Politik hatte jedoch auch die deutschen Liberalen selbst in eine ohnmächtige Lage versetzt. Treitschke litt sehr unter dieser Ohnmacht, aus der er sich nur schrittweise durch die (anfangs vorsichtige) Öffnung gegenüber Bismarck befreien konnte. Diese grundlegende Einstellungsänderung fiel zeitlich mit einer stillschweigenden Umdeutung von Persönlichkeit und Werk Cavours zusammen, die tiefgreifender war, als es der Autor selbst zugeben wollte. Die Analyse der politischen Situation in Deutschland, die Änderung der Einstellung zu Bismarck und die Niederschrift der Biographie Cavours entwickelten sich nebeneinander, teilweise miteinander verknüpft, teilweise aber auch autonom. Am Ende überlagerte das Geschehen in 120

Deutschland die Sicht auf Italien und relativierte dessen exemplarische Bedeutung; die Gestalt Bismarcks überlagerte diejenige Cavours und nicht umgekehrt. Einen ersten Vergleich hatte Treitschke in einem Brief vom September 1863 vor dem Hintergrund seiner scharfen Kritik an Österreich gezogen: „Mit diesen sogenannten deutschen Brüdern in Österreich ist für uns Deutsche eine Verständigung nur möglich durch das Schwert: wir sind ihnen gegenüber genau in derselben Lage wie Cavour, nur wird freilich ein Bismarck dies deutsche Schwert nie schwingen können.“ Einige Monate später jedoch wurde das deutsche Schwert aus der Scheide gezogen, als preußische und österreichische Truppen gemeinsam wegen der Herzogtümer Schleswig und Holstein gegen Dänemark in den Krieg zogen. Treitschke begrüßte den Krieg begeistert: „es ist heilsam, wenn die Welt erfährt, dass die Preußen trotz alledem das beste Heer in Deutschland haben.[. . . ] Wollten die Götter, S-Holstein würde preußisch, wie unsere Philister hier winselnd versichern.“ Die Aussicht auf die Einverleibung der beiden Herzogtümer durch Preußen war der entscheidende Punkt, an dem Treitschke sein Urteil über Bismarck revidierte, denn der schlimmste innere Feind Deutschlands war für ihn der „Partikularismus“ und das Festhalten an den Kleinstaaten als Vaterland. Nicht weniger gravierend erschienen ihm aber auch die Zersplitterung innerhalb der Liberalen und der Niedergang des Nationalvereins. In dieser bedrückenden Situation hielt er Bismarck allmählich für das kleinere Übel: „Die deutsche Politik wird noch eine gute Weile ein unreinliches Handwerk bleiben. Wir haben nur zu wählen zwischen mehreren Übeln, und ich denk’ es vor meinem Gewissen zu verantworten, dass ich Bismarck für das kleinere Übel halte.“ Seinem Freund Gustav Freytag gegenüber entwickelte Treitschke diesen Gedanken weiter: „[. . . ] namentlich die phrasenhafte Verlogenheit unseres Durchschnittsliberalismus erfüllt mich mit Ekel. [. . . ] Muss ich nun wählen zwischen solchen Parteien, so wähle ich Bismarcks Seite: denn er kämpft für Preußens Macht, für unsre legitime Stellung an Nord- und Ostsee. [. . . ] Ein Bewunderer Bismarcks bin und werde ich nicht, obwohl ich [. . . ] ihn und seinen Keudell höher achte als Sie zu tun scheinen. Seine auswärtige Politik halte ich für Pflicht zu unterstützen; sie operiert mit teilweise verwerflichen Mitteln, aber wenn sie missglückt, so haben wir ein zweites Olmütz, den Triumph aller Feinde des Vaterlands. [. . . ] Ihre Hoffnung, ein liberales preußisches Regiment vermöge in zehn Jahren Deutschland zu einigen, kann ich leider nicht teilen. Ich habe sechs Jahre meines Lebens im Süden verlebt und hier die traurige Überzeugung erlangt: Auch wenn ein Kabinett von lauter Steins und Humboldts in Berlin herrschte, würde der Hass und Neid der Süddeutschen gegen Preußen sich nicht mindern“.

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Am selben Tag schrieb Treitschke an eine Freundin: „Mein armer Freund mit seinem edlen reizbaren Wesen kann sich gar nicht zurechtfinden in der unwahren ränkesüchtigen Politik des Grafen Bismarck. Ich gestehe, ich bin von gröberem Stoff. Ich unterschreibe alles, was Freytag über die Unredlichkeit der preußischen Staatskunst sagt. Aber wenn ich auf die Gegenseite blicke und dort die rheinbündlerischen Intriganten des Dresdner und des Münchner Hofes sehe und die gewissenlosen Demagogen, die im Auftrage des Augustenburgers ein braves Volk verderben, und die geistlosen, in Phrasen schwelgenden Biedermänner des Nationalvereins – dann gestehe ich: neben solchen Feinden erscheint mir die Bismarcksche Politik nicht bloß verständig, sondern auch sittlich.“

In dieser Stimmung und im Rahmen dieser politischen Überlegungen kündigte Treitschke seinem Freund Freytag an, er wolle einen langen Aufsatz über Cavour schreiben: „Im Ganzen finde ich den sittlichen und politischen Zustand der Nation niederschlagend, wie seit langem nicht. Darum soll wer heute noch ein wenig Verstand und Hoffnung in sich fühlt unmittelbar und bald auf die öffentliche Meinung einzuwirken suchen.“ In dieser Situation wollte Treitschke mit seinem Aufsatz über Cavour „den Willenlosen und Phantastischen zeigen, was geniale Realpolitik ist. [. . . ] Ich glaube, ich könnte in der nächsten Zeit nichts Nützlicheres schreiben.“ Die Arbeit werde seiner akademischen Karriere schaden, aber: „der Patriot in mir ist tausendmal stärker als der Professor.“ Dieselben Argumente formulierte er noch ausdrücklicher zwei Wochen später in einem Brief an seinen Verleger Salomon Hirzel: „Das Nützlichste, was ich jetzt schreiben könnte, wäre unzweifelhaft ein Essay über Cavour, nicht allzu lang, aber sachkundig und wirksam. Wir besitzen in deutscher Sprache noch nichts einigermaßen Würdiges über den gewaltigen Mann, und doch lernen wir nach alter deutscher Unart leichter von den Fremden als aus unserer eigenen Geschichte. Eine Darstellung dieses Mannes könnte, wirksamer als jede allgemeine Erörterung, unserem Publikum zeigen, was geniale Realpolitik ist. Auf den Augenblick soll der Aufsatz nicht berechnet sein. Erschiene er selbst in einem Zeitpunkte, wo unser Publikum den Cavour’schen Ideen noch mehr entfremdet wäre als heute: das täte wenig Schaden.“

Treitschke schrieb an dem Aufsatz allerdings länger als vorgesehen, und während der drei Jahre, die er dazu brauchte, erlebte er außerordentliche und unerwartete politische Ereignisse: den preußischen Sieg über Österreich, die Schaffung des Norddeutschen Bundes mit einer neuen Verfassung, den freundlichen Briefwechsel mit Bismarck, den enormen Popularitätsgewinn für den preußischen Ministerpräsidenten und das Umschwenken vieler Liberaler auf die Seite der Regierung. Diese Entwicklung musste Treitschkes Urteil über Cavour und die italienische Einigungsbewegung im Allgemeinen beeinflussen. In den ersten Monaten des Jahres 1869 hatte Treitschke die Arbeit an dem Aufsatz über Cavour fast vollendet und kündigte Ende Februar an: 122

„Ich bin jetzt beinah fertig mit der Arbeit über Cavour; sie wird weniger schwungvoll aber lehrreicher als ursprünglich in meinem Plane lag. Wie ungeheuer hat sich doch unser Urteil über die italienischen, über alle politischen Händel geändert und geklärt in diesen reichen Jahren! Meine bescheidene Absicht ist nur unseren politischen Dilettanten an einem großen Beispiele zu zeigen, was praktische nationale Politik sei.“

Ein subtile Schwerpunktverschiebung ist in diesen Worten nicht zu überhören: Anstelle der Absicht zu zeigen, was „geniale Realpolitik“ sei, geht es jetzt nur um die „bescheidene Absicht [. . . ] zu zeigen, was praktische nationale Politik sei“. Wenden wir uns nun einigen Passagen des Aufsatzes zu, ohne ihn und alle darin angesprochenen Themen ausführlich zu behandeln. Nach dem über die Entstehungsgeschichte und den Fortgang des Werkes Gesagten überrascht es kaum, dass Treitschke von Anfang an betont, wie sehr sich seit dem Tod Cavours „das alte Gleichgewicht der Mächte“ in Europa verändert habe. Die Zeiten seien vorbei, in denen Italien in dem langen Kampf der beiden europäischen Kulturvölker als Sieger dastand. „Der ästhetische Reiz, der die Massenbewegung der Italiener vor den Schlachten des Deutschen Krieges auszeichnete, beginnt zu verblassen; die Gebrechen der vor der Zeit und mit fremder Hilfe errungenen Einheit Italiens liegen vor aller Augen.“ Denn: „Einen wesentlichen Charakterzug des italienischen Staatslebens, zugleich einen schneidenden Gegensatz zu dem deutschen Wesen, bildet die Macht und Berechtigung der republikanischen Überlieferung in diesem Lande der Städte.“ Das Gewicht dieser Worte ist kaum zu überschätzen: Die italienische Einheitsbewegung zeichnet sich in den Augen des Autors gegenüber der deutschen durch ihren „ästhetischen Reiz“ aus, der jetzt durch „die Gebrechen [. . . ] der Einheit“ verdunkelt werde, weil sie „vor der Zeit und mit fremder Hilfe“ erreicht wurde. Dieser schwerwiegende Vorbehalt bedeutet jedoch nicht, die historischen Verdienste der italienischen Einheitsbewegung, angefangen bei denen Piemonts, zu verkennen: „Dieser Staat allein hatte sich, umringt von erschlafften und geknechteten Nachbarn, zwei unschätzbare politische Güter bewahrt: ein tapferes Heer und ein nationales Königtum. Wenn unsere Friedensapostel in ihrer altklugen Selbstgefälligkeit noch fähig wären, von der Geschichte zu lernen; aus den Schicksalen Preußens und Piemonts müssten sie die Erkenntnis schöpfen, dass der Krieg ein Jungbrunnen ist für die sittliche Kraft der Völker. Italiens Unheil war der faule, würdelose Friede, die lange Entwöhnung der Nation von dem edlen Handwerk der Waffen.“

Wie man sieht, nimmt Treitschke das Lob auf das „hochstrebende Fürstengeschlecht“, das „eingepresst zwischen übermächtigen begehrlichen 123

Reichen“ war, zum Anlass für einen positiven Vergleich zwischen der Kriegstüchtigkeit Piemonts und Preußens. In Piemont sieht er ein von echtem Adel geführtes Land im Gegensatz zu Rom, „wo der Adel in geilem Prasserleben verkam, wo ein Schweif von amanti, patiti und galanti jeder gefeierten Schönheit nachzog, wo Schmarotzer und Improvisatoren sich schmeichelnd an die üppigen Tafeln der Vornehmen drängten, wo das System des galanten Müßiggangs sich in einer wohlgegliederten Hierarchie ausgebildet hatte.“ Auch Cavour, der Mann, der das adelige Piemont „in die steilen Bahnen revolutionärer Staatskunst hineinreißen wollte“, war ein Aristokrat im besten Sinn des Wortes. Treitschke vertritt in seiner Analyse die Idee eines „politischen Adels“, die neben der Ablehnung des doktrinären Dogmatismus einer der Kernpunkte der „Selbstkritik des deutschen Liberalismus“ nach 1866 ist. Im Anschluss daran wird Cavour als ein Mensch charakterisiert, in dem sich Lebhaftigkeit und oft trügerische Freundlichkeit mit mathematischer Intelligenz paarten, weshalb ihm politische Fragen oft als Probleme bloßer Berechenbarkeit erschienen. „Auch seine gesprächige Offenherzigkeit, die doch kein Wort zu viel sagte, erwies sich bald als eine furchtbare Waffe gegen die gemeine Mittelmäßigkeit der Diplomatie, welche solcher Keckheit ungewohnt hinter jedem Worte eine Falle fürchtet.“ Cavour „bekannte [. . . ] die Philosophie des Möglichen, die trefflichste praktische Philosophie, die es gibt.“ Treitschke insistiert auf dem „listigen Zug schlauer Berechnung“ bei Cavour: „Die Mehrzahl seiner heimischen Biographen preist an ihm nichts so freudig wie die meisterhafte Kunst der Verstellung; sie erkennen darin die Überlegenheit des italienischen Genius, des antico senno italiano (klassischer gesunder Menschenverstand), gegenüber der Plumpheit der Barbaren.“ Aus dem Kontext lässt sich nicht erkennen, ob sich Treitschke mit dieser Äußerung von dem in konservativen Kreisen gängigen negativen Urteil über Cavour distanzieren will. Und es ist auch nicht klar, ob dahinter als Gegenbild Bismarck zu erahnen ist, dem ebenfalls Verschlagenheit bis hin zur Lüge vorgeworfen wurde. Eindeutig dagegen ist Treitschkes Urteil über das „liberale“, alles andere als republikanische Weltbild Cavours. Das Wesen der Freiheit sah Cavour nach Aussage Treitschkes im freien Spiel der Kräfte, und „nur die Monarchie [ist] stark genug, solche Freiheit zu schützen“. In dieser Hinsicht seien die westlichen Länder für Cavour immer Vorbild und das Bündnis mit den Westmächten sowie die unversöhnliche Feindschaft gegen Österreich als Feind von Italiens Freiheit und Unabhängigkeit 124

stets die Fixsterne seiner Politik geblieben. An dieser Stelle vergleicht Treitschke wiederum Italien und Deutschland: „Wie arm erscheint neben solcher dämonischen Leidenschaft der Patrioten des Südens jene satte, behagliche Verzweiflung am Vaterlande, die zur selben Zeit unter den deutschen Liberalen vorherrschte! Wie erbärmlich vollends die deutsche Phrasenseligkeit neben dem klaren entschlossenen Realismus der Südländer. Der Verein La Farinas behandelte alle kirchlichen, sozialen, politischen Streitpunkte als offene Fragen und verfocht nur die eine Losung: Krieg gegen Österreich, Viktor Emanuel König von Italien! Sein deutsches Gegenbild fasste Resolutionen über Erbfriedriche und österreichische Schmerzenskinder, über alles, was da kreucht und fleucht zwischen Himmel und Erde, und betrachtete nur das eine, daran Deutschlands Zukunft hing, die sogenannte preußische Spitze als eine offene Frage. Darum ward der Nationalverein der Italiener eine Macht in der Geschichte seines Landes, der deutsche Nationalverein hat seinen Lohn dahin.“

Wie man sieht, fiel auch 1869 für Treitschke der Vergleich zwischen der Mobilisierung der italienischen Patrioten in den Jahren 1859/60 und dem abstrakten Idealismus der Deutschen nach wie vor zugunsten der Italiener aus. In der schwierigen Frage der italienischen Abhängigkeit von Frankreich war Treitschke der Überzeugung, dass Cavour 1859 in einen langen Krieg alle italienischen Staaten hineinziehen und so verhindern wollte, dass sich Frankreich als alleiniger Befreier Italiens darstellen konnte. Stattdessen kam es zum Frieden von Villafranca, der alle Hoffnungen Cavours zunichte zu machen schien. Aber gerade in diesem Augenblick zeigte sich für Treitschke die ganze Größe des piemontesischen und italienischen Politikers: „Niemals war Cavour so ganz ,der große Italiener‘ wie in diesen bösen Tagen, da der Zorn des Patrioten die Besonnenheit des Staatmannes gänzlich überwältigte.“ Nach seiner Rückkehr an die Regierung im Januar 1860 traf Cavour die Entscheidungen, die die italienische Einheit erst möglich machten. In diesem Zusammenhang verurteilt Treitschke das Zögern der preußischen Regierung, da sie sich die Gelegenheit zu einer Annäherung an das Königreich Sardinien-Piemont hatte entgehen lassen. Im Gegensatz dazu hebt er die Entschlossenheit Englands hervor, sich auf die Seite der italienischen Bewegung zu stellen: „Dies Volk, immer bereit, die Bedeutung vollendeter Tatsachen verständig anzuerkennen, begriff schnell, dass nur ein Bund zwischen England und Italien die Halbinsel vor der Übermacht Frankreichs bewahren könne.“ Einstweilen habe Italien mit der Abtretung von Savoyen und Nizza seinen Tribut an Napoleon leisten müssen: „Die Flut des Spottes und der Flüche, welche damals auf das Haupt des Grafen herabströmte, ist bis zur Stunde noch nicht ganz verlaufen“, urteilt der Autor, bemerkt jedoch 125

pragmatisch oder besser realpolitisch, dass Cavour, der vom Parlament und von der nationalen Bewegung autorisiert war, fremde Hilfe für die Befreiung des Landes anzunehmen, dafür eben auch einen Preis zu zahlen hatte. Mit einem (für manchen preußischen Nationalisten höchst peinlichen) Vergleich weist Treitschke darauf hin, dass auch Preußen 1813 für die russische Hilfe mit der Abtretung eigentlich preußischer Gebiete in Polen habe bezahlen müssen. Darüber hinaus aber habe sich Cavour im Guten wie im Schlechten mit einer Volksbewegung auseinandersetzen müssen, die es in Deutschland nicht gab, jedenfalls nicht in dem Ausmaß wie in Italien: „sein Staat, das Kind des nationalen Gedankens, durfte den Strom der popularen Begeisterung, der jetzt entfesselt daherbrauste nicht zu hemmen wagen: nur ihn zu leiten, nur die Schwarmgeister der Revolution unter die Zucht der Monarchie zu beugen, blieb noch möglich.“ Dabei verhehlt der Autor seine starke Abneigung gegen den „rätselhaften Demagogen“ Mazzini keineswegs, während er für den „dämonischen“ Garibaldi (den „größten Mann des modernen Radikalismus“ ) trotz der großen Risiken, die der edelmütige Freiheitskämpfer für die Einheitsbewegung heraufbeschwor, viel Sympathie zeigt. Als es Cavour gelang, Garibaldis Sieg über das Königreich Neapel in die Bahnen der nationalen Einigung im Zeichen der Monarchie zurückzulenken, bewies Cavours Politik in den Augen Treitschkes ihre ganze Größe. An diesem Punkt zeigt sich noch einmal die Ambivalenz des Vergleichs zwischen Piemont/Italien und Preußen/Deutschland: Treitschke bewundert die Lebendigkeit der italienischen Bewegung und die Gewitztheit Cavours und erklärt doch: „Wohl mögen wir Deutschen uns glücklich preisen, dass Preußens Wehrkraft und des Schicksals Gnade uns erlaubten, ohne Winkelzüge durch rechtschaffenen Kampf das Joch der Habsburger zu zerbrechen. Wohl verstehen wir die Entrüstung des redlichen Azeglio, der im Zorn über dies durchtriebene Spiel den Staatsdienst verließ und ärgerlich schrieb: ,Kein Mensch glaubt dem Grafen mehr; es ist genau dasselbe, als wenn er die Wahrheit spräche!‘ Wir verstehen diesen Zorn, doch wir vergessen nicht, wie leicht das Urteil und wie schwer die Tat. Nicht mit moralischen Gemeinplätzen darf ein politischer Kopf hinweg gleiten über den fürchterlichen Streit der Pflichten, der das Gewissen eines Staatengründers erschüttert. Dem Staatsmanne ist nicht gestattet wie dem schlichten Bürger die fleckenlose Reinheit seines Wandels und seines Rufes als das höchste der sittlichen Güter heilig zu halten. Er lebt den Lebenszwecken seines Volkes, er soll die Zeichen der Zeit zu deuten wissen, den göttlichen Gedanken herausfinden aus dem Gewirr der Ereignisse und ihn verwirklichen in hartem Kampfe. [. . . ] Lässt sich der Widerstand der trägen Welt anders nicht überwinden, so soll der Staatsmann für den Sieg der Idee auch die Mittel der Arglist einsetzen, die der Einzelne für die endlichen Zwecke seines Tuns nicht brauchen darf.“

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Beim Lesen dieser Zeilen denkt man sofort an Bismarck und die Kritik, die die Liberalen an ihm bis 1866 übten. Doch Treitschke erwähnt Bismarck nicht nur nicht, sondern gibt auch keine Antwort auf die Frage, die der Leser an ihn stellen möchte, wie sich der edle und „ohne Winkelzüge“ geführte Frontalangriff Preußens gegen Österreich mit der alles andere als linearen und „ohne Winkelzüge“ geführten Taktik Bismarcks in Einklang bringen lasse, die Treitschke selbst und andere nur widerwillig akzeptiert hatten. Wird mit den Worten: „Dem Staatsmanne ist nicht gestattet wie dem schlichten Bürger die fleckenlose Reinheit seines Wandels und seines Rufes als das höchste der sittlichen Güter heilige zu halten“, dem großen Mann an der Spitze der preußischen Regierung bereits stillschweigend Absolution erteilt? Mit großem Nachdruck betont Treitschke dann die schwerwiegenden Probleme des Südens für die nationale Einheit Italiens: „Eine fremde Welt tat sich hier auf vor den Augen der erschreckten Norditaliener, ein grundtiefer Gegensatz des Volkstums, des sittlichen und wirtschaftlichen Daseins, wie er so auf deutschem Boden nirgends besteht. [. . . ] Bis auf sein Totenbett verfolgte den Grafen das Bild des zerrütteten Südens.“ In diesem Zusammenhang kritisiert Treitschke an Cavour, er habe die Frage der Dezentralisierung der Verwaltung im neuen Italien unterbewertet: „Er wünschte die Regionen, mochte jedoch um ihretwillen nicht die Kabinettsfrage stellen, nicht die Zentralisten der Mehrheit verletzen. Er ließ diese schweren Dinge gehen und – starb darüber.“ Als Zusammenfassung des Vergleichs zwischen Italienern und Deutschen sei hier eine ganze Seite aus dem Aufsatz wiedergeben: „Das Zusammentreffen der deutschen und der italienischen Revolution wird dereinst eine der fruchtbarsten Parallelen der Geschichtsphilosophie bilden, und vornehmlich dieser Gegensatz wird den Nachlebenden zu denken geben: wie überlegen die Italiener auftraten in der Massenbewegung, wie überlegen die Deutschen in der geordneten politischen Aktion. Dort eine Nation von Verschwörern, hier ein Volk, welches der Ordnung, der Leitung von oben bedarf, um seine schwere Kraft zu bewähren. Sehr klein erscheint die untätige Haltung der Hannoveraner, der Sachsen, der Schleswig-Holsteiner während des Deutschen Krieges gegenüber dem patriotischen Mute, der nach dem Frieden von Villafranca die Toskaner beseelte. Aber wie schrumpfen die immerhin ehrenwerten Taten des italienischen Heeres zusammen neben dem Kriegsruhm der Preußen! Und wieder nach dem Siege trat die ganze Überlegenheit nordisch-protestantischer Bildung und Arbeitskraft hervor: so tief die Sachsen von 1866 unter den Toskanern von 1859 standen, so hoch stand der erste norddeutsche Reichstag über dem ersten italienischen Parlamente. – Und wahrlich, die Aufgabe dieses Parlamentes war fast unlösbar schwer. Hier galt es nicht, wie in Deutschland, kleine Nebenlande einem mächtigen festgefügten Staate anzugliedern, sie zu erfüllen mit dem Geiste des Kernlandes; hier galt es, aus losem Geröll einen neuen Staat zu schaffen. Wohl versuchte Cavour den Schein einer histo-

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rischen Kontinuität, einer piemontesischen Staatsüberlieferung aufrechtzuerhalten. Aber in einem Abgeordnetenhause, das unter 443 Abgeordneten nur 83 Vertreter der alten Provinzen zählte, erfüllte sich ganz von selber das törichte Verlangen der Aktionspartei: Piemont muss verschwinden!“

Treitschke beschließt seinen Aufsatz mit einer sehr vernünftigen aber auch sehr allgemeinen Bemerkung: „Mögen die Italiener diese neu gewonnene Einsicht beherzigen und den Adel ihres Volkstums befreien von der Herrschaft gallischer Sitten! Durch uralte Schicksalsgemeinschaft mit uns Deutschen, durch die Bande des Blutes mit den Franzosen verbunden, sind sie wie keine andere Nation befähigt, eine Macht der Versöhnung zu bilden zwischen den beiden verfeindeten Nachbarvölkern. Das ist die Staatskunst, die dem Volke Cavours geziemt.“ Am Vorabend der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Preußen und Frankreich und zu einem Zeitpunkt, da sich die Beziehungen zwischen Italien und Preußen merklich abgekühlt hatten, klang diese Erinnerung an die Vermittlerrolle Italiens zwar erhebend, aber politisch war sie bloße Phrase.

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4. Cavourismus und Bismarckismus. Eine Bilanz Begriffsbestimmung Cavourismus und Bismarckismus Zur Erklärung der politischen Ereignisse in dem hier behandelten Zeitraum bildeten sich neue Begriffe und Wortschöpfungen heraus, die uns bisher schon begegnet sind. Wenn wir jetzt genauer festlegen wollen, wie sie entstanden sind und was sie aussagen können, müssen wir uns letztlich der Einsicht beugen, dass das Interessanteste dieser Begriffe ihre Zweideutigkeit ist. Kann man davon sprechen, dass Cavourismus und Bismarckismus zwei charakteristische Politikstile bezeichnen, die miteinander vergleichbar, aber auch klar voneinander geschieden sind? Worin bestand die „geniale Realpolitik“ Cavours und die machtvolle „nationale Politik“ Bismarcks (um zwei Ausdrücke Heinrich von Treitschkes zu wählen)? Die Begriffe Cavourismus und Bismarckismus entstanden in der politischen Kultur und Publizistik in enger Verbindung mit der Verwendung anderer Formulierungen wie Bonapartismus und Cäsarismus. Diese „-ismen“ muss man als vieldeutig, ja als missverständlich akzeptieren, denn nur so dienten sie der politischen Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang wurde schon mehrmals die zentrale Rolle der bürgerlichen öffentlichen Meinung und damit die Relevanz des entsprechenden Vokabulars betont, das auch demagogischen Zwecken dienen kann. In Deutschland hatte die öffentliche Meinung großen Einfluss auf die Etablierung der akademischen Geschichtsschreibung, die sich in jenen Jahren mit besonderer Hingabe der Gründung des Nationalstaats widmete. Die deutschen Liberalen betrachteten Cavours Werk anfangs als „geniale Realpolitik“, während sie das erste Auftreten Bismarcks in Parlament und Regierung mit Sarkasmus überschütteten. Über Bismarcks Selbsteinschätzung im Umgang mit seinen Kritikern berichtete der Diplomat Kurd von Schlözer zu diesem Zeitpunkt: „Vor den Herren der Zweiten Kammer tritt er bald sehr stramm auf, bald so, dass sie seinen Wunsch zur Vermittlung durchriechen sollen. Die deutschen Kabinette endlich macht er glauben, dass der König nur mit Mühe den Cavou-

rismus seines neuen Ministers zu zügeln vermag. Das lässt sich nicht leugnen, dass er bis jetzt durch seinen Geist und seine Blitze imponiert. C’est un homme!“ Der Begriff Cavourismus wird an dieser Stelle auch von Bismarck selbst eindeutig als Gegenpol zu seinem Handeln verstanden: Was aber ist genau gemeint damit? Die Bezeichnungen Cavourismus und Bismarckismus stammen bekanntlich ursprünglich aus der Feder der erzkonservativen Brüder Leopold und Ludwig Ernst von Gerlach. Innerhalb dieses engen politischen Horizonts war damit lediglich gemeint, dass sowohl Cavour als auch Bismarck den Status quo unterminierten und der „Revolution“ Vorschub leisteten. Die beiden Brüder messen dem liberalen Hintergrund des einen und dem autoritären des anderen kein großes Gewicht bei, denn sie sehen bei beiden nur die gleiche Realpolitik am Werke. Im Gegensatz dazu schätzten die Liberalen gerade die „Tatsachenpolitik“ und die Entschiedenheit in der Einheitsfrage beim Cavourismus, eine Entschiedenheit, die ihrer Meinung nach (anfangs) bei Bismarck fehlte. Dieser Einwand wurde 1866 nach Königgrätz hinfällig und machte die Liberalen gegenüber dem Bismarckismus wehrlos. Ganz anders bei Ernst Ludwig Gerlach, der gerade 1866 die fatale Übereinstimmung zwischen Cavour und Bismarck bestätigt sah: Bezeichnenderweise bezog sich Gerlach bei seinem endgültigen Bruch mit Bismarck, den er im Mai 1866 mit dem Aufsatz Krieg und Bundesreform öffentlich machte, explizit auf Italien. Bismarck antwortete in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ und forderte Gerlach auf, „die Macht der Tatsachen“ anzuerkennen. Das Königreich Italien sei eine Tatsache, die Preußen nicht nur anerkennen, sondern zu der es sich sogar beglückwünschen müsse. Im August 1866 zerbrach die langjährige Freundschaft zwischen Gerlach und Bismarck endgültig: „Die Times vergleichen Bismarck mit Cavour, beide annektierend unter Louis Bonapartes Auspizien. Cavour hatte mehr nationale Basis als Bismarck; Cavour war ein ehrlicher Liberaler, Bismarck buhlt seinem eigenen Charakter und Antezedentien zuwider mit dem Liberalismus. Bei alledem ist Armee und Sieg das Gesundeste im preußischen Staat, wie Armee und Sieg das Gesundeste in des alten Napoleons Reich war [. . . ] Cavours Bismarckismus ist ehrlicher und besser als Bismarcks Cavourismus.“

Diese Worte besitzen zwar mehr rhetorische als analytische Schärfe, lassen aber die zweideutige Faszination eines Vergleichs zwischen der Politik Cavours und Bismarcks auch für die Erzkonservativen erkennen. Bei den Liberalen dagegen blieb der Piemontese leuchtendes Vorbild für einen entschiedenen Bruch mit dem geopolitischen Status quo und das Streben nach nationaler Einheit auf der Grundlage seines Glau130

bens an den liberalen Parlamentarismus, der auch seine unüberwindliche Feindschaft gegen Österreich bestimmte. Bismarck sprach man die erbitterte Gegnerschaft gegen Österreich nicht ab, sowohl im Namen preußischer Macht als auch mit Blick auf die deutsche Einheit , aber sie basierte auf seinen autoritären Überzeugungen. Aus diesem Grunde kämpfte die liberale Mehrheit im Parlament hartnäckig gegen die Regierung und lehnte den Militärhaushalt ab, obwohl die Heeresreform als unabdingbare Voraussetzung für eine militärische Initiative Preußens in Richtung deutsche Einheit präsentiert wurde. Dann aber sahen sich die Liberalen nach dem siegreichen Krieg von 1866 in die Ecke gedrängt, und die Mehrheit entschloss sich dazu, mit Bismarck zu paktieren. Cavour fand sich nie in einer vergleichbaren Lage, denn er wusste für seine Politik der nationalen Einigung immer eine, wenn auch wechselnde, Mehrheit des Parlaments hinter sich. Seine Entschlossenheit drückte sich immer im Parlament aus und nahm, wenn nötig, „diktatorische“ Züge an. Auch Rochau erkannte dies in seinem (postum erschienenen) Aufsatz über den italienischen Staatsmann. Über die entscheidenden Augenblicken des Jahres 1860 schrieb er, Cavour habe, nachdem er das Außen- und das Innenministerium übernommen hatte, eine „beinahe diktatorische Gewalt“ über das Parlament ausgeübt. Einige deutsche Beobachter bezeichneten diese „Diktatur“ Cavours und seinen autoritären Zugriff als „Cäsarismus“. Mit dem Rückgriff auf die Antike versuchte man in Deutschland, den französischen Bonapartismus, der enormes Aufsehen erregt hatte, in den Griff zu bekommen, tendierte aber auch dazu, alle anderen autoritären Herrschaftsformen darunter zu subsumieren. Doch die Politik Cavours wurde von einigen auch verstanden als „Gegengift gegen den Bonapartismus, von anderen wiederum als akzeptable Variante.“ Es entstand so die außergewöhnliche Situation, dass Cavourismus für die einen rein negativ besetzt war (wie für die erzkonservativen Brüder Gerlach), für die anderen (die liberalen Verfechter der Realpolitik) dagegen positiv. Auf der einen Seite wurde Cavour in den Kreisen, aus denen Bismarck stammte, als ein Politiker betrachtet, vor dem man sich zu hüten hatte. Auf der anderen wurde Cavour von den deutschen Liberalen idealisiert und dem neuen preußischen Ministerpräsidenten nach 1862 entgegengestellt: „Um 1860 wurde in Deutschland für eine bestimmte politische Mentalität die Bezeichnung ,Cavourismus‘ geläufig, die als Inbegriff machiavellistischer Außenpolitik, des Antilegitimismus und auch einer autoritären Innenpolitik galt. Sie deckte sich weitgehend mit dem, was man sonst Bonapartismus oder Napoleonismus nannte, 131

und ersparte in Deutschland die Berufung auf einen unwillkommenen Namen.“ Man kann nur zur Kenntnis nehmen, dass es unmöglich ist, dieser Bezeichnungen und Klassifizierungen Herr zu werden, die den politischen Stimmungen und Emotionen der Zeit unterworfen waren. Ohne Zweifel besitzt der Cavourismus trotz der Nuancierungen eigene, mit der italienischen Entwicklung zusammenhängende Züge (wie im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels beschrieben). Vom Cäsarismus unterscheidet sich der Politikstil Cavours eindeutig dadurch, dass die plebiszitären Elemente auf den Anschluss einiger Regionen der Halbinsel beschränkt blieben und ansonsten keine Rolle spielten. Dennoch bedürfen diese Begriffe noch weiterer Klärung, die vom Thema der Realpolitik auszugehen hat.

Realpolitik „Der Begriff Realpolitik, von Rochau geprägt, von Treitschke populär und von Bismarck berühmt gemacht, bedeutet einen Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Politik.“ Der Begriff oder besser das historisch-politische Paradigma (Theorie wäre zu hoch gegriffen) versteht unter Realpolitik ein Handeln, das von existierenden Bedingungen und vorhandenen Ressourcen ausgehend Ziele zu erreichen sucht, die mit der bestehenden geopolitischen Ordnung und ihrer (vorgeblich absoluten) moralischen Legitimität in Konflikt geraten. Der Konflikt kulminiert im Gegensatz von Macht und Recht. Die Theoretiker der Realpolitik haben – das sei von Anfang an betont – immer wieder darauf insistiert, dass es dabei nicht „um die Realisierung von Idealen, sondern um die Erreichung von konkreten Zielen“ geht, was in der Auseinandersetzung zu großen Missverständnissen geführt hat. Realpolitik an sich bedeutet nicht das Fehlen weitreichender ideeller Ziele, platten Pragmatismus oder „Machiavellismus“ (ein weiterer Terminus, der banalisierend häufig gebraucht wurde). Die Politik ist „real“ im Sinne der „Tatsachenpolitik“ und daher des „Erfolgs“, wohingegen die bloße Ankündigung großer Prinzipien und philosophischer (oder ideologischer) Konzepte mit ihrem doktrinären, vor allem moralistischen Charakter nicht zum Ziel führt. Die „reale“ Politik dagegen ist nicht einfach Selbstdarstellung der eigenen nicht verhandelbaren Ideale, sondern Regierungsfähigkeit, die die Ideale der anderen realistisch in Rechnung stellt. 132

Trotz des äußerst unterschiedlichen intellektuellen und kulturellen Hintergrunds ihrer Politik sind Cavour und Bismarck in diesem Punkt vergleichbar, auch deshalb, weil beide das gleiche Gespür für das Unwägbare politischer Entwicklungen hatten, was die Politik zur „Kunst des Möglichen“ macht. Aber auch das bedeutet keineswegs, dass „alles möglich ist“ oder dass man einfach nach dem Zufallsprinzip handelt: Ganz im Gegenteil muss die Kunst des Möglichen in Zeiten der Unsicherheit oder in komplizierten Situationen an den eigenen Zielen festhalten und die sich bietenden Gelegenheiten dazu nutzen, ohne auf optimale Bedingungen zu warten. Gerade in schwierigen Situationen sind „vollendete Tatsachen“ gefragt, um Komplexitäten zu entwirren. Dazu muss man angesichts unvorhersehbarer Tatsachen Risiken eingehen, die bis zur Tollkühnheit reichen können, d. h. jede Wahrscheinlichkeitsrechnung ausschließen. Die Realpolitik ist demnach stets mit einem Risiko behaftet, der anderen Seite des Möglichen, aus dem sich neue Chancen ergeben können. Wenn von Realpolitik die Rede ist, muss man zwischen den Publizisten unterscheiden, die den Begriff geprägt und verbreitet haben, und den Politikern, die sie praktizieren. Unter den Ersteren taten viele trotz des Beharrens auf den „realen Möglichkeiten“ nichts anderes, als die faktischen Geschehnisse oder Ergebnisse einfach als gut, notwendig, ja sogar von der Vorsehung geschickt zu akzeptieren und somit beim banalen Historizismus zu enden. In diesem Sinne verwandelten und verabsolutierten nicht wenige deutsche Publizisten, vor allem die Historiker, die gerne mit dem Paradigma und der Semantik des Begriffs Realpolitik hantierten, die Ereignisse der Jahre 1866 bis 1871 als einen Prozess von unwiderstehlicher historischer Folgerichtigkeit (häufig als popularisierten Hegelianismus). Hinter jedem erfreulichen und unerwarteten politischen Ereignis, vor allem hinter jeder gewonnenen Schlacht entdeckten sie das Wirken des Weltgeistes und sahen keinen Raum für Unwägbarkeiten, Zufälle und Unvorhersehbares in den Ereignissen selbst: vor allem auf dem Schlachtfeld, wo der Kampf „realistisch gesehen“ auch einen unglücklichen Verlauf hätte nehmen können. Im Gegensatz dazu war sich der Realpolitiker Bismarck der Unwägbarkeit der Ereignisse sehr wohl bewusst: „Mein ganzes Leben war hohes Spiel mit fremdem Gelde. Ich konnte niemals mit Sicherheit voraussehen, ob meine Pläne gelingen würden. [. . . ] Die Politik ist ein undankbares Geschäft, namentlich deshalb, weil alles auf Vermutungen und Zufälligkeiten beruht. Man ist genötigt, mit einer Reihe von Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten zu rechnen und seine 133

Pläne auf diese Rechnung zu basieren.“ Deshalb hatte Bismarck immer „zwei Eisen im Feuer“, wie er zu sagen pflegte. Ein zentrales Thema der Realpolitik betrifft das Verhältnis von Macht/Stärke in der praktischen Politik und dem bestehenden rechtlichen Status. Dieses Verhältnis wird als Gegensatz von „Macht und Recht“ dargestellt. Wenn die Politik also die nationale Frage auf die Tagesordnung stellt, dann setzt sich der Staat, der die nationale Einigung zum Ziel hat, durch seine Macht gegen die Rechte der kleinen bestehenden Staaten, vor allem gegen das Recht ihrer „legitimen“ Herrscher durch: Dies gilt sowohl für Italien als auch für Deutschland. Die Perspektive ändert sich, wenn es um Recht und Rechte innerhalb der neuen gesetzlichen Ordnung des entstehenden Nationalstaats geht: An dieser Stelle erweist der realpolitische Ansatz aus liberalem Blickwinkel seine Schwächen. Im Namen der Nation und seiner neuen Legitimität die obsoleten legitimistischen Rechte der alten Regierungen abzulehnen, ist das eine, etwas ganz anderes dagegen, die vom Liberalismus und der „Demokratie“ geforderten Rechte mit der Begründung zu verweigern, sie würden den Bestand oder die Stärke des Nationalstaats gefährden. In diesem Sinne musste sich Bismarck gegen den Vorwurf verteidigen, im Parlament gesagt zu haben, „Macht geht vor Recht“. Das Problem zeigte sich in seiner ganzen Schärfe, als es um die Verfassung ging, weil sie zu einem Diktat der Macht zu werden drohte, die über die Waffen verfügte. Hier verwandelte sich Realpolitik in bloße Machtpolitik und ging ihrer ursprünglichen liberalen Werte verlustig. Diesen Fehler machte der Theoretiker der Realpolitik August Ludwig von Rochau. Über den Staatsstreich Louis Bonapartes vom 2. Dezember 1851, der in seinen Augen den Siegeszug der Realpolitik eingeleitet hatte, schrieb er 1869: „Die politische Freiheit hat allerdings ihre rechtliche, ihre ideale, ihre prinzipielle Seite, der Kern ihres Wesens aber ist eine nüchterne Tatsache: Freiheit ist Macht. [. . . ] Jeder Artikel eines Verfassungsgesetzes, der über diese Aufgabe hinausgreift, leidet an unhaltbarer Nichtigkeit, wie denn auch umgekehrt kein feststehender Bestandteil der sachlichen öffentlichen Machtverhältnisse der lebendigen Verfassung dadurch hinfällig wird, dass man ihn in dieser oder jener Urkunde mit Stillschweigen übergeht oder gar hinwegdekretiert.“ Diese Worte zeigen, warum viele deutsche Liberale angesichts des Erfolgs von Bismarcks Realpolitik darauf verzichteten, die Erweiterung und vollständige Durchsetzung liberaler Forderungen in der neuen Verfassung von 1867 zu betreiben, und auf diese Weise ein Kernelement des Liberalismus ad acta legten. 134

Bonapartismus und Cäsarismus Der Staatsstreich Louis Bonapartes von 1851 und die Politik, aus der er hervorging, beeindruckten liberale und konservative Zeitgenossen gleichermaßen, denn er war keine „Palastrevolution“ wie so viele vor ihm, sondern wurde von der Zustimmung des Volkes legitimiert. Dadurch entstand eine politische Legitimation, die vom Volk ausgehend und zugleich autokratisch war. Dieser Bonapartismus war eine neue Form des Cäsarismus: „Nationalismus, Demokratie und Sozialismus waren tragende Säulen dieses Systems. Das allgemeine Wahlrecht diente der Aufrechterhaltung der Fiktion, dass der Kaiser demokratisch, in Vertretung des Volkes, regierte. Die bonapartistische Tradition befriedigte und stimulierte den Nationalstolz. Und der Staatssozialismus linderte die Entbehrungen der Unterschicht.“ Die Verbindung aus plebiszitärer Demokratie und Autoritarismus, die ihren Höhepunkt in der Krönung zum Kaiser erreichte, verwirrte Konservative und Liberale auch außerhalb Frankreichs. Zahlreiche Gegner des Bonapartismus in beiden Lagern bewunderten ihn insgeheim, insbesondere weite Kreise des Bürgertums. Obwohl sie den Staatsstreich nicht offen guthießen, sahen sie darin doch das kleinere Übel gegenüber der gefürchteten „roten demokratischen Revolution“. Wiewohl der Bonapartismus ein französisches Produkt und nicht exportierbar war, übte doch die Synthese aus Republikanismus und Monarchie, Konservatismus und Liberalismus, Autorität und Freiheit auf deutsche Intellektuelle eine große Faszination aus, so dass sich als Synonym, Variante und Korrektiv des Bonapartismus in Deutschland der Begriff des Cäsarismus herausbildete. Es kommt hier nicht darauf an, detailliert zu verfolgen, wo, wie und durch wen das Konzept des Cäsarismus im öffentlichen Diskurs Deutschlands den Bonapartismus überlagerte. Es genügt vielmehr hier festzuhalten, dass einflussreiche Autoren wie August Ludwig von Rochau, Heinrich von Treitschke, Max Duncker und Hermann Baumgarten den Bonapartismus als Regierungsform zwar als französische Besonderheit ablehnten, gleichzeitig aber auch für Deutschland eine starke Persönlichkeit herbeisehnten, die – über das Vorbild Cavours hinausgehend – die Verwirklichung der staatlichen Einheit in eine neue moderne Form nationaler Legitimität hätte gießen können. In einem Brief vom April 1865 an Theodor Mommsen gebrauchte Treitschke den Begriff Caesarentum in diesem Sinne, wenn er schrieb: „Unitarier und Verteidiger der Annexion stehen einmal selbst bei verständigen Leuten 135

in dem Verdachte bonapartistischer Gesinnung. Da ist es heilsam, über das moderne sogenannte Caesarentum zu sprechen und zu zeigen, dass wir trotz alledem Liberale sind und bleiben.“ Nach 1866 war immer öfter, wenn auch in verschiedensten Nuancen, vom Cäsarismus Bismarcks als deutsche Form des Bonapartismus die Rede. Friedrich Engels nannte Bismarck in einem Brief an Karl Marx vom Juli 1866 ironisch den Zögling Napoleons III., der seinen Meister übertroffen habe. Mittlerweile hatte sich der Begriff so weit verbreitet, dass Marx im Vorwort zur zweiten Auflage seines 18. Brumaire des Louis Napoleon angewidert von „der jetzt namentlich in Deutschland landläufigen Schulphrase vom sogenannten Cäsarismus“ sprach. In der öffentlichen Debatte war tatsächlich nicht zu erkennen, was der französische Bonapartismus und der Bismarck zugeschriebene Cäsarismus gemeinsam haben sollten, und dies umso weniger, sobald der Begriff in der Rückschau auch auf Cavour Anwendung fand.

Das Verhältnis Napoleons III. zu Cavour und Bismarck Wenden wir uns nun Napoleon III. als Gegenpol, Partner und Gegner sowohl Cavours als auch Bismarcks zu. Er war die dritte Hauptfigur der Geschichte jener Jahrzehnte und griff in Italien sogar auf dem Schlachtfeld direkt ins Geschehen ein. Im Verhältnis zu Preußen dagegen agierte er mehr indirekt durch diplomatische und persönliche Kontakte. Er war auf zweifache Weise präsent: als Kaiser der Franzosen, der (zu unterschiedlichen Zeitpunkten) mit Cavour und Bismarck verhandelte, und als Erfinder eines politisch-sozialen Modells und Regierungsstils, mit dem sich vor allem Bismarck fortwährend konfrontiert sah. Gegenüber Cavour spielte Napoleon (in bestimmten Grenzen) die Rolle des Förderers und Mentors der nationalen Befreiung Italiens und bot 1859 dafür die entscheidende militärische Hilfe an. Der Abbruch dieses Feldzugs führte zu schweren Konflikten, aber auch zu neuen Chancen für die nationale Bewegung, die Cavour gegen den Widerstand des Kaisers vor allem im Laufe des Jahres 1860 zu nutzen wusste. Dies kann Cavour vom Vorwurf entlasten, seine Politik allzu sehr vom Expansionsstreben Frankreichs abhängig gemacht zu haben, der in Deutschland immer wieder laut wurde. Aufmerksame Beobachter waren sich bis zuletzt nicht im Klaren darüber, ob der Kaiser der Franzosen das Königreich Sardinien-Piemont für seine hegemonialen Ziele benutzte oder ob es dem geschickten piemontesischen Minister136

präsidenten gelang, die ehrgeizigen Pläne Napoleons im Interesse der italienischen Einheit umzulenken. Cavour scheute sich offensichtlich nicht, seine ganze Einheitspolitik auf das bonapartistische System zu stützen, das sicher nicht seiner Vorstellung von parlamentarischem Liberalismus entsprach; aber der piemontesische Ministerpräsident konnte sein Bündnis mit Frankreich mit dem Hinweis auf die „liberale“ Politik Napoleons III. in der Nationalstaatsfrage rechtfertigen, auf die angestrebte Revidierung des gesamten geopolitischen Gleichgewichts des Wiener Kongresses und auf die Feindschaft gegen Österreich. Das ist Realpolitik. Außerdem versuchte Cavour wie gesagt vergebens, die Abhängigkeit von Napoleon III. durch eine Annäherung an Preußen zu lockern: Erst 1866 kam ein Bündnis unter ganz besonderen Bedingungen und auch diesmal nur mit Zustimmung Frankreichs zustande. Komplizierter war das politisch-diplomatische Verhältnis Bismarcks zu Napoleon III. in den Jahren 1862 bis 1867. Im Gegensatz zu erzkonservativen Preußen wie den Brüdern Gerlach nahm Bismarck nie eine betont feindselige Haltung gegenüber dem Regime Napoleons ein, obwohl auch er es kritisch beurteilte. Dadurch handelte er sich selbst den Vorwurf ein, sein Regierungsstil sei bonapartistisch (nämlich absolutistisch und zugleich populistisch), und bonapartistisch sei auch seine Verachtung für die legitimen und legitimistischen Forderungen Österreichs und der Kleinstaaten des Deutschen Bundes. Dazu kam der Verdacht, Bismarck sei zu territorialen Zugeständnissen bereit, um bei der Neuordnung Deutschlands zugunsten Preußens freie Hand zu haben. Bismarck ging in der Tat von realpolitischen Überlegungen aus, die meilenweit von der Sichtweise der überwiegenden Mehrheit seiner Zeitgenossen entfernt war. Es ist nicht auszuschließen, dass er diese Überzeugungen auch durch persönliche Kontakte mit Napoleon III. während seiner Zeit als Gesandter in Paris gewann. Seit 1861 nahm der französische Kaiser gegenüber Preußen als eine Art guter Ratgeber eine wohlwollende Haltung ein und zog den Gesandten Bismarck ins Vertrauen. Nach einem Diner in den Tuilerien am 5. Juni 1862 berichtete dieser seinem König über die „Ratschläge“, die ihm Napoleon gegeben hatte: „In der Anwendung auf unsere Zustände war er der Meinung, dass im gegenwärtigen Augenblick nur eine Regierung, welche der nationalen Richtung der öffentlichen Meinung Hoffnung und Nahrung gebe, sich eine Stellung schaffen könne, in welcher sie den Kampf der Parteien im Innern beherrsche und den Kammern gegenüber dasjenige Maß an Macht und freier Bewegung gewinne, welches einem monarchischen Regiment unentbehrlich sei. Der Schwerpunkt unserer politischen Aufgabe liege deshalb in der auswärtigen und insbesondere in der deutschen Politik.“

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Die Lage in Deutschland sei deshalb im Moment besonders schwierig, weil die deutschen Fürsten nicht zur Zusammenarbeit mit Preußen bereit seien, um Fortschritte zu erzielen. Es bestehe demnach die Gefahr, dass ein Land wie das ansonsten friedliche Deutschland in Aufruhr gerate. Frankreich sei bereit, einen Beitrag zur Lösung der Probleme zu leisten, sofern Österreich mit seinem gesamten Reichsgebiet nicht an einem deutschen Bund von der Donaumündung bis zum Niederrhein teilnehme, der das europäische Gleichgewicht zerstören würde. Diese Situation wäre ebenso inakzeptabel wie die Expansionsbestrebungen, die Frankreich zu Unrecht zugeschrieben würden: „Nur sehr oberflächliche und leichtsinnige Staatsmänner könnten der französischen Politik Ziele unterstellen, deren Erreichen mit einer Verewigung der Koalition des gesamten übrigen Europa gegen Frankreich gleichbedeutend sein würde.“ Bismarck versicherte Napoleon, er sei davon überzeugt, „dass Frankreich sich hinreichend mächtig fühle, um alle Lebensbedingungen einer europäischen Großmacht durch seinen gegenwärtigen Besitzstand erfüllt zu sehen, und der Kaiser selbst keine Neigung habe, durch Bestrebungen über das Gegebene hinaus das friedliche Gedeihen Frankreichs und seiner Nachbarn zu beeinträchtigen.“ Es ist schwer zu sagen, ob diese Worte nur diplomatische Höflichkeit oder die tatsächliche Überzeugung Bismarcks zum Ausdruck bringen. Drei Wochen später kam es zu einer weiteren Begegnung zwischen dem Kaiser und dem preußischen Gesandten in Fontainebleau. Bei dieser Gelegenheit fragte Napoleon unvermittelt: „Glauben Sie, dass der König bereit wäre, eine Allianz mit mir einzugehen?“ Bismarck versicherte, dass der König von Preußen die freundschaftlichsten Gefühle hege, ein Bündnis aber müsse gute Gründe und ein genau bestimmtes Ziel haben. Der Kaiser erwiderte darauf, er habe kein abenteuerliches Projekt im Sinn, aber die Interessen Preußens und Frankreichs seien so übereinstimmend, dass „une entente intime et durable“ der beiden Staaten möglich sei, sobald nur einige Vorurteile und vorgefasste Meinungen beseitigt wären. Er fügte hinzu: „Sie können sich nicht vorstellen, welch einzigartigen Vorschläge [ouvertùres] mir Österreich vor einigen Tagen gemacht hat.“ Nachdem er einige Überlegungen zum veränderten diplomatischen Klima zwischen den europäischen Mächten angestellt hat, zieht Bismarck „nicht die Konsequenz, dass wir uns bemühen sollen, mit Frankreich auf bestimmte Artikel ein Bündnis zu schließen, wohl aber, dass wir keine Politik treiben dürfen, bei der wir auf treue Bundesgenossenschaft Österreichs gegen Frankreich zu zählen hätten, und 138

dass wir uns nicht der Hoffnung überlassen müssen, Österreich werde jemals freiwillig einer Verbesserung unserer Stellung in Deutschland zustimmen.“ Aufgrund dieser Einschätzung war in der deutschen Presse davon die Rede, dass ein Bündnis zwischen Frankreich, Russland und Preußen bevorstehe und Bismarck in die Regierung berufen werde. Auch nach seiner Berufung zum Ministerpräsidenten änderte Bismarck seine Haltung gegenüber dem französischen Kaiser nicht: Sowohl in der Außenpolitik als auch gegenüber der neuen Politik des Bonapartismus als einem System, in dem sich Nation/Nationalismus (gestärkt durch die Erinnerung an Napoleon I.) und populistischer Demokratismus (Plebiszite und allgemeines Wahlrecht) verbanden. Im Grunde handelte es sich um Faktoren, die dem Vorgehen Bismarcks bei seiner preußisch-deutschen Version der nationalen Einigung sehr ähnlich waren. Das „Volk“, auf das der französische Kaiser zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft setzte, waren vor allem die bäuerlichen Schichten, die auch Bismarck im Gegensatz zu dem unbotmäßigen städtischen Bürgertum als „das wahre preußische Volk“ und als Stütze der Monarchie betrachtete. Schwieriger ist der Diskurs über die bürgerlichen Mittelschichten: In Frankreich fürchteten sie einerseits die rote Revolution und nahmen dankbar die vom bonapartistischen Regime gewährten Sicherheiten entgegen, trauerten aber andererseits den liberalen Freiheitsrechten nach. Die demokratische und sozialistische Linke (vor allem Karl Marx) ging jedoch davon aus, dass der Bonapartismus auf jeden Fall den Sieg der Bourgeoisie verkörpere. In Deutschland stand Bismarck in einem sozioökonomischen Umfeld, das nicht unmittelbar mit dem französischen vergleichbar war. Er war der Überzeugung, zum „deutschen Volk“ auch den Teil des Bürgertums rechnen zu können, der sich mit der preußischen Monarchie und ihrem Heer identifizierte: „Auf die Dauer haben wir jedenfalls nur eine zuverlässige Stütze (wenn wir sie nicht absichtlich verwerfen), das ist die nationale Kraft des deutschen Volkes, solange es in der preußischen Armee seinen Vorkämpfer und die Hoffnung seiner Zukunft erblickt“. Bismarck stellt also, um das Gesagte zusammenzufassen, das Verhältnis zu Napoleon III. und der bonapartistischen Regierungsform in einen genau definierten Rahmen politischer Prioritäten: 1.) Der Hauptgegner der deutschen Einigung, der geschlagen werden musste, sei Österreich; 2.) da ein bewaffneter Konflikt mit Österreich unvermeidlich sei, müsse sich Preußen die Neutralität Frankreichs sichern; 3.) trotz des anmaßenden Auftretens des Kaisers seien die expansionistischen Bestrebungen des bonapartistischen Regimes sehr viel 139

moderater, als es den Anschein habe, und stellten auf jeden Fall keine so große und unmittelbar drohende Gefahr wie Österreich dar. Frankreichs Rolle als politisch-militärische Schutzmacht für Italien, die in Deutschland so große Befürchtungen ausgelöst hatte, habe sich 1860 als unerwartet schwach erwiesen. Da der französische Kaiser in den darauf folgenden Jahren (vor allem beim Scheitern seiner Intervention in Mexiko) schwere Niederlagen einstecken musste, sah sich Bismarck in seiner Überzeugung bestärkt, dass Napoleon politisch sehr viel weniger geschickt sei, als man geglaubt hatte. Am Ende ist im Lichte der Ereignisse von 1866/67 festzuhalten, dass der Vergleich oder die Gegenüberstellung von Bismarck und Napoleon nicht auf der Grundlage von Unterschieden oder Ähnlichkeiten der beiden Regierungsformen (der voll entwickelte Bonapartismus auf der einen und der Bismarckismus in seiner Anfangsphase auf der anderen Seite) entschieden wurde, sondern nach den klassischen diplomatischen Spielregeln der Machtstaaten. Und Bismarck behielt aufgrund seines überragenden diplomatisch-politischen Geschicks die Oberhand.

Der Cäsarismus Bismarcks bei Max Weber An dieser Stelle bietet sich ein Exkurs über die Thesen Max Webers zu Bismarck und seinem Cäsarismus an. Weber entwickelte seine Theorie in einem zeitlichen Abstand, der eine ausgewogene Bilanz über Bismarcks Leistung in ihrer Gesamtheit ermöglichte, zugleich aber ist noch der Nachhall der dramatischen Erfahrungen des deutschen Liberalismus zwischen 1860 und 1870 zu spüren. Nicht zuletzt war aber Weber auch direkt beeinflusst von seinem Freund und Verwandten Hermann Baumgarten , einem der führenden Vertreter des Liberalismus in der Ära Bismarcks, der als Erster von „demagogischem Cäsarismus“ gesprochen hatte. Max Weber hat mehr als andere den Cäsarismus Bismarcks mit Blick auf das Parlament und den Parlamentarismus interpretiert und damit den unserer Meinung nach interessantesten und wichtigsten Aspekt des Problems beleuchtet. Sein abschließendes Urteil lautete: „Bismarcks politisches Erbe? Er hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen, gewohnt, dass der große Staatsmann an ihrer Spitze für sie die Politik schon besorgen 140

werde. [. . . ] als ein rein negatives Ergebnis seines gewaltigen Prestiges: ein völlig machtloses Parlament.“ Im Übrigen relativiert Weber in seinen Werken den häufig überbetonten „charismatischen“ Charakter Bismarcks. Weber verbindet vielmehr die Entstehung des Cäsarismus mit dem „Prinzip der kleinen Zahl“, das heißt mit der der Massendemokratie innewohnenden Tendenz zur Herausbildung eines „Führers“. Darin besteht der geheime Zusammenhang zwischen Demokratie und Cäsarismus, der somit als notwendiger Bestandteil im Prozess der Demokratisierung erscheint. Bismarck lernte sein politisches Handwerk in der Bundesversammlung in Frankfurt: Dort erfuhr der künftige preußische Ministerpräsident und deutsche Reichskanzler, dass „das Wesen der Politik der Kampf “ ist. Das Parlament war die („unersetzliche“ und „durch nichts zu ersetzende“) Arena, um „Verbündete und Gefolgsleute“ zu finden. Doch die parlamentarische Versammlung als solche ist nicht in der Lage, „zu regieren“ oder „Politik zu machen“. Die Masse der Abgeordneten ist nur die Gefolgschaft des Führers oder der wenigen Führer, die das Kabinett bilden: „Stets beherrscht das ,Prinzip der kleinen Zahl‘, d. h. die überlegene politische Manövrierfähigkeit kleiner Gruppen das politische Handeln. Dieser ,cäsaristische‘ Einschlag ist (in den Massenstaaten) unausrottbar.“ Im Prozess der Demokratisierung erhält ein Führer das Vertrauen der Massen und festigt seine Macht durch demagogische Mittel. „Dem Wesen der Sache nach bedeutet dies eine cäsaristische Wendung der Führerauslese. Und in der Tat neigt jede Demokratie dazu. Das spezifisch cäsaristische Mittel ist: das Plebiszit.“ Das Ergebnis der direkten Volksbefragung ist bindend, ja konstituierend, denn es befreit von der ermüdenden parlamentarischen Vermittlung. Weber führt als Beispiel die beiden französischen Kaiser an. Napoleon I. kam durch seine militärischen Erfolge an die Macht und ließ sie sich durch ein Plebiszit bestätigen. Auch Napoleon III. ließ sich seinen Machtanspruch durch ein Plebiszit bestätigen: „Jede Art von direkter Volkswahl des höchsten Gewaltträgers [. . . ] liegt auf dem Wege zu jenen ,reinen‘ Formen cäsaristischer Akklamation.“ An dieser Stelle bezieht sich Weber auf Bismarck und zieht einen Vergleich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten: „Insbesondere natürlich die durch (formell) ,demokratische‘ Nomination und Wahl legitimierte Machtstellung des Präsidenten“ mache ihn dem Parlament überlegen. Das war die Hoffnung, die eine „so cäsaristische Gestalt wie Bismarck“ bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1867 hegte. 141

Natürlich versuchen die Parlamentarier gegen die plebiszitären Methoden der Auswahl der Führer anzukämpfen, denn sie untergraben die Macht des Parlaments selbst, aber das Parlament verliert dadurch Einfluss auf die Massen. Auch in den demokratischen Monarchien wie der englischen fehlt ein cäsaristisch-plebiszitäres Moment nicht, wenn auch in stark abgeschwächter Form. An dieser Stelle führt Weber das zunächst nur implizit vorhandene Element des Charismas ein: „Die ,plebiszitäre Demokratie‘ – der wichtigste Typ der Führer-Demokratie – ist ihrem genuinen Sinn nach eine Art der charismatischen Herrschaft.“ Die aus der Demokratie gespeiste Fähigkeit zur Organisation der Macht basiert praktisch auf der Position und Persönlichkeit eines „Caesar“, der auch einen charismatischen „Verwaltungsstab“ um sich schart und die „traditionale Legitimität ebenso wie die formale Legalität gleichmäßig ignoriert“. Diese „Macht des persönlichen Genies“ steht dauerhaft in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der formalen bürokratischen Organisation. Die Parteien ihrerseits, die sich der cäsaristischen Tendenz der Massendemokratie anpassen müssen, sind „gezwungen, sich wirklichen politischen Temperamenten und Begabungen als Führern zu fügen, sobald diese sich imstande zeigen, das Vertrauen der Massen zu gewinnen.“ Kurz, Weber sieht den Cäsarismus als unvermeidliche Tendenz auf dem Weg zur Massendemokratie und weist ihr „charismatische“ Züge zu, die jedoch nicht allein die „so cäsaristische Gestalt“ Bismarcks erklären. Diese Feststellung ist mit Blick auf die neuere deutsche Geschichtsschreibung von Bedeutung, die gespalten ist zwischen denjenigen, die Bismarck als den ersten „Charismatiker der modernen Politik“ sehen, und anderen, die diese Charakteristik entschieden verneinen. Meiner Meinung nach kann man Bismarck nicht in toto all die typischen Elemente des politischen Charismas zuweisen, die Max Weber, ohne direkten Bezug zum Reichskanzler, zusammengestellt hat. Leugnen lässt sich jedoch nicht, dass er in mancher Hinsicht eine charismatische Dimension besaß, aber sein Machtsystem lässt sich auch nicht auf eine bloße Kombination rational-bürokratischer und traditionaler Züge beschränken. Bismarck ist vielmehr ein Beispiel für eine komplexe und eigenständige Form der Verbindung von Elementen traditionaler, bürokratisch-rationaler und charismatischer Herrschaft, die er im Laufe seiner langen politischen Karriere allmählich herausbildete. Leider ist der Begriff Charisma in der Publizistik inzwischen einfach zum Synonym für Einfluss, Faszination, Popularität und Publikums142

wirksamkeit verflacht und hat die Züge von Einmaligkeit – auf die Weber so insistierte – verloren, die an religiöse Abhängigkeit und Hingabe erinnern. Politisches Charisma im eigentlichen Sinn setzt fanatischen Glauben und bedingungslose Hingabe der Anhänger voraus, die außergewöhnliche Leistungen in Krisensituationen ermöglichen. Diese Charakterzüge fehlen in der Politik Bismarcks, vor allem in dem von uns betrachteten Zeitraum. Die Autorität Bismarcks speiste sich in dieser Zeit aus anderen Quellen als aus begeisterten Anhängern und treuen Gefolgsleuten. Abschließend sei festgestellt, dass der Begriff des Cäsarismus in der deutschen Geschichtsschreibung bis heute eine große Rolle spielt. In Michael Stürmers viel beachtetem Buch über Das ruhelose Reich beispielsweise taucht das Konzept in drei Varianten und unterschiedlichen Zusammenhängen auf: 1.) Bismarck sei der „cäsaristische“ Schöpfer der „Revolution von oben“ gewesen; 2.) die Vermittlungsversuche Napoleons III. für eine Neuordnung Deutschlands nach dem preußischen Sieg über Österreich seien aus dessen Ruf als „cäsaristischer Kaiser“ erwachsen; 3.) die Politik der deutschen Regierungen von Bismarck bis Bülow habe „cäsaristischen Zuschnitt“ besessen. Wie man sieht, wird Cäsarismus zwar in plausiblen Zusammenhängen, aber ohne begriffliche Strenge verwendet.

Politische Verfassungen und die Rolle der Persönlichkeit Ein entscheidendes Element für einen Vergleich zwischen Cavour und Bismarck in den Jahren 1850–1870 ist der Bezug beider Politiker zur verfassungsmäßigen Ordnung in Piemont bzw. Preußen. Beide Politiker leiteten die Regierung einer konstitutionellen Monarchie, in der der Souverän eine herausragende Position innehatte, die jedoch sehr unterschiedlich gehandhabt wurde. Der Konstitutionalismus des Königreichs Sardinien-Piemont orientierte sich am liberalen Vorbild, nach dem Volksvertretung und Krone trotz gelegentlicher Spannungen und offener Konflikte grundsätzlich zusammenarbeiteten. Innerhalb dieses Rahmens konnte Cavour als Ministerpräsident der Autorität des Königs nicht nur die Macht des Parlaments als dessen legitimer Vertreter entgegensetzen, sondern auch sein neues Durchsetzungsvermögen, das er durch die „diktatorische“ Steuerung der Parlamentsmehrheit 143

gewonnen hatte. Vittorio Emanuele selbst erklärte sich in einem kritischen Moment zur Abdankung bereit, um sich nicht der „Diktatur“ seines Ministerpräsidenten unterwerfen zu müssen. Hinter der Regierung und dem Parlament standen eine lebendige und kämpferische Presselandschaft und einzelne herausragende Persönlichkeiten des kulturellen Lebens. Darüber hinaus beriefen sich alle auf das „Volk“ und die nationale Bewegung, auch wenn die Größe und soziale Zusammensetzung dieser Bewegung nicht überschätzt werden darf. Der Konstitutionalismus Preußens dagegen bestand aus einem institutionellen Ungleichgewicht zwischen einer mit begrenzten Kompetenzen ausgestatteten parlamentarischen Vertretung und dem Übergewicht der Krone, deren unantastbare Prärogativen, angefangen vom ausschließlichen Recht der Ernennung des Ministerpräsidenten, nicht von der Zustimmung des Parlaments abhängig waren. Innerhalb dieses konstitutionellen, um den Monarchen zentrierten Systems gründete Bismarck als Ministerpräsident sein Durchsetzungsvermögen nicht nur auf die Unterstützung des Monarchen, sondern auf die skrupellose „Diktatur“, mit der er diese Unterstützung gegen die Abgeordnetenkammer ausspielte. In einigen entscheidenden Momenten schien der Diktator selbst an die Stelle des Souveräns zu treten, ohne dass dies zu einem formalen Bruch geführt hätte. Die weitreichenden Rechte, die die Verfassung dem Monarchen gewährte (und die die Liberalen nicht grundsätzlich bekämpften), wurden vom Ministerpräsidenten wahrgenommen, der damit den Willen des Souveräns verfälschte, weil er sich auf seine Popularität berufen konnte, ohne dass die Zustimmung des Volks in bonapartistischer Manier formalisiert worden wäre. In diesem Rahmen ist auch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu sehen, die Bismarck nicht als Anerkennung des allgemeinen Prinzips der Volkssouveränität, sondern als eine Art Ersatz für den plebiszitären Konsens betrachtete. Trotz der Differenzen der beiden Verfassungssysteme in Piemont und Preußen bestanden jedoch Ähnlichkeiten zwischen Cavour und Bismarck in ihrem Verhältnis zu dem jeweiligen Souverän. In den persönlichen Beziehungen gab es häufig Konflikte, und beide Staatsmänner reagierten in ähnlicher Weise. Sie waren beide mehr dem monarchischen Prinzip, also der Autorität des Staates, als der Person ihres Königs ergeben, die sie trotz einer gewissen Zuneigung für keine großen politischen Köpfe hielten. Auch die Reaktion der beiden Könige auf ihre Ministerpräsidenten war gleich, denn beide konnten nicht auf sie verzichten. 144

Dafür einige Beispiele. Unter Ausnutzung seiner parlamentarischen Macht und seines Einflusses auf die öffentliche Meinung setzte sich Cavour vor allem im entscheidenden Jahr 1860 gegen seinen König durch. Schon im Januar berief der König Cavour, der aus Empörung über den Frieden von Villafranca zurückgetreten war, einzig und allein auf Druck der Liberalen erneut zum Ministerpräsidenten: „Je hartnäckiger er [der König] sich sträubte, umso offensichtlicher waren seine Niederlage und das Übergewicht der Kräfte, die nicht nur die parlamentarische Mehrheit, sondern auch politische und moralische Hegemonie im Lande besaßen. Diese Kräfte brachten Cavour an die Macht zurück und betrachteten ihn als ihren Führer in dem kritischen Augenblick, in dem es nicht nur um das Schicksal Piemonts, sondern ganz Italiens ging.“

Einige Monate später (am 16. April 1860) kam es zwischen Cavour und dem König in Florenz zu einer heftigen Auseinandersetzung. Vittorio Emanuele warf seinem Ministerpräsidenten die Abtretung von Nizza an Frankreich und umgekehrt die nicht erreichte Erwerbung von Ancona vor. Cavour erwiderte stolz: „Nach Ihren gestrigen Worten hätte jeder Ministerpräsident längst zurücktreten müssen. Ich aber bin nicht irgendein Minister, denn mein Pflichtgefühl sagt mir, dass ich noch viele Aufgaben für die Dynastie und Italien zu erfüllen habe. Ich erwarte in dieser Hinsicht weitere Mitteilungen von S. M. Bis dahin bleibe ich auf meinem Posten.“ Diese stolzen Worte sind umso bedeutsamer, wenn man bedenkt, dass Cavour sich gerade in der Frage der Abtretung italienischer Gebiete an Frankreich sehr wohl bewusst war, hart an der Grenze des Verfassungsbruchs zu agieren. Wie sehr sich das Verhältnis des Ministerpräsidenten zu Vittorio Emanuele verschlechtert hatte, zeigt die Erklärung Cavours dafür, warum er den König nicht nach Neapel begleitete, wo dieser Garibaldi treffen sollte: „Der König liebt mich nicht, und er ist eifersüchtig auf mich, als Ministerpräsidenten erträgt er mich, aber es ist ihm lieber, wenn ich nicht an seiner Seite bin.“ In Preußen stand der Ministerpräsident nach der Verfassung nicht ungefähr in der Mitte zwischen Parlament und Krone, wie es bei Cavour manchmal den Anschein hatte. Bismarck stützte sich in seinen Auseinandersetzungen mit dem Parlament politisch-institutionell einzig und allein auf die Autorität des Königs. Dabei übte er mitunter selbst die Autorität Wilhelms aus: Manchmal bestärkte er den König in seinem Widerstand gegen das Parlament wie beispielsweise in der Etatfrage (nach 1862), manchmal setzte er ihm gegenüber auch seine eigenen 145

Vorstellungen durch, wie etwa in der Frage der Elbherzogtümer und des allmählichen Bruchs mit Österreich, der zum Krieg von 1866 führte. Dieser Konflikt war ein entscheidender Moment im Verhältnis zwischen Ministerpräsident und König. Der damalige britische Gesandte in Berlin, Francis Napier of Merchiston, brachte den Unterschied zwischen der Lage Bismarcks 1866 und der Cavours im Krieg von 1859 auf den Punkt: „Graf Cavour hatte hinter sich einen entschlossenen Souverän, ein geeinigtes Volk und eine volkstümliche Sache. Graf Bismarck hat neben sich einen zögernden Souverän mit einem unsicheren Gewissen, der unter verschieden gemischten und gearteten Einflüssen handelt; er hat ferner eine feindliche Nation vor sich und hinter sich eine Sache, die, bis zu einem gewissen Grade in ihrem Ziele volkstümlich, doch in der Form und der Methode dem öffentlichen Gefühl widerstrebt.“

Am deutlichsten setzte sich der preußische Ministerpräsident in der dramatischen Auseinandersetzung über den Abbruch des Krieges von 1866 gegen den Willen des Königs durch. Nach dem Sieg in der Schlacht von Sadowa/Königgrätz erkannte Bismarck, wie erwähnt, dass sich eine für Preußen gefährliche internationale Lage abzeichnete, und entschloss sich zum Abbruch des Feldzugs und zum raschen Friedensschluss mit Österreich. König Wilhelm und sein gesamter Generalsstab dagegen waren entschlossen, den siegreichen Feldzug fortzuführen und Österreich exemplarisch zu bestrafen. Der Streit zwischen dem König und Bismarck eskalierte so weit, dass der Ministerpräsident aus Verzweiflung an Selbstmord dachte. Schließlich gab der König aber nach und schrieb „mit Bleistift an den Rand einer meiner letzten Eingaben“ die Worte: „Nachdem mein Ministerpräsident mich vor dem Feinde im Stiche lässt und ich hier außerstande bin, ihn zu ersetzen, habe ich die Frage mit meinem Sohne erörtert, und da sich derselbe der Auffassung des Ministerpräsidenten angeschlossen hat, sehe ich mich zu meinem Schmerze gezwungen, nach so glänzenden Siegen der Armee in diesen sauren Apfel zu beißen und einen so schmachvollen Frieden anzunehmen.“ Nicht nur der militärische Sieg auf dem Schlachtfeld, sondern auch und vor allem der darauf folgende politische Sieg bei den Verhandlungen über den Norddeutschen Bund und seine Verfassung bestätigten Bismarcks Strategie, und damit seinen Cäsarismus, wenn man darunter die Fähigkeit versteht, alle Institutionen durch und über seine Rolle als Ministerpräsident hinaus zu beherrschen. Nach dem Erfolg von 1866 und mehr noch nach dem von 1870/71 stellte sich Bismarck immer öfter und nicht nur in einzelnen Fällen, sondern systematisch über den 146

König, setzte sich an dessen Stelle und nahm dessen Vorrechte wahr, so dass Wilhelm (inzwischen als deutscher Kaiser) schließlich seinem Ärger mit den berühmten Worten Luft machte: „Es ist nicht leicht, unter Bismarck Kaiser zu sein.“ Bismarck benutzte die Institutionen je nach seinen politischen Zielen: „Zu Instrumenten seiner Herrschaft hat er sie zu domestizieren gesucht, die Monarchen, die Parlamente und fast alle anderen politischen Kräfte auch. Von der zentralen Position aus war er bestrebt, sie gegeneinander in Stellung zu bringen und in Konkurrenz zu halten. Keine von ihnen suchte er gänzlich zu entmachten, und keine sollte Übermacht gewinnen. Das Gleichgewicht zwischen ihnen geriet freilich am Ende in Turbulenzen.“ Welche Rolle spielte im Rahmen dieser institutionellen Struktur die Persönlichkeit der beiden Akteure? Inwieweit bestimmten ihr Charakter und ihr intellektueller Hintergrund ihr politisches Handeln? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Zeitgenossen und Biographen haben dabei häufig psychologische Erklärungen (einschließlich pathologischer Aspekte) für politische Entscheidungen herangezogen. Beginnen wir mit zwei gegensätzlichen Zeitzeugnissen über Bismarck. Das erste stammt von Franz Roggenbach (dem liberalen Außenminister in Baden von 1861 bis 1865), der im April 1866 schrieb: „Meines Erachtens ist der jetzige Leiter des preußischen Kabinetts nur, was er immer war, leichtfertig, gewissenlos, unstet umspringend in Zielpunkten und Mitteln – und geneigt, alle Interessen zu opfern, um sich an der Macht und sein System am Ruder erhalten zu können. Je mehr er in Verlegenheit kommt, um so größer wird der Anteil, den seine Charaktereigenschaften an seinem Tun haben werden. Da er zur Zeit in Verlegenheit ist, und zwar in einer sehr großen, so steigern sich die Fehler seiner Natur zu großer Gefährlichkeit.“

Einen ganz anderen Ton schlug der englische Botschafter Augustus Loftus an, der im August 1866 über Bismarck schrieb: „Von kühnem Geist, energisch im Handeln; nicht von Prinzipien gehemmt und nicht von Gewissensbissen geplagt, regiert er mit Furcht, wo er mit Liebe nicht gewinnen kann; dieser unerschrockene, fähige und machtvolle Minister hat nun den wichtigsten Teil in Händen, der vielleicht je einem Staatsmann zugefallen ist.“ Dieses Bild Bismarcks, das ebenso Teil eines positiven wie negativen Urteils sein kann, findet sich bis auf unsere Tage mit geringen Nuancen bei unzähligen anderen Autoren. Der preußische Junker war hoch gebildet (und ein Bewunderer Shakespeares), besaß einen großen Sinn für Ironie und war sprachlich oft überaus gewandt. Sein Welt- und Geschichtsbild war sowohl vom Glauben an die göttliche Vorsehung als auch an die Unvermeidlichkeit des Schicksals geprägt. Er misstraute philosophischen Geschichts147

theorien ebenso wie der Wirtschaftswissenschaft, die er für ein typisches Produkt des englischen Liberalismus im Dienste des industriellen Kapitalismus hielt. Unter dem Terminus Liberalismus subsumierte Bismarck alle irgendwie aus der amerikanischen und französischen Revolution hervorgegangenen Theorien und Bewegungen. Über die Ökonomen der englischen Schule äußerte er sich ziemlich abwertend und stellte sie englischen Geistlichen, jüdischen Bankiers, Geschäftsleuten und französischen Gesetzen an die Seite. Seine Ablehnung bloßer Theorie ging so weit, dass er sich über Professoren, die ihn nach einem „Symbolon von Prinzipien“ seiner erfolgreichen Politik fragten, lustig machte und betonte, Politik habe nichts mit Mathematik und Arithmetik zu tun. Sie sei eine Kunst, keine logische und exakte Wissenschaft, sondern die Fähigkeit, in ständig wechselnden Situationen zu wählen, was weniger schädlich und günstiger sei. Charakterlich wird Bismarck folgendermaßen beschrieben: „Sein Auftreten war äußerst selbstbewusst, von junkerhafter Schneidigkeit, konfliktfreudig, häufig provokativ, arrogant und dank seiner hohen Intelligenz sehr schlagfertig. Cholerische Zornesausbrüche, Launenhaftigkeit und Stimmungsumschwünge waren in seiner Umgebung gefürchtet.“ War Bismarck das Gegenteil von Cavour? Das Weltbild des Piemontesen war vom westlichen und besonders vom angelsächsischen Denken geprägt, er misstraute philosophischen Theorien, interessierte sich aber für die Sozialwissenschaften, für politische Ökonomie und für Mathematik: „Ich verdanke der Mathematik viel, sie trainiert das Gehirn und lehrt zu denken.“ Sein aufgeklärter und pragmatischer Geist machte seine Weltsicht optimistisch, denn sie gründete auf den Werten des Liberalismus, der „das größte Gut der Menschheit und die Entwicklung der Kultur“ garantiere. Cavour war ein praktisch veranlagter Mensch, der sich in der Landwirtschaft auskannte und sich ihr mit Leidenschaft widmete. „Der Ministerpräsident war vermögend, trug einen berühmten Namen, genoss in ganz Europa Ansehen und führte einen immer aufwändigeren Lebensstil.“, schreibt sein führender italienischer Biograph Rosario Romeo. „Im Palazzo Cavour und im Außenministerium fanden häufig Bälle und Empfänge statt, auf denen zwischen Politik und mondäner Welt unauffällig Kontakte gepflegt wurden.“ Damit ist aber nur die äußere Fassade der Public Relations und das Bild Cavours als eines umgänglichen, herzlichen, lächelnden und optimistischen Politikers beschrieben, das den Gemäßigten so sehr am Herzen lag. In Wahrheit war Cavour auch von Ängsten geplagt, vorzeitig gealtert, von Sorgen gebeugt und zeigte damit Seiten, die man von Bismarck 148

berichtet: „rasche Stimmungsumschwünge, häufige Wutanfälle und depressive Krisen“, die ihn an den Rand des Selbstmords trieben. Unter den Zeitgenossen gab es natürlich nicht wenige, die ein hartes Urteil über Cavour fällten, das dann in mehr oder weniger polemischer oder zweideutiger Absicht von Historikern bis heute übernommen wurde. In deren Augen war die hochentwickelte politisch-diplomatische Kunst Cavours „bloßer Opportunismus. In jeder Hinsicht stark und zu allen Winkelzügen fähig, wusste Cavour aus jeder Schwäche seiner Gegner Nutzen zu schlagen: aus der Schwäche Garibaldis für Vittorio Emanuele, aus der herrschenden Angst vor der Revolution, aus dem englischen Misstrauen gegenüber Frankreich und nicht zuletzt aus der Tatsache, dass Napoleon III. sich weder mit Großbritannien verbünden noch sich ihm entgegenstellen konnte. Von all dem profitierte Cavour mit größtem, aber paradoxem Erfolg: Mit dem Argument, dies sei der einzige Weg, eine Revolution zu vermeiden, überzeugte er die Menschen auf die eine oder andere Art, nichts anderes als eine Revolution zu unterstützen.“

Paradox ist in Wirklichkeit diese Argumentation von Mack Smith, denn am Ende seiner Philippika muss er anerkennen, dass die moralisch zweifelhaften Methoden Cavours notwendig waren, um das an sich positive Ziel der nationalen Einheit Italiens zu erreichen. An dieser Stelle wird die Frage der (Un-)Vereinbarkeit von persönlicher Moral und politischer Folgerichtigkeit und damit – nicht nur im Zusammenhang mit Cavour und Bismarck – eine der meist diskutierten Fragen der Geschichtsschreibung berührt. Als Ende des 19. Jahrhunderts Bismarcks Gedanken und Erinnerungen auf Italienisch erschienen, veröffentliche der einflussreiche Politiker und Publizist Gaetano Negri, ein Vertreter der Tradition des Cavourschen Liberalismus, einen bemerkenswerten Aufsatz in der „Nuova Antologia“. Negri lobt den deutschen Politiker begeistert „als einen der bedeutendsten und eindrucksvollsten Männer der Geschichte“ und die Memoiren als „gigantisches Werk eines genialen Geistes vom Format Michelangelos“. Der Autor bewundert das Werk und den Politikstil Bismarcks, der „ohne jede politische Sentimentalität war und sich nie von vorgefassten Meinungen oder abstrakten Tendenzen leiten ließ“. Dennoch kommt Negri am Ende zu einem durch und durch negativen Urteil: „Bismarck hatte kein großes kulturelles Ziel vor Augen. Washington und Cavour wollten unterdrückten Völkern ein neues Leben ermöglichen. Aber Deutschland lebte in einer ideellen und wirksamen Einheit, auch bevor das deutsche Kaiserreich geschaffen wurde, und war keineswegs so unglücklich, dass die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt gewesen wäre, um es die neu geschenkte Freiheit genießen zu

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lassen. Bismarck aber setzte sich drei Ziele, die letztlich ein und dasselbe sind: die sichere und ruhmreiche Hegemonie der Hohenzollern über Preußen, die Hegemonie Preußens über Deutschland und die Hegemonie Deutschlands über Europa.“

Das einzige Kriterium, an dem sich Bismarcks Politik orientierte, war in den Augen des Autors demnach die Macht und sein einziges Ziel die Stärke Preußens: „Die Politik Bismarcks bedeutet einen Rückfall in reine Machtpolitik und hat einen Frieden geschaffen, der nur als andauernde Spannung halten kann, so dass alle den Krieg erwarten und vorbereiten.“ Negri missbilligt augenscheinlich die Politik Bismarcks als reine Machtpolitik und dehnt diese Missbilligung implizit auch auf das wilhelminische Deutschland seiner Zeit aus. Aber er will oder kann damit dennoch keine Antwort auf die eigentliche Frage geben, die er selbst gestellt hat: Wie konnte die „große und weise“ Politik Bismarcks ein derart negatives Ergebnis hervorbringen? Der Hinweis auf den Gegensatz zur Politik Cavours und Washingtons wird nicht weiterverfolgt. Vielleicht besteht in der Unfähigkeit, darauf zu antworten, die „gewaltsame Faszination“, die Bismarck auf seine und die nächste Generation ausgeübt hat, während der diskretere Charme Cavours weniger wirksam war. In der Verfassungsfrage lässt sich zusammenfassend sagen, dass Bismarck die autoritäre Verfassung der preußischen Monarchie auf das Deutsche Reich übertrug und sie in der beschriebenen Art und Weise aufgrund ihrer demopopulistischen Komponenten mit cäsaristischen Methoden handhabte. Cavour dagegen wendete mit durchaus positivem Ergebnis die liberale parlamentarische Verfassung Piemonts, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt und praktiziert worden war, auf die Einigung Italiens an. Dieses Vorgehen wurde im Sprachgebrauch der Zeit in Italien als diktatorisch oder (in Deutschland) als cäsaristisch bezeichnet. Es fehlten jedoch genau betrachtet die für den Cäsarismus wesentlichen plebiszitären Komponenten, und deshalb verkörperte Cavour eine starke politische Führung innerhalb der parlamentarischen Monarchie, allerdings in den für die damalige Zeit typischen engen Grenzen des Wahlrechts.

Jenseits der nationalen Mythen Wir können die Geschichte nicht ändern, aber wir können und müssen uns bei ihrer Rekonstruktion von den positiven und negativen Mythen 150

befreien, von denen sie im kollektiven Gedächtnis andauernd verändert wird. Mythos ist kein Synonym für Legende, Verfälschung oder Täuschung, sondern vielmehr die Umgestaltung durch Emotionen, Erwartungen oder Rationalisierungen der Protagonisten selbst oder der Zeitzeugen und Beobachter. Der Mythos wird umgestaltende Narration auch durch die Art ihrer Rezeption, in der sie ex post die Identität der Betroffenen berührt. Natürlich kann auch der Augenblick kommen, in dem der Prozess zu Ende geht, denn auch Mythen sterben. Nationen und ihre Entstehung waren Mythen in diesem Sinne, und in diesen Rahmen sind auch die Mythen der beiden Staatsmänner als Begründer der staatlichen Einheit in Italien und Deutschland einzuordnen. Als Ergebnis unserer Untersuchung müsste klar geworden sein, wie der mächtige, nationalistische, bürgerliche und volkstümliche Mythos Bismarcks, und demgegenüber der gemäßigt konservative, bürgerlichliberale und etwas elitäre Mythos Cavours entstehen konnten. Heute sind beide Mythen verblasst. Doch sie waren nur möglich im Zusammenhang mit anderen Mythen wie dem Krieg. In dem behandelten Zeitraum wurde Krieg begeistert begrüßt. Besonders in Deutschland wurde der Krieg nach den Siegen auf dem Schlachtfeld zum Gründungsmythos der Nation. Etwas anders war die Entwicklung in Italien, obwohl auch hier der Krieg immer gegenwärtig war. Die Kriege wurden mit großen Idealen begründet, aber mit begrenzten Zielen und Mitteln geführt. Die Schlachten des Risorgimento waren stets mit einem heroisch-romantischen Heiligenschein umgeben, obwohl sie einen hohen Blutzoll forderten und die Brutalität und Grausamkeit aller Kriege besaßen. Der Krieg wurde in dieser Zeit als ein juristisch und moralisches Mittel der Realpolitik betrachtet, das mit unterschiedlichem Maß an Skrupellosigkeit zum Einsatz kam. Bei der Vorbereitung des Krieges von 1859 griff Cavour zu Methoden, die nach seinem eigenen Geständnis an die Grenze des durch Verfassung und Moral Vertretbaren reichten. Winfried Baumgart, der Herausgeber der (erst 2008 erschienenen) kritischen Ausgabe der Diplomatischen Aktenstücke zur auswärtigen Politik Preußens von April bis August 1866, bemerkt über Bismarck, er habe den Krieg mit Österreich bewusst provoziert und dabei auf die gleiche Weise die politische Lage manipuliert wie später Hitler 1939. Für den, der viele der neu editierten Quellen schon kannte (unter denen vor allem diejenigen italienischer Provenienz besonders interessant sind), sind diese Worte freilich keine skandalöse Entdeckung. Die Möglichkeit eines Krieges war ganz allgemein Teil staatlicher Politik. Unsere Moralbegriffe und unser politisches Urteil dagegen haben sich (auch aufgrund 151

der düsteren Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit) gegenüber dem 19. Jahrhundert gewandelt. Zum Krieg in Italien ist noch etwas anderes zu bedenken. Ein Großteil der Literatur des Risorgimento hat die Vorstellung verdrängt, dass es ein „Krieg zwischen Italienern“ war, denn nach dieser Sichtweise ging es ausschließlich um die Befreiung der von Österreich unterworfenen Gebiete Italiens. Diese ausländische Macht herrschte nämlich nicht nur direkt über Lombardo-Venetien, sondern bestimmte faktisch auch das Geschick der kleineren Staaten Mittelitaliens. Komplizierter war die Situation im Königreich beider Sizilien und im Kirchenstaat. Diese beiden Staaten gehörten zwar zur Interessensphäre der konservativen ausländischen Mächte, verfügten aber doch über eine historisch autonome Legitimität, die – außer von den Verfechtern der italienischen Einigung – respektiert werden musste. Die nationalliberale Bewegung brauchte gute Argumente für eine neue Legitimierung, um den früheren „Legitimismus“ vollständig zurückzudrängen; der Gegensatz ließ sich letztlich jedoch nur mit Waffen ausfechten. Im Falle des Kirchenstaates entstand sogar eine neue Theorie über die religiöse Funktion der Kirche im Staat („freie Kirche im freien Staat“), die uns heute als selbstverständlich erscheint, aber unter den Zeitgenossen zu schweren geistigen und politischen Auseinandersetzungen führte. Wieder anders war die Lage im Königreich Neapel, wo Garibaldi mit seinem erfolgreichen Zug der Tausend die Grundlage der Legitimität des Staates revolutionär untergrub und sich dabei auf die Zustimmung breiter Gesellschaftsschichten stützen konnte. Diese Tatsache wiederum legitimierte das folgende Eingreifen Piemonts, auch wenn dabei (durch die Invasion der zum Kirchenstaat gehörenden Marken und Umbriens) eine neue Wunde in die internationale Legitimität gerissen wurde. Nur mit Mühe ließ sich dies damit rechtfertigen, dass man sowohl der Bevölkerung des Südens bei ihrer Befreiung zu Hilfe kommen als auch Garibaldi von einem Angriff auf Rom abhalten müsse, um so in den Augen der europäischen Mächte als „Ordnungsfaktor“ zu fungieren. All dies ändert nichts daran, dass der Kampf zwischen Garibaldinern, Piemontesen und Bourbonen ein Krieg zwischen Italienern war. Die Art und Weise, wie die italienische Einigung zustande kam, verlangt auch einige Gedanken über die Möglichkeit der Bildung eines italienischen Staatenbundes, der damals als friedliche und daher wünschenswerte, wenn nicht gar optimale Lösung für die Einheit Italiens hingestellt wurde (und heute noch wird). Diese Möglichkeit, die in der 152

Geschichtsschreibung ausführlich diskutiert worden ist, erwähne ich hier nur, um vor dem Missverständnis zu warnen, das entsteht, wenn man sie heute mit dem Begriff des Föderalismus (und dabei sogar mit dem bloßen „steuerlichen“ Föderalismus) in Verbindung bringt und damit eine Alternative zu dem aufgezwungenen Zentralismus meint. Unzweifelhaft hat sich in Italien nach der Einigung ein übertriebener Zentralismus durchgesetzt, der eine aufgeblähte, unausgewogene Bürokratie hervorgebracht hat. Aber der Föderalismus, den man sich heute als Alternative zum Zentralismus vorstellt, hat nichts mit der von Napoleon III., der sich als Beschützer des neuen Italien sah, geplanten Bildung eines italienischen Bundes zu tun. Abgesehen von den kaum verhüllten Hegemonialbestrebungen Frankreichs, sollte dieser Bund aus einem von der piemontesischen Monarchie geführten norditalienischen Staat, dem etwas verkleinerten Kirchenstaat und dem Königreich beider Sizilien bestehen (wobei die Rolle der kleineren mittelitalienischen Staaten nicht festgelegt war und in den verschiedenen Entwürfen wechselte). Dieser Vorschlag wurde noch 1860 vorgetragen, um den durch Garibaldi entfachten revolutionären Flächenbrand abzuwenden, der unvorhersehbare internationale Komplikationen heraufbeschworen hätte. Die Perspektive eines italienisches Bundes beinhaltete aber auch, wenn nicht vor allem, dass Italien statt ein großer, geeinter Nationalstaat zu werden, von vorneherein schwach und leicht zu neutralisieren blieb. Im Gegensatz dazu unterstützte Bismarck aus preußischer Sicht die Schaffung eines italienischen Einheitsstaates, der stark genug war, sich sowohl Frankreich als auch Österreich zu widersetzen. Natürlich lag weder dem französischen Kaiser noch dem preußischen Ministerpräsidenten etwas daran, die für Italien beste Verfassung und Verwaltung zu finden, sondern beide hatten nur die strategisch-militärische Position des neuen Landes im Auge. Das „gute Regieren“ (an das wir denken, wenn heute von Föderalismus die Rede ist) musste, in welcher institutionellen Form auch immer, die neue politische Klasse in Italien selbst leisten. Wir wissen, dass sie sich dabei nicht gerade bewährte, aber das ist kein Grund, den Zentralismus zu verteufeln und ihm alle Übel der staatlichen Entwicklung anzulasten. Einige Worte seien noch zum Patriotismus von Cavour und Bismarck gesagt. Der Patriotismus bzw. das Nationalgefühl Cavours bezog sich von Anfang an auf Italien als solches, auch wenn die geographischen Grenzen des künftigen Königreichs Italien in seinen ursprünglichen Plänen ganz realistisch auf Nord- und Mittelitalien beschränkt blieben. Bismarcks Patriotismus dagegen war aus überkommener Treue zum 153

Haus Hohenzollern und aus Vasallentreue gegenüber der traditionell autoritären Monarchie Preußens durch und durch preußisch, aber er dehnte diesen Patriotismus ohne Schwierigkeiten auf ganz Deutschland aus und nahm auch den liberalen Patriotismus in sich auf, sofern die Autonomie Preußens (die dann zur Vorherrschaft wurde) garantiert blieb. Allerdings ging die nationale Einigung Deutschlands unbestreitbar ausschließlich aus dem Sieg der preußischen Waffen und nicht aus einem „Volkskrieg“ hervor, wie ihn die Demokraten und teilweise auch die Liberalen erträumt hatten und wie er in Italien teilweise stattgefunden hatte, wo neben den regulären Streitkräften auch stets die Freiwilligenverbände Garibaldis eine Rolle spielten. In der vorliegenden Untersuchung wurden von Anfang die Veränderungen der internationalen Beziehungen betont, ohne die weder die italienische noch die deutsche Einigung denkbar gewesen wäre. Während es jedoch Cavour darum ging, „Italien wieder nach Europa“ zu führen, war es Bismarcks Ziel, Preußen bzw. Deutschland als europäische Großmacht zu etablieren. Der „Weg nach Westen“ folgte unterschiedlichen Pfaden: Italien näherte sich den westlichen Staaten an und ahmte sie nach, Deutschland dagegen trat in Konkurrenz zu ihnen und sah sich einmal als Gegenbild, einmal als anderer Westen. Damit waren die Prämissen für das gelegt, was man später als den deutschen „Sonderweg“ bezeichnet hat, der schließlich in die Katastrophe führen sollte. Deutschland erkennt sich heute in dem politischen Denken, das zur Gründung des Bismarck-Reichs geführt hat, nicht mehr wieder. Heute bezieht man sich vielmehr auf die (gescheiterte) demokratische Revolution von 1848/49, nicht auf die Siege von 1866 und 1870, durch die die deutsche Nation von oben mit „Eisen und Blut“ geeint wurde. In der Realpolitik Bismarcks und in seinem (wie auch immer definierten) Cäsarismus sieht man heute nicht nur seine Feindschaft gegenüber Liberalismus und Parlamentarismus in allen seinen Formen, sondern auch die Verherrlichung von Macht und Krieg als Gründungsmythos des Reiches, die Deutschland daran gehindert habe, dem liberalen Vorbild der anderen Westmächte zu folgen. Die Hinterlassenschaft des „eisernen Kanzlers“ in der deutschen Geschichte ist ohne Zweifel eine Verstärkung der traditionell autoritären Züge, die später von den Nationalsozialisten skrupellos ausgenutzt werden konnte. Deshalb gab es nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs selbstkritische und selbstanklagende Stimmen, die von einer direkten Kontinuität von „Bismarck bis Hitler“ sprachen. In dieser Weise formuliert, ist diese These falsch und Ausdruck eines platten Historismus. Erst ein über 154

mehrere Generationen geführter Reflexionsprozess hat ein ausgewogenes Urteil über Bismarck und sein historisches Vermächtnis ermöglicht und zur gleichen Zeit seinen von Millionen Menschen geteilten Mythos zerstört. Heute ist Deutschland auf dem Weg, sich neu zu erfinden. Wie sich der italienische Nationalstaat weiter entwickeln wird, ist heute schwer zu sagen, denn er befindet sich mitten in einem tief greifenden Transformationsprozess des demokratischen Systems und der Zivilgesellschaft, in dem separatistische Bestrebungen zutage treten. Kann sich dieses Italien noch in dem von Cavour erträumten wieder erkennen? Und wie? Ich beziehe mich hier nicht auf die Äußerungen der offiziellen Kultur, sondern auf die der „Bürger im Lande“ und der Parteivertreter, die die Medien kontrollieren. Die Forschungsergebnisse professioneller Historiker aus den letzten Jahren sind nämlich nicht bis ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen, sondern blieben in den lustlos studierten Büchern der höheren Schulen liegen. Die Geschichte des Nationalstaats, die Geschichte seines Entstehens läuft Gefahr, ausgelöscht oder vordergründigen politischen Zwecken gefügig gemacht zu werden, so dass auch die Lehren, die wir daraus ziehen, verloren gehen. Natürlich hat es heute keinen Sinn mehr, den Mythos Cavour als Identifikationsfigur wiederbeleben zu wollen. Aber es ist genügend Raum und Zeit für eine kritische Neubewertung einiger seiner Grundüberzeugungen: sein kohärenter konstitutioneller Liberalismus, der auch zu resolutem Handeln bereit war; seine Führungsstärke im Parlament und durch das Parlament – die scheinbar cäsaristische Züge trug, während sie sich bei genauerem Hinsehen als deren Korrektiv herausstellt – und außerdem ein solider, nüchterner Realismus in internationalen Beziehungen und Bündnissen. Dass diese Elemente für die Verwirklichung der italienischen Einheit entscheidend waren, sollte diese Untersuchung zeigen.

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Anmerkungen 1. Einführung 





  

 



An kaum einem anderen Beispiel wird der tief greifende Unterschied zwischen „liberal“ und „demokratisch“ so deutlich wie an den Ereignissen, mit denen wir uns beschäftigen werden. Dies zeigt schon allein die Tatsache, dass „zur Entstehung des Königreichs Italien das ,Volk‘ zwar (in Form der Freiwilligenverbände) einen entscheidenden Beitrag geleistet hat, ohne dass es zu einer verfassunggebenden Versammlung gekommen wäre; ,das Volk‘ hat weder über sich, noch über sein Schicksal und den Verlauf des Einigungsprozesses entschieden. Die Einigung ist vielmehr schlicht und einfach als fortschreitender Anschluss an das Königreich Sardinien zustande gekommen“, Alberto Mario Banti, Il Risorgimento italiano, Rom/Bari 2004, S. 120. Wenige Wochen vor seinem Tod schrieb Cavour: „Meine Aufgabe ist jetzt mühevoller und unangenehmer als in der Vergangenheit. Italien aufzubauen, die unterschiedlichen Elemente, aus denen es sich zusammensetzt, zusammenzuschweißen und den Norden mit dem Süden in Einklang zu bringen, beinhaltet ebenso viele Schwierigkeiten wie ein Krieg gegen Österreich oder der Kampf mit Rom“; Camillo Cavour, Epistolario, 18,2, hrsg. v. Rosanna Roccia, Florenz 2008, S. 469. Brief vom 18. Februar 1861 an William De La Rive. Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke [ab jetzt: GW], 15 Bde., Berlin 1913– 15. Das erste Zitat stammt aus einem Privatschreiben an Minister v. Schweinitz vom 10. Dezember 1860, in: GW 3, 148, S. 148. Das zweite Zitat aus einem Vertraulichen Bericht (über Gortschakow zu Italien) in: GW 3, S. 313–319. Das dritte aus einem Brief an Baron von Beust vom 10. Oktober 1862, in: GW, 14,2; S. 624. Rudolf Jhering, zit. in: Gerd Fesser, Königgrätz-Sadowa. Bismarcks Sieg über Österreich, Berlin 1994, S. 113f. Bismarck, GW, 10, S. 140, Erklärung vom 29. September 1862 während der Sitzung der Budgetkommission. „Cavour beschloss, sich die Idee einer Invasion der Marken und Umbriens zu eigen zu machen. Statt der ursprünglichen radikal-demokratischen Forderungen sollte sie jedoch moderate Ziele im Interesse Turins verfolgen: Die Invasion sollte der Monarchie wieder eine aktive Rolle in der nationalen Bewegung sichern, den Vormarsch Garibaldis auf Rom verhindern und dadurch die tödliche Gefahr einer Auseinandersetzung mit Frankreich bannen.“ Rosario Romeo, Vita di Cavour, Rom/Bari 1998, S. 470. An von der Pfordten März 1866, zit. bei Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. Main 1980 (unver. Nachdr. 2001), S. 351. Vgl. Cavour, Ricordi Biografici, hrsg. von Giuseppe Massari, Turin 1873, S. 190; zum Jahr 1857: „Ein Senator nannte den Einfluss, den Graf Cavour auf die Entscheidungen im Parlament ausübte, Diktatur. Als dem Ministerpräsidenten darüber berichtet wurde, erwiderte er lächelnd: ,Diktator? Aber wo sind die Liktoren? Solange ich im Parlament eine Mehrheit habe, bleibe ich auf meinem Posten, wenn dies nicht mehr der Fall sein sollte, werde ich gehen. Ich glaube nicht, dass sich Diktatoren so verhalten.‘“ Cavour, Epistolario, hrsg. v. Carlo Pischedda, Rosanna Roccia, a.a.O., 16,1; Brief an Cesare Cabella, 14. März 1859.

    

Ebda, 18,1, Brief an Alexandre Bixio, S. 91f. Die erwähnten Generäle galten als besonders kompetent, energisch und regierungstreu. Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, a.a.O., S. 352. Bismarck, GW, 14,2, S. 639. Brief an John Lothrop Motley vom 17. April 1863. Cavour, Lettere edite e inedite, hrsg. v. Luigi Chiala, 4, Turin, 1885, S. 25. Brief (in Französisch) mit Datumsangabe „Oktober 1860“ an Gräfin Anastasie di Circourt. Für das vorliegende Thema geht es nicht um die Rolle Bismarcks als Reichskanzler, nicht um die überlebensgroße Gestalt mit Stiefeln und Pickelhaube und auch nicht um den Staatsmann von europäischem und internationalem Format, der Deutschland zur großen Weltmacht werden ließ.

2. Italien: Eine europäische Frage. Ein Modell für Preußen und Deutschland?  

  

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Vgl. Bismarck, GW, 14, 1, S. 327, Brief an Leopold von Gerlach vom 25. November 1853. „Piemont hat am Orientkrieg teilgenommen, weil es ihn für einen gerechten Krieg hielt, für einen Krieg um das Gleichgewicht der Mächte und auch, wenn man so will, für einen Krieg der Kulturen. Dennoch kann ich versichern, dass Piemont ebenso sehr das Ziel verfolgte, das Ansehen, das Sardinien genoss, zu vergrößern und neue Rechte zu erwerben, um im Rahmen europäischer Konferenzen die Sache Italiens voranzutreiben. Im Bezug auf den ersten Punkt, nämlich den Ansehenszuwachs für Sardinien durch die Beteiligung am Orientkrieg wurden unsere Hoffnungen nicht enttäuscht. Das ist nur zu einem ganz kleinen Teil Ergebnis unserer Diplomatie und unserer Politik. Das Verdienst für diese wichtige Tatsache, das Verdienst dafür, dass Sardinien durch diesen Krieg bei den anderen europäischen Nationen sehr viel höher geschätzt und geehrt wird, gebührt zum großen Teil der bewundernswerten Leistung und der hervorragenden Haltung unseres Heeres auf den Schlachtfeldern der Krim. Auf der Konferenz, die den Krieg beendete, haben wir dann versucht, das zweite Ziel zu erreichen [. . . und] es war ein großes Ereignis, dass zum ersten Mal von einer italienischen Macht die Sache Italiens vertreten wurde.“ Cavour, Discorsi parlamentari, Turin/Florenz 1863–72, 10, S. 453. Bismarck, GW, 2, S. 139, Brief an Minister Manteuffel vom 26. April 1856. S. A. Kaehler, Realpolitik zur Zeit des Krimkrieges. Eine Säkularbetrachtung, in: „Historische Zeitschrift“ 174, 1952, S. 417–478. Das Zitat auf S. 470. August Ludwig von Rochau, Grundzüge der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Stuttgart-Heidelberg 1853 (erster Teil anonym ersch.); vgl. jetzt: hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt/Main 1972. Vgl. auch Hans Rosenberg in seinem klassischen Werk: Die nationalpolitische Publizistik in Deutschland. Eine kritische Bibliographie, München-Berlin 1935, wo er das Buch als einen ideellen und moralischen Wendepunkt der Politikauffassung des deutschen Bürgertums bezeichnet. Vgl. auf Italienisch: Federico Trocini, L’invenzione della „Realpolitik“ e la scoperta della „legge del potere“. August Ludwig Rochau tra radicalismo e nazional-liberalismo, Bologna 2009. Zu Rochau und seinem Einfluss: Hajo Holborn, Bismarcks Realpolitik; in: „Journal of History of Ideas“, 21, 1960, 1, S. 84–98, der Rochaus Realpolitik mit der „Politik der Kunst des Möglichen“ bei Bismarck gleichsetzt.









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Vgl. Innocenzo Cervelli, Unificazione nazionale e pensiero storico-politico, in: Problemi e metodi della storiografia tedesca contemporanea, hrsg. v. Beatrice de erloni, Turin 1996, S. 98: „Dass das Königreich Sardinien-Piemont nach der zweifachen Niederlage durch die Österreicher 1848/49 dem Konstitutionalismus in enger Verbindung mit der nationalen Frage treu blieb, betont Rochau mit Bewunderung: Der Konstitutionalismus war für ihn ,das Pfand, das das Haus Savoyen der Nation anbot‘“. Heinrich von Treitschke (auf den wir ausführlicher zu sprechen kommen) hat die These von Rochau früh aufgegriffen. Vgl. den Brief vom 8. Juni 1856 an seinen Freund Rudolf Martin: „Ich [. . . ] empfehle Dir nur noch für Deine staatswiss. Studien das anonyme Buch: ,Die Grundzüge der Realpolitik‘, das in der Hdlbger Museumsbibliothek zu haben ist. Der Verfasser ist L. v. Rochau. Obgleich scheinbar ein gewöhnlicher publizistischer Essay enthält er doch für die Wissenschaft mehr Brauchbares als ein dickes Lehrbuch er Politik.“ In: Treitschkes Briefe, hrsg. v. Max Cornicelius, 3 Bde., Leipzig, 1913–1920; zit.: 1, S. 363f. Später revidierte Treitschke sein Urteil mit dem Argument, der Autor sei etwas oberflächlich. Dann aber schrieb er in seinem Aufsatz August von Rochau: „Als der Verfasser vierzehn Jahre später, nach dem böhmischen Kriege, einen zweiten Band der Realpolitik folgen ließ, da erlebte er die sonderbare Genugtuung, dass die Fortsetzung kaum noch Aufsehen erregte. Was im Jahre 1853 neu und befremdend gewesen, war nach der Schlacht von Königgrätz die Meinung aller Welt, ganz Deutschland dachte oder bemühte sich doch realpolitisch zu denken.“ In: Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. v. M. Schiller, Meersburg 1929, S. 635–641, Zit. S. 639. Der Historiker Max Duncker war von 1859 bis 1861 Leiter des Pressebüros der Regierung, politischer Ratgeber des Kronprinzen Friedrich Wilhelm und seit 1867 Direktor des preußischen Staatsarchivs in Berlin. Vgl. dazu: Politischer Briefwechsel aus seinem Nachlass, Stuttgart-Berlin 1923. Johann Gustav Droysen war einer der wichtigsten Vertreter der „preußischen Historiker Schule“. Vgl. in unserem Zusammenhang bes.: Briefwechsel, 2 Bde., Stuttgart 1928. Brief vom 29. März 1856 in: Ernst Portner, Die Einigung Italiens im Urteil liberaler Zeitgenossen. Studie zur inneren Geschichte des kleindeutschen Liberalismus, Bonn 1959, S. 78 f. und 119. Der Politiker und Publizist Gustav Freytag war Herausgeber der Zeitschrift „Grenzboten“. Vgl. seine Beiträge in: Aufsätze zur Politik, Geschichte, Literatur und Kunst, Leipzig 1881. Romeo, Vita di Cavour, a.a.O., S. 339–400. „Ich habe bereits vor einem Jahr auf dieser Stelle dagegen gewarnt, dass man Preußen nicht in die Rolle drängen solle, die Turin in Italien gespielt hat.“ Rede vom 3. Dezember 1850 vor der Zweiten preußischen Kammer, in: Otto von Bismarck, Werke in Auswahl, Stuttgart 1962, 1, S. 333–344, Das Zit.: S. 343. Brief an Max Duncker vom 28. Mai 1859, in: Duncker, Politischer Briefwechsel, a.a.O., S. 120. Vgl. den Brief Cavours aus Baden-Baden vom 24. Juli 1858 an Vittorio Emanuele über das Treffen von Plombières: „Der Kaiser gab ohne Schwierigkeiten zu, dass es notwendig sei, die Österreicher vollständig aus Italien zu verjagen und ihnen zwischen Alpen und Isonzo nicht einen Daumen breit Boden zu lassen. Wie soll man dann aber Italien organisieren? Nach langen Erörterungen, deren Zusammenfassung ich Seiner Majestät erspare, konnten wir uns ungefähr auf folgende Grundlagen einigen, die durch den Kriegsverlauf allerdings noch geändert

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werden könnten: die Po-Ebene, die Romagna und die Legationen sollten dem Königreich Oberitalien unter dem Hause Savoyen zugeschlagen werden. Dem Papst bliebe Rom und Umgebung. Der Rest des Kirchenstaates würde mit der Toskana das Königreich Mittelitalien bilden. Der territoriale Bestand des Königreichs Neapels würde nicht angetastet werden. Die vier italienischen Staaten würden sich nach dem Vorbild des Deutschen Bundes und unter Vorsitz des Papstes zusammenschließen, der auf diese Weise für den Verlust des besten Teils seiner Staaten entschädigt würde.“ Cavour Epistolario, a.a.O., 15,1, hrsg. v. Carlo Pischedda 1998, S. 522f. Der scheinbar geheime Aufbruch aus Quarto, die Fahrt durch das Tyrrhenische Meer und die Landung in Marsala unter den Augen Europas, der bewaffnete Übergang auf den Kontinent, der Vormarsch bis Neapel und die Schlacht am Volturno. In dieser Phase stand Mazzini als geistiger Kopf der radikaldemokratischen Bewegung im Hintergrund. Zu Cavours Haltung gegenüber Mazzini schreibt Rosario Romeo: „Die Konzessionen Cavours gegenüber der Politik Mazzinis hatten rein instrumentalen Charakter. Die Form der Instrumentalisierung richtete sich dabei nach den Umständen: Entweder wollte man durch einen Volksaufstand das Eingreifen Österreichs provozieren und damit das Einschreiten Piemonts oder seiner Bündnispartner rechtfertigen, oder man wollte einen Vorwand schaffen, um die Bewegung im Namen des Kampfes gegen ,die Revolution‘ zu kontrollieren und auf diese Weise Piemont als konservative Kraft zu präsentieren und gleichzeitig die bestehende Ordnung auf der Halbinsel in Frage zu stellen. Cavour konnte nicht leugnen, wie sehr Mazzini mit seiner Behauptung Recht hatte: ,Wenn die Partei, der ich angehöre, nicht ständig mit seinen Aufstandsversuchen, seinen Märtyrern und seiner Diplomatie präsent gewesen wäre, würde er sich heute nicht mit der Sache Italiens beschäftigen.‘.“ In: Vita di Cavour, a.a.O., S. 343. Der einflussreiche britische Historiker Denis Mack Smith zeichnet ein übertrieben negatives Bild in: Cavour e Garibaldi nel 1860, 2 Bde., Mailand 1972: „Cavour schuf mit seinen Fiktionen dauernde Verwirrung, und gab unterschiedliche Versionen seiner Absichten: eine gegenüber den Garibaldinern, eine andere gegenüber der öffentlichen Meinung in Norditalien, wieder eine andere gegenüber England und Frankreich.“ In seinem Gesamturteil räumt der Historiker dann (ohne den inneren Widerspruch seines Urteils zuzugeben) jedoch die „politische Notwendigkeit“ dieses Verhaltens ein: „Cavour verhielt sich gegen Garibaldi manchmal unehrlich, unbestimmt und immer mehr oder weniger feindselig, aber man könnte dieses Verhalten auch als notwendig rechtfertigen.“, ebda, S. 357. Ebda, S. 346. Romeo, Vita di Cavour, a.a.O., S. 477. Cavour, Epistolario, a.a.O., 17,1, hrsg. v. Carlo Pischedda und Rosanna Roccia, 2005, S. 1596f. Cavour, Epistolario, a.a.O., 17,4, 2005, Brief an Carolo Pellion di Persano vom 27. August, S. 1781; der Brief an Villamarina S. 1783. „Cavour gehörte einer Generation an, die vom Erbe der Französischen Revolution und Napoleon beeinflusst war. Revolution war für ihn im wesentlichen gleichbedeutend mit der jakobinischen Revolution, die durch den Umsturz der politischen Verhältnisse die soziale Ordnung grundlegend verändern wollte. Anders als die Restauration stellte er dem die liberale, von den grundbesitzenden Schichten getragene Lösung entgegen, dem unternehmerischen Bürgertum zu ermöglichen, mit ihren Banken, den Eisenbahnen, der Industrie und der Dampfschifffahrt die Tore zur modernen Welt aufzustoßen und die Wohltaten dieser

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neuen Produktions- und Arbeitsweise allen gesellschaftlichen Schichten zukommen zu lassen, was den Revolutionären mit ihren politischen Umsturzversuchen nicht gelungen war.“ Romeo, Vita di Cavour, a.a.O., S. 529. Brief an Persano vom 31. August, in: Cavour, Epistolario, a.a.O., 17,4, 2005, S. 1810f. 3. September, ebda, S. 1844. 4. September, ebda, S. 1854f. Promemoria an Vittorio Emanuele, 8. September, ebda, S. 1896f. Ebda. Ebda, S. 1956, Anm. 6. Die beiden Briefe von Garibaldi vom 11. September, in denen er die Entlassung von Cavour fordert, finden sich als Anhang an einen Brief Cavours an Costantino Nigra vom 14. September: „Ich habe bisher zu allen schändlichen Machenschaften gegen mich durch Cavour, Farini etc. geschwiegen. Heute jedoch, da wir uns der Entwicklung des italienischen Dramas nähern, muss ich E. M. im Namen der Heiligen Sache, der ich diene, bitten, diese Individuen zu entfernen.“, ebda, S. 1955. Brief an Manfredo Fanti vom 17. September, ebda, S. 1975f. Brief an Nigra vom 22. September, ebda, S. 2017f. Brief an den Abgeordneten Vincenzo Salvagnoli vom 2. Oktober, ebda, S. 2131f. Camillo Benso conte di Cavour, Discorsi parlamentari, 15, hrsg.. v. A. Saitta, Florenz 1973, S. 373f. In: Die auswärtige Politik Preußens, 1858–1871 [im Folgenden: APP], hrsg. v.: Historische Reichskommission, Berlin 1933 ff., 1, S. 315–317. Brief an Außenminister Schleinitz vom 9. Februar 1860, in Bismarck, GW, 3, S. 70. „Cavour fügte hinzu: ,Wir haben die Franzosen mehr als einmal mit viel geringeren Kräften aufgehalten: Wenn man uns unsere Ressourcen entwickeln lässt werden wir mit 200 000 Mann die ganze französische Armee am Alpenübergang hindern. Hier ist man der Ansicht, dass die Kaiser Napoleon zugeschriebenen Begehrlichkeiten hinsichtlich Savoyens mit denen, die ihm hinsichtlich der Rheingrenze in Deutschland zugeschrieben werden, nicht zu vergleichen sind, denn dort kann er sich nicht auf die Nationalität berufen, die im Elsass eher für Deutschland sprechen würde.‘“ Note von Brassier de Saint-Simon an Prinzregent Wilhelm, Turin, 10. Februar 1860, in: APP, 2,1, S. 108f. Cavour an Nigra in einem Brief aus Mailand vom 16. Februar 1860, in: Epistolario, a.a.O., 17,1, S. 229. Hervorhebung im Orig. General Ludwig von Wildenbruch, der als Beobachter nach Italien geschickt worden war, meldete nach Berlin, dass die Plebiszite geregelt abgelaufen seien, und schrieb: „Was soll man dazu sagen? Etwa, dass die Bewegung eine gemachte sei? Dass sie nicht tief begründet? Das ist unmöglich! Ich sage es mit dem Apostel Paulus: ,Lasset vergangen sein das, was hinter uns liegt, und uns strecken nach dem, was vor uns liegt‘“, in: APP, 2,1, S. 224–229. Brief an Launay zur Berichterstattung an den Prinzregenten, in: Cavour, Epistolario, 17,1, S. 309. Brief vom 7. März an Brassier zur Berichterstattung an den Prinzregenten: „Wir können Napoleon nicht den Krieg erklären, weil wir noch das Ergebnis des Plebiszits abwarten müssen. Wenn nämlich die Bewohner Savoyens wirklich Franzosen werden wollen, wäre es unvernünftig die Rolle anzunehmen, die Österreich in Venedig spielt“, in: APP, 2,1, S. 202. Note des Prinzregenten an Minister Schleinitz, in ebda, S. 263–266.

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„Finden wir keine Unterstützung bei den anderen Staaten, so wird Preußen das Schwert nicht für Savoyen ziehen, und die schmähliche Annexion wird als fait accompli nur unter der Bedingung anzunehmen sein, dass Frankreich den Territorialbesitz aller Staaten seit 1815 von neuem anerkennt“, in: ebda. Note von Brassier de Saint-Simon an den Prinzregenten, Turin, 27. April, in: ebda, S. 318–323. Ders., Turin, 7. Mai 1860, in: ebda, S. 377–380. Ebda, S. 379. Ders., 9. Mai, in: ebda, S. 379, Anm. 4. Minister Schleinitz an Brassier, 21. Mai, in: ebda. Brassier an Schleinitz, 2. Juni 1860, in: ebda, S. 453–458. Cavour, Epistolario, a.a.O., 18,1, S. 2296–2298. Brief an Edoardo di Launay zur Berichterstattung an Minister Schleinitz, in: ebda, S. 2625–2628. Cavour, Epistolario, a.a.O., 18,1, S. 156–159. Vertraulicher Bericht an Minister Schleinitz, 12. März, in: Bismarck, GW, 3, S. 186. Vgl. den Bericht von Brassier an König Wilhelm vom 11. Februar 1861, in: APP, 2,2, S. 176f. Am Ende des in Anm. 54 erwähnten Berichts. Das Quadrilatero war ein Festungssystem der Österreicher in Lombardo-Venetien und umfasste die Festungen Peschiera del Garda, Mantua, Legnago und Verona. Cavour, Epistolario, a.a.O., 17,4, S. 1782, Brief an Lorenzo Valerio. In einer Anm. des Epistolario, 17,3, S. 1480, findet sich eine Biographie des Ungarn Stefan Thur (auch Turr oder Türr), der 1849 in Italien eine ungarische Legion zusammengestellt hatte. Während des Krimkrieges bot er der englischen Regierung seine Dienste an und wurde Hauptmann in einer anglo-türkischen Legion. 1859 führte er als Oberst wiederum in Italien bei den Cacciatori delle Alpi eine ungarische Legion an. Beim Zug der Tausend tat er sich bei Calatafimi, beim Übergang über die Straße von Messina, am Volturno und bei Caserta hervor. Danach wurde er ins italienische Heer übernommen. Cavour erwähnt ihn mehrmals anerkennend in seinen Briefen, so in einem Brief vom 13. Dezember 1860 an den Gesandten in London. Cavour berichtet, dass Garibaldi Thur Gewehre und sogar Kanonen übergeben habe, um sie in Zusammenarbeit mit Kossuth und Klapka für Aufstände im Donauraum einzusetzen. Obwohl sich Cavour von der Ungeduld der Garibaldiner und der ungarischen Emigranten distanziert, macht er folgende bemerkenswerte Äußerung: „Allein die Abtretung von Venetien kann Europa vor den Komplikationen und Gefahren bewahren, die der maßlose Stolz der Habsburger heraufbeschwört.“ Die Waffenübergabe an Thur, die von den europäischen Regierungen mit Sorge verfolgt wurde, taucht im Briefwechsel Cavours mehrmals auf. Brief vom 28. März, in: Cavour, Epistolario, 18,2, S. 820. Bericht an Minister Schleinitz vom 3. und 4. Mai 1859, in: Bismarck, GW, 3, S. 28– 35. Brief vom 5. Mai aus Sankt Petersburg, in: Bismarck, GW, 14,1, S. 517. Privatbrief an Minister Schleinitz vom 12. Mai, in: Bismarck, GW, 3, S. 35–38. Brief vom 9. Februar, in: ebda, S. 69–71. Brief vom 25. März 1860, in: Ernst Ludwig Gerlach, Von der Revolution zum Nordddeutschen Bund. Aus dem Nachlass von Ernst Ludwig Gerlach, hrsg. v. Hellmut Diwald, Göttingen 1970, 2, S. 1046. Zum Verhältnis Bismarcks zu den Gerlachs, dessen Kenntnis für das Verständnis von Bismarcks Werdegang und geistiger Entwicklung unverzichtbar ist, vgl.: Cervelli, Unificazione nazionale e pensiero storico-politico, a.a.O.

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Brief an Leopold von Gerlach, 2. und 4. Mai, in: Bismarck, GW, 14,1, S. 548–550. Brief vom 16. August, in: Gerlach, Von der Revolution zum Nordddeutschen Bund, a.a.O., 2, S. 1056. In einem Brief vom 22. August an Alexander von Below-Hohendorf, in: Bismarck, GW, 14,1, S. 561f. In einem Gespräch mit dem Politiker Robert von Keudell, in: Bismarck, GW, 7, S. 40f. Brief an Schleinitz vom 10. Dezember 1860, in: Bismarck, GW, 3, S. 147–149. Vertraulicher Bericht an Minister Graf Bernstorff vom 14. Januar 1862, in: Bismarck, GW, 3, S. 312–316. Privatbrief an Minister Bernstorff vom 15. und 16. Januar 1862, in: Bismarck, GW, 3, Anm. 267, S. 317–321. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, neben dem bereits zitierten Rosenberg, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands, und Portner, Die Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen: Theodor Schieder, Das Italienbild der deutschen Einheitsbewegung, in: Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962, S. 210–235; Karl-Georg Faber, Die nationalpolitische Publizistik in Deutschland von 1866 bis 1871. Eine kritische Bibliographie, Düsseldorf 1963; Jens Petersen, Risorgimento und italienischer Einheitsstaat im Urteil Deutschlands nach 1860, in: „Historische Zeitschrift“, 1982, S. 63–69; Franco Della Paruta, Italia e Germania nel 1859–1861. Le discussioni in campo democratico, in: Angelo Ara und Rudolf Lill, Immagini a confronto: Italia e Germania, Bologna 1991, S. 67–113; Christian Jansen, Vorbild Italiens? Die oppositionellen Paulskirchenabgeordneten als Meinungsführer im deutschlandpolitischen Richtungsstreit von 1859–60, in: Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849–1867, Düsseldorf 2000; Anna Maria Voci, Il Reich di Bismarck. Storia e storiografia, Rom 2009. Vgl. bes.: Der 1859 anonym erschienene Aufsatz von Ludwig Bamberger Juchhe nach Italien, in dem er Preußen auffordert, sich in Italien nicht auf die Seite Österreichs zu stellen, sondern die Gelegenheit des Krieges in Italien dazu zu benutzen, um Österreich aus dem Deutschen Bund hinauszudrängen (wieder abgedr. in: Gesammelte Schriften, 3: Politische Schriften. Von 1848 bis 1868, Berlin 1894). Brief vom 26. Mai 1859 in: Duncker, Politischer Briefwechsel, a.a.O., S. 115–119. Über Runge und die anderen Politiker und Publizisten vgl.: Jansen, Einheit, Macht und Freiheit a.a.O., S. 300 und passim. „Ich gestehe, dass ich zufrieden wäre, wenn wir jetzt nur zu einer preußischen Militärdiktatur kämen, in der Hoffnung, dass sich das Weitere dann finden würde, aber es ist wahrer Wahnsinn, diese schöne Gelegenheit wieder zu verlieren, eine völlige Versöhnung mit dem Volk von der Hand zu weisen und nicht zu begreifen, dass der leichteste, der sicherste, der unfehlbarste und der rühmlichste Weg zur Einheit der Weg der vollkommenen inneren Freiheit ist“; in: Duncker, Politischer Briefwechsel, a.a.O., S. 118. Hier wird offensichtlich der Begriff der revolutionären Diktatur aus der Tradition der 48er-Revolution übernommen: „Der Staatsstreich von 1848 muss entweder gesühnt werden oder er wird bestraft werden.“ „Die Dikatur des Königs von Sardinien ist nicht bloße eine römische Erinnerung, sie drückt die öffentliche Meinung über die ganze Halbinsel aus, und Cavour hat Mazzini das Brot aus dem Munde genommen; denn bei Lichte besehen will Mazzini doch auch nur Diktatur für die Einheit und erst später die Republik“, in: ebda, S. 115f. Zu den Übereinstimmungen und Unterschieden von deutschen Radikaldemokraten und Mazzinianern vgl.: Marco Paolino, Mazzini e il mondo tedesco, in: „Rassegna storica del Risorgimento“, April–Juni 2007, S. 206–229.

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Vgl. dazu im Folgenden: Portner, Die Einigung Italiens im Urteil liberaler Zeitgenossen, a.a.O., S. 75–116. Vgl. Petersen, Risorgimento und italienischer Einheitsstaat im Urteil Deutschlands nach 1860, a.a.O. Brief vom 20. Oktober in: Duncker, Politischer Briefwechsel, a.a.O., S. 230. Noch im Februar 1864 schrieb Theodor Mommsen an Gustav Freytag: „Unsre Regierung kann wechseln, aber es gibt keine Partei Cavours bei uns; was sich deutsche Fortschrittspartei nennt, ist im Ganzen eine negative Waffe“, in: Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, München 2008, S. 275.

3. Die deutsche Einigung „mit Eisen und Blut“. Die Kompromisse der Liberalen  



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Zit. n.: Fesser, Königgrätz-Sadowa, a.a.O., S. 19. „Wenn der Herr Abgeordnete auch die Äußerung wiederholt hat, dass die Regierung dem Volke misstraut, so kann ich ihm sagen, dass auch ich allerdings der Bevölkerung der großen Städte misstraue, solange sie sich von ehrgeizigen und lügenhaften Demagogen leiten lässt, dass ich aber dort das wahre preußische Volk nicht finde. Letzteres wird vielmehr, wenn die großen Städte sich wieder einmal erheben sollten, sie zum Gehorsam zu bringen wissen, und sollte es sie vom Erdboden tilgen.“ Rede Bismarcks vom 20. März 1852 vor der Zweiten preußischen Kammer, in: Werke in Auswahl, 1, a.a.O., S. 461. Vgl. Lothar Gall (Hrsg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001; bes.: Dieter Langewiesche, Bismarck und die Nationalliberalen, S. 73–89, und: Christian Jansen, Bismarck und die Linksliberalen, S. 91–110. Brief vom 10. Oktober 1862 an Ferdinand von Beust, in: GW, 14,2, S. 624f. Brief vom 17. April 1863 an John Lothrop Motley, in: ebda, S. 639f. Auf das Zitat folgt ein Hinweis auf Amerika und den damaligen Sezessionskrieg: „Etwas davon habt Ihr Anglo-SaxonYankees auch. Wisst ihr eigentlich, aber genau, warum ihr so wütend Krieg miteinander führt? Alle wissen es gewiss nicht mehr; aber man schlägt sich con amore tot, das Geschäft bringt’s halt so mit sich. Eure Gefechte sind blutig, unsere geschwätzig; die Schwätzer können Preußen wirklich nicht regieren, ich muss dem Widerstand leisten, sie haben zu wenig Witz und zu viel Behagen, dumm und dreist. Dumm in seiner Allgemeinheit ist nicht der richtige Ausdruck; die Leute sind, einzeln betrachtet, zum Teil recht gescheit, meist unterrichtet, regelrechte deutsche Universitätsbildung, aber von der Politik, über die Kirchturm-Interessen hinaus, wissen sie so wenig, wie wir als Studenten davon wussten, ja noch weniger, in auswärtiger Politik sind sie auch einzeln genommen Kinder; in allen übrigen Fragen werden sie kindisch, sobald sie in corpore zusammentreten, massenweis dumm, einzeln verständig“, in: GW 14,2, S. 639. Vgl. Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, a.a.O., S. 217. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern glaubt der Autor, Bismarck habe einen Staatsstreich geplant, und zitiert dessen Worte: „Ich habe geschworen, die Verfassung gewissenhaft zu beobachten – wie aber, wenn mein Gewissen mir gebietet, sie nicht zu beobachten?“ Das Zitat stammt aus: Ludwig von Gerlach, Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken 1795–1877, Schwerin 1903, 2, S. 249f.

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Vgl. Voci, Il Reich di Bismarck, a.a.O., Kap. 1: Federico Guglielmo di HohenzollernFederico III. Il principe idealista, S. 29–71. Heinrich von Treitschke, Briefe, hrsg. v. Max Cornicelius, 3 Bde., Leipzig 1913– 1920; Brief an Wilhelm Nokk vom 29. September 1862, 2, S. 238f. Vgl. Kaehler, Realpolitik zur Zeit des Krimkrieges, a.a.O., S. 430. In der zwischen Preußen und Russland gegen die polnischen Aufständischen vereinbarten Konvention sah Treitschke eine durch die „Torheiten des Herrn von Bismarck“ verschuldete Rückkehr zu den unseligen Zeiten der Heiligen Allianz. Rochau, Wochenbericht, in: „Wochenschrift des Nationalvereins“ 127, 3. Oktober 1862. Vgl. Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, a.a.O., S. 209. Hermann von Oncken (Hrsg.), Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker. Nach seinen Briefen und hinterlassenen Papieren, Stuttgart/Leipzig 1910, 1, S. 652. Treitschke, Briefe, a.a.O., Brief vom 16. April 1865, 2, S. 391f. Zu dieser Einschätzung kamen Autoren und Vertreter der Realpolitik wie Rochau und Treitschke erst nach dem Sieg von Königgrätz und dann auch nur unter Einschränkungen. Vor allem sprachen sie lieber über den Staat als über Bismarck: Sie sahen mehr ein Handeln Preußens als solches als eine bestimmte Strategie der Regierung Bismarck. Vor allem nährten sie die – trügerische – Hoffnung, dass nicht der Bismarckismus, sondern ein neuer deutscher Liberalismus als eigentlicher Sieger aus der Entwicklung hervorgehen werde. Rede vor dem Reichstag des Norddeutschen Bundes am 22. April 1869, in: GW, 11, S. 48–50. Den gleichen Inhalt hatten bereits die Instruktionen vom März 1866 für General Moltke, der in Florenz die Details des Militärbündnisses mit der italienischen Regierung absprechen sollte. Treitschke, Briefe, a.a.O., Brief vom 10. Dezember 1865, 2, S. 445–448. Vgl. die Zusammenfassung im Brief an Salomon Hirzel vom 25. März 1866, in: ebda, S.464f. Brief an Hirzel vom 26. April 1866, in: ebda, S. 467f. Heinrich von Treitschke, Der Krieg und die Bundesreform, in: „Preußische Jahrbücher“, 25. Mai 1866, S. 677–696; jetzt in: Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. v. Karl Martin Schiller, 4 Bde., Meersburg 1929, 3, S. 251–271, Zit. S. 254, 261, 262. Brief an Bismarck vom 7. Juni, in: Treitschke, Briefe, a.a.O., 2, S. 476–478. Brief vom 12. Juni, in: ebda, S. 479–481. Brief vom 14. Juni, in: ebda, S. 480f. Baumgart, Bismarck und der deutsche Krieg 1866, a.a.O., S. 105. Vgl. zur Entstehung des Bündnisses und zu weiterführender Literatur: Friedrich Beiche, Bismarck und Italien. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Krieges 1866, Berlin 1931; Rudolf Lill, Die Vorgeschichte der preußisch-italienischen Alleanza (1866), in: „Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken“, 42– 43, 1963, S. 505–570, und: Ders., Beobachtungen zur preußisch-italienischen Alleanza (1866), in: ebda, 44, 1964, S. 464–527; Winfried Baumgart, Bismarck und der deutsche Krieg 1866. Im Licht der Edition von Band 7 der „Auswärtigen Politik Preußens“, in: „Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft“, 20, 2007, S. 93–115. Vgl. die wichtigsten Memoiren der Zeit: Uberto Govone, Il generale Giuseppe Govone. Frammenti di memorie, Turin 1902, dt.: General Govone (Il generale Giuseppe Govone), die italienisch-preußischen Beziehungen und die Schlacht bei Custoza 1866, Berlin 1903 [im Folgenden wird nach dem ital. Orig. zitiert]. Aus preußischer Sicht: Theodor von Bernhardi, Der Krieg 1866 gegen Österreich. Tagebuchblätter aus den Jahren 1866 und 1867, Leipzig 1897.

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Der Bericht von Usedom an Bismarck, in: GW, 5, S. 251. Note an Graf von Usedom in Florenz vom 1. August 1865, in: ebda, 5, S. 251–254. Note vom 8. Dezember 1865, in: ebda, 5, S. 336. Brief an Generalstabschef Generalleutnant von Moltke vom 12. März 1866, mit einer Anlage, in: ebda, 5, S. 395–413, Zit. S. 396. Ebda, S. 400. Govone, Il generale Giuseppe Govone, a.a.O., Anmerkung zu Kap. 6, La missione a Berlino: „Über seine Mission nach Berlin führte General Govone weder Tagebuch noch erwähnte er sie in seinen Privatbriefen. Es liegen lediglich die Durchschriften seiner Berichte und Telegramme aus Berlin vor – zu verschiedenen Zeiten verfasste Notizen und Gedächtnisstützen – und außerdem eine kurze Zusammenfassung seiner Eindrücke und Auffassungen, die er nach seiner Rückkehr verfasste, um einige Punkte seiner Mission zu erklären. Diese Niederschrift blieb jedoch unvollendet und wurde auch später nicht weiterentwickelt. Das vorliegende Kapitel fußt auf dieser Zusammenfassung unter Verwendung der anderen genannten Quellen.“ Es ist festzuhalten, dass Uberto Govone bei der Zusammenstellung der frammenti die Kontroversen nach der Veröffentlichung von La Marmoras Verteidigungsschrift im Auge hatte. Jahre später scheint Bismarck sein Urteil modifiziert zu haben: In seinen Bismarck-Erinnerungen, Stuttgart/Berlin 1921, S. 37, berichtet Lucius von Ballhausen von einem Gespräch mit Bismarck im Januar 1874, in dem der Kanzler über die Schlacht von Custoza gesagt habe, „unter Führung von Govone“ wäre sie gewonnen worden. Darüber, dass das Schlachtfeld in der Nacht geräumt worden war, sei Govone schier verrückt geworden. Zu dessen Tätigkeit als Unterhändler (für den Bündnisvertrag von 1866) bemerkte Bismarck jedoch, der General habe kurze Gespräche mit viel Phantasie in lange Berichte verwandelt und wenn er selbst die Achseln gezuckt hatte, habe Govone dies zum Anlass für weitschweifige und tiefschürfende Auslegungen genommen. Bruno Bauer, Zur Orientierung über die Bismarck’sche Ära, Chemnitz 1880, S. 43. Govone, Il generale Giuseppe Govone, a.a.O., S. 168. Ebda, S. 171. Vgl. Bismarck, GW, 7, S. 103. APP, 7, S. 56f. Govone, Il generale Giuseppe Govone, a.a.O., S. 176. Vgl. Heinrich Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859 bis 1866, Stuttgart–Berlin 1912, zit. n.: Fesser, Königgrätz-Sadowa, a.a.O., S. 87–89. Napoleon sah sich nach Sadowa/Königgrätz und dem Frieden von Prag im August 1866 zwar in gewisser Weise um seine territorialen Kompensationen betrogen, konnte jedoch zumindest hinsichtlich der Neuordnung in Deutschland seine Forderungen durchsetzen. Der Norddeutsche Bund reichte, wie er es gewünscht hatte, nur bis zur „Main-Linie“ und das Schicksal des gleichzeitig gegründeten Süddeutschen Bundes lag ganz in der Hand der Bewohner und Regierungen der Klein- und Mittelstaaten. Dem aus dem Bund ausgeschlossenen Österreich wurden ebenso großzügige Friedensbedingungen gewährt wie Sachsen und Bayern. Vgl. Bismarck, GW, 11, S. 308ff. Govone, Il generale Giuseppe Govone, a.a.O., S. 474–477. Bernhardi, Der Krieg 1866 gegen Österreich, a.a.O. Ebd., S. 47–54. Passim auch zum Folgenden. Die Begegnung fand am 10. Juni statt; vgl. Bismarck GW, 7, S. 125–127. Der ursprüngliche Bericht in: „Deutsche Revue“, 25, 1900, Fürst Bismarck und die Ungarn. Reminiscenz aus dem Jahre 1866.

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Augenscheinlich verschleiert Cialdini in diesem Brief, der nach Aussage Thurs großen Eindruck auf Bismarck gemacht habe, ironisch seine geringe Wertschätzung für La Marmora. Von Interesse dagegen der Verweis auf Cavour als Staatsmann ganz anderer Statur. Vgl. zu Custoza: Marco Gioannini und Giulio Massobrio, Custoza 1866. La via italiana alla sconfitta, Mailand 2003 (mit ausführlicher Bibliographie); das Standardwerk: Piero Pieri, Storia militare del Risorgimento. Guerre e insurrezioni, Turin 1962; zu Govone: Marco Scardigli, Lo scrittoio del generale. La romanzesca epopea risorgimentale del generale Govone, Turin 2006. Auf Deutsch: Frank Zimmer, Bismarcks Kampf gegen Kaiser Franz Joseph. Königgrätz und seine Folgen, Graz– Wien/Köln 1996, S. 41; Entscheidung 1866. Der Krieg zwischen Österreich und Preußen, hrsg. v. Wolfgang von Groote und Ursula von Gersdorff, Stuttgart 1966; Fesser, Königgrätz-Sadowa, a.a.O. Zimmer, Bismarcks Kampf gegen Kaiser Franz Joseph, a.a.O., S. 125. Bismarck, GW, 7, S. 136, zit. n.: Robert v. Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846–1872, Berlin 1901, S. 291. Pieri, Storia militare del Risorgimento, a.a.O., S. 759: „Der Krieg schien mehr die alten Unzulänglichkeiten Italiens und die Auswirkungen rascher Improvisation zu zeigen als die glänzenden Früchte der wundersamen Einigung“; und: „Da das Heer jung und inhomogen war, hätte es vorsichtig eingesetzt und vor der eigentlichen Auseinandersetzung geschult werden müssen, statt es leichten Herzens sofort in die Schlacht zu schicken“, S. 749. Ebda, S. 745. „Während des Krieges von 1915–1918 machte die italienische Presse Bismarck einhellig den Vorwurf, er habe Italien 1866 bei dem ohne Wissen Italiens abgeschlossenen Vorfrieden mit Österreich hintergangen und es dadurch zur Annahme einer ,ungerechten Grenze‘ gezwungen“, in: Adolfo Omodeo, Difesa del risorgimento, Turin 1951, S. 528. In: APP, 7, S. 480. Vgl. Govone, Il generale Giuseppe Govone, a.a.O., Kap. 10: Nicolsburgo, S. 284– 314; vgl. die Instruktion für Govone ,19. Juli 1866, in: APP, 7, S. 491. Bernhardi, Der Krieg 1866 gegen Österreich, a.a.O., S. 216. Govone, Il generale Giuseppe Govone, a.a.O., S. 287f. Ebda, S. 292. APP, 7, S. 527f. Die Lage wurde dadurch noch komplizierter, dass der italienische Vertreter Barral aus ungeklärten Gründen bei der Unterzeichnung des Waffenstillstandes fehlte. Govone, Il generale Giuseppe Govone, a.a.O., S. 300. Govone setzte sich sofort mit La Marmora in Verbindung statt mit dem Ministerpräsidenten Ricasoli und gab Bernhardi damit wiederum Anlass, die „piemontesische Partei“ unter Führung La Marmoras am Werke zu sehen, die hinter dem Rücken des zugänglicheren „Italieners“ Ricasoli agierte. APP, 7, S. 595. Govone, Il generale Giuseppe Govone, a.a.O., Kap. 10, S. 304–310; vgl. auch Bismarck, GW, 7, S. 155–157. Vgl. Bernhardi, Der Krieg 1866 gegen Österreich, a.a.O., S. 262f. In Bismarcks Augen besaß Barral einen begrenzten Horizont und war leicht beleidigt: „Er versteht sehr oft nicht, was man ihm sagt, und ist zuweilen beleidigt, man weiß nicht wodurch. Er steht dann mitten im Gespräch auf, verbeugt sich schweigend und geht.“ Auch über Usedom äußerte sich Bismarck negativ in diesem Gespräch. Er sei ein „angenehmer Feuilletonist; seine Berichte enthalten sehr viel Deklamationen, mit denen gar nichts anzufangen ist.“

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Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815–1866, Berlin 1985, S. 468. Vgl. auch Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945, München 2006, Kap. 1. Am 9. Juli schrieb Bismarck an seine Frau: „Wenn wir nicht übertrieben in unseren Ansprüchen sind und nicht glauben, die Welt erobert zu haben, so werden wir auch einen Frieden erlangen, der der Mühe wert ist. Aber wir sind ebenso schnell berauscht wie verzagt, und ich habe die undankbare Aufgabe, Wasser in den brausenden Wein zu gießen und geltend zu machen, dass wir nicht allein in Europa leben, sondern mit noch drei Mächten, die uns hassen und neiden“, in: GW 14,2, S. 717. Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, a.a.O., S. 317. Ebda, S. 319 Am 9. und 25. Juli, in: Fesser, Königgrätz-Sadowa, a.a.O., S. 115–117. Vgl. in Hellmut Diwald, Einleitung, zu: Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund, a.a.O., S. 65. So der Radikalliberale Karl Twesten, der zu den Nationalliberalen überwechselte, in: ebda, S. 62f. In: Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten (1866), in: Heinrich Treitschke, Aufsätze, Reden und Briefe, a.a.O., 3, S. 289–311. Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, a.a.O., S. 364. Pasquale Villari, Di chi è la colpa? O sia la pace e la guerra (1866), in: Saggi di storia, di critica e di politica, Florenz 1868. Alberto M. Banti und Marco Mondini, Da Novara a Custoza: culture militari e discorso nazionale tra Risorgimento e Unità, in: Storia d’Italia. Annali, 18: Guerra e pace, hrsg. v. Walter Barberis, Turin 2002, S. 448 und 450. Es ist deshalb nicht überraschend, dass der italienische Außenminister Antonio di San Giuliano nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, als sich die italienische Regierung noch nicht für oder gegen einen Krieg mit Österreich entschieden hatte, unumwunden erklärte: „Wir können nicht an einem Krieg teilnehmen, wenn wir nicht eine neunundneunzigprozentige Siegchance haben, denn wir können nicht noch einmal wie 1866 nach einer Niederlage Territorien verlangen.“, in: Luigi Mondini, La preparazione dell’esercito e lo sforzo militare nella prima guerra mondiale, in: Stato Maggiore dell’Esercito, Ufficio storico, L’esercito italiano dall’Unità alla grande Guerra (1861–1918), Rom 1980, S. 340. Duncker, Politischer Briefwechsel, a.a.O., S. 434. Treitschke, Briefe, a.a.O., 3, S. 32f., Brief vom 25. Juli an den Bruder. Einerseits wehrt sich Treitschke gegen allzu großes Lob: „Die Leute behandeln mich wie einen Propheten; alles sei gekommen wie ich’s vorausgesagt. Wie wenig verdiene ich dies Lob! Einen so raschen durchschlagenden Erfolg hab’ ich nie geträumt, ich war darauf gefasst, in zwanzig Jahren erst zu erleben, was heute über uns kommt.“ Andererseits macht er sich keine Illusionen über seinen wirklichen Einfluss: Ebda, Briefe vom 28. Juli 1866, S. 33–35, und 3. August 1866, S. 35–37. Der Aufsatz erschien am 4. Oktober 1866 im „Wochenblatt des Nationalvereins“. Vgl. Federico Trocini, L’invenzione della „Realpolitik“ a la scoperta della „legge del potere“. August Ludwig von Rochau tra radicalismo e nazional-liberalismo, Bologna 2009, S. 230. Der Autor fasst anhand des Vorworts zum Zweiten Teil der Grundsätze der Realpolitik Rochaus Thesen folgendermaßen zusammen: „Unter dem Eindruck der Machtpolitik wurden die Antithesen zwischen Volkspolitik und Staatspolitik, von Politik von unten und Politik von oben, von Wehrpolitik und Revolution neu formuliert und die Gleichsetzung von Erfolgspolitik mit Revolution von oben umgegossen, so dass die ganze Ambivalenz und der latent gouvernamentale und cäsaristische Charakter der Realpolitik zutage trat und den liberalen überdeckte.“

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Erlass an den Gesandten in München Heinrich VII. Prinzen Reuß, vom 24. März 1866, in: GW, 5, S. 419–422, Zit.: S. 421; vgl. auch den Erlass vom 17. April 1866, ebda, S. 455–458.  Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Stuttgart/Wien 1919, S. 381.  Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 2004.  Sitzung des Reichstags des Norddeutschen Bundes vom 28. März 1867, in: GW, 10, S. 356–361.  Pflanze, Bismarcks Realpolitik, in: Lothar Gall (Hrsg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln/Berlin 1971, S. 231.  Vgl. in: Voci, Il Reich di Bismarck, a.a.O., S. 14. Bes. Kap. 2: 1871: prospettive del liberalismo in Germania.  Hermann Baumgarten. Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, in: „Preußische Jahrbücher“, 18, 1866, S. 455–517 und 575–628, bes. S. 600. Neudr. hrsg. v. Aldolf M. Birke, Frankfurt a. M. 1974, S. 23–150.  Cervelli, Unificazione nazionale e pensiero storico-politico, a.a.O., S. 89–111.  Baumgarten, Der deutsche Liberalismus, a.a.O., S. 55.  Portner, Die Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen, a.a.O., S. 63.  Ebda.  Zit. in: Fesser, Königgrätz-Sadowa, a.a.O., S. 128ff.  Langewiesche, Bismarck und die Nationalliberalen, a.a.O., S. 73–89, bes. S. 79. Der Autor fasst die Debatte zusammen, an der sich u. a. so bedeutende deutsche Historiker wie W. J. Mommsen, H.-U. Wehler, Th. Nipperdey und H. A. Winkler beteiligten.  Deutschlands wirtschaftliche Neugestaltung, in: „Preußische Jahrbücher“, 18, 1866, S. 269–304, zit. in: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen: Deutsche Geschichte 1806–1933, München 2002, S. 161.  Ebda.  Zum Indemnitätsgesetz als Problem der preußischen Verfassung vgl. Anna Gianna Manca, La sfida delle riforme. Costituzione e politica del liberalismo prussiano (1850–1866), Bologna 1995, bes. Kap. 4, S. 587–624.  Ebda.  Bauer, Zur Orientierung über die Bismarck’sche Ära, a.a.O., S. 43.  Portner, Die Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen, a.a.O., S. 138.  Der Aufsatz Rochaus erschien in „Die Grenzboten“, 1874, 1, S. 121ff. und 177ff. Die Zitate S. 183f. und 186.  Heinrich von Treitschke, Cavour, Ebenhausen 1942.  Schieder, Das Italienbild der deutschen Einheitsbewegung, in: Begegnungen mit der Geschichte, a.a.O., S. 232.  Dies bestätigten unbewusst auch die Anhänger Cavours in Italien, die Treitschke nach seinen Worten bei der Abfassung des Aufsatzes unterstützt hatten und im Laufe der Jahre zu Bewunderern Bismarcks wurden.  Treitschke, Briefe, a.a.O., 2, S. 291: Brief vom 19. September 1863 an Gustava von Haselberg: „Übrigens ist Wien imposant durch seinen gewaltigen großstädtischen Verkehr; Berlin erscheint als eine stille Landstadt dagegen, doch deutsches Leben ist es nicht, das durch die engen Straßen wogt, sondern ein Völkergemisch von Italienern, Deutschen, Ungarn, Hannaken, Slowaken und wie die Sippschaft sonst heißt; und das nennen gutmütige Narren ,Deutschland‘.“  Brief an Salomon Hirzel vom 14. Februar 1864, in: ebda, S. 319.  Brief an Salomon Hirzel vom 30. September 1865, in: ebda, S. 416.

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Brief an Gustav Freytag vom 1. Oktober 1865, in: ebda, S. 418. Brief an Luise Brockhaus, ebda, S. 421. Gleichzeitig sprach Treitschke in einem Brief an Rudolf Haym im Zusammenhang mit seinem gerade vollendeten Aufsatz über Bundesstaat und Einheitsstaat vom unsterblichen politischen „Dilettantismus der Deutschen, der nicht einmal im Gedanken sich ernstlich mit einer politischen Frage befassen mag.“ Weiter schrieb er: „Wir haben schrecklich schnell gelebt in diesen zwei Jahren. Alle Parteien gehen aus den Fugen. [. . . ] Ich lebe des Glaubens, dass wir es sind, die den gesunden Kern der Ideen des alten Liberalismus, der Einheitspartei am treuesten bewahren. Ich bin nicht ein Bewunderer Bismarcks geworden: die demoralisierenden Wirkungen seiner Politik liegen ja vor aller Augen. Aber wenn ich die Gegner mustere [. . . ] so ist mir die Wahl nicht zweifelhaft“, in: ebda, S. 419ff. Brief an Gustav Freytag vom 13. November 1865, in: ebda, S. 431f. Brief vom 28. November 1865, in: ebda, S. 436–439. Brief vom 27. Februar 1869 an Wilhelm Wehrenpfennig, in: ebda, 3, S. 240f. Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998, S. 161: Das Prädikat „der größte Staatsmann“ der Gegenwart, als den Treitschke Cavour 1864 bezeichnet hatte, benutzte er später nicht mehr, bezeichnete ihn aber weiterhin als „autentico statista“ und „statista per eccellenza“ [im Orig. italienisch]. Vgl. Treitschke, Cavour, a.a.O., passim. „Ein Prophet seines Volkes, so von Gott begeistert wie jenes Mädchen von Orleans, die einzige Gestalt der Geschichte, die sich dem dämonischen Mann vergleichen lässt. [. . . ] Sein Wirken unter uns wird späteren Geschlechtern noch die tröstliche Wahrheit predigen, dass auch in hochgesitteten Zeiten die heilige Naturgewalt ursprünglicher Leidenschaft eine Macht bleibt unter den Menschen. Die zahllosen Torheiten, die Garibaldi begangen hat und noch begehen wird, sind zum Voraus ihm vergeben, der so viel, so unaussprechlich viel geliebt hat“, in: ebda., S. 193. Interessanterweise nennt Treitschke einen anderen demokratischen Diktator, den Franzosen Gambetta, einen „brutalen Tyrannen“.

4. Cavourismus und Bismarckismus. Eine Bilanz  

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In: Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, a.a.O., S. 182f. Zur Vorstellung Bismarcks vom Bonapartismus vgl. einen Brief an Leopold von Gerlach Ende 1851, in dem Bismarck schreibt: „Der Bonapartismus ist bei uns in Preußen, möchte ich behaupten, älter als Bonaparte, nur in milderer deutscher Form [. . . ] Jetzt finde ich ihn bei uns vorzugsweise durch die liberalisierende Bürokratie körperlich dargestellt“, in: GW, 12, S. 370. Einige Jahre später fragt er sich, worin die „revolutionäre“ Besonderheit des Bonapartismus liege. Sicher nicht in der Revolution, denn die habe Napoleon III. nicht erfunden und auch nicht ausgerottet und die Familie selbst sei ja dadurch ruiniert worden. „Die Revolution ist viel älter als die Bonapartes und viel breiter in der Grundlage als Frankreich. Wenn man ihr irdischen Ursprung anweisen will, so wäre auch der nicht in Frankreich, sondern eher in England zu suchen, wenn nicht noch früher in Deutschland oder in Rom, je nachdem man die Auswüchse der Reformation oder die der Römischen Kirche und die Einführung des Römischen Rechts in die germanische

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Welt als schuldig ansehen will“, in: GW, 12, S. 471, Brief vom 30. Mai 1857 an Leopold von Gerlach. Für Bismarck schließt das „bonapartistische Regiment“ jede Form von Absolutismus und Zentralisierung ein und ist Synonym für die Verachtung von Recht und Freiheit und Synonym von Korruption (auch in Österreich). Gerlach dagegen sieht im Bonapartismus die Verbindung zweier höchst negativer Erscheinungen: die Volkssouveränität und den Absolutismus. In einem Brief an Bismarck (5. Juni 1857) erscheint auch die Definition des Cäsarismus als anmaßende Verwandlung des Kaiserreichs in eine legale Republik, die sich mit dem Ausnahmezustand rechtfertigt. Sobald Bismarck um 1860 auch in der Bewertung der Vorgänge in Italien zum Realpolitiker wird, ergeben sich Spannungen im Verhältnis zu den Gebrüdern Gerlach. Leopold ist zwar der Meinung, dass Bismarck weiterhin die Interessen Preußens am Herzen liegen, aber er stellt mit Schrecken eine enge Verwandtschaft zwischen dessen Denken und dem Napoleons und Cavours fest. Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund, a.a.O., 1, S. 483. Vgl. auch das Zeugnis des ungarischen Adeligen im Pariser Exil, Seherr-Thosz, der Bismarck nach einer Begegnung am 2. November 1862 wegen dessen Feindschaft gegenüber Österreich den „deutschen Cavour“ nennt. Nur deshalb könne Bismarck auf die vorteilhafte und ehrliche Mitarbeit Ungarns rechnen: GW, 3, S. 65. August Ludwig von Rochau, Camillo Cavour. Ein Fragment aus dem handschriftlichen Nachlasse Rochaus, in: „Die Grenzboten“ 1874, 1, S. 187. Innocenzo Cervelli, Cesarismo: alcuni usi e significati della parola (secolo XIX), in: „Annali dell’Istituto storico italo-germanico di Trento“, 22, 1996, S. 61–197, bes. S. 102. Heinz Gollwitzer. Der Cäsarismus Napoleons III. im Widerhall der öffentlichen Meinung Deutschlands (1952), jetzt in: Weltpolitik und deutsche Geschichte, Göttingen 2008, S. 239–286, bes. S. 276. Innocenzo Cervelli, Realismo politico, liberalismo moderato in Prussia negli anni del decollo, in: Rudolf Lill und Nicola Matteucci (Hrsg.), Il liberalismo in Italia e in Germania dalla rivoluzione del’48 alla prima guerra mondiale, Bologna 1980, S. 77–290. Bismarck, GW, 9, S. 397. Vgl. die Vorrede von 1869 zum zweiten, 1859 erstmals erschienenen Band der Grundsätze: Ludwig August von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, hrsg. v. H.-U. Wehler, Frankfurt/Main 1972, S. 220. Zur Vertiefung: Trocini, L’invenzione della „Realpolitik“ e la scoperta delle „legge del potere“, a.a.O. Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, a.a.O., S. 234. Vgl. zum Bonapartismus und Cäsarismus: Gollwitzer, Der Cäsarismus Napoleons III. im Widerhall der öffentlichen Meinung Deutschlands, a.a.O.; Cervelli, Unificazione nazionale e pensiero storico-politico, a.a.O.; ders., Cesarismo: alcuni usi e significati della parola, a.a.O.; Dieter Groh, Cäsarismus, Napoleonismus, Bonapartismus, in: O. Brunner, W. Conze, R. Kosellek (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–97, 1, S. 726–771; Manuela Ceretta (Hrsg.), Bonapartismo, cesarismo e crisi della società. Luigi Napoleone e il colpo di Stato del 1851, Florenz 2003; Federico Trocini, Tra „Realpolitik“ e „deutsche Freiheit“: il bonapartismo francese nelle riflessioni di August Ludwig von Rochau e di Heinrich von Treitschke, in: „Rivista storica italiana“, 2009, 1, S. 338–397. Treitschke, Brief vom 16. April 1865, in: Briefe, a.a.O., 2, S. 392.

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„Der ,bonapartistische‘ Charakter der Bismarckschen Politik wird verdeckt durch das mit Anstand und viel Geschick getragene monarchistisch-traditionale Gewand des königlichen Dieners und kaiserlichen Kanzlers, durch die konservativjunkerliche Erbmasse. Bismarck war nicht durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen, er tolerierte die Parteien und paktierte mit ihnen, er kultivierte die Sonderform eines ,deutschen Konstitutionalismus‘, er stand dem Nationalismus fremd gegenüber und war weit entfernt von dem Zentralismus romanischer Diktatoren. Aber all dies trifft nicht die autokratische Mitte seiner Persönlichkeit und seiner Staatskunst.“ Gollwitzer, Der Cäsarismus Napoleons III. im Widerhall der öffentlichen Meinung Deutschlands, a.a.O., S. 277. Bismarck, GW, 3, S. 366–368, Bericht an König Wilhelm I. Ebda., S. 381–383, Brief an Minister Bernstorff. Vgl. unter den vielen Zeitzeugnissen bes. Ludwig Ernst von Gerlach, der nach einer Begegnung mit Bismarck im März 1864 in sein Tagebuch notiert, sein Gesprächspartner habe wohlwollend von Louis Bonaparte gesprochen: „Er [sprach] über Louis Bonaparte, wie er nicht der absichtliche Teufel sei, den man aus ihm mache, sondern ein Mensch, der sich und seine Familie auf dem Thron und im Genusse dessen, was er erworben, halten wolle (ähnlich wie Treskow und, nach Quarterly Review, Cavour ihn schildern). Er habe gegen ihn, Bismarck, Rheinprovinz-Gelüste desavouiert; damit würde er auch Belgien und Holland sich auf den Hals ziehen und den Grund legen zu einer Koalition gegen ihn. 1857 habe er, Louis Bonaparte, ihm, Bismarck, eine Quasikoalition, ganz geheim zu halten, mit Preußen proponiert, auf Vergrößerung Frankreichs in Italien, Preußens in Deutschland zielend“: Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund, a.a.O., 1, S. 451. Notiz vom 24. März 1864. Bismarck, GW, 14,1, S. 565, Brief vom 30. November 1860 an R. von Auerswald. Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik Politik 1890– 1920, Tübingen 2004, S. 45f. Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, München 1918, S. 36f. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 3 Bde., Tübingen 1915, 3, S. 853. Die Massendemokratie in der Zeit des Perikles verdankte ihren Erfolg großenteils Konzessionen an das „cäsaristische Prinzip der Führerauslese.“ Ebda, S. 863. Ebda, S. 862. Ebda. Ebda, 1, S. 156f. Ebda, 3, S. 867. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Köln/Berlin 1966, S. 999: „Für die zeitweilig blendenden Erfolge des ersten Charismatikers in der modernen deutschen Politik wurde dem Land ein hoher Preis auferlegt, der seine politische Kultur bis weit ins 20. Jahrhundert schwer belastet hat.“ Dagegen vgl. Christian Jansen, Otto von Bismarck: Modernität und Repression, Gewaltsamkeit und List. Ein absolutistischer Staatsdiener im Zeitalter der Massenpolitik, in: Frank Möller (Hrsg.), Charismatische Führer der deutschen Nation, München 2004, S. 63–85. Der Autor vertritt die These, bis 1874/75 könne von „Charisma“ bei Bismarck nicht die Rede sein, danach habe er sich als Charismatiker inszeniert. Die Bismarck-Verehrung sei erst ex post entstanden.

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„Otto von Bismarck wurde charismatisiert nach seinen politischen Erfolgen, aber er blieb in der Position des Reichskanzlers, auch wenn er persönlich größeren Einfluss auf die Struktur des Kaiserreichs ausübte, als es aus der Position des Reichskanzler allein gegeben war.“ M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, Kap. 5: Das Modell der charismatischen Herrschaft und seine Anwendbarkeit auf den ,Führerstaat‘ Adolf Hitlers, S. 99. Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, München 1998. Nach dem Zeugnis Brofferios vom Herbst 1859, vgl. Romeo, Vita di Cavour, a.a.O., S. 441. Ebda, S. 447. Cavour, Epistolario, a.a.O., 17,2, S. 678. In einem Brief an Nigra vom 11. März schreibt er: „Sie wissen, dass ich [. . . ] durch meine Unterschrift unter ein Geheimabkommen, das die Abtretung zweier Provinzen beinhaltet, einen höchst inkonstitutionellen Akt begehe, der für mich schwere Konsequenzen haben könnte [. . . ]. Aber deshalb will ich nicht das Statuto zerreißen und das Parlament unberücksichtigt lassen [. . . ]. Ich glaube, moralisch die Zustimmung des Parlaments garantieren zu können. Der König und ich haben daran keinen Zweifel, und deshalb setzt S. M. die Krone aufs Spiel und ich, wenn nicht den Kopf, so doch meine Reputation, die mir mehr wert ist“, ebda, 17,1, S. 186. Ebda, 17,4, S. 2625, Brief vom 7. November. In: Fesser, Königgrätz-Sadowa, a.a.O., S. 76. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, a.a.O., S. 372. Konrad Carris, Bismarck und die Monarchen, in: Gall (Hrsg.), Otto von Bismarck und die Parteien, a.a.O., S. 153. In: Fesser, Königgrätz-Sadowa, a.a.O., S. 81. In: Baumgart, Bismarck und der deutsche Krieg, a.a.O., S. 115 (Orig. englisch). „Das Wesen des politischen Lebens war also nach Auffassung Bismarcks von Gott gesetzt und daher grundsätzlich unveränderbar, mochte das Dasein auch aus ständigen Konflikten und Kämpfen bestehen. Die Hoffnung, dass der Mensch die Natur der Politik verändern könne, schien Bismarck sündhafte Arroganz zu sein“, Hajo Holborn, Bismarcks Realpolitik, in: Gall, Das Bismarck-Problem, a.a.O., S. 244. Bismarck, GW, 12, S. 468. Jansen, Otto von Bismarck. Modernität und Repression, a.a.O., S. 68. „Ich erstrebe immer das, was für die Menschheit und die Entwicklung der Kultur am besten ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Welt auf einem vom Schicksal vorgezeichneten Pfad auf ein neues Ziel zustrebt, und sie aufhalten zu wollen, würde einen Sturm heraufbeschwören, ohne das Schiff in den Hafen zurücksteuern zu können. Ich bin der Meinung, dass wirkliche Fortschritte nur langsam und unter weiser Führung entstehen. Die Entwicklung der Gesellschaft braucht Ordnung, und eine legitime Gewalt, die tief in der Geschichte des Landes wurzelt, garantiert die Ordnung am besten von allen“; Cavour, Epistolario, a.a.O., 4, S. 349, Brief an Leon Costa de Beauregard vom Oktober 1847. Romeo, Vita di Cavour, a.a.O., S. 50f.

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Mack Smith, Cavour e Garibaldi nel 1860, a.a.O., S. 255f. In seiner Cavour-Biographie (Mailand 1985, S. 210) zitiert der Autor das Urteil des amerikanischen Vertreters in Turin, Daniel, von dem er selbst sagt, es sei mit Vorbehalt zu genießen: „Cavour ist in der Philosophie ein Anhänger Voltaires und vollkommen skrupellos in Worten und Taten, was man ihm nicht vorwerfen sollte, denn anders wäre er vollkommen ungeeignet und unfähig, ein Volk wie das italienische zu regieren. Er liebt das Geld und hat sich, während er sich mit den Geschäften seiner Nation beschäftigt, ein großes Privatvermögen erworben. Er liebt die Macht leidenschaftlich und könnte sie weder je mit anderen teilen, noch duldet er auch nur die kleinste Opposition von welcher Seite auch immer.“ Gaetano Negri, Il principe Bismark nei suoi „Pensieri e ricordi“, in: „Nuova Antalogia“, 19. August 1899, S. 278–314. Bei den ersten italienischen Wahlen waren 418 000 Männer wahlberechtigt, von denen ungefähr 240 000, d h. 57,2 %, tatsächlich ihre Stimme abgaben. Vgl. Gian Enrico Rusconi, Berlino. La reinvenzione della Germania, Rom/Bari 2009.

Personenregister

Albrecht (von Österreich-Teschen), Erzherzog 95 Avensleben, Gustav von 57, 86 Barral, Camillo 80, 85–87, 93, 100f., 103f., 112 Baumgart, Winfried 151 Baumgarten, Hermann 66, 76, 112– 115, 135, 140 Benedek, Ludwig von 96 Benedetti, Vincent 86f. Bennigsen, Rudolf von 50 Bernhardi, Theodor von 76f., 91–93, 95f., 98–101, 104 Bernstorff, Albert von 61f. Bertani, Agostino 39 Bismarck-Schönhausen, Otto von 7– 20, 22f., 26, 29, 34, 43, 45, 53, 56–63, 65f., 68, 70–90, 94–96, 99–113, 115– 118, 120–122, 124, 127, 129–134, 136–151, 153–155 Bonin, Adolf von 53 Brassier de Saint-Simon, Anton 41, 43–45, 48f., 53, 63 Bülow, Bernhard von 143 Buol-Schauenstein, Karl Ferdinand von 26 Cavour, Camillo Benso Graf von 7– 20, 23–40, 42–49, 51–55, 59, 64–66, 69f., 85, 89, 92, 94, 98, 107, 109f., 114f., 117–133, 135–137, 143–146, 148–151, 153–155 Cialdini, Enrico 17, 91, 94–96 Crispi, Francesco 39 Cromwell, Oliver 39 Drouyn de Lhuys, Édouard 86 Droysen, Johann Gustav 27, 66 Duncker, Max 27, 66, 70, 73, 109, 111, 135 D’Azeglio, Massimo 27

Engels, Friedrich

106f., 136

Forckenbeck, Max von 71 Franz Joseph I. 28, 30 Freytag, Gustav 28, 67, 78, 121f. Friedrich III. 72 Friedrich Karl (von Preußen), Kronprinz 96 Friedrich Wilhelm IV. 52 Garibaldi, Giuseppe 7, 9f., 13, 15f., 19, 31–40, 44, 48f., 55, 59f., 64, 67, 69, 92–94, 108, 110, 126, 145, 149, 152–154 Gerlach, Ernst Ludwig von 58, 107, 130f., 137 Gerlach, Leopold von 58f., 130f., 137 Gortschakow, Alexander Michailowitsch 61, 63 Govone, Giuseppe 80, 84–91, 94, 96, 100–104, 106 Gyulai, Ferencz József 30, 94 Hirzel, Salomon 122 Hitler, Adolf 151, 154 Hobbes, Thomas 59 Jakob II. 52 John, Franz von

95

Kaehler, Siegfried A. 26 Keudell, Robert von 121 Klapka, Giörgy 55, 95, 106 Kossuth, Laios 55, 106 La Farina, Giuseppe 50 La Marmora, Alfonso 17, 19, 24f., 52f., 55, 80, 82, 84, 87, 90–96, 98f. La Rocca (Enrico Morozzo della Rocca) 17 Launay, Edoardo di 43 Loftus, Augustus 147 Ludwig der Heilige 59 Ludwig XIV. 52

Machiavelli, Niccolò 69 Manteuffel, Otto von 26f. Marx, Karl 107, 136, 139 Mazzini, Giuseppe 7, 9, 25, 39, 64, 126 Michelangelo 149 Miquel, Johannes 73 Moltke, Helmuth von 83, 88, 93f., 96 Mommsen, Theodor 74, 135 Mommsen, Wolfgang J. 116

Savoia-Carignano, Eugenio 37 Schleinitz, Alexander von 43, 45, 49, 51, 53, 56f. Schlözer, Kurd von 129 Schmidt, Julian 27, 67, 69, 113 Shakespeare, William 147 Smith, Mack 149 Stürmer, Michael 143 Sybel, Heinrich von 30, 66

Napier of Merchiston, Francis 146 Napoleon I. Bonaparte 59, 67, 106, 139, 141 Napoleon III. 80, 82, 87–91, 98–101, 106f., 114, 119, 125 Napoleon III. 11f., 14, 18, 20f., 25f., 28, 30, 32–34, 37, 39, 42, 45–48, 58– 60, 62, 64f., 130, 134–141, 143, 149, 153 Negri, Gaetano 149f. Nigra, Costantino 35f., 39, 45, 82, 88f.

Thadden, Adolf von 107 Thur, Stephan 55, 94f. Treitschke, Heinrich von 66, 73–79, 108, 110f., 119–129, 132, 135

Persano, Carlo Pellion di

36f.

Reuchlin, Hermann 65, 109 Reumont, Alfred von 44 Ricasoli, Bettino 63, 91, 111 Rochau, August Ludwig von 26, 66, 73, 110f., 118–120, 131f., 134f. Roggenbach, Franz 147 Romeo, Rosario 148 Ruge, Arnold 66f.

176

Usedom, Guido von 99–101

80, 82, 91, 93f.,

Villamarina, Salvatore Pes di 36 Villari, Pasquale 109 Vimercati, Ottaviano 55 Vincke, Georg von 46, 53f. Visconti Venosta, Emilio 91, 99–103 Vittorio Emanuele II. 7, 16, 28, 31, 33, 35–38, 40, 47, 53, 87, 91, 93, 98, 107, 125, 143–145, 149 Washington, George 149f. Weber, Max 112, 114, 140–143 Wilhelm I. 41f., 44f., 47, 52f., 72, 94, 100, 105, 113, 138, 145–147 Wilhelm von Oranien 52