Der Kapitalismus und die Historiker: Mit Beiträgen von Friedrich August von Hayek, Thomas Southcliffe Ashton, Louis Morton Hacker, Bertrand de Jouvenel William Harold Hutt. Neu herausgegeben und übersetzt von Hardy Bouillon [1 ed.] 9783428587780, 9783428187782

Wenn man einem weitverbreiteten Kanon in Wissenschaft und Publizistik folgt, dann führte der Kapitalismus in der industr

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Der Kapitalismus und die Historiker: Mit Beiträgen von Friedrich August von Hayek, Thomas Southcliffe Ashton, Louis Morton Hacker, Bertrand de Jouvenel William Harold Hutt. Neu herausgegeben und übersetzt von Hardy Bouillon [1 ed.]
 9783428587780, 9783428187782

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Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 6

Der Kapitalismus und die Historiker Herausgegeben von Friedrich August von Hayek

Duncker & Humblot · Berlin

HERAUSGEGEBEN VON FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK

Der Kapitalismus und die Historiker

Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus Band 6

Der Kapitalismus und die Historiker Mit Beiträgen von

Friedrich August von Hayek Thomas Southcliffe Ashton Louis Morton Hacker Bertrand de Jouvenel William Harold Hutt

Herausgegeben von

Friedrich August von Hayek

Neu herausgegeben und übersetzt von

Hardy Bouillon

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte an der deutschen Ausgabe vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 2510-2893 ISBN 978-3-428-18778-2 (Print) ISBN 978-3-428-58778-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Mit der Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus sollen einschlägige Schriften, die in der Tradition des Klassischen Liberalismus und in geistiger Nähe zu Friedrich August von Hayek stehen, einer deutschsprachigen Leserschaft nähergebracht werden. Zu diesem Zweck werden Schlüsselwerke bedeutender ­Autoren übersetzt und in deutscher Erstausgabe herausgegeben. Gleichwohl ist die Schriftenreihe nicht auf Übersetzungen beschränkt, sondern auch offen für Arbeiten gegenwärtiger Autoren, die sich der Schule des Klassischen Liberalismus und dem freiheitlichen Denken Hayeks eng verbunden fühlen. Für den vorliegenden sechsten Band der Reihe gilt das Gesagte in besonderer Weise. Er ist eine Sammlung von Aufsätzen, die Friedrich August von Hayek 1954 im Anschluss an eine Tagung der Mont Pèlerin Society in Beauvallon heraus­ gegeben hat. Zu den Autoren zählen Thomas Southcliffe Ashton, Louis Morton Hacker, Bertrand de Jouvenel, William Harold Hutt und der Herausgeber selbst. Auch heute – knapp 70 Jahre nach Veröffentlichung des englischen Originals – sind die Aufsätze hochaktuell. Die kapitalismusskeptische Haltung vieler Historiker und Intellektueller ist nach wie vor virulent. Wenn man einem weitverbreiteten Kanon in Wissenschaft und Publizistik folgt, dann führte der Kapitalismus in der industriellen Revolution zu einer Verelendung der Arbeiter – eine Misere, die nur durch das beherzte Eingreifen des Gesetzgebers eingedämmt werden konnte. Folgt man indes Hayek und seinen Mitautoren, dann war das Gegenteil der Fall: Es war der Kapitalismus, der das Proletariat erschaffen und dessen Lebensbedingungen kontinuierlich verbessert hat. Es sind die Daten jener Zeit, die zu diesem Schluss führen und in der Wirtschaftsgeschichte wohlbekannt sind. Wie kommt es, so die Autoren, dass der Antikapitalismus trotz der widrigen wirtschaftshistorischen Evidenz so stark Fuß fassen konnte? Diese Frage steht im Zentrum der Aufsätze von Ashton, Hacker, Hayek, Hutt und Jouvenel. In ihren Aufsätzen zeigen sie, dass neben ideologiebehafteten Gründen auch methodische Ursachen die Haltung vieler Historiker zum Kapitalismus erklären. Nach Der ökonomische Blickwinkel von Israel Kirzner, Der Staat von Anthony de Jasay, Mensch versus Staat von Herbert Spencer, Die Theorie der dynamischen Effizienz von Jesús Huerta de Soto und Wissen und Entscheidungen von Thomas Sowell ist die von Friedrich August von Hayek herausgegebene Anthologie Der Kapitalismus und die Historiker der sechste Band der Reihe. Weitere Bände anderer Autoren sind bereits in Planung und sollen im Jahresrhythmus erscheinen. Die Hayek-Schriftenreihe zum Klassischen Liberalismus wird unterstützt von der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft, Berlin. Prof. Dr. Hardy Bouillon Prof. Dr. Gerd Habermann Prof. Dr. Erich Weede

Einleitung des Herausgebers und Übersetzers Manchmal machen Autoren es dem Herausgeber leicht. Sie übernehmen einige Aufgaben, die in sein Ressort fallen, etwa die Schilderung der Umstände, unter denen das herauszugebende Buch entstanden ist, oder die Nennung der Gründe, die dann zu jener Gestalt führten, die der Band schlussendlich angenommen hat. Im vorliegenden Fall kam die Aufgabenerleichterung nicht unerwartet. Capitalism and the Historians ist eine Anthologie. Zu ihr hat Friedrich August von Hayek als Herausgeber und Mitautor der Originalausgabe seinerzeit bereits alles editorisch Wesentliche in seinem Vorwort vorweggenommen. Es gab wenig, das anlässlich der Übersetzung zu ergänzen war, und wenn, dann war es hauptsächlich dem zeitlichen Abstand zur Erstausgabe und der mit ihm einhergehenden Vergänglichkeit des Ruhms geschuldet. So sind heute, rund 70 Jahre nach Erscheinen des Sammelbandes, die Mitautoren Thomas Southcliffe Ashton, Louis Morton Hacker, Bertrand de Jouvenel und William Harold Hutt nicht mehr so bekannt wie noch zur Mitte des letzten Jahrhunderts. Sie alle waren Mitglieder der von Hayek 1947 initiierten Mont Pèlerin Society (MPS), die 1951 in Beauvallon zusammentrat, um dort unter anderem über „The Treatment of Capitalism by the Historians“ zu diskutieren.1 Einige der genannten Autoren hatten bereits bedeutende Standardwerke zum Kapitalismus und zur Lage der Arbeiter im 18. und 19. Jahrhundert vorgelegt.2 Nun wollte man gemeinsam einen Blick auf die Thematik werfen. Zunächst schaute man auf England, die Wiege der industriellen Revolution, und gab dem das Wort, der mit den Anfängen des Industriezeitalters in England so gut vertraut war wie kaum ein anderer, Thomas Ashton. Thomas Southcliffe Ashton (1889–1968) lehrte von 1944 bis 1968 Wirtschaftsgeschichte an der London School of Economics (LSE). Schon früh hatte er sich mit Fragen zur Industriellen Revolution befasst. Bücher wie Iron and Steel in the Industrial Revolution (1924) und vor allem sein Klassiker The Industrial Revolution (1949) sowie An Economic History of England: the 18th Century (1955) gingen aus dieser Beschäftigung hervor. Louis Morton Hacker (1899–1987) lehrte von 1935 bis zu seiner Emeritierung 1967 an der Columbia University in New York. Neben seinem 1940 erschienenen Buch Triumph of American Capitalism haben vor allem The shaping of the American Tradition von 1947 sowie seine Arbeiten zu Andrew Carnegie und ­Alexander 1

Vgl. dazu auch das Vorwort von Hayek in diesem Band und Hartwell (1995), S. 92 ff. Man denke nur an Ashtons The Industrial Revolution von 1949, Hackers Triumph of American Capitalism von 1940 und die Aufsätze von Hutt (1926) und Ashton (1949b), die Teile dieses Sammelbandes sind. 2

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Hamilton sein Renommée als einer der führenden Wirtschaftshistoriker Amerikas begründet. Bertrand de Jouvenel (1903–1987) war wie Hayek Gründungsmitglied der MPS. Er gilt als eine der wichtigsten Gallionsfiguren des Klassischen Liberalismus, die Frankreich im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Seine Ethik der Umverteilung von 1952 und seine Abhandlung Über die Staatsgewalt (Du Pouvoir) von 1949 zählen zu den Klassikern der liberalen Kritik am Wohlfahrtsstaat im Besonderen und an der staatlichen Gewalt im Allgemeinen. William Harold Hutt (1899–1988) studierte an der LSE, wo er stark von Edwin Cannan beeinflusst wurde. Zu seinen bekanntesten Werken gehören The Theory of Collective Bargaining von 1930, eine Kritik an der webbschen These vom Kräfteungleichgewicht bei Arbeitsvertragsverhandlungen, und Economists and the Public von 1934, das die Vorteile der Konsumentensouveränität in Wettbewerbswirtschaften herausstellt. Max Silberschmidt (1899–1989), der als Historiker in Zürich lehrte und be­ deutende Arbeiten zur amerikanischen Geschichte hinterlassen hat (darunter Amerikas industrielle Entwicklung von 1958), zählt aus einer Verkettung unglücklicher Umstände, die Hayek in seinem Vorwort erwähnt, leider nicht zu den Autoren dieses Bandes. Das ist in vielerlei Hinsicht bedauerlich. Sein Aufsatz war einer der vier Beiträge der MPS-Tagung in Beauvallon, von denen nur drei in diesem Band abgedruckt sind. Silberschmidt hatte vor allem die deutschen Historiker und deren Haltung zum Kapitalismus analysiert.3 Offenbar war es der Mont Pèlerin Gesellschaft seinerzeit sinnvoll erschienen, die wohl wichtigsten Industrienationen während der industriellen Revolution zum Gegenstand der Diskussion zu machen; d. h. neben den USA, England und Frankreich auch Deutschland.4 Friedrich August von Hayek (1899–1992), den Herausgeber des Bandes, in einer Buchreihe vorzustellen, die seinen Namen trägt, wäre mehr als kurios und darf hier getrost unterbleiben. Statt seine Person im Allgemeinen zu würdigen, ist es passender, die Besonderheiten seiner Einleitung zu diesem Band herauszustellen. 3

Vgl. dazu Hartwell (1995), S. 92. Eine sehr gelungene Einführung ins Thema gibt Richard Reichel (1996). Für Reichel beginnt der deutsche Manchesterliberalismus mit der Industrialisierung um 1840 und endet ca. 1880 mit dem Beginn der protektionistischen Handelspolitik und der bismarckschen Sozialpolitik. Für diesen Zeitraum hat Reichel empirische Erhebungen gesichtet, die u. a. Rückschlüsse auf die Entwicklung der Reallöhne, der Arbeitszeit und der Arbeitslosigkeit erlauben. Laut Reichel sind für den betrachteten Zeitraum 1840–1880 die Reallöhne gestiegen (von 1850–1880 um 22 %) und die Arbeitszeiten im Durchschnitt gesunken (von 85 auf 65 Stunden pro Woche); vgl. dazu S. 112 f. Die Arbeitslosigkeit sank von 15–20 % (1830) auf 8–2 % zwischen 1840–1912 (mündliche Konversation). Die „Ausbeutungsrate“ ist demnach im deutschen Manchesterkapitalismus nicht gestiegen, sondern im Vergleich zur vorindustriellen Periode gefallen – ein Befund, der sich mit den Ergebnissen deckt, die in diesem Band hinsichtlich der anderen Industrienationen angeführt werden, d. Hrsg. 4

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Zu diesem Zweck beginnen wir mit einer trivial anmutenden Feststellung. Jeder Wissenschaftlicher, der nach Erkenntnis strebt, steht zunächst vor einem Dilemma: Soll er Neuland betreten oder soll er dort forschen, wo schon andere nach Erkenntnissen gesucht haben? Wer den ersten Weg wählt, kann nicht umhin, individuelle Wertentscheidungen in seinen Entschluss einfließen zu lassen. Denn schließlich ist er es, der entscheiden muss, welche Fragen seine wissenschaftliche Untersuchung wert sind. Trifft seine Entscheidung auf allgemeinen Zuspruch, dann kann seine Forschungsarbeit einen enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. Folgt man Hayek, dann ist den Historikern, die zum Kapitalismus geforscht haben, diese Einflussnahme gelungen – leider in höherem Maße als ihren Kollegen, die der Theoriebildung den Vorrang vor der Geschichtsschreibung eingeräumt haben, und leider auch nur mit zweifelhaftem Erfolg. Zum zwiespältigen Erfolg zählen diverse Legenden, z. B. die „von der Lageverschlechterung der Arbeiter“ im Zuge des aufkommenden „Kapitalismus“ (oder des „Fabrikwesens“ bzw. des „indus­ triellen Systems“). Man tut so, als wäre es den Arbeitern vor der industriellen Revolution besser gegangen als während derselben. Dabei war es, um mit Hayek zu sprechen, der Kapitalismus, der das Proletariat „geschaffen hat“. Die neu aufgekommene Arbeiterklasse „war also nicht ein Teil der Bevölkerung, der auch ohne ihn existiert hätte und nun auf ein niedrigeres Niveau zurückgeworfen worden wäre, sondern ein zusätzlicher Bevölkerungsteil, der durch neue Arbeitsgelegenheiten, die der Kapitalismus bereitstellte, in die Lage versetzt wurde, zu wachsen.“ Hayek erinnert auch daran, dass es in England kurioserweise nicht die Radikalen und Liberalen waren, die sich am stärksten an der Legendenbildung beteiligten, sondern die Tories. Dass aber auch in der Geschichtsschreibung das verzerrte Kapitalismusbild sich durchsetzen konnte, sei, so Hayek, der Oberhand zuzuschreiben, welche die neue „historische Methode“ gegenüber dem klassischen Ansatz in der Ökonomie – der „theoretischen Analyse“ – errungen habe. Die Schatten dieser Entwicklung seien lang und, so Hayek, trotzten immer noch der besseren Erkenntnis. „Die Forschungsergebnisse der neueren Wirtschaftsgeschichte sind zwar inzwischen etabliert, werden aber heute, eine Generation später, jenseits der Fachkreise kaum zur Kenntnis genommen.“ Warum ist das so? Warum obsiegen Theorien, die den Fakten widersprechen? Das Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis sieht derlei Fälle nicht vor. Was also sind die Gründe dieser offensichtlichen Fehlentwicklung? Für Hayek und seine Mitstreiter ist diese Grundfrage am leichtesten zu klären, wenn man gezielt drei Einzelfragen nachgeht und diese miteinander verknüpft: „Was sind die Fakten? Wie haben die Historiker sie dargestellt, und warum?“ Die ersten beiden Autoren, die ihre Antworten zu den oben genannten Fragen darlegen, sind Thomas Southcliffe Ashton und Louis Morton Hacker. Nicht nur die Beiträge, mit denen sie aufwarten, sind spannend, sondern auch die methodologische Grundfrage, die sie in ihren unterschiedlichen Herangehensweisen aufwerfen: Wo ist der ideale Ort im methodischen Spektrum? Wie soll das ideale Verhältnis von Theorie und Geschichte gestaltet sein? Ashton, der über Hacker den langen

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Schatten Sombarts aufziehen sieht, befürchtet wohl, dass der historische Ansatz (wieder einmal) zu stark geraten könnte. Stilvoll wie nonchalant, typisch britisch, bringt er seine Bedenken durch Lob und Nichtkritik zum Ausdruck. „Eine der besten historischen Verteidigungsschriften zur ökonomischen Zivilisation Amerikas wurde ganz in der Tradition Sombarts geschrieben, und zwar von Professor Hacker. Meiner bescheidenen Meinung nach hätte sie kaum etwas, wenn überhaupt, von ihrer Brillanz eingebüßt und wäre ebenso überzeugend ausgefallen, wenn sie ausschließlich in den eigenen klaren Worten von Professor Hacker verfasst worden wäre.“ In den methodologischen Gepflogenheiten mag es also durchaus Differenzen zwischen den Autoren geben, aber in Sachen Inhalt herrschen Einigkeit und Komplementarität. Ashton ist der englischen Entwicklung nachgegangen, Hacker dem amerikanischen Verlauf der Ereignisse. Ashton bemerkt zu Recht, dass die Wirtschaftshistoriker seines Landes eine vergleichsweise günstige Ausgangsposition haben. Umfangreiche Blattsammlungen (kontinuierliche Berichte der königlichen Kommissionen und Untersuchungsausschüsse aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) sollten einer einhelligen Geschichtsschreibung zuträglich sein und klären helfen, ob Fehlentwicklungen jener Periode tatsächlich  – wie die Lektüre populärer Autoren jener Zeit mutmaßen ließ – dem kapitalistischen System anzulasten sind. Die Lektüre eben jener populären Literatur sei nach wie vor beliebt, so Ashton. „Eine sorgfältige Lektüre der Berichte würde indes zu dem Schluss führen, dass vieles, das falsch lief, Resultat von Gesetzen, Gewohnheiten, Gepflogenheiten und Organisationsformen war, die früheren Perioden entstammten und rasch obsolet geworden waren.“ Wie es scheint, hat ein Großteil der Wirtschaftshistoriker die Deutung der industriellen Revolution lieber der Belletristik überlassen, als sie selbst in mühevoller Kleinarbeit aus dem reichlich vorhandenen Archivmaterial zu generieren. Und was ist das Ergebnis dieser Entwicklung, fragt Ashton. „Eine ganze Generation – der zur Sammlung der Daten die Unternehmen und die Industrie zur Verfügung standen und deren Redlichkeit darin bestand, dieselben offenzulegen, und der überdies die Energie gegeben war, Reformziele aufzustellen – hat sich dem Vorwurf ausgesetzt, nicht die Urheber der Blue Books, sondern des Übels selbst zu sein.“ Man vertraute lieber auf Philip Gaskell und Friedrich Engels und deren Verelendungstheorien als auf die eigenen Forscherqualitäten und dem, was Vertreter der eigenen Zunft inzwischen vorzulegen vermocht hatten, etwa die minutiösen Untersuchungen von Bowley und Wood, die gezeigt haben, „dass der Kurs der Reallöhne die meiste Zeit, wie auch später, nach oben verlief.“ Ähnliche Ergebnisse lassen sich laut Ashton auch für Fragen von Hygiene, Gesundheit und Wohnraum präsentieren. Populärer ist jedoch nach wie vor die These, die Dinge hätten sich andersherum verhalten und die miserablen Wohnund Lebens­verhältnisse wären dem kapitalistischen System anzulasten. „Soweit ich weiß,“ bemerkt Ashton, „hat nie ein Historiker das Problem aus der Sicht je-

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ner betrachtet, deren Aufgabe es war, die Siedlungen zu bauen und zu verwalten.“ Zu welcher Erkenntnis es führt, wenn man dieser Frage nachgeht, erfahren wir auch von Ashton: Neben externen Gründen (Einwanderung der Iren, höhere Baumaterialkosten infolge der napoleonischen Kriege etc.) bewirkten vor allem hohe staatliche Auflagen sowie fehlgeleitete fiskal- und finanzpolitische Entscheidungen (Fenstersteuern, hohe kommunale Abgaben u. ä.) eine unzureichende Antwort des Marktes auf die gestiegene Wohnraumnachfrage (oft übereilt erstellte Bruchbuden). Demzufolge wurde die Nachfrage auch nicht von den Kapitalisten befriedigt, sondern von einer anderen Gruppe der Bevölkerung. „Die Bruchbudenbauer waren im eigentlichen Sinne des Wortes keine Kapitalisten, sondern Handwerker,“ so Ashton. Ashton wirft den Wirtschaftshistorikern nicht nur eine fehlerhafte Wirtschaftsgeschichte vor, sondern auch eine mangelhafte Kenntnis der Wirtschaftstheorie, die sich in Fehlzuordnungen widerspiegele. „In Scharen von Büchern werden die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, die im 19. Jahrhundert einsetzten, der Fabrikgesetzgebung zugeschrieben.“ „Keine Theorie, keine Geschichte.“ Mit niemandem geht Ashton härter ins Gericht als mit Werner Sombart, der nicht nur jenes berühmte Diktum der gegenseitigen Bedingtheit von Theorie und Geschichte in die Welt gesetzt hat, sondern auch die Idee, der Kapitalismus lasse sich in Epochen einteilen (von Früh- über Hoch- zum Spätkapitalismus) und die historischen Gesetze bestimmten deren Abfolge und Ablösung. Ashton will nicht ausschließen, dass es auch für den Kapitalismus eine Geschichte mit Epochen (oder gar einem Ende à la Schumpeter) geben könnte. Aber er „möchte nicht, dass die Geschichte so geschrieben wird, als ob ihre Aufgabe schlicht darin bestünde, die Stufen der Unvermeidbarkeit zu schildern.“ Dass Geschichtsschreibung weit mehr könne, als Unvermeidbarkeit zu illustrieren, ist eine Idee, der Hacker viel abgewinnen kann. Ein Stufenmodell, das deterministischen wie dialektischen Fallstricken à la Marx und Sombart zu entgehen versteht, kann z. B. unterschiedliche Phasen einer systemischen Entwicklung sowie die logischen Implikationen, die mit den zeitlichen und räumlichen Überlappungen der jeweiligen Phasen einhergehen, sowohl erfassen als auch deuten. Hacker illustriert diesen Erkenntnisgewinn am Beispiel der Machtblöcke, die sich in der amerikanischen Geschichte in Gestalt der Industriekapitalisten im Norden und der Agrarkapitalisten im Süden gegenüberstanden. Es gibt laut Hacker zahlreiche, sehr eindeutige Indizien in Form positiver wie negativer Handlungen des Staates (wobei letztere in Gestalt von Enthaltungen, bestimmte politische Maßnahmen zu ergreifen, auftraten), an denen man erkennen könne, welche Machtgruppierung sich im Staat am besten durchsetzen konnte. Zwischen den Zeilen kann man herauslesen, dass Hacker an einem weitgespannten Ansatz in der Wirtschaftsgeschichte gelegen ist. Mit ihm will er sowohl den Einfluss der politischen Theorie als auch jenen der moralischen Prinzipien und der ordnungspolitischen Maßnahmen ausloten. So viel zur Methode! Was den Inhalt

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betrifft, so geht es Hacker um den Nachweis, dass die antikapitalistische Haltung amerikanischer Historiker amerikanisch zu erklären ist  – soll heißen, aus dem dauerhaften Disput zwischen Hamiltonianern und Jeffersonianern. Dieser Disput sei „mehr als nur eine Debatte über die Struktur des Staates (starke versus schwache Zentralregierung) und auch mehr als eine Uneinigkeit in Bezug auf die Frage der staatlichen Intervention (ja oder nein). Ein Teil des Problems liegt sowohl in der Frage, in welchem Interesse die Intervention liege, als auch in der Frage, welchem Zweck sie diene.“ Dass eine antikapitalistische Haltung überhaupt und dauerhaft an vornehmlich ordnungspolitischen Fragen wachsen kann, erklärt (ja entschuldigt) Hacker mit dem Hinweis, dass die USA seinerzeit ein neues, unterentwickeltes Land gewesen seien. Angesichts all dessen erscheint es sehr plausibel, dass Marx und Lenin für die Haltungsentwicklung der amerikanischen Historiker kaum eine Rolle spielten. Man hatte ja Hamilton und Jefferson. Und für die Legendenbildung brauchte es auch keine Schützenhilfe aus Übersee. Man hatte ja Beard und Myers. Man kann sagen, Hacker werbe mit den ordnungspolitischen Bedrängnissen der amerikanischen Geschichte um Verständnis für die wirtschaftshistorischen Versäumnisse seiner Zunft. Aber das heißt nicht, dass er seine Kollegen ganz aus der Verantwortung nähme. Im Gegenteil! Bei der Analyse und Aufarbeitung zentraler Grundfragen der Ökonomie (z. B. unternehmerisches Risiko) habe man gehörig versagt, meint Hacker. „Ich denke, dass die Wirtschaftshistoriker eine Teilschuld an der Fortschreibung dieser Verunglimpfung [des Kapitalismus] tragen. Sie haben die individuellen Profite erfolgreicher Unternehmen dokumentiert und keine Anstrengungen unternommen, die Verluste durch Fehlschläge gegenzurechnen.“ Der Autor des dritten Aufsatzes, Bertrand de Jouvenel, sieht im Historiker keinen Sonderfall, sondern nur einen typischen Vertreter der Haltung, welche die gesamte Intelligentsia zum Kapitalismus einnimmt. Eben jene Intelligentsia habe ihren Ursprung in der klerikalen Intelligentsia des Mittelalters. Diese wiederum sei in der Neuzeit von der säkularen Intelligentsia (vornehmlich beratende Juristen des Souveräns) abgelöst worden, welche sich seither enorm ausgebreitet habe. Was die Intellektuellen in ihrer antikapitalistischen Haltung eint, seien affektive Gründe und ethische Bedenken. Mit affektiven Gründen meint Jouvenel die Anmaßung des Intellektuellen, für die Arbeiterklasse sprechen zu können und besser als alle anderen zu wissen, was für den Menschen gut sei. Die ethischen Bedenken gelten indes der Gefahr, in die der Mensch gerate, wenn er sich im Kapitalismus instrumentalisieren lasse und seine Gier nach materiellen Gütern auslebe. Im Falle der klerikalen Intelligentsia seien Affektion und moralische Bedenken noch glaubhaft, so Jouvenel, aber im Falle der Laienintelligentsia nur vorgeschoben – die Allianz aus Intellektuellen und Arbeitern eine Fiktion. Im Gegensatz zu jener fiktiven Allianz im späten Kapitalismus habe es aber in der Frühzeit des Kapitalismus tatsächliche Allianzen gegeben. „Zwischen dem Kaufmann und dem Staatsdiener bestand ein natürliches Band der Sympathie.

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Beide wurden zwar wichtiger, aber immer noch als minderwertig behandelt. Sie hatten eine natürliche Gemeinsamkeit. Beide fungierten als Rechner, wogen ab, waren ‚rationale‘ Wesen. Zu guter Letzt gab es auch eine natürliche Allianz der Interessen von König und Kaufmann. Die Macht des Königs war mit dem Wohlstand der Nation verbunden, und dieser mit dem Unternehmen des Einzelnen.“ Mit der Ausbreitung der säkularen Intelligentsia setzte jedoch der Niedergang der vorgenannten Allianzen ein. Der Bankier und Großverdiener (l’homme d’argent) – anfänglich noch umgarnt – sei zunehmend zum Feindbild geworden. Mit Blick auf die Steuerpächter (Publikanen) kann Jouvenel dieser Einstellung sogar etwas abgewinnen. Der Publikan genoss das Vorrecht, anstelle des Königs Steuern zu erheben. Im Gegenzug führte er im Voraus eine vereinbarte Pachtsumme an die Staatskasse ab. „Der Steuerpächter vereinigte somit alle typischen Eigenschaften des ‚bösen Kapitalisten‘ auf sich, allerdings ohne dessen allgemeinen Zusatznutzen. Er produzierte nichts, er profitierte nur vom harten Auftreten seiner Erfüllungsgehilfen und wahrte sein Privileg durch Korruption. Wie paradox ist es doch, dass dieser Typus des Großverdieners bei den Intellektuellen vergangener Tage so beliebt war, während die Unbeliebtheit just zu einer Zeit das Los des Großverdieners wurde, als die Hauptquelle seines Erwerbs in der Fabrik lag, die Güter für den allgemeinen Gebrauch herstellte.“ Viel weiter reichen Jouvenels Zugeständnisse an die Intellektuellen jedoch nicht. Und das Paradox? Das Paradox erklärt er mit dem Mix aus Hybris und Heuchelei, welcher der Intelligentsia eigen sei. Für ihn stellen die Intellektuellen eine Klasse von Heuchlern, die einerseits die technologischen Errungenschaften gutheißen und andererseits die damit verbundenen Mühen verurteilen. „Diese beiden Auffassungen werden bequem miteinander versöhnt, indem man allem, was man mag, die ‚Kraft des Fortschritts‘ unterstellt, und allem, was man nicht mag, die ‚Kraft des Kapitalismus‘.“ Der Opportunismus ist der große Bruder der Heuchelei, vor allem, wenn es um weltliche Dinge geht. „Die weltliche Macht,“ so Jouvenel, „kommt in zwei Grundformen daher: Schwert und Geldbeutel. Die Intelligentsia zog den Geldbeutel vor. Nachdem die soziale Macht der Kirche liquidiert war, wendete man sich der schwerttragenden Klasse zu, vor allem dem, der das größte Schwert trug, dem politischen Souverän. Die Schwächung der kirchlichen und militärischen Macht gab der Macht des Geldes offenbar freie Hand. Doch dann kehrte die Intelligentsia erneut zurück und rief zu einem geistigen Kreuzzug gegen die Wirtschaftsführer der modernen Gesellschaft auf.“ Das Schwert des Intellektuellen sei die „Überzeugung“ – die Hybris, es besser zu wissen als die anderen. Man ist geneigt, sich von Jouvenels feiner Ironie anstecken zu lassen und anzumerken, dass jemand, der so oft die Seiten gewechselt hat wie der Intellektuelle, nichts anderes sein kann als ein Überzeugungstäter – auf jeden Fall kein Kaufmann. „Der Kaufmann bietet der Öffentlichkeit ‚Güter‘ an, also alles, was die Öffentlichkeit kaufen will. Der Intellektuelle will indes lehren,

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was ein ‚Gut‘ ist, und für ihn sind einige der angebotenen Güter Dinge ohne Wert, weshalb die Öffentlichkeit davon abgebracht werden sollte, sie zu verlangen.“ Das Buch ist zweigeteilt, ohne dass den Teilen Überschriften zugeordnet wären. Der Sinn der Zweiteilung erschließt sich indes beim Lesen. Teil 1 analysiert die Haltungen der Historiker bzw. Intellektuellen, verweist auf Einflussgrößen und Besonderheiten in den Entwicklungen der ausgewählten Länder. Teil 2 gilt der Faktenlage und den methodischen Schwierigkeiten, dieselbe für wirtschaftshistorische Schlüsse heranzuziehen. Teil 2 beginnt wie Teil 1 mit einem Beitrag von Thomas Southcliffe Ashton, und dieser hat sowohl Forschungs- als auch Lehrcharakter. „Mir geht es darum,“ so Ashton, „auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, wenn man Veränderungen im Lebensstandard arithmetisch erfassen will. Die Pioniere haben, wie so oft der Fall, zu viel auf einmal erreichen wollen. Wir müssen unsere Ambitionen begrenzen, erkennen, wie tief unsere Trickkiste reicht, und uns Verallgemeinerungen versagen. Wir können Änderungen der Reallöhne nicht messen, indem wir einen Index für Großhandelspreise oder Rabattpreise, die Institutionen gewährt werden, verwenden. Wir können nicht die Preisdaten einer bestimmten Region auf die Lohndaten einer anderen Region anwenden. Wir können nicht einfach eine Tabelle für eine lange Reihe von Jahren aufstellen, in deren Verlauf nicht nur in der Natur und im Spektrum der konsumierten Güter, sondern womöglich auch in den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen Veränderungen aufgetreten sind. Wir brauchen nicht einen Index, sondern viele Indizes, die allesamt aus den Einzelhandelspreisen abgeleitet und auf wenige Jahre beschränkt sind und die überdies nur auf eine einzelne Region Bezug nehmen, eventuell sogar nur auf eine einzelne Berufsgruppe in jener Region.“ Im Bewusstsein um all diese Herausforderungen beginnt er mit einer Skizzierung der Ausgangslage, die man als Wegmarken kennen sollte, wenn man den Lebensstandard jener Bevölkerungsgruppe ermitteln will, die sich von besagter Ausgangslage auf den Weg machte, ihr Leben zu meistern – Wegmarken wie das Bevölkerungswachstum und dessen Umstände, Kennzeichen der Lageverbesserung, Verschlechterung des Verhältnisses von Export zu Import, Preisverfall im Zuge einer fortschrittsinduzierten Kostenreduktion etc. Eingedenk der Ausgangslage liegt es für den Wirtschaftshistoriker nahe, zunächst einen Blick auf die Preise zu werfen, um die Lebenshaltungskosten zu ermitteln. Doch dieser Blick allein, warnt Ashton, reiche nicht aus, um das Wohlergehen zu erfassen. Auch die Einkommensmöglichkeiten seien zu berücksichtigen. Selbst unter Ausklammerung dieser Einflussgröße auf das Wohlergehen ist es schwierig, Preisindizes für das angestrebte Forschungsziel auszuwerten. Oft sind sie auf einen uniformen Warenkorb zugeschnitten, lassen Kosten für Haus und Miete außen vor und nehmen auf regionale oder gar gruppenspezifische Unterschiede keinerlei Rücksicht – selbst dann, wenn sie, wie Ashton zeigt, von renommierten Autoren wie John Silberling und Rufus Tucker stammen.

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Anhand dreier Tabellen mit diversen Indizes zu den Lebensmittelkosten ausgewählter Städte zeigt Ashton exemplarisch, welche Ergebnisse mithilfe einer differenzierenden Herangehensweise erreicht werden können. Differenzierende Ansätze liefern in der Regel differenziertere Ergebnisse, an denen dann wohlfundierte Tendenzen ablesbar sind. „Im Zeitraum 1790 bis 1830 stieg die Produktion sehr rasch an. Das kam immer mehr Menschen zugute, Produzenten wie auch Konsumenten. … Es gab dennoch massenhaft ungelernte oder unerfahrene Arbeiter – Saisonarbeiter auf dem Land und an den Handweb­ stühlen –, deren Einkommen von den Kosten für das Nötigste im Leben völlig aufgebraucht wurde, zumal die Preise für derlei Dinge recht hoch blieben. Nach meiner Einschätzung war die Zahl derer, die von den Vorteilen des ökonomischen Fortschritts profitierten, größer als die jener, die an denselben nicht teilhaben konnten, und wuchs zusehends. Aber man sollte zur Kenntnis nehmen, dass es beide Klassen gab.“

Mit William Hutts Ausführungen zum Fabrikwesen des frühen 19. Jahrhunderts endet der vorliegende Band. Um die positiven und negativen Auswirkungen der Industriebetriebe jener Zeit kritisch würdigen zu können, vergleicht Hutt die Parlamentsprotokolle mit den Schlussfolgerungen, die von Autoren gezogen wurden, deren Bücher gemeinhin als Standardwerke angesehen werden, z. B. die Schriften von Elizabeth Hutchins und Amy Harrison oder jene von John und Barbara Hammond. Er stellt fest, dass die erwähnten Autoren und Autorinnen dazu neigten, Unzulänglichkeiten der Zeugen- und Expertenaussagen (falschaussagende Zeugen; Experten, die keine waren) zu verkennen, und die brauchbaren Äußerungen, die vor den diversen Parlamentsausschüssen (Sadler-Komitee, Peel-Komitee, Lords-Komitee) gemacht wurden, zu ignorieren oder tendenziös auszulegen. Dadurch seien sie zu Ergebnissen gekommen, die keine wahrheitsgemäße Beschreibung des Fabrikwesens erlaubt hätten. Selbst zeitgenössische Kritiker des englischen Fabrikwesens, wie Turner Thackrah, Philip Gaskell oder Friedrich Engels, hätten manche der Schwächen eingestanden, die sich in den Ergebnissen der Ausschüsse dokumentierten. Kern der Vorwürfe gegen das Fabrikwesen waren der moralische Verfall und die gesundheitlichen Schäden (vor allem an den Fabrikkindern). Dekadenz, so Hutt, sei nun mal die Kehrseite wachsender Selbstbestimmung und steigenden Wohlstands und läge im Verantwortungsbereich des Individuums. Auch viele Verbesserungen der gesundheitlichen Lage diverser Berufsgruppen seien zunächst ausgeblieben, weil die Betroffenen bei der selbstverantwortlichen Abwägung der Risiken bestimmter Tätigkeiten (Malerkolik etc.) anfangs risikofreudiger vor­gegangen seien. Für die behaupteten Anhäufungen von Fehlbildungen und gesundheitlichen Verschlechterungen, die bei Fabrikkindern auffälliger als bei anderen Kindern aufgetreten wären, gäbe es indes, so Hutt, in der Literatur keine (eindeutigen) Belege, wohl aber methodische Schwächen beim Versuch, derlei Mut­maßungen zu untermauern. Auch für die These, die Lage der Arbeiter habe sich dank der verabschiedeten Fabrikgesetze nach und nach verbessert, findet der Autor keine Bestätigung. „Im

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Zuge steigender Reallöhne wäre die Zahl der Arbeitsstunden ohnehin gesunken und die Kinderarbeit verschwunden, mit oder ohne Gesetzgebung. Beide sind eine Funktion der Nachfrage nach Freizeit, und Freizeit wird erst dann nachgefragt, wenn vorrangigere Bedürfnisse des Menschen hinreichend befriedigt sind.“ Aus Sicht von Hutt hat man in der Literatur den Nutzen der Fabrikgesetze überhöht und die Nachteile, die mit der Gesetzgebung einhergingen (Auswirkungen auf die Produktion), ignoriert – ein wirtschaftshistorisches Versäumnis. So viel zum Inhalt und zu den Autoren des Bandes. Hier und da wurden moderate Ergänzungen zu Sachverhalten, historischen Ereignissen und zeitgenössischen Personen vorgenommen. Sie sollen dem Leser die Einordnung der Geschehnisse und Hintergründe, auf welche die Autoren anspielen, erleichtern. Ansonsten wurde am Übersetzungsprinzip der Schriftenreihe festgehalten, d. h., es wurde nach Kräften versucht, den Stil der Autoren zu wahren, „werktreu“ zu bleiben (auch bei den Titeln), und vom Prinzip nur abzuweichen, wenn dafür gute Gründe vorlagen. Allerdings gab es wenig Anlass zu Ausnahmen, auch bei den Titeln. So spricht z. B. Bertrand de Jouvenel im Titel seines Beitrags von „Continental Intellectuals“. Diesen Begriff mit „Intellektuelle des Kontinents“ oder „kontinentale Intellektuelle“ zu übersetzen, wäre eher ungelenk gewesen und hätte sehr unschön geklungen. Da Europa als Kontinent gemeint ist, schien der Terminus „Europas Intellektuelle“ geschmeidiger zu sein und mehr Wohlklang zu erzeugen. Für den Literaturapparat wurde – wie schon bei anderen Bänden dieser Reihe – die in den Aufsätzen verwendete Literatur zusammengeführt, alphabetisch geordnet und um die fehlenden Angaben ergänzt, um den Zitierusancen der Schriftenreihe zu genügen. Zu guter Letzt will ich an all diejenigen erinnern, die zum Gelingen des Bandes beigetragen haben: vor allem an die Friedrich August von Hayek-Gesellschaft, Berlin, für ihre großzügige Unterstützung bei der Übersetzung und Herausgabe dieses Buches, aber auch an die Taylor & Francis Group, Milton Park Abingdon, für die freundliche Genehmigung, eine deutsche Ausgabe herausbringen zu dürfen, sowie an Prof. Dr. Barbara Dluhosch für diverse terminologische Hinweise, und an all jene, die mir auf andere Weise bei der Umsetzung des Projekts zur Seite standen. Ihnen allen sei Dank. Etwaige Fehler gehen indes allein auf mein Konto. 

Hardy Bouillon

Im Namen des amerikanischen Volkes überreicht die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika dem indischen Volk dieses Buch als Ausdruck der Freundschaft und der Zuneigung

Vorwort von Friedrich August von Hayek Die ersten drei Aufsätze in diesem Band wurden ursprünglich aus Anlass einer Versammlung vorgestellt, zu der sich eine internationale Gruppe aus Ökonomen, Historikern und Sozialphilosophen zusammengefunden hat, die seit einigen Jahren als Mont Pèlerin Gesellschaft firmiert und regelmäßig zusammenkommt, um Probleme zu diskutieren, die mit dem Erhalt einer freien Gesellschaft angesichts totalitärer Bedrohungen verbunden sind. Eines der Themen, das die Gesellschaft bei ihrer Zusammenkunft im September 1951 in Beauvallon, Frankreich, zur Diskussion stellte, betraf die Haltung der Historiker zum Kapitalismus. Von den vier Aufsätzen, die der späteren Diskussion als Ausgangspunkt dienten, ist jener von Professor Max Silberschmidt, Zürich, leider nicht in einer schriftlichen Fassung vorhanden. Es gibt auch keine Mitschrift der lebhaften Diskussion, die sich den Vorträgen anschloss. Unter den Diskussionsteilnehmern entstand der Wunsch, die geschriebenen Aufsätze der Nachwelt in Buchform zu erhalten. Zudem wurde angeregt, die Publikation durch frühere Arbeiten zu verwandten Themen, die aus der Feder einiger Gesellschaftsmitglieder stammen, zu bereichern. Mit der Ausführung dieses Plans betraut, habe ich auf den folgenden Seiten versucht, die weitreichende Bedeutung des Problems im Rahmen einer Einleitung zu schildern, die sich auf vieles stützt, das ich aus der Diskussion gelernt habe. Der zweite Aufsatz, den Professor Ashton zu diesem Band beigesteuert hat, erschien ursprünglich im Journal of Economic History, Supplement 9, 1949, und jener von Professor Hutt 1926 in der Märzausgabe der Zeitschrift Economica. Den Herausgebern und Verlagen der beiden Journale bin ich für die Genehmigung zum Wiederabdruck der beiden Aufsätze zu Dank verpflichtet.

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Geschichte und Politik (F. A. von Hayek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus (T. S. Ashton) . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Die antikapitalistische Voreingenommenheit unter amerikanischen Historikern (L. M. Hacker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Europas Intellektuelle und ihr Umgang mit dem Kapitalismus (B. de Jouvenel) . . . . . 68 Teil 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Der Lebensstandard der Arbeiter in England zwischen 1790 und 1830 (T. S. Ashton) 85 5. Das Fabrikwesen im frühen 19. Jahrhundert (W. H. Hutt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Einleitung Geschichte und Politik Friedrich August von Hayek Zwischen politischer Meinung und historischer Deutung hat es schon immer eine enge Verbindung gegeben. Das muss auch so sein. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit sind die eigentliche Grundlage für unsere Überzeugungen hinsichtlich der Wünschenswürdigkeit, die wir politischen Maßnahmen und Institutionen zuschreiben. Und die herrschenden politischen Auffassungen wiederum beeinflussen und färben, wie wir die Vergangenheit auslegen. Die Annahme, der Mensch lerne nichts aus der Geschichte, mag vielleicht zu pessimistisch sein, aber man darf schon fragen, ob er immer die Wahrheit von ihr lernt. Gewiss sind die Ereignisse der Vergangenheit eine Quelle der Erfahrung, aus der die menschliche Spezies schöpft, aber deren Meinungen werden nicht durch objektive Fakten bestimmt, sondern durch die Aufzeichnungen und Auslegungen, die den Menschen zugänglich sind. Kaum jemand wird bestreiten, dass unsere Ansichten zu den Vorund Nachteilen der verschiedenen Institutionen weitgehend von den Auswirkungen abhängen, die sie unseres Erachtens in der Vergangenheit hatten. Kaum ein politisches Ideal oder Prinzip enthält keinerlei Meinung zu all dem, was früher alles geschah, und nur wenige historische Aufzeichnungen dienen nicht als Symbol für das eine oder andere politische Ideal. Gleichwohl stehen die historischen Überzeugungen, die uns in der Gegenwart lenken, nicht immer im Einklang mit den Fakten. Gelegentlich sind sie sogar eher das Ergebnis als die Ursache politischer Überzeugungen. Historische Mythen dürften die Meinungsbildung kaum weniger geformt haben als historische Tatsachen. Mithin können wir wohl kaum hoffen, von den Erfahrungen in der Vergangenheit zu profitieren, es sei denn, die Fakten, aus denen wir unsere Schlüsse ableiten, sind korrekt. Der Einfluss, den die Geschichtsschreiber auf die öffentliche Meinung ausüben, ist wahrscheinlich unmittelbarer und umfassender als jener, den politische Theoretiker ausüben, wenn sie neue Ideen in die Welt setzen. Zudem scheinen derlei neue Ideen weitere Kreise oft nicht in ihrer abstrakten Form, sondern eher in Form von Ereignisinterpretationen zu erschließen. In dieser Hinsicht ist der Historiker der Macht über die öffentliche Meinung näher als der Theoretiker. Lange bevor der Historiker als Fachmann seine Feder ergreift, haben die aktuellen Debatten zu den Ereignissen der Vergangenheit ein oder gar mehrere feste Bilder von denselben vorgefertigt und nehmen auf diese Weise genauso Einfluss auf die gegenwärtige Diskussion wie auf jede weitere Einschätzung, die aufgrund der neuen Lage erfolgt.

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Einleitung

Den tiefgreifenden Einfluss, den die Geschichtsauffassungen der Gegenwart auf die politische Meinung haben, hat man früher womöglich besser verstanden als heute. Einer der Gründe mag darin liegen, dass viele moderne Historiker vorgeben, rein wissenschaftlich und politisch völlig vorurteilsfrei zu sein. Zweifellos ist dies die gebotene Pflicht des Gelehrten, soweit es die historische Forschung, also die Feststellung der Fakten betrifft. Und man kann durchaus mit Fug und Recht die Frage stellen, warum Historiker mit unterschiedlichen politischen Ansichten nicht in der Lage sein sollten, in Faktenfragen übereinzustimmen. Aber am Anfang, wenn man über die Fragen entscheidet, die der Untersuchung wert sind, kann man nicht umhin, individuelle Werturteile einfließen zu lassen. Und es ist mehr als fraglich, ob man über eine zusammenhängende Epoche oder eine Folge von Ereignissen überhaupt schreiben kann, ohne sie im Lichte der Theorien bezüglich der miteinander verwobenen gesellschaftlichen Prozesse oder gar im Lichte bestimmter Werte zu betrachten – zumindest dann, wenn man eine Geschichte schreiben will, welche die Lektüre lohnt. Historiographie ist, in Abgrenzung zur historischen Forschung, genauso eine Kunst wie eine Wissenschaft. Nicht nur das! Der Geschichtsschreiber, der sich an ihr versucht, ohne sich im Klaren zu sein, dass seine Aufgabe in der Interpretation liegt, die im Lichte bestimmter Werte erfolgt, wird sich erfolgreich selbst täuschen und Opfer seiner unbewussten Vorurteile werden. Dass eine Gruppe von Historikern mit ihren Werken das gesamte politische Ethos einer Nation mehr als ein Jahrhundert lang – und das vieler anderer Nationen des Westens ebenfalls, allerdings nicht ganz so lange – formen kann, lässt sich wohl kaum besser veranschaulichen als durch das Beispiel, das englische Historiker im Zuge ihrer „Whig-Interpretation of History“1 gegeben haben. Man übertreibt wohl kaum, wenn man behauptet, dass jeder zweite, der seine erste Bekanntschaft mit den Werken jener politischen Philosophen gemacht hat, die der liberalen Tradition den Weg geebnet haben, sein Wissen aus den Schriften von Männern wie Hallam und Macaulay oder Grote und Lord Acton aufgesaugt hat. Es spricht für sich, dass jener englische Historiker der Moderne, der mehr als alle anderen darum bemüht war, die Whig-Tradition zu diskreditieren, später geschrieben hat, dass „jene, die, vielleicht aus jugendlichem Übermut, den Wunsch hatten, die Whig-Interpretation zu vergraulen … in einem Zimmer aufgeräumt haben, das, menschlich gesehen, nicht lange leer bleiben kann. Sie öffnen sieben neuen Teufeln die Tür, die, weil sie nun mal Neulinge sind, nicht anders können, als schlimmer zu sein als der erste.“2 Und er betont, obwohl er immer noch meint, „Whig-Geschichte“ sei „falsche“ Geschichte, dass sie „einer unserer Pluspunkte war“ und „einen wunderbaren Einfluss auf die englische Politik hatte.“3

1

Anspielung auf das gleichnamige Buch von Herbert Butterfield aus dem Jahre 1931; d. Hrsg. 2 Butterfield (1931), S. 3. 3 Butterfield (1931), S. 7.

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Ob die „Whig-Geschichte“ in irgendeiner relevanten Hinsicht tatsächlich eine falsche Geschichte ist oder nicht, ist eine Frage, zu der das letzte Wort zwar noch nicht gefallen ist, hier jedoch nicht diskutiert werden kann. Die Vorteilhaftigkeit, die mit der Entstehung der grundsätzlich liberalen Atmosphäre im 19. Jahrhundert einherging, steht außer Frage und war gewiss keine Folge fehlgedeuteter Fakten. Whig-Geschichte war vor allem politische Geschichte, und die entscheidenden Tatsachen, auf denen sie aufbaute, waren zweifellos bekannt. Sie mag nicht in jeder Hinsicht den modernen Standards der Geschichtsforschung entsprechen, aber sie hat ganz gewiss den unter ihr heranwachsenden Generationen einen Sinn für den Wert jener politischen Freiheit vermittelt, die ihre Vorfahren für sie erstritten haben, und der Nachwelt als Kompass zur Bewahrung des Errungenen gedient. Mit dem Untergang des Liberalismus kam die Whig-Interpretation der Geschichte außer Mode. Ob die Geschichte jetzt, da sie wissenschaftlicher zu sein behauptet, in jenen Bereichen, in denen sie die politische Meinung am stärksten beeinflusst, ein verlässlicherer oder vertrauenswürdigerer Cicerone geworden ist, darf mehr als nur bezweifelt werden. Die politische Geschichte hat fürwahr viel von ihrer Macht und Faszination, die sie im 19. Jahrhundert noch hatte, eingebüßt. Und es ist fraglich, ob es in unserer Zeit irgendein historisches Werk gibt, das ähnlich weit verbreitet oder einflussreich ist, wie es beispielsweise Macaulay’s History of England4 war. Auch das Ausmaß, in dem die politischen Ansichten der Gegenwart von den historischen Glaubensbeständen eingefärbt sind, ist gewiss nicht geschrumpft. Nachdem das Interesse vom konstitutionellen Bereich auf den sozialen und ökonomischen Bereich übergegangen ist, sind auch die als Antriebskräfte fungierenden historischen Glaubensbestände inzwischen nur noch eine reine Glaubenssache in Bezug auf die ökonomische Geschichte. Man kann wohl mit Recht von einer sozialistischen Interpretation der Geschichte reden, die das politische Denken der letzten zwei, drei Generationen gelenkt habe und hauptsächlich in einer speziellen Sicht auf die Wirtschaftsgeschichte zum Ausdruck komme. Besonders auffällig an dieser Sichtweise ist, dass die meisten Behauptungen, denen sie den Status „allseits bekannte Tatsachen“ verliehen hat, längst nachweislich gar keine Fakten sind. Gleichwohl werden sie nach wie vor, sieht man einmal vom Kreise der ernsthaften Wirtschaftshistoriker ab, allgemein als Grundlage zur Einschätzung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Ordnung akzeptiert. Die meisten Menschen, denen man sagen würde, ihre politischen Überzeugungen seien von bestimmten wirtschaftshistorischen Auffassungen geprägt, würden wohl sagen, dass Letzteres sie nie interessiert habe und sie nie ein Buch zu diesem Thema gelesen hätten. Das heißt jedoch nicht, dass sie, wie alle anderen auch, viele der Legenden, die zu dieser oder jener Zeit von Autoren der Wirtschaftsgeschichte in Umlauf gebracht wurden, nicht für bare Münze gehalten hätten. Obwohl der Historiker in diesem indirekten und weitreichenden Prozess, in dessen Verlauf neue politische Ideen die breite Öffentlichkeit erreichen, eine Schlüsselrolle spielt, 4

Gemeint sind George Macaulay Trevelyan und dessen opus magnum von 1926, d. Hrsg.

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Einleitung

muss auch er viele Stationen durchlaufen. Das Bild, das er bereitstellt, muss erst mehrfach zurechtgerückt werden, bevor es Allgemeingut wird. Ohne Romane und Zeitschriften, Kino und politische Reden sowie Schule und allgemeines Gerede würde der einfache Mann auf der Straße keine Vorstellung von der Geschichte haben. Und am Ende sehen auch jene, die nie ein Buch gelesen haben und die Namen der Historiker, die sie beeinflusst haben, nie zu Ohren bekamen, die Vergangenheit durch deren Brille. Bestimmte Glaubensvorstellungen sind inzwischen ein fester Bestandteil unserer gegenwärtigen Folklore geworden: Vorstellungen zur Entwicklung der Gewerkschaften und deren Auswirkungen, zum angeblich progressiven Wachstum der Monopole, zur bewussten Zerstörung der Rohstoffmärkte im Zuge des Wettbewerbs (ein Resultat, das in Wirklichkeit immer die Folge eines Monopols, meistens eines staatlichen Monopols gewesen ist), zur Unterdrückung vorteilhafter Interventionen oder zu den Ursachen und Auswirkungen des „Imperialismus“ sowie zur Rolle der Rüstungsindustrie bzw. der „Kapitalisten“ als Kriegsverursacher schlechthin. Die meisten Menschen wären überrascht, wenn sie hörten, dass das meiste von dem, was sie zu diesen Themen glauben, keine gesicherten Fakten, sondern Mythen sind, die aus politischen Motiven heraus gestreut und dann von wohlmeinenden Menschen weitergetragen wurden, zu deren Glaubensvorstellungen sie gut passten. Es bräuchte schon einige Bücher, wie dieses hier, um zu zeigen, dass der Großteil dessen, was in diesem Themenbereich gemeinhin geglaubt wird – und zwar nicht nur von Radikalen, sondern auch von vielen Konservativen  –, nicht Geschichte, sondern politische Legendenbildung ist. Alles, was wir in Bezug auf diese Fragen tun können, ist, den Leser auf einige Werke hinzuweisen, damit sie sich anhand der wichtigeren dieser Werke ein Bild über den gegenwärtigen Wissensstand machen können.5 Es gibt jedoch einen alles überragenden Mythos, der mehr als alle anderen Mythen der Diskreditierung jenes Wirtschaftssystems dienlich war, dem wir unsere gegenwärtige Zivilisation verdanken und dessen Untersuchung der vorliegende Band gewidmet ist. Gemeint ist die Legende von der Lageverschlechterung der Arbeiter im Zuge des aufkommenden „Kapitalismus“ (oder des „Fabrikwesens“ bzw. des „industriellen Systems“). Wer hat noch nicht von den „Schrecken des Frühkapitalismus“ gehört und den Eindruck gewonnen, dass mit dem Aufkommen dieses Systems unerhörte neue Leiden über weite Teile der Bevölkerung hereingebrochen wären, die zuvor relativ zufrieden und angenehm gelebt hätten? Ein System, dem man anlastet, über einen gewissen Zeitraum die Lage der ärmsten und an Zahl reichsten Klasse der Bevölkerung verschlechtert zu haben, würden wir wohl zurecht in Verruf bringen. Die weitverbreitete und gefühlsbestimmte Aversion gegen den „Kapitalismus“ ist eng mit der Annahme verbunden, dass das nicht zu verleugnende Wohlstandswachstum, das die Wettbewerbsordnung her-

5 Vgl. George (1927), Hutt (1930, 1936), Robbins (1939a, 1939b), Sulzbach (1942), Stigler (1949), Nutter (1951) sowie (zu den meisten dieser Probleme) die Schriften von Mises, insbesondere Mises (1936).

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vorgebracht hat, auf dem Rücken der Schwächsten in der Gesellschaft und deren Lebensstandard erkauft worden sei. Dass dem so gewesen sei, wurde in der Tat für einige Zeit von Wirtschaftshistorikern hinlänglich gelehrt. Eine sorgfältige Sichtung der Fakten hat indes zu einer umfassenden Widerlegung dieses Glaubens geführt. Aber auch heute, 20 Jahre nach Beilegung der Kontroverse, glaubt man in der Öffentlichkeit immer noch, dass der alte Glaube wahr gewesen wäre. Wie es überhaupt zu diesem Glauben kam und warum er auch über seine Widerlegung hinaus die allgemeine Sichtweise noch lange dominieren sollte, sind Fragen, die einer sorgfältigen Klärung bedürfen. Besagte Meinung findet sich nicht nur durchgängig in der politischen Literatur, die dem Kapitalismus ablehnend gegenübersteht, sondern auch in Werken, die im Großen und Ganzen der politischen Tradition des 19. Jahrhunderts wohlgesonnen begegnen. In Ruggieros zu Recht gerühmter History of European Liberalism findet man sie an einer Stelle recht gut wiedergegeben: „Exakt zu jener Zeit, als das industrielle Wachstum seinen Höhepunkt erreicht hatte, änderten sich also die Bedingungen für die Arbeiter zum Schlechteren. Die Arbeitsstunden am Tag lagen außerhalb des Vorstellbaren. Die Beschäftigung von Frauen und Kindern ließ die Löhne sinken. Der ausgeprägte Wettbewerb unter den Arbeitern selbst, die nicht länger an ihren Ursprungsort gebunden waren, sondern frei umherziehen konnten, und sich dort anhäuften, wo die Nachfrage nach ihnen am größten war, verbilligte die Arbeit, die sie am Markt feilboten, zusätzlich. Zahlreiche und regelmäßige industrielle Krisen, die in Wachstumszeiten unvermeidlich sind, wenn Bevölkerung und Konsum sich noch nicht gefestigt haben, ließen nach und nach die Reihen der Arbeitslosen anschwellen, und damit auch die Reservearmee der Verelendung.“6

Für derlei Aussagen gab es auch vor einem Vierteljahrhundert, als Ruggiero die oben zitierten Sätze schrieb, eigentlich keine Entschuldigung. Ein Jahr nach der Ersterscheinung monierte einer der berühmtesten Forscher der modernen Wirtschaftsgeschichte, Sir John Clapham, zu Recht: „Die Legende, der zufolge die Lage für die Arbeiterklasse immer schlimmer wurde, und zwar irgendwann zwischen der People’s Charter und der Londoner Industrieausstellung 1851, ist kaum totzukriegen. Der Umstand, dass nach dem Preisverfall 1820/1821 die allgemeine Kaufkraft – nicht allerdings die Kaufkraft eines jeden – definitiv höher war als noch in der Zeit vor der Revolution und den Napoleonischen Kriegen, passt zu dieser Sichtweise so schlecht, dass er nur selten erwähnt wird. Die Arbeiten der Lohn- und Preisstatistiker werden von den Sozialhistorikern immer wieder ignoriert.“7

Was die öffentliche Meinung betrifft, so ist die heutige Lage kaum besser, obgleich die Tatsachen auch von denen anerkannt werden mussten, die am meisten für die Ausbreitung der gegenteiligen Meinung gesorgt haben. Nur wenige Autoren 6

Ruggiero (1927), S. 47, siehe auch S. 85. Ruggiero scheint interessanterweise seine Fakten hauptsächlich von einem anderen vermeintlich liberalen Historiker entlehnt zu haben, nämlich von Élie Halévy. Halévy hat sie allerdings nie so grobschlächtig präsentiert. 7 Clapham (1926), S. 7.

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Einleitung

haben mehr als Herr und Frau Hammond den Glauben genährt, das 19. Jahrhundert sei eine Epoche gewesen, in der sich die Lage der Arbeiterklasse besonders verschlimmert habe. Die häufigen Zitate aus ihren Büchern illustrieren diesen Umstand. Am Ende ihres Lebens haben sie indes freimütig eingeräumt, dass „die Statistiker uns lehren, dass sie bei der Zusammenstellung der gefundenen Daten mit Befriedigung feststellten, dass damals, als die Stimmen der Unzufriedenheit laut und lebhaft wurden, die Einkommen gestiegen und die meisten Männer und Frauen weniger arm waren als zu jener Zeit, als das 18. Jahrhundert wie ein ruhiger Herbst sich seinem Ende zuneigte. Die Evidenz ist natürlich dürftig und ihre Interpretation nicht ganz einfach, aber diese generelle Sichtweise ist wahrscheinlich doch mehr oder weniger korrekt.“8

Dieses Zugeständnis konnte die allgemeinen Auswirkungen ihrer Werke auf die öffentliche Meinung jedoch kaum ändern. In einer der jüngeren Fachuntersuchungen zur Geschichte der politischen Tradition des Westens kann man z. B. immer noch lesen, dass, „wie alle großen gesellschaftlichen Experimente, die Erfindung des Arbeitsmarktes indes teuer war. Ihr folgte vor allem ein rascher und drastischer Niedergang des materiellen Lebensstandards der Arbeiterklasse.“9 Ich war gerade damit befasst, weiter auszuführen, wie diese Sichtweise fast überall die populäre Geschichtsschreibung durchzieht, als mir das neueste Buch von Bertrand Russell in die Hände fiel, der, so als ob er meine Auffassung bestätigen wollte, unverblümt behauptet: „Die industrielle Revolution hat unsägliches Leid über England und Amerika gebracht. Ich glaube nicht, dass irgendein Forscher der Wirtschaftsgeschichte daran zweifeln kann, dass das durchschnittliche Glücksgefühl im England des 19. Jahrhunderts unter dem lag, das hundert Jahre zuvor herrschte; und all dies nur wegen der wissenschaftlichen Technik.“10

Man kann es dem aufgeweckten Laien kaum anlasten, wenn er glaubt, dass ein derartiges Grundsatzurteil aus dem Munde dieses Denkers von Rang wahr sein müsse. Wenn ein Bertrand Russell dies glaubte, dann darf es uns kaum wundern, dass jene Versionen der Wirtschaftsgeschichte, die sich heute in Tausenden Taschen­buchausgaben wiederfinden, meistens so geartet sind, dass sie diesen alten Mythos versprühen. Wenn man einmal auf ein geschichtsliterarisches Werk trifft, das auf die dramatisierende Note verzichtet, welche die Geschichte von der plötzlichen Verelendung großer Arbeitergruppen bereithält, dann ist dies eher die seltene Ausnahme. Die Wahrheit vom langsamen und unregelmäßigen Fortschritt der Arbeiterklasse, der, wie wir inzwischen wissen, tatsächlich stattgefunden hat, ist natürlich weniger sensationsbehaftet und für den Laien eher uninteressant. Sie ist nicht mehr als der gewöhnliche Sachverhalt, den er zu erwarten gelernt hat. Deshalb kommt es ihm auch kaum in den Sinn, dass es sich hier um einen unvermeidlichen Fort 8

Hammond / Hammond (1947), S. 15. Watkins (1948), S. 213. 10 Russell (1951), S. 19 f. 9

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schritt handelt, dem viele Jahrhunderte vorausgegangen sind, in denen die Lage der Ärmsten buchstäblich stagnierte, und dass eine Phase der kontinuierlichen Verbesserung vor uns liegt, allein aufgrund der Erfahrungen, die etliche Generationen mit jenem System gemacht haben, von dem er denkt, es wäre die Ursache für das Elend der Armen. Diskussionen, die über die Auswirkungen geführt werden, die mit dem Beginn der modernen Industrie für die Arbeiterklasse aufgetreten sind, nehmen fast immer Bezug auf die Bedingungen im England des frühen 19. Jahrhunderts. Die große Veränderung, auf die sie sich beziehen, hatte indes viel früher eingesetzt und bereits eine lange Geschichte hinter sich, die weit über England hinausreicht. Die Freiheit wirtschaftlichen Handelns, die in England unter Beweis gestellt hatte, wie vorteilhaft sie für wirtschaftliches Wachstum ist, war wahrscheinlich in erster Linie ein zufälliges Nebenprodukt der Beschränkungen, welche die Revolution im 17. Jahrhundert der staatlichen Gewalt auferlegt hatte. Und erst, nachdem die vorteilhaften Effekte allseits bekannt geworden waren, haben die Ökonomen damit begonnen, den Zusammenhang zu erklären und für die Beseitigung jener Schranken der Wirtschaftsfreiheit zu plädieren, die noch verblieben waren. Es ist in vielerlei Hinsicht irreführend, von „Kapitalismus“ zu sprechen, als ob dieser ein neues und vollkommen anderes System gewesen wäre, das plötzlich Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommen sei. Wir benutzen den Terminus hier, weil er der gebräuchlichste ist, tun dies aber mit großem Widerwillen, weil er mit seinen modernen Untertönen weitgehend eine Kreation der sozialistischen Auslegung jener Wirtschaftsgeschichte ist, mit der wir uns befassen. Der Begriff ist insbesondere dann irreführend, wenn mit ihm, wie so oft, die Idee verknüpft wird, damals sei das mittellose Proletariat aufgekommen, das durch einen heimtückischen Prozess um die rechtmäßige Eigentümerschaft an seinen eigenen Produktionsmitteln gebracht worden sei. Die wirkliche Geschichte der Verbindung des Kapitalismus mit dem aufkommenden Proletariat ist nahezu das Gegenteil von dem, was die Theorien von der Enteignung der Massen nahelegen. Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte sieht die Wirklichkeit anders aus: In der Regel war für die meisten Menschen der Besitz ihrer Produktionsmittel eine Grundvoraussetzung, um überleben oder eine Familie ernähren zu können. Die Anzahl derer, die sich über Wasser halten konnten, indem sie für andere gearbeitet haben, ohne dafür die notwendige Ausstattung zu besitzen, bildete nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Die Flächen mit fruchtbarem Land und die Anzahl der vorhandenen Werkzeuge, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, legten die Zahl derer fest, die überleben konnten. Wer ohne auskommen musste, war in den meisten Fällen zum Hungertod verdammt oder blieb zumindest kinderlos. Für die bestehende Generation gab es wenige Anreize und Möglichkeiten, jene zusätzlichen Werkzeuge anzuschaffen, die einer zahlenstärkeren Folgegeneration das Überleben ermöglicht hätten. Solange der Vorteil, zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen, nur auf die Fälle beschränkt blieb, in denen die Arbeitsteilung die Effizienz jener steigerte, die Eigentümer der

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Produktionsmittel waren, änderte sich nichts. Erst als der Einsatz von Maschinen größere Gewinne abwarf und damit die Mittel und Möglichkeiten bot, dieselben zu investieren, war es wiederkehrenden Überbevölkerungen, die zuvor zum frühen Tod verurteilt waren, zunehmend möglich, zu überleben. Die Zahlen, die viele Jahrhunderte praktisch stagnierten, stiegen nun rapide. Das Proletariat, von dem man sagen kann, dass der Kapitalismus es „geschaffen“ hat, war also nicht ein Teil der Bevölkerung, der auch ohne ihn existiert hätte und nun auf ein niedrigeres Niveau zurückgeworfen worden wäre, sondern ein zusätzlicher Bevölkerungsteil, der durch neue Arbeitsgelegenheiten, die der Kapitalismus bereitstellte, in die Lage versetzt wurde, zu wachsen. Indem das Anwachsen des Kapitals das Aufkommen des Proletariats ermöglicht hat, stieg auch die Produktivität der Arbeit so sehr, dass viele, die von ihren Eltern nicht mit den notwendigen Werkzeugen ausgestattet waren, in die Lage kamen, sich durch ihre Arbeit allein am Leben zu erhalten. Das Kapital musste jedoch bereitgestellt werden, bevor jene überlebensfähig gemacht wurden, die hinterher ein Eigentumsrecht auf einen Teil desselben für sich reklamiert haben. Wenn es auch sicherlich nicht aus Wohltätigkeitsgründen geschah, so war es doch das erste Mal in der Geschichte, dass viele Menschen es als in ihrem Interesse ansahen, ihre Ersparnisse im größeren Rahmen für die Beschaffung von Produktionswerkzeugen bereitzustellen, die von jenen bedient wurden, die ohne diese Werkzeuge für ihren eigenen Erhalt nicht hätten sorgen können. Von den Auswirkungen, welche die aufkommende moderne Industrie auf das Bevölkerungswachstum hatte, zeichnet die Statistik ein lebendiges Bild. Dass dieses Bild dem gemeinen Glauben an die schädlichen Auswirkungen des Fabrik­ wesens auf die großen Massen weitgehend widerspricht, ist nicht das, womit wir hier befasst sind. Wir müssen auch nicht weiter auf die Tatsache verweisen, dass in der Zeit, in der die Zahl jener Menschen wuchs, deren Arbeitsausstoß ein bestimmtes Niveau und ein entsprechend großes Bevölkerungswachstum nach sich gezogen hat, das Niveau der ärmsten Randgruppe – ungeachtet der Verbesserungen für die breite Bevölkerung – nicht wesentlich gehoben werden konnte. Unmittelbar relevant ist jedoch die Tatsache, dass das Bevölkerungswachstum, vor allem das der industriell arbeitenden Bevölkerung, in England bereits zwei, drei Generationen vor dem Beginn jener Ära stattgefunden hat, von der behauptet wird, dass sie die Lage der Arbeiter erheblich verschlechtert hätte. Die Ära, um die es hier geht, ist also jene Zeit, in der das Lageproblem der arbeitenden Klasse zum ersten Mal zu einem allgemeinen Anliegen wurde. Und die Meinungen einiger Zeitgenossen von damals sind tatsächlich die hauptsäch­liche Quelle dessen, was heute geglaubt wird. Unsere erste Frage muss daher sein, wie es dazu kam, dass so viele der damals lebenden Menschen einen Eindruck gewinnen konnten, der den Tatsachen widersprach. Einer der Hauptgründe ist offenkundig die zunehmende Erkenntnis von Tat­ sachen, die vorher niemandem aufgefallen waren. Gerade das Wachstum an Wohlstand und Wohlergehen, das man inzwischen erreicht hatte, ließ die Standards und

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Sehnsüchte steigen. Was jahrelang als eine natürliche und unvermeidbare Situation bzw. als eine Verbesserung betrachtet wurde, die nur die Vergangenheit betraf, wurde als etwas angesehen, das mit den Möglichkeiten, die das neue Zeitalter zu bieten schien, unvereinbar war. Die wirtschaftliche Not fiel mehr ins Auge und galt auch als weniger gerechtfertigt, zumal der allgemeine Wohlstand schneller wuchs als je zuvor. Doch das beweist natürlich noch lange nicht, dass die Menschen, deren Schicksal Empörung und Aufruhr auszulösen begann, schlechter als ihre Eltern oder Großeltern gelebt hätten. Während es für das große Elend, das bestand, hinreichend Evidenz gab, haben wir keinerlei Belege dafür, dass dasselbe größer war als vorher, oder auch nur annähernd so groß wie früher. Die vielen billigen Behausungen in den Arbeitersiedlungen waren gewiss hässlicher als die malerischen Hütten, in denen so manche Landarbeiter oder Dienstboten wohnten. Gewiss waren sie für die Grundbesitzer und Stadtadligen besorgniserregender als die Unterkünfte der Armen, die auf dem Land verstreut lebten. Aber für jene, die vom Land in die Stadt zogen, bedeuteten sie eine Verbesserung. Und obschon das rapide Wachstum in den Industrieballungsräumen sanitäre Probleme verursachte, mit denen die Menschen langsam und leidvoll umzugehen lernen mussten, lässt die Statistik kaum einen Zweifel daran, dass dies selbst für die Gesundheit im Großen und Ganzen eher vorteilhaft als nachteilig war.11 Für die besagte Haltung, auf die vieles von dem, was heute über die Auswirkungen der beginnenden Industrialisierung auf die Arbeiterklassen geglaubt wird, zurückverfolgt werden kann, findet sich eine schöne Illustrierung in einem Brief aus der Zeit um 1843, den eine Londoner Dame, Frau Cooke Taylor, nach ihrem ersten Besuch eines Industrieviertels in Lancashire geschrieben hat. Der Darstellung der Lebensbedingungen, die sie vor Ort antraf, sind einige Bemerkungen zur allgemeinen Geisteshaltung in London vorangestellt: „Ich muss Sie nicht an die Äußerungen erinnern, die in den Zeitungen kursieren und sich auf die miserablen Bedingungen der Bediensteten und der Tyrannei ihrer Herrschaft beziehen. Sie haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen und ließen mich nur widerstrebend mein Einverständnis für einen Besuch von Lancashire geben. Die verzerrten Darstellungen sind in der Tat Allgemeingut, und die Menschen glauben sie, ohne zu wissen, warum und wozu. Nur als Beispiel: Kurz vor meiner Abreise war ich bei einer Abendgesellschaft im Westend der Stadt und saß neben einem Herrn, der als ein sehr gescheiter und intelligenter Mann gilt. Im Verlauf der Unterhaltung erwähnte ich, dass ich nach Lancashire reisen würde. Er starrte mich an und fragte: ‚Was in aller Welt könnte mich dorthin führen? Ich würde sofort denken, ich käme nach St. Giles. Das ist ein schrecklicher Ort – überall Fabriken. Hunger, Unterdrückung und Überarbeitung haben die Menschen dort alle Formen der Humanität verlieren lassen. Und die Mühlenbesitzer sind eine aufgeblasene und verhätschelte Spezies, die sich vom Lebensnotwendigsten der Menschen ernährt.‘ Ich antwortete, dies seien fürchterliche Verhältnisse, und fragte: ‚In welchem Teil der Siedlung haben Sie diese Missstände denn angetroffen?‘ Daraufhin gab er zur Antwort: ‚Ich selbst habe diese nie gesehen, aber es wurde mir erzählt, dass sie existierten. Ich, für meinen Teil, war nie 11

Buer (1926).

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Einleitung in einem Fabrikbezirk und würde auch nie einen aufsuchen.‘ Dieser Herr war eine jener zahllosen Personen, die gerne Berichte streuen, ohne sich die Mühe zu machen, heraus­ zufinden, ob sie wahr oder falsch sind.“12

Frau Cooke Taylors detaillierte Beschreibung der zufriedenstellenden Umstände, die sie zu ihrer Überraschung vor Ort antraf, endet mit den Sätzen: „Nachdem ich die Fabrikarbeiter bei der Arbeit, zuhause und in der Schule gesehen habe, bin ich angesichts des Aufschreis, der um sie gemacht wird, ziemlich ratlos. Sie sind besser gekleidet, genährt und werden besser geführt als viele andere Arbeiterklassen.“13 Doch selbst dann, wenn zur damaligen Zeit die Ansicht, die später von den Historikern übernommen wurde, nur von einer Partei lauthals vertreten wurde, so bleibt doch zu erklären, warum überhaupt die Auffassung einer zeitgenössischen Partei, und zwar nicht die der Radikalen oder der Liberalen, sondern die der Tories, zur nahezu unwidersprochenen Ansicht werden konnte, der sich die Wirtschaftshistoriker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angeschlossen haben. Der Grund scheint zu sein, dass das neue Interesse an der Wirtschaftsgeschichte selbst sehr eng mit dem Interesse am Sozialismus verbunden war und dass zu Beginn ein großer Teil jener, die sich dem Studium der Wirtschaftsgeschichte verschrieben hatten, dem Sozialismus zugetan war. Es war nicht nur der große Stimulus, der zweifellos von Karl Marxens „materialistischer Interpretation der Geschichte“ für die Er­ forschung der Wirtschaftsgeschichte ausgegangen ist. Praktisch alle sozialistischen Schulen vertraten eine Philosophie der Geschichte in der Absicht, die relative Bedeutung zu zeigen, welche die verschiedenen ökonomischen Institutionen und die Notwendigkeit der zeitlich versetzt sich ablösenden Wirtschaftssysteme haben. Sie alle wollten beweisen, dass das attackierte System, das System des Privateigentums an den Produktionsmitteln, eine Perversion eines früheren und natürlicheren Systems war, nämlich das des Gemeineigentums. Und da gemäß der theoretischen Vorüberlegungen, denen sie folgten, das Auftreten des Kapitalismus den arbeitenden Klassen zum Nachteil gereicht, überrascht es nicht, dass sie gefunden haben, wonach sie gesucht hatten. Doch nicht nur jene, die aus der Erforschung der Wirtschaftsgeschichte bewusst ein Werkzeug der politischen Agitation gemacht haben  – was beispielsweise auf Marx und Engels bis hin zu Werner Sombart und den Eheleuten Sydney und ­Beatrice Webb zutrifft –, sondern auch viele andere Gelehrte, die ernsthaft dachten, dass sie den Fakten vorurteilsfrei gegenüberträten, brachten Resultate hervor, die kaum weniger tendenziös waren. Das lag zum Teil daran, dass die von 12 Der Brief wird zitiert in Reuben (London) 1945. Frau Cooke Taylor, die Ehefrau des Radikalen Cooke Taylor, hatte die Fabrik von Henry Ashworth in Turton, nahe Bolton, besucht, das damals noch ländlich geprägt war und daher in einem Bezirk gelegen haben dürfte, der ansehnlicher war als so mancher städtische Industriebezirk. Hinter dem Pseudonym „Reuben“ verbirgt sich der Autor Alexander Somerville, d. Hrsg.; vgl. dazu Pickering / Tyrell (2000), S. 11. 13 Reuben (London) 1945.

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ihnen übernommene „historische Methode“ sich selbst als Gegenstück zur theoretischen Analyse der klassischen Ökonomie verstand. Und was Letztere über die populären Vorschläge zur Beseitigung der anhaltenden Beschwerden dachten, fiel meist unvorteilhaft aus.14 Es ist kein Zufall, dass die größte und einflussreichste Forschergruppe der Wirtschaftsgeschichte in den 60 Jahren vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, die Deutsche Historische Schule, sich etwas darauf eingebildet hat, als Kathedersozialisten zu gelten, oder dass ihre geistigen Vorreiter, die amerikanischen „Institutionalisten“, meistens eine sozialistische Haltung eingenommen haben. Im Dunstkreis dieser Schulen hätte ein junger Forscher schon eine geistige Unabhängigkeit besonderer Art an den Tag legen müssen, um dem Druck ihrer akademischen Meinung standzuhalten. Kein Ruf war mehr gefürchtet oder verhängnisvoll für die akademische Karriere als der, ein „Apologet“ des kapitalistischen Systems zu sein. Und selbst dann, wenn ein Gelehrter es gewagt hätte, der vorherrschenden Meinung in einem bestimmten Punkt zu widersprechen, hätte er sich behutsam gegen derlei Verdächtigungen gewappnet, indem er in den allgemeinen Chor der Kapitalismusschelte miteingefallen wäre.15 Wer die bestehende wirtschaftliche Ordnung nur als eine „historische Phase“ sehen konnte und in der Lage war, aus den „Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung“ die Ankunft einen besseren Systems in der Zukunft vorherzusagen, der hinterließ einen Stempel dessen, was man damals für den wahren wissenschaftlichen Geist hielt. Ein Großteil der verzerrten Darstellung, welche die frühen Wirtschaftshisto­ riker vorlegten, gründet in Wirklichkeit in dem aufrechten Bemühen, die Tatsachen ohne theoretische Vorbelastung zu untersuchen. Die Idee, die kausalen Verbindungen zwischen den Ereignissen ohne jegliche Theorie aufspüren zu können, oder die Annahme, aus der Akkumulierung ausreichend vieler Fakten ergäbe sich automatisch eine solche Theorie, ist natürlich eine reine Illusion. Die Komplexität gesellschaftlicher Ereignisse ist derart speziell, dass man sie ohne die Analysewerkzeuge, die eine systematische Theorie bereitstellt, mehr oder weniger zwangsläufig fehlinterpretiert. Und jene, die bewusst auf die Verwendung eines expliziten und bewährten logischen Arguments verzichten, werden einfach nur zum Opfer der gängigen Glaubensbestände ihrer Zeit. Der gesunde Menschenverstand ist in diesem Bereich kein guter Ratgeber, und was als „offenkundige“ Erklärung daherkommt, ist oft nicht mehr als der gemeinhin akzeptierte Aberglaube. Es mag offensichtlich erscheinen, dass mit dem Einsatz von Maschinen die Nachfrage nach Arbeit zurückgeht. Aber wenn man ein wenig länger über das Problem nachdenkt, 14 Um die allgemeine Haltung dieser Schule zu veranschaulichen, wollen wir hier eine typische Äußerung zitieren, die von einem ihrer bekanntesten Vertreter stammt. Laut Adolf Held war es David Ricardo, „unter dessen Hand die rechtgläubige Nationalökonomie zu einer gefügigen Dienerin der ausschliessenden Interessen des mobilen Capitals wurde.“ Und Ricardos Grundrententheorie war für Held „einfach von dem Hass des Geldcapitalisten gegen den Grundbesitzerstand dictirt.“ Held (1881), S. 176. 15 Einen guten Einblick in die allgemeine politische Stimmung, die in der Deutschen Historischen Schule der Ökonomie herrschte, bietet Ludwig Pohle (1911).

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dann zeigt sich, dass diese Annahme einen logischen Fehlschluss enthält, bei dem ein Effekt der gemutmaßten Veränderung überbetont wird und alle anderen Effekte außen vor bleiben. Auch die Tatsachen stärken die Annahme nicht. Dennoch dürfte jeder, der sie für wahr hält, etwas finden, das für ihn nach bestätigender Evidenz aussieht. Es ist ein Leichtes, im frühen 19. Jahrhundert Belege für extreme Armut zu finden und daraus den Schluss zu ziehen, dass dieselbe der Einführung der Maschinen zuzuschreiben sei; wobei nicht gefragt wird, ob die Bedingungen vorher besser oder sogar schlechter gewesen waren. Man kann auch glauben, dass es nach einem Produktionswachstum unmöglich wird, alle Produkte zu verkaufen, und kann im Falle einer Verkaufsstagnation dieselbe als Bestätigung der Erwartung ansehen, obwohl es einige plausible Erklärungen mehr gibt als jene, die eine allgemeine „Überproduktion“ oder „Unterkonsumption“ bemühen. Zweifellos sind viele dieser Fehldarstellungen in guter Absicht erfolgt, und es gibt auch keinen Grund, die Motive zumindest einiger jener Personen anzuerkennen, die das Elend der Armen in den düstersten Bildern gezeichnet haben, um die Öffentlichkeit wachzurütteln. Dieser Art der Agitation, die unwillige Augen dazu zwingt, unschöne Fakten wahrzunehmen, verdanken wir einige der besten und großzügigsten Momente politischer Maßnahmen – von der Aufhebung der Sklaverei bis hin zur Abschaffung der Getreideimportzölle oder der Zerschlagung bestehender Monopole und Missbräuche. Es gibt genug Gründe, daran zu erinnern, wie elend die Menschen zu einem großen Teil noch vor 150 bzw. 100 Jahren lebten. Aber wir dürfen so viele Jahre später keine Verzerrung der Fakten zulassen – auch nicht aus humanitärem Eifer – und uns nicht die Sicht auf das versperren, was wir einem System verdanken, dank dessen die Menschen zum ersten Mal in der Geschichte das Gefühl haben konnten, dass das Elend vermeidbar ist. Die Ansprüche und Anliegen der Arbeiterklassen waren und sind das Ergebnis einer enormen Verbesserung ihrer Lage, die vor allem dem Kapitalismus zuzuschreiben ist. Es gab zweifellos viele Menschen, deren privilegierte Lage und Macht, sich ein komfortables Einkommen zu sichern, indem sie Dritte davon abhielten, das, wofür sie bezahlt wurden, besser zu tun und anzubieten, infolge einer Ausweitung der wirtschaftlichen Freiheit zerschlagen wurden. Es dürfte noch zahlreiche andere Gründe dafür geben, warum die Entstehung des modernen Industriezeitalters von einigen bedauert wurde. Bestimmte ästhetische und moralische Werte, denen die privilegierte Oberschicht große Bedeutung beimaß, waren nun bedroht. Mancher mag auch in Frage stellen, ob das rapide Bevölkerungswachstum bzw. das Schrumpfen der Kindersterblichkeit ein Segen war. Wenn man aber die Industrialisierung nach ihren Auswirkungen auf den Lebensstandard der sich abrackernden Klassen bemisst, dann lässt sich kaum bezweifeln, dass dieselbe für einen allgemeinen Aufwärtstrend gesorgt hat. Die Anerkennung dieser Tatsache seitens der Forscher ließ jedoch auf sich warten, bis eine Generation von Wirtschaftshistorikern aufkam, die sich nicht als Gegenspieler der Ökonomie verstanden – entschlossen, die Irrtümer der Ökono­ men nachzuweisen –, sondern selbst von Beruf Ökonomen waren und sich der Er-

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forschung der wirtschaftlichen Entwicklung verschrieben hatten. Die Forschungs­ ergebnisse der neueren Wirtschaftsgeschichte sind zwar inzwischen etabliert, werden aber heute, eine Generation später, jenseits der Fachkreise kaum zur Kenntnis genommen. Der Prozess, in dessen Verlauf die Forschungsergebnisse schließlich zu Allgemeingut wurden, erwies sich in diesem Falle als außergewöhnlich langsam.16 Die neuen Resultate waren in diesem Fall nicht von jener Sorte, die von den Intellektuellen begierig aufgeschnappt werden, weil sie zu ihren Vorurteilen passen, sondern so geartet, dass sie mit deren allgemeinen Überzeugungen überquer lagen. Wenn wir mit unserer Einschätzung zur Bedeutsamkeit, die irrigen Ansichten bei der Formung der politischen Meinung zufällt, richtig liegen, dann ist es höchste Zeit, dass die Wahrheit an die Stelle der Legende tritt, die lange Zeit vorgab, was allgemein geglaubt wurde. Es war die Überzeugung, dass diese Revision längst überfällig ist, die dazu führte, dass dieses Thema auf die Agenda unserer Tagung kam – auf der die ersten drei der folgenden Aufsätze ursprünglich vorgestellt wurden –, und dann in die Entscheidung mündete, diese Beiträge einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Erkenntnis, dass die Arbeiterklasse in Gänze vom Einsetzen des modernen Industriezeitalters profitiert hat, ist mit der Tatsache, dass einige Individuen und Gruppen vorübergehend unter der neuen Lage gelitten haben dürften, selbst­ redend kompatibel. Die neue Ordnung bedeutete eine zunehmende Beschleunigung des Wandels, und das rasche Wohlstandswachstum war weitgehend das Resultat des zunehmenden Tempos, mit dem man sich dem Wandel anpassen und so das Wachstum möglich machen konnte. In solchen Situationen, in denen die Mobilität eines hochgradigen Wettbewerbsmarktes zum Zuge kommt, kann die zunehmende Palette an Gelegenheiten die wachsende Unsicherheit bestimmter Arbeitsplätze mehr als kompensieren. Aber die neue Ordnung breitete sich graduell und ungleich aus. Bei manchen, die sich mit ihren Produkten der Launenhaftigkeit der Märkte vollständig aussetzten, blieben die Taschen leer – und zwar bis auf den heutigen Tag, weil sie zu weit weg waren, um von den Gelegenheiten zu profitieren, welche die Märkte andernorts boten. Die vielen Beispiele vom Niedergang der alten Gewerke, die durch mechanische Prozesse ersetzt wurden, sind hinlänglich publik geworden (das Schicksal des Webers am Webstuhl ist der oft zitierte Klassiker). Aber auch für diesen Fall darf bezweifelt werden, ob das so verursachte Leid mit jenem vergleichbar ist, das kleine Serien von regionalen Missernten auszulösen vermochten, als es noch keinen Kapitalismus gab, der die Güter- und Kapital­ mobilität zum Wachsen brachte. Der Zufall, der eine kleine Gruppe innerhalb der prosperierenden Gemeinschaft hart tritt, wird wahrscheinlich eher als Ungerechtigkeit empfunden und nicht als Leid, das alle trifft und in früheren Zeiten als unabänderliches Schicksal begriffen wurde. Um die wahren Ursachen der Missstände – und mehr noch, die Art und Weise, in der sie womöglich behoben werden können – zu erkennen, muss man mehr über 16

Siehe dazu meinen Aufsatz, Hayek (1949).

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Einleitung

die Funktionsweise der Marktwirtschaft wissen, als die frühen Historiker zu wissen vermochten. Viele Dinge, die dem kapitalistischen System angelastet wurden, waren in Wirklichkeit Überbleibsel oder Neuauflagen vorkapitalistischer Merkmale, etwa monopolistische Elemente, die entweder direkt das Resultat schlecht durchdachter Staatshandlungen waren oder der fehlenden Einsicht entsprangen, dass eine gut funktionierende Wettbewerbsordnung ein entsprechendes rechtliches Rahmenwerk voraussetzt. Auf einige Merkmale und Tendenzen, dem Kapitalismus etwas anzuhängen, obwohl die wahre Schuld darin liegt, dass man ihm verbietet, tätig zu werden, haben wir bereits hingewiesen. Und die Sonderfrage, warum und inwieweit Monopole dem vorteilhaften Spiel des Kapitalismus in die Quere kommen, betrifft ein Problem, das zu groß ist, um es an dieser Stelle zu diskutieren. Mit dieser Einleitung ist nicht mehr beabsichtigt, als auf das allgemeine Umfeld hinzuweisen, in dem die viel spezifischere Diskussion stattfindet, die in den folgenden Kapiteln geführt wird. Eine Einleitung tendiert ungewollt dazu, sich in Allgemeinheiten zu verlieren. Insofern bin ich zuversichtlich, dass die spezifischeren Beiträge durch eine sehr konkrete Auseinandersetzung mit den von ihnen behandelten Problemen diesen Effekt mehr als wettmachen werden. Sie umfassen das Gesamtthema gleichwohl nur in Teilen, da sie in der Absicht geschrieben wurden, eine faktische Grundlage für die Diskussion zu liefern, die mit ihnen eröffnet wurde. Was sind die Fakten? Wie haben die Historiker sie dargestellt, und warum? Von diesen drei miteinander verknüpften Fragen behandeln sie vor allem die erste, und logischerweise auch die zweite. Nur Herr de Jouvenel widmet sich mit seinem Beitrag vornehmlich der dritten Frage – was auch den speziellen Charakter seines Aufsatzes erklärt. Im Zuge dessen werden auch Probleme angesprochen, die über den Fragenkomplex hinausweisen, der hier skizziert wurde.

Teil 1 1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus Thomas Southcliffe Ashton Wer einen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Universität London innehat, dem ist es nicht vergönnt, seine Ferien der Erholung von Körper und Geist oder der Vermehrung von Wissen zu widmen. Stattdessen muss er einen großen Teil seiner vorlesungsfreien Zeit für das Korrigieren von Examensarbeiten aufwenden, die von seinen Studenten angefertigt wurden; aber nicht nur von diesen, sondern auch von mehreren hundert jungen Männern und Frauen in anderen Teilen des Landes, ja auch in anderen Teilen der ganzen Welt – keine Situation, um die man jemanden beneidet. Aber immerhin versetzt es einen in die Lage, mit Gewissheit über die Vorstellungen sprechen zu können, die jene Personen hinsichtlich der ökonomischen Vergangenheit hegen, die demnächst in Industrie, Kommerz, Journalismus, Politik und Verwaltung Schlüsselpositionen einnehmen werden und somit Einfluss auf die Formung dessen haben werden, was wir „öffentliche Meinung“ nennen. Es versteht sich von selbst, dass die politischen und ökonomischen Ideen der Menschen genauso von den Erfahrungen der vorausgegangenen Generationen abhängen wie von den Nöten der eigenen Zeitgenossen. Als Lionel Robbins seine Studenten an der London School of Economics fragte, was sie für das heraus­ ragende Thema ihrer Zeit hielten, antworteten diese mehrheitlich: „Die Erhaltung der Vollbeschäftigung.“ Nach einem Jahrzehnt der Voll- bzw. Überbeschäftigung in England hängen die Schatten der 30er Jahre tief über den wirklichen Pro­ blemen im Nachkriegsengland. Dennoch gibt es dunklere Schatten, welche die Wirklichkeit verzerren und die Ratschläge eintrüben. Folgt man der großen Anzahl an Schriften, die zu lesen mein Los war, dann kennzeichnet den Verlauf der englischen Geschichte von 1760 bis zur Einrichtung des Wohlfahrtsstaats 1945 kaum mehr als Schufterei, Schweiß und Unterdrückung. Wirtschaftliche Kräfte, so hat es demnach den Anschein, sind von Natur aus bösartig. Jede arbeitssparende Entwicklung hat zu einem Niedergang an Fähigkeiten und einer Zunahme an Arbeitslosigkeit geführt. Weiß man denn nicht, dass die Löhne hinterherhinken und der Lebensstandard der Arbeiter sinkt, wenn die Preise steigen? Aber was ist, wenn die Preise fallen? Weiß man denn nicht, dass dies in Industrie und Handel zu einem Konjunkturrückgang, Arbeitslosigkeit und fallenden Löhne führt – und somit wieder einmal der Lebensstandard der Arbeiter sinkt?

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Teil 1

Die Jugend von heute neigt zur Melancholie. Wie Rachel1 verweigert sie sich des Trostes. Ich glaube jedoch, dass hinter dem Meinungsklima mehr als adoleszenter Pessimismus steckt. Studenten hören Vorlesungen und lesen Lehrbücher, und es ist eine Sache der allgemeinen Klugheit, dem, was sie gehört und gelesen haben, eine gewisse Beachtung zu schenken. Ein großer Teil – eigentlich viel zu viel – dessen, was in ihren schriftlichen Arbeiten auftaucht, sind buchstabengetreue Wiedergaben des gehörten und geschriebenen Wortes. Der weitaus größere Teil der Verantwortung muss mithin bei den Wirtschaftshistorikern vom Fach liegen. Forscher der englischen Wirtschaftsgeschichte haben es gut. Ihnen stehen die Berichte zur Verfügung, welche die königlichen Kommissionen und Untersuchungsausschüsse in einer langen Serie angelegt haben, die mit dem 18. Jahr­ hundert begann und zwischen 1830 und 1850 ihren Höhepunkt erreichte. Diese Berichte zeugen von den glorreichen Tagen der frühen viktorianischen Ära. Sie künden von einem wachsenden Sozialgewissen und einem Gespür für Not, die es sonst nie und nirgendwo gab. In riesigen Blattsammlungen wurde statistische und wortreiche Evidenz dafür zusammengetragen, dass es für große Teile in England nicht zum Besten stand und die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers und der lesenden Bevölkerung gefordert war, den Reformbedarf zu stillen. Die Wirtschaftshistoriker der nachfolgenden Generationen konnten nicht anders, als auf diese Ergebnisse zu vertrauen. Die Forschung – und nicht minder die Gesellschaft – profitierten davon. Gleichwohl gab es neben Gewinnen auch Verluste. Ein Bild des wirtschaftlichen Systems, das nach den Blue Books – die sich mit sozialen Missständen und nicht mit den normalen Prozessen der wirtschaftlichen Entwicklung befassten – gezeichnet war, musste einseitig sein. Das Bild, das ich in den Arbeiten meiner Studenten wiedersehe, ist genau jenes Bild der früheren viktorianischen Gesellschaft, das sich in die Köpfe populärer Autoren eingegraben hat. Eine sorgfältige Lektüre der Berichte würde indes zu dem Schluss führen, dass vieles, das falsch lief, Resultat von Gesetzen, Gewohnheiten, Gepflogenheiten und Organisationsformen war, die früheren Perioden entstammten und rasch obsolet geworden waren. Sie würde einen erkennen lassen, dass nicht die Fabrikarbeiter die niedrigsten Löhne bezogen, sondern die Dienstboten, deren Traditionen und Methoden noch im 18. Jahrhundert verharrten. Sie hätte auch den Beleg dafür geliefert, dass es nicht die großen Fabriken mit ihren Dampfmaschinen waren, in denen die schlechtesten Arbeitsbedingungen herrschten, sondern die Dachkammern und Kellerwerkstätten. Sie hätte auch darauf schließen lassen, dass nicht dort, wo die Industrie und der Kohleabbau wuchsen, sondern in den entlegenen Dörfern auf dem Land die Beschränkungen der persönlichen Freiheit und die Übel des Naturallohns am meisten hervorstachen. Aber nur wenige brachten die Geduld auf, die umfangreichen Folianten sorgfältig zu studieren. Es war viel einfacher, die sensationsreicheren Belege der Not herauszupicken und sie in einer dramatisierenden Geschichte der Ausbeutung zu verarbeiten. Und was ist das Ergebnis? Eine ganze 1

Anscheinend eine Anspielung auf die gleichnamige Protagonistin Rachel im Theaterstück der Dramatikerin Angelina Weld Grimké aus dem Jahre 1916, d. Hrsg.

1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus

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Generation – der zur Sammlung der Daten die Unternehmen und die Industrie zur Verfügung standen und deren Redlichkeit darin bestand, dieselben offenzulegen, und der überdies die Energie gegeben war, Reformziele aufzustellen – hat sich dem Vorwurf ausgesetzt, nicht die Urheber der Blue Books, sondern des Übels selbst zu sein. Die Lage in den Mühlen und Fabriken waren, wie es schien, so schlecht, dass es Verschlechterungen gegeben haben musste. Und da die mutmaßlichen Verschlechterungen zu einer Zeit stattgefunden hatten, als die Zahl der Maschinen zunahm, mussten dieselben und ihre Eigentümer verantwortlich sein. Zur gleichen Zeit führte die Wiederbelebung der romantischen Literatur zu einer idyllischen Auffassung des zeitgenössischen Lebens. Die Idee, die einzige natürliche und gesunde Aktivität des Menschen läge im Ackerbau, hatte die Zeit überstanden, sich sogar ausgeweitet, während die meisten von uns Adams Fluch entronnen waren und damit „Mensch und Acker geschiedene Leute waren“ – um eine gängige Redewendung zu bemühen. Vor einem Jahr bemerkte ein Examenskandidat einmal tiefsinnig, dass „in früheren Jahrhunderten der Ackerbau in England weit verbreitet war,“ fügte dann aber betrübt hinzu: „Heute ist er das leider nur noch in dörflichen Gegenden.“ Eine ähnliche Idealisierung gab es auch im Hinblick auf die Dienstboten, die den ersten Schritt der Scheidung bereits hinter sich hatten. Ich bitte um Verständnis, wenn ich nun einige Passagen zitiere, mit denen Friedrich Engels (der für gewöhnlich als Realist gilt) in Die Lage der arbeitenden Klasse in England um 1844 aus seiner Sicht einführt. Die Einführung gründet natürlich auf den Schriften von Reverend Philip Gaskell, dessen Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit zwar außer Zweifel stehen, dessen Geist aber gegen historische Studien immun war. Engels beginnt sein Buch mit den Worten: „Die Geschichte der arbeitenden Klasse in England beginnt mit der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Maschinen zur Verarbeitung der Baumwolle.“ Zuvor, so fährt er fort, „vegetierten die Arbeiter in einer ganz behaglichen Existenz und führten ein rechtschaffenes und geruhiges Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, ihre materielle Stellung war bei weitem besser als die ihrer Nachfolger; sie brauchten sich nicht zu überarbeiten, sie machten nicht mehr, als sie Lust hatten, und verdienten doch, was sie brauchten, sie hatten Muße für gesunde Arbeit in ihrem Garten oder Felde, eine Arbeit, die ihnen selbst schon Erholung war, und konnten außerdem noch an den Erholungen und Spielen ihrer Nachbarn teilnehmen; und alle diese Spiele, Kegel, Ballspiel usw., trugen zur Erhaltung der Gesundheit und zur Kräftigung ihres Körpers bei. Sie waren meist starke, wohlgebaute Leute, in deren Körperbildung wenig oder gar kein Unterschied von ihren bäurischen Nachbarn zu entdecken war. Ihre Kinder wuchsen in der freien Landluft auf, und wenn sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen konnten, so kam dies doch nur dann und wann vor, und von einer acht- oder zwölfstündigen täglichen Arbeitszeit war keine Rede.“2 2

Engels (1844), S. 237 f. Engels weiter: „Sie waren ‚respektable‘ Leute und gute Familienväter, lebten moralisch, weil sie keine Veranlassung hatten, unmoralisch zu sein, da keine Schenken und liederlichen Häuser in ihrer Nähe waren, und weil der Wirt, bei dem sie dann

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Teil 1

Schwer zu sagen, ob nun dieses Bild oder jenes Schreckensbild, das Engels im späteren Verlauf seines Buches über die Enkel dieser Leute zeichnet, mehr mit den Tatsachen in Widerspruch steht. Engels ließ keinerlei Zweifel daran, dass die Ursache der Verelendung in den Arbeitsbedingungen zu suchen war. Wiederholt stellte er fest, dass das „Proletariat durch die Einführung der Maschinen ins Leben gerufen wurde.“3 „Die Folgen der Maschinenverbesserungen für den Arbeiter,“ beteuert er, „sind in den jetzigen sozialen Verhältnissen nur ungünstig und oft im äußersten Grade drückend; jede neue Maschine bringt Brotlosigkeit, Elend und Not hervor …“4 Engels hatte viel Anhänger, selbst unter denen, die den historischen Materia­ lismus von Marx, mit dem derlei Ansichten in aller Regel verknüpft sind, nicht teilen wollten. Feindseligkeit gegenüber der Maschine ist mit Feindseligkeit gegenüber deren Produkten verbunden  – und auch gegenüber allen Innovationen im Konsumbereich. Eine der herausragenden Errungenschaften des neuen Industrie­ zeitalters zeigte sich auf den Märkten in einem reichhaltigen Angebot an Stoffen aller Art. Der Kleidungswandel wurde jedoch als Zeichen wachsender Armut ausgelegt: „Die Kleidung der Arbeiter ist bei der ungeheuren Majorität in sehr schlechtem Zustande. Schon die Stoffe, die dazu genommen werden, sind nicht die geeignetsten; Leinen und Wolle sind aus der Garderobe beider Geschlechter fast verschwunden, und an ihre Stelle ist Baumwolle getreten. Die Hemden sind von gebleichtem oder buntem Kattun, ebenso die Kleider der Frauenzimmer meist gedruckter Kattun, wollene Unterröcke sieht man ebenfalls selten auf den Waschleinen.“5 In Wahrheit sind die wollenen Unterröcke gar nicht an die Wäscheleinen gehängt worden, weil sie dazu neigen, einzulaufen. Früher mussten die Arbeiter dafür sorgen, dass ihre Kleidung hielt (oft waren sie aus zweiter oder dritter Hand). Wasser und Seife schadeten der Lebensdauer der Kleidung. Die neuen, günstigeren Textilien mögen nicht so robust gewesen sein wie die Baumwollstoffe, aber es gab mehr von ihnen. Und die Tatsache, dass man sie bedenkenlos waschen konnte, wirkte sich auf etwas aus; wenn schon nicht auf ihre eigene Lebensdauer, dann doch auf die jener, die sie trugen. Auch beim Thema Essen und Trinken zeigte sich dieselbe Feindseligkeit gegenüber Innovationen. Legionen von Autoren folgten William Cobbett in dessen Teehass. Man sollte meinen, dass der enorme Teekonsumanstieg ab dem frühen 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Ausdruck eines verbesserten Lebenskomforts gewesen wäre. Aber noch vor ein paar Jahren behauptete Professor und wann ihren Durst löschten, auch ein respektabler Mann und meist ein großer Pächter war, der auf gutes Bier, gute Ordnung und frühen Feierabend hielt. Sie hatten ihre Kinder den Tag über im Hause bei sich und erzogen sie in Gehorsam und der Gottesfurcht; … die jungen Leute wuchsen in idyllischer Einfalt und Vertraulichkeit mit ihren Gespielen heran, bis sie heirateten, …“ 3 Engels (1844), S. 250. 4 Engels (1844), S. 364. 5 Engels (1844), S. 297 f.

1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus

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Parkinson, es sei die „wachsende Armut“ gewesen, die den Tee für die niederen Klassen so wichtig gemacht habe, da ihr Geld für Ale nicht gereicht habe.6 (Dies bedeutete, wenn ich dies bemerken darf, dass sie unglücklicherweise gezwungen waren, Zucker zu konsumieren – eine Praxis, von der man annehmen muss, dass auch sie zu einem Verlust an Lebensqualität führte.) In ähnlicher Weise hat vor kurzem Dr. Salaman versichert, dass die Einführung der Kartoffel in den Speiseplan der Arbeiter zu jener Zeit ein Faktor war, welcher der Gesundheit der Arbeiter entgegenstand und die Arbeitgeber in die Lage versetzte, niedrigere Lohnniveaus zu erzwingen – von denen wir natürlich wissen, dass sie stets von jenem Minimum an Lebensmitteln bestimmt werden, das zum Lebenserhalt benötigt wird.7 Nach und nach verloren jene an Boden, die an dieser pessimistischen Sicht hinsichtlich der Auswirkungen des industriebedingten Wandels festhielten. Die minutiösen Untersuchungen von Bowley und Wood haben gezeigt, dass der Kurs der Reallöhne die meiste Zeit, wie auch später, nach oben verlief. Dieser Nachweis ist übrigens alles andere als einfach, weil es für einige Teile der Arbeiterklassen keineswegs so war. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die englische Bevölkerung, teils auf natürliche Weise und teils durch zugewanderte Iren. Wer nur wenige oder keine Fertigkeiten besaß und nur eine marginale Produktivität erbrachte, der blieb bei einem niedrigen Gehalt. Sein Einkommen wendete er hauptsächlich für Güter auf (Essen, Trinken und Unterkunft). Die Kosten für derlei Güter waren von der Fortentwicklung der Technik kaum berührt worden. Aus diesem Grund sind so viele Ökonomen wie McCulloch und Mill hinsichtlich der vorteilhaften Natur des industriellen Systems sehr skeptisch gewesen. Ungeachtet dessen gab es große und wachsende Bereiche für qualifizierte und gut bezahlte Arbeiter, deren Einkommen stiegen und die genug übrighatten, um maschinell erstellte Güter zu erwerben, deren Kosten dann zunehmend fielen. Gestritten wird eigentlich nur darüber, welche Gruppe den größten Zuwachs verzeichnete. Allgemein ist man sich einig, dass für die Mehrheit der Lohnzuwachs erheblich war. Die Kontroverse war aber damit noch nicht zu Ende. Die Realeinkommen mögen zwar gestiegen sein, sagte man, aber es ging um die Lebensqualität und nicht um die Quantität der konsumierten Güter. Vor allem die verheerende Wohnungssituation und die sanitären Bedingungen in den Städten wurden als Beleg dafür herangezogen, dass die Arbeitsumstände sich verschlechtert hätten. „Alles, was unsren Abscheu und unsre Indignation hier am heftigsten erregt,“ schrieb Engels 1844 über Manchester, „ist neueren Ursprungs, gehört der industriellen Epoche an.“8 Man überlässt dem Leser den Schluss, dass die gleichermaßen abstoßenden Zustände in Städten wie Dublin und Edinburgh, die von der neuen Industrialisierung kaum berührt wurden, auf die eine oder andere Weise auch das Produkt der Maschinen waren. 6

Vgl. Parkinson (1937), S. 94. Salaman (1949).  8 Engels (1844), S. 285. 7

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Teil 1

Diese Legende hat sich über die ganze Welt ausgebreitet und die Haltung von Millionen Männern und Frauen gegenüber arbeitsersparenden Gerätschaften und deren Eigentümern geprägt. Inder und Chinesen, Ägypter und Afrikaner, für deren Landsleute die Unterkünfte im England des mittleren 19. Jahrhunderts Wohlstand bedeuten würden, erklären feierlich in ihren Examensarbeiten, die ich zu lesen habe, dass die englischen Arbeiter unter Bedingungen zu leben hatten, die nicht mal eines Tieres würdig gewesen wären. Sie schreiben mit Empörung über die unzureichenden sanitären Anlagen und das Fehlen bürgerlicher Annehmlichkeiten – Dinge, die in weiten Teilen der Erde den Arbeitern auf dem Land vollkommen unbekannt sind. Nun, niemand, der die Berichte des Ausschusses zu den sanitären Bedingungen der Arbeiterklassen von 1842 oder jene der Kommission zur Gesundheit in den Siedlungen von 1844 gelesen hat, kann Zweifel daran hegen, dass die Situation nach den heutigen Maßstäben der westlichen Zivilisation beklagenswert war. Aber genauso wenig kann man noch nach der Lektüre von Dorothy Georges Aus­ führungen zu den Londoner Lebensbedingungen im 18. Jahrhundert mit Gewissheit sagen, die Lage hätte sich verschlechtert.9 Dr. George selbst glaubt, dass sie sich verbessert hätten und Clapham stellt fest, dass die englischen Städte zur Mitte desselben Jahrhunderts „nicht so überbevölkert sind wie in anderen Ländern und im Allgemeinen auch nicht unhygienischer.“10 Die Frage, die ich aufwerfen will, ist jedoch die nach der Verantwortung. Wie wir gesehen haben, gab Engels den Maschinen die Schuld. Andere nennen nicht weniger nachdrücklich die industrielle Revolution, was wiederum auf dasselbe hinausläuft. Soweit ich weiß, hat nie ein Historiker das Problem aus der Sicht jener betrachtet, deren Aufgabe es war, die Siedlungen zu bauen und zu verwalten. Hier gibt es zwei wichtige Aspekte zu beachten: das Wohnungsangebot in Relation zur Nachfrage und die technische Frage von Kanalisation, sanitärer Versorgung und Belüftung. Im 19. Jahrhundert, so schrieb jemand in seiner Examensarbeit, „waren die Arbeiter in Reihenhäusern eingepfercht, die Rücken an Rücken standen, und lebten wie Sardinen aufeinanderliegend in einem Kaninchenstall.“ Viele der Häuser waren mit Sicherheit marode und unhygienisch, und in der Regel schiebt man dies dem Industriellen in die Schuhe, der sie bauen ließ und den man für gewöhnlich Bruchbudenbauer (jerry-builder) nannte. Ich habe mich oft gefragt, wer dieser Mann war. Als ich jung war, sprach einmal der Pfarrer der Kirche, in die ich ging, ein Gebet für Jerry, der, wie er im Brustton der Überzeugung versicherte, in diesem Moment für seine Verbrechen in der Hölle schmorte. Ich habe die Annalen nach ihm durchkämmt, aber umsonst. Aus Weekleys Etymological Dictionary of Modern English geht hervor, dass „jerry“ eine Verballhornung von „jury“ war – ein Wort nautischen Ursprungs. Ursprünglich wurde es auf jedes Schiffsteil gemünzt, das nur als Notbehelf in Gebrauch war, z. B. Notmast 9 10

George (1926). Clapham (1926), S. 548.

1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus

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(„jury mast“), Notsegel („jury rig“), später auch auf andere Provisorien wie ein Holzbein („wooden leg“, „jury leg“). „Jerry“ meint demnach vorübergehend, minderwertig oder notdürftig. Zweifellos fallen uns noch viele andere Wortverwendungen für Notlösungen ein. Laut Partridges Dictionary of Slang and Unconventional English tauchte es erstmals 1830 in Liverpool auf. Ort und Zeit sind bezeichnend. Von Liverpool ging der schnelle Ausbau des Industriegebietes im Südosten von Lancashire aus. Sein Hafen war das Hauptauffangbecken für die Scharen irischer Immigranten. Vermutlich war hier der Druck, den die Bevölkerung auf die Wohnungsnachfrage ausübte, am heftigsten. Die Unterkünfte füllten sich rasch, viele von ihnen waren wenig solide gebaut, mit Außenwänden, die nur 11 cm dick waren. Am 5. Dezember 1822 blies ein großer Sturm, der über die britischen Inseln zog, einige von ihnen sowie viele Gebäude außerhalb Liverpools einfach um. Im Februar 1823 machte dann das Große Geschworenengericht den Stadtrat auf „die entsetzlichen Auswirkungen des letzten Sturmes“ aufmerksam. Sie seien „eine Folge der modernen unsicheren Bauweise.“ Ein Jahr später nahm dieselbe Institution erneut Bezug auf „die leichte und gefährliche Bauweise zur Errichtung von Wohnhäusern, die in dieser Stadt und in der Umgebung praktiziert wird,“ und forderte, man solle Schritte unternehmen, „um einen Gesetzesakt herbeizuführen, der einen ordentlichen Stadtbeauftragten ermächtige, jeden künftigen Hausbau zu überwachen und im Falle mangelnder Sicherheit eine Beseitigung der Ursache anordnen zu können.“11 Urplötzliche Gebäudeeinstürze waren keine neue Erfahrung. Schon 1738 hatte Samuel Johnson über London geschrieben, es sei ein Ort, an dem „einstürzende Häuser wie Donnerhall über den Kopf hereinbrechen.“ Um ein Beispiel zu nennen: 1796 stürzten in der Houghton Straße, wo sich heute die Wirtschaftsuniversität befindet, zwei Häuser ein und begruben 16 Menschen unter sich.12 Das Hauptübel war scheinbar der Einsatz untauglichen Baumaterials. Für die Herstellung der Ziegelsteine wurden Asche und Straßenkehricht verwendet. Wenn der Pachtvertrag nur für wenige Jahre galt, dann hat man sie verwendet, um die dünnen Wände zu errichten.13 Angesichts der Sachlage im Falle Liverpool scheint die Lage sich in den frühen 1820er Jahren sogar noch verschlechtert zu haben. Beschwerden über minderwertiges Bauen in anderen Teilen der Stadt verstärken diesen Eindruck. Nach der Erklärung muss man nicht lange suchen. Sie liegt in der Tatsache, dass der Hausbau – nach einer langen Zeit des Stillstands (oder, sagen wir, Durststrecke), die 25 Jahre Krieg mit sich brachten – in den frühen 20er Jahren zu neuem Leben erwachte. Diese Blüte setzte zu einer Zeit ein, als die Baukosten rapide in die Höhe schossen.

11 Picton (1886), S. 367 f. Ich bin Dr. W. H. Chaloner für seine Aufklärung hinsichtlich der Etymologie des Wortes „jerry“ zu Dank verpflichtet. 12 George (1926), S. 73. 13 Grosley (1772) schreibt dazu auf S. 76: „Die Stabilität der Gebäude bemaß sich an der Dauer der Pacht, so wie der Schuh an der Länge des Fußes.“

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Man darf bei alledem auch nicht die Organisation der Industrie außer Acht lassen. Der Bauherr war für gewöhnlich ein Mann mit geringen Mitteln, ein Maurer oder Zimmermann, der eine kleine Parzelle erwarb und nur ein Gewerk selbst ausführte, z. B. das Errichten der Ziegelsteinmauern. Für die weiteren Arbeiten vergab er Aufträge an andere Handwerker. Es stimmt allerdings, dass gegen Mitte des 19. Jahrhunderts größere Bauunternehmungen heranwuchsen, die Männern wie Thomas Cubbitt unterstanden. Doch diese Unternehmen waren mit der Errichtung öffentlicher Bauten und Villen befasst und nicht mit den Unterkünften für die Armen. Die Bruchbudenbauer waren im eigentlichen Sinne des Wortes keine Kapitalisten, sondern Handwerker. In Edwin Chadwicks Bericht von 1842 heißt es dazu: „In den ländlichen Bezirken werden die schlimmsten der neuen Behausungen am Rande der Gemeindeflächen gebaut, und zwar von den Arbeitern selbst. In den Industrievierteln geben die Wohnungen, die von Bauvereinen und von Bauspekulanten aus den Reihen der Arbeiter errichtet werden, regelmäßig Anlass zu Beschwerden: Von allen Unterkünften seien sie die wackeligsten und erbärmlichsten. Die einzigen auffallenden Ausnahmen in den ländlichen Bezirken bilden die Wohnungen, die von wohlhabenden und wohlwollenden Vermietern gebaut wurden, um auf ihrem eigenen Grund und Boden den Arbeitern eine Unterkunft zu bieten. Und in den Industriebezirken finden wir derlei Ausnahmen unter den Wohnungen, die vermögende Fabrikanten zur Unterbringung ihrer Belegschaft gebaut haben.“14

In Liverpool waren die Bauherren der sogenannten „slop houses“ oder scamped houses15 in der Regel Waliser, meist Steinhauer aus Caernarvonshire. Hinter ihnen standen Anwälte, die Land zu verpachten hatten, aber selbst nicht als Bauunternehmer auftreten wollten. Ihr Baumaterial, das billig und minderwertig war, kauften sie auf Kredit, mit einer Laufzeit von drei Monaten. Man sagt, sie neigten dazu, einen hohen Anteil an Hilfsarbeitern einzustellen, also Arbeitskräfte von minderer Qualität.16 Für jede Bauphase brauchten sie einen Kredit: um die Bebauungspacht zu erwerben, das Baumaterial zu kaufen und die Forderungen der Schreiner, Verputzer, Dachdecker, Klempner, Maler usw. zu bedienen, die ihre Spezialaufträge als Unternehmer oder Subunternehmer ausführten. Der Geldpreis spielte bei den Baukosten eine wichtige Rolle. Gemäß der geltenden Geldwuchergesetze war es illegal, mehr als 5 % zu fordern oder anzubieten. Dies wiederum bedeutete, dass dann, wenn der Staat selbst 4,5 % oder mehr bot, es für private Bauherrn unmöglich war, ein Darlehen zu bekommen. Indem er die Zinsrate auf Kosten der öffent­lichen Verschuldung auf 4,5 bis 5 % ansteigen ließ und dem Industriellen untersagte, mehr zu bieten, konnte der Staat die Aktivitäten der Bauunternehmer für mehr als 20 Jahre erfolgreich eindämmen und so die Ressourcen für Mann und Material, die der Krieg gegen Napoleon erforderte, auf sich umlenken. Nach 1815 fiel die 14

Report (1842), S. 233. „Immens viele kleine Häuser, die in den Vorstädten von Manchester von den ärmeren Klassen bewohnt werden, haben den Charakter von Notbehelfen. Sie wurden von Mitgliedern der Bauvereine und sonstigen Personen gezimmert. Und neue Hütten werden in einem Tempo errichtet, das Personen, die nicht um deren fragwürdige Bauweise wissen, in Erstaunen versetzt.“ (Vgl. auch S. 284.) 15 Häuser mit viel Pfusch am Bau, d. Hrsg. 16 Morning Chronicle (1950).

1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus

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Zinsrate so langsam. Aber erst Anfang der 20er Jahre konnten die Bauunternehmer ihre Tätigkeit wiederaufnehmen. Sie sahen sich einer Nachfrage ausgesetzt, die infolge des raschen Wachstums der Bevölkerung – zu der jetzt auch eine ungewöhnlich große Zahl an jungen Erwachsenen gehörte, die eigene Wohnungen suchten – enorm angeschwollen war. Auch sie wurden mit einer enormen Kostensteigerung konfrontiert. Folgt man Silberlings Indexzahlen17, dann lagen 1821 die Großhandelspreise im Allgemeinen 20 % über denen aus dem Jahre 1778. In dieser Zeitspanne war der Preis für Baumaterialien erheblich stärker gestiegen: bei Ziegelsteinen und Holzverkleidungen auf das Doppelte, Fußbodendielen um 60 % und Blei um 58 %. Der Anstieg bei den Löhnen für Handwerker und Arbeiter lag irgendwo zwischen 80 und 100 %. Für viele der speziellen Ausführungsmaßnahmen wurden die Preise in den in London publizierten Jahrbüchern für Bauunternehmerpreise (Builders’ Price Books) festgehalten. Aus ihnen lässt sich ersehen, dass die Preise für reines Ziegelmauerwerk um 120 % gestiegen waren. Eichenbauholz wurde um 150 % teurer, Tannenholz sogar um 237 %. Die Kosten für einfache Anstriche hatten sich verdoppelt, und die für Verglasungen mit Butzenscheiben hatten sich um 140 % verteuert.18 Die Hauptschuld lag nicht bei den Materialherstellern. Während des Krieges waren die Abgaben, die der Staat auf Ziegel und Fließen, Steine, Schiefer und Tape­ ten erhob, enorm gestiegen. Zu jener Zeit war der Bauholzpreis der größte Posten der Materialkosten. In einem Fall wurde er auf die Hälfte der Gesamtkosten geschätzt. Den Anbietern und Händlern für Bauholz aus dem Baltikum hatte man obszön hohe Auflagen gemacht, weshalb die Hersteller von Arbeiterunterkünften notgedrungen auf das zurückgreifen mussten, was allgemein als mindere Holzqualität galt und kostspielig von Kanada über den Atlantik eingeführt werden musste. 1850 erklärte John Hume, dass unter Abschaffung der Abgaben für Ziegelsteine und Bauholz ein kleines Haus, das damals für 60 Pfund gebaut werden konnte, für 40 Pfund hätte errichtet werden können.19 All diese Kosten mussten durch die Mieten finanziert werden. Aber der Hausbesitzer hatte noch weitere Auflagen zu erfüllen, die ihm der Staat aufgebürdet 17 Gemeint ist der Index für Großhandelspreise in England, den Norman Silberling (1923) für den Zeitraum 1779–1850 aufgestellt hat, d. Hrsg. 18 Das Material, das im Baugewerbe zum Einsatz kam, war von den Veränderungen der industriellen Fertigungsweisen wenig betroffen. Es stimmt allerdings, dass die Preise für einige Metallprodukte leicht gestiegen waren. Die „Twopenny nails“, von denen 1.000 Stück 1788 1/8 Pence kosteten, bekam man 1821 sogar für ¹⁄9 Pence. Der Zentnerpreis für Bleibleche war von 22 Shilling auf 34 Shilling (britischer Zentner = 45,38 kg, d. Hrsg.) gestiegen, und der für Lötzinn von 9 Pence auf 12 Pence pro Pfund. Aber der Preis für „Grauziegel passt gut zum Fassadenputz“ war von 9 Pfund 12 Shilling auf 18 Pfund 5 Shilling geklettert, der für „Eiche fachgerecht und gut“ von 2 Shilling auf 5 Shilling pro Kubikfuß und der für „Verglasung mit Butzenscheiben aus Newcastle, 2. Wahl“ von ¹⁄6 Pence auf ³⁄6 Pence pro Fuß. 19 Hansard (1850), S. 479. Hansard ist das traditionelle Publikationsorgan der englischen Parlamentsdebatten, d. Hrsg.

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hatte. Seit der Zeit Williams III (1696) wurden Fenster besteuert. Vor Ausbruch der französischen Kriege zahlte jeder Haushalt einen fixen Steuersatz von 6 Shilling jährlich. Wer sieben und mehr Fenster hatte, musste – abhängig von der Fensteranzahl – exponentiell zusätzliche Abgaben entrichten. Viele stopften ihre Lichtschächte zu, um Abgaben zu sparen. Die Zahl der abgabepflichtigen Häuser lag 1798 unter jener von 1750. Es stimmt, dass die Häuser der Ärmsten ausgeklammert wurden; 1825 auch alle Häuser mit weniger als acht Fenstern. Für die Armen in Städten wie London, Newcastle, Edinburgh und Glasgow, wo viele Arbeiter in großen Mietskasernen lebten, die weiterhin abgabepflichtig waren, brachten diese Zugeständnisse jedoch keine Erleichterung. Hinzu kam die äußerst schwerwiegende Steuerlast auf lokaler Ebene. Mit Blick auf die Arbeiterwohnungen war der Vermieter steuerpflichtig, doch der legte den Betrag auf seine Mieter um. Die städtischen Steuern stiegen in besorgniserregende Höhen. Auch hier gab es, wie man einräumen muss, Ausnahmen. Es lag im Ermessen der zuständigen Friedensrichter, den Hausbesitzern die Steuern zu erlassen, wenn man glaubte, die Bewohner wären zu arm, um sie zu bezahlen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war ein Drittel der Häuser in den ländlichen Bezirken von Suffolk und Hampshire und ein Siebtel der Wohngebäude im industriell geprägten Lancashire (wo die Armut nicht so schlimm war) von der Steuer befreit.20 Man führt aber mit Nachdruck ins Feld, dass die Ausnahmeregelung den Armen wenig einbrachte, weil sie die Vermieter in die Lage versetzte, mehr Miete für ihre Häuser zu verlangen, als diese es sonst getan hätten. Das führte wiederum dazu, dass der Anteil der nichtentlasteten Häuser stieg und – so wird berichtet – dass „die steuerpflichtigen Hausbesitzer die Bauunternehmer der Hütten nicht mochten und für öffentliche Feinde hielten.“ Dem Ganzen haftete der „Bruchbudengeruch“ an. In den Folgejahren des langen Krieges hatten die Bauträger dann dafür Sorge zu tragen, dass neue Wohngebiete erschlossen und die Bedürfnisse der schnell wachsenden Bevölkerung befriedigt wurden. Die Kosten, die weitgehend den Steuereintreibungen zuzuschreiben waren, standen ihnen dabei im Weg. Die Ausgaben, die mit dem Hausbezug verbunden waren, wurden durch kräftige Kommunalabgaben erschwert, was die Nettomiete, die man sich als Arbeiter leisten konnte, drückte. Wollte man unter den gegebenen Umständen den Armen überhaupt ein Dach über dem Kopf anbieten, dann musste man die Gebäude kleiner, weniger robust und weniger komfortabel bauen, als wünschenswert war.21 Ganz gewiss haben weder die Maschine, noch die industrielle Revolution, noch der spekulierende Ziegelsteinmaurer oder Zimmermann versagt. Einige Bauunternehmer sind wohl reich geworden, aber die Pleiteinzidenz war hoch. Das eigentliche Problem war die Häu 20

Hansard (1850), S. 470 (P. Scrope). Man schätzte, dass 1850 in Liverpool ein Arbeiterhaus – vermutlich einschließlich des Grundstückspreises – zwischen 120 und 150 Pfund kostete und für 12 Pfund pro Jahr vermietet wurde (Morning Chronicle, 16. September 1850). Eine Rendite von 10 bis 12 % klingt hoch. Aber man musste damit die Kosten für die Mieteintreibung und das Mietausfallsrisiko infolge vorübergehenden Leerstands decken. 21

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serknappheit. Jene, die dem Bruchbudenbauer Vorwürfe machen, erinnern an den von Edwin Cannan zitierten Pastor, der die versammelten Gläubigen dafür verantwortlich gemacht hat, dass der Gottesdienst so schwach besucht war. Viele Autoren haben zu Recht die unzureichenden Maßnahmen beklagt, mit denen man die Öffentlichkeit vor der Überbebauung der ausgewiesenen Flächen schützen wollte. London, Manchester und andere große Städte hatten jedoch schon seit vielen Generationen geltende Baugesetze,22 und niemand, der sich einmal die Jahrbücher für Bauunternehmerpreise angeschaut hat, wird im Traum daran glauben, dass London unter einem Regulierungsdefizit gelitten habe. Herr John Summerson hat sogar gemeint, die erdrückende Monotonie der neuen Straßen in der Hauptstadt seien nicht, wie so oft geglaubt, eine unmittelbare Folge der freien Wirtschaft, sondern jener Vorkehrungen des Gesetzes von 1774, das die Bauunternehmen das Schwarze Gesetz nennen – ein Werk, das etwa 35.000 Wörter umfasst.23 Was jenen, die dieses Gesetz entwarfen, gewiss am wichtigsten erschien, war die Feuervermeidung. Einige Autoren, wie die Webbs, haben aber (wie Redford gezeigt hat)24 die frühen Bemühungen der lokalen Behörden hinsichtlich Wegeausbau, Straßenbeleuchtung und Straßenreinigung kaum gewürdigt. Dass nicht mehr getan wurde, geht jedoch nicht auf das Konto der Bauträger. Thomas Cubbitt sagte vor dem Unterhaus, er würde keinen Hausbau zulassen, solange man ihm nicht zeigen könne, dass vor Ort ein Abwassersystem und eine gute Möglichkeit, das Wasser loszuwerden, existiere. „Ich denke, man sollte aus öffentlichen Mitteln einen Inspekteur bezahlen, der dafür verantwortlich ist.“ Wenn die Städte von Krankheiten heimgesucht wurden, dann lag zumindest ein Teil der Verantwortung beim Gesetzgeber, der durch die Besteuerung der Fenster Licht und Luft mit einem Preis versehen hatte und den Bau von Abwasserrohren und -kanälen durch Abgaben auf Ziegeln und Fließen unattraktiv gestaltet hatte. All jene, die der schrecklichen Tatsache, dass Trinkwasser mit Fäkalien verunreinigt wurde, ihren Tribut zollen und diesen Umstand – wie auch alle anderen Horrorfakten – der industriellen Revolution anlasten, sollten die offenkundige Tatsache bedenken, dass ohne Rohre aus Gusseisen, die ein Produkt jener Revolution waren, das Problem, den Menschen in den Städten eine gesunde Lebensführung zu ermöglichen, niemals bewältigt worden wäre.25 Während mein erster Einwand gegen die weithin geteilte Auffassung bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert den darin aufblitzenden Pessi­m ismus betrifft, gilt mein zweiter Einwand dem Umstand, dass jene 22 Das erste Wegegesetz von Westminster stammt von 1762. Manchester hatte 1776 ein Verbesserungsgesetz und 1792 ein Polizeigesetz verabschiedet; vgl. Redford (1939/40). Liverpool erhielt 1785 und 1825 Verbesserungsgesetze. 23 Summerson (1945), S. 108. 24 Redford (1839/40). 25 John Wilkinson versorgte die Pariser Wasserwerke 1781 mit gusseisernen Rohren, aber während des Krieges gossen er und die übrigen Eisenfabrikanten Kanonen, keine Rohre. Noch 1810 verlegte man Rohre aus Ulmenholz.

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Auffassung überhaupt kein wirtschaftliches Verständnis durchscheinen ließ. Die Zeitgenossen von Adam Smith und dessen unmittelbaren Nachfolgern haben viele Abhandlungen zur Geschichte von Handel, Industrie, Münzwesen, öffentlichen Einnahmen, Bevölkerung und Pauperismus hinterlassen. Jene, die sie schrieben – Männer wie Anderson, Macpherson, Chalmers, Colquhoun, Lord Silverpool, Sinclair, Eden, Malthus und Tooke –, waren entweder selbst Ökonomen oder zumindest an Dingen interessiert, die Adam Smith, Ricardo und Mill beschäftigt haben. Ja, es gab auch Rebellen, sowohl links wie rechts, die sich gegen die von den Ökonomen vorgelegten Doktrinen stellten, aber nur wenige von ihnen haben Spuren in der Geschichte hinterlassen. Mithin gab es nie eine scharfe Trennlinie zwischen Geschichte und Theorie. Aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es dennoch einen großen Bruch. Inwieweit er dem direkten Einfluss der Schriften von Marx und Engels, der aufkommenden Historischen Schule in Deutschland oder der Tatsache, dass die englischen Wirtschaftshistoriker im Gefolge Toynbees vornehmlich Sozialreformer waren, zuzuschreiben ist, verbietet sich mir, hier zu erörtern. Aber zweifellos gab es die Tendenz, die Geschichte anders als ökonomisch zu schreiben. Man hat reihenweise Etiketten eingeführt, um deutlich zu machen, was man für die bestimmenden Merkmale der aufeinanderfolgenden Zeitalter hielt. Die meisten von ihnen waren politisch und nicht ökonomisch konnotiert. Der schillernde Begriff „industrielle Revolution“ wurde, wie Frau Bezanson nachgewiesen hat,26 nicht von englischen Industriellen oder Ökonomen geprägt, sondern von französischen Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die mit ihm eine Duftmarke ihrer politischen Gesinnung hinterließen. Engels und Marx haben ihn begierig aufgegriffen und Arnold Toynbee nutzte ihn als Titel seines bahnbrechenden Werkes. Man mag zu Recht fragen, ob seine Brauchbarkeit nicht bereits erloschen sei, zumal er tendenziell die Ansicht förderte, die Einführung der Massenproduktion habe katastrophale und keineswegs vorteilhafte Auswirkungen gehabt. Aus meiner Sicht noch unglücklicher war das Eindringen einer anderen Phrase politischer Couleur in die Wirtschaftsgeschichte, die aus einer früheren Phase stammt, aber des gleichen Geistes Kind ist. Professor Macgregor hat den Begriff „Laissez faire“ bis 1755 zurückverfolgt. Damals wurde er erstmals von Marquis d’Argenson genutzt, um sowohl ein politisches als auch ein ökonomisches Prinzip zu bezeichnen.27 Macgregor hat die kuriose Entwicklungsreise des Begriffs nachgezeichnet, und zwar mit jener Zeit beginnend, in der mit ihm der Nichteingriff in das Wirtschaftstreiben gemeint war, bis hin zu jenen Tagen 1907, als Alfred Marshall mit ihm meinte, „lass den Staat gewähren und machen“. Angesichts der Zweifelhaftigkeit seiner eigentlichen Intention sollte man sich nicht darüber wundern, dass einige Autoren den Begriff an einer Periode der englischen Geschichte festmachen wollten, die anderen als Zeitalter der Reform bekannt ist – auch dies eine Phrase, die aus dem Vokabular der Politik und nicht dem der Ökonomie entlehnt ist. Man sollte daher nicht zu hart mit einem Prüfling 26 27

Vgl. Bezanson (1922), S. 343. Macgregor (1949).

1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus

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ins Gericht gehen, der erklärte, dass „um das Jahr 1900 herum die Menschen dem Laissez faire den Rücken kehrten und begannen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.“ Der Titel eines Buches von 1904 aus der Feder von Herrn Fisher Unwin hat die Dekade, die den Eisenbahnaufschwung und die Aufhebung der Getreidezollgesetze erlebt hat, mit dem Stigma der „hungrigen 40er Jahre“ belegt, und erst jüngst hat ein Magazin namens Womanfare mit Bezug auf das Jahrzehnt vor dem letzten Krieg von den „hungrigen 30er Jahren“ des 19. Jahrhunderts gesprochen. Derzeit erleben wir das Aufkommen der Legende, die Jahre 1930 bis 1939 wären nur von Elend geprägt gewesen. Es ist gut möglich, dass die nächste Generation dann ebenfalls pauschal von den „hungrigen 30er Jahren“ sprechen wird. Zwei Generationen von Wirtschaftshistorikern haben sich um wirtschaftliche Fragen gedrückt oder dieselben nur oberflächlich abgehandelt. Sie haben sich nie Klarheit über solch elementare Fragen verschafft, ob man nach Knappheit oder Überfluss suchen muss, aber im Allgemeinen ist es die Beschränkung, der sie den Vorzug geben. Die Anstrengungen, die man in Lancashire unternahm, um Menschen, die vorher halbnackt herumliefen, einen günstigen Unterschlupf zu gewähren, werden nur in einem Halbsatz gewürdigt, in dem es heißt, dass „die Knochen der Baumwollweber die Ebenen Indiens gebleicht haben.“ Im selben Lehrbuch macht man dem Leser vor, dass die Importzölle auf Weizen zu Armut und Elend geführt hätten und dass das Fehlen einer solchen Abgabe, die als Damm gegen die Überflutung mit billigem Weizen, der über den Atlantik hereinkam, gedacht war, die Hauptursache für Armut und Elend der Folgejahre gewesen sei – jene Zeit, die leider als Große Depression in die Geschichte einging. Einige Wirtschaftshistoriker haben in ihren Abhandlungen Antworten auf die Frage geben wollen, ob der Handel mit der Industrie komme oder die Industrie mit dem Handel, ob der Transport Märkte entwickele oder Märkte die Möglichkeit zum Transport eröffneten. Sie sind auch der Frage nachgegangen, woher die Nachfrage komme, welche die Produktion erst möglich mache. Wo aber ein wirkliches Problem auftaucht, geht man über dasselbe mit Kommentaren hinweg, in denen es heißt, dass „eine Krise aufkam“ oder „Spekulationen kursierten“. Die Natur des wie und warum wird aber nur selten offengelegt. Und wenn man Details nachreicht, dann wirft man die Logik über Bord. Als Erklärung der französischen Depression verkündet Professor Clough28, dass die „reduzierte landwirtschaftliche Produktion die Kaufkraft der Bauern gemindert hat und die hohen Lebenshaltungskosten die Industriearbeiter davon abgehalten hat, anderes als Lebensmittel zu kaufen.“ Auf diese Weise kann man gewiss aus beiden Welten das Schlechteste machen. Man hat oft gehört, dass zumindest vor Keynes der Wirtschaftstheoretiker in einer Welt der Abstraktionen gelebt und dem Historiker nichts Brauchbares geliefert habe. Aber wenn die Historiker nur ein bisschen über Grenzkostenrechnung nachgedacht hätten, wären sie von solch dümmlichen Behauptungen wie jene verschont geblieben, dass der 28

Gemeint ist wohl der Wirtschaftshistoriker Shepard Bancroft Clough, Autor von The Rise and Fall of Civilization (1951), d. Hrsg.

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Handel nur entstehen kann, wenn es einen Mehrwert gibt, und Investitionen im Ausland nur stattfinden, wenn der heimische Kapitalmarkt gesättigt ist. Ignoranz gegenüber den Kernelementen der Wirtschaftstheorie hat die Historiker dazu gebracht, jeden Modetrend mit politischen Auslegungen zu versorgen. In Scharen von Büchern werden die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, die im 19. Jahrhundert einsetzten, der Fabrikgesetzgebung zugeschrieben. In fast keinem von ihnen wird darauf hingewiesen, dass die steigende Produktivität der Männerarbeit etwas mit dem Rückgang der Kinderausbeutung in den Betrieben zu tun hatte, oder mit jenem der Zahl der Frauen, die in den Minen erniedrigt wurden. Vor dem 1948 erschienenen Buch von Professor Rostow über die British Economy of the Nineteenth Century hat es unter den Historikern kaum Diskussionen über das Verhältnis von Investition und Ertrag gegeben. Niemand hat die Notwendigkeit der Theorie in der Geschichtsschreibung mehr betont als Sombart. „Fakten sind wie Perlen“, erklärte er, „sie brauchen eine Schnur, die sie zusammenhält … Keine Theorie, keine Geschichte.“ Bedauerlicherweise fand er seine eigene Theorie nicht in den Schriften der Ökonomen seiner Tage, sondern in jenen von Karl Marx. Obwohl er später schroff auf Marxens Auslegungen reagierte, ließen seine Schriften doch zahlreiche Historiker in Deutschland, Britannien und den Vereinigten Staaten ihre Perlen auf eine marxistische Schnur ziehen. Vor allem alles und jedes, das seit dem Mittelalter geschehen ist, wird im Sinne von Kapitalismus erklärt – ein Terminus, der von Marx, wenn auch nicht geprägt, so doch zu einer weitverbreiteten Münze gemacht wurde. Marx hat ihn natürlich mit Ausbeutung in Verbindung gebracht. Sombart hat mit ihm ein Produktionssystem gemeint, das sich von jenem der handwerklichen Produktionsweise durch die Tatsache abhebt, dass die Produktionsmittel Eigentum einer Klasse sind, die sich von jener der Arbeiterschaft unterscheidet – eine Klasse, deren Motiv der Profit ist und deren Methoden, anders als die herkömmlichen Methoden der Handwerker, zweckrational sind. Obendrein hob er den kapitalistischen Geist hervor. Andere Komponenten, wie etwa jene, dass Innovationen innerhalb des Systems durch geliehenes Geld oder Kredit zustande kommen, haben spätere Autoren wie Schumpeter hinzugefügt. Aber fast alle sind sich darin einig, dass der Kapitalismus das Vorhandensein einer rationalen Methode impliziert, dazu ein Proletariat, das seine Arbeit veräußert (und nicht das Produkt seiner Arbeit), und eine Kapitalistenklasse, deren Ziel der unbegrenzte Profit ist. Man geht davon aus, dass der Mensch auf irgendeiner Stufe der Menschheitsgeschichte – vielleicht im 11. Jahrhundert n. Chr. – zum ersten Mal rational und gewinnorientiert geworden sei. Das Hauptgeschäft der Wirtschaftshistoriker in der Tradition Sombarts bestand darin, die Ursprünge von Rationalität und Gewinnorientierung aufzuspüren. Es ging um das, was sie den „genetischen Ursprung“ des Kapitalismus nannten und als Problem ansahen. Tausend Jahr sind eine lange Zeit, zudem unhandlich. Und so musste der Kapitalismus als eine Reihe von Stufen dargestellt werden – die Epochen des Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus oder die des merkantilen und industriellen Kapitalis-

1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus

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mus, gefolgt von Finanz- und Staatskapitalismus. Natürlich konzedieren jene, die von diesen Kategorien Gebrauch machen, dass es Überlappungen gibt; dass die Spätphase einer Epoche die Frühphase der Folgeepoche oder, wie es dann gerne heißt, der aufkommenden Epoche sei. Wenn man die Wirtschaftsgeschichte so lehrt  – also unterstellt, dass Kommerz, Industrie, Finanzwesen und staatliche Kontrolle die vorherrschenden Kräfte waren, die Schritt für Schritt aufeinander folgten –, dann enthält man dem Studenten das Zusammenspiel und die gegenseitigen Abhängigkeiten all dieser Faktoren, die es zu jeder Zeit der Geschichte gab, vor. Dies ist schlechte Wirtschaftslehre. Wer so schreibt, neigt dazu, die Tatsachen zu verdrehen. Zur Legende gehört es, dass die vorherrschende Organisationsform des industriellen Kapitalismus, die Fabrik, aus einer Nachfrage heraus entstand – nicht jener der einfachen Leute, sondern jener der Reichen und Herrschenden. Lassen Sie mich Professor Nussbaum an dieser Stelle zitieren: „Bezogen auf Personen“, so schreibt er, „waren es die Interessen der Prinzen (des Staates) und der Industriellen, sachlich betrachtet, eine Bevorzugung von Krieg und Luxus, welche die Entwicklung des Fabrikwesens – man möchte fast sagen – verursacht hat.“ Um seine monströse Theorie zu untermauern, reicht er eine Liste der kapitalisierten Industriezweige um 1800 nach. Sie umfasst „Zucker, Schokolade, Spitze, Stickereien, Neuheiten, Tapeten, Spiegel, Porzellan, Geschmeide, Uhren und Buchdruck.“29 Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass mir, mit Ausnahme von Zucker, von keinem dieser Produkte bekannt ist, dass es zu jener Zeit in englischen Fabriken hergestellt worden wäre.30 Nussbaum räumt ein, dass Baumwollkleidung „einen Raum für eine fast ausschließlich kapitalistische Organisationsform schuf,“ fügt aber hinzu, dass dieselben „zunächst und für eine längere Zeit Luxusgüter waren.“ Offenkundig dachte er, Arkwright31 und seine Kollegen hätten für die königlichen Ränge feine Nessel- und Batiststoffe gefertigt, nicht aber Baumwollwaren für Arbeiter und indische Bauern. Jeder, der sich einmal die Mühe gemacht hat, in den Aufzeichnungen nachzuschlagen, welche die Gründergeneration der englischen Fabrikbesitzer hinterlassen hat, hält diese Legende über Krieg und Luxus für so absurd, dass er deren Widerlegung für überflüssig hält. Die Wahrheit ist, wie Professor Koebner32 sagte, dass weder Marx noch S ­ ombart (im Übrigen auch nicht Smith) eine Vorstellung von der wahren Natur dessen 29

Nussbaum (1933), S. 334. Zur Debatte kann man auch Nussbaums Äußerung auf S. 251 stellen, eine Erz- und Ölknappheit in der Eisenindustrie des 18. Jahrhunderts habe „bezeichnenderweise zu hohen Produktionskosten und dadurch zu einer Verengung auf dem Markt geführt, und dies wiederum zu höheren Kosten und zu einer allgemeinen Begrenzung der Ausbreitung der kapitalistischen Organisation.“ 31 Gemeint ist der damals weitbekannte Baumwollfabrikant Sir Richard Arkwright ­(1732–1792), d. Hrsg. 32 Gemeint ist wohl der deutsche Historiker Richard Koebner, zu dessen Lehrern auch Werner Sombart gehörte. 30

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hatten, was wir industrielle Revolution nennen. Sie haben den wissenschaftlichen Anteil überbetont und keine Vorstellung von jenem wirtschaftlichen System, das sich spontan entwickelt hat, und zwar ohne die Hilfe des Staates oder des Philosophen. Ungeachtet dessen ist es m. E. die Betonung des kapitalistischen Geistes, die den größten Schaden angerichtet hat. Aus einer Phrase, die eine mentale oder emotionale Haltung unterstellt, wurde eine unpersönliche, übermenschliche Kraft. Es sind nicht länger Männer und Frauen, die durch freie Entscheidungen Veränderungen bewirken, sondern der Kapitalismus oder dessen Geist. „Kapitalismus,“ sagt Schumpeter „entwickelt Rationalität.“ „Der Kapitalismus verherrlicht die Geldeinheit.“ „Der Kapitalismus bringt die mentale Haltung zur modernen Wissenschaft hervor.“ „Moderner Pazifismus, moderne internationale Moral, moderner Feminismus, sie alle sind Produkte des Kapitalismus.“ Was immer dies auch ist, Wirtschaftsgeschichte ist es bestimmt nicht. Es hat der Aufzählung nackter Fakten einen neuen Mystizismus beschert. Was soll ich mit einem Kandidaten machen, der mit folgenden Worten anhebt, zu erklären, warum die Gesellschaft mit beschränkter Haftung um 1850 in England Einzug hielt? Er schrieb: „Der Individualismus war gezwungen, dem Laissez Faire den Weg freizumachen, als die kapitalistische Entwicklung das Frühstadium des Unternehmerkapitalismus als Hindernis begriff, das der rationalen Expansionsbewegung, also dem eigentlichen Ethos des Kapitalismus, im Weg stand.“ Sombart, Schumpeter und ihre Anhänger sind an den Endzwecken interessiert, nicht an Effizienzgründen. Sogar ein so nüchterner Historiker wie Professor Pares ist davon infiziert. „Der Kapitalismus selbst,“ so schreibt er, „verursacht bis zu einem gewissen Grade die Produktion der Handelsgewächse, weil er die Bezahlung in einer Währung verlangt, die man auch zu Hause hat.“33 Der Betrachtungswinkel ist ex post, nicht ex ante. Über den genetischen Ansatz meinte Professor Gras34 einmal treffend: „Er reißt die Fakten aus ihrem Zusammenhang. Wenn man die Genese der Evolution betont, dann impliziert man einen ursprünglichen Impuls, der, einmal begonnen, bis zum Ende durchgehalten wird.“ Mit anderen Worten, die Dinge geschehen, weil der Kapitalismus fordert, dass sie eintreten – und zwar, so könnte man hinzufügen, zu einem Zweck, der noch nicht erreicht ist. „Eine sozialistische Gesellschaftsform wird sich unweigerlich aus einer ebenso unausweichlichen Auflösung der kapitalistischen Gesellschaft ergeben,“ schrieb Schumpeter. Mag sein. Aber ich möchte nicht, dass die Geschichte so geschrieben wird, als ob ihre Aufgabe schlicht darin bestünde, die Stufen der Unvermeidbarkeit zu schildern. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als wäre ich Sombart und Schumpeter gegenüber respektlos. Im Vergleich zu ihren enormen Leistungen müssen meine eigenen kleinen Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte wie das Werk eines unge 33

Pares (1927). Wahrscheinlich ist der kanadische Unternehmenshistoriker Norman Scott Brien Gras gemeint, Autor von Industrial Evolution (1930), d. Hrsg. 34

1. Der Umgang der Historiker mit dem Kapitalismus

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schickten Amateurs erscheinen. Aber ich bin entschieden der Meinung, dass die Zukunft unseres Fachs in der engeren Kooperation mit den Ökonomen und ihren Arbeiten liegt und Phrasen, die früher vielleicht einmal einem Zweck gedient haben, nun abgelegt werden sollten. Eine der besten historischen Verteidigungsschriften zur ökonomischen Zivilisation Amerikas wurde ganz in der Tradition Sombarts geschrieben, und zwar von Professor Hacker. Meiner bescheidenen Meinung nach hätte sie kaum etwas, wenn überhaupt, von ihrer Brillanz eingebüßt und wäre ebenso überzeugend ausgefallen, wenn sie ausschließlich in den eigenen klaren Worten von Professor Hacker verfasst worden wäre. Überhaupt glaube ich nicht, dass die besagten Jahrhunderte nichts außer Gräuel und Ausbeutung zu bieten gehabt hätten. Zusammen mit George Unwin glaube ich, dass der Fortschritt – wenn ich diesen anachronistischen Begriff verwenden darf – den spontanen Handlungen und Entscheidungen des gewöhnlichen Menschen entspringt und dass es nicht zutrifft, dass alles unter der Dynamik (was immer damit auch gemeint sein soll) einer unpersönlichen Kraft namens Kapitalismus einem vorbestimmten Ziel entgegendrängt. Ich glaube, dass die kreativen Errungenschaften des Staates weit überzogen werden und dass, in den Worten von Calvin Coolidge, die Menschen dort, „wo sie die Regierung sind, ihre Last nicht loswerden, indem sie versuchen, dieselbe auf die Regierung abzuwälzen.“ Wenn ich mich umschaue, dann merke ich, dass die Menschen die bittere Wahrheit, die in diesen Worten steckt, leidvoll erfahren. Früher frohlockte ich ob der Hoffnung, dass das Studium der Geschichte uns vor derlei Erfahrungserlebnissen bewahren könnte. Ich habe hervorgehoben, was in meinen Augen unlogische und illiberale Neigungen unter manchen meiner Kollegen sind. Nun muss ich zum Schluss sagen, dass mich eine Erkenntnis ermutigt: An der London School of Economics und anderswo in Britannien und Amerika wächst die Gemeinde junger Dozenten, die nicht gegen das ökonomische Denken und liberale Ideen eingestellt sind. Ich glaube nicht, dass denen, die in meinen Augen in den Hochburgen des Irrtums leben, ein Frontalangriff gelingen wird. Ich glaube vielmehr, dass sowohl unter den Gelehrten als auch in der Welt des Handels Kräfte im Gange sind, die Besseres hoffen lassen.

2. Die antikapitalistische Voreingenommenheit unter amerikanischen Historikern Louis Morton Hacker Ich werde mich derselben Sache annehmen, die auch schon das Interesse von Professor Ashton geweckt hat. Im ersten Teil meines Aufsatzes werde ich einige Anmerkungen zur allgemeinen Bedeutung der von ihm erörterten Ideen vornehmen, und im zweiten werde ich die gegenwärtige Haltung amerikanischer Historiker gegenüber dem Kapitalismus darlegen. I Die Präsentation von Professor Ashton zeugt von jener Umsichtigkeit, die wir von ihm kennen und erwarten, da er über die bei Wirtschaftshistorikern nur selten anzutreffende Gabe verfügt, sowohl das Ganze wie auch dessen Teile klar zu sehen. Niemand hat uns mehr anschauliche Bilder der detailreichen Entwicklung industrieller Unternehmen in Britannien vor Augen geführt als er; niemand hat so überzeugend einen allgemeinen philosophischen Ausblick auf das Wesen und die Bedeutung des 19. Jahrhunderts in ökonomischer – oder sollte ich sagen, in politischer – Hinsicht präsentiert wie er. Heute ist es Mode (weitaus mehr als noch in der Generation vor uns, als die Autorität der Webbs und Hammonds unangefochten war), das 19. Jahrhundert schlechtzureden. Charles A. Beard1 in Amerika und E. H. Carr2 in England, um die prominentesten Kapitalismuskritiker zu nennen, haben immer wieder auf das moralische Versagen des letzten Jahrhunderts gepocht. In ihm sei es nur ums Geld verdienen gegangen (und zwar nur mithilfe billiger Produkte, doch schon im Wort „billig“ steckt eine Konnotation zur Zwielichtigkeit). Man habe dabei den Blick für jene höheren Werte, die angeblich früheren Epochen eine Richtung und tiefere Bedeutung vorgaben, aus den Augen verloren. Das 19. Jahrhundert habe keinen Sinn für Verantwortung gekannt und im Streben nach materiellem Besitz die allgemeine Haltung mit einer Affinität zum Materiellen vulgarisiert. Unsere Welt kennt nicht nur keine Einheit. Es fehlt ihr auch an Zweck und Zuversicht. Man unterstellt, das 18. Jahrhundert habe dieselben besessen und für das 20. Jahrhundert sei es nicht zu spät, sie zurückzugewinnen.

1 2

Beard (1927, 1939, 1942). Carr (1942, 1947).

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Ashton hat Recht, wenn er sich gegen die gegenwärtigen Bestrebungen, die vorindustrielle Welt zu romantisieren, auflehnt. Er ähnelt darin Boissonnade,3 der die Behauptungen all jener so eindrucksvoll zerpflückt hat, die versucht hatten, die Welt des Mittelalters aufzuhübschen. Ich selbst habe versucht, die Annahme zurechtzurücken, das vorindustrielle Europa habe eine moralische Vorliebe für die arbeitende Bevölkerung gehabt.4 Ganz im Gegenteil! Dass das Leben der großen Mehrheit – vor dem 19. Jahrhundert – tierisch, ekelhaft und kurz war (in der Gutsherrenzeit, beim Leben in Hütten, als Sklave auf einer amerikanischen Plantage), liegt daran, dass über die beabsichtigte Wahrung von Status und Usus hinaus kein Interesse an Verbesserungen bestand. Niemand dachte niedriger über die menschliche Natur als die Moralisten des 18. Jahrhunderts – ich erinnere an Defoe und Mandeville –, die den Menschen für unfähig hielten, für sein eigenes Seelenheil zu sorgen.5 Die Menschen brauchen eine übergeordnete Autorität – Gebräuche, Gesetze und Gesetzesvollzug –, um die Vorgaben einzuhalten, die für das innere Gleichgewicht sorgen. Heutzutage wird diese Autorität „Sozialplanung“ genannt. Hinter beiden Einstellungen steht grundsätzliches Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten des Menschen, unter Einsatz ihrer Intelligenz das eigene Leben harmonisch zu ordnen. Der allgemeine Vorwurf der Inhumanität, den man dem 19. Jahrhundert machte – so ist ja die allgemeine Lesart der Laissez faire-Politik, nicht wahr? –, wäre sonst nur üble Nachrede. Doch, um das zu sein, ist er zu widerwärtig. Die Anklage greift aber aus drei Gründen daneben. Das 19. Jahrhundert war das erste, das eine staatliche Gesundheitspolitik und Schulpolitik im großen Stil einführte. Indem es die Herstellung günstiger Produkte ermöglichte, bewirkte das 19. Jahrhundert in den Industrienationen einen erstaunlichen Anstieg der Reallöhne. Und indem es den Transfer großer Kapitalbestände gestattete, öffnete es die zurückgebliebenen Länder für Fortschritt und Produktivität. Wir dürfen nicht vergessen, dass vor dem 19. Jahrhundert die Investitionen der großen Handelsgesellschaften selten über die eigenen Küstenregionen hinaus getätigt wurden. Die Investitionsgeschäfte der Frühzeit haben zu keiner Kapitalverbesserung auf breiter Flur geführt. Mit der Aufrechterhaltung der Handelsstationen wurden die Produktion oder das Transportwesen der einbezogenen Völker kaum verbessert; mithin stieg dort auch nicht die Grenzproduktivität der Arbeit. Die Bilanzen Britanniens in Amerika oder Indien vor dem 19. Jahrhundert sind in dieser Hinsicht eindeutig. Das gilt auch für Frankreich. Auf den Westindischen Inseln gab es eine bemerkenswerte Ausnahme, und zwar in Bezug auf die Plantagenprodukte. Es liegt aber klar auf der Hand, dass vor dem 19. Jahrhundert keine nennenswerten Summen an britischem 3

Boissonnade (1950). Hacker (1947, 1948). 5 Zu diesem Thema vgl. die ausgezeichnete Erörterung in Furniss (1920). Kurioserweise lassen sowohl Heckscher, in seinem opus magnum über den Merkantilismus, als auch Keynes, der ihm im Auslassen sklavisch folgt, alle moralischen Implikationen der merkantilistischen Doktrin außen vor. 4

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oder französischem Kapital nach Übersee und dort in die Manufakturen, Transportsysteme und Banken geflossen sind. Ashton hat gezeigt, warum es zumindest im Britannien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hindernisse für Verbesserungen im großen Stil gab, die sonst möglich gewesen wären. Die außergewöhnliche Expansion der Städte war eines der Merkmale der Industrialisierung. Private Investoren hatten Mühe, mit der Wohnungsnachfrage Schritt zu halten. Daher also die erbärmlichen Elendsviertel und Bruchbuden, über die sich die Sozialreformer in ihren Verleumdungen so wortreich auslassen. Ashton hat auf die künstlich aufrechterhaltenen Zinssätze und die instabile Fiskalpolitik hingewiesen, die dem Risikokapital Knüppel zwischen die Beine warf. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die große Ausdehnung der Städte intensiver wurde, und zwar durch eine Erneuerung der Eingliederungsbewegung im Zuge der irischen Immigration und der sinkenden Sterblichkeit. Keines dieser Phänomene hatte etwas mit den üblen Seiten der Ausbeutung zu tun, welche die Kritiker des Fabrikwesens so gerne entdeckt hätten. Dergleichen meine ich, wenn ich Ashton dafür lobe, scharf erkannt und dann analysiert zu haben, was ansonsten wie ein unwichtiges Detail aussieht. Die Fenstersteuer hat das Aussehen der städtischen Mietskasernen beeinflusst, die Verbrauchssteuer auf Baumaterialien trieb die Baukosten in die Höhe. Notdürftige Unterkünfte und Überbevölkerung in den Städten sind keine Zeugen dafür, dass die neue industrielle Klasse die moralische Verantwortlichkeit zurückgewiesen hätte, sondern das Ergebnis natürlicher Kräfte, wie Immigration und Wanderbewegungen innerhalb der Bevölkerung, sowie die Folgen einer schlechten Finanzpolitik. An dieser Stelle verpasst Ashton der Ausbeutungstheorie der Marxisten und Fabianisten einen heftigen Stoß. Nicht weniger realistisch ist er, wenn er die grobschlächtige genetische Interpretation der Marxisten und Sombartianer kritisch analysiert. Er fürchtet, eine theoretische Analyse der ökonomischen Entwicklung im kapitalistischen Sinne sei von geringem Nutzen. Vielleicht ist das Gegenteil der Fall. Man sollte daran erinnern, dass Marx und Engels es aus dialektischen Zwecken für geboten hielten, die Wirtschaftsgeschichte der Menschheit in eine Reihe von Stufen zu unterteilen und mit einem dialektischen Gesetz untereinander zu verknüpfen. Die klassische Sklaverei wurde in eine Gutsherrenknechtschaft transformiert, und diese wiederum in eine industrielle Ausbeutung, und zwar durch die Mechanismen der unveränderlichen Prinzipien der Dialektik. Jede Stufe war in ihrer Frühphase progressiv (wie ordnen wir da griechische Philosophie und Wissenschaft, wie römisches Recht oder mittelalterliche Kunst ein?); jede wurde ausbeuterisch, und die Saat ihrer eigenen Zersetzung schlug Wurzeln und wuchs. Die Revolution brach aus – durch die Negation der Negation – und die Gesellschaft war bereit für den nächsten, schwierigen Schritt – auf zu Sonne und Freiheit. In der Hinsicht waren Marx und Engels die Enkel von Newton und Hegel. Nur Darwin brachte ihr mechanisch geordnetes Universum gefährlich ins Wanken. In der marxschen Analyse waren diese Kräfte und Herausforderungen – These, Antithese, Synthese – alle materialer Natur und allein in den Produktionsverhält-

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nissen zu suchen. Alles andere in der Gesellschaft – Moralität, Recht und Kunst – war „Überbau“. Überdies konnten Moralität, Recht und Kunst kein eigenständiges Leben und keine eigenen Sanktionen haben. Und eine andere Kuriosität der marxschen Lesart der Geschichte war die These vom Feudalismus, der durch einen dialektischen Wandel in den Kapitalismus (hier: Industriekapitalismus) überging. Was aber war dann mit der großen Handelsepoche in Westeuropa, die sich zur gleichen Zeit zutrug und die Städte Italiens, Deutschlands, Flanderns und Frankreichs zwischen dem 12. und 18. Jahrhundert geprägt hatte? Mit ihr war „Händlerkapital“ und „Wucherkapital“ am Werk, das unproduktiv war und im marxschen Jargon zwischen den Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung und dabei von den produktiven Teilen der Gesellschaft lebte. Eine der schrecklichsten Taten, die Marx beging, war sein Pamphlet über die Juden, in dem er den Antisemitismus damit erklärte (und implizit rechtfertigte), dass die Juden „Wucherkapitalisten“ und „Händlerkapitalisten“ gewesen wären. Ashton hat hier vollkommen Recht: Das Stufenmodell bzw. Entwicklungs­ modell von Marx war nicht nur falsch, sondern brachte auch unsägliches Leid über die Welt. Der Fehler, das sollte hier betont werden, liegt in der Verknüpfung einer Stufentheorie mit der Dialektik und mit der Theorie des „Überbaus“. Diese Verbindung macht seine Auffassung von der wirtschaftlichen Entwicklung deterministisch und fatalistisch. Auch bei seiner Widerlegung von Sombart steht Ashton auf festem Boden. Sombart wollte die Unstimmigkeiten bei Marx überwinden und dessen großen Lücken füllen. Er erkannte Stufen der kapitalistischen Entwicklung: gewerblicher Kapitalismus (Händlerkapitalismus), Industriekapitalismus, Finanzkapitalismus bzw. Hochkapitalismus, Staatskapitalismus bzw. Spätkapitalismus. Der Kapitalismus wurde geistig charakterisiert, als rationalistisch, gewinnorientiert, planvoll. Sobald der kapitalistische Geist nachließ, erklomm der Kapitalismus als Ergebnis einer neuen Rationalität die nächste Stufe. Das gewerbliche Kapital ging demnach in das industrielle Kapital über, weil der Luxus und die kriegstreibenden Industrien, die großen Stützen und Interessen der absoluten Monarchien des 17. und 18. Jahrhunderts, dies erforderten. Sombart, der Ökonomiegeschichtsschreiber und Marx­ abschwörer, hat Hegel nie überwunden, wie die späteren Auflagen seines Buches über Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert bekunden. Er hat den dialektischen Materialismus abgelegt, aber nicht den dialektischen Idealismus. Wenn der Geist es erforderte, das Universum nach den Gesetzen der Dialektik zu lenken, und wenn das Nazitum die Wiedergeburt des teutonischen Geistes ankündigte, dann hatte das Nazitum – jetzt, da der Finanzkapitalismus seinen Weg genommen hatte – das Recht der Geschichte auf seiner Seite. So, wie das marxsche Stufenmodell uns den unausweichlichen Kommunismus brachte, bescherte Sombarts Stufentheorie uns das Dritte Reich und dessen 1000 ruhmreichen Jahre. Ashton wäre der erste, der die These teilen würde, dass Marx und Sombart außergewöhnliche Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte geleistet haben. Und ich wäre der

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erste, der zugestände, dass ihre Geschichtsphilosophien irriger und gefährlicher Nonsens sind. Dennoch stiftet ein Stufenmodell des ökonomischen Wandels einen gewissen Nutzen, so wie seine überzogenen Vereinfachungen viele Fallstricke haben. Wir wissen, dass zur Zeit der ländlichen Gutsherrenherrschaft und der internationalen Handelsbeziehungen, welche die italienischen Händler mit der byzantinischen und muslimischen Welt anbahnten, in Deutschland Kapitalisten die Kohleindustrie erschufen  – und zwar mithilfe riesiger Kapitalinvestitionen, die das Unterfangen erforderte. Hier haben wir, in Stufenbegriffen gesprochen, Feudalismus, Händlerkapitalismus und Industriekapitalismus Seite an Seite. Wir wissen, dass zur Blütezeit der großen britischen Handelsgesellschaften im 17. Jahrhundert viele kleine Hersteller – ohne den Vorteil von Gesellschaftskapital – mit dem Abbau von Kohle und Eisenerz befasst waren, Baumaterialien produzierten und andere industrielle Unternehmungen betrieben. Wir wissen auch, dass im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts, als vermeintliche Finanzkapitalisten vom Schlage eines Morgan oder Rockefeller die Industrielandschaft beherrschten, die große Automobilindustrie aus den Versuchen, Risiken und Fehlschlägen hervorging, die wir buchstäblich Hunderten Kleinunternehmern verdanken. Ein Stufenmodell kann  – wie ich es in meinem Buch Triumph of American ­Capitalism 6 und auch später zu zeigen versucht habe – wirtschaftlichen Wandel ins rechte Licht rücken. Doch derlei Analyse kann weder dialektisch noch deterministisch sein (um mit Marx zu sprechen), auch nicht dialektisch respektive rationalistisch (um es mit Sombart zu sagen). Wenn man also von den Ereignissen in Amerika spricht, dann schriebe man schlechte Geschichte, wenn man die Theorien zu Weltreich und Gesetz, die sich im kolonialen Amerika entwickelt haben, beim Versuch, die amerikanische Revolution zu erklären, außen vorließe. Man kann nicht so tun, als wäre mit der Ablehnung des merkantilistischen Systems alles erklärt. Und wenn man den amerikanischen Bürgerkrieg erörtern will, dann wäre es fatal, die große Rolle auszusparen, die der Abolitionismus spielte, welcher die Sklaverei als unmoralische Lebensform verwarf. Der Konflikt zwischen dem Agrarkapitalismus des Südens und dem vereitelten Industriekapitalismus des Nordens ist nur ein Teil der Geschichte. Ein Stufenmodell wirft auch ein Schlaglicht auf den Wandel in der öffentlichen Ordnung. Und ich muss gestehen, dass Wirtschaftsgeschichte nur eine mehrfach erzählte und dennoch unvollständige Geschichte ist, solange man der Rolle des Staates keine Aufmerksamkeit zollt  – sei sie nun eine hinderliche oder förder­ liche gewesen. So gesehen, ist die Laissez faire-Idee eine Fiktion. Der Staat kann nämlich durch negative Handlungen  – das heißt durch Ablehnung, bestimmte Politikmaßnahmen zu ergreifen – die ökonomischen Ereignisse genauso stark beeinflussen, wie er es durch seine Interventionen vermag. Ashton selbst erwähnt ein wichtiges Beispiel. Wir wissen, dass die britische Wollindustrie ihre Aufgaben

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Hacker (1940).

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spätestens ab dem 16. Jahrhundert – wobei das elisabethanische Arbeitergesetz seinen Ursprung bereits im Mittelalter nahm – unter schweren Auflagen zu erfüllen hatte. Die Krone hat diese Auflagen nicht auf die Baumwollindustrie übertragen, und es ist kein Zufall, dass die großen industriellen Fortschritte in diesem Sektor so früh begonnen haben. Ähnliches gilt für Amerika in der Zeit von 1836 bis 1913. Damals hatte der Bund sein Interesse an einer Zentralbankpolitik ganz aufgeben. Diese Entsagungshaltung seitens der amerikanischen Regierung hatte erhebliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung Amerikas. Mehr zu diesem Thema werde ich sagen, wenn ich dem Stufenmodell das Wort reden werde. Ich glaube, man wird mir darin zustimmen, dass zu bestimmten Zeiten in der Geschichte einer Nation die Interessen der einen oder anderen Gruppe mehr vorherrschen und im Rampenlicht stehen als andere. In solchen Momenten nimmt die Ordnungspolitik Gestalt an, sei es zum Guten oder Schlechten. Vor 1830, 1840 war das dominante Interesse das der Händler und Gewerbetreibenden, nicht aber das der Industrie. Folglich war die Ordnungspolitik den Forderungen der aufkommenden Industrieunternehmen gegenüber feindlich oder bestenfalls neutral gestimmt. Es ist kein Zufall, dass in den 1830er und 1840er Jahren, als der wachsende Industriesektor begann, seine Muskeln spielen zu lassen, viele Überreste des alten Systems vom Markt gefegt wurden. Das Reformgesetz, die Aufhebung der Korngesetze, das Auslaufen der Handels- und Navigationsgesetze, die umfassende Fiskalreform, die in Gladstones Triumph gipfelte, die inländische Neuordnung des Bankensystems, das neue Firmengesetz und das neues Organgesetz für Überseebesitzungen: kann man überhaupt von einem dieser Meilensteine in Britannien sagen, er sei nicht das Werk der neuen heranreifenden Klasse der industriellen Kapitalisten gewesen? Ashton meint dazu, die Ökonomen ihrer Zeit hätten sich unentwegt mit Öffentlichkeitsfragen befasst, wären also politische Ökonomen gewesen. Im Lichte der ungewöhnlichen Anforderungen, die sich dem Staat damals in einer Zeit des Übergangs stellten, nimmt das wenig Wunder. Oder schauen wir auf ein anderes Beispiel aus der amerikanischen Geschichte. Zwischen 1830 und 1860 vertrat die Gruppe der Sklavenkapitalisten in den ländlich geprägten Südstaaten das wirtschaftliche Hauptinteresse der Vereinigten Staaten. Die Aufrechterhaltung dieser Wirtschaftsform war mit Freihandel, niedrigen Schifffahrtskosten, billigen Krediten und / oder einer fehlenden Zentralbank sowie niedrigen Steuern verknüpft. Sie vertrug sich demnach nicht mit Schutz­tarifen, staatlichen Subventionen für Seefahrt und Eisenbahn, einer föderalen Bankenaufsicht, Einwanderungserleichterungen und dergleichen. Wer damals auf die industrielle Umgestaltung der amerikanischen Wirtschaft schielte, brauchte in all diesen Bereichen sehr wohl die Unterstützung der öffentlichen Hand. Und es ist kein Zufall, dass die Republikaner nahezu alle diese Maßnahmen zwischen 1861 und 1865 ins Gesetz schrieben, als der Bürgerkrieg voll im Gange war. Mit anderen Worten, eine Beschreibung der amerikanischen Wirtschaft zwischen 1830 und 1860 im Sinne eines Widerstreits zwischen den Plantagenbesitzern und deren Alliierten, den Händlern, auf der einen Seite, und den jungen Industriellen auf der

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anderen Seite, wirft ein Licht auf die Bemühungen, die staatliche Politik entweder beizubehalten oder drastisch zu ändern. Wirtschaftsgeschichte muss mithin vieles sein. Sie muss mehr als bisher erforschen, welchen Einfluss politische Theorie (Locke, Harrington, Montesquieu), moralische Vorstellungen (Wilberforce7 und die Abolitionisten) und Fiskalpolitik auf den Wandel von Produktion und Konsumption nehmen. Ich würde sogar sagen, dass das Eingehen von Risiken und die Fiskalpolitik eine zentrale Rolle in allen wirtschaftshistorischen Fragen einnehmen. Beide sind so stark miteinander vermengt, dass ihre Trennung vergebliche Mühe und der Wirklichkeit unangemessen wäre. Ich denke auch, dass der Terminus „Kapitalismus“ ein wichtiger ist, der nicht nur beibehalten, sondern auch verteidigt werden sollte. Wir müssen die Trümmer beiseiteräumen, die sich seit den Tagen eines Marx oder Sombart auf der alten Zitadelle aufgetürmt haben. So, wie auch schon bei den Ausgrabungen von Troja, lassen uns nur Geduld und Hingabe am Ende triumphieren. Ja, der Schutt wiegt schwer: dialektische Revolution, rationalistischer Geist, menschliche Ausbeutung, persönliche Gier – all die Heuchelei und Raserei sowie verirrten Gefühle der letzten 100 Jahre! Doch das Graben lohnt die Anstrengung, denn im Boden werden wir ein System und ein Bündel an Haltungen entdecken, die materiellen Fortschritt ermöglicht und menschliches Leid gelindert haben. Dieses System nebst Haltungen können wir sehr gut „Kapitalismus“ nennen. Und wenn wir ihn für die historische Analyse als die risikotragende Funktion privater Individuen (die im Erfolgsfalle im Verlauf des Prozesses Kapital erschaffen) und die Entwicklung und Beibehaltung einer vernünftigen Fiskalpolitik des Staates definieren, dann sind wir m. E. in der Lage, den Terminus von all dem Ballast zu befreien, der auf ihm lastet. II Soweit zur allgemeinen Analyse. Wo stehen nun derzeit die amerikanischen Historiker, wenn es um die Rolle geht, die der Kapitalismus für die Entwicklung des Landes spielt? Man kann sagen, dass allgemein eine antikapitalistische Neigung wahrnehmbar ist. Aber in den Vereinigten Staaten ist der antikapitalistische Einschlag bei vielen Historikern keineswegs eine notwendige Folge marxistischen Einflusses. Marxens Ideen haben eine Rolle gespielt, aber ihr Einfluss war eher klein und währte kurz. Wenn ich „marxistisch“ sage, dann sollte ich zwischen zwei Aspekten der Doktrin unterscheiden – zum einen, was durch die nichtrevolutionäre Brille der Fabianisten und Sozialdemokraten gefiltert wurde, und zum anderen, was durch die spätere Analyse härter und revolutionärer zum Vorschein kam. ­Einige der jüngeren geschichtsinteressierten Amerikaner wurden über ­Lenins

7 William Wilberforce (1759–1833) erwirkte 1807 als Abgeordneter das Gesetz zur Abschaffung der Sklaverei in England. Im Jahr darauf beschlossen die Amerikaner ein ähnliches Gesetz, d. Hrsg.

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Staat und Revolution zum Marxismus bekehrt und haben folglich gelernt, dialektisch zu denken. Dazu später mehr! Die amerikanische Geschichtsschreibung konnte, das kann man wohl allgemein sagen, bis Mitte der 1920er Jahre der theoretischen Seite der Ökonomie wenig abgewinnen. Weder gab es irgendwelche Anstrengungen, die historischen Ereignisse in einen breiteren ökonomischen Kontext einzuordnen (Weber, Sombart, Sée und Pirenne8 waren unbekannt. Wenn man sie las oder kommentierte, dann nur in der soziologischen Literatur.). Man hatte kein Interesse an der Rolle, die Zentralbankwesen, Kapitaltransfers und Kapitalbildung für die Entwicklung des Landes spielten, und wollte sie auch nicht verstehen lernen. Wenn ökonomische Daten herangezogen wurden – wie etwa in McMasters History of the American People –, dann zur Veranschaulichung der Sozialgeschichte oder der Investition in bzw. Veränderung von Institutionen. Wer als amerikanischer Historiker derlei tat, der äußerte sich zum Transportwesen, zu neuen Manufakturen sowie zu den Bedingungen der Arbeiter und Landarbeiter, aber nur en passant. Die amerikanischen Historiker waren zumeist an politischer und militärischer Geschichte interessiert und schrieben über den Verlauf des amerikanischen Lebens vornehmlich aus nationalistischer (d. h. isolationistischer) Sicht. Es gab einige große Themen, die ihr Interesse zwangsläufig fesselten, weil sie für Amerika etwas Besonderes waren: die Eroberung eines jungfräulichen Kontinents; die Auswirkungen der Grenze auf politische Institutionen und gesellschaftliche Gebräuche; der – bis 1920 – anhaltende Strom der Europäer, die glaubten, in Amerika den Ungleichheiten der alten Welt entgehen zu können; der wiederkehrende Streit zwischen den Ideen Jeffersons und Hamiltons – also die Schaffung und Beibehaltung einer schwachen oder starken Bundesmacht; das Eindringen moralischer Fragen in Amerikas öffentliche Debatten – über Sklaverei, Frauenrechte, Prohibition. Diese Themen hat man nie unter allgemeinen oder umfassenden ökonomischen Begriffen oder vor dem Hintergrund ihrer Verbindungen zu Europa abgehandelt. Der mutmaßliche Wesenszug der amerikanischen Geschichte – dass sie in Isolation stattfand – wurde eigentlich selten in Frage gestellt. Charles A. Beards Werk The Rise of American Civilization, das in Erstauflage 1927 erschienen ist, hatte bei Ausbruch der Großen Depression einen enormen Einfluss auf die jüngeren Kollegen genommen. The Rise of American Civilization projizierte die Ideen, die Beard bereits vor 1913 im Kleinen entwickelt hatte, auf eine große Leinwand. In jenem Jahr hatte er An Economic Interpretation of the American Constitution geschrieben. In seinem Parforceritt zeigte Beard, dass er mit den europäischen Wirtschaftshistorikern, allen voran mit Marx, nicht vertraut war. Er meinte sogar, es reiche für jeden, der sich mit der ideologischen Grundlage seiner Analyse vertraut machen wollte, den Federalist-Artikel Nr. 10 von James Madison zu lesen. In gewisser Weise stand Beard auf festem Grund. Es gab keine 8

Anders als sein Landsmann und Kollege Henri Pirenne, ist der belgische Historiker Henri Sée, Autor von Modern Capitalism (1928), heute nur noch wenigen bekannt, d. Hrsg.

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Lektüre von Marx oder Sombart, die ihn zu einem Deterministen gemacht hätte. Er konnte einfach die Position einnehmen, dass die unmittelbaren finanziellen Interessen der Menschen sich direkt auf die politischen Entscheidungen, an denen sie mitwirkten, niederschlagen würden. Nehmen wir die Mitglieder der Konstitutionellen Versammlung von 1787. Viele von ihnen waren Männer mit viel Eigentum. Sie waren Kaufleute, spekulierten mit Land oder hielten Staatsanleihen. Insofern war es natürlich, dass sie auf der Suche nach Schutz ihrer Eigentumsrechte die Schaffung einer starken Zentralregierung anstrebten. Die allgemeinen ökonomischen Implikationen – vor allem im Hinblick auf die Politik, die auf diese Grundlage zu stellen war und die Etablierung und Überlebensmöglichkeiten des jungen Landes zu berücksichtigen hatte – zu untersuchen, lag jedoch jenseits jener Möglichkeiten, über die Beard verfügte. Er war auch nicht willens, Stellung zu beziehen: für oder gegen die Schuldenübernahme des Staates; für oder gegen Schaffung eines Zentralbanksystems; für oder gegen den Welpenschutz junger Industrien. Er war vermutlich an der objektiven historischen Analyse interessiert. Es kam ihm nie in den Sinn, dass seine Arbeit an einem fatalen Fehler kranken könnte. Selbst dann, wenn man einigen Mitgliedern des Verfassungskonvents Wohlstand unterstellen konnte, war es ein kapitaler Irrtum, (stillschweigend)  anzunehmen, dass ihnen neben ihren privaten Interessen die Ordnungspolitik nicht am Herzen gelegen hätte. In The Rise of American Civilization – wir sind nun auf der großen Leinwand, da Beard in diesem Werk die Geschichte der Vereinigten Staaten niederschreibt – kam der eigentliche Beard zum Vorschein. In mindestens drei Episoden der amerikanischen Geschichte erkannte Beard einen Einfluss wirtschaftlicher Kräfte: im amerikanischen Aufstand gegen Britannien, in der Auseinandersetzung um die Sklaverei, die zum Bürgerkrieg führte, und in den Wahlerfolgen der Republikaner zwischen 1865 und 1896. Erst als er zum letzten Punkt kam – die Niederschrift des 14. Verfassungszusatzes, der Entwurf zur Tarifgesetzgebung, die „Zerstörung“ der natürlichen Ressourcen des Landes und die politische wie auch ökonomische Niederlage der organisierten Farmer –, ließ Beard seine eigenen moralischen Maßstäbe durchblicken. „Das goldene Zeitalter“ oder „die große Grillparty“ war der hohe Preis, den die Vereinigten Staaten für den Sieg der Republikanischen Partei und für die neue Gruppe der Industriekapitalisten, für die der Sieg sprach, zahlen musste: mit der Bildung und Ausbeutung von Klassen, mit großen, teuflisch erwirkten Vermögensanhäufungen, mit der Vulgarisierung des Geschmacks. Das war Amerikas Wendepunkt. Ungeachtet seiner wachsenden Wirtschaftsmacht und zunehmenden Bedeutung in der Welt brach das Land mit seinem Erbe und Versprechen. Im letzten seiner vier Bände, in dem Beard die Bedeutung der Zivilisationsidee in Amerika untersucht hat, kam er zu dem Schluss, dass das goldene Zeitalter keine Ära der Einvernehmlichkeit (unter den Transzendentalisten, Abolitionisten und Streitern für öffentliche Schulbildung und Frauenrechte) war, sondern ein Kind der Aufklärung des 18. Jahrhunderts – eine Welt der Ordnung, des Lichts und der abstrakten Gerechtigkeit. Seine Verschmelzung der amerikanischen Philosophen des 18. Jahrhunderts glich Michelangelos Moses: überlebensgroß, mehr göttlich

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als menschlich, unbeweglich und perfekt. Sein zusammengesetzter Held  – ein eleganter Jefferson, der alle Tugenden Montesquieus und Condorcets auf sich vereinigte – schwingt sich auf in die hohe Schule des Denkens über abstrakte Rechte. Niedere Politik, politische Kompromisse oder Händel auf Marktplätzen hatten in diesem Garten Eden nichts verloren. Ich habe deshalb etwas länger bei Charles A. Beard verweilt, weil ich ihn für eine treibende Kraft der antikapitalistischen Grundlage halte, die man an so vielen Stellen der amerikanischen Geschichtsschreibung unserer Zeit antrifft. Beard übernahm sogar jene landwirtschaftlich motivierten Vorbehalte gegenüber kapitalistischen Prozessen, die er während seiner Kindheit in Indiana kennengelernt hatte. Gegen Ende seines Lebens gab er für seine Abneigungen eine weithergeholte und mechanische Rechtfertigung. Er hatte nie ein Interesse an den kapitalistischen Prozessen als solchen oder an deren wirtschaftlichen Konsequenzen. Dennoch lehnte er beides aus moralischen Gründen ab, nicht aber aus Gründen der Ideologie, Dialektik oder eines Klassendenkens. Folglich gab es in seinen eigenen Schriften und solchen, die er beeinflusst hat, keinerlei Ansätze, die Beiträge des Kapitalismus zu Amerikas außergewöhnlichem Wachstum zu analysieren oder zu verstehen. Eine gewisse Ähnlichkeit zu der von Beard eingenommenen Haltung – soll heißen, Ablehnung aus moralischen Gründen – zeigte Gustavus Myers, dessen History of the Great American Fortunes 1909 erschien. Myers war ein Sozial­demokrat im Stile Bernsteins, Jaurès und der Fabianisten. Er predigte vom nahenden sozialistischen Großreich, allerdings nicht in dialektischer oder revolutionärer Terminologie. Der Kapitalismus war teuflisch und musste durch den demokratischen Sozialismus ersetzt werden, und zwar mithilfe von Wahlen. Dementsprechend war sein Hauptwerk ein Sammelsurium an Anekdoten, Halbwahrheiten und unkritisch übernommenen Gerichtsprotokollen über die Plünderungen und Selbstbereicherungen jener, die in Amerika große Vermögen angehäuft hatten, sei es durch Land, Handel oder Eisenbahnbau. Deren Werkzeuge waren überwiegend Unterschlagung, Betrug und Diebstahl, die Vermögen unrechtmäßig angeeignete Gewinne, und die Gesellschaft, die ihre Nachkommen enterben würde, sollte einen Akt der historischen Gerechtigkeit vollführen. Myers war ein Klassiker der sozialistischen Literatur und als solcher einer kleinen Gruppe von Auserwählten bekannt. 1934 aber, als Josephsons The Robber Barons9 (das fast nur auf Myers basiert) erschien, gewann er enorm an Einfluss. Vor allem folgende Haltungen kann man auf Myers und Josephson oder auf eine Kombination aus Beard und Myers zurückführen: (1)  Die großen Vermögen in Amerika gründen auf Betrug. (2)  Im Zuge dieser Betrügereien wurden die natürlichen Ressourcen des Landes geplündert. (3) Die gesellschaftlichen Folgen aus Privateigentum und Wohlstand sind ein Unglück – sie schaffen Klassen, unterjochen die Landwirtschaft und setzen Elendsviertel in die Welt usw.

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Josephson (1934).

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Die genannten antikapitalistischen Einflüsse waren nicht leninistischer (dialektischer) Natur. Es gab aber eine Gruppe amerikanischer Historiker, die offen mit der Kommunistischen Partei verbunden war bzw. mit ihr sympathisierte. Sie fing in den 1930er Jahren an, amerikanische Geschichte in dialektischer Terminologie zu schreiben.10 Im Stile Lenins beschrieben die Autoren den Kapitalismus in seinem Todeskampf, dessen letzten Qualen in der bangen Bedrohung durch den Weltkrieg und in gänzlicher Ungerührtheit zu Tage treten würden. Man legte das klassische leninistische Modell an die kapitalistische Gesellschaft an: Dieselbe werde wegen der monopolistischen Konzentration immer rigider und die Arbeiterklasse durch die Tiefen der Wirtschaftskreisläufe immer stärker ausgebeutet. Die gesamte amerikanische Geschichte sei folgerichtig eine Vorstufe zur großen Reaktion, wenn die Revolution die bis ins Mark verfaulte Gesellschaft zerschlagen würde und dem sich seiner Klasse bewussten Proletariat gestattete, die Macht zu ergreifen. Diese kuriosen und oftmals amüsanten Ausflüge, in einem steifen leninistischen Jargon verfasst, verwendeten Analyseinstrumente, die dem Vokabular und der Denkweise der Amerikaner so fremd waren, dass nur wenige außerhalb der Kommunistischen Partei sie lasen. Man darf hinzufügen, dass, anders als im Bereich der fiktiven Literatur, der Einfluss der Kommunisten auf die historische Geschichtsschreibung bescheiden war. Kurzum, ich will damit sagen, dass die antikapitalistische Haltung in der amerikanischen Geschichtsschreibung sich nicht aus kommunistischen (soll heißen, dialektischen) Quellen speist. Mit der Darlegung der Auswirkungen, die Beard und Myers mit ihren Ideen hatten, ist aber noch nicht die ganze Geschichte erzählt. Der Antikapitalismus in der amerikanischen Geschichtsschreibung verdankt seine Grundlage zu einem großen Teil einer politischen Diskussion, die auf Amerikas Historiker eine nie enden wollende Anziehungskraft ausübt. Sehr einfach – bestimmt zu einfach – ausgedrückt, entbrennt diese Diskussion immer wieder am Gegensatz von Hamiltonianismus und Jeffersonianismus. Dass die Amerikaner auf dieses Thema immer wieder zurückkommen, dürfte für die Europäer keine Überraschung sein. In deren eigener Geschichtsliteratur gibt es ebenfalls Denktraditionen, die eine endlose Faszination ausüben. In Frankreich ist es der Jakobinismus und in England der links-gerichtete Protestantismus. Man darf sich dem Konflikt innerhalb der amerikanischen Geschichtsschreibung nicht zu naiv nähern. Er ist mehr als nur eine Debatte über die Struktur des Staates (starke versus schwache Zentralregierung) und auch mehr als eine Uneinigkeit in Bezug auf die Frage der staatlichen Intervention (ja oder nein). Ein Teil des Problems liegt sowohl in der Frage, in welchem Interesse die Intervention liege, als auch in der Frage, welchem Zweck sie diene. Fast überall, wo die Frage sich aufdrängt, wird sie aus Sicht der reinen Politik gesehen. Das heißt, es geht auch um moralische Anliegen. Hier wird offensichtlich zwischen Politik auf der einen Seite und politischer Ökonomie auf der anderen Seite unterschieden. 10

Ein interessantes Beispiel für diese Art von Literatur ist Foner (1947).

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Man kann sagen, dass die antikapitalistische Haltung amerikanischer Historiker seit nun geraumer Zeit aus dem Eintreten für jeffersonianische Ideen statt für hamiltonianische Vorstellungen entspringt. Dieses Phänomen ist neu. Vor 20 Jahren oder so war das Interesse an Jefferson eher gering. Er ist aus mehreren Gründen wieder aus der Versenkung emporgestiegen – alle haben mit einer Frage zu tun, auf die viele Amerikaner von heute eine Antwort suchen. Jefferson, der Streiter für die Naturrechte (wobei man heute mit Naturrechten „Menschenrechte“ meint); Jefferson, die Stimme des Gleichheitsprinzips; Jefferson, das Feindbild der etablierten Kirchen; und wohlgemerkt, Jefferson, der das „Monopoly“ herausgefordert hat – er ist der Fürsprecher, dessen Worte (nicht Taten) beschworen werden. Und da jene, die an seinen Ideen (und deren Ausweitungen) Anstoß nahmen, oft mit kapitalistischen Institutionen und Politikmaßnahmen in Verbindung gebracht wurden, gelten die Historiker, die bei Jefferson und im Jeffersonianismus Anregungen suchen, als antikapitalistisch. Man sollte natürlich auch die weitreichenden Implikationen bedenken, die hinter Jeffersons „Monopoly“-Attacke stehen: nur in der weiten Streuung von Privateigentum (soll heißen, Wohlstand) lasse sich gesellschaftliche Stabilität und wirtschaftlicher Fortschritt finden. Es gibt mindestens fünf Bereiche, in denen die historischen Studien der jüngsten Vergangenheit sich eher auf die Seite Jeffersons oder der Jeffersonianer schlagen als auf die Seite derer, die entgegengesetzte Auffassungen vertreten. 1. In einer Neubewertung zur Gründerzeit der Republik, also zu den Jahren, die sich unmittelbar an die amerikanische Revolution anschlossen, argumentieren Historiker, dass man bei den Anstrengungen zur Bildung einer starken zentralistischen Regierung, die man zwischen 1787 und 1789 unternommen habe, die greifbaren Ergebnisse der 13 souveränen Staaten bei der Schaffung von Stabilität ignoriert habe. Kräfte seien am Werk gewesen, die das anfängliche Chaos beseitigen wollten. Eine funktionierende Föderation sei entstanden, die imstande gewesen sei, die drängenden Probleme mit Blick auf Handel, Geldfragen und internationalen Beziehungen zu lösen. Aber am Ende des Tages habe der Föderalismus gewonnen (also hamiltonianische Ideen), teils mit Nötigung und Betrug, und mit verheerenden Folgen. Die Einsetzung des Obersten Bundesgerichts zur Dominierung des legislativen Willens und die Übernahme der Idee, die Zentralregierung mit Befugnissen auszustatten, waren nur zwei der politischen Resultate. Und da die Föderalisten (also die Hamiltonianer) auf eine zentrale Regierung drängten, musste deren Angelegenheiten allesamt unter einen Hut gebracht werden. Ein vernünftiges Geldsystem, eine Zentralbank, die Kreditwürdigkeit der neuen Republik, Unterstützung für Welpenindustrien – das Herzstück des politischen Wirtschaftsprogramms der Hamiltonianer – müsse abgelehnt werden, und zwar zusammen mit den antidemokratischen und antipluralistischen Ideen Hamiltons. Man sollte festhalten, dass die Ökonomie des Hamiltonismus – womit die Ordnungspolitik eines neuen und unterentwickelten Landes gemeint ist, das in einer Welt lebt, in der die Großmächte (Frankreich, Spanien, Britannien) konstante Bedrohungen darstellen – als solche nie ana-

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lysiert wurde. Für jene gleichmachenden Historiker war der Hamiltonismus ein politisches Übel. In dieselbe Kerbe schlagend, wurden seine außergewöhnlichen Errungenschaften einem moralischen und nicht einem ökonomischen Urteil unterzogen.11 2. Die Regeln und Sichtweise, nach denen die Geschichte der Zeit unter Jackson umgeschrieben wurde, waren dieselben. Jackson, selbst ein wohlhabender Mann und Sklavenbesitzer, wurde zum gleichmacherischen Jeffersonianer. Er habe für den einfachen Mann sprechen wollen und habe sich bezeichnenderweise gegen die Zentralregierung gestellt. Seine politischen Gegner, die Whigs, die einmal mehr hamiltonianische Ideen beschworen, hofften, die Zentralregierung für die Einsetzung eines politischen Wirtschaftsprogramms einspannen zu können, das aus Schutztarifen, einer Zentralbank und öffentlichen Mitteln für Verbesserungsmaßnahmen bestehen sollte. Jackson stimmte das Geschrei vom „Monopoly“ an und hatte Erfolg. Die Whigs wurden geschlagen und ihr Programm unterlag. Die Politik, anstatt sich selbst mit den ökonomischen Fragen der nächsten Generation zu befassen, suchte die Flucht im Expansionismus. Die Sklavenfrage brodelte derweil im Innern und explodierte schließlich im Jahre 1860. Man muss nicht betonen, dass auch die Historiker, die mit Jackson sympathisierten, antikapitalistisch waren. Dass ein Schutztarif, ein vernünftiges Geldwesen und ein Regierungsprogramm für öffentliche Aufgaben die Industrialisierung beschleunigt und somit die Sklaverei automatisch beendet hätten, ist eine gänzlich verfehlte Annahme. Die Whigs waren gegen Gleichmacherei und starke Verfechter der Regierung. Ihre ökonomischen Ideen waren also wiederum abzulehnen.12 3. Die neue Verteidigung des Sklavensystems als Ausdruck einer moralischen Gesellschaft führte zu einer Rufmordkampagne gegen die Systemgegner. (J. G. Randall nimmt explizit diese Position ein. Hierin folgen ihm nahezu alle amerikanischen Historiker der Gegenwart, die über die Vorgeschichte schreiben, die zum Bürgerkrieg geführt habe.) Die Gegner im Süden waren ein gemischter Haufen. Einige waren Abolitionisten, andere Gleichmacher, und wieder andere gehörten zur neuen Gruppe der Industriellen, die in der Wiederbelebung der hamiltonianischen Ideen einen Glücksfall für die Republik sahen. Und da die Befürworter der Sklaverei auch für die Rechte der Staaten eintraten (die alles waren, was vom Jeffersonianismus übriggeblieben war), sind jene, die heute für sie das Wort ergreifen, dazu bereit, sowohl den ökonomischen Ideen als auch der politischen Doktrin der Radikalen Republikaner abzuschwören. Kurioserweise wird das Wiederaufbauprogramm der Abolitionisten (für die politische und soziale Gleichstellung der Schwarzen) genauso abgelehnt wie deren wirtschaftlichen Pläne. Im Hamiltonianismus, Whiggismus und Republikanismus ist derselbe Schwachpunkt auszumachen – die Intervention der Regierung zur 11 12

Siehe Jensen (1950), Malone (1951). Vgl. Schlesinger (1945).

2. Die antikapitalistische Voreingenommenheit unter amerikanischen Historikern 

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Sicherung der monetären Stabilität und des wirtschaftlichen Fortschritts. Ein Schutztarifsystem, ein Nationalbankprogramm, staatliche Unterstützung der Eisenbahnen, Gehöfte für Farmer, Immigrationserleichertungen – die Gründer der republikanischen Partei unterscheiden sich von den Föderalisten und den Whigs nur in Detailfragen.13 4. Nach dem Bürgerkrieg formierte sich die erste Generation von Farmern, die sich den neuen Industriellen entgegenstellten. Die Farmer – verschuldet und fallenden Preisen ausgesetzt (wobei die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse nicht so drastisch fielen wie jene für Stahl, Ölprodukte und Textilien) – waren von der republikanischen Partei und deren Arbeit bitter enttäuscht. Sie hielten Banner in die Höhe, auf denen People’s Land, People’s Money und People’s Transportation stand. Mit der ersten Forderung wollten sie die ausländischen Eigentümer von deren großen Weideflächen vertreiben und das unvergebene Land entlang der großen Eisenbahnlinien (die meistens ausländische Eigentümer hatten) in Besitz nehmen. Mit dem zweiten Slogan meinten sie eine Politik der billigen Kredite und das Ende der Nationalbanken. Und mit der dritten Formel forderten sie die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Die Sache der Farmer wurde zu einem moralischen Kreuzzug – sie waren die Opfer derselben Monopolisten, gegen die schon Jefferson und Jackson gewettert hatten. Und ihre heutigen Fürsprecher (die den niedergehenden politischen Einfluss der Farmer als verheerend beklagen) lehnen die Früchte der Industrialisierung deshalb ab, weil die amerikanischen Farmer angeblich deren Opfer sind. Also auch hier können wir eine antikapitalistische Haltung erkennen, die sich nicht aus ökonomischen Gründen, sondern aus politischen und moralischen Gründen nährt.14 5. Franklin D. Roosevelt hat sich den Mantel Jeffersons und Jacksons als Gleichmacher und Streiter für Menschenrechte umgelegt. Damit soll gesagt sein, dass er sich mit dem Jeffersonianismus sozial und moralisch identifizierte, nicht aber politisch. Roosevelt hatte nämlich Staatsinterventionismus im großen Stil gefordert, damit seine Absicht wahrwürde: der Große Staat, den Jefferson und Jackson sowohl gefürchtet als auch bekämpft haben, war sein Werk. Aber weil er die Sprache Jeffersons sprach, haben sich seine Mitstreiter auf die ökonomischen Ideen der Kräfte, die gegen Roosevelt waren, gestürzt. Der Kapitalismus stagniere und werde von Monopolisten beherrscht; ohne Eingriffe des Staates könne der Wirtschaftskreislauf nicht entzerrt, die soziale Ungerechtigkeit nicht korrigiert und der Reallohn nicht größer werden. Noch einmal, der Antikapitalismus der New Dealers ist politisch und moralisch. Ein ernsthafter Problemfall, der gegen den Kapitalismus als solchen gesprochen hätte, wurde mit Sicherheit nicht ausgemacht.

13 14

Vgl. Randall (1937, 1945, 1947) und Craven (1939, 1942). Vgl. Ransom (1930) und Agar / Tate (1936).

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Ich will nicht missverstanden werden. Ich verurteile die Selbstbeschränkung der amerikanischen Historiker auf moralische und politische Ideen nicht. Was mich beunruhigt, ist die einfach so akzeptierte Annahme, dass nur das Interesse an der Gleichmacherei (was in Amerika mehr oder weniger einem Populismus aus Jeffersonianismus und Jacksonianismus entspricht) die Grundlage einer am Wohlfahrtskonzept orientierten Ordnungspolitik bilde. Für die Sache des Konservatismus in Amerika – dessen Stimme an und für sich sehr schwach ist – traten, was die moralische Seite betrifft, nicht viele ein. Burke, Coleridge, Tocqueville und Acton haben in Amerika weder Verehrer noch Gegenspieler. Schwerer wiegt jedoch, dass es auch dem Kapitalismus an Gewährsmännern mangelt. Adam Smith konnte freies Unternehmertum mit Fortschritt gleichsetzen; was interessanterweise auch Hamilton konnte, der Smith genau gelesen hatte und dessen libertären Ideen und ökonomischen Ansichten er gleichermaßen teilte. Wenn es ordentlich gemacht wäre, dann könnte die Welt von heute aus einem Plädoyer für den Kapitalismus in Amerika als historisches Phänomen viele bedeutende Lehren ziehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die anfänglichen Probleme solche waren, die ein neues und unterentwickeltes Land anfangs hat, und dass die kapitalistischen Bemühungen um Stabilität und eine Grundlage für einen geordneten wirtschaftlichen Fortschritt in der Heimat mit dem höchst wichtigen Bedürfnis nach der Herstellung von Kreditwürdigkeit verbunden waren. In einer so gearteten Geschichte über den amerikanischen Kapitalismus spielen die Kämpfe, die um das Zentralbankwesen, Tarife, öffentliche Mittel für interne Verbesserungsmaßnahmen und um die Politik der freien Bodennutzung ausgetragen wurden, eine wichtige Rolle. Es geht hier um den Bereich der öffentlichen Angelegenheiten. Und was ist mit dem Feld der privaten Unternehmen? Die Bereitschaft und die Fähigkeit, Risiken einzugehen, um sich an der Schaffung von Kapital zu beteiligen (wobei die Fehlversuche genauso aufgezeichnet werden wie die Erfolge), sind der Kern des Problems. Nebenbei bemerkt, sollte man darauf hinweisen, dass die frühen kommerziellen Misserfolge in den Bereichen Telegraphie, Kanalbau, Schienenverkehr, Bergbau und Automobilindustrie enorm waren. Eine vernünftige Geld- und Kreditpolitik ist eine öffentliche Aufgabe, das Eingehen von Risiken eine private – das ist die Geschichte des Kapitalismus par excellence. Erst nachdem dieses Fundament tragfähig gelegt ist, kann der Überbau der Erfolge auf ihm errichtet werden. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das außerordentliche Wachstum der Reallöhne (ohne staatliche Eingriffe) in den Industrienationen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und all die zusätzlichen Vorteile im Gesundheitswesen und im Bildungssektor hinweisen, die nur entstehen können, wenn das Nationaleinkommen wächst. Zwei Nebenbemerkungen seien hier erlaubt. Wenn Engels und Marx weitere zehn Jahre hätten verstreichen lassen – in denen man überall ein eindrucksvolles Wachstum der Reallöhne beobachten konnte –, könnte man sich dann noch vorstellen, dass Die Lage der arbeitenden Klasse in England oder Das kommunis­ tische Manifest überhaupt geschrieben worden wären?

2. Die antikapitalistische Voreingenommenheit unter amerikanischen Historikern 

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Meine zweite Nebenbeobachtung hat mit der Profitidee zu tun. Man hat den Kapitalismus das Profitsystem genannt, und Marx hat ihn mit Ausbeutung gleichgesetzt. Ich denke, dass die Wirtschaftshistoriker eine Teilschuld an der Fortschreibung dieser Verunglimpfung tragen. Sie haben die individuellen Profite erfolgreicher Unternehmen dokumentiert und keine Anstrengungen unternommen, die Verluste durch Fehlschläge gegenzurechnen. Und sie unterließen aus Trägheit Diskussionen über die fehlerhafte Buchführung der frühen Industriebetriebe, die, wie im Falle der Unternehmen in Privatbesitz, zu einer Unterkapitalisierung des realen Werts neigten und im Falle der Aktiengesellschaften keine angemessenen Wertberichtigungen bei Abschreibungsgütern vorsahen. Ein amüsantes Beispiel für eine Unterkapitalisierung ist die Carnegie Stahlgesellschaft, die 1892 mit $ 25. 000. 000 kapitalisiert war und 1900 mit $ 320. 000. 000. Wenn man die Stahlprofite anhand der geführten Buchwerte aus den 1870er und 1880er Jahren ermittelt, dann ist das offenkundig töricht. Aber Carnegie hielt die Kapitalisierung niedrig, um gegenüber seinen Mitgesellschaftern am längeren Hebel zu sitzen. 1900, als er sich aus dem Stahlgeschäft zurückziehen wollte – und nachdem er seinen Partner Henry Clay Frick losgeworden war –, ließ Carnegie eine ordentliche Bewertung der in Firmenbesitz befindlichen Besitztümer anfertigen. Wenn also die Historiker lernen, ihr Datenmaterial mit mehr Gespür zu behan­ deln, und hinsichtlich der genannten Punkte Korrekturen vornehmen, dann werden die landläufigen Vorstellungen von Profit und Ausbeutung eine drastische Revision erleben.

3. Europas Intellektuelle und ihr Umgang mit dem Kapitalismus Bertrand de Jouvenel Wir betrachten die Haltung der westlichen Intelligentsia gegenüber ihrer Gesellschaft mit großer Sorge. Der Mensch besitzt im Geiste massenhaft Bilder und Ausschnitte von der Welt, auch von den Dingen und Akteuren in ihr sowie von sich selbst und den Verhältnissen, in denen er zu denselben steht. Diese Bilder kann man in etwa mit alten Landkarten vergleichen, die mit kleinen Figuren verziert sind. Rationales Handeln meint gewissermaßen, sich mithilfe solcher Karten, soweit vorhanden und ungeachtet ihrer Ungenauigkeiten, auf den Weg zu sich selbst zu machen. Umfang, Detailreichtum und Präzision dieser Abbilder bzw. Karten hängen vollständig davon ab, wie diese untereinander kommunizieren. Erziehung besteht demzufolge darin, einen Vorrat an solchen Bildern weiterzugeben und die natürliche Fähigkeit, dergleichen anzufertigen, zu fördern. Man kann beobachten, dass in jeder beliebigen Gruppe die Mitglieder die Kommunikation solcher Wiedergaben mit unterschiedlicher Intensität betreiben. Es gibt in allen organisierten Gesellschaften, die wir kennen, einen Anteil an Mitgliedern, die auf den Umgang mit solchen Bildern spezialisiert sind. Ihre Bedeutung für die Gesellschaft ist sehr groß. Individuelle und kollektive Handlungen, die „rational“ sein wollen, müssen auf Grundlage dessen ergriffen werden, was man von der Realität „weiß“, und zwar aufgrund der Bilder, die man für bare Münze hält. Derlei Bilder können irreführend sein. „Rationale“ Handlungen, die auf schlechte „Karten“ bauen, sind im Lichte besseren Wissens absurd und können Schaden anrichten. Das Studium primitiver Gesellschaften bietet dazu ausreichend viele Beispiele. Subjektiv betrachtet, ist es rational, gegen Windmühlen anzukämpfen, wenn man fest daran glaubt, sie seien böse, gefährliche Riesen, die blonde Prinzessinnen gefangen hielten. Indes ist es vernünftiger, in ihnen eine nicht sonderlich effektive Gerätschaft zu sehen, mit der man sporadisch Energie gewinnen kann, um Korn zu mahlen. Mag sein, dass wir den Müller nicht mögen, weil er womöglich ein schlechter Kerl ist, aber es ist bestenfalls poetische Fantasie, in der Mühle eine Verschandelung der Landschaft zu sehen, die entsteht, indem die Mühle böse ihre Flügel spreizt. Die Intelligentsia des Westens kennt solche Albträume, die aus starken Gefühlen resultieren und an einem dünnen Stamm positiven Wissens gewachsen sind. Positives Wissen ist ein Verstehen unserer Umgebung, das uns erlaubt, auf dem bestmöglichen Weg unserem Ziel näher zu kommen. Manches von dem, was wir

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über die Kräfte, die in unserer Umgebung am Werk sind, wissen, hat uns die Möglichkeit eröffnet, diese Kräfte für unsere Zwecke einzusetzen. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass wir sowohl das Arrangement unter den Menschen (Gesellschaft) als auch das Arrangement unter den Dingen (Natur) ändern können. Auch hier ist Wissen gefragt. Dem Unwissenden werden gesellschaftliche Einrichtungen immer unnötig kompliziert erscheinen – so wie eine Maschine. Wir wissen aber, dass jede organische Struktur weitaus komplexer ist als eine anorganische. Dennoch gesteht der Mensch Unwissenheit im Bereich des Gesellschaftlichen widerwilliger ein als Unwissenheit in Naturfragen: de re mea agitur. Überdies ist im gesellschaftlichen Bereich das Beurteilungskriterium ein duales. Menschen fällen Werturteile. Einige von ihnen sind ethischer Natur und nehmen Bezug auf das bonum honestum. Man überlässt sie nie einem anderen oder einer Vertretung, die man für einfältig hält. Wenn man einem kleinen Kind oder Wilden einen Hochofen zeigt, dann mag es bzw. er durch dessen Getöse entsetzt sein und „böse“ ausrufen. Aber sobald man versteht, dass der Ofen kein böser Geist ist, wird man seine Ansicht ändern. Kein Kundiger wird einen Hochofen für böse halten, nur weil er hochrot lodert, gelegentlich Dampf ablässt, heiße Lava spuckt und nebst schwarzen Kohlen grobe Schrottteile aus Eisen schluckt. Er ist nur eine sehr zweckmäßige Vorkehrung, weil er der Herstellung von Werkzeugen und Maschinen dient, die der Mensch zu seinen Zwecken einsetzen kann. Es wird auch niemand bei Verstand den Ofen für die Schlechtigkeit der menschlichen Ziele verantwortlich machen, denen die Maschine dient (z. B. einem Angriffskrieg). Es dürfte klar sein, dass Vorrichtungen gute Diener sind und der Mensch allein für Missbrauch verantwortlich ist. Dem störrischen Schüler, der an seiner animistischen Auffassung vom Hochofen festhielte, würde der Lehrer zeigen, dass er einem Aberglauben folgte. Derselbe Lehrer könnte jedoch durchaus den „Kapitalismus“ im selben Lichte sehen wie der Schuljunge den Hochofen. Er mag in ihm ein böses Ungeheuer sehen, das Urheber von Schmerz und schlimmen Zuständen ist, und keine nützliche Vorkehrung wie der Hochofen, der bei der Herstellung von Werkzeugen hilft. Es stimmt schon, dass moralische Überlegungen angebracht sind, wenn man gesellschaftliche Einrichtungen bewerten will. Für die Beurteilung technischer Gerätschaften haben sie allerdings keine Relevanz. Soziale Einrichtungen sind somit Gegenstand zweier Kriterien: Effizienz und Moralität. Wenn man über den Einklang dieser Kriterien allgemein diskutieren will, dann kommt die Metaphysik ins Spiel. Wir wollen auf einer bescheideneren Ebene verweilen. Während die Vorstellung vom (moralisch) Guten und Bösen nur das Gewissen betrifft, kann eine Vorrichtung nur indirekt schlecht sein. Es spricht eindeutig gegen eine Vorkehrung, wenn sie den Menschen schlechter macht. Platon bezog sich auf dieses Kriterium, als er die Politik des Perikles schlecht nannte. Einige der größten Denker waren der Ansicht, dass wir schlechter würden, wenn wir unser Verlangen mehrten, und besser, wenn wir es beschnitten. Die Stoiker waren der Meinung, dass wir Sklaven unserer Sehnsüchte würden, und die Kyniker behaupteten, dass wir mit jedem

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Wunsch, den wir opferten, an Freiheit hinzugewönnen. Die frühen Kirchenväter lehrten, dass wir uns mit der Hinwendung zu den irdischen Gütern der Herrschaft der „weltlichen Fürsten“ beugen würden. Und es ist nicht ganz so lange her, dass Rousseau dieses Thema mit fesselnder Eloquenz behandelt hat. Wenn man sich dieser Sichtweise anschließt, dann sind Vorrichtungen, die dazu neigen, die Bandbreite unserer Wünsche zu vergrößern, indem sie dieselben sukzessive erfüllen und die Hoffnung nähren, alsbald neue Wünsche zu entdecken, in der Tat schlecht. Der Kapitalismus als soziale Einrichtung ist schlecht, aber das Gleiche gilt auch für die technischen Gerätschaften der Industrie. Zu dieser Ansicht bekennen sich unsere Zeitgenossen indes nicht. Im Gegenteil, sie sind geradezu darauf erpicht, die Wünsche der Menschen immer besser zufriedenzustellen. Große Reden gegen das „Geld“ zu schwingen, ergibt offensichtlich keinen Sinn. Wenn die Menschen „Güter“ wünschen, dann wünschen sie natürlich auch Geld, weil es der gemeinsame Nenner für diese „Güter“ ist und die Tür zu denselben öffnet. Die „Macht des Geldes“ ist also nichts weiter als die Verdinglichung der Macht dieser Güter über die Wünsche des Menschen. Es ist Aufgabe geistiger und moralischer Lehrer, dem Menschen die Wertlosigkeit mancher Dinge, die sie wünschen, aufzuzeigen. Stört man den Erwerb solcher Dinge durch weltliche Autoritäten, dann führt dies in der Tendenz zu Gesetzesübertritten und zu einem Komplex diverser krimineller Interessen. Sie sind ein beredtes Beispiel für die zersetzende Wirkung, die soziale Einrichtungen auf den menschlichen Charakter haben können. Die zivilisierte Welt staunte schon immer über die organisierte Kriminalität, die unter der Oberfläche des amerikanischen Lebens ihr mächtiges Dasein fristet. Sie schoss wie Pilze aus dem Boden, als man das Trinken kriminalisierte, und hat jetzt wieder neuen Nährboden gefunden, da man das Glücksspiel in den Untergrund getrieben hat. Derlei Phänomene sollten uns davor warnen, dass etwas ganz anderes als das Beabsichtigte dabei herausschaut, wenn man soziale Vorkehrungen einsetzt, um das moralische Niveau menschlichen Verhaltens zu heben. Es ist obendrein wohlbekannt, dass jeder Versuch, das Handeln des Menschen anders zu ändern als durch eine Veränderung in seinem Denken, vergebens ist und ohnehin keine moralische Verbesserung darstellt. Für den Intellektuellen bietet der Kapitalismus als soziale Einrichtung ein unerfreuliches Bild. Warum? Um es in seinen Worten zu sagen: Hier sind selbstsüchtige Menschen auf der Suche nach persönlicher Bereicherung. Wie? Indem sie Konsumenten mit Dingen versorgen, welche diese wünschen oder zu wünschen verführt wurden. Derselbe Intellektuelle ist erstaunlicherweise von der Arbeitsweise der hedonistischen Demokratie ganz unerschrocken. Auch in ihr können selbstsüchtige Menschen ihre Bereicherung erzielen, indem sie anderen Menschen Dinge versprechen, die diese wünschen oder zu wünschen verführt werden. Der Unterschied scheint hauptsächlich darin zu liegen, dass der Kapitalist die Güter liefert. Und überall im Westen scheint die Erfüllung politischer Versprechen eine Funktion kapitalistischer Erfolge zu sein. Ein anderer Aspekt der kapitalistischen Methode, der dieselbe für den Intellektuellen unerfreulich macht, ist, dass sie „die

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Arbeiter zu reinen Instrumenten herabwürdigt.“ Um es mit Kant zu sagen, es ist immer unmoralisch, andere Menschen als Zweck und nicht als Ziel an sich zu behandeln. Die Erfahrung lehrt uns, dass dergleichen kein ungewöhnlicher Vorgang ist, und auch keine Sondereigenschaft des Kapitalismus. Es war Rousseau, der meinte, ein solches Gebahren wohne der zivilisierten Gesellschaft inne, die zufällige Begegnungen, die auf Nutzen und nicht auf Neigung gründen, vervielfache, und dass dieses Verhalten sich mehr und mehr ausbreite, da die Begegnungen zunähmen und die Interessen der Menschen sich überlappten. Marxens Sichtweise ist weniger philosophisch und hängt stärker von der Geschichte ab. Der im Werden begriffene Kapitalist, meint er, finde bereits eine Bevölkerung vor, die von vorherigen Ausbeutern als Werkzeug behandelt worden sei, bevor der Unternehmerbürger sich ihrer bemächtigt habe. Die Existenz des Proletariats, das in dieser Weise behandelt werden konnte, habe ihren Ursprung in der Enteignung der Bauern. Daher seien die Arbeiter, ihrer eigenen Produktionsmittel beraubt, genötigt, für andere zu arbeiten, die über derlei Produktionsmittel verfügten. Wenn diese Theorie (die offenbar von der Gemeineigentumsidee inspiriert war) wahr wäre, dann wäre es dem Kapitalismus wohl in jenen Ländern (beispielsweise in den Vereinigten Staaten), in denen genug Land zur Verfügung stand, recht schwergefallen, „Sklavenlöhne“ zu erwirken. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das geistige Bild vom Kapitalismus unter einer Dichotomie gelitten hat, die man in der klassischen Ökonomie aus logischen Gründen für notwendig hielt: die Dichotomie von Konsument und Arbeiter. Der Unternehmer wurde als jemand dargestellt, der dem Konsumenten dient und den Arbeiter nutzt. Sogar im Falle von Robinson Crusoe kann man eine solche Dichotomie einführen, indem man sagt, dass seine physikalischen Ressourcen (gesehen als „der Arbeiter“) diejenigen sind, die im Dienste seiner Bedürfnisse (gesehen als „der Konsument“) ausgebeutet werden. Diese Vergegenständlichung zweier Seiten der Bevölkerung war zu Beginn dessen, was man die kapitalistische Ära nannte, intellektuell tragfähig. Zuvor hat man die Hersteller als kaufenden Bevölkerungsteil strikt von den Handwerkern als arbeitenden Bevölkerungsteil unterschieden. Letztere waren vor allem mit der Herstellung von Luxusgütern befasst, die von jenen Reichen konsumiert wurden, die von unverdienten Entnahmen aus der landwirtschaftlichen Produktion lebten. In der kapitalistischen Ära wurden aber die lohnempfangenden Hersteller industrieller Güter und jene, die diese Güter auf dem Markt kauften, mehr und mehr in einen Topf gesteckt. Es würde die gesellschaftliche Entwicklung sehr schön illustrieren, wenn man herausfände, welcher Anteil der industriellen Konsumgüter an die in der Industrie beschäftigten Lohnempfänger geflossen ist. Dieser Anteil ist im Kapitalismus stetig gewachsen, so dass von der Dichotomie kaum mehr als ein theoretisches Konzept übriggeblieben ist, Man muss nicht betonen, dass die Dichotomie in jeder Ökonomie, die eine Arbeitsteilung kennt, einen intellektuellen Nutzen stiftet. Der sowjetische Arbeiter wird auch in analoger Weise dazu genutzt, dem sowjetischen Konsumenten zu dienen. Der Unterschied liegt nur in der Tatsache, dass er dort als Arbeiter schonungsloser eingesetzt wird und als Konsument weniger erhält.

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Ein großer Teil der westlichen Intelligentsia von heute zeichnet und vermittelt ein verzerrtes Bild unserer wirtschaftlichen Institutionen. Das ist gefährlich, weil es das begrüßenswerte Verlangen nach Reform von den machbaren konstruktiven Aufgaben auf die undurchführbaren und destruktiven Aufgaben umlenkt. Der Beitrag des Historikers zu dieser Verzerrung des Bildes wurde bereits erörtert, vor allem dessen Interpretation der „industriellen Revolution“. Dem habe ich wenig hinzuzufügen. Indem sie die elenden sozialen Bedingungen, für die sie reichlich Belege gefunden haben, beschrieben, haben die Historiker das getan, was ihre offenkundige Pflicht ist. Allerdings sind sie außergewöhnlich unvorsichtig bei der Interpretation der Fakten vorgegangen. Erstens scheinen sie angenommen zu haben, dass ein steiler Anstieg des Ausmaßes, in dem die Gesellschaft das Elend zur Kenntnis nahm und sich über dasselbe empörte, auch ein Indiz für wachsendes Elend sei. Sie haben sich scheinbar kaum Gedanken über die Möglichkeit gemacht, dass ein derartiges Wachstum auch eine Funktion neuer Ausdrucksmöglichkeiten sein kann (teils auf Arbeiteranballungen und teils auf mehr Meinungsfreiheit rückführbar), oder eine Funktion wachsender philanthropischer Sensibilität (wofür die hart umkämpfte Strafrechtsreform spräche), ja sogar Ausdruck eines neuen Sinnes für des Menschen Macht, Dinge zu ändern; aufgeworfen durch die industrielle Revolution selbst. Zweitens scheinen sie nicht ausreichend zwischen jenen Leiden, die mit jeder großen Migration einhergehen (und es gab ja eine Landflucht), und jenen, die das Fabrikwesen ausgelöst hat, unterschieden zu haben. Und wie es scheint, haben sie drittens der demographischen Revolution nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Hätten sie die komparative Methode angewendet, dann wäre ihnen womöglich der massive Zustrom in die Städte und die mit ihm einhergehende erbärmliche Verelendung aufgefallen, die auch in anderen Ländern auftrat, die von der industriellen Revolution unberührt blieben und statt unterbezahlten Arbeitern massenhaft Bettler hervorgebracht haben. Wäre angesichts des Bevölkerungsdrucks die Lage ohne die kapitalistische Wende besser gewesen? Die Lage in den unterentwickelten und überbevölkerten Ländern dürfte eine Antwort auf diese Frage bereithalten.1 Methodologische Flüchtigkeitsfehler der genannten Art sind im Vergleich zu konzeptionellen Fehlern jedoch fast bedeutungslos.

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Sehen wir nicht, dass solche Länder dringend Kapital bräuchten, um die überschüssige Arbeitskraft im Land zu beschäftigen? Gewiss, die dortige Arbeitskraft kann nur dann zu Bedingungen, die uns human erscheinen, beschäftigt werden, wenn die Produkte für die ausländischen Märkte in den wohlhabenderen Ländern bestimmt sind. Sind sie indes als Waren für die heimischen Märkte bestimmt, dann müssen die Arbeitszeiten lang und die Bezahlung knapp ausfallen, damit man sie der armen Bevölkerung verkaufen kann. Die ersten Betriebe, die einen großen Teil der lokalen Bevölkerung versorgen wollen, können mithin kaum scheitern, wenn sie ihre Arbeiter zu Bedingungen beschäftigen, die weit unter denen liegen, die zuvor die ansässigen Handwerker verlangt haben, die nur den kleinen Markt der wohlhabenden Grundbesitzer zu bedienen hatten. Die industrielle Revolution ist also aus logischen Gründen von Anfang an einer Senkung der Reallöhne ausgesetzt, weil man ja – auch wenn der Vergleich etwas schief sein mag – die frühere Entlohnung der Handwerker in Relation zur gegenwärtigen Entlohnung der Fabrikarbeiter setzen muss.

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Die weitreichenden Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, die in den letzten 100 Jahren erzielt worden sind, werden meist dem Druck der Gewerkschaften und guten Gesetzen, die ein übles System korrigiert hätten, zugeschrieben. Andererseits ist die Frage erlaubt, ob diese Verbesserungen nicht vielmehr aufgrund eben dieses üblen Systems aufgetreten sind und ob das politische Handeln nicht einfach die Früchte von just dem Baum geschüttelt hat, der sie hat wachsen lassen. Die Suche nach der wahren Ursache ist kein müßiges Unterfangen, da eine fehlerhafte Zuordnung des Verdienstes zur Annahme führen kann, dass man Früchte herstellen kann, indem man am Baum schüttelt. Zu guter Letzt wäre zu fragen, ob die mit Bitternis beschworenen „harten Zeiten“, für die man den Kapitalismus verantwortlich macht, ein spezielles Merkmal der kapitalistischen Entwicklung waren oder eine Begleiterscheinung der schnellen industriellen Entwicklung (ohne externes Zutun) sind, die man in einem anderen Sozialsystem genauso gut antreffen kann. Schneidet das Magnitogorsk2 der 1930er Jahre im Vergleich zum Manchester der 1830er Jahre wirklich besser ab? Es ist schon bemerkenswert, wenn ein Historiker partout einem Prozess, der offensichtlich Teil dessen war, was er „Fortschritt“ nennt, nicht die schrecklichen Seiten, die er hatte, vergeben will, vor allem in einer Zeit, in der man nach jenem Historismus süchtig ist, der gegenwärtig für die Schrecken unserer Tage Entschuldigungen mit der Ausrede findet, dass sie zu etwas Gutem führen würden – eine Behauptung, die man bislang unmöglich überprüfen konnte. Gewiss, Empörung entzündet sich am besten an den akuten Geschehnissen, an Ereignissen, die wir zu beeinflussen hoffen können, nicht aber an dem, was nicht mehr rückgängig zu machen ist. Wie auch immer, es fallen uns reichlich Beispiele von Autoren ein, welche die Unbilden der britischen Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts hervorheben, aber nichts zu sagen haben, wenn es um die gewaltsame Einpferchung der russischen Bauern in die Kolchosen geht. Hier schreit die Einseitigkeit zum Himmel. Lassen sich besondere Gründe für die Neigung des Historikers ausfindig machen? Ich glaube nicht. Die Historikerhaltung würde ein Sonderproblem darstellen, wenn sich zeigte, dass es der Historiker war, der die Übel des Kapitalismus, die vor ihm niemand aus den Reihen der Intelligentsia bemerkt hatte, als Erster entdeckt und dadurch die Sichtweise seiner Intellektuellenfreunde verändert hat. Aber dergleichen deckt sich nicht mit den Tatsachen. Missbilligende Ansichten zum Kapitalismus, ja ganze Ideensysteme, die sich gegen den Kapitalismus wendeten, waren in großen Teilen der Intelligentsia üblich, lange bevor Historiker die vergangenen Sünden des Kapitalismus zur Schau gestellt haben, ja sogar, bevor sie sich überhaupt mit Sozialgeschichte befasst haben. Marxens größte Leistung dürfte wohl darin zu sehen sein, dieser Hexenjagd Pate gestanden zu haben, die in einem antikapitalistischen Milieu ihren Ursprung und ihre Bestimmung fand.

2 Russisches Stahlzentrum im Südural und Modelstadt für Stalins Umgestaltung der Sowjetunion zu einer Industrienation, d. Hrsg.

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Der Historiker ist kein zielloser Faktenjäger. Seine Aufmerksamkeit wird unter dem Einfluss seiner eigenen und einiger zeitgeistigen Vorannahmen, die mit der Gegenwart in Verbindung stehen, auf bestimmte Probleme gelenkt. Sie bringen ihn dazu, bestimmte Daten zu suchen, die von den Historikern früherer Generationen womöglich als unwichtig vernachlässigt wurden. Sie studiert er, wobei er Denkfiguren und Werturteile verwendet, die er zumindest mit einigen Denkern der Gegenwart teilt. Die Erforschung der Vergangenheit trägt also immer den Stempel gegenwärtiger Sichtweisen. Die Geschichte als Wissenschaft geht mit der Zeit und ist Gegenstand des historischen Prozesses. Darüber hinaus gibt es keine Geschichtsphilosophie, die nicht eine Anwendung der Philosophie auf die Geschichte wäre. Fassen wir zusammen: Die Einstellung des Historikers spiegelt die Haltung wieder, die in der Intelligentsia vorherrscht. Wenn der Historiker eine Neigung bekundet, dann eine, die sich auf die Intelligentsia allgemein bezieht. Insofern muss es die Haltung der Intelligentsia sein, die unsere Aufmerksamkeit erfordert. Soziologie und Sozialgeschichte sind Disziplinen, die sich heutzutage großer Beliebtheit erfreuen. Bei ihnen sollten wir Hilfe erfahren. Bedauerlicherweise haben ihrer Vertreter den Problemen, die sich um die Intellektuellen drehen, wenig oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Was ist der Intellektuelle und welche Stellung nimmt er in der Gesellschaft ein? Welche Spannungen sind von ihm ausgegangen? Was sind die Wesensmerkmale seiner Aktivität und welche Komplexe bringt er zustande? Wie ist seine Haltung zur Gesellschaft entstanden, und welche Faktoren spielten in diesem Prozess eine Rolle? All diese Probleme, und nicht nur sie, sollten den Sozialwissenschaftler reizen. Ihre Bedeutung wurde von vielen Denkern betont (z. B. von Pareto, Sorel, Michels, Schumpeter und, allen voran, Rousseau). Die Infanterie der Wissenschaft ist ihnen, um es mal so zu sagen, nicht gefolgt. Sie hat dieses weite und lohnende Forschungsfeld unangetastet gelassen. Daher müssen wir mit den dürftigen Daten, die wir in Händen halten, weiter­ machen. Es steht zu hoffen, dass man uns die Unbeholfenheit und Tollpatschigkeit unseres schlecht vorbereiteten Versuchs nachsieht. Die Geschichte der westlichen Intelligentsia während der letzten zehn Jahrhunderte lässt sich leicht in drei Phasen einteilen. Während der ersten Phase bestand die Intelligentsia aus Nachfolgern Levis. Abgesehen von denen, die im Dienste Gottes standen und geweiht waren, gab es keine Intellektuellen. Sie waren die Hüter und Interpreten des göttlichen Wortes. In der zweiten Periode werden wir Zeuge vom Aufstieg der säkularen Intelligentsia. Die Anwälte des Königs machen den Anfang. Der aufkommende Juristenberuf ist lange Zeit die Keimzelle der säkularen bzw. weltlichen Intellektuellen. Narren bei Hofe, die ihre Ansichten fortschrittlich ausrichten, bilden eine weitere, allerdings sehr kleine Keimzelle. Diese säkulare Intelligentsia gewinnt langsam an Mitgliedergröße, aber schnell an Einfluss. Sie führt eine große Fehde gegen die klerikale Intelligentsia und löst dieselbe nach und nach auf den wichtigsten Posten ab. In der dritten Phase schließlich, die mit der

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industriellen Revolution zusammenfällt, begegnet uns eine unglaubliche Ausbreitung des weltlichen Intellektuellen. Sie wird durch die Einführung der weltlichen Erziehung begünstigt, aber auch vom Aufstieg der Druckerzeugnisse (sekundiert von Radioprogrammen), aus dem eine eigene, wichtige Industrie erwächst (eine Auswirkung der industriellen Revolution). Inzwischen ist die weltliche Intelligentsia die bei weitem einflussreichste Gruppe – und der Forschungsgegenstand dieser Studie. Die überwältigende Mehrheit der westlichen Intellektuellen zeigt und bestätigt ihre Feindseligkeit gegenüber den ökonomischen und sozialen Einrichtungen der Gesellschaft; Institutionen, die sie unter dem Sammelnamen Kapitalismus zusammenfasst. Wenn man ihre Vertreter nach den Gründen ihrer Feindseligkeit befragt, dann geben sie affektive Gründe (Sorge um „den Arbeiter“, Antipathie für „den Kapitalismus“) und ethische Bedenken an („die Rücksichtslosigkeit und Ungerechtigkeit des Systems“). Diese Haltung offenbart vordergründig eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit jener der klerikalen Intelligentsia im Mittelalter (und, wie wir noch sehen werden, bis ins 18. Jahrhundert hinein einen krassen Gegensatz zur säkularen Intelligentsia). Die Kirche des Mittelalters kümmerte sich vor allem um die Beladenen. Sie war der Beschützer der Armen und nahm alle Aufgaben wahr, die in der Zwischenzeit auf den Wohlfahrtsstaat übergegangen sind: Fütterung der Mittellosen, Heilung der Kranken und Schulung des Volkes. Alle Dienste waren gratis, bezahlt mit dem Wohlstand, der via Kirchensteuer und große Donationen, die man mit Nachdruck abverlangte, an die Kirche abgetreten wurde. Die Kirche hielt den Reichen die Lage der Armen schon immer vor und beschimpfte sie gleichzeitig. Man darf ihre Haltung auch nicht nur als eine sehen, die darauf zielte, die Herzen der Reichen zu erweichen, um sie moralisch zu läutern und die materielle Lage der Armen zu verbessern. Man bedrängte die Reichen nicht nur, zu geben, sondern auch, vom Streben nach Reichtum abzurücken. Das folgte schon logisch aus dem Ideal, Christus nachzueifern. Das Streben nach weltlichen Gütern über das Notwendige hinaus war definitiv schlecht: „Denn wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts aus ihr mitnehmen. Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen. Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen und Schlingen, er verfällt vielen sinnlosen und schädlichen Begierden, die den Menschen ins Verderben und in den Untergang stürzen. Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet.“ (Tim. 6: 7–10) Ein Glaube, der die Menschen vor weltlichen Gütern warnte („Liebt nicht die Welt und was in der Welt ist! Wer die Welt liebt, hat die Liebe zum Vater nicht.“ 1. Joh. 2:15), konnte wohl nicht anders, als in jenen, die eifrig und erfolgreich nach diesen Gütern trachteten, die Vorhut zu sehen, die ihre nachfolgenden Scharen in den spirituellen Verfall führte. Die Moderne hat indes eine weitaus gewogenere Sicht gegenüber welt­lichen Dingen. Für sie scheint der Wohlstand eine ausgezeichnete Sache zu sein. Mit derselben Logik sollte sie in eben jener vorgenannten Vorhut diejenigen sehen, die ihre nachfolgenden Scharen zu materiellem Wachstum führen.

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Angesichts der materiellen Bedingungen, die im Mittelalter herrschten, wäre diese Auffassung damals jedoch sehr unrealistisch gewesen. Da der Reichtum, den das Land abwarf, keine Steigerungen erfuhr, und man von der Quelle, die weitervererbt wurde, keine produktiven Investitionen abzweigen konnte, war die Existenz der Wohlhabenden für die meisten nur von Nachteil (auch wenn sie den Aufstieg der Handwerkerbetriebe ermöglichte – aus denen sich dann später die Industriebetriebe entwickelten, die für das Volk nützlich waren – und der kulturellen Entwicklung zugutekam). Es ist wohl eine Erwähnung wert, dass die moderne Profitnutzung, also die Ausdehnung mithilfe von Rücklagen aus Einkünften, von Mönchen entdeckt und systematisiert wurde. Die heiligen Männer, die sie betrieben, sahen nichts Falsches darin, ihre Besitztümer auszudehnen, zusätzliches Agrarland zu kultivieren, bessere Häuser zu bauen und immer mehr Leute einzustellen. Sie sind der wahre Ursprung des nichtkonsumierenden, asketischen Kapitalistentypus. Berdjajew3 hat zurecht festgestellt, dass der christliche Asketismus eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Kapitalismus eingenommen hat – als eine Bedingung für die Reinvestition. Man sollte vielleicht auch darauf hinweisen, dass die modernen Intellektuellen Wohlstandsakkumulationen mit Wohlwollen betrachten, wenn dieselben ein öffentliches Siegel schmückt (verstaatlichte Unternehmen) und somit eine gewisse Ähnlichkeit zu den klösterlichen Unternehmen besteht. Diese Anerkennung versagen sie allerdings Unternehmen, denen derlei Siegel fehlt. Der Intellektuelle sieht sich als natürlichen Verbündeten des Arbeiters. Zumindest in Europa wird diese Partnerschaft als Kampfverband gesehen. Vor seinem geistigen Auge sieht sich der langhaarige Intellektuelle Seite an Seite mit dem Blaumann auf den Barrikaden. Dieses Bild ist offenkundig während der franzö­sischen Revolution von 1830 entstanden und errang während der 1848er Revolution allgemeine Popularität. Danach hat man das Bild in die Geschichte zurückprojiziert. Man suggerierte eine permanente Allianz zwischen den wenigen Denkenden und den vielen Arbeitenden, ein Bild, dem die Poesie der Romantik zu Ausdruck und Geltung verhalf. Der Historiker findet jedoch keinerlei Belege dafür, dass im Falle der weltlichen Intelligentsia eine derartige Allianz bestanden hätte. Der Klerus war zweifelsfrei dem Trost und der Fürsorge der Armen und Glücklosen verpflichtet und seine Reihen wurden kontinuierlich aus den untersten Rängen des Volkes neu geschlossen. Auf diese Weise war die klerikale Intelligentsia das Einfallstor für die Begabten unter den Armen, auf deren Wort Fürsten und Könige hörten. Die Laienintelligentsia hingegen, die sich von ihren klerikalen Wurzeln entfernte, schien den Wertvorstellungen der Kirche den Rücken zu kehren. Hinweise auf ihr damaliges Interesse gibt es kaum, erstaunlicherweise. Das änderte sich erst, als im 19. Jahrhundert die „soziale Frage“ aufkam. Nichtsdestotrotz haben wir genügend Belege für die anhaltende Auseinandersetzung der Laienintellektuellen mit den Wohlfahrtsinstitutionen ihrer Zeit, die von der Kirche geführt wurden. Im Mittelalter hatte die Kirche von frommen Spenden und Stiftungen immen 3

Nikolai Berdjajew (1874–1948), russischer Religionsphilosoph, d. Hrsg.

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sen Wohlstand für karitative Zwecke anhäufen können. Von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert wurden die zusammengetragenen Besitztümer im Zuge weitreichen­der Konfiszierungen wieder in Privatbesitz überführt. In diesem Prozess spielten die Intellektuellen eine zentrale Rolle. Als Diener der irdischen Macht fingen sie mit der einfachen Tatsache an, dass der Wohlstand der Kirche zumindest besteuerbar war. Nach und nach machten sie sich die Idee zu eigen, dass Eigentum in Privathand produktiver und mithin das Privatunternehmen der beste Diener der fürstlichen Schatztruhen sei. Diese Idee gipfelte schließlich in der Erkenntnis, wie man den Fürsten um seinen Anteil und den Untertanen um seine Chance bringt: Man legt den Wohlstand in unsterbliche Hände (Stiftungen).4 Die Laienintellektuellen scherten sich wenig um die sozialen Nöte, derer sich jene Institutionen annahmen, die sie zu zerstören gedachten. Bettler sollte man einsammeln und zur Arbeit zwingen. Das war der großartige Behelf, der im krassen Widerspruch zur mittelalterlichen Attitüde stand. Es ist ganz und gar nicht unangebracht, das Verhalten der weltlichen Intelligentsia mit jenem zu vergleichen, das die rabiatesten unter den gegenwärtigen Gegnern sozialer Dienste bekunden – sieht man davon ab, dass man damals viel weiter ging und eine Haltung an den Tag legte, die uns vielleicht in der Zukunft wieder begegnen wird, nämlich an dem Tag, an dem die sozialen Dienste in einer dann armen Gesellschaft einen großen Teil des nationalen Wohlstandes einfordern werden. Im direkten Gegensatz zu den Mönchen, die gemeinsam mit den Armen in Armut zu leben hatten, waren die weltlichen Intellektuellen von Anfang an Begleiter und Bedienstete der Mächtigen. Man kann sie Freunde des einfachen Mannes nennen, und zwar in dem Sinne, dass sie die Unterscheidung zwischen Nieder- und Hochgeborenen bekämpften und für die aufkommenden Plebejer eintraten – und damit letztlich für den Kaufmann.5 Zwischen dem Kaufmann und dem Staatsdiener bestand ein natürliches Band der Sympathie. Beide wurden zwar wichtiger, aber immer noch als minderwertig behandelt. Sie hatten eine natürliche Gemeinsamkeit. Beide fungierten als Rechner, wogen ab, waren „rationale“ Wesen. Zu guter Letzt gab es auch eine natürliche Allianz der Interessen von König und Kaufmann. Die Macht des Königs war mit dem Wohlstand der Nation verbunden, und dieser mit dem Unternehmen des Einzelnen. Diese Binnenverhältnisse hat der weltliche Berater von Philip dem Schönen, König von Frankreich, bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts erkannt und formuliert. Die Rechtsberater der Könige neigten 4

Henri D’Aguesseau erläutert in einem Bericht, der das Vorwort zum Edikt des französischen Königs vom August 1749 bildet, das Prinzip, nach dem die Akkumulierung von Land in kollektiver Hand, die ihre Besitztümer niemals freigibt, dem Einzelnen erschwert, Zugang zu verfügbarem Kapital zu finden. Stattdessen sollte der Einzelne die Möglichkeit erkennen, in den Genuss eines kontrollierten „Wohlstandsfonds“ zu kommen, dem er seine ganze Energie widmen durfte. Wer derlei Berichte und andere staatliche Verlautbarungen liest, wird sich vielleicht der Formel anschließen: „Die Ideen der französischen Revolution, ich meine jene, welche schon die Minister von Louis XV inspiriert haben.“ 5 Der Kaufmann war natürlich auch ein Förderer der Industrie, da er bei den Handwerkern die Produkte bestellte, die er anschließend zum Kauf anbot.

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dazu, das Privateigentum von seinen mittelalterlichen Fesseln zu befreien, um so eine expansive Wirtschaft anzuregen, von der die Schatztruhen der öffentlichen Hand profitieren würden. (Die hier verwandten Begriffe sind zwar anachronistisch, geben aber die Politik der damaligen Zeit korrekt wieder.) Die Feindseligkeit gegenüber dem Großverdiener – l’homme d’argent – ist neueren Datums, eine Haltung der weltlichen Intelligentsia. In jeder Geschichte der europäischen Literatur tauchen die Namen der vielen Großverdiener auf, die Intellektuelle gefördert und, allem Anschein nach, die Zuneigung und den Respekt ihrer Protegés gewonnen haben. Der Mut, den z. B. jene Schriftsteller bewiesen, die sich für Fouquet nach dessen Inhaftierung eingesetzt haben, zeugt von der Tiefe der Empfindungen, die der Finanzier und Finanzmister von Louis IV. bei denselben ausgelöst hat.6 Die Wohnsitze von Helvetius und D’Holbach sind fast ein Muss, das in jede Ideengeschichte der vorrevolutionären Zeit gehört. Diese beiden l’hommes d’argent wurden in ihren Zirkeln sehr verehrt. Zugleich war jene Person, die mit den französischen Intellektuellen zur Zeit der Revolution auf gutem Fuße stand, ein Bankier, nämlich Necker. Und während der Revolution von 1830 war es wieder ein Bankier, Jacques Laffitte, der ganz vorne stand. Aber ab dann trennten sich die Wege. Später haben die Intellektuellen keine Freundschaft mehr zu Kapitalisten unterhalten, die wiederum fortan keine Speerspitze mehr bildeten, wie seinerzeit Necker.7 Befremdlicher Weise fiel der Großverdiener just in dem Moment in Ungnade, als seine soziale Nützlichkeit zunahm. Die wohlsituierten Männer, die der französische Intellektuelle des 17. und 18. Jahrhunderts so sehr schätzte, waren in der Hauptsache Steuerpächter (Publikanen). Steuerpacht als Wirtschaftsform ist recht einfach. Der Pächter erhielt das Privileg, Steuern zu erheben, im Gegenzug zu einer bestimmten Pachtsumme, die er vorab an die Staatskasse abführte. Er achtete natürlich darauf, dass mehr als die offizielle Abgabe in die eigenen Taschen floss. Die Gewinnmarge bildete sein Bruttoeinkommen. Nach Abzug der Eintreibungskosten war der Rest reiner Gewinn. Dieses Verfahren verdient den Namen „Ausbeutung“ mehr als jede andere moderne Form der Profiterzielung. Zudem wurden die Profite nur selten für Investitionen zugunsten des Landes verwendet. Die Steuerpächter waren für ihr pompöses Konsumverhalten bekannt. Da ihr Privileg sehr wertvoll war, pflegten sie das Wohlwollen einflussreicher Leute zu gewinnen, indem sie ihnen vor Gericht sehr großzügig „aushalfen“. Der Steuerpächter vereinigte somit alle typischen Eigenschaften des „bösen Kapitalisten“ auf sich, allerdings ohne dessen allgemeinen Zusatznutzen. Er produzierte nichts, er profitierte nur vom harten Auftreten seiner Erfüllungsgehilfen und wahrte sein Privileg durch Korruption. Wie paradox ist es doch, dass dieser Typus des Großverdieners bei den Intellektuellen vergangener Tage so beliebt war, während die Unbeliebtheit just zu 6 Jouvenel dachte wohl an Autoren wie Jean de la Fontaine und Madame de Sévigné, d. Hrsg. 7 Einer der letzten seiner Zunft war natürlich Engels.

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einer Zeit das Los des Großverdieners wurde, als die Hauptquelle seines Erwerbs in der Fabrik lag, die Güter für den allgemeinen Gebrauch herstellte. Bis ins späte 18. Jahrhundert waren die weltlichen Intellektuellen reich an Zahl. Das intellektuelle Niveau war daher im Durchschnitt recht hoch. Zudem waren sie Zöglinge kirchlicher Schulen, wo sie eine strenge Unterweisung in Logik erhielten, welche von der „wissenschaftlichen Erziehung“ unserer Tage scheinbar nicht ersetzt werden kann. Ihr Verstand neigte daher zu konsistentem Denken. Es ist bemerkenswert, wie oft man in ihren Werken auf eine niveauvolle und konsistente Argumentation stößt – verglichen mit den Werken unserer Zeitgenossen. Derlei geschulte Geister pflegten weltliche Belange und himmlische Wahrheiten zu trennen. War dies geschehen, dann lag für sie das Kriterium irdischer Güter in dem, was wir Effizienz nennen. Wenn wir mit Descartes das, was im Raum geschieht und unserer direkten Erkenntnis zugänglich ist, separieren, dann können wir den gültigen Schluss ziehen, dass eine Bewegung größer oder kleiner als eine andere ist, und mit Fug und Recht dasjenige „Kraft“ nennen, das die Ursache für größer oder kleiner ist. Wenn man gesellschaftliche Ereignisse als Bewegungen betrachtet, von denen manche wünschenswert erscheinen, dann ist es „gut“, dass sie erzeugt werden, und sind die Kräfte, die sie erzeugen, „gut“. Auch die Hilfsmittel zu ihrer Erzeugung und Anwendung sind dann besser oder schlechter in Relation zu ihrer „Effizienz“. Es ist der naive Glaube vieler europäischer Intellektueller, dass die „Effizienz“ ein amerikanischer Abgott sei, den man erst seit kurzem verehre. Aber so ist es nicht. Bei jedem Ding, das instrumentaliter betrachtet wird, also als Mittel zur Herstellung einer anderen Sache, muss man die Kapazitätsgröße des Mittels in Rechnung stellen. Descartes sprach hier wiederholt von der größeren oder kleineren virtus8 des Mittels bzw. Akteurs. Es liegt auf der Hand, dass mit der Neigung zu einer monistischen Konzeption des Universums als Urheber des Wohlstands, den eine Gesellschaft erlangt, auch die Tendenz wächst, die Effizienz, mit der Wünsche und Begierden erfüllt werden, mit dem gesellschaftlichen Wohl gleichzusetzen. Sonderbarer Weise hat sich aber während der letzten 150 Jahre ein derartiges intellektuelles Urteil, das mit der Entwicklung in Richtung materialistischer Monismus einhergegangen wäre, nicht herausgebildet. Fatalerweise hat es einen Wildwuchs an Moralurteilen gegeben, die sich von ihrer metaphysischen Grundlage losgelöst haben und eine Plage für das irdische Handeln darstellen. Es entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität, nach einer Verbindung zwischen diesem Haltungswechsel und der Romantizismuswelle zu suchen, welche die westliche Intelligentsia erreicht hat. Die Erbauer der Fabriken trampelten auf den Schönheiten der Natur herum, just in dem Moment, in dem sie entdeckt wurden. Die Landflucht fiel mit der neu entdeckten Liebe zum Landleben zusammen. Krasse Umgebungsveränderungen trennten Mensch und altmodisches Vorgehen genau in der Phase, in der Traditionen Mode wurden. Und schließlich wurde das Leben in der Stadt in dem Moment zu einem Leben mit Fremden, als man die 8

Tüchtigkeit, d. Hrsg.

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Parole ausgab, die Zivilgesellschaft sei für ein behagliches Dasein unzureichend, der Mensch brauche ein Gemeinschaftsgefühl und mehr Zuneigung. All diese Themen findet man bei Rousseau. Diesem führenden Philosophen seiner Zeit war wohl bewusst, dass die von ihm hochgelobten Werte im Gegensatz zum Fortschritt der westlichen Gesellschaft standen. Deshalb wollte er all diesen Fortschritt nicht: kein sukzessives Wecken neuer Bedürfnisse, keine monströse Aufblähung der Städte, keine Vulgarisierung des Wissens usw. Er war konsequent. Die westlichen Intellektuellen waren jedoch von ihrem Enthusiasmus für den Fortschritt nicht abzubringen. Deshalb dachten sie einerseits, die industrielle Entwicklung verleihe dem Menschen Flügel, und andererseits, die Eigenschaften dieser Entwicklung – die mit den Werten des „Schäfers“ in Konflikt standen – seien beklagenswerte Schandflecken. Beides dachten sie übrigens zur selben Zeit. Die Gier war für diese Schandflecken verantwortlich, zweifellos – auch für die ganze Entwicklung. Im Verhältnis zu einem gewissen allgemeinen Prozess gibt es unter den Einstellungen eine natürliche Homogenität. Der Geist des Intellektuellen ist mit Blick auf den allgemeinen ökonomischen Prozess tatsächlich zweigeteilt. Auf der einen Seite nimmt er die technischen Errungenschaften mit Stolz zur Kenntnis und frohlockt darüber, dass der Mensch mehr von den Dingen bekommt, die er wünscht. Auf der anderen Seite bedauert er, dass die Industrie Werte erobert und zerstört und die vorherrschende Disziplin Härte verlangt. Diese beiden Auffassungen werden bequem miteinander versöhnt, indem man allem, was man mag, die „Kraft des Fortschritts“ unterstellt, und allem, was man nicht mag, die „Kraft des Kapitalismus“. Es ist wohl erwähnenswert, dass hinsichtlich der ökonomischen Schöpfung dieselben Fehler gemacht werden wie jene, die auf der metaphysischen Ebene im Hinblick auf die Schöpfung auftauchen. Der menschliche Geist hat nur beschränkte Kapazitäten und ist wenig variantenreich, auch bei seinen Fehlern. Dass man in dem engmaschigen Prozess des wirtschaftlichen Wachstums dem, was man für gut, und dem, was man für schlecht hält, verschiedene Kräfte zuordnet, erinnert natürlich an den Manichäismus. Ein Fehler dieser Art wird nicht getilgt, sondern vielmehr verschlimmert, wenn man ganz im Stile des Papstes erwidert, alles sei gut und jede unliebsame Sonderheit sei die Voraussetzung für etwas Gutes. Es überrascht nicht, dass die Diskussion der Frage nach dem Bösen in der Gesellschaft eine ähnliche Richtung einschlägt wie die sehr viel ältere und lang zurückliegende Diskussion der Frage nach dem Bösen in der Welt, eine Ausein­ andersetzung, bei der weitaus mehr an intellektuellem Gehalt zum Tragen kam als bei ihrem bescheideneren modernen Gegenstück. Es fällt auf, dass die weltliche Intelligentsia ihr Urteil zu weltlichen Organisationsfragen nicht im Hinblick darauf fällt, ob das Ziel angemessen verfolgt wird, sondern unter ethischen Gesichtspunkten (wobei die herangezogenen ethischen Prinzipien nie klar angeben oder gar eigens konzipiert werden). Man hört, wie westliche Forscher behaupten, die Wohlfahrt der Arbeiter müsse das Ziel der Wirtschaftskapitäne sein. Und obwohl

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dergleichen in den Vereinigten Staaten im Gegensatz zur Sowjetunion erreicht sei, inspiriere dieses Ideal die sowjetische Führung, nicht aber die Staatsführungen im Westen (meinen zumindest die Forscher), weshalb erstere zu bewundern seien, letztere indes zu tadeln. Hier sieht man sich einem Fall der Rechtsprechung in temporalia, ratione peccati9 ausgesetzt. Der weltliche Intellektuelle betrachtet in diesem Fall soziale Einrichtungen nicht als Hilfsmittel (und das Hilfsmittel, das aus der indifferenten Haltung der Führenden heraus ein Gut für die Arbeiter erzeugt, ist im Sinne der These ganz gewiss ein hervorragendes Werkzeug, verglichen mit der Fürsorglichkeit einer politischen Führung, die für ihre Arbeiter ein derartiges Gut ganz und gar nicht erzielt). Auf diese Weise schlüpft er in die Schuhe eines geistlichen Führers, allerdings ohne sich ausreichend darauf vorbereitet zu haben. Wenn man die Haltungen, welche die weltliche Intelligentsia des Westens sich nach und nach angeeignet hat, einer flüchtigen Begutachtung unterzieht, dann wird man sagen müssen, dass diese Aneignung als Reaktion auf die geistliche Rechtsprechung erfolgte, welche die klerikale Intelligentsia im Dienste der weltlichen Mächte vollzogen hatte. Es ging darum, der Organisierung der weltlichen Ziele, die als gegeben angenommen wurden, das rechte Maß an Vernunft zu verleihen. In den nachfolgenden Jahrhunderten gelang es, die Macht der Kirche und die Zuständigkeit der Offenbarung in ihre Schranken zu weisen. Die weltliche Macht kommt in zwei Grundformen daher: Schwert und Geldbeutel. Die Intelligentsia zog den Geldbeutel vor. Nachdem die soziale Macht der Kirche liquidiert war, wendete man sich der schwerttragenden Klasse zu, vor allem dem, der das größte Schwert trug: der politische Souverän. Die Schwächung der kirchlichen und militärischen Macht gab der Macht des Geldes offenbar freie Hand. Doch dann kehrte die Intelligentsia erneut zurück und rief zu einem geistigen Kreuzzug gegen die Wirtschaftsführer der modernen Gesellschaft auf. War das deshalb der Fall, weil die Intelligentsia sich immer mit der herrschenden Gruppe anlegen muss? Oder gab es besondere Gründe, sich gegen die Führungskräfte der Wirtschaft zu stellen? Der Intellektuelle übt eine besondere Form der Autorität aus. Man nennt sie Überzeugung. Für ihn scheint sie die einzige Form der Autorität zu sein. Sie allein lassen die Intellektuellen in ihren Utopien zu, in denen sie ohne Anreize und Abschreckungen wie materielle Entlohnung und Bestrafung auskommen. In realen Gesellschaften reicht die Überzeugung jedoch nicht aus, um unter den vielen Akteuren geordnete Kooperationen zu erzeugen. Man würde zu viel erwarten, wenn man annähme, dass jeder Teilnehmer in dem allumfassenden Prozess seine Rolle deshalb spielte, weil er mit dem Initiator oder Organisator ein und dieselbe Vision teilte. Dies ist die Hypothese vom „Gemeinwillen“, angewendet auf jeden einzelnen Teil des Wirtschaftskörpers und höchst unwahrscheinlich. In den Händen der Ge 9 Rechtsprechungsaneignung der Kirche in weltlichen Angelegenheiten, wenn behaupteter Maßen sündhaftes Vergehen im Spiel war; vgl. auch Kriechbaum (2016), S. 352, d. Hrsg.

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sellschaftsführung muss neben der Macht, die aus der Überzeugung kommt, noch eine weitere, weniger schwankende Macht liegen. Der Intellektuelle mag aber weder diese ungehobelte Form der Macht noch jene, die sie ausüben. Über die milde Form der Autorität durch Kapitalansammlung in den Händen der „Wirtschaftskapitäne“ rümpft er seine Nase, aber die raue Autorität durch massive Polizeigewalt in totalitären Staaten prallt an ihm ab. Die Befehlshaber rauer Autorität sind in seinen Augen nur durch deren Verwendung so verroht. Und er unterstellt ihnen, dass sie glauben würden, der Mensch sei dieser Autorität zugänglich. Die Anstrengungen, die der Intellektuelle unternimmt, um die Alternativen zur Überzeugung nach und nach auszumerzen, sind offenbar ein Zeichen von Fortschritt, der allerdings, wenn man ihn zu weit treibt, die Gesellschaft alternativ in die Anarchie oder Tyrannei führen kann. Vom Intellektuellen weiß man ja, dass er nach der Tyrannei ruft, um Unterstützung für seine Programme zu finden. Die Feindseligkeit des Intellektuellen gegenüber dem Kaufmann ist kein Geheimnis, zumal beide aufgrund ihrer unterschiedlichen Aufgaben völlig verschiedene Standards haben, weshalb das normale Gebaren des Kaufmanns schändlich wirkt, wenn es nach den Kriterien intellektuellen Verhaltens ginge. Derlei Urteil kann in einer unterteilten Gesellschaft umgangen werden, wenn dieselbe erkennbar in Klassen untergliedert ist, die unterschiedliche Rollen wahrnehmen und unterschiedliche Formen der Ehrung kennen. In unserer Gesellschaft ist dies aber nicht der Fall. Gegenwärtig sagen sowohl das Gesetz als auch der Zeitgeist, dass die Gesellschaft ein einziges homogenes Feld bilde. Über dieses Feld schreiten Seite an Seite Kaufmann und Intellektueller. Der Kaufmann bietet der Öffentlichkeit „Güter“ an, also alles, was die Öffentlichkeit kaufen will. Der Intellektuelle will indes lehren, was ein „Gut“ ist, und für ihn sind einige der angebotenen Güter Dinge ohne Wert, weshalb die Öffentlichkeit davon abgebracht werden sollte, sie zu verlangen. Für den Intellektuellen sind in der Welt der Wirtschaft die Werte falsch, die Motivation gering und die Belohnungen fehladressiert. Ein bequemes Schlupfloch, durch das man in die Innenwelt des Intellektuellen gerät, wo er seine Urteile fällt, öffnet sich durch seine Vorliebe für Defizite. Wie man leicht feststellen kann, gilt seine Sympathie Institutionen, die Verluste erwirtschaften: staatliche Betriebe, die das Finanzamt subventioniert, Hochschulen, die von Zuschüssen und Fördergeldern leben, oder Zeitungen, die nie aus den roten Zahlen kommen. Warum ist das so? Nun, weil er aus eigener Erfahrung weiß, dass immer dann, wenn er so handelt, wie er s. E. sollte, ein Ungleichgewicht zwischen seinen Bemühungen und seinen Erträgen auftritt. Um es im Wirtschaftsjargon zu sagen: Der Marktwert seines Ausstoßes liegt weit unter dem des Inputs. Der Grund liegt darin, dass in der Welt des Intellektuellen eine wirklich gute Sache nur von einigen Wenigen als gut erkannt wird. Da es die Aufgabe des Intellektuellen ist, die Menschen erkennen zu lassen, was wahr und gut ist und sie als solches bisher verkannt haben, stößt er auf enorme Kaufwiderstände. Also erwirtschaftet er Verluste. Hat er aber leichtes Spiel und raschen Erfolg, dann weiß er mit ziemlicher Sicherheit, dass er seiner Aufgabe nicht wirklich gerecht geworden ist. Aufgrund seines Erfahrungs-

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wissens ist dem Intellektuellen alles suspekt, was bei Umsetzung einen Gewinn erzielt hat. Dies sei dann nicht geschehen, weil der Kunde an die Sache geglaubt oder Gefallen an ihr gefunden habe, sondern weil man genug Menschen dazu bringen konnte, die Sache zu wollen. Bitten Sie den Intellektuellen darum und überzeugen Sie ihn, dass man mit den meisten Dingen den Weg der Profitabilität einschlagen muss. Er wird immer noch so empfinden, dass dieser Weg nicht der seine ist. Seine Profit-und-Verlust-Philosophie kann man mit folgenden Worten zusammenfassen: Für ihn ist ein Verlust das natürliche Ergebnis der Hingabe an eine Sache, die man tun muss, während ein Profit das natürliche Ergebnis ist, wenn man die Dinge der Öffentlichkeit überlässt. Der grundlegende Unterschied in der Haltung des Kaufmanns und des Intellektuellen lässt sich am besten mithilfe einer abgedroschenen Redewendung auf den Punkt bringen. Der Kaufmann muss sagen: „Der Kunde hat immer Recht.“ Der Intellektuelle kann diesen Satz nicht unterschreiben. Ein schlechter Autor wird, wer der Maxime folgt, die ihn zu einem guten Geschäftsmann macht: „Gib der Öffentlichkeit, was sie will.“ Der Kaufmann bewegt sich in einem Rahmen verschiedener Geschmäcker und Werturteile, die der Intellektuelle immerzu ändern muss. Die größte Tat, die der Intellektuelle vollführen kann, ist die des Missionars, der den Heiden das Evangelium predigt. Ihnen den heiligen Geist zu verkaufen, birgt weniger Gefahren und mehr Profit. Der Gegensatz ist hier eindeutig: Entweder man bietet den „Konsumenten“, was sie haben sollten, aber nicht wollen, oder was sie begierig annehmen, aber nicht haben sollten. Der Händler, der daran scheitert, an die gängigeren Produkte zu kommen, wird als Dummkopf abgetan. Der Missionar aber, dem es glückte, gölte als Knecht. Da uns Intellektuellen die Aufgabe zukommt, die Wahrheit zu lehren, neigen wir dazu, gegenüber dem Kaufmann dieselbe Haltung moralischer Überlegenheit einzunehmen, die schon die Pharisäer gegenüber den Zöllnern an den Tag legten und die Jesus verurteilt hat. Es sollte uns eine Lehre sein, dass der arme Mann, der am Wegesrand lag, von einem Händler aufgenommen wurde (der Samariter) und nicht von einem Intellektuellen (der Levit). Können wir es denn leugnen, dass die immense Verbesserung der Lebensbedingungen für die arbeitenden Massen hauptsächlich das Verdienst von Kaufleuten war? Wir können eigentlich frohlocken, dass wir den größten Wünschen der Menschheit zu Diensten sein können. Aber wir sollten diese Verantwortung auch mit Ehrfurcht tragen. Von wie vielen der kommerziell angebotenen „Güter“ können wir denn sicher sagen, sie seien schädlich? Und können wir das nicht von vielen Ideen sagen, die wir thematisieren? Gibt es nicht schändlichere Ideen als die Funktionsweisen der Mechanismen und Institutionen, die den Fortschritt und das Glück des Gemeinwesens sicherstellen? Es spricht für sich, dass alle Intellektuellen sich darin einig sind, dass solche Ideen existieren, aber nicht einig darüber, welche Ideen so widerwärtig sind. Schlimmer noch, gibt es nicht Ideen, die in unserem Inneren Zorn erregen? Unsere Verantwortung wächst angesichts der Tatsache, dass die

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Ausbreitung schädlicher Ideen nicht durch die Ausübung weltlicher Autorität verhindert werden kann oder sollte, während der Handel mit gefährlichen Produkten sehr wohl auf diese Art gestoppt werden kann. Es hat schon etwas Mysteriöses an sich – und ist ein lohnendes Forschungsfeld für Historiker und Soziologen  –, dass die intellektuelle Gemeinde mit der Geschäftswelt just zu der Zeit harscher zu Gericht zog, da diese die Lebensbedingungen der Massen schlagartig verbessert sowie ihre eigene Arbeitsethik geschärft hat und dabei in ihrem Zivilbewusstsein deutlich gewachsen ist. Gemessen an seinem Ernteertrag, seinen Sitten und seiner geistigen Einstellung ist der Kapitalismus von heute um ein Vielfaches lobenswerter als in der Vergangenheit, als man noch nicht so über ihn hergezogen hat. Wenn der Einstellungswandel der Intelligentsia nicht durch eine Verschlimmerung dessen, was sie zu beurteilen pflegt, erklärt werden kann, kann er dann vielleicht durch einen Wandel erklärt werden, der in der Intelligentsia selbst stattgefunden hat? Diese Frage öffnet der Forschung ein weites Feld. Man hat lange Zeit angenommen, das größte Problem des 20. Jahrhunderts sei der Platz des Lohnempfängers in der Gesellschaft. Vom Aufstieg einer großen Intellektuellenklasse, deren Platz in der Gesellschaft vielleicht ein viel größeres Problem aufwirft, hat man indes kaum Notiz genommen. Die Intellektuellen waren die Hauptakteure bei der Zerstörung der alten Strukturen in der westlichen Gesellschaft, die für die Intellektuellen, die Krieger und die Produzenten drei verschiedene Ensembles an Institutionen bereithielt. Sie wollten das gesellschaftliche Feld homogener und einheitlicher gestalten, über das der Wind der subjektiven Wünsche ungehindert hinwegwehen kann und für das subjektive Wertschätzungen das Kriterium für jedwede unternommene Anstrengung sind. In einer so verfassten Gesellschaft werden die besonders gern gesehenen „Güter“ selbstverständlich sehr hochgeschätzt und treten diejenigen in der Gesellschaft nach vorne, die in der Herstellung dieser „Güter“ führend sind. An diese Klasse der „Geschäftsführer“ hatte die Intelligentsia ihr Primat verloren, das sie noch hatte, als sie den „ersten Stand“ verkörperte. Ihre jetzige Haltung mag bis zu einem gewissen Grad durch den Minderwertigkeitskomplex zu erklären sein, den die Intelligentsia damals erlitten hat. Nicht nur, dass die Intelligentsia auf einen weniger erhabenen Status zurückgefallen ist. Es ist auch so, dass individuelle Anerkennung eher durch Kriterien subjektiver Wertschätzung durch die Öffentlichkeit bestimmt wird, welche die Intellegentsia grundsätzlich ablehnt; daher auch die Gegenbewegung, solche Intellektuelle zu verherrlichen, die nur für Intellektuelle bestimmt sind. Wir behaupten hier nicht, Erklärungen zu liefern. Die vorangegangenen Anmerkungen sind nicht mehr als Anregungen. Unser Anliegen ist allein, darauf hinzuweisen, dass es etwas zu erklären gilt und es an der Zeit ist, die Spannungen, die zwischen Intelligentsia und Gesellschaft auftreten, zu erforschen.

Teil 2 4. Der Lebensstandard der Arbeiter in England zwischen 1790 und 1830 Thomas Southcliffe Ashton I Was geschah mit dem Lebensstandard der britischen Arbeiterklasse gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts? Wirkte die Einführung des Fabrikwesens sich zum Vor- oder Nachteil der Arbeiter aus? Obwohl miteinander verknüpft, sind diese Fragen unterschiedlicher Natur. Es ist nämlich möglich, dass die Beschäftigung in den Fabriken einen Anstieg der Reallöhne ausgelöst hat, die Tendenz aber durch andere Einflussgrößen mehr als nur konterkariert wurde, sei es durch das rasche Bevölkerungswachstum, die Immigration der Iren, die Wohlstandszerstörung durch die jahrelange Kriegsführung, schlecht ersonnene Tarife oder falschverstandene Maßnahmen zur Linderung der Not. Beide Fragen kommen auch bei einigen politischen und ökonomischen Streitfragen unserer Tage zum Tragen, was es unmöglich macht, sie vollkommen objektiv abzuhandeln. Ein amerikanischer Gelehrter (so sagt man) schrieb einmal ein Buch mit dem Titel An Impartial History of the Civil War: From the Southern Point of View.1 Wenn ich ihm schon in seiner Unparteilichkeit nacheifere, dann sollte ich ihm wohl auch in seiner Aufrichtigkeit nicht nachstehen. Lassen Sie mich also gleich zu Beginn freimütig bekennen, dass ich einer von denen bin, die glauben, dass die Bedingungen alles in allem besser wurden, spätestens ab 1820, und dass die Ausbreitung der Fabriken keinen unbeträchtlichen Anteil an dieser Verbesserung trug. Es gibt, das muss man sagen, auf der Gegenseite anderslautende Meinungen von Gewicht. Die meisten Ökonomen, die in jener Zeit raschen ökonomischen Wandels lebten, hatten ein recht düsteres Bild hinsichtlich der Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Arbeiter. 1798 schrieb Thomas Malthus: „Der wachsende Wohlstand der Nation hat keine oder nur eine geringfügige Tendenz, die Bedingungen der arbeitenden Armen zu verbessern. Ich glaube, sie wirken sich auf deren Bedürfnisse und Annehmlichkeiten des Lebens kaum aus. Weit mehr Menschen, als es vor der Revolutionszeit der Fall war, arbeiten heutzutage in Fabriken und leben zusammengepfercht in engen und ungesunden Wohnungen.“2 Einige Gene 1 2

Hinweise darauf gibt Jones (1939), S. 142. Malthus (1926), S. 312 f.

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Teil 2

rationen später erklärte John Ramsay McCulloch, es bleibe „wohl, sieht man das Ganze, wenig Raum für Zweifel, dass das Fabrikwesen für den Großteil derer, die dort beschäftigt sind, unvorteilhaft ist.“3 Und 1848 schrieb John Stuart Mill die Worte, die, falls sie überhaupt einen Schimmer der Hoffnung enthielten, sehr kritisch die Gesellschaft schilderten, der die technologischen Änderungen ihrer Zeit entsprungen waren. „Bislang“, so schrieb er, „ist es fraglich, ob all die bisherigen mechanischen Erfindungen irgendeinen Lichtblick in der täglichen Schufterei der Menschen hinterlassen haben. Sie haben einem großen Teil von ihnen ein Leben in Gefangenschaft und voller Plackerei beschert und einer zunehmenden Zahl von Fabrikbesitzern und anderen ermöglicht, ihr Glück zu machen. Sie haben den Komfort der Mittelschicht gehoben. Aber sie haben noch nicht damit begonnen, das Los der Menschheit großartig zu verändern, obwohl es in ihrer Natur liegt und es ihre Zukunft ist, diese Veränderung zu vollenden.“4 Seite an Seite mit den Ökonomen gab es eine lange Reihe von Dichtern, Philosophen und Demagogen, Pfarrern, Gläubigen und Ungläubigen, Konservativen, Radikalen und Revolutionären – Männer, die in Grundfragen sehr verschieden waren, die aber der Hass auf die Fabriken und der Glaube, der ökonomische Wandel habe die Arbeit herabgewürdigt, einte. Im gegnerischen Lager waren Publizisten, deren Meinungen nicht weniger Respekt verdienen und deren Uneigennützigkeit und Reformeifer kaum in Frage gestellt werden können  – Männer wie Sir Frederic Eiden, John Wesley, George Chalmers, Patrick Colquhoun, John Rickman und Edwin Chadwick. Lassen Sie mich zum Ausgleich von Mill zwei Sätze von Chadwick zitieren, der wie kein Zweiter das Elend und die Armut der Massen in den Städten der 1840er Jahre kannte. Chadwick schrieb im Jahre 1842: „Fakt ist, dass in England bis auf den heutigen Tag für die Masse der arbeitenden Gemeinde die Löhne bzw. die Geldmittel für das, was für das Leben notwendig ist, und der Komfort, der für die arbeitenden Klassen erschwinglich wurde, zusammen mit dem letzten Bevölkerungswachstum gestiegen sind. … Wir haben Belege für diesen Fortschritt, sogar in vielen der Industrievierteln, die sich jetzt in einer tiefen Depression befinden.“5 Hätte man damals eine Umfrage durchgeführt, dann hätten die Anhänger der ersten Gruppe jene der zweiten sicherlich zahlenmäßig überstimmt. Aber dies ist kein Thema, das man durch Handzeichen klären könnte. Von Herbert Heatons6 Landsleuten erzählt man sich, sie sagten gerne die Wahrheit, vor allem wenn sie unerfreulich sei. Es gibt Evidenz dafür, dass dieser erfreuliche Zug nicht nur bei Leuten aus Yorkshire anzutreffen ist. In einem Brief an Southey7 von 1816 schreibt Rickman: „Wenn man den gängigen Behauptungen Gehör schenken will, 3

McCulloch (1859), S. 454 f. Mill (1909), S. 751. 5 Chadwick (1843), S. 188. 6 Herbert Heaton (1890–1973), britischer Wirtschaftshistoriker, d. Hrsg. 7 Robert Southey (1774–1843), englischer Dichter und Historiker, d. Hrsg. 4

4. Der Lebensstandard der Arbeiter in England zwischen 1790 und 1830 

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dann wird im nörgelnden England alles schlechter und schlechter.“8 Und in einem späteren Brief an einen Franzosen, in dem Rickman den Weg schildert, auf dem die Armen von der Sozialunterstützung und billigen Lebensmitteln profitierten, fügte er vorsichtig hinzu: „Aber diese Argumente würden in England Widerspruch hervorrufen.“9 Die Wiederbelebung der Romantik in der Literatur, die zeitlich mit der industriellen Revolution zusammenfiel, neigte dazu, die Verzagtheit zu stärken. Populäre Autoren wie William Cobbett zeichneten ein Bild vom frühen England, das von frohgelaunten Bauern und kräftigen Freisassen bevölkert war, die Rindfleisch aßen und Bier tranken. So hatten es schon ihre Vorgänger zu Zeiten Drydens10 gemacht, als sie das Bild Patagoniens heraufbeschworen haben, das von edlen Wilden bewohnt war. Aber weder angeborener Pessimismus noch unhistorischer Romantizismus erklären allein die vorherrschende Auffassung, die Lage der Arbeiter habe sich verschlechtert. Es ist Teil meiner These, dass jene, die dieser Auffassung zustimmten, ihre Augen nur auf einen Teil der arbeitenden Klassen gerichtet hatten. II Man tut wohl gut daran, mit einer kurzen Skizzierung der ökonomischen und demographischen Landschaft zu beginnen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung sehr rasch. Ob es nun gut oder schlecht ist, dass mehr Menschen Glück und Elend, Hoffen und Bangen sowie Ehrgeiz und Frustrationen, die das Leben bereithält, kennenlernen, sollen die Philosophen und Theologen unter sich ausmachen. Dass die Zahl der Menschen zunahm, war jedoch nicht einer steigenden Geburtenrate zu verdanken, sondern einer sinkenden Todesrate, und man sollte denken, dass dies an sich ein Zeichen einer verbesserten Lebensqualität war. „Die Annehmlichkeit des Lebens,“ schrieb Rickman in seinem Brief an Southey, „sollte man nach der Gesundheit des Menschen und nach der Länge seines Lebens bemessen. … Seit 1780 hat sich das Leben um 4 bis 5 Jahre verlängert – und die Armen stellen einen zu großen Teil der Gesellschaft, um sie von diesem allgemeinen Effekt ausschließen zu können; zumal sie der eigentliche Grund dieser Verlängerung sind und die oberen Klassen schon vorher genug Essen und Reinlichkeit kannten.“11 Ein derartiges Argument war schwer zu widerlegen. Aber Philip Gaskell versuchte, ihm zu begegnen, indem er rundweg erklärte, dass es zwischen Mortalität und Wohlergehen keinen direkten Zusammenhang gebe. Der edle Wilde wurde wieder einmal heraufbeschworen. In seinem Fall, so wurde behauptet, war das Leben nur „körperliche Freude“ und bedeutete Krankheit „frühzeitigen Tod“. Andererseits war das Leben für den Arbeiter in der Industriesiedlung angeblich „eine einzige langwierige Krankheit“ und der Tod „das Ergebnis körperlicher Erschöpfung“. 8

Zitiert nach George (1931), S. 104. Zitiert nach George (1931), S. 137. 10 John Dryden (1631–1700), englischer Dichter, d. Hrsg. 11 Zitiert nach George (1931), S. 104 f. 9

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Teil 2

Hätte Gaskell es besser gewusst, dann hätte er Rickman wohl eine glatte Absage erteilt. Inzwischen wissen die Statistiker nämlich, dass das Sinken der Todesrate an einer Veränderung der Altersstruktur innerhalb der Bevölkerung lag. Eine Verlängerung der durchschnittlichen Lebenslänge gab es in der Tat nicht. (Die Zahl der Tode pro Tausend fiel einfach deshalb, weil Veränderungen innerhalb der Bevölkerung eine Gesellschaft hervorgebracht hatten, in der die Zahl der jungen Erwachsenen ungewöhnlich hoch war. Aber auch dann, wenn die Lebenserwartung nicht gestiegen war, könnte man meinen, dass ein Sinken der Todesrate in gewisser Hinsicht zu einem höheren Lebensstandard geführt haben könnte. Pomp und Umstände von Tod und Beerdigung verschlangen vom jährlichen Arbeitereinkommen nicht gerade einen kleinen Teil.12 Als der Pro-Kopf-Anteil der Todesfälle innerhalb der Bevölkerung fiel, verringerte sich wahrscheinlich der Einkommensanteil, der den Toten vorbehalten war, und trugen die so frei gewordenen Ressourcen zur Komfortaufbesserung der Lebenden bei.) Das Bevölkerungswachstum und vor allem die Zunahme an Personen im Arbeitsalter hätten sehr wohl zu fallenden Löhnen führen können. Stattdessen kam es zur gleichen Zeit zu einem wachsenden Angebot an zusätzlichen Produktionsfaktoren. Schätzungen des damals erzielten Nationaleinkommens sind selten und unzuverlässig. Aber alle Zahlen zu Güterausstoß, Ausgaben und Konsumption legen nahe, dass das Nationaleinkommen während der gesamten Periode etwas schneller anstieg als die Bevölkerung. Aus welchem Grund sollte man annehmen, dass der Anteil des zusätzlichen Einkommens bei den Arbeitern vermindert angekommen wäre und die anderen Klassen etwas mehr vom Kuchen abbekommen hätten? Auf diese Frage kann man keine gesicherte Antwort erhalten. Alles, was man tun kann, ist, Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen. Wenn man dergleichen versucht, dann ist es wichtig, zwischen der Kriegsperiode, der Deflations- und Wiederherstellungsphase sowie der anschließenden Zeit der wirtschaftlichen Expansion zu unterscheiden. Während des Krieges bewirkten hohe Staatsausgaben von unproduktiver Natur ein hohes Arbeitslosigkeitsniveau und einen niedrigen Lebensstandard. Schwierigkeiten bei der Beschaffung ausländischer Lebensmittel führten zu einer intensiveren Bodennutzung. Der Profit der Bauern und die Bodenrente der Grundbesitzer wuchsen.13 Kriegsbedingte Knappheiten bei Bauholz, Ziegelsteinen, Glas und anderen Baumaterialien bremsten den Wohnungsbau. Hohe Zinsraten und eine erdrückende Eigentumssteuer lähmten die Bauanreize. Eine wachsende Bevölkerung und ein erhöhter Anteil an Personen im heiratsfähigen Alter ließen die Nachfrage nach Wohnungen steigen. Wie schon auf dem Land, wuchs die Bodenpacht in der Stadt. Mit einer Zunahme der Staatsschulden stieg auch die Zahl derer, die Staatsanleihen hielten. Die Welle hoher Lohnraten ließ das Einkommen der passiven In-

12 13

Vgl. Davies (1795), S. 23–27. Zwischen 1809 und 1815 stiegen die Pachten um 40 %; vgl. Thompson (1907).

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vestoren ansteigen. Und da das Steuersystem hoch regressiv war, ging der Gewinn des Rentiers weitgehend zulasten der Armen. Die Preise stiegen im Allgemeinen, und obwohl auch die Löhne stiegen, wuchsen sie langsamer. Dies habe, wie Earl Hamilton meint, dem Unternehmer zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt, wobei andere institutionelle Faktoren diese Tendenz bestärkt hätten.14 Die Joker des Händlers oder Fabrikanten, das „lange Zahlungsziel“ und das Trucksystem15, gab es schon früher. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Münzknappheit, die sich während der Inflationsperiode zuspitzte, zu einer Ausweitung dieser und anderer Mittel geführt hat, mit dem Effekt, dass ein Teil der Kaufkraft vom Arbeiter auf dessen Arbeitgeber überging. Dann, während des Krieges, kam es zu einer ganzen Reihe von Einkommenstransfers – an Vermieter, Bauern, Hauseigentümer, Besitzer von Obligationen und Unternehmer. Diese Transfers haben die ökonomische Lage der Arbeiter ganz gewiss verschlechtert. Die ersten fünf, sechs Nachkriegsjahre brachten kaum Erleichterung. Die Vermieter setzten per Gesetz durch, dass sie ihre Mitnahmeeffekte dauerhaft erzielten. Die Wohnungsmieten blieben hoch. Die Zinsraten fielen, aber nicht merklich.16 Und obwohl die Lohnraten weniger betroffen waren als die Profite, senkten die Kürzungen bei den Staatsausgaben, die Verringerungen der Zahlungsmittel, Bankenkonkurse und eine allgemeine Zurückhaltung bei langfristigen Investitionen das Aktivitätsniveau. Etwaige Gewinne, die aus den Verzögerungen resultiert hätten, mit denen die Lohnrate den sinkenden Preisen folgte, wurden durch die hohe Arbeitslosigkeit wahrscheinlich wieder zunichte gemacht. Schwer zu glauben, dass in jenen Jahren der Deflation und der bürgerlichen Unruhen irgendwelche markanten Verbesserungen im Hinblick auf die Lage der Lohnempfänger stattgefunden hätten. Nach 1821 gingen die ökonomischen Kräfte sanfter mit dem Arbeitsmarkt um. Der Goldstandard war wieder hergestellt. Es gab mehr Silber- und Kupfermünzen, mit denen die Löhne ausbezahlt werden konnten. Reformen des Fiskalsystems waren auf den Weg gebracht. Eine Reihe von Umstellungen hatten die Last der Staatsschulden reduziert. 1824 lag die Rate für Staatsanleihen wieder auf ihrem Vorkriegsniveau von 3,3. Die kriegsbedingten Knappheiten waren verschwunden. Zusammen mit billigem Geld, stimulierte ein reichliches Angebot an Ziegelsteinen und Bauholz den Bau von Fabriken und Mietskasernen. Anfang der 1830er Jahre waren die Mieten (zumindest im Norden des Landes) um 10 % gefallen, und ungeachtet einiger verstörender Berichte über die Zustände in den Städten hatte sich der Wohnungsstandard recht eindeutig verbessert. Sinkende Preise – allerdings weniger markant als in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg – standen

14

Hamilton (1941). Entlohnung der Angestellten durch Waren, d. Hrsg. 16 Die Rendite für Staatsanleihen lag 1814 bei 4,9 %, 1915 bei 4,5 %. 1820 stand sie immer noch bei 4,4 %. 15

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Teil 2

jetzt nicht für eine Depression, sondern für eine Reduzierung der realen Kosten. Alles in allem war das ökonomische Klima weitaus angenehmer geworden. Für den Arbeiter war es nun möglich geworden, besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen entgegenzusehen. III Bisher haben wir unsere Aufmerksamkeit nur den internen Kräften der Ökonomie geschenkt. Aber was ist mit jenen, die von außen wirkten? Man hat gemeint, dass die Stärke der britischen Exporte, gegen Produkte aus Übersee eingetauscht zu werden, über weite Strecken dieser Periode nachgelassen habe und die Bedingungen für den Nettotauschhandel entweder für jene, die sich im Exporthandel betätigten, geringere Geldeinkommen oder höhere Kosten für Importgüter bedeutet hätten. Mithin müsse es, ceteris paribus, zu einem sinkenden Lebensstandard der Arbeiter gekommen sein. Die Fehler in der frühen britischen Handelsstatistik sind wohlbekannt. Da beide, Importe wie Exporte, offiziell mittels einer Preisskala gemessen wurden, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts schablonenhaft angewendet wurde, stellen die Bewegungen in den Zahlen von Jahr zu Jahr Änderungen im Umfang, nicht aber im Wert des Überseehandels dar. Ab 1798 gab es in der Tat jährliche Aufstellungen der Exportwerte. Sie wurden gemäß der Händlererklärungen erstellt. Bis vor kurzem gab es allerdings keine entsprechenden Wertschätzungen der Importwerte der Jahre vor 1854. Die Herren Schlote und Imlah haben diese Lücke nun geschlossen.17 Ich bin froh über die Gelegenheit, der Ausdauer und Gelehrsamkeit von Herrn Imlah an dieser Stelle meinen Tribut zu zollen. Jeder Forscher der Geschichte des internationalen Handels ist ihm zu Dank verpflichtet. Ich habe mich an seine Zahlen herangewagt, um grobe Indexwerte zu erstellen, und zwar erstens zu den Werten der britischen Exporte, zweitens zu den Preisen der Exporte und einbehaltenen Importe und drittens zum Handelsverhältnis von Import und Export zwischen 1798 und 1836.18

17

Vgl. Schlote (1938), vor allem Appendix Tabelle 17, und Imlah (1948). Siehe Tabelle 1. Die Indexwerte der Preise wurden ermittelt, indem der Index der erklärten oder errechneten Werte durch jenen der offiziellen Werte der Exporte und Importe geteilt wurde. Diese Vorgehensweise ist anfechtbar, da die Gewichtung ungewöhnlich ist. Der Bedeutungsgrad, der jedem Gut zugeordnet wurde, hängt von der Rate ab, nach welcher der Generalinspekteur eine Gütereinheit zu einem Zeitpunkt bewertet hat, die weit vor jener liegt, auf die sich der Index bezieht. Er hängt auch vom Umfang des importierten oder exportierten Gutes ab, was wiederum bedeutet, dass die Gewichtung von Jahr zu Jahr anders ausfällt. Dies spornte jedoch mein nicht-mathematisches Denken an, weil ich glaube, dass diese Besonderheit den Wert der Aufstellungen nicht völlig ruiniert. Herr Schlotes Index zum Handelsverhältnis ist ähnlich konstruiert (der Preisindex für gefertigte Exportgüter geteilt durch den Preisindex für sämtliche Importe), verwendet aber feinere Methoden. Angepasst an das Ausgangsjahr 1814, zeigt er, zumindest bis 1832, Bewegungen, die mit jenen der hier vorgestellten Jahresreihen in auffälliger Weise übereinstimmen. 18

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91

Tabelle 1 Preise und Handelsverhältnis von Export und Import Jahr

1798 1799 1800 1801 1802 1803 1804 1805 1806 1807 1808 1809 1810 1811 1812 1813 1814 1815 1816 1817 1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833 1834 1835 1836

Export­ werteindex (Export index of values) 90 103 105 113 128 103 107 106 114 104 104 132 135 92 116 – 127 144 116 117 130 98 102 103 103 99 107 109 88 104 103 100 107 104 102 111 116 132 149

Export­ preisindex (export price index) 264 252 253 255 280 281 262,5 255 247 248 237,5 220 221 227 220 – 208 187,5 183 162,5 170 164 148 141 131 127 123 128 120 111 109 100 98 95 87,5 89 87,5 94 98

Import­ preisindex (import price index) 176 183 183 189 150 164 172 178 167 167 159 193 188 155 173 – 194 172 148 160 178 148 136 120 119 118 112 137 108 107 103 100 98 102 96 104 107 114 120

Netto Warentauschverhältnis (net barter terms of trade) 150 138 138 135 187 171 153 143 151 148 149 114 118 146 127 – 107 109 124 102 96 111 109 117,5 110 108 110 93 111 104 106 100 100 93 91 85 82 82 82

Einkommensaustauschverhältnis (income terms of trade) 51 56 57 60 85 63 62 60 70 62 65 68 72 59 67 – 64 84 78 73 73 66 75 86 87 84 96 80 81 97 100 100 109 102 106 107 108 116 124

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Teil 2

Zwischen 1803 und 1834 zeigte der Preisverlauf der Exportgüter einen durchgehenden Abwärtstrend. Der Verlauf der Importpreise war weniger einheitlich. Zwischen 1802 und 1812 gab es auffällige Fluktuationen ohne erkennbaren Trend, aber ab 1814 einen steilen Abstieg bis 1821, danach flachte derselbe etwas ab. Während der zweiten Phase des Krieges veränderte sich das Handelsverhältnis von Import und Export sehr zuungunsten Britanniens, ab 1816 bis Mitte der 1830er Jahre ebenfalls deutlich, wenn auch weniger markant. Bevor man übereilt den Schluss zieht, hier habe ein Faktor den britischen Arbeiter schwer belastet, sollte man genau hinschauen, wie sich der Exportpreisindex zusammensetzt. Tabelle 2 enthält die relativen Preise wichtiger Exportgüter der Jahre 1814–1829.19 Man kann sehen, dass die Preise für Baumwollgarn und Baumwolltuch viel stärker fielen als jene für Produkte, die aus Leinen, Wolle oder Eisen hergestellt wurden. Während des Krieges wurde die industriell gefertigte Baumwolle zum wichtigsten Exportgut Britanniens und löste damit die Schafswollprodukte ab. Während der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts behielt sie ihre Spitzenposition unter den Exportgütern. Der Preisverfall bei Baumwollgarn und Baumwolltuch war dafür verantwortlich, dass der Trend im Import / Export-Handelsverhältnis sich umkehrte. Klammert man die Baumwollprodukte aus, dann fielen die Preise der übrigen Exportgüter nicht so stark wie jene der Importgüter. Tabelle 2 Relative Preise für Exporte aus der heimischen Industrie Jahr

Baumwollgarn

Baumwollprodukte

Leinenprodukte

Woll­ produkte

Eisen

1814 1815 1816 1817 1818 1819 1820 1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827

100 83 77 71 74 64 56 49 47 44 42 45 38 36

100 80 77 67 63 70 64 62 57 55 54 54 47 46

100 86 85 79 82 81 77 77 76 71 67 71 65 60

100 101 107 97 99 101 99 87 81 76 73 77 73 65

100 106 98 93 94 92 89 80 71 70 72 90 79 72

19

Exporte insgesamt 100 90,6 87,8 78,5 81,9 79,6 71,4 67,6 62,9 60,7 59,3 62 57,9 53,6

Ohne Baumwollprodukte 100 99 95 90 91 88 83 79 76 73 71 78 72 69

Die Preise erhält man, indem man den Exportwert für jedes Produkt durch die Quantität des von Porter erfassten Exports teilt. – Mit Porter ist wohl der Statistiker George Richardson Porter (1792–1852) gemeint, der ab 1834 der nationalen Handelskammer vorstand. Porter war mit David Ricardos Schwester Sarah verheiratet, d. Hrsg.

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Der Grund für diesen außergewöhnlichen Preisverfall ist zweigeteilt. Anstatt Nesselstoff, Battist und andere hochwertige Produkte für den Verkauf in Europa und den Vereinigten Staaten herzustellen, waren die Fabriken in Lancashire zunehmend damit ausgelastet, für die Märkte in Indien im Nahen Osten billigen Kattun zu produzieren. Der Preisverfall ist zu einem großen Teil dem Wandel zuzuschreiben, den die Natur des gefertigten Produkts erfahren hat. Ein weiterer Grund war die Kostenreduktion im Zuge des technischen und ökonomischen Fortschritts. Nach dem Krieg wurden die Mühlen mit Dampf statt mit Wasser betrieben. Jahr für Jahr gab es Neuerungen in der Webtechnik und bei den Spinnmaschinen. Der mechanische Webstuhl verdrängte allmählich den weniger effizienten Handwebstuhl. Dank fallender Zinssätze zahlte man weniger für geliehenes Kapital, Neuerungen im Transport- und Handelswesen sorgten für sinkende Kosten beim Vermarkten und Versenden der Güter. Fallende Preise für Baumwollgarn und -stoffe kamen indes nicht aufgrund nachlassender Nachfrage aus dem Ausland zustande. Sie spiegeln vielmehr eine Reduzierung der realen Kosten wider. Und obwohl die Arbeitskosten für ein Pfund Garn oder einen Yard Kattun spektakulär sanken, fielen die Arbeitseinkommen nicht in korrespondierender Weise. Der Abwärtstrend des Import / Export-Handelsverhältnisses steht nicht stellvertretend für eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, weder für die Nation als Ganzes, noch für jenen Teil der Nation, der von den Löhnen abhing. Zahlen, die angeblich Veränderungen im Handelsverhältnis zeigen, sind für Langzeitstudien von zweifelhaftem Wert. Zuverlässige Schlüsse kann man aus ihnen nur ziehen, wenn es um eine kurze Spanne von Jahren geht, wenn also die Natur der Güter, die gehandelt werden, und die Produktionstechnik sich kaum ändern. Selbst kurzfristig betrachtet, ist es alles andere als klar, dass man einen Abwärtstrend des Index als ein Zeichen von Gegenwind lesen kann. Folgt man Tabelle 1, dann haben die Handelsverhältnisse zwischen 1809 und 1810, 1812 und 1815, 1817 und 1818, sowie 1825 einen steilen Abwärtstrend erlebt – also immer dann, wenn das Handelsvolumen in derselben Periode anstieg. In den Jahren, in denen der Handel stagnierte, stiegen sie jedoch steil an: 1811, 1816, 1819 und 1826. Die Erklärung ist natürlich die, dass die Preise für britische Exporte in Zeiten der Prosperität stiegen und in Phasen des Konjunkturrückgangs nicht so stark fielen wie jene für Importe, weil die Rohstoffe und Lebensmittel, die Britannien einführte, in puncto Nachfrage und Angebot unelastisch waren. Es wäre mithin absurd, zu behaupten, der Wohlstand der Arbeiter würde sich verringern, wenn der Handel zunimmt, und vermehrt, wenn der Handel nachlässt. Eine Apparatur, die nur auf die Preise achtet, reicht eindeutig nicht aus, um Veränderungen bei den Vorteilen, die sich aus dem internationalen Handel ergeben, zu erfassen. Nicht nur die Lebenshaltungskosten, sondern auch die Einkommensmöglichkeiten bestimmen den Grad des Wohlergehens. Einkommen aus Exporten sorgen für Arbeitsplätze und generieren weitere Einkommen. Wie stark diese Einkommen in den Kauf ausländischer Güter fließen, hängt von den Importpreisen ab. Im Lichte solcher Überlegungen meinte neulich Mr. Dorrance, ein Kollege

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Teil 2

von mir, ein besseres Instrument zur Messung der gesellschaftlichen Effekte des internationalen Handels erhielte man, wenn man den Index für den Wert der Exporte durch jenen für die Importpreise dividierte.20 Ich habe seine Formel auf die Handelsstatistik jener Periode angewendet und wiederum die Zahlen von Herrn Imlah benutzt. Die Ergebnisse stehen in der letzten Spalte unter der nicht ganz zufriedenstellenden Rubrik „Einkommensaustauschverhältnis (income terms of trade)“. Dort haben wir eine Zahlenfolge, die frei von den Zahlenparadoxien der vorgelagerten Spalte ist. Sowohl der Trend als auch die Veränderungen von Jahr zu Jahr sind so, wie wir sie aufgrund unseres Wissensstandes, der sich aus anderen Quellen speist, erwarten würden. Der Index zeigt während der Kriegsphase kaum Veränderungen. 1815 stieg er steil an, fiel aber zwischen 1816 und 1819. In diesen vier Jahren geringer Investitionen und niedriger Arbeitslosigkeit haben scheinbar andere Kräfte, die beim Überseehandel am Werk waren, dem Elend nachgeholfen. Aber ab 1820 gab es einen markanten Aufwärtstrend, der nur durch Preisstürze in den Jahren 1825, 1826 und 1831 unterbrochen wurde. In den 1820er und 1830er Jahren stiegen die Einkommen aus Überseegeschäften, wobei diese Einkommen genutzt wurden, um mehr der ausländischen Güter zu kaufen. Der Handel übte zunehmend einen vorteilhaften Einfluss auf das Wirtschaftsleben Britanniens aus. Bedenkt man die Tatsache, dass die Importe vor allem Dinge wie Tee, Zucker und Rohstoffe für die Industrie umfasst haben, dann kann man kaum glauben, dass die Arbeiter von diesem Zugewinn nichts abbekommen hätten. IV Es wird Zeit, von der reinen Spekulation zu Aussagen über die Zahlen überzugehen, vor allem im Hinblick auf deren Verhältnis zu den Löhnen und Lebenshaltungskosten. Der erste ausgezeichnete Beitrag, der unser Wissen zum ersten der beiden Punkte bereichert hat, liegt über 40 Jahre zurück und stammt von Arthur Lyon Bowley und George Henry Wood. Er basiert hauptsächlich auf Literaturquellen, aber es ist unwahrscheinlich, dass zusätzliche Forschungen seine Gültigkeit ernsthaft gefährden könnten. Nichtsdestotrotz wollen wir stark hoffen, dass er durch Daten, die aus den Lohnbüchern gewonnen werden könnten, ergänzt werden wird, denn solche existieren trotz Bombardierungen und anhaltender Papierflut immer noch in vielen der in ganz England verstreuten Fabriken. In den Händen sorgfältiger Forscher könnte man aus diesen Listen viele Informationen über die Zahlungsraten, aber auch über die damaligen Erträge, Arbeitszeiten und Mieten der Arbeiterwohnungen gewinnen. Bevor diese Aufgabe nicht abgeschlossen ist, wird es nach wie vor unmöglich sein, mit Gewissheit etwas zu dem Thema zu sagen, an das ich mich, ziemlich waghalsig, in diesem Aufsatz herangetraut habe.

20

Dorrance (1948–49).

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Was Informationen zu den Lebenshaltungskosten betrifft, so sind wir fast vollständig auf die Arbeit amerikanischer Gelehrter angewiesen. Da einige meiner Bemerkungen im Folgenden bedenklich sein könnten, sollte ich hinzufügen, dass ich angesichts der kläglichen Beiträge englischer Wirtschaftshistoriker zu diesem Thema voller Scham bin und gleichzeitig die amerikanischen Statistiker für ihre Ausdauer und Geschicklichkeit bewundere, die sie der Sache angedeihen ließen. Kein Beitrag zur Erforschung der industriellen Revolution reicht in seiner Bedeutung an die Arbeit von Norman John Silberling heran, dessen allzu früher Tod die Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsstatistik um einen außergewöhnlichen Repräsentanten gebracht hat. Sein Großhandelspreisindex bleibt auf absehbare Zeit ein unverzichtbares Werkzeug. Ich bedauere, dass man vom Nebenprodukt seiner Arbeiten – dem jährlichen Verbraucherpreisindex von 1799 bis 1850 dergleichen m. E. nicht sagen kann. Ich muss Sie daran erinnern, dass er an die Preise für 15 Güter geknüpft ist, die wegen ihrer angeblichen Bedeutung für den Konsumenten ausgewählt wurden. Die verwendeten Preise sind aber die Großhandelspreise, nicht die Einzelhandelspreise, Marktpreise. Die Gültigkeit des Index ist an die Bedingung geknüpft, dass die Einzelhandelspreise annähernd gleichzeitig dieselbe Richtung wie die Großhandelspreise genommen haben und die Spanne zwischen beiden ziemlich konstant geblieben ist. Es stimmt schon, dass die Struktur der Einzelhandelspreise damals nicht so rigide war wie heute. Der Krämer hatte damals noch nicht die Stoßdämpferfunktion zwischen Großhändler und Kunde. Der Preis für einen Laib Brot oder ein Pfund Fleisch konnte sich innerhalb von ein paar Monaten, ja Wochen, verdoppeln oder halbieren. Viele der im Index verwendeten Güter waren aber gar keine Konsumwaren, sondern nur deren Rohstoffe. Meine Vorfahren haben sich damals nicht ernährt, indem sie Weizen oder Hafer gemampft haben. Sie haben ihre nackten Körper nicht mit Rohwolle, Baumwolle oder Flachs bedeckt. Sie waren nicht buchstäblich mit Leder besohlt. Laut Silberling fällt diese elementare Tatsache nicht ins Gewicht. „Es ist wohlbekannt,“ schrieb er, „dass die Preise im Falle der Baumwollprodukte sich flugs an den Preisen für Rohwolle ausgerichtet haben.“ Wenn man aber die relativen Preise nebeneinanderhält, dann sehen wir – was die meisten von uns wohl auch erwartet hätten –, dass die Zahlenfluktuationen bei der Rohwolle größere Amplituden zeigen als jene bei den Baumwollprodukten. Es ist bestimmt unrealistisch, wenn man annimmt, dass die Preise für Lebensmittel, Kleidung und Schuhe sich zuverlässig in den Preisen der Rohstoffe spiegeln würden, aus denen sie gemacht werden. Zudem hat Silberling Preise verwendet, die bereits um die Zollabgabe bereinigt waren. In Wirklichkeit aber haben die Abgaben einen großen Anteil an den Kosten nahezu aller Produkte gehabt, die ins Land eingeführt wurden – ein Anteil, der (wie Herr Imlah gezeigt hat) bis 1840 kontinuierlich anstieg. Das ist aber noch nicht alles. Der Mensch, dessen Ausgabenmuster dem entsprach, das Silberling gezeichnet hatte, hatte viele Eigenheiten. Er bewohnte kein Haus oder hatte zumindest keine Miete zu zahlen. Er gestand sich nur wenig Brot

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Teil 2

zu und noch weniger Porridge. Eine Kartoffel oder gar ein starkes Getränk rührte er nie an. Andererseits schätzte er große Mengen Rindfleisch sowie Hammelfleisch und liebte Butter. Vielleicht war er Diabetiker. Der Durchschnittsengländer des 18. Jahrhunderts hätte über ihn gestaunt. Denn er (wie auch seine Nachfahren 1949) war er ein körnerfressendes und kein fleischfressendes Tier. Seine Grundnahrungsmittel waren Brot oder, wie im Norden Englands, Haferflocken. Fleisch war für ihn Luxus, den er sich nur einmal, bestenfalls zweimal, die Woche gönnte. Silberlings Kreaturen, die ihren Durst nur mit Tee und Kaffee löschten (mit Zucker, aber ohne Milch), wären ihm wie bedauernswerte Geschöpfe vorgekommen. So enthaltsam der Durchschnittsengländer mit Blick auf Fleisch und vieles andere auch gelebt haben mag, er gönnte sich die Woche über zu jeder Mahlzeit ein kleines Bier oder Ale, das er überdies nicht zu knapp bemaß, wann immer er etwas zu feiern hatte. Das Porträt, das Elizabeth Gilboy in ihrer Studie gezeichnet hat, zeigt andere Züge.21 In ihrem Index schlagen Zerealien mit 50 % zu Buche und nicht mit 32 % wie bei Silberling. Tierprodukte werden indes für unbedeutender gehalten. Allerdings sind ihre Preise jene, die Krankenhäuser, Schulen und Regierungsbehörden zu entrichten hatten, nicht aber der einzelne Arbeiter. Sie waren Rabattpreise, keine Einzelhandelspreise. Außerdem waren sie Londoner Preise. Ziemlich bezeichnend für das englische Leben war und ist die große Vielfalt. Die Lebensmittelpreise variierten in den jeweiligen Ecken des Landes erheblich und es war nicht außergewöhnlich, dass in einer Region eine Hungersnot vor der Tür stand, während man 100 Meilen weiter in einem anderen Teil des Landes recht sorgenfrei lebte. Erst mit dem Ausbau der Transportwege auf Flüssen, Straßen und Kanälen näherten sich die Preise auf dem Land allmählich dem Stadtniveau an. „Jeder vernünftige Mensch,“ schrieb Arthur Young 1769, „schrieb die Teuerungen im Land den Schnellstraßen zu. Und die Vernunft sagt, dass sie mit ihrer Meinung richtig lagen. … Baue ihnen eine Schnellstraße vor die Tür, und alle günstigen Preise verschwinden auf einmal.“ Aber selbst 50 und mehr Jahre später gab es in England immer noch Regionen ohne Schnellstraße. Dort konnten die Lebensmittelpreise niedriger oder gar höher sein als in London, da sie mit Sicherheit größeren Fluktuationen ausgesetzt waren. Niemand hat uns die lokalen Abweichungen unter den Arbeitskosten klarer vor Augen geführt als Frau Gilboy. Die Möglichkeit, dass bei den Einzelhandelspreisen oder den Essgewohnheiten in ähnlicher Weise lokale Besonderheiten bestanden haben könnten, hat sie jedoch nicht ernsthaft erwogen. Im Norden des Landes waren Haferflocken das Grundnahrungsmittel der Armen, und in Mittelengland war es Roggenbrot. Das blieb auch noch so, als man in London und Südengland schon lange Weizenbrot aß. Wenn man die Rabattpreise aus den Metropolen und ein Gewichtungssystem, das auf den Gepflogenheiten der Städter gründet, auf die Einkommen der Arbeiter aus der Provinz bezieht, dann betreibt man ein heikles

21

Gilboy (1936).

4. Der Lebensstandard der Arbeiter in England zwischen 1790 und 1830 

97

Unterfangen. Frau Gilboys Maurer in Schüleruniform22 – wie jemand einmal uncharmant bemerkte – hätten die Bergleute aus Northumberland und die Weber aus Lancashire oder Somerset wohl kaum als einen der ihren erkannt. Wenn aber das, wofür man Geld ausgab, dort dies und hier jenes war, dann war es auch nicht zu allen Zeiten einheitlich. Rufus T. Tucker, dessen galanter Versuch, den Verlauf der Reallöhne Londoner Handwerker während der letzten zwei Jahrhunderte zurückzuverfolgen, Bewunderung verdient, war dieses Problem sichtlich bewusst. Seine Lösung war, auf einen einheitlichen Maßstab zu verzichten. Wenn ein neues Gut im Haushalt des Arbeiters eine Rolle spielte, dann fand sich dafür ein Platz und wurde die Gewichtung der einzelnen Güter untereinander neu austariert. Herr Tucker teilte die Zahlen in seinem Lohnindex (für unsere Periode die Löhne für vier Baugewerke in Greenwich und Chelsea) durch den Kettenindex der Preise zur Bestimmung „der Fähigkeit eines typischen und regelmäßig beschäftigten Londoner Handwerkers, Güter zu erstehen, die Handwerker für gewöhnlich kaufen.“ Dieser typische Londoner Handwerker war keine statische Figur. Anfangs war sein Konsum auf einige wenige Güter beschränkt. Dazu gehörte auch minderwertiges Getreide. Danach nutzte er seine Mittel für eine breitere Produktpalette. Einige dieser Güter waren recht kostspielig („die Güter, die Handwerker für gewöhnlich kaufen,“ waren nun andere). Man sollte meinen, dass die Optionserweiterung den Lebensstandard des Arbeiters gehoben hätte. Aber nein. Herr Colin Clark, der Tuckers Zahlen herangezogen hat, will mit denselben seine These untermauern, dass das Durchschnittseinkommen gefallen sei, und zwar „von einem recht hohen Niveau im 17. Jahrhundert auf das Niveau, das in Asien zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte.“ Das asiatische Niveau beinhaltete, wie ich hier nur am Rande erwähnen möchte, neben Tee und Zucker noch einige andere kleine Produkte, die dem Londoner Handwerker des 17. Jahrhunderts wohl eher fremd waren. Würde der Mensch des frühen 19. Jahrhunderts tatsächlich eine Rückkehr zum Speiseplan seines Ururgroßvaters gewollt haben? Die Antwort, die er für wohlmeinende Bemühungen übrighatte, mit denen man ihm damals nahelegte, Roggenbrot statt Weizenbrot zu essen, lässt keine Zweifel offen. Wie die Arbeiter in Nottingham­ shire meinte auch er, dass er seine „Roggenzähne“23 verloren habe. Der Handwerker von Herrn Tucker war auch in anderer Hinsicht etwas Besonderes. Egal, was er verdiente, er gab immer ¹⁄6 für die Miete aus, oder ¹⁄5 einschließlich Nebenkosten. Dieser Anteil liegt weit über dem, den ich überall sonst ausfindig machen konnte, wobei Wohnungen in London zweifellos teuer waren. Aber das starre Verhaltensmuster ist es, das auffällt. Tucker schreibt, sein Index „versucht zu messen, inwieweit man als Arbeiter in der Lage war, Wohnraum zu erwerben.“

22 23

Jungs, die eine Armenschule besuchten, trugen damals lange blaue Mäntel bzw. Talare. Vgl. Fay (1932), S. 4.

98

Teil 2

Wenn es aber so ist, dass der Arbeiter immer einen fixen Anteil für die Unterkunft zahlte, sollte dann nicht die Lohnstärke als Maß der Erwerbsfähigkeit ausreichen? Die Mieten gehören wahrscheinlich zu den Kostenarten, aus denen die Ableitung von Indexzahlen am schwersten fällt. Nur wenige Konsumgüter sind vollkommen standardisiert. Ein Laib Brot, den man zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort kaufen kann, kann sich von einem Laib Brot, den man andernorts und zu einem anderen Zeitpunkt ersteht, stark unterscheiden. „Das Kalbfleisch, das hier und da auf dem Land so günstig zu haben ist,“ schrieb Malthus, „hat außer dem Namen wenig mit dem Kalbfleisch gemein, das man in London bekommt.“24 Derlei Qualitätsunterschiede fallen aber wohl vor allem bei Wohnhäusern auf. Ein Verschlag mit Wohnzimmer und Schlafraum ist etwas anderes als eine 4-Zimmerwohnung mit angeschlossener Waschküche bzw. Webkammer. Eine Behausung in Fabriknähe verursacht höhere Mietkosten als eine, die weit draußen liegt. Im ersteren Fall spart der Mieter nicht nur lange Weg zur und von der Arbeit, sondern kann er auch, wenn er will, sein Einkommen durch Überstunden aufbessern, ohne seine Schlafenszeiten ungebührlich einzuschränken.25 In Wahrheit ist es nicht möglich, das Wohlergehen von Personengruppen zu vergleichen, die räumlich und zeitlich derart weit voneinander getrennt leben. Man kann die Befriedigung, die man erfährt, wenn Brot, Kartoffeln, Tee, Zucker und Fleisch auf dem Speiseplan stehen, nicht mit jener vergleichen, die entsteht, wenn die Küche nur Haferflocken, Milch, Käse und Bier hergibt. Zu Beginn und Mitte des 18. Jahrhunderts wetteiferten nur wenige Güter um das, was vom Lohn des Arbeiters übrigblieb. Aus diesem Grund sah man (zum Leidwesen der wohlhabenden Beobachter) hinter jeder Lageverbesserung der Armen nur mehr Trinkerei und Freizeit – bzw. „Lasterhaftigkeit und Müßiggang“, wie sich der gesetzte und müßiggängerische Zeitgenosse auszudrücken pflegte. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts gewann die Güterbandbreite an Umfang hinzu und nach den Kriegen mit Frankreich eröffneten sich für Reisen und Bildung ganz neue Möglichkeiten. Indexzahlen können derlei Dinge unmöglich vollständig erfassen. Mit meiner Kritik und meinen Fragen verfolge ich keinerlei nörgelnden Absichten. Mir geht es darum, auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, wenn man Veränderungen im Lebensstandard arithmetisch erfassen will. Die Pioniere haben wieder einmal, wie schon so oft, zu viel auf einmal erreichen wollen. Wir müssen unsere Ambitionen begrenzen, erkennen, wie tief unsere Trickkiste reicht, und uns Verallgemeinerungen versagen. Wir können Änderungen der Reallöhne nicht messen, indem wir einen Index für Großhandelspreise oder Rabattpreise, die Institutionen gewährt werden, nutzen. Wir können nicht die Preisdaten einer bestimmten Region auf die Lohndaten einer anderen Region anwenden. Wir können nicht einfach eine

24

Malthus (1926), S. 317. Auf diese Möglichkeit wies Walter Lazenby (1949) in seiner unveröffentlichten Doktorarbeit hin.

25

4. Der Lebensstandard der Arbeiter in England zwischen 1790 und 1830 

99

Tabelle für eine lange Reihe von Jahren aufstellen, in deren Verlauf nicht nur in der Natur und im Spektrum der konsumierten Güter, sondern womöglich auch in den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen Veränderungen aufgetreten sind. Wir brauchen nicht einen Index, sondern viele Indizes, die allesamt aus den Einzelhandelspreisen abgleitet und auf wenige Jahre beschränkt sind und die überdies nur auf eine einzelne Region Bezug nehmen, eventuell sogar nur auf eine einzelne Berufsgruppe in jener Region.26 Ob ich diesen Anforderungen genügen werde, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Alles, was ich hier zu bieten habe, sind drei kleine Tabellen zu den Kosten der Grundnahrungsmittel in jener Region, die vielen als die Wiege des Fabrikwesens gilt. Die Eigenschaft, die sie beanspruchen, ergibt sich aus der Tatsache, dass sie Einzelhandelspreise wiedergeben, die Zeitgenossen festgehalten haben. Die erste Tabelle führt nach Oldham, eine Textilstadt fünf, sechs Meilen von Manchester entfernt. Die Zahlen sind einem unpublizierten Manuskript von William Rowbottom entnommen. Es trägt den Titel „The Chronology or Annals of Oldham“.27 Ich stehe tief in der Schuld einer früheren Kollegin, Fräulein Frances Collier von der Universität Manchester, die es unter großen Mühen ausfindig gemacht hat. Wie für Chronisten jener Zeit üblich, beginnt auch Rowbottom seine Aufzeichnungen mit den außergewöhnlichen Ereignissen, wie Mord- und Totschlag, die sich lokal zutrugen. Zwischen 1787 und 1790 findet sich nichts in den Annalen, das von ökonomischem Interesse wäre. Aber ab 1791 machte er sich Notizen, in denen er die Preisänderungen festhielt, die der Kaufmann von Oldham von Zeit zu Zeit vornahm. Nach und nach hielt er immer mehr fest und seine Aufzeichnungen wurden systematischer. Zu einigen Monaten und Jahren finden wir nur wenige oder gar keine Informationen zu den herrschenden Preisen. Es gibt zahlreiche Güter, wie Zucker, Melasse, Malz, Kohlen und Kerzen, deren Preise so unregelmäßig aufgeführt sind, dass man sie auf keinen Fall für den Index übernehmen könnte.

26

Diese Ansicht spiegelt die Auffassung eines renommierten Statistikers wider. „Ich glaube nicht, dass Indexzahlen für einen längeren Zeitraum dienen können. Wenn man dauernd dasselbe Schema verwendet, dann kann man damit die Probleme, die mit einer Veränderung im ‚Präferenzspektrum‘ auftreten, nicht lösen. Wenn man einen Index erstellt, indem man bestimmte Schemen zusammenfasst, dann muss man mit einer gewissen Verzerrung rechnen, die sich über die Zeit verfestigt. Indexzahlen sollte man generell nur für Vergleiche in kurzen Zeiträumen heranziehen.“ Allen (1949).  27 Das Transkript von Giles Shaw befindet sich nun in der Manchester Public Reference Library.

100

Teil 2 Tabelle 3 Lebensmittelkostenindex in Oldham (1791=100)

Jahr

Hafer­ flocken

Mehl

Kartoffeln

Rindfleisch

Hammelfleisch

Schinkenspeck

Butter

Käse

Lebens­ mittelpreise insgesamt

1791 Frühling

100

100

100

100

100

100

100

100

100

1792 Frühling

105

95

85

100

100

100

100

60

94

1793 Herbst

126

102

154

80

100

100

106

90

113

1794



















1795 Jan

121

110

154

110

110

94

112

100

117

1795 Mai / Juni

132

151

185

120

120

106

112

110

138

1796





1797

84

82



1798















100

130

130

106

112

130

98

















1799 Frühling

103

73

85

100

100

88

112

110

92

1800 Mai

316

245

309

180

180

131

175

200

249

1801 Jan

290

270

309

160

160

150

188

180

253

1801 Okt

112

122

92

160

170

150

125

140

124

1802 Jan

126

135

92

176

180

138

115

132

133

1803 Jan

100

116

123

160

160

138

138

132

123

1804 Jan

142

114

154

160

160

124

162

154

139



















153

141

115

140

140

100

144

154

139

1805 1806 Jan 1807 Jan



















1808 Jan

153

133

185

140

140

112

175

140

148

1809 Jan

163

176

123

154

154

112

175

170

158

Als Rowbottom seine Aufzeichnungen begann, waren die meisten seiner Mitbürger damit beschäftigt, Barchent, Kattun und Gingankaros zu weben oder Hüte zu machen. Ihre Grundnahrungsmittel bestanden aus Brot, Haferbrei, Kartoffeln und gelegentlich Rindfleisch bzw. Hammelfleisch. Beim Erstellen des Index habe ich mit den Zahlen folgende Gewichtung vorgenommen: 4 jeweils für Haferflocken oder Mehl, 2 für Kartoffeln und je 1 für Rindfleisch, Hammelfleisch, Schinkenspeck, Butter und Käse. Wie man leicht sieht, fluktuierten die Preise für die ersten drei Güter heftiger als jene für die anderen Produkte. Wer sehr arm war und hauptsächlich von Mehl und Kartoffeln lebte, litt 1795 sehr und war 1800 und 1801 bis

4. Der Lebensstandard der Arbeiter in England zwischen 1790 und 1830 

101

auf die Knochen abgemagert. Zu jener Zeit der Hungersnöte wurden, wie Rowbottom berichtet, neue Getreidesorten zum Kauf angeboten, darunter Gerstenmehl und „amerikanisches Mehl“ (wahrscheinlich aus Mais). Die Armen sammelten Ampfer („grüne Sauce“) und Brunnenkresse, die sie statt Kartoffeln auftischten. Nesseln konnte man in Oldham für zwei Pence pro Pfund erwerben. Für die Jahre 1810 bis 1819 zeigt sich bei den Grundnahrungsmitteln – wie Tabelle 4 erkennen lässt – ein ähnliches Bild hoher Kostenfluktuationen. Die entsprechenden Zahlen ergeben sich aus einer Tabelle, die am 18. Januar 1820 im Manchester Mercury veröffentlicht wurde und detailliert Auskunft über Löhne, Lebensmittelpreise und Armenfürsorge gibt. Die Angaben beziehen sich auf „Manchester und andere Hauptsitze der Baumwollmanufakturen“. Von den Preisen, deren Quelle nicht offengelegt ist, heißt es, sie seien „der besten Informationen zufolge, derer man habhaft werden konnte, die jährlichen Durchschnittspreise im Einzelhandel.“ Es versteht sich von selbst, dass auch in diesem Fall die Preise für Getreideprodukte und Kartoffeln mehr schwankten als jene für Fleisch, Schinkenspeck, Butter und Käse. Die Tabelle legt den Schluss nahe, dass die Lebensmittelkosten während der vier Depressionsjahre und dem Notjahr nach dem Krieg nur geringfügig fielen, wenn überhaupt. Tabelle 4 Lebensmittelkostenindex in Manchester und weiteren 12 Textilstädten (1810=100) Jahr

Haferflocken

Mehl

Kartoffeln

Feines Rindfleisch

Rindfleischreste

Schinkenspeck

Butter

Käse

Lebens­ mittel­ kosten­index 100

1810

100

100

100

100

100

100

100

100

1811

100

91

100

100

100

82

112

100

97

1812

150

127

165

100

100

91

108

100

129

1813

130

111

120

106

108

100

119

106

116

1814

93

76

110

112

117

100

119

100

96

1815

87

69

110

100

108

95

112

100

91

1816

83

80

110

94

92

73

85

79

86

1817

127

120

130

94

92

64

85

79

111

1818

107

91

135

100

100

91

108

94

97

1819

90

73

130

100

100

91

92

94

86

Die Zahlen in Tabelle 5 beziehen sich auf Manchester. Sie sind einer Schätzung der Handelskammer Manchester bezüglich der Einzelhandelspreise für Lebensmittel entnommen, die Arthur Redford als Appendix zu Manchester Merchants and Foreign Trade veröffentlicht hat.28 Sie belegen, dass die Lebensmittelkosten während der gesamten 1820er Jahre stiegen und nicht fielen. 28

Redford (1934).

102

Teil 2 Tabelle 5 Lebensmittelkostenindex in Manchester (1821=100)

Jahr

Haferflocken

Mehl

Kar­ toffeln

Feines Rindfleisch

Rindfleischreste

Schwein

Schinkenspeck

Käse

Lebens­ mittel­ kostenindex

1821

100

100

100

100

100

100

100

100

100

1822

94

117

79

100

117

96

115

95

102

1823

100

92

88

100

108

135

112

121

101

1824

116

115

141

115

117

139

127

126

122

1825

116

119

106

125

158

135

138

137

120

1826

122

112

172

125

158

130

115

137

130

1827

128

112

84

120

133

139

115

147

119

1828

119

119

100

130

133

130

123

132

120

1829

106

127

115

120

125

130

100

132

118

1830

112

119

106

110

100

113

115

105

112

1831

112

115

110

120

117

122

123

116

115

Ich habe der Versuchung widerstanden, die drei Tabellen zusammenzuwerfen, um für die Jahre 1791 bis 1831 mit einem einzigen Lebensmittelkostenindex aufwarten zu können. Dies geschah teils aufgrund der geringfügigen Unterschiede hinsichtlich der Regionen und der Güterarten, aber vor allem deshalb, weil die Angaben nicht aus einer gemeinsamen Quelle stammten. Die grobe Richtung ist aber klar. Nach einem Preistief infolge der Hungersnot 1800 und 1801 setzte sich der Preisanstieg fort und erreichte 1812 seinen Höhepunkt. Danach sanken die Preise bis etwa 1820 und zogen im folgenden Jahrzehnt wieder an. Die Kosten für den Lebensmittelstandard der Armen dürften 1831 kaum unter denen von 1791 gelegen haben.29 Wenn dem so ist, dann ist jede Verbesserung des Lebensstandards entweder die Folge von Lohnwachstum gewesen oder das Ergebnis fallender Preise für Dinge, die der Index nicht enthält. Ein auffälliges Merkmal der heimischen Industrie war die enorme Bandbreite der Löhne. Laut Rowbottom erhielten die Ginganweber im Dezember 1793 10 Shilling pro Einheit, im April 1794 19 Shilling, 29 Von den folgenden Preisangaben steht die erste für Oldham 1791 und die zweite für Manchester 1831: 1/4 Scheffel Fleisch 19 Pence, 18 Pence; 1 Scheffel Mehl 24 Pence, 30 Pence; 1 Ladung Kartoffeln 6 Shilling 6 Pence, 6 Shilling 3 Pence; 1 Pfund Rindfleisch 5 Pence, 6 Pence; 1 Pfund Schweinefleisch 5 Pence, 51/2 Pence; 1 Pfund Schinkenspeck 8 Pence, 7 Pence; 1 Pfund Käse 5 Pence, 8 Pence. Die Lebensmittelkosten lagen 1810 5 % über jenen von 1809 und 60 % über denen von 1791. Zu Vergleichszwecken mit Tabelle 3 sollte man die Angaben in Tabelle 4 um 60 % höher ansetzen. Zwischen 1819 und 1821 fielen die meisten Warenpreise merklich. 1821 und 1791 lagen die Lebensmittelkosten in etwa gleichauf. Die Angaben in Tabelle 5 haben alles in allem die gleiche Grundlage wie jene in Tabelle 3. Der Warenkorb kostete 1831 etwa 15 % mehr als 1791.

4. Der Lebensstandard der Arbeiter in England zwischen 1790 und 1830 

103

und im August desselben Jahres 24 Shilling 4 Pence. Im selben Zeitraum stieg der Preis für jedes gewebte Nankingtuch von 16 auf 26 Shilling. Aus Gründen, die Adam Smith dargelegt hat, steigt der Preis für Arbeit im Allgemeinen dann, wenn die Lebenshaltungskosten fallen. Jahre der Mangelwirtschaft waren daher normalerweise Jahre mit niedrigen Löhnen. Unter solchen Umständen war der Lebensstandard des Arbeiters Gegenstand heftiger Fluktuationen. Ein Vorteil des Fabrikwesens war, dass es eine geregelte Beschäftigung anbot und auch erforderte, was zu einer größeren Konsumstabilität führte. Im Zeitraum 1790 bis 1830 stieg die Produktion sehr rasch an. Das kam immer mehr Menschen zugute, Produzenten wie auch Konsumenten. Regierungsaufträge für Uniformen und Armeestiefel ließen neue Betriebe entstehen. Nach dem Krieg stießen deren Produkte unter den besser bezahlten Handwerkern auf große Nachfrage. Stiefel lösten Holzschuhe ab, und Hüte Kopftücher, zumindest beim Sonntagsstaat. Nun hatte man für viele neue Waren, von Uhren bis Taschenmessern, Geld zur Verfügung, und nach 1820 fielen die Preise für Tee, Kaffee und Zucker drastisch. Gewerkschaften entstanden, gemeinnützige Vereine, Sparkassen, Tageszeitungen und kleine Heftchen, Schulen, nichtanglikanische Kapellen. Sie alle zeugen von einer großen Gesellschaftsklasse, die weit über dem reinen Existenzminimum lebte.30 Es gab dennoch massenhaft ungelernte oder unerfahrene Arbeiter  – Saisonarbeiter auf dem Land und an den Handwebstühlen –, deren Einkommen von den Kosten für das Nötigste im Leben völlig aufgebraucht wurde, zumal die Preise für derlei Dinge recht hoch blieben. Nach meiner Einschätzung war die Zahl derer, die von den Vorteilen des ökonomischen Fortschritts profitierten, größer als die jener, die an denselben nicht teilhaben konnten, und wuchs zusehends. Aber man sollte zur Kenntnis nehmen, dass es beide Klassen gab. Vielleicht erklärt dies auch die geteilten Meinungen, auf die ich am Anfang meines Aufsatzes hinwies. John Stuart Mill und seine Ökonomiekollegen dachten an die eine Gruppe; Rickman und Chadwick hatten die andere Gruppe im Blick.

30 1837 oder 1838 gab Thomas Holmes (*1760) im hohen Alter von 87 Jahren gegenüber einem Mitglied der Liverpooler Statistikgesellschaft seine Eindrücke zu den Veränderungen, die seit seiner Jugend in Aldbrough (Holderness) eingetreten waren, zum Besten: „Der Konsum von Fleisch, Weizenbrot, Geflügel, Tee und Zucker hat enorm zugenommen. Die Ärmeren sind nicht so wohlgenährt. Aber sie sind besser gekleidet und untergebracht, haben Möbel, und wenn sie krank werden oder ins Elend abrutschen, kümmert man sich um sie. Sie sind die Gewinner der Veränderungen. Mit diesem Hinweis, so denke ich, bringt man die Sache auf den Punkt.“ Mit Bezug auf die Mechaniker und Handwerker fügte er hinzu: „Die Löhne von fast allen sind weit stärker gestiegen als die Lebenshaltungskosten.“ Und auf die Frage, ob die Ärmeren nun intelligenter seien, meinte er: „Das steht ganz außer Frage.“

5. Das Fabrikwesen im frühen 19. Jahrhundert William Harold Hutt Vom britischen Fabrikwesen kann man sehr wohl sagen, dass es das charakteristischste Merkmal der industriellen Revolution war. Da es den Trend der dann folgenden industriellen Entwicklung vorwegnahm, prägen die Urteile, die über es gefällt wurden, die Haltung, mit der man heute dem modernen Industriesystem gegenübertritt. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die im Ausland übernommene Form der industriellen Entwicklung mehr als nur geringfügig durch direkte oder indirekte Imitierung der britischen Vorgänge geprägt war und die Fabrikgesetzgebung überall auf der Welt dem britischen Modell folgte. In manchen Teilen der Welt herrschen immer noch industrielle Bedingungen, die den hiesigen vor 100 Jahren nahezukommen scheinen. Manches in einem jüngeren Aufsatz über die heutigen Bedingungen in China liest sich wie ein Geschichtsbuch, das über die Frühphase des englischen Systems berichtet.1 Man wird zwar den Verdacht nicht los, dass die Übereinstimmung teilweise darauf zurückzuführen ist, dass der Autor die modernen Geschichtsbücher zum Thema gelesen hat, aber es gibt auch zweifellos Parallelen. Im Zusammenhang mit einem anderen Forschungsvorhaben war der Autor des vorliegenden Aufsatzes gehalten, eine Auswahl recht umfangreicher Parlamentsprotokolle und andere Literatur zu den Arbeitsbedingungen des frühen 19. Jahrhunderts zu studieren. Er war recht erstaunt darüber, dass die Eindrücke, die er aus diesen Schriften gewann, stark von jenen abwichen, die bestimmte neuere Abhandlungen zum Fabrikwesen bei ihm hinterlassen hatten, nämlich A History of Factory Legislation von Hutchins und Harrison sowie The Town Labourer und Lord Shaftesbury von John Lawrence Hammond und Barbara Hammond. Da letztere praktisch die modernen Standardwerke verkörpern, hielt er die Zeit für eine kritische Würdigung der Evidenzlage und der wichtigeren Diskussionsfragen für gekommen. Der vorliegende Aufsatz ist der Versuch einer solchen Untersuchung. Vielleicht klärt sich die Sichtweise der vorgenannten Fachautoritäten, wenn man bedenkt, welches Gewicht sie der Faktenlage einräumten, die 1832 vom wohlbekannten „Sadler-Komitee“ vorgetragen wurde.2 Der Bericht des Komitees bietet uns ein trauriges Bild aus Gewalt, Elend, Krankheit und Fehlbildungen unter den 1 2

Labour (1924). Sadler (1831 f.)

5. Das Fabrikwesen im frühen 19. Jahrhundert

105

Kindern in den Fabriken, ein Bild, das allgemein als authentisch gilt. Die Hammonds sprechen von diesem Bericht als dem „klassischen Dokument“. Und weiter schreiben sie: „Er ist die Hauptquelle unseres Wissens über die Bedingungen in den Fabriken jener Zeit. Seine Seiten führen dem Leser mit Hilfe der gewählten Dialogform vor Augen, wie die Opfer des neuen Systems ihr Leben empfanden.“3 Hutchins und Harrison sehen in jenem Bericht eine „der wertvollsten Sammlungen über die industriellen Bedingungen, die wir besitzen.“4 Was wissen wir über dieses Komitee? Sadler setzte alles daran, seine „Ten Hours Bill“5 durch das Parlament zu bringen. Als es zur zweiten Lesung kam, entschied das Unterhaus, dass ein Ausschuss eingesetzt werden sollte, um die Geschichte der gröbsten Brutalitäten in den Fabriken zu untersuchen. Eben diese Geschichte hatte er mit großer Ausführlichkeit und ausschweifender Eloquenz geschildert. Sadler selbst übernahm den Vorsitz und man kam überein, dass er aus Wirtschaftlichkeits- und Bequemlichkeitsgründen seine Zeugen zuerst aufrufen sollte. Danach hätten dann die Gegner des Gesetzesentwurfs das Wort. Mit einer großen Kraftanstrengung schaffte er es, sein Anliegen bis zum Ende der Sitzung abzuschließen. Danach, unter Vernachlässigung jeglicher Gerechtigkeitsansprüche, veröffentlichte er umgehend sein Beweismaterial „und gab der Welt eine Unmenge an einseitigen Aussagen, groben Tatsachenverdrehungen und Verleumdungen … wie sie die Welt zuvor wohl noch nie in einem öffentlichen Dokument vorgefunden hat.“6 Die Frage hatte sich in eine Parteifrage verwandelt. Eine ausgewogene Diskussion war unmöglich geworden.7 Die Aussage, der Bericht sei hinschlich der in ihm enthaltenen Beweislage einseitig, wäre als Kritik zu milde. Die Beweislage bestand hauptsächlich aus Einzelfällen, die sorgfältig ausgewählt waren. Sadler setzte zudem einen effektiven Propagandatrick ein. Das, was früher angeblich geschehen war, nannte er Beweis und präsentierte ihn so, dass er suggerierte, dieselben Missbräuche wären immer noch im Gange.8 Das war besonders unfair, zumal im Gefolge der vorangegangenen 30 Jahre beträchtliche materielle Verbesserungen und Fortschritte auf den Weg gebracht worden waren, und zwar innerhalb wie außerhalb der Fabriken. Und die Anpassungen der sozialen Standards ließen auch nicht lange auf sich warten. Ein schwerwiegender Fehler bei der Beweisaufnahme war, dass die Aussagen nicht 3

Hammond / Hammond (1923), S. 16. Hutchins / Harrison (1903), S. 34. 5 1832 beschlossenes Gesetz, das die tägliche Arbeitszeit von unter 18-Jährigen in der Textilindustrie auf 10 Stunden begrenzte, d. Hrsg. 6 Greg (1837). 7 Patten (1833). 8 Fielden (1836) machte auch von diesem Kunstgriff Gebrauch. Es ist unwahrscheinlich, dass in der Frühzeit des Fabrikwesens, als die Lehrlinge aus den Arbeitshäusern den Löwenanteil der Kinderarbeiter stellten, das von Sadler und Fielden gezeichnete Schreckensbild auch nur halbwegs typisch gewesen sein konnte. Selbst Robert Owen räumte ein, dass die Lehrlinge im Kindesalter 1799, als er seine Mühle kaufte, „gut genährt, gekleidet und untergebracht waren und auf den ersten Blick einen gesunden Eindruck machten.“ Peel / O wen (1816). 4

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Teil 2

unter Eid stattfanden. Bedenkt man die religiösen Empfindungen jener Tage, dann wird einem die Bedeutung dessen schlagartig klar. Von den drei Zeugen, die aus Manchester geladen waren,9 konnte man nur einen dazu bewegen, seine Aussagen vor dem nächsten Ausschuss zu wiederholen, aber nicht unter Eid. Seine Aussage erwies sich laut Ausschuss als „vollkommen falsch.“ Derlei Vorwürfe kommen nicht nur aus der Ecke der betroffenen Fabrikbesitzer. Dass Sadlers Bericht unbefriedigend war, wurde freimütig auch von jenen zugestanden, die zu den ersten Gegnern des Fabrikwesens gehörten, sich aber nicht in die Parteipolitik einmischten. Selbst Engels, Marxens Intimus, beschreibt den Bericht so: „Dieser Bericht war entschieden parteiisch, von lauter Feinden des Fabriksystems und zu einem Parteizweck verfasst. Sadler ließ sich durch seine edle Leidenschaft zu den schiefsten und unrichtigsten Behauptungen verleiten, er lockte schon durch die Art seiner Fragen den Zeugen Antworten ab, die zwar Wahres, aber in verkehrter, schiefer Form enthielten.“10 Ein anderer Gegner des Fabrikwesens beschreibt die Situation etwas nüchterner: „Die ganze Angelegenheit hatte damals den Charakter eines parteipolitischen Streitthemas. Die Tories litten zum größten Teil immer noch unter ihrer Niederlage in der Reformfrage und versuchten mit Vorliebe, alles auf die Bühne zu zerren, das der industriellen Mittelklasse in den Augen der Öffentlichkeit geschadet hätte.“11 Kann es verwundern, dass die Fabrikbesitzer über Sadlers Manöver erbost waren und eine weitere Untersuchung forderten? Alles, was uns Hutchins und Harrison dazu sagen, ist, dass die Fabrikeigner, deren Interessen „gut [im Sadler-Komitee] zur Sprache gekommen waren, mit den Ergebnissen unzufrieden waren und augen­blicklich auf einer weiteren Untersuchung bestanden.“12 Dr. Slater meint, der Unmut der Fabrikbesitzer richtete sich gegen die „ungewöhnliche Aktion des Ausschusses, die Betroffenen selbst um Zeugenaussagen zu bitten.“13 Warum diese andauernde Unfairness gegenüber den Fabrikbesitzern? In den Berichten, die von der Folgekommission herausgegeben wurden,14 findet man eindeutige Antworten auf nahezu alle Vorwürfe, die vor dem Sadler-Komitee erhoben wurden, aber nur wenige Autoren erwähnen dies. Meistens tun sie so, als ob die vor dem Komitee vorgetragenen Geschichten bestätigt worden wären.15

9 Überhaupt rief man nur drei Zeugen auf, obwohl die Untersuchung sich zu einer Untersuchung der Webereien insgesamt ausweitete. 10 Engels (1844), S. 391 f. 11 Plener (1973), S. 10. 12 Hutchins / Harrison (1903), S. 35. 13 Slater (1913), S. 122. 14 First and Second Reports of the Commission on the Employment of Children in Factories (1833), und Supplementary Report (1834). 15 Wing (1837), S. xix, argumentierte definitiv, dass diese Berichte das vor dem Sadler-Komitee verhandelte Beweismaterial uneingeschränkt bestätigt hätten. Henry de Beltgens Gibbins (1907) widmet in seinem Buch Industrial History of England drei Seiten den Beweismitteln,

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Über die Unterschiede können wir uns aber ein Urteil bilden, und zwar anhand des Charakters der Beweislage. Robert Greg, ein furchtloser Kritiker des SadlerKomitees konnte nämlich über das Beweismittel des Fabrikausschusses sagen, es sei „ein umfangreiches offizielles und beglaubigtes Beweismaterial, dem sich alle beugen müssen.“ Vor allem der Vorwurf systematischer Gräueltaten an Kindern konnte als völlig grundlos entkräftet werden. Wir glauben auch nicht, dass ein sorgfältiger Forscher bei der Lektüre dieser Berichte Zweifel daran haben könnte, dass absichtliche Kindesmisshandlungen, die es in der Tat gab, von den Fabrikarbeitern selbst begangen worden wären, und zudem gegen den Willen und ohne das Wissen der Meister. Die Meister waren, insgesamt gesehen, wie viele ihrer Gegenspieler zugestanden haben, „Männer von Humanität.“ Ungeachtet der Materialfülle in unseren Händen, fällt es schwer, ein klares Bild von der körperlichen und moralischen Verfassung der Fabrikkinder zu gewinnen. Ein großer Teil, vielleicht der wertvollste Teil unserer Informationen, resultiert aus der gesammelten Evidenz der Mediziner, aber weder die Hammonds noch H ­ utchins und Harrison unternahmen den Versuch, den Wert der Medizinerevidenz zu ermitteln. Dergleichen ist kein leichtes Unterfangen, und wäre es auch dann nicht, wenn wir den Ärzten unterstellten, keinerlei Voreingenommenheit gehabt zu haben. Es gibt jedoch zwei Hauptschwierigkeiten. Erstens, in ihrer Grundeinstellung haben viele, die den Gesundheitszustand einer besonderen Personengruppe einzuschätzen hatten, etlichen der Untersuchten unterstellt, eingebildete Kranke zu sein. Zweitens, die medizinischen Kenntnisse waren so, dass die medizinischen Meinungen (anders als die medizinischen Beobachtungen) wertlos waren. Bei den meisten Beschwerden kam immer noch der „Aderlass“ als bevorzugtes Allheilmittel zum Einsatz.16 Aber immerhin war die Ärzte sorgfältige Beobachter. Daher sind ihre Erfahrungen aufschlussreich, wenn auch ihre weit hergeholten Theorien uns überhaupt nicht weiterhelfen. Man könnte fast denken, dass die Hammonds sowie Hutchins und Harrison vom Gegenteil ausgegangen sind. Beide Autorenpaare haben die medizinischen Sachverständigen, die das Anliegen der Reformer vor dem Peel-Ausschuss 1816 stützten,17 akzeptiert, aber jene, die zwei Jahre später vor dem Lords-Ausschuss18 auftraten und mit ihrer Aussage das Anliegen der Fabrikbesitzer stützten, als parteiisch abgelehnt. Lassen Sie uns nun die Medizineraussagen, die wir in den Berichten der beiden Komitees vorfinden, vergleichen. Die neun Ärzte, die vor das Peel-Komitee zitiert wurden, gaben praktisch nichts außer meist abstrakten Meinungen zum

die dem Komitee vorgetragen wurden, äußert sich aber nicht zur Anschlusskommission. Seine Darstellung des Fabrikwesens scheint vollständig auf einer unkritischen Übernahme der höchst parteiischen Schriften von Whately Cooke Taylor und Samuel Kydd zu gründen. 16 Einige Ärzte spekulierten über die reinigende Wirkung von Rauch, Gas, Ausflüssen und dergleichen; vgl. Gaskell (1833), S. 265. 17 Peel / O wen (1816). 18 Lords’ (1818).

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Besten. Sechs von ihnen gestanden ein, nichts von den „Manufakturen“ zu wissen, außer durch Hörensagen. Einer kannte eine Fabrik aus der Zeit, da er „noch ein sehr junger Mann“ gewesen war. Ein anderer bekannte, ein persönlicher Freund Nathaniel Goulds zu sein. Und wieder ein anderer sagte zwar wohlwollend aus, widersprach aber damit allen anderen. Die Fragen, die man ihnen stellte, hatten etwa folgende Form: „Angenommen, Kinder in einem sehr jungen Alter …?“ Sie antworteten, indem sie ihre Meinung bekundeten, was unter den genannten Bedingungen passieren würde (oder sollte). Kinder, die unter derlei Umständen lebten, hatten sie indes nie gesehen. Betrachten wir nun das Lords-Komitee von 1818. Die Hammonds wollten das Komitee offenbar diskreditieren, und zwar mit der Feststellung, dass es „Ärzte zeigte, die jederzeit geschworen hätten, dass das Fabrikleben für Kinder sehr gesundheitsfördernd war und dass es ihnen wohl kaum geschadet hätte, 23 der 24 Stunden zu arbeiten.“19 Sie kommentieren dies nicht weiter, wahrscheinlich wollten sie es für sich wirken lassen. Hutchins und Harrison meinen: „Einige der Sachverständigenaussagen vor dem Lords-Ausschuss legen nahe, dass mindestens einer oder zwei der Ärzte von den Industriemeistern regelrecht bestochen wurden, wenn man bedenkt, wie sie sich drehten und wendeten, um den gestellten Fragen auszuweichen.“20 Es gibt wenig, was diese Beobachtungen rechtfertigen würde. Die bestellten Ärzte hatten in diesem Fall praktische Erfahrungen in den „Manufakturen“ gesammelt und die dort beschäftigten Kinder beobachtet. Und ihre Aussagen legten generell nahe, dass die Fabrikkinder ungeachtet der Arbeitsstunden, die sie damals dort leisteten, mindestens so gesund waren wie die Kinder, die dort nicht arbeiteten. Die einzigen „Drehungen und Wendungen“, die wir vorfinden, waren lediglich Versuche, im Kreuzverhör mit Inspektor Pell, den man zu diesem Zweck instruiert hatte, keine abstrakten Meinungen zuzulassen, die nicht auf tatsächlichen Beobachtungen gefußt hätten. Ein Arzt (E. Hulme) wurde gefragt: „Sie als ein Mann der Medizin, können sich keine Meinung bilden, die, unabhängig von der Faktenlage, etwas zur Anzahl der Stunden sagt, die ein Kind arbeiten kann oder nicht kann, ohne damit seiner Gesundheit zu schaden?“ Seine Antwort lautete: „Das kann ich nicht.“ Ist dies eine ausweichende Antwort? Vor diesem Komitee finden wir wieder und wieder die Feststellung, dass eine spekulative Meinung oder eine nur auf abstrakten Überlegungen gründende Meinung hinsichtlich der Zahl der Stunden, die ein Kind unbeschadet arbeiten kann, unmöglich ist. Um den zum Scheitern verurteilten Versuch, eine theoretische Grenze durch reine Spekulation herzuleiten, zu veranschaulichen, antwortete Hulme wie folgt: „Wenn es etwas derart Extravagantes gegeben haben sollte und sich dabei herausgestellt haben sollte, dass die Person durch 23 Stunden Stehen keine Verletzungen erlitten hat, dann müsste ich sagen, dass es mit der Gesundheit der Person nicht unvereinbar war, sie so arbeiten zu lassen.“ Ein Vergleich dieser Passage mit 19 20

Hammond / Hammond (1923), S. 11; vgl. auch Hammond / Hammond (1917), S. 167. Hutchins / Harrison (1903), S. 26.

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der Beschreibung des weiter oben genannten Vorfalls durch die Hammonds wirft wohl ein Licht auf die wissenschaftliche Einstellung der Hammonds.21 Wie Hulme darlegte: „Meine Antwort sollte nur zeigen, dass es nicht in meiner Macht steht, eine Limite festzulegen.“22 Den interessantesten Beitrag von Seiten der Gegner des Fabrikwesens hat Dr.  Turner Thackrah unter dem Titel The Effects of the Principle Arts, Trades and Professions on Health and Longevity (1831) vorgelegt. Dieses Buch wurde zu einer Art Bibel für Oastler und Sadler und wurde von einer langen Reihe von Reformern immer wieder zitiert. Aber es war eine Arbeit frei von jeglicher Voreingenommenheit, und ihr Autor ließ sich in keinerlei politische Bewegung hineinziehen. Die Torypresse dürfte nicht so recht gewusst haben, wie sie Thackrah nehmen sollte, weil er die Herausgeber daran erinnerte, dass sie zwar Sadler in seiner Agitation für die „10 Stunden“-Regel unterstützten, die eigene Belegschaft aber viel länger arbeiten ließen, „wie man mir sagte, 15 bis 17 Stunden am Tag.“23 Thackrah hatte sich daran gemacht, die Gesundheit aller damaligen wichtigen Berufsgruppen wissenschaftlich zu untersuchen und zu vergleichen. Nur aufgrund ihrer einseitigen Zitierweise konnten die Reformer seine Arbeit so ausgiebig nutzen. Als warmherziger Mensch war er gewiss gegen Kinderarbeit (egal ob in oder außerhalb der Fabriken), was er damit begründete, dass „die Zeit des physischen Wachstums keine Zeit der physischen Anstrengung sein sollte.“24 Allerdings konnte er für den Gesundheitszustand der Fabrikarbeiter, die das ja alles durchgemacht hatten, nicht nachweisen, dass er schlechter gewesen wäre als der einer anderen Personengruppe, die gutsituierten Kreise eingeschlossen. Mit den Schulen, welche die Kinder der Wohlhabenderen besuchen mussten, ging er nicht weniger hart zu Gericht als mit den Fabriken. Es überrascht, dass die Relevanz seiner Gutachten nicht mehr Anerkennung gefunden hat. Hutchins und Harrison zitieren eine Stelle des Buches, übergehen aber die allgemeinen Schussfolgerungen des Autors völlig.25 Aus denselben Gründen, aus denen Thackrahs Beitrag so wertvoll ist, ist es auch der eines anderen Mediziners, Philip Gaskell,26 ebenfalls ein bekennender Gegner des Fabrikwesens.27 Seine Arbeiten sind sehr bekannt, scheinen aber auf 21

Vielleicht haben sie zu sehr auf die verzerrende Version vertraut, die man bei Cooke ­Taylor (1891) findet.  – Richard Whately Cooke Taylor ist nicht mit seinem Vater William ­Cooke Taylor (1800–1849) zu verwechseln, der ein sehr bekannter und starker Befürworter der Kinderarbeit war, d. Hrsg. 22 Lords (1818), 9, 22. 23 Thackrah (1831), S. 222. 24 Thackrah (1831), S. 45. 25 Sie sprechen von Dr. Turner Thackrah als „Dr. Thackrah Turner“, ein Fehler, der sich auch im Index wiederholt. Wahrscheinlich haben sie ihren Fehler nie bemerkt, weil er auch in der zweiten Auflage ihrer History vorkommt, die acht Jahre später folgte. 26 Vgl. Gaskell (1833). 27 Für eine Argumentation, die der Verteidigung des frühen Fabrikwesens dienen soll, dürfte es wünschenswert erscheinen, wenn man vornehmlich aus dem Beweismaterial der Gegenseite zitiert. Die überzeugendsten Argumente für jene Zeit findet man aber in den Schriften der

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die meisten Diskussionsthemen nur so wenig Einfluss genommen zu haben, dass eine Untersuchung seiner Auffassung hier wünschenswert erscheint. Die Ansicht, die aufkommenden Fabriken hätten eine wirtschaftliche Lageverschlechterung der Arbeiter nach sich gezogen, fand nicht seine Unterstützung. Im Gegenteil, für Gaskell war es ziemlich klar, dass die Entwicklung – sieht man einmal von den Folgen für die Weber der Handstuhlwebereien ab – einen üppigen materiellen Fortschritt auslöste und dass die Löhne die Baumwollfabrikarbeiter „bei angemessener Haushaltsführung und Vorausschau in die Lage versetzten, komfortabel, ja sogar vergleichsweise luxuriös zu leben.“28 Es war der moralische Niedergang des Arbeiters, der Gaskell umtrieb. Er verurteilte Fabriken wegen eines Lasters, von dem er dachte, dass es bei der Herstellung eines Verlustes behilflich wäre: dem Verlust der „Unabhängigkeit“29, den zu erleiden, es die Fabrikarbeiter anleiten würde. Kinder waren gezwungen, ihre Prägejahre inmitten einer höchst unmoralischen und entwürdigenden Umgebung zu erleben, und er zeichnete davon ein wahrlich abstoßendes Bild. Dem Autor dieser Zeilen erscheint eine Tatsache von größter Bedeutung zu sein: Obwohl Gaskell die genannten Meinungen vertrat und die Fabrikarbeit allgemein in ihrer Form als „für Kinder völlig ungeeignet“ hielt, konnte er sich nicht dazu durchringen, die Abschaffung der Kinderarbeit zu befürworten. „Die Beschäftigung von Kindern in Fabriken,“ schrieb er, „sollte so lange nicht als Übel angesehen werden, wie die derzeitigen moralischen und häuslichen Gepflogenheiten der Bevölkerung nicht vollständig neugestaltet sind. Solange eine Erziehung zuhause für sie nicht gefunden ist und sie einem Leben wie die Wilden ausgesetzt sind, sind sie eigentlich mit einem leichten Arbeitsverhältnis besser dran, und Arbeit ist immer leicht, wenn der Gewinn einem zufällt.“30 Das Leben zuhause, das die Kinder vor ihrer Zeit in der Fabrik führen mussten, war es, dass zu den dama­ ligen physischen Degenerationserscheinungen führte – eine Auffassung, die Gaskell nachdrücklich vertrat. „Man muss sich ständig vor Augen halten, dass diese

entsprechend interessierten Parteien, wie Baines, Dr. Ure und Robert Greg. Das Material aus den verschiedenen Kommissionen und Komitees ist von einer derartigen Fülle, dass man aus ihm für jeden einzelnen Streitpunkt eine passende Auswahl juristischer Passagen extrahieren könnte; aber, kritisch gelesen, sind sie sehr erhellend. 28 Gaskell (1833), S. 216. 29 „Verlust der Unabhängigkeit“ ist eine vage, vielverwendete und oft missbrauchte Redewendung. Eines der wichtigsten gesellschaftlichen Ergebnisse des Industriezeitalters scheint die Entwicklung der Idee eines Lohnvertrags gewesen zu sein, die an die Stelle der früheren Idee der Dienerschaft trat. Im zweiten Bericht der Fabrikkommission von 1834 fällt auf, dass die Wörter „Unabhängigkeit“ oder „unabhängig“ immer wieder benutzt worden sind – und zwar von den Arbeitgeberzeugen, die in allen Teilen des Landes lebten (und von den 500 zur Aussage vorgeladen wurden) –, weil sie zur Beschreibung der Haltung der Fabrikarbeiter offenbar am besten geeignet waren. Die Worte fielen standardmäßig, wenn Fragen zu etwaigen Einschüchterungen seitens der Arbeitgeber gestellt wurden. 30 Gaskell (1833), S. 209.

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­Situation nichts mit der Arbeit zu tun hat, da die Kinder diese bis dahin noch nicht gekannt hatten.“31 Können wir wissen, in welchem Maße die abstoßende Amoralität, die Gaskell für seine Zeit als existent voraussetzte, dem neuen Industriezeitalter zuzuschreiben war? Zweifellos hat er das Ausmaß, in dem Laster und Verrohung existierten, übertrieben. Ein paar Jahre zuvor hatte eine Armenrechtskommission ein ziemlich düsteres Bild gezeichnet. Sie hat die Vorwürfe, die Gegner des Systems erhoben hatten, offenbar recht unkritisch übernommen.32 Gegen 1830 erfasste eine wahre Flut an Literatur, die den Verfall der Moral unter den Menschen beklagte, das Land. Es dürfte vielleicht für uns recht erhellend sein, einen Aufsatz von 1831 genauer zu untersuchen. Obwohl er anonym veröffentlicht wurde, scheint er vielen der noch folgenden und gleichgesinnten Autoren ein Quell des Einflusses, vielleicht sogar der Inspiration gewesen zu sein.33 Er trug den Titel An Enquiry into the State of the Manufacturing Population. Er hat nicht nur Gaskell beeinflusst, sondern auch Dr. James Phillips Kay und dessen Abhandlung The Moral and ­Physical Con­dition of the Working Class (1832). Auch in vielen anderen zeitgenössischen Werken wurde daraus zitiert. Wir können also recht zuverlässig schließen, dass folgendes Kompliment an die Adresse einer ausländischen Macht eine Ansicht zum Ausdruck bringt, die in der Bildungsbürgerschicht jener Tage gang und gäbe gewesen sein dürfte. „Spanien, das ignoranteste, schwächste und am wenigsten auf Kommerz ausgerichtete aller Länder, die sich zivilisiert nennen, wird im Hinblick auf Eigentumsdelikte von Frankreich dreimal und von England siebenmal in puncto Grausamkeit übertroffen. Dieser Umstand macht besorgt und spricht Bände. Die Spanier kennen Kannibalismus als Delikt, aber Überfalle sind dort selten und Bagatelldiebstähle noch seltener.“

Dafür wurden die Fabriken verantwortlich gemacht. Das Gewicht, das man solchen Auffassungen beimessen sollte, lässt sich anhand eines weiteren Zitats aus dem genannten Aufsatz ersehen, in dem das Teetrinken als Zeichen der Zucht­ losigkeit verurteilt wird. „Wir sollten unter allen Umständen den allzu freizügigen Genuss schwachen Tees missbil­ ligen, weil er den Magen sehr schwächt. Derlei Praktik ist für die Konstitution hart arbei-

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Gaskell (1833), S. 198. Interessanterweise hat Gaskell die allgemeine Auffassung, die intellektuellen Fähigkeiten würden durch das Fabrikleben verkümmern, nicht geteilt. Er glaubte an den umgekehrten Effekt. Er bestritt auch den oft erhobenen Vorwurf, Temperatur und atmosphärisches Umfeld, in dem die Kinder arbeiteten, hätten deren Gesundheit geschadet. 32 Das Kommissionsmitglied Tufnell berichtete im Supplementary Report D.2, 1834, dass „alle Einlassungen in ihrer Gesamtheit zum Schluss führen, dass die gegen die Wollfabriken vorgebrachten Vorwürfe der Amoralität verleumderisch sind.“ 33 Sein Autor war William Rathbone Greg, der, obgleich ein sehr produktiver Schriftsteller, nie diese frühe Leistung für sich beansprucht hat. Im Britischen Museum ist der Aufsatz unter „Enquiry“ indexiert. Greg hatte seine Meinung schon bald revidiert. Vgl. seinen Aufsatz in der Edinburgh Review 1849, S. 497.

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tender Männer fatal. … sie verschafft vorübergehende Linderung zulasten einer anschließenden Reaktion, die wiederum einen weiteren und stärkeren Stimulus hervorruft.“

Dergleichen führe dazu, dass man dem Tee einen Schuss Gin beimische, eine Praktik, die „unter der arbeitenden Bevölkerung ein unfassbar großes Ausmaß“ angenommen habe. Wir wollen hier niemanden vorführen, indem wir ganz bedacht eine Aussage von einem Spinner auswählen. Die oben genannte Meinung war damals Gemeingut. Dr. James Philipps Kay (der als Sir James Kay-Shuttleworth Berühmtheit erlangte) sagte ein Jahr später exakt dasselbe, mit nahezu denselben Worten.34 Besagte Meinung fungiert als eine Art der Argumentation, die wir immer wieder antreffen und die zu zeigen versucht, dass der moralische Verfall auf die Fabriken zurückgeht, wobei Beispiele verwendet werden, die eigentlich genauso gut ökonomischen und sozialen Fortschritt illustrieren könnten. Thackrah lamentierte, dass man Kinder nicht länger mit „einfachem Essen“ zufriedenzustellen konnte und man ihnen „Leckereien“ geben musste.35 Reverend George Stringer Bull beklagte die Tendenz der Mädchen, Kleider „konfektioniert“ in den Läden zu kaufen, statt sie selbst zu nähen, da diese Praktik sie ungeeignet mache, „die Mütter von Kindern“36 zu werden. Gaskell erblickte Dekadenz im Tabak. „Täglich sieht man Hunderte Männer, die den Rauch dieser außergewöhnlichen Pflanze inhalieren.“37 Er sah auch in den aufkommenden Arbeiterverbindungen einen moralischen Nieder­gang. Die Männer begegneten ihren „Vorgesetzten“ nicht mehr „respektvoll und aufmerksam.“38 Dem Vorwurf, die Amoralität der Fabrikarbeiter zu fördern, begegneten die Fabrikeigner in der Regel mit dem Hinweis, dass – sollte der Vorwurf einen Funken Wahrheit in sich tragen – der Grund in der Religionslosigkeit zu suchen sei. Diese Denkweise war auch in den übrigen Lagern anzutreffen. Gaskell lamentierte den so oft fehlenden Glauben an „eine Zukunft der Belohnungen und Bestrafungen. … Beraubt um den edelsten Kern des menschlichen Geistes, wie kann man da anders, als den Glauben für eine reine Verschwendung zu halten.“39 Von den besonderen Gründen der vermeintlichen Dekadenz entbehren zwei nicht einer gewissen Plausibilität. Der erste der beiden ist das hohe Einkommen der Fabrikarbeiter, das zur Unmäßigkeit verleitet habe. Sowohl Thackrah als auch Gaskell verstehen dies als axiomatisch. „Die Handtaschenmacher beziehen hohe Löhne und müssen sich nicht an die Stunden halten. Daher sind sie oft zügellos.“40 „Die hohen Löhne, die man sich in manchen Branchen gönnt, verführen zu Trun 34

Kay (1832). Thackrahs Aussage vor dem Sadler-Komitee, Sadler (1831 f.), S. 514. 36 Sadler (1831 f.), S. 423. 37 Gaskell (1833), S. 110. 38 Gaskell (1836), S. 22. 39 Gaskell (1833), S. 282 f. 40 Thackrah (1831), S. 24. 35

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kenheit und Leichtsinn.“41 „Außerdem verleiten höhere Löhne den Menschen sehr oft, wenn nicht gar generell, zu Maßlosigkeit.“42 Gemäß dem zweiten der vorgeschlagenen Gründe, der ein Körnchen Wahrheit zu enthalten scheint, hängt der moralische Niedergang mit der Zuwanderungswelle der Iren zusammen, die gekommen waren, um die Arbeitsplätze eben jener Kinder zu übernehmen, denen wegen der Fabrikgesetze gekündigt worden war. Die Kinderlöhne, selten mehr als vier bis fünf Shilling pro Woche, waren nichtsdestotrotz für ein so armes Volk wie das der Iren eine große Versuchung. Engels glaubte, dass die anhaltende Expansion der englischen Industrie nie eingetreten wäre, wenn man diese stille Reserve nicht zur Verfügung gehabt hätte.43 Die Iren wurden als „ein unzivilisiertes Volk“ beschrieben, und es mag sein, dass sich ihre minderwertigen gesellschaftlichen Traditionen auf den Rest der Bevölkerung ausgewirkt haben. Da sie Kinder ersetzt haben, dürften ihre Auswirkungen auf die Löhne nicht sehr groß gewesen sein. Die Familieneinkommen haben sicher gelitten, vor allem dann, wenn die entlassenen Kinder in den Minen und auf dem Land keine Ersatzarbeit fanden. Dobbs These, dass der Zustrom der Iren die Löhne „auf ein brutal niedriges Niveau“44 gedrückt hätte, ist sicherlich kein Kind der Statistiken, die ihm zur Verfügung standen.45 Zu den bedrückendsten Urteilen über das frühe Fabrikwesen gehört der Vorwurf, es habe bei Kindern zu Fehlbildungen und Wachstumsstörungen geführt. Man sagt, Oastler habe jahrelang die vorherrschenden Fehlbildungen und Lähmungen unter den Fabrikarbeitern festgehalten, ohne deren Ursachen zu kennen. „Zu seinem Schrecken“ informierte ihn eines Tages ein Freund darüber, dass diese Fehlbildungen auf das Leben in der Fabrik zurückzuführen seien. „Von alledem, was er gehört hatte, war er sehr mitgenommen.“ Am nächsten Morgen setzte er sich hin, um seinen hochgelobten Brief über die „Sklaverei in Yorkshire“46 für den Leeds Mercury zu schreiben. Wie wir herausgefunden haben, waren Fehlbildungen damals aber generell und vielerorts anzutreffen47 und schienen unabhängig von den ergriffenen Berufen aufzutreten. Man findet sehr viel Zustimmung zu dieser Auffassung, wenn man die Aussagen der gehörten Zeugen sichtet, die in jenen Berichten auftauchen, die von der Fabrikkommission 1833 und 1834 herausgegeben wurden.48 41

Thackrah (1831), S. 111. Thackrah vor dem Sadler-Komitee. 43 Vgl. Engels (1844), S. 320. 44 Dobb (1925), S. 331. 45 Vgl. die von Bowley (1900), S. 119, erwähnte und eingeklebte Tabelle. 46 „Yorkshire Slavery“, zitiert nach Kydd (1857), Band 1, S. 96–98. 47 Vgl. Combe (1834). Combe sah im Wickeln und Bandagieren die Hauptursache der vorhandenen Fehlbildungen; vgl. S. 159. 48 Ein Kommissionsmitglied namens Cowell wollte den Vorwurf, die Kinder würden in den Fabriken verkümmern, überprüfen und machte sich die Mühe, Alter, Größe und Gewicht der Kinder zu erfassen. Ihre Durchschnittsgröße war, wie sich herausstellte, identisch. Nur ihr Durchschnittsgewicht war etwas niedriger als das der Vergleichsgruppe. Cowell schrieb diesen Umstand der vergleichsweisen Leichtigkeit ihrer Arbeit zu. 42

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Dass der gegenteiligen Auffassung mehr Glauben geschenkt wurde, scheint einzig an der energischen Propaganda von Ashley, Oastler, Sadler und deren Jüngern gelegen zu haben. Sollte es einen leicht erhöhten Anteil an fehlgebildeten und schwächlichen Kindern unter den Fabrikkindern gegeben haben, dann mag dies womöglich auf etwas zurückzuführen sein, das man aus vielen Aussagen kennt, nämlich, dass Kinder, die für andere Tätigkeiten zu schwach waren, in die Baumwollfabriken geschickt wurden, weil die Arbeit dort leichter war.49 William Cooke Taylor erzählt von einem Krüppel, der von Geburt an Fehlbildungen hatte und „in der Empfangshalle eines wohltätigen Edelmannes als eine Art Schauobjekt ausgestellt wurde.“ Das Spektakel wurde Abend für Abend veranstaltet, um in der modebewussten Londoner Gesellschaft den Glauben zu entfachen, dass dieser Unglücksrabe ein Musterbeispiel für die unheilvollen Folgen sei, die von der Arbeit in der Fabrik stammen.50 Die Person wurde sogar dafür bezahlt, zu diesem Zweck auf Tournee zu gehen. Später hat sie ihre Dienste sogar Fabrikbesitzern angetragen, um die Methoden jener Partei, die sie ursprünglich engagiert hatte, zur Schau zu stellen, doch das Angebot wurde „bedauerlicherweise ausgeschlagen.“51 Die Propagandisten hatten jedenfalls ein ausgezeichnetes soziales Medium, mit dem sie ihre Arbeit fortsetzen konnten. Nie zuvor gab es ein Zeitalter, das Gebrechen so viel Mitgefühl entgegenbrachte. Es war die Ära von Frau Hemans.52 Kann es da verwundern, dass viele ihrer Verehrer in den Fabriken nach Inspiration für ihre Tränen suchten? Frances Trollope und Elizabeth Barrett Browning fanden in ihnen ein brauchbares Thema, und selbst Sadler ließ sich dazu verleiten, im bewährten Stil „The Factory Child’s Last Day“ zu verfassen. Es war ein Leichtes, die Tories zu beeindrucken, da sie größtenteils von den Bedingungen in den Fabriken keine Ahnung hatten,53 aber ausreichend Voreingenommenheit besaßen, um die Fabrikbesitzer zu verurteilen. „Das alte Gefühl der Verachtung gegenüber dem Bürger,“ so Ure, „das der Landadel zu haben pflegte … wird von deren Lobrednern weiterhin genährt und loderte im letzten Parlamentsfeldzug gegen die Fabriken unverkennbar wieder auf.“54 Die Kinder hielt man für Sklaven und der Vorteil ihrer beträchtlichen Löhne, die sie zum Familieneinkom 49

Vgl. die Zeugenaussagen in Lords’ (1818), Band 9. Cooke Taylor (1844), S. 71 f. 51 Robert Blincoe, dessen Memoiren, Brown (1832), einen so starken Einfluss hinterlassen haben, dürfte seinen Namen für diese mehr oder weniger wahre Geschichte hergegeben haben. Aber ungeachtet seiner mutmaßlichen Leiden lebte er bis ins hohe Alter und war 1857 (damals 65 Jahre alt, d. Hrsg.), laut Samuel Kydd, ein „vergleichsweise wohlhabender Mann.“ 52 Gemeint ist wohl die Dichterin Felicia Hemans (1793–1835), deren Gedichte u. a. wegen ihrer Sentimentalität bekannt sind, d. Hrsg. 53 Selbst Lord Shaftesbury „lehnte ein Angebot, sich die Hauptanlagen der Spinnerei zeigen zu lassen, als überflüssig und unnötig ab.“ Cooke Taylor (1844), S. 11. Sir Robert Peel, selbst Eigentümer einer Fabrik, war laut Andrew Ure (1861), S. 6, wenig mit der Natur und den Bedingungen des Wollhandels vertraut. 54 Ure (1861), S. 227. 50

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men beisteuerten, wurde nicht mitgezählt. Es gab auch keinen Versuch, sie mit den Armen aus anderen Teilen der Gesellschaft zu vergleichen. Diese Haltung trieb William Cooke Taylor zu tiefster Ironie, als er von Menschen schrieb, die eine Mühle betreten hatten, oder betreten zu haben glaubten, und kleine Fabrikhände erblickten, die in monotoner Routine eingebunden waren, was sie denken ließ, „um wie vieles entzückender wäre es, ihre Beine frei auf dem Hügel herumhüpfen zu sehen; dazu die grüne Aue in ihrem schmucken Kleid aus Ranunkeln und Gänseblümchen, das Gezwitscher der Vögel und das Summen der Bienen … wir aber haben Kinder gesehen, die in armseligen Dreckshütten oder im nassen Straßengraben vor Hunger umkamen.“55 Verglichen mit den Fabrikarbeitern, lebten die Landarbeiter in erbärmlicher Armut, und die Arbeit, welche die Kinder auf dem Land verrichten mussten, war weitaus strapaziöser als die Fabrikarbeit.56 Dergleichen wurde allerdings „nur selten von Spaziergängern beobachtet, und wenn, dann nur bei schönem Wetter.“57 Lord Shaftesbury wurde einmal von Thorold Rogers gefragt, warum er nicht einen gesetzlichen Schutz für die Kinder auf den Feldern erwogen habe, zumal er ja wusste, dass deren Arbeit „genauso physisch schädlich war“ wie die Arbeit Nichterwachsener in den Fabriken. Shaftesbury entgegnete, dies sei eine Frage der praktischen Politik gewesen und dass er von keiner Partei Unterstützung erfahren hätte, wenn er es darauf angelegt hätte, alle zu emanzipieren.58 Wenn die Mühlenbetreiber etwas waren, dann indifferent gegenüber der Anti­ fabrikpropaganda. William Cooke Taylor meint, sie seien davon überzeugt gewesen, dass die Verleumdungen, die zirkulierten, nie geglaubt würden, aber ihr Schweigen im Vertrauen auf den gesunden Menschenverstand ihrer Landsleute sei als Schuldeingeständnis gewertet worden.59 Einige der Übertreibungen waren nur schwer totzukriegen.60 Ein Beispiel ist die von den Hammonds zweimal zitierte Aussage Fieldens, er selbst habe durch Experimente herausgefunden, dass ein Fabrikkind während seiner täglichen Arbeit in der Mühle 20 Meilen laufe.61 Fielden hat sein Experiment nie erklärt. Er meinte, 55

Cooke Taylor (1844), S. 23 f. Unkraut jäten, Steine raffen, Kartoffeln pflanzen usw. 57 Cooke Taylor (1844), S. 26. 58 Rogers (1888), S. 355. 59 Cooke Taylor (1844), S. 11. 60 Das zunehmende persönliche Interesse der Klasse staatlich bediensteter Fabrikinspektoren half offenbar, die angeblichen Schrecken der nicht-regulierten Industrie im Scheinwerferlicht zu behalten. Ein Vergleich der Schriften von Whately Cooke Taylor (einem Fabrikinspektor) mit denen seines Vaters William Cooke Taylor, legt dergleichen sehr nahe. Vgl. dazu Herbert Spencers (2019), S. 83, prophetischen Bemerkungen zum „akute[n] Wunsch nach Karriere,“ der in den Familien der Ober- und Mittelschicht anzutreffen war und der Gesetzeskontrolle zusätzliche Schubkraft verlieh. 61 Hammond / Hammond (1917), S. 158 und Hammond / Hammond (1923), S. 44. Gegenstand dieser Anklage konnten aber nur Kinder gewesen sein, die für bestimmte Arbeitsprozesse angestellt waren – für das sogenannte „Zusammensetzen“. Die Hammonds machen sich nicht die Mühe, dies klarzustellen. 56

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er würde ungern „ins Detail gehen“, weil er sonst bei seinen Kalkulationen „Begriffe verwenden müsste, die der gewöhnliche Leser nicht verstünde.“62 Vielleicht hielt er seine Einschätzung für zu bescheiden, zumal Condy zu zeigen versucht hat, dass sie insgesamt 30 Meilen am Tag! gingen. Robert Greg hat dann tatsächlich detaillierte Berechnungen angestellt und klar dargelegt: Im Durchschnitt hatte ein „Zusammensetzer“ am Tag 8 Meilen zurückzulegen, nicht mehr.63 Versuchen wir einmal, eine ausgewogene und distanzierte Haltung zu den Bedingungen jener Tage einzunehmen und dabei gleichzeitig nur Urteile zu fällen, die unseren jetzigen Standards genügen. Unter allen Tatsachen sticht eine hervor, die von den meisten Autoren nicht gewürdigt wird: Hätte die arbeitende Bevölkerung „zwischen verschiedenen Vorteilen wählen können,“ dann hätte sie sich für die Lösungen entschlossen, welche die Reformer verurteilten. Nicht nur, dass die höheren Löhne sie veranlasst haben, die Fabrikarbeit anderen Beschäftigungen vorzuziehen. Es war auch so, wie manche Reformer zugestanden haben, dass eine Fabrik, die ihre Arbeitszeiten reduzierte, Gefahr lief, ihre Beschäftigten zu verlieren, weil diese dann lieber ihre Dienste der Konkurrenz anboten, bei der sie mehr verdienen konnten. Die Unterstützung der Arbeiterklasse für die Fabrikgesetze konnte man erhalten, indem man die Arbeiter überzeugte, dass sie am Ende das gleiche oder gar mehr Geld für weniger Arbeit bekämen. Man glaubte, dass man aus technischen Gründen die Kinderarbeitszeiten nicht begrenzen könnte, ohne gleichzeitig den Erwachsenen eine Arbeitszeitverkürzung einzuräumen. Die „10 Stunden-Bewegung“ war – was auch Hutchins und Harrison nicht abstreiten – nur in den öffentlichen Verlautbarungen mit dem Wohl der Kinder verknüpft. Später brachte man die Fabrikarbeiter dazu, in den Kindern Konkurrenten zu sehen, was womöglich als Anreiz zur Unterstützung der Fabrikgesetze noch besser funktionierte, vor allem, als die Idee aufkam, Kinder im Schichtdienst einzusetzen. Die Plattitüde, dass Kinder nun mal nicht frei waren, für sich zu entscheiden, können wir hier außeracht lassen. Es gab zwei Argumentationslinien. Auf der einen Seite sagte man: „Gegen niemanden muss man die Kinder mehr schützen als gegen die eigenen Eltern.“ Und auf der anderen Seite hieß es: „Die Eltern sind der einzige natürliche und wirksame Schutzengel des Kindes.“ Wir wollen nicht der Versuchung erliegen, die Implikationen dieser Ideen zu bewerten, aber die zweite Position ist bezeichnend. Die Empfindungen des Menschen, aus denen die elterliche Zuneigung entspringt, waren damals dieselben wie heute. Mithin müssen wir in dem veränderten sozialen und wirtschaftlichen Umfeld, das wir heute haben und in denen die menschlichen Empfindungen ihre Gestalt annehmen, nach dem Grund der offenkundigen Gefühllosigkeit und Grausamkeit suchen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass reiche Philanthropen mehr als andere Eltern um das Wohl der eigenen Kinder besorgt waren. Vielleicht waren Schutzmaßnah 62 63

Fielden (1836). Greg (1837).

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men gegen die Auswirkungen von Trunkenheit vonnöten, aber generell gründete das Eintreten der oberen Klassen für gesetzliche Beschränkungen der Kinderarbeit auf einem vollständigen Mangel an Verständnis für die Schwierigkeiten, mit denen die arbeitenden Massen zu kämpfen hatten. Solange die Entwicklung des Industriewesens noch nicht zu einem allgemeinen Anstieg materieller Prosperität geführt hatte, konnten solche Begrenzungen das Elend nur mehren. Der Autor dieser Zeilen weiß um keinen ernsthaften Versuch, die Leiden jener Kinder abzuschätzen, die durch die diversen Fabrikgesetze um ihre Arbeitsplätze gebracht wurden. Einige der ersten Fabrikinspektoren, die 1883 ihren Dienst antraten, haben deren Lage beschrieben, aber das Übel geriet schnell in Vergessenheit, als der allgemeine Fortschritt sich einstellte.64 Im Zuge steigender Reallöhne wäre die Zahl der Arbeitsstunden ohnehin gesunken und die Kinderarbeit verschwunden, mit oder ohne Gesetzgebung.65 Beide sind eine Funktion der Nachfrage nach Freizeit, und Freizeit wird erst dann nachgefragt, wenn vorrangigere Bedürfnisse des Menschen hinreichend befriedigt sind. Außerdem, welchen Nutzen hat die Freizeit für den Menschen, wenn er nichts in ihr tun kann oder die Güter, die er in ihr nutzen kann, zu teuer oder in ungenügender Anzahl vorhanden sind? Wenn er sie zur Verfügung hat, dann kann er eine „Wahl unter den Vorteilen“ treffen, eine Wahl zwischen Freizeit und sonstigen Gütern. Gesetzliche Verordnungen setzen nur eine Entscheidung einer Autorität in Kraft, die meint, es besser zu wissen. Vielleicht lag die Autorität im Fall der Fabrikgesetzgebung indirekt richtig. Indem man dem Fabrikarbeiter „künstlich“ mehr Freizeit verschaffte, mag man ihm eine Wertschätzung für dieselbe vermittelt haben, damit er sie dem Einkommensplus vorziehen konnte, das er sonst in der „Kneipe“ oder beim „Frühschoppen“ ausgegeben hätte. Aber solange die industrielle Revolution noch nicht so weit entwickelt war und noch keine wünschenswerteren Produkte, die mit den alten Einrichtungen hätten rivalisieren können, hervorgebracht hatte, wäre es auch möglich gewesen, dass die kürzeren Arbeitszeiten einen umgekehrten Effekt ausgelöst hätten; den Arbeiter dazu gebracht hätten, sein Einkommen noch mehr auszugeben als zuvor. Genauso war das moralische Wohlergehen der Kinder wohl besser in der Fabrik als zu Hause aufgehoben, jedenfalls so lange, bis die gesellschaftlichen und moralischen Veränderungen, die das neue industrielle System ermöglichen sollte, herangereift waren. 64

Gaskell räumte ein, das Fabrikregulierungsgesetz habe kurz nach in Kraft treten dazu geführt, dass Kinder in großer Zahl ziellos auf der Straße standen. Das Gesetz hatte „die Übel, die es beseitigen sollte, nur vergrößert, und muss unbedingt aufgehoben werden.“ Gaskell (1836), S. 67. 65 Die Ausmerzung der Kinderarbeit war teilweise die Folge technologischen Wandels. Die Entwicklung der Dampfkraft führte zum Einsatz größerer Maschinen, für deren Bedienung Kinder sich wenig eigneten. Kurioserweise befanden sich unter den Bannern, die während der Märsche der „10 Stunden-Bewegung“ hochgehalten wurden, nicht nur solche, auf denen „Kein Mord an Kindern“ steht, sondern auch solche, auf denen „Bezwingt das Dampfmonster“ prangte; vgl. Kydd (1857), S. 61.

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Teil 2

Angesichts des stetigen Fortschritts, der zweifellos schon vor 1833 eingesetzt hatte – teilweise infolge des Fabrikwesens selbst –, dürften die offenbaren Vorteile, die das frühe Fabrikgesetz ersonnen hatte, weitgehend Illusionen gewesen sein. Alle Fachleute, so scheint es, gehen davon aus, dass die Lage bei der Heimarbeit sowie in den kleinen Fabriken und Werkstätten am schlimmsten war, wobei diese wegen der Konkurrenz der größeren und moderneren Einrichtungen langsam vom Markt verschwanden. Das Gesetz von 1833 bewirkte eigentlich eine gegenläufige Tendenz, weil die Arbeit sich nun in die Werkstätten und kleineren Fabriken verlagerte, wo die Bestimmungen leichter zu umgehen waren. Was der Verbesserung der Lage hauptsächlich im Wege stand, war wohl die Gleichgültigkeit – die Gleichgültigkeit der Ignoranz –, und nicht die Habgier der Fabrikeigner. Meistern und Arbeitern, vor allem den Arbeitern, war einfach nicht beizubringen, dass bestimmte Praktiken gefährlich bzw. gesundheitsabträglich waren. Die Fabrikarbeiter lernten nur sehr langsam hinzu. Anstrengungen zur Verbesserung des Fabriklebens mussten gegen den Widerstand eben jener Arbeiter durchgesetzt werden, für die sie gedacht waren. Einem Mühlenbesitzer wurde mit Streik gedroht, weil er eine Ventilationsmaschine installieren wollte. Die Spinner meinten, dieselbe würde nur ihren Appetit anregen. Der Eintausch von Zinkfarbe gegen Bleiweiß zur Vorbeugung gegen die „Malerkolik“ wurde von Malern abgelehnt. Die Müller in Sheffield wehrten sich über viele Jahre hinweg gegen die Einführung eines magnetischen Mundschutzes. Erst in den 1860er und 1870er Jahren schwand die Ignoranz der Fabrikarbeiter so langsam dahin und wurden die „gefährlichen Branchen“ als solche Themen staatlicher Regulierung. Die Auswirkungen der Fabrikgesetze auf die Produktion sind ein Thema, das in der neueren Literatur nicht wirklich aufgegriffen wird. Es gab offensichtlich Einbußen an Produktionsstärke.66 Sicherlich kann man zeigen, dass dieses Opfer aus sozialen Gründen etwas Gutes hatte, aber die ökonomischen Verluste sind nicht zu übersehen. Im Falle der Kinderarbeit reichten die Auswirkungen tiefer als bis zum reinen Verlust des Arbeitsplatzes. Die Kinder verloren ihre Ausbildung und mithin ihre Fertigkeiten, die sie als Erwachsene gehabt hätten. Ein Kind kann Geschicklichkeit viel leichter erlernen als ein Erwachsener, und das in der Kindheit Erlernte geht nicht so leicht verloren. Einige Kritiker scheinen zu glauben, es reiche, Seniors Theorie der „letzten Stunde“ zu entkräften, um zu beweisen, dass Arbeitszeitverkürzungen den Produktionsausstoß nicht verringern. In diesem Zusammenhang gibt es vage Theorien über „die Ökonomie kürzerer Arbeitszeit“. Man konnte die Stunden nicht kürzen, ohne Opfer zu bringen. Und man mag sagen, dass sie von den Arbeitern, 66 „Offensichtlich“ mag eine Übertreibung sein, bedenkt man die vielen vagen Argumente, die für den umgekehrten Effekt ins Feld geführt werden. Von jenen Autoren, die das Pferd hinter den Karren spannten, war George Gunton wohl der zuversichtlichste. Er meinte, „der Lebensstandard und damit auch das ganze Familieneinkommen ist dort am geringsten, wo die Frau und die Kinder den größten Beitrag zu demselben beisteuern.“ Gunton (1888), S. 171.

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die im Gegenzug mit niedrigeren Löhnen einverstanden waren, und von der Gemeinschaft, die sich mit geringerer Produktivität begnügte, erkauft wurden. Die Tatsache, dass diese Folgen nicht leicht zu erkennen sind, ergibt sich vollständig aus dem allgemeinen Wohlstandswachstum, das während des ganzen Jahrhunderts anhielt und jene Freizeit sowie die Nachfrage nach derselben verursacht hat, in deren Beisitz die Arbeiterklasse nun gelangt war. Hutchins und Harrison vertreten gemeinsam die Meinung, dass die Arbeitszeitverkürzungen die Hauptursache der dann folgenden größeren Produktivität gewesen seien. Sie erkennen offenbar nicht den Widerspruch zu ihrem Argument, dass die Fabrikbesitzer deshalb von Arbeitszeitverkürzungen auf eigene Rechnung abgehalten wurden, weil der Konkurrenzdruck jenen einen unfairen Vorteil verschaffte, die diese Verkürzungen nicht mitmachten. Inwieweit in der Theorie der Arbeitszeitverkürzungen überhaupt ein Körnchen Wahrheit steckt, hängt ganz und gar vom jeweils betroffenen Prozess ab. In einigen Fällen wird der Güterausstoß proportional sinken, in anderen weniger proportional, einhergehend mit kürzeren Arbeitstagen. Unsere Erörterungen legen zwei Schlussfolgerungen nahe. Erstens, es hat eine allgemeine Tendenz gegeben, die „Übel“, die das Fabrikwesen vor Aufgabe des Laissez Faire begleitet haben, zu übertreiben. Zweitens, die Fabrikgesetzgebung war für das schlussendliche Verschwinden dieser „Übel“ nicht entscheidend. Bedingungen, die nach modernen Standards zu verurteilen sind, waren damals überall in den Kommunen anzutreffen. Die Gesetzgebung brachte nicht nur neue Nachteile mit sich, die angesichts der komplexen Veränderungen jener Zeit nicht offenkundig waren, sondern erschwerte und behinderte Formen der Erleichterungen, die natürlicher und wünschenswerter gewesen wären.

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Index Abolitionismus 56 Abolitionisten  58, 60, 64 Acton, Lord  22, 66 Agrarkapitalismus 56 Ale  39, 96 Ansichten  21, 22, 23, 33, 38, 66, 73, 74 Antikapitalismus  62, 65 antikapitalistisch  52, 58, 61, 62, 63, 64, 65, 73 Arbeiter  9, 15, 24, 25, 28, 35, 37, 38, 39, 40, 42, 43, 44, 49, 59, 71, 72, 75, 80, 85, 87, 89, 90, 92, 93, 94, 96, 97, 103, 110, 116, 117, 118 Arbeiterklasse(n)  25, 26, 27, 33, 62, 73, 85, 116, 119 Arbeitsbedingungen  11, 36, 38, 48, 73, 90, 104 Arbeitslosigkeit  8, 35, 89, 94 Arbeitszeit  37, 72, 94, 105, 116, 117, 118 Arbeitszeitverkürzungen 118 Arkwright, R. 49 Armen  27, 29, 32, 42, 44, 75, 76, 77, 85, 87, 89, 96, 98, 101, 102, 115 Ashton, T. S.  5, 7, 9, 10, 11, 14, 15, 35, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 85, 120 Ashworth, H. 30 Ausbeutung  36, 48, 51, 54, 58, 60, 67, 78 Barrett Browning, E. 114 Bauholz  43, 88, 89 Baukosten  41, 42, 54 Baumaterial 42 Baumwolle  37, 38, 92, 95 Beard, Ch. A.  52, 59, 60, 61, 62, 120 Beauvallon  7, 8, 17 Berdjajew, N. 76 Bernstein, E. 61 Bettler  72, 77 Bevölkerungswachstum  28, 32, 85, 86, 88 Bezanson, A.  46, 120 Bier  38, 87, 96, 98

Blincoe, R.  114, 120 Blue Books  10, 36, 37 Boissonnade, P.  53, 120 Bouillon, H.  5, 17 Bowley, A.  10, 39, 94, 113, 120 Brot  95, 98, 100 Bruchbudenbauer (jerry-builder)  11, 40, 42, 45 Bürgerkrieg, amerikanischer  56, 57, 60, 64, 65 Burke, E.  66 Butter  96, 100, 101 Butterfield, H.  22, 120 Cannan, E.  8, 45 Carnegie, A.  67 Carr, E. H.  52, 120 Chadwick, E.  42, 86, 103, 120 Chalmers, G.  46, 86 Chaloner, W. H. 41 Clapham, J.  25, 40, 120 Clark, C.  97 Clough, Sh. B.  47 Cobbett, W.  38, 87 Coleridge, S. T.  66 Collier, F.  99 Colquhoun, P.  46, 86 Condorcet, M. J. 61 Cooke Taylor, M.  29, 30 Cooke Taylor, R.  109 Cooke Taylor, R. W.  107, 115, 120 Cooke Taylor, W.  109, 114, 115 Coolidge, C.  51 Cubbitt, Th.  42, 45 D’Aguesseau. H. 77 D’Holbach, P.  78 Dampfmaschine  36, 37 Darwin, Ch. 54 Defoe, D. 53 Dekadenz 112

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Index

Descartes, R.  79 deterministisch  55, 56 Deutsche Historische Schule  31, 46 Dialektik  54, 55, 61 dialektisch  56, 59 Dorrance, G.  93, 94, 121 Dryden, J.  87 Effizienz  5, 27, 69, 79 Eiden, F.  86 Einrichtung, soziale  70 Einzelhandelspreise  95, 96, 99, 101 Elend  27, 29, 32, 38, 47, 72, 86, 87, 94, 103, 104, 117 Elendsviertel  54, 61 Engels, F.  30, 37, 38, 39, 40, 46, 54, 66, 78, 106, 113, 121 Export  90, 91, 92, 93 Exportgüter  90, 92 Exportpreisindex  91, 92 Fabianisten  54, 58, 61 Fabrikarbeiter  30, 36, 72, 109, 110, 112, 116, 117, 118 Fabrikbesitzer  49, 86, 106, 107, 112, 114, 118, 119 Fabriken  29, 36, 49, 79, 85, 89, 93, 94, 105, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 118 Fabrikgesetze  113, 116, 117, 118 Fabrikgesetzgebung  11, 48, 104, 117, 119 Fabrikkinder  107, 108, 114 Fabrikwesen  9, 24, 28, 49, 54, 72, 85, 86, 99, 103, 104, 105, 106, 107, 109, 113, 118, 119 Fakten  9, 21, 22, 23, 24, 25, 30, 31, 32, 34, 48, 50, 72 Feudalismus  55, 56 Fielden, J.  105, 115, 116, 121 Finanzkapitalismus 55 Fisher Unwin, G.  51 Fiskalpolitik  54, 58 Fleisch  95, 96, 98, 101, 102, 103 Föderalisten  63, 65 Foner, Ph.  62, 121 Forschung, historische  22 Frauenrechte 59 Frick, H. C.  67 Frühkapitalismus 24

Fürsten  70, 76 Gaskell, Ph.  37, 87, 88, 107, 109, 110, 111, 112, 117, 121 George, D.  40, 121 Geschichte, politische  23 Geschichtsschreibung  26, 48, 59, 61, 62 Getreideimportzölle  32, 47 Gibbins, H.  106, 121 Gilboy, E.  96, 121 Gladstone, W.  57 Gould, N.  108 Greg, R.  105, 107, 110, 116, 121 Greg, W.  111 Grenzkostenrechnung 47 Großhandelspreise  14, 43, 95, 98 Großhandelspreisindex 95 Großverdiener (l’homme d’argent)  13, 78 Grote, G.  22 Grundnahrungsmittel  96, 99, 100, 101 Gunton, G.  118, 121 Güterausstoß  88, 119 Habermann, G.  5 Hacker, L. M.  5, 7, 9, 10, 11, 12, 51, 52, 53, 56, 121 Hafer, Haferbrei, Haferflocken  95, 96, 98, 100, 101, 102 Halévy, E.  25 Hallam, H.  22 Hamilton, Earl  89 Hamiltonianer 63 Hamiltonianismus  62, 64 Hamiltonismus 63 Hammelfleisch  96, 100 Hammond, B. und J. L.  26, 52, 104, 105, 107, 108, 109, 115, 121 Handelsverhältnis  90, 91, 92, 93 Händlerkapital 55 Händlerkapitalismus  55, 56 siehe Industriekapitalismus Handwerker  42, 43, 48, 72, 97, 103 Harrington, J.  58 Harrison, A.  104, 105, 106, 107, 108, 109, 116, 119, 122 Hartwell, M.  7, 121 Hayek, F. A. von  5, 8, 16, 17, 21, 23, 33, 121 Heaton, H.  86

Index Heckscher, E.  53 Hegel, W. F. H.  54, 55 Held, A.  31, 61, 121 Helvetius, C. A.  78 Hemans, F.  114 Historiker  9, 10, 17, 21, 22, 23, 25, 34, 35, 40, 47, 48, 50, 52, 58, 59, 62, 63, 64, 66, 67, 72, 73, 74, 76, 84, 86 Historiographie 22 Historizismus 73 Holmes, Th.  103 Huerta de Soto, J.  5 Hume, J.  43 Hutchins, E.  104, 105, 106, 107, 108, 109, 116, 119, 122 Hutt, W. H.  5, 7, 8, 15, 16, 17, 24, 104, 122 Imlah, A.  90, 94, 95, 122 Import  90, 91, 92 Importpreise  92, 94 Importpreisindex 91 Industrialisierung  29, 32, 39, 54, 64, 65 Industrie  27, 28, 35, 36, 42, 46, 47, 49, 57, 70, 71, 75, 77, 80, 92, 94, 102, 113, 115 Industriebetriebe  67, 76 Industriekapitalismus  55, 56 siehe Händlerkapitalismus Industrielle  40, 42, 46, 49, 57, 64, 65 Industriezeitalter  32, 33, 38, 110, 111 Institutionalisten 31 Intellektuelle  13, 16, 33, 68, 70, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84 Intelligentsia  68, 72, 73, 74, 75, 76, 78, 79, 80, 81, 84 Intelligentsia, klerikale  74, 75, 76, 81 Intelligentsia, säkulare oder weltliche  74, 75, 77 Interpretation  22, 23, 26, 30, 54, 59, 72, 120, 123 Intervention(en)  12, 62, 64 Investitionen  48, 53, 76, 78, 89, 94 Iren  39, 85, 113 Jackson, A.  64, 65, 123 Jasay, A. de  5 Jaurès, J.  61 Jefferson, Th.  61, 63, 65, 122 Jeffersonianer  63, 64

127

Jeffersonianismus  62, 63, 64, 65, 66 Johnson, S.  41 Josephson, M.  61, 122 Jouvenel, B.  5, 7, 8, 12, 13, 16, 34, 68, 78, 122 Juden 55 Kant, I.  71 Kapital  28, 54, 55, 58, 66, 72, 77, 93 Kapitalismus  9, 13, 17, 24, 25, 27, 30, 32, 33, 34, 35, 48, 49, 50, 51, 52, 55, 58, 61, 62, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 73, 75, 76, 80, 84 Kapitalismuskritiker 52 Kapitalisten  11, 13, 24, 42, 56, 57, 78 Käse  98, 100, 101, 102 Kathedersozialisten 31 Kattun  38, 93, 100 Kaufmann  77, 82, 83, 99 Kay, J. Ph.  111, 112, 122 Keynes, J. M.  47, 53 Kinderarbeit  16, 109, 110, 117, 118 Kindersterblichkeit 32 Kirchenväter 70 Kirzner, I.  5 Kleidung  38, 75, 95 Koebner, R.  49 Konsument 71 Kydd, S.  107, 113, 114, 117, 122 Kyniker 69 Laffitte, J.  78 Laienintellektuelle 76 Laissez faire  46, 47, 50, 53, 56, 119 Lazenby, W.  98, 122 Lebenshaltungskosten  47, 93, 94, 95, 103 Lebensmittelkosten  101, 102 Lebensmittelkostenindex  100, 101, 102 Lebensmittelpreise  96, 100, 101 Lebensstandard  14, 25, 32, 35, 85, 88, 90, 97, 98, 103, 118 Lenin, W. I.  58, 62 Liberale 30 Liberalismus  5, 23, 123 Locke, J.  58 Löhne  25, 35, 36, 43, 86, 88, 89, 93, 94, 97, 101, 102, 103, 110, 112, 113, 114, 116, 119

128 Lohnempfänger  71, 84, 89 London School of Economics  35, 51 Lords-Ausschuss  107, 108 Louis IV. 78 Louis XV. 77 Luxus  49, 55, 96 Macaulay 22 Macpherson, C. B.  46 Madison, J.  59 Malthus, Th.  46, 85, 98, 122 Manchesterkapitalismus 8 Manufakturen  54, 59, 108 Marktpreise 95 Marquis d’Argenson  46 Marx, K.  30, 38, 46, 48, 49, 54, 55, 56, 58, 59, 60, 66, 67, 121 Marxisten 54 marxistisch 58 Maschinen  28, 31, 37, 38, 39, 40, 69, 117 Massen  27, 28, 83, 84, 86, 117, siehe ­Proletariat Materialismus  38, 55 McCulloch, J.  39, 86, 122 McMaster, J.  59 Meinung, öffentliche  21, 25, 26, 35 Meinung, politische  21, 22, 23, 33 merkantilistisch  53, 56 Michels, R.  74 Miete  43, 44, 89, 94, 95, 97, 98 Mietskasernen  44, 54, 89 Milch  96, 98 Mill, J. St.  39, 46, 86, 103, 122 Missstände  29, 33 Monopol  24, 32, 34 Monopoly  63, 64, 122 Mont Pèlerin Gesellschaft (MPS)  7, 8, 17 Montesquieu, Ch.  58 Morgan, H. F. S.  56 Myers, G.  61, 62, 122 Napoleon 42 Naturallohn 36 Necker, J.  78 Neigung  58, 71, 73, 74, 79 Newton, I.  54 Nussbaum, F.  49, 122

Index Oastler, R.  109, 113, 114 Ökonomen  17, 27, 32, 39, 46, 48, 51, 57, 85 Ordnungspolitik  57, 60, 63, 66 Pares, B.  50, 122 Pareto, V.  74 Parkinson, C.  39, 123 Peel-Ausschuss 107 People’s Charter  25 Perikles 69 Philip der Schöne  77 Pirenne, H.  59 Platon 69 Porter, G. R.  92 Preise  15, 35, 43, 65, 89, 90, 91, 92, 93, 95, 96, 97, 99, 100, 101, 102, 103 Produktionsmittel  27, 48, 71 Produktivität  28, 39, 48, 53, 119 Profit  48, 67, 83, 88 Proletariat  27, 28, 38, 48, 62, 71 Rabattpreise  14, 96, 98 Radikale  24, 30, 64, 86 Randall, J. G.  64, 65, 123 Reallohn 8 Reallöhne  9, 14, 16, 39, 53, 66, 72, 85, 97, 98, 117 Redford, A.  45, 101, 123 Reichel, R.  8, 123 Republikaner  57, 60, 64 Republikanismus 64 Revolution, amerikanische  56, 63 Revolution, französische  76, 77 Revolution, industrielle  26, 40, 44, 45, 46, 50, 72, 75, 87, 95, 104, 117 Ricardo, D.  31, 46 Rickman, J.  86, 87, 88, 103 Rindfleisch  96, 100, 101, 102 Robbins, L.  24, 35, 123 Rockefeller, J. D.  56 Rogers, Th.  115, 123 Roggenbrot  96, 97 Romantizismus 87 Roosevelt, F. D.  65 Rostow, W. W.  48 Rousseau, J.-J.  70, 71, 74, 80 Rowbottom, W.  99, 100, 101, 102, 123

Index Ruggiero, G.  25, 123 Russell, B.  26, 123 Sadler-Komitee  104, 106, 112, 113 Sadler, M.  104, 105, 106, 107, 109, 112, 113, 114, 123 Salaman, R.  39, 123 Schinkenspeck  100, 101, 102 Schlote, W.  90, 123 Schumpeter, J.  48, 50, 74 Schutztarif  57, 64, 65 Scrope, P.  44 Sée, H.  59 Shaftesbury, Lord  104, 114, 115, 121 Shaw, G.  99 Silberling, J.  43, 95, 96, 123 Silverpool, Lord  46 Sklaven  69, 114 Sklaverei  32, 54, 56, 58, 59, 60, 64, 113 Slater, G.  106, 123 Smith, A.  46, 49, 66, 103 Sombart, W.  30, 48, 49, 50, 55, 56, 58, 59, 60 Sombartianer 54 Somerville, A.  30 Sorel, Ch.  74 Southey, R.  86, 87 Sozialgeschichte  59, 73, 74 Sozialgewissen 36 Spätkapitalismus  48, 55 Staat 5 Staatsanleihen  60, 88, 89 Staatskapitalismus  49, 55 Staatsschulden  88, 89 Statistiker  26, 88, 92, 95 Steuerpächter (Publikanen)  13, 78 Stoiker 69 Stufenmodell  55, 56, 57 Stufentheorie 55 Summerson, J.  45, 124 System  9, 24, 27, 30, 31, 32, 34, 36, 39, 48, 50, 56, 57, 58, 73, 75, 104, 105, 111, 117, 120, 121, 124 Tee  39, 94, 96, 97, 98, 103, 112 Ten Hours Bill  105 Thackrah, T.  109, 112, 113, 124 Tocqueville, A.  66

129

Todesrate  87, 88 Tooke, Th.  46 Tories  30, 106, 114 Toynbee, A.  46 Trevelyan, G. M.  23 Trollope, F.  114 Trucksystem 89 Tucker, F.  97 Tyrannei  29, 82 Überbau  55, 66 Überbevölkerung 54 Überproduktion 32 Überseehandel  90, 94 Unterkonsumption 32 Unterkunft  29, 39, 40, 41, 42, 54, 98 Unwin, G. 51 Ure, A.  110, 114, 124 Verbraucherpreisindex 95 Verelendung  25, 26, 38, 72 Webb, B. und S.  30, 45, 52 Weber  97, 110 Weber, M.  59 Webstuhl  33, 93 Weede, E.  5 Weizenbrot  96, 97, 103 Weld Grimké, A.  36 Werkzeuge  27, 61 Wesley, J.  86 Wettbewerbsordnung  24, 34 Whig-Geschichte  22, 23 Whig-Interpretation 22 Whig-Tradition 22 Whiggismus 64 Whigs  64, 65 Wilberforce, W.  58 Wilkinson, J.  45 William III. 44 Wing, Ch.  106, 124 Wirtschaftsgeschichte  9, 23, 25, 26, 27, 30, 33, 35, 36, 46, 49, 50, 54, 55, 56, 58, 95 Wirtschaftshistoriker  12, 23, 25, 30, 31, 32, 36, 46, 47, 48, 52, 59, 67, 86, 95 Wirtschaftskapitäne  80, 82 Wirtschaftslehre 49

130 Wirtschaftsstatistik 95 Wohlstand  13, 28, 40, 60, 61, 75, 77, 85, 93 Wohlstandswachstum  24, 33, 119 Wohnungen  42, 43, 85, 88, 97 Wood, G.  39, 94 Wucherkapital 55

Index Young, A. 96 Zentralbank(wesen)  57, 63, 64 Zentralregierung  12, 60, 62, 63, 64 Ziegelsteine  41, 43 Zinsrate  42, 88, 89 Zucker  39, 49, 94, 96, 97, 98, 99, 103